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Theologiſche
Studien und Kritiken.
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Das gejamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. &. Ullmann uns D. F. W. €. Umbreit
und in Berbindung mit
D. &. Saur, D. W. Beyſchlag mv D. 3. Wagenmann
| herausgegeben
von
D. 3. Köſtlin um D. E. Riehm.
Dahrgang 1885, erfles Heft.
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Gotha.
Friedrich Andreas Berthes.
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Theologiſche
Studien und Kritiken.
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Fine Zeifſchrift
für
das geſamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. C. Ullmann um D. F. W. C. Umbreit
und in Verbindung mit
D. G. Baur, D. W. Beyſchlag uw D. J. Wagenmann
herausgegeben
D. J. Köſtlin D. E. Riehm.
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Goouuan) 1885.
—— chtundfünfzigſter Jahrgang.
Erſter Band.
Gotha.
Sriedrih Andreas Perthes.
1885.
Cheologifche
Studien und Kritiken.
Fine Beitfhrift
für
das gejamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. C. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit
und in Verbindung mit
D. ©. Baur, D. W. Beyſchlag um D. 3. Wagenmann
herausgegeben
von
D. 3. Köſtlin um D. E. Riehm.
Ddahrgang 1885, erfles Heft.
Gotha.
Friedrich Andreas Perthes.
1885.
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Während wir das gegenwärtige Heft zum Drud
vorbereiteten, ift D. Iſaak Auguſt Dorner,
dem unjere Zeitfchrift ſeit 1838 längere Zeit Bin-
durch fortgefette reichhaltige Mitarbeit verbankte,
und den fie während der Tettverfloffenen jechs Fahre
unter ihren nächftverbundenen Freunden nennen durfte,
nach mehrjährigen ſchweren Leiden am 8. Juli zur
ewigen Heimat abgerufen worden. Er war noch
einer der Bahnbrecher in demjenigen Kreis lebendig
gläubiger und zugleich nach wahrhaft wiffenjchaft-
ficher Begründung und Geftaltung des Glaubens-
inhaltes ftrebender Theologen, aus welchem unfere
Zeitfchrift urfprünglich hervorgegangen und in ihrer
Richtung auf die Dauer beftimmt worden ift. Bor
anderen Hat er danad) gerungen, auf Grund ber
biblifchen Offenbarung, in deren Würdigung und
Verſtändnis er mit unſerer evangelifchen Kirche und
ihren Reformatoren in felbftändiger Überzeugung
freudig und pietätsvoll fich eins wußte, unter treuen,
alffetigem und umfichtigem Gebrauch der verfchie-
denen religiöfen und wiljenfchaftlichen, theologijchen
und philofophifchen Anregungen der Neuzeit, aus
der Tiefe chriftlichen Gefühls - mit Schleiermacher
ſchöpfend und in theologifcher Spekulation den Ge-
danfengehalt entfaltend und aufbauend, ein ebenſo
Barmonifches mie umfafjendes Ganzes chriftlicher
Lehrwiſſenſchaft herzuftellen, zugleich aber auch von
der echt evangelifchen Idee der Kirche aus an einer
Neugeftaltung des beutfchen Kirchentums mitzuar-
beiten, in welcher die Anforderungen jener Idee nach
Möglichkeit unter den Bedürfniffen und Notftänden
ber Gegenwart zur Geltung kämen. Wie biefem
2 feines wiffenfchaftlichen und kirchlichen Stre-
bens und Wirkens das herzliche, ebenjo demütige
als männliche perſönliche Chriſtentum des Dahine
gegangenen und die reiche, edle Immere Harmonie
feiner ganzen geiftigen Bildung und Haltung ent-
ſprach, das hat keinem, der ihm: näher treten burfte,
verborgen bleiben Türmen, und ift noch im befonderg
rührender, ergreifender und erhebender Weiſe unter
den Leiden und Arbeiten ſeiner letzten Lebensjahre
offenbar geworden. Seit Dorner auf ben Höhe⸗
pundt feines Wirkens gelangt war, find die Strö-
mungen der Theologie großenteils andere geworden;
berechtigte nene Anforderungen haben für fie ſich
erhoben und nene Winke und Weifungen find ihr
für ihren weiteren Gang zuteil geworden. Aber
die Stellung, weldie er mit jemen ihm nächftver-
wandten Theologen in ihr emgenommen, unb bie
Früchte, die er ihr Binterfaffen bat, werden ihre
Bedeutung behalten, auch wenn manche ſtolze Welle
jpäterer Entwidelung längſt wieder gefunfen fein
und mancher neue Standpunkt längſt wieder ein
überwundener heißen wird.
Gerne Hätten wir ſtatt dieſer kurzen Worte
des Andenkens ſchon ein eingehenderes Lebensbild
des Vollendeten unferen Leſern dargeboten. Wir
hoffen dies, während es uns hier nicht mehr mög⸗
lich war, bald nachholen zu können.
D. J. Köftlin. B. Ed. Riehm.
Abhandlungen.
1
Wiedertänfer im Venetianiſchen um die Mitte
des 16. Anhrhundert3.
Bon
Brof. Dr. Karl Benraff.
Unter Melanchthons Namen ift im Jahre 1539 in Nürnberg
eine Heine Schrift gedrucdt worden in Form eines Briefes an
den venetianifchen Senat, welche davon ausgeht, daß Servets „De
Trinitatis Erroribus‘‘ im Gebiet der Republik Verbreitung finde
und welde vor der Lehre des Spanier8 warnt und diefelbe be»
fümpft. Diefes Schriftſtück ift dann in die meiften Sammlungen
der Briefe Melanchthons, auch in die verfchiedenen Ausgaben feiner
Declamationes Selectae (Straßburg 1541, 1543, 1546 u. f. w.)
und zulegt in die große Sammlung feiner Werke, das Corpus
Reformatorum (Bd. III, n. 1831) aufgenommen worden. Die
demfelben hier wie in mehreren der oben erwähnten Ausgaben bei-
gegebene Aufjchrift „Ad Senatum Venetum‘“ Hat freilich fehon
da8 Bedenken des trefflihen Schelhorn hervorgerufen, der fie
aus Gründen der Etikette beanftandet und ihr eine andere „Ad
Venetos quosdam Evangelii studiosos“‘ vorzieht. Heutzutage
dürfen wir nicht einmal bei der Beanftandung der bloßen Adreſſe
ftehen bleiben. Der italienische Hiſtoriker Giufeppe de Leva Hat
nämlich neuerdings, worauf ic) bereitS im erften Band der „Zeit⸗
ſchrift für Kicchengefchichte*, S. 469 ff. aufmerffam gemacht habe,
die Echtheit des ganzen Schreibens in Trage geftellt, indem er
10 Benrath
eine Äußerung Melanchthons aus dem Jahre 1541 an den vene-
ttanifchen Drator beim Kaifer, Francesco Contarini, mitteilt, wo⸗
nah der NReformator die ihm zugefchriebene Verfaſſerſchaft der
Schrift abgelehnt Habe. Bei de Leva (Storia docum. di Carlo V.
II, ©. 327, 4. 2) heißt ed aus einem offiziellen Berichte des
Drators von Regensburg, 29. März, an den Senat: „Melanch⸗
thon hat fich mir gegenüber betreffs eines Schriftchens oder viel-
mehr eines im Drud erjchienenen Schreibens, welches ‚an den
venetianifchen Senat‘ gerichtet ift, entjchuldigt; er fagte, es ſei
nicht von ihm, ſondern andere hätten es verfaßt und unter feinent
Namen veröffentlicht, wie das auch fonft vielfadg geſchehe. Möchte
auch die Sache an fich ihren guten Grund haben, fo habe er doch
das Schriftſtück nicht verfaßt umd würde es auch ohne beftimmte
Veranlaſſung nicht an den Hohen Senat gerichtet haben.” Wenn
aber auch dadurd die Autorfchaft Melanchthons ausgefchloffen ift,
jo bleibt dem Schriftſtück doch nad zwei Seiten Bin ein gewiſſes
Intereſſe: einerfeits enthält es eine der früheften Beſtreitungen
der fervetifchen Aufftellungen, und anderfeitS mag es al8 Zeugnis
gelten für das Vorhandenfein reformfreundlicher Beftrebungen im
Gebiete der venetianifchen Republik gegen Ende der dreißiger Jahre
des 16. Jahrhunderts. Was das Iektere anlangt, jo hatte es
freilich ſchon früher nicht an desfallfigen Anzeichen gefehlt. Abge-
ſehen davon, daß Luthers und anderer Reformatoren Schriften in
Venedig und von Hier aus bald Verbreitung fanden, treten auch
beitimmtere Anhaltspunkte für die Annahme einer günftigen Auf⸗
nahme feiner Lehren frühe hervor), As Melanchthon 1530
in Augsburg fi) dem päpftlichen Legaten gegenüber allzu nach⸗
giebig zeigte, da war es ein evangelifch gefinnter Mann in Des
nedig, Lucio Paolo Roſelli, der ihm ernftlihe Vorhaltungen
darüber machte. Ja fchon 1528 äußerte Luther jeine Freude
über die Ausbreitung der enangelifchen Lehre in diefer Stadt und
wiederhofte dies 1529 in einem Briefe an den der Neformation
1) Unter den fehr intereffanten Excerpten, welche Prof. Thomas aus
Sanutos Diarien pubfiziert hat (Ansbach 1888) befinden fich einige belang-
reiche Notizen.
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderte. 18
zugeneigten in Venedig lebenden Gelehrten Jakob Ziegler. Anch
von der gegnerifchen Seite wird das Borbandenfein „Legeriicher“
Bewegungen um 1530 bezeugt. Die nad der Kaiferfrönung von
Bolsgun aus nach Denedig abgeordueten Gefandten follten vom
Senat bie Unterdrückung bderfelben fordere. Der Rat aber ent-
gegueie ausweichend: ihr Staat ſei ein freier und könne nicht ein⸗
fchreiten 1). Eine im Jahre 1532 von Giob. Pietro Earaffe aus
Benedig an Clemens VII. geſchickte, Juformation“ (abgedrudt in
Riv. Crist. 1878, ©. 281-292) giebt beachtenswerte Einzel⸗
beiten betreff6 des Überhandnehmens der Kegerei in Venedig unb
jenem Dominium.
Reichen ſomit ſichere Nachrichten über bie erſten Spuren nen
dem Vorhandenfein evangelifcher Regungen in Benedig bis in das
erfte Jahrzehnt der refosmaterifchen Bewegung zurüd, fo handelte
ed ſich doch hierbei offenbar um religidfe Anſichten, welche fich
innerhalb ded Programmes der lutheriſch⸗orthodoxen Lehre hielten.
Die Träger der Bewegung, welche hier in Betracht kommen: ein
Girolamo Galateo, ber feine enangelifchen Anfchauungen mit lang»
ſamem Dahinfterhen in elfjührigem Kerker (feit 1530) blifte;
ein Bartolomeo Yonzio, ber 1530 dem Späherauge Earaffad ent
wid, nad Deutfchland floh und dert Luthers Schrift „Un den
Adel“ ins Italieniſche Üüberfegte; ein Antonio Bruccioli, ber 1532
feine Bibelüberfegung in Venedig herausgab — fie und ihre Ge
finnungsgenoffen ftehen in ihren Anfchauungen durchaus auf dem
Boden der lutheriſchen Reformation. Dagegen enthält jener au⸗
gebfiche Brief Melanchthons bie erfte Andeutung davon, daß auch
joihe Anfchauungen in Venedig verbreitet worden feien, welche an
wichtigen Punkten diefen Boden verlaffen haben. Und nad dieſer
Seite hin wirb der Brief, da er doch wohl von unterrichteter
Seite ſtammt und da ihn Melanchthon auch dem Drator gegen.
über inhaltlich gebilligt hat, immerhin zu beachten fein. Leider giebt
er nur ganz vage Andentungen: der Schreiber bat gehört, daß
man dert Servets Schrift verbreitet; er ermahnt deöhalb die
Frommen, „auf die Hinterliftigen Anfchläge des Satans ihre Auf-
1) Bi Thomas a. a. O. ©. 155 (72. März 1530).
12 Benrath
merffamfeit zu richten, und gerüftet zu fein, um einen folchen
Feind abzuwehren“ ; endlich, ſich zu hüten, „daß fie nicht den Trug⸗
chlüffen beiftimmen, welche gemacht werden, um die echte Lehre
der Schrift zunichte zu machen“. Das Eine alfo, und nicht mehr,
fäßt ſich aus unſerem Briefe erhärten; daß gegen 1538 jener
Schrift Servets, wie jo vielen anderen, Eingang in Venedig ver-
fhafft war, — daß fie ſich bedentender Verbreitung und bemer-
tenswerten Einflufjes erfreut oder längere Zeit zirkuliert bat, ift
daraus nicht zu entnehmen; im Gegenteil, dagegen fällt ins Ges
wicht, daß ihr Titel weder bei den Verhören, wie die Inquifition
fie jpäter mit den des Glaubens wegen Angeklagten oder Ver⸗
dächtigen anftellte, noch auf den Liſten der bei ſolchen Tonfiszierten
Bücher, wie fie den Alten beiliegen, irgendwo, foweit mir belannt
ift, begegnet. Daß Servet felbft nie in Venedig gewefen, hat
er im Verhör vom 28. Auguft 1553 ausdrüdlich erklärt.
Auch der Briefwechjel der Evangelifchgefinnten in Italien mit
Buster und Luther in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts
beobachtet über unfere Trage vollftändiges Schweigen. Butzer hat
an die in Bologna und Modena im Lauf des Jahres 1541
dreimal gejchrieben, im Auguft, September und Dezember (f.
Scripta anglicana, ©. 687—691). Seine Briefe betreffen, ab»
gefehen von der allgemeinen Lage des Proteftantismus in Deutſch⸗
land und Stalien, nur die auch jenfeitS der Alpen zu Tage getre-
tenen Saframentsftreitigleiten: diefe beklagt er auf das tieffte und
ermahnt zum friedlichen Ausgleihd — von anderen „VBerftörungen
dur) den Satan“ weiß er nichts. Luther bat etwas fpäter direkt
mit den „Brüdern” im PVenetianifchen Torrefpondiert.. Dort war
es wahrſcheinlich Baldaſſare Altieri, der Sekretär des englifchen
Geſandten Harvel, welcher den Briefwechfel einleitete. Ein Schrei⸗
ben vom 26. Novbr. 1542, im Namen der Brüder von Venedig,
Vicenza und Treviſo abgefaßt, klagt über die auch dorthin über:
tragenen Zwiftigleiten in der Sakramentslehre, bittet um Fürs
ſprache bei den proteftantifchen Fürften, damit biefe fi) veranlaßt
jehen möchten, Träftiger zugunften der bedrängten Glaubensgenoſſen
beim Senate einzutreten — enthält aber betreffs des Vorhanden⸗
ſeins proteftantifchradilaler Richtungen oder Meinungen im Bene
MWiedertäufer im Venetianiſchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 18
tianifchen nicht die geringfte Andeutung. Auch das von Altiert
verfaßte DBegleitfchreiben, mit welchem biefer Brief unter dem
29. Novbr. 1542 an Veit Dietridy) behufs Beforgung an Luther
gefandt wurde, giebt, foweit fein Wortlaut und Anhalt (ſ. Neu⸗
deder, Merkw. Altenft., S. 697ff., A.) bekannt ift, auch nicht
den geringften Anhalt, woburd die Behauptung in dem angeblichen
Briefe Melanchthons beftätigt würde. Ebenfo wenig enthält die
etwas fpät, am 13. Juni 1543, ergangene Antwort Luthers nad
diefer Seite hin eine Andeutung. Denn die „falihen Propheten“,
von denen der Neformator fchreibt, daß fie „auch uns plagen
mehr denn der Antichrift (Nom) felbjt, und noch nicht ruhen, ob»
wohl ihre Kräfte gebrochen find" — das find, wie aus dem Zu⸗
ſammenhange deutlih hervorgeht, die „Saframentierer“, d. h. die
Anhänger der Zwinglifchen Abendmahlslehre. Auf diefen Brief
Zuthers erfolgte eine Antwort der „Brüder“, unter dem 30. Augujt
1543. Das umfangreiche Schreiben (mitgeteilt in der „Zeitſchr.
f. Kirchengeſch.“ 1877, ©. 150—157) enthält ebenfo wenig wie
das frühere eine Andeutung betreff8 der obigen Trage. Ya, die
Antwort Luthers darauf vom 12. November 1544, welche fich
auh auf Mitteilungen des Flacius Illyricus über die religiöfen
Zuftände dortzulande bezieht und dabei doch nur auf die „giftigen
Lehrer, welche fich einfchleichen, nämlich die Sakramentierer“ hin⸗
weift, von anderen „giftigen Lehrern“ aber ganz ſchweigt, läßt
mit Sicherheit darauf ſchließen, daß gegen die Mitte der vierziger
Jahre wenigftens in Deutjchland nicht davon befannt war, daß
eine bogmatifch-radilale Nichtung Anhänger unter den der Nefor-
mation BZugeneigten in Venedig gefunden habe. Hat doch auch
damals Melanchthon felbft, unter dem 31. Mai 1545, wie er an
Camerarius ſchreibt (Corp. Ref. V, n. 3195), „den Stalienern“
auf eine nicht näher bezeichnete theologische Trage, welche ihm Veit
Dietrich im Winter 1544 übermittelt hatte, geantwortet, ohne,
wie fich dies aus der Andeutung Über den Anhalt feines verloren
gegangenen Briefes fchließen läßt, auf die in der Schrift von
1539 verhandelten Punkte einzugehen ?).
1) Heri respondi Italis de Theologica quaestione, quam Vitus misit
14 Benrath
In der That fprechen alle Anzeichen dafür, daß ein Heraus
treten aus den dogmatiſchen Grenzen wie die ortboder - [utheriiche
und die ſchweizeriſche Reformation fie zog, wenigftens in bemerkens⸗
werterem Umfange in Venedig und feinem Gebiete vor dem Ende
der vierziger Jahre wicht ftattgehabt Bat.
Das war überhaupt die Zeit, in welcher die religiöfe Bewegung
dortzulande febhafter zu werden begann. Man erleımt dies an
den Vorkehrungen, welche zu gleicher Zeit behufs Unterdrücung
derjelben getroffen wurden. In Rem war befanntlih fchon 1542
bas Sant’ Uffizio eingerichtet worden. Alsbald verfuchte bie
Rurie, na deſſen Muſter auch in den übrigen itaftenifihen
Staaten die Inquiſttion neu zu onganifieren und fp das ganze
Land mit einem Ne derartiger Auftalten zu überziehen. Wo ber
päpftlihe Einfluß den Ausichlag gab, nder wo, wie in Bologus,
pupftliche Herrſchuft beftand, gelaug dies leicht; aber um ärßerſten
Süden wie im Norden ber Halbinſel fiteßen biefe Bemühangen
anf Weberftand. In Neapel fcheiterte trog ber Kannivenz des
Bizelönigs der Verſuch, die Inquiſttion nach dem jpanifchen im
Rom nboptierten Muſter zu reorganifieren, nm dem bis zum Auf-
ruhr gehenden Widerftande der Bevölkernng (1546), und in Ber
nedig wiberfeßte firh die Staatsräſon dem Verlangen der Kurie,
ihr rein geiftlihes Tribunal auch im Gebiete ber Mepublif eta⸗
blieren zu dürfen. Der Senat genehmigte die Reubildung des
Tribunale® nur unter der Bedingung, daß neben den drei geiſt⸗
lichen Mitgliedern, dem päpftlichen Legaten, dem Patriarchen refp.
defien Vikar, und dem Pater Inquiſitor, auch drei weltliche nom
Seat felbft zu beftimmende als „Aififtenten“ fungieren ſollten,
wie das ſchon gegen Ende des 13. Jahrhunderts eingerichtet wor⸗
den war. Dieje drei „Savj“ find von 1547 an wieder regel⸗
mäßig beftellt worden und hatten das ftantläche Intereſſe bei allen
Brozefjen und Verhören und fonftigem Vorgehen der Inquiſition
zu wahren, auch darauf zu achten, daß das Tribunal nicht feine
proxima hyeme. Multum est Platonicarum Hewo:&v in Italica Theo-
logia.. Nec parvi negotii est traducere mentes ab illa xouroloyf« ad
res veras et simplicem explicationem (C. R. V, &p. 767).
Wiedertäufer im Benetianifchen ımm die Mitte des 16. Jahrhunderts. 15
Kompetenz überjchritte und etwa Fälle, die vor eine anbere Be⸗
hörde gehörten, vor fein Forum zöge. Was aber die Art der
Unterfuchung oder die Feſtſetzung des Strafmaßes gegen bie Ketzer
onging, jo hatten die „Savj“ ſich dabei jedes Eingriffes zu ent
halten und mur für die Ausführung der vom ihnen nicht einmal
mit unterzeichneten Urteile einzutreten.
Das war man zwar nicht fo viel wie die Karie wünſchte,
aber es lag doc für ſie in dieſer Organiſation eine Garantie,
daß die von ihren Vertretern gegen bie angeflagten und progeifierten
Ketzer verhängten Strafen auch wirklich in Anwendung gebracht
würden. Kurz vor der Wahl ber erften drei „Savj“, unter dem
21. Mai 1547, Hatte fi der damalige Nuntins Giov. della
Caſa darüber bejchwert, daß er nicht in der Bage ſei, einem der
Ketzerei überwieſenen Mönde, Fra Ungelioo, welcher Abſchwörung
geleiftet, weben der geiftlichen Strafe nach eine andere aufzuerlegen,
- da der Senat deren Ausführung nicht geitatten würde !). Später:
Hin dagegen, nad) der Nenordnung des Sant’ Uffizio, hat ber
Senet den Vollzug ber Strafen ohne weiteres übernommen, bei
Zodeßurteilen freilich Hat er ab und zu die Ausführung hintan-
gehalten, vielleicht auch in einzelnen Fällen eine Umwandlung in
ein anderes Strafmaß durchgeſetzt. Daß man in Rom mit ber
neuen Einrichtung tro& aller Vorteile, welche fie gewährte, nicht
zufrieden war, iſt erlärlich: fie erfehten dort amter dem Gefichts⸗
winkel seiner unberechtigten und unbegründeten Einmifchung welt⸗
ficher Gewalt in die kirchliche Jurisdiktion, der ein abſolutes Necht
in allen Fällen, wo es fih um Glaubensfragen handelte, zuge⸗
Ihrieben wurde. Schon der Umftand, daß man fi in Venedig .
entſchieden weigerte, Angehörige des Dominiums, auch Kleriker
oder Mönche, ſelbſt im Falle erwieſener Ketzerei, nach Rom zur
Aburteilung zu ſenden, veranlaßte immer wieder die lebhafteſten
Vorſtellungen teils in Rom an den venetianiſchen Geſandten, teils
ſeitens des Muntius an den Senat.
N S. Lettere d’uomini illustri, Parma 1853 I, 168. Übrigens ſoll
nad einer andermweitigen Nachricht (vgl. Cantü, Gli Eretici d’Italia III,
133) die Strafe lebenslänglichen Kerkers doch an jenem vollzogen worden fein.
16 Benrath
Daher denn in den folgenden Jahren ftetd nee Forderungen
feitens der Kurie dahingehend, daB das geiftlihe Zribunal ganz
freigeftellt werde. Während aus dem Dftober 1548 ein Beſchluß
des Senates vorliegt, welcher die Einrichtung vom vorhergehenden
Jahre beftätigt und hervorhebt, daß diefelbe ihrem Zweck vollftäns
dig entjpredhe (sono cessate le conventicole che prima si face-
vano in diversi luoghi publici et privati di questa cittä) und
der num ben bewährten Grundfag, daß die Staatsbehörbe ftets in
den Snquifitionstribunale mit vertreten fein fol, aud auf die
übrigen Städte des Dominiums ausdehnt — jo erhob im Syahre
1550 abermals die Kurie energiſch Einfprache gegen eben dieſes
Prinzip: Unter dem 14. Juni 1550 fchreibt der Orator Matteo
Dandolo aus Rom, daß der frühere Legat Mignanelli im Auftrage
des Papftes fich bei ihm über angebliche® UÜberhandnehmen der
Ketzer im Gebiet der Republit befchwert habe: man betreibe dort
die Derfolgung derfelben allzu lau und ber Papſt wolle einen jpes
ziellen Legaten Hinfenden, um die Peft auszurotten. Er habe, fo
berichtet Dandolo weiter, den Erlegaten zu beruhigen gefucht: dem
Senate fei e8 ernft mit der Ausrottung der Ketzerei, das Tribunal
in Benedig und die übrigen unter Affiftenz der Latenmitglieder
thäten ihre Schuldigkeit. Aber Mignanelli habe auf neuerdings
bekannt gewordene Fälle Hingewiefen: wie in Brescia und Ber
gamo, bejonder8 aber an der Univerfität Padua die Ketzerei fih
verbreite, bier durch einen Fürzlich dorthin berufenen Brofeflor
ber Rechte aus Piemont), Am 27. Zuni 1550 hatte Dandole
eine Aubienz beim Papfte, wo derſelbe Gegenftand wieder zur
Sprade kam. Der Bapft Hatte Berichte über die Ausbreitung der
Ketzereien im VBenetianifchen, die dem Gefandten als fo übertrieben
vorfommen, daß er fich erlaubte, ihnen die Zunerläffigfeit abzu⸗
ſprechen. Unter dem 28. November d. J. berichtet Dandolo über
eine abermalige Audienz in berfelben Angelegenheit: eine heftige
Scene ſei zwifchen dem Bapfte und ihm erfolgt — der Papft
babe ihm fchließlich ein ſchon fertige® Dekret gezeigt, durch welches
alle diejenigen, welche ſich in die geiftliche Gerichtsbarkeit ein.
1) Es war Matteo Gribaldi.
Wiedertäufer im Venetianiſchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 17
mifchen, exfommuniziert werden follen — natürlich der Senat
in erfter Linie. Es half nichts, daß der Senat mittlerweile
(Beihluß v. 3. November 1550) die Snquifition im Dominium
noch verjhärft Hatte und daB er unter dem 22. November zu
weiteren Meldungen an ben Papft dem Orator fihrieb, jener
Hauptleger in Brescia jei ſchon progeffiert und feine Hinrichtung
befchloffen — noch zehn Monate lang ſchwebte das Damofles-
fchwert der Exkommunikation über Venedig, und erft im September
1551 ward eine Übereinkunft gefchlojfen: Der Senat giebt zu,
dag ein bejonderer päpftlicher Legat (der erwählte Bifhof von
Montefiascone) die Inquiſition im Gebiete der Republik in die
Hand nehme, freilich unter „Aſſiſtenz“ der zu beftimmenben Laien.
In alt diefen Verhandlungen ift, wie aud) in den Berichten
des Nuntius Della Caſa von 1546—1547 nur von „Lutherifchen“
Ketzern und „lutheriſcher“ SKegerei die Rede. Vielleicht, daß man
die beiden Richtungen der reformatorischen Bewegung, die ortho=
dore und die anabaptiftifhe — um ben etwas fpäter aud in
Italien dafür üblichen Ausdrud vorweg zu nehmen — gegnerifcher-
feitö noch nicht unterſchied — vielleicht auch, daß die lettere noch
vorjichtig ihre DVerfchiedenheit von jener oder überhaupt ihre
Eriftenz zu verbergen wußte. Denn daß die täuferifche Bewegung
im Jahre 1550 in dem venetianifchen Gebiete bereits zu weiter
Perbreitung gelangt war, daß fie zahlreiche Konventikel zählte und
fi einer fürmlichen Organtfation erfreute — das wird fih uns
aus einem Aktenſtücke ergeben, welches gegen Ende 1551 in bie
Hände der römischen Inquiſition gelangt und von dieſer zur
Kenntnisnahme und behufs weiteren Vorgehens der Inquiſition
und dem Rate der Zehn in Venedig vorgelegt worden tft.
Unfere fonftigen gleichzeitigen Quellen freilich berichten nichts
Zupverläffigee. Es findet fich da nur, und zwar zuerft in Wiszo⸗
watys Narratio compendiosa, quomodo in Polonia a Trinitariis
Reformatis separati sint Christiani Unitarii (zuerft 1678 ge⸗
drucdt) die befannte Nachricht über die „Collegia Vicentina“,
d. 5. angeblihe Zufammenfünfte von antitrinitarifh Gefinnten,
welche ſchon fo viele Erörterungen und Vermutungen hervorgerufen
dat, und welche zulegt eingehend von Trechſel (die N:
Theol. Stud. Jahrg. 1885.
18 Benrath
Antitrinitarier vor Fauſtus Sozin (Bd. II, S. 391 — 408) im
Aufammenhange behandelt worden iſt. Xrechfel kommt zu dem
zweifellos richtigen Mejultate, daß hier zwar ein biftorifcher Kern,
etwa eine Familientradition oder fonftige Überlieferung, zum Grunde
Ttege, welche Wiszowaty als dem Enkel des Fauſtus Sozin zuge:
fommen ſei, daB aber ſchon die Darjtellung bei ihm, noch mehr
aber bei den beiden an ihn fich anlehnenden Sand und Lubieniecky,
mit ungehörigen Zuthaten ausgeftattet und jedenfall® die vorliegen:
den Nachrichten höchſt unbeſtimmter Natur geweſen feien. Ja, was
die angeblich in Vicenza verhandelten bogmatifchen Einzelfragen
betrifft, welche Lubieniecky kennen will und aufzählt, fo weiſt
Trechſel darauf Hin, daß wir darin vielmehr eine Zurüddatierung
fpüterer, zur Zeit bed Autors zwar gangbarer, aber um 1546 in
diefer Form no nirgendwo verörterter Fragen des fozinianifchen
Lehrgebietes vor uns haben.
Wie ſich übrigens die Tradition von den „Collegia Vicen-
tina‘ gebildet Habe, ift nicht fchmer zu ergründen und ift and
für unfere Frage von Intereſſe. Das angegebene Yahr 1546
bietet einen beachtenswerten Fingerzeig: es ift dies nämlich dasſelbe
Jahr, in welchem der junge Lelio Sozini aus Siena nah Ober⸗
italien fam, zwar wohl nicht nad) Vicenza, aber ficher nad) Venedig,
um dort eine Zeit lang feinen Aufenthalt zu nehmen. Es ift auch
das nämlide Jahr, in welchen Papſt Paul IV. auf einen Be
richt des Kardinals Ridolfi Hin ein Breve an den venetianifchen .
Senat richtete und im erregten Ausdrücken deffen Mitwirkung zur
Austilgung dee umter den Augen des Konzils von Trient ſich breit
machenden Ketzerei — freilich der „lutheriſchen“ — forderte (vgl.
Raynaldus, Annal. ad a. 1546). Diefe Thatjache, in Verbin«-
dung mit der ferneren, daß in ben fünfziger Jahren gerade in
Bicenza eine größere Anzahl von ſolchen Evangelifchgefinnten fich
vorfand, welche in ihren religiöfen Anfehauungen die Grenzen
ber orthodoren Reformation überſchritten, reicht vollſtändig zur
Erfiärung der Entftehung des Mythus von den „Collegia Vicen-
tina“ aus. Leider laffen uns die Quellen über den Aufenthalt
Socinis in Venedig ganz im Dunkeln. Wir erfahren nicht, mit
wen und in welchen Kreifen er verfehtte; wir willen nit, ob
Miedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 19
und in welder Form er dort Nahrung fand, um „die fubjeltive
und ſkeptiſche Richtung feines Geiftes zu verftürken“ — wie bies
Trechſel a. a. DO. S. 142 einfach vorausjegt; wir haben noch
weniger das Recht mit demjelben Trechſel anzunehmen, daß Sozini
gerade diefe Richtung „unter einem großen Zeile der Evangeliſch⸗
gefinnten in Venedig“ vorfand. Das iſt aus der Luft gegriffen
und hat feine einzige doch ſehr hinfällige Stüge in dem angeblichen
Briefe Melanchthons. Daß aber etwa Lelio Sozini felber bie
„jubjektive und ſkeptiſche Richtung” feines Geiftes bei feinem Auf-
enthalte 1546 in Venedig eingepflanzt habe, läßt fich deshalb nicht
annehmen, weil diefer ohnehin kaum 21ljährige Jüngling thatſäch⸗
(ich erft nachdem er Venedig verlaffen im folgenden Jahre 1547,
tait dem Manne in Berührung gelommen ift, welcher den ent»
S:heidenden Einfluß auf fein und vieler anderen religidfes Denken
gehabt Hat — Camillo Renato, welcher damals in Chiavenna ale
Flüchtling lebte.
Diefer Sicilianer, 1542 ins Veltlin gekommen, zunächft in
Caspano als Haunslehrer bei Rafaello de Paravicini thätig, dann feit
1545 in Zraona, Chiavenna und Vicofoprano, ift einer der erften
italtenifhen Bertreter derjenigen evangelifchereligiöfen Richtung, weiche
man in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung Heute noch bie
„anabaptiftifche“ zu nennen pflegt, obwohl die Ablehnung der
Kindertaufe nur ein äußerliches, bei vielen nebenſächliches Moment
bildet. Nicht übel Hat Alerander Gordon (Theol. Review 1879,
S. 305) Camillo mit George For in Parallele geſtellt umd ihn
einen „Lalviniftiihen Quäker“ des 16. Jahrhunderts genannt.
Denn das Zentrum feiner Theologie bildet die Prädeſtinations⸗
lehre: wer erwäßlt ift, und nur diefer, hat den „Geift“ (christia-
num illum spiritum). Diejenige Seele, welche der heilige Geiſt
nicht zum Leben erwedt, ftirbt; aber die Kinder des „Geiftes“
Ihlummern nur im Tode, um damm eine erneuerte, rein geijtige
Form des Dafeins zu erhalten. Wer des „Geiftes“ Kind ift,
bebarf feines äußeren Geſetzes: das Geſetz ift nur für diejenigen,
welche das innere Licht entbehren. Die Salramente find nichts
als Symbole von Wahrheiten, welche den Erben des Reiches ſchon
verliehen find. So ift das Abendmahl ein Gedächtnismahl, fein
98%
20 Benrath
Zwei die Erinnerung an Ehrifti Tod; es ift das äußere Zeichen
davon, daß bie gläubige Seele Ehrifti Leib und Blut genießt.
Und die Zaufe ift aud nichts anderes als eine äußere Darftellung
davon, daß der alte Menſch abgelegt wird, bezw. abgelegt ift.
Ob fi bei Camillo damit eine direkt antitrinitarifche Richtung
verband, ift zweifelhaft. Dagegen bat er feine Berwerfung der
Rindertaufe offen ausgefprochen, freifih nur unter Bezugnahme
auf die mit ihr bei der römiſch⸗katholiſchen Zaufhaudlung verbun-
denen wiberbiblifhen und abergläubifchen Zuthaten, und wenn er
nicht felbft auf Wiedertaufe drang, fo „kam es Lediglich daher,
weil er der Taufe überhaupt feinen wefentlichen Nuten und ebenjo
wenig eine Notwendigkeit weder für ben Einzelnen noch für die |
Kirche beilegte“ (Trechſel a. a. O., ©. 94f.).
Diefe und ähnliche Lehren, wie fie feit der Mitte der vierziger
Jahre in den Gemeinden im PBeltlin verbreitet wurden, zugleich
‚aber auch die Züricher und andere Theologen in Bewegung fetten,
fanden bald weiteren Anklang in Stalin. Um 1547 oder 1548
zeigt fich zuerft ein gewilfer Ziziano, auch ein um feines Glau⸗
bens willen flüchtiger Italiener, bald biesfeits, bald jenjeits der
Alpen, ohne einen feiten Aufenthalt zu haben. Er ftellte die uns
mittelbare Erleuchtung durch den „Geift“ über die Unterweiſung
dur die Schrift und griff eine Reihe von dogmatifchen Lehren
an — um dann freilih in Chur, durch Todesandrohung ge
zwungen, alles zu widerrufen. Für ihn und feine Anhänger ſetzte
ih, in Erinnerung an das Vorgehen der Wiebertäufer in den
zwanziger Jahren, der Kollektivname „Anabaptijten” feft, der nun
zur Bezeichnung jeglichen Gegenjaßes zu ben beiden Hauptformen
der orthodoxen reformatorijchen Kirchenbildung angewendet wurde.
Jener Tiziano fcheint einer der erften gewefen zu fein, welche
die anabaptiftiiche Lehre in Italien verbreiteten. Ich entnehme
das dem oben erwähnten Altenjtüde, einem im Oftober 1551 in
Bologna abgelegten, dann durch Vermittelung der römiſchen In⸗
quifitton in Abſchrift nach Venedig gelangten und dort (Archivio
di Stato, Sant’ Uffizio, Busta 9) von mir anfgefundenen höchſt
bedeutfamen und inbaltreichen Geftändnis bes Expriefters Don
Pietro Manelfi aus San Vito. Diefer mag felbft berichten.
Wiedertäufer im Benetianifhen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 21
Por etwa zehn oder elf Jahren, fagt er, fei er infolge von
FTaftenpredigten eines Kapuziners, Fra Hieronimo Spinazola, zu
der Überzeugung gelommen, daß die römifche Kirche der h. Schrift
entgegen, daß fie etwas Xeuflifches und von Menſchen erfunden
fi. In Ancona fei er darauf durch jenen Kapuziner zu Bernar⸗
dino Ochino geführt worden, der ihm das bekräftigt und mit
Sähriftitellen belegt Habe, der Bapft fei der Antichriſt. Ochino
habe ihm auch Häretifche Bücher gegeben, wie Luthers Auslegung
des Briefes an die Galater, Melanchthons Erklärung zu Mat⸗
thäus. Manelfi läßt nun feine Stelle — er war Briefter in ber
Didcefe Bologna — im Stich und beginnt ein längere Wander-
leben, welches ihn in perjfönliche Beziehung zu den Evangelifch-
gefinnten in Vicenza, Benedig, Trevifo, Iſtrien, dann Novigo,
Ferrara, Florenz, Pifa und Lucca bringt. Zwei Jahre lang fei
er durch diefe Orte gezogen, überall die „Iutherifche” Lehre verfün«
digend. Da’ gejchah es in Florenz; — bie Zeit wird nicht genauer
angegeben, aber alles fpricht dafür, daß der Aufenthalt dort in
1548 oder 1549 fiel —, daß drei Männer mit ihm. zufammen-
famen, jener Ziziano, fowie Sfeppo von Ajola aus Treviſo
und der Schulmeifter Lorenzo aus Mobiano, die ihn mit den
anabaptiftiichen Lehren befannt machten und zwar zunächft mit den
folgenden: 1) Die Taufe fei von Wert nur für die Gläubigen
und auch nur bei folden in Anwendung zu bringen, 2) bie
Obrigkeit jei nicht Kriftlih (li magistrati non posser essere
cristiani); 3) die Saframente feien nur Zeichen, übertrügen
jelbft Teinerlei Gnadengabe; A) bie h. Schrift ſei die alleinige
Richtſchnur des Glaubens; 5) die römifche Kirche fei teuflifch,
ganz und gar widerchriftlih — daher, wer von ihr getauft, müſſe,
um Chrift zu werden, wieder getauft werden. Diejen Lehren hat
Manelfi fih angefchloffen. „Nach einigen Monaten“, als er ſich
in Terrara befand, traf er dort einen früheren Regularkleriker,
Iſeppo von Bicenza, welcher denfelben Anfchauungen Huldigte und
ihn überredete, fih aufs neue taufen zu laſſen. Jener Tiziano
vollzieht die Taufe an ihm und noch an vier anderen — darunter
ein Ermönd Namens Francesco aus Lugo —, und alle mit
einander gehen nach Vicenza. Dort haben nun wirklich im Jahre
2 Beurath
1549 oder Anfangs 1550 Beſprechungen ſtattgehabt, welche zwar,
wenn man will, „Collegia Vicentina“ genannt werben können,
an benen aber weder Lelio Sozini, noch irgendeiner der von ben
Geſchichtſchreibern der MUntitrinitarier genannten hervorragenden
Berfönlichkeiten teilgenommen bat. Als man bie chriftologifche
Frage beſprich — se Cristo fusse Dio o huomo —, entftebt
Streit: da beſchließt man, alle Geiftlihden (ministri) aller Ge⸗
meinden zu einer gemeinfamen Beratung zuſammenzuberufen.
Man erwählt zwei Männer, bie umberreifen und die Aufforderung
überbringen follen: je zwei Abgeordnete foll jede Gemeinde ſchicken
zu tem im September 1550 in Venedig zu baltenden anabap-
tiftifhen Konzil.
Wir ftehen damit vor einer höchſt merkwürdigen und befang-
reihen, bisher durchaus unbekannten Thatſache. Wer hätte ge
dacht, daf die Nachricht des Wiszowaty ſich als eine folche heraus⸗
ftellen würde, die nur Ort und Zeit ungenau angiebt, der aber
ein Ereignis zum Grunde Tiegt, welches noch weit wichtiger und
eingreifender für die ganze radikale Reformbewegung geweſen ift,
al8 jener ahnte und wir bisher mit ihm ahnen konnten?
Zunächft ift fchon die große Zahl der Teilnehmer an diefem
Anabaptiftentonzil überrajchend: obwohl jede Gemeinde nur zwei
Vertreter zu ſenden hatte und nicht alle in der Lage gewejen find,
zwei zu fenden, fo belief fich die Zahl der Teilnehmer doch auf
ungefähr fehzig. Die Einladungen waren, wie beftimmt, münd⸗
fih durch zwei in der Verfammlung zu Vicenza gewählte Männer
überbradt worden: durch Oberitalien waren diefe umbergezogen,
dann nad Graubünden, unb in der Nord⸗Schweiz auf der einen
Seite bis Bafel, auf der anderen bis St. Gallen. Aus der
Schweiz waren 20 bis 30 erfchienen. Don den Teilnehmern
werben im einzelnen durch Manelfi namhaft gemacht: Tiziano und
Iſeppo, die ihn felbft zuerft in die anabaptiftifchen Lehren einge-
fügrt Hatten; ein Nicolao und ein Giacometto von Treviſo; der
frühere Abt Hieronimo Buzano, auch Buzzalle genannt, aus
Neapel; Benedetto da Afola aus Treviſo; ein gewiſſer Ginfio
und Hier. Speranza aus PVicenza; einer je aus Verona und aus
Padua, deren Namen Manelfi nicht mehr weiß; dann Celio ©e-
Wiedertäufer im Benetianifchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts. 2B
condo Eurione aus Bajel und „il Nero" (Francesco Negri) aug
Shiavenna. Diefe beiden legteren find in der Geſchichte der Mer
formatton in Sytalien befannt. Francesco Negri aus Baſſano,
Berfaffer der ,‚Tragedia del Libero Arbitrio“ und ber ergrei»
fenden Schilderung des Märtyrertodes des Tyanino von Faenza
(1550), welche auch in zwei deutfchen Ausgaben erjchienen ift,
lebte damals in Chiavenna und beteiligte fih an ben Lehrftreitig
teiten zwijchen dem orthodoxen Mainardo und Camillo Renato.
Daß er, der ſchon 1547 bei den Streitigkeiten im Veltlin feine
anabaptiftifche Nichtung nicht verhehlt hatte, bier erjcheint, ift nicht
zu verwundern. Anders verhält es fih mit Curione, der zwar
auch gewilfen orthodoxen Lehren gegenüber ſtets größere Freiheit
bewahrt bat, von dem aber bisher nicht befannt war, daß er
direfte Beziehungen zu den Anabaptiſten unterhalten hat (vgl.
C. Schmidt, C. ©. Gurioni, Zeitſchr. f. Hift. Theol. 1860,
Hft. IV). Von den Übrigen ift fonft noch befannt der Erabt
Buzzale; er war Borfteher der Gemeinde in Padua; er hatte
feine auf 1000 Dukaten jährlich fich belaufende Pfründe der Ges
meinde zumeifen wollen, aber dieje wollte „von dem Blut der
Beitie" nichts nehmen. Buzzalle fcheint befonderd großen Einfluß
auf die Beichlüffe des „Konzils“ gehabt zu Haben. Als nicht
ganz bedentungslos nah dieſer Seite Hin mag es gelten, daß
Wiszowaty ihn unter den von ihm Aufgezählten an erfter Stelle
bringt. |
Die Teilnehmer wurden in verfchiebenen Häufern und Miet
wohnungen in Venedig untergebracht, höchſtens 3 oder 4 zuſam⸗
men. Manelfi ſelbſt hatte die Obliegenheit, für die Fremden die
Quartiere zu bezahlen und giebt an, daß er die gefamte Lifte in
Padua niedergelegt habe. Die „Brüder“ in Vicenza, Padua,
Treviſo und Eittadella brachten die Koften für den Unterhalt auf,
die bei der mäßigen und befcheidenen Lebensweife verhältnismäßig
gering waren. Die Neifeloften aber wurden je feitens ber Ge⸗
meinden für ihre Abgeordneten beftritten. Faſt täglich verfammelte
man ſich: die heilige Schrift Alten und Neuen Zeftamentes warb
allen Beiprechungen zum Grunde gelegt. Mit gemeinfamen Ge-
beten wurden bie Verhandlungen jedesmal eröffnet. Dann forderte
24
Benrath
der Borfigende auf: Wer die Gabe ded Wortes Hat, möge auf
treten und, was er für richtig hält, vortragen zur Erbauung und '
zur Erledigung der Fragen, die uns Bier verfammelt haben. Über
alfe einzelnen Punkte erfolgte dann gemeinfame Beſprechung. Drei
mal feierte die Verfammlung das Heilige Abendmahl. Vierzig
Tage lang dauerten die Verhandlungen. Enblih war bie ge
wünfchte Einigung betreffd der beregten Fragen erzielt, die num in
en Sätzen feitgeftellt wurden:
10.
1. Ehriftus ift nicht Gott, fondern Menſch, gezeugt von Joſeph
und Maria, aber voll aller göttlichen Kräfte.
. Maria hat nachher noch andere Tüchter und Söhne geboren,
wie dies aus mehreren Stellen der Evangelien hervorgeht.
. &8 giebt feine Engel als bejondere Klaſſe von Wefen; wo
die h. Schrift von „Engeln“ redet, meint fie „Diener“, d. h.
Menſchen, welche von Gott zu beftimmten Zwecken gefandt
werden.
. &8 giebt nur einen Xeufel, nämlich die fleifchliche Klugheit
(prudentia humana). Unter der Schlange, welche nad
Mofes’ Bericht Eva verführte, iſt nichts anderes als dieſe
zu verjtehen. Beweis: Wir finden in der Schrift nicht, daß
irgendein von Gott geſchaffenes Wejen Gott feindlich tft, mit
Ausnahme der fleifchlichen Kiugheit, wie Paulus im Römer⸗
brief fagt.
. Die Gottlofen werden nicht auferwedt am jüngften Tage,
jondern nur die Erwählten, deren Haupt Chriftus geweſen ift.
. &8 giebt feine andere Hölle als das Grab.
. Wenn die Erwählten fterben, fo jchlummern fie bis zum
Tage des Gerichtes, wo alle auferweckt werden follen.
. Die Seelen der Gottlofen gehen mit dem Leibe zugrunde, wie
dies auch bei den Tieren der Fall ift.
. Der menfhlihe Same hat von Gott die Fähigkeit, Fleiſch
und Geift hervorzubringen.
Die Ermählten werden durch Gottes ewige Barmherzigkeit
und Liebe gerechtfertigt, ohne irgendein Außeres Werk, d. h.
ohne die DVerdienfte, da8 Blut und den Tod Chriſti. Chriſtus
ift gefterben, um die Gerechtigkeit Gottes zu erweifen: unter
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderte. 25
Gerechtigkeit Gottes verftehen wir den Gipfel aller Güte und
Barmherzigkeit Gottes und feiner Verheißung.
Ob Manelft in diefer Aufftellung der zehn Punkte die genaue
Formulierung der anabaptiftifchen Lehren gegeben Hat, wie fie
in DBenedig feftgefegt worden, bleibt dahingeftellt. Aber in der
Hauptſache Haben wir hier zweifellos den Niederſchlag der DVer-
Handlungen vor und. Daß dabei von der Bedeutung und Ans
wendung der Taufe ſowie von anderen wichtigen Lehrpunkten nicht
die Rebe ift, wird darans zu erflären fein, daß über dieſe eine
Berfchiedenheit in den Anfichten nicht vorhanden war. Übrigens
wurde auch betreffs der zehn Punkte eine abfolute Einigung nicht
erzielt: der Vertreter von Cittadella, Mefjer Ugoftino, erklärte
feinen Diffens, weigerte ji, die Artikel anzunehmen und fchied
dadurch nebft der von ihm vertretenen Gemeinde aus dem Ver⸗
bande der dogmatifch-radilalen Richtung aus. Denn das war aus⸗
drücklich zum Schluffe feitgefegt worden: allen beteiligten Gemein-
den foll die Lehrnormierung mitgeteilt werden — wer fie nicht
annimmt, wird ausgefchloffen.
Der Einfluß, der von Camillo Renato, Tiziano, Negri u. a.
in Beltlin und in Chiavenna vertretenen Anfichten läßt fih an
mehreren der zehn Punkte nachweilen: Da kommt z. B. Punkt 7
in Betracht, die Lehre vom Seelenſchlummer enthaltend, über reſp.
gegen welchen fi) die Synode zu Chur 1549 und dann Gallicius
al8 deren beauftragter Vertreter noch im nämlichen Jahre in
Chiavenna dem Camillo gegenüber gewandt Hatte (vgl. a Porta,
Hist. Ref. Eccl. Rhaet. I, 2). Es war da8 eine der Lieblings-
ideen Camillos, und da er ſich nicht fügte, fo ward am 6. Juli
1550 der Bann über ihn ausgeſprochen. Negri hatte treu auf
feiner Seite gejtanden — was dort in Chiavenna verworfen
wurde, das mag er felbit jest in Venedig zur Annahme empfohlen
haben. Liegt e8 aljo Hier nahe, einen bireften und beabjichtigten
Gegenfag zu anderweitigen Aufjtellungen in den Beſchlüſſen des
venetianifchen Konzils zu ftatuieren, fo fehlt es auch anderfeits
nicht an Winken darüber, dag die Beichlüffe felbjt, einmal befannt
geworden, der Zenfurierung verfallen find. So ſchreibt 3. 3. der
eben genannte Gallicius am legten Februar 1552 an Bullinger:
2 Benrath
„Ex Italia auditur esse qui non vereantur dicere, Christum
ex Josephi semine natum esse, quae vero Matthaeus et |
Lucas tradant de conceptione Christi de Spiritu Sancto,
aliunde infulta esse Evangelio“ (a Porta, a. a. O. J, ©. 167).
Dffenbar wird damit ber Inhalt des erften der zehn Säge vom
Jahre 1550 bezeichnet und verworfen.
Somit ergiebt fih, daß wir in dem „Benetianifchen Konzil
von 1550 einen wichtigen Wendepunft in ber Eutwidelung ber
anabaptiftifchen Bemegung in Stalien kennen gelernt haben. Hier
ift e8, wo bie beiden bisher neben einander laufenden Strömungen,
bie des dogmatifch-radilalen und die ded gemäßigten Anabaptis-
mus, der nur in der Tauflehre von der orthodox - reformatorifchen
Lehre abweicht, ſich fcheiden. Don jegt ab laufen drei ver
fchiedene Strömungen evangelifcher Reformbeitrebungen unter ber
Oberfläche Hin, vielfach fich berührend und kreuzend, aber doch
mehr und mehr ji) von einander entfernend und ſich gegenfeitig
dur) ihre Propaganda das Gebiet ftreitig machend: die „Iuthe
riſche“, d. h. orthodoxe, die gemäßigt-anabaptiftifche und die radi-
talsanabaptiftiiche. — Vertreter von jeder diefer drei Nichtungen
finden wir in großer Zahl unter den von der venetianifchen In⸗
quifition im Laufe der folgenden zwanzig Jahre angeflagten, pro-
zeffierten und beftraften Ketzern.
Auch über die damalige Organijation der Annbaptiften geben
uns die Mitteilungen Manelfis erwünfcten Aufſchluß. An der
Spite ber einzelnen Gemeinden ftehen „Diener“ (ministri); fi
werben eingejett oder eingeführt durch „Biſchöfe“ (episcopi oder
vescovi apostolici), denen es außerdem obliegt, das Wort Gottes
zu verkünden und die Gemeinden zu bejuchen (l’offizio de’ quali
& predicar la parola e constituir ministri). Daß zur Zeit bed
„Konzils“ eine Verbindung zwifchen den einzelnen anabaptiftifchen
Gemeinden beftand, wird einerjeit® durch die Thatfache der Br
rufung des „Konzils“ ſelbſt, anderſeits aber auch dadurch über
alfen Zweifel erhoben, daß diejenige Gemeinde, welche fich den
Beichlüffen der Verfammlung nit unterwirft, aus dem Verbande
ausgefchloffen wird. Die Verbindung zwifchen den Gemeinden
nun wurde, natürlich im geheimen aber wirkſam, durch fleißige
Wiedertäufer im Venetianiſchen um die Witte des 16. Iahrhunderts. 27
Beſuche der damit Beauftragten gepflegt; Manelfi felbft hat diejes
Amt längere Zeit verjehen und verdankt ihm eine große Berfonen-
fenntnis innerhalb des Beftandes der Gemeinſchaft. So hat Ma⸗
nelfi in Begleitung de3 Marcantonio von Ajolo die Gemeinden zu
Bicenza, Padua, Treviſo und die in Yftrien, im Begleitung des
„Biſchofs“ Lorenzo Nicoluzzo aus Modiana im Winter 1550 auf
1551 bie in der Romagna, in Ferrara und bie in Toscana be-
fucht, während er im vorhergehenden Sommer mit Mefjer Pas»
aualino von Ajolo, einem Gerber aus Treviſo, die Gemeinden in
Terrara, Padua und Bicenza befucht hatte. Solche ftets fich wies
berholende perfönfiche Berührungen erhielten das Gemeinfchafts-
leben trog aller äußeren Schwierigfeiten lebhaft wah. In bem
Verhör vom 18. November 1551 gab Manelfi Auskunft od
über weitere Organifation: die „Brüder“ benadhrichtigen einander,
fobald Gefahr da ift, durch befondere Boten; er felbft ift dadurch
einmal in Bagnacavallo der auf Befehl des Herzogs von Ferrara
vorzunehmenden Berhaftung entgangen und nad) Ravenna umd
Benedig entflohen. Manelfi bringt Beiſpiele dafür bei, daß die
„Brüder“ von dem Grgehen geheimer Haftbefehle feitens des
Rates der Zehn in Venedig, der Signoria in Florenz und ge⸗
wiſſer Reltoren und Biſchöfe im Venetianifchen rechtzeitig unter«
richtet geweien find — aud in die Gefängniffe willen fie einzu-
bringen, nm gefangene „Brüder" zu ftärfen: er felber jet vor
zwei Jahren mit dem nun in Rovigo hingerichteten Benedetto in
Denedig in ein Gefängnis gedrungen, habe einen „Rutheraner“ aus
Cittadella dort zum Anabaptiften gemacht und ihn getauft, nachdem
fie den Wärter beftochen hatten. Auch zu dem DBenebetto feien
„Brüder“ in ben Kerker gedrungen. Hauptzwed der gebachten
Reiſen blieb natürlich die Kräftigung des Gemeinfchaftsbewußtjeins
auf Grund der täuferifchen Lehren, Bifitation des Zuftandes der
Gemeinden und gelegentlicher weiterer Betrieb der Propaganda.
So jtieg Manelfi im September 1551 bei Bartolomeo della
Barba in Berona ab, der von Sacometto dem Seiljpinner in
Bicenza getauft, ihn im Namen der anabaptiftiih Gefinnten ger
beten hatte, dorthin zu kommen. &8 waren ihrer ungefähr 25;
fie trafen fih vor dem Shore der Stadt an einer Stelle in den
En ae a a
28 Benrath
Bergen, und als er ihnen die Zanflehre der Gemeinfchaft darge:
legt hatte, ftimmten alle bei. Als Manelfi nun aber die chrifte
logische Frage und zwar in der radilalen Weife wie die Beſchlüſſe
des „Konzils“ dies feitgefeßt Hatten, behandelte, da erhob fih
Einſprache, da wollten fie nicht beiftimmen — fo ift e8 ihm denn
nicht gelungen, eine wirkliche Gemeinde in Verona zu ftiften.
Mochte die Uueigennügigkeit aufjeiten ber Leiter diefes weit
ausgedehnten Gemeinmwefens nod fo groß fein, fo mußte doc) die
Art der Organifation die Verwaltung desfelben zu einer verhält
nismäßig Eoftjpieligen machen. Um fo fchwerer Iaftete dies auf
den ‚Gemeinden, da ihre Angehörigen, wie fich dies fchon aus
Manelfis Aufzählung ergiebt und durch die venetianifchen Akten be
ftätigt wird, zum großen Zeil den untern Ständen, befonders bem
der Kleinen Handwerker angehörten. Doc gab es auch begüterte
Mitglieder: einen Nicola von Aleffandria in Treviſo nennt Ma—
nelfi, der in der ausgiebigiten Weife für die Bedürfniffe der Ge
meinjchaft beifteuerte, der ihm felber 14 Scubi, der Gemeinde
bon Terrara AO Dufaten und ebenfo viel dem oben genannten
Tiziano gegeben hat.
Kehren wir zu Manelfi, dem wir dieſe Nachrichten verdanten,
zurüd. Auf einer der vielen Reifen, die er — ftetS in Begleitung
eines „Bruders“ — machte, um die Gemeinden im Lande zu be
juhen, und zwar im Oftober 1551, als er fich gerade in Ra—
venna und auf dem Wege nad) Toscana befand, ward ihm fein
Abfall von der römischen Kirche bedenklich — „es gefiel Gott,
mich meinen ganzen Irrtum erkennen zu laffen“ jo drückt er es
in dem „Geftändnis" aus —, er mußte ſich von feinem Begleiter
loszumaden, ging nad) Bologna, warf fih dem Inquiſitor zu
Füßen und erbat Wiederaufnahme. Diefer ſchickte ihn nach Rom
vor den Maeftro del Sagro Palazzo, wo er am 10. November
1551 anlangte, um dann am 12. zuerft vor dem Sant’ Uffizio
verhört zu werden. In Nom richtete man, wie immer in folden
Fällen, das Hauptaugenmert darauf, möglichjt viele Namen von
Mitſchuldigen zu erfahren. Zunächſt drang man in ihn, die Lifte
ber Zeilnehmer an dem „Konzil" zu vervollftändigen; es gelang
Manelfi au, fih auf nod einige Namen zu befinnen. Dann
Wiedertäufer im Venetianiſchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 29
verlangt man von ihm Aufzeichnung der ihm befannten „Quthes
raner“ und „Anabaptiften“ an allen Orten, die er befucht Habe.
An Benedig, fagt er, feien ihm von Anabaptiften erinnerlich ein
Meſſer Bartolo, Holzſchuhmacher im Ghetto vechio; ein Mefjer
Sion. Maria, Degenfchmied, in der Frezzaria, nebft feiner Frau;
ein Teppichweber im Ghetto vechio; mehrere Sammetweber und
eine Frau. Zwei habe er felbjt getauft und im legten September
das Abendmahl mit ihnen gefeiert. In Vicenza betrage die Zahl
der Anabaptiften ſechzig. Er nennt von ihnen: den Schneider
Guifeppe mit dem Beinamen il zingaro (dev Zigeuner); den
Schuſter Meffer Giovanni aus Poſchiavo und deſſen Gehilfen;
den Erpriefter Meſſer Antonio, der jet ebenfall® das Schuſter⸗
handwerf betreibt und verheiratet ift; Giovanni Maria Bagozzo;
Meſſer Deatteo della Maddalena, Wollfchläger, mit Frau und
Schwägerin; den in Venedig beim Konzil gewefenen Hieronimo
Speranza nebjt drei Schweitern; Meſſer Jacometto, Seilfpinner,
Biſchof und Vorſteher der Gemeinde, welcher viele in Vicenza
wieder getauft hat; dann einen Schneider Aloifetto, einen Färber
Matteo, einen Schufter GIudio, einen Knopfmacher Yacopo, einen
Brotverfäufer, einen Lumpenſammler und viele andere. Ein bes
ftimmtes Lokal haben fie nicht, fondern verfammeln ſich bald hier,
bald dort. Die venetianishen Befchlüffe Haben fie angenommen und
hangen daran. Auch in Padua fennt Manelft eine Anzahl Anas
baptiften mit Namen: Vorfteher der Gemeinde ift — nad) dem
Weggange des Erabtes Buzzale, den wir unter den Teilnehmern
am „Konzil" fanden — ein Bartolomeo aus Padua. Zu den
Mitgliedern gehört der Bruder des Buzzale aus Neapel, Benes
betto, Student an der Univerfität. Ferner gehören zu ihnen: ein
Meffer Francesco, Degenſchmied; ein Krämer Salvatore aus
Venedig; ein Schuhmadher Bingio; ein Schneider Bernardino
nebft Frau u. a. Und fo fährt Manelfi fort, die ihm in vers
fchiedenen Städten, auch in und bei Treviſo, in Afolo, Cologne,
vAbbazia bei Verona, in Rovigo, Eittadella, Capo d’Iftria, Pie
tano, Conegliano, Momarano und Cherſo, bekannt gewordenen
Anabaptiften namentlich aufzuzählen, — fo ein willlommenes Re⸗
gifter für weitere Nachforfchungen ſeitens der venetianifchen In⸗
30 Benrath
guifition liefernrd. Auch „Lutheraner” kennt und nennt er in
großer Zahl in den meilten diefer Orte, — auf dieſe näher ein-
zugehen, läge außerhalb der unferer gegenwärtigen Unterſuchung
geſteckten Grenzen. Es fei nur erwähnt, daß unter den von ihm
für Venedig Verzeichneten der Bibelüberfeger Bruccioli und zwei
„magnifici“, d. h. Edle, fich befinden, deren Namen nachträglich
unfeferlich gemacht find.
Eine beträchtliche Anzahl der von Manelfi namhaft Gemachten
begegnet nun in der folgenden Zeit in den Akten der venetianifchen
Amauifition wieder. Man kann genau verfolgen, wie diefe ſyſte⸗
matiſch vorgegangen ift, um die ganze Bewegung, deren Teil⸗
nehmer ihr auf diefem Wege in jo großer Zahl befaunt wurden,
zu unterdrüden. Schon im Dezember 1551 ergmg an den Po⸗
defta von Padua Befehl, die von Manelfi Bezeichneten ſämtlich
gefangen zu nehmen und nach Venedig überzuführen. Einen ſchickt
diefer fchon am 20., dann zwei fernere am 22. und fchreibt
dazu: ein Dritter — es war der Bruder des Vorſtehers Buzzale,
der Student Benedetto — ſei nicht mehr da, und zwei, der
Krämer Salvatore fowie Giangiogia Batricio, habe er noch nicht
fafjen können. Später hat er auch fie eingeliefert. Zur jelben
Zeit erging gleicher Befehl au den Rettore in Vicenza: der ſchickt
am 22. Dezember den von Manelft als Hauptleger bezeichneten
Bartolomeo dalla Barba — von ihm und drei anderen Vicen⸗
tiner Auabaptiften liegen die Prozeßakten und darin die fchließliche
Abjchwörungsformel vor (S. Uffizio, B. 9). Auch nad) Trevifo
und Afolo erging gleicher Befehl mit ähnlichem Erfolge. So war
der erſte Hauptichlag fchon im Dezember 1551 als gelungen zu
betrachten, und im Laufe der nüchftfolgenden Jahre fpielten jich
nun teil8 vor dem venetianifchen Tribunale, teil$ vor den Bezirks⸗
tribunalen im Xerritorium eine große Menge von Prozeſſen ab,
deren Alten heute noch in dem Staatsarchiv zu Venedig aufbe⸗
wahrt find. Einige Beifpiele lafje ich folgen: ‘Der von Manelfi
genannte Schuhmacher Pietro von Aſolo ift eingezogen und durch
Drohungen zum Abſchwören gebracht worden. Er jagt aus, daß
er verführt worden fei durch den inzwifchen in Rovigo als Kleber
verbrannten Benetto di Borgo; daß er Sonntage mit anderen.
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 31
gegangen fet, dem Conventifel beizumohnen, wo ein „ministro‘
eine Stelle aus dem Neuen Teſtament italienisch vorlas und er»
Härte; daß er fih dann nad vier Monaten von dem und bes
fannten Nicolao von Alefjandria habe wiedertaufen laffen (B. 25).
Ein Priefter aud Buongiorno bella Cava, Don Giovanni
Laureto, klagt ſich in einer nicht datierten Demmclation jelbft an
(B. 25), daß er fi den Anabaptiften angefchloffen, an der Wirk⸗
kamkeit der römischen Taufe gezweifelt, Überhaupt die Taufe nur
als ein Zeichen angefehen habe, das zum Heile nicht beitrage.
„Während ich diefer Sekte angehörte, bezweifelte ich, daß Chriftus
wahrer Gott ſei und dab er von einer Jungfrau geboren fei, und
ich glaubte, dag die Evangelien verderbt feien. Und da unter dem
Wiedergetauften über diefe ragen gehandelt wurde und einige fie
bejabten, andere fie verneinten, wir aber dem Abte Buzzale, dem
man das Amt der Schrifterflärung übertragen hatte, nad einigen
Beſprechungen und Vorträgen darüber Folge leifteten: jo fing auch
ih an, fie wie die Übrigen zu befennen und fie anderen vorzu⸗
tragen“ ... Es ift Mar, dag dies in die Zeit vor dem „Konzil“
von 1550 fällt, als über die chriftologische Trage noch nicht ent»
fchieden worden war, und es weiſt auch darauf hin, daß der Er»
abt Buzzale eine Hervorragende Stellung in der anabaptijtifchen
Gemeinſchaft befaß und ihm and) wohl bejonderer Einfluß auf die
Beſchlüſſe des Konzils zugelchrieben werden darf.
Gleichfalls in die Zeit vor dem „Konzil" fällt die Irrfahrt
und ber Prozeß des Girolamo Allegretti aus Spalatro (B. 22)
— ein Prozeß, der von befonderem Belange deshalb ift, weil er
und einen Blick in die damaligen Beziehungen zwiſchen den Ans
Hängern der orthodoren und denen der anabaptiitiichen Reformation
thun Läßt und eine Anzahl von Männern vorführt, welche für
beide Richtungen von Bedeutung gewejen find. Allegretti, ober,
wie er feit dem Eintritt in den Dominifanerorden hieß, Fraͤ
Marco, war Lektor im Kloſter zu Spalatro, lernte dort hüre⸗
tische Bücher Tennen, verlieh den Orden 1549, ging über Venedig
nad) Poſchiavo, wohin er eine Empfehlung an ben vor kurzem
dorthin geflüchteten Erzbifchof von Capo d’Yftria, Vergerio, mit⸗
brachte, denn nad Chiavenna, mo er Zeuge von der dogmatijchen
32 Benrath
Entzweiung zwifchen Mainardo, Renato und Negri war. Er geit
dann auf Baldaffare Altieris Rat nach Baſel, wo ihn Curione
und andere freundlih aufnehmen, bis er mit Eurione in Streit
gerät, „meil diefer die Gottheit Chrifti leugnete“, und nach Chia⸗
venna zurückkehrte. Die „Lutheraner" in Cremona berufen ihn
als Prediger: er folgt ihrem Rufe, bleibt aber nicht lange, fon
dern geht nah Gardone am Gardafee, von wo aus er fi im
Auguft reumütig dem Vorſteher feines Kloſters in Spalatro zu
Füßen wirft. Seine Abſchwörung datiert vom 18. November
1550. Unter ben bei ihm mit Beſchlag belegten Papieren be
finden fi vier Briefe aus dem Jahre 1550, welche von nidt
gewöhnlichen Intereſſe find, drei davon im Original, einer in
Abſchrift. Der erfte der drei Originalbriefe ift von Giulio di
Milano, der zu Anfang der vierziger Fahre in Venedig als Ketzer
ins Gefängnis geworfen — es ift der nämliche, für ben Odin
1542 dort feine Stimme erhob *), — fich durch die Flucht rettete
und eine gefegnete Wirkſamkeit als Pfarrer in Poſchiavo geübt
hat. Zu Giulio find Gerüchte gedrungen des Inhaltes, daß de
Adreffat von dem orthodoren Glauben abgefallen fei zu den An
baptiften: auf der Durchreife in Chiavenna habe er fich verbädtig
gemacht und durch jein fpäteres Auftreten in Cremona diefen Vers
dacht befeftigt: Giulio befhwört ihn um Chriftt und der Ge
meinde willen, fih von dem Verdachte zu reinigen, — könne er
das nicht, verwerfe er wirklich die Sindertaufe, fo müſſe der
Schreiber fih freilich von ihm fjcheiden und erfläre vor Gottes
Angeficht, daß er nichts mehr mit ihm zu thun haben wolle. De
Brief bildet troß dieſer entfchiedenen Wendung ein herrliches
Zeugnis für die Milde und Frömmigkeit, ebenfo wie für dem fitt
lichen Ernſt und den Eifer feines Verfaſſers. Er datiert vom
14, Juni 1550. Die beiden folgenden find von je einem hervor
ragenden Mitgliede der evangelifchen Gemeinde in Cremona, wo
Allegretti fi trog der Kürze feiner Wirkſamkeit die Liebe al
erworben zu haben ſcheint. Nicolao Fogliato fchreibt unter dem
1) Bgl. meine Biographie Ochinos, S. 109, wo derſelbe übrigens ir
tümlich Terenziano zubenannt ifl.
Miedertäufer im Venetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 38
20. und Thomas Pueraro unter dem 29. Zuni — Briefe, welche
beachtenswerte Zeugniffe für ein hohes Maß chriftlicher Ein-
ficht und warmer Liebe zur evangelifhen Wahrheit auffeiten ber
Schreiber darftellen. Der vierte Brief endlich ift ein fehr merk⸗
würdiges, nur in Abſchrift erhaltenes, Aktenſtück: ein Kollektiv
fchreiben der Vertreter der Gemeinde in Eremona vom 3. Juli
1550 als Antwort auf eine Zufchrift Allegrettis, in welcher er die
verheißungsvolle Lage feiner neuen Gemeinde in Gardone geſchil⸗
dert hatte. Gegen die Verleumbungen, welche er erfahren habe,
— Giulio von Milano Hatte fid auf Nachrichten aus Eremona
Bezogen — Stellen fie fich auf feine Seite; er hat ihnen offenbar
feine wahren Anfichten über die Kindertanufe nicht enthüllt. ‘Drei
Brüder follen das Gemeindefchreiben überbringen und find beaufr
tragt, we nötig, jelbft Zeugnis für Allegretti abzulegen; mit ber
Bitte, der eigenen Gemeinde den brüderlichen Gruß der Gemeinde
von Eremona zu jagen, fchließt der Brief. Diefer Brief ſollte
— ach! — das legte Lebenszeichen einer blühenden evangelischen
Gemeinde fein. Was fhon Pueraro furz vorher an Allegretti
gemeldet hatte, nämlich, daß foeben die Verfolgung der „Ketzer“
dort ins Werk gejeßt werde, das nahm fchon bald jo erfchredenden
Umfang an, daß die Evangelifchgefinnten fich gezwungen jahen,
die Stadt zu verlaffen. Nicht weniger al8 achtzig von ihnen find
im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Genf
entflohen ) — darunter ſchon 1551 Fogliato und Pueraro felbft,
fowie die meiften der Übrigen, welche als Vertreter der Gemeinde
das Schreiben an Allegretti unterzeichnet haben. Ja, e8 liegt am
nädften, anzunehmen, daß gerade durch diefes Schreiben die In⸗
quifition die Häupter ber Gemeinde in Cremona kennen ges
lernt Bat.
Aus den Verhören Allegrettis und anderer, wie fie den Alten
beiliegen, erfahren wir auch einiges Aber bie Art, wie der Ana⸗
baptismus nad) Gardone gebracht worden ift: ein Arzt aus Ere-
mona, Mefjer Stefano de’ Giufti, Hat zuerft das Unkraut eingefäet ;
1) Bol. das Verzeichnis bei Galiffe, Le Refuge italien & Geneve,
©. 129 ff. (Genf 1881). | |
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 3
34 Benrath
dann bat fih in dem Haufe eines Gio. Marco Rampino ein
Mittelpunft für diefe Anfchauungen gebildet: außer dreien, welde
diefen Namen tragen, werden noch Meſſer Settembrino, Meſſer
Zani = Giovanni, fein Bruder, und Meier Joſaphat Eipriano ale
Hauptvertreter der anabaptiftiihen Richtung namhaft gemadit.
Die Inquiſition Hat diefe Bewegung erftidt. Außer Allegrettis
Abſchwörung, die aus Rückſicht auf den Orden im geheimen ge-
leiftet wurde, liegt noch die deö Arztes de Giuſti (vom 20. Des
zember 1550) bei den Akten: öffentlich nach der Meſſe und vor
allem Volk hat er fie leiften müſſen. Seit diefer Zeit verlautet
nichts mehr von anabaptiftifchen oder auch evangelifchsorthodoren
Bewegungen am Ufer des Gardafes, — nur daß unter dem
14. Oftober 1563 der Rat der Zehn dem Gejandten in Rom
mitteilt, es fei ſchon Auftrag gegeben, daß „jene ſchändlichen Ketzer
zu Gardone eingezogen und mit dem Tode beftraft werden foll-
ten“ ?).
Mittlerweile hatte die Verfolgung des Anabaptismus an ben
von Manelfi bezeichneten Orten begonnen. ‘Da er ſelbſt der radi-
falen Richtung angehört und zumeift deren Anhänger namhaft
gemacht Hatte, jo wandte ſich die Verfolgung natürlich zunächſt
gegen dieſe. Das von der venetianifchen Inquiſition gefammelte
darauf bezügliche Material ift noch in ziemlicher Vollftändigkeit in
den Aktenfascikeln des Sant’ Uifizio im Staatsardiv erhalten.
Das Vorgehen ift in allen einzelnen Fällen das nämliche: auf
Antrag des Inquiſitors refp. des päpftlihen Legaten erteilt der
Nat der Zehn Befehl zur Verhaftung des Ketzers; die Vorunter⸗
fuhung wird entweder an Ort und Stelle durch die bijchöfliche
Kurie geführt, oder der Angellagte refp. Verdächtige wird nad)
Venedig geſchickt, um dort unter Ajfiftenz der drei „Savj“ ver
hört und abgeurteilt zu werden. Da man nun in Übereinftim-
mung mit der Praxis des römischen Tribunales jeden Angeklagten
auf das genauefte nad) dem Namen etwaiger „Mitjchuldigen“
fragte, um dann auch gegen dieje vorzugehen, und da außerdem in
1) Cecchetti, La Rep. di Venezia e la Corte di Roma [1874],
vol. I, p. 25.
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Sahrhunderte. 85
Venedig mehr als anderöwo dad Syftem der geheimen Denunzia»
tionen ſchon inbezug auf politifche, beſonders aber auch religiöfe
Anfichten und Abweichungen im Echwange war, fo ift e8 nicht zu
verwundern, daß durchweg reichliches Material vorlag und daß im
Anſchluß an einen Prozeß und infolge der bier gegebenen Finger⸗
zeige oft zahlreiche neue von mehr ober weniger Umfang geführt
wurden.
An dem nämlihen Tage, an welchem infolge der Denunziation
ManelfiS der Podefta von Padua einige von den Leitern der
dortigen Anabaptiftengemeinde nad) Venedig abjandte, ließ der Nat
der Zehn aud Befehl nad) Verona ergehen, dort einen befonders
eifrigen Anabaptiften, den oben genannten Bartolomeo della Barba,
gefangen nach Venedig zu ſchicken. Bereits im Juli 1550 hatte
in Verona eine Unterfuchung gegen dieſen vor dem bifchöffichen
Zribunale gefchwebt; fie war zwar ohne definitive Reſultat für
den Angeklagten geblieben, hatte aber eine Reihe von intereſſanten
Einzelheiten ans Licht gebracht. Nach feinen und anderer Aus⸗
jagen war Bartolomeo zwifchen 1542 und 1549 in Deutfchland
gewefen, wo er mit der neuen Lehre befannt geworden war. Ale
Gefinnungsgenoffen in Verona hatte er fiebzehn, meilt Handwerker,
bezeichnet, die dann auch unter dem 21. Juli 1550 ſämtlich citiert
wurden. Aus ihren Geftändniffen geht hervor, bag man fih im
Haufe eines Tiberio da Dlive verfammelte, daß diefer in dogma⸗
tischen Fragen den Ausſchlag gab, dag eine Anzahl von häretifchen
Büchern von ihnen gelefen wurden, 3. B. das „Benefizio“ und
das „Sommario della Sacra Scrittura“; auch die „ Tragedia
del libero arbitrio“ von Negri und „Pasquino in Estasi“,
diefe bekannte beißende und glänzende Satire von Celio Secondo
Burione; endlich Schriften von Ochino und von Bullinger, Brenz,
Bodius u. a. find in ihren Händen geweſen. Das Tribunal
in Verona fcheint den angellagten Bartolomeo wieder freigelaffen
zu haben — wenigftens giebt Manelfi an, im Jahre 1551 wieder
in deffen Haufe gewohnt zu haben —, als aber gegen Ende 1551
plötzlich das Vorgehen auf der ganzen Linie erfolgte, ward er
von neuem gefänglich eingezogen. In Venedig nun erhielt der
Brozeß feinen definitiven Abſchluß in Geftalt eines Urteile,
3 *
3% Benrath
welches bem Angeflagten — da er „freiwillig“ Abfhwörung ges
feiftet — nur eine Anzahl von kanoniſchen Pönitenzen auferlegt.
Die ihm beigefügte von Bartolomeo unterzeichnete und in Berona
öffentlich verlefene Abſchwörungsformel bezeichnet genauer, als das
fonft wohl gefchieht, die einzelnen Tegerifchen Lehren, denen er fid)
Bingegeben hatte: daß nicht die römiſche Kirche die wahre chriftliche
Kirche fei, fondern die der Anabaptiften; daß er fich Habe von
neuem taufen laſſen, in der Meinung, daß die Heilswirkung der
Taufe durch den eigenen Glauben bedingt fei; daß man ihn über»
redet habe, Jeſus Chriſtus fet wie jeder Menſch geboren worden;
daß Jeſus Chriftus nur ein gottgefandter Bote fei, nicht der Er-
Löfer, und daß er nur deshalb in die Welt gekommen ſei, um
Gottes Erlöfungsratihluß (la buona volontä di Dio) offenbar
zu machen; daß Gott kein Tyrann fei, dem erft das Blut feines
Sohnes gemugthun müfje; daß es für die Gottlofen keine Aufer-
ftegung gebe: ftürben fe, jo fei das, als ob ein Tier ftürbe; daß
es Teine Hölle gebe, ausgenommen das Grab. „Des hat mir“,
fegte Bartolomeo Hinzu, „fo viel zu fchaffen gemacht, daß ich
weder Tag noch Naht Ruhe finden konnte und mein Gewiſſen
immerfort bejchwert war. Auch babe ich über diefe Anfichten noch
mit andern geredet umd mic mit ihnen verfammelt, um darüber
zu verhandeln. . .*.
Diefes letztere weift vielleicht auf die Teilnahme Bartolomeos
am „Konzil" von 1550 bin — er wäre dann der in Manelfis
Geftändnis nicht mit Namen genannte Vertreter der Gemeinschaft
aus Verona. Die beiden leiten in der Abſchwörung widerrufenen
Säge decken fih wit den Beichlüffen 6 und 8 des „Konzild“, und
die Anficht von der Perfon Ehrifti, wie fie hier aufgeftellt wird,
ftimmt mit der des 1. Konzilsbefhluffes überein, während feine
Anficht von der Erlöfung ebenſo wie der 10. Beſchluß die Gel-
tung des Todes Chrifti als Sühnopfer ausschließt.
Die mit dem reichlichen feit Manelfis Verrat zugebote ftehen-
den Materiale eingeleitete Verfolgung, wie fte faft gleichzeitig im
ganzen Dominium losbrach, konnte nicht umhin, auf den Fortgang
der Bewegung lähmend zu wirken, ja ihren Beſtand ernftlih in
Frage zu ftellen. In Venedig mochte man an ber leitenden Stelle
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte bes 16. Jahrhunderts. 87
mit Überraſchung von der ungeahnt weiten Verbreitung ber Ketzerei
Kenntnis nehmen: fo viel wenigftens war Kar geftellt, daß Nom
nicht übertrieb, mer es Hagte, daß das ganze Dominium infiziert
fei und daß es nit ohne Grund außergewöhnliche Maßregeln da»
gegen forderte. Freilich veranlaßte die Berfchärfung, in welche der
Senat einwilligte, auch die Anabaptiften und ihre Gemeinden zu
um fo größerer Vorfiht. Nachdem der erfte Sturm vorüberge-
gangen, hören wir — etwa feit 1552 — wenig mehr von bes
fonder& bemerkenswerten und inftrultiven Fällen auf längere Zeit
Bin, je bis zum Ende ber fünfziger Jahre. So laffen uns bie
Alten auch im Stich, wenn wir fie um das Schickſal der ana»
Beptiftifchen Gemeinde in Bicenza befragen — von anderer Seite
fommt uns ein Wint, daß fie 1553 noch beftand, und zwar durch
die Nachricht, daß Gribaldi den „Brüdern zu Vicenza“ bie Hin«
richtung Servets mitgeteilt hat.
Selbftwerftändfich hatte die Berfolgimg im venetianifchen Gebiet
ebenja wohl die Dogmatifch-gemäßigten wie die Radikalen unter ber
Anabaptiſten getroffen. Während aber nad) Ausweis der Zahlen-
verhäftniffe bei dem „Konzil“ von 1550 zu diefer Zeit die Mehr-
zahl der letzteren Richtung angehörte, jcheint fich diefed Verhältnis
im Laufe des folgenden Jahrzehnts geändert zu Haben, wenigitend
iſt zweifellos die Zahl der Dogmatifchgemäßigten, die zwar bie
Kindertaufe verwarfen, aber die Artikel des Apoftolifchen Bekennt⸗
niffes annehmen, am meiften — auch mehr al& die der Orthe⸗
deren — gewachſen und ziwar fo, bafß.die Bewegung gleihmäßtg
an den verfchiedenften Punkten des Dominiums zutage tritt. Wie
uns das Geftändnis des Manelfi fehr branchbares Material ges
geben hat, um eine Art von ftatiftifcher Überſicht fiir die Zeit bis
1551 zu gewinnen, fo mag eine 1559 ober 1560 aufgeftellte umd
untere den feinerzeit befchlegnahmten Papieren eines gefangenen
Arabaptiften von der gemäßigten Richtung von mir aufgefundene
Lite der „Brüber“ im ähnlicher Weiſe für dieſe fpätere Zeit
verwertet werden.
Die Berfönlichkeit, der wir dieſe Lifte verdanken, iſt eime in
hohem Grade intereffante. Sie ſtellt in fich eine ganz neue Phafe
des italienifchen Wiedertäufertums dar; nämlich wie es ſich ges
88 Benrath
ftaltet hat durch eine in den fünfziger Jahren hergeftellte enge
Verbindung mit den Huterfchen „Brüdern“ in Mähren, alfo der
dort jeit Jahrzehnten Lonfolidierten gemäßigten Richtung der Täu⸗
fer. Bet unferem Gherlandi ift zugleich der nicht übermäßig
häufig begegnende Fall eingetreten, daß das evangelifche Bekennt⸗
nis einen wirklich treuen, tief religiöfen, bi8 zum äußerften ſtand⸗
haft bleibenden Jünger aus dem Stande der römiſchen Kleriker
heraus an ihm gewonnen bat.
Giulio Gherlandi — auch Guirlanda genannt — aus Spre-
fiano bei Treviſo, bei dem erften Verhör vom 14. Oktober 1561
anfcheinend „etwa 4O Jahre alt“, war, wie er in dem unter dem
21. Oftober 1561 im Kerker aufgejegten -„Belenntniffe” (ſ. u.) er-
wähnt, von feinem fatholifhen Vater zum geiftlihen Stande beftimmt
worden und Hatte auch die Subdiafonatsweihe erhalten. Während
ihn der Gegenfag, wie Amt und Leben ber vielfach Lafterhaften
Priefter ihn bildeten, lebhaft befchäftigte, fiel ihm eines Tages beim
Lefen des Brevierd das Wort Matth. 7 ins Auge: „Hütet euch
vor den falfchen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen,
inwendig aber reißende Wölfe find? — an ihren Früdten follt
ihr fie erkennen!" Das brachte ihn zu ernfter Selbfiprüfung —
endlich entichieb er fich. „Ich verlieg Nom; denn wer Sklave ift,
kann nicht die Freiheit predigen, und wer die Sünde thut, ift ihr
Knecht. Ich fuchte nah einem Volke, welches durch das Evans
gelium der Wahrheit von der Knechtſchaft der Sünde frei wäre
und in einem neuen Leben. wandelte — einem Volke, ba8 Seine
heilige unbefleckte Kirche ift, gefchieden von ben Sündern, ohne
Runzel und ohne Fehl. . .”.
Aus feinen Verhören gehen nun die folgenden Einzelheiten
hervor: Um da8 Jahr 1549 Hatte der uns belannte Nicolao
d’Aleffandria ihn auf Villa Lancenigo bei Trevifo wiedergetauft.
Später hat er jelbft einige andere getauft, darunter einen gewiffen
Filippo aus Sieilien und einen Leonardo aus Verona. Kein
Zweifel, daß er zunächſt der nämlichen Richtung fi anfchloß,
welcher jener Nicolao bereits angehörte, nämlich der radilalen. Das
tritt auch noch bei einzelnen der dogmatifchen Punkte hervor, welche
das am 13. Dftober 1562 gefällte Lirteil als Anklage gegen ihn,
MWiedertäufer im Venetianifchen um die Mitte des 16. Iahrhunderts. 89
der diefe Lehren gehegt habe, verwendete, obwohl er mit Beftimmt-
Heit erklärt hatte, daß er jet die Zwölf Artikel annehme. Wann
er die radilalen Anabaptiften verließ, um fich den Huterjchen
Brüdern anzufchließen, ift aus feinen Papieren nicht genau erfidht-
ih. Da wir aber erfahren, daß er fchon 1557 einmal von
Mähren aus nad) Italien zurücdgefandt worden ift, fo iſt e8 Kar,
dag Gherlandi fpäteftens in diefem Jahre Mitglied der „Gemain“
geworden fein muß. Übergeführt zu den mährifchen Wiedertäufern
hatte ihn Francesco della Saga aus Rovigo, der auch, gleih ihm
der Gewalt der venetianifchen Inquifition verfallen, jeine Stand⸗
Haftigkeit im Glauben mit gewaltfamem Tode büßen follte.
Die Nachrichten, welche uns über diefe beiden die Alten der
Inquiſition geben, werben ergänzt durch Notizen in den „Denk⸗
büchlen“ oder „Chroniklen“ der mährifchen Wiedertäufer, welche
den verehrten treuen „wälſchen Brüdern” dankbare Erinnerung
weihen !), von denen der eine, Saga, 1561 zum „Diener am
Evangelium" erwählt worden war.
Es mag in den erften Märztagen 1559 gewefen fein, ale
Sherlandi von neuem Nikolsburg in Mähren verließ, um bie
„Brüder“ in Stalien zu befuchen. Zwei Gleichgefinnte, Matteo
und Bernardo, begleiteten ihn. Saga gab ihnen einen Brief an
einen Gefinnungsgenoffen in PVicenza, die „Gemain“ aber ein
Empfehlungsjchreiben allgemeinerer Art mit, deſſen Eingang folgen-
dermaßen lautete: „Wir, die durch Chriftum geheiligte und in bie
Gemeinfchaft Gottes des Vaters und feines Sohnes Jeſu Chrifti
aufgenommene Gemeinde, zufammen mit den Älteſten und Dienern
(— Predigern), wünſchen allen denen, die in Stalien find und
vollfommen in der Wahrheit leben wollen, die Einficht in den
göttlichen Willen: damit fie mit aufrichtigem Gemüte Ehriftum in
1) Nachdem im Sabre 1850 eins diefer „Denkbüchlen“, welches auf der
Samburger Stadtbibliothef aufbewahrt wird, in nur zu knappen Auszügen
veröffentlicht worden ift (Archiv f. d. Kunde öflerreich. Gejch.-Duellen, Bd. V),
bat 1883 Herr Hofrat Dr. Bed in Wien eine Synopſe der ſämtlichen erhal-
tenen geliefert (Fontes Rerum Austriacarum, Bd. XLIII) und dadurd) ſo⸗
wie durch feine veichlichen Yitterarifchen Nachweife erft den Grund zu genauerer
Kenntnis der anabaptiftifchen Bewegung in Ofterreich- Ungarn gelegt. Über
Sagas Wahl vgl. hier ©. 212.
4 Benvath
feiner Kraft erkennen, ihn umfalfen, ihm ſich Hingeben und dadırd
feiner Semeinfchaft und des ewigen Lebens teilhaftig werden. All
fei es!“ Das Schreiben geht davon aus, dag einige aus Stalin
fih der Gemeinſchaft angefchlojfen Haben und nun wünſchen, da
Frieden, den fle felbft gefunden haben, auch ihren Volksgenoſſe
zu bringen. Die Gemeinde fei gern darauf eingegangen, hit
ihnen die Erlaubnis dazu erteilt, halte aber für nötig, einiges kr
vorzuheben, worauf bejonderd zu achten ſei. Zunächſt betrefil
der Lehre von der Menſchwerdung Chrifti, die viel Verwirrun
und Streit angerichet habe, fofern die Anfichten ſchwankten zwiſche
den beiden Extremen: daß Chriftus fein Fleiſch vom Himmel mit
gebracht habe — oder aber daß er von Joſephs Samen gem
jei: beide Anfichten feien falſch —, die allein richtige Meitte finde
fie in der Erzählung der biblischen Vorgeſchichte. „Wenn num
— ſo ſchließt das Schreiben unter deutlicher Anfpielung auf di
im venetianifchen Konzil 1550 feftgeftellten Lehrpunkte — „au
noch andere Srrtümer fi) unter euch finden, betreffs der Ay
erftehung der Toten oder in der Lehre von den Engeln und Tu:
fein, oder in anderen Dingen, fo denken wir doch, daß wenn g9Jh
an diefen Artifel glaubt, Ihr auch bald bezüglich der andern
Euern Sinn ändern und Euch von Gottes Geift in ber Kirk
leiten laffen werdet ...“.
Um nun die Propaganda wirkfam in die Hand nehmen ı
fünnen, brachte Gherlandi ein Verzeichnis von folchen mit, wel
int den verfchiedenften Orten, vornehmlich des Dominiums, der an
baptiftifchen Lehre ergeben waren und von denen man voransjet,
daß fie zur Förderung bes gemäßigten Anabaptismus bereit ji
würden. Diefes Verzeichnis, übrigens von Gherlandi felbft al
undoliftändig bezeichnet, liegt den Akten bei. Es iſt nachträgli
noch durch eine Lifte von „Mitſchuldigen“ ergänzt worden, welk
der Notar der Inquiſition aus Angaben in den Verhören al
geftellt Hat. Wir werden bier wieder mit einer großen Anh
von Anabaptiften befannt gemadt: für Venedig hat Gherlan
jech® verzeichnet, darunter einen Handſchuhmacher, einen Zimmer
vermieter und einen, der enftervorhänge macht; für Papdıra ein
Bäcker und eine Frau; für Vicenza fünf, von denen einer, M
Wiedertäufer im Benetianifchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts. 41
Bechermacher Giov. Pietro in ber Pfarrei San Rocco, noch den
unter dem 5. März 1559 von Francesco della Saga aus Mähren
gejchriebenen befonderen Empfehlungsbrief zugunften der „Brüder*,
nämlich Gberlandis und feiner Begleiter, erhalten ſollte. Die
übrigen Orte, für welche Adreſſen vorliegen, find die folgenden:
Malborghetto, Gemona, Riva Rotla, Thifana di San Michele,
Billa nova, San Maure, Cinto, Noventa, Sprefiano, Trevifo,
Billorba, Arcade, La Mira, Mezzaftrada, Villa Verla (?), Iſola
im Val Lugana, Piove, Valdagno, Verona, Caftel S. Felice,
Bergamo, Maderno, Feltre, Fonzas (?), Görz, Caſuol (?), Citta⸗
della, San Baſtian, Trieſte, Lugo, Gorgo (Borgo?), Mantua,
Viadana, Guaſtalla, Doſe (?), Lucera e Rezuol (?), Meſtre,
Gazo, Scandolara, Gefalte (?), Rivaſecca, Formegan (tra Feltre
e Cividal), Cao del Ponte, Primer, Pel (?) und zwei nicht näher
bezeichnete Orte bei Poſchiavo und bei S. Maurizio; endlich Fer⸗
rara und Udine. Wenn man nun dazu noch die Mitſchuldigen“
aus der Lifte des Notars rechnet, die fi) in Capo d'gſtria,
Oderzo, Bafjano, le Tezze, Mufolente, Maroftega, Serravalle bei
Gividale, Aſolo, S. Zenone und Mufaftretta befinden, fo erhellt
eine erftaunlic) weite Verbreitung der Bewegung fchon aus den
Alten diefes einen Prozefies. Aber es fcheint, daß Gherlandi nicht
in die Lage gekommen ift, von feinen Adreffen und Empfehlungen
viel Nutzen zu ziehen. Wenigftend bören wir von feiner Wirk«
ſamkeit nichts, wiffen allerdings auch nicht, wie lange er innerhalb
ber Grenzen Staliens frei feinem Zwecke Hat nachgehen Tünnen.
Im BVenetianifchen ift er fett Weihnachten 1560 mit einem Ita⸗
fiener thätig geweien. Wenn er — was nicht zu bezweifeln —
der Brief de8 Saga an den Bechermacher in Bicenza ſelbſt aus
Nikolsburg mitgebracht, alfo die Reiſe von dort nicht vor dem
5. März 1559 angetreten hat, fo mag er etwa im April 1559
die venetianifche Grenze Überjchritten haben. Wielleicht aber Liegt
ein abermaliger Aufenthalt in Mähren dazwilchen, denn vor uns
taucht fein Name erft bei dem eriten Verhör am 14. Oltober
1561 auf, und wir hören durd ein von ihm an die „Gemain“
gerichtetes Schreiben vom 4. Dftober 1561 nur, daß ihn ein
„Bandito" aufgegriffen und nad) Venedig geliefert bat. Als er
42 Beurath
dieſes Schreiben, welches übrigens nicht an ſeine Adreſſe gelangt
iſt und noch jetzt den Akten beiliegt, verfaßte — es war das erſte
Mal, daß ſich ſeit feiner Abreiſe aus Mähren die freilich trüge-
rifche Ausficht bot, einen Brief an jene beforgen laſſen zu kön⸗
nen! — da befand er fich gefangen in einem dem Grafen Gio-
vanni San Bolo zugehörigen bei San Giovanni in Bragora ge⸗
legenen Haufe. Das Schreiben Sherlandis atmet die feite Zuver⸗
ficht, daß Gott alles zu Seiner Ehre Ienfen werde und erbittet die
Fürſprache der Brüder, auf daß er felbft feit bleibe in dem Be⸗
fenntnis der Wahrheit.
Bon befonderem Belange tft nun anßer diefem Briefe und
dem Schlußurteil des Xribunales jenes dritte ſchon erwähnte
Schriftſtück, in welchem Gherlandi ein umfafjendes Bekenntnis
ſeines Glaubens ablegt „in Furcht und Zittern angeſichts der
Wichtigkeit des Werkes“, aber auch im Vertrauen auf Gott und
in Einfalt und Aufrichtigkeit. Nachdem Gherlandi berichtet hat,
wie er durch das oben erwähnte Schriftwort zur Umkehr getrieben
worden ſei und endlich das dem Herrn heilige Volk in Geſtalt der
Gemeinſchaft der „Brüder“ gefunden habe, giebt er über die
grundlegenden Wahrheiten des Glaubens die folgende Auskunft:
„In der (wahren) Kirche glaubt man — und alſo bekenne auch
ich — an einen Gott, der ohne die Grenzen von Anfang oder
Ende in und durch ſich ſelbſt beſteht. Deshalb kommt der hehre
Name ‚Gott‘ ihm allein zu; er iſt es, der Himmel und Erbe
und alles, was darauf tft, gefchaffen hat und der alles durch den
Rat feines Willens wirkt. Ihn darf man nicht fragen: warum
haft du dies oder das gethan? Dieſer Gott Hat den Menſchen
nach feinem Bilde und Gleichnis gefchaffen; aber durch die Miß-
gunft des Zeufeld ward Adam verführt, und nachdem er zum
Übertreter des göttlichen Gebotes geworden, erfannte er, daß er
nadt fe. Und er war dies aud in der That — ermangelte er
do der Gnade und Gabe Gottes, und war doch fein Fall fo
tief und derart, daß nicht nur er, fondern auch alle jeine Nach⸗
fommen ohne irgendeine Hoffnung auf Heil geblieben fein würden,
wenn nicht Chriftus, der verheißene Same, dagewefen wäre.”
Und fo legt Gherlandi die Heilslehre ganz in orthodorsevangelifcher
Wiedertäufer im DBenetianifchen um die Mitte tes 16. Jahrhunderte. 43
Form dar, um dann, auf fein Leben zurückblickend, folgendermaßen
fortzufahren: „AS ich zuerft die Kirche der Brüder in Mähren
kennen Ternte, achtete ich auf ihr Leben, ihre Einrichtungen und ihr
Verfahren und fand nichts, was mir Anftoß gegeben hätte, ons
dern erbaute mich vielmehr an ihrem guten Beifpiele. Denn ich
fah nur riede, Ruhe und Liebe unter ihnen. Nach zehn ober
vierzehn Tagen Hatte ich foweit Vertrauen gewonnen, daß ich mit
ihnen meinen Glauben beſprach; indem ich denfelben mit dem
ihrigen verglich, gefiel mir diefr. Da ich aber fand, daß fie
nicht mit dem üibereinftimmten, was damals einige in Stalien über
die Menfchwerdung Chrifti Iehrten, fo erbat ich von der Gemeinde
die Erlaubnis, nach Italien zu reifen und meine Fremde zu Wars»
nen, damit nicht jene peftbringende Lehre noch mehr Unheil ans
ftiften möchte. - Das geftattete mir die Gemeinde und gab mir
ein Schreiben mit, welches in Abjchrift vorliegt. AS ih nun
nad Stalien kam, befchloffen diejenigen, welche ſich der Gemeinde
unterwerfen wollten, nah Mähren zu ziehen, weil fein Diener am
Wort in Stalten war. — Die Gemeinde beobachtet nun bei der
Aufnahme neuer Mitglieder die folgende Ordnung: Man läßt fie
erft 8 oder 14 Tage oder auch einen Monat warten, damit fie
nad Einficht in das Leben und Wefen der Gemeinde zu feiten
Entfchluffe fommen. Wenn fie dann nad mehrmaliger Ermah⸗
nung erklären, daß fie biß zum Ende beharren und getauft werden
wollen, fo giebt ihnen der dazu erwählte Diener am Wort die
Taufe im Namen des Vaters u. f. w.“ Außer der Zaufe be
Schreibt Gherlandi noch zwei religiöfe Funktionen: den Gottesdienft
am Sonntag und bie Ausftoßung reſp. die im alle der Reue
erfolgende Wiederaufnahme von Gliedern der Gemeinde. Zum
Schluß bemerkt er den Herren vom Inquiſitionstribunal gegen-
über, die ihm das Bekenntnis abgefordert haben: „Nehmt es nicht
übel, daß ich fo einfach fchreibe; ich bin ja in der kunſtmäßigen
Darftellung nicht erfahren, fondern ein armer Laternenmaher —
arm bin ich freilich nicht, da ich mit meinem Scidfal zufries
den bin." !)
Diefes Zufriedenfein Gherlandis follte ſchon bald auf die härs
1) ©. da8 ganze Schreiben im Anhang.
44 Benrath
tefte Probe geftelit werden. Nachdem das „DBelenntnis* im bie
Hände der Richter gelangt und als hinreichender Beleg feiner
Keberei erfannt worden war, ſchickte das Tribunal den Minoriten
P. Giov. Maria aus Cremona, um deu Gefangenen aud) münd⸗
ih über die betreffenden Glaubensfäge zu veruehmen. Unter dem
27. November 1561 berichtet biefer, daß er ihn als Keger bes
funden babe. Zwei Tage nachher ſchickt man ihm zwei andere
Dinoriten zu, P. Elifeo und P. Pietro, die ihm mit Korzils⸗
beſchlüſſen, Bernunftgründen und Bibelftellen ohne Erfolg zufeßen.
Dann läßt man Zeugen kommen, die ihn nur oberflächlich kennen
und nichts Beſtimmtes über ihn ausfagen. Kin viertes Verhör
findet am 26. April 1562 ftatt — Gherlandi bleibt „verſtockt“.
Da beitellt man ihn wieder auf den nächften Dienftag, „um das
definitive Urteil zu hören“. Allein das Urteil ift doch nicht an
dem bezeichneten Zermine gefällt worden — was die Erledigung
der Sache hintan gehalten Hat, willen wir nit —, am 17. Sep⸗
tember 1562 fand ein abermaliges Verhör ded Angeklagten ftatt.
Die Runde von Gherlandis Verhaftung unb von dem boraus«
fichtfichen Ausgange feines Prozeffes war, obwohl er direlte Nach⸗
richt an die Gemeinde nicht hatte gelangen Taffen fünnen, doch zu
den Brüdern gedrungn. Auch Hatte man ihm im geheimen
Unterftügungen zugehen laſſen können. Da wollte es das Ges
fhid, daß am 1. September 1562 in bdasfelbe Gefängnis, in
welchem Gherlandi fchmachtete, ein zweiter Vertreter der anabap⸗
tiftiichen Lehren gebracht wurde: jener Francesco della Saga, wel-
cher ihm unter dem 5. Mürz 1559 einen Empfehluugsbrief an
den anabaptiftifch gefinnten Bechermacher Giob. Pietro in Vicenza
mitgegeben hatte und. der num, als er nad) einer Vifitationsreife
im Benetianifchen eben im Begriff war wit 22 Gefährten nad
Mähren binüberzugehen, in Capo d'Iftria gefangen genommen und
nah Venedig abgeliefert worden war. Über diefen Saga ımb.
zwei andere mit ihm gefangen genommene Anabaptiſten, Antonia
Rizzetto ans Bicenza und Nicolao Buceella aus Padua, haben
wir ausführliche Nachrichten teils in den gerichtlichen Materialien
(Arch. di Stato, S. Uff. B. 19), teils in ben „Denlbücheln“
der mährifchen Wiedertäufer, teild in verfchiedenen von Saga ver⸗
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 45
faßten Schreiben, befonders einem eingehenden Bericht aus bem
Lerker an die Gemeinde (1563), welcher zwar im Original nicht
mehr erhalten, von dem aber eine deutfche Überfegung in der
Graner Metropolitan⸗Bibliothek und der des Preßburger Dom-
kapitels vorhanden iſt.
Francesco della Saga aus Rovigo, geboren 1532, war als
Student m Padua nad einer ſchweren Krankheit durch ein ernites
Wort eines dortigen Handwerkers zum Nachdenken über fein bis
dahin loſes Leben und zur Einfehr veranlagt worden. Gegen
Ende ‚der fünfziger Jahre finden wir ihn als Mitglied der Brü-
dergemeinde in Mähren, wo er das befcheidene Handwerk eines
Schneiders betrieb, ſich aber der allgemeinften Achtung und Liebe
erfreute. Mittlerweile war fein Vater in Rovigo geftorben und
die Erbfchaftsangelegenheiten riefen ihn mehrmals nad Italien zu⸗
rück — Reifen, die er ſtets auch im Intereſſe der Propaganda
nutzbar zu machen fuchte, wie denn ein Fra Cornelio von ihm im
Berhöre ausfagt, daß er oft in das Polefine gefommen jei, um
dort „Brüder“ zu beſuchen und folche nach Mähren zu führen,
3. B. Donna Lucia, Schwiegertochter eines Yuan Beato aus der
Billa Eonca di Rama, Donna Catarina, deffen Frau und ein
Mädchen von zehn Fahren. So ging er auh 1562 über die
Alpen. Mit ihm war Antonio Rizzetto aus Vicenza. Ihre Be⸗
mühungen waren von gutem Erfolge begleitet: Der Herr babe
ifnen eine offene Thür gezeigt, ihrer viele auch in Welfchland
groß zu machen und zur Gemain zu bringen, fchreibt er. Die
Urfache aber ihrer Gefangennahme fei bdiefe: Der Schweizer
Alexius von Belnig (Aleffio Todescht ans Bellinzona), der eins
mal bei der Gemeinde in Mähren gewefen, um fich ein Modell
einer Ochfenmühle zu Holen, fei zu Ihnen geftoßen und habe erft
freundfchaftlichen Umgang mit ihnen gepflogen, dann aber plötzlich
an fie die Forderung geftellt, ihm 50 Kronen (Scudi) zu zahlen,
die ihm angeblich der Bruder des anabaptiftifchen Arztes Buccella
in Padua fchuldete. Mit feiner Forderung abgewieſen, habe er
fie verfolgt und verklagt und es zumege gebracht, daß, als ihrer
zwanzig und einige gerade in einem Schifflein von Capo d’Yjtria
abftogen wollten, um über Trieft nach Mähren zu reifen, die drei
"46 Benrath
Führer, nämlich Saga jelbft, Rizzetto und der Arzt Nicolao Buc-
cella, gefänglich eingezogen und dem Rate der Zehn in Venedig
zugefandt worden jeien. Die Gefangennahme erfolgte am 27. Aus
guft 1562, und der bei den Alten liegende Bericht des Pobeitä
von Capo d’Yitria, Hier. Landi, an den Rat in Venedig beftätigt
die Angaben Saga und giebt noch einige Einzelheiten an bie
Hand, 3. B. daß die zwanzig, welche mit Saga in Capo b’Sftria
waren, aus Gittadella — aljo aus ber Gemeinde, die fich den
radikalen Anabaptiften nicht angefchloffen hatte — ftammten und
ruhig weiter gezogen find. Als nun die Gefangenen — außer
den breien war es noch der Sohn des Rizzetto nebjt einem andern
jungen Manne und der Verräter Aleffio felbft, welcher fich durch
unbedachtes Reden gegen die römifche Kirche auch verdächtig ge-
macht hatte — in das Gefängnis bei San Giovanni in Bragora
eingeführt wurden, erfannte Sherlandi aus feiner Zelle den Freund
und rief ihm erft in deutfcher, dann im italienifcher Sprache zu.
Seitdem haben fie viel mit einander geredet, und Saga Bat viel
Troſt und auch Belehrung, wie er fich dem Tribunale gegenüber
zu verhalten habe, empfangen. Nach Monatsfriſt (am 26. Sep-
tember) führte man ihn zum erftenmale vor da8 Gericht; nachdem
die Perfonalfragen erledigt, verlangte man von ihm ein Bekenntnis,
welches er in vorfichtiger Weife gab. Am 20. Dftober fand das
zweite, am 5. November das dritte Verhör jtatt, denen dann nod
mehrere mit durchſchnittlich vierwöchentlicher Pauſe folgten. Che
Saga zum zweitenmale vorgefordert wurde, erging in dem Prozefie
Gherlandis die Entfceheidung. Es war, wie erwähnt, am 23. Ok⸗
tober 1562, al8 man ihm da8 Xodesurteil ſprach. Noch am
3. Oftober Hatte er auf die Ermahnung der Richter, feine relis
giöfen Meinungen fahren zu lafjen, geantwortet: das feien feine
„Meinungen”" fondern die Wahrheit, für die zu fterben er
bereit fei; und das Iette Wort, welches er dem Pfarrer von
San Giovanni Decollato, der den letzten Bekehrungsverſuch an
ihm machen follte, zurief, war nach deffen Bericht: „Vor Gott
allein fol man fich beugen und nicht vor Menfchen!" Das Ur»
teil, wie alle derartige, „in Chrifti Namen und Gott allein vor
Augen“ von den Richtern erlafjen, geht davon aus, daß Gherlandi
Wiedertänfer im Benetiantfhen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 47
durch die Verhöre, die Ausfagen anderer und fein eigenes fchrift-
liches Bekenntnis der anabaptiftifchen und anderer Ketereien hin⸗
länglich überführt fei, die dann einzeln aufgezählt werden; es er-
wähnt, daß alle Verjuche, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen,
gejcheitert feien, und ordnet darauf hin an, daß die ‘Degradation
von dem durd die Subdinfonatsweihe ihm erteilten kirchlichen
Grade an ihm vollzogen und er dann fofort „ben Dienern dieſes
heiligen Tribunales übergeben und durch fie hinausgebracht und
ertränft werde”. So geſchah es. In ſolchem Falle war es
üblich, den Verurteilten zur Nachtzeit in einer Barke hinauszu-
fahren; an beftimmter Stelle wartete eine zweite: man legte ein
Brett quer über beide, befchwerte e8 mit Steinen und band den
Berurteilten darauf feit, ließ dann die Barken auseinanderfahren
— das Brett verfant, und „nur die Lagune erfuhr da8 Geheimnis
diefer Todesart“. Gherlandis letztes Wort war ein Gruß an
die Gemeinde. Auf einen Papierfegen hatte er ihn gejchrieben
und durh den Wärter an Saga gelangen lafjen; der hat ihn
weiter beforg. „Und ob fie ihn wohl nächtlicherweil“, führt
Saga in feinem Berichte fort, „haimlich ertrenfgt haben, fo ‚wird
doch folchen fein Tod nicht defto weniger zur Verderbnis ber
Lügen und zur Offenbarung der Wahrheit bei allen zum Leben
Erwählten nicht verhalten bleiben, fondern kundt und offenbar wer»
den. Welcher und Allen ein großer Troſt und Spiegel der Kraft,
zu thun ein gutes Belenntnid bis in den Tod, gewefen it.“
Die „Brüder“ haben Gherlandis Andenken in Ehren gehalten,
wie das ihre Chroniken darthun, welche den Märtyrertod dieſes
„Klempners” (Rlampferers) preifen (f. Bed, Wiedertäufer, ©.
239f). In da8 große proteftantifche Märtyrerbuch ift wenigftens
fein Name übergegangen, freilich etwas entjtellt, als Guirlanda
(Hist. des Martyrs, ed. Crespin, p. 680); Wifzowaty hat auch
ihn willfürlich unter denjenigen aufgeführt, welche den „Collegia
Vicentina‘ angehört haben follen und mit ihm den damals doch
erit 16> bis 18jährigen Saga!
Kehren wir zu diefem zurüd. In dem zweiten Verhöre
(20. Oftober 1562) fragten die Richter nad) der Zauflehre der
„Brüder“, und ob er felbft wiebergetauft habe? Seine Ants
48 Benrath
worten fchienen fo gefünftelt und unwahrfcheinlih, daß einer ihm
anfuhr: „Willft du Gherlandi nachfolgen?" Worauf Saga er»
widerte: „Meine Abficht ift wohl nicht, Hinzugehen und mid zu
ertränfen, wenn ich aber gewaltfam ertränft werde, jo muß ich
mir’s fchon gefallen laſſen.“ Da befchlofien fie, er folle fein Be⸗
fenntnis schriftlich aufjegen — basjelbe Tiegt den Akten bei und
befteht aus einer Darlegung der Hauptlehrpimkte mit beigefügter
fehr eingehender biblifcher Begründung; inhaltlich ftimmt e8 mit dem
überein, was Saga in einem unten zu erwähnenden Briefe an
feine Mutter und feine Brüder dargelegt bat. Im dritten Ver⸗
hör (5. November) fam man nicht um einen Schritt weiter; aber
Saga gewann den Eindrud, daß er fein Gefängnis nicht mehr
verlaffen werde, es fei denn, um zu Tode geführt zu werden.
Bon diefem Augenblide an — fo fthreibt er den „Brüdern —
erfüllte ihn nur ein Wunfh und ein Gedanke da8 Gemüt: mit
aller Gewalt durch Gottes Kraft dem Teufel entgegenzuftehen und
ein lauteres Bekenntnis der Wahrbeit zu thun!
Mehrfach verfuchte man Saga durch Disputation über die
ftreitigen Punkte zu überwinden. Was er von diefen Wortge-
fechten mit katholifchen Theologen in dem Schreiben an die „Ges
main" berichtet, ift von nicht geringem Intereſſe — eine Wieder
gabe würde jedoch bier zu viel Raum in Anfprud nehmen. Im
vierten Verhör fragte man nad einigen italienifchen Anabaptiften,
welche zum Teil nah Mähren gezogen waren; dann forderte man
ihn wieder auf, feine Irrtümer zu widerrufen. Da dies feinen
Eindrud auf ihn machte, fondern er ftets die Einwürfe widerlegte,
fo äußerte einer der Richter zu dem andern: „Er ift gleich wie
der Fontius“ — jener Bartolomeo Fonzio, der nad feiner Rück⸗
kehr aus Deutfchland doc den Häfchern der Inquiſition verfallen .
und am 4. Auguft 1562 erträntt worden war.
Damit war deutlich genug anf dasjenige Hingewiefen, was auch
ihm drohte, wenn er fich nicht bereit erklärte, die erkannte Wahr⸗
beit zu verleugnen. Aber mutig und zum üußerften bereit, kehrte
er in fein Gefängnis zurück. In diefe Zeit, ins Frühjahr 1563,
fat offenbar fein Bericht an die Gemeinde, der er mit treuer
Liebe zugethan bleibt. „Ich will's nicht unterlaffen”, heißt es ba
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 49
gegen Ende, „Euch gut Heil von Gott dem Ullmächtigen zu
wünfchen, dieweil ich noch in dieſer Hütte bin. Denn ich Habe
Euch alle von Herzen geliebt; jet aber Liebe ih Euch noch viel
mehr, nachdem ich Eurer Teiblichen Gegenwart beraubt fein muß
— welches mir ein mächtiger Kummer iſt. Und will Euch noch
lieben bis in meinen Tod, als Chriftum felbft — Euch, die ihr
Seines Fleifches, ja Bein und Glieder Chrifti fed. Denn Ihr
habt mich erftlich geliebt, und ich habe von Gott durh Euch ım-
zählbare Wohltbaten empfangen, die ich Euch weder vergelten, noch
Euch darum — mögt Ihr mich audh als einen Schuldner an»
jehen — genugjam lieben mag. Ach will e8 mit Geduld tragen,
um euretwillen gefchmäht zu werden — wie Ihr denn oben ver»
nommen habt, wie fie mich fchänden —, und will als ein Ber-
worfener und Verfluchter um Euretwillen geachtet, ja fogar um
Euretwillen Hingerichtet werden.“
Daran jchließt Saga nun herzliche und eindringlice Ermah-
nungen an alle, daß fie gutes Zeugnis ablegen müchten: an die
Alten, vornehmlich die Vorfteher, Leonhart Sailer und Peter Scherer,
daß fie die Herde weiden follen im Geiſte Ehrifti, daß fie die
Eintraht erhalten follen im Frieden des Herrn, zur Erbauung
des Leibes Chriſti — an die Gemeindeglieder, daß fie unterthänig
und gehorjam fein follen denen, die ihnen mit Treue im Herrn
dienen — an die (Jungen, daß fie mit Gottes Hilfe durch Chriſtum
die Fleifchlichen Begierden und ©elüfte töten und den Alten ale
erfahrenen Männern folgen follen. Insbeſondere wendet Saga
ſich noch an feine in Mähren angefiedelten Landsleute: „Sc fage
Euh, meinen Lieben infonderheit, liebet und fürchtet den Herrn
und ſehet zu, dag Ihr feine Gemeinde und Kirche nimmermehr
verlafjet, fondern haltet Euch ſtets das Gleichnis Chrifti vor
Augen, welches er vom Weinſtock geredet hat... . Bor allen
Dingen bedenket, welch' große Gnade und Heil Euch durch Chriſtus
widerfahren ift, der Euch durch fein Volt aus der tiefiten Finfter-
nie herausgeführt und zu feinem wunderbaren Lichte gebracht hat.
Liebet Euch unter einander mit reinem Herzen, in ne Zauterkeit
and Volllonsmenheit des Gemütes ohne Gteißnerei .
Zum Schluß fügt Saga noch Grüße an nzelne bei: an feine
Theol. Etub. Jahrg. 1885.
50 Benrath
Freunde und an fein Weib: an Bärtel Schlefinger, Kafpar
Behem, Matthes Gaffer; an „feine liebe Mutter (Schwieger:
mutter ?) Florentina“; an die Engadinerin Urfula, „die mir treu
ift geweit, welche ich auch in Schwachheit ſehr geliebt und ihr
auch gewifjenhaft nach meinen Kräften alle geiftliche Gutwilligkeit
erzeigt habe“..... Mit ihm grüßen die übrigen gefangenen
Brüder „von neuem, mit dem Frieden unjeres Herrn des Vaters.
Der wolle nad feiner Gnade die Schäge feiner Gaben eröffnen
und fie denen nad ihrer Notdurft austeilen, die ihn lieben, uns
aber nach feinem heiligen Willen von allem Übel erretten und er-
löſen und fein Werk an uns, wider den Ratjchlag feiner Zeinde,
binausführen — feinem Namen zum Preis und uns zu ewigem
Heil, duch Jeſum Chriftum unfern Herrn und Heiland. Amen.“
Etwa ein Bahr lang Hören wir nichts mehr über Sagas
Schickſal. Da bot fih ihm befondere Veranlafjung, ein Schreiben
an die drei „Savj“ zu richten, welches unter den Akten feines Pro-
zeffes erhalten ift (ſ. u.). Er hatte Nadricht erhalten, daß der
Rat befohlen habe, alle Ketzer“ follten binnen einer beftimmten Friſt
da8 Gebiet der Republik verlaffen. Dieſes Edikt (vgl. Cantü,
Er. d’It. II, ©. 139) begrüßte Saga al8 ein Zeichen, daß ber
Nat hinfort feine Hände nicht mehr mit dem Blute der Anders-
glänbigen, bloß wegen ihrer Verſchiedenheit im Glauben, befleden
wolle, und fo richtete er denn unter dem 18. Juli 1564 einen
beredten Appell ,„alli illustrissimi Signori sopra l'Inquisi-
zione“; man möge auch ihn und alle, die um de8 Glaubens
willen jest gefangen feien, frei geben, bamit fie das Land verlafjen
tönnten. Er weiß das Edikt des Rates nicht genug zu preifen:
„Diefer weile Beſchluß ift nicht ohne Gottes Eingebung und
Willen in Euer Herz gelommen — fo hat noch nie in der ganzen
Welt eine Obrigkeit gehandelt! Und fo bitten denn wir armen
Gefangenen, daß uns gleiche Behandlung mit den übrigen foge-
nannten Ketzern zuteil werde, auf daß jener Name, der uns fo
viel Leid gebracht Hat, nun auch Urfache gebe, daß wir an ber
verheißenen Wohlthat teilnehmen dürfen... .“.
Aber diefer Appell blieb ohne Erfolg, Der nächſte Schritt,
welcher nachweislich in Sagas Angelegenheit geſchehen ift, beftand
MWiedertäufer im Venetianiſchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 51
darin, daß man ihm den Inquiſitor Fra Adriano, ber ſchon im
Februar 1564 einen Bekehrungsverſuch gemacht Hatte, wiederum zu
diefem Zwede zuſchickte. Vielleicht fteht die Wiederaufnahme des
Prozefjes, die damit bezeichnet ift, in Beziehung zu der Klage über
Lauheit gegen die Keter, wie Pins IV. ſie 1564 gegenüber dem
Drator Marco Soranzo erhoben Hatte !). Der Bericht über den
neuen Bekehrungsverſuch Tiegt vor. Da Adriano erwähnt, baf
ber Brozeß fchon feit ungefähr 27 Monaten fchwebe, fo wird ber
Bericht gegen den Anfang November 1564 gefchrieben fein. Als
Hauptlegereien, welde Saga und mit ihm Rizzetto fich Hätten zu«
Schulden kommen Taffen, wird aufgezählt: die Bezeichnung der
mährifchen Kirche als der wahren chriftlichen im Gegenſatz zur
römifchen; die Verwerfung der Kindertaufe und der Obrenbeichte
vor dem Priefter; der vollzogene Anſchluß an die Gemeinde ber
„Brüder“. Da nun beide ſich wiederhoft als hartnädige Keger
erwiefen hätten, die fich der bewiefenen Langmut des Tribunales
nicht bedienen wollten — fo ftellt Adriano den Antrag, die Sache
zum Ende zu führen.
Aber nochmals traten die „Savj“ retarbierend ein. Den
dritten der Gefangenen, jenen Aleifio, Hatte man ſchon im No»
vember 1562 zum Widerruf gebracht; bei dem vierten, Buccella,
gelang das nach langen Verhandlungen aud: unter dem 5. Des
zember 1564 ift er dann zu den üblichen Eanonifchen Poni⸗
tenzen und zur Relegation aus dem Dominium verurteilt worden.
Jetzt ging auch der Prozeß der beiden ihrem Glauben treu bleiben
den mit raſchen Schritten feinem Ende zu. Vielleicht in dieſe
letzte Zeit fällt ein bemerlenswertes Schreiben, von Saga als „fein
Teftament” an feine Mutter und feine Brüder in Rovigo ges
richtet, welches aber nicht am feine Adreffe fondern unter die Alten
gelangt ift — ein Schreiben, das für die Erkenntnis feiner pers
ſönlichen Stellung zu jenen und nicht minder feiner dogmatifchen
Anfchauungen von Wichtigkeit iſt. Sagas leibliche Brüder Hatten
feinen Anjchlug an die „&emeinde" verdammt; fie hatten fich,
fo weit nicht die Erbfchaftsangelegenheiten nad dem Tode bes
1) Vgl. Cantü a. a. ©. III, 139.
4 *
62 Benrath
Vaters ſie zwangen, mit Francesco zu verkehren, gänzlich von ihm
abgewandt, und ſelbſt als ſie hörten, daß er in Venedig im Kerker
ſei, hatten fie ſich nicht um ihm bekümmert und ihm keine Unter-
ſtützung zukommen laſſen, ſei es aus Gleichgültigkeit oder aus
Furcht ſich ſelbſt zu kompromittieren. Um ſo rührender iſt die
herzliche Liebe, welche aus Francescos „Xeftament“ redet, eine
fuchende Liebe, die noch im letzten Augenblick, ja im Angeficht des
Todes, das Ihre mit Ernft und Freundlichkeit thut, um die Seelen
der ihm Nächftftehenden zu retten. Was Saga zu Anfang feines
Briefes über feine eigene Belehrung und ihre Folgen fagt, die zwar
in den Augen der Welt uur als Thorheit erjcheinen möge, in
Gottes Augen aber die wahre Weisheit fei, ift meifterhaft in der
Form und Entwidelung des Gedankens; was er dann Hinzufitgt
über die herzliche Liebe, die ihn auch jetzt noch treibe, das Heil
der Seinigen zu ſuchen, obwohl eine Ausfiht anf Erfolg kaum
vorhanden fei, ift in hohem Grade ergreifend ımd tönt aus in das
Wort: „Unter Thränen bitte ih Euch) — nehmt die mein Tefta-
ment Euch zu Herzen!” Und wo er dann die Grundzüge feiner
reltgiöfen Anfchauung vor ihnen entwidelt, thut er das wiederum
in einer nad Form und Inhalt fo vorzüglichen Weife, daß mir,
auch rein theologifch betrachtet, wohl behaupten dürfen, in feinem
Briefe Lege eins ber bemerfenswerteften Schriftftüde aus dem
Bereiche der anabaptiftifchen Bewegung überhaupt vor uns,
Mit dem Winter 1564 ging für Saga und Nizzetto bie ver-
ftattete Zrift zu Ende. Nochmals, im Februar 1565, verfuchte
man, fie theologifch zu überreden — Alfonfo Salmeron, ber auf
dem Trienter Konzil eine hervorragende Rolle gefpielt Hatte und
nun als Kontroverfift Europa bdurchwanderte, verfuchte fich, wie
fein Bericht an das Sant’ Uffizto darthut, an ben beiden „Brü⸗
dern“ vergebens. Noch andere ſchickte man zu ihnen. Es Half
nicht. Unter dem 8. Februar ward das Urteil gefprodden — ge⸗
meinfam für beide, wie fie alles gemeinfam getragen hatten. Nach
dem üblichen fromm - phrafenhaften Eingange heißt e8: „Sie find
ſchuldig und geftändig vielfacher häretiſcher und anabaptiftifcher
Irrlehren und Schlechtigkeiten; fie find verſtockt geblieben und
wollen Leib und Seele ind Verderben ftünzen. ... Zur Strafe,
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 58
und damit fie nicht andern diefe anftedende Seuche bringen, ver»
nrteilen wir fie, daß fie den Händen der Diener diefes heiligen
Gerichtes überliefert werden. Bon diefen follen fie dann, nachdem
mündlich Tag und Stunde dazu beftimmt worden, in ein Boot
gefegt und ins Meer geftürzt werden, fo daß fie ertrinfen und
ſterben. Diefe Todesart und nicht die gewöhnliche durch Teuer
fegen wir feit aus beftimmten Gründen und in Kraft der dieſem
Zribunale durch den Heiligen Stuhl fpeziell verliehenen Vollmach⸗
ten.“ Unterzeichnet haben:
Guido, epus Vercellensis, Legatus
Joannes, Patriarcha Venetiarum
Mr. Adrianus, Inquisitor generalis.
As man ben BVerurteilten die verhängnisvolle Kunde gab,
Ichwantte Saga einen Augenblid: „Ich will nicht ertränft werden,
ih will als guter Chriſt fterben“, fol er nach dem Berichte des
Capitano, der ihm die Mitteilung machte, gefagt haben. Riz⸗
zetto dagegen erflärte: „Ich wiberrufe nicht!" An einem der
folgenden Tage, ‘Donnerstag, um zehn Uhr abends, ward das
Urteil an beiden vollftredt „... vnd find allda zu Venedig im
mer ertrendht und verjendht worden, im 65. ar“, berichten
die Denkbüchlein der Wiedertäufer; „aber das mer wird feine
Zodten widergeben am Gerichtötag Gottes“. —
Das Schidjal eines Gherlandi, Saga und Rizzetto mochte
denjenigen Anabaptiften, melde bisher noch nicht den Befehl des
Rates befolgt und das Land verlaflen Hatten, eine dringende Mab-
nung fein. In welchem Umfange freilih von dem damit ge⸗
währten freien Abzuge Gebraud gemacht worden ift, läßt fich nicht
feitjtellen, da die Dentbüchlein fchweigen. Nur bie ferneren venetia«
nischen Prozeſſe geben einiges Material an die Hand, welches Schlüffe
möglid) macht. Die anabaptiftifche Gemeinde von Eittadella mag
in dem bei Capo d’Yftria uns begegnenden Zuge vollzählig aus⸗
gewandert fein: wenigftens ift im der Folgezeit kein Prozeß und
feine Anklage wegen Anabaptisuns mehr gegen einen Dortigen ans
geftrengt worden, während deren nicht weniger als adıt für bie
Jahre 1552 und 1553 in dem Alten verzeichnet find. Noch wäh⸗
54 Benrath
rend Sagas Prozeß ſchwebte, wurden drei andere gegen Anabap⸗
tiften aus Cinto in der Didcefe Concordia geführt: die Angeklagten
find in Mähren gewefen nach gejchehener Wiedertaufe, fie leilten
Widerruf und werden (Juni und Juli 1563) zu den üblichen
fanonifchen Strafen verurteilt. Für Trevifo kommt noch einmal
ein Prozeß vor im Jahre 1565 gegen einen Antonio Colombani
aus Ereipano; in Padua, Chioggia, Konegliano, Udine zwar in
den folgenden Jahrzehnten noch manche wegen „luteranismo‘“,
aber feiner wegen „anabattismo““. Gegen einen Einwohner von
Vicenza, Bernardino Barbano, wurde 1573 eine Anflage auf
anabaptiftifche Irrlehren angeftrengt.
In Verona, Mantua, Bergamo, Rovigo, Eremona und Crema
fommt fernerhin kein folcher Prozeß mehr vor, während die Zahl
der wegen „luteranismo ‘‘ erhobenen und verfolgten Anflagen eine
verhältnismäßig bedeutende iſt. Gegen Rinaldo Fabris aus Fer⸗
tara ift 1564 wegen Anabaptismus Anklage erhoben worden, und
der gegen Giovanni Sambeni ebendeshalb angeftrengte Prozeß Hat
mit deſſen Ertränfung 1567 geendet (Arch. di Stato, S. Uff.,
B. 22). Aus der Wiedertäuferchronit geht noch hervor, daß im
Jahre 1566 ein „wälfcher Bruder” von gräflichem Gejchlechte,
welcher einige Jahre Mitglied der „Gemain“ war „und ſich gar
nieberträchtigklich (Leutjelig) und wohl geſchickt im Chriſtenthumb“
bewiejen, hinunter 309, um fein Weib aus Wälſchland zu holen.
„Da iſt er verraten und angeben worden, vnd fein gefante Leut
von Venedig fomen, die haben ihn gefenkhlich angenommen vnd
ins mer verfenft ond ertrenkht, vnd ihn alfo vertufcht, auf daß es
in der Still Hingehe vnd nit vil hendel geb, fo fie ihn gen Bes
nedig brüchten, weil er aines hoben ftames gewefen.“ !) Das
letztere iſt charakteriftifch: dasſelbe Beſtreben, die Mitglieder der
Ariftolratie und ihre Familien um jeden Preis von dem Vor⸗
wurfe der Ketzerei frei zu halten, Hat ja auch, wie mir oben fahen,
in einem Altenftüde die Rafur von zwei Namen von Edelleuten,
die fich der Ketzerei verdächtig gemacht Hatten, veranlaßt.
Diejer „Graf von großem Stam“, deffen Vornamen „Hand
1) ©. die Beckſche Publikation, S. 249.
MWiedertäufer im VBenetianifchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts, 55
Jörg“ allein angegeben werden, fcheint der einzige italienische
Edelmann gewejen zu fein, welcher fich der anabaptiftifchen Be⸗
wegung hingab und unter den mährifchen Wiedertäufern Wohnung
nahm. Ein Mann von befanntem Namen, der dasjelbe that, ift
Nicolao Baruta, der von Wifzowaty unter die Teilnahme der
„Collegia Vicentina‘“ gerechnet wird. Paruta begegnet u. a. in
einem Aftenftüd vom Sabre 1567, mit dem ich meine ardhiva-
liſchen Mitteilungen befchließe, weil e8 in fehr Lebendiger Weife
ein Beifpiel davon giebt, wie fih im 16. Jahrhundert die neuen
Ideen durch Vermittelung von Neifenden, die fie an den Haupt-
zentren der Bewegung Fennen lernten, verbreiteten und weil e8 zus
glei) auf die Art, wie die Propaganda in Genf betrieben wurde,
ein Streiflicht wirft.
Unter dem 21. Januar 1568 reichte ein gewiſſer Marcantonio
Varotto aus Venedig dem Vikar des Patriarchen den folgenden
Beriht !) ein: Er fei feines Handwerkes Fahnenmaler und Tep-
pichweber, fei im Mai 1564 nad) Lyon, dann mit einem Mais
länder nach Genf gegangen, um einmal zu fehen, was denn die
Lutheraner wären, über die er fich bisher immer luſtig gemacht.
In der Herberge kamen einige Staliener aus der dortigen fchon
fehr zahlreichen Flüchtlingstolonie zu ihm; Andrea da Ponte, ein
Edelmann aus Venedig, Senior der italienischen Gemeinde; Gia⸗
como Campagnola aus Verona; Hieronimo Grotto, ein Edelmann
aus Cremona; ein Goldſchmied Meſſer Pietro aus Venedig und
fogar der eben zurückgekehrte Marcheſe Galeazzo Caraccioli. Man
führt die Fremden zu Nicolao Balbani aus Yucca, der fie freunde
(ih) aufnimmt und Herzlich darüber lacht, daß man die „luterani “
in Stalien für Atheiften halte, fich übrigens gegen den Namen
Qutheraner verwahrt — siamo Cristiani, non Luterani!
Grotto beherbergt die Neuangelommenen und führt fie zur Kontro⸗
verspredigt in St. Germain. Bei Zifche fpricht derfelbe gegen
Bilderdienft und Plärren und ftellt als Leuchtendes Beiſpiel ber
Opferfähigleit in Glaubensfahen „den Herrn Marchefe“ und eine
Anzahl von DBlutzeugen der evangelifhen Bewegung Hin. Dann
1) Arch. di Stato, S. Uff., B. 22.
56 - Benrath
führen zwei Staliener fie durch die Stadt — «8 ift leicht, mit
Hilfe von Galiffes Verzeichnis 1) die meiften der hier begeguenden
Perſönlichkeiten zu identifizieren — und das Abendbrot genieken
fie bei Caraccioli felbft, der bis an fein Ende Borfteher der Ge
meinde gemefen if. Am Sonntag fand wieder vormittags Kontro⸗
verspredigt, abends Katechismuspredigt ftatt durch einen Neapo⸗
fttaner, Deeffer Pietro, der auch in Venedig als Schulmeifter ge
wefen war. An allen Gottesdienften nahm Varotto teil; die Haupt
fragen befprah) man mit ihm, und da er wünſchte, in die Ge
meinde aufgenommen zu werden, jo geichah dies nad) 8 oder 10
Tagen im Konfiftorium — fein Name wird in das Buch einge
tragen, er entſagt allen früheren Irrtümern, Inieend beten die
Anweſenden, daß er ftandhaft im Glauben bleiben möge. Am
nächften Tage erfolgte die Aufnahme in den Bürgerverband, wobei
man ihm ein Diplom auf groß Pergament ausftelt. Etwas
über ein Fahr blieb Barotto in Genf, ging dann nach Turin, wo
er fünf Monate „katholiſch“ Tebte, darauf nah Mailand und
Mantua, wo er befonders unter den Vornehmen viele Keger fand,
endlih noch in 1566 nach Venedig zurüd. Es dauerte nicht
fange, fo. entdedite der Meiſter, bei dem er arbeitete, daß Varotto
ein Reger fei, und da ihm nun ein Belchrungsverfuch durch einen
Mönch angekündigt wurde, entwid er und ging zur Garnevalszeit
1567 nach Mailand, Rom und Siena, wo man ihn an zwei
feerifche Ehdelleute wies. Venedig auf der Rückreiſe nur flüchtig
berührend,, eilte er über Udine und Trieſt nah Wien, von dort
nach Mähren (Auguft 1567).
In Aufterlig traf Varotto den ihm in Genf genannten Be»
netianer Nicolao Paruta. Diefer, ein wohlhabender Dann, nahm
ihn freundlih auf, — „er ift Anabaptift und Samofatener“ fett
Barotto Hinzu; er gehörte alſo der radifalen Richtung an. Sr
bezug auf die Zauflehre, fährt Varotto fort, fei es dieſem ge
(ungen, ihn auf feine Seite zu ziehen, freilih auch nur vorüber
gehend, da er fpäter in der Apoftelgefchichte gelefen, daß ganze
1) „Le Refuge italien de Gendve‘‘, Genf 1881. Auch Varottos Name
begeguet dort.
Wiedertäufer im DBenetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 57
Samilien — aljo au Kinder — von den Apofteln getauft wor»
den feien. Die Menge der Selten in Mähren habe ihn erfchredt,
und nad) zwei Monaten habe er, von Parnta durch Neifegefd im
Betrage von zwei Thalern unterftügt, fich wieder nach Italien
zurückbegeben. Auf dem Wege fei er elend geworben, in ber
höchften Not fei ihm die „Inſpiration“ gelommen, alles zu ber
fernen und zu beichten und fo Verzeihung zu erlangen. Nach»
träglich giebt er noch einige Zufäge, die von Intereſſe auch für
unferen Gegenftaud find: einerfeits eine ÜÜberficht der verfchiedenen
Abzweigungen der Wiedertäufer und fonftiger Sekten in Mähren;
anderjeitd die Namen von Landslenten in Mähren, mit denen er
während feines Aufenthaltes zufammen getroffen if. Da hat er
denn kennen gelernt: zwei „Haushaben“ von Bicentinern, unter
denen der und belannte Seilfpinner Antonio und der andere ein
Knopfmacher Meffer Antonio ift — beide der radikalen Richtung
angehörend —; ferner einen Barettmacher Tommaſo aus Verona,
ebenfalls „Samofatener”; dann einen Venetianer Dom. Mala»
veglio; den Mantuaner Meifer Vincenzo, der Sekte der „Joſephi⸗
ner“ angehörig; einen Exmönch Yuan aus dem Königreich Neapel;
endlich einen vierzehnjährigen Kuaben aus Udine.
Damit find unjere Nachrichten über das Auftreten von Wie:
bertäufern in oder aus dem Gebiete der Venetianiſchen Republik
im 16. Sahrhundert, jofern das Archiv des Sant’ Uffizio darüber
Auskunft giebt, zum Abfchluß gelangt. Der Gefchichtfchreiber der
Reformation in Graubünden, Roſius & Porta, bemerkt über das
Verſchwinden ber radikalen Richtung dortzulande: „Die Anfichten,
welche Camillo (Renato) und feine Anhänger vertraten, ſcheinen
mit ihren Urhebern langſam abgeftorben und begraben worden zu
fein. Als dann im Jahre 1579 noch einmal zwei Führer der
Bewegung erjchienen, um die „Brüder” zu ftärfen, bat man fie
unter Todesandrohung gezwungen, Rhätien zu verlaffen, und nur
ein Fall ift noch 1596 bei einem Manne, ber nad) 17 jähriger
Abwesenheit ins Land zurückehrte, vorgefommen. So find mit
58 Benrath
dem Ablauf des Jahrhunderts auch die arianifhen Meinungen aus
Rhätien verjchwunden.“ 1)
Geradefo ift e8 mit den anabaptiftifchen Negungen im Vene⸗
tianifchen ergangen. Nachdem die Führer entweder das Land ges
räumt oder den Tod gefunden Hatten, war e8 mit der Bewegung
auf dortigem Boden zu Ende. Auch fie war noch vor Ablauf
des Jahrhunderts vollftändig befeitigt und Hat für den an ber
Oberfläche haftenden Blick Keine fihtbare Spur Hinterlaffen. Und
doch ift ihre Entwidelung, wie wir fie hier notdürftig in den
Hauptlonturen, auf Grund nur zu Tüdenhafter Altenftüde, haben
vorführen können, nicht ohne perſönlich und theologiſch belangreiche
Momente, und insbefondere die gemäßigt-anabaptiftifche Richtung
haben wir in Männern vertreten gefehen, deren Frömmigkeit und
Glaubenstreue jeder kirchlichen Gemeinſchaft zur Zierde gereicht
haben würde.
Gherlandis Bekenntnis.
(21. Oftober 1561.)
„Obwohl ih nur mit Furcht die Feder zur Hand nehmen
fann, um einen fo wichtigen Schritt wie die Ablegung eines Des
fenntnijfes von dem Evangelium Jeſu Chrifti ift, zu thun, fo will
und darf ich e8 doch nicht unterlaffen, da ic) ja eben deshalb in
den Kerker geworfen worden bin und da ich auch die Zufage ges
geben Habe, dies jchriftlih zu thun. Freilich, wenn ich meine
eigene Unfähigkeit in Betracht ziehe, fo gerate ich in Verwirrung
— aber es Hilft mir doch auch wieder der Geift Gottes felbft,
welcher durch Chrifti Mund gefagt hat: Ich danke dir, Vater und
Herr des Himmels und der Erde, daß du es den Klugen und
Weifen verborgen und den Geringen geoffenbart Haft; denn alfo
war dein guter Wille Nicht daß ich vor dir den Mut verlüre:
denn ich weiß, daß die Weisheit diefer Welt vor Gott Thorheit
iſt. So will ih denn die Wahrheit in der Einfalt meines Her-
1) Rof. a Borta, Hist. Ref. Eccl. Rhaet. I, 2, ©. 632.
Wiedertäufer im Venetianiſchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts. 59
zens niederfchreiben, aufrichtig, der geringen Gabe gemäß, bie
Gott mir ſchenken wird.
„Zunächft gebe ich einige Nachrichten über mein Leben. Mein
Vater wünfchte, daß ich Priefter nach der Ordnung ber römischen
Kirche würde; er ließ mich alle Zage die kanoniſchen Leſeſtücke
üben und hielt mich zu nichts anderem an. So fam ich, der es
nicht befjer wußte, auf den Gedanken, daß wenn ich des Morgens
in diefer Weife angefangen und die üblichen Worte hergeſagt hätte,
ih dann ein guter Chrift wäre, auch wenn ich ein böfes Leben
darauf folgen ließe. Aber es blieb mir ein Stachel im Gewiffen:
ih kam doch zu der Einfiht, daß das chriftliche Leben nicht in
bloßen Worten beftehen dürfe, und fo blieb ein Verlangen in mir,
in der That chrijtlich zu wandeln. Da hat der allmächtige und
gnädige Herr und Gott, welcher feinen verläßt, der vom Herzen
ihn fucht, eines Tages in feiner grenzenlofen Güte und Gnade,
als ih da8 Brevier — fo heißt das Buch — las, meine Aufs
merffamteit auf ein Wort gerichtet, von dem er zeigen wollte, daß
es wahr und unfehlbar und nicht umfonft geredet fe. Das war
die Stelle im fiebenten Kapitel des Evangeliften Matthäus, wo es
beißt: Hütet euch vor den faljchen Propheten, die in Schafs⸗
fleidern zu euch kommen, innerlich aber reißende Wölfe find; an
ihren Früchten ſollt ihr fie erkennen. Und fo habe ich denn treu⸗
(ich geglaubt, daß man fie an ihren Früchten erfennt, und babe
mich gebütet, hüte mich und werde mich ferner hüten, da ih
glaube und weiß, daß der Baum fein guter ift, der fchlechte
Früchte bringt. Infolge davon, da Chriftus fagt: Ihr Ottern⸗
gezüchte, wie könnt ihr Gutes reden, da ihr doch böfe feid und
voller Schlechtigkeit, und der Mund von dem fpricht, des das Herz
voll iſt — habe ih Rom verlafien, feines Lebens und feiner
Lehren ſatt. Kann doch, der Sklave ift, die Freiheit nicht pre=
digen, und wer die Sünde begeht, der ift der Sünde Knecht. Ich
babe nach einem Volle gefucht, welches durch das Evangelium der
Wahrheit frei wäre von der Knechtſchaft der Sünde, das da wan⸗
delte in einem neuen Leben und in himmlifcher Wiedergeburt; das
die Kraft von Gott hätte, durch den Einfluß des heiligen Geiſtes
der Sünde zu wiberftehen und bei dem jener Keim der Sünde,
60 Benrath
welcher durd) unfere Abkunft von Adam in uns ift, feine Wir-
fungen nicht hervorbringen, nicht Frucht tragen könnte zum Tode,
fondern dur Ehriftum vergeben wäre. Iſt doch dazu die heil⸗
fame Gnade Gottes allen Menjchen erfchienen und bat uns ver»
fündet, dag wir der Sünde und den Lüften bes Fleiſches entjagen,
nüchtern und fromm in der gegenwärtigen Welt leben und jene
jelige Hoffnung und Erſcheinung des Ruhmes unſeres großen
Gottes und unjeres Heilandes Jeſu Chrifti erwarten follen, ber
fich felbft für uns dahin gegeben bat, auf daß er und von allem
Böfen erlöjen und ſich fein eigenes Voll, dem die guten Werke
folgen, reinigen möchte. Diejes Volt ift feine heilige, unbefledte
Kirche, geichieden von den Sündern, ohne Nunzel und Makel.
Wie fie einft zur Zeit der Apoftel Petrus und Paulus zu Jeru⸗
falem war, fo ift fie jegt im Lande Mähren. Sie ift die , Säule
und Stüge der Wahrheit. Mit ihr Habe ich mich vereinigt in
der feiten Hoffnung, mein Leben in ihr heilig zu führen bis ang
Ende. Und ich bin gewiß, daß weder Hunger noch Durft, weder
Troft noch Hite, weder Tod noc Leben, weder Fürſtentümer noch
Gewalten, weber Gegenwärtiges noch Zufünftiges, noch irgendein
Geſchaffenes mid) von der Liebe Gottes zu ſcheiden vermag, welche
in der Gemeinde wohnt in Chriſto Jeſu unferem Herrn.
„In der Gemeinde nun glaubt man — und das ift auch mein
Glaube — an Einen einzigen Gott, ber ohne Anfang oder Ende
in fich jelbft und durch fich ſelbſt beſteht. Ihm allein kommt der
große Name ‚Gott‘ zu. Er it e8, ber Himmel und Erde umd
alles auf ihr gefchaffen hat, der alles wirket durch den Ratſchluß
feines Willens. Ihm darf man nicht die. Trage entgegenhalten:
warum haft du das fo oder jo gemacht? Er hat ben Menfchen
nad feinem Bilde und Gleichnis geſchaffen; aber durch des Teu⸗
feld Neid wurde Adam verführt und, zum Übertreter von Gottes
Gebot geworden, erfaunte er fi ale nadt. In der That, er war
nadt, d. 5. der Gnade und Gabe Gottes entbehrend, und fo groß
und tief war fein Fall, daß nicht er allein, jondern alle, die von
ihm berfamen, jede Hoffnung auf Heil verloren hätten, wenn nicht
ber verheißene Same Ehriftus dagewejen wäre. Als nun die Zeit
der Gnade erfüllet war, zu welcher Gott felbft das, was Adam
Wiedertäufer im Benetionifchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts. 61
verborben hatte, wieder erföfen wollte, da fandte er feinen einge
borenen Sohn in die Welt, damit alle, die an ihn glaubten, nicht
verloren gingen, fondbern ewige® Leben hätten. Und fo ift er denn
Mittler geweſen zwifchen Gott und bem Menſchen, einen neuen
Bund und ein neues Teſtament zu begründen; denn Gott war in
ihm ımb verfähnte die Welt mit fih durch das Kreuz feines
Todes. So ift er für diefenigen, welche ihm gehorfam find, Ur⸗
fache des ewigen Lebens geworben und fitt jett, nachdem er aufs
erweckt und gen Himmel geftiegen, zur Rechten Gottes immerfort,
um für ums einzutreten; und es giebt Teinen anderen Namen unter
den Himmel, durch ben wir felig werden follen, außer dem Namen
Jeſu Ehrifti von Nazareth. Wie ich alſo an einen einzigen Gott
glaube, jo auch an einen einzigen Mittler zwifchen Gott und den
Menſchen, nämlich den Menſchen Jeſus Chriftus. Die aber an-
dere Mittel neben dieſem oder einen anderen Weg ober eine andere
Thür ſuchen, um zu Gott zu gelangen, das find Diebe und Räu-
ber an Gottes Ehre. So achte denn ein jeder darauf, wie er
baue. Denn das Werk eines jeden wird offenbar werden, und
einen anderen Grund kann niemand legen, als der gelegt ift:
Zeus Chriftus. Und wenn auch audere auftreten, die fich Gott
nennen, fei e8 im Himmel, fei e8 auf Erden, wie es denn viel
Götter und viel Herren giebt: fo Haben wir michtödeftoweniger
einen ©ott und einen Herrn Jeſus Chriftus allein, und wir
taffen fein Gleichnis gelten, weder von Dingen im Himmel noch
auf Erden, weder als Statue, noch als gejchnittenes Bild, weder
in Gips, noch in Gold, Silber, Holz, Stein oder Brot oder was
es fei, daß man die Kniee davor beugen, oder es grüßen, verehren
oder anbeten ſollte.
„Ich gehe nun zu der Erzählung deſſen über, was nach meiner
Reife nad) Mähren geichehen iſt. Bei der Gemeinde angelangt,
begann ich zumächft ihr Leben, die Einrichtimgen und Bräuche, zu
beobachten, und da ich nichts gewahrte, was mir hätte zum Ans
ftoß gereichen können, ih mid) im Gegenteil an dem guten Bei⸗
fpiele, da8 fie gaben, erbaute, da ich nur Frieden, Ruhe und gegen.
feitige Liebe herrſchen ſah, fo entschloß ich mich nach zehn oder
vierzehn Tagen, meinen Glauben mit dem ihrigen zu vergleichen.
62 Benrath
Der Vergleich fiel zu ihren Gunften aus. Da ich fie aber nicht
in Übereinftimmung mit demjenigen fand, was damals nenerbings
in Stalien gelehrt wurde bezüglich der Menfchwerdung Chrifti, fo
erbat ich mir von ber Gemeinde ben Auftrag, nach Stalien zu
reifen, um meine Freunde zu warnen, damit jene peftilenzialifche
Lehre keinen größeren Schaden thue. Die Gemeinde geftattete
die8 und gab mir ein Schreiben mit, welches in Abjchrift vorliegt.
Als ih nun nah Italien kam, befchloffen diejenigen, welche ſich
der Ordnung der Gemeinde unterwerfen wollten, nah Mähren
auszuwandern, weil ſich fein Diener der Kirche in Italien befand.
„Bei der Aufnahme neuer Mitglieder beobachtet die Gemeinde
die folgende Ordnung. Zunächſt läßt man fie warten, gewöhnlich
wenigftens acht oder vierzehn Tage, unter Umftänden auch einen
Monat, damit jeder Leben und Art der Gemeinde genau kennen
lerne und einen feiten Entfchluß faffen könne Wenn er dann nad
- mehrmaliger Ermahnung, daß es ihm Ernft mit der Sade fein
müffe, bei dem Verlangen nach der Taufe beharret, fo erteilt man
ihm diefe im Namen des Vaters, des Sohnes und bes Heiligen
Geiſtes. Das thun nur die dazu erwählten Diener in Gegen-
wart. der Ortsgemeinde. Nach erfolgter Handauflegung begrüßt
die Gemeinde fie mit dem Kuß. Zum Taufen gebraudt man
ungeweihtes Waffer, wie ja auch Bhilippus den Eunuchen mit dem
gewöhnlichen Waffer, das er am Wege fand, getauft Hat und wie
Chriſtus Felbft fich mit dem gewöhnlichen Wafjer aus dem Jordan
taufen ließ. Da aber ich und die anderen Staliener, welche mit
mir kamen, fchon in Stalien getauft worden, jo brauchten wir
nicht neu getauft zu werden: wie e8 nur einen Gott und einen
Glauben giebt, fo hat die Gemeinde auch nur eine Zaufe.
„Wenn aljo jemand in die Gemeinde aufgenommen ift, fo gilt
er al8 Bruder. Wollen die Diener die Leute ermahnen, fo ruft
man fie zufammen, um das Wort Gottes zu hören und läßt aud
folche teilnehmen, welche noch nicht Brüder find, aber zuzuhören
wünjchen. Sonntags findet regelmäßig Predigt ftatt, häufig auch
noch im Laufe der Woche. Das dient dazu, das Volt wach und
lebendig zu erhalten, damit fie in der Gnade Gottes bleiben; auch
ermahnt man fie, einander mit reinem Herzen zu lieben, wie
Wiedertäufer im Venetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 68
Chriſtus uns gelehrt hat. Wenn aber einer als unverbefferlich an-
geflagt wird, fo teilt der Diener am Wort (nach gefchehener erfter
und zweiter Ermahnung) dies der Gemeinde mit. Nachdem er
eine Ermahnung vorausgeſchickt und den Fall erzählt hat, fordert
er auf, jeder möge feine Anficht fagen; je nachdem nun die Ge-
meinde ihm Zeugnis giebt, ob er ausgefchloffen oder ob es ihm
verziehen werden foll, verfündigt es ihm der Diener. Wird er
aber auögefchlojfen, fo it ihm unterfagt, am gemeinfamen Gebet
oder Efjen teilzunehmen; man bält ihn als einen Heiden und
Zöllner. Wird e8 ihm überhaupt noch geftattet, bei uns zu blei⸗
ben, fo giebt man ihm zu efjen getrennt von den Übrigen, damit
er Scham empfinde: wir halten ihn dann nicht für einen Feind,
fondern ermahnen ihn wie einen Bruder, daß er umkehre zur
Buße. Wenn er dann Reue fühlt und von neuem in die Ges
meinde einzutreten wünſcht, fo muß ihm erft in der nämlichen
Weife, wie die Gemeinde ihn ausgefchloffen hat, von diefer num
das Zeugnis, daß er Buße gethan hat, erteilt werden. Kann er
das nicht erlangen, fo läßt man ihn warten. Hat man es ihm
aber erteilt, fo fallen wir alle auf die Kniee nieder, und der Dies
ner fpricht mit erhobener Stimme — fo daß die Übrigen mitbeten
fönnen — ein Gebet, in welchem er den befonderen Fall berührt
und Gott anfleht, er möge es jenem um Chrifti willen nicht an⸗
rechnen, ihm den Frieden wiedergeben und ihn in fein Reich auf:
nehmen, oder anderes der Art, mie gerade der Geift es dem
Diener eingiebt. Auf diefe Weife nimmt man die Neuigen auf
und fchließt die Übelthäter aus; denn in der Gemeinde duldet man
feinen, ber unorbdentliches Leben führt. Geſchieht es aber, daß
jemand in irgendeine offenbare große Sünde verfällt, von ber
Art, daß die h. Schrift den mit ihnen Behafteten, wie Hurern,
Ehebrechern, Säufern, Dieben, Geizhälfen oder Gottesläfterern, die
Teilnahme am Himmelreich abjpricht, — fo wird der, ohne weiters
hin Befjerung von ihm zu erwarten, vor bie Gemeinde gejtellt
und ausgefchloffen: fo reinigt man die Gemeinde Gottes.
„Das ift mein einfaches Bekenntnis. Ich bitte, dasjelbe mit
Nachficht entgegenzunehmen, da ich ja nicht Redner, Schriftiteller
6 Benrath
oder Gefchichtfchreiber bin, fondern nur ein armer Laternenmacher
— arm bin ich eigentlich auch nicht, da ich ja mit meinem Schick⸗
fale zufrieden bin.
„Am 21. Oftober 1561 habe ich eigenhändig in Gegenwart der
Herren Beifiger unterzeichnet.”
(Staatsarchiv in Venedig, S. Uffizio B. 18.)
Eingabe des Francesco della Saga an die Ingnifitoren.
(18. Juli 1564.)
„Hohe und edle Herren!
„Die Seelengröße, das Wohlwollen und die Barmherzigkeit,
welche in Euch herrfchend ift, giebt mir armen Gefangenen, Eurem
unterthänigen Diener, den Mut, vor Euch mit der gegenwärtigen
Zufchrift zu treten und Euch die eigentliche Urſache unferer Ge⸗
fangenhaltung ins Gedächtnis zurückzurufen. Diejelbe wurde ver⸗
anlaßt durch einen fchlechten Menfchen, der von uns eine Sunme
Geldes erpreſſen wollte und, da er fah, daß wir nicht geneigt
waren, feiner Ihmählichen Abficht zu entfprechen, uns ins Gefäng-
nis werfen ließ und und nun um der Religion willen verflagte.
Jenen haben dann Eure Amtsporgänger entlafjen, ohne ihm irgend»
etwas zuzumweifen; wir aber, in einen efelhaften Kerker geworfen,
baben fchon fo lange Luft und Sonnenlicht entbehrt. Da wir
nun um mit Unrecht verlangten Geldes willen feftgenommen wor
den find und um Ketzerei willen gefangen gehalten werden, jo kann
ich nicht umhin, Hohe Herren, auf diefen Fall das Gebot unferes
Herrn Jeſu Ehrifti anzumenden, der in der Fabel vom Unkraut
lehrt, man folle die Keger bis zum Ende der Tage leben laſſen;
und anderswo: Hütet euch vor den falfchen Propheten und ihrer
Lehre, d. 5. Laßt fie gehen, meine Schafe hören doc nicht ihre
Stimme, fondern fliehen; und anderswo: Wenn fie nicht auf die
Gemeinde Hören, fo Haltet fie als Heiden und Zöllner. Sant
Paul fagt ar: den fegerifchen Deenfchen ermahne einmal und nod)
einmal und dann fliehe ihn. Noch viele andere Stellen ließen ſich
Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 65
dafür beibringen, daß der Herr unſer Gott nicht will, daß man
einen Häretifer am Leibe ftrafe, viel weniger ihn töte, und wo
von folchen die Rede ift, die ihm nicht aufnehmen, aber nicht von
folhen, die ihn verfolgen follen, die Rede ift — iſt doch fein
Reich durch Chriftum frei und ein Kindesreih, wenn auch von
allen gehaßt und verfolgt —, fondern Gott will, daß man bie
Keger durch eigene gute Werke und mufterhaftes Leben überzeuge
und befehre. Diejenigen, welche dem Worte nicht glauben oder
fih der gefunden Lehre nicht unterwerfen, fol man nad den er»
forderlichen chriftlichen Zurechtweifungen von der Gemeinschaft aus⸗
Schließen und ihren Umgang fliehen, aber nicht fie ald Feinde an-
fehen, fondern brüderlich fie ermahnen zu ihrer Erbauung, ob
fie etwa mit der Zeit hören wollen und ob der gnädige Gott
ihnen Neue gebe und den Geift, die Wahrheit zu erfennen, — er»
ſtreckt ſich doch feine Liebe auf alle und will, dag alle felig
werden.
„In gleicher Weife Habet auch Ihr, barmherzige Herren, indem
Ihr aus den obigen und ähnlihen Sprüchen Gottes Willen recht
erfanntet, wie Ihr denn ihm vor allem gehorfam feid, und
indem Ihr die große und unermeßliche Zahl von Menfchen ver-
fchtebener Herkunft und Spraden in Stadt und Dominium ins
Auge faßtet, die ja auch von verjchiedenen Anfichten in der Reli⸗
gion find, in der Abfiht, Eure Hände nicht mit deren Blut zu
verunreinigen, aber auch durch fie Eure Bevölkerung nicht befleden
zu laſſen: Habet Ihr einen Befehl ausgehen laſſen, daß ſolche
binnen fo und foviel Zeit fich entfernen und das Dominium ganz
verlafien follen. D der weifen Würforge, der unausfprechlichen
Freundlichkeit und Milde Eurer Herrlichleiten, die fo dem Willen
des großen Gottes entiprechen, Menjchenblut nicht zu vergießen!
Möget Yhr, wie e8 Euch gut ſcheint, Eure Stadt fäubern, damit
Eure Bevölkerung ruhig bleibe, anderjeitS aber auch denjenigen
nah Wunſch gefchehe, welche ſchon als Ketzer bekannt und geftraft
find, — daß fie fih nämlih ein anderes Land und eine andere
Wohnftätte für den Reſt ihres Lebens fuchen können.
„Möchten Ew. Herrlichkeiten biefe Freiheit aus Gnade und
Barmherzigkeit auch auf uns, ihre armen unterthänigen Gefangenen,
Theol. Stud. Jahrg. 1888. 5
66 Benrath
ausdchnen, die wir alle danach verlangen: um jo mehr, da wir
in anderen Rändern Wohnung, Weib und Kind Haben — wie dies
zweifellod bezeugt und durch ein von unſerem Fürſten ausgeftelltes
und im Beſitz Ew. Herrlichleiten befindliches Schriftſtück —, und
da wir nidht in Ländern und Ortfchaften gewefen, die von Em.
Herrlichleiten verboten find, auch nicht gekommen find, um irgend»
jemand ein Leid zu thun, fondern wie die andern Leute, die frei
in der Welt umbergehen, um unfere notwendigen Gefchäfte zu be-
treiben.
„Das will ih zum Schluß nicht verſchweigen, daß die weiſe
Maßregel Eurer mächtigen Regierung, welche vorgeht ohne Schä⸗
digung der fogenannten Häretiler und ohne Blutvergießen, aber
auch ohne der römifchen Kirche zu nahe zu treten, nicht ohne
Gottes Eingebung und Willen erfolgt und in die Herzen Em.
Herrlichkeit eingefößt worden iſt, wie denn der Drud und bie
Veröffentlichung des gedachten Befehles zur Ausrottung und Ent⸗
fernung ber Ketzer bisher unerhört und mie erfaffen ift von irgend-
einem Fürften in der Welt. Und da darf fi denn niemand wun—⸗
dern, daß dieſer wohlgeleitete Staat die einftige Herrjchaft der
Römer übertroffen hat mit Hilfe feiner durd Gottes Guade jo
weifen, ehrenfeſten und mildgefinnten Regierungen. Das giebt
mir armen, unterthönigen Gefangenen ben But, in aller Demut,
aber aus tiefftem Herzensgrunde Euch, milde und erbarmungs-
veide Herren anzuflehen, daß fie nicht ums zu Baſtarden neben
den berechtigten Kindern machen wollen, da wir alle einen Namen
tragen, ſondern daß fie und wie jene unter dem Befehl begreifen
wollen, damit uns, wie wie um des faljchen Namens willen Ver⸗
fofgung ertragen (freifih in Geduld und ſchuldlos in Gottesfurcht
und mit gutem Gewiffen), fo auch Belohnung zuteil werde durch
den Genuß der göttlichen Barmherzigkeit und des auf den Namen
bezüglichen Befehles. Dies um fo mehr, da unſere Gefangen»
haltung einen ganz anderen Anlaß gehabt als Ketzerei, Lingehor-
fam oder irgendeine Übelthat. So möge uns denn nach bem
Willen de8 barmherzigen Gottes und Ew. Hocedeln die reine
und auferchtige Freiheit verftattet werben.
„Damit ſchließe ih, beuge mi in aller Demut vor Em.
Meyer, Die Wablfreiheit des Willens ꝛc. 67
Herrlichkeiten und bin, indem ih unferer Freilaffung entgegen«
ſehe,
Dero unterthänigfter
Francesco aus Mevige.
(Staatsarchiv in Venedig, S. Uffizio, B. 18.)
2.
Die Wahlfreiheit des Willens und die ſittliche
Berantiwwartlichleit des Menichen *).
Ein Keitrag zur Bekämpfung der Theorie von der Wahlfreiheit
von
». Weyer,
Paſtor in Niebergebra.
Die Wahffreiheit des Willens, d. h. die Fähigkeit desſelben,
füh unter gegebenen Umftäuden und Bedingungen auch anbers zu
entſcheiden, als es wirklich gefchieht, ift ein Begriff, deffen Schwie⸗
rigleiten heutzutage, da er von fo vielen Stanbpunften ans bes
*) Die vorliegende Abhandlung ift aus einer Arbeit entnommen, welche
vor berfelben zuerft die Bedeutung der Wahlfreiheit unter dem pfychologiichen,
ſodann unter dem vefigiöfen, drittens unter dem fittlichen Gefichtspunkte im
alfgemeinen, d. b, im Berhältnis zur fittlichen Beichaffenheit überhaupt, ber
urteilt. Es durfte daher in ber vorfiegenden Abhandlung von allen diefen Be⸗
ziehuungen abgefehen werden, um auf der gemonnenen Grundlage ausſchließlich
die Stellung der Wahlfreiheit zur fittlihen Bexantwortlichleit ins Ange zu
faffen. Die Lefer werben gebeten, dieſen Sachverhalt berüdfichtigen und bei der
Lektüre der folgenden Blätter wicht etwas vermiffen zu wollen, was unter eins
der oben genaunten Themata gehört. An. des verf.
5»
68 Meyer
feuchtet worden ift, keinem denkenden Menfchen mehr ganz ver-
borgen fein können; und ich bin der Überzeugung, daß er um
diefer Schwierigkeiten willen, die er dem Anthropologen auf dem
pſychologiſchen Gebiete, dem Theologen auf dem religiöfen Gebiete
und beiden auf dem fittlichen Gebiete der Betrachtung bereitet,
längft allgemein gefallen wäre, wenn er nicht anderfeitS gerade
unter dem fittlichen Geſichtspunkt doch wieder als ein Poſtulat
aufträte, welches fich unferem fittlihen Bewußtſein mit unabweis-
barer Gewalt aufzudrängen fcheint. Ich meine das Bewußtſein
der eigenen fittlichen Verantwortlichkeit, welches zu allererft durch
die Idee der Sünde in uns erwedt wird.
Die Entwidelung unferes fittlihen Lebens ift nicht normal
verlaufen, fie ift nicht in durchgehenden Einklange mit ihrem von
Bott gewollten und dargebotenen fttlichen Ideal geblieben; vielmehr
fteht die Wirklichkeit unferes fittlihen Zuftandes zu dem idealen
Soll desfelben in einem jchneidenden Gegenſatz.
Die fittliche Abnormität, die fich bei uns im Widerſpruch gegen
das fittliche Ideal, alfo auch im Gegenſatz zu Gott felbft heraus⸗
gebildet Hat, können wir aber auch nicht von einer anderen, aufer
ung liegenden Macht wejentlich Herleiten, fondern, mögen wir aud
noch fo viele und mannigfaltige Umftände, Einflüffe und Gewalten
dabei mit in Rechnung ziehen, das Wejentliche derſelben müſſen
wir auf uns felbft zurüdführen, müſſen wir uns felbft zufchreiben.
Wir fühlen die fittlihe Abnormität, wo wir uns überhaupt ihrer
bewußt werden, al& unfere eigene Schuld, wir find uns bewußt,
dag wir felbft im Unterſchied von Gott, ja im Gegenfag zu ihm
für diejelbe verantwortlih find, und erft dieſes Bewußtſein der
eigenen Berantwortlichleit läßt uns die Sünde als eigene Schuld
empfinden.
Da und nun die Sünde da8 Schuldbewußtfein auferlegt, wel-
ches feinerfeit8 wieder die eigene Verantwortlichkeit für die Sünde
jo fiher bezeugt, fo zwingt und die Thatſächlichkeit derfelben zu
der Anerkennung, daß wir imftande fein müffen, auch unabhängig
von dem allen, womit Gott und ausgeftattet hat, unabhängig von
dem allen, wozu Gott uns beftimmt bat, unabhängig von der
ganzen urjprünglichen Subftanz unferer individuellen Perjönlichkeit
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 69
zu wollen und zu handeln; denn wenn wir dazu nicht imſtande
wären, fo würde ung auch der Widerfpruch gegen das Urfprüng-
fihe, gegen das von Gott gejeste Ideal unferes Lebens, d. h.
aber die Sünde unmöglich fein.
Diefe Fähigkeit nun, die urjprünglich gegebenen Grundlagen
unferer Willensentjcheibungen zu verlaffen, unfer Wollen von ihnen
zu emanzipieren und uns für das zu entjcheiden, was ihrem Sinn,
Weſen und Charakter entgegengefett ift, feheint in nichts anderem
zu liegen als in der Wahlfreiheit, im welcher der Wille eben biefe
Selbftändigkeit und abjolute Unabhängigkeit befit von allem dem,
was er nicht jelber ift.
Sp fordert unfer fittlihes Bewußtſein, gleichfam zu feiner
eigenen Befriedigung, d. 5. um unfere fittliche Verantwortlichkeit
für die Sünde aufreht erhalten zu können, die Annahme einer
Wahlfreiheit unferes Willens, und das ift der Sinn, in welchem
diefe Wahlfreiheit ein fittliches Poftulat genannt wird.
Obwohl nun diefe Forderung von den meiften derjenigen, Die
es ſich zur Aufgabe machen, für die fittlide Beftimmung des
Menſchen einzutreten, wirfli für fo dringend gehalten wird, daß
fie ihren Gegenftand, die Wahlfreiheit des Willens, ohne weiteres
für Wahrheit Hinnehmen; obwohl bei ihnen die Leugnung der
Wahlfreiheit des menfchlihen Willens ohne weiteres fir identifch
gilt mit der Leugnung und alſo Vernichtung der fittlihen Verant⸗
wortlichkeit des Menſchen; obwohl e8 unter denen, welche gegen
die fittlich gefährlichen Beftrebungen einer determiniftifch gerichteten
Philofophie anzufämpfen trachten, faft als Parteizeichen gilt, zu
behaupten, daß der Menih im Beige einer Wahlfreiheit des
Willens fei, oder zum mindeften gewefen fei, wenn er fie etwa
jest verloren hat, und daß er die jegige Snechtfchaft des Willens
eben nur durch den verkehrten, widergöttlichen Gebrauch besfelben
herbeigeführt habe, der ihm eben kraft jener Wahlfreiheit möglich
gewefen fei; obwohl es demnach, ein Grundſatz diefer moralifchen
Richtung ift, welche befonders in der neueren theiftiihen Theologie
vertreten ift, daß die fittliche Verantwortlichkeit des Menfchen für
feine Sünde ftehe und falle mit der Wahlfreiheit feines Willens,
jo ftehe ih dennoch nicht an, das genannte fittliche Poftulat zus
70 Meyer
rückzuweiſen, da es nur ſchrinbar ein ſolches ift und in Wirklich⸗
keit dem, was es leiſten ſoll, nicht nur nicht entſpricht, ſondern
fogar durchans widerſpricht.
Die nachfolgende Darlegung hat die Aufgabe, dies Kai
weiſen und dadurch dad, was uns aus fo vielen anderen, teils
allgemein fittliden, teils religidien, teils pfychvlogiſchen Gründen
plaufibel, ja notwendig erfcheint, zur entſcheidenden Geltung zu
bringen, indem fie der Wuhlfreiheit des Willens bie Grundlage,
auf die allein ſie fi allen dieſen Widerſprüchen gegenüber ftüßen
könnte, entzieht.
Zuvörderft müffen wir aber, wenn wir das Verhältnis zwiſchen
der fittlichen Berantwortlichleit und ber Wahlfreiheit des Willens
Hor durchſchauen wollen, den Begriff der Iegteren nach den oben
angegebenen Geſichtspuntten in feiner Bedeutung noch genauer feft-
Stellen.
Die Wahlfreieit des Willens fol die fittliche Berantwortlich⸗
feit begründen. Fragen wir nun, welche Stellung demtad die
Wahlfreiheit des Willens mitten bed vor feiner diefe DBerant-
wortlichbeit Yerbeiführenden Entfcheldung ſchon vorhandenen Geiſtes⸗
lebens der Perfönlichkeit einnehmen muß.
Durch die Überlegung biefer Lage finden wir, daß wir für
unfere Frage aller der Schwierigkeiten überhoben find, weiche ſonſt
bie genauere Beitimmung des vor dem erjten bewußten Willene-
alt vorhandenen Zuftandes den Anthropologen zu bereiten pflegt.
Numlich einerjeits wird man zugeftehen müſſen, baß der Menſch,
wie er feiner Natut nach eine fittlihe Beſtimmung hat, feiner
Natur nah auch fchon eine fittliche Anlage befigen muß; under:
feits ift es doch ſchwer, ben fittlichen Umfang und Inhalt dieſer
urfpränglihen Unlage genauer zu beftimmen. Iſt es eine gewifſe
Neigung zum Guten, welde der Menfchenfeele wefentlich einge-
pflanzt ift und fid zur klar bewußten Liebe des Enten allmählich
entwickein fol? Iſt es nur das Sollbewußtfein an aund file fich,
welches der Menſch in fetter prafßtifchen Vernunftanſchaumg dor⸗
findet nnd aus welchen er die Neigung zu den Gegenſtünden des⸗
‚felben in fich ſelbſt gebären fol? Iſt es gar nur das Wert-
gefügl, weiches ihm alle Anfhaunngsobjehe in Beziethung zur eige⸗
Die Wahlfreiheit bes - Willens ꝛc. 1
sen Indididunalität feen läßt und füch erft auf der höchften Stufe
der geiftigen Entwidelung . zum Sollbewußtfein fteigern foll?
Ebenfo auf der anderen Seite: Iſt es ein ſelbſtiſcher Trieb, wel-
cher in dem eigenen Zentrum das Maß aller Dinge fehen will
and nach ihm das Weſen des Guten und des Böſen bemißt ?
Iſt es ein unbewußt eubämoniftifcher Trieb, welcher dem Sell»
bewußtfein das Intereſſe des eigenen Wohlſeins entgegenfegt und
008 erjtere nach diefer Seite hin abzubiegen ſucht? Iſt es ein
rein fleifchlichee Trieb, welcher das MWertgefühl in der Sphäre der
Sinnlichkeit feithalten und es in ihr ganz allein möchte aufgehen
laſſen? We diefe Fragen, mit deren Beantwortung man fich
fonft die größte Mühe geben muß, fallen hier weg, denn fie find
für die Stellung der Wahlfreiheit des Willens panglich gleichgültig.
Denken wir uns den ungünftigiten von allen den genannten
Sällen, den, daß das Geiftesieben des Menfchen vor jeder Willens»
entiheidung aus den beiden einander entgegengejeßten Polen ber
Hände, auf der einen Seite eine möglichft ansgebilbete Meinung
gum Guten, auf ber anderen Seite ein möglichſt ausgebildeter
Trieb der Selbſtſucht; fo wäre dies alles etwas, wofür der Menſch
jelbft in Teiner Weife verantwortlich gemacht werden könnte, denn
einerjeits wäre es ihm alles fchon von Natur eigen, anderfeits ift
es ja ausdrädlich ausgemacht, daß die eigene Verautwortlichkeit
erft durch die Wahlfreiheit des Willens herbeigeführt werden foll.
Es folgt daraus weiter mit Rotwendigkeit, daß alle dief? fitt-
lichen Elemente des eigenen Seins, ſo entwidelt und ftark fie auch
an und Für fi fein mögen, doch Hinfichtlih der Wuhlfreiheit
jedes Eindruces entbehren müffen; denn wenn fie an und für ſich
Schon auf diefelbe auch nur irgendeinen Eindrud machten umd die
Wahlfreigeit fi) unter dieſem umgewollten Eindrude entfchiebe,
dann würde fie etwas gethan haben, für das wicht fie felbft ver⸗
antwortlich gemacht werden könnte, fondern der Eindrud, den fie
ohne ihre Wahl erlitten Hat. Sie Hätte fi) dann wilht aus fich
felbft heraus entfchieden. Sollte fie unter ſolchein Eimdrud den-
noch mit eigener Verantwortlichleit Handela, fo müßte es min-
deſtens von ihr felbft allein abhängen, ob derſelbe ſtattfindet oder
nicht; mit anderen Worten: fie felbft müßte erft die Stärke jener
72 Meyer
Momente zu einem Eindrud auf fih, oder zu einem Motiv für
fih machen. Alfo an und für fih, vor ihrer eigenen Wahl, müßte
ihr jeder Eindrud fern fein.
Vielleicht weniger markant, aber ebenfo notwendig ift dies Ver⸗
hältnis, wenn die entgegengefete Bedeutung der in uns bereits
vorhandenen fittlihen Elemente in ihrer Kraft, beiderjeitig ober
einfeitig, geringer gedacht wird; auch da muß man die Wahlfteis
heit, wenn fie eine fittlihe Verantwortung herbeiführen foll, durch⸗
aus freihalten von jedem unwillkürlichen Einfluffe deffen, was fie
nicht felber ift.
Die Wahlfreigeit muß inmitten aller jener jittlichen Elemente
unferes Geifteslebens eine fonveräne Unabhängigkeit befigen, fri |
von jeder Beftimmtheit jowohl für die eine Seite, als auch für
die andere, denn jonft würde es unbegreiflich fein, wie ein fo be
ftimmter Wille das Gegenteil feiner Beitimmtheit follte ergreifen
fönnen; und wenn er feiner Beftimmtheit gemäß entjcheidet, fo
würde biefe Entfcheidung nicht feine fein, fondern deffen, der ihm
die Beitimmtheit gegeben Hat. Die Wahlfreiheit muß von bem
fo oder jo gearteten fittlihen Anfangszuftande des Subjektes ifo
fiert fein, und diefe ihre Iſolierung muß um fo vollfommener
und ftrenger fein, je vollfommener und ftrenger die fittliche Ber:
antwortlichkeit gemeint ift, die fie begründen fol, und je mehr von
berfelben für unfer ganzes folgendes Leben und Geſchick abhängt.
Der Wille, der durch den Gebrauch feiner Wahlfreiheit fittlicd
verantwortlich werden foll, muß fi aljo in einem Verhältnis be
finden, als eriftiere das gar nicht für ihn, was fi) außer feinem
bloßen Vermögen in uns an fittlihen Elementen vorfindet, keines⸗
falls darf es exiftieren in einer weſentlichen Beziehung zu ihm,
es darf nicht die geringfte motivierende Kraft für ihm befigen, um
darum muß diefem Willen jelbft alles das fehlen, wodurch das
andere ohne feine Wahl auch nur die geringfte Bedeutung für in
gewinnen könnte; denn wenn eine foldhe gewonnen würde, dann
würde ja der Wille, obwohl er und eine unbedingte Verantwor
tung aufladen fol, unter Bedingungen ftehen und handeln, welde
außerhalb der Sphäre feiner Verantwortlichkeit Tiegen; und da die
Bedingungen, unter denen gehandelt wird, fo weit fie wirklich Der
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 78
dingungen find, eben aud) von Einfluß auf da8 Handeln find, fo
würde dadurh die DVerantwortlichkeit des Handelnden wejentlich
alteriert, ja im Grunde von ihm ab zurüdgefchoben auf das, was
jenjeits feiner Selbftthätigkeit Liegt.
Diefes Verhältnis des wahlfreien Willens zu den in unferem
Geiftesleben etwa ſchon vorhandenen fittlichen Elementen läßt uns
num fchließen auf das fittlihe Wefen desfelben an und für fidh.
Er Tann ja den in feiner Umgebung befindlichen fittlihen Ele⸗
menten nur dann völlig unabhängig, unbeteiligt, ifoliert gegenüber-
ftehen, wenn er auch an und für fich gegen das Sittliche, d. h.
gegen den Gegenſatz von Gut und Böſe gleichgültig ift; denn es
ift nicht abzufehen, wie er ohne diefe abjolute Gleichgültigkeit ge⸗
rade in dem ihm vorliegenden Verhältnis gleichgültig bleiben könnte
und nicht vielmehr ohne weiteres Partei ergreifen follte für die
Seite, auf welder er das feiner eigenen Neigung Entfprechende
vorfindet.
Ja auch ohne jede Rüdfiht auf das Verhältnis zu dem vor»
liegenden Geifteszuftande des Subjeftes ergiebt fih’s für den
wahlfreien Willen, daß er überhaupt gegen den fittlihen Gegenfat
von Gut und Böſe gleichgültig fein muß; daß er weder eine
Neigung nad) rechts noch nach links haben darf, dag ihm an und
für fih das Gute ebenfo Teicht wie das Böſe, und das Böſe
ebenjo leicht wie da® Gute fein muß; denn würde ihm das eine
feichter al8 das andere, hätte er eine Neigung. nad) der einen oder
nach der anderen Seite, fo würde er damit fhon daB Vorhanden⸗
fein eines fittlihen Charakters offenbaren, den er fich nicht jelbft
gegeben hat, für den er darum auch nicht ſelbſt verantwortlich ges
‚macht werden kann; er würde, falls ihm das Gute leichter würde
als das Böſe, ein guter Wille, falls ihm das Böſe leichter würde
als das Gute, ein böfer Wille fein; und das leugnet wohl nie-
mand, daB ein guter Wille nur gut und ein böjer Wille nur böfe
wollen kann, und daß man einen böfen Willen nicht dafür ver-
antwortlich machen kann, daß er böfe will, wenn man ihn nicht
zugleich auch dafür verantwortlich machen Tann, daß er böje ift;
das kann man aber nicht, wenn er fchon von Natur, vor eigener
Wahl böſe ift, oder auch nur eine Neigung zum Böſen bat.
74 Meyer
Es ift ja leicht einzufehen, wie auch die Leifefte Spur von
pofitiv fittlicder Neigung, fei ed zum Guten, ſei es zum Böfen,
die man dem wahlfreien Willen etwa belaffen möchte, doch wieder
von dem eigentlichen Vermögen zu wollen, zu wählen getremt |
werben muß, denn wenn dies nicht geichieht, wenn man diejee
DBermögen in einen weientlichen Zufommenhaug mit der wenn au
noch fo leifen Spur von Neigung bringt, derart alfo, daß dieſes
Bermögen fi felbft von derfelben bei feiner Wahl nicht los⸗
machen kann, fo hört diefe Spur von Neigung eben auf, fo leiſe
zu fein, und wird zu einer beftimmenden, welche ben Erfolg der
zu treffenden Entjcheidimg und darum aud die Berantwortlichkett
für diefelbe auf ſich felber, aljo dem Willensvermögen abnehmen
muß. Und wie follte ſich das Willensvermögen von folcher Nei⸗
gung loomachen Türmen, weun jie ihm weientlich iſt? Iſt fie ihm
ober nicht wejentlih, fo dag fich das Willmsvermögen bei feiner
Wahl von ihr losmachen kann, dann haben wir eben mwieber bad
Willensvermögen, das ich bisher gefihilbert Habe, das Willens:
vermögen, weiches dem Gegenſatz von Gut und Boſe an umd für
id) gleichgültig gegenüberfteht.
Sonach muß der Wille, der fich durch feine Wahl ſelbſt erft
feine fittlicde Beftimmtheit geben foll, um für diefelbe verantwort-
{ich fein zu Lönnen, bevor er fich diefe Beſtimmtheit gegeben hat,
gänzlih unverwidelt fein in den Gegenfat von Gut und Bolt;
er ift ja dazu berufen, erft felbft in dieſem Gegenſatze Stellung
zu nehmen, er ſoll fich felbit erft zu dem machen, was er an und
für fich noch nicht ift, er darf felbft noch gar keine ſittliche Be⸗
ftimmtheit Gaben fjondern nur die Beltimmung, erſt fittlich be
ſtimmt zu werben, und zwar lediglich durch Selbfibeftimmung.
Alſo die- fittliche Unbeftimmtheit, oder nehmen wir den gäng um
güben Ausdruck, die fittliche Indifferenz, das muß der Zuſtand jein,
in welchem fich ber wahlfreie Wille urfpränglich befindet; die fitt-
Tiche Indifferenz oder genauer die Sindifferenz bezüglich des Sittlichen
muß die Natur fein, welche ihm von beim Schöpfer gegeben ift, de
mit er nun ſich felbit differenziere umd für das, was er aus feiner
Indifferenz heraus erwäßlt, verantwortlich gemacht werben Tbnne.
Wir fehen Hier, wie die Bedeutung der Wahlfreigeit des Wil-
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. "3)
tens über die Grenzen des Boftulates hinausgreift. Bojtuliert war
fie anfünglih nur gegenüber der fittlihen Abnormität, welche uns
eine eigene Verantwortung anferlegtee Da wir aber die Wahl-
freiheit de8 Willens, um der ſittlichen Verantwortlichleit willen,
die fie herbeiführen fol, als ſittliche Fmdifferenz charakterifieren
mußten, fo erftredt fie nunmehr ihre Bedeutung nicht bloß über
da8 Gebiet des ſittlich Abnormen, fondern ebenſo auch über das
des Fittlih Normalen,
Die Wahffreigett muß ja, um fi völlig frei für dad Böſe
entſcheiden zu können, auch die Fähigkeit defigen, fith ebenjo wohl
für das Gute zu entfcheiben; und das ift nicht zu leugnen, daß,
wenn diefe leßtere Entfcheidung des wahlfreien Willens erfolgte,
auch das fittlich Normale, mag es auch hen vorher in unſerem
Seiftedleben irgendeinen Play innegehabt haben, in eine weſentlich
andere Stelle gerückt würde.
So gewinnt denn bie Wahlfreiheit im ihrer fittlichen Indiffe⸗
venz einen unmittelbaren Einfluß auf das gefamte Gebiet des jitt-
lichen Lebens; und während auf der einen Seite vielleicht dieſer
Umftand ſchon genügt, bisherige Vertreter der Wahlfreiheit von
derjelben abzafchreden, fo tft er auf der anderen Seite gerade ge-
eignet, ihr noch mehr Anhänger zuzuführen, Ihre Poſition noch
entichiedener zu behaupten, vonfeiten dee Anficht nämlich, daß über-
haupt die Möglichkeit jeglicher Sittlichkeit, le fei gut ober böſe,
erft gegeben ift mit ber Wahlfreikeit des Willens, kraft welcher
der Menſch fih in dem Gegenfug von Gut und Böfe entfcheiden
mäfje, und daß, wenn man überhaupt von einer fittlichen Anlage
des Menſchen reden wolle, diefe eben nichts anderes fein könne
als der wahlfreie Wille, der dazu beftimmt ift, exrft im ımb mit
feine Selbftenticheidung ein poſitiv fittlicher gu werben, da es
auch betreffs des Guten von viel höheren Werte fei, wenn 28
‚nicht etwas blog Anerfchaffenes ift, fondern wenn ber Menſch
felbjt es ans völlig freier Initiative ergreift, fo daß ed nun erft
fein Eigentum ift, jo daß er's nım erft beflgt, nachdem er es
felbft erwerben dat. Und man kann es ſich ja allenfalls vor-
ftellen, daß Gott in den Menſchen folde Weſen haben wollte, die
nicht durch irgendeine, ſei es auch nur innetliche Notwendigkeit zu
76 Meyer
ihm bingetrieben würden, jondern in freier Wahl eines völlig un
gebundenen, unabhängigen Willens fich felbft ihm und damit dem
Guten zuwenbeten; daß Gott die Menfchen darum in der Weile
geichaffen hätte, daß fie den beftimmenden Trieb zum Guten nicht
ſchon kraft ihres gefchaffenen Weſens fühlten, fondern fich den
felben erſt jelbft geben follten, damit er bann, als ein völlig frei⸗
williger, jelbftändiger vor Gott einen um fo höheren Wert hätte.
Hm Zufammenhange diefer Anfchauung jcheint die abjolute
Wahlfreiheit des Willens, oder die abfolute Indifferenz, aus wel
cher der Wille zu fittliher Beitimmtheit fortfchreiten foll, die
allein mögliche Grundlage zu fein für die Entfaltung der fittlichen
Beftimmung bes Menjchen überhaupt.
Wie nun diefe erweiterte Bedeutung des wahlfreien Willen
ganz in der Natur des Begriffes liegt, den wir für denjelben ge
funden haben, nämlich fittliche Indifferenz zu fein, fo entſpricht fie
auch ganz und gar der Kritik, die ich nunmehr an diefem Begriffe
üben will. Indem ich nämlich nachzumeifen ſuche, daß die fittlice
Derantwortlichkeit mit der Wahlfreiheit des Willens nicht nur nidt
fteht und füllt, fondern gerade im Gegenteil mit derjelben in feine
Weile vereinigt werben fann, Löfe ich nicht bloß die Bedeutung
des aufgeitellten Poftulates auf, fondern zerftöre auch die Beben
tung der Wahlfreiheit für das gefamte Gebiet des fittlichen Lebens.
Die Unverträglichkeit de8 wahlfreien Willens mit unferer fill:
lihen Berantwortlichleit aber werden wir erfennen, wenn wir nut
einmal daran gehen, uns den Prozeß, in welchem der wahlfreie Wille
dasjenige herbeiführt, wofür wir jittlih verantwortlich fein follen,
etwas Har zu machen und in feinen einzelnen Stadien zu verfolgen.
Dergegenmwärtigen wir und alfo, wie der mwahlfreie, d. h. ſitt⸗
lich unbeftimmte, indifferente Wille es anfängt, fich fittfich zu be
ftimmen und feine Entfcheibung zwiſchen Gut und Böfe zu treffen!
Zunächſt gehört dazu, dag ihm das Gute und das Böſe zum
Bemwußtfein kommt und zwar in ihrem Gegenfage zu einander,
denn es ift ja da8 Gute als ſolches, aljo in feinem Gegenjatt
gegen das Böſe, und es ift das Böſe als folches, alfo im jeinem
Gegenſatze gegen das Gute, um das ſich's hier Handelt; und wenn
der Wille eine fittliche Entfcheidung herbeiführen foll, welche dit
Die Wahlfreiheit des Willens zc. 77
ganze Wucht der vollen Entfcheidung auf ihn Legt, eine Entſchei⸗
dung, durch welche er fich felbft entweder den Charakter des fitt-
lich Guten, oder den des fittlih Böſen in feiner vollen und
fhweren Bedeutung auch für die Zufunft aneignet, dann muß man
notwendigermweife vorausfegen, daß diefer Wille auch eine voll-
tommen klare, unzweifelbafte Erfenntnis von dem Weſen bes
Guten als foldhen und von dem bes Böſen als folchen bat, wenn
man auch abjehen will von der Notwendigkeit einer Erkenntnis
auch der beiderfeitigen Konfequenzen des Guten und des Böſen.
Wenn der Wille, welcher eine fo folgenfchwere,. wirklich ent»
fcheidende Entfcheidung treffen foll, nicht genau und beftimmt weiß,
welches von dem ihm gleichermweife zur Wahl Geitellten das Böfe,
welches dagegen das Gute ift, fo kann er auch keine Wahl treffen,
in der für ihm felbft eine fittliche Entfcheidung läge, denn wenn er
fi etwa für das Gute entjcheidet, fo wußte er doch nicht genau,
ob es da8 Gute war, und wenn er fich für das Böſe entſcheidet,
fo wußte er nicht, ob es das Böſe war, er hat aljo weder das
eine noch das andere gerade als ſolches erwählt. In beiden Fäl⸗
fen war es daher feine fittlihe Entjcheidung, die er getroffen bat;
diefe Entſcheidung kann aljo für ihn auch Feine fittlichen Folgen
Haben, insbejondere Tann fie feine fittlihe Verantwortung bes
gründen.
Jedenfalls alfo muß der Entfcheidung des Willens die Er-
kenntnis des Guten und des Böfen vorangehen, fonft würde fie
gerade hinfichtlich des fittlichen Charakters deifen, was zur Wahl
fteht, und darum auch defien, was aus der Wahl erfolgt, unmwills
kürlich oder zufällig fein.
Der Wille kann aber diefe Erkenntnis aus fi felbft nicht
gewinnen und in fich felbft nicht finden, denn er ift ja als wahl⸗
freier Wille indifferent gegen das Gute und das Böſe, er fteht
dem einen genau fo gegenüber wie dem anderen, er bat in ſich
felbft nicht das Geringfte, was ihm das eine als gut und das
andere als böfe erjcheinen Tieße, denn damit würde er in der That
die fittlihe Indifferenz feiner Stellung bereits verloren haben, in»
fofern ja jedenfalls darin, daß ihm felber das eine an fich fchon
als gut, das andere als böfe erjcheint, ein fittliche8 Urteil, eine
78 Meyer
fittfiche Wertſchätzung enthalten wäre, welde mit Notwendigkeit
auf eine ſchon vorhandene pofitiv fittliche Beſchaffenheit zurück⸗
ichließen Tieße.
Wenn aber der wahlfreie Wille an und für fich feiner ſittlich
indifferenten Natur wegen noch feine Erkenntnis haben kann von
dem, was gut und was böfe tft, jo mag fie ihm immerhin von
außen ber durch irgendeiue Offenbarung zugeführt werden. Das
würde fih mit feiner Natur wohl vertragen, insofern er verbun-
den oder begleitet ijt von dem Bewußtſein deu Ichs, dem er an
gehört.
Wie ich einem Menſchen fagen kann, dies fei gut, Dies je
böfe; dies müffe gethan und dies unterkaffen werden, ohne daß er
das Gute oder das Böſe, weiches ihm auf diefe Weife bezeichnet
ift, nun auch gleich in feinem Innern, im feinem Gewiſſen als
ſolches bezeugt fühlt, jo daß er es alfo zunüchſt als eime wein ob-
jeltive Thatfache Hinnimmt und gelten läßt, daß bie& get und jenes
böfe ift; fo Haben wir uns auch zu denken, daß dem wahffrtien
Willen von außen her dur; ummittelbare oder mittelbare Offen⸗
barung irgendwelcher Art eine rein objektive Erfeuntuis von dem,
was gut, und won dem, was höfe ift, beigebracht wird, noch ohne
daß ſich diefe Erfeuntmis ſchon im ihm ſelbſt fuhleltio bezeugt und
beftätigt.
Wir müſſen dies leytere unbedingt feftgalten, um den Begriff
der Wahlfreiheit in feiner Reinheit zu ſchützen; denn wenn fich bie
dem Willen von außen her beigebracdhte ohjeftive Erkeuntuis des
Guten und des Böſen nisch gleich fubjeftto als Wahrheit innerlich
bezeugte, d. h. wenn fi in dem Willen ſelbſt gleich das Gefühl
für das Gute als folches und. für, ober eigentlich. gegen, das Böſe
als folches regte, jo müßten wir darans wiederum jchliegen, daß
dieſer Wille bereits irgendwie fittlich beftimmt, ich möchte jagen,
wenigftens fittlich angehaudht ift, daß er mit dem ſittlich Guten
reip. Böſen in einer wefentlichen Korreſpondenz fteht, welche ihm
vorher nur eben unbewußt war, nun aber, ba ihm ber Gegenſatz
vor Gut und Böſe in volllommener Klarheit und Deutlichkeit
gegenüber getvetew ijt, zu einer bewußten emporgeftiegen ift.
Ja das innere Gefühl uud Veritändnis fir das Qute läßt
Die Wahlfreigeit des Willens ꝛc. 319
ſchon auf eine ganz bedeutende fittliche Beftimmtheit des Willens.
ſchließen. Denlen wir uur an bie Parallele auf dem religiöſen
Gebiete, ich meine da8 innere Zeugnis des heiligen Geiftes, das
jogew. testimonium spiritus saneti, welches der von anfen an
uns herautretenden göttfichen Wahrheit yon uns ans entgegen-
fommt und fie in unſerem eigenen Herzen ala folche beftätigt!
Hier Tiegt es ſchon in dem gewählten Ausdrud test. sp. sancti,
wie fehr das, was ſich in unferem eigemen Innern regt, bem vers
wandt ift, was ung von aufen her gegeben wird.
Ebenfo verhält es fi) der von augen ber kommenden Offen»
barung der fittlihen Wahrheit gegenüber. Auch hier müffen wir
fagen, daß, wenn ſich dem Willen ſelbſt das Gute als ſolches
innerlich bezeugt, daS Weſen des Willens mit dem ihm geoffen«
barten Guten eine weientlihe Verwandtfchaft haben muß. Weit
diefem Zugeſtändnis aber Hätten wir die fittliche Indifferenz des
Willens, von der wir dech ausgehen mußten, bereits aufgegeben,
benor ber Wille auch nur irgemdeine eigene Wahl getroffen hat.
Wollen wir das nicht, und wir dürfen es fa nicht, wem bie fitt«
liche Indifferenz erft dur die Wahl des Willens befeitigt werden
fol, dann mäfjen wir's ung jo bdenfen, daß tem Willen bie Er⸗
fenntnis des Guten in feinem Gegenſatze zum Böſen, fofern fie
ihm von Gott nahe gebradgt wird, etwa unter der Form des gött⸗
lichen Willens fich darbietet; es wird ihm gejagt: „Dies ift gut,
dies will Gott, dies dagegen ift böfe, dies will Gott nicht.“
Schon hier nun erhebt ſich eine bedeutende Schwierigkeit. Wir
fagten, wenn der Wille eine Entſcheidung ven ſolchem Gewichte
fällen foll, daß feine ganze fittliche Verantwortlichkeit, fein ganzer
fittlicher Charakter, je im mefenklichen auch fein ganzes zufünftiges
Geſchick davon abhängt, fo müſſe feiner Entſcheidung eine genaue
Erkenutnis bes Guten und bed Böſen in ihrer wejentlichen Gegen⸗
ſatzlichkeit vorangehen. Diefe Erkenntnis braucht freilich keines⸗
wegs eine genaue Vollſtandigkeit hinſichtlich des Umfanges dieſer
beider Begriffe zu haben, aber doch, wenn ich mich jo ausdrücken
darf, Hinfichtlich ihres intenfiven Wertes, nur jo, behauptete ich
wohl mit umBeftreitbarem echte, Sinne eine vollgüftige ſittliche
Berantwortlichleit herbeigeführt werden; im anderen Falle dagegen
80 Meyer
würde das Veranlaſſen der Willensentſcheidung, ſofern ſie dem
Menſchen eine fo ſchwere ſittliche Verantwortlichleit einträgt, als
Überrumpelung bezeichnet werden müſſen.
Demnach dürfen das Gute und das Böſe dem bewußten Willen
keineswegs bloß als objektive Formbegriffe gegeben werden, etwa
wie man dies wohl einem Kinde gegenüber thut, weil dasſelbe mit
feiner Urteilskraft noch nicht fo weit gediehen iſt, am wefentlide
Beitimmungen der Art aufnehmen und verftehen zu können.
Wenn e8 fih um eine fittlih verantwortliche Entfcheidung dei
Subjektes handelt, ift ein ſolches Verfahren nicht zuläffig, dem
durch bdasfelbe würde ja den Begriffen „Gut“ und „Böſe“ ihre
fittlihe Bedeutung genommen, oder fie würde wenigftens für die
Augen des zu belehrenden verdedt werden. Alſo es kann dem
Willen doch nicht bloß gejagt werden: „dies ift gut und dies if
böſe“, fondern die Erkenntnis des Guten und des Böſen muß ihm
in der Weiſe vermittelt werben, daß er auch einfehen könne, warum
und wiefern dies gerade gut und jenes gerade böfe ift. Wenn ihm
gefagt wird: „dies will Gott, und jenes will er nicht", jo muß
ihm zugleich dee Gedanke beigebracht werden, daß eben alles, mad
Gott will, gut und alles, was er nicht will, böfe ift, weil Gott
feldft gut und nicht böfe ift, und weiter muß ihm in diefem Zu
fammenhange die Erkenntnis eröffnet werden, inwiefern denn Gott
gut und nicht böfe ift, damit das Wefen des Guten reſp. Böſen
feinem Bewußtjein nahe gebracht wird.
So werben wir alfo, um den Willen in den Stand zu ſetzen,
eine fittlihe, bie Selbftverantwortlichkeit begründende Entjcheidung
zwifchen gut und böfe zu treffen, niemals ausfommen mit blof
formalen Begriffebeftimmungen über gut und böfe, fondern mit
werden ihm einen Haren Einbli! gewähren müffen in das Weſer
des Guten und bamit zugleich in das feines böjen Gegenſatzes.
Nun fragt fih aber: ift dem Willen diefe wefentlice Er
kenntnis des Guten mit feinem fittlich böfen Gegenteile möglid,
unbefchadet feiner fittlichen Indifferenz, die doch unter keinen Um
ftänden vor der eigenen grundlegenden, entfcheidenden Wahl di
Willens gefährdet werden darf? Seht eine folde Erkenntnis
nicht Schon einen beftimmten fittlichen Charakter voraus, eine ſelbſt
Die Wahlfreigeit des Willens zc. &
ſchon fittlih harakteriierte Kapacität für das Gute oder das
Böſe?
Es giebt in unſerem Geiſtesleben gewiſſe Gebiete, auf denen
das rechte, weſentliche Erlennen das Lieben am unmittelbaren, un⸗
willfürlichen Folge hat, ja auf denen Sehen und Lieben eins iſt.
Man kann da ſowohl fegen, men müſſe erfemen, um zu Eichen,
ala auch: umgelehrt, man mülfe lieben, um zu enfamen. Das
Erkennen und daß Lieben: ftehen da in einen vecipualen Verhältnis
zu einander.
Habe ich das Weſen des Schönen erkannt, jo ewpfinde ich es
eben audy als folches, alfo der Eindrud auf mein Erkennen ent-
fpeicht dem Eindruck auf mein Gefühl; und umgelehrt, ih muß
das Schöne als ſolches empfinden, wenn ich es wahrhaft in feinem
Weſer ertennen will. Empfinde ih es nicht zugleich als das
Schöne, fo merde ih vielleicht zwar eiue formell richtige Defi-
nition des Schösen angeben können, aber falls fie wirklich richtig
ft, wird es wur eine omgeleente, ih möchte fagen ſeelenloſe,
wenigftens für mich feelemlofe Formel fein, die ich noch nicht einmal
in ihrer Richtigkeit Tontrollieren kann, da. ich keine eigene Erfahrung,
Leine felbfigemenuene Gewißheit darüber habe, ob fie wohl aud)
808 Weſen des Schönen wirklich zum Ausdrud bringt; das Heißt
aber mit anderen Worten, ich babe Feine wirkliche Erkenntnis bes
Schönen feinem Weſen nad, da ich es nicht als folches empfinde.
Ähnlich iſt es auf dem Gebiete des Sittlichen.
Ich will zunächft das bemerken, was uns die Erfahrung des .
Lebens darüber zeigt.
Devjenige Menſch, welcher das Gute nicht liebt, noch thut, der
ehrt auch einer wahrhaften, weſentlichen Erkenntnis des Guten
fern. Cr weiß vielleicht, was gut iſt, aber er hat dad, nur eime
rein formale Erkenntnis davon, das: Gute ift ihm etwa ber Gegen-
ſtand irgendeines Geſetzes, deffen Weſen er nicht verftanden hat;
er meiß es, der Vater. hat bir dies befohlen; der Staat, bie
Kicche ober ſonſt eine Gemeinſchaft, auch wohl der Bett im
Himmel Hat dies und das Gebot ausgeiprocden; er weiß es, Dies
tft. dir von dem oder jenem angeraten, weil es die fegensceich fein
und Nuten bringen foll für Zeit und Ewigkeit; er meiß es, dies
Theol. Gtub. Jahrg. 1885. 6
32 Meyer
und das ift dir als Unrecht, als Sünde bezeichnet worden, und «6
fann fih das alles ſowohl auf einzelne Thaten als auch auf
Herzenszuftände beziehen.
So könnte ein folder Menſch eine voflftänbig umfafjende Er-
fenntnis haben von dem, was gut ift, aber fie ift eben doch nur
eine rein formale, fie geht nicht auf das Weſen des Guten felbft,
er würde fonft micht bei feiner Zuneigung zu dem Gegenteil des
Guten, oder auch nur bei feiner Gleichgültigkeit gegen dasſelbe
ftehen bleiben können. Daß er dies thut, ift ein Beweis dafür,
daß er zu einer wahrhaft wejentlichen Erkenntnis des Guten nod
nicht durchgedrungen ift; und zum Zeichen dafür behauptet er wohl
auch offen und umnverholen, daß die formale Beſtimmung des
Guten, wie fie feiner Erfenntuis äußerlich zugeführt worden iſt,
eine Lüge fei, und ift dagegen überzeugt, daß dasjenige, was er
verfolgt, dem wahren Wefen des Guten entſpreche. Diefe Nee
fann man ja unter den Menfchen oft genug hören, und dahin
kommt ſchließlich auch ein jeder, der fich in feiner Liebe zum Böſen
über fih felbft Har wird, d. h. fih auf den Standpunkt eine
bewußten Erfenntnis bringt.
Auf der andern Seite jehen wir, daß derjenige Menfch, welder
von einer wahrbaften Erkenntnis des Guten feinem Wefen nad
erfüllt ift, auch unmittelbar damit ein Anhänger, ich möchte jagen
ein Liebhaber des Guten ift.
Eine Thatfache jedoch könnte gegen die Notwendigkeit dieſer
- Berbindung |prechen.
Wir fehen nämlich vielfah Menfchen, und es find mahrlid
nicht die fchlechteften, welche troß einer wirklichen befjeren Erkennt⸗
nis dennoch das Böſe thun. Denken wir nur am die fchmerzlichen
Seufzer des Apofteld Paulus: „Das Gute, das ih will, das
thue ich nicht, ſondern das Böſe, das ich nicht will, das thue ich.”
Hier fcheint alfo doch, und fo unzähligmal! der Fall vorzuliegen,
in welchem das Thun, alfo das praftiiche Anhangen am Böſen
vereinigt ift mit der wejentlichen Erfenntnis des Guten, ein Be
weis, daB aus einer folchen Erkenntnis doch nicht folgt, man
müſſe dem jo Erfannten nun auch unmittelbar und unmwillfürlih
fein Herz, d. 5. fein praftifches Anhangen zuwenden.
Die Wahlfreiheit des Willens 2c. 83
Doch bei näherer Betrachtung beftätigt gerade diefe unleugbare
Thatſache meine Behauptung, anftatt fie widerlegen zu können.
Wo nämlih in einem Menjchen, welcher bisher das Böſe geliebt
und gethan bat, die wahrhafte, wejentliche, innere Erkenntnis des
Guten durch irgendwelche, ſei e8 göttliche, ſei es menfchliche Mittel
erwedt wird, da zeigt fi immer auch eine unmittelbare Einwir-
tung bderfelben auf fein praftifches Verhalten, auf fein Willens-
feben, nur daß diefe Einwirkung fehr oft nicht ftark genug ift, um
fi in dem Willensleben und dem praftifchen Verhalten vollfommen
durchzufegen. So fommt es denn zu ber unter den Feſſeln des
Böfen feufzenden, fehnfüchtigen Liebe des Guten, welche nur darum
nicht zum Ziele fommt, weil die feindliche Macht, die bisher das
Herz beherricht und das Wollen regiert hat, noch zu groß ift, um
fhon überwunden zu werden. Aus folhem Zuftande ergiebt fich
dann die Sehnſucht nad ‚Erlöfung.
Wo diefe ſehnſüchtige Liebe des Guten in feinem Grade und
in feiner Weife fich zeigt, da zweifeln wir auh an dem Vorhan⸗
benfein der rechten Erkenntnis des Guten, und wir haben ein volles
Recht, fo zu zweifeln.
So ift denn gerade diefe fehnfüchtige Liebe des Guten in denen,
deren Wollen noch unter der fremden Macht des Böſen gefnechtet
ift, der ſtärkſte Erfahrungsbemweis dafür, daß eine wahrhafte Er»
fenntnis des Guten nicht möglich ift, ohne mit einer praftifchen
Tendenz und mit einer unwillfürlichen Alteration des fittlichen
Standpunktes verbunden zu fein.
Hier fehen wir, daß fogar der Wille, welcher bereits von einer
feindlichen Macht beherricht ift, alſo nicht mehr wahlfret genannt
werben kann, die Einwirkungen einer folchen fittlichen Erkenntnis
erfährt, indem er nicht imftande ift, die ſehnſüchtige Liebe des
Guten in dem Herzen des Wollenden zu unterdrüden, wie viel
mehr wird der Wille die Macht diefer umwillfürlichen Einwirkung
verfpüren, welcher einer folchen entgegengefegten Gewalt noch nicht
unterworfen ift, bei welchem aljo dieſe Einwirkung noch nicht auf
einen folchen Widerftand ftößt! und wenn man mit Recht fagt,
dag nur ein reines Herz bie fittlihde Wahrheit in ihrem Weſen
ganz vollkommen erfennen und fchauen könne, jo wird man aud
6*
3 Meyer
das jagen müſſen, daß der Eintritt folcher Erkenntnis und ihr
Zunehmen mit einer fortfägreitenden fittligen Reinigung oder Ber:
fittfichung des Herzens verbunden fein muß. |
Es ift in der That auch rein theoretifch betrachtet unmöglich,
dep her Meunſch, nicht bleß zu einer formalen, fonbern zu einer
wesentlichen Erkenntnis des Guten gelangen follte, ohne daß er
dadurch zugleich in feinem eigenen fittlichen Standpunkte weſenilich
afteriert würde. Das Weſen ded Guten kann ich ja nur dadurd
erlennen, daß ich es zugleich in mir felbit erfahre, daß es in mir
felbſt gleichfam eine Stätte findet. Das Gute ift eben eine praf-
tifche Vernunftanſchauung, deren Weſen durch ein rein theoretiſches
Erkermen in feiner Abfonderung nimmer erichäpft werben Tann.
Danach kam ich jagen, daß der wahlfreie Wille nicht zu der
wefentlihen Erkenntnis des Guten gelangen fan, ohne daß er
zugleich durch diefen Prozeß, welcher nicht durch ihn ſelbft br
ſtimmt, affo unwillkürlich ift, eime ſttiliche Beftimmtheit anuäühme,
für die er felbft, eben ums ihrer Entfichung willen, nicht verant⸗
mortlich gemacht werben kaun, fondern natürlich nur derjenige, der
ihm diefe Erfenntnis beigebracht hat.
- Schon bier alſo mürde gerade dadurch, daß dem wahlfreen
Willen bes Meunſchen eine die fittliche Selbſtverantwortlichkeit be
gründende Emtjcheibung ober Wahl möglich gemacht werden fall,
nämlich durch die fie eime ſolche Entfcgeidung unumgänglich not
wendige Zuflührumg einer weſentlichen Erkenntnis des ſittlich Guten
und feines böſen Gegenteiles, dieſer Selbftentſcheidung auf ein
nicht von der Wahl des Willens ſelbſt abhängige Weiſe vor⸗
gegriffen, das heißt aber in dieſem Falle die eigentliche Selbitent-
fheibung und damit natürlich auch die Verantwortlichkeit dei
Willens für feine Entſcheidung unmöglich gemacht.
Jedoch die Verteidiger des mahlfreien Willens und der durch
ihn zu treffenden verantwortlichen Entſcheidung können ermidern:
mag immerhin diefe weſentliche Erkenntnis des Guten von einigem
Einfluß fein auf die ſittliche Stellung des wollenden Subjektts
das verfchlägt doch für dem wahlfreien Willen felbft gar nichtt.
Es war ja ſchon vorher für möglich erklärt, daB der geiftige Zu
ftand des Mienfchen, wie er urfprünglich vor jeder bewußten
Die Wahlfreiheit des Willens ıc. —
Willensentſcheidung ſchon vorliegt, in irgendeinem Grabe fittlichen
Charakter tragen könne, zugleich aber war geſagt worden, daß
dieſer ſittliche Zuſtand bes Subjeltes für den wahlfteien Willen
zunächſt noch gleichgüftig fe, ba der Wille erſt Stellung zu dem⸗
felben nehmen und darch feine Entfcheidung bierüber die fittliche
Selbſwerantwortlichkeit herbeiführen müſſe. Cbenfo gut num, mie
wir dies annehmen konnten, daß der wahlfreie Wille Traft feiner
Wahlfreiheit diefem ſchon vorhandenen objektiv fittlichen Zuftanbe
des Subjeftes vorerft noch gleichgültig ‚gegenüber ſtehe, ebenfo gut
können wir auch weiter daran fefthalten, daß der Wille Traft der⸗
felben Wahlfreibeit dem durch jene wejentliche Erkenntnis bes
Guten fo und fo beftimmten fittlihen Zuftande gleichgültig gegen-
überftehe.
Ich Habe allerdings jenes Verhältmis zwifchen der Wahlfreiheit
des Willens und dem fittlichen Charakter des urfprüngligen Zu⸗
ftandes im Gegenfage zu meiner eigenen Anſchauung hypothetiſch
zugeftanden und will mid) nicht bedenken, diefes felbe Zugeſtündnis
auch für alle gleichartigen Verhältniffe zu machen. Ya ich will
noch nit einmal hervorheben, daß das PVerbältnis, um das es
fich hier handelt, doch dem früheren eigentlich nicht mehr gleich⸗
artig tft; daß der fittliche Zuſtand des Subjeltes nach dem Eim-
tritt jener wefentlichen Erfenntnis de8 Guten doch nicht mehr bio
ein objektiver, fondern ein ſubjektiv vermittelter ift; daB ja mm
der wahlfreie Wille felbft diefe Erkenntnis gewonnen Haben foll;
daß diefe Erkenntnis alfo, wenn man ihr überhaupt einen fitte
then Einfluß zugeftehen muß, doc, netwendigerweife auch auf dem
Willen felbft einwirken und dadurch die Wahlfreiheit desſelben zer⸗
ftören wird.
Dies alles will ich, wie gejagt, nicht mehr betonen, fondern
auch allen diejen großen Schwierigleiten gegenüber einmal annehmen,
daß auch durch die wefentliche Erkenntnis des Sittlichen der Wille
im Belize feiner Indifferenten Wahlfreiheit gar nicht geftört und
gefchädigt wird. Wir werben ſehen, daß auch damit nicht im
mindeſten geholfen ift, fondern dag wir alsbald an einer noch viel
größeren, weil viel offentundigeren Schwierigkeit anlommen, welche
jeglihe Bedeutung der Wahlfreiheit unferes Willens für die Be⸗
86 Meyer
gründung einer ſittlichen Verantwortlichkeit des Menſchen gänzlich
aufhebt.
Nehmen wir alſo an, daß der Wille trotz ſeiner weſentlichen
Erkenntnis des Sittlichen ſeine eigene ſittliche Indifferenz noch be⸗
wahre und daß er nun erſt dem erkannten Gegenſatze von gut und
böſe gegenüber ſich aus ſeiner ſittlichen Indifferenz heraus kraft
feiner Wahlfreiheit zur ſittlichen Beſtimmtheit entſcheide, um für
dieſelbe die volle ſittliche Verantwortung auf ſich nehmen zu können.
Wir haben uns demnach zu denken, daß der wahlfreie Wille vor
dieſem Gegenſatze ſteht, um ſeine Wahl zu treffen.
Wie geht nun dieſe Wahl vor ſich?
Ich will nicht etwa unterſuchen, für welche Seite des Gegen-
Tages fi der Wille entjcheiden wird; denn dafür kann e8 ja gar
feine Unterfuchung geben, vielmehr muß fich die Beobachtung bes
treffs deifen, was der wahlfreie Wille thun wird, Tediglich abwar⸗
tend verhalten; wohl aber kann e8 genauer unterfucht werden, wie
es denn der wahlfreie Wille überhaupt zu irgendeiner Entfcheidung
bringt; wie er das wählt, was er wählt.
Wirklich entjcheiden kann er fih ja feinem Weſen nach fowohl
für das Gute ald auch für das Böſe, ganz nad feinem freien
Belieben, ganz nach feiner unbedingten Willkür. Wie kommen wir
nun aber dem Prozeß diejer Entjcheidung, fie mag nun ausfallen,
wie fie will, mit unferem Erkennen näher?
Wir wollen e8 verjuchen mit dem allbefannten und bei gewiſſen⸗
hafter Anwendung unfehlbaren Mittel, daß wir auf die Art, wie
die Entſcheidung des wahlfreien Willens zuftande kommt, zwei ein-
ander Eontrabiktorifch entgegengefette Beitimmungen anwenden, von
denen ja eine beſtimmt das Wichtige treffen muß, da es zwifchen
und außer ihnen fein drittes giebt. Diejes Verfahren ſoll zunächft
angewendet werden auf einen der beiden für die Entjcheidung des
wahlfreien Willens gleich möglichen Fälle.
Geſetzt den Fall, der Wille entjcheibet fich für das Gute. Wie
ift diefe Entfcheldung zuftande gelommen? |
Es find für die Entftehung diefer Entſcheidung folgende zwei
Arten möglih. Entweder hat der Wille fih fir das Gute ent
schieden mit Nüdficht darauf, daß es gut ift, ober er hat es ges
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 8
than ohne Rüdficht darauf, daß es gut if. Man wird zugeben
müffen, daß dieje beiden Beitimmungen auf ihrem Gebiete einander
Lontradiktorifch entgegengefegt find und fomit jede Möglichkeit einer
dritten Art der Entjcheidung anschließen.
Wir wollen zunäcft die erfte Seite ber aufgeftellten Alter»
native etwas näher ind Auge faſſen.
Alfo der Wille Hat fi für das Gute entfchieden mit Rückficht
darauf, daß es gut if. Das Heißt mit anderen Worten, er hat
das Gute gewählt, weil es gut ift, denn bie Rückſicht darauf,
daß es gut ift, hat ja eben feine Wahl beftimmt, und wenn dies
legtere nicht der Ball wäre, jo hätte der Wille eben jene Rückſicht
bei feiner Wahl wenigftens gar nicht gehabt. “Da er fie aber ge-
babt Hat, fo Hat er unftreitig da8 Gute gewählt als folches, oder
um bes Guten willen.
Aber ift denn das noch ein wahlfreier, d. h. ein fittlich un⸗
beftimmter, indifferenter Wille, welcher das Gute thut um bes
Guten willen, d. 5. welcher fi in feiner Wahl durch bie Rück⸗
fiht auf das Gute als folches beftimmen läßt? Verrät nicht der
Wille dur eine Entfcheidung, welche durch ſolche Rückſichten bes
ftimmt tft, ganz unverkennbar, baß er bereits fehr wejentlich fitt»
Lich beftimmt ift; dag er bereits gut ift; daß er alfo nicht erft
durch diefe Entfcheidung eine fittliche Beftimmtheit erhält und gut
wird?
Was verftehen wir denn unter einem jittlich guten Willen, alfo
unter einem Willen, welcher im Unterfchied von dem wahlfreien
Willen das Gute hervorbringt nicht aus freier, unbeftimmter Wahl,
fondern aus einem inneren Drang, aus einer inneren Notwendig»
feit ſeines Weſens? Iſt es nicht eben ber Wille, welcher das
Gute thut um des Guten willen; welcher fih für das Gute ent-
ſcheidet allein in Rüdficht darauf, dag es gut ift? Ja was
können wir von einem guten Willen auch nur mehr erwarten als
diefes? Das ift ja das höchſte Ziel der Vollkommenheit eines
Willens; das ift das Ziel, auf welches alle Erziehung bes Willens
fchließlich Hinarbeitet, daß der Wille das Gute thut lediglich um
feiner ſelbſt willen, daß die Rückſicht auf das Gute als folches ihn
ganz und gar beitimmt und alle feine Entfchließungen regelt.
= Meyer
In der Ruckficht auf das Gurte als Holches ſpricht fich eben
die eigene, ſchon vorhandene, weſentliche Güte des Willens ums,
und je velllommener dieſe ift, deſto durchſchlagender wird auch jene
fein. Die Güte des Willens kann firh ja in gar nichts amderem
mıbfprechen als in jener Rüdiiht, mag Fe auch noch fo ſehr zu-
nehmen, und wiederum jene Ruckſicht kann in gar nichte anderem
ihren Grund haben als ta der wejentliden Güte des Willens
ſelbſt, mag Fe auch noch fo gering fein; fie Läßt mit derfelben
Sicherheit auf die Güte des Willens zurkaffchlichen wie jede Wir
tung anf ihre Urfache; und bie Juferiorität des Willens, der ſich
int ber oben befhriebenen Weile für das Bute enticheibet, gegen-
über dem velltenemen guten Willen, Ubunte höchftens darin He
fteben, daß fi mit der Rückſicht darauf, daß das zu Erwählense
gut ift, noch andere beftimmende, aber weniger fittlige Rückſichten
verbinden, was ia bei dem volllommen guten Willen nicht Der Fall
ift. Wie weit aber gerade durch dieſen Unterſchied der Wille fich
von ber für ihn geforderten Wahlfreiheit feiner Entſcheidung ent»
fernen würde, das legt Har zutage.
Durh de een befchriebene Art Ser Willensentſcheidung für
das Gute um bes Guten willen ift alfo erwieſen, daß ber Wille
bereits ein guter if. Kr Tann alfo nicht erſt durch dieſe Ent-
Scheidung fich felbft eime fittliche Beftimmtheit gepeben haben, ba
er bereits vorher fittlich beftimmt war, wie es eben in der Akt
feimer Entfcheibung zutage getreten if. Wenn bermoh feine fitt-
liche Beſtimmtheit, auch die, welche ſich in jener Entſcheidung zeigt,
von ihm felbft herrühren fell, jo muß febenfalle diejenige Ent
ſcheidung, dur welche er ſich feiwe ſittliche Beſtimmtheit urfprüng-
lich gegeben bat, ſchon wor der eben beſchriebenen und ywar auf
andere Weiſe gefchehen fein.
Hierdurch ift dargethan, daB der wahlfreie, d. 9. noch nicht
fittlich Beftimmte Wille fi für daB Gute nicht in der Weiſe ent-
fgeiden kann, daß er das Gute wählt mit Müdficht darauf, daß
e8 gut tft, Sa’ eben dieſe Art der Entſcheidung nur Sache eines
bereits im irgendeinem Grade füttlich gut beftimmten, d. 6. wicht
mehr wahlfreien Willens ift.
Alſo der erfte Fall der von uns aufgeitellten Alternative baun
Die Wahlfreiheit des Willens ıc. 3
für die Entſcheidung des wahlfeeien Willens nicht ftatutert werben,
weil er bem Wehen eimes ſoichen Willens widerfpridt. Es bleibt
demnach nur ber andere Tal übrig, wenn wm die fittliche Be⸗
ftinumtheit des Willens wirklich durch eine Entſcheidung biejes jelben
Willens herbeigefüßet fein laffen will. Dieſer andere Ball aber
war der, daß der Wille das Gute erwählt ohne Ruückficht darauf,
daß es gut iſt.
Wir wmüſſen diefe Aunahme nun auch noch etwas genauer
prüfen, ob wirklich auf diefem Wege eine fittliche Entſcheidung and
mit ihr eine fittliche Werantwortlikeit für was entſtehen kam,
oder nid. |
Wenn fich der Wille für das Gute entfcheidet ohne Rädkficht
bavawf, daß es gut ift, wenn er aljo im ber That bei feiner Ent»
Icheidung im einer Weite durch die Ruckſicht auf das Gute als
focches beftiaemt wird, je bemweift er Fig damit allerdings als ein
wahlfreͤer Wille, denn wir haben ja darunter einen Willen u
verftehen, der formel dan Guten als auch dem Böſen gegenüber
zunäcdft gleichgiiitig it, der durch FKeinerlei weſentliche Bezichung
mit bem einen ober wit dem anderen verbunden ift, darum and)
feinem näger fteht, ats dem anberen, darum jedes von beiden
ebenfo gut und ebenfo leicht thun als Lafjen fann, der alfo, wenn
er das eine thut und das andere Ihft, keinenfalls von dem einen
oder von dem anderen im feiner Eutſcheidung beeinflußt iſt, ſon⸗
dern Tebiglid) unter dem Einfluß feiner eigenen unbebingten Wahl⸗
freiheit ſteht, fo daß er jedenfalls auch das, mas er gerade thut,
laſſen, und das, was er gerade läßt, thun Bönnte, wem es ihm
beliebte.
Es ift daher anzuertenuen, daB dieſe letztere Art der Entichei
dimg fir das Gute, nämlich ohne KRückſicht darauf, daß es gut
ft, dem wahlfreien Willen feiner Natur nach wohl möglich ift,
ja daß fle gerade die einzige ift, welche ihm feine Natur bem fitt⸗
ih Guten gegenüber erlaubt. Aber wie fteht «6 dem nun mit
dem fittlien Charakter der fo geartiten Entſcheidung? Hat fie
einen? Kann man ihr überhaupt einen ſolchen zueriennen ?
Diefe Trage kann garız furz beantwortet werben durch den ein-
fachen Hinweis darauf, daß ja nuf dem. füttlichen Gebiete das Gute
90 Meyer
und das Böſe nur als ſolches gilt. Wo es ſich nicht handelt um
das Gute als ſolches und um das Böſe als ſolches, da kann man
auch nicht von ſittlichen Verhältniſſen reden. Alſo eine einzelne
That kann nur dann unter eine fittliche Betrachtung fallen, wenn
fih in ihr irgendwie da8 Gute oder das Böſe als ſolches mani-
feftiert. Zum Beifpiel ein Geldgefchent an jemanden ift natürlich
nur dann eine fittlihe Handlung, wenn ich mit demjelben etwas
Gutes thun will, d. 5. wenn ich's thue um des Guten willen,
was ſich in diefer That manifeftiert; iſt dies nicht der Tall, thue
ih’s etwa nur aus Gewohnheit, oder anderen äußerlichen Gründen,
fo Tiegt in folder Handlung an und für ſich nichts Sittliches.
In unjerem ale nun handelt es ſich um eine einzelne That,
nämlich um eine Entfcheidung, durch welche in einem beftimmten
Zeitmoment meiner Entwicelung in meinen Charalter eine neue
Beftimmung eingeführt werden fol. Tritt nun in diefer Entfchei-
dung das Gute nicht als ſolches auf, fo manifeftiert es ſich eben
gar nicht in derjelben, fo ift fie eben überhaupt Teine Handlung,
welche unter eine fittlihe Betrachtung geftellt werden könnte, fo
ift fie eine Handlung, die überhaupt keinen fittlichen Charakter
hat, die überhaupt gar nicht in das Gebiet bes Sittlichen hinein⸗
gehört.
Nun war aber vorausgefett, daß ber Wille fi für das Gute
entfcheidet ohne Rückſicht darauf, daß es gut ift, alfo nicht um
des Guten willen, fo daß da8 Gute als folches mit diefer Ent-
fcheidung abfolut nichts zu thun Hat, vielmehr es nur als eine
Zufälligleit würde gelten fünnen, daß das, was der Wille erwählt
bat, gerade das Gute ift, nämlich in objeftivem Sinne, wenn man
überhaupt da nod von gut ſprechen Kann, wo es nicht als folches,
als fubjeltiv Gutes aufgefaßt und gethan wird. Wir hätten alfo
bier eine Entſcheidung, die gar feine fittlihe That ift, die gar
feinen fittlichen Charakter bat, die gar nicht in das Gebiet des
Sittlichen hineingehört.
Aber durch eine Entjcheidung, welche felber mit dem Sittlichen
abſolut nichts zu thun Hat, kann doch unmöglich eine fittliche Be⸗
ftimmtheit für den fo ſich Entſcheidenden herbeigeführt werden, und
das Gute, welches ich durch eine folche Entfcheidung ermwähle, kann
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 91
mir unmöglih als Gutes zugerechnet werden, da es ja gerade,
fomweit e8 von mir erwählt worben ift, nichts Gutes ift, infofern
ich es erwählt babe ohne NRücdjicht darauf, daß es gut if. Es
geichieht alſo durch diefe Art der Entjcheidung, obwohl wir fahen,
daß fie für den wahlfreien Willen bem Guten gegenüber die einzig
mögliche ift, auch nicht das Geringfte, wofür wir ſittlich verant»
wortlic gemacht werden könnten, da fie überhaupt nichts Sittliches
in ihrem Wefen hat.
Wollten wir nun im Unterfchied von ber bisherigen Erörte⸗
zung annehmen, daß der wahlfreie Wille fih für das Böſe ent-
jcheidet, fo ift Leicht erfichtlich, daß wir genau zu denjelben SKonfes
quenzen kommen.
Ich brauche nicht die ganze Auseinanderjegung zu wiederholen.
Es ift Har, wenn der Wille das Böſe wählt mit Rüdficht darauf,
daß es böje iſt, d. H. wenn er es ermwählt als ſolches, oder weil
e8 böſe ift, jo befundet er damit ſchon einen beftimmten fittlichen
Charafter und zwar einen böfen, welcher demnach fchon vor dieſer
Entiheidung vorhanden war, berfelben zugrunde Liegt, alſo doch
wohl nicht erft duch fie kann herbeigeführt werden. Die Ent-
Scheidung alſo, dur welche der Wille fo geworben ift, daß er
nun das Böſe um bed Böſen willen erwählt, muß ſchon früher
geſchehen fein, Thon in einer früheren und zwar anders artigen
Entſcheidung muß der Wille feine Wahlfreiheit, wenn er fie jemals
bejefjen hat, verloren haben; in der jeigen zeigt er, daß er nicht
mehr wahlfrei, fondern böfe ift.
Ich bin hier auf den Einwand gefaßt, daß mit diefer Aus-
legung der Gedanfe der Erwählung des Böfen mit Rückſicht darauf,
daß es böfe ift, bei weitem nicht erfchöpft worden ift, ja dag gerabe
diejenige Auslegung besfelben überjehen ift, welche der Wahlfreiheit
des Willens günftig ift. Nämlich „ic wähle das Böſe mit Rück⸗
fiht darauf, daß es böje ift“, das kann nicht bloß heißen, „id
wähle das Böfe, weil e8 böfe ift“, fonbern es kann auch heißen
„ich wähle es, obgleich es böfe ift“.
Diefe letztere Auslegung, welche fih ja im wirklichen Leben
außerordentlich Häufig beftätigt findet, fcheint in der That der
Wahlfreiheit des Willens fehr günftig zu fein, fie feheint Die
2 Meyer
Herbeiführung einer folgen ſittlichen Entſcheidung zu verbäirgen,
für welche der Wille ſelbſt verantwortlich gemacht werben muß,
für welche daher ein wahlfreier Wille verausgefegt werben muß;
denn wären hier das Böſe als folches von den Willm erwühlt
wird, alfo in einer fittlicden Entfcheibung, da er ja in feiner Ent⸗
fgeibung darauf Bezug nimmt, dag es böfe iſt; drüdt beach zu⸗
gleich bie Art des Bezuges, wie fie in dem „obgleih Höfe“ ent⸗
halten ift, den unabhängigen Gegenfat des Willens zu dem Böſen
ans, fo daß er als in feiner Wahl vollkommen frei erfcheint.
Doch eine genauere Prüfang diefes Falles wird dartbun, daß
er ebenjo wenig hierher gehört, mie der zuerſt angenemmene Fall,
da er für einen wahlfreien Willen ebenfo unmöglih ift wie
jener.
Es it Schon ein übles Prognoftiton, daß ee uns, ald wir eine
Entiheidbung des wahlfreien Willens für das Bute angenommen
Hatten, nicht in ben Stun gelommen iſt, dieſe zweite Auslegung
bes „mit Rüdficht auf” anzuwenden, dem wen würde es über⸗
haupt einfallen zu fagen: „Sch wähle das Gute, obgleich es gut
ift*, um fi damit von dem eben Erwählten fofort wieder loe⸗
zufagen! Aber fo abitrus dieſer Gedanke betveffs des Guten ift,
fo gewöhnlich ift er betreffs des Böfen, denn Leider kommt es gar
zu häufig vor, daß wir das Voſe wählen, obgleich es böfe ift.
Hier alfo, wo wir ber Eutſcheidung des Willens für das Böſe
gegenüber ftehen, ift diefe Auslegung an fi wohl beredtigt, aber
fie kann troß des günjtigen Scheines doc feine Stüge für die
Annahme einer wahlfreien und doch fittliden Entſcheidung des
Willens abgeben.
Eine Bergleihung diefer zweiten Auslegung mit der erfteren
ergiebt, daß fie nicht bloß vom derfelben verfchieden, fondern ihr in
gewifjiem Sinne entgegengefeßt iſt. Vorher überfehten wir ben
Ausdrud „ich wähle das Boöſe mit Aücficht darauf, dag es böfe
ift” in den anderen „ih wühle das Böſe, weil es böfe ift“, fo
daß alfo der böfe Charafter des Gewählten als ber beftimmende
Grund des Wählens erjcheint. Wenn wir jenen erften Ausdrud
nun umfegen in biefen: „ich wähle das Böſe, obgleich es böfe
ift“, fo Haben wir damit der Rückſicht auf den böfen Charakter
Die Wahlfreifeit des Willens zc. i 98
des zur Wahl Geftelkten die gerade enigegengeſezte SBehentang. ge-
geben, denn während bie Konjunktion „weil* dasjenige emgiebt,
was mic Geftimmt, dab Böfe zu wählen, fo gicht bagegen bie
Konjunktiow „obgleicg* dasjenige an, mas mic hindert, das Böſe
zu wählen.
So ift es im alten Fallen, im denen ich mit der Entſcheidung
meines Willens einen ObgleicheBebanten nerkinde, immer will ih
damit anbeuten, daß ich auf dem Wege zu meiner Emticheibung
erſt noch ein. Hindernis, und zwar dasjenige, was ich im dem
Dbgkeid- Safe ausdrüde, überwinden mußte.
Alſo ven Sat „ich müßte des Böſe, obgleich es böfe ift“
tinmen md maüfjen wir folgendermaßen interpretieren: „Ich wühle
das DBöfe, während ich durch die Rüdficht darauf, daß ea böfe
We, eigentlich behindert bin, mich wenigſtens ist einem gewiſſen
Grade behindert fühle, dasſelbe zu wählen.
Betrachten wir diefen &Gebanden näher, jo fehen wir in dem⸗
feiben foger von zwei Seiten ber Juſtanzen bagegen auftreten, daß
ein wahlfreier Witte ſich in einem ſolchen Werkältnis unbeichadet
feiner Wahlfreiheit ſollte befinden können.
Heben mir nämlich die eine Seite des Gebaufens hervor, daß
ich wich durch die Rückſicht darauf, daß das, was ich wähle, böſe
iſt, eigentlich Kehindert fühle, dasſelbe zu wählen, aljo betonen wir
die Bebentung des „obgleich“, fo tritt uns da ein Wille entgegen,
welcher eine je nah dem Grabe der Behinderung mehr oder we⸗
niger fharfe Neigung zum Guten hat, dem wie Tünnte er fonft
ia der Rüdficht darauf, daB das zu Erwühlenbe böfe tft, einen
VBehinderungsgrund für feine Entieidung fühlen? Der Wille
ſteht dann dem Gegenſatze von gut und böfe nicht mehr gleich
güftig und indigferent gegenüber, um felbft erft in diefem Gegen⸗
ſatze Stellung zu nehmen, er kann nicht ebenjo leicht das Böfe
wühlen wie das Gute, uud das Gute wie das Böſe, er hat viel⸗
mehr fchon vor feiner eigenen Entfcheidung fo zu fagen eine Gra⸗
vitation zum Guten ımd eine Abneigung gegen das Böſe, er hat
alfo Shen einen wejentli und pofitiv ſittlichen Charalter, für
welchen. er felbft doch nicht verantwortfich gemacht werden Tann.
Damit iſt aber die Wahlfreigeit des Willens, wie fie nah un«
94 Meyer
jeren obigen Erörterungen Gegenftanb bes fittlichen Poftulates ift,
aufgehoben und zu Enbe.
Noch entjchtedener fehen wir diefe Aufhebung der Wahlfreiheit
des Willens gefchehen, wenn wir nun die andere Seite des uns
vorliegenden Gedankens in Betracht ziehen, nämlich daß ich das
Böfe dennod) wirklich wähle, alfo mit Überwindung des Hinder⸗
nifjes, welches in dem „obgleich“ feinen Ausdrud findet.
Wir wollen noch nicht einmal fagen, was für ein böfer Wille
daß fein muß, welcher trog der natürlichen Abneigung gegen das
Böfe, welche fih in dem „obgleih“ ausfpricht dennoch das Böſe
wählt, denn in Wirklichkeit kommt es meift auf eine ganz andere
MWeife, ohne jede Wahlfreiheit zu dieſer Entſcheidung. Das aber
ift unbedingt zuzugeben, daß, wenn der Wille einmal eine natürs
Tiche Abneigung gegen das Böſe fühlt, wenn eimmal bie Rückficht
darauf, daß das zu Wählende böfe ift, ein Hinderungsgrund feiner
Entſcheidung für das Böſe tft, nicht die eigene freie Wahl biefes
Willens, fondern nur etwas außerhalb derfelben Liegendes imftande
fein kann, den Willen dennod über das Hindernis hinweg zu
bringen und auf die Seite des Böſen zu neigen. Denn wenn bie
Wahl des dem Böſen abgeneigten Willens von nichts anderem
beeinflußt würde, jo würde fie natürlicherweife der vorhandenen
Abneigung gegen das Böſe nachgeben und fi für das Gute ent.
Scheiden, da fi ja durch diefe Abneigung gegen da8 Böſe ber
Wille als in irgendeinem Grabe guter erweift.
Die Überwindung des Motivs, welches in biefer Abneigung
des Willens felbjt für das Wollen Liegt, ift nur möglich durd
andere ben Willen beftimmende Einflüffe, welche die Kraft jenes
guten Motivs für den Willen überwiegen. Mit andern Worten,
das Hindernis für die Erwählung des Böſen, welches ih in dem
Sage „obgleich es böſe iſt“ ausſpreche, kann nur durch eine ander
weitige Verfuchung befeitigt werden, welcher der Wille in jeiner
Entſcheidung unterliegt.
Dean wird nun aud immer finden, daß dies die Situationen
jind, welche man in folchen Süßen mit „obgleich” zu bezeichnen
pflegt, nämlich) das Unterliegen einer befjeren Erkenntnis, eine
beiferen Strebens unter der Macht einer entgegengejehten Ver⸗
Die Wahlfreiheit des Willens zc. 8
ſuchung. Solche Verſuchung pflegt anzuknüpfen an die vorhandenen
Schwächen unſeres Zuſtandes in ſeinen Eigentümlichkeiten und
Verhältniſſen, um ſie zu Motiven werden zu laſſen, welche den
Willen in ſeinen Entſchließungen nach der Seite hindrängen, die
ihm eigentlich urſprünglich ferner lag als die entgegengeſetzte,
wenigſtens dem Anſcheine nach.
Wenn wir nun aber ſehen, daß hier die Entſcheidung des
Willens für das Böſe unter einem Druck von Motiven geſchieht,
der ſo mächtig iſt, daß er ſogar die eigentlich und urſprünglich
entgegengeſetzte Neigung des Willens zu überwinden vermag, dann
werden wir nicht mehr ſagen können, daß eine ſolche Entſcheidung
die Sache eines wahlfreien Willens ſein könnte, denn der ſoll ja
ſeinem Weſen nach gerade über alles, was Motiv heißt, frei und
unbedingt gebieten, und über alles, was einer Neigung, ſei es zum
Guten, ſei es zum Böſen, auch nur ähnelt, frei und unbedingt
erhaben ſein.
Noch weit ſchlimmer aber wird es für den Beſtand des wahl⸗
freien Willens gegenüber dieſem „obgleich“, wenn ſich das Hinder⸗
nis, welches durch dieſes Konzeſſivum gekennzeichnet wird, nicht
wie bisher innerhalb des wollenden Subjektes, ſondern außerhalb
desſelben vorfindet, jo daß es nicht mehr. in einer eigenen Willens⸗
oder Gemütsabneigung gegen das Böſe befteht, welche darum aud;
im eigenen inneren erft überwunden werden müßte, fondern nur
in der Autorität, mit welcher das Gute Geſetze gebend und Gehor-
fam fordernd dem Wollenden von außen her gegemübertritt. In
joldher Lage würde man nicht mehr in Betrübnis über die eigene
Schwäche, fondern vielmehr im Trotzen auf die eigene Autonomie
ipredien: „ich wähle das Böſe, obgleich es böfe iſt.“ So aber
tun dei fein mwahlfreier Wille reden, im Gegenteil, ein jeder
Tahlt es, daß diefe Worte, in folhem Sinne ausgeſprochen, nur
aus einer geradezu teuflifchen Bosheit bes Willens hervorgehen
konnen, welcher in feiner Entfcheidung für das Böſe zugleich trium⸗
phiert über die verachtete Autorität des Guten.
Wie wir vorher erkannten, daß e8 dem Wefen des wahlfreien
Willens widerſpricht, das Böfe zu wählen, weil es böfe ift, fo
haben wir num gefehen, daß es dem Wefen des wahlfreien Willens
Meyer
ebenſo ſehr widerſpricht, des Böſe zu wählen, obgleich es böſe tft,
denn man mag dieſen Gedanken drehen um wenden, wie man
will, entweder mürde ſich der Wille ſchon ale ein böſer, ja foger
aba vollendet temflifcher erweiſen, oder als eim foldker, weicher feine
eigene Neigung zum Guten. gegen den Drang. feindlider Motive
nicht durchzufegen vermag.
Demnach würde bei eimen Entſcheidung des Willens für das
Böfe de Art von Ruͤckſicht darauf, daß es böfe ift, bem Weſen
der Wahlfreiheit daraus widerſprechen, fie würde die Exiftenz
derjelben einfach uegieren und unmöglich machen.
Hat der Wille dagegen das Böſe gewählt ohne. Rückſicht dar ⸗
af, daß es böfe if, alle das Böſe wicht als ſolches, jo muß
man wiederum zugefichen, baß er allerdings mit einer jo geawteten
Entfcheidung feinem eigenen Weſen gemäß verfahren if, ja daß er
als wahlfreier, d. 5. fittäich indifferenten Wille fach auf gar keine
andere Weiſe für das Böſe entfcheiden kann; aber freilich Tann
man daun auch wieder nicht leugnen, daß eine foldhe Entſcheidung
feine ſtitliche That ift, denn anf dem fittlichen Gebiete handelt es
fih nur, wie um das Gute als: ſolches, fo auch um das Böſe
als: fofches, und wenn das Böſe nicht als Böſes geikan wird, fo
daß es eigentlich nur ein Zufall ifk, daß es gerade das Böſe tft,
was gethan wird, fo iſt es eben eigentlich, wenigitens für den
Handelnden, fein Bäfes mehr.
Mag alſo immerhin der Wille des Menschen das Böſe er⸗
wählen, thut er das ohne jede Rückſicht darauf, daß es böfe if,
fo iſt es eben für ihm nichts Böſes, da es nicht böfe ift, jo weit
er es erwählt bat. Er thut alfo mit einer folgen Entſcheidung
überhaupt nichts, was fittlich beurteilt werben, wofür er ſittlich
verantwortlich gemacht werden könnte, er lann ſich aljo mit einer
folchen Entſcheidung auch, keine ſittliche Beſtimmtheit geben.
Man könnte bier einwenden, daß aber doch ber Meuſch er⸗
fohrungsmäßig viel Böſes thut, ohne zu willen, daß es böfe ift,
oder doch wenigſtens ohne im Augenblid der That daran zu
denken, und deunod wird es ihm als etwas Böſes zugerenbnet.
Ja es gefchieht, dab der Thäter ſelbſt erſt nachträglich non dem
ſchrecklichſten Gewiſſensbiſſen gepeinigt wird, nachdem es ihm ſelber
Die Wahlfreiheit des Willens ac. 9
erft recht klar geworden ift, was er fo unbedacht gethan Kat.
Könnte man nicht fo auch über die erſte grundlegende Enticheidung
Jagen, daß fich der verwerfliche Charakter derfelben nicht während
ihrer felbjt, aber deſto deutlicher unchtrüglich dem SEELEN deo
fich entſcheidenden Subjektes eingeprägt habe?
Nein, man kann das van der erſten ſittlich grandlegenden
Entſcheidung nicht ſagen, denn der aufgeſtellte Vergleich iſt nicht
ſtichhaltig.
Gewiß tragen wir kein Bedenken, auch dem in Sünde umd
Laſter verſunkenen Verbrecher, welcher ſich vielleicht noch nicht ein⸗
mal bei den roheſten und ruchloſeſten Thaten, die er verübt, ber
Sündhaftigleit und Berwerflichteit derjelben bewußt ift, der fir
alfe niht als Sünde, nicht ale Böfes thut, dennoch feine Hand⸗
lungen voll und ganz zuzurechnen, ihn für diefelben verantwortlich
zu machen; aber was iſt es denn, was allein uns berechtigt, dies
zu thun? Wir Ünnten es ſicherlich nicht thum, wenn wir diefen
Menfchen nit auch für den Zuſtand fittlich verantwortlich machen
dürften, is welchen er nun unbewaßt Böjes thut; und was ift
«8, was den Verbrecher nach der Unthat, die er ohne befonderes
Bewußtſein von ihrer Sündhaftigfeit begangen hat, dennoch von
Gewifjensbiffen gepeinigt werden läßt? Er wiirde biefe Bein
ficherlich nicht empfinden, wenn er nicht zugleid; auch bie Verant⸗
wortlihleit für den Zuſtand fühlte, in welchem «er fo unbewußt
fündigen konnte.
Giebt es Feine Verantwortlichkeit fiir den Zuftand, welcher uns
fündigen läßt, ohne es zu wiſſen, daß wir fündigen, fo giebt «8
natürlich auch keine Verantwortlichkeit für das, was wir in biefer
Weife jündigen. Alſo die füttliche Werantwortlichleit, in welcher
uns dasjenige Böſe zugerechnet wird, was wir thun ohne bewußte
Ruckficht darauf, dag es böfe ift, fan niemals bie erfte, urſprüng⸗
liche fein, fondern ihre notwendige Vorausſetzung wird gebildet
dar eine andere Verantwortlichkeit, nämlich durch bie für den
Zuftend, aus welchem das Böſe in diefer Weile hervorgehen
dann.
Fa dem alle aber, um deſſen Beurteilung «8 fich Bier hau⸗
delt, giebt es diefe notwendige Vorausſetzung nicht, ei wenn ich
Theol. Etub. Jahrg. 1886.
98 Meyer
annahm, daß ber wahlfreie Wille ſich für das Böſe entfcheidet
ohne bewußte Rüdficht darauf, daß es böfe tft, fo geht diefer Ent-
Scheidung doc) fein Zuftand vorher, aus welchem biefelbe als fitt-
lich verwerflich erklärt werden könnte, kein Zuftand, für welchen
der ſich Entfcheibende fittlich verantwortlich gemacht werben könnte,
weil es überhaupt Fein fittlicher Zuftand ift, welcher ja erft durch
diefe grundlegende Entfcheidung herbeigeführt werden fol. Es geht
der Entfcheidung, die wir bier auf ihren fittlichen Charakter unter-
Suchen, gar nichts weiter vorher, als die fittlich indifferente Wahl:
freiheit des Willens, und wir mußten ja ganz ausdrücklich voraus
fegen, daß vor ber Entjcheibung diejes wahlfreien Willens felbft
von einer fittlichen Werantwortlichfeit des Menſchen keine Rede fein
fonnte und dürfte, da fie ganz und gar erft durch diefe Entfchei-
dung begründet werden ſoll.
Findet fih nun aber vor der Entfcheidung des wahlfreien Wil-
lens fein fittlicher Zuftand vor, welcher mit einer eigenen Ver⸗
antwortlichleit des Subjeftes verbunden wäre, fo verlieren wir
dem oben Gefagten zufolge natürlich jedes Recht, dem Willen
dasjenige als Böſes, als Sünde zuzurechnen, was er gar nicht
als ſolches gethan Hat.
Die Richtigkeit diefer Anſchauung zeigt fich relativerweife auch
darin, daß wir einen Verbrecher ganz felbjtverftändlid um fo
milder beurteilen, je weniger wir ihn meinen verantwortlich machen
zu fönnen für den Zuftand, in weldem er jein- Verbrechen be=
gangen; ja wir entjchuldigen ihm ganz und gar, fobald er für
jenen Zuftand gar nicht verantwortlid ift, 3. B. ein Menſch,
welcher im Wahnfinn einen Mord verübt Hat, gilt uns noch nicht
einmal al8 Verbrecher, obwohl es an und für fih ein Verbrechen
ift, was er gethan hat.
Noch deutlicher zeigt fich dies in folgendem Beifpiele. Denken
wir uns eine Handlung, welche nicht an fi jchon vor dem all
gemeinen Sittengefege, ſondern lediglich darum eine Sünde ift,
weil fie mein Vorgejetter verboten hat. Denken wir und weiter,
daß ich von dieſem Verbote meines Vorgeſetzten zufälligerweife
feine Kenntnis habe. Wenn ich unter diefen Umftänden num die
betreffende Handlung begehe, fo wird fie mir auch nicht im ges
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 9%
ringften als ein Unrecht zugerechnet werden künnen; im Gegenteil
mein Vorgefegter würde ein Unrecht begehen, wenn er mir dieſe
Handlung als ein Unrecht anrechnen wollte, da ich fie ja gethan
habe, ohne zu wiſſen, daß fie ein Unrecht ift, und da fie auch
nicht aus einem Zuftande hervorgegangen ift, für ben ich verant-
wortlich zu machen bin, injofern e& nicht meine Schuld, fondern
nur ein Zufall war, daß ich von dem Verbote meines Vorgefehten
feine Kenntnis Hatte.
Das Verhältnis wird aber fofort ganz andere, wenn meine
Unfenntnis des Verbotes eine von mir felbft irgendwie verfehuldete
ft; dann ift e8 natürlich mit der vollflommenen Unfchuld meiner
Handlung vorbei, ich kann, ja ih muß nun für diefelbe verant-
wortlich gemacht werden, da fie aus einem Zuftande hervorgegangen
ift, für den ich verantwortlich zu machen bin. Die Handlung ift
nun meine Schuld, da ich an dem Zuſtande fchuld bin, aus dem
fie hervorgegangen: ift.
Wir fehen bier wiederum, wenn nicht eine Verfchuldung voran»
gegangen ift in irgendeiner Weiſe, in irgendeinem Grade, jo kann
ih für das Böſe, was ich. gethan habe, nicht verantwortlich ge«
macht werden, fobald ich es gethan Habe ohne Rüdficht darauf,
daß es böfe ift, db. h. fobald ich e8 nur als objeftio Böſes, wenn
man davon Überhaupt reden darf, aber nicht als fubjeltiv Böſes
gethan Habe.
Wenn es nun der Wahlfreiheit des Willens einzig und allein
möglich ift, fi) auf diefe Welfe für das Böſe zu entjcheiden, näm⸗
lich ohne Rückſicht darauf, daß es böfe ift, fo kann dem Menſchen
eine wahlfreie Entjcheibung für das Böſe unmöglih als Sünde
angerechnet werden, e8 Tann ihm unmöglich für das, was er in
diejer Weife thut, eine fittliche Verantwortlichkeit aufgebürdet wer»
den, da das, was er in diefer Weife thut, gar nichts Sittliches
ft. Kurz eine ſolche Art der Selbftentfcheidung hat weder fitt-
lichen Charakter noch fittliche Folgen.
Wenn wir nun dies alles in Rechnung ziehen, fo jehen wir
in ber That feine Möglichkeit, vermitteld der Wahlfreiheit des
Willens den Übergang aus der fittlichen Unbeftimmtheit des Men⸗
ſchen in feine fittliche Beſtimmtheit Herzuftellen; wir fehen feine
7%
10 Meyer
Möglichkeit, durch bie Wahlfreiheit des Willens für den Mienfchen
eime fittlihe Verautwortlichleit für das, was er erfahrmgemäßig
ift uud thut, zu begründen, denn fobald man eine wirkliche fittliche
Beftimmtheit von dem wahlfreien Willen Herzufeiten unternimmt,
fo findet man, daß derfelbe bereite fittlich beftimmt fein mußte,
am wirklich fo handeln zu können, fobald man dagegen den wirk⸗
lich wahlfreien Willen gemäß feiner fittlich indifferenten Wahl⸗
freiheit handeln laſſen will, jo findet man, daß auch feine Hand-
Inngsweije jaurt ihrem Ergebnis ſittlich nnbeftinmt fein muß, um
wirklich von der Wahlfreiheit gelibt werden zu fünnen.
Aus diefem Dilemma können wir nicht beraus fommen, fo
daß wir baran verzweifeln müflen, die fittliche Verantwortlichkeit
des Menſchen ans ber Wahlfreiheit feines Willens berzuleiten,, ja
fogar geftehen müjjen, daß mit der Wahlfreigeit des Willens,
gerade wenn man mit berfelben vollen Eruft macht, eine füttliche
Berantwortlichkeit für das, was er thut und infolge deſſen ift, und
für das, was er ift und infolge deſſen thut, nicht vereinigt werden
kaun, ba ja bieß alles durch feine Herleitung aus der Wahlfreiheit
des Willens auf ein Prinzip geftellt wird, welches fittlich indiffe⸗
rent ift und bleibt unb daher mit dem Gebiete des Sittlichen
weber felbft, noch im ſeinen Folgen etwa® zu thun Hat; und ſchon
die Anwendung einer fittlihen Betrachtung auf derartig begründete
Handlungen und Zuftände würde ebenfo unmöglich, ebenfo unfinmig
fein, als wollte man den Raum mit der Elle des Gebanfens, oder
ten Gebanln mit der Elle des Raumes mefſſen.
So muß denn merkwürdigerweife auch dasjenige, was fonft
die Bofttion der Wahlfreigeit des menjchlichen Willens gegen alle
piycholegifchen, veligiöfen und anderweitig fittlichen Inſtanzen ftügen
fol, nümlich bie fittliche Verautwortlichkeit des Menjchen, zu einer
weiteren Inſtanz gegen biefe Wahlfreiheit umſchlagen.
Will man bie Wahlfreigeit des menſchlichen Willens fefthalten,
fo muß man überhaupt verzichten auf eben fittlichen Chamfier
besienigen im Menfchen, welchem viele den Höchiten, ja einen ab-
fohıten Wert beilegen, nümdich des Willens. Gerabe basfenigt,
wobarch ber Menſch feinen ſittlichen Charakter am meiften umb am
bentlichiten,, ja wodurch er ihn erft ald feinen Charakter erweiſen
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 101
und bewähren foll, nämlich der Wille, wird durch die Behauptung
jeiner Wablfreiheit dem fittlichen Gebiete des Lebens unwiederbring⸗
(ich entzogen.
Durch die obige Entwidelung wird es zur Gewißheit, daß bie
pure Wahlfreiheit mit ihrer fittlichen Indifferenz nicht bie Oe⸗
burtsftätte irgendeiner fittlichen Beftimmtheit fein kann. Es ift
iehr ſchön, zu fagen, der Wille folle fi ſelbſt beftimmen, der
Menih müſſe frei fein, er jei auch frei, um eine freie Sittlichkeit
baben und üben zu können, nur in der freiheit könne die Sittlich«
feit gedeihen, ja könne es Sittfichleit geben. Und das ift nicht
bloß jehr ſchön, fondern auch fehr richtig, zu jagen, jo lange man
mit dem Worte Freiheit und Selbftbeftimmung den gehörigen Bes
griff verbindet und am ben Gegenſatz von Zwang und Snechte
ſchaft denft.
Gewiß, eine erzwungene Sittlichkeit ift keine Sittlichleit unb
kann feine fein, weil die Sittlichfeit in jebem Kalle etwas Weſent⸗
fihes ift, während der Zwang fi dem Weſen defien, was ibm
unterliegt, entgegenfeßt. Zwang und Sittlichkeit ſchließen ſich ein⸗
ander aus, denn wo das zwangsmäßige Muß regiert, da mürde
das Soll, welches ja nuf alle Berhältniffe des fittlihen Seins
und Lebens anzuwenden tit, höchſtens eine Ironie auf die Wirk»
lichkeit fein.
Sobald man aber unter der Freiheit, aus welcher die Blüte
der Sittlichkeit hervorfproffen fol, das Frei⸗ſein von’ jeder eigenen
wejentlichen Beſtimmtheit verfteht, fo werben jene Äußerungen
falſch. Diefe Freiheit ift ja gar nichts amderes, als ein farbe
loſer Mangel, aus dem wahrhaftig feine Fülle, fein Reichtum
erwachſen kann. Ein Füllhorn, welches nichts enthält, mag
ih noch fo viel wenden und jchütteln, es kommt doch nichts
heraus; fo wird auh ein Wille, welcher fittlih unbeftimmt
und gehaltlos ift, auf Feine Weiſe durch fi felbft und aus
ſich felbft zu fittlicher Beſtimmtheit umd fittlichem Gehalte ger
langen können.
Ich muß hier einen Punkt berühren, der wichtig genug ift,
am auch in diefer Erörterung feine Berädfichtigung zu finden.
Man eifert feit langer Zeit auf dem Gebiete der Philoſophie,
102 Meyer
in Sonderheit der Metaphufit gegen ben fogenannten Spinozis
mus; man beftreitet mit Entjchiedenheit, daß die beſtimmte indivi-
duelle Realität aus der unbeftimmten Allgemeinheit hervorgehen
könne, und daß das unbeftimmte Allgemeine fich allein aus fid
jelbft heraus differenzieren fünne, man Hält das Syſtem, welches
den Übergang aus der Unendlichkeit des Allgemeinen zu der End:
lichkeit des Befonderen, Einzelnen, über welchen Spinoza felbft nod
feine Auskunft geben zu können geftand, entdeckt zu haben be-
hauptet und ihn in fo glänzender, oder fagen wir beſſer blenden-
der Weife dargethan hat, für einen überwundenen Standpunft,
deſſen kühne Phantafieen vor dem nüchternen Verſtande und Urs»
teile der Kritiker nicht ftandgehalten Haben; und man thut dies
alles mit Recht, denn wir werden es nie und nimmer begreifen
fünnen, wie aus einem abftraften, farb- und gehaltlofen Allge⸗
meinen durch einen eigenen inneren Prozeß, nenne man ihn nun
bialektifch, oder fonft wie, das einzelne, nah Form und Inhalt
individuelle Konkrete hervorgehen künne; und mag uns auch unfer
Denken no fo fehr nötigen, das Abjolute. um feiner Abfolutheit
willen zugleich als inhaltslofe Allgemeinheit aufzufafjen, diejes ſelbe
Denken macht es uns auch unmöglich, nachdem wir durch Abftra-
hierung von aller Beftimmtheit, d. H. Endlichkeit das Abjolute ge-
funden haben, von dieſem Abfoluten jelbft wieder zurüdzulommen
zu der endlichen Beftimmtheit der realen Gegenftände. Zwifchen
beiden iſt eine Kluft befeftigt, über welche keine Brüde zurückführt,
und fo oft man gemeint hat, eine folche gefunden zu haben, hat
fie fi bei näherer Befichtigung als ein Trugbild herausgeſtellt,
gefchweige daß fie auch nur einen feiten Schritt ansgehalten Hätte.
Sie hat eben nur fo lange gehalten, al8 man mit der durch die
eigenen Wünſche und Bebürfniffe beflügelten Phantafie über ihr
hinſchwebte.
Das ſeines Inhalts entleerte Allgemeine hat kein Entwicke⸗
lungsvermögen, unſer Denken verbietet es uns, demſelben ein
ſolches beizulegen. Das ſchlechthin Einfache, ſo lange es für ſich
allein bleibt, wird ewig ein ſchlechthin Einfaches, wird ewig ſich
ſelber gleich bleiben. Entwickelung können wir uns nur da denken,
wo eine Kombination von Entwicdelungs » Elementen eintritt, nur
Die Wahlfreiheit des Willens zc. 108
aus folcher Kombination von wenigftens zwei Elementen wird etwas
Neues entitehen Tönnen.
Wir werden daher jeglihe Entwidelung als eine Teimartige
aufzufaffen Haben, d. 5. als eine folche, welche das Latente patent
macht, welche entfaltet, welche das objektiv Mögliche beftändig zur
Wirklichkeit bringt. Im ſchlechthin Einfachen ift aber nichts la⸗
tent, was erft noch patent werden fünnte, denn in ihm ift ja
alles fchon patent, in actu vorhanden, da e8 eben nur ein fchlecht-
bin Einfaches tft.
Auch die mathematische Entwicelung, die man vielleicht nod)
mit einigem Scheine dagegen anführen könnte, daß alle Entwide-
lung feimartig, d. h. durch Kombination von Entwickelungs⸗Ele⸗
menten ſich aus dem latenten Zuftande zu dem patenten entfalten
muß, auch die mathematiihe Entwickelung, die ja der fogenannten
dialeftiichen zum Vorbilde gedient hat, weift in Wirklichkeit feinen
anderen Charakter auf, als diefen.
Wenn id) nämlid die mathematifche Entwidelung als eine
teale, wirklich ſich vollziehende auffaffe, jo muß ich fagen, dag fie
nicht zuftande kommt ohne einen Mathematiker, der fie vollzieht,
indem er zur mathematifchen Einheit, die am fich felbjt allerdings
völlig Teer ift, Hinzu tritt, ihr neue Einheiten beifügt, fie ergänzt
und fortführt zu allen den verwidelten Berhältniffen, welche in der
mathematifhen Einheit ihr Grundelement haben. Die mathema-
tifche Einheit an und für fich würde e8 zu dieſer real gedachten
Entwidelung nicht bringen, fie würde immer und ewig allein bleiben
in der abfoluten Einfachheit, in welcher fie urfprünglich beſteht,
ebenfo, wie auch aus dem fich felbft überlafjenen Punkte an und
für fih nie und nimmer Linie, Fläche und Körper entftehen
würden.
Wil man dagegen fagen, da8 Syſtem der mathematischen
Wahrheit beſtehe doch auch unabhängig von der Thätigkeit des
Mathematikers, diefer fei es doch nicht, der fie durch feine ent»
widelnde Thätigkeit erft zur Wahrheit machte, vielmehr entwidele
fie fi doch eigentlich aus fich felbjt, und der Mathematiker habe
im Grunde feine andere Aufgabe als die, daß er diefer ſelbſtän⸗
digen Entwidelung zuſchaut und ihr nachforſcht, wo fie fih dem
104 Meyer
oberflächlichen Blicke zu verbergen beginnt; will man die mathe
matifche Entwidelung in diefer Weife verftehen, md man kam
biefe Auffafjung derfelben fogar als die adäquatere bezeichnen, fo
bat man doch kein Recht mehr, fle als eine real verlaufende Ent»
widelung anzufehen, fie iſt dann überhaupt keine wirkliche eigent-
liche Entwickelung mehr, fondern ein von Anfang an fertiges
Syſtem von Wahrheiten, in welchem jedes Glied, auch das aller-
fegte, nach welchem bie Mathematiker vielleicht noch viele Jahre
juchen müfjen, genau ebenfo ewig wahr, genau ebenfe ewig wirk⸗
ſich ift, wie das erfte Glied; fie ift dann ein Syſtem von Wahr:
beiten, in welchem zugleih in und mit dem erften Sliede alle an-
deren Glieder und fomit das Ganze gegeben ift und zwar das
Ganze in feiner vollen Wirklichkeit, nur daß dieſe volle Wirklich
feit bis zu ihrem legten Abſchluß, wern fie überhaupt einen Bat,
vielleicht von den Mathematikern der Zeit noch nicht erfannt und
überfehen wird.
Einem ſolchen Syſtem gegenüber ijt allerdings die ſubjektive
Forſchung am Plage, welche den Schein einer Entwidelung Hat, |
doch von einer wirklichen objektiven Entwidelung kann da nicht die
Rede fein, denn es Handelt fich ja in dieſem Syftem von Wahr:
beiten eigentlih nur um die Beziehungen der mathematifchen Größe
zu den mehr ober minder verwidelten Berhältnifjen, welche ſich
keineswegs aus derjelben von felbft ergeben.
Wo immer wir eine wirklich fich vollziehende Entwickelung
anerfennen müſſen, finden wir aud eine Kombination von Ent⸗
widelungselementen, aus denen die Entwidelung hervorgeht und
fih fortipinnt, welche alfo um der in ihr enthaltenen Elemente
willen eine gewiſſe konkrete DBeftimmtheit an ſich trägt. Aus der
Unbeftimmtheit an und für ſich kann das Beſtimmte nimmermehr
hervorgehen, das Unbeitimmte an und für fi kann nimmermehr
die reale Grundlage für das Beftimmte fein.
Wenn man nun diefe Wahrheit gegen den Spinoziemus und
feinen #ortjeger, welcher die Löfung des Welträtſels gefunden
zu haben glaubte, fo emergifch vertritt, will man ſich nicht be
denken, einen ſolchen Spinozismus für das ethiſche Gebiet dennoch
feftzubalten? Ja es fcheint, als wollten gerabe diejenigen, welche
Die Wahlfreibeit des Willens zc. 196
auf dem Gebiete der theoretiſchen Vernunft am entſchiedenſten
gegen den Spinozismus Front machen, anf dem Gebiete der praf-
tifhen Vernunft eine Theorie vertreten, in welcher ih nur eine
andere Art des von ihnen bekämpften Spinoziemus erbliden Tan,
denn auch Hier joll ja aus dem Allgemeinen das Befondere, auß
dem Smdifferenten das Differente, aus der Linbeftisamtheit das
Beitimmte fich ergeben.
Der wahlfreie Wille fol fih, obwohl er eimerfeits fittlichen
Weſens, anderfeits dach auch weder gut noch böfe ift, aus dieſer
füttlichen Unbeftimmatheit heraus einen pofitiv fittlihen Charakter
geben, fei ed nun, daß man annimmt, dieſer fittlihe Charakter ſei
gleich nach der, oder vielmehr durch die erſte Entſcheidung des
wahlfreien Willens vollendet, fei e® auch, daß man dagegen an⸗
nimmt, er begiune mit diefer erjten Entjcheibung nur, um dasn
dur die folgenden Enticheidungen der nun nicht mehr abjoluten,
fondern dur die Wirkung der erften Enticheidung in etwas be=
dingten und eingefchränften Freiheit des Willens immer mehr aus⸗
gebildet und vollendet zu werden. Es bleibt ji das für unjere
Frage ganz gleich, denn das ift eben das Undenkbare, was in
beiden Annahmen wiederfehrt, daB aus der fittlichen Unbeftimmt-
heit die jittlihe Beſtimmtheit entitehen fol. Aus nichts kann
nicht9 werden, und wo etwas werden foll, da muß ſchon etwas
vorhanden fein, in melchem dasjenige, was da werden foll, leim-
artig enthalten ift, um ſich zu entfalten.
Aber müffen wir nicht vielmehr jagen, daß in diefem Stücke
gerade ein, wenn nicht der wefentliche Unterjchied Liegt zwiſchen
dem natürlichen Leben und dem fittlichen Leben? Das wird und
tann ja uiemand leugnen, daß das matürliche Leben in feinem
Werden und Wachfen dasjenige entfaltet und entwidelt, was es
an Keimen enthält, jo weit fie nicht unter anderen Einflüſſen ver-
fümmern, mögen ihm nun diefe Keime urfprünglich eigen fein,
oder mögen fie ihm nachträglich, gelegentlich irgend woher gegeben
werden; und das natürliche Leben, es fei des Steines, der Pflanze,
des Tiers, des Menfchen, des Weltalls, ift nichts anderes als
diefe Entwidelung,, und e8 ift um fo volllommener zu nennen, je
weniger dieſe natürliche Entwidelung geftört, gehemmt und unter»
106 Meyer
brochen wird. Aber im fittlichen Leben ift es doch eben ganz
anders, das fittliche Leben hat etwas Scöpferifches, es ſoll nicht
bloß naturgemäße Entwidelung fein, fondern um fittli heißen zu
fönnen, muß es eben aus der Unbeftimmtheit erft jelbft zu einem
pofitiv fittlihen Charakter fortfchreiten.
Die Verteidiger der Wahlfreiheit des menfchlihen Willens
werden nicht aufhören, dies zu behaupten; aber wenn fie dann
doch auch das zugeben wollen, daß fie mit diefer Behauptung den
ganzen Umfang unferes fittlihen Weſens und Lebens außerhalb
der Grenzen verjegen, die unferm Begreifen zugänglich find, denn,
wie wir oben gejehen haben, tft nach unferen Begriffen die
ſchöpferiſche Entftehung der pofitiven Sittlichkeit, welche trot ihrer
fhöpferifhen Art dennoch zu einer höheren Norm, nämlich zu
Gott nnd feiner Heiligkeit, ober fagen wir auch zum Sittengeſetze
in einem beftimmten Verhältnis ftehen fol, und erit um dieſes
Verhältniſſes willen einen fittlichen Charakter hat, aus der fitt-
lichen Indifferenz des Willens heraus als unmöglich zu bezeichnen,
und wenn wir bei genauerer Unterfuchung fanden, daß eine jede
fittliche Entſcheidung des Willens fchon einen entfprechend fittlichen
Charakter desfelben Willens vorausfegt, jo nötigt und das eben
zu der Behauptung, daß das GSittlihe nur aus dem Sittlichen
felbft hervorgehen kann als eine Entfaltung deſſen, was keimartig
ſchon vorhanden tft, oder als eine aktuelle Äußerung deffen, was
dem Vermögen nad jchon da ift.
Wollen wir aber die fogenannte fittlihe Indifferenz, aus
welcher heraus der wahlfreie Wille fich fittlich beftimmen foll, auf
ihren fittlichen Charakter anfehen, fo bleibt uns nichts übrig als
das Geſtändnis, daß fie Feine fittliche Wefenheit befigt, ebenſo
wenig als das Abfolute der theoretiichen Vernunft eine Realität
befitt. Beide, das unbeftunmte Allgemeine der theoretifchen Ver⸗
nunft, oder das Abfolute, und das unbeftimmte Allgemeine der
praftifchen Vernunft, oder die fittliche Indifferenz, find nichts als
Abftraktionen unferer Verftandesthätigleit, fie haben feine wirkliche
Eriftenz und können feine haben.
Das ift für die fittliche Indifferenz, auf die es uns hier an
fommt, leicht nachzumeifen.
Die Wahlfreiheit des Willens zc. 107
Das Sittlihe bewegt ſich zwifchen den Gegenfägen von gut
und böfe, oder e8 befteht in ihnen, etwas Mittlere oder Drittes
giebt es nicht, fofern es wenigitens fittlich fein fol. Ein Willens-
entfchluß oder ein Zuftand, wenn er überhaupt unter eine fittliche
Betrachtung füllt, ift entweder gut oder böfe; und wenn man das
von redet, daß man auf einen Zuftand ober auf eine That weder
die Bezeichnung „gut“ noch die Bezeichnung „böſe“ anwenden Tann,
fo Handelt e8 fi immer nur um Zuftände und Thaten, deren
Charakter nicht etwa zwifchen den Gegenfägen von gut und böfe
liegt, fondern gänzlich außerhalb des Bereiches diefer Beftimmungen,
fo daß dann auch die dem Guten und dem Böfen gemeinfame Be-
zeichnung des Sittlichen gar keine Anwendung mehr finden kann;
es hanbelt fi dann immer um etwas, was, unferer Erkenntnis
nach wenigftens, überhaupt gar nicht in das Gebiet des GSittlichen
bineingehört.
Iſt dies dennoch der all, fo fann die Unmöglichkeit einer
zwifchen gut und böfe entjcheidenden Beurteilung nur daher rühren,
dag man das zu Beurteilende felbjt nicht genau und volljtändig
dis in den unterften Grund hinein kennt und durchſchaut; oder es
liegt daran, daß der zu beurteilende Fall fo verwidelt ift, und daß
in demfelben das fittlih Gute und das fittlih Böfe in einer fo
fomplizierten Weife zufammen, reſp. gegen einander gewirkt haben,
daß man in ber einen Hinfiht das Prädifat „gut“, in der anderen
Hinfiht das Prädikat „böje“ ausfprechen möchte. Nie aber wird
man bie Beurteilung irgendeined alles, welcher überhaupt dem
Gebiete der Sittlichleit angehört, für abgefchloffen und endgültig
erachten können, fo lange man noch nicht alles an demjelben, was
fittlichen Charakters ift, untergebracht hat unter die Beftimmungen
entweder des fittlich Guten oder des fittlih Böfen; und das „non
liquet‘, das man in folchen Fällen oftmals genötigt ift auszu-
Sprechen, ift ein Beweis dafür, daß man auf dem fittlichen Ge⸗
biete zwifchen dem Guten und dem Böſen nichts “Drittes anzu⸗
erfennen vermag, fondern lieber auf jede Entfcheibung verzichtet,
wenn man fich nicht für eins diefer beiden entjcheiden Tann.
Sole Fälle nun, in denen eine fichere und vollftündige
fittliche Beurteilung ſehr fchwierig ift, finden fi im gewöhnlichen
106 Meyer
Leben ungemein Häufig, weil das Gute und das Böſe hier auf
Erden in beftändigem Kampfe mit wechjelndem Erfolge begriffen
find.‘ Ya wir können une fogar einen fittlichen Charakter denken,
ob er im Wirklichkeit eriftiert, ift eine andere Frage, im welchem
bie Diacht des Guten und die des Böſen bergeftalt vertreten find,
daß fie fich gegenfeitig genau die Wage halten.
Daß ein folder Charakter fittlich fein würde, kann nicht ge
feugnet werden, aber feine Sittlichleit wäre eben gleihmäßig ge-
fpalten zwifchen den Gegenfägen von gut und böfe. Will man
nun etwa einen jo gearteten Charakter fittlich inbifferent nennen,
infofern er darum, weil er ſowohl gut, als auch böfe ift, zugleich
auch als weder gut noch böfe bezeichnet werben kann, fo mag
man immerhin da8 Recht der eigenen Begriffsbezeihnung üben,
welches ja jeder wiflenfchaftlich arbeitende Menſch in einer gewifjen
Grenze für fih in Anfpruch nehmen kann, aber man wird doch
nicht fagen können, daß das diejenige fittliche Indifferenz ift, aus
welcher Heraus fich der wahlfreie Wille ſelbſt fittlih beftimmen
fol, denn wenn wir uns vor der Enticheidung unferer Wahlfrei-
beit in einem folchen Zuftande befünden, dann wäre erftens in
dem fittlihen Charakter des wollenden Subjeftes ſchon eine Macht
8:8 Guten fowie eine Macht des Böſen vorhanden, für welde
der Wille des Menſchen nicht verantwortlich gemadht werben
könnte, fondern die beide, man denfel auch die Macht des Böfen,
welche der des Guten die Wage hält, ohne weiteres auf ben
Schöpfer zurücgeführt werden müßten; und zweitens würde man
gemäß den früheren Erörterungen wiederum nicht verftehen fünnen,
auf welche Weiſe jich der mwahlfreie Wille zwifchen den beiden eins
ander entgegengejegten, mit ganz gleicher Stärke treibenden Mächten
enticheiden follte, und wie biefe Entfcheidung eine fittliche und fitt⸗
ih verantwortliche fein könnte.
Wir würden dadurch alfo zu der ſchon vorhandenen Schwie-
rigkeit nur noch eine neue hinzufügen und zwar ohne jeden Nutzen,
denn wir würden nur unter etwas anderen Umftänden vor dem
bereitö als unlösbar erfannten Rätſel ftehen: wie bringt der wahl
freie Wille eine fittliche Entſcheidung zwiſchen gut und böfe zu⸗
ftande? Der wahlfreie Wille würde eben aud) in diejer Rage gar
— — — — —
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 109
nichts Begreiflihes thun können, um den fittlihen Charakter, in
diefem Falle ein Doppelcharatter, welcher jchon ohne und vor dem
Willen vorhanden ift, zu ündern oder auch nur zu entwideln.
Wir jehen, wenn der fittlihe Charakter des Subjelted wirklich
erft durch die Enticheidung des Willens joll herbeigeführt werden,
fo muüſſen wir aud die eben beiprochene Art ber fittlichen In⸗
differenz als ungeeignet dazu abmweifen, ba in ihr bie Eriftenz des
fittlich Guten und des fittlih Böſen bereits vorausgejeßt ift.
Da wir nun das Weſen bes Sittlichen nur da finden können,
wo fich entweder das Gute oder bas Boſe, fei es in actu, fei es
in potentie, zeigt, jo zerrinnt bie fogenannte fittliche Indifferenz
des Willens, aus welcher das Gute reſp. das Böſe erft noch here
vorgeben foll, in nichts. Das Weſen des GSittlichen findet in
einem folden Zuftande Teine Stätte mehr, fo daß bieje Indifferenz
zu dem Weſen und Gebiete des Sitrlichen genau in demſelben
Berhältniffe fteht wie 3. B. der Juſtinkt des Tiers oder auch bie
Schwerkraft des Steimes; ımd man begreift e8 nicht, wie fih aus
der Thätigleit dieſes Inſtinktes oder aus ber Wirkung biejer
Schwerkraft nicht mit demfelben Rechte ein fittlicher Charakter er»
geben joll, wie aus den Entfcheidungen jener Indifferenz, denn alle
drei haben fte gleicherweife mit dem Weſen des Sittlichen nichts
zu thun.
Kurz zufammengefaßt Heißt das: eine fittliche Indifferenz giebt
«8 nicht, denn fo weit fie Indifferenz iſt, ift fie nicht fittlih, und
fo weit fie fittlich tft, ift fie nicht Indifferenz. Der Begriff ber
fittliden Indifferenz fteht aljo mit dem der farbigen Farblofigkeit
ober mit dem der farblojen Farbe in gleichem Range.
&o jehen wir uns denn von allen Seiten mit ber Behauptung
der Wahlfreiheit des menſchlichen Willens als ber Quelle feines
fütlihen Charaktere und darum feiner fittlichen Berantwortlichleit
zurücgemorfen. Die Wahlfreiheit des Willens hat mit dem fitt⸗
lichen Weſen und mit ber fittlichen Würde des Menſchen durchaus
teine Gemeinschaft und Verbindung; weber das Bute noch das
Boſe in unferem fittlichen Charakter Lönnen wir auf fie zurück⸗
führen oder von ihr Herleiten; fie genügt nicht, um fir den
Menihen, welcher fich vermöge ihrer enticheibet, irgendwelche fitt-
110 Meyer
liche Verantwortlichfeit für das, was er thut und ift, zu begrün⸗
den; fie würde überhaupt, auch wenn wir fie ftatuieren wollten,
für das fittliche Sein des Menſchen aud nicht die geringfte Be⸗
deutung haben, ja da fie jelbft nichts Sittliches ift und mit dem
Sittlihen auch feinen Zufammenhang hat noch gewinnen kann, fo
würde fie mit fich felber auch den Willen, deſſen Thätigkeit durch
fie geregelt wird, der Sphäre des Sittlichen entziehen und fo ben
fittlihen Charakter desfelben unmöglich machen.
Demnach hat aber die Wahlfreiheit des Willens auch fein Hecht
mehr, als ein fittliches Poftulat aufzutreten, da fie den Bedingungen
dieſes Poftulates nicht bloß durchaus nicht genügt, fondern fogar
vollftändig widerfpricht. "
Wie ih num glaube, dur die vorftehende Darlegung nach⸗
gewiejen zu haben, daß die Annahme einer Wahlfreiheit des menfch-
lichen Willens für die Begründung einer fittlihen Verantwortlich⸗
feit de8 Menſchen und injonderheit für die Erklärung der Sünde
als des Menſchen felbfteigener im Gegenſatz zu Gott oder zu der
eigenen anerfchaffenen Natur vollbrachter That nichts zu Leiften
vermag, vielmehr unüberwindlihe Schwierigfeiten bereitet, fo finde
ih in dem allen die unabweisbare Aufforderung, nunmehr dieſes
Theorem, welches nichts für fich Hat als einen vielleicht nicht ganz
oberflächlichen Schein, endgültig fahren zu laſſen. Nur dadurch
können wir zu einer in fi klaren und zufammenhängenden Theorie
wenigftens vom Willen an und für ſich gelangen, während jenes
Theorem überall Unklarheiten bringt und Verwirrung anrichtet.
Freilich ift durch diefe Befeitigung der Wahlfreiheit des menſch⸗
lichen Willens keineswegs auch die Schwierigkeit bejeitigt, welche
in dem Begriffe der fittlichen Werantwortlichkeit und infonderheit
in dem der Sünde für unfer Begreifen Liegt; ja ich möchte fagen,
daß diefe Schwierigkeit nach der Beſeitigung jener Unflarbeiten
und Verwirrung nur noch grellee hervortritt. Wie aber alle
wiſſenſchaftliche Forſchung zunächſft darauf ausgehen muß, bie
Fragen, die etwa zu beantworten find, möglichit zu prücifieren,
und die Schwierigkeiten, die zu löfen find, in möglichft fcharfen
Umriffen vor die Augen zu ftellen, jo kann e8 uns nur lieb fein,
auch auf dem Gebiete des fittlichen Lebens erft einmal recht deut»
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 111
lich zu erfennen, wo denn das Rätſel eigentlich liegt und worin e8
beſteht. Wir werden uns durch ſolche Klarlegung der Schwierig-
feit defto mehr getrieben fühlen und durch fie auch defto fähiger
werden, in der Beurteilung unferes fittlichen Lebens diejenige
Stellung einzunehmen, welche dem Wefen und dem fo oder fo ge⸗
arteten Charakter desfelben am genaueften entſpricht.
Welches iſt aber diefe Stellung?
Diefe Frage wird ſich jedem aufdrängen, welcher der obigen
Darlegung bis hierher gefolgt ift; und obwohl die Beantwortung
derfelben außerhalb des durch bie ÜÜberfchrift bezeichneten Themas
ttegt, fo will ich doch, wenn auch nur mit möglichft wenig Wor«
ten, mich über das außjprechen, was mir als Konfequenz der bis⸗
herigen Erörterung erfcheint.
Das wird jedem aufmerkfamen Lejer von vornherein feſt⸗
ftehen, daß aus dem Vorhergehenden diejenige Konfequenz nicht
gezogen werden kann, die man gewöhnlich mit der Leugnung der
Wahlfreiheit betreffs der fittlihen Berantwortlichleit und nament«
fih der Sünde verbunden findet, denn die ganze Unterlage, auf
welcher bier die Beurteilung der Wahlfreiheit vorgenommen ift,
verbietet e8, aus dem Grunde, weil die Wahlfreiheit des Willens
nicht imstande ift, eine fittlihe VBerantwortlichkeit zu begründen
und die Sünde zu erklären, diefe Thatfachen unſeres fttlichen Be⸗
wußtfeins überhaupt zu leugnen oder auch nur in ihrer Beden-
tung abzuſchwächen. Es war ja gerade die Unfähigkeit ber Wahl-
freiheit, irgendeine fittliche Verantwortlichkeit herbeizuführen, was
dazu zwang, die Theorie der Wahlfreiheit aufzugeben. Die fitt«
fiche Verantwortlichkeit jelbft fteht alfo über jeden Zweifel erhaben,
fie beruht eben auf dem unerjchütterlichen Zeugnis des Gewiſſens,
welches durch die gefamte Offenbarung Gottes beftätigt wird.
Aber wie follen wir uns mit unferem wiſſenſchaftlichen Denken
zu ihr ftellen?
Ich will gleich bier den Kreis meiner Erörterung befchränten
auf das Verhältnis der fittlichen WVerantwortlichleit zu der Sünde,
weil die Darlegung ihres Verhältniffes zu dem fittlich Guten in
112 Meyer
ans, nämlih, daß fie anf biefes nicht bezogen werden kann, andere
Gedanken vorausfett, die in dem VBorhergehenden nicht mit ıieber-
gelegt werden konnten. Auch wird das Verhältnis ber fittlichen
Berantwortlichleit zur Sünde und die Art, wie wir uns bazu zu
ftellen haben, das größere Intereſſe haben.
Meine Stellung gipfelt in folgender Behauptung: bie fitt-
liche Berantwortlichleit, welde die Sünde ung felbft
obne allen Zweifel auferlegt, zwingt uns zu dem
Zugeftändnis, dag die Sünde felbfi etwas durchaus
Unbegreiflihes und Unerklärliches tft.
Daß diefes Augeftändnis nicht etwa eine denkfaule Ausflucht
ift, fondern eine unabwendbare Notwendigkeit, das werden wir fo
gleich erfenmen, wenn wir's uns Mar machen, was es heißt, etwas
begreifen und erflären.
Eine Sadje erklären, heißt darthun, warum fie fo ift; dar.
tun, warum fie fo ift, das Heißt aber ihren nriächlichen Zufam-
menbang, d. H. ihre eigene Rotwendigleit darthun, denn wenn in
ihr noch etwas AZufälliges vorkommt, fo Tann ih an biefem
Punkte nur fagen, daß, aber nicht, warum fie jo ift, d. 5. id
habe an diefem Punkte die Sade nit erllärt. So ift ein Ratur-
phänomen erklärt, wenn bie zufammenhängende Weihe oder Summe
der Urſachen dargelegt ift, deren naturgemäße, d. h. notwendige
Wirkung jenes Phänomen ift; jo tft eine fittlige Handlung er⸗
Härt, wenn die Neihe oder Summe ber Motive an Zuſtünden
und Einwirkungen dargelegt tft, aus welchen fich jene Handlung
naturgemäß, d. 5. mit innerer Notwendigleit ergeben bat. Be⸗
greifen aber heißt, eine Elnficht in biefe Notwendigkeit gewinnen.
Ein Erklären und Begreifen ift aljo immer num da möglich,
wo ein foldyer lückenloſer Zuſammenhang von Urfache und Wir
fung vorhanden iſt. Alfo ber Verſuch des DBegreifens und Er-
klärens tft au nur da vernlinftig, wo man das Borhandenfein
eines folden Zufammenhanges vommusfegen fan. Iſt man da-
gegen zu der Überzeugung gefommen, daß folder Zuſammenhaug
nicht da ift, noch da Fein kaun, jo erfordert es die Vernunft, bie
Unbegreiflichkeit und Unerklärlichkeit zuzugeftehen, denn fo lange
man dies wicht thut, liefert man bamit den Thatbeweis, daß man
Die Wahlfreigeit des Willens ꝛc. 113
immer noch der Meinung ift, es müfle doch ein natürlicher, not⸗
wenbiger Zuſammenhang exiftieren, man habe tm bloß noch nicht
erkannt.
Wenn man alfo verfucht, die Sünde zu erilären, fo muß man
vorausjeten, daß fie etwas Natärliches, d. 5. Notwendiges ift,
und man muß darauf ausgehen, den matiiwlichen, wotwendigen Zu⸗
fanmenhang ver Sünde mit dem vor ihr vorhandenen, urſprüng⸗
chen Weſen de8 Menſchen darzuthun; denn man Int bie Sünde
nicht erflärt, wenn man diejen Lücdenlojen Zuſammenhang nicht
nachgewieſen unb Die Sünde nicht gänzlich unter der Kategorie ber
Urfache und Wirkung untergebracht hat.
Kann das aber gefchehen, wenn die Sünde etwas ift, wofür
der Sünder felbft die Berantwortung trägt? Nein! denn die
eigene Werantwortlichleit jagt es deutlih, daß bie Stube im
Sünder ihren Anfang bat, daß fie eimen urſächlichen Zuſammen⸗
hang wohl in igrem Gefolge, aber nicht über ſich ſelbſt nad rück⸗
wärts hinans haben kann, fonft würde fie eben im Sünder ſelbſt
nicht anfangen. Die eigene Berantwortlichkeit ſchließt, wenn und
fo weit fie wirklich gilt, jeden Recurs aus. Es kann feine aufer
dem Sünder felbit liegende Urfache für das gebeu, wofür er jelbft
verantwortlich ift.
Wohl mag man die Sünde, die irgendwie aus dem Sünder
berausgetveten ift, begreifen und erflären, indem man fie bis zu
ihrem Quellpunkt in dem Sünder zurückverfolgt. Dies Ber
greifen und Erklären ber Sinbe ift ja im Leben ſehr gewöhnlich.
Man fagt wohl: „Es iſt begreiflich, daß dieſer Menſch geftohlen
bat, denn feine Net war ja fo groß, und daß er nicht genug fitt-
lichen Salt hat, um folder Verſuchung zu widerftehen, das Hat er
bei anderen Gelegenheiten ſchon gezeigt.“ So weilt man bei der
Erklärung eimer fündigen That etwa anf einen Tündigen Zuftend
zurück. Oder man fagt wohl: „Es tft begreiflich, daß biefer
Menſch fittlih ganz verlommen Hit, denn er Hat fein Reben Lang
nichts als Schlecktigkeiten verübt.” So weift man bei ber Er⸗
rung eines Tünbigen Zuftandes etwa auf fändige Thaten zurück;
eine richtige, aber nicht voilſtündige, ganze, prinzipielle Erfiärung,
denn mau erflärt die Sünde eben wieder aus ber — So
Theol. Stud. Jahrg. 1886.
114 Meyer
fann man in der That, wie es in der Lehre von der Erbjünde
geichieht, die Erklärung der Sünde weit zurüd verfolgen, felbit
bis zur erften Sünde des eriten Menſchen, fchließlih wird man
doch an einem Punkte anfommen, wo es mit der Erflärung zu
Ende ift, weil man nun die Sünde nicht mehr auf eine andere
Sünde zurüdführen kann; fchließlih wird man doc immer vor
einer unbegreiflihden Thatfache ftehen, nämlich jedesmal, wenn man
bei der Verfolgung feiner Erklärung vor einer urfprünglichen
Sünde angelommen if. Wil man auch dann noch die Erklärung
fortfegen, aljo die Sünde über ſich felbft zurüdführen auf etwas
anderes, was nicht mehr fündig ift, woraus aber die Sünde ent-
ftanden ift, dann hebt man die Verantwortung des Sünders für
feine Sünde, d. h. im Grunde die Sünde felbft, auf, denn die
Zurüdführung der Sünde auf eine That oder einen Zuftand, in
welhem gar nichts mehr von Sünde zu fpüren ift, wird not
wendig zu einer Entjchuldigung der Sünde, welche Weſen und
Begriff derfelben aufhebt.. Damit aber Hört aud die Erflärung
jelbft auf, eine ſolche zu fein, denn fie bejeitigt vielmehr durd
diefes Verfahren dasjenige, was zu erklären war, um etwas an⸗
deres, wejentlich Verſchiedenes an feine Stelle zu ſetzen.
Ich mug mid hier auf einige, ganz kurze Bemerkungen be
ſchränken über die verjchiedenen Erklärungen, welche der Sünde
gegenüber verjucht find, und von denen es nunmehr eigentlich im
einzelnen nachzumweifen wäre, daß fie allefamt entweder feine Er»
klärungen der Sünde oder feine Erflärungen der Sünde find,
vielleicht aud) weder das eine noch das andere.
Diefes letttere doppelte Manko finde ich nämlich in der popu⸗
lären Auffaffung der Sache, mit ber fich die meiften Menſchen
zu begnügen pflegen, indem fie alles einfach auf die Rechnung der
Berfuchung und Verführung ftellen. Die Erklärung der Sünde
fehlt hier, weil diefe Auffaffung einen Verſucher oder Verführer
und mit ihm die Sünde, bie erklärt werben ſoll, ſelbſt wieder
vorausſetzt. Die Erklärung der Sünde fehlt hier, weil es gar
nit einzufehen tft, wie ber fünbdenfreie Menſch auf eine Ber-
führung zur Sünde follte eingehen können.
Es iſt freitich nicht ſchwer, für die einzelnen Fälle in dem
Die Wahlfreiheit des Willens 2c. 115
Zuftande des Menfchen eine Maffe von Antnüpfungspunften aufs
zufinden, welche der zuftande gelommenen Sünde einige Vermitte⸗
fung und Erklärung geben; aber jo lange man an dem Zeugnis
des Gewiſſens fefthält, daß die Sünde das Wibdergöttliche ift, wird
man immer an einem Punkte anfommen müffen, an dem biefes
Gotte und darum dem urjprünglicden Wefen und Zuftande des
Menſchen widerftreitende Wejen der Sünde irgendwie zum Vor⸗
fchein fommt; und wir können e8 nicht einfehen, wie unfer aus
Gottes Hand fündenfrei Hervorgegangener Zuftand an ſich irgend-
einem böfen Motiv Einfluß auf unjere Willensentfheidungen und
durch fie auf unferen fittlihen Charakter hätte gejtatten können.
Auch wenn wir noch fo viele und feine Abftufungen innerhalb des
Gegenfages von Gut und Böſe aufftellen wollten, wir könnten es
nicht einfehen, wie die an fich fündenfreie Natur des urſprüng⸗
lichen Zuftandes nicht gleichjam inftinktiv hätte Halt machen jollen
vor der erften und leifeften Spur der Sünde, in welder doc
weſentlich ber ganze und volle Gegenfat gegen das Göttliche ent.
halten jein mußte; und wir würden das noch viel weniger ein-
jehen können, wenn wir uns in dieſen anfänglichen Zuftand völliger
Intaktheit gehörig hineinzudenken vermöchten.
Das fittlihe Zartgefühl, welches felbft jet noch bei einzelnen
Menſchen fo bewunderungsmwürdig ift, muß damals, vor jeder
Sünde, geradezu unfehlbar geweſen fein, jo daß ein etwaiges Hin-
wegipielen und stäufhen über die auch noch jo ſehr verhüllte
Kluft zwiſchen Gut und Böſe eine völlige Unmöglichkeit war.
Die wiffenfchaftlicher gehaltenen Erklärungsverſuche der Sünde
fallen alle wenigftens unter da8 oben aufgeftellte „entweder — oder“.
Da giebt e8 zunächſt eine Neihe von Auffafjungen, die feine
Erflärung der Sünde bieten. Sie können alle unter zwei Rub⸗
rifen gebracht werden. Etliche Erflärer nämlich betrachten die
Sünde mehr unter dem Gefichtspunft des objektiv Böſen und
juchen fie daher als Beftanbteil der objektiven Welt einzureihen in
den kosmologiſchen Zufammenhang; etliche Erklärer betrachten die
Sünde mehr unter dem Gefihtspunft des ſubjektiv Böſen, der
Schuld, ſuchen fie daher als Beſtandteil der fubjeftiven Welt ein-
zureihen in den piychologifchen Zufammenhang.
8 *
116 Meyer
Ich muß hier auch auf die bünbdigfte Beurteilung diejer Ber
fuche gänzlich verzichten, und ich thue da® um fo bereitwilliger,
als es heutzutage kaum noch befonder® gefagt zu werden braucht,
baß durch diefe Art von Erklärung gerade darum, weil fie fo
wiſſenſchaftlich ftringent fein ſoll, das Weien der Sünde gänzlid
aufgehoben wird. ‘Dem philofophiichen Intereſſe, weldyes die ganze
Welt mit allen ihren Erfcheinungen in einem großen ununterbrochenen
Zufammenhaug anjchauen möchte, Liegt ja natürlich daran, folde
Erflärungsverfuche der Sünde anfzuftellen, durch welche auch fie
in dieſen allumfafjenden Zuſammenhang aufgenommen wird; aber
das fittlihe Bewußtſein von der Sünde, das Gewiſſen bes
Menſchen ſtemmt fi) dagegen unb läßt es nicht zu, die Sünde
des Charakters zu entlleiden, durch ben allein fie Sünde ift, nüm⸗
lich des unvereinbaren Gegenfages, in welchen fie zu dem Gött-
lichen d. 5. zu dem wahrhaften Weſen und der eigentlichen Be⸗
ſtimmung des Menſchen ſteht, und der auf diefem unvereinbaren
Gegenſatze Laftenden Schuld des Sünbers.
Diefer Gegenfas zwifchen dem Böſen und dem Guten ift es,
was von andern Erflärungsverfuchen gewahrt werden foll. Aber
eben weil fie die Sünde zu diefem ihrem Rechte, Gegenfat gegen
das Gute zu fein, kommen laſſen, können fie nicht wirkliche Er-
Härungen der Sünde fein.
Bierher gehört zunächſt die dualiftifche Erklärungsmeife des
Böſen. Sie Hat infofern recht, als fie auf dem Gedaufen berußt,
dag das Böſe, wenn man es einmal ableiten will, nur wieder
aus dem Böſen abgeleitet werden kann. Darin aber Liegt eben
ſchon das DBelenntnis, daß man mit den Böjen zu keinem wirk⸗
lichen Schluß kommen ann, denn ber Schluß desfelben ift felbft
wieder etwas Böſes, und jo wird das Böfe zu einem mit dem
Guten gleich urfprünglichen Prinzip erhoben.
Daß mit biefer Erklürung, bie feine wirkliche Erklärung il,
eben weil fie im Dnalismus ſtecken bleibt, die ganze Welt in eim
unlösbares KHätjel verwandelt würde, kann Hier nur erwähnt wer-
den. Wichtiger noch für unfere Stage ift biefes.
Anh wenn wir abjehen wollten von ber Abfurbität, daß mir
um diejer Erklärung der Sünde willen verziägten müßten auf bie
Die Wahlfreiheit des Willens zc. 117
Erflärung des gefamten Kosmos und uns fo wegen ber Löfung
eines Rätſels in ein ganzes Meer von Rätſeln Hineinftürzten;
auh wenn wir ums begnügen wollten mit diefem Dualismus von
Ormusd und Ahriman, gerade die Hauptſache an der Sünde, an
diefem Gegenſatze gegen das Gute, würde auch bei ihm nicht er-
klärt, nämlich die Schuld.
Ich will gar nicht davon reden, daß wir, die einzelnen Sün⸗
der, wenn wir mit unferer Sünde unter der Herrſchaft eines
folhen Prinzipes ftünden, von jegliher Schuld frei zu jprechen
wären; vielmehr fünnte der Begriff der Schuld überhanpt bei
diefer dualiftifchen Auffafjung in dem Böfen, auch in feinem aller
erften Prinzipe gar keine Stelle finden, denn, wenn ſowohl das
Gute ald auch das Böſe ein Prinzip ift, eins neben dem andern
— anders könnten fie ja als Prinzipien nicht gedacht werden —,
wer wollte denn darüber entfcheiden, welches von beiden denn
eigentlich da8 Gute und welches das Böſe ift, fofern in diefen
beiden Namen Werturteile liegen? Wer wollte entjcheiden, welches
von beiden Prinzipien im Rechte und welches im Unrechte ift?
Welches gegen das andere fchuldig iſt? Sie find ja beide Prin⸗
zipien, über denen es feine höhere Inſtanz giebt; vielmehr jedes
Prinzip würde dem andern gegenüber als fchuldbeladen erfcheinen,
aber auch nur erfcheinen, da fie in Wirklichkeit als Prinzipien
einander völlig gleichberechtigt wären und beftändig bleiben würden,
jo daß fi die Schuldfrage gänzlich auflöfte in eine bloße Macht⸗
frage.
Alfo mag immerhin in der dualiftiihen und darum an fidh
ihon bloß halben Erklärung der Sünde der Gegenfag derjelben
gegen da8 Gute in feiner ganzen Schärfe gewahrt fein, das
innerfte , eigentlichfte Wefen der Sünde, Schuld zu fein, findet
au in ihr nicht die geringfte Erklärung.
31 der legt befprochenen Klaſſe der Sünbdenerflärungen, denen
8 eben an ber wirklichen Erflärung fehlt, weil fie die Gegen⸗
fätlichkeit des Böſen nicht antaften wollen, gehört ſchließlich auch
der Verſuch, deifen Beurteilung der Gegenftand der obigen Ab-
handlung ift, der DVerfuch, mit der Annahme der Wahlfreiheit des
Willens der Sünde in ihrem ſchuldvollen Gegenjage gegen das
er a - ner.
118 Meyer
Gute gerecht zu werden. Daß diefer Verſuch, der legte, der über⸗
haupt noch gemacht werden kann, troß alles gegenteiligen Anfcheins
ebenfalls mißglüden muß, das ift oben eingehend nachgemieien.
Sp ift denn bie Unbegreiflichleit der Sünde mit der PVerant-
wortfichkeit de8 Sünders für diefelbe aufs engfte verbunden, fo
daß diefe nicht ohne jene fein fann, und wir müfjen fagen, gerade
darum, weil der Menſch für feine Sünde felbft verantmwort-
lich ift, muß e8 unbegreiflidh fein, wie er fie begehen Fonnte.
Das ift mein Standpunkt, und ih muß Hier nur noch das
eine hervorheben, daß diefer Standpunkt keineswegs identiſch ift
mit demjenigen, den man oft in der Formel ausgedrückt findet,
daß die Sünde ihrer Wirklichkeit nach allerdings unbegreiflich fei,
begreiflich aber doch ihrer Möglichkeit nah. Vielmehr richtet ſich
der oben bejchriebene Standpunkt mit aller Schärfe gerade gegen
diefe Auffaffung.
Man hat vielleicht bei diefer vermeintlichen Begreiflichkeit der
Möglichkeit der Sünde das Vermögen der Wahlfreiheit des Willens
im Sinne und verfteht ſonach unter der Möglichkeit der Sünde
eigentlich das Vermögen des Menſchen, zu fündigen, welches Ber:
mögen eben in der Wahlfreiheit des Willens enthalten fein foll,
fraft deren es dem Menſchen ebenjowohl möglich fein foll, fi
für das Böfe wie für das Gute zu enticheiden. Daß aber in
dem Vermögen der Wahlfreiheit des menjchlihen Willens dieſe
doppelte Möglichkeit nicht liegt, daß vielmehr dieſes wahlfreie Ver⸗
mögen wegen feiner fittlihen Indifferenz gänzlich ungeeignet ift,
überhaupt auch nur irgendeine fittlihe Entjcheidung herbeizuführen,
fei es nun für das Gute, fei es für das Böſe, das ift es ja,
was in der diefen Bemerkungen vorhergehenden Abhandlung, id
glaube, zur Genüge nachgewielen ift, und es würde überflüffig fein,
bier noch einmal darauf zurüdzufommen.
Faßt man dagegen, wenn man davon ſpricht, die Möglichkeit
der Sünde begreifen zu können, die Möglichkeit im eigentlichen
Sinne des Wortes auf, alfo als das PVorhandenfein der Bedin⸗
gungen, unter denen etwas wirklich wird, fo muß ich mich hier
erklären gegen die Auffaſſung des Verhältniffes der Möglichkeit zur
Wirklichkeit, welche fich in jener Behauptung zu erfennen giebt.
Die Wahlfreibeit des Willens zc. 119
Man fagt, die Wirklichkeit der Sünde fei nicht begreiflich,
wohl aber die Möglichkeit derjelben. Das Hindernis für das
Begreifen der Wirklichkeit muß aljo in dem Verhältnis der Mög⸗
lichkeit zur Wirklichfeit begründet fein. Wie verhält ſich denn nun
die Meöglichkeit zur Wirklichkeit binfichtlich des Begreifens?
Wir fahen ſchon oben, daß der eigentlihe Gegenftand des Be⸗
greifens der Zuſammenhang von Urſache und Wirkung if. Wo
ein folder Zufammenhang nicht exiftiert, da hat auch das Be⸗
greifen eine Stelle. Eine Einzeleriftenz fann ich nur wahrnehmen,
nicht aber begreifen, denn an einer folchen iſt nichts zu begreifen;
und felbft wenn die wahrgenommene Einzeleriftenz eine zufammen«
gejegte ift, kann ih an fich noch nicht von DBegreifen derjelben
reden, fondern erft dann, wenn es fich um die Beziehungen der
einzelnen Zeile des Ganzen zu einander, d. h. um ihr Kauſalver⸗
hältnis Handelt. Eine Maſchine Habe ich noch nicht begriffen,
wenn ich auch alle einzelnen Zeile derfelben kennen gelernt, wahr»
genommen habe; begriffen habe ich fie erit dann, wenn ich einge
ſehen habe, wie die einzelnen Zeile in einander greifen und auf
einander wirken, aljo wenn ich ihr Kauſalverhältnis durchſchaut
babe.
Ba einer inzeleriftenz fpriht man wohl aud dann von
Begreifen, wenn man ihren Urfprung oder ihren Endzwed, mit
andern Worten, wenn man fie felbft als Wirkung oder al8 Urs»
ſache erfannt hat.
Was folgt daraus für das Verhältnis des Begreifend zur
Wirklichkeit und zur Möglichleit? Wir werden das fogleich jehen,
wenn wir uns über das Verhältnis zwiſchen Möglichkeit und
Wirklichkeit felbft Elar werden. Der Begriff der Wirklichkeit bedarf
feiner weiteren Definierung, die Wirklichkeit eines Gegenftandes ift
eben feine Exiftenz, welche für geiftige Gegenftände eine geiftige,
für ftoffliche Gegenftände eine ftofflihe if. Um fo genauer
müfjen wir hier den Begriff der Möglichkeit erwägen.
Wir gingen davon aus, daß man unter der Möglichkeit eines
Geſchehens das Vorhandenſein der Bedingungen verfteht, unter
denen es wirklich wird. Ich muß hier, um Mißverftändnifjen
vorzubeugen, bemerken, dag man im gewöhnlichen Leben das Wort
1% Meyer
Dröglicgkeit vielfach nur in relativer, abgeſchwächter Bedeutung ger
braudt. Man verfteht da nämlich unter Möglichkeit oft das Vor⸗
handenſein nur einiger von den Bebingungen, unter denen etwas
wirklich wird; man denkt wenigfiens bet dem Gebrauch des Wortes
oft nur an das Borhandenfein einiger Bedingungen.
Wenn ich fage: „es ift möglich, daß der Künig biefen Ver⸗
brecher begnabigt“, jo denke ich etwa dabei: „der König hat fchon
fo manchen Verbrecher begnadigt, bei dem Milderungsgründe ins
Gewicht fielen; bei diefem Verbrecher iſt das der Fall, aljo —“.
Erfahre ich nım fpäter, daß der Verbrecher doch nicht begnadigt
ift, fo fage ih mir, es müſſen doch gewiſſe Gründe vorhanden
geweſen fein, ober gewifle Bebingungen gefehlt haben, daß das
wicht wirklich geworden ift, was ich für möglich hielt. Hätte id
nun das Fehlen diefer Bedingungen beftimmt vorher gewußt, fo
hätte ich auch nicht gejagt, es jei möglich, daß diefer Verbrecher
begnadigt wirb, denn ich Hätte dann eben gewußt, daß es nicht
möglich war, weil e8 an gewilfen Bedingungen, und wäre es aud)
mm eine einzige, fehlte, welche zur Verwirklichung der Beguadigung
erforderlih find. Genau genommen hätte id) alfo von vorn
herein jagen müfjen: „Die Begnadigung ift, fo viel ich weiß,
möglid.“
Diefe Reſtriktion in der Beziehung auf unjer Willen müßten
wir eigentlich bei fait allen unferen gewöhnlichen Äußerungen über
die Möglichkeit eines Gefchehens Hinzufügen, da man bie Möglid-
feit in ihrer firengen Bedentung nur dann ausfprechen kann, wenn
man beftimmt weiß, daß Leine von den Bedingungen unerfüllt if,
unter denen die Wirklichkeit eintritt; fobald auch nur eine von
ihnen fehlt, ift auch die Möglichkeit nicht mehr vorhanden.
Man mag nun immerhin im gewöhnlichen Leben den Begriff
der Möglichkeit in jenem uneigentlichen, jchlafferen Sinne anwen⸗
den; man mag immerhin fortfahren zu fagen: „Es iſt möglid,
baß es heute regnet“, „es iſt möglich, dag es übers Jahr Krieg
giebt”, „es ift möglich, daß dieſer Menſch ftiehlt“, ohne jedesmal
Binzuzufügen: „joviel ich von der Sache weiß und verſtehe, fo weit
ih eme Emfidht habe in die Bedingungen, unter denen es allein
eintritt” ; in dem willenfchaftlicden Sprachgebrauch aber wird mar,
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 121
wie alte anderen Begriffe, jo auch deu ber Möglichkeit nur im
feiner eigentlidyen, ftrengen Bedentung ammenden dürfen, nach wel⸗
her er das Borkaudenfein wicht bie einiger, fondern aller Be
dingungen bebeutet, welche für den wirklichen Eintritt eines Ge⸗
ſchehens erforderlich find.
Rad) diefem Begriff umſchließt nun aber die Möglichkeit eines
Geſchehens den gejamten Kaufalzufausmenhang, welcher dem Ein-
tritt der betreffensen Wirklichkeit voraugeht und ihn bebingt; nach
dieſem Begriff reicht die Möglichkeit unmittelbar hinan bis an bie
Wirklichkeit, und es ift ein Mißverſtändnis dieſes Verhältniſſes,
wenn man fagt, ed müffe doch noch etwas ba fein, was die Mög-
fichleit, wenn fte vorhanden ift, nun eben zur Wirklichkeit macht.
Man pflegt hier, un dieſe meißverftändliche Auffafiung zu
rechtfertigen, die Unterſcheidung zwilchen Bedingung unb Urfache
einzuführen und zu fagen, die Berhältniffe und Ruͤckſichten, unter
denen etwas gejchieht, feien die Bedingungen des Gefchehens, bar
gegen bie Urfache beöfelben jei der Wille. Nämlich bet rein na-
türlihens Geſchehen leuchtet die völlige Unmöglichkeit diefer Unter-
ſcheidung zwifchen Bedingung und Urſache von vornherein eim.
Oder foll etwa. die Sonnenwärme die Urfache dazu fein, daß eine
Srucht reift, während der Regen, der Wind, das Pflanzen bes
Baumes u. ſ. w. nur DBebingungen find? Hier liegt die völlige
Fentität von Bedingung und Urſache Elar auf ber Hand, und
die verſchiedenen Namen rühren nur ber von den verfchiedenen
Betrachtungsweifen einer und derfelben Sache.
Auch die negative Bedingung, durch weiche bezeichnet wird,
daß etwas nicht fein darf, wenn etwas anderes eintreten foll, ja
jelbft die fegenannte conditio sine qua non, weiche am weiteften
von der Urſächlichkeit entfernt zu fein fcheint, fie fallen alte unter
den Begriff der Urſache, denn fie finds nur dadurch wirflih Be⸗
dingungen, daß fie entweder negativ oder poſitiv, emimeder un⸗
mittelbar oder mittelbar eine urfächlihe Wirkung ausüben.
„Wem die Steine mit von dem Wurzeln des Banmes ent»
fernt werden, jo wächſt der Baum nicht." Mit diefer negativen
Bedingung fage ich zunächft, dag das Vorkendenfein der Steine
die Urſache dafür tft, daß der Banm nicht wächſt; ich fage weiter
u EEK
L) Mi ma
- Zaun
122 Meyer
damit, daß die Entfernung der Steine die Wirkung haben wird,
dag der Baum wächft, alfo ift die Entfernung der Steine gerade
als Bedingung die Urfache für des Baumes Wachstum, denn was
die Wirkung bervorbringt, das ift die Urſache. Ober: „Wenn
das Kind nicht fleißig ift, fo befommt es Feine Uhr.“ Die Uhr
felbft ift hier allerdings nicht die Wirkung des Tleißes, aber da-
mit, dag ich den Fleiß zur conditio sine qua non gemacht Habe,
fage ich, daß der Fleiß des Kindes auf das Herz des Vaters fo
einwirkt, daß er ſich entfchließt, dem Kinde eine Uhr zu fchenken.
Alfo der Fleiß ift gerade al8 conditio sine qua non wenigftens
die mittelbare Urſache für den Befig der Uhr, und die Mittel:
barkeit einer Urfache kann doch ihren Charakter als folcher nicht
im mindeften abſchwächen. Einen wejentlichen Unterſchied zwifchen
Bedingung und Urfache giebt es bier nicht.
Haben wir aber nicht bezüglich des Willens einen folcden
anzuerfennen? Ebenſo wenig! fondern wie id) eben gezeigt
habe, dag alle Bedingungen jeglicher Art auch Urſachen find,
fo ift die Urfache, welche in dem Willen enthalten ift, auch Be
dingung.
Der Wille foll dasjenige fein, was bie vermeintlich fchon vor»
handene Möglichkeit zur Wirklichleit macht. Gerade das aber,
was die vermeintliche Möglichkeit erft zur Wirklichkeit werden läßt,
ift doch am allernotwendigiten dazu, daß die Wirklichkeit eintrete;
und dasjenige, ohme welches die Wirklichkeit eines Gegenftandes,
oder eines Geſchehens nicht eintreten würde, das tft es eben, mas
die Bedingung desjelben genannt wird. Dieſes überführende
Mittelglied gehört alfo ganz beftimmt mit zu den Bedingungen,
non denen da8 wirkliche Gefchehen abhängt, und es galt doch, daß
das Vorhandenfein aller bdiefer Bedingungen erft die Möglichkeit
bilde, wie wir ja auch in der That fagen würden, daß ohne das
Eintreten des vermeintlichen Mittelfaktors, welcher die Möglichkeit
zur Wirklichfeit machen fol, das Eintreten der Wirklichkeit, aljo
da8 Geſchehen, um das ſich's gerade handelt, nicht möglich wäre.
Da gebrauchen wir aljo dad Wort felbft, über das wir hier vers
handeln, zum deutlichen Beweife dafür, daß eben auch biefer ver-
meintliche Mittelfaltor zur Möglichkeit gehört, daß es aljo wirklid
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 123
zwifchen der Möglichkeit und der Wirklichleit durchaus fein kau⸗
fierendes Mittelglied geben kann.
Wenn e8 demnach ftehen bleiben muß, daß die Möglichkeit den
gefamten Raufalzufammenhang umfaßt, aus welchem fi unmittel«
bar und ganz von felbit die Wirklichkeit ergiebt, jo muß id) weiter
behaupten, daß die Wirklichkeit an und für fih, d. h. abgejehen
von dem SKaufalzufammenhange, aus welchem fie hervorgeht, aljo
abgefehen von ihrer Möglichkeit, gar nichts zu thun hat mit dem
Begreifen, gar nicht Gegenftand des Begreifens, fondern Lediglich
des Anfchauens und des Wahrnehmens fein fann, und daß der
einzige Gegenftand des Begreifens eben die Möglichkeit ift, d. h.
der Raufalzufammenhang der Bedingungen, welder als fein un-
mittelbares Nefultat die Wirflichleit ergiebt.
Schon in Rüdjiht darauf muß die Formel „die Möglichkeit
der Sünde ift begreiflih, aber ihre Wirklichkeit ift unbegreiflich“
als unzutreffend bezeichnet werden, da fie den Schein ermwedt, ja
da fie von der Vorausfegung ausgeht, als könnte fonjt wohl die
Wirklichkeit an und für fi im Unterfchied von ihrer Möglichkeit
Gegenstand des Begreifens fein.
Doch ift noch die weitere Frage zu beantworten, wie ſich denn
nun die begriffene Weöglichkeit zue Wirklichkeit verhalte.
Das Begreifen eines Verhältniffes berechtigt an ſich nod)
feineswegs zu der Schlußfolgerung auf reale Exiſtenz. “Die ideale
Eriftenz, d. h. die innere Wahrheit ift allerdings mit dem wirk⸗
Iihen Begreifen verbürgt, aber nicht die Wirklichkeit de8 Begriffe
nen, denn das ganze Verhältnis kann ja ein hypothetiſches fein,
ein bloß gedachte. Nur dann, wenn ich bei meinem Begreifen
jelbft die Vorausfegung machen muß, daß das erfte lied des
Zufammenhanges, alfo die Urfache, Wirklichkeit befitt, nur dann
kann und muß ich auch annehmen, daß auch alle folgenden Glieder
des Zuſammenhanges, alfo die Wirkungen, Wirklichkeit befigen.
Ob aber das erfte Glied des Zufammenhanges Wirklichkeit
befigt oder nicht, das kann ich nicht durch mein Begreifen, fondern
lediglich dur) meine Wahrnehmung erfahren. So ift denn aud)
notürlich die Erkenntnis davon, ob die folgenden Glieder des Zu⸗
ſammenhanges bis auf das legte Wirklichkeit befigen oder nicht,
121 Meyer
nicht auf mein Begreifen,, fondern auf mein Wahrnehmen zurüd-
zuführen.
Da alfo in allen diefen Berhäftniffen die Wirklichkeit an und
für fi niemald Gegenftand des Begreifens, jondern immer nur
des Wahrnehmens iſt, fo kann id aud) von dem DBegreifen der
Wirklichkeit nur reden, fofern ich eigentlih damit das Begreifen
ihrer Möglichkeit meine, aljo den Raufalzufammenhang der Be
dingungen, unter denen die betreffende Wirklichkeit eintritt. Ich
kann die Wirklichkeit nur begreifen, indem ich ihre Möglichkeit zu
begreifen fuche.
Aus dem Berhältnie, welches bier zwiſchen Möglichkeit umd
Wirflichkeit, zwifchen Begreifen und Wahrnehmen nachgewiefen ift,
folgt anderfeits, daß, wenn ih den Kauſalzuſammenhang und das
Sfneinandergreifen der Bedingungen eines Geſchehens, alfo bie
Möglichkeit desfelben begriffen Habe, ich damit unmittelbar aud
deſſen Wirffichleit begriffen habe, fofern ſich jener ganze Zujam-
menbang felbft in der Sphäre der Wirklichkeit bewegt und es fih
demnach überhaupt um Wirklichkeit handelt. Mit kurzen Worten
heißt das: habe ih die Möglichkeit eines Gefchehens begriffen, jo
habe ich auch deifen Wirklichkeit begriffen, denn in der Wirklichkeit
an und für fich Tiegt nichts mehr, was ein befonderer Gegenftand
des Begreifens fein könnte.
Tür unfer Begreifen giebt es aljo feinen Unterjchied zwiſchen
der Möglichkeit eines Gefchehens und der Wirklichkeit desfelben,
denn die leßtere unterfcheidet fich von der erfteren nur hinſichtlich
der Eriftenzweife und die Eriftenz an und für fich iſt nicht
Gegenftand des DBegreifens, fondern des Wahrnehmens.
Nachdem ich die gefchichtliche Möglichkeit eingefehen Habe, daß
e8 in Jahresfrift Krieg giebt, würde es feltfam von mir fein,
wenn ich mich bei dem wirklichen Eintritt des Krieges noch wun⸗
dern wollte als über etwas Unbegreifliches; nachdem ich die na
türliche Deöglichkeit eingefehen habe, daß gegen Abend ein Gewitter
tosbricht, würde es feltfam von mir fein, wenn ich mich bei dem
wirflihen Eintritt des Gewitters noch wundern wollte, als über
etwas Unbegreifliches; nachdem ich die fittliche Meöglichkeit ein
gejehen habe, daß diefer Menſch einen Diebftahl ausführt, fo
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 125
würde es genau ebenjo ſeltſam von mir fein, wenn ich mich über
den wirklich gefchehenen Diebftahl noch wundern wollte, als über
etwas Unbegreiflihes. Ich kann ja überhaupt die Wirklichkeit eines
Geſchehens nur begreifen, fofern fie da8 Ergebnis eines Kauſal⸗
zufammenhanges ift, d. h. fofern fie gedacht wird als eingetreten
unter gewiljen Bedingungen, d. h. fofern fie gedacht wird als
Möglichkeit.
Aus diefen Gründen Halte ich die obige Formel, welche für
die Begreiflichkeit reſp. Uubegreiflichleit der Sünde zwiſchen der
Möglichkeit und der Wirklichkeit derjelben unterjcheibet, für un-
haltbar.
Oder will man fi, um diefe Formel dennody aufrecht zu er
halten, dazu verftehen, die Möglichkeit der Sünde aufzufaffen in
dem Sinne, in welchem dieſes Wort, wie wir fahen, im gewöhn⸗
lichen Leben angewendet zu werden pflegt, jo daB es nur das
Borhandenfein einiger vom den Bedingungen bedeutete, welche nötig
find, damit die Sünbe wirklich werden fünne? Das ift doch kaum
anganehmen,, weil dann die Behauptung, daß die Möglichkeit der
Sünde begreiflich jei, doch gar zu nichtsjfagend wäre. Das ift
freilich allenfalls noch zu begreifen, daß, wenn Sünde gejchehen
fol, Menſchen da fein müſſen, welche fie thun, oder daß es gei⸗
ftige Weſen fein müſſen, oder daß fie zu einer höheren, unbedingten
Norm is einem fittlichen Verhältniſſe ftehen müffen. Das wären
jo etliche Bedingungen, deren notwendiged Vorhandenjein man
allesding® begreifen kann. Wollte man hier in biefem vagen
Sinne von Möglichkeit der Sünde fprechen, jo würde man doch
wenigftend, um den Vorwurf der Zrivialität zu vermeiden, ans
geben müflen, weldye Bedingungen man zu dem aufgeftellten Be⸗
griff der Möglichkeit, die man zu begreifen glaubt, zufammen-
fofien wii. Dadurch würde es dann aber auch Far werden, wie
unbedeutend und nichtsfagend die Erleuntnis diefer Art von Mög-
lichkeit ift, dan man nun erft recht deutlich Sehen würde, wieviel
der begriffenen Möglichkeit noch fehlt, um eine wirkliche, voll⸗
tomımene Möglichkeit zu fein, und man wärbe doch ſchließlich
wieder aufommmen vor der Unbegreiflichleit der außerhalb des auf-
geſtellten Begriffes von Möglichkeit Legenden Bedingungen, welche
on ta. 5.
126 Meyer
doch, man kann e8 nicht leugnen, zu der eigentlichen Möglichkeit
der Sünde ebenfo fehr gehören, als die begriffenen Bedingungen.
Die umnbegreiflihen Bedingungen der Sünde find allerdings
weſentlich nur eine, nämlich der böfe Wille, welcher uns nötigt,
zu befennen, daß wir auf die Frage „wie war es denn nur eigent«
lich möglich), daß der Menſch fündigte, d. h. daß er mit einem
böfen Willen handelte?“ feine Antwort geben können.
Glaubt man alfo die Linbegreiflichkeit der wirklichen Sünde
zugeftehen zu müfjen, fo muß man notwendigerweife auch bie Mög-
fichfeit der Sünde, ja gerade fie als unbegreiflich anerfennen, weil
eben nicht die Wirklichkeit der Sünde, fondern ihre Möglichkeit
das eigentliche Gebiet ift, auf welchem allein es ſich um die Frage
der Begreiffichkeit oder der Unbegreiflichkeit Handeln kann. Wenn
wir alfo fagen: „Die Sünde ift etwas Linbegreifliches“, fo heißt
das ohne weiteres: „es ift unbegreiflih, wie e8 dem Menſchen
möglich gewefen ift, zu fündigen‘. Daß diefe Möglichkeit vor-
handen gemwefen ift, lehrt die Thatfache, daß der Menſch wirklich
gefündigt Hat und noch fündigt; daß uns aber diefe Möglichkeit
unbegreiflich ift, und daß wir nicht erflären können, worin fie ber
ftanden hat, das ift e8, was wir auf Grund unferer Unterſuchungen
fefthalten müffen, und wir werden da8 um fo entjchiedener thun,
je Harer und deutlicher wir es eingefehen haben, dag nur mitteljt
diefer Anerkennung das Weſen der Sünde als ſolcher gewahrt
werden Tann, und daß es nur bei diefer Anerkennung möglich ift,
die Behauptung einer vollen Selbftverantwortlichkeit des Menſchen
für feine Sünde aufrecht zu erhalten.
So ftehen wir denn vor der Sünde ald vor einer unbegreif-
lichen und unerflärlichen Thatſache auf dem Gebiete des fittlichen
Lebens. Eine ſolche Thatfache in dem Syſtem unfere® Lebens
anerkennen zu müffen, hat freilich für jeden denkenden Menſchen
etwas Unbehagliches, wie ja auch die Sünde felbft für jeden nicht
bloß denkenden, fondern dabei auch gewiſſenhaften, fittlich ftrebenden
Menfchen etwas außerordentlich Unbehagliches, Peinliches ift. Aber
unerträglich kann diefe Anerkennung doch nur für denjenigen fein,
der feft entichloffen ift, einem volllommen Lüdenlofen Zujammen-
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 127
hange feiner Weltanfchauung alles, auch bie fittliche Wahrheit, auch
da8 Zeugnis des eigenen Gewiſſens zum Opfer zu bringen.
Da aber der Zufammenhang einer jeden Weltanfchauung nod)
jo manche andere Lücken zeigt, und da fich bisher noch jedesmal
auch die vermeintlich beftgefügte, ſyſtematiſchſte Weltanfchauung
ſchließlich als lückenhaft, oft als fehr lückenhaft herausgeftellt Hat,
jo haben wir in der That feinen Grund, in dem wifjenfchaftlichen
Stolz auf unſer fyftematifches Bedürfnis entgegen den Thatfachen,
für welche das göttlich beglaubigte Zeugnis unferes Gewifjens ein»
tritt, die Unbegreiflichkeit der Sünde, welche allerdings in jedes
Syſtem eine Lücke bringen würde, zurückzuweiſen.
Thun wir e8 dennoch, es Hilft uns nichts, unſer titanifches
Trachten wird trotzdem, fo lange wir Menfchen find, nie zum
Ziele fommen, denn die Schwierigfeiten, welche überwunden werben
müßten, find höher als Oſſa und Pelion, ja höher als alle Berge,
welhe Meenfchen auf einander zu türmen vermögen, und es wird
für uns immer Dinge in der Welt geben, denen gegenüber unjer
Begreifen darauf beſchränkt ift, zu begreifen, daß fie unbegreiflich
ind; und es ift alles, was wir in foldhen Fällen thun können,
daß wir die Grenzen feftitellen, an denen die Unbegreiflichkeit bes
ginnt.
Wenn ſich aber der Stolz unferes Denkens doch einmal un-
vermeidlih vor manchen Unbegreiflichkeiten beugen muß, falls fie
nicht oberflächlich überfehen oder mutwillig ignoriert werben follen,
jo, meine ich, widerspricht e8 unferer Würde noch am allerwenig-
tn, daß wir uns beugen vor ber Unbegreiflichkeit einer fittlichen
Wahrheit.
Gedanken nnd Bemerfnngen.
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 9
124 Meyer
nicht auf mein Begreifen, fondern auf mein Wahrnehmen zurüd:
zuführen.
Da alfo in allen diefen Verhältniſſen die Wirklichkeit am und
für fih niemal® Gegenftand des Begreifens, fondern immer nur
des Wahrnehmens ift, fo Tann ich aud) von dem DBegreifen ver
Wirklichkeit nur reden, fofern ich eigentlih damit das Begreifen
ihrer Möglichkeit meine, aljo den Kaufalzufammenhang der Be
dingungen, unter benen die betreffende Wirklichkeit eintritt. Ich
fann die Wirklichkeit nur Porn, indem ich ihre Möglichkeit zu
begreifen ſuche.
Aus dem Berhältnis, welches hier zwiſchen Möglichkeit und
Wirklichkeit, zwiſchen Begreifen und Wahrnehmen nachgewieſen iſt,
folgt anderſeits, daß, wenn ich den Kauſalzuſammenhang und das
Ineinandergreifen der Bedingungen eines Geſchehens, alfo bie
Möglichkeit desfelben begriffen Habe, ich damit unmittelbar aud
deſſen Wirklichkeit begriffen habe, jofern fich jener ganze Zufam-
menbang felbft in der Sphäre der Wirklichkeit bewegt und es fid
demnach überhaupt um Wirklichkeit handelt. Mit kurzen Worten
beißt das: habe ich die Möglichkeit eines Geſchehens begriffen , fo
habe ich auch deſſen Wirklichkeit begriffen, denn in der Wirklichkeit
an und für fih Tiegt nichts mehr, was ein befonderer Gegenftand
des DBegreifens fein könnte.
Für unfer Begreifen giebt es alfo feinen Unterſchied zwifchen
der Möglichkeit eines Gefchehens und der Wirklichkeit desfelben,
denn die letztere unterfcheidet fich von der erjteren nur hinſichtlich
der Eriftenzweife und die Eriften; an und für fi ift nicht
Gegenftand des DBegreifens, fondern des Wahrnehmens.
Nachdem ich die geichichtliche Möglichkeit eingefehen habe, daß
es in Jahresfrift Krieg giebt, würde es feltfam von mir fein,
wenn ih mich bei dem wirklichen Eintritt des Krieges noch wun⸗
dern wollte als über etwas Linbegreifliches; nachdem ich die na
türliche Möglichkeit eingefehen habe, daß gegen Abend ein Gewitter
losbricht, würde es feltfam von mir fein, wenn ich mich bei dem
wirklichen Eintritt des Gewitters noch wundern wollte, als über
etwas Unbegreiflihes; nachdem ich die fittlihe Möglichkeit ein-
gejehen babe, daß dieſer Menſch einen Diebitahl ausführt, fo
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 125
würde es genau ebenjo jeltfam von mir fein, wenn ich mich über
den wirklich gejchehenen Diebftahl noch wundern wollte, als über
etwas Unbegreiflihes. Ich kann ja überhaupt die Wirklichkeit eines
Geſchehens nur begreifen, fofern fie das Ergebnis eines Kauſal⸗
zufammenbanges ift, d. 5. fofern fie gedacht wird als eingetreten
unter gewillen Bedingungen, d. h. fofern fie gedacht wird als
Möglichkeit.
Aus dieſen Gründen halte ich die obige Formel, welche für
die Begreiflichkeit reſp. Uubegreiflichleit der Sünde zwiſchen ber
Möglichkeit und der Wirklichteit derfelben unterfcheibet, für un⸗
haltbar.
Oder will man fich, um diefe Formel dennoch aufrecht zu er-
halten, dazu verftehen, die Möglichkeit der Sünde aufzufaflen in
dem Sinne, in welchem diefes Wort, wie wir ſahen, im gewöhn⸗
lichen Leben angewendet zu werden pflegt, jo daß es nur das
Vorhandenfein einiger von den Bedingungen bedeutete, welche nötig
find, damit die Stinde wirklich werden lünne? Das ift doch kaum
anzunehmen, meil dann die Behauptung, daß die Möglichkeit ber
Sünde begreiflich fei, doch gar zu nichtsfagend wäre. Das ift
freilich allenfalls noch zu begreifen, daß, wenn Sünde gejchehen
fol, Menſchen da fein müfjen, welche fie thun, oder daß es gei⸗
ftige Weſen fein müſſen, oder daß fie zu einer höheren, unbedingten
Norm isn einem fittlichen Verhältniffe ftehen müfjen. Das wären
fo etlihe Bedingungen, deren notwendige® Vorhandenfein man
allerdings begreifen kann. Wollte man Hier in dieſem vagen
Sinne von Möglichkeit der Sünde fprechen, fo würde man doch
wenigftens, um den Vorwurf der Zrivialität zu vermeiden, ans
geben müflen, welche Bedingungen man zu bem aufgejtellten Be⸗
griff der Möglichkeit, die man zu begreifen glaubt, zufammen-
faffen will. Dadurd würde e8 dann aber auch Flar werden, wie
unbedeutend und nichtsfagend Die Erlemntnis diefer Art von Mög⸗
lichkeit iſt, da man nun erft recht deutlich ſehen würde, wieniel
der begriffenen Meöglichleit noch fehlt, um eine wirkliche, voll»
tommene Möglichkeit zu fein, und man würde doch ſchließlich
wieder nufommen vor ber Inbegreiflichleit der außerhalb bes auf-
geftellten Begriffes von Möglichkeit Tiegenden Bedingungen, melde
126 Meyer
doch, man kann e8 nicht leugnen, zu der eigentlichen Möglichkeit
der Sünde ebenfo fehr gehören, al& die begriffenen Bedingungen.
Die unbegreiflihen Bedingungen der Sünde find allerdings
wejentlich nur eine, nämlich der böje Wille, welcher uns nötigt,
zu befennen, daß wir auf die Srage „wie war es denn nur eigent-
lich möglid), daß der Menſch fündigte, d. h. daß er mit einem
böfen Willen handelte?“ Feine Antwort geben können.
Glaubt man alfo die Lnbegreiflichkeit der wirklichen Sünde
zugeftehen zu müfjen, fo muß man notwendigerweife auch die Mög⸗
fichfeit der Sünde, ja gerade fie als unbegreiflich anerkennen, weil
eben nicht die Wirklichkeit der Sünde, fondern ihre Möglichkeit
da8 eigentliche Gebiet ift, auf welchem allein e& ſich um die Trage
der Begreiflichkeit oder der Linbegreiflichkeit handeln fann. Went
wir alfo fagen: „Die Sünde ift etwas Unbegreifliches“, fo heißt
das ohne weiteres: „es iſt unbegreiflih, wie e8 dem Meenfchen
möglich gewefen ift, zu fündigen‘. Daß biefe Möglichkeit vor-
handen geweſen ift, lehrt die Thatſache, daR der Menfc wirklich
gefündigt hat und noch fündigt; daß uns aber diefe Möglichkeit
unbegreiflich ift, und dag wir nicht erklären können, worin fie bes
ftanden hat, das ift e8, was wir auf Grund unferer Unterfuchungen
fefthalten müffen, und wir werden da8 um fo entjchiedener thun,
je klarer und deutlicher wir es eingejehen haben, dag nur mittelft
diefer Anerkennung das Wefen der Sünde als folder gewahrt
werden Tann, und daß es nur bei diefer Anerkennung möglich ift,
die Behauptung einer vollen Selbftverantwortlichkeit des Menfchen
für feine Sünde aufrecht zu erhalten.
So ftehen wir denn vor der Sünde ald vor einer unbegreif-
lichen und unerflärlichen Thatfache auf dem Gebiete des fittlichen
Lebens. Eine ſolche Thatſache in dem Syſtem unferes Lebens
anerkennen zu müſſen, Hat freilich für jeden dentenden Menſchen
etwas Unbehagliches, wie ja auch die Sünde felbjt für jeden nicht
bloß denkenden, fondern dabei auch gewifjenhaften, fittlich ftrebenden
Menschen etwas außerordentlich Unbehagliches, Peinliches if. Aber
unerträglich Tann diefe Anerkennung doch nur für denjenigen fein,
der feſt entfchloffen ift, einem volllommen Tücenlofen Zuſammen⸗
Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 127
bange feiner Weltanfchauung alles, auch die fittliche Wahrheit, auch)
das Zeugnis des eigenen Gewiffens zum Opfer zu bringen.
Da aber der Zufammenhang einer jeden Weltanfchauung noch
fo manche andere Lücken zeigt, und ba fich bisher noch jedesmal
auch die vermeintlich beftgefügte, ſyſtematiſchſte Weltanfchauung
ſchließlich als Tücenhaft, oft als ſehr lückenhaft herausgeftellt hat,
fo haben wir in der That feinen Grund, in dem wiffenjchaftlichen
Stolz auf unfer ſyſtematiſches Bedürfnis entgegen den Thatjachen,
für welche das göttlich beglaubigte Zeugnis unſeres Gewiſſens ein»
tritt, die Unbegreiflichkeit der Sünde, welche allerdings in jedes
Syſtem eine Lücke bringen würde, zurückzuweiſen.
Thun wir es dennoch, e8 Hilft uns michts, unfer titanisches
Trachten wird trogdem, fo lange wir Menſchen find, nie zum
Ziele fommen, denn die Schwierigfeiten, weldye überwunden werden
müßten, find höher als Oſſa und Pelion, ja höher als alle Berge,
welche Menfchen auf einander zu türmen vermögen, und es wird
für uns immer Dinge in der Welt geben, denen gegenüber unjer
Begreifen darauf bejchränkt ift, zu begreifen, daß fie unbegreiflich
find; und es ift alles, was wir in folden Fällen thun fünnen,
daß wir die Grenzen feftftellen, an denen die Unbegreiflichfeit be-
ginnt.
Wenn fi) aber der Stolz unferes Denkens doch einmal uns
vermeidlich vor manchen Unbegreiflichkeiten beugen muß, falls fie
nicht oberflächlich überfehen oder mutwillig ignoriert werben jollen,
fo, meine ich, widerfpricht e8 unjerer Würde noch am allermwenig-
ften, daß wir und beugen vor der Unbegreiflichkeit einer fittlichen
Wahrheit.
Gedanken nnd Bemerfnngen.
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 9
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1.
Zu Luthers Briefen und Tifchreden.
Bon
G. Koffmane.
Die methodifche Durchforſchung der Bibliotheken wird ficherlich
noch manche Lutherana ans Licht bringen. Die neue Ausgabe der
Werke Luthers mahnt dazu, dieſes Suchen nicht aufzufchieben. Im
folgenden will ich den Beitrag von Breslau entrichten.
J.
Prof. Köſtlin hat in ſeiner Biographie des Joh. Heß (Zeit⸗
ſchrift d. ſchleſ. Geſchichtsver. VI, 124) und in „M. Luther“
I, 504 und Kolde in „Auguftiner-Rongreg.”, ©. 369 ein Schrei⸗
ben befprochen, welches fi) in der Rehdigerſchen Brieffammlung,
vol. VU, nr. 5 findet. Der Brief verdient es, volllommen
ediert zu werden.
Intereſſant ift ſchon die Berjönlichkeit des Briefſchreibers. Er
nennt fich felbft Sebaftianus Helman, doch wollte er den Fami⸗
liennamen anders fepreiben, da vor dem | eine Korrektur ift, wahr-
Icheinlih Henmann.
Schneider (Geſchichtl. Verlauf d. Ref. in Liegnitz. Prog.
1860, ©. 26, nr. 9) fieht in dem Briefſchreiber jenen Sebaftiau,
der |päter Krautwalds Famulus wurde und Köftlin ift (a. a. O.)
geneigt, beizuſtimmen. Indes heißt es in der vita des Kraut-
9%
132 Roffmane
wald (cod. latin. Monacens. nr. 718, fol. 549): „Sodalem
ceu famulum habuit fidelem Sebastianum Eisenmann, qui
fuit promus condus et cocus, cum quo solus habitavit annis
plusquam XX“. Nach Krautwalds Tode (1543) finde ich den
Eifenmann als Pfarrer in Glas, wohin Schwendfeld (Epiftolar
II, 1, fol. 53) an ihn fchreibt im Oktober 1557.
Unfer Sebaftian hat feinen Yamiliennamen falſch gefchrieben!
Bei feinen Zeitgenofjen finden wir diefelbe Unficherheit: in dem
Ratsherrnverzeichniffe (Breslauer Stadtbuh — cod. diplomat.
Silesiae XI, ©. 45ff.) fteht von 1528 —49 als Ratsherr oder
als Schöffe ein Sebaftian Reiſig, Raiſig, Raiſig tabernator.
Zum Jahre 1529 bemerkt dann eine ſpätere Hand, daß dieſer
Mann auch Heinemann hieß. Als ſolcher figuriert er nun in dem
Ratsverzeichnis z. B. 1530; andere Jahre nennen ihn Sebaſt.
Henmann, Hennmann, Hennemann, Heynemann u. ſ. w. immer
mit dem Zuſatze tabernator. Daß nun ein Erbe einer Brauerei
(hierzulande: Kretſchmerei), der ſeine Gewerbegerechtigkeit durch
andere ausüben ließ, 1521 in Wittenberg ftudiert und dann Rats⸗
mitglied wird, ift nicht unwahrſcheinlich. Unſer Brieffchreiber ift
ja aud) mit vielen Breslauer Familien ſehr befannt. Die Stolcz
oder Stolczer find hier Häufig geweſen, der Melchior ift wahr:
Icheinlich Melchior Seidel, und Antonius gehörte wohl zur Yamilie
Band, Banke, Bandau. Beide finden wir dann auch als Rats⸗
herren.
Die Identität des Natsheren, defien Nachkommen fich beide
Namen meift als Reifing- Heinemann beilegen, mit unferm Sebaft.
Helmann leidet aber aus zwei Gründen feinen Zweifel. Als auf
Betreiben des oh. Heß die Breslauer ihr großes Alferheiligen-
Hofpital bauten, meldet Heß (in einem jüngjt auf dem Nathaus-
boden aufgefundenen Schreiben, cfr. Korrefpondenzblatt d. Vereins
f. Geſch. der evangel. Kirche Schlefiens II, 16) die Fortfchritte:
„Meinem grofgunftigen Lieben hern gefattern hern Sebaftiani
Henneman, Reyſigk genanth 3. f. aigen handth“. Unſer Brief
wird nun in einem Vermerke (j. u.) ebenfall® dem Reiſigk zus
gefchrieben.
Heß war fomit wohl der Empfänger des DBriefes, der uns
Zu Luthers Briefen und Tifchveden. 133
über die Stimmung in Wittenberg während der Abwejenheit Luthers
fo manchen Auffchluß giebt. Der jugendliche Breslauer Hat Luther
nicht perfönlich Tennen gelernt: Zwilling ift der zweite Quther.
Selbſt Karljtadt tritt zurüd. Melanchthon, der Feine Predigt des
Möndes verfäume, Habe mit feinen Schülern am Michaelistage
in der Stadtpfarrficche das Abendmahl unter beiderlei Geftalt
empfangen. Henmann fieht voraus, daß diefe Neuigkeiten in Bres⸗
lau großen Anftoß geben würden. Adreſſat fol fih um die El⸗
tern Henmanns, die dem Luther fehr zugethan ſeien, feelforgerlich
fümmern und ſie über die Sakramentslehre aufllären. Der Brief
beweift, wie die Anhänger der Reformation in Breslau fchon einen
ftillen Freundesfreis bilden, ohne daß man bei dem Worte syna-
goga gerade an ein Konventifel zu denken braucht. Ihnen allen
jendet Henmann Grüße (der dabei erwähnte Melchior war, wie
aus anderen Briefen der Rehdigerſchen Sammlung hervorgeht, be»
fonder8 thätig im Vertreiben Lutherfcher Bücher). Überaus er»
wünfcht find die Notizen unferes Briefes über eben erfchienene
Bücher von Luther, Karljtadt und Melanchthon.
Ich gebe nun den Text nad) dem auf der hiefigen Stadtbiblio-
thek befindlichen Original;
Antequam has literas scriberem, accessi D. Philippum,
si quid literarum ad te dare vellet. fore enim ut iam
certo nunccio (!) ad te deportarentur. is respondit se tibi
scripsisse per quendam, quem tibi commendasset, tamen si
vacaret, promisit iterum scripturum ad te. itaque expec-
tabis has quoque. ego enim non desinam esse vel impor-
tunus in extorquendis literis, ut si ipse parum te afficiam
meis aridis literis vel pocius obtundem, saltem aliorum
literis doctis meas indoctas mitigem. Scripsisti mihi de
quattuor libellis Martinianis, quos libenter videres. miror,
si nullos receperis, scripsit enim tibi noster Apelles. Lu-
cas autem dono misit duos psalmos 36 et 67. Jam mitto
tibi reliqua que edita sunt. sunt autem psal. 118 de
confessione, item racionem Latomianam pro incendiariis
Louaniensis scole, Sophystis redditam, contra Emserum par-
184 Koffmane
vum libellum, quasdam posiciones Martini, ultimo unicum
libellum Andree Carolstadii supra hoc dietum: Regnum ce-
lorum vim patitur a nullis adhuc recte intellectum. hos
lege, quid boni senciunt, ego enim omnes per occupaciones
legere non quivi. Stolcerum meum audio ad Chrum
conversum. Quam laetum attulistis nunccium. Sed quam
vereor, ne ista mea (ut vocant) nova sibi offendiculum fu-
tura sint, est enim homo qui ad motum aure facillime se
transmutet. Vis autem scire quid sit. Ecee Deus susci-
tavit nobis alium prophetam Monachum eiusdem ordinis
qui adeo syncere adeo candide Evangelium predicat, ut ab
omnibus Alter Martinus Nominetur. Philippus nullam con-
cionem negligit, et est tantus, ut, nisi me aliquorum affır-
macio retraheret, non crederem Martinum ipsum superare.
is per literas ut audivi Martini admonitus a) concionatus
est Nullum hominem nullam debere missam au-
dire nec se [durdjftrihen] ipse velle ineternum ul-
lam legere ob id solum quod tam atrociter in
divinam maiestatem peccaretur, ut nulla re pos-
set eque comoveri deus atqueabusu misse. Pri-
mum enim facerent ex missa sacrificium. De-
mum sacramentum seu signum, quod nobis da-
tum esset ad confirmandam fidem adoraremus
atque faceremus nobisidolum. Nichil enim pre-
stare hoc signum 8signis in vetere testamento.
Non enim licuisse Judeis Adorare Arcam, Nec
Arcum b) non item prepucium Verum per hec
signa certos fuisse quod eos deus non esset de-
serturus Ita hoc signum Novi testamenti, ubi
panem et vinum carnem et sanguinem Christi
sumimus nihil aliud nobis prestare quam certi-
tudinem nostre salutis, carnem scil. sumere nos
quod nos admoneathancoblatam in holocaustum
pro peccatis omnium hominum, sanguinem au-
tem ut certi simus hunc effusum esse pro pecca-
tis nostris atque hec esse signa, que nostras
Zu Luthers Briefen und Tifchreden. 135
eonscientias ec) redderent certas de bona volun-
tate dei, Velle nos salvare modo crederemusin
eum. Demum impium esse si adoraremus et
plane idolatriam. non enim apostolos nec cho-
rinthios adorasse sacramentum hoc. Et ibi multa
egregie dicebat, que non angustia epistole capit. Proinde
nos Wittembergenses non audimus missas, Verbum dei fide-
liter audimus demum sub una specie non communi-
camus sed utramque capimus et id sepe nobis con-
tinget. Philippus Melanchton cum omnibus suis discipulis
in parrochia in die Michaelis sub utraque spe-
cie communicavit et iam fiet in omnibus. Ob id,
mi domine, quam vellem ut te conformares secundum hanc
nostram ecclesiam presertim in legendis missis.. Omnes hic
docti qui sunt sacerdotes hoc agunt ne legant missas, sed
tu ages pro tua prudeneia. Scripsi et Thome Stolcer ut a
se relegaret missas utrum placebit ei meum admonitum in-
certus Mira me tenet sollicitudo d) parentum meorum hac
in re omnino securi et periculosissime qui cum sacramen-
tum adorant putant se deo officium exequi cum tam pes-
sime labantur, ignari quod mysterium sub signis continea-
tur ad quid valet in quem usum. O exerce fidem tuam
mi domine quae sola charitate cernitur atque doceas eos
tamen quid sit sperandum nobis in signis in quibus nostra
salus pendeat forsan non frustra collocaturus operam ego
id agam eciam litteris meis quamquam forsan nihil plus ef-
ficio quam si nihil scriberem, adeo omnia se scire presu-
munt dum Martino bene volunt quasi Martinum
confiteri oporteat. Demum quasi fides non alia res
sit quam que putatur hystorica et non pocius viscera per-
stringat et nostram vitam dirigat. Libenter audivi te divini
verbi concionatorem factum et ob id non parum odii inter
tuos inequales coequales forsan tibi conflatum. Sed age
die audacter que pro gloria dei faciunt Nam oportet ut
confiteamur Christum in vita; alioquin si id coram homini-
bus formidaverimus multo minus füber durchftrichenem magis]
136 Koffmane
in agone mortis coram sathane id valebimus. Confortabit
te enim libellus Andree Carolstadii Oportet enim nos qui
regnum dei sumus per tribulaciones intrare in
regnum celorum. Mitto tibi illas duas sesterniones
scriptas [in psalterium am Rande] nam non potui habere
eas impressas, mitto item epistolam Philippi quam scripsit
ad episcopum Moguntinensem. Demum epistolam Capitonis
qui eciam apud nos Wittenberge fuit, nescitur tamen ob
quam causam nescio an [adhuc durdjftrichen] variarum par-
cium, ceterum homo liberali faie. Philippi Methodus
nondum imprimitur. Commentaria mihi fere ex-
scripsi si usque adeo teneris desyderio ego ea tum tibi
mittam, modo significes. Scribit et commentarium in epi-
stolam I. ad Chorinth., quem brevi finiet. Ne cures de
mea diligencia ego uberrimam suppellectilem mecum feram
si deus voluerit. Audio et 32. capud Genesis ab And.
Carol: brevi incipiet Deuteronomium. Nibil aliud ago quam
quod sacras literas scrutor et in hoc hic sum. grecas simul
amplector. Scripsi nugas quasdam tuo fratri Marco Mi-
rum immodum placuerunt sue littere, proinde hortandus est
ut procedat.
Valete in Christo. Datum Wittenberge. 8. Octobris 1.5.2.1.
Salutat te Anthonius, non potuit
per occupaciones tibi scribere. Saluto ego totam
synagogam ecclesie vestre. Scripsi et ſdurchſtrichen] tuus
Sebastianus Helmanus
Saluto Dnm Melchiorem Saluto Anthonium cum tota fami-
lia, Dnam Apoloniam Saluto Hydraulem Joannem Flaszner.
Auf der vierten Seite fteht nur von der Hand des Brief⸗
ſchreibers noch: Wratislavie, da8 andere ift weggefchnitten. Eine
viel fpätere Hand bezeichnete al Inhalt Reysigk De Gabriele
Monacho.
Mit roter Tinte risna O insania vorher und hinter Mo-
nacho wieder De non adoranda Eucharistia, Insania, aber
diefe 5 Worte find mit fehwarzer Tinte ducchftrihen. In roter
Tinte ift auch bemerlt a) Eventus rei indicat non ita esse,
Zu Luthers Biefen und Tifchreden. 137
b) Iridem, c) contra: cur ait Thomas Apostolus: Dnus
meus et Deus meus. d) Ideo etiam in patriam venit.
Diefe Bemerkungen erinnern in nichts an die Hand von Johann
He. Am Schwarzer Tinte find am Rande furze Inhaltsangaben
gemadt. Zum Eingang des Briefes vgl. C. Ref. I, p. 453.
1.
Luther an Franz vd. Rheva.
Bisher kannte man nur das Schreiben Luthers an Franz
dv. Rheva vom 7. Auguft 1539 (de W. V, 199). Diefer Brief
jegt aber eine vorhergehende Korrefpondenz voraus. ‘Die nad)
Wittenberg ziehenden ungarifchen Studenten waren wohl die Über»
bringer. Ja wir jehen aus den Tiſchreden, daß diefe jungen Uns
garn ebenfalls über das Abendmahl ihre Skrupel hatten, wie jener
Magnat, cfr. für 1538 da8 Tagebuch Lauterbahs zum 5. Auguft,
zum 12. und 22. September.
Ich Hoffe noch mehr über den Adrefjaten zu erfahren, der in
der ungarifchen Reformationsgefchichte eine Rolle fpielt. Vor der
Hand gebe ich einen bisher unbelannten Brief Luthers an ihn
vom 1. Oktober 1538, welcher die Korrefpondenz eröffnet Hat.
Das Original lag einft in Eperies. Joh. Heidenreich (Hederi-
cus), der am Ende des 16. Jahrhunderts in Mähren und Uns
garn jehr bekannt war und mit der Saframentsfrage ſich beſchäf⸗
tigte, nahm eine Abſchrift. Sein Nachlaß kam teilweife nad)
Breslau (fein Bruder Eſaias H. war hier Paftor), und fo kann
der Diafonus David Rheniſch Hierfelbit fich feine Abjchrift vers
Schafft Haben. Der von Rheniſch gefchriebene Coder (Rehdig., nr.
1627) enthält ſonſt wertlofe Kollektaneen und Biographieen der
Theologen saec. XVI.
Der Brief ift mir befonder8 wegen der ruhigen und doch
Iharfen Erörterung Luthers, die Sakramentslehre betreffend, in»
tereffant. Der Ausdrucd transelementatio substantiae im vier»
ten Punkte der Widerlegung fcheint von Luther fonft nicht mehr
beliebt worden zu fein.
138 Koffmane
Epistola
D. Lutheri de sacramento, scripta ad Ungaricum quendam
Dominum, cuius originale in curia Epperiensi habetur.
Magnifico Domino Francisco de Rhewa personalis prae-
sentiae Regiae etc. locumtenenti ac Comiti de Thuroz in
Sclabina, Domino suspiciendo.
Gratiam et pacem in Christo. Venit ad nos clarissi-
mus vir, Magnifice Domine, Jacobus a Zeghedino a T. M.
huc missus, ut hic disceret, ut asserit, veram theologiam.
Quem ut cognovi privato colloquio fuisse ex illo genere ho-
minum, magis aflectus sum et diligenter audivi ea, quae
nomine T. M. proponere debuit. Ac primo quaesivit, quid
sit sciendum de sacramento altaris in tanta seculi huius
perversitate, deinde argumentum primum protulit istud:
1. Memoria est absentis, sed sacramentum est memoria
Christi, ergo Christus est absens. Hic respondetur: Nos
oportere non sequi rationem neque dialecticam sed verbis
Christi simplieiter fide pura adhaerere, qui dicit de pane
porrecto: hoc est corpus meum. Quare in sacramento
vere est corpus Christi, ipsum scilicet quod pro nobis tra-
ditum est. Deus enim infra et supra facit et facere po-
test, quam nos intelligere possumus. Et Paulus dicit: cap-
tivantes in obsequium Christi omnem intellectum.
2. Idem respondetur ad secundum, scilicet corpus Christi
tam magnum non posse contineri sub specie panis et vini
tam modica. Nam verbum Dei et virtus Dei est supra
captum nostrum, quem captivare debemus. Nam aeque
fortiter et fortius sic argui posset: Divinitas Christi est in-
finita, immensa, aeterna, ergo non potest includi persona-
liter in corpore finito, dimenso, temporali, cum sit finiti
et infiniti nulla proportio. -Et tamen fides in verbum Dei
statuit Christum esse unum Deum et hominem in una
persona.
Zu Luthers Briefen und Tifchreden. 189
3. Ad tertium similiter dicendum, quod anima virtute
potest id corpus esse in diversis locis ut Christi corpus in
coelo et in sacramento, quia in his loquitur fides verbi:
hoc est corpus meum, et: sedet ad dextram Dei. Ratio
nostra est caeca et stulta, imo impia in rebus Dei. Ideo
est conquiescendum. Veritas igitur corporis non hic nega-
tur, quod in diversis locis esse credunt sed in uno loco
existens in coelo simul est in sacramento non in loco (alio-
quin videretur et palparetur) sed tamen vere realiter, in-
visibiliter et nobis incomprehensibiliter. Nec per hoc nega-
tur veritas corporis Christi sive in coelo sive in sacramento.
Nam nec angelus nec diabolus nec anima est in loco-
etiamsi sint in corpore vel in terra, aqua, aöre etc. Dei
opera sunt incomprehensibilia et verbum Dei vult non
comprehendi ratione.
4. De transelementatione substantiae panis non est lis,
quia non est periculum salutis si teneas panem et vinum
manere sicut nos tenemus sic tamen ut simul teneamus
panem esse vere corpus Christi, quod invisibiliter in sacra-
mento accipimus, ita et vinum vere esse sanguinem Christi
pro nobis fusum. Videntur autem homines illi ideo trans-
substantiationem excogitasse ut crasse et plane pro rudi-
bus docere possent, verum Christi corpus in sacramento
esse et nihil aliud substantiale. Nam substantia panis forte
eos impediit, ne possent corpus Christi verum ibi esse do-
cere. Sed non fuit opus panem tollere sicut in ferro ignito,
ut doceas ignem adesse vere et substantialiter, non est
opus transsubstantiare ferrum in ignem sed bene manet
substantia ferri cum substantia ignis, quemadmodum et
substantia panis cum substantia corporis Christi.
5. De quinto quod ex Augustino: sacramentum est rei
sacrae signum, ergo non potest signum esse ipsa res si-
gnata seu corpus Christi. Hic oportet dicere quod corpus
Christi in sacramento non est res signata scilicet ipsum
sacramentum seu signum cum pane. Signata autem res
140 Koffmane
est ipsa manducatio scil. cibus spiritualis, ut sicut in sa-
cramento comeditur realiter panis corpusque Christi tam
ab impiis quam a piis, ita comeditur a püs solis spiritua-
liter. Haec comestio seu cibus spiritualis est res sacra
signata. Hanc impii non habent, etiamsi sacramentum scil.
signum h. e. panem corpusque Christi realiter accipiant.
Panis enim solus non est sacramentum sed corpus Christi
cum pane simul comestum ab impis et pis. Sic Manna
fuit etiam sacramentum, etiam sine corpore Christi: res
signata fuit etiam comestio spiritualis h. e. fides in Christum
futurum.
6. Sexto, an sacramentum confirmat fidem? Respon-
detur: maxime! Si omne verbum Dei et omne opus Dei
alit et firmat fidem, maxime facit hoc ipsum, ut fidem ro-
boret. Nam audiens has voces: hoc est corpus meum tra-
ditum pro vobis tenetur et corpus domini pro se esse tra-
ditum non dubitare. At hoc credere est fidem roborare.
Sic dari a Deo corpus tibi est opus Dei ostendentis tibi
suam gratiam. At hanc gratiam oblatam teneris credere et
r
accipere ut vere oblatum et acceptum datumque }).
7. Ultimo, de adoratione Christi in sacramento, quam-
vis non sit institutum sacramentum pro cultu et adoratione
sicut Papistae fecerunt, qui hostiam reservatam in ciborio
et monstrantia populo proponebant, sed tantum ad usum
comedendi et bibendi, tamen est cum reverentia sumendum
et ubi credideris esse ibi verum corpus Christi, hac ipsa
fide tam adorasti et ipsa te cogit eum adorare. Unde vi-
tandi sunt privati missatores, qui in secreto consecrant.
Nescitis enim, an consecrent, an solus panis ibi sit vel non;
et manendum cum his, qui publice audiente tota ecclesia
consecrant. Hic non possunt fall. Sic etiam vitandos di-
1) Ein Zintenfled hindert die Entſcheidung, ob ratumque oder datumque
zu leſen jei.
Zu Luthers Briefen und Tifchreden. 141
cimus, qui solum panem in sacramento esse docent et non
corpus Christi. Hi qui institutionem Christi mutant, re-
vera solum panem habent, contra quos iam aliquot annos
pugnamus.
Haec mihi hactenus vester Jacobus proposuit et rogo
quia brevi tempore mox omnia potest proponere, velitis
eum hic aliquanto tempore alere, donec perfecte institutus
ad vos redeat et ecclesias docere possit. Interim tamen
si placet poteritis per literas prolixiores quaestiones vos
moventes illius ministerio dirigere et ego pro officio meo
libenter reddam rationem fidei meae. In Domino valete et
gratias ago pro misso munusculo. 1. die Octobris 1538.
Martinus Lutherus.
[Hanc epistolam quae nunquam antehac est edita trans-
scripsi ex libris D. Joh. Hederici Cal. May. 1596.]
II.
Zu Luthers Tifhreden.
In der von mir nunmehr aufgegebenen Abficht, die Wrampel-
meyerſche Ausgabe de8 Tagebuchs von Cordatus ausführlid zu
rezenfieren, nahm ich einen codex Rehdigeranus der hiefigen
Stadtbibliothek wieder vor, den ich früher nur flüchtig angefehen
hatte. Er giebt gar manches Rätſel auf; die mir Inapp zuge»
meffene Zeit geftattete mir nicht, "fie alle zu löſen. Jedenfalls
werden bie dürftigen Notizen Über den Inhalt die Fachmänner zu
weiteren Nachforfchungen reizen. Für die Melanchthoniana ift
bier weiterer Zumwadj8 gegeben, die neue Qutherausgabe wird zu
der Rezenſion der Briefe und Tifchreden unfere Handfchrift her»
beiziehen müffen. Von dem unten unter Nr. 1—2 befchriebenen
Material gebe ich felbft vielleicht fpäter einmal einzelne Stücke
befannt.
Die eben erwähnte Handfehrift ift cod. Rehdiger. nr. 295
in folio der Breslauer Stadtbibliothef gehörig. Eine faubere
Hand saec. XVII Hat vorn und Hinten ein forgfältiges alphabe-
142 Koffmane
tifches Regiſter Hinzugefügt und einige von den deutſchen Tiſch⸗
reden wie den Colloquiis abweichende Notizen eingetragen, 3. 2.
über Luthers Srankheitsanfall am 8. Sehr. 1533, wie Hier richtig
datiert wird.
Die Schriftzüge des oder find durch die 254fol. von einer
Hand. Über der Inhalt ift von verfchiedenen Seiten: herbeige⸗
tragen. Fol. 78 heißt es nad) Wiedergabe von Disputations-
thefen: A. B (oder V. B?) excepit Wittebergae a. 1555.
5 May, db. 5. am jelben Tage hat er es niedergefchrieben. Fol.
250: Hanc alteram chartam scripsit M. Paulus Eberus — —
Septemb. die XV. anno 1556. Über dies Jahr herab führen
feine Notizen mehr; ber Sammler muß um 1560 fein Buch ab-
geſchloſſen Haben. Die Handfchrift enthält nämlich in wiüfter
Ordnung: 1) Thejen zu Wittenberger Promotionen wie Tilmann
Heſſhus, d. 5. Mai 1553 (fol. 37), Heinrich Stenius a. 1554
(f. 48), Georg Aemilins, Simon Muſaeus und Peter PBraetorius
5. Mai 1554 (fol. 58), Paul v. Eiten (f. 78).
2) Kleinere Aufjäge 3. 8. fol. 10: Vitus Theodorus de
- effectu Interim; fol. 23sq.: die Wittenberger Fakultät über die
controversia Norimbergensium (de Wette IV, 480); fol. 30 ff.:
Acta Pomeranica a. 1555 und Urteil vom Buh D. Joannis
Knipftro „Von Ordination der SKirchendiener“ ; fol. 114: über
ein Buch des Otho Corberus; fol. 121: Vocation der Witten-
berger an Caſpar Eberhart vom 10. November 1558, quo ante
annos 74 natus est rever. vir, M. Luther etc.!!; fol. 122:
Univerf. Wittenberg an Chriſt. v. Dänemark a. 1559.
3) Briefe Melanchthons Y): fol. 101b: Xroftbrief an die
Schweſter des Hieronymus Weller v. 30. Aprif 1523; f. 111b
an Caſp. Erengiger (fehlt im Corp. Ref.), fol, 113 an Milich
== Corp. Ref. VII, 1157 und an Niderfteter = C. R. VII,
187; fol. 115b = Corp. Ref. VI, 140 (der Schluß wie in
cod. Mehn.); fol. 117b: Joanni, eccl. Goltbergensis con-
cionatori; fol. 118 = C.R. 1, 198; fol. 118: Pastori eccles.
1) 3m cod. Rehdig., nr. 258 der Breslauer Stabtbibliothel Yiegt ein
Driginalbrief Mel. an Ehilian Goltflein, ber im Corp. Ref. fehlt.
Zu Luthers Briefen und Tiſchreden. 143
N
Gottensis vom 18. Januar 1548; fol. 118b an Oflander =
C. R. IH, 405. Die Varianten vom gedrudten Texte bes Corp.
Ref. find höchſt bedeutend; ich mag fie nicht alle einzeln vor-
führen.
4) Briefe Luthers, wie fol. 1b ad Genesium — be Weite
IV, 81; fol. 103 an Stodhaufen — be Wette IV, 417 mit
wichtigen Barignten; fol. 104 an einen Ungenannten == be Wette
IV, 449; fol. 109: Luther an Melanchthon den 27. uni 1530
de Wette IV, 48, wichtig ſchon wegen bes Attributs Chriftophoro,
melde Mel. in der Auffchrift erhält; fol. 112b an Hieron.
Weller — de Wette V, 305; fol. 116b ein Stüd aus bem
Zroftfchreiben an Spalatin bei de Wette V, 678; fol. 120 an
Rühel — de Wette IV, 545 mit vielen Varianten; fol. 120b
der befannte Brief an Hänfichen Luther; fol. 12 = de Wette
V, 145 (ohne Auffchrift); fol. 129 an Phil. v. Heſſen —
de Wette VI, 239; fol. 131b an Joach. v. Weißbach vigilia
Bartholom. 1527. Obwohl diefe Briefe nım Abfchriften find,
fo werden die Hier und da erheblichen Varianten doch nüslich fein,
befonders da, wo bie Originale fehlen. Von einer Kollation habe
ih Abftand genommen. Hin und wieder find auch die Briefe
nit in extenso mitgeteilt, e8 kam dem Sammler wohl mehr
anf die troftreihen Stellen an.
5) Dicta Melanchthonis ähnlid denen, die in Briegers
Zeitfehrift IV, 326ff. aufgeführt find, auf fol. 253, fol. 4
(a. 1547); ferner fol. 165 eine Vergleichung Luthers und Mies
lanchthons. Ein Diktum, welches man jonft Luther beilegt, wird
bier auf fol. 184b dem Bhilippus zugeſchrieben.
6) Den bei weitem größten Raum aber nehmen Lutherſche
Zifreden ein. Der Grundftod zu denjelben Tann bislang von
mir nicht ermittelt werden. Aurifaber wie Rebenſtock weichen ab,
Cordatus und Lauterbach) haben anderen Wortlaut in ihren Auf-
zeichnungen. Soviel fteht mir negativ feft: der Sammler ift
weber Obrenzeuge, noch bat er die Mufzeichuungen eines folchen
zuſammengeftellt. Er nahm vielmehr Notizen, woher er fie nur
erhalten konnte, und dabei mag er wohl auch Bezugsquellen Haben,
von denen wir — wenigſtens nach der gegenwärtig möglichen
144 Roffmane
Kenntnis — nichts wiſſen. Hänfiger als bei Rebenftod und
Aurifaber und Cordatus wird das Datum einzelner Kolloquien
und die Namen der nterlocutoren angegeben. Häufiger ale in
anderen Nezenfionen erjcheint Severus (Schiefer), 3. 3. fol. 166.
167. 173. 126b, zweimal auch Cordatus. In der Anficht, daß
noch andere Gewährsmänner unjerm Sammler geholfen haben,
beftärkt mich die Wahrnehmung, daß einige Geſpräche fonft un-
befannte Anhänge erhalten, ja mande Stoffe ganz unbelannt find.
Einen Berichterftatter glaubte ich ſchon entdedt zu Haben, doch
hege ich felbft wieder Zweifel. Der in den Colloqu. ed. Bind-
seil I, p. 426 gegebene Abfchnitt hat nämlich in unferem oder
fol. 186b folgende Faffung:
Waren auch Klein da?
D. Jonas recensuit de Rudolpho Bunaw quod de ni-
hilo :sollicitus est, quam colligendi thesauros adeoque ex-
caecatus verbum Dei et quinque libros Moisi nihil ex-
istimat. Quia aliquando electori serum de causa verbi et
evangelü conferenti resp. K. G. das gehet euch nichts
ahn. — Resp. D. Waren auch klein da, recitans fabulam
Aesopi, ubi leo alia animalia invitans ad lautissima convivia
et cum etiam suem invitasset multa prompsit egregia fer-
cula potusque etc. Tunc sus ait Sein auch kleyen da.
Also sind unsere Epicuri auch. Nos in ecclesüs hic pro-
ponimus lautissima fercula nostrae salutis, remissionis pec-
catorum et gratiae Dei. So werfen wir den Russel auf
Und schauen nach Jochems thalern dicentes: seyn auch klein
da. In ein sau gehort treber. Sic mihi Ambrosio contin-
git saepius a meis parochianis dicentibus cum ad verbum
Dei monebantur: Ja lieber Herr Pfarherr, wen ihr ein faß
bier ihn die Firchen ſchrutet vnnd uns darzu ruft, da wolten wir
gerne kohmen.
In der Aurifaberfchen Rezenfion ift der klagende Pfarherr nur
Ambrofius R. abgelürzt. Ich rate auf Ambroſius Rudtfeld, den
fetten praeceptor in Luthers Haufe Geitſchr. f. hiſtor. Theol.
1860, ©. 546). Er würde alſo an die Äußerungen Luthers eine
Zu Luthers Briefen und Tiſchreden. 145
Grfahrung feines eigenen Lebens anknüpfen. Freilich ift von Auf⸗
zeichnungen des Rudtfeld fonft wenig befannt. Oder verdanfen
wir feiner Hand das folgende in ziemlich fonfufer Form über-
lieferte vaticinium Luthers, welches fi) auf fol. 142b findet?
De morte sua.
Anno 1545 in die Natali 22 Novemb. dixit, Ich wiel
nit Oftern erfeben, wen ich auf dem bete fturbe, fo wehre es
den Bapiften eine große ſchande. Ich halt, das ihn taufent Jaren
fein mensch fey auf der welt gewejen, dem die welt fo feind ge-
weien ſey als mihr und ich bin ihr auch nicht gutt vnd weis
nichtes den den todt in vita, da ich luſt zu bett, vnſer Berrgot
theme vnd nehme mich hinweg.
Als Beiſpiel, wie unjere Rezenſion von den belanuten ab⸗
weicht, vergleiche man das von Walk (Zeitihr. f. Kirchengefch.
I, 631) beliebte mit der Erzählung auf fol. 193:
De incantationibus |
Ein jcheffer hat D. Bruckenß fchaffen das fett geftolen. Ich
halt das all die teufel die EhHriftus zu SFerufalem und Judea auß⸗
getriben in porcos, bie fein in diefe limosa fomen Et fortasse
occassio est, cur evangelium hic praedicandum sit, scil. illos
expellendos esse. Iſt doch fol ftelen, zeubern und ſchiſſen das
der Teufel leibhaftig da if. D. praepositus Kemburgensis
conquerebatur se toto biennio nihil potuisse mulgere vor
den pleymweiffen. Der Teufel kam dem Pomerano auch ihns
Haus, das die magd vnd meid ſich mit putter plagten, nihil inde
lucrantes. Da fur der Pommer zu hohnet des Teufels ſchis
ihns putterfa® tunc desiit sathan Nam ipse est superbissimus
non vult contemni et aiunt: illos butijrum comedentes nihil
nisi stercus edere Ita mulier apprehendes murem crastino
die venit incantatrix laesa manibus et pedibus petens Deum.
Zu dem folgenden finde ich Leine Parallele (fol. 243):
Bon den korröden In der kirchen D. M. L.
Joannes princeps ab Anhalt dixit ad D. Lutherum ale
er gefatter zu Deſſaw zu bes furften kind geftanden: Mein Lieber
Theol. Stud. Jahrg. 1886, 10
146 Koffmane
Her Doctor, warumb habt Jr doch abbracht, das die priefter fein
forrod in der firchen in der predigt anhaben? Mich deucht, «8
wär ihnen ehrlicher denn alſo. Respondet Dns Doctor: Ich
habe es nicht abbradt und wolt e8 wär noch ihm brauch und
fonderlih in den Kleinen ftetlin ond Dorfern, do die armen pfar:
bern Rod anbaben, die do gar zuriffen find do niemand fchier
weis, welcher pfarher, burger oder pauer ſey Do wolt ich viel
lieber der pfarher het ein korrock ahn, damit er für ein andere
ond hohere perjon gehalten wurde Denn wen einer ein Markt:
meijter oder ftadtfnecht ift, damit man ihn kend fo tregt er ein
meſſer an der ſeyten ein felle ihn der Handt vnd farbe ahn dem
Ermel Sit einer ein burgermeifter und hatt auf dem Ratthaus
etwas zuthun, fo ift er anders gefleydet den ihm haus So wolt
ich das es ihn der kirchen mit den Kleydern auch ging.
Tune episcopus Brandenburgensis Mathias dixit: Her
Doctor warumb Habt ihr nicht einen forrod getragen? Respon-
dit D. Doctor: Gnediger Her, das ift derhalben gefchehen, denn
E. ©. wiſſen wohl, das die fappen fo heilig waren, das bie
Monche kein korrod bedurften Do ich nicht ihm korrock predigte,
wie e8 den ihm Hofter gewohnheyt war und das etliche von mir
fahen, folgten fie mihr und trugen auch Fein forröde, fahen aber
nicht die Vrſach, warumb ichs that. Alſo iſts herkohmen, Haben
mihr feinen band daran gethan, konde es noch woll leiden, das
folhe ftud ihm der firchen gebraucht wurden, wen nur abusus
dauon bleibt Vnd das vortrauen herein nicht gejegt wird ober
einem noth zur feligleyt, das gewiljen damit zuuorbinden darauf
machen Sp bin ich ſehr woll zu friede. Haec ille.
Befondere Aufmerkſamkeit hat der Sammler auf die Schlefien
betreffenden Stüde verwendet, wohl aus Xofalpatriotismus. So
findet fi fol. 143 die Gefchichte von dem Warnungsbriefe aus
Breslau: ein Pole mit 400 fl. beftochen werde nah Wittenberg
fommen, um Luther zu töten. Ferner eine Notiz, die den Brief
Luthers an Joh. Heß in Breslau vom 10. Dezember 1543
(de Wette V, 606) illuſtriert. Heß Hatte, wie feine Korrefpondenz
beweiit, viel mit Eheſachen zu tun. . Diesmal betraf es einen
Zu Luthers Briefen und Tijchreden. 147
angefehenen Patrizier Jakob Boner, bei welchem einft König Fer-
binand abſtieg. Er ftand mit Heß im Derfehr, wie wir aus
einem Billet (Rehdiger. Brieff. V, nr. 89) fehen, wo er dem
Heß eine feltene Münze endet, da er ihn nicht perfünlich auffuchen
dürfe. Der Fall ift auch in den Kolloquien (Bindfeil I, 443)
behandelt. Luther wurde wohl von einem Breslauer Studierenden,
dem es Heß aufgetragen, interpelliert und ſchrieb dann noch an
Heß jelbft, wenn anders de Wette V, 606 ein Brief it. Ich
gebe nun den Tert des Kolloquiums (auf fol. 135 unferer Höfchr.),
obwohl die Ausführungen Luthers nicht geradezu neu find.
Casus matrimonialis.
Interrogatus de easu Boneri, qui duxerat in uxorem
germanae sororis filiam dixit nequaquam hoc ei conceden-
dum esse ac si ita scripserit tamen esse consilium confes-
soris dietum perturbatae conscientiae, non esse legem. Nam
se non esse eum qui posset leges ponere ecclesiae aut rei-
pub. Ideo Bonerum hoc consilium non posse accipere pro
lege. et si seivit priusquam feeit et contra dixit, male imo
pessime fecit ac sententiae meae iniuriam facit. Nam ego
pavidis conscientiis contra papam dedi consilium. papa ita
dispensaverat; postea boni homines agnita veritate evangelii,
qui contraxerunt eiusmodi matrimonia voluerunt desperare,
aliqui etiam sibi mortem consciscerent; ibi ut consulerem
conscientiis et servarem animas precibus pastorum edidi
conslium non legem. Warumb heit Jakob Bener [fies: Bo-
ner] nit was ich fonft geichrieben Habe si legisset saltem ista
perfecte seiret sibi non esse hoc eoncessum. Ich Habe wol
in casibus pertinentibus ad confessionem et ad erigendas
conscientias andere consilia geben, habe mich auch drinne vor:
griffen, das ich die habe laſſen publiciren. Nue es ift gejchehen
fondeen es foll ihn die beicht gehören. Ich habe Gott Lob das
meifte wieerumb zu mihr bracht. vnd Babe nichts gethan ut fa-
cerem licentiam aliis sed ut consulerem eonscientiis in hora
mortis contra papam. Sonde der papa dispensiren, fo fonde
ich dispensiren auch. Darumb damnire e8 D. Heß getroft, las
10*
148 Koffmane, Zu Luthers Briefen und Tifchreben.
fih nichts anfechten. Ich wil ihn auch meine meinung fchreiben
Summa %d bin fein legislator und habe das gethan wie ein
beichtvater, der ſchwache gewiljen tröftet. —
Ebenſo findet fih die befannte Äußerung über Schwenckfeld
fol. 163 mit Zufäßen:
Stendfeldtt.
Stendfelt miserat D. librum suum Von der Natürlicleyt
Chriſti Titulus est Von der Heyligleyt vel heimlifeytt. Tunc
Doctor in mensa dicebat Es ift ein armer menfh, qui nec
habet ingenium nec spiritum, ehr ift attonitus wie die ſchwer⸗
mer Alle, ehr weis nicht was er plaudelt, fondern das ift fein
meynung vnd fein principium Creatura non est adoranda Quia
scriptum est Dominum Deum tuum adorabis etc. Darnach
gedendt ehr Chriſtus est creatura, Ergo joll ih Chriftum als
einen menſchen nicht ahnbetten Vnd fingirt zweene Chriftos, dieit
creaturam post resurrectionem resumi, Deitatem transfor-
matam et ideo esse adorandam. Vnnd betreugt die leut mitt
dem herrlichen nahmen Christi wie ehr fchreybt zum (preus)
preuß Chrift, die finder gehen fchlecht Hindurh. Credo in J. C.
jo wielt mir der Quare zweene Chriftus machen, einen der ahm
Creug hengt vnd einen andern qui ad patrem ascendit, Ich
jollt den Christum nicht anbetten der ahm Creutz hengt und auf
erden gehet, ehr ließ ſich traum felber ahnbetten, do ehr für ihm
nieder fiel et dieit Qui credit in me credit in eum qui misit
me. Der fantaft zeucht etliche vocabula de ultimis verbis Da-
vidis geftolen, damit wiel fich der tropf auch fchon machen, als
communicationem Idiomatum et in deitatem persone, miſcht
alſo mitt under vnnd will fagen darnach, Ich Habe es auch alfo
gemeinet, ehr wil mich lernen, was Chriftus ift und wie ich ihn
ſoll ahnbeten, ich habe es Gott fey gelobt viel bejfer als ehr. Ich
fenne meinen Chriftum woll, darumb las ehr mid vnvorworren
[Correktur führt fort: vngeheit. Kete d. ei mein liber h. ir
seit auch gar zu grob. Resp. di buben machen mich selbst
so grob.].
Rezenſionen.
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1.
Wright, Ch. Henry Hamilton DD., The book of Ko-
heleth considered in relation to modern criticism,
and to the doctrines of modern pessimism, with &
critical and grammatical commentary and a revised
translation. London: Hodder and Stoughton 1883,
pp. XXVI u. 516. 12 ß.
Wenn ich fpäter, al8 mir lieb ift und ich beabfichtigt Hatte,
die Lefer diefer Zeitfchrift auf das oben bezeichnete reichhaltige und
gelehrte Buch eines Belfafter Geiftlichen aufinerfjam made und es
zum Gebrauche empfehle, fo muß ich fürchten, den einen zu fpät,
den anderen zu früh zu kommen: zu fpät für diejenigen, welche
Ichon aus eigener Prüfung die Arbeit Wrigbts fchägen gelernt
Gaben ?), zu früh für diejenigen, welche nach feiner eigenen Ankün⸗
digung in der „Augsburger Allgem. Zeitung“ (1884, Nr. 28,
©. 402 u. 3) von dem katholifchen Theologen Bickell erwarten, daß
er erit durch Berfchiebung der Blätter uns den echten Koheleth zu
fefen geben werde 2). Um nach beiden Seiten den Schein des Über-
flüffigen zu vermeiden, werde ich mich thunlichſt auf ſolche Be⸗
merkungen befchränfen, welche den Kreis der bisherigen Erkenntnis
eventuell zu erweitern und diejenigen behutfam zu machen geeignet
find, weldye durd) bloße Umordnung der Sentenzenreihen das Bud)
Koheleth zu feiner urfprünglichen Klarheit und Volllommenheit mei-
nen herftellen zu fünnen. —
Zunächſt aber möchte ich Fonftatieren, daß wir Deutfche allen
Grund haben, dem Verfaſſer unjere® Buches zu danken; denn
152 Wright
erftens bat er auf Grund einer ausgebreiteten Kenntnis der ein-
ſchlaägigen deutfchen Litteratur den englifchen Bibellefern die ‘Mög
lichkeit des Einblickes und des Eintrittes in die wiffenfchaftlice
Forſchung der deutfchen Theologen über den Koheleth verjchafft,
und zweitens hat er uns Deutichen den Kampf der Meinungen in
England urfundlih und ausführlicher vergegenwärtigt, als ein
deutfcher Forfcher es können würde. Auch die eigentiimlich eng
liſche Beranlaffung, die zu feinem Buche geführt hat, rüdt «
uns nur um fo näher. Der DBerfaffer Hatte nämlich im Jahre
1880/81 die Donellan lectures am Trinity⸗College in Dublin
zu halten, und zum Thema für diefelben die Würdigung bes Pre
digers als eines Beftandteiles der heiligen Schrift und die Red:
fertigung feines Peſſimismus gegenüber dem ganz anders begrüns
deten der allermoderniten Philofophie gemacht, deren Maffifche Der
treter die Deutihen Schopenhauer und v. Hartmann fin.
Zu diefem Behufe hat er gerade die Lehren diefer beidem deutſchen
Philofophen ausführlich dargelegt und mit der Tendenz des Pre
digers Tonfrontiert; der letztere erfcheint danach hier in einer Be
leuchtung, welche jo gründlich in Deutfchland, das doch am meiften
Intereſſe daran hat, wohl noch nicht vollzogen worden ift. Aber
der Derfafjer Hat fich nicht damit begnügt, diefe mehr allgemeinen
Betrachtungen anzuftellen, fondern die ganze zweite Hälfte feine
Buches der genaueften Unterfuhung des Textes in feinen Details
gewidmet. Diefelbe giebt eine genaue (da S. 283 in 1, 2 va
nity of vanities einmal ausgefallen, oder in 1, 10 >> mit al
ready anftatt mit long ago wie 2, 12 gegeben ift, u. Ähnlichet,
bedeutet nichts), in Seltionen mit Überfchriften eingeteilte Über
fegung, einen biefelbe rechtfertigenden grammatifchen und keitiſchen
Kommentar und endlich eine Neihe von gelehrten Exkurſen, meld:
teil die talımmdiichen Angaben über die Kanonbildung gründlich er
örtern, teild die grammatiſchen und lexikaliſchen Eigentümlichkeiten
des Predigers zufammenorönen. Der erfte Teil aber mag dm
Leſer die Fülle feines intereffanten Inhaltes aus den Überfchriften
erichließen laſſen: das erfte Kapitel behandelt die Aufnahme des
Koheleth in den altteftamentlichen Kanon; das zweite fucht (dei
Natur der Sache nad) nicht mit zweifellofer Evidenz) zu erweiſen,
The book of Koheleth. 158
daß das Buch Jeſus Sirach den Koheleth vorausfeße und ge⸗
braudje; das dritte (mit befjerem Erfolge) das Gleiche inbezug
auf die Weisheit; das vierte und fünfte behandeln die Frage nach
dem Berfafjer des Koheleth in ausführlicher Polemik gegen die
traditionelle und die revolutionären modernen Anfichten (für
Wright ift der Verfaſſer ein Paläftinenfer der perfifchen Zeit);
das fechfte und fiebente Kapitel belenchten in der fchon gefennzeich-
neten Weife den Peffimismus des Buches, und das achte behandelt
fehr ausführlih die Schlußpartie der Betrachtungen Koheleths.
Was aus diefer Überficht erwartet werden mag, das kann ich aus
meiner Lektüre als wirklichen Vorzug des Buches beftätigen, daß
dem Leſer des Prediger nicht leicht eine Frage aufftoßen wird,
möge fie nun aus der Weflerion über den inhalt oder über den
Wortlaut oder über Ausfprache und Accentuation des Textes here
vorgeben, über die er bei Wright nicht zuverläjfige Auskunft oder
anregende Gedanken erhielte. Mit diefer Anerkennung verträgt es
fich jehr wohl, wenn ich nunmehr einige Punkte nambaft mache,
in denen ber Verfaſſer mir nicht weit genug oder irre gegangen
zu jein fcheint.
Der erfte ift die Würdigung der in unferen LXX ftehenden
griehifchen Überfegung des Predigers. Der Behauptung
Grätzs gegenüber, daß fie die des Aquila fei, glaubt Wright
mit der Annahme auszulommen, daß die bier vorliegende Über
ſetzung eine ältere, aber freilich durch manche Änderungen und
Interpolationen aus Aquila verbefjerte fe. Ich Habe den umge
fehrten Eindrud.
Die ganze Überfegung zeigt dasfelbe pedantifche Streben, jedes
hebräifhe Wort nach jeiner Etymologie und in derfelben Weiſe
wiederzugeben, dieſelbe ftlavifche Gebundenheit an die hebrätiche
Wortfolge, diefelbe Gfleichgürltigkeit gegen das griechifche Ohr,
welche für Aquila charakteriftifch ift; fo iſt z. B. boy) =
aosßoös dyooodvnv (7, 27); das Nomen byd mit Suffig ftets
in > und by zerlegt und mit 6 reg” auzod wiedergegeben; by
233 = nregi Aoyov, nA77 53 dagegen rregl Anlıks (8, 2; 3, 18;
7, 15), und owyB = xadodovs (6, 6; 7, 23). Wenn ih
aljo an ber legten Stelle zwifchen oz und xasodovs rroilag xa-
154 Wright
008 (yr) zapdiav wov eingefchäben finde rAsıozaxıs owm-
gevostai oe xal, fo ift diefes und nicht jenes für eingetragen zu
erachten, zumal auch ſonſt teil8 dur Schreibfehler, teils durd
Mißverftändnis, teil® durch die Abficht, einen ſprachlich und fad-
lich unanftögigen Text herzuftellen, die Überfegung um ihren ur:
ſprünglichen Wortlaut und den darin erfichtlichen genanen Anſchluß
an die hebräifche Vorlage gebracht worden iſt. Diefes alles hat
namentlich bei der Behandlung des dem Aquila eigenen avv für
acenfativifches na zuſammengewirkt. Etwa 14 Male ift e8 unver:
ündert und unverfennbar ftehen geblieben. Werner überall da, wo
nach der Hebräifchen Vorlage bany oder arms mit adv um
as oder 6 nnas oder was 0 überfeßt war. Der Abfchreiber
hat hier meift aus dem barbarifhen ovv und as das gut
griechifcge avunas gemacht. Daß diefes nämlich dem urfprüng-
lichen Texte fremd war, geht daraus hervor, daß, ſoweit ich fehe,
hebräifches 57 nie mit ovuneg, fondern immer nur mit was
wiedergegeben ift, und ovunas nur da ſich findet, wo nn (=
ovv) davorſteht. Hat aber bier der Abfchreiber oder Heraus:
geber fo oft den verzeihlichen Tsehler gemacht, daß er die Ac-
eufativbedeutung des ovv verfannte und das Wort mit 7zas,
feine Bedeutung verändernd, zufammenlas, fo dürfen wir anneh-
men, daß ihm diejes auch fonft widerfuht. Wenn alfo 5, 6:
N Dynbam mx Übertragen ift mit: od) zov Heov Yoßad, jo
muß dafür ouv wiederhergeftellt und die Vermutung abgemiefen
werden, als ob nx = Ax ausgefprochen worden ſei. Ebenfo ift
die Überjegung in 5, 3: aA WER = od) oiv dom dar
evEn, deren ovv nichts Entfprechendes hat, eine Umleſung des
barbarifchen adv do in das griechifhe od 00» doa. De
gleichen muß in 7,.15: 0Uv Tovro ovupovws ToüTo Erroinoev
verändert werben in das dem hebräifchen genau entfpredhende av
roõro Uvupwvws Tovsm Erroinosv, es ift das eine Verwech—
felung von Dativ und Xccufativ, wie die Vertaufhung von «v-
Jodno ös mit Avdgwros @ in 2, 21.°) Unter diefen Um-
jtänden verliert e& fein Gewicht, daR ungefähr ebenjo viel oder
noch etwas mehr Fälle gezählt werden, in denen hebräiſches nn
nicht mit ou» wiedergegeben iſt. Ein Zeil derfelben kann daran
The book of Koheleth. | 155
erflärt werden, daß die hebräifche Vorlage den Accufativ abwei⸗
chend von unjerem Zerte nicht durch min eigends Fennzeichnete, ein
anderer aber ficherlic) daraus, daß das im griechiſchen Text ftehende
ovv unterbrüdt oder mit anderen Wörtern, 3. B. dem Accufativ
des Artikels, verwechjelt wurde. Dies ift gefchehen in I, 13, wo
inv xapdiav mov dem hebräiſchen »>5 nx entfpricht, während der
Accufativ 3b und der Nominativ in 1, 16. 17 mit xeodiar
und xagdia mov ohne Artitel wiedergegeben find. Offenbar ftand
an eifter Stelle av» (77V) xapdlav mov und muß biefed auch
3. B. 8, 9. 16 wiederhergeftellt werden.
Man wird um jo mehr geneigt fein, mir hierin beizuftunmen,
wenn man beachtet, daß der griechifche Text mit einer Nachläffig-
keit und Achtungslofigkeit gegen feine Eigenart behandelt worden
ift, welche grell gegen den Reſpekt abfticht, mit welchem der Über:
feger felbft dem Buchftaben feiner hebräifchen Vorlage gegenüber:
geftanden hat. So iſt 2, 5 aus £UAov nnayxagrıov — 55 yy
398 das unverftändliche &. u@v xuprsod geworden; in 10, 10
aus zei nsoloosın Tod avdosiov ovoplz, was genau dem
hebräifchen am Aa ann ("an als nom. concret. gefaßt)
entfpricht, durch Zertrennung von avdgeiov in zwei Wörter <o
avögi od voyle. Desgleichen in 6, 1 erst (j. 2, 17) in Uno
verlefen; in 5, 9 zig nyanınoev Ev nAndeı oV To yayınua, was
dem hebräifchen (sc. yawı) mean n5 NOR2 me ımı verdreht in
das finnlofe aüzoy yayınuaz ferner in 7, 8, wo hebrüiſchem
and 25 ne Tamm jeßt entfprechen foll sad anmoilvor znv xup-
diav siysvsiag adrov, ftand urfprünglid. zei aroAdvoı
odv zapdiav eüdnviag (oder sddvnias) aurov. Der Über
fetger Ins -upo (ef. 20, 6), während fein hebräifcher Text nupn
gelefen und überſetzt werden follte: „und Sorglofigkeit tötet die
Einficht”. Weniger auffällig ift e&, wenn pyw on 2, 21
wiedergegeben fcheint mit Ev9ownos Orı uoxXsos adrod; 88
muß dafür nach 4, 9; 5, 18; 6, 2 gelefen werden od u. av-
zod, oder wenn 2, 22 Örs gefchrieben fteht für richtiges oͤre vi.
Hier ift = in der Endfilbe des vorhergehenden Wortes unter
gegangen, wie das ys von dem lonftanten xuiye vor yıydaxw in
3, 12, wo es jegt heißt zei yıraazw, aber xaiys yıyadaza
156 Wright
beißen muß. Ähnlich ift es, wenn ftatt des regelmäßigen &Cr/enoer
für Wp> (vgl. 3, 15; 7, 26. 30; 12,10; &xlnzeiw ift — vn)
in 7, 29 69 EnmsLnenosv fteht; hier ift das Err aus dem durd
den hebräifchen Tert garantierten Zrs entftanden, und in 12, 9 ift
das urfprüngliche &rs — hebr. 1y geradezu in or umgefchrieben.
An die Grenze der fahlichen Verbefferungen führt der Fall
7, 18 (19), wo wir ftatt des hebräifchen: „und auch von diefem
v ran bu“, das im Zufammenhange völlig unbrauchbare ur
Bıavns Tv xeipd vov leſen. Hier ift aus der umferem
Überfeger nach 10, 4; 11, 6 üblichen Wiedergabe von man bx
duch un ayns erft an avnjs, dann durch itaciftifche Aus
ſprache us vns geworden und das eliminierte bu duch Neuein-
tragung von un wieder zu feinem Rechte gebraht. Schon von
früheren Forſchern ift in 11, 9 dumuog xai ur) als freie Zuthat
angejehen worden, weldye den anftößigen Sinn verbeffern follte.
Aber aus dem von mir Angeführten erhellt, daß diefelbe nicht dem
Überfeger zur Laft gelegt werden darf. Sie ift ebenfo einge
tragen wie in 7, 22 das Subjelt aosßeis oder in 7, 3 das Ob:
jekt ayaIdv, oder in 2, 15 die exegetiſche Gloſſe deors 0 yon.
&x negiocevuarvog Arlst. Der Urheber derfelben bezog nämlich
gegen die Wbficht des Überfegers rzegsood» ftatt in den Fragefat:
„warum bin ich dein übermäßig weife geworden?“ vielmehr, wahr:
“ fcheinlich nachdem xad vor eAainoa verloren gegangen, zu Awleir
und meinte, der Redner verurteile fich als einen, der fich zu
„maßlojen Reden“ Habe verleiten lafjen. Daß fein Weifewerder
ein vergebliches geweſen, ließ fi) dann aus dem Urteil des Neben
den über fein rzsosa0or Anksiv entnehmen, wenn man den Ober
la Binzudachte, daß es eben des Unvernünftigen Weife ſei, je
Kennzeichen, dx nepsoosvuarog Andsiv. Iſt ja doch jene falſche
Ronftruftion von zzegıvcov als Anfang eines neuen Ausſageſatzel
ftatt als Ende der Frage noch heute, wenigſtens in der römiſche
Ausgabe, welche allein ich bier zugrunde legte, üblich. Ebenſ
falfch exegetifch ift auch die Gloſſe auz)v xai som in 7, 27
Die urfprüngliche Geftalt der Überfegung, wie fie durch die An
[ogie des ganzen Werfes fichergeftellt wird, ift hier dem hebräiſch
Texte genau entfpredhend: xcà Eevgloxw Eyo TIIxEOTEEOV un
The book of Koheleth. | 157
Yavarov 0UV Tv yuvalsa Nris zul. Der Urheber der Gloſſe
hat gewiß ebenfo wenig wie der urfprüngliche Überfeger aus dem
hebräifchen 9 neben rrıxgorsgov auch noch da8 Ego (nm)
herausgellügelt; fondern da der Redner gejagt Hatte, er habe
Weisheit gefucht, fo konnte er nicht glauben, daß berjelbe fage,
er babe Bittereres als den Tod gefunden: nämlich jenes verderb-
[iche Weib. Er legte fih die Sache vielmehr jo zurecht: der
Redner habe die gefuchte Weisheit gefunden und vermöge der
fo erlangten Einficht bezeichne und nenne er nun das Weib als
ein fchlimmeres Übel denn den Tod. Denn nad) V. 26 wollte
er ja mit der Weisheit zugleih die Erklärung für die Unvernunft
der frevelhaft gewordenen Menſchen finden, und das hinterliftige
Weib konnte in vielen Fällen als Urſache der verderblichen Be⸗
thörung der Menfchen gelten. Er verftand alfo svgloxw Eyo,
welches fein zweifellofes Objelt in av» 779 yuvaiza hat, durch
Ergänzung von avenv als auf die gefuchte vopl« bezüglih und
ließ die folgenden abrupten Worte als Ausdrud der damit gewon⸗
nenen Einfiht in den Grund der Bethörung erfcheinen, indem er
hinter averv ergänzte: zu dom.
Nach diefem allen habe ich auch Bedenken gegen die unbegreif-
liche Wiedergabe von um na nyı ob in 12, 9 durch Edidake
yyaocıy oUv ov üvdowrov. Da dvdowros immer hebräiſchem
Dan entfpricht und dy fonft Ads ift, feheint mir avSomrov
eine Deutung von aiov zu fein, und nach der Konftruftion von
Jıddaxeım mit boppeltem Accufativ lag dem Lefer für urjprüng-
liche8 our Tod aiwvos (Gen. obj. abhängig von yyaocıy mit
covOv = nn, wie 9, 15 &urjodn oVV Tod ardoos) nüher zu
fehen avv Tov aiova (ANOUN —= AIQNA) und biefes zu
deuten in quy 709 avdgwrrov. Geſtützt wird diefe Vermutung
erftens durch die Wahrnehmung, daß nah 3, 11 u. 14 vom Bre-
diger paffend gejagt werden konnte, er habe den aidv und zo
aiovıov inmitten der Eitelfeiten zu erfennen und feine Erfenntnis
zu lehren gejucht, und zweitend durch die Erwägung, daß aus he-
bräifchem obyr nn ny7 wohl dyn ns ny7 und anderſeits durd)
Bermittelung von aiwvos wohl avIewrsov werden konnte, aber
nicht fo leicht oym zu DIN = 709 &vdgwrrov, ober umgekehrt,
158 Wright
Endlich auch gegen die jegige Lejung von 10, 10. Hier ent-
fpriht zwar: mrodsmnov Erdgaks xal dvvausıs dvvanwoeı
ganz genau dem hebräifchen Yan om 5pbp DnD, aber um fo
befremdlicher fticht gegen den vorhergehenden Sat bin mp Dn,
xD im, welcher allerdings finnlos iſt, die griechifche Überfegung
ab: dav &xrrson To osdnoiov xal adroc. Wenn hier darzeon
nicht in &xAirn (= 19 = mp) zu korrigieren ift, fo muß &x-
reinrew in dem Sinne von „außer Kraft, außer Gebrauch, Gel-
tung, außer Wert fommen“ gedeutet werden, und xai avzos jagt
die Folge aus, ebenfo wie zat—Ivvaudası bie Kolge von 7zo0c-
wrrov Eragafev bezeichnet. Dann ift aber Mar, daß für zei
evsds urſprünglich daftand: zei Toüraı == „fo wird «8
roftig*, und dag ber Überfeger ftatt der unverftändfichen Buch⸗
ftaben nd, die nah Sir. 12, 11 und Ezech. 24, 6. 11. 12
in einer Ausfage über das Eifen verftändlicheren Idebn im hebräi⸗
ſchen Texte zu fehen glaubte. Der des Hebräifchen unkundige
Schreiber fing mit xai duvansıs dvvandosı einen neuen Sat
an, ber daS folgende oople zum Subjefte hatte. Dann mußte
rrg050709 Erapafe der Nachſatz zu dem Bedingungsfage ddv—
to osdnoıov fein und in loves — aurög fand er das Sub-
jet. In Wirklichkeit lautete aber der Hebrätfche Text, aus wel:
chem der unfrige wie dis griechiſche Überfegung ſich nach verjchie-
denen Seiten entwidelt haben: „Wenn ſtumpf ift das Beil (np,
Dittelbildung der Gebrechen), fo wird er ſelbſt (nämlich der Holz⸗
bauer, B. 9) müde (myb nm); die Schneide gefchärft, fo fteigert
er die Kräfte, und noch befjer (nümlich als die Schueide des
Beiles) iſt es, Weisheit bereit zu halten.“
Indeſſen lege ich fein Gewicht darauf, daß mir der Lefer an
diefen beiden Stellen zuftimme; das zuvor Beigebracdhte genügt
völlig, um die Behauptung zu rechtfertigen, daß unfere griechifche
Überfegung, wenn philologifch zu ihrer urjprünglichen Reinheit her⸗
geftellt, eine außerordentlich treue ift, fofern fie Wort für Wert
den ihr vorliegenden hebräifchen Text wiederzugeben bemüht war;
daß fie deshalb als ein zuverläffiges Kontrofimittel für den majo-
retiſchen Text angejehen werden muß, zu welchem ihre hebräifche
Vorlage ein fo enges Verwandtſchaftsverhältnis Hat, wie es ſouft
The book of Koheleth. | 159
zwijchen zwei Abjchriften eines und desjelben Archetypus ftatt-
findet.
Unter folchen Umftänden Halte ich es für erlaubt und geboten,
überall da den Text der Überfegung vorzuziehen, wo er verftän-
digen Sinn giebt und der maforethifche nur durch Künfte zu Ver⸗
ftande gebracht werden kann. Wenn ich aljo z. B. 8, 12 ni
D Jam nun 7 lefe, was weder mit commits evil a hundred
times and prolongeth his days, noch ſonſtwie erklärt werden
fann, dagegen bei dem Griechen: Emoinse To rseunoov ano
TOTE za ATRO Maxgdınvos adıwrv, fo zeigt mir biefe unnatür-
liche Auflöfung von 7I89 in 7jnp, daB ihm durch feinen hebräi⸗
ſchen Text das TH = «ro aufgenötigt gewefen fein muß, alſo
arso rors einem hebräifchen Worte entſprach, deifen Anlaut nur
d = 19 gedeutet werden konnte; unzweifelhaft las er alfo ftatt
de8 unmöglichen Idp das lautlih und graphiſch fo überaus ver-
wandte ideh. Segen wir dieſes wieder ein, fo erhalten wir im
Hebräifchen die fo belannte Rede des angefochtenen Frommen:
„der Sünder hat ſchon feit lange (mm) böfe gehandelt und
treibt fein Wefen in einem imgeftört fort* (vgl. Pi. 73, 12).
Ich verzichte einftweilen darauf, weitere Beifpiele zu bringen,
und erkläre von vornherein, daß auch der Archetypus, dem unfer
majorethifcher und der Text des Griechen entfprungen find, wie es
bei einem fo fchwierigen Buche nicht anders zu erwarten ift, fchon
eine ganze Neihe von Korruptionen erlitten bat, welche wir des-
halb nicht mit Hilfe der: griechiſchen Überfegung und bei unferen
heutigen Mitteln, wo überhaupt, nur dur Divination heben
können. In diefer Überzeugung habe ich große Bedenken gegen
die Zuperläffigkeit der ſonſt fo verdienftlihden und fleifigen Zus
lammenftellung von Idiotismen des Prediger, wie fie in unbe⸗
dingten Anflug an Delitzſch nun auh Wright (S. 488 bie
500) gegeben Hat. Diefelbe beruht auf der zwar wicht eingeftan«
denen, aber doc vorhandenen Vorausfetzung, daß die maforethifchen
Konfonanten vom urjpränglichen Berfaffer herrühren, und daß bie
maſorethiſchen Vokale und Sagteifungen den Sinn ausdrüden, den
der Verfaffer mit feinen Konfonanten verband; fie bezeichnet alfo
oft ale Eigentümlichkeit der Sprache des Berfaffers, was nicht
160 Wright
nach dem Zwange der natürlichen Art der Rede in grammatifcher
und logischer Hinficht umd der Übereinftimmung aller Zeugen, fon-
dern bloß nach zufälliger Anficht und ungellärter Empirie ale
ſolche erfcheint.. Mir gelten deshalb eine ganze Reihe von Ab-
ſonderlichkeiten des Ausdrudes nicht als das definitiv gültige Re⸗
ſultat der Forſchung, ſondern vielmehr nur als ein von ber künf⸗
tigen Unterfuchung zu löjendes Problem. Wer darf denn irgend-
ein Gewicht legen auf Formen wie nun, nyio neben nun? Oder
worauf gründet fih die Behauptung, Koheleth bilde das Feminin
des Partizips von ny>, nit may oder nayt, fondern nyı in
10, 5?°° Warum behauptet man nicht, das wirklich daftehende
Wort nuw fei nah Esra 6, 15 die bekannte Schafelbildung
now? In Wirklichkeit foll aber nach der griechiſchen Überfegung
(EE7A9sv) ausgeſprochen werden nyıy und der Sinn ift: „Wie
in einem Verſehen gejchieht e8 (oder gejchah e8), daß ausging vom
Herrfcher (ein Edikt, Dekret), da wurde die Thorheit in hohe
Stellungen eingefet“. Auf diefe Weife verwandelt fich die ein-
feitig empirifch angenommene Spracheigentümlichleit des Predigers
in die Analogie des gemeinen Hebräifch zurüd.
Es fei mir geftattet, dieſes auch an einigen Beiſpielen für
den aparten Wortvorrat unjere® Buches nachzumeifen! Wright
verzeichnet nach Delisfh auf S. 490 das Wort oz als bezeich⸗
nend „Mann“ im Gegenjag zu myın auf Grund der Stelle 7, 28.
Indeſſen nach der gemeinen biblifhen Anſchauung, welche den
oyx, ber das Bild Gottes unter den lebendigen Wejen der Erde
repräfentiert, Männlein und Fräulein umfafjen läßt, ift es ſehr
unwahrſcheinlich, dag Koheleth, welcher doch ſonſt whx (6, 2. 3;
9, 15), os (9, 14) und we (12, 3) kennt, von der myın
nicht den win als die andere Hälfte des Geſamtbegriffes oıx ha⸗
ben unterfcheiden wollen, fondern vielmehr den on, al8 gehöre
das Weib nicht dazu. Die Behauptung wird aber geradezu un⸗
verjtändlich, wenn man die angebliche Fundftätte derjelben anfieht.
Wenn es hier heißt: ınnso nbad rn bin = „Menfchen habe
ich einen auf taufend gefunden“, fo ift ſowohl mx, als auch bin,
da Zahlendifferenzen nur bei Individuen derfelben Gattung eine
faßbare Broportion ausdrüden, durch DIx zu vervollitändigen (vgl.
The book of Koheleth. 161
Hiob 33, 23); und daß der Redende unter den Begriff on aud
die Weiber fubfumiert, giebt er zu erfennen, wenn er fortfährt
„aber ein Weib babe ich unter diefen allen nicht gefunden“. Wenn
unter den DIy aud Weiber zu erwarten waren, nur dann War
ed ein wichtiges Urteil, zu jagen, daß dieſer Erwartung entgegen
unter allen den Einern, welche der Redende „fand“, nicht ein
einziged® Weib war. Voöllig finnlos wird aber diefes felbe Urteil,
wenn wir die voraudgegangene Sentenz fo formulieren: „Männer
babe ich auf taujend einen gefunden.” Denn wie follte er unter
den Männern auch Weiber fnchen wollen? In Wirklichkeit denken
aber die Ausleger, Koheleth wolle jagen: „Auf taufend Men—
chen babe ih wohl einen Mann gefunden, der dem Namen
Menſch Ehre machte, aber nicht ein Weib." Aber dann ergänzen
fie zu nn das nicht daftehende Wort whn und das vor nn ftes
hende Wort on konſtruieren fie ausſchließlich zu mb. Koheleth
ſelbſt aber fagt das Vernünftige, daß unter den wenigen Men—
Then, die wie Einer auf Zaufende der Nedende gefunden oder für
ſich gewonnen bat, fein einziges Weib war. Wenn der Ausleger
diefen Sat nicht brauchen Tann, fo ändere er diejenigen Punfte
feiner Auffafjung des Zufammenhanges, die ihm die Annahme des-
felben unmöglich) machen; aber er darf nicht als Sinn des Autors
etwas feßen, was dem Wortlaute widerfpriht, um es dann als
eine Eigentümlichkeit des Autors zu verzeichnen, daß er hier mit
dem Wortlaute einen geiftigen Inhalt verbinde, der fonft auch bei
ihm nicht darin enthalten ift.
Auf derfelben Seite begegnet jan) (12, 9) = to weigh als
Singularität. Hier hätte follen fhon der von Wright felbft an-
erkannte Umftand hindern, daß das Wort und diefe Bedeutung
auch nicht im Talmudiſchen fich findet. Noch mehr aber, daß der
griechifche Überfeger (æcà ovs dkigviaoesaı xoauıov nragaßo-
Aov) vielmehr in feinem Texte las: wrbum pm pm fm. Da
aber nad der Anlage des Sates zwei verfchiedene Thätigkeiten als
neben einander hergehend in demfelben Subjekte gejchildert werden
ſollen, ſo iſt das Wam vor pr richtiger als das Yod des Grie-
hen, nur muß es zu zı gezogen und Yayy) ausgeſprochen wer⸗
den. Dann lautet der Sag: „Und fein Ohr ergründete, fpürte
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 11
IR Wright
ang die Einrichtung (die Kompafition oder Architektonik) van
Spricgwörtern (der Sentenzen) in großer Anzahl.“
Auf ©. 401 begegnet ebenio 32 ala sin finguläres Wort
für te search ont, quf Grund vpp 9, 1; na mindj; wäre dieſer
Text fiher, fo müßte er mit Hilfe des dem Koheleth bekannten
Berbs 2 erffärt werden. Da aber, wie ©. 405 vom Ber-
ſaſſer ſelbſt gugemerkt ift, der Grieche dafür Hat nv my) — wie
1, 16, und ohne Zweifel 69 ein einfacher und notwendiger Fort⸗
Ichritt ift, hinter dem erften Sage: „dieſes alles Iegte ich meinem
Herzen zur Betrachtung por“, den anderen folgen zu laſſen: „und
mein Herz betrarhtete (oder fah ein) dieſes alles“, wie nad dem
Briergen quch in 1, 16. 17, fo foflte nicht daran gezweifelt wer⸗
den, daß der hebräifche Schreiber das ms van horliegenbem msn
in nn umgplefen und infolge befjen daß verhfeibende 7 mit 15%
zuſgmmen dann dag MRätfel map ergeben Kat.
Auf ©. 492 nehme ich zugleih in Anſpruch hie Augebe 9 ya
== pxcept of und van = to enjoy, heide begründet anf bie
Stel 2, 25: ao pın wım on Dam w. Ich laſſe es auf fih
beruhen, ab im Talmudiſchen win fatt „angeben, leiten, zu er⸗
fahren bekommen“, jo allgemein empfinden hedeutet, daß es
au gleich „geniehen" gedacht werden kann, und ob 79 yım wirklich
== 0 9 borfpmme. Ich Kalte «8 auch für gleishgültig, ob mon
mit dem hehraiſcheng Texte up oder mit dem griechiſchen Ann
leſen wi; im erſteren Falle hat man uur anzunehmen, daB Der
Berfafjer ein pointiertes Gotteswort eitiert, welches als Sprich⸗
ort im alfgemeinen Gebrauche war, wie 3. 8. Ser. 80, 2] ober
Deut. 32, 39 ſohche werden mochten. Aber bedenklich macht wich,
daB aa yım natürlicherweiſe nur bedeuten Fünnte: „ich Gott Pin
(oder „er, Gott it“) allein der wahrhaft Genießende, der ſich auf
Eijen und Benjeßen verſteht“; wie deun Hicronymuß ben Gag auch
mwiedergiept: quis ifa delieiis affluet ut ego? Und wenn ber
Grieche nach V. 24 fir ann on 7% lszag, ober, was ala die
Überfegung Aquilas überliefert wird, T6s Yslaszpı gelefen hat, fo
deutete ex jeng® hebräiſche Wort, das er night verftand, als Reſidumm
van my, oder er Ig8 om, welches glei dvrn bie ſparſame
Verſagung der Mahlzeit gegeniiber dem Harı guabrüden fonmie.
The bopk af Koheleth. 163
Unter diefen Umftänden wird aber win anferorhentlich unficer,
und ich fchlage vor, daß man unter Annahme einer ſehr häufigen
Berwechlefung von 7 und ı leje yan whmı ya (oder flatt win
meinefmegen win nad Jeſ. 28, 28 und Jeſ. 10, 22), Dann
lautet der Sag: „Denn wer (von zweien) eſſen fell und wer
pflügen (oder drefchen) fol, das ift von mir (refp. von ihm)
aus beſtimmt.“ Dieſes ift eing allgemeine Sentenz, welche durch
daßs Vorhergehende porbereitet und durch das Folgende (B. 26
3) erläntert wird. Die Arbeit und Anſtrengung fichert nit von
ſelbſt den Genuß ihres Ertrages; welches das Subjelt jener und
weiches dag Subjekt dieſes fein ſoll, wird von Gott in ſouveräner
Macht und Freiheit befyetiert.
Auf S. 495 heanſtande ich die Angabe, daß 225 = study
als gigentümficher terminus zu geften habe, und ich halte es für
einen Umpeg, duch das Arabifche erſt die allgemeine Bedeutung
„lerhzen, gitren“, welde ber Pautgruppe mb auch im Hebräiſchen
innewohnt, ſich haſcheinigen zu laſſen. Nach der griechiſchen Über-
ſetzung ift aber wor mimy ein > herzuftellen (Tad arjems); dies
ſem nerhnuft Das 5 in dem hehräifchen and erft feine Entſtehung:
urſprünglich ftand hier dem Griechen zufolge (x. usAszn pAAn):
nen dam d. i. „und viel grübeltz iſt eine Ermlbung für das
Fleiſch“. Desgleichen: yao * Sansciousneg ayf Gruyd von
10, 20; ich halte es für numöglich, daß der Redner die Gedan⸗
kenmelt des Menſchen, innerhalb deren er fih ohms hürbare
Worte mit ſich fekbft unterhält, und das Schlafgemach, in imel-
chem gr mit feinem Weihe hörbgre Worte wechſelt, als Orte
zuſammenftellen folf, van denen "tz leicht in weitere Sreife drin«
gear bnne. Gr ſagte ohne Zweifel: zuTon, d. 1. „im Kreeiſe deiner
Verwandten und Freunde“, hei den vertrqulichen Familiengeſprachen,
au welchen hama das Geipräf mit dem Weibe in ber traulichen
Ahgeſchiedenheit des Schlafgemaches eine natügliche Steigerung bildet.
Dekan Griechen iſt das ſeſtſame aurrıdnjass wahrſcheinlich wie
189%. 8, T qus ovrndsas entitanden.
- Gubfich die Angabe, daß 5, 5 yubma = Inessenger of the
priests ſei. Diefelbe herupt auf einer fallen Auslegung und
einer unpaſſenden Beiziehung von Mal, 2, 7. Wie in der Der
11*
164 Wright
kannten Äfopifchen Zabel der alte Mann den Tod herbeiruft und
dem Erfchienenen dann, feine Übereilung bereuend, erflärt, das ſei
nicht fo gemeint gewejen, und wie in Volkserzählungen der Teufel
eitiert wird und der Eitierende feine Haftigen Worte zurücknehmen
möchte, fo fett der Redner den nad der Volksvorſtellung mög
lichen Fall, daß ein Menſch, fei es nun feinen eigenen Leib, fei
es feinen Mitmenfchen (Mi3) durch ein Fluchwort feines Mundes
zum Sünder ftempelt und ibm das Geſchick eines überwiefenen
Sünders anwünfcht, daß dann auf das gar nicht definitiv’ gemeinte
Wort der Strafengel erfcheint, um das gemwünfchte Verderben zu
vollziehen, und daß der Menſch dann feine Hände in Unſchuld
waschen will und fagt: „Du Haft dich umfonft bemüht, es war
ein Verſehen von meiner Seite.” Die bier mögliche Meißdentung,
als ob der Redner ſolchen Fluchworten der Übereilung mit Unter:
drüdung des Gedankens an den gerechten Gott entfprechende reale
Wirkungen auf das eigene oder das Befinden des Mitmenſchen
beilege, während er doch fofort in demfelben Sage Gott als den
Beleidigten und als den Nächer fett, Hat den griechifchen Über-
feger oder vielmehr feine hebräiſche Vorlage bewogen, für zxdnn
fofort ob einzufegen.
Zu der Form yyy, und nyy, welche S. 497 aus Kap. 4,
2. 3 verzeichnet wird, bemerfe ih, daß diefelbe Form auch in
Thren. 4, 17 anzuerkennen ift. Die urjprüngliche Schreibung
war dort 379% — 37 79) zu überfegen: „Bis hierher verzehrt
fih unfer Auge im Ausbliden nad unferer Hilfe“, noch immer
blicken wir nad der Macht, von der wir vergeblih Hilfe erwar-
teten. Die jegige Schreibung army beruht auf der falfchen Deu⸗
tung uyi1y, welche die Volalifation ausdrückt, oder auf der Poſtu⸗
lierung einer auf pꝛyy bezüglichen Suffizform n3(n) Iiy.
Wenn endlich S. 500 my in 10, 17 = drinking gefeft
wird, jo bemerke ich, daß fich zwar ein pafjender Sinn gewinnen
läßt, wenn man dad > in ma und ınwa al® das des Tauſches
foßt: „um Sraft zu erlangen, nicht um des Trinfens willen“,
da8 ja allerdings mit den Mahlzeiten verbunden tft. Aber da
ny> nicht „zur vechten Zeit“ bedeutet und namentlich nicht im
Gegenfage zu Ap22 V. 16, wofür man ja Ban ny2 fagen fann,
The book of Koheleth. 165
fo müßte man ftatt nya vielmehr ayy7 leſen. Den unnügen
Großen, bie de8 Morgens eſſen vor der Arbeit, ftehen dann die
gegenüber, welche des Abends nad derjelben ejjen; der angehängte
Sag würde dann ausdrüden, daß diefe legteren efjen, um die
Kräfte zu erneuern, und das Saufen nicht der eigentlihe Zweck
ihres Eſſens fei. Aber die dabei vorausgeſetzte Form ınwa =
na iſt lediglich durch die Vokaliſation geftügt. Der Text kann
ga ausgeſprochen und als Anrede an das Land gefaßt werden,
zu dem der Redende ja bier überhaupt fpricht. Dürfte man das
Borhergehende fo deuten: „deilen Fürſten zu rechter Zeit eſſen“,
jo könnte man fortfahren: „zu einer Zeit der Kraftentwicelung
und wenn Du, Land, durch fie nicht mit Schanden, fondern mit
Ehren beftanden bift“. Da aber nyp nicht „zur rechten Zeit‘
heißt und nur duch konkrete Näherbeftimmung einen paffenden
Gegenfag zu p22 in B. 16 gewinnen kann, fo ift Ian ale
Sag, der den Genitiv vertritt, zu ny> zu konſtruieren, mm220
aber als DVertreter des Prädifates; und da ber Grieche mit xas
ovx alayuysnoovsas hebräifches ia nd) ausdrüdt, fo ift dieſes
in den Text wiedereinzufegen. Derſelbe lautet nun: „und deſſen
Fürſten zu der Zeit, da fie ſchmauſen, in Heldenruhm,
im Ruhm großer Thaten ftehen (Bj. 90, 10) und nit zu
Schanden geworden find" (ogl. zu dem DBeieinander von
12 und wıa Bf. 127, 4. 5).
Andere Bedenken unterdrüde ih, um mich nicht zu fehr in
Einzelheiten zu verlieren. Biel wichtiger für die Gejamtauffaffung
des Predigerd wird es fein, wenn ich die Zuftimmung des Leſers
in der Beleuchtung zweier Punkte finde, welche ich nocd nicht er⸗
wähnt babe, und welche mir auch Wright ebenfo wenig wie feine
Vorgänger befriedigend aufgellärt Hat.
Der erſte betrifft den fogenannten Epilog 12, 9—14. Nach⸗
dem die mit den Worten ban bon orban ban angefangene Betrach⸗
tung (1, 2) mit demjelben Worte ihr Ende erreicht hat (12, 8)
und in diefer Betrachtung der Redende in erfter Berfon überall
feine eigenen Erfahrungen als ſolche dargelegt hat, redet der Ab»
ſchnitt V. I— 14 erflärende Worte in dritter Perfon über
jenen Redenden, den er abweichend von dem Sprachgebraude des⸗
1% Wright
ſelben Abt kennt. Dis allernatürlichſte Annahme ift, daß wir
bier die Schlußbemerkung eines Mannes Haben, ber das vorftehende
Buch zu Nutzen eines Lefers, dert er feihen Sohn (B. 12) nennt,
herausgab, ober eines Abſchreibers, der, am Ende diefed fonbders
Büren Buches angelangt; Ben Leſer nicht ohtle einige Aufflätende,
für beti rechten Gebrauch orietitierende Bemerkungen init dem Buche
allein laſſen wollte. Wright behauptet zwar, geftlitt auf Be⸗
litzſch, der Epildg zeige dieſelbe Sprache wie dad Buch, und des
rum jet der Verfaffer Hier und dort derfelbe. Aber Berfaffer urb
Nenherausgeber pflegen immer einander irgend geiflig verwandt zu
fein; daß bloß jener dieſen Jargon gefprochen, folgt duch nicht
daraus, daß wir in demfelben bloß biefes eine Buch Haben; end⸗
lic daß ein Herausgeber fi der Hinweiſung auf beit Autor und
feine Schrift deſſen Stichworte gebraucht, iſt natürlich und unver⸗
meidbut. Jene vernieintliche Identitäͤt der Sprache, die fich mit
ebenfö viel Differenzen aufechten Täßt, als die Übereinftimmunger
find, mit denen fie erhärtet wurde, kann jener alfernaturlichffeit
Annahme den Weg nicht verſperten; fie vetliert aber alles Ge⸗
wicht, wenn der Verfaffer des Epiloges felber fih m
Segenfag zum Autor des Buches ſtellt. Und das will ich Be
weiſen.
Es Würde bem Verfafſer getade dieſes Buches fehr übel ftehen,
wenn er nach Abſchluß desſelben ſich in die Zeit näch feinem
Tode verfetzte und in bie Studierſtube eines Leſers feiner Schrift,
um zu beldufchen, welche Gedanken der ſich Aber feine Berfon
mathett werde, und mit dieſem Schlußworte ihm datin zu rechter
Bewunderung zu verhelfen. So lauten aber bie Worte, mit denen
det Epilog beginnt; vom Vetfaſſer ſelbſt gefprochen michen fie
den Eindruck modern jüdiſcher Prahlerei mit der eigenen Bikbang,
des Aufdrüngens der eigetien Perſon und Ware mit allen ihren
glänzenden Eigenſchafteꝛ. Dägegen find fie begreiflich und ver⸗
nünftig in dem Munde eines Herausgebers, der über den hinter
der Maske Koheleth ſich verbergenden Denker und Menſchen vrien⸗
tieren will. „m ausgezeichnetem Maße (mar es daß) mar Kohe⸗
leth ein Weiſer.“ Mit dieſen allgemeinen Worten beginnt er.
Die Konſtruktion mw Am == Megieoor Or ift wie 6, 3;
The boök vf Koheleth. W
een se I or re u 10, 5 nach der oben
Bemerkung über new; Äfn iſt Gradbeſtiinmung ju om. Offen⸗
bar jellen die unverbunden folgender Worte, wilde inch befunnter '
Koriftruftion (&. 14, 19; 3y zu Anfatig des erften und Wurm zu
Anfarig bed zweiten Sabes) die zeitliche Koinzideng zwelet
verſchiedener Thatigkeiten ausdrucken, das Unterſcheidende, das Mo,
die dusgezelchnete Eigentümlichkeit ſeiner Kunſt bezeichnen. Sie
beſteht eben darin, daß er dieſes beides verband: „während er
gunz und gar noch daran arbetitete, das Volk Erkenntnis zu lehten
(fo nach gewöhnlicher Teptauffaſſung), odet (was id oben wahr⸗
ſcheinlich zu machen ſuchte) vielmehr: Erkenntnis des Ewigen zu
lehren, erfotſchte fein Ohr zugleich die (kunſt⸗- und planmäßige)
Arditeftonit von Sprüchen in großer Anzahl“. Im der That
berührt diefe Kigentümlichteit des Buches fofort jeder Lefer, daß
in demſelben allgemeine, weit und tiefgehende Reflexionen gemiſcht,
unterbrochen, aufgehalten find durch in ſich geſchloſſene Sentenzen,
welche für ſich Siun Haben und mit der zuſammenhaäntenden Be
trachtung keine notwendige Verbindung einzugehen ſcheinen. Dieſes
erklärt ſich uns durch die mi B. 9 konſtatierte Eigentümlichkeit bes
Verfaſſers und feiner Thatigkeit, welche feiner Schrift vorauszu⸗
denken ift. Mit dert Eifer, die eigene Erkenntnis, deren fein Herz
voll war, zur Belehrung anderer auszugeſtulten, verband ſich bei
ihm ein empfünglicher Sinn, ein feites Gefühl, Aufmerkſamkeit
und Neigung für ale im Publikum umgehenden, kunſtvoll ges
münzten Sentenzen und Weisheitöregein. Diefes hing aufs engfte
zufaimme mit der weiteren Eigentümlichkeit, welche V. 10 bes
ſchreibt. „Das Streben Koheleths ding dahin, gefällige Worte zu
finden”, d. h. der von ihm vorzutragenden Lehre einen pilanten,
poisıtierien,, witzigen Ausdruck zu geben, welcher geeignet war, dei
Leſer oder Zuhörer zu reizen, zu locken und feitzuhalten. Er ver»
mied den ttockenen Ton des Moraliſten. Nac ber Analögie vor
V. 9 erwarten wir im folgenden die Ausſage either anderweitigen
Thätigkeit, welche bdiefer die Wage hielt. Denn plante Rede
fügt auch der Frivole, und unterhaltendes, wigiges Geſchwätz
kann mit einem tückifchen Sinn zufammenbefteßen, beim es gleich»
gültdig ober erwünſcht ft, wenn der Zuhörer ohne Erkentitnie ber
168 Wright
Wahrheit davongeht. Aber die Deutung des Griechen, wonach
an und nos 137 ein zweites und drittes Objekt neben
porn 937 für nuob bilden follen, entfpricht diefer Erwartung nicht
und ergiebt auch Leinen wohlllingenden und verftändlichen Satz.
Die mafjorethifche Faſſung: „und gefchrieben ift Redlichkeit, Wahr⸗
heitsworte“ läßt unklar, ob bier dasjelbe oder ein anderes Subs
jekt gedacht fei und ob das Ganze die vorliegende Schrift in Gegen-
fag oder in das Verhältnis von consequens und antecedens
zum erften Sage ftellen wolle. Der richtige Text iſt aber nicht
an, fondern A 30 (2 zu 1 verftämmelt), und ber
Satz will fagen: „er war darauf aus, [uftige, unterhaltende Worte
zu finden, aber gejchrieben bat er in Redlichkeit (Zuverläffiges)
Wahrheitsworte'. Die Abficht, der Zweck feines auf den Reiz
des Ohres bebachten Schreibens war zuletzt doch nicht, zu neden,
faunig zu unterhalten, fondern dem Leſer zuverläffige Wahrheiten
einzufchärfen; hinter den yon 37 birgt fi ein ernfter, auf das
Wohl des Leſers, darauf, dag er die Wahrheit erkenne, bedachter
Sinn.
Diefer Kennzeichnung des Verfaſſers und feiner Schrift, welche
den Lejer anweiſen will, fie vedat zu würdigen, wird num in ®. 11
eine Ausfage angelnüpft, welche fih nicht mehr auf die yon ma
des oarı Koheleth bezieht, fondern über naar 337 ausjagt, daß
fie Is Ayo 1an) MEDN ya. Wenn man vorläufig die unter
> Ttehenden Nebenbeftimmungen wegläßt, fo wird die Struktur
dieſes Satzes deutlich: zum Subjete 'm 927 tritt um}, um zu
fagen, daß es zu etwas gemacht worden fei, ferner MEDN »by2,
um zu jagen, wozu es gemacht worden, und endlih mn mymD,
um zu fagen, von wem aus, von weilen Seite her es zu diefem
gemacht worden ſei. Am leichteften Täßt ſich der Prädikatsaus⸗
drud erklären: „fie find gemacht worden, eingefetst worden (9, 6)
zu (mitberechtigten) Gliedern, zu Gefellen der Sammlungen, ber
ovAkoyai oder Kolleltaneen“. Der dieſes fchrieb, unterjchied alfo
in dem vorliegenden Bude erftens Sammlungen, d. h.
Gruppen zufammenbängender Betrachtungen, oder Gruppen von
Sentenzen, welche durch den Gefichtspunft, unter dem fie jedesmal
aufgereiht waren, fih von einander unterfchieden., Zweitens
The book of Koheleth. 169
Worte von Weifen, welche erft nachträglich und gegen bie
Umgebung abftehend diefen einzelnen Sammlungen zuge
ſellt worden find. Bon jenen galt offenbar die Ausjage über
Koheleths Streben und Schreiben in V. 9. 10; fie hatten «8
nötig, gegen den Schein geſchützt zu werden, als fehle ihrem Ver⸗
faffer der ehrliche und ernfte Wahrheitsfinn; fie konnten in ihrem
paradoren Wortlaut leicht mißdeutet werden. Dagegen bezeichnet
der Schreiber dieje andermeitigen Worte von Weifen, welche
in jene Sammlungen eingefeßt worden find, im Unterſchiede von
deren ſonſtigem Inhalte als Klare, deutliche, die richtige Auffafjung
duch fich jelbft garantierende Sprüche, wenn er V. 12 fortfährt:
„und vorzugsweife aus (oder von) ihnen laß Di weijen“.
Wenn der Leer, der ihm gegenüber als ein unerfahrener, dem
Irrtum leicht verfallender Jünger gedacht wird (mein Sohn!),
diefe Sprüche zum Leitftern nimmt, zum regulierenden Kanon, fo
wird er ohne Gefahr der Verwirrung und Verzweiflung und mit
Nuten das Buch lefen. Wären diefe Sprüche aber nicht hinein»
gethan, jo Hält er die Sammlungen an fi) troß der Redlichkeit,
Weisheit und wohlmeinenden Lehrabficht ihres Verfafjers für folche,
welche gemißdeutet und zum Anlaſſe einer fittlihen Gedanken⸗
bewegung werden könnten, die der Abſicht des Verfaſſers ſelbſt
widersprechen würde.
Daraus geht aber aufs deutlichfte hervor, daß nicht Kohe-
leth jelber ſchon dieſe die Auffaffung normativ re-
gulierenden Sprüde in fein Buch gethan Hat. Bon
ihm rühren nur die Sammlungen felbft her, die er in ausgezeich⸗
netem Geſchmacke für yon 27 und in der ehrlichen Abficht, eine
ernfte fittliche Lebensauffaffung zu begründen, veranftaltet Bat.
Ein anderer, jpäterer bat diefelben in pädagogijcher Abficht und
Weisheit durch Einfegung jener Worte weiſer Männer verändert
und jo dem Lejer übergeben. Dieſes fagt nun aber der Schreiber
des Epiloges ausdrücklich, fobald man fich durch die Unmöglichkeit
oder Unbraudbarkeit aller bisherigen Deutungen ber Worte yo
rs zu der Überzeugung bringen läßt, daß bier wie fo Häufig im
Alten Zeftament und 3. B. auch in unferem Buche, wenn man
das hebräifche und griechifche vergleicht, 7, 23; 8, 6 (9 m und
110 Wright
yon, nya and Ay) 3 mt 3 Vermerhfelt worden tft, und daß es
bier ebenfo urſprünzlich mn rıyao hieß, wie &. 11, 19 nuch
dem Paraliellsmus und I,KX Ersour: “rn 25. Die Ausdrücke
an Ay und IN 29, welche fonft bei &zechiel vorkommen, ſchei⸗
nen auf die faliche Lefung Einflaß gehabt zu Haben, „Von emein
anderen Hirten”, db. 5. von Einem anderen Lehrer uffo find
jene Sprüche eingefeßt worden, bamit jene Sammlungen für bie
feiner Hut befoßlenen Schafe eine rede Weide werden köonnten.
Wenn aber in V. 12 gefordert wird, daß der Lefer fonderlich fie
ſich gelägt fein Laffe, jo müffen fle eine Stellung erhalten haben,
in welcher fle die behertſchende Regeln der Anffaffung und der
Anwendung hervorſtachen, und das fagt der bisher ansgelafiene
Sagteil mit 5. Denn didfe Partikel druckt ans, in was für einer
Funktion, in was für einet Geltung diefe Säge zu Geſellen bet
Sammlungen gemacht worden jind.
Ich gehe davon aus, dag mmawo, wie überall von row
und nicht von Bon herkomme; daß «8 Dinge and nicht Perfonen
begeichtie (wegen ber Gleichſtellung mit man), daß deshalb
ey nicht Attribut, ſondern Genitiv und nmsgp ale stat.
constr. zu Sprechen fe. „Sthugwehren für (Berte und ber Scho⸗
nung bedürftige) Pflanzungen“ werden überall mit fpiten Stäben
zufammen angebradht fein, ſeien diefes nun Stacheln oder Palli-
faden. Mt dieſer Beſuimmung nun und in dieſer Funktion, gleich
ſam wie Spitzen und Schutzwehren für Pflanzungen find den ur⸗
ſprünglichen Gliedern det Sammlung anderweitige weiſe Sprüche
zugeſellt und eitverleibt Worben. Die Zacken und Wände des Ge⸗
heges Hüten die Pflanzungen vor mutwilligen und abſichtsloſen
Mißhandlungen und Zerftörungen. Go ſollen auch dieft an Ber:
vortagenden Stellen und wo Warnung nötig erſchien, neu einge»
ſetzten Spruche dem Leſer als Leitſtern dienen und Ihn an un⸗
berechtigter und gefährlicher Mißdeutung der Ausführungen in die⸗
fent Buche Kindern; und fle werden is, went er fih von ihnen
vorzugsmweife (Anm) leiten läßt. Ich brauche nicht Auszu-
füren, mie dieſe littetar⸗hiſtoeiſche Notig über die Entftehung des
gegenmärtigen Predlgers bie verwunderliche und oft rätjelgaft ge⸗
fünderre Erſcheinung dufflärt, daß bier ab und am in einem Xexte,
The bobk of Koheleth. 171
ber in vblligem Skeptielsmus und Peſſimisſsmus fcheint endigen zit
wollen, plötzlich eine allgemeitie Sentenz und Regel auftaucht, welche
im Widerfpruche damit bekundet, daß es doch fefte und gemilfe
Srundfähe giebt, tweldje den Menfchen ficher führen. Ich mende
mi vielmehr der Frage zu, wer ift der andere Hirt, der
Koheleths Sammlungen fo verbeifert Hat?
Entweder natürlich der Schreiber diefes Epiloged oder ein
dritter, der zwischen ihm und Koheleth mitten inniefteht. Das erfte
ift von vornherein das Wahrfjcheinlichere, weil die Forderung des
Epilbges, diefe Sprüche als Regeln befonderd zu beobachten, ja
mit der Abficht deifen anf einer Linte licht, der fie in der Eigen-
(Haft vom ſchitzenden Marken und Wehten den Sammlungen ein-
verleißt hat. Es wird aber auch durch das Folgende an die Hand
gegeben. Ich fordere Hier nur dem Obigen zufolge Bie Lefung
ndyb nnd Am, erörtere über als irrelevant für meinen med
die Frage nicht, ob Arwys zu Am die Beftimmung de Gebietes,
nämlich des fittlichen Handelns, der Lebensführung, auf dem die
Wellung angenommen werdet foll, Binzuflige, oder aͤls Subjekt
umfchreibung oder Als Zweckangabe den Anfang des folgenden
Satzes bilde. Die gewöhnliche Annahme Taffe ich gelten und über⸗
feße: Bücher zu verfaſſen, giebt es veichlichen Stoff ohne Ende,
aber viel Grübeln iſt eirie Erſchöpfung des Fleiſches“, des gebrech⸗
fihen Sterblichen. Natürlich iſt dieſer allgemeine Satz nur ale
Begründung des Vorhergehenden. Darüm find jene wichtigen
Denkſprüche und Maximen dein Buche eingefügt, und darum foll
der AHhitger ſeine Aufmerkſankeit überwiegend ihnen widien, weil
in ihnen in Leicht zu bewältigender Kürze gewiffermaßen din Ex»
traft der Wahrheit gegeben ift, welches ganze Bücher Betällkierter
Bettachtung aufwiegt. Det DVerfaffer Hätte können in feier
Weife die Welt der Dinge und des Geſchehens ahnlich wie Kohe⸗
leth vor dem getftigen Auge des Leſers vorüberfühten, Koheleths
Beirachiungen nach allen Seiten in feiner nit paradoren
Weiſe fortfetzen und dervollſtändigen und jo als Lehrer das Wohl
ſeines Leſers und Jungers wahrnehmen; Stoff genug giebt es
dazu, Aber ihr in Gedanken zu erſchöpfen, auch nur zu ſuchen,
inbem tan induktiv eins zum andern fügt, wäre für Schriftſteller
172 Wright
und Lefer eine überflüffige Kafteiung der Natur. Darum war es
genug, es bei Koheleths Sammlungen und bei den regulierenden
normativen Zufägen, welde deren richtiges Berftändnis fichern,
bewenden zu lafien. So konnte nur der Herausgeber und Be⸗
arbeiter, der andere Hirt, fprechen, welchem vor allem daran Liegt,
da8 alles umfafjende, einige Prinzip fittlicher Wahrheit einzu-
Ihärfen, zu deſſen Findung Koheleths Gedankenreihen auf dem
Wege gewiljermaßen apagogifcher Induktion den Leſer hinleiten
wollten.
Welches diefes Prinzip aber fei, ſpricht er zum Schluſſe in
direktem Worte V. 13. 14 aus. Ich bemerke ausdrüdfih, daß
es für die Geltung meiner Deutung von ®B. 9—12 ganz einerlei
ift, ob der Lefer meinem Verſuche, diefe dunkelen Worte zu ent»
rätjeln, zuſtimmt oder ob er lieber bei der traditionellen Faſſung
bleibt, welche das Rätſel lediglich als folches Tonferviert. Die
Worte yowı ba 737 iD find weder einer hebräiſchen, noch über-
haupt einer vernünftigen Konftruftion fähig, und ebenſo wenig
DIN 99 71 79. Syene find der Reſt eines Textes, welcher lautete
aa 532 293 mio, d. 5. das Ende (cf. 7, 1), bei dem die Rede
(Kohelethe) ankommt, das feine Betrachtungen bezielen, ift (der
Sat): „das Ganze ift Eitelkeit“. Die Berjtiimmelung des
Tertes entitand dadurch, daß ebenjo wie im Anfange von 9, 2
das Wort 537 (uarasoeng des Griechen dafelbft) fid), unter dem
Einfluffe von onmpb dan in 9, 1, in 537 verwandelte und da⸗
durch der Mare Sinn der Stelle („der Menfch weiß nicht, ob
alles [5] vor ihnen Eitelfeit [bar] fei, dieweil [Awino] alle
einem und demfelben Zufalle unterliegen“) verloren ging, fo auch
hier 537 dem vorhergehenden bar gleichgefehen, gelefen, gefchrieben
war und dann als unerträglihe Tautologie fortgelaffen wurde.
Die Berechtigung zur Wiederberftellung erwächſt uns aber aus der
Thatjache, daß das Bud, Koheleth, über welches der Epilog re»
flektiert, offenfichtlich al® zu erhärtendes Thema den Sag ban In
an die Spitze jtellt, und am Ende feiner Betrachtungen bei eben
ihm wieder als ihrem Beichluffe anlommt 12, 8. Das Augen-
fcheinliche, mit Händen zu Greifende, was jeder von uns im Hin⸗
blid auf diefen Anfang und diefes Ende des Buches auch jagen
The book of Koheleth. 173
würde, drück demnach der Epilog aus, wenn er als Endziel
und Summe ber Darlegung in diefem Buche den Sat bezeich-
net: „das Ganze ift Eitelkeit“.
Diefes ift aber nur ein negatives Reſultat, welches für
einen Weisheitölehrer und feinen Schüler nur in dem Maße Wert
bat, al8 e8 dazu dient, in exfiuftver Energie zu demjenigen hinzu-
drängen, was Realität und bleibenden Wert im Menſchenleben, in
der Welt bat. Keiner meiner Leſer wird darüber im Zweifel jein,
daß nad den folgenden Worten der Verfaſſer des Epiloges und
bag nach feinen eigenen Worten (3, 14: „ich erfannte, daß alles,
was Gott macht, daß das in Ewigkeit bejteht — Gott felbft aber
hat das gemacht, dag man fid) vor ihm fürdte“, d. b. die Per
ligion ift, weil eine Gottesgründnng, etwas ewiges) auch Koheleth
felber jenes negative Reſultat als Begründung des pofitiven
Satzes gewertet wiffen wollte: die Religion, als von Gott ges
gründet, ift das bleibende Reale und die Gottesfurcht das unbe⸗
dingt gültige und wertvolle Prinzip für eine rechte, weife Lebens⸗
führung. Denn zu dem negativen Sage, der da Tonftatiert, daß
da8 Ganze Eitelkeit jei, tritt die pofitive Heifchung: „die Gottheit
fürchte und ihre Befehle nimm inacht!“ Das Verhältnis aber
diefe® Satzes zu dem vorhergehenden, welcher den 77 mp bezeich⸗
net, ift ausgedrüdt durh yows. WI man den Begriff „pw feſt⸗
halten, jo fchreibt man am beften mit dem riechen yo und
überfegt (yuw == entendre, intelligere): der Schluß der
Rede: „das Ganze ift Eitelkeit“ ; deute, verftehe (diefes jo:) „bie
Sottheit fürchte u. ſ. w.“ Denn in der That iſt der geheime
Sinn, der für Kobeleth in der Erhärtung jened Sates liegt, daß
man ſich dadurd aufgefordert fühlen foll, Gott und feine Gebote
als das unbedingt Wertvolle beftändig vor Augen zu haben. Jener
Sat ift ein Nätfel, das am Schluſſe des Buches für den Lefer
formuliert wird, damit er es durch eigenes Nachdenken auflöfe und
deute. Diefem Sachverhalte, der Deutlichleit der Rede und dem
Sprachgebrauche des Buches, welcher 8, 1 den 33 und feinen
Wyy unterjcheidet und den Weifen daran erfennt, daß er die Deu:
tung und Anflöfung der rätfelhaften Rede zu finden weiß, entfpricht
e8 aber noch befjer, wenn man, wie ich für richtig halte, yowy
474 Wright
als Entftellung von wi anfieht. Das Eupe der Rede jſt;
„das Ganze ift Eitelkeit" und ihre Deutung iſt: „die Gottheit
fürdte und ihre Befehle nimm inacht!“ Soll diefes aber zu-
jammenftimmen, fp muß in dem ewigen Gatt die Burgſchaft dafür
gelegen ſein, daB dag ihm mohlgefällige Verhalten des Menſchen
zu ihm, vermöge deſſen er den ewigen Bott in fein perfünlichen
Leben Hineinträgt, aus der Welt der KEitelfeit hergusfällt, daß es
durch eine Tünftige Reaktion Gottes zu einem ppfitiven Ziele ge-
- füget wird, welches heweiſt, daß die Frömmigkeit eine vergebliche
Anftrengung und Spin eitleg Mühen um ein doch bald zerrinnendes
Gut geweſen ſei. Eben dieles ſagt der angeſchloſſene Begrün⸗
dungsſatz mit »7 B. 14.
Um die Ansage au perſtehen, muß man bie nur angeblich,
aber in Wirklichkeit nie für fich felbft perſtändlichen Worte >> mı
am am Schluffe von B. 13 beſeitigen. Sie find eine herme⸗
nentifche Stoffe vom Rande, welche (wie hie Jeſ. 9, 14) fagt:
„bag iſt, diefer Ausdruck bedeutet, meint ayazy?. Der Gtpffe-
tor intendierte ihn zu dem fonderharen Ayshruge fir den Gegen⸗
jtand bes künftig von Gott zu haltenden Berichtes: dhyn bo by.
Von bem allgemeinen Gerichte Botteg, welches das definitive Ge⸗
ſchick jedes Menſchen feitiegt, ſall man ihn nerfishen. Diele
verſtändige Erllärung geriet aber in den Text, und zwar hinter
das auf ni folgende den V. 14 einfeitenhe D. Unz den ur⸗
iprünglichen Ipgiihen Zuſgmwenhaug nik zu verligren, wußte
jenes 17 dann hinter der Gloſſe noch einmal wiedezholt werben.
Oh man Bott fürdtet und feine Befehle inacht nimmt oder
nicht, daB giebt dem fittlichen Verhalten des Menirhen, ſeiner
Lebensführung, feinem Lebenswerfe das unterſcheidende Gepräüge;
und fo iſt es entweder Sin ober yJ. Kommt glies Darauf an,
dag man die eine Geftalt realifiere, die andere vermeide, fo muß
es feftitehen, daß Gott duch einen Alt vichterlier Vergeltung
das ganze Verhalten des Menfchen als befinitioss Geſchick auf fein
Haupt zurückkehren, ihm heimkommen läßt, wie dieſes guch im
Huche ſchon 11, 9 quegeſprochen ift. Aber man muß ſich durch
dieſe Stelle nicht gerſeiten laffen, nun in V. 14 sbeufp au fon
ſtruieren. Die Worte oaya 52 dy find nicht Ergänzung des ganz
The baok of Koheleth. 176
altgemein gemünzten Ausdruckes „Dur vichterlichen Alt“, Sondern
gehören mit mn zufammen: Perfonen werben in daR Gericht ge-
hrasst (jo 11, 9); Verhaltungameifen werden nit in das Gericht
gebracht, Sondern durch Gerichtsentſcheidung in ihren Falgen über
die Berfonen gebracht, auf deren Namen fie in den Alten gebucht
find (ugl. Pf. 94, 23; &. 9, 10 und Hiab 2, Al u.a). Iſt
nun y9 om ma am Die qualitative Alternative, weiche der Begriff
moyoan ba in fi befaßt, fo lautet der Satz: „denn das ganze
Berbalten (eines Menſchen), #8 mag nun gut oder böſe fein, wird
hie Gottheit nermöge vichterlihen Spruches (oder „im Berisht"
vgl. 3, 17) kommen laſſen (oder bringen) üher alle Inhaber
degsfeihen“ (ober über jeden an ihın Beteiligten, Über die durch
feinen Hefitz qualifizierten Subjekte). So glaube ich nad der
Analagie der Sprache des Buchen, welche den Meilen, den Thoren
zu den byd entweder der Weisheit oder her Thorheit rechnet
(7, 12; 8, 8), umd die Angehörigen einer Rategorie deren mıhya
nennt (12, 11), ben jedenfalls auf ein perſönliches Subielt und
nicht sin neutraleß Ding zu deutenden bunklen AJusdruck goyn 5a by
erffüren au dürfen; er ift aus mbya 32 hy, deſſen Guffiz auf
mes ba zurückweiſt, orrumpiert. Der alte Nefer aler, weicher
zu hiefem zweideutigen Ausdrucke (denn das Suffir Ionnte jo auch
auf pw bezogen werhen), an den Rand ſchrieb: „dieſes ift jeder
Menſch“ ader „d. h. alle Menſchen“, Kat noch by ba dy ger
leßen und riehtig gedeutet; fo daB durch feine Glaſſe meiner Ver⸗
mutung sine wunſchenswerte Deitikigung ermächt. .
Habe ih im Voxſtehenden im glägemeinen den Sinn der Au⸗
Berungen dieſes Epiloges über das Buch und deu Mann Kphrleih
richtig getroffen, In wird der Lejer in Zukunft nicht mehr erwarten
hürfen, nur ſolches ig dieſem Buche und alles das und fa ge
ihrieben zu finden, was und wie a9 der Verfqaſſer Der Samm⸗
lungen urſprünglich entmarien hatte. Er wird Yuan harnberein
darauf gefaßt fein müſſen, daß ſich die Meihen der uripringlicken
Betrachtung unterbrochen zeigen ppn freiaden Elementen, melde
der andere Hirte als Palligtip und Gegengift zus Verhütung jgf-
ſcher Auffaſſung der Meinung des Loheleth eingefügt hat. Dieſe
Disparatheit wird ihn dann nicht zur Annahme herechtigen, daB
176 Wright
hier eine zufällige Verſchiebung der Tertichichten ftattgefunden
babe, die durch mechanifche Neuordnung wieder aufzuheben ſei.
Weiter wird er bedenken, daß ſchon Koheleth felber die eigenartige
Neigung beigelegt wird, bei der Darlegung feiner Gedanken Sprich»
wörter zu verwenden und ihnen durch die Art der Cinflechtung
neuen Sinn abzugewinnen. Solche Tiegen 3. B. in 1, 15. 18
u. a. deutlich vor und find fchon von anderen Auslegern als folche
erfannt worden. Er wird alfo nicht um des ſich hier offenbaren-
den Abftandes des Tones allein willen ein kritiſches Fragezeichen
fegen dürfen. Endlich fagt zwar der Herausgeber im Epilog nicht,
daß er ausgelaſſen und umgeordnet habe, als er die Sammlungen
Koheleths herausgab. Aber er Teugnet e8 aud nicht, und da er
folchen Widerwillen gegen lange litterarifche Ausführungen und
nachdenfliche theoretiiche Grübeleien an den Tag legt und fich fo
beforgt zeigt, den eigentlichen pofitiven Endzwec der Betrachtungen
bervorzufehren, fo iſt e8 möglich und ſogar wahrjcheinlih, daß er
die Betrachtungsreihen, die ihm vorlagen, bei der Wiedergabe
fürzte, daß er einige ganz ausließ, ja auch, daß er nicht überall
die Reihenfolge beobachtete, welche Kobeleth felber intendiert Batte.
Unter diefen Umftänden Tann es in abstracto möglich erjcheinen,
daß wir durch die eine oder andere Umorbnung einen Zuſammen⸗
bang erhalten, der der urfprünglichen Intention des Koheleth näher
fommt; aber da8 Buch diefes letteren ſelbſt wieberherzuftellen, er⸗
Häre ih von vornherein für eim vergebliche8 Unterfangen. Es
fehlt das objektive Kontrolfmittel, durch deſſen Anwendung allein
wir und vor Illuſionen hüten fünnen, das ift bier die un»
mittelbare Berührung mit dem erften Autor, die are Einficht
in feine Abfiht und feinen Plan, und die Gewißheit, daß aller
Inhalt des Buches nach einer in jenem Plane gelegenen Ordnung
dem litterarifchen Zwecke dienen fol. Denn Koheleth redet nicht
unmittelbar zu uns, fondern der Verfaſſer des Epiloges fteht als
Dolmetfh zwiihen ihm und uns; nicht das Buch Koheleths
haben wir vor und, fondern ein Buch, in welchem ein fpäterer
Lehrer uns nad beftimmten püdagogifchen Grundſätzen die Ge⸗
dantenreihen des Koheleth dolmetſcht. Die nächfte Aufgabe wird
es alſo bleiben, unter dieſem Gefidhtspunfte das vorliegende Buch
The book of Koheleth. 177
in feiner Eigenart zu begreifen. Wollten wir aber in der Mei-
nung, den Koheleth „an fich“ (um mit Kant zu reden) erfaßt zu
haben, anfangen, das vorliegende Buch auseinanderzuncehmen und
es im Geiſte Koheleths anders wieder zufammenzufegen, fo fönnte
e8 uns gefchehen, daß wir nach dem Schatten, nach einem non
existens haſchten und darüber das uns wirklich gegebene, reelle
existens zerftörten und verlören.
Daß der Herausgeber übrigens nicht bloß ariomatifche Weis-
heitsſprüche eingefegt Hat, fondern auch fonft ändernd thätig ge-
weien ift, hoffe ih an dem zweiten Punkte zeigen zu können,
ben ich oben noch zu behandeln verſprach; das ift der Name nbrip.
Bei der Beleuchtung desfelben laſſe ich die jeit alten Zeiten übliche
Deutung desfelben als eines um feines appellativifchen Sinnes
willen erfundenen Mannesnamens = concionator einftweilen außer-
at. Denn wenn appellativifch gedeutet, ift nbrıp fein Mannes-
name 5); wäre er das aber, fo fünnte mbap nicht denjenigen bezeich⸗
nen, der eine Gemeindeverfammlung veranftaltet, das Heißt bynpn
als verb. denom. von 5m. Das Dal kann nur bedeuten
„jammeln, zufammenführen, vereinigen“. Hieße es aber auch
Beranftalter einer Gemeindeverfammlung, jo bebeutete diefes doch
nit darum ſchon einen Volksredner, weil im Tateinifchen con-
cionator diefer Übergang zu finden iſt. Hieße es aber „Volks⸗
redner“, jo wäre dieſes, ftrikt genommen, ein unpaſſender Aus-
drud für den Verfaſſer, der offenbar nicht vor einem großen
Haufen redet; nehmen wir den Ausdrud aber fo allgemein, daß
er überhaupt jeden bezeichnet, der feine Betrachtungen, geiftigen
Beſitztümer dem Publikum durd Schrift mitteilt, fo wäre nicht
zu verftehen, daß dieſer finguläte Mann und fein finguläres Bud
mit einem fo gar nicht fingulären und fignifilanten Ausdrude bes
zeichnet worden fein follen.
Diefe nach allen Seiten Hin fchlechtfundierte Erklärung kann
nichts weiter für fich anführen, als die Thatſache, daß der Ver-
faffer des Eptloges ben weiſen Mann und Lehrer, deifen Buch er
herausgiebt, ſchlechtweg wie mit einem Eigennamen nbnp ohne
Artikel nennt. Aber er drückt auch nirgends aus, daß die et-
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 12
178 Wright
waige appellativifche Deutung, die man dem Namen geben könnte,
für ihn irgendweldde Beziehung auf diefes Buch babe. Denn er
redet von Koheleths Lehrthätigfeit nit mehr, als von feinem
Forſchen, feinen ftiliftifchen Neigungen, feinen redlichen
Abfichten, feiner ungewöhnlichen Weisheit. Kurz, der
Maun heißt ihm Koheleth, und der Name tft nur eine zufällige
Nummer, die gerade auf ihn gefallen if. Ihn fo zu nemen,
fonnte aber nicht wohl ausbleiben, wenn die vorliegenden Samm-
(ungen den Titel nbamo 127 trugen, und nachher der in erfter
Berfon vedende Verfaſſer ſich als ehemaligen König bezeichnet. Er
ſchien alfo fich felber Koheleth zu nennen.
Aber diefe Behandlung ded Namens widerfpricht dennoch den⸗
ienigen, welche da8 Buch jelber zeigt. Sehen wir von der einen
Stelle 1, 12 vorläufig ab, jo redet der Verfaſſer ftets nur im
der erften Perſon von dem, was er erlebt, erforjcht, gedacht,
gefhlefien habe; feine Rede ift ein Monolog, oder beſſer eine
Selbftihilderung vor einem Zuhörer, dem er das zugute kommen
laſſen will, was er auf Grund einer weite Gebiete dominierenden
Stellung, in einem langen, ber Beobachtung gewidmeten Leben mit
feinem eigenen Herzen ausgemadt bat. Wenn nun in einer fo
gearteten Rede bloß dreimal und in dritter Perſon von
Koheleth geredet wird, fo exjcheint von vornherein Koheleth als
eine dritte Größe neben dem Redner (ich) und dem Zuhörer (du).
Wenn wir ferner fehen, daß an allen drei Stellen dieſem Sub-
iekte Lediglich das Prädikat „Hat gejagt” beigelegt wird, jo haben
wir den unweigerlichen Eindrud, daß der Redende Koheleth nur
nennt, um einen bebeutfamen Spruch auf ihn zurüdzuführen, d. h.
weil er an dieſen Stellen nicht eigene Worte bringt, fondern ci-
tiert. Endlich beachten wir, daß es der Anfang (1, 2) und der
Schluß der Rede (12, 8) tft, der als ein Ausſpruch des Koheleth
bezeichnet wird; und daß es derjelbe Satz ift, der als zu erwei⸗
fendes Thema dort und als erwiejened bier fi aus der mitten
inne liegenden Betrachtung ausfcheidet und ausdrüdlih auf ein
drittes Subjeft zurücdgeführt wird. Natürlich ift dieſes doch nur,
mern jener Lehrjag von diefem Subjekte formuliert ift, und ber
Medende ein Intereſſe daran Hat, daß der Zuhörer ihn ſelber (das
The book of Kpheleth. 179
redende Ich) und das dritte Subjekt, deſſen Ausſpruch er eitiert,
unterfcheibe.
Daraus ergiebt fi aber, daB der Verfaſſer des Epiloges
gegen dieſe klare Abficht des von ihm herausgegebenen Buches
gehandelt Hat, indem er deu Nedenden mit dem citierten Subjekte
taentifizierte und den Women bes letzteren als Eigennamen auf
jenen übertrug. Tür ihn bedeutet nönp etwas anderes als für
das Buch; darum gebraucht er dns Wort auch grammatiſch an⸗
ders und fagt nicht bloß in 12, 10, fondern jchon in 12, 9
nbrip, obwohl dach das Muh Selber in V. 8 mit Aymam Son
ſchloß. Diefer Unterſchied ift fehr charafteriftifh. Freilich ſcheint
dos Buch Selber nerishiehene Behandlung des Namens zu zeigen,
wenn wie zwar 12, 8 nonpn wa, dagegen in bemfelben Safe
1, 2 nömo nen und an der dritten Stelle 7, 27: Abap mmms
leſen, atfo die ganze Muſterlarte der Möglichkeiten, bald als ap»
peſllativiſchen Nominnlausprud mit Aptikeldetermination, bald ale
Eigennamen, und dann wieder dns eine Mal als Namen eines
Mannes und das andere Mal als Namen eines Weibes. Aber
das iſt vur ein böſer Schein im maſoxethiſchen Texte. Der grier
chiſche Überſetzer, welcher in 1, 1. 12; 12, 9 u. JO regelmäßig
nonp mit Aninaeozıis wiedergiebt, hat, da er in 1, 2 und
7, 27 (28) und 12, 8 tvog der zweimaligen Nähe dee artikel⸗
(ofen Wartes oͤ xxa. ſchreibt, in feiner hebräiſchen Vorlage an
allen drei Stellen mbmpmn vorgefunden. Dieſes iſt in ber That
unhedingt richtig, da 13, 8 und I, 2 nach der Abſicht des Des
dendan ühereinftimmer ſollen nnd deshalb auch übereinftimmen
uürfjen. Derſelbe Medner, der fo lebhaftes Intereſſe daran Hat,
diefen identiichen Satz auf ein benanntes und beitimmtes Subjelt
zurückzuführen, kann nicht die Nachlähfigkeit oder den Mutwillen
haben, durch Variation des Namens die beitimmate Morftellung des
Subjektes fo im Lefer zu verſchieben, daß fie ſich nicht gleichhleihen
faun. Am offenbarften ift die Unerträglichleit ſolcher Vaxigtion
in 7, 27, wo der maforethiiche Text eben denſelben als Weib zu
denen befichlt, der am den heiden Übrigen Steffen trotz feines
weiblichen Namens ala Monn fungiert. Selbſt die konſervativſten
Berehrer bes taxtus reseptus Haben ſich deßhalb Hier erlaubt,
12*
180 Wright
ftatt nbap amon vielmehr nad 12, 8 nbapn "om herzuſtellen,
und müffen Tonfequenterweife und in Gehorfam gegen den befjeren
Text des Griechen es auch in 1, 2 als notwendig anerkennen.
Aber in dieſem Falle Tiegt es als zweifellos auf der Hand,
daß der vermeintlich mit dem Autor des Buches identifche, weil
diefelbe Sprache fprechende Verfaffer des Epiloges das Wort ndmp
anders aufgefaßt und gebraucht bat, al® der, welder die Ans⸗
ſprüche von ndapa citiert. Für den Epilog ift nönpn zum
Eigennamen geworden und Hat deshalb den Artikel verloren,
für den Redner des Buches ift es die Bezeichnung eines Subjeltes
nah dem Merkmal feiner Thätigfeit und um dieſes ap-
pellativifchen Sinnes willen des Artifels fühig und benötigt. Man
wende dagegen nicht 1, 1 u. 12 ein, wo das Wort als artikel⸗
loſer Eigenname erjcheint. Denn im erfteren Falle wäre ja immer
die Möglichkeit, daß 7 72 als Genitiv das Wort mbmp deter-
miniere und deshalb der Artikel habe fortbleiben müffen. And
was 1, 12 anlangt, fo ift es auf alle Fälle unnatürlih und un⸗
erträglih, daß der Redner, der überall von fich in der erften
Perfon redet, von nbapm aber immer als von einer dritten Per
fon, deren Ausſprüche er citiert, fich felbft auf einmal nbmp
nennen und feine erſte Perfon mit feiner dritten unterjchiedslos
tonfundieren und den Zuhörer duch Unterfcheidung zweier nbp
verwirren follte. Denn die Identifizierung würde ja für alle bie
nicht erreicht, welche zwifchen nbmp und nbapn bie große Kluft
befeftigt fehen, die zwifchen der einfeitigen Benennung eines Hauſes
nach feiner Nummer und der ebenjo einfeitigen Benennung
desjelben nach feiner Bauart mittenimme liegt, und welche das
Haus mit der Zahl aht darum nicht für das mit acht Fen-
ftern balten, weil in beiden Bezeichnungen dasfelbe Wort acht
vorfommt. Und welche Thorheit hätte der Redner doch begangen,
wenn er mit der Ausjage, er fei einft König nicht Über das noch
ungeteilte, unter David und Salomo zufammengehaltene Reich
Israel, jondern über dasjenige Israel geweien, welches nicht
deportiert und zerftreut, fondern in der berühmten und be—
fannten Stadt PBaläftinas, in Jeruſalem anfäffig war,
die für feine Abficht ganz gleichgültige Notiz Hinzugefügt hätte, er
The book of Koheleth. 181
babe als folder den Namen Koheleth geführt! Wollte er die den
Eindrud feiner Säge und induktiven Ausführungen verftärtende
litterariſche Illuſion erzeugen, er habe feine Beobachtungen als
König über das durch feine Religion und Weisheit feit Salomos
Tagen in der Welt berühmte Jeruſalem, dieſe ferne Stadt, an⸗
gefangen, fo mußte er fich ungenannt laffen. Dann fonnte man
ihn für einen alten IJoahas oder Jojakhin, für einen belehrten
Manaſſe in Babel, oder für einen in Verwandlung aus dem Tode
wiebergefehrten Salomo halten. Nannte er ſich aber nbap, fo
war die Illuſion von felbft zerftört; denn man Tonnte ihm nach⸗
rechnen, daß es nie einen König in Jeruſalem aus Davidiſchem
Gefchlechte mit diefem Namen gegeben hat. Ya ich Halte e8 auch
für unwahrfcheinlich, daß er bei feiner Abficht fih nur m7 72 ges
nannt babe.
Iſt demnach die Selbftbezeichnung des Autors als nbnp an
ih unwahrjcheinlich, gegen die fonftige Weife der Rede, und neben
dem überall fonft in feinem Buche gebraudten nbapın geradezu
unmöglich), jo brauchen wir bloß die feftftehende Thatjache hinzu⸗
zunehmen, daß ein Späterer dieſes Buch herausgegeben bat, wel»
er mono ohne Artilel für den Eigennamen des Autors Bielt
(12, 9. 10), um zu erfennen, daß diefer es auch war, welcher
erſtens, um die von ihm vorausgejegte Identität des citierten
Redners nbapn mit dem citierenden Redner a (1, 2 und
1, 12) feitzuftellen, Hinter ax in 1, 12 den vermeintlichen Eigen»
namen nbap einfegte, und zweitens auf Grund von 1, 12, da
nur Davidsſöhne Über das jerufalemifche Israel Könige gewefen
find in 1, 1, damit der Leſer Hinter 1, 2 nicht durh 1, 12
überraſcht und verwirrt werde, die für ihn felbftverftändliche Appo⸗
fition obunasa bo 7 72 einfchob.
Durch diefe Unterfcheidung zweierlei Sprachgebraudhes in Be⸗
ziehung auf den Ausdrud nbap, welche genau dem Unterfchiede
zwijchen dem urſprünglichen Werke und dem überarbeitenden ſpü⸗
teren Herausgeber desjelben entjpricht, löft fich die Verwirrung
auf, welche jener Ausdrud durch feine mannigfaltige und disparate
Gebrauchsweife dem Lefer bisher bereiten mußte. Das Buch felbft
hieß in der Überfhrift nbap 137 und citierte im Sontegte drei⸗
182 Wright
mal Ausſprüche von Aympn, ein Unterföhteb, wie wenn bir ein
Buch überſchrieben dächten myim 32 und der in bdemfelben in
erfier Berfon redende Verfaſſer an entfcheidenden Punkten citierend
fagte: jo und fo mImI myow. Da würde der Titel fagen, nicht,
dag Im Wolgenden das befannte Geſetz ganz vorgelegt werben,
fonbern daß Elemente des Gefeges darin zur Sprache kom⸗
men follen, im Unterjchiede von anderen Gegenftänden litterariſcher
Mitteilung. Und die Eitierformel würde fagen, „was bu jekt
hörft, ift ein eigener Ausſpruch des Hiftorifch befannten und als be⸗
ftimmte Einheit vorausgeſetzten Geſetzes“.
Aber nun erhebt ſich eine letzte Schwierigkeit. Iſt nämlich
nbap in 1, 1 eine qualitative Bezeichnung und nit Eigenname
des Autors, iſt ferner nbmpm, was jeder anerkennen muß, der du
weiß, bag Eigennamen feinen Artikel tragen künnen, die appella-
tiviſche Bezeichnung eines beſtimmten Gegenftandes nach feinem
Weſenbmerkmale bder feiner harakteriftifchen Thätigkeit, fo Lebt mit
der appellatisifähen Bedentung auch unvermeidlich die Funktion des
auslautenden I wteber aufz denn der das Wort fehuf, hat zugleich
auch den agens nit in der zunächft gelegenen Form eines
Mannes (bp), fondern diefe verfhmähend, in der Geftalt eines
Weibes erichaffen. Und dann ſcheint er dieſe abſichtlich vorge
zogene weibliche Form wieder vergeſſen zu haben und zu der ver⸗
ſchmähten männlichen zurückgekehrt zu ſein, wenn er im Sprechen
ſein Gebilde nicht Weib, fordern vielmehr Mann fein läßt und
ftatt nbapm mron fagt: nsmpm Nor, was ungefäht fo klingt
wie im Deutfchen: „o über das eitelfte Weſen“, fagte er, bie
cöllectrice nämlich, „das Ganze ift Eitelkeit“. Kurz in dem⸗
felben Maße als nbp durch ben Artikel feine appellativifche Be⸗
deutung wiedergewinnt, hört die Möglichkeit auf, dieſes femininiſche
Nomen mit maskuliniſchem Prädilat zu konſtruieren, wie ed an
allen drei Stellen gejchehen zu müſſen fcheint.
Indeſſen beruht. diefer Schein ja nur auf der oben bewiefenen
Notivendigkeit zwiſchen on und nomp ein m al8 gegebenes Texts
element anzuerkennen und auf der nicht notwendigen, fondern wills
kürlichen Deutung diefes m als Artikels des zweiten, anftatt als
determinntiven Affixes für das erfte Wort, welche die heutigen
The beok öf Koheleth. 188
Erflärer fir jelbftveritändlich Halten, und welche ich der Teichteren
Argumentation halber bisher habe gelten laſſen. Yet wage ich
mit berfelben Freiheit, welche ſich die Ausleger erlaubten, indem
fie nach 12, 8 die Stelle 7, 27 in m non umformten und mit
befferem Rechtsgrunde, umgekehrt die Formen 7 on in 1, 2 und
12, 8 nad) Maßgabe von 7, 27 in mon zurädzuverwandeln.
Mit befjerem Rechte: denn es ift Leicht zu erklären, daß ein
Schreiber, der bier überall denfelben Autor zu Hören meinte und
deshalb nbro für feinen Eigennamen Hielt, an ben Stellen mit
fonfurrierendem maskuliniiches Prädikat las; aber nicht, daß er
an einer einzigen Stelle verfehentlich ben Mann zum Weibe machte
und diefes Verſehen fi ohne Korreltur verewigte.. Wollte man
fagen, dag die unwillkürlich nach überwiegender Analogie Tefenden
Schreiber gerade in 7, 27 einmal nbmp> als Weib gedacht und
deshalb auch femininifches mon gelefen Haben, fo muß diefe Stelie
doch wohl ihrem ganzen Konterte nach dieſes Gefühl für die ap⸗
pellativiſche Bedeutung des Namens und darum für feine weibs
liche Natur geweckt Haben; und echte Überlieferung kann bewirkt
haben, dag man in ber nbnp des 27. Berfes die geſuchte
Weisheit von V. 22—25 und V. 28a und damit ein Weib
erfannte, welche dem verderblichen Weibe B. 26 gegenüberſteht,
„das giftiger als der Tod, fehlimmer als Yüger, an Stelle bes
Herzens und der Hände, mit dem ſonſt Weiber lieben und um⸗
armen, Ne und Schlingen trägt”. Aber aud) abgefehen hiervon,
ift diejenige Methode entſchieden richtiger, welche bei ber Erklärung
eines funftvoll gemünzten Ausdruckes nicht von den Stellen aus⸗
geht, wo er als fertige Minze ausgegeben wird, wie 1, 2 und
12, 8, fondern von derjenigen, wo wir ihn in feinem Werden, in
dem Metalifiuffe noch beobachten können, aus dem außgejchieden
er erft zur firierten Münze wurde. Und das ift die Stelle 7, 27;
bier ift die Fundftätte für die Elemente, welche zu nomp ergünzt
werden müſſen, um feine Herkunft zu begreifen umd die Objekte
zu erfennen, auf welche die in non» ausgebrüdte charafteriftifche
Thätigkeit bezogen werden fol. Die frühere Erklärung ergänzt ja
auch, aber ans der Phantafie und, was fich nicht von felbft ver-
ſteht, als Objekt „Iernbegierige Menſchen“. Dean rbnp foll ein
184 Wright
Redner fein, der eine Gemeinde Ternbegieriger Menſchen um fich
und feinen Vortrag gefammelt hat. In 7, 27 haben wir aber
den vom Verfaſſer jelbft gewollten vollen Gedanken, da heißt das
Subjelt yranin xun5 nmsb no nbrp, das ift — es giebt feine
andere richtige Auslegung — eine „fie, welche eine zum ans
deren hinzubringt, eine Thatſache mit der anderen, einen erften
Sat mit einem zweiten fombiniert, um auf diefe Weife ein Rech⸗
nungefazit oder einen Schluß von Gültigkeit zu gewinnen“.
Die, Auffpärer von Gräcismen werden, wenn ſie dieſes griechifch
denen: 7 avAdoysorıx) i. e. 7 ovAdoyılousyn (oder colligens)
Ev 1005 Eregov ToV sügeiv (avA)Aoysouov, jagen müſſen, daß
die griechiiche Definition 6) des ſyllogiſtiſchen Verfahrens
bei der Induktion nicht wohl anders in hebräifchen Worten
habe ausgedrückt werden können als bier. Ohne Bild ift das Sub-
jet nbr> alfo offenbar eine Methode des Denkens, ber
MWeltbetrahtung, durch welche der Weife zu einem Syſtem von
gültigen Wahrheiten und von ber dee der Welt und des Menſchen
entfprechenden fittlichen Regeln zu gelangen ſucht. Ich erinnere
nur daran, wie charafteriftiich e8 für die Betrachtungen des Autors
ift, zu der einen Seite der Sache nachher die andere Seite Hinzu-
zunehmen und den Unwert der einfeitigen Betrachtung barzuthun 7).
Diefer Methode fteht die andere gegenüber, welde den
Thoren harakterifiert, und welche darin befteht, daß ber
Menſch unbefinnlic) dem jedesmaligen Impulſe folgt, daß er jede
momentane Vorſtellung und Geftalt für die Wahrheit und das
Weſen nimmt, jeden Zrieb für eine zu realifierende Luft, jeden
lockenden Gegenftand für ein zu gewinnendes Gut, ohne zu bes
denen, daß diefe Eindrüde mit den Dingen beftändig wechſeln.
Da wandeln fih ihm dann beftändig die Wahrheiten in Lügen,
die Güter in Übel, er verftrict fih, verwirrt und betrogen durch
lauter Eitelfeiten, in verderblihe Naferei. Denn die Wahrheit
und das Gute Tiegen in unerreichbarer Ferne und unergründlicher
Tiefe für den, der nur dem erjten beften finnlichen Reize und
Augenschein folgt; nichts der erjcheinenden Dinge ift in ſich felber
und an fi) wertvollen Weſens für den nach dem Ewigen hun⸗
gernden Menjchen.
The book of Koheleth. 185
Im Bilde gedadt ift die Methode der Thorheit jenes ver»
derbliche Weib 7, 26, das darauf begierig, jeden Menſchen zu
fangen, Herz und Hand einem jeden PBaffanten zumirft, und fi)
verderblicher al8 der Tod zu erfahren giebt, indem der Angelodte
ftatt geliebt und gehegt, fich alsbald gefangen und gefnebelt findet.
Die Methode der alles zufammenfafjenden (na) Weisheit aber
(nawrm man), welche weiß, daß das Gute und Wahre nicht
in der Oberflähe und in dem Stücwerle der Erfcheinungen
unmittelbar ergriffen werden Tann, fondern als das Ferne und
tief Wohnende (V. 24) nur durch umfafjende, andauernd fort-
gefegte Betrachtung der Welt mittelbar erſchloſſen und
gefunden werden Tann (nun asob), ift im Bilde jenes
andere Weib, welches fich ferne und verborgen hält, welches
auh der Redner troß alles Suchens und des Verlangens ſei⸗
ner Seele lange nicht fand (V. 28a) und in demfelben Maße,
als er fie zu erreichen Hoffte, wieder ferngerüdt fah (V. 23);
fo wenig ift fie begehrt, fo wenig find ihre Wohnung und ihre
Wege befannt und einladend, fo vornehm hält: fie fi zurüd,
jo mühevoll ift der Zutritt zu ihr. Was Wunder, daB fie
ibm, als er fie endlich gefunden, erklärte: unter taufend Men⸗
chen gelinge dies kaum einem, und unter denen, welchen es ge
lungen, gebe es kein einziges Weib! Iſt es doch nicht de
Weibes Natur und Aufgabe, felbitändig das Rätſel der Welt durd
geduldige und Fühle Sammlung aller Inftanzen mit dem fchließen-
den DVerftande zu ergründen. Darum ift fie dem Gejee des
Mannes unterworfen. Aber eben dieſes felbe göttliche Weib, das
fich endlich finden ließ, um ihn zu lehren, flärte den Weifen auch
dahin auf, daß diefe verderbliche Herrichaft der Thorheit unter den
Menfchen und diefe geringe Bemühung um die das Geficht des
Menſchen erhellende und die Löſung des Welträtſels gewährende
Weisheit (8, 1) nicht ein von Gott der menſchlichen Natur in
tückiſcher Abficht oder Nachläffigleit eingegründeter Defekt fei, ſon⸗
dern daher komme, daß die Menfchen die Schlüffe und Ges
danken ihres eigenen Herzens und Willens gefucht haben
(7, 29, Ties ftatt a9 man, was ja nicht = on =
Syllogismen der Prozejfierenden, der Advokaten fein fol, viels
186 Wright
mehr nad) Gen. 6, 5 oyyb’n, entftellt durch Verluſt des oberen
Hakens am 5).
ft diefe Auslegung von 7,23 — 8,1 die natürliche und
richtige, fo entjpricht diefer erzählende Abjchnitt genau dem anderen
1, 12ff. Der Redner erzählte von ſich, wie er im Beſitze aller
lernbaren Weisheit doch zu Schanden geworden in bem Bemühen,
einen bleibenden Gewinn, ein reelles Gut, einen pofitiven Fort
ſchritt als das Unterjcheidende der verfchiedenen Lebend- und Ver⸗
haltungsweifen zu erkennen, bis er fich auf die beſchwerliche Fahrt
und den vielfach abjchreddenden und täujchenden Weg nach der
weifen Frau nbrp gemacht und in raftlofem Eifer und geduf-
digem Ausharren endlich ihr begegnet und von ihr, wie Numa
von der Egeria, in Unterricht genommen die befriedigende Löſung
de8 Menſchenrätſels erkundet habe. So nannte er diejenige
Denkweiſe, welde Anfang und Ende einer Sathe, Vorder- und
Rüdfeite eines Dinges, Licht und Schatten, Thefe und Antithefe
in den Dingen und Erſcheinungen in ınnfaflender Betrachtung zu:
fammenbringt, zufammenhält, um dann erit den mittel:
baren Schluß des Urteils über den Wert und das Wejen des
Gegenftandes zu wagen. Denn genau jo wie das grierhifche av4-
Agysıv, colligere und svAloyileiv und ovAdoyilscoder tft das
Berb bp zu verftehen, von welchem nbmp ald 7; ovAloyiLovoa
(sc. goplae) ober avAdoyıkousen oder ovAloysorıxı) gebildet ift;
und biefes an einer Stelle, welche der nbp als charakteriſtiſchen
Anhalt ihrer Thätigleit eben das beilegt, was die Methode des
Induktionsſchluſſes charakteriſtier. Als ein Schüler diefer Me⸗
thode der Betrachtung ift er zu feinem Frieden und zu entjchie-
dener Oppofition gegen die weitverbreitete Weltbetrachtung gekom⸗
men, welche in den Tag Bimeinlebt und in dem Wahne, zu er-
werben, zu gewinnen, zu bleibendem Genuß und Glück zu gelangen,
leerem Scheine nachjagt umd das unbewußt aufbraudgt oder unerkannt
fahren läßt, was Gott an reellem Wejen und Glück in des Men⸗
fchen Bereich gelegt hat.2) Und wenn er nun diefe Miethode der
Weltbetrachtung perfonifigieren wollte, wie das Bud der Prover⸗
bien (c. 5. 8. 9) Weisheit und Thorheit ale zwei Weiber denkt,
welche in verfchiedener Weife und mit entgegengeſetztem Effekte die
The book of Koheleth. 187
Menfchen zu fich einladen, fo durfte er jener Lehrerin den nad
feiner appellativiihen Bedeutung für ſie charakteriftifchen Namen
norp geben, feine Betrachtungen np ırı nennen (1, 1), weil
fie nach den Grundfägen angeftellt find, welche er von jener ge»
lernt, und Entfaltung von Ausfagen find, welche er von jener ges
hört hat, wie denn gleih 1, 2 == 12, 8 und 7, 28b. 29 fid
ausdrädtich als folche jelbft bezeichnen. Redet doch hier ein Sub-
jett, welches Gott und Menſchen zufehend, auch von beiden, ebenfo
gut wie von dem Weiſen, der fie citiert, und von feinem Zuhörer
unterfchieben werden will. in jolches, über der Meenjchheit
ftehend und ihr ganzes Treiben überblicend, kann über den Men⸗
chen, wie er empirifch iſt, das Urteil füllen (1, 2): „o des eitel-
ften Weſens, da8 Ganze iſt Eitelleit*. Denn nicht irgendein un-
faßbares, unbeftimmbares Ding ift e8, über welches diefer Ausruf
ergeht, Tondern das Menſchenkind, das feine Mutter, den das erfte
Weib dam nannte, ohne zu ahnen, daß diefes Präbilat der ganzen
Gattung gelte, das ift in feiner ganzen Gattung dan, und ihm
gegenüber find alle anderen mbar noch Realitäten, gleichwie dem
servus servorum gegenüber alle jonftigen servi al® liberi und
domini gelten müffen und dem ob bp gegenüber alle Könige
fonft als Unterthanen.
So Hat denn der Weife, der diefes Buch, diefe Sammlungen
(mpox 12, 11) entworfen und komponiert Bat, die Weisheit, von
weicher er Methode und Prinzip der Betrachtung lernte, hypo⸗
ftafiert und ale Weib perfonifiziert und ihr einen Namen gegeben,
welcher feiner Etymologie nach ihre Weſen als fo zu jagen das
principium colligendi et computum efficiendi ober concludendi
durchſichtig bezeichnet. In durchgängiger Übereinftimmung mit
feiner Litterarifchen Filtion behandelt er an allen drei Stellen, wo
er fie namentlich citiert, den Namen als femininum, indem er
ſagt nbrp row. Dagegen der Herausgeber des gegenwärtig vor⸗
Tiegenden Buches Hat zu einer Zeit, wo der gemeine Gebraud)
längft in ungenauer Kürze, aber zur Orientierung ausreichend, den
Berfafjer nach feinem Buche ohne weiteres felbft Koheleth nannte,
den Namen Koheleth als wirklichen und deshalb gefchlechtlofen
Eigennamen des weiten Mannes behandelt in 12, 9. 10 und
188 Wright
darum, um bie Shentifizierung der nbmp 1, 2 mit dem Ich des
Verfaſſers in 1, 12 zu erzwingen, wahrfcheinlich jelbft fchon in
das Buch 1, 1 die Appofition „Sohnes Davids, Königs in er
rufalem“, und 1, 12 die Appofition „Koheleth“ zu 38 einge
ſchoben.
Dieſes Mißverſtändnis beruht aber auf einer ſolchen relativen
Gleichgültigkeit gegen die Kunſt und Feinheit des litterariſchen
Rahmens, in welchen der erfte Verfaſſer fein Gedankengebilde ge⸗
faßt hat, daß jede Bürgfchaft dafür abhanden fommt, dieſer Heraus»
geber habe in ſachverſtändiger Schonung die ganzen Betrachtungs⸗
reihen und ihre Okonomie unverletzt und unverändert wiederge⸗
geben. Wer alſo, wie Bickell, in der ungerechtfertigten Mei⸗
nung, wir befäßen in dieſem Buche alles, was der erſte Autor
zulammengeftellt und ansgeführt habe, nur hier und da durch einen
Fehler in der mechanischen Buchbinderarbeit in verlehrte Ordnung
geraten, die urfpräingliche Ordnung bloß durch ebenfo mechanifche
Umbindung wiedergewinnen zu können gemeint, wird, ich wieder:
hole e8 nun auc von dem Nefultate diefer letzten Erörterung aus,
Gefahr Laufen, an die Stelle einer wirklich exiftierenden, wenn auch
mangelhaften und die urſprüngliche Intention vielfach, verdedenden
Drödnung, eine bloß hypothetiſche zu fegen, welche, je klarer fie
ift, um fo gewiffer nicht das wirklich eriftiert habende urſprüng⸗
liche Buch Koheleth wiederfpiegeln wird, fondern nur die Vorſtel⸗
lung des Heutigen Gelehrten über die Ordnung, die e8 haben
müßte, wenn er fich nach jeiner Weife zu denken darin leicht follte
zurechtfinden fünnen.
Möchten die weſentlichen Aefultate diefer Unterfuchung neben
den Buche Wrights, an das fie anknüpfen, vom Leſer als ein
Beitrag zum Berftändnis des ebenfo bedeutenden als fchwierigen
ecclesiastes und von Herrn Wright jelber als ein Zeichen der
herzlichen Dankbarkeit für fein fchönes Geſchenk angefehen werden!
Dazu ift e8 freilich nötig, daß fie nicht zu der Zahl derjenigen
meiner Freunde und Fachgenoſſen gehören, welche jede neue Ans
ficht, ob auch noch fo ſehr mit negativen und pofitiven Gründen
gejtügt, von vornherein ohne Verſuch der Widerlegung ablehnen,
fo lange nicht wenigſtens eine ältere Autorität dafür angeführt
The book of Koheleth. ns
werden Tann, als ob der Glaubentartifel (Augustan. VII) von
der vera eccleia in perpetuum mansura aud) auf die für die
Gemeinde des Heiles und den Glauben an ſich gleichyültige Be⸗
wegung der philologifhen Ergründung bibliſcher Tertphänomene
angewandt werden müßte. Es ift aber auch unbillig gegen mid)
und meinesgleihen. Denn erften®, feit welcher Zeit werden die
biblifchen Texte nicht mehr von dem Standpunlte aus angefehen,
da alle Varianten der codices und Berfionen lediglich als zu⸗
fällige oder abfictlihe Änderungen des textus receptus zu ber
greifen fein? Seit wann von meiner Überzeugung aus, daf die
Zertüberlieferung zwar im ganzen und großen eine au@gezeichnete,
aber im einzelnen vielfach teil® durch injuria temporum, teile
durch die rein praftifchen Geſichtspunkte oder das öftere traditions⸗
lofe Raten der Konftitutoren des textus receptus korrumpiert
worden fei und vielfady durch methodifche und vorfidhtige Benutzung
der ungedrudten Handjchriften und der Verſionen, ſowie durch
genaue Logifche und rhetoriihe Ergründung des Zufammenhanges
gebeffert werben lünne? Wo follen wir denn die Autoritäten noch
fuchen, welche mit ihrem gewiß oder doc vielleicht größeren Ver⸗
mögen ebenfo anhaltend und mit derfelben objektiv wifjenfchaftlichen
Tendenz, wie wir diefe Texte betrachtet haben, aus denen wir neben
Alten auch Neues fchöpfen, fo dag wir unter ihren Schild flüchten
fönnten? Zweitens aber, warum foll von den alten Gelehr⸗
ten es jest anerfannt werden, wenn fie eine zu ihrer Seit neue
Anficht aufgeftellt haben, wir aber follen nie „Nagelnenes“ vorzu⸗
tragen das Recht haben, wenn nicht mindeften® ein Vorgänger da
ft? Wer fchütt und deckt denn diefen Vorgänger? Es ſcheint
alfo erft ein gewiſſer Schimmel bes Alters nötig zu fein, menn
eine neugeprägte Münze als echt angenommen werden fol. Und
da heute den alten Gelehrten erlaubt wird, baß fie finguläre Weir
nungen gewagt haben, fo dürfen wir, die wir die Forſchung durch
neue Erfenntniffe zu fördern fuchen, Hoffen, biefelben in einer
künftigen Generation, wenn fie erft angefhimmelt find, aud von
ben ängftlichen Gemütern anerkannt zu jehen, welchen fie Heute zu
neu find.
190 Wright, The book of Koheleth.
Aumerinungen.
1) Wie z. B. Kleinert in feiner anregenden und geiftreichen Abhand-
ung in diefer Zeitfchrift 1883, 9. 4, S. 766.
2) Die betreffende Schrift Bidells foll nad einer buchhändleriſchen An⸗
zeige inzwiſchen erſchienen fein.
3) Danach ift auch 10, 19 unter Tilgung ber zweiten Überfegung von
MY) des Wortes dnaxovseras, flatt roũ dpyvoiov ransındası herzuftellen:
To doyvowy zanewoi av (Ta ndvra).
4) Es ift diefes ebenfo bloß eine orthographiſche Verſchiedenheit wie in
&. 4, 2: 139 gegenüber fonftigem 1] 119-
5) Luther (E. A. opp. lat. v. 21, p. 11): titulus referendus — ad
ipsius libri nomen. Tüchtige Männer haben Tifchreden Salomos aufgezeich-
net, und nad) folder concio ift das Buch von ihnen genannt worden non
quod Salomon ipse concionator fuerit, sed quod hic liber concionetur,
tanquam publicus sermo.
6) Bol. Aristoteles (top. 1, 12): dnaywyn * no 109 za9” —
eni To xayoAov Epodos und (anal. pr. 2, 23): 6 6E Enaywyüs guvälo-
yıouos To die Tod Eregov daregor 6x00v 7% den ovAkoylaaadum. Fer
ner Platons Definition des eidos als hervorgehend &x moAlcy alayijaswr
eig Ev Aoyıou@ Euvvasgovusvwr (Phaedr. 249 B).
7) Bgl. Luther (a a. DO, p. 7 u. p. 21): colligit S. induc-
tione quadam perpetua singularium — studia — vana esse, ut ex
singularibus universalem conclusionem efficiat. — — incipit
enumerare particularia dislectica inductione universalem ae
collecturus.
8) Bol. Luther a. a. DO. p. 7. 8.
Kiel, Mei 1884. Dr. Kloſtermann.
Sry wı 3. ©. B. Bogel ia Yripyie.
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Brieger, Th.: Quellen und Forſchungen zur Se:
Shichte der Reformation I. Aleander und Luther
1521 . 7 —
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buch der neuteftamentlihen Gräcität. 4. ver-
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Gloatz, B.: Spetulative Theologie in Verbin-
dung mit ber Religionsgefdhidte 1. en
1. und 2. Hälfte . En . 2
Kingsley, Charles: Dorfpredigten —
Kolde, —* Martin Luther.
Stende, E. G.: Beiträge zur Apologetit! —
Vademecum ang Luthers Schriften, für die evang.
Schüler der oberen Kiaffen höherer Lehranftalten zu«
fammengeftellt und herausgeg. von Dr. Guſt. —
und Dr. Johannes Delius . . ; 1 —
Bir, Eh. A.: Ulrih Zwingli. Vorträge 2.240
> 02 09 a
Drnd von Triebe. Andre. Perthes in Gotha,
Zur gefäligen Beachtung!
Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen
find an Brofeffor D. Riehm oder Konfiitorialrath D. Köftlin in
Halle a/S. zu richten; dagegen jind die übrigen auf dem Titel
genannten, aber bei dem NRedaktionsgefchäft nicht beteiligten Herren
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re⸗
daftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Palkete
zu franfieren. Innerhalb des Poftbezirts des Deutjchen Reiches, ſowie
aus Oſterreich Ungarn, werden Manuffripte, falls fie nicht allzu
umfangreich find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nidt
überfteigen, am beiten al8 Doppelbrief verfenbet.
Friedrich Andreas Perthes.
; Sn h alt.
—
SR Eeite
Abhandinngen.
1. Benrath, Wiedertäufer im Seelen den um bie Mitte des 16. Jahr⸗
hunderts. . . . 9
2. Meyer, Die Wahfreiheit des "Willens und die fi cliche — ————
lichkeit des Menſchen. ... Be .. 67
Gedanken und Bemerkungen.
1. Koffmane, Zu Luthers Botfen und Tiſchreden be an et nee Ze
Rezenfionen.
1. Wright, The book 0° Kohelet; rez. von Korea: se 151
Drud von Friedr. Audr. Pertber in Gotha.
I
En U Dr
Cheologifche
Studien und Kritiken.
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Fine Beitfhrift
für
das gejamte Gebiet der Theologie,
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D. 3. Köſtlin un D. €. Riehm. Ü
= Bahrgang 1885, zweites SORTE IC N) er
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Theologiſche |
Studien und Kritiken.
Fine Beitfhrift
für
das geſamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. &. Ullmann un D. F. W. €. Umbreit
und in Berbindung mit
D. ©. Sanur, D. W. Beyſchlag um D. 3. Wagenmann
herausgegeben
D. 3. Köflin um D, E. Riehm.
Dahrgang 1885, zweites Seft.
Gotha,
Friedrich Andreas Perthes.
1885.
Digitized by Google
Abhandlungen.
— — —
Digitized by Google
1.
Die Riebesthätigleit der Dentfchen Reformation. *)
Bon
Brofeffor H. Hering
in Halk.
nl.
Kampf und Arbeit vom Sanernkrieg bis zum Wotjahr 1529.
1
Bon Anfang hatte Luthers Scharfblid die Gefahr erkannt, mit
welcher die foziale Bewegung, erfüllt wie fie war mit religiöſem
Pathos und dem Geiſt der Auflehnung, das Evangelium bedrohte.
Seine Befürchtungen gingen in Erfüllung. Auch die Fähigkeit der
Reformation, die Forderungen evangeliiher Bruder- und Nächiten-
liebe heilend, ernenernd, erwärmend in das Vollsleben, in die for
zialen Verhäftniffe, in die Ordnungen des Öffentlichen Lebens ein-
greifen zu laſſen, iſt durch das Eine Jahr des Unheils, 1525,
abgefhwächt und tief gejchädigt worden. Diefe Forderungen konnten
doch nur in Kraft treten, wenn fie ihrem evangelifchen Weſen ge-
treu zuerft auf die Perfünlichkeit wirkten, Gefinnung, Liebe aus
Glauben wedten. Nur fo konnte die veränderte fittliche Tempe⸗
ratur entftehen, die eine Ausftrahlung aus dem Perjonleben, gleich⸗
*) Bgl. Stud. u. Krit,, Jahrg. 1884, 9. 2.
1% Hering
fam ſchichtweiſe das Volksleben durchziehen, die Stände einander
annähern, in den herrſchenden Klafjen den Sinn fir chriftliche
Billigkeit weden, neue Ordnungen mit Geift und Leben erfüllen
und eine durchgreifende, erneuernde Macht werden mag. Ein fitt-
fiher Prozeß, welcher, je mehr zarte Keime zu pflegen und zu
Ihonen waren, Zeit brauchte. Vielleicht Hat Feiner der Männer,
die ihn einleiteten, gleich damals erkannt, wie viel Zeit!
So war es verhängnispoll, daß die foziale Frage fich gleichſam
der chriſtlichen Nächftenliebe bemächtigte, noch ehe dieſe Zeit ge
wann, von fi) aus auf die Verhältniffe des armen Bauernftandes
eifizunwirken. Die zwölf Artikel der Bauern waren zwar gemäßigt
nach Inhalt und Form, aber in ihnen vollzog fich doch der Übergang
von einer fachlichen, konkreten Behandlung zur falſch prinzipiellen,
welche aus dem Worte Gottes den Anſpruch auf Jagd⸗ und Fild-
gerechtigfeit beurteilt fehen und aus ber Erlöfung aller durch das
töftliche Blutvergießen Chrifti die Forderung perfönlicher Zreiheit
im fozialen Sinn, die Abfchaffung der Leibeigenfchaft BHerleiten
wollte. Wie berechtigt einzelne Forderungen waren, dieſe ihre
Begründung war falih. In ihre wiederholte fih von anderen
Borausfegungen und in verfchiedener Tendenz der Fehler des mittel»
alterlichen Geiftes, ſittliche Forderungen in juribiiche Formen zu
verbilden. Diefe Verbildung hatte ſich freilich nicht in Bauern
köpfen vollzogen. Sie hing mit religiöfen Beftrebungen zufammen,
welche älter waren, al8 die foziale Bewegung im deutfchen Bauern:
ftande, ſich in bdiefelbe eindrängten, fie dann überdauerten. ine
Zeit lang Haben fie faft nur verderblich anf diefelbe eingewirkt; zus
legt, in einer bintigen Kataftrophe von ihr gelöft, doch noch eine
Frucht des Vriedend getragen. So wurde, um ihr Weſen rein zu
behaupten, die Borberung der Nächftenliebe gleihfam in die Defen-
five gedrängt; eine Stellung, die nie für fie günftig ift, wenn fie
zugleich Großes Teiften folf.
Schon an dem Gutachten Luthers, feiner Ermahnung zum
Frieden auf die zwölf Artifel der Bauerfhaft in Schwaben tritt
dies hervor !). Er ftraft die Fürften und Herren aufs freimätigfte;
1) E A. 2. Aufl, ©. 269 ff. Köfllin, M. Luther L; 786.
Die Liebesthätigkeit der beutichen Reformation. 197
ihnen, ſowie den „blinden Bifchöfen und tollen Pfaffen“ giebt er
diefen Aufruhr fchuld, ihrem Wüten gegen das heilige Evangelium,
dem Schinden und Schaten, ber Pracht und dem Hodmut; er
jelbft hätte mohl mehr Artikel gegen fie zu ftellen, welche Deutſch⸗
fand und das Regiment betreffen, wie er e8 in feinem Bud an
den Adel gethan, das fie in Wind gefchlagen; er billigt auch einige
der Artifel der Bauern: man möge ihnen nicht abjchlagen, ihren
Pfarrer zu wählen; auch die Bejchwerden über den Leibfall, der zu
geben war, wenn der Hauswirt ftarb, und über andere Aufjäge
oder Abgaben feien billig und recht; wohin folle e8 führen, wenn
die Obrigfeit da8 Gut der Bauern für Üppigfeit und Pracht ver-
ſchleudere? Anderfeits will Quther den Bauern freundlich ins Ge-
wiſſen reden, und er befennt, daß die Fürſten und Herren, welche
das Evangelium zu predigen verbieten und die Leute unerträglich
beichweren, e8 wohl verdient hätten, daß Gott fie vom Stuhl ftürze.
Aber doch ift feine Schrift weniger ein fachlicher Beitrag zur Lö»
fung der konkreten Fragen, zur Beurteilung der einzelnen Ansprüche,
als eine Verwahrung bed Evangeliums Die Herren
warnt er vor der Läfterung, die ſchon verlautet: das Evangelium
fei Schuld, indem er auch von ihnen das Zeugnis beanfprucht, mit
aller Stille gelehrt, gegen den Aufuhr geitritten, die Unterthanen
zum Gehorfam vermahnt zu haben, und auf die „Morbpropheten“,
die ihm eben fo feind feien al8 den Herren — er meint Münzer
und feine Geiftesgenofjen — als die Urheber des Aufruhrs Hin»
weift. An den Bauern aber tadelt er, daß fie fich eine „chriftliche
Sammlung“ nennen, während doch ihr Berhalten durchaus uns
Hriftlich fei. Auflehnung gegen die Obrigkeit fei ja ſchon gegen
das natürfiche Recht, da8 auch Heiden und Türken haben, wie viel
mehr gegen das göttliche, in dem Gott fpricht: Die Rache ift
mein, ich will vergelten! gegen das chriftliche und evangelifche
Recht, welches nad) dem Wort des oberften Herrn, Chriſti, lautet:
Ihr ſollt dem Übel nicht widerftehen; wer dic) auf den einen
Baden fchlägt, dem Halte den andern aud bar. So fei «8
Schmähung des Evangeliums, wenn fie fih für Leib und Gut
und weltliche Dinge auf dasjelbe berufen. Eins nur fei ihnen
underwehrt, wenn ſie's mit ihrem Begehren ernſt meinten, das
198 Hering
Evangelium. Stätte, Ort und Raum, da es gepredigt wird, möch⸗
ten die Herren dafelbft ihmen wehren: „Das aber ift unleidfich,
dag man jemand den Himmel zufchließe und mit Gewalt in bie
Hölle jage; folch's foll ja niemand leiden, und ehe hundert Hälfe
drüber laſſen. Es ift and) keine Gewalt im Himmel und auf
Erden, bie folches vermöge. Denn es ift eine öffenliche Lehre, die
unter dem Himmel frei bahergeht, an keinen Drt gebunden, wie
der Stern, der Chrifti Geburt den Weifen aus dem Morgenlande
anzeigte.“
So wies er mit Worten voller Macht auf das eine wefentliche
Gut Hin, Hinter welchem aber andere Güter- und Rechtsfragen
zurücktreten follten und fügte die fchneidigften Warnungen vor den
neuen Geiftern Binzu, die er längft als Mordpropheten erfannt,
vor denen er wiederholt ſchon vorher gewarnt hatte. In dem aufs
rührerifchen Wefen fah er ihre Saat aufgehen. Auch mit dem,
was er ben Bauern vorhielt, blieb er dem getreu, was er im
Traftat „von der Freiheit eines Chriftenmenfchen“ gelehrt, in feinen
Sozialen Schriften wiederholt ausgeführt Hatte. Dulden zu können,
gehört dem Chriften zu; zeigt fich darin feine Freiheit, fo darf er
ſich auf diefe nicht berufen, weil er nicht dulden will. So blieb
fih Luther glei; und doch fanden die Forderungen Teidentlichen
Sinnes jegt durch die Verhältniffe eine andere Anwendung, als in
feiner Schrift gegen den Wucher. Damals richtete er fich gegen
eine Tiebloje Geſchäftspraxis: jegt war er genötigt, Trotz, Begehr⸗
Tichfeit und Eigenwilligkeit des niederen Volkes in bie gleichen
Schranken zu verweifen. Ging er damals zu weit, erfchien er ra⸗
difal, fo fcheint er jegt zu wenig zu thun, fich allzu fpröde zurück⸗
zuhalten. Und dod) Tag der Verſchiedenheit die gleiche Urfache zu⸗
grunde. Ohne volle Kenntnis der in fozialen Reformen Tiegenden
Schwierigkeiten, ohne volle Würdigung auch der natürlichen und
rechtlichen Bedingtheiten fozialer Verhältniſſe, des gefchäftlichen Be⸗
trieb8, der natürlich= zeitlichen Intereſſen macht er die religiöfen
Forderungen unvermittelt geltend. Das Kritiſche des Moments,
der das Losbrechen des Aufruhrs fürchten ließ, das Bedürfnis,
da8 Evangelium gegen zubringliche Bundesgenoffen zu fehlen,
feine Sache nicht in Welthändel verſtrickt zu fehen, machte ſich zu-
Die Liebesthätigkeit der deutfchen Reformation. 199
gleich geltend und gab feinem Gutachten den Charakter einer bloßen
Bermahnung zum Frieden. Fand fie Gehör, fo war unfägliches
Elend abgewendet; aber als Orientierung über die Löſung der
fchwebenden Fragen bedeutete fie zu wenig.
Die Ohbrigfeiten waren eben damals durch die allgemeinften
Beihwerden der Bauerichaft vor die Aufgabe geftellt, das Rechts⸗
verhältnis der Xeibeigenen zu modifizieren; eine Aufgabe, die eine
wirtfchaftliche, aber doch auch eine ethiiche Seite Hatte. Eben dieſe
war, nur falfch formuliert, von den Bauern hernorgehoben. Er⸗
innerte nun. Zuther, ein Leibeigener könne fo gut wie ein Ge:
fangener und Kranker hriftliche Freiheit haben, jo hatte er recht.
Gleiches hatte er im Eingang feines Sermons von der Freiheit
gefagt: und doch traf der Einwurf nicht den Kern der Sache, nur
die irrende Formel. Diefe Bauern, welche die chriftliche Freiheit
im Munde führten, waren in Wirklichkeit noch nicht fo freie, durch
die Gemeinfhaft de8 Wortes zur inneren geiftlichen Herrfchaft
über alle Dinge erhobene Chriften. Kaum berührt vom Licht
des Evangeliumd und in bdemfelben Augenblick ſchon trregeführt
durh Schwarmgeifter bedurften fie einer Erziehung zum Evange⸗
fium; und für diefe religiös-fittliche Vollserziehung machte es einen
Unterfied, ob man ein Hecht beftehen Tieß, aufbob oder doch
milderte, welches der zügellojeften Willfür, der unbarmherzigften
Ausbeutung als Schirm gedient Hatte. Anderfeits erhob fih auch
für die Herrfchenden, Befitenden die ethifche Frage, ob fie Leib-
eigene behalten, die harten Forderungen, in denen fittliches Unrecht
gefhichtliches Recht war, ferner gegen ihre Unterthanen geltend
machen, kraft ihres Rechts ferner „Ichinden und ſchaben“ dürften.
Wir fahen, wie Urbanus Rhegius ſich auf die chriſtliche Bruder»
Tiebe berief, die mehr Teiften müſſe, als das Geſetz, das doch ein
Freigeben der Sklaven nad gewilfen Zeitraum gebot, um ben
Herren die Freigebung ihrer Leibeigenen and Herz zu lenen. Er
mochte dabei überfehen, auf welche Schwierigfeiten die Änderung
eines Rechts ftoßen mußte, das doch die Grundlage für die wirt«
ſchaftliche Exiftenz vieler Herrfchaften, ja, aud) für die der Hörigen
bildete. Die Bewältigung diefer Schwierigkeiten blieb freilich den
Staatsmännern und ihren Räten befohlen. Aber der Geiftesmacht
20 Hering
der Reformation wäre bie Aufgabe zugefalfen, ben ſittlichen Wert
einer größeren perfönlichen Freiheit auch für die äußeren Verhält⸗
niffe geltend zu machen, die Geifter für eine befreiende That zu
gewinnen und zu erziehen. Die Revolution hat bie Reformation
bieran gehindert, und zwei Jahrhunderte find noch vergangen, bis
diefe foziale Frage durch Schaffung eines freien Bauernſtandes ges
löft worden tft !).
Trotz diefer durch die Lage ihr aufgedrängten Zurüdhaltung
blieb Luthers Vermahnung noh ein wohlmwollendes
Fürwort für die Abjtellung mandher Beſchwerden.
Au erteilt er einen treuen Nat, der, als der Aufftand gedämpft
war, vielfach befolgt worden ift: aus dem Adel etliche Grafen und
Herren, aus ben Städten etliche Ratsherren zu ermählen und durch
fie diefe Sachen handeln zu laſſen. Er hatte freilich gemeint, durch
folche gütliche VBerhandlung dem Blutvergießen zuborzulommen,
während doch „ſchreckliche Zeichen und Wunder, die diefe Zeit Her
gefchehen waren, ihm einen fchweren Mut machten“.
2.
Er mußte nicht, daß feine trüben Vorahnungen eben durch die
Ereigniffe überboten waren. Der Aufruhr war in Süddeutſchland
mit Ungeftüm entbrannt, und unmittelbar vor der Abfaffung feiner
Bermahnung zum Frieden hatten die Bauern fi) mit der grau⸗
famen Ermordung einer Anzahl Adeliger befledt. ALS Luther von
dem Ausbrud) der Empörung Börte, hielt er e8 für Pflicht, der
Obrigkeit da8 Gewiffen zum Kampf zu ftärfen. So entftand
feine Schrift „Wider die mördifhen und räubifchen Rotten der
Bauern“ 2).
Ihre Schärfe ift Luther oft zum Vorwurf gemadit. Es ift
wahr, in ihr lodert das Teuer eines gewaltigen Zorns; aber derjelbe
ftammt nicht nur aus der Erregung eines Moments; das Schluß-
wort fpricht vielmehr den Grund jener Heftigfeit aus: „Dünft
1) Hierbei denke ich an die Aufhebung der Leibeigenjchaft in Oftpreußen durch
König Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1719. Stadelmann, Friedrich Wil⸗
heim I. Leipzig 1878. ©. 73. 76.
3) €. A. 24, 300. ,
Die Liebesthätigkeit deu bemtichen Reformation. 9
das jemand zu hart, ber denke, daß unträglich iſt Aufruhr,
und alle Stunde der Welt Verftörang zu erwarten je.“ Ja,
wie Luther es fpüter noch mehr zufpiget !), als rechte Barm-
herzigfeit erſchien ihm das Dreinfhlagen mit dem Schwert, da
Gefahr drohte, daß bei unzeitiger Milde und zögerndem Hinhalten
nnermefliches Blutvergießen entftände und fo viele Witwen und
Waiſen würben. Und umgekehrt fet die Barmherzigkeit, welche bie
Gegner feiner Schärfe meinten, Graufamteit, ein rechtes Kenn
zeichen dieſes unfeligen Prophetengeiftes, ver Geiftliches und Welt
liches vermengte, Rechte im Namen des Evangeliums forderte, und,
wenn nach dem Recht geftraft werden follte, Barmherzigkeit. ver-
langte.
Dennoch überſah Luther in ſolchem Eifer nicht, daß der Auf⸗
ruhr auch ein Gottesgericht war. Als ein ſolches hatte er es ſchon
in ſeiner Vermahnung zum Frieden den Herren vorgehalten. Auch
jetzt, da er ſich ihres Strafamts aus dem Worte Gottes annahm,
wollte er zwar der Obrigkeit nicht wehren, ohne vorhergehendes
Erbieten zu Recht und Billigkeit die Bauern zu ſchlagen; es ſei
ihr Recht, und jene ſeien treulos, meineidig, ungehorſam geworden.
Eines anderen aber verſah er ſich von einer chriſt—
lichen Obrigkeit, die das Evangelium leiden wolle.
Sie ſolle mit Furcht und demütigem Gebet zu Gott handeln und
ſich gegen die tollen Bauern zum Überfluß, ob ſie es gleich nicht
wert ſeien, zu Recht und Gleichem erbieten, um dann, wenn das
nicht helfe, zum Schwert zu greifen. Um Erbarmen bat er be-
ſonders für die, melde ſich ans Schwachheit, mochte diefe auch
eines Chriften unmwürdig fein, fi zu der DVerbrüderung mit den
1) Seubbrief vom harten Büchlein wider die Bauern, €. A. 24, 317.
321f. Bol. Köftlin, M. Luther 7, 752. Selbſt in der Zeit der Abfoffung
des Sendbriefs kann Luther von der Weinsberger Blutthat, die am 16. April
ftattfand, noch nichts gehört haben. Das zeigt die Antwort, die er E. 9. 24,
3522 anf den Einwurf erteilt: Die Bauern Haben ja noch niemand erwürget.
Hierdurch verftärkt fich od) der Beweis Köftlins in feiner Streitichrift „Wider
Sanffen”. Der Ietere möchte, wie vor ihm ſchon Jörg, Luther die Ermah-
nung zum Frieden fchreiben laffen, nachdem er von jener That der Bauern
gehört!
202 Hering
Aufftändifchen Hatten drängen Laffen, ſowie für die, welche fich zu
Gnaden ergeben würden, nicht nur für die Unfchuldigen, fondern
auch für die Schuldigen !). Wenn man die Verſchiedenheit zweier
Zeitalter außeradht Taffen will, wird man dem Reformator feinen
Aufruf zum Strafen und Dreinfchlagen zum Vorwurf machen
können. Aber er ift doch mitten im Zorneseifer auch Fürbitter
für das arme verbfenbete Voll. Nie, auch im Ausbruch der Hef-
tigkeit nicht verlöfcht der Zug der Milde, des Tiebreichen Mitleids mit
den Sündern, der gerade zu feiner evangelifchen Sinnesart gehörte,
wie ex feinem Zeugnis vom Glauben an das göttliche Erbarmen
in Chrifto entfprad).
Und deutlich läßt fih der Einfluß beachten, der von feiner
Haltung, feinem Worte ausging. Für bemerfenswerte Verfuche, die
Empörten gütlich zu beruhigen, ift feine Ermahnung zum Frieden
gleihfam die Grundlage, die orientierende Linie. Kurfürft Ludwig
von der Pfalz überfandte in der Mitte des Mai 1525 Luthers
Ermahnung zum Frieden an Melanchthon und Brenz, um von
ihnen ein Gutachten zu erbitten. Von einem wohlwollenden Fürften
aufgefordert, nicht wie Luther von Vollsführern am Vorabend des
Aufruhre um Nat erfucht, befanden fich diefe Theologen in gün-
ftigerer Lage als Luther. Sie durften auf Friedensliebe, landes⸗
väterliche Weisheit rechnen und waren ber Gefahr, Mißverſtänd⸗
nifje zu erregen und Ansprüche zu fteigern nicht ausgeſetzt. Ander⸗
ſeits ftand man noch mitten im helfen Aufruhr. So entſprach e8 den
Berhältniffen, wenn die Gutachten im ganzen den Stand—
punkt der Verwahrung des Evangeliums, der Nächſten—
liebe gegen die Bermifhung mit NRedhtsfragen inne
hielten. Auch fo Tießen fie auf die Teßteren bier und da Licht
ftrablen aus dem Evangelium fallen.
Melanchthon riet dem Kurfürften, gütig mit den verführten
Unterthanen umzugehen, in der Beltrafung Maß zu halten und
den Unſchuldigen zurechtzuhelfen, indem er erinnerte, daß ein folches
Verhalten auch recht fürftlich fei. Tritt hier die Milde des Be⸗
rater8 hervor, fo war fein Urteil über die einzelnen Beſchwerden
1) €. 9. 24, 317. 338.
Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 203
ber Bauern, gleich dem Luthers durch das Beſtreben beeinflußt,
vor allem den Gehorfam gegen die Obrigkeit ficher zu ftellen.
So gelangte er dazu, auch folde Dinge zu rechtfertigen, welche
den Bauern unerträglich geworden waren und teil& mit verfehlten
juriftifchen Gründen, teils mit der Forderung leidentlichen Gehorſams
fich mit einer Aufgabe abzufinden, welche mehr Kenntnis des Volle»
febens erforderte, als er befeifen haben wird. In dem, was die Pre-
digt des Evangeliums, die Zehntenfrage und bie Leibeigenfchaft bes
traf, folgte er Luthers Ausfprüchen in der Vermahnung zum
Trieden; an anderen Punkten überbot er Luther an Herbigkeit.
Er, der Theolog, berief ſich auf das römiſche Recht, nad) dem
jeder Eigentümer da8 Betreten feines Grundſtücks unterfagen
könne, um die Forderung freier Jagdnutzung, in der doch wohl
no Erinnerungen bes älteren deutſchen Rechtes nachllangen, abzu-
weifen. Zu der Beſchwerde über die erdrüdende Belaftung der
Süter mit Zinfen und Gülten bemerfte er, daß dies eine weit
läufige Sache fei, erinnerte aber doch an das apoftolifche Wort,
daß niemand zu weit greife, noch feinen Bruder überporteile im
Handel, denn der Herr ſei der Rächer Über das alles (1 Theſſ.
4,6). Am fchroffiten aber kommt das durch jo arge Erfahrungen
beftimmte Urteil über da8 Volt in der Art zum Ausdrud, in
welcher er fich zu den Beſchwerden über parteiifche Rechtſprechung
und ungerechte Beftrafung äußert. Gewiß trafen diefe Befchwerben
einen der wundeſten Punkte der damaligen Strafjuftiz; aber Me⸗
lanchthon erwidert, die Deutjchen feien immer ein jo ungezogenes,
mutwilliges, biutgieriges Volt geweſen, daß man fie billig viel
bürter halten follte. Anregung auf Reformen zugunften des Volkes -
zu finnen gab dagegen das, was er über den Wildfchaden, über die
Herausgabe von Almendwäldern, melde die Herren an fich ge-
zogen, über Frondienfte und die harte Abgabe des Todfalls fagte.
Hier riet er nachzugeben, es fei gegen Gottes Gebot, arme Waifen
zu berauben. Außerdem fügte er in einem befonderen Anhang
Ermahnungen zum Maphalten und zur Milde für die Fürſten
hinzu '). '
3) Corp. Ref. XX, 641. Schmidt, Phil. Melanchthon ©. 124. Hart-
24 | Hering
Tiefer als Melanchthon war Brenz in das Verftändnis der
fozialen Frage eingedrungen. Er war ſtets in Fühlung mit der
Entwickelung der Dinge in Süddeutſchland geblieben, hatte, während
es im Landvolk gährte, den Gehorfam gegen die Obrigkeit gepre-
digt, die chriftliche Freiheit eifrig gegen Mißverſtand verwahrt und
ſcharf das fleifchliche Evangelium gezüchtigt, deffen Summa lau⸗
tete: Schlag tot, gieb niemand nichts! Auch da, als in der erften
Hälfte des März die zwölf Artifel durch das Volk flogen, Hatte
er auf Erſuchen des Rats von Hall einer anfragenden Dorf»
‚gemeinde evangelische Belehrung über das Recht der Obrigleit er-
teilt). Selbft ein Götz von Berlichingen hatte ihn als eine
Autorität citiert, al er die Bauern ermahnte, von ihrem Vor⸗
haben abzuftehen ). Und jet berief ihn Pfalzgraf Ludwig zu
einer Beratung nad Heidelberg. Da Brenz verhindert war, zu
tommen, reichte er wie Melanchthon ein fchriftliches Gutachten ein.
Dasfelbe ift gleich ausgezeichnet durch Weisheit, Sachkenntnis
und Freimut. Es ſchärft den Herren das Gewiſſen, und während
es das Hecht der Obrigkeit verwahrt und von den Unterthanen
fordert, auch Unrecht zu dulden und darin ihre Treue zu bewähren,
wendet es fich zugleich an die Weisheit und an die chriftliche Billig⸗
teit der Herren. So macht Brenz gleich Luther zwar den geift-
lichen Charakter der chriftlichen Freiheit gegen das Verlangen nad
‚Aufhebung der Leibeigenjchaft geltend, doch betont er das Chrift-
liche auch für die Herren: Ein driftlider Herr wird allerdings
feine Leibeigenen gern entlafjen; Hat doch der Herr gejagt: was
ihr wollt, daß euch die Leute thun follen, das thut ihr ihnen;
macht doc) das Geſetz Moſis den Sklaven nad jechsjühriger Dienft-
barfeit frei. So lenkt die Berufung auf die Schrift immer wie⸗
der auf das Wort de8 Herrn zurüd, auf weldhem die veformatp-
riſche Lehre von der Nächſtenliebe fich aufbaute, und zugleich nimmt
felder, Zur Geichichte des Bauernfriegs in Südweſtdeutſchland. Stuttg. 1884.
©. 184 ff. Melanchthon ſchreibt Anfang Juni, daß er die Schrift abgeſchickt
habe. Corp. Ref. I, 748,
I) Hartmann, I. Brenz, ©. 17,
2) Vgl. die intereffante Nechtfertigung des Götz von Zöpfel in der Ge⸗
ſchichte des Ritters, 1861, ©. 749.
BDie Lichesthätigfeit der -deutjchen Reformation. 206
fie diejenigen altteftamentlichen Geſetzesbeſtimmungen für die Frage
der Leibeigenschaft als Hilfsfäge Hinzu, die, wenn auch an fi
nicht beweifend, doc eine Analogie für die chriftliche Bittlichkeit
einfchloffen, und auf die wir Urbanus Rhegius ſchon im Februar
1525 zurüdgreifen ſahen ). Brenz nimmt fi) ferner der Unter»
thanen wegen der Überbürdung mit Srondienften und Gülten an;
vor allem fei der Zodfall hart, durch den Witwen und Waiſen
nicht nur den Vater fjondern auch ihr Gut verlieren. Die Des
ſchwerde über die oft willfürlic verhängten Herten Strafen giebt
ihm Anlaß zu der Warnung, die Obrigkeit ſolle die Perfon nicht
anfehen; aud möge fie nach dem gejchriebenen Recht und nicht
willkürlich ftrafen. Zur Billigfeit redet er auch inbezug auf dies
jenigen Fülle, welche mit den Forderungen ‚ber Liebe nicht :in fo
engem Zuſammenhang ftanden; er, ber Theologe, hbertrat den
Stanäpunft ftantsmännifcher und landegväterlicher Weisheit, die
durch das Wohlbefinden der Armeren Untertbanen das Wohl des
Gauzen mitverbürgt ſieht. So möchte er 3. B. die Frage nach
ben Hecht auf Wild- und auf Waldnutzung, auf Anteil an der
:Almende, den Gemeindeädern uud »wiefen, durch ſolche Weigheit
löſen: die Unterthanen ſollen zwar dem Wildſchaden nicht mit Ge⸗
walt miderftreben, aber der Fürſt fol durch eine Opbunng dem
Schaden ſteuern; ts fei hoch eine größere Luft, wenn sin Feld mit
ſchönem Korn daherlache, als wenn ein Hirſch mit ſchönem Ge
weih daherlaufe und das ‚Korn verderbe. Auch möchte :er der Ge⸗
meinde die Waldungen ‚überlaffen jehen, um aus denſelben dem
Einzelnen feinen Holzbeberf zu gewähren; die Verteilung ber All-
mende befürwortet er, damit ben Unterthanen auf einen grünen
Zweig geholfen werbe ?).
Sp dringt der damals! fünfundzwanzigjährige mit einer Weite
des Blicks, einer Überlegſamkeit und die proftiichen Merhältnifie
im Ange behaltenden Weisheit von chriftlich »ethifchen Grumdforde-
rungen aus in die Frage ein. Sein Ratſchlag “ft eine Probe
deſſen, was evangelifcher Sinn im Bunde mit Einficht für die
1 Stud. u. Krit. 1884, 9. 2., ©. 274.
2) Hartmann, Brenz ©. 20 ff.
206 | Hering
ürmeren Klaſſen unjeres Vaterlandes in einer Epoche hatte leisten
fönnen, der es eben wegen der Fülle fchöpferifcher Gedanken und
kraftvoller Impulſe, wegen ihrer Sättigung mit religiöfen Antrieben
beichieden fchien, auf mehr als einem Gebiet für alte Mißftände
Abhilfe zu bringen und neue Anfänge zu jegen.
In dem Zeitpunkte, in welchem fie erjtattet wurden, konnten
indes die Gutachten der Theologen den Gang der Ereigniffe nicht
mehr hemmen. Der friedliebende Fürſt, der fie fich erbeten Hatte,
war doch fünf Tage, nachdem er feinen Brief gefchrieben, aus
Heidelberg mit einem Heer ausgezogen ?).
Denn die Leidenfchaft und der Taumel der Revolution trug
es über alle Abfichten des Wohlwollens, alle Verfuche der Ver⸗
mittelung davon. Dort, wo der Aufftand fich ausgebreitet Hatte,
nahm er auch denjenigen Landfchaften und Gemeinden, die noch
zurücdhielten, die Fähigkeit der Selbftentfcheidung. Die Obrigkeit
war betrogen, wenn fie vertraute. Man Inüpfte Verhandlungen
an, traf Vereinbarungen, erhielt Verficherungen der Ergebenbheit:
dann erwies fich alles als unfiher. Das Gefühl der Solidarität
der Intereſſen war zu ftark, die Macht der Anftedung zu unwider⸗
ſtehlich, und eine werbende Agitation, welche den Zurüdhaltenden
mit Zufprache und Drohwort die Pflicht des Beitritts einzufchärfen
wußte, zog auch ſolche Bauerjchaften und Städte in die Bewer
gung, die feinen Grund zur Beſchwerde, oder doch Ausfiht auf
gütliche Beilegung Hatten 2). So brachten auch die vom Wohl⸗
1) Hartfelder, S. 190.
2) Bol. die Briefe, welche die Führer der Bauernbaufen. an bie Gemeinden
fchrieben, um fie zum Beitritt zu bemegen. Gleich apoftoliichen Schreiben
fingen fie an, und als rechte Brand- und Drohbriefe hörten fie gewöhnlich auf.
Baumann, Quellen zur Gefchichte des Bauernkriegs in Oberſchwaben. (Bibl.
des lit. Vereins in Stuttgart CXXIX.) Tübingen 1876. ©. 71. Desfelben
Duellen zur Geſchichte des Bauernkriegs aus Rotenburg a. d. T. (In der-
jelben Bibl. CXXXIX.) Tübingen 1878. ©. 298. Die erftere biefer wich⸗
tigen BVeröffentlichungen ift in der Folge mit; Baumann A, die zweite mit;
Baumann B citiert.
Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 297
wollen eingegebenen Vermittelungsverſuche Enttäufhung, und ftatt
der Verſöhnung Erbitterung. An den Erfahrungen von Unzuver⸗
läffigleit, Wortbruh und Untreue lernten auch wohlmeinende
Männer unter den Fürften und Herren den Pöobel verachten und
das Wort fi zu Herzen nehmen, daß der Ejel Schläge haben
wolle.
Wie waren vollends die der Reformation feindlich gefinnten
Herrſchaften entſchloſſen, es den aufrührerifchen, meineidigen, treu⸗
loſen Bauern heimzuzahlen! Sie hätte Luther nicht nötig gehabt
zum Dreinfchlagen aufzufordern; fie waren ohnehin zur fchärfften
Vergeltung entfchlofien. In die Seele des Kanzler Leonhard Ed,
der die Maßnahmen bes ſchwäbiſchen Bundes gegen die Bauern
leitete, fcheint nie eine Erwägung gelommen zu fein, ob nicht
Pflicht oder doch Klugheit gebiete, Milde und Gnade zu üben,
Er haßte die Bauern durchaus, für ihre Forderungen hatte er nur
Abwehr, Verachtung, Spott.
Bei ihn und anderen katholiſchen Herren hing diefe Zeindfelig«
feit des Urteils, der faft völlige Mangel an BVerftändnis dafür,
daß es eine foziale Frage des Bauernjtandes gebe, und daß der
Aufruhr aus diefer einen großen Zeil feiner Kraft entnehme, mit
der Teindjchaft gegen die Sache des Evangeliums zufammen. Hatte
man ſchon in der Gährung vor dem Ausbruch eine Folge der
lutheriſchen Ketzerei erblidt, war ſchon 1524 ben Kenzingern er»
klärt, Luthers Opinion verführe zum Aufruhr und Bundſchuh ?),
waren die evangeliich Gefinnten in Baiern jchon 1522 als poli⸗
tifch gefährlich verfolgt worden, fo ftand nun, als der Aufruhr
losgebrochen war, das Urteil trog aller Verwahrungen Luthers
und der reformatorifchen Männer feit, daß alles Unheil eine Folge
bes Iutherifchen ketzeriſchen Glaubens fei. Man erlannte wohl das
religiöfe Moment der Bewegung, aber man bejaß nicht die Fähig-
feit, oft auch nicht den Willen, zwifchen Luther und den „Mord⸗
propheten“ zu unterfcheiden. Bald wurde Luthers Traftat von der
riftlichen Freiheit, bald fein Buch von der babylonifchen Gefangen»
1) Hartfelder, Zur Geſchichte des Bauernkriegs in Sübweftdeutfchland.
1884. ©. 271.
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 14
208 . Hering.
ſchaft bejchuldigt 1), bald auf Luthers Anhang und die „Luthe-
rischen Pfaffen“ hingewieſen ?). Unter die „abtrünnigen Verführer“
wurden Luther und Thomas Munzer in einem Zuge gezählt °).
Die Donaumörther Chronik läßt Lutger gar die zwölf Artikel „den
Bauern fürftellen” 4%). Nannte doch damals felbft der humaniſtiſch
gebildete Juriſt Zaflus in Belimmernis und Zorn über die ſo⸗
zialen Wirren Luther das nichtswärdigfte unter allen zweibeinigen
Geſchöpfen 6). Da dieſe Feindſeligkeit fih auch in den Staats»
männern zu einer fanatiichen Verurteilung der Reformation als
der Wurzel alles Übels verfeftigte, fo war ihr Verhalten, als es
zur Beitrafung kam, dadurch beftimmt: fie gedachten, durch blutige
Strenge das Evangelium ind Herz zu treffen.
So empfing ber Kampf fein Gepräge; die Verlufte ber
Bauern wurden fo groß nicht durch den Widerftand, den fie ent-
gegenfetten, fondern weil die Fliehenden ohne Gnade niedergemeßelt
wurden. Da war e8 wieder Luther, der nach ber Schlacht bei
Frankenhauſen, in der 8000 Bauern umlamen, durch fein Wort
1) Baumann, A. ©. 57. 85. 250. 279. 806 f.
2) Ebend. S. 181. 377. 879. 419.
5) Ebend. S. 3085.
4) Ebend. S. 250f. Der Pfarrer Heinrich von Pflummern betitelt fein
Werk ſchlechthin: „Etwas ein Wenig von ber allergraufamlichften, unerhörtefteu,
unevangeliſchſten, gottlojeften, ketzeriſchſten und verführeriichften Luthery, die fich
verlaufen hat ungefähr vom 1523. Jahr bis jet in das 1544. Jahr.” Bau⸗
mann, A. S. 806, Anm. Auch die Urteilsloftgfeit Volleyrs iſt für die Chro⸗
niſten der Zeit kennzeichnend. Hartfelder ©. 132, Anm. 1. Überhaupt
find die Urteile in den Chroniken nur für ihre Verfaffer, nicht aber für die
Einfiht in die Dinge von Wert, unb an biefer Beichränftheit des Wertes
nimmt and) die Darftellung, fofern fie durch das falſche Urteil beeinflußt ift,
teil. Was will 3. B. die Erzählung der Anfänge des Aufruhrs im Stift
Kempten bei dem Ehroniften bedeuten Baumann, A. ©. 379 f.), wenn man
aus den Alten felbft, aus den Beſchwerden der Gotteshausleute und der Aut-
wort bes Fürſtabt Sebaftian herauslieft, um welche konkreten Dinge es fi
handelte! Baumann, Alten S. 851ff.
6) Hartfelder, ©. 328, nad Zasii ep. p. 97. Zu beachten ift, daß
Zaftus, der anfänglich Luther warm zugeſtimmt, dann fich ihm, feit der Kampf
prinzipieller geivorden war, entfremdet Hatte, unter dem verſtinmenden Druck
längerer Krankheit fland.
Die Liebesthätigfeit dee demtichen Reformation. 29
eingriff, indem er die Herren vor Überbebung warnte und fie bat,
den Gefangenen und denen, bie fidh ergäben, gnüdig zu fein, wie
Gott jedermann gnädig fei, der fich ergebe und vor ihm demü⸗
tige 1). Ähnlich erinnerte Brenz, indem er die zu große Härte
tadelte, daran, daß die Obrigfeiten nit Wölfe, jondern Hirten in
der heiligen Schrift genannt würden. Jubel und Freude dagegen
wurde nach den bfutigen Niederlagen der Bauern ba laut, wo
man von Niederwerfung der Iutherifchen Ketzerei träumte. Einen
Leonhard Ed erfüllten nur Zriumpbgefühle, al8 er von dem
Bluttag von Zabern hörte, wo der Herzog von Lothringen die
Bauern aufs Haupt gefchlagen Hatte, und die Knechte nad dem
Sieg Taufende wehrlefer Befangener abgefchlachtet hatten ). Mit
furchtbarer Befriedigung fehrieb er damals, der Herzog von Lo⸗
thringen Habe am Rhein „eine große Stille gemadt“ ®). Und
derfelbe Talte Fanatismus des Haſſes tritt uns in dem Aufzeich-
nungen der meiften Chroniſten entgegen, fofern fie Gegner der
Reformation find %). Der Weißenhorner Nikolaus Thoman rechnet
mit erfennbarer Genugthuung die Erfolge des Lothringer Herzogs
zufammen: „Summa Summarum 26000 erſtochen, ob 300 bie
Köpfe abgefchlagen“, um den Sieger von Zabern mit Gottfried
von Bonillon zu vergleihen: immer Hätten fich bie Lothringer
Herzöge chriftlich gehalten und der chriftlichen Kirche viel Gutes
erwiejen 5). Ein in jenen Tagen entftandenes Gedicht feiert den
Lothringer als „vil frumen her“ mit dem Segenswunſch:
„Das geb Dir got den rechten lon
well dir fin gnad zujenden,
daß mügjt allzit gar wol befton
und din fürfag vollenden,
1) E. A. 65, 22. Köftlin, Martin Luther I, 750.
2) Hartfelder, ©. 130f. Nach Angabe des katholiſchen Berichterſtatters
Bollcyr waren 16242 Bauern in und um Zabern getötet, dazu auf der Flucht
ned) 1500. SHartfelder urteilt, daß die Zahl der Umgelommenen noch größer
geweien jei.
8) Eine Ausnahme macht die Gebweiler Chronik. Um fo ſchwerer wiegt
fr Urteil über die Edlen von Enfisheim. Hartfelber, ©. 57.
4) Baumann, A. ©. 117.
6) Hartfelder, ©. 133.
14*
210 Hering
die lutheri ganz dilgen ab,
die buren bringen an bettelftab
die ſich dorin fint geben *).
Dieſe Anfchauungen find tief in das katholiſche Volk einge
drungen. Bis auf diefen Tag heißt im Volksmunde die Stelle,
an ber bie fiebzehntaufend Opfer von Zabern beftattet wurden, bie
Keßergrube?).
4.
Noch ſchneidender tritt diefe unbarmherzige Härte in den Straf:
prozeſſen hervor, melde auf die Niederwerfung bes Aufftandes
folgten. Die Teindfeligleit gegen die Reformation Tieß die Sieger
zum großen Zeil ihre Urteile mit Blut fchreiben. Ihre Juſtiz
kannte nur Vergeltung und zehnfältige Rache.
Das geltende Strafrecht bot diefer Feindfeligkeit nur zu viel
Handhaben. In der Tegtverfloffenen Epoche, im fünfzehnten Jahr⸗
hundert, Hatte die rücfichtslofe Energie, mit welcher ſich die Ord⸗
nungen und Gemeinfchaften im verfallenden Reich gegen Zügel:
Lofigkeit, Entartung und Frevel zu wehren hatten, auf die Strafr -
methode zurüdgemirft. Diefelbe Hatte ſtets ihre Härten gehabt;
jest wurde fie mit der Zunahme der Berbrechen noch rückfichts⸗
loſer, fchroffer. Der Humanismus Hat hieran nichts geändert.
Nirgends im Reich ftrafte man vielleicht härter als in Nürnberg,
diefer Pflegeftätte feiner Bildung, deren Patrizier zum Zeil Ges
(ehrte und Dichter waren. Aufruhr wurde hier mit dem Schwert,
Verrat an der Stadt mit BVierteilung beftraft. Für den Diebftahl
war eine Abftufung vorgefehen, deren erfter Grad im Aushauen,
deren legter im Lebendigbegraben beftand, denn fo war es für
Weibsperfonen beftimmt, die an ben Galgen zu henken die Scham
verbot. Gnade war es, wenn man ben Münzfälfcher, welcher des
Fenertobes frhuldig war, enthauptete, Gnade, wenn man dem bes
rühmten Bildſchnitzer Veit Stoß, der einen Schulöbrief gefäljcht,
duch die Baden brannte, denn anfänglic wollte man ihm bie
Augen ausftechen, aber — «8 baten jo viele für ihn; Gnade,
1) Hartfelder, ©. 135.
Die Liebesthätigkeit der dentſchen Reformation. 211
wenn auf Fürbitte des Erzbifhofs von Magdeburg ein Mordver⸗
ſuch mit Augenausftehen geahndet wurde !), denn fonft pflegte
man Mörder mit dem Rab Hinzurichten, eventuell vorher öffentlich
auszufchleifen, und, wenn fie des Giftmordes ſchuldig waren, mit
glühenden Zangen zu zwiden ?).
So war e8 auch hier die vergangene Periode, welche auf biefe
feßte traurigfte Behandlung der fozialen Frage einwirkte. Aber
viele Obrigfeiten belnftet die Schuld, daß fie ihre Unterthanen, bie
großenteil8 irre geleitet und vom Taumel des Aufruhrs fortgeriffen
waren, gleich DVerbrecherrotten behandelten, und daß ihren Ge⸗
richtstogen nichts von Selbftgericht beigefellt war, nichts von der
Erkenntnis, daß eine fo fchwere gemeinfame, zum großen Teil
auf die Schultern der Herrfchaften verteilte Schuld andere Mittel
der Sühne als das Abfchlagen vieler Bauernköpfe verlangte. “Die
Öfterreichifche Negierung erwarb ſich damals den Auf, an unerbitt«
licher Strenge e8 ben anderen zuvorzuthun. Ihre Vertreter fällten
in Enfisheim ein Bluturteil nad dem anderen bei einem oft allzu
eilfertigen, formlofen Verfahren; bald ging die Rede um, an Enfis-
heim fei fein Name nicht verloren. Ein den Bauern feindlich ger
finnter Chronift giebt doch, indem er dieſe Vorgänge erzählt, feinem
Unwillen Ausdrud und ruft Gottes Barmherzigkeit auf dies „elende
betrübte Weſen“ herab 3). Aber basjelbe dauerte 1526 nod fort.
Vielleicht war es eine Bolge diefer Maſſenhinrichtungen, daß in
eben diefem Fahre die Belt in der Stadt ausbrach *).
Der Geift der alten Blutrache fchien vollends wieder aufzu-
(eben, als man zur Beitrafung der Unthat fchritt, welche die
1) Der Fürbitte war auch in der Zeit der barbariſchen Strafjuftiz eine
weitgehende Berückſichtigung eingeräumt.
2) Brunnenmeifter, Die Quellen der Bambergenfis S. 69 ff. Ana⸗
Ioge Beftimmmungen and in der Bamberger Halsgerichtsorduung von 1507 und
der brandenburgifchen Halsgerichtsordunng von 1516. Bol. Zöpft, Die
peinliche Gerichtsorbnung Kaifer Karl V. 1876 (ſynopt. Abdrud der beiden ge-
nannten Halsger.-D. und der Karolina nebft den Entwürfen. S. 106. 140.
146. 160. 164.
3) Die eben erwähnte Gebweiler Chronik. Hartfelder, ©. 57.
4) So vermutet Hartfelder ebendaf.
212 Hering
Bauern am 16 April 1525 vor Weinsberg verübt Hatten. Ver⸗
gegenwärtigen wir uns dieſe Vorgänge; für eine fittliche Schägung
bes Geſchlechts jener Zeit find auch diefe furchtbaren Bilder lehr⸗
reich.
Bei der Erftürmung der Stadt Weindberg hatten die Bauern
den Grafen Helfenftein und fünfzehn Adelige zu Gefangenen ge
macht. Ste Hatten über die Männer, bie fich tapfer verteidigt
hatten, die Strafe verhängt, welche die Landsknechte bei ehrlos Ge⸗
worbenen anmendeten *): fie durch die Spieße gejagt. Ein Pfeifer,
der oft an des Grafen Tiſch geſeſſen hatte, fpielte, mit des Herrn
Federhut geſchmückt, dazu auf: Du bift lange genug Graf geweſen,
und ich habe dir oft zum Tanze aufgepfiffen; jet will id aud
Graf fein und erft den rechten Tanz pfeifen. Die Gräfin ward
gezwungen, ihr dreijähriges Knäblein auf dem Arm, dem Todes»
gang ihres Gemahls zuzuſchauen. Die rohen Gefellen behandelten
fie fo, daß ein Chronift jagt, e8 würde kein Wunder fein, wenn
ihr adelig Gemüt verfhwunden wäre. Sie nahmen ihre Klein⸗
odien und die Kleider bis auf den Rock; ein Wirt aus Teckingen,
der dem Grafen ben erften Stich gegeben, ſchmückte ſich mit feiner
damaftenen Schaube und fragte die Gräfin, wie er ihr fo gefalle.
Ein anderer flah nah dem Rinde und verwundete es, obſchon
feicht; andere ſchmierten ihre Spieße mit dem Fett der Erftochenen ?).
Alles, was das Volksleben an Haß, Leibenfchaft, Gemeinbeit, Un⸗
treue in fi barg, war mit bdiefer Einen That ans Licht ge-
treten.
Aber ebenfo zügellos war bie Reidenfchaft und Roheit, welche
den Verwandten, den Stanbesgenoffen rächte. Truchſeß Georg,
der Vetter des erjchlagenen Grafen Ludwig von Helfenftein, Tieß
den Pfeifer Nunenmacher, der bamals aufgespielt, an einen Baum
binden, fo daß er um den Stamm in ber Entfernung von zwei
Schritten laufen mochte. Dann ward anderthalb Klafter vom
Stamm Holz ringsumher aufgefhichtet und der Unglückliche durch
1) Baumann, A. ©. 89.
2) Dbige Darftellung aus den Quellen bi Baumann A. Die Stellen
im Regifter unter „Weinsberg, Mord des Adels“.
Die Liebesthätigkeit ber deutſchen Reformation. 248
langſames Roften getötet: Der Truchfeß Hatte mit anderen Grafen
und Herren jelbft ein jeglicher ein größe® Scheit an das Feuer
getragen. Auch Weinsberg traf graufame Vergeltung. Der Ort
wurbe famt den Dörfern im Thal, achtzehn an der Zahl, bis auf
wenige Häufer zu Pulver verbrannt, nachdem die SKriegsleute des
Yundes genng „gewürgt, gehenkt, geköpft, geftochen“ ; man beließ
abſichtlich, als wollte man den Bann des Alten Zeftaments in
feiner ganzen Strenge verhängen und von dem verfluchten Orte
nichts verfihonen, das Vieh in den Ställen; weithin börte man
die Ziere in ihrer Todesangſt bdrüllen. Aber nicht genug dies
alles. Noch 1526 feierte die Rache ein furchtbares Gedächtnis
bes Mordes der Edelen, indem man eine Anzahl Bauern — ber
Chronift fagt „etwan viel" — im Beifein ihrer Weiber und
Kinder durch die Spieße jagte. Es war am heiligen Dftertag ?).
Der Verſuch, eine Geſchichte der chriſtlichen Nächſtenliebe zu
fchreiben, darf an folhen Vorgängen nicht vorübergehen. Einzelnen
Wirkungen gegenüber bat fie auch die tiefen Schäden aufzubeden,
welche fragen Lafien: Gab es noch Barmherzigkeit auf Erben?
Und auch die wirklichen Leiftungen werden die Spur der Erfrans-
tungen ber Volksſeele, der Trübungen der Volksfittlichkeit irgend⸗
wie an fih tragen. Denn in einzelnen Perjönlichleiten wird ſich
Nächftenliebe Hoc über den Durchfchnittscharakter der Gefinnung
der Zeitgenoſſen erheben, und fo ragt Luther mit einer Schar
evangeliiher Mitzeugen und folder BVerjönlichkeiten, welche bie
evangelifche Wahrheit tief in fich aufgenommen Hatten, weit hinaus
über die Mitlebenden. Aber für die Miffion im Vollsganzen ift
der Einfluß der Nächſtenliebe von dem fittlihen Zuftande der Ge⸗
jamtbeit abhängig, durch das Banze ber ſittlichen Geſinnung, durch
die Fähigkeit zu Lieben bedingt; und für die Frage, warum die
Reformation für gewifje Gebiete, beſonders aud) die Beſſerung ber
Lage des armen Mannes, nicht fo viel geleiftet, wie ihr Prinzip
in fi) fchloß, gewinnen wir nur durch den Blick auf bie fittlichen
Zuftände ein billiges Urteil. Sie hob ihre Arbeit am Vollsleben
an, als dasfelbe Im Niedergang begriffen war; und gleichzeitig mit
1) Baumann, A. ©. 585. 627. 677. 208.
214 Hering
ihren Anfängen entfeffelte die foziale Revolution die Leidenfchaften
und befchwor einen Rampf, der den für die zarte Pflanze der
Nächftenliebe wenig bereiteten Boden noch härter trat und fo allen
Beftrebungen, auf Soziales vom Geift des Evangeliums aus ein-
zumwirfen, eine lange währende Hemmung bereitete.
Dennoch ift der Einfluß desfelben nicht zu verkennen. Mehr
Milde Hatten die UÜberwundenen doch in den evangelifchen Gebieten
und vonfeiten der Herren, die dem Evangelium geneigt waren, zu
erwarten. In Kurſachſen und Hefjen blieben doch die Hinrich«
tungen auf wenige Nädelsführer beſchränkt; Kurfürft Johann und
der Teidenfchaftliche Landgraf Philipp von Heſſen entließen ihre Ge⸗
fangenen zu Taufenden 9), und in den beutfchen Reichsſtädten wurde
im Strafen ebenfall® Maß gehalten, auch in Nürnberg, troß feines
harten Strafrechts ?).
5.
Zugleich mit der inneren, ethiſchen Schädigung fallen die herb⸗
ften äußeren Verlufte, bie tiefften Einbußen der Volkswohlfahrt
und des Nationalvermögend als eine Yolge des unfeligen Krieges -
ins Gewicht. Das Verderbliche einer fozialen Revolution läßt
fi an ihnen gleihfam mit Ziffern meſſen. Wieviel Arbeit war
nötig‘, um über foviel Trümmern des Wohlftandes einen neuen
Bau aufzuführen, da, wo um das Nötigfte gelämpft und hart ge-
arbeitet ward, die aus dem Evangelium ftammende, ethifch ver-
edelte und verfeinerte Betrachtung fozialer Verhältniffe aus der
Welt der Gedanken in die Wirklichkeit überzuführen !
Auf dem Bauernſtand beruht ein fo erhebliches Zeil der alfs
gemeinen Wohlfahrt, und in diefe waren eben durch den Srieg
fühlbare Lücken gerifien. Dean fchägte die Zahl der Erfchlagenen
‚auf hunderttauſend °) ; die Donaumörther Chronik ſpricht ſogar von
120000 getöteten und 50000 Tandflüchtigen Bauern, beren viele
1) Köftlin, M. Luther I, 749. 758.
2) Ramann, Nürnberg im Bauernfrieg. Jahresbericht der Kreisreal-
ichule in Nürnberg 1877/78. ©. 10. 12. 14. 39. Anders ging es in Banı-
berg zu! ©. 27.
3) Baumann, A. ©. 307. 408,
Die Fiebesthätigfeit ber deutfchen Reformation. 215
„groß Hab und Gut befefien“ 1); denn der Aufftand Hatte im
feinem Verlauf auch bie Befigenden mit fortgeriffen. Das waren
fämtlich arbeitsfähige Männer, welche der Feldbau nicht entbehrt
haben kann ohne einen fühlbaren Ruckgang. Man darf fragen,
ob nicht die folgenden Notjahre durch diefe Einbuße an Arbeits⸗
fräften zum Zeil mit verurfacht worden find.
Und viel Jammer und! Elend blickt, nur teilweife von Chro⸗
niken gemeldet, durch diefe großen Verluftziffern Hindurh! Die
Mehrzahl der Getöteten mochte aus Bamilienvätern beftehen. Noch
heute ergreift e8 uns, wenn über das Los ihrer Weiber und Kin»
der beiläufig eine Nachricht erhalten if. Im Würzburg und in
der Umgegend, wo das Racheſchwert des Bifchofs unter den Bauern
anfgeräumt hatte 2), kam es vor, daß Frauen und Kinder Hungers
ftarben ober erfroren, und daß an etlichen Orten viele Meilen
weit fein Haus mehr ftand, weil alles verbrannt und verderbt
worden war 9). Die einzige Zuflucht, an ber es Erbarmen für
die vom Schrecknis der Nahe Geſcheuchten, Speife und Trank für
die Verfchmachtenden gab, bildeten die fürs Evangelinm gewonnenen
Neichsftädte 4).
Nach diefen fchwerften Schlägen, die bis ins Mark ber Volks⸗
kraft drangen, folgen dann die Einbußen am Nationalvermögen.
Ungeheuere Werte waren vernichtet. Anfangs beſchränkt auf bie
furze Strede längs der Schweizergrenze und dem Bodenſee, hatte
der Aufftand ſchon zu Anfang des Jahres 1525 das ganze Ge⸗
biet zwifchen Donau, Lech und Bobdenfee ergriffen, um dann Ober»
und Unterfranten wie aud Thüringen und angrenzende Gebiets»
teile Heffens und Sachſens zu überfluten und noch weiter vor⸗
wärts bis nad) Pommern und Oftpreußen ſich fühlbar zu machen.
Auf diefem weiten Landftrih war wie von Barbarenhorden ges
wütet. Die Bauern Hatten zahlreiche Schlöffer der Adeligen zer-
1) Baumann, A. ©. 270. Über die jammervolle Lage biefer „Ausge⸗
tretenen” vgl. Dobel, Memmingen im Reformationszeitalter II, 8 f.
2) Köftlin, M. Luther I, 749.
8) So erzählt die Weißenhorner Hiftorie, Baumann, A. ©. 112.
4) Röhrich, Geſchichte der Reformation im Elſaß L, 267. Medicus,
Geſchichte der evangel. Kirche in Baiern, S. 17. Kamann, ©. 28.
26 Hering
fkört, Klöſter gepfüindert und ausgebramnt, ald Opfer des Kampfes
und der Rache waren ganze Dörfer in Flammen aufgegangen. Ein
Tell des Nationalvermögens lag in Afche !).
Und ein großer Zeit dieſer Verlufte fiel auf die Urheber, die
Bauern und ihre Familien, aufs empfindfichfte zurüd. ‘Denn
die Obrigfeiten fchufen fi in Strafgeldern, die auf die eingelnen
Venerftätten verteilt mwurben und meift 4—6 Gulden (60-90
Mark) betrugen, durch Einziehungen des Vermögens Singerichteter
und Ausgetretener, d. i. flüchtig Gewordener einen Erſatz des er»
littenen Schadens. Die der Teilnahme am Aufruhr überführten
Städte wurden ebenfalls hart betroffen, mochten fie auch leiſtungs⸗
fähiger und reich genug an betriebfamen Kräften fein, um ben
Schlag zu überwinden. Für bie Schwere besfelben mag Mühl⸗
baufen in Thüringen als Beifptel bienen, welches 120000 Gulden
(ungefähr 1800000 Mark nad heutigem Gelbwert) gu entrichten
hatte und fich genötigt fah, die in feinem Beſitz befindlichen Dörfer
zu verpfünden, während der Stabt zupleich auferlegt ward, dem
Klerus und den Nonnen ihre fämtlichen Einkünfte zu erftatten, die
Türme und Mauern abzubrechen und alle Wehr heranszugeben ®).
Ähnlich erging es Mleineren Städten in Süddeutſchland, wie Leip-
heim.
Hart und erdrücdend für Witwen und Waiſen wie fit bie
Familien der Flüchtigen wurbe vollends bie Einziehung der Güter.
Lange Regifter diefer Kategorie nebſt Inventar und Taxe ihres
Befitzes find aus den Archiven wieber hervorgezogen unb geben
uns einen deutlichen Einblid in die öfonomifchen Berhäftniffe der
ſüddeutſchen Bauern und im bie Bedeutung ber über fie verhängten
1) Die Aufzählung der durch die Bauern im Allgäu zerflörten Klöſter und
Sclöffer bi Baumann, A. ©. 253. Die Klöfler der Grafſchaft Mansfeld
ebend. S. 269. Die Donaumörther Chronik berechnet die Zahl ber zerflörten
Klöfter und Schlöffer auf mehr ale 200. Ebend. ©. 270. Der Schaden,
welcher durch den Brand eines reichen Kifterzienfer Kloſters verurſacht war,
warb auf 30000 Gulden (450000 Markt nad heutigem Geldwert etwa) ge-
ſchätzt. Hartfelder, S. 286. Charakteriſtiſche Zerflörungsfeenen Bau-
mann, A. ©. 388. 382f. 385. Hartfelder, ©. 86. 88. 98, 166. ꝑ14 ff.
3) Baumann, A. &. 114.
Die Teheschätigkit ber bentichen Sefermerioe. 27
Strafe. Da gab es Richtsgäbige, bie nur ein Weib und ein Häufs
lein Kinder Sinterließen; von einem andern, bem das Haupt abge-
ſchlagen, wird vermerft: „Hat nichts, ift mehr ſchuldig, denn fein
Bermögen it"; Beſchlag ift auf das Bermögen eines Dritten ge-
Iegt, das wicht mehr als 3 Gulden (etwa 60 Mark) Wert bat;
und dann konmen aud, ftattliche Bauerngüter zur Einziehung, denn
der Schultheiß des Abts von Schönthal befaß Ländereien im Wert
von 500 Gulden (Heute ungefähr 7500 Marf), und der Schultheiß
von Schwabadh wurde mit feinen 110 Morgen Ader- und Garten«
land Wiefen und Weinbergen auf 1400 Gulden (etwa 21000
Mark) abgefhätt. Innerhalb dieſer Unterſchiede völliger Armut
und behäbiger Wohlhabenheit find alle Zwiſchenſtufen vertreten;
doch erreiäht der Beſitzſtand der Mehrzahl nicht die Höhe von
100 Gulden (nngefähr 1500 Mark). Alle diefe Güter, der Kalbe
Morgen Weingarten des Armen wie die Hufen des Reichen ver»
fielen al8 Bußen !). Den Weibern und Kindern verblieb das Los
völliger Armut.
Leider war mit folden Strafen auch der Habgier eine Thür
geöffnet. Bon einem Beamten bes Würftabte don Kempten er»
zählen bie Alten, wie er einem gefangenen Bauern, den er für
wohlhabend hielt, zuſetzte. Rappenſchech, rief er ihm zu, du mußt
fterben, das Urteil ift gefällt. Da fteht der Nachrichter; möchteſt
du nicht 200 Gulden für deinen Kopf geben? Der Bauer ver»
fiherte, er befige nicht fo viel. Man ging im Angebot auf 100
Gulden, dann auf eine beliebige Summe Geld herunter. Über ber
Unglüdliche Hatte nur einen Malter Hafer. Sein Dränger warf
ihn wieder in ben Turm; der Bauer fchrie zu Gott um Recht,
aber jener rief höhnend: „Unb wenn dir Gott auf dem Rucken
füße, du möchtet aus dem Turm nicht kommen, denn allein durch
Gnaden meine® gnäbigen Herrn bon Kempten!“ 2) Go wiberlich
chnifche Geldgier, fo brutale gottlofe Grauſamkeit an derfelben
1) Die Liften bei Baumann, Alten zur Gefchichte bes Bauernkriege aus
Oberſchwaben. Freiburg 1877. 5. BEL ff.
3) Baumann, Alten S. 394. Auch in Bamberg mifchte ſich Geldgier
und Haß gegen die Evangelifchen in bie vom Biſchof veranlaßte Beftrafung.
Die Nürnberger meinten, baß dies türkiicher Brauch fl. Kamann, ©. 27,
218 Hering
Stätte, an der fich feit Jahrzehnten bie Unterthanen über Drud,
Vergewaltigung, Ausbeutung befchwerten, war doch ein Symptom,
das auf die Borgefchichte des Aufruhrs zurüdichließen läßt.
Aber auch abgefehen von folchen Ausartungen trug die Beſtra⸗
fung der Bauern den Charakter graufamer Vergeltung und einer
unweifen Reaktion. Es ging aus ihr nicht hervor, daß die Re⸗
gierungen eine Lehre aus dem Aufruhr genommen hätten. Biel
mehr war zu fürchten, dag die fo fchonungslos ausgenugte Gunft
de8 Sieges auch der Befinnung auf Reform der Lage des Bauern-
ftandes im Wege ftehen werde.
Schon die Berfuche einer Vereinbarung ftteßen auf Hemmniſſe.
Baſel hat fih damals bemüht, eine folche zuftande zu bringen;
aber die öfterreichifche Megierung wußte hinzuzögern, indem Ferdi⸗
nand feine Zuftimmung fo lange zurüdhielt, bis ber Waffenftill-
ftand abgelaufen war. Aufs neue brad ber Aufftand los, um
abermals niedergetvorfen zu werben. Die Bauern hatten e8 nur
der Vermittelung Baſels und des Markgrafen Philipp zu danken,
daß, während das Schwerjte fie bedrofte, ein Vertrag zu Offen⸗
burg zuftande kam. Derfelbe gewährte den Bauern außer dem
Verſprechen, Beſchwerden gegen die Amtleute zu unterfuchen und
nach Befinden abzuftellen, nur die Meilderung einiger Strafbeitim-
mungen. Er fette feft, daß Witwen vom Strafgelde frei fein,
Reiche für den Armen bei Abtragung diefes Geldes mit eintreten,
die Güter Hingerichteter nur für die Hinrichtungsloften in An⸗
ſpruch genommen, im übrigen ben Erben zufallen follten. Dagegen
behielt fi) die Obrigkeit harte Beſtrafung der Nädelsführer vor;
in den Firchlichen Dingen machte fie nicht das mindefte Zuge-
ftändnis, auch ber fozialen Fragen und Beſchwerden wurde nicht
ferner gedacht. Die Aufgabe, welcher allein die Regierung mit
Eifer bis ins Jahr 1526 oblag, beftand im Fällen und Voll⸗
ftreden von Todesurteilen *).
Auch die Angelegenheit der Hörigen bes Fürftabts von Kempten
1) Hartfelder, ©. 359 ff.
Die Liebesthätigkeit der deutfchen Reformation. 219
wollte nicht vorwärts rüden. Wie alt waren doch ihre Beſchwerden!
Schon im letzten Jahrzehnt des fünfzehnten Jahrhundert war über
fie verhandelt, waren Unruhen entitanden. Dann hatten die Unter-
tbanen die alten Klagen in neunzehn Artikel verfaßt dem Fürſtabt
Sebaftian im Januar 1525 wieder vorgetragen 1). Ihre „demü⸗
tige und unterthänige Bitte“ war erfolglos geblieben. Nun hatten
fie durch ihren Anteil am Aufftand fich ins Unrecht gejekt.
Der Fürftabt Tonnte jet vor dem bündifchen Schiedsgericht in
Memmingen gegen fie ald Kläger mit einer langen Neihe ſchwerer
und ohne Zweifel begründeter Befchuldigungen auftreten; er konnte
den Antrag ftellen, ihnen die Güter, welche fie vom Gotteshaufe
zu Lehn Hatten, wieder zu nehmen, da fie diefelben verwirkt, und
fie zur Zahlung der Strafen und Bußen, zur Reftitution der ge
raubten Güter, fofern fie noch vorhanden, und zu doppeltem Er-
fat des Wertes der verbrannten und verwüſteten anzuhalten 2).
Die Verantwortung der verflagten Kemptner Gotteshausleute vor
demjelben Schiedsgericht läßt dagegen erkennen, daß der Sinn ber
Bauern nicht gedemütigt war. Sie feßten Anfchuldigung gegen
Anfchuldigung. Sie erinnerten daran, daß feine fürftlichen Gnaden
mit aufgehobenen Fingern bei feiner fürftlihen Würde, Ehrbarkeit
und Frömmigkeit zugefagt, alle ungebührlichen Beſchwerden abzu«
thun und hierzu die ganze Landfchaft bis Lichtmeß, 2. Februar
1524, zu berufen. Während fie nun auf folche tröftlichen und
gnädigen Zufageu Huldigung gethan, jeien doch alle Verhandlungen
mit ihrem Herrn vergeblich geweſen, und fo hätten fie gehandelt nad
dem gemeinen Spruch: Brichſt du Glauben gegen mir, bin ich nit
Ihuldig, Glauben zu halten gegen dir. Vor vielen Jahren fet
ihnen und ihren Vorfahren von Gott und allem gemeinen, päpfte
lichen und Taiferlihen Recht Freiheit ihrer Perfon wie ihrer Güter
verliehen; an diefer ihrer Freiheit habe der Herr von Kempten fie
geſchwächt umd vergewaltigt, fie in Eifen gejchlagen, mit Geld⸗
ftrafen, Salramentsentziehung bedrüdt, mit Steuern und Schaungen
bejhwert und ihren Stand härter und ärger gemacht, denn den
1) Baumann, Alten ©. 81ff.
220 z Hering
von Kuechten und Hunden. Und obwohl ſchon vor dreißig Jahren
die löblichen Bundesſtände durch ihre Verordneten einen Verſuch
zum Ausgleich gemacht, mit der Verabredung, daß ein freier Zins»
mann ein foldher bleiben folle, jo fei von dem gmädigen Herrn
dem nie nachgelebt, ſondern es ſeien niele Hundert Berjonen mit
Berbaftung und Einferferung mit „Stöden und Plöcken“ gezwungen
und gedrungen, ihren Stand zu verlaffen und fi in einen ärgeren,
nämlich den ber Unfreiheit zu begeben. So ſolche Beichwer je
länger je mehr eingeriffen, hätten fie, als der jeige gmädige Herr
zum Prälaten erwählt fei, ſolche in aller Unterthänigleit uud De⸗
mütigkeit zum erkennen gegeben, und anf gejchehene gnädige Zufage
hätten fie gehufdigt in Anfehung, daß einem jeden Menfchen, zuvor
einem geiftlihen Prälgten nichts beſſer anftehe, deum feine Zufage
zu halten. Enttäuſcht und bedroht feien fie dann zum Bündnis
gefchritten. Seine Gnaden möchten ſich den Schaden an Schlöffern
und dem Gotteshaus felbft beimeſſen. Zum Schluß bitten fie
„unterthänigft und demütigſt“, ihnen zu einem rechtlichen oder
gätlihen Austrag zu verhelfen 1). Derſelhe ift denn aud) 1526
durch den ſchwäbiſchen Bund zu Memmingen und von einigen
Eden zu Martinzell vermittelt worden, „in welchem Bertrag
dem Gotteshaus einige Gerechtigkeiten gemindert find, dach nicht
viel“ 2).
Dem Einfluß mächtiger, dem Evangelium gewonnener Städte,
wie Bafel und Straßburg, waren die jpärlichen Fortſchritte zu
danken, welche dennoch bier und da die foziale Reform gewann.
Zum Teil fielen ökonomiſche Intereſſen für ihr vermittelndes
Wirken ins Gewicht; es mußte ihnen daran Tiegen, für Bauer»
ſchaften, die auch ihnen zu irgendwelchen Leiftungen pflichtig waren,
fo viel Freiheit und Vermögen zu retten, daß bdiefelben nicht zu⸗
grunde gingen. Aber auch die fittlichen Geftchtspunkte wirkten mit,
die unter dem Einfluß des Evangeliums Hervorgetreten waren.
Man erjieht dies befonderd aus einem Vertrag, der durch die Ber-
mittelung der genannten Städte zwifchen dem Markgrafen Ernit
2) Bauman, Alten ©. 335.
2) Baumann, A. ©, 388.
Die Liebesthätigkeit ber deutfchen Reformation. 221
von Baden und feinen Bauern im September 1525 zu Baſel zu⸗
ftande kam. ‘Derfelbe war doch für die Banern nicht zu ungünſtig.
Man gewährte ihnen vor allem bie Predigt ded Evangeliums nach
der heiligen Schrift, damit fie von Lafter, Aufruhr, Sünde
umd Üppigkeit abgewandt und zu gutem Gehorfam erzogen wür-
den. Die Anfpebung ber Leibeigenfchaft murde in Ausficht ge-
fteit, wenn das Haus Oſterreich feine Unterthanen frei geben
wurde. Bon drüdenden Abgaben wurde der Sterbefall und das
Strafgeld, welches für Ehen zwifchen Freien und Hörigen gezahlt
wurde, abgefchafft. Auch inbezug anf die Jagd und bie Holgnugung
erfolgten einige weſentliche Zugeftändniffe. Für Fronbienfte fagte
man wenigftens Berföftigung oder ein Aquivalent zu. Wen nad)
größerer Bedentung war es, daß überfchuldete Güter an ben
Lehusheren zurückgegeben werden durften, nur daß die ſchon ver»
fallenen Zinſen abzutragen waren; ferner, daß die Herrichaften die
Abgaben erlaffen ſollten, wenn Kriege oder Natnrereigniffe großen
Schaden verurfacht hätten, und endlich, daß für Zinfen und Gülte
ein billiger Ablöjungsmobus gefchaffen wurde. Im Gerichtswefen
wurde Abftellung der drüdendften Befchwerben zugefichert: bie Güter
eines wegen Todſchlags Berurteilten follten z. B. hinfort nicht
mehr eingezngen, die Gerichte nicht parteiifch befetst werden; dem
dürften legte may ans Herz, dem leichtfertigen Gebrauch bes
Bunnes enigegenzuwirken ). An mehr al3 einem Punkbkte fpüren
wir in diefen Beſtimmungen den Einfluß der Vorſchläge und Re⸗
formgedanten der Reformation.
Immerhin war folche Milde und Billigkeit vereinzelt, die Qage
der Bauern im ganzen nicht gebeifert. Kin Ehrmift fagt, es fei
ein harter Austrag, daß die, welche fich des Karrens gemeigert,
in den Wagen eingefperrt worden feien ?).
7.
Der Aufſtand ward niedergeſchlagen, aber ber religibs⸗kommu⸗
miftifche Gedanle überdauerte ihn. Er behielt feine Träger in
1) Sartfelder, S. 349. |
2). Bal. Anchelm, Berner Chronik VI, 301; bei Hartfelder, ©, 499,
222 Hering
Anabaptismus. Vorher Ferment der fozialen Revolution, ging die
Schwarmgeifterei nur in ein neues Stadium über, indem fie Ger
meinden um gewilfe Grundforderungen fammelte und die Bildung
einer abgefchloffenen Sekte mit lebendigem Miſſionstrieb anftrebte.
Was am Widerftand der ungläubigen Welt gejcheitert war, follte
nun im Schoß der Gemeinde durchgefeßt werden, eine Güter-
gemeinfchaft um der Gemeinjchaft der Brüder in Chrifto dem Erft-
geborenen willen, Kommunismus aus Liebe.
Nicht als ob alle Wiedertäufer im ftrengen Sinn Kommuntften
gewefen wären, oder als ob allen die hriftlich-foziale Ausgeftaltung
des wirtichaftlichen Lebens das Erjte und Wichtigfte geweſen wäre.
In fchöpferifchen Anfängen giebt e8 immer eine Mannigfaltigkeit
indivibueller Anfäge, die doc den Grundtypus fefthält. In der
neuen Gemeinfchaft fahen die einen die Abfchaffung der Kinder-
taufe als das Hauptftücd eines rechten fchriftgemäßen Chriftentums
an, und die fogenannten Gartenbrüder fammelten fich in den Vor⸗
ftädten, wo ber nahe Fluß Gelegenheit zu der ſchriftmäßigen Tauf⸗
praxis bot und machten durch aufgehängte Badehofen die Stätten
der rechten Geifteswirkung den Brüdern kenntlich. Mehr als die
rechte Taufe lagen anderen Ideale am Herzen, weldde in apola=
(pptifchen und eschatologiichen Farben jpielend ihrem Kern nach
doch auf Glückſeligkeit im Diesfeits hinausliefen. Alle diefe und
andere Unterfchiede der Gemeinde hingen mit der Verfchiedenheit
der Führer zufammen: welch ein Abftand zwifchen einem ernft«
haften philofophifchen Kopf wie Hans Denk und dem im Geift
anfangenden, im Fleiſch vollendenden Ludwig Häger; zwifchen bem
überzeugten Eiferer wider die Kindertaufe Hübmaier, der fich gegen
den religiöfen Sozialismus fpröde verhielt, und tilgen einem
fanatifchen Wortführer des Kommunismus, wie Hut! Wo fo viel
Spielraum für verfchiedene Geifter war, blieb auch die Unklarheit,
das Undurkhfichtige und Unberechenbare, das der Bewegung gleich
einer trüben Gährung von Anfang anbaftete. Denn auch ferner-
hin, wie in Münzer, Carljtadt und den Zwidauer Propheten be-
bauptete fich altteftamentliche Gefetlichleit neben Betonung der
evangelifchen Freiheit, Buchftäbelei neben der Geiftesrede, Wider⸗
willen, der Obrigkeit zu gehorchen neben der Willigleit, von ihr
Die Kiebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 228
auch das Äußerfte zu erdulden, fozialer Anſpruch für das irdiſche
Leben neben der Sehnſucht nad den legten Tagen und der Zu-
funft des Herrn.
Und eben diefe Unklarheit übertrug fi) auch auf die Forde⸗
rung der Gütergemeinfchaft. Bald erfchien diefelbe als rechtlich
geartet, nur daß fie innerhalb der Gemeinde geordnet ward, bald
als eine in Unterftügung und Hilfsleiftung beftehende Übung brü-
derficher Liebe: Und während man eben bier mit dem Evange⸗
lium der Liebespfficht zu genügen vermeinte, waren dann doch
wieder mittelalterliche Vorſtellungen in der näheren Feſtſtellung
und Begründung wirffam. Denn der Sag, daß alle Dinge nad
einem aus Gottes Schöpfung ftammenden Naturrecht gemein feien,
ift auch bei den Wiedertäufern in Geltung; und glei den Bes
gründern des evangelifchen Rates volllommener Armut beziehen jie
fich auf das Vorbild der Gemeinde in Jeruſalem und auf das
Wort ChHrifti: Willft du vollfommen fein, fo gebe Hin und ver-
faufe alles, was du Haft, und gieb e8 ben Armen). Nahmen
wir wahr, wie die mönchiſch⸗asketiſche Betrachtung für den evan⸗
gelifchen Nat volllommener Armut einen Stützpunkt in dem Ges
danken eines urſprünglichen Paradiefes-Rommunismus erfann, wie
fie das Eigentumsreht nur aus dem Notftand, der mit der Sünde
eingetreten, zu rechtfertigen mußte, wie fie den Vollkommenen die
Wiederherftellung jenes urfprünglichen Zuftandes zur Pflicht machte,
fo fehen wir die Wiedertäufer diefes Ideal des Mönchtums, an
dem die ganze Liebesthätigfeit des Mittelalters krankte, zum Statut
erheben. Sie pfropfen gleihjam die Anfchauungen der Mönchs⸗
orden auf ihre Gemeinden, fie machen mit dem Kommunismus,
der dort nur als Hilfslinie im Syftem Bedeutung gehabt Hatte,
vollen Exrnft und bilden, auch in diefem juribifchen Zuge Kinder
des mittelalterlichen Geiftes, bie Forderungen, die über das Gebot
hinausgingen, zu folchen um, welche innerhalb der Gemeinde gleich
1) Baumann, A. ©. 646 ff. Der Ehronift Jakob Holgwart geht als
einziger unter allen der Sammlung auf die Argumente der Wiebertäufer ein.
Sein Berfuch, fie zu widerlegen, ift interefiant. Beilänfig ift ©. 648, 3. 11
v. u. mentitus zu leſen ftatt mentibus.
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 15
224 Hering
einem Statut gelten und auf ben Zeitpunkt warten, an bem fie
überall in der Welt als göttliches Recht in Kraft treten werden.
Das war nicht eine von den zufälligen Paradoxieen ber Ges
Ihichte, daß eine Richtung, die man wohl die entartete Schwefter
der Reformation nennen könnte, doch dem Mönchtum geiftesver-
wandt blieb. Denn fie hat den Fehler, an dem dies litt, nicht
überwunden; fie Hat nur ein Verhältnis der Abftogung zu einem
Kreis fittliher Ordnungen, auf welche das Ebriftentum eingehen
jol. Die Obrigkeit, das Recht ift ihr etwas Fremdes, ein Stück
„Welt. Die fittlihe Bedeutung des Eigentums für den ein«
zelnen wie für den fozialen Organismus entgeht ihr. Es wäre
eine ungeſchichtliche Betrachtung, den Anabaptismus unter einfeis
tiger Hervorhebung diefer Berührungspunkte gleihfam zurückzu⸗
biegen auf die Entwicelungsftufe, deren Einfeitigleiten ihm an⸗
baften, zu überfehen, welch ein lebendiger regſamer Fleiß in den
Gemeinen Mährens die Hände zur Arbeit in Bewegung feßte,
nicht anzuerkennen, wie auch das religiöfe Leben in den Beſſeren
zur Einfalt, Reinheit und Liebe apoftolifcher Sinnesart Hinftrebte ;
aber für die fozialen Verfehlungen des Anabaptismus iſt gerade
das Erbe mittelalterlicher Vorftellungen, die er aus dem Asletiſchen
ins Revolutionäre überfegt Bat, fchwer ins Gewicht gefallen.
Und eben diefer fein Anſpruch, das rechte chriftliche Verhältnis
zu den zeitlichen Gütern herzuftellen, machte ihm Bahn ins niedere
Bolt. Ähnlich wie drei Jahrhunderte zuvor die Bettelorden durch
ihre Armut einen Zauber auf die Gemüter ausübten, verbreitete
fich wie durch Anfteung der täuferifche Geiſt. Er beſaß diefe
Macht gewiß nicht bloß durch feine Lehren von der Taufe, fondern
durch das, was an ihm Weltflüchtiges, mit den beftehenden Ver⸗
hältniffen, den geltenden Gewalten Überworfenes war, zugleich durch
feine Predigt von der Nächftenliebe und der Gemeinjchaft der Güter
unter den Wiedergeborenen. Wie viele Arme im Volt horchten auf
diefe Rede! Sole, die fich von der Reformation in ihren Hoff-
nungen getäufcht glaubten, durften meinen, diefelben hier doch noch
erfüllt zu jehen. So wuchs die Zahl der Täufer nad) der Nieder»
werfung der Bauern, und es war befonders der Handwerkerftand,
in welchem er Boden gewann. Dem Miffionsbefehl Chriſti ges
Die Liebesthätigfeit der dentfchen Reformation. 25
horſam beeiferten fich jchlächte, ungelehrte Männer, das rechte Evans
gelium im Geift den Armen zu predigen. Mit größter Heimlich⸗
keit gingen fie zu Werfe, indem jie zufällige Zuſammenkünfte be
nußten oder auch durch die Häufer ſchlichen. Bald waren fie in
allen größeren Städten Süddeutſchlands ausgebreitet; ihre Ger
meinden erftredten fih, eine lange Kette, von Salzburg bis an
den Rhein, und befonders Augsburg, deifen zerrüttete foziale Ver⸗
bältnifje einen empfänglihen Boden bildeten, ward ein Vorort des
Auabaptismus, in dem es 1527 nicht weniger ald 1100 Gemeinde-
glieder gab !).
Über der Ausbreitung folgte allenthalben die fchärffte Verfol⸗
gung mit unnachſichtlicher Strafe ?). Anfänglich, als die Schwär⸗
merei in den Zwidauern ihr Haupt erhob, hatte Luther eine Be⸗
fampfung durch das Wort befürwortet und von äußeren Strafen
abgeraten. Aber der Gebanfe der Zoleranz mußte mit einer ges
wiffen Notwendigkeit der Rückſicht auf die öffentliche Wohlfahrt
und Sicherheit weichen. Der Anteil der Schwarmgeifterei und
des neuen Prophetentums am Bauernkrieg war in zu frijchem
Gedächtnis, als daß man in ‚feiner regfamen Propaganda nicht
ein Nachzuden der Revolution hätte fehen follen; und überdies
ließen die Erfahrungen, welche man in diejer gemacht, auch evan⸗
gelifche Obrigfeiten, ja die Reformatoren ſelbſt äußere Strafmittel
und Repreffiomaßregeln nicht mehr verfchmähen, um die evanges
liche Predigt gegen das Gift fchleuhender Winfelprediger zu ver
wahren. Vollends den fatholiichen Herren lag nad) der Art, wie
fie den Bauernaufftand beurteilten, der Gedanke an Milde gegen
die Wiedertäufer fern. Sie galten ihnen als die gefährlichite Frucht
ber Iutherifchen Keterei und zwiefach der Austilgung wert. Luther
und Brenz dagegen haben abgemahnt, dieje „falſchen Propheten“
an Leib und Leben zu ftrafen*; fie dachten daran, wie die Juden
die heiligen Propheten und die PBapiften die Unjchuldigen getötet
hatten °).
1) Baumann, A. ©. 138f. 140. 145. 157.
3) Der ganze Vorrat graufamfter Leibesftrafen jdien an ihnen erſchöpft
werden zu follen. Baumanı, A. ©. 139.
3) Das Dekret des Kurfürften Johann und das Faiferlidde Mandat vom
15*
226 Hering
Viele der Verurteilten fah man gleich, Märtyrern fterben. Sie
gingen freudig in den Tod, umarmten ihre Henker und befahlen
ihre Seelen wie rechte fromme Chriften dem Bimmlifchen Vater.
Die fittlihen Verkehrungen und Zrübungen, die den Anfängen ber
Schwärmerei anhafteten, waren dennoch nicht überwunden. Wie
viel ernfte innige Gemüter in dem neuen Evangelium eine reine
Befriedigung gefunden haben mögen, in dem Ganzen der Bewegung
wie auch in einigen hervorragenden Führern treten je und je uns
heimliche Symptome einer widerwärtigen fleifchlichleit hervor. Wie
ihimpflih fam Hätzer zu Yall Und im Jahre 1529 ging bie
Sage, daß Wiedertäufer, die gefangen genommen waren, „ein ſelt⸗
ſames Spiel mit einander getrieben, die Weiber verwechjelt und
umgehn Laffen“ !). Eben in diefem Jahr fchien die Sekte in
Siüddeutfchland gedämpft, fie war faft aller hervorragenden Führer
beraubt, und doch Hatte fie ſchon Heimliche Wurzeln nach Weft-
falen getrieben, wo fte einige Jahre fpäter eine furchtbare Kata⸗
ſtrophe herbeiführen ſollte.
8
Bei fo kritiſchen Zuftänden des deutſchen Volkslebens wurde
das Werk bedeutungsvoll, das man in Kurſachſen unter den er⸗
regten Zeiten vor dem Aufſtand angefangen hatte und nach demſelben
ſofort wieder aufnahm, die Viſitation. Denn dieſelbe be—
deutete eine „innere Miſſion“ im tiefſten Sinn, und
auch die, welche fragen, warum die äußere oder Heidenmiffion
nit von den Reformatoren in Angriff genommen jet, müfjen
deſſen eingedenk fein, daß unſer Volt zum Teil aus heidnifchen Zur
ftänden dem Evangelium zurüdzugewinnen war. So war es nad
Reichstag zu Speyer 1529 bei Haft, Gedichte der Wiebertäufer, 1836,
©. 159 ff. Luthers Äußerungen €. U. 26, 264 ff. De Wette 3, 347.
Köſtlin II, 154. Über Brenz vgl. Herzogs Real⸗Encykl. 2. Aufl. 2, 610.
1) Baumann, A. ©. 158. Die Arbeiten über bie Wiedertäufer von
Cornelius, Geichichte des Münfterifchen Aufruhre, Leipz. 1855, und Keller,
Geſchichte der Wiebertäufer und ihres Neiches zu Münfter, 1880, lafſen nicht
genug ertennen, daß der unethiſche Zug in der wiebertäuferiichen Bewegung fich
ſchon in der Epoche, von der wir reden, wiederholt regt.
Die Liebesthättigkeit der deutſchen Reformation 227
Luthers Worten „ber Liebe Amt”, welches der ſächſiſche Kurfürft
nach dem Vorbilde des frommen Yofaphat !) übernahm, dem Evans
gelium in das tief zerrüttete Volksleben Bahn machen zu helfen.
Schon feit Yahrhunderten hatten feine Ahnherren kraft ber landes⸗
herrlichen Gewalt bei den PVifitationen zerrütteter Klöſter mitge-
wirft 2); aber doch ging jetzt das Eingreifen in die kirchlichen Zu-
ftände weit über die früheren Bemühungen hinaus. Diefe hatten einer
Reform gegolten: jene wollte Reformation durch das Evangelium.
Man weit gewöhnlich auf die Anomalie Hin, die in biejer
kirchlichen Initiative eines weltlichen Fürften lag, und römiſche
Gefchichtsfchreiber pflegen anzubeuten, wie profane Mittel die Re⸗
formation brauchte, um durchzubringen. Es ift wahr, daß dieſe
Anomalie viel Bedentliches in der Folge gezeitigt hat. Aber damals
war fie, al8 die Biſchöfe ich dem Evangelium verfagten, ein Akt
der Not, wie landespäterliher Gefinnung. Und es muß erinnert
werden, daß fie au mit Glaubensmut unternommen ward. “Dies
Evangelium, das man dem armen Volk bringen wollte, hatte nod)
nicht eine Geſchichte proteftantifcher Sittlichleit zum Zeugnis feiner
ernenernden Kraft; gerade jett wurde es von vielen als Urſache aller
fozialen und religiöfen Irrungen beſchuldigt. Es fragte fi, ob
es eine Wiedergeburt dur Einpflanzung rechter Gottesfurdt in
einem durch Jahrhunderte verwahrloften und nun Teidenfchaftlich
aufgeregten Volkstum herbeiführen werde. Als in Kurſachſen diefe
Frage bejaht wurde, war eben damit Grund zu einer Volks—
erziehung durch das Evangelium gelegt.
Als man and Werk ging, öffnete fi) ber Blick in alle die
Schäden, die zum Teil eine Folge des Bauernkrieges, aber ebenfo
2) Auf diefen hatte Hausmann in einer Denfichrift vom 2. Mai 1525
veriielen, die er auf Aufforderung Friedrichs des Weifen ausgearbeitet batte.
Burkhardt, Gefchichte der ſächſ. Kirchen- und Schulvifitation. Leipz. 1879.
©. 7. Bol. E. Riehm, Handmwörterbuch des bibl. Altertume. Art. Jo⸗
fapbat.
2) Reinhardt, Meditationes de jure principum etc. S. 127fj. Auch
Herzog Georg Hat in die BVifitationen als Landesherr mit eingegriffen, da er,
wie Reinhardt a. a. D. berichtet, fehr ungänftig über die von der Kirche allein
vorgenommenen Bifttationen dachte.
228 Hering
eine Frucht der ganzen letzten Epoche bes Verfalls bes kirchlichen
Lebens waren. Vieles wies auf ein Jahrhundert der VBerwahr-
loſung zurück). Wie mancherlei Abftufungen auf dem ausge
dehnten Gebiet bis Franken Hervortraten, fo gab es doch nicht
einen intakten Bezirk, überall unhaltbare veformbedürftige Zu⸗
ſtände.
Und zugleich mit den fittlichen Schäden wurde ein ökonomiſcher
Notftand offenbar, ohne deffen Bewältigung jene nicht geheilt wer-
den fonnten. Die Frage nah einem genügenden Unter:
halt der Bfarrer mußte gelöft werden, follte „Gottes
Wort und Dienft nicht zu Boden gehn“. Niemals vielleicht hat
fich in der evangelifchen Kirche, die Bedingtheit der höchſten Auf:
gaben durch fcheinbar niedere fo drückend geltend gemacht.
Schon im Jahre 1525 Hatte Luther mit dem Kurfürften So»
hann darüber Briefe gewechfelt, ob der Bejoldung der Bfarrer
aus Kloftergut oder Gemeindemitteln nachzuhelfen ſei ); dann fchärf-
ten die Erfahrungen, die ſchon in den erften Bifitationen' 1526 ger
macht wurden, die Dringlichkeit einer Hilfe ein). Die kurſäch—
fifche. Inſtruktion für die Viſitatoren vom Jahre 1528 erteilte
genauere Anweilungen. Zuerſt folten die liegenden und fahrenden
Güter fowie die bisherigen Bezüge der Pfarrer, auch die Einkünfte
der Bettelfföfter und Domiftifter feftgeftellt werben; reichten Dies
jelben nicht zu, fo möchte. die Gemeinde eintreten; wäre bie Ge
meinde unvermögend, jo ftellte der Kurfürſt eine Beihilfe aus
feinen Lehnen, Klöftern und Stiftern in Ausficht. Auch die Bau⸗
laft wurde den Gemeinen auferlegt. Für den Wall, dag Zinfen
und Decem fäumig gegeben würden, erhielten die Amtleute An⸗
—
1) Gegen Janſſen. Es verſteht ſich, daß dieſer dem römiſchen Recht, der
Reformation und dem Vauernkrieg alles das zuſchreibt, was durch die Viſitation
ans Licht trat. Hatten die Bauern in Zinna das Baterunfer durch den: Bauern⸗
frieg fo verlernt, daß es ihnen zu lang däuchte? Burkhardt, Viſitationen
S. 38.
2) De Wette III, 39. 51. Burkhardt, Luth. Briefwechſel S. 92.
3) Burthardt, Gedichte der ſächſ. Kirchen- und Schulviſitationen 1879.
©. 14.
Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 229
weifung, mit Strenge vorzugehen ). Auf die Gemeinden alfo
follte bei ungenügendem Einkommen zunächft zurücgegriffen werden.
Die Verfaſſer der Inſtruktion hatten eine Anzahl von Möglich⸗
feiten fehr überlegſam berüdfichtigt; eine Borftellung von den Zu»
ftänden, die fie finden follten, bat ihmen indes ſicherlich noch ge-
fehlt.
Auch an das Armenwelen wurde in der Inſtrnktion
gebadht. Wären die kirchlichen Bedürfniſſe befriedigt, fo möchten
die Überfehüffe in den gemeinen Kaften fließen und der Armut zus
gute fommen. Die Bifitatoren follten darauf fehen, daR es bei
der Austeilung nicht, wie aus einigen Orten Slage geführt war,
parteitfch oder eigennügig zugehe, auch die Beamten vermahnen,
der Armut guten Schuß zu halten. Zugleich wurde den Pfarrerm
das arme Volk befohlen. Die trüben Erfahrungen, welche vor
zwei Jahren gemacht waren, kommen wohl in der dringlichen Art
zum Ausdrud, in welder ben BPredigern eingefchärft wird, die
Lehre vom Gehorfam gegen die Obrigkeit recht zu treiben, bie
Selbftändigfeit und Gültigkeit des kaiſerlichen Rechts gegen bie
Schreier zu verwahren, welche die Forderungen und die Schärfe des⸗
felben, namentlich aud) die des Strafredhts unter Berufung auf
Moſes als unrecht bezeichneten. Aber die Prediger follen auch die
Obrigkeit erinnern, daß fie die Armut nicht wie das Vieh behan-
dele, ihren Unterthanen Schu und Treue halte und Witwen und
Waifen verteidige 2). Wir erkennen auch hier den Geiſt chriftlicher
Gerechtigkeit, de8 Wohlwollens, das troß der legten Jahre fich be⸗
hauptet hatte, zugleich aber au, wie andere dringlide Auf—
gaben für jegt denen der Zürforge für die Armen
voranſtanden.
Und noch mehr mußten dieſelben in die erſte Stelle einrücken
durch die Ergebniſſe der Viſitation ſelbſt. Denn man fand faſt
überall eine Dürftigkeit der Pfarrer, welche Abhilfe
heiſchte. Zum Zeil war diefelbe eine Frucht früherer Meißftände
und Nöte, wie fie die Mißwirtjchaft der Kurie im Gefolge hatte;
1) Richter, Die evang. Kirchen⸗OO. I, 79ff.
2) Ebend. 88.
230 Hering
zum Teil war fie durch ben Bauernaufruhr herbeigeführt; denn
berfelbe hatte feine Spuren auch am Kirchen- und Pfarrgut hinter-
laſſen. In Thüringen hatten die Landleute oft das bare Kirchen-
vermögen unter fich geteilt und Kelche und Monſtranzen zur Be⸗
zahlung von Strafgeldern ober gar zu Zechpfennigen verfilbert %).
Ganze Gemeinden hatten ſich der jchuldigen Leiftung gegen ben
Pfarrer entwöhnt. Und wenn mun die Bifttatoren wirklich dieſe
Heinen Bezüge, Decem, Opfer-, Meß⸗, Sprengpfennige und vieles
andere wieder in Gang brachten, wie mißlich war biefe Wieber-
herftellung in vielen Zällen! Der Widerwille der Bauern blieb,
für die Seelmeffe zu bezahlen, die Hinfort wegfiel, Sprengpfennige
zu geben, da der Pfarrer nicht mehr mit Weihwaffer fprengte.
Und vollends, wenn der „Todfall“ dem Pfarrer zuftand, dieje ein-
trägliche aber graufame Einnahme, gegen welche fich die Beſchwer⸗
den der aufftändifchen Bauernfchaft gerichtet, deren Abftellung bie
Gutachten der Aeformatoren befürwortet hatten, durften die Vifi⸗
tatoren darauf drängen, daß nad dem Tode des Hauswirts der
armen Witwe die befte Kuh aus dem Stall geführt würde? Es
war ein Fortihritt von Bedeutung, wenn es in Franken gelang,
diefe Bezüge durch Ablöfung zu befeitigen 2). Aber auch um bie
liegenden BPfarrgüter war es oft ſchlimm beftellt. Hier und da
waren fie entfremdet, und es hatten nicht bloß Bauernfäuſte zus
gegriffen, fondern auch adelige Patrone °).
In den Heinen Stäbten fanden bie Bifitatoren manche Schwie-
rigfeit, welche mit ölonomifchen und finanziellen Notftänden zu⸗
ſammenhing und nicht durch den guten Willen der ftädtifchen
Behörden fofort zu bewältigen war. Der Altenburger Nat hatte
vergeblich die Bildung eines gemeinen Kaſtens angeftrebt %); Jena,
Pösneck, Orlamünde, Saalfeld waren fo arm, daß fie ihre Geiſt⸗
lichen und Schulen zu unterhalten außer Stande waren, und der
Kurfürft mußte e8 nachträglich genehmigen, daß Jena Kirchenfilber
1) Burkhardt, ©. 90. Ähnliches in anderen Bezirken. ©. 51. 77.
2) Ebend. ©. 77.
3) Ebend. ©. 40. 49. 77.
4) Ebend. ©. 44.
Die Liebesthätigfeit ber dentſchen Reformation. 231
für 2007 Gulden verlauft und das Gelb für Kommunalzwede
verwendet hatte !). In Leisnig, defien Kaftenorönung Luther für
würdig erflärt hatte, ein gemein Exempel zu werden, ftand man
noch nicht einmal in den Anfängen 2). Alle Erfahrungen beftä-
tigten Luthers Gutachten, welches eben jener Orbnung beigefügt
war: man bedurfte der vorhandenen Kloſter⸗ und Stiftsgüter, um
Mittel für die Firchlichen Bedürfniffe zu gewinnen.
In der That war da, wo die Klöſter teilweiſe aufgehoben
waren, wie in Franken und vereinzelt im Kurkreis, 3. B. in dem
Städtchen Herzberg, eine Beitragsquelle eröffnet). Im ganzen
indes leifteten die religiöfen Genoffenfchaften mehr Widerftand als
‘in den großen Städten, in denen der Rat und die Stimmung ber
Bürger auf fie eindrängte. Sie lehnten daher die Zumutung, zu
den gemeinen Kaften beizuftenern, ab, oder fie kauften fi) von
derfelben durch einen geringen Beitrag gleichſam los, wie der reiche
Konvent auf dem Frauenberg bei Altenburg, der jährlich taufend
Schod einnahm und fih nur zu einer Abgabe von 12 Gulden
verftand 4). So konnte der Kontraft reicher Klöfter und barbender
Pfarrer noch fortbeftehen. Das reiche Jungfrauenkloſter in Weida
bezog aus 44 Ortfchaften reiche Zinfen und Naturalien, und dieje
Einkünfte kamen 22 Perfonen zugute, während viele Pfarrer in der
Nähe am täglichen Brot Mangel Titten 5).
Berhältniffe, die fofort abzuändern nicht in eines Fürften Macht
lag, drängten fo dahin, daß oft die gemeinen Kaften, welche jchon
begründet waren oder durch die Anregung der Vifitatoren eben jet
entftanden, nur den Tirchlichen Notftänden dienten. Sie wurden
bloße Kaffen für die Befoldbung der Pfarrer oder für
die Einrihtung von Schulen, und doch follten fie, wenn
möglich, auch Deittel für die Armenpflege gewähren. Die ftiftungs-
mäßigen Bezüge der Pfarrer wurden ihnen ebenſo einverleibt, wie
die kirchlichen Sammlungen für die Armen, Ablöfungsgelder für
1) Burkhardt, ©. 91.
3) Ebend. ©. 95.
8) Ebend. ©. 59. 42,
4), Ebend. ©. 44f.
5) Ebend. ©. 78f.
282 Sering
kirchliche Handlungen fowehl wie freie Gaben. Eine Fuflon, in
welcher die Verforgung des kirchlihen Amts ſich der Fürforge für
die Armen um fo leichter verordnete, als die Not es erheifchte,
jene erfte Aufgabe zuerft zu bewältigen. &8 wer ſchon ein Ge⸗
winn, mern hiermit an einigen Orten ein Anfang gemacht war.
9.
Um fo Höher find die Anfänge der Armenpflege in einigen
Städten des Kurfürftentums zu veranfchlagen. Seine derfelben
war mwohlhabend, und doc ging man nicht bloß auf die ererbten
Anftalten und Stiftungen, fondern auf den Quell der immer thä-
tigen Geſinnung zurüd.
Zwidau, wo eme Fülle älterer Stiftungen den Gemeinden
zufiel, Hatte jchon vor dem Bauernkrieg troß der Unruhen der
Schwarmgeifterei einen bemerkenswerten Anfang gemacht. Dann
geriet in den Jahren 1527 und 1528 auch diefe Stadt in finan-
zielle Bedrängnis, gewann indes durch Verkauf von Kirchenfilber
und da8 bedeutende Vermächtnis der Witwe des Dr. Stüler (400
Gulden, ungefähr fo viel wie heute 6000 Marf) neue Mittel ').
Auch Wittenberg ging 1527 mit der Einrichtung eines
gemeinen Kaftens voran, deffen Ordnung fpäter für
Rurfahfen noch weitere Bedeutung gewonnen hat ?).
1) Herzog, Chronik v. 3m. I, 892ff. 191. 229; I, 157f.; TI, 212.
214. 231. Bgl. den Auffat von Fabian, M. Petrns PBlateanıs. Gymn.-Progr.
1878. S. 6. Rawerau, Kafp. Güttel, 1882. ©. 53. Burkhardt, Ge
{dichte der Viſit. ©. 66f.
2) Dieſelbe ift bisher noch nicht gedruckt. Sch gebe fie im Folgenden, doch
nicht in diplomatifcher Wiedergabe aus Spalatins Handichrift wieder Cod.
chart. Altenburg XIV. 10. No. 27 (4), die mir Herr Prof. Köftlin freund⸗
lich mitgeteilt Bat.
Herr Johann Pommern, Pfarrers zu Wittenberg, Bericht, wie der gemeine
Kaften zu Wittenberg beftellt ifl. 1527. .
1) Alle geiftfichen Lehen, die erledigt find, werden zum gemeinen Kaften
geichlagen.
2) St. Alle geiftliche Lehen, fo noch unerledigt, ſollen nach der Veſitzer
Abfterben auch zum gemeinen Kaften kommen.
Die Liebesthätigleit der dentichen Reformation. 25
Im ganzen begegnen wir befannten Methoden. Die Pfarr
und die Spitalgüter werben in der eben bemerften Fuſion, beide
3) FH. Beide Spitäler gehören auch zum gemeinen Kaften und werden
von den Borftehern des gemeinen Kaftens verfehen.
4) Ft. Alles, das um Gottes willen gegeben wird, dasfelbe wird auch
zum gemeinen Kaften georbnet.
5) Die Borfteher des gemeinen Kaftens gehen jährlich zu drei Malen
in der Bürger Häufer, Almofen im ben gemeinen Kaften zu fammeln.
6) Alle Sonntage und Feſte gehen die Borfteher des gemeinen Kaſtens
mit Sädeln in der Kirche um. Die Vorſteher des gemeinen Kaſtens
find die Diakonen, wie man in der Apoftel Geſchichten am fechften lieft.
7) Bon unſerm Rat werben jährlich die veblichften Bürger gewählt,
die nicht verbädtig find mit untreuem Geiz, und zu denen man
Bermutung bat, daß fie der Armut geneigt, wie fie denn in Ge-
ſchichten der Apofteln am ſechſten und in der erſten Epiftel St. Pauli
zu Timotheo am vierten beichrieben werben.
8) Diefelben verforgen die zwei Spitäler unb ihre Armen, bie nad)
Gelegenheit der Notdurft ihrer Liebe in bie Spitäler angenommen
werden.
9) Sie haben auch fonft viel armer Leute fehriftlich verzeichnet, die bei
uns in der Stadt in Armut, Krankheit zc. gefallen find. BDenfelben
geben fie wöchentlich einen Groſchen, dem andern zwei, dem britten
drei ober mehr, nach eines jeden Rotburft.
10) Wenn fie durch den Pfarrer oder Kaplan berichtet werben, daß in
irgendeinem Haus Not ift, eine Zeit oder ewig (?) als von alten,
von Franken, von ſchwangeren Weibern, fo fchidlen die Vorfteher des
gemeinen Kaſtens bald zwei von ihren Gefellen zu ihnen, die Not
daſelbſt zu Befichtigen und erfahren.
11) Die Fremden nimmt man im Spital eine Nacht ober zwei an,
welche aber ans ihnen bei uns krank werben, die läßt man heilen
oder hilft ihnen, wo fte e8 bebürftig, wie den andern. Denn Gott
hat fie uns zugefügt, daß wir ihnen Gutes thun follen.
Sonft aber nehmen wir feinen Fremdling an, bamit wir unferen
gemeinen Kaften oder die Gemeine nicht befchmeren.
12) Wenn der Vorſteher des gemeinen Kaſtens Jahr um ift, fo thım fie
ihre Rechnung in Gegenwart aller Bürger, die dabei fein wollen,
darauf andere Vorſteher ermählt werden. Doch alfo, daß allermwegen
zween unſerer des vergangenen Jahres des folgenden Jahres bei den
Borftehern bleiben, damit der gemeine Kaften nicht denen befohlen
werde, die desfelben Rechnung, Weife und Gelegenheit des erften
Jahres nicht wiſſen noch verftehen.
2834 Hering
in den gemeinen Saften gefchlagen, ebenfo läuft der Kirchliche Ges
fihtspunft unbefangen in eine bürgerliche Praxis aus: Der biblifche
Diakonat ſchwebt als Vorbild vor, aber der Rat wählt bie ges
eigneten Bürger. Die Mittel werden aus ber Sammlung mit
dem Säckel während des Gottesbienftes und eine dreimal im Jahr
fi wiederholende Hauskollefte gewonnen. Die Fürforge ſoll fid
auf die Armen in den Spitälern und ebenfo auf die Hausarmen,
auf die Kranken in der Stadt erftreden, und indem auf einen Ver⸗
kehr zwifchen den Pfarrern und Raplänen und den Almofenpflegern
gerechnet wird, erhalten die letzteren Nachricht, um fich durch ihre
Gehilfen weiter zu erkundigen. Die Höhe der wöchentlichen Unter:
ftügungen wurde in der Heinen Stadt natürlich niedriger bemeffen
(1—3 Groſchen), als in dem reihen Nürnberg, wo fie 75 Pfennig
bis 1/s Gulden betrug. Tür die Behandlung Fremder lieg man
eine milde Weitherzigfeit walten, deren Abfichten notwendig fcheitern
mußten, wenn fich der Bettel anfing ihrer zu getröften. Aber
auch undurchführbare Beftimmungen bleiben ein Zeichen der Sinnes-
art ber Reformatoren. Ihr Herz war über den fchweren Ent-
täufchungen, die ihmen der Aufftand eben bereitet Hatte, nicht ver-
bittert worden.
Als DVerfaffer diefer Ordnung möchte man Bugenhagen ver-
muten, ber auch den fozialen Reformfragen als Ratgeber der Stadt
Hamburg, wie wir fehen werden, ſchon mäher getreten war !).
Aber auch Luther felbft nahm fih der Sache an, indem er das
ganze Barfüßerklofter am 6. Mai 1527 vom Kurfürften Johann
unverkürzt zu einer Herberge für die armen Glieder Chrifti erbat.
Hierzu fei e8 als ein altes fürftliches Begräbnis recht angewendet;
zugleich Hielt er dem Kurfürften das Wort des Herrn vor: Was
ihr meinen Geringften thut, das thut ihre mir ?).
1) Ich ſchließe es nicht fo aus der Überfchrift, die bloß von einem Bericht
redet, wie aus ben herzlichen Worten in Punkt 11. So fchrieb Bugenhagen
Kirchenordnungen.
2) De Wette III, 176. Über das Barfüßer⸗ oder Franzisfaner-Klofter
in Wittenberg vgl. Meyner, Gefcdichte der Stabt W. 1845. ©. 109.
Nach Stier, Wittenberg im Mittelalter, 1855, ©. 75, wurde das Klofter
1544 in ein Hofpital umgewandelt.
Die Liebesthätigfeit der dentichen Reformation. 235
Eben gegründet follten diefe Ordnungen und Anftalten aud)
eine Probe beftehen; eine größere war über Luther felbft verhängt.
Am Auguft brach die Peſt in Wittenberg aus. Die Krankheit er-
ſchien Luther gutartig Y); immerhin waren do am 19. Auguſt
feit ihrem Auftreten im ganzen 88 Perfonen geftorben, befonders
in der Fifchervorftadt; die erfte Perſon, welche in der Mitte der
Stadt erlag, war die Frau des DBürgermeifters Tilo Dene; fie
verfchted fast in Luthers Armen. Denn während die Univerfität
auseinanderftob und viele von einer Furcht ergriffen wurden, wie
er fie noch nie gejehen, blieb Luther mit Bugenhagen und den
Kaplänen. Er hielt es für eine Pflicht, der Furcht zu fteuern,
wußte auch, dag Chriftus bei ihnen fei, damit fie nicht allein
blieben, und daß er in ihnen über die alte Schlange triumphieren
werde. So empfahl er fi, jelbft furdtlos, den Gebeten der
Freunde. Gteichzeitig aber wurde er von der Schwermut befallen,
die mit feinen Törperlichen Leiden zufammenbing. Er aber erjchien
fih ſchwach am Geift, mit Wunden im Herzen, ein anderer Hiob.
Wieberholt bat er die Freunde um ihre Fürbitte. Und in eben
diefer Zeit behauptete doch fein ftarker Mut die Thatkraft der
Nächftenliebe. Sein Haus wurde faft zu einem SHofpital, in
welchem eine Kranke nad) langem Darniederliegen von der gefähr⸗
lihen Seuche genas, während an einer anderen fi die Symptome
einftellten, Luthers Söhnlein felbft von ihr befallen zu fein fehlen,
und feine Frau ihrer Entbindung entgegenfah. Xief erjchütterte es
ihn gerade damals, daß die Frau eines Geiftlichen nach einer Fehl⸗
geburt der Krankheit erlag, und er nahm nun aud) noch den Witwer
und die Kinder zu fi. Erft gegen das Ende des November war
die Seuche erlofchen ?).
Und ebenfo viel wie dies Vorbild folder Hingebung an bie
Brüder und an die Pflichten der Gemeinſchaft bedeutete für die
ſich Bildenden evangelifch » fittlichen Anfchauungen von Liebe und
Selbftverleugnung eine Heine Schrift, die Luther auf Bitten des
1) „Pestis hic coepit quidem, sed satis propitia est“, fchrieb ev am
10. Aug. De Wette III, 191.
2) De Wette III, 189 bis 225,
286 Hering
Breslauer Predigerd Heß bald nad, jener Heimjuchung über die
Frage veranlaßte, ob man vor dem Sterben fliehen möge.
Diejelbe ift ein Seelforgewort voller Weisheit. Der Mam,
welcher eben fein und der Seinen Leben daran gewagt, fordert ein
gleiches Verhalten doc nicht von allen. Bon dem Grundjag aus,
daß aller Werke vom Glauben aus erft gut feien, kann er zwar
die, welche den Vorſatz faſſen, nicht zu fliehen, wegen ihres ftarfen
Glaubens Ioben, aber zugleich die, welche fliehen, gegen Verurtei⸗
[ung der Starfgläubigen in Schu nehmen. Denn unter Ehriften
find wenig Starte und viel Schwache; jene mögen Gift trinfen
ohne Schaden, dieje aber trinken fich den Tod. Nun ift der natür⸗
liche Trieb, der uns den Tod fliehen ließ, von Gott eingepflanzt;
fo mag fliehen, wer ſchwach und fürdtig if. Wer dagegen durch
bejonderen Befehl des Amts und Berufs gebunden ift, muß blei-
ben, die Prediger und Seelforger zuerft, dem Vorbild
des guten Hirten getreu, dann aber au die Amt-
leute der bürgerliden Gemeinde. Aber auch dieſe Forde⸗
rung läßt eben um bes Berufs willen auch eine Ausnahme zu;
denn wäre die Verforgung des Amts durd) genügende Kräfte ge-
fihert, jo möchten die Prediger ſich unter einander vereinen, Die
ziehen zu lafjen, welche entbehrt werden können. Und gleich ihnen
find auch die anderen Ehriften duch Dienft- wie Herrfchaftspflichten
gegen einander zu treuem Beiftand in folden Nöten verbunden,
Knechte gegen ihre Herren, und dieje gegen ihr Gefinde; ja, wenn
es an folchen gebricht, welche die Kranken berufsmäßig ‚pflegen, jo
joll ein Nachbar dem anderen beiftehen und helfen, wie er wollte
ihm felbft geholfen Haben; es möchte fonft Chriſtus einft jagen:
Sch war frank und ihr befuchtet mich nicht! Es wäre wohl fein,
wenn wir jo viel Spitäler hätten, wie fie die Voreltern mit ihren
Stiftungen herzuftellen geftrebt, jo daß nicht jeder in feinem Haufe
ein Spital zu haben brauchte, aber da, wo das nicht fei, wie es
denn an wenig Drten fei, müfje einer des anderen Spital-
meifter und Pfleger fein bei Verluſt der Seligfeit.
Wer dann vollends Gottes Verheißungen anjehe, dürfe fich nicht
bloß defjen getröjten, daß er von Gott behütet bleiben werde, jon-
dern daß Gott fein Wärter jein wolle, „Lieber, was find alle
Die Kchesihätigleit der demtkhen Reformation. 1
Ärzte, Apotheken und Wärter gegen Gott? Sollte einem das
nicht Mut machen, zu den Sranfen zu geben und ihnen zu dienen,
wenngleich fo viel Drüfen und Peſtilenz an ihnen wären, wie Haare
am ganzen Leibe, und ob er gleid; müßte hundert Peftilenz; an feinem
Halfe heraustragen?” ')
Mit fo voller Zwerficht des Glaubens und fo bedachtſamer
Rüdfiht auf die Schwachen erhebt fich in dieſen erften Notzeiten
das reformatorische Zeugnis zugunften der Liebe und Treue gegen
den Nächften. Der große Einfing dieſes Zengniſſes in Anſchlag
gebracht, fo blieb e8 gewiß fein bloßes Wort. Ale eine Kraft der
Anregung und Stärkung gehört es der Geſchichte der enaugelifchen
Liebesthätigleit an. Auch in ber enangelifch-religiöfen Schriftftelierei
war hierdurch ein Anſatz gegeben, der befonder® in den nächſten
Jahren ſich weiter entwidelt bat.
10.
Wie viel Hemmungen aud) der Bauernaufitand bereitet bat,
wie fehr fich die Folgen Hiervon fonft zeigen, jo fam ber Reforma⸗
tion doch auch ein Moment zuftetten. Der Aufftand war bemältigt
nicht durch das Reich, fondern durch die Regierungen der einzelnen
Gebiete. Ihr Anjehen und Einfluß wuchs hierdurch und konızte,
wo die Obrigfeit dem Evangelium zuneigte, zugunsten besfelben
geltend gemacht werden. So fehen wir in verfehiedenen Gebieten
die deutfchen Städte die Neform noch im Jahr 1525 wieder an»
greifen und mit Nachdruck auf der Bahn berfelben fortichreiten.
Allerdings Taffen die erneuten Bemühungen auch erkennen, wie jehr
die 1522 unternommenen Anfänge derjelben bedurften.
Beginnen wir unſeren Überblit mit Breslau, deſſen Refor-
mator Heß fh von Luther über das rechte Verhalten in Sterbens-
fäuften Hatte belehren Tafjen. Hier waren ſchon 1523 gemeine
Kaſten an ben beiden ftädtifchen Hauptlirchen begründet worden.
Dann wurde, nachdem Heß eine Zeit lang die Obrigkeit vergeb-
Eich ermahnt und dan ſich geweigert Hatte, meiter zu prödigen, fo
fange er über feinen lieben Herren Ehriſtus, der vor den Thüren
1) E. A. 22, 817 ff.
238 Hering
liege, hinwegſchreiten müuſſe, das Armenweien im Mai 1525 neu
geordnet. Faule und unmwürdige fremde Bettler wies man aus ber
Stadt, während man die wirklich Bedürftigen den ftäbtifchen Spi-
tälern zuteilte. An der Spige des „gemeinen Almofens“ zur Unter⸗
ftügung Hausarmer, defjen Leitung in bie Hände von fünf Vor⸗
ftehern gelegt wurde, ftand Heß ſelbſt. Schon 1526 Hatte er es
dahin gebracht, daß eine neue Anftalt, das Allerheiligen - Hojpital,
gebaut wurde; er blieb durch feine Anregungen zu Gaben und
Leiftungen, fein förderndes Eingreifen die Seele biefer Gründung;
am 27. Juli legte er mit dem Ratsherrn Hörnig den Grundftein.
Die Ratsherren konnten in einer Verantwortung gegen den König
von Polen darauf hinweiſen, daß 500 Arme in den Spitälern ver-
pflegt, die Hausarmen verjorgt feien ?).
An Nürnberg batte die Neuordnung ſchon 1523 unter denen
Gegner erhalten, welche anfangs fich dem Evangelium zuneigten.
Wilibald Pirkheimer, einer von den Öumaniften, die eine Reform
wollten ohne Brud mit Rom, war früh mit Ofiander und La⸗
zarus Spengler zerfallen und hatte Bittere Schmähreime auf die
beiden geſchmiedet?). Der erftere war ber Mann einer Tühnen,
auch unbedachtfamen Offenfive, er hatte während des Reichstags
1524 über den Antichrift in Rom gepredigt, die Hierarchie mit
den Juden verglihen, die Chriftus gekreuzigt und eine Parallele
zwijchen den Südelmeiftern unter den Schriftgelehrten der Gegen-
wart und Judas Iſchariot gezogen. Der andere, Spengler, war
wohl der Leiter der Mugen Ratspolitik, welche trog der Anklagen
1) Köftlin, Joh. Heß, der Breslauer Heformator in ber Zeitichrift bes
Bereins für die Geſchichte Schleftens. 1864. ©. 211. 219f. 242. Koff-
mane, Korrefpondenzblatt des Vereins für Geſchichte d. ev. Kirche Schlefiens.
1888. 2. Bd., ©. 16.
2) Ei, daß ihr den hoffärtigen Pfaffen nicht an feine güldene Kette henkt,
Und ben Lafterredenden ehrabfchneidenden Schreiber nicht ertränkt! Waldau,
Beiträge I, 251. Wie fehr die Nürnberger Ordnungen ale Vorbild dienten,
zeigt außer dem Beifpiel Magdeburgs auch bie von Brenz 1526 verfaßte „Re-
formation der Kirchen in Hall und im Hallifchen Land”, von der indes Richter
nur vermutet, daß ſie geſetzliche Kraft erlangt habe. Richter I, 40. 46.
Dies ift gegenüber der geichilderten Anfeindung zu beachten,
Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 239
der Legaten und unter den Augen derſelben der Reformation bes
dachtſam zufteuerte und den Kreis der kirchlichen Befugniffe für
den Stadtrat jtetig erweiterte. PVielleicht Hatte auch Perfünliches
den berühmten Humaniften den beiden zum Feinde gemacht; gewiß
mißbilligte er aber aud ihr Verfahren gegenüber den Inſtituten
der alten Kirche, und bejonders die Einziehung der Kloſter⸗
güter vertiefte den ſchon herben Gegenfat zu Teidenfchaftlicher
Schroffheit.
Schon 1524 hatte der Rat die Kapläne angewieſen, die Ger
fälfe von Tirdlichen Handlungen in die gemeine Büchſe zu legen.
Dann ftellten am 13. Dezember desfelben Jahres die Auguftiner,
deren Drden Luthers Freund W. Lind angehörte, zuerjt den An»
trag, alle Kloftergüter dem Gotteskaften einzuverleiben, während fie
für fih nur Verköſtigung begehrten und ſich bereit erflärten, dem
Evangelium zu dienen. So fand Luthers Ratſchlag, wie mit den
Kloſtergütern zu handeln fei, bier ſchon nah einem Jahre feine
Ausführung dur Glieder feines Ordens. Schon ftand man am
Vorabend des Bauernkrieges. ALS derjelbe ausgebrochen war unb
die mächtige Stadt in demfelben fi mit Klugheit und Mäßigung
behauptete, kam ein SKonvent nad dem andern ein, feine Güter
an das Almofenamt abzutreten. Die letzten, die Karthäufer, legten
fogar das Bekenntnis in den Üüberreichten Artikeln ab: ‘Der vechte
Gottesdienft ift Glaube und Liebe, damit man dem dürftigen
Nächſten dient und ihn nicht verjchmachten läßt, wie Ehriftus am
jüngften Tage befennen wird. Unter den Urfachen ihres Austritte
nannten fie auch diefe, daß die müßiggehenden Kloſterleute von den
arbeitenden Chriften unterhalten und die armen Leute von ihnen
ausgefogen würden ?).
Dem Biſchof von Bamberg gegenüber fuchte fi) der Nat
unter anderem damit zu rechtfertigen, daß dem gemeinen Mann die
1) Die Auguftiner traten die Güter ab Mittwoch nad) Dculi, die Karme⸗
fiter Freitag nad) Cantate, der Konvent zu St. Egidien am 12. Juli, die
Karthäufer im November. Müllner, Reform.⸗Geſch. von Nürnberg. 1770.
©. 60. 65. 69. v. Soden, Beiträge zur Geſchichte der Reformation. 1855,
©. 210. 233.
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 16
240 Hering
Augen über die päpftlichen Mißbräuche durch die Schrift geöffnet
fein. Er machte feine Pflicht, Unruhen abzuwehren, geltend; ebenfo
berief er fich gegen die Karthäufer, die ſich eine Weile fträubten,
auf fein Schußherrenredit ?).
Es Tennzeichnet weiter die Macht des Rates, daß er das Kon-
fubinen » inwefen, gegen welches die bifchöfliche Macht nichts aus-
gerichtet Hatte, abthat und den Kaplanen gebot zu heiraten; endlich,
daß er den BPrieftern auferlegen konnte, falls fie nit Bürger
werden wollten, ihre Pfründen dem Armenlaften zu übergeben, doc
jo, daß die Hälfte der Nutzung ihnen verblicbe ?).
Nur an zwei Frauenflöftern jcheiterten feine Bemühungen. Als
er die Nonnen des Ordens der St. Klara und St. Katharina zum
Austritt aufforderte, Leifteten nur drei Folge?). An der Spike
des erfteren ftanden Charitas und Klara Pirkheimer; überhaupt
ftammte die Mehrzahl der Nonnen aus den Patrizierfamilien der
Stadt. Pirkheimer nahm fich der bedrohten an; er verfaßte eine
Schutzſchrift, in welcher fich diefelben leidenschaftlich über die Härte
beſchwerten, mit welcher man gegen fie vorgegangen, gegen die
Perſon des BPredigers, gegen die Slofterleute, welche die Güter
herausgegeben, arge Verdächtigungen fchleuderten, die Lage der aus⸗
getretenen Nonnen fo darftellten, als feien diefelben gezwungen, ſich
der Schanbe preiszugeben und den Evangelifchen die Schuld am Efend
des Bauernkriegs aufbüirdeten: fo fet die ſchöne chriftliche Liebe der
Evangelifchen, welche in ber heiligen Schrift gegründet fei, beichaffen.
Bon fich jelbft bezeugten fie, daß fie bisher den Armen täglich nad)
Vermögen Hilfreich gedient ). Das Klofter bat denn auch noch
ein halbes Jahrhundert feiner Auflöfung widerftanben.
Steichzeitig mit der Einziehung des Klofterguts wurde ein
Almojenamt eingeridhtet. Es bleibt noch aufzuflären, wie fid
dasſelbe zu den im Jahre 1522 getroffenen Veranftaltungen ver-
ı) Müllner, ©. 61.
2) v. Soden, S. 231. Medicus, Geſch. d. evangel. Kirche in Baiern.
1868. ©. 18f.
8) v. Soden, ©. 287.
4) Abdruck in Waldan, Beitr. III, 495ff.; IV, 48ff.
Die Kiebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 241
halten bat, welhe Summen ihm durch die Kloftergüter zugefloffen
find, endlich, wie viel es in den folgenden Notjahren geleiftet haben
mag. Die Mitteilungen eines fpäten Berichterftatters laſſen nur
erfennen, mit welchem Nahdrud man dem Bettel entgegentrat.
Man gab niemand Almofen, der noch Loſung ſchuldig war; damit
fih nicht fo viele in das Almofen würfen, mußten die Männer
auf den Hüten, die Frauen auf ihren Hauben Meffingzeihen tra-
gen; unterliegen fie es, fo folgte nach zweimaliger Verwarnung
Sefängnisftrafe und Entziehung des Almoſens. Diele, fagt unfer
Gewährsmann, wurden hierdurch abgefchredt und fingen an, ſpar⸗
ſamer zu leben und ihrer Arbeit fleißiger obzuliegen *).
Auch in Straßburg wurden die Klöfter in diefem Zeitraum
großenteils fäkularifiert. Durch Ratsbeſchluß vom 19. Oftober
1529 famen die Einkünfte derfelben den milden An-
ftalten zugute; die des Dominifaner-Nonnenklofters St. Marx
wurden dem gemeinen Almofen überwiefen, um Korn und eine
Bäderei für die Armenfpeifung zu gewinnen; die Güter des Klo⸗
ſters der heiligen Klara fielen an das Spital, die bes Kloſters auf
dem Wört an dad Waiſenhaus. Dem Spital für Pockenkranke
floffen die Einkünfte des Katharinenklofters und der Martinskirche
zu. Das Auguftinerflofter wurde 1530 in eine Elendenherberge
verwandelt. Eben diefe Gütereinziehungen fallen in eine Zeit, in
welcher bejondere Nöte, wie wir jehen werden, die höchften Leiftungen
von der Gemeindepflege verlangten.
Und dod blieben nötige Bedürfniffe auch in diefen
großen Städten unbefriedigt. Die Prediger waren zu kärg⸗
lich befoldet. Die Mittel, welche das eingezogene Kloftergut ge-
währte, wurden durch die Verforgung der Ausgetretenen neben ben
Aufgaben der Armenpflege in Anſpruch genommen; doch trifft
aud die ftädtifchen Behörden ein Vorwurf. Als Erasmus den
Straßburger Predigern Eigennug aufrüdte, erwiderte Butzer: Drei
Gulden wöchentlich (= 2340 Mark jührlih), wovon wir nebit
1) So berichtet 1699 der Markthelfer Ingolflätter bei Sie benkees,
Materialien zur Nürnberger Gefchichte TIL, 146. Bgl. Waldau, Rene Beitr.
I, 264.
16*
242 Hering
Weib und Kindern leben müſſen, das find unfere Reichtümer!!)
Auch in Nürnberg mußten die Geiftlihen 1530 Hagen und bitten,
bis man ihnen ihr Einlommen von 60 Gulden (900 Marf) um
20 Gulden erhöhte 2). In Niederdeutfchlaud begegnet uns diejelbe
traurige Erjcheinung. Die evangeliichen Geiftlichen wollten fid
von den Bapiften nicht nachjagen laffen, daß ſich durch ihre Fa⸗
milie die Gemeinden befchwerten, jo duldeten fie lieber Mangel.
Knipftrow erzählte oft, wie er im Anfang bei einer Jahresbeſol⸗
dung von 20 Mark Hunger und Kummer gelitten; Hätte fein
Weib nicht durch Nähen etwas verdient, jo hätte er das evange⸗
(ifche Predigtamt verlaffen oder betteln müffen ®). Der Vorwurf,
welcher die Gemeinden und ftädtichen Behörden trifft, mildert fid
allerdings, wenn man bedenlt, wie neu die Aufgabe war,
da8 evangelifhe Pfarrhaus zu verjorgen. Hat dod
ein Bugenhagen jelbjt, um die8 hier vorweg zu bemerken, in
Braunſchweig die Gehälter zu niedrig bemeffen und ift barliber in
Wittenberg „bel angeredet worden“. Nicht nur, daß er diefelben
„bei allem Fleiß nicht höher bringen Eonnte“, es hatten ihn aud
einige Prediger felbft verhindert, mehr zu verlangen, indem fie des
Haushaltens unkundig meinten, nicht viel zu bedürfen. So blieb
denn auch in den Städten die beſſere Verforgung der Geiftlichen
noch eine Aufgabe der Zukunft. „Es wäre”, fagt Bugenhagen,
„nicht riftlih, wenn es an dem Gelde follte fehlen, nun uns
Gott mit dem Heiligen Evangelio feine Gnade jo reichlich Hat zu-
gewendet.” Er dachte, als er fo jchrieb, nit nur an auskömm⸗
tihe Befoldung, fondern auch an eine Verjorgung fürs Alter *).
11..
In eben diefen Zeitraum fallen die erften kirchlichen und evan⸗
gelifch »fozialen Drganifationen in Niederdeutichland. Einige der
jelben haben für ganz Deutſchland und über feine Grenzen hinaus
1) Röhrich I, 194f.
2) v. Soden, Betr. ©. 348, bei. 357. Waldau, Beitr. IV, M4 ff.
3) Eramer, Pommerjche Kirchen-Ehronit. 1608. 3. Bud, Kap. 17.
%) Bugenhagen, von mennigerleie hriftliten falten 1581. BI. 270.
Die Liebesthätigfeit der deutfchen Reformation. 243
den Rang von Vorbildern erlangt. An ihnen zeigt fi) die Macht,
welche der evangelifche Geift im Zuſammenwirken der Bürger-
fchaften mächtiger Stäbte mit einer bedeutenden Perfönlichkeit ent-
faltete; ebenfo tritt an ihnen auch die Gefahr der Unflarheit her-
vor, welche diefe ‘Doppelfeitigleit der Zukunft des entftehenden
evangeliichen Kirchentums bereitete.
Zunächſt find auch Hier einige Anfänge von geringerer Bedeu⸗
tung zu verzeichnen. In Magdeburg Hatte der Konflikt geift-
licher Gerechtſame und bürgerlichen Gewerbfleißes der Reformation
vorgearbeitet; dann als die evangeliſche Predigt mit Erfolg in die
Bürgerfchaft eindrang, wurde 1524 nad) Oſtern auch die erfte
Almofenordnung entworfen. Diefelbe ift wohl der Nürnberger
nachgebildet ?), nur daß fie die Aufgabe mehr als diefe auf die
Armenpflege im engeren Sinne befchränft 2). Im Auguft fchon
war das Vermögen der fehr bedeutenden Annenbrüderjchaft dem
gemeinen Kaften überwiefen 9). Nachdem das Recht der Parocieen
in der Wahl von Kirchenvorftänden wieder gefichert, in Amsdorf
ein Superintendent gewonnen, und eine Rirchenordnung in 10 Ar-
tifeln entworfen war 4), brachte das ftürmifche Jahr 1525 viel
Streit und Tumult. Dennoch machte die Angelegenheit der Armen⸗
verforgung dadurd einen Fortfchritt, daß die Auguftiner ihr Kloſter
famt ihren Gütern an den Nat Übergaben 5). Da auch ein ans»
ſehnliches Kapital (3000 Gulden = 45000 Mark) für milde
Zwede ausgefegt war, jo konnte das Klofter in ein leiftungsfähiges
Hospital umgewandelt werben und zugleih Schulzweden dienen.
Am Sabre 1527 betrugen die Einnahmen 692 Gulden, über
10000 Mark nad) heutigem Geldwert. Die Kranken, von denen
1) Die Magdeburger hatten 1524 fich bei den Nürnbergern wegen ber Re⸗
formation Rats erholt. v. Soden, Beitr. ©. 208.
2) Abdruck bei Hoffmann, Geſchichte der Stadt Magdeburg. 1856.
Bd. I, ©. 40. Richter, Die evangel. K.OO. I, 17f. mit Auslaffung ber
Beftimmungen gegen fremde Bettler.
35) Hoffmann DI, 68.
4) Abdrud bei Hoffmann I, 45.
5) Hoffmann II, 68. Bock, Das Armenweſen zu Magdeburg, ©. 155,
bei. 184.
244 Hering
der erjte 1526 aufgenommen wurde, waren allerdings meift
Pfründner !). Außer dieſem neugegründeten gab es eine Anzahl
äfterer Hofpitäler 2). Ein ruhiger Ausbau des Gemeindelebens
war indes in biefen Jahren aud) in der erzbiichöflichen Metropolis
nicht möglid. Das Domkapitel wußte kaiſerliche Strafmandate
zu erwirken, und wenn auch Kurfürft Albrecht es nicht zum Außerften
fommen ließ, fo blieb die Zeit bis zum Augsburger Reichstag eine
Zeit des Kampfes.
Steichzeitig Hatte das Evangelium in Bommern Fuß gefaft,
aber ebenfalls unter Kampf und Tumult, in welchem ein lang
verhaltener Haß des Volkes gegen die Mönde ausbrach. In
Stralfund wurden am 10, April die Klöſter geftürmt und ber
Rat nahm die Güter derfelben und bie Kleinodien der Kirchen in
Verwahrung. Eine Kirchenordnung, von dem Schulrektor Apin
verfaßt, handelte ausführli auch von der Gründung eines ge
meinen Kaftens. Es waren doch wohl Bugenhageniche Gedanken,
welche dem in Wittenberg gebildeten Verfaſſer bei feiner Arbeit
vorſchwebten. Aber diejelbe blieb zunächft ein Entwurf. Eine
Spätere Dellaration, wohl aus dem Jahre 1528, bedeutete info-
fern eine Verbeſſerung derfelben, als fie den Gedanken einer Zentral:
verwaltung aufgab und den Vorftänden der einzelnen Kirchen ihre
Befugniffe beließ. Dagegen blieb dem gemeinen Kaften der Cha-
rakter einer gemifchten Rafje, welche ebenfo Pfarrbefoldungs- wie
Armenverforgungsfonds fein ſollte; ja auch zu dem gemeinen Gut,
alſo für kommunale Bebürfniffe durfte bderfelbe in Anfpruch ge
nommen werden, eine Ablenkung vom firchlichen Gefichtspuntte,
deren Spur fi jchon in der Leisniger Ordnung findet ®). Die
Gegenpartei wehrte fich indes, indem fie die Stadt beim Reichs—
kammergericht verflagte, während die vertriebenen Brüderschaften
2) Bod, ©. 157. 160.
23) Dal. Hoffmann I, 452. 465, bei. 497 fi.
3) Die Stralfunder Vorgänge behandelt fehr eingehend Fabricius in dem
Auffa „Der geiftliche Kaland zu Stralſund“. Baltifche Studien, 26. Jahrg.
2. Heft. Abdruck der Straliunder Ordnung bet Richter I, 22, Im übrigen
vgl. Kantzows Chronil. Ausg. von 1835. ©. 161. Cramer, Bomm.
Kirchen⸗Chronik. 3. Bud. 11. Kap.
Die Liebesthätigkeit ber deutfchen Reformation. 245
die Herausgabe der Güter verweigerten. Im Jahre 1530 erfolgte
die Reftauration der alten Zuftände: „do quemen“, jagt ein Ehronift,
„de papen wedder in und nemant jede en wat.“ Schien jo an
einem Vorort der evangeliichen Bewegung die foziale Reform zu
ſcheitrn, fo war Pommern überhaupt noch zu fehr erfüllt vom
Gährung, Kampf, Irrungen zwifchen bem Herzog und ber Lands
Ihaft, Fehden raubluſtiger Edelleute und heimlichem Trotz des
Landvolks, als daß für jegt eine Förderung der enangelifchen Sache
und der evangelifchen Liebesthätigleit möglich gewejen wäre.
Auh im Orbensland Preußen, das durch den Hochmeiſter
Abreht von Brandenburg in ein weltliches Herzogtum umgewan⸗
delt war, kam die Armenpflege für jet nicht über die erſten An⸗
ordnuungen hinaus. Eine Landesorbnung vom 6. Dezember 1526
weift ihr Zinfen von Gütern der Brüderfchaften, Gelder aus geift-
lihen Lehen zu und fucht den Pfarrern ihren Unterhalt zu fichern.
Seit der Bifitation des Jahres 1528 verfuchte man, in jedem
Kirhfpiel einen gemeinen Kaften zu gründen; man darf zweifeln,
ob mit Erfolg. Das Landvolk war überaus unwiflend, vom
Adel furchtbar bedrückt; feine chriftliche Erkenntnis gering; die
Schwertbrüder hatten das Heidentum nicht einmal in Brauch und
Sitte ausgerottet. Das Voll war der Zauberei und dem „Bock⸗
heiligen“ noch fehr anhängig, befonders in Samland; fo wer aud)
bier vor allem Miffionsarbeit unter Mithilfe ftraffer äußerer Zucht
zu thun !),
Von größerer Bedeutung als die geſchilderten Anſätze ſind die
Organiſationen, welche mit dem Namen Bugenhagens
verknüpft ſind. Wie großen Anteil die Bürgerfchaften der be⸗
treffenden Städte an ihnen haben mögen, er iſt doch als die Seele
derfelben anzujehen. Ganz Nieberdeutfchlend öffnete fi) ihm als
Miſſions⸗ und Arbeitsfeld, als er 1525 von den Kirchgefchwworenen
an St. Nikolai zu Hamburg und von Bürgern der Stadt zum
Pfarrer der genannten Kirche gewählt wurde. Gerade er war für
dasjelbe Hervorragend geeignet. Pommer von Geburt wie nad)
— —
1) Richter J, 33. Art. 2.6 u. 32. Haſe, Herzog Albrecht und fein
Hofprediger 59 ff.
246 Hering
feiner geiftigen und ſittlichen Eigenart, treu, ftandhaft und tapfer,
gutherzig von Grund feines biederen Gemüts, auch in der be-
häbigen Breite feines Worts ein echtes Rind feiner Heimat, ein
Kämpe, dem pommerjche Grobheit, wo es not war, nicht gebrach,
dabei praftiih, ein Drdner und Leiter der kirchlichen Dinge von
Gottes Gnaden, vor allem ganz eins mit Luthers Lehre und
Geiftesart, fo ift er der Evangelift feiner Landsleute geworben.
Zunächſt Hatte feine Wahl einen Sturm unter den Gegnern, Bes
denflichfeiten im Rate erregt; man bat ihn, nicht nad) Hamburg
zu fommen. Aber ebenjo zeigte fich Hier wieder das Unwiderfteh-
lihe der Macht, welche die Geifter ergriffen Hatte. Es war ein
jchwerer Kampf, den die dem Evangelium geneigten Bürger Ham-
burgs zu beftehen hatten, und fie fochten ihn mit niederdeutfcher
Zähigkeit durch.
Bugenhagen ſelbſt hielt gegen die Zurückweiſung durch den
Rat die Berufung durch die evangeliſchen Bürger im gewiſſen
Sinne aufrecht, er lehrte nach der Weiſe der Apoſtel die Evange⸗
liſchen durch ein Schreiben an die ehrenreiche Stadt Hamburg ?).
Dasjelbe war ein Hirtenbrief im vollften Sinn. Es gab ein um:
faffendes Zeugnis „vom chriſtlichen Glauben und rechten
guten Werten gegen den falfhen Ölauben und erdid:
tete gute Werte“. Ganz aus Luthers Geiftesart gefloffen, tief,
klar, herzlich, vollstümfich, auch etwas breit, trägt e8 die Grund:
läge evangelifcher Sittlichfeit vor. Das Recht der Arbeit wird
gegen den Firchlichen Vettel vertreten, die Forderung der Nächften-
[iebe warm und dringlich geltend gemacht. Mit Troft, Lehre,
Strafe, aber auch mit Dienft in Krankheit wie in Sünde, mit
Hilfe in Armut und Hunger foll fi) der Chrift gegen den Nächſten
üben; er kommt dann nicht in bes Franziskus oder Dominikus,
fondern in Chrifti Orden. Überhaupt find alle Werke gut, melde
unter göttlichem Gebot ftehen und daher mit der Zuverſicht gethan
werden, daß fie Gott mohlgefallen. Im lebten Teil wird dann
die Schrift aus einer Lehr- und Ermahnungsrede zu einer Anwei⸗
jung wie die Dotierung der Prediger, die Verforgung der Armen
1) Abdruck bei Bogt, Joh. Bugenhagen ©. 101,
Die Mebesthätigkeit der beutfchen Reformation. ai
einzurichten fei. Sind fo lange überreihe Gaben in die Klöſter
gefloffen,, große Summen bis zu 40 Gulden für Meſſen, Ablaß-
briefe und Wallfahrten geopfert, der großen Teſtamente zu ſchwei⸗
gen, fo wird e8, wenn das Evangelium erft in Schwang kommt,
niht an Mitteln für Aufgaben der Gemeinde fehlen. Unter den
üblichen Abgaben möchte Bugenhagen das WVierzeitengeld als ein
Opfer an den großen Hauptfeften erhalten wiffen; für Hausarme,
arme Mägde oder gemeine Nöte möchte er redlihe Teftamente ge
macht fehen, und endlich follen alle Güter und Lehen, welche mit
dem Abfterben ihrer Inhaber frei werden, zufanımen mit den freien
Gaben frommer Leute in einen gemeinen Kaften geichlagen
werden. Witwen, Waifen, Arme, Kranke könnten aus demjeiben
mit Gaben oder mit Darlehen unterftügt werden. Um deffen zu
warten, empfiehlt Bugenhagen die Erwählung von Vorſtehern oder
Armendiafonen nah dem Vorbilde von Act. 6; zu folchen fol
man die allerverftändigften und gottesfürdhtigften Bürger nehmen,
die nicht ihren Vorteil fuchen, nicht jedem faulen Schelm glauben,
aber fih auch nicht zu fehr davor fürchten, einmal betrogen zu
werden, und die nicht unbarmberzig die Schuld derjenigen Armen,
die nicht bezahlen können, beitreiben. Von diefen Diakonen der
armen Leute unterfcheidet Bugenbagen die Kirchendiafonen, denen
er die Seelforge an den Kranken übertragen wiffen will. Dies
jelben follen nicht nur einmal mit dem Sakrament zu den Kranken
gehen, fondern ohne Saframent alle Tage, fo lange fie krank lie⸗
gen oder über den andern Tag, um fle zu tröften und zu ftärfen
mit dem heiligen Evangelium nad ihrer Anfechtung, fonderli in
Todesnöten. So tritt Schon in diefem erften Entwurf die Auf-
gabe des Seelforgers, das Zroftamt der Liebe hervor. Wir wers
den diefem Zuge auch in den Kirchenordnungen Bugenhagens wieder
begegnen; er zeichnet fie vor allen anderen auß.
Die Einwirkung diefer Gedanken erkennen wir in den wirf-
lichen Anfängen einer Gemeinde - Armenpflege, mit welcher die
Nikolaigemeinde, diefelbe, welche Bugenhagen gewählt Hatte, am
16. Auguft 1527 voranging 1). Die Bürger Sprechen es in der
I) Staphorft, Hamb. Kirchengeih. V, 112,
248 | Hering
Vorrede aus, daß fie aus rechter Berichtung des göttlichen Worte
gelernt, wie fie verpflichtet feten, die Bürden des Nächften durch
hriftliche Liebe mitzutragen. Und in weitem Umfange wollten fie
diefe Pflicht erfüllen: Waifen, die von Breunden feine Hilfe haben
könnten, unterhalten und in die Lehre geben, troftlofe Witwen mit
Notdurft verjorgen, arme, mit anftedlenden Seuchen beladene an
gejonderten Orten verpflegen. Gerade diefe Aufgabe erfannten die
Bürger bei der Überfüllung der älteren Hofpitäfer als dringlic,
jo dag ſchon damals der Bau eines neuen Hofpital® ins Auge
gefaßt wurde, Aber man dachte in derfelben Weitherzigfeit, von
der fchon die Nürnberger Ordnung von 1522 zeugte!), den fo-
zialen Nöten der Zeit helfend näher zu treten. Und hier befundete
fih der Bürgerfinn in dem auch von der Reformation in Schuß
genommenen Intereſſe an der Arbeit, wenn man ſolchen Armen,
denen Gott „etliche Glieder Trank gemacht und die ſich doch nod)
die Koft verdienen könnten“, zu ſolchen Geſchäften, deren fie fähig
wären, verhelfen, gebrechlichen und mit Kindern überladenen Hand⸗
werfsleuten unverzinsliche Vorſchüſſe darleihen, für die Ausftattung
armer Jungfrauen und Dienftmägde, im Fall die Dienftherrjchaften
nicht felbft, wie billig, Hierfür geforgt, die Mittel gewähren wollte.
Bettler dagegen follten im Kirchfpiel nicht geherbergt und gehand-
habt werden.
Die Ausführung diefer Ordnung wollte man zwölf von der
Gemeinde gewählten Männern übertragen. Sie foliten durd alle
Straßen und „Twite“ umgeben, um fi) von der Notdurft der Armen
und Kranken durch Augenfchein Kenntnis zu verfchaffen und diefelben
aufzuzeichnen, den Umgang mit fleißigem Auffehen auf die Haus»
armen monatlich wiederholen und jedem feinen Verhältniffen ent-
fprechend helfen. Um die Kenntnis der Bedürftigen noch mehr zu
fihern, follten die Vorfteher einen betagten Mann annehmen, der
täglich auf die Armen und Kranken acht Habe, den Vorſtehern
berichte und in der Ausführung ihres Amtes diene.
Die Mittel dachte man auf verfchiedene Weife zu gewinnen.
1) 2. Aufſatz. Stud. u. Krit. 1884. ©. 254. Die Ordnung bes Nikolai
firchipiels bei Staphorft, des andern Zeile 2. Bd., S. 112 ff.
Die Fiebesthätigfeit der beutichen Reformation. 49
Güter der auf Lebenszeit Verforgten follten, wie es früher Hoſpital⸗
brauch geweien, der Armenpflege verfallen, Sammlungen beim
Ausgang aus der Predigt an der Kirchthür ftattfinden; auch hoffte
man auf ftattliche Gifte, Zuwendungen aus Zeftamenten, Bruder-
ſchaften und Lehen. In folchen Erwartungen ſprach fich die chrift-
liche Zuverfiht aus, daß „Gott vom Himmel beliebet, feinen gött«
lihen Befehl und Wert in die Herzen derer, welchen er feine
Gnade mitteile, zu geben, fo daß fie ihre eigenen Güter ohne allen
Zwang zu dem göttlichen Almofen zu geben gutwillig gefunden
werden” 2), aber fie laſſen auch erkennen, daß man auf eine jo
weitreichende Fürſorge ökonomiſch noch nicht eingerichtet war. Die
Freiwilligkeit Tonnte fo bedeutende Mittel nicht allein aufbringen;
man bedurfte auch hier eines Zufluffes aus dem Kirchen⸗ umd
Kloftergut.
So fonnten auch diefe erften Anſätze erft durch die Reformation
zum Ziel fommen. Wie vieles immer diefe den DBeftrebungen der
Bürgerfchaften dankt, aus ſich Haben die Bürger nicht einmal
auf dem Mittelgebiet des Sozialen etwas Neues, das fich be:
haupten Konnte, hervorgebracht 2).
Zunädjft war es ſchon ein Fortſchritt, daß das Vorgehen der
Nitolaigemeinde nit ifoliert blieb. Als fih am 18. Dezember
1527 die anderen Kirchfpiele der dort aufgejtellten Ordnung mit
Gutheißen des Rats anfchlofjen, war die Angelegenheit zu einer
allgemeinen der Hamburger Bürgerfchaft geworden. Aber die Ber:
handlungen des folgenden Jahres lafjen erkennen, wie viel Drud
von den Vertretern der Rirchfpiele, die zugleich Geforene der Bürger:
{haft waren, auf die ftädtifche Obrigkeit ausgeübt werden mußte
und wie zögernd und ausweichend diefe nachgab >).
1) Staphorft, ©. 119.
2) Ich bemerke dies gegen von Melle, der im feinem fonft verdienftlichen
Buch: „Die Entwidelung des öffentlichen Armenwefens in Hamburg”, Hamb.
1883, den Einfluß der Reformation auf diefen erften Verſuch einer Reform der
Armenpflege nicht genügend hervorhebt.
3) Bgl. bei. die VBollmadjt der Bürger 29. Juni 1528 bei Staphorft,
&.156. Die Artikel an den Rat vom 26. Auguft 1528. ©. 157. Antwort des
Mate 29. Ang, S. 159. Antwort der Bürger 31. Aug, S. 160.
30 Hering
Es ift das alte Parochialrecht, welches die in ihren Gelorenen
vertretenen Bürger zurkcderfämpfen. Wir fahen, wie im Mittel:
alter die wichtigften Befugniſſe desfelben, Pfarrwahl und Aufficht
über die Vermögensverwaltung oft auf die Stadträte übergingen, wie
die Kirchgefchworenen an Rechten einbüßten. Soziale und Wirt-
Thaftsfragen hatten zu dieſer Nechtsänderung gedrängt !). Jetzt
nun erhebt fi von eben diefer Baſis eine Bewegung aus der
Dürgerfchaft felbft, welche, angefacht vom Geift der Reformation.
fich gegen den allzu mächtig gewordenen, der Neformation feindblich
gegenüberftehenden Stadtrat auf das alte Recht beruft. Da ift es
nun merkwürdig, wie diefer Kampf um Parochialgerecht—
fame der Bürger durchaus nicht etwa zu einer ſchär—
feren Begrenzung bürgerlicher und kirchlicher Kom—
petenzen führt. Die wirtfchaftlihen und fozialen Intereſſen
drängen vielmehr, je mehr die Auseinanderfegung fich verfchärft,
dahin, den Schwerpunft der Macht anderswohin, nämlich in bie
Hände der von der Parodie Gewählten zu verlegen. Die kirch⸗
lichen Gemeindeorgane werben zugleich mit kommunalen Befugniffen
ausgeftattet, fie follen mit dem Rat „das Auge der Stadt und
des gemeinen Weſens“ fein. Und indem die neue Kirchenverfaffung
fih fo durch Änderungen der bürgerlichen durchfett, wird auch hier
die Vermifchung der beiden Gewalten auf länger als drei Jahr⸗
hunderte fantktioniert 2). Ye mehr in der Folge die kommunalen
Geſichtspunkte vor den Eirchlichen ſich Hervordrängten, defto völliger
konnte hier, wie anderswo, die Armenpflege den Charakter einer
bürgerlichen annehmen.
12.
Zu derfelben Zeit gewann das Evangelium in Braunſchweig
Raum. Der Reichstag von Speyer 1526 Hatte demfelben Luft
gemacht, die Zahl der Belenner und Zeugen wuchs, in den Häu⸗
fern fangen die Bürger Luthers Lieder. Einen Anhalt, um weiter
1) 1. Aufſatz. Stud. u. Krit. 1883, ©. 697.
3) Die politifche Bedeutung der Hamburgifchen Kirchen: Kollegien bat bis
1859 gewährt. Bon Melle, S. 11.
Die Liebesthätigkeit der deutichen Reformation. 251
vorwärts zu dringen, bot die ftädtifche Berfaffung vom Jahre 1513.
Jährlich zweimal pflegte eine Verſammlung der Ratsperfonen und
Gildenmeiſter ftattzufinden; feit 1528 kam man öfter zufammen,
und zu ben Verfammelten erlangten „Berorbnete”, welche Die
Bürgerfchaft gewählt, Zutritt. Diefe Verorbneten wurden bie
Führer der reformatorifchen Partei. Sie fetten die Bernfung
eines tüchtigen evangelifchen Predigers, des Dr. Winkel, und die
freie Verkündigung des Evangeliums auf den Kanzeln dur. Die
Meßaltäre wurden abgebrochen und zu Bauten an der Stabtmauer
verwandt, die öfter, die unter dem Schirm des Rates ftanden,
gefchloffen. Einige Prediger hatten in ihren Kirchen den evange⸗
tischen Ritus völlig eingeführt ?).
Nun trat auch in Braunfchweig das Streben hervor, aus den
fich befehdenden Gegenfägen zu einer Gleichheit gottesdienftlicher
Formen und zur Sicherung der ölonomifchen Verhältniſſe zu ge-
langen, Schulen zu gründen und aus einem gemeinen Kaften die
Armen zu verforgen. In den Verhandlungen mit dem Rat läßt
fi der Einfluß der Hamburger Vorgänge und der Ratfchläge
Bugenhagens nicht verkennen, und bald Ienkten fich die Blicke ber
Bürger auf ihn. Im Mai hatten fie die Erlaubnis erwirkt, daß
er perfönlich zu ihnen komme, und am Himmelfahrtstage begann
Dr. PBomeranus feine Wirkfamleit mit der erften Predigt 2).
In einem Vierteljahre Hatte die Arbeitskraft des Unermüdlichen
— er predigte wöchentlich) dreimal, las täglich über den Römer
brief und wurde in Gewiffensfragen und Kirchenfachen viel ange-
laufen — die Kirchenordnung vollendet, welche dann fo oft als
Borbild für andere Ordnungen gedient bat?). Nachdem fle von
Einrichtung des Kultus, Verforgung der Pfarrer, Fürſorge für die
Schulen gehandelt Hat, geht fie im ihrem lebten Zeil auf das
Armenweſen ein. Da ift für den Verfaffer und diefe Epoche der
Reformation gleich charakteriftifch die Art, in welcher fie ihren
1) Rehtmeyer, Der berühmten Stadt Braunfchweig Kirchenhiftorie.
Braunihw. 1707. 3. Teil, ©. 25 ff.
2) Rehtmeyer, ©. 25ff. 53fl. Bogt, Bugenhagen, ©. 269 ff.
8) Richter I, 106 ff. giebt einen ausführlichen Auszug u. bibfiogr. Nach⸗
weife über die älteren Drude,
252 Hering
Gegenftand behandelt. Durch alle Beitimmungen und Anordnungen
fühlt fih der Schlag eines Tiebreichen Herzens dur. „Wollen wir
Epriften fein“, jo beginnt ber betreffende Abfchnitt von dem gemeinen
Kaften der Armen, „jo müſſen wir das auch im der Frucht be⸗
weifen. Gehen wir nicht um mit Möndstand und erdichtetem
Gottesdienft, davon uns Gott nichts befohlen Hat, darum wird
uns Gott nicht verachten, fo müfjen wir umgehen mit dem rechten
Sottesdienft, d. i. mit rechten guten Werken des Glaubens, uns
mit Ernſt von Ehrifto befohlen, nümlich, daß wir uns annehmen
der Notdurft unferes Nächften, wie er fagt: Dabei follen alle
Leute erfennen, daß ihr meine Jünger feid, fo ihr euch unter ein-
ander liebet.“
Doch will die Ordnung die Pflicht der Fürforge nicht einzelnen
frommen Leuten überlafjen wifjen; fie macht vielmehr, als eine
rechte Kirchenordnung, die Pflicht der gefamten Gemeinde geltend.
Verweiſt fie dann auf das Borbild der rechten Chriſten zu der
Apoſtel Zeiten, fo grenzt fie doch die Anfammlung eines Schates
für die Armen ausdrücklich gegen die Gütergemeinfchaft der Ge⸗
meinde in Jeruſalem und bie Vollkommenheit mönchiſcher Beſitz⸗
lofigkeit an: der gemeine Schatz foll zujammengetragen werben
nit für uns, wie bei jenen erjten Ehriften, die nichts Eigenes
behalten wollten, welches nun nicht gefchehen Tann und auch nicht
vonnöten ift, fondern für die Notdürftigen. Solch ein Schag
fann pfennig- und grofchenmweife zujammengetragen, aus milden
Gaben geſammelt werden, ohne unjeren Schaden mit Fröhlichkeit
unferer Konfeienz. Einen fröhlichen Geber bat Gott lieb. Daher
jolfen in diefe „gemeine Kaſte“, welche in allen Pfarren offenbar
aufzuftellen ift, die Erträge des Klingelbeutels fallen, und die Dia-
fonen follen fich nicht fchämen, denfelben vor und nach der Predigt
umzutragen; bie Opfer, welche jo lange bei Totenmeſſen gegeben
find und die Gebühr für das Grabgeläut werben ihm überwiefen.
Und da man zuvor geopfert hat, wenn die Braut zur Kirche ging,
wäre es nicht Hriftlih, daß man dann den Armen in den Kaften
opferte? „Wir wollen dann zur Hochzeit wohl efjen und trinken
und wohlleben, was Gott wohl Leiden kann, wenn da fonft nichts
gejchieht, was verboten ift, denn Chriftus ift felbjt fröhlich geweſen
Die Liebesthätigfeit der dentfchen Reformation. 8
zur Hochzeit und bat den Bauern guten Wein dazu gefchenfet;
wäre es ba nicht auch gut, daß wir den Hungrigen und Durftens
den mit einem Seller oder Pfennig bedächten, daß wir nicht vor
Gott würden verflaget wie der reihe Schlemmer, der den armen
Lazarum vor der Thür nicht wollte anfehen!“ 7)
Ebenſo treuherzig und herzlich werden die Diakonen ermahnt,
ohne Platte und Diakonenrock dem Vorbild des heiligen Stephanus
und Laurentius nachzukommen und bie Kranken, welchen fie mit
Geld zuhilfe fommen, auch aus Gottes Wort zu tröften.
Den Umfang, in welchem Hilfe an Arme gewährt werden ſoll,
möchte Bugenhagen in weitherziger Geduld nicht zu eng umfchreis
ben. Der Bettel foll zwar nicht geduldet werden, aber doch mögen
die armen Leute, welche um Brot gehen, dies noch einige Wochen
thun, bis der Kaften im Schwange ift. Auch foll es nichts aus⸗
machen, wenn einmal ein fremder Bettler eine Partele Geld er-
haften follte. Reben ben Armen wird befonders der Kranken und
einer geordneten Pflege derjelben gedadt. Frauen, die im
Hofpital unterhalten werden oder wöchentliche Almofen empfangen,
werden, falls fie nicht felbft Kleine Kinder oder Kranke zu verforgen
haben, aufgezeichnet, um zur Kranfenpflege verwendet zu werben.
Sie empfangen hierfür aus dem gemeinen Kaften oder von ben
Verpflegten felbft, wenn dieſe wohlhabend find, einen Lohn. Armen
Wöchnerinnen follen die Hebammen umfonft beiftehen und dafür
aus dem Schatlaften eine Beihilfe empfangen.
Ferner ſucht die Kirchenordnung den Kranken den Troſt des
Wortes zu fichern und alle Hilfe mit Seeljorgergeift zu durch⸗
dringen. Schon den Diafonen war die Pflicht vorgehalten, die
Armen aud aus dem göttlihen Worte zu tröften; ausführlicher
wird dies den Predigern befohlen. Sie follen vom Predigerjtuhl
das Voll unterrichten, daß fie nicht mit ihren Kranken bis zum
legten Atemzuge warten; die Prediger aber follen die Kranken, zu
denen fie gerufen find, nachdem fie Beichte gehört und das Sa»
frament gefpendet haben, einen Tag um den andern oder alle drei
Tage befuchen, es wäre denn, daß die Kranken verjtändige Leute
1) Richter I, 117.
254 Hering
bei fih hätten und ſolcher Vifitation nicht bedürften. Die Hofpi-
täler follen ebenfall® von den Prädifanten wöchentlich ein⸗ ober
zweimal befucht, die Kranken mit Gottes Wort freundlich vermahnt
oder unterrichtet werden. Aber auch auf die am tiefften Gefal-
Ienen lenkt fi das Auge diefer feelforgerifchen Furſorge. Zu ben
Miffethätern ſoll man die Briefter nicht erft gehen laſſen, wenn
fie ausgeführt werden *), fondern fo lange fie gefangen fitgen, daß
fie fommen mögen zu der Erkenntnis des Evangelii. „Das ift ja
ein Werk der Barmherzigkeit, das Chriftus wird erfennen zum
jüngften Tage.“
Und zugleich mit diefem ethifchen Zuge, dem chriftlichen Liebes⸗
geift, der diefe Kirchenordnung erfüllt, tritt in ihr ein Talent für
die äußere Seite der Firchlichen Güterverwaltung hervor. ALS
Gedanke, wenn auch in der That zunächſt nicht ausgeführt, ift
die Beitimmung bedeutfam, daß neben dem Armenkaften in jeder
Parodie ein Schatzkaſten, ein Kirchen» und Pfarrfondse aus den
Gütern und Einkünften der Kirchen und Pfarren wie aus den
Überfchüffen der Hofpitäler gegründet werden fol. Ein Verſuch,
aus der Fufion der Armen- und Kirchengüter, die der Einrichtung
der gemeinen Kaſten anhaftete, heraus zu einer Sonderung zu
fommen, die fowohl im Intereſſe der Armenpflege wie ber kirch⸗
lichen Verwaltung lag. Ebenſo weile war die fernere Beftim-
mung, die Überfchüffe der Parochial-Armentaften, wie der parodjiafen
Schasgfaften zur Gründung eines fünften Kaftens, für Zeiten be
fonderer Not, aljo eines Reſervefonds zu verwenden 2). Auch die
Tragen der Aufficht, die beim Nat verblieb, und der Rechnungs:
fegung wurden eingehend und überlegjam geordnet. — Bedenkt man,
daß vor allem auch der evangelifche Sottesdienft begründet, das Schul-
wefen organifiert war, fo war ein großes Werk mit diefer Kirchen-
ordnung gefchaffen. ALS fie vollendet war, fangen die evangelischen
Gemeinen das Tebeum.
1) Wie wenig in früherer Zeit für Gefangene geſchah, zeigt Uhlhorn,
Chriſtl. Liebesthätigkeit des Mittelalters. 1884. ©. 292. Bgl. auch meinen
erften Aufſatz, Borgefhichte, Stud. u. Krit. 1888, ©. 727, und Herzog,
Real⸗Encyklop. 8, 31 über die Hinrichtung Klarenbachs.
a) Richter J, 118.
Die Liebesthätigkeit ber deutfchen Reformation. 256
Nach Vollendung feiner Braunſchweiger Miffion wurde Bugen-
bagen nah Hamburg berufen. Er ging mit Einwilligung
ſeines Landesheren und der Univerfilät und ward aufs ftattlichite
empfaugen. Bald fah er fich einer Aufgabe gegenüber, für welche
die ihm bewilligte Zeit nicht ausreichte, es gab nicht bloß zu
ordnen, fondern auch zu fchlichten )y. In der That kam die Ne
formation in der großen Stadt, deren Bürger ſich zu dem Handel
„ungeſchickt“ befanden 2), erft durch Bugenhagen zur Durchführung.
Am 8. März 1529 konnte er nach Wittenberg ſchreiben: Sudatum
est, sed — Christo gratia — non frustra®), Am Sonntage
nad Zrinitatis wurde in feierlicdem Dankgottesbienft die Annahme
der epangelifcheu Kirchenordnung verkündet 4).
Diefe Hamburger Kirchenordnung ſchließt fich fo-
wohl an den von den Bürgern zuftande gebracdten
Entwurf, wie an bie Braunſchweiger Kirdenord-
nung an. Doc wird das Kaftenwefen mehrfach, anders organifiert:
Jede Parochie bat einen Armenlaften als Sammelftelle für die
fleinen laufenden Gaben, und aus ihr werden auch bie laufenden
Austeilungen beftritten; dagegen follen die Güter der Hofpitäler
und Brüderfchaften, die teftamentarifch vermachten Gaben und bie
Leibgedinge in eine fünfte Zentralkaſſe fliegen, um ben größeren
Bedbürfniffen der Armen-, Witwen, und Waifenverforgung zu dienen.
Diefelbe Zentralifation wendet Bugenhagen auf die Kirchen» und
Pfarrfonds an, indem er nur einen Schatzkaſten für die ganze
Stadt einrihten möchte. Eben hierdurch unterfcheidet fich die
Hamburger Ordnung von der Braunfchweiger; aber die Sons.
1) „Hic mihi plus negotii futurum vereor inter senatum et cives, quam
Brunswige fuit, licet et ibi plus satis fuerit“, ſchreibt Bugenhagen Ende
Oktober 1523 an Luther. Burkhardt, Luth. Briefw. S. 147. Bol. Bogt,
©. 310.
2) Brief des Rats zu Hamburg an Luther vom 1. Nov. 1528. Burk⸗
hardt, S. 149.
8) Brief Bugenhagens an Luther, Jonas u. Melanchtbon bei Kawerau,
Der Briefw. des Juſtus Jonas. 1884. I. ©. 123.
4) Bogt, ©. 319.
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 17
26 Hering
derung nach Parochieen Bat ſich gegen den Plan Bugenhagens be»
Bauptet ').
Die nähften Jahre bringen gelegentlich Nachrichten, daß mit
der neuen Ordnung anch eine nene Anregung für das Armenwefen
in Hamburg gegeben war. Wit nur, daß der Rat fofort dem
Armentaften 1000 Mark fchenkte 2); daß das Klofter der Maria
Magdalena 1531 zu einem Wohnfig für Witwen und arme Yung-
frauen eingerichtet ward ®); aud von Privatvermächtniffen wird
berichtet; Hinrick Gerdes vermacht fein ganzes Privatvermögen 1531
dem großen Hofpital zum Heiligen Geift *); Dirik Koſter ftiftet
1537 ein Haus mit 24 Armenwohnungen und fügt die Geldmittel
zur Verforgung ber Bewohner hinzu ®). Noch immer gebrach es an
einem Haufe für arme Witwen, deren es in der Geeftadt adıt-
Hundert gab; da wurde and) das Troſthaus der Seefahrer ge-
baut), Das find Leiftungen, die man keineswegs überſchätzen
darf; fie beweifen nicht, daß alles gefchehen wäre, was die evan-
geliſche Burgerſchaft einer fo großen und reichen Stadt vermodt,
was Bugenhagen felbft erwartet Haben mag. Aber fie find noch
eine Frucht der Reformation.
Volle Frucht allerdings erwarteten bie führenden Männer felbft
nicht vom Buchftaben ihrer Drdnungen fondern von dem Geift.
Wir bemeriten, wie berfelbe die Ordnungen ducchdringt, und er
mußte auch der tiefere Lebensgrund, die befeelende Macht bleiben,
aus welcher die Ausführang fpäterer Zeit immer wieder Leben
1) Abdrud der Hamburger 8.-O. bei Klefeler, Sammlung ber Ham⸗
burger Geſetze. Hamburg 1770. 8. Zeil. ©. 84 ff. Auszüge bei Richter
I, 127 ff. Überſetzt durch Mönckeberg, Bugenhagens Hamburger 8.-D. Ham⸗
burg 1861, Der Klefekerſche Tert iſt ſehr inkorrekt. Eine Darftellung der
Armenpflege in Hamburg im Mittelalter giebt Möndeberg in der „Monatsichrift
für die evang.⸗ luth. Kirche”. 8. Jahrg. S. 288. Für die Reformationszeit
nn. Melles Buch S. 7.ff. zu vergleichen.
2) Bugenhagen felbft erwähnt dies in Art. 41 der 8.-D.
3) Staphorft V, 158.
4) Ebend. 154.
6) Ebend. IV, 457.
6) Ebend. 504. 509.
Die Liebesthätigkeit der deutfchen Reformation. 257
zu fchöpfen, durch welche die evangeliſche Sitte fi vor Eritar-
rung und Trägheit zu fchügen hatte. Bewahrten die neugegründeten
evangelifhen Gemeinden die Slaubensfrifhe und den Sinn der
erften Liebe, fo konnte fich eine tüchtige, vielfeitige Tchätigleit zum
Beiten ber Hilfsbebürftigen im Rahmen jener Ordnungen ent-
wideln.
Aber doch lag in den Ordnungen der Reformation,
auch in denen eines fo tüdhtigen Organifators, wie
Bugenhagen, manches Moment, weldes die Ablen-»
tungen und Abfhwädhungen begünftigte. Diefer Armen»
Diakonat, den er einrichten half, erinnert doch trog der Hinweifung
auf Act. 6 ſehr an die Altermänner, Proviſoren oder Heiligen-
meifter des Mittelalters. Er ift ebenfo eine Rückbildung auf das
mittelalterlich - parochiale wie auf das biblifche Vorbild. Ya, der
Zuſammenhang mit den bürgerlichen Yuftitutionen macht fie jenem
ähnlicher als diefem. Die evangelifhe Gemeinde war in ihrem
Werden fo verwachſen mit der Bürgerfchaft, dag fie rein kirchliche
Drgane nicht aus fich hervorbringen konnte. Es blieb immer möglich,
daß dieſe Diakonen von chriftlihem Eifer erfüllt tren ihres Amtes
warteten; fie haben gewiß aus dem Wort der Predigt, fo lange
dasfelbe feine Frische und Kraft bewahrte, Hierzu Anregungen er-
halten: aber von dem Stadtrat beauffichtigt, oder der ftäbdtifchen
Obrigkeit felbjt angehörend, trugen fie zugleich den Charakter einer
bürgerlichen Behörde; und jo bildete diefer Diakonat felbft
ein Anltnüpfungspuntt Für die VBerwandelung der
Urmenpflege in eine bürgerliche, die von ber urfprünglich
benbfichtigten nur den Schematismus der äußerlichen Formen und
den Namen bewahrte.. Die Verbindung des Bürgerlihen und
Kirchlichen war eine gefhichtlih notwendige, und die Reformation
dankt ihr auch für ihre foziale Arbeit manche Stütze; aber die
volle Kraft der aus dem Glauben kommenden Liebe fehen wir erft
dann ans Licht treten, als diefe Stüge ihr entzogen ward.
Schon bamald hätte diefer Mangel fich vielleicht etwas aus⸗
gleichen können, wenn bei der Organifation der Gemeinden eben
jmer Kraft irgend ein Pla der Bethätigung angewiefen worden,
wenn eine Syntheſe für amtliche und freie perjünliche Liebesthätig-
17*
258 Hering
feit gefunden oder auf ein Mitwirken der letteren beim Neuordnen
der Gemeinden bedacht genommen wäre. Die Reformation hat
die Freiheit des Chriftenmenfchen in feinem Wirken, fein Wirken
in der Sreiheit betont; aber eine Schranke der Erkenntnis und Ein-
ficht zeigt fich doch darin, dag die Perjönlichkeit auf fich, auf den
inneren Trieb des Glaubens und ber Liebe angewiejen bleibt, daß
ihr der Segen einer beftimmten Anregung zum Wirken aus der
Mitte der Gemeinde nicht zuteil, eine beftimmte Arbeit ihr nicht
zugewiefen wird. Es war ein Mangel, welcher mit der Kinfeitig
keit der ethifchen Anfchauung zufammenhing, da8 aus Gott ge
borene Leben nur dem inneren Trieb des Geiftes folgend, einer
Nötigung von außen nicht bebürftig zw denken. ben biefe Scheu
vor Gefetlichkeit Tieß auch wohl den Gedanken, aus Mönchen und
Nonnen, welche dem Evangelium gewonnen waren, Krantenpfleger
zu erziehen, nicht auffommen !). Aber gewiß waren die Almofen-
empfüngerinnen, an welche Bugenhagen dachte, für eine rechte, von
der Liebe bejeelte Krankenpflege nicht geeignet. So blieb für jekt
in der Liebesthätigleit der deutfchen Aeformation eine Aufgabe un
gelöft: Sie ſchuf weder ein rein Firchliches Pflegeamt, noch eine
Organifation freiwilliger Kräfte Die Anregung hierzu iſt fpäter
von anderer Seite gefommen. Aber gerade jet traten Verhältniſſe
ein, welche alle Aufgaben chriftlicher Fürſorge für Kranke und
Arme fteigerten.
13.
Denn zu den Nöten, an welche die Evangelifchen Hand gelegt,
gefellte fih im Jahre 1529 eine neue Krifis. Naturereiguifle,
Krankheit und Teuerung, dazu Kriegsgefahr, die an Wiens Mauern
klopfte, Tießen fchwere Zeiten entjtehen; faft ein Jahrzehnt ift von
diefen Plagen befchattet. Die chriftliche Liebe ſah fich übergroßen
Notftänden gegenüber. Die fittliden Schäden dagegen, bie Ver
achtung des Wortes, der Geiz, fommuniftifche Gelüfte und Um⸗
triebe konnten an dem Elend einen mächtigen Bundesgenoffen finden.
1) Bgl. aud die Bemerkungen Koffmanes in der fchönen Arbeit „Luther
und die innere Milfion“. Berlin 1883. ©. 40f.
Die Liebesthätigkeit der dentſchen Reformation. 29
Die eine dieſer Plagen trat plöglih auf, eine neue, bisher In
Deutfchland unerhörte Krankheit, der „englifde Schweiß“.
Die Epidemie hatte England, wo fie 1486 entftanden war, dreis
mal, zulegt 1518, beimgefucht. Im Mai des Jahres 1529 brach
fie abermals in London aus, und bald darauf, am 25. Juli,
erfchien fie in Hamburg, durchflog den Norden Deutjchlande mit
Windeseile und kroch dann, wie Seb. Franck fi ausdrückt, durch
das ganze Land !). Die Krankheit, ein hitziges Fieber, daß die
Kräfte Schnell unter reichlichem Erguß übelriechendes Schweißes auf»
rieb und, wenn Schlafjucht hinzutrat, tödtlich verlief ?), muß in fehr
verfchiedenen Graben aufgetreten fein. Luther konnte fich gering-
ſchätzig über fie äußern und vor Kleinmütigfeit warnen; er hatte
gehört, daß in Magdeburg 800 bis 1000 Menſchen erkrankt und
bis auf wenige wohl von Angft Erregte wieder genejen feien ®). Aber
während einige Orte in der That mehr den Schreden erfuhren,
wie Stettin und Danzig, Stuttgart und Straßburg, zeigte fie fich
an anderen als eine verheerende Seuche. In Hamburg waren doch
in wenig Wochen über taufend Perfonen geitorben; in Augsburg gleich
zu Anfang 800 von 15000 Erkrankten %). Beſonders fchwer litt
DOftpreußen. Hier erkrankten der Herzog Albrecht und feine Gemahlin
Dorothea, um bald zu genefen, aber der Biſchof von Pomefanien
wurde ein Opfer der Krankheit, im Landtag ftürzten einige Per⸗
fonen tot zur Erde, im ganzen wurden in Oft» und Weftpreußen
mehr ald 30000 Dienfchen Hingerafft. Und eben im biefer ſchweren
1) Oppidatim Euro citius grassatur. Chunradus Scipio Corbachius
a. 1529 Bei Häfer, Geſchichte der Medizin III, 3. Bearbeitung ©. 340.
Seb. Frand, Chronik Bl. 2792. Nachrichten über das Auftreten ber Krank⸗
heit, auch Bejchreibungen derſelben fehr zahlreich in den Chroniken und Städte
geichichten. Ich nenne nur Cramer, Pomm. Kirchen» Chronilon IH, 87.
Kankow, Chronik von Bommern, S. 175ffl. Hoffmann, Geſchichte von
Magdeburg DI, 135. Herzog, Chronik von Zwidau I, 219. Aus Süd⸗
deutichland aufer Francks Zeugnis die Weißenhorner Hiftorie, Baumann
A. 157. 159. Weitere Nachweiſe bei Häfer, S. 327 ff.
3) Häfer IH, 326. Herzog a. a. O.
3) De Wette III, 499. Die Schöppen-Chronit Magdeburgs fpricht da-
gegen von vielen Opfern. Hoffmanı a. a. O.
4) Häfer, S. 328 fl.
0 Hering
Heimſuchung zeigten fih Anſätze freiwilliger Kranken—
pflege. Der Herzog verwandelte ein reiches Kloſter der Bene
biktinerinnen in ein Hofpital, und die Nonnen warteten in dem⸗
felben zum Teil freiwillig der Kranken ). Im ganzen haben uns
die Zeitgenoffen mehr von der Krankheit und ihrer Behandlung,
als von der Hilfe und dem Beiftand der Nächftenliebe erzählt.
Um fo mehr find folche Beispiele der Fürforge zu beachten; auch
die der Seelforgertreue, wie von Kaſpar Gütiel berichtet wird,
daß er in jener Heimfuchung, als eine Beftilenz auf die mild auf.
tretende englifche Seuche folgte, feiner Gemeinde beiftand mit Troft
aus dem Worte Gottes 2).
Bei weitem furdtbarer als diefe Epidemie ward eme Teue⸗
rung, welche jett allgemein wurde. Schon bie Jahre nach dem
Bauernkrieg hatten abnormes Wetter gebracht, die Winter warın,
die Sommer kalt; die Frucht war unvollfommen ausgereift oder
bagelichlächtig geworden. Dann aber wurde im Jahre 1529 nad
der Ernte nit nur das Korn fondern jedes Lebensbebürfnis,
„alles, was der Menſch genießen mag”, überaus teuer. Seb.
Franck berichtet, daß das Korn von 7 Pfennig bald auf 38 und
mehr als 40 Pfennige geftiegen, da8 Pfund Schmalz; in Nürn-
berg mit 14 und 15 Pfennige bezahlt fei, und die Gerfte 6 Gulden
gefoftet Babe 8).
Nie war nad) dem Zeugnis desfelben Gemwährsinannes der⸗
gleichen vorher erhört worden. Denn wenn vor Zeiten keine Teuer
rung über ein Jahr oder ein halbes währte, fonderlich in der letzten
des Jahres 1517, in welcher Wein und Korn auf das Fünf
oder Sechsfache des Preiſes ftiegen, fo Hielt diefe biß zum Jahre
1536 an 9. Franck jagt, er habe nie dergleichen Not gefehen.
1) Hafe, Herzog Albrecht von Preußen und fein Hofprediger. S. 56.
2) Kawerau, Kafpar Güttel. Halle 1882. ©. 70f. Auch in Mar
burg folgte 1530 anf den engl. Schweiß die Peſt. Häſer, S. 340f.
3) Chronik BI. 279 ff.
4) Zu Frands Angaben ftelle ic) aus der Weißenhorner Hiftorie des Ni⸗
kolaus Thoman eine Tabelle der Roggenpreiſe der Teuerungsjahre 1528—1535
zufammen:
a. 1528 das Im 323 Schilling,
Die Lichesthatigkeit der beutichen Meformation, %
Aber auch größere Leiftungen bürften kaum erhört fein als bie
Straßburgs, das jegt wieder feinen Ruhm als Vorort ber dhrift«
lichen Woplthätigleit bewährte. Die Verſchmachteten kamen oft aus
großer Ferne, aus der Schweiz und aus Lothringen zu Hunderten;
denn der Hunger hatte fie von Haus und Herd getrieben. So
wurden den Winter hindurch, als der Sad Korn 5 Gulden koſtete,
ungefähr 900 in der Stadt gefpeift.- Auf Anregung der Prediger
wurden im fFranzisfanerflofter in einem Vierteljahr 2150 Arme
aufgenommen; ja, in ber Elendenherberge find 1530 23545 Aus⸗
wärtige geſpeiſt und verpflegt worden ?).
Neben diefen äußeren Hilfen will indes noch ein anderer Zug
beachtet jein, denn die Wirkſamkeit der Liebe als eines Lebendigen
Geiftes geht nie in bloßen Anftalten auf. An Nöten und Drang-
ſalen fucht fie den Zugang zu den Herzen, um bie Beladenen mit
dem Wort zu erquiden. In Bugenhagens Ordnungen, in Quthers
Briefen, zuletzt in feiner Schrift, ob man vor dem Sterben fliehen
möge, tritt diefer Seeljorgerfinn hervor. Jetzt nun, da unter fo
a. 1529 das Im 2 Pfd. 2—5 Schilling,
a. 1580 „ „ 4 Pf. 4 Schilling,
a. 1581 feine Preisangabe, doch wird das Jahr allgemein mit 1530
verglichen.
3. 1538 das Im 4 Pb. 4 Schilling,
& 1534 „ „ 2 Gulden 4 Pfd. weniger 5 Schilling bie 4 Pf.
4 Schilling.
Zu a. 1535 berichtet Thoman nur von dem ——— Einfluß des
ſchlechten Herbſtwetters.
a. 1536 das Im 1 pſfd. 2 Schilling bis 1 Pfd. 18 Schilling.
Dennoch waren in der teuern Zeit die Preiſe auf das Drei- bis Vierfache
im Verhältnis zu denen des Jahres 1536 geftiegen. Baumann, Ouellen A,
147. 157. 160. 182. 191. 195. 206. Ebenſo hoch waren ungefähr die Roggen⸗
preife im Teuerungsjahre 1491, in dem 1 Im 4 Pfd. Loftete (Baumann,
Quellen A, 29), a. 1501 betrug ber Preis am 26. Mai fogar 5 Pfd., während
Ende Inli das neue Korn 1 Pfd. und 2—5 Schilling koſtete. Bon einer Teue-
rung des Jahres 1517 dagegen erwähnt biefer Ehronift nichte. Daß ſich bie
des Jahres 1529 auch in Mitteldentfchland fühlbar machte, bezeugt bie Zwickauer
Chronik, Herzog HI, 219. Die Kornpreife liegen von 12 Groſchen auf 4 Gulden.
1) Seb. Frauck, Chronik BI. 279. Röhrich, Geſchichte der Refor⸗
mation im Elſaß I, 268 f.
2 Hering: Die Liebesiäätigfeit ber beutfchen Steformatic.
viel Gefahe und Not bie Herzen ber Menfchen zagten, wird die
evangelifche erbauliche Litteratur noch ftärker als vorher ven dem
Geift des Troftes erfüllt. Manche Erzengniffe derfelben ſprechen
dies ausdrädlidh ans: Sehaldus Heyden will aus fieben Sprüchen
beiliger Schrift anzeigen, wie man in aflerlei Nöten, des Zürten,
Beftilenz, Teuerung den Glauben ftärken und chriftliche Geduld er⸗
langen fol. Sem Motto ii: „So Gott für uns ift, wer mag
wider uns fein” 1). Konrad Widner ermahnt zur Glaubenszuver-
fit und Geduld; er fieht die Reiter der Offenbarung daher kom⸗
men, das Evangelium verfhmäht und verftodende Gotteögerichte
verhängt; die Feinde dürfen das Evangelinm fchänden und fagen,
daß nie größere Unbarmherzigleit geweſen; und dazu kommen bie
äußeren Plagen, Teuerung, Krieg und Peſtilenz?). Mit dem
Tröften der Sterbenden war 1527 ſchon Thomas Benatorius
borangegangen; es ift für das evangeliſche Spitalwefen bebeutjan,
dag er feinen „Eurzen Unterricht” für Hartung Görell, den Diener
der Armen zu Nürnberg im neuen Spital gefchrieben hat ®). Die
Feine, nur vier Blätter füllende Schrift ift einfach und einfältig,
fehrhaft, doch kernig, glaubensvoll und treuberzig. Luther felbft,
der damald den Kriegeleuten den Mut und das Gewiffen ftärkte,
wider den Türken zu ftreiten, bat der Arbeit des Venatorius ein
Borwort mitgegeben.
Wuchs fo aus harter Not Troft der Liebe, fo ift eben durch
die Not auch Lieblofigkeit, Härte, Verachtung des Wortes gefteigert.
Immer gehen dieſe beiden Gegenſätze neben einander her. Die
Klagen Luthers finden ihre Beftätigung an denen Sebaftian Francks,
der gerade von biefen Jahren der Drangfal nicht ohne Bitterkeit
ſpricht: Nie habe es eine ungelaffenere glaubenslofere Zeit ges
geben. War nun das Ende der Heimſuchungen noch nicht abzu-
fehen, da die Teuerung bis 1535 dauerte, fo mußte der evange⸗
1) Nach dem Titel. Druck vom Jahre 1531. Nürnberg bei Pehpus.
3) Daß man fi) .vor dem zukünftigen Sterben oder Peſtilenz nicht ent⸗
feßen fol. Konrad Wiener 1530. Motto Deuteron. 32.
3) Benutzt wurde der Drud vom Jahre 1527. Üüber bie erbanfiche Litte-
ratur und die Troſtſchriften befonders iſt zu vergleichen Bed, Die Erbauung
litteratur der evangelifchen Kirche Deutſchlands 1888. ©. 48 ff. 127. 131 ff.
v. Soden: Der erſte Theffalonicherbrief. 268
liſchen Kicche noch viel Kampf und Arbeit unter Hemmung für
isre Einwirkung auf das Vollsleben beichieden fein, während fie
um die Grundlagen ihrer Exiftenz zu ringen hatte.
2.
Der erite Theifalonicherbrief.
Bon
H. v. Hoden.
Lange find die beiden Theſſalonicherbriefe als untrennbare Ge:
Ihwifter in der Einleitungswiffenfchaft mit einander behandelt wor:
den, wobei das Schickſal des einen an das des andern gekettet
wurde, fo baß bald die Rettung der Echtheit des erften Briefes
auch den zweiten halten mußte, bald die Verwerfung des zweiten
auh dem erften verberblih wurde. Dabei wurde das Urteil
darüber, welcher von beiden der ältere fei, ſchwankend; während die
große Mehrzahl der Forſcher die Reihenfolge beider im Kanon als
die ihrem Alter entiprechende vorausfegte oder verteidigte, teilte
weft Grotius auf Grund einer ganz willfürlichen Adreffierung
desfelben dem zweiten Brief das höhere Alter zu; und nad ihm
vertrat diefe Ordnung Baur (Paulus, 2. Aufl. II, 364— 69),
wodurch er das Necht erhielt, die von ihm gegen die Echtheit des
zweiten vorgebrachten Bedenken auch auf den erften, als den fpäteren,
zu übertragen. Außer den beiden angeführten Gelehrten jegen den
zweiten Brief als den älteren Ewald (%. f. bibl. W. 1861, ©. 249.
Sendichreiben des Apofteld Paulus, S. 19f.; Geſchichte der ap.
Zeit, S. 4ödf.), Laurent (Th. St. u. Kr. 1864, ©. 497. Neut.
Stud. S.49f.), van der Vies (De beiden Breeven van de
Thess. 1865; er glaubt, je aus inneren Gründen, unfern zweiten Brief
dor unfern erften Brief nach Jeruſalems Zerftörung anfegen zu
aA v. Soden
müfjen), Davidfon (An introd. to the study of the N.T. 1868,
I, 30sgqgq.). Eine Widerlegung der von diefen Gelehrten angeführten
Gründe haben gegeben Lünemann (1878, ©. 160f.; Hofmann
I, 365 ff.), beſonders ausführlich van der Manen (Onderzoeknaar
de Echtheid van Paulus’ tweeden Brief an de Thessaloniceneer
1865, S. 11—25).
Unfere Unterfuhung läßt das Verhältnis der beiden an die
Theffalonicher überfchriebenen Briefe ganz beifeite und betrachtet
den erften derfelben für fich allein al8 ein mit dem Namen des
Paulus gezeichnetes Titterarifches Denkmal mit dem Abjehen zu er-
fennen, ob diefer Name den faktifchen Verfaffer oder nur den pa-
tronus bes Briefes bezeichne. Hierbei benugen wir nur die unbe:
zweifelt echten Briefe des Apofteld als Ausgangspunkt und warten
e8 ab, ob etwa der Gang unferer Unterfuhung uns zum Ge
ftändnis führen follte, daß wir die Entftehung des erften ohne
Boransfegung der Exiftenz des zweiten nicht zu erklären vermögen.
1. Der formale Charalter des Briefes.
a) Das ſprachliche Material.
Hierfür verweifen wir auf die gründliche und abwägende Einzel-
unterfuchung von van der Manen (a.a.D., ©. 122—138), deren
Reſultat ift, daß der VBerfaffer des Briefes in freiefter Weiſe über
den paufinifhen Sprachſchatz verfügt, ohne je eine längere paulis
nische Phrafe der vier Homologumenen zu reproduzieren, daß aber
nirgends ein widerpaulinischer Ausdrud oder eine widerpauliniſche
Verwendung eines paulinifchen Ausdruds fi findet. Diefe höchſt
danfenswerte Unterfuchung begründet unwiderfprechlich Holgmannd
Urteil, daß fpeztell die vielen Anklänge an die Korintherbriefe „nur
die Selbigfeit des Verfaſſers beweifen“, keineswegs aber einen un-
jelbftändigen Nachahmer verraten. Wir ftellen das Einzelne furz
in Rubrifen zufammen: «. A. für Paulus Hat der 1Theſſ. nur
Yeog aAndwög 1, 9; avapsvaır 1,10; 6 rreigalwv 3, 5 (herbei-
geführt durch das Zeitwort); aaltvsodaı 3, 3; avıoravas 4, 14.16
von der Auferftehung ebenfo mit Beziehung auf Jeſus als anf
die Menfchen; Aoyos xvolov 4, 15; der Pluralis Adyos von der
apoftolifchen Belehrung 4, 18; dxeıßas 5, 2; Unspsxnepccor
Der erfte Thefſalonicherbrief. 26
3, 105 5, 13 (nur noch Eph. 3, 20; dagegen kennt Paulus
ineonsgscoeveıv Röm. 5, 20. 2 Kor. 7, 4); nyeladas &v
5, 13; außerdem noch in dem Abfchnitt von der Parnfie die Be⸗
jiehungen für die bei Paulus nirgends wiederholten Vorſtellungen:
ayeıv von der Verffärung der Menfchen 4, 14; donalsıy, vepd-
Jar, drsevenoss. Schwierigkeiten bei Annahme der Echtheit des
Briefes macht keiner biefer einmaligen Aursbrüde ?).
Hieran mögen fidh die Dienge der echtpanlinifchen Worte und Wen-
dungen ſchließen, zunächſt diejenigen, welche in der neuteftamentlichen
Üitteratur ih nur bei Paulus finden: zsarnje nur 3, 11 von
Gott (in der brieflichen Litteratur weber Paftoralbriefe, noch latholiſche
Briefe, noch Apofalypfe; Eph. nur in der panlinifchen Grußformel
1,2); 6 Jeös wg eionvns 5, 23 (nur neh Hebr. 13, 20); 0
svayyeAsov Fuav 1,5; Gott ale Zeuge angerufen 2, 5; ardysıv
3,1%); vorsgnue 3, 10 (nur noch Luk. 21, 4); mAsovaleım 3, 12
(nur noch 2 Petr. 1,8); aysmovvn 3, 13; reAsovexreiv 4, 6; Exdıxos
4,6; xaleiv El 4,7; yilorıueiodeaı 4, 11; suoynudvos 4,12;
eis 509 Eva 5, 11 (nur 1Ror. 4, 6); dökav Invew 2,6 (nur
Rom. 2, 7); zonog aa udysos 2, 9 (nur 2 Kor. 11, 27),
und zwar beidemal als Bezeichnung der apoftolifchen Miſſtons⸗
thätigfeit, was von unferee Stelle nur durch willfürliche Premie-
1) Unter die unpanlinifchen Ausdrücke hat man auch dv Bagaı eivaı 2, 6
tehnen wollen, nachdem man ihm den bei diefem Ausdruck allerdings unpau-
liniſchen Sinn „zur Laft fallen” unterlegt Hatte. Aber unſer Verfaſſer Tennt
Hierfür den echtpanliniichen Ausdruck Zdmıßapsiv wohl (2, 9) und hätte ihn
darum auch bier zum Ausdruck feines Gebanfens gewählt. dr Bagsı aivmı
aber ift (analog dem aduinıor Bapos Tüs dotns 2Ror. 4, 17, alfo in echt⸗
pauliniſcher Weife) in ethiihem Sinn zu nehmen: „von Gewicht fein” ale
Chrifti Apoftel gegenüber den windigen Leuten, die dofa» Inrovary EE avdgw-
noy dgl. 2Ror. 10, 10 (fo auch Koch, Belt, Schott, Olshaufen, De Wette,
Bi). Die Erklärung von Lipfius (St. u. Mr. 1854, ©. 912) „in Laſt und
Veſchwerde fein“, iſt trotz 2 Mor. 1, 8; 5, 4. Gal. 6, 2 bier unmöglich, weil
man das Wichtigfte hinzudenken muß, wie Lipfins felbft anſchaulich macht: „wir
And imſtande, in Laft und Beſchwerde zu fein, d.i. Verfolgungen und Drang-
ſale allerlei Wet, die die Menfchen über uns verhängen, mit Gleihmut zu
ertragen“.
) ovycoyoc, wenn edit, 3, 2 (nur noch 8 Joh. 8).
266 v. Soben
tung des Partic. seyalousvos und Sgnorierung des verb. fin.
Exmov&ausv To evayysisov mit Baur geleugnet werden kann,
vgl. übrigens xorssav in dem von Baur an unferer Stelle allein
zugegebenen Sinn 1 or. 4, 12; drraf xai dis 2, 18 (nur Phil. 4,
16); zsiodaı eis 3, 3 (nur Phil. 4, 16); PIavsım sic 2,16;
sis xevdv 3,5; wg day oder @v 2,7; 005 70 um 2,9 (mur
2 Kor. 3, 13); &o@ ovv 5,6; xaddrısg 4, 5 (nur noch Hebr.
4,5; 5,4); negsooas 2, 17 (Ymal bei Paulus und Hebr. 2,1;
13, 19). — Edit paulinifh ift ferner od zer), alla 2,1
(18or. 15, 10); siddsss mit Objekts⸗Accuſativ und epexegetiſchem
örs 1, 4 (Röm. 13, 11); avayan und HAlyıs 3, T (2Kor.
6, 4); der pleonaftifche Gebraud; von ua@ddoy 4, 1; aodenis im
geiftigen Sinn 5, 14; xoros, xorıav von Miffionsthätigfeit 3, 5;
5, 12; va ow9woıv 2, 16 (1 Kor. 10, 33); eis vo arnoika
3, 2.13 (Röm. 1, 11. eis 70 ornaysnvar); olxodomesiv 5, 11,
abſolut oder mit perfönlihdem Objekt ohne ausführliche Anlehnung
an die BVorftellung des Bauens (1 Petr. 1, 5) nur bei Paulus
(verwendet auf bie Kirche ald Organismus Apg. 9, 31 und Eph.
Amal); Aoınov od» als Übergang 4, 1; ou Sslonuer vnäs
ayvoeiv 4, 13; als Beginn eines neuen Abſchnitts 7asgs de
ns etc. 4, 9 zum gleichen Zweck. «dros dd 0 Ysog mit einem
Wunfh 3, 11; 5, 23 (2Ror. 10, 1); &yo ud» Daülos 2, 18
(2Ror. 10, 1. Gal. 5, 2); zuuoros 0 Yeos, ds mit futurum
5, 24 (1Ror. 10, 13). Echtpauliniſch ift die Trichotomie zusarıs,
eyarın, Anis 1, 3; 5, 8; der Vergleich feiner Stellung zur
Gemeinde mit der einer Mutter 2, 7; bie Charafterifierung der
Helden ala un eidora Heov 4, 5 (Gal. 4, 8); der in einem
furzen Sat angehängte effeltuolle Schluß einer Gedankenreihe 2, 16
(Sat. 5, 12. 2Kor. 11, 15. 18or. 7, 40). Pauliniſch ift ferner
die Gegenüberftellung von Aoyos und duvanıs 1,5 (1For. 2,4;
4, 20). Daß dies hier nicht Nahahmung fein muß, wie Baur
vermutet, zeigt der Zufammenhang: die Verhältniffe, unter denen
die Theffalonicher da8 Evangelium annahmen (V. 6), ſetzen bei
ihnen eben duvanıs (Ev IMs soAA7) und ravsüue d'ysov x0l
rringogopla mroAin (usTa xXapüs rvevuarog) voraus; waren
fie aber hierbei nur munzer des Apofteld (V. 5), fo muß auf
Der erſte Theffalonicherbrief. 21
feine Predigt 39 duvanıı zul dv mv. aylo xal dv nÄno0g.
roAAn; gefchehen ſein; gerade baran müfjen fie alfo erinnert wer⸗
den, daß fie auch ferner feftbleiben in jener Nachahmung. Pauli»
nisch ift die Bezeichnung der Gemeindeglieder al8 muunsai des
Apofteld 1, 6 (1Ror. 4, 16; 11, 1). Endlich ift lehrreich der
Gebrauch von Pacsisle Tod FIsov 2, 12. Bon ber Evangelien-
litteratur abgefehen, hat diefer Ausdrud im Neuen Teftament eine
rein eschatologifhe Bedeutung mit der allereinzigen Ausnahme der
Briefe Bauft (eingerechnet die Stellen Kol. 1, 13; 4, 11), vgl. Eph.
5, 5. 2XCHeff. 1, 5. 2Tim. 4, 1. 18. Jak. 2,5. 2 Betr. 1, 11.
Nur Paulus Hat die Doppelbedeutung, die Jeſus mit dem Aus-
druc verbunden hat, feftgehalten. Dies ift aber deutlich auch 1 Theſſ.
2, 12 der Ball.
Damit aber biefe Neihe von echtpaulinifchen Bezeichnungen den
Berfaffer des Briefes nicht in den Verdacht eines Nahahmers
bringe, können wir daneben eine Reihe von Beweiſen der vollen
Selbftändigkeit des Verfaſſers aufzählen: den echtpaulinifchen Danf
am Beginn bes Briefes, den er nah Baur bem erften Korinther-
brief nachgebildet haben ſoll, faßt er, dem, wenn er ein Nachahmer
war, troßg der drei Namen der Adreſſe, doch nur des Paulus
Perfon vorfchweben fonnte, nit wie 1Kor. 1, 4: sugagıoro
(auch dort ftehen zwei Namen in der Adreſſe), fondern zuxe-
Quosoöüusv 1, 2. Er fchreibt Yyannusvo Und Ysod 1, 4
gegenüber den Ausdrücken 1Kor. 19, 14; 15, 58 2c. einer-, Röm.
1, 7 anderſeits; dxAoyrj 1, 4 gegenüber xAnoss 1Ror. 1, 26.
(Dies ift keineswegs darum widerpaulinifch, wie Baur und Vies
meinen; Paulus redet Nöm. 8, 28 von od xara mreoseoıw
zAnror Ovssc, Röm. 9, 11 von 7 xar” dxAoynv nod9sors,
Röm. 8, 33 von Exisxsos Fsod [vgl. au 16, 13], Röm. 1, 6
von xAnsos Inoodö Xgsovov; 1Kor. 1, 27f. von dxAsyeodaı,
1Ror. 1, 9 von xudeiv, wo es fid) jedesmal um die gleichen Per-
fonen reſp. Begriffe handelt). Er verwendet den den Worten nad)
paulinifchen Gegenſatz 2 Kor. 5, 12 neo0wro, od xagdie 2, 17
im Sinn von cs odnarı — To nveinarı 1Ror. 5, 3. Der
Titel des Timothens 3, 2 ift, auch wenn man ovvegyos im Texte
lieft, Teineswegs nad) dem des Titus 2 Kor. 8, 23 gebildet, fon«
8 7009 Soden
dern felbftändig, und erinnert an den Schreiber won 1Kor. 3, 9.
Die ndIn arınlas Röm. 1, 26 heißen hier nd EnıYunla;
4, 5. Die nvevuarıxoi (wie Schrader von Paulns erwartet
hätte) heißen Ysodidaxzos 4, 9 mit Anlehnung an Jeſ. 54, 13
(nit an ob. 6, 45, wie Schrader meint), um das 0U xoslav
Eyes yodgysıy Univ gut zu motivieren. Die Phrafe 4, 13 fteht
außer 2 Kor. 1, 8 ſtets im Singularis bei Paulus; aber gerade
2 Kor. 1, 8 folgt nit das jonft beliebte va; Röm. 11, 25, wo
sve folgt, fteht Statt used der Objeltdaccujativ, ftatt Ieadoper
Helm, adıalsiniws ngoosvgeode 5, 17 .ift felbftändige Faj-
fung des ähnlichen Gedankens Röm. 12, 12, an den ein Pauliner
ſich anlehnen konnte. Die paulinifche Phrafe rsozos © eos,
ös ꝛc. ift 5, 24 völlig felbftändig gegenüber 1 Kor. 10, 13. Die
Bergleihung des Apoftels mit einer Mutter 2, 7 ift ganz originell
gegenüber Sal. 4, 19. 1Kor. 3, 2; 4, 15. 2Ror. 12, 14;
anodavsiv resot 5, 10 findet ſich nigends bei Paulus; wohl
aber gebraucht Paulus fonft regd zum Ausdrud der Stelivertretung
Ehrifti. Statt vexgos 8$v Xgsoro 4, 16 fteht 1 Kor. 15, 16 zowr-
Heyres Ev Xosoro. Statt rragovale (nur 1 Ror. 15, 23)
Schreibt Paulus ſtets 7usox xvolov od. &.; warum hätte der Nach⸗
ahmer 3, 19 den paulinifchen Ausdrud von 2Kor. 1, 14 nicht
beibehalten? svayysAileodaı 3, 6 braucht Paulus und die fpä-
tere Litteratur nur in dem technifchen Sinn bes Miffionierens.
Der profane Gebrauch des Wortes weift mit größter Wahrſchein⸗
Sichfeit in eine Zeit, da e8 noch nicht zu jenem Terminus technicus
geworden war.
Alle diefe Beobachtungen einer freien Verwendung der Sprade
find bei einem Nachahmer jchwer zu erklären, bei dem originellen
Schöpfer natürlich ?).
1) Die Meinung Baurs, die Phrafe Andzanı zors EIvesw vo amdaır
2, 16 verrate Bekanntſchaft mit der A. ©., Haben ion Grimm (Et. u.
Kr. 1850, S. 767ff.), Manen (©. 127f.) widerlegt. Die Meinung von Bies
(©. 98), der Brief enthalte „deutliche Anfpielungen auf die Evangelien Mat-
thäus und Lukas, obſchon die Endredaktion diefer beiden Schriften deutlich fpäter
fällt als unſer Brief”, der Verfafſer Habe alfo „eine oder mehrere Quellen der
beiden Evangelien gelannt, aber in einer Zeit, in welcher die Parufieerwartung
Der erſte Theffalonicherbrief. Pi)
Holften (Brot. Jahrb. 1877) Hat auf die Ägnlichkeit von 1 Cheff.
1, 3 mit Apok. 2, 2 Hingewiefen und Hieraus eine Abhängigteit
des Briefes von ber legteren erfchliegen wollen. Kann diefe Hypo⸗
thefe auch nicht als unmöglich widerlegt werden, fo ift ihre Wahr»
ſcheinlichkeit, wenn nicht viele andere Indicien fie unterftügen, doch
auch nicht zu erweifen. Die vrzouorwm als Eigenſchaft der chriſt⸗
lichen &Arts tft paulinifch (Röm. 8, 25); ebenfo kennt er die
Nebeneinanderfügung von Zoyov und xomos (1 Kor. 15, 58).
Das Zoyoy Tod xvuglov (ebenda) mag aber unferm &eyov wis
alesens als Parallele dienen. Die Uusdräde an fi find alfo
gut panfinifch, wenn auch der erfte berfelben Zoyov wis seioseng
etwas kühn, für einen Pauliner gewiß zu kühn ift, für Paulus
jelbft aber, der nicht Sklave feiner dogmatiſchen Bormeln ift, fi
bier durch die Schilderung defjen, was er darunter verfteht (1, 6),
völlig erffärt. Nur die Aufeinanderfolge derfelben in der Ordnung
wie Apol. 2, 2 kann alfo Mißtrauen erwecken. Nun iſt aber die
Wahl der Beſſimmungswörter Spyov, xdrzos, vVrrouovn) gewiß ab»
hängig von den Bezeichnungen: relorıs, aydrıın, EAnts; biefe Tri
fogie iſt aber pauliniſch (1Kor. 13, 13), und unferem Verfaſſer
jo wie fo geläufig (5, 8). ‚Überdies werden, wie Vies (©. 51)
jeigt, gerade dieſe drei Eigenfchaften aud) an anderen Orten im aus⸗
führenden Teil des Briefes anerfannt, der Glaube 1, 4—10 und
2,13—16, bie Liebe 4, 9f., die Hoffeung 5, 1—11, fo daß die
Zufammenftellung in 1, 3 durch die Thatfachen geboten erfcheint
und keineswegs ben Eindruck einer fremdartigen, dem Brief⸗
zuſammenhang äußerlich eingefügten Phrafe macht.
Ganz beſonders geſtoßen hat man ſich an ber „trichotomifchen
Piychologte* , die der Verfafler 5, 23 verrät. Aber diefe ift bei
dem PBauliner fo unmöglich als bei Paulus, weil fie auf bebräi-
Ihem Boden unerhört ift, und darf darum in 5, 23 edenfo wenig
gejuht werden als. in Luk. 1, 46f. Wie das Bild bei Lulas, fo
teilt Paulus dem Menfchen fowohl ein zevsuue als eine woxn zu
noch nicht fo abgekühlt war als zur Zeit der Endredaktion des erſten und
dritten Evangeliums“, wird bei der Behandlung der betreffenden Stellen —
ſichtigt werden,
270 dv. Soben
(Bfleiderer, Paulinismus S. 64ff.). Überdies kann Hier yuyı
mit oone das natürliche Weſen des Menfchen evsüne feine
riftliche Ausftattung bezeichnen (vgl. 1Kor. 2, 14f.), wenn nit
bie dreifache Bezeichnung nur dem rhetorischen Bedürfnis der Plero⸗
phorie dient, was uns dann jedes Recht einer fcharfen pfſycho⸗
fogifchen Ausdentung der Stelle nehmen würde. Dem Vorwurf
des Widerpaulinifchen kann aljo die Stelle auf mehrfache Weiſe
ausweichen. Bies (S. 93) meint aber auch, daß der Wunid
einer Erhaltung des owue. bei der Parufie mit 1Kor. 15, 50
im Widerfpruch fteht. Dies beruht auf Verwechielung von og:
und von. Paulus lehrt: Eysigeraı ouue rrrevuasızdv or.
15, 44, und zwar ift die®, wie der Zuſammenhaug zeigt, das gleiche
coue, das als Wvxıxov gefüet wird.
b) Der Stil des Briefes.
Am Brief fehlt es an altteftamentlihen Citaten.
Ebenſo fehlen Eitate in 2Ror. 1 und 2. 10—13. 1Kor, 5 und 7.
Röm. 5, 1-6; 6 und im Philipperbrief. Übrigens verrät de
Verfaſſer Bekanntſchaft mit dem Alten Teftament drroxrewarsuv
zods neogites 2, 15 mit Röm. 19, 10; dvaninoucaı va;
anopriag 2, 16 mit Gen. 15, 16; ZypIacev sic 2, 16 mit
Dan. 11, 365 Ysodidaxzos 4, 9 mit Jeſ. 54, 13. Citate im
ftrengen Sinn aber fehlen darum, weil e8 dem Brief an dogma⸗
tiichen Beweisführungen fehlt; ift diefer letztere Mangel als In⸗
ftanz gegen den paulinifchen Urſprung des Briefes zurückgewieſen,
fo verliert auch das darin begründete Fehlen altteftamentlicher Ci⸗
tate alles Bedenkliche ?).
Ebenſo wird dem Brief der Mangel beftimmter Farbe
vorgeworfen. Wenn die Sarben nicht fo ſcharf find, wie in den
Briefen an die Gnlater und an die Korinther, fo erklärt fich dies
aus den verjchiedenen Berhältniffen ganz natürlich, ſei es, daB zur
Zeit feiner Entftehung überhaupt, fei es, daB wenigftens in Theſſa⸗
1) Wenn Jowett, Ep. of St. Paul, p. 6sq. unter anderem von beiden
Theffalonicherbriefen fagt: „they are not argumentative at all‘, fo Bat a
wenigftens 1Thefſf. 4, 14 überjehen.
Der erſte Theffalonicherbrief. 21
loniſch die judaiſtiſche Oppoſitlon gegen Paulus es noch nicht zu feften
ſcharfen Bofitionen ihrer Bolemit gebracht Hatte !). Angeſichts der
Apologie des Apofteld 2, 3—6. 9, des Urteile über die Juden 2, 15f.,
der Beſprechung der Sendung des Timotheus 3, 1ff., der Mah—⸗
nungen 4, 4—6. 11, der eschatologifchen Belehrimg 4, 13 —18 wird
aber überhaupt von Zarblofigkeit nicht mehr die Rede fein können,
fobald man die angezogenen und andere Stellen grünblich würdigt,
wie dies fpäter gezeigt werden fol. Findet man aber Kap. 1—3
etwas ausführlich und breit, fo vergleiche man Abjchnitte, wie 1 Kor.
2—4. 2 Kor. 8 u. 9: ımd viele kürzeren Abfchnitte in den Haupt⸗
briefen, wo Baulus auch ftatt des aus dem Galaterbrief vor allem
befannten gebrängten Stils in gemütlicherer Breite fi) ergeht. Im
übrigen kann niemand von dem Wpoftel mit irgend zwingendem Grund
vorausſetzen, daß. er lauter Römer und Korintherbriefe ſchrieb 2).
Wenn ferner ein überlegter, wohlbisponierter Ideengang vermißt
wird, jo ſuche man doch einmal Röm. 6—8 oder 2Kor. 1—7
oder 8—9 fcharf zu disponieren. Kennen wir nicht auch bet an«
deren, in wichtigen Auseinanderfegungen Scharf Logifch fortfchreitenden
Schriftftellern Schriftftücle, in denen ein „hingebendes Sich⸗gehen⸗
laſſen“ (Neuß, ©. 71) herrſcht?
Nah Baur (S. 95) enthält der Brief „eine fehr gebehnte,
die Thefjalonicher nur an das Ihnen ſchon Belannte erinnerude Aus»
einanberfegung des aus der Apoſtelgeſchichte befannten gejchichtlichen
Hergangs der Belehrung durch den Apoftel”. An gemeinfame Er-
innerimgen anzufnüpfen, tft eine fich durch alle Briefe durchziehende
Gewohnheit des Apoftels. Gal. 1, 9. 13; 4, 13f.; 5, 21.
1Ror. 1, 14—16. 26; 2, 1—5; 3, 1; 6, 2ff. 2Kor. 1, 12;
3, 2; 7, 2—4; 13, 2. In unferem Falle aber bat dies feine
ganz befonderen Gründe: Die Belehrung war ſo raſch gejchehen,
Paulus fo plöglid von den jungen Chriften getrennt worden, daß
die Gedanken immer noch dort weilten und unwillkürlich die Er⸗
innerung fich beim Schreiben überall Bervorbrängte ?). Wenn aber
ı) Sa batier, L’apötre St. Paul 1870, p. 95 sg.
2) Holtzmann, Schenkels Lerilon ©. 503.
8) Baur (S. 98) findet die Wiederholung des kaum Erlaubten vielmehr
Theol. Stud. Yahrg. 1885. 18
222 v. Soden
gar, wie wir aus anderen Stellen fehen werden, bie junge Ge⸗
meinde dem Paulus abträinnig gemacht und der Apoftel vor ihr
verdächtigt und befleckt werden follte, wa® Tag näher und was konnte
beffer wirkten, als die Erinnerung an die Tage des perfünlicen
Verkehrs und an bie Eindrücke, welche die Theſſalonicher damals
erhalten hatten? ?) Und wenn der Apoftel nur Kurz unter ihnen
hatte predigen dürfen, was verlangte da die päbegogijche Weisheit
mehr, als zu wieberholen, was.er damals ihnen gefagt, was aber
bei der geoßen Eile ſich ihnen noch nicht völlig unverwifchbar ein⸗
geprägt hatte. Und wenn fie Drangfalen ausgejegt: waren, ins
founte fie unmittelbarer ftärken, als die Erinnerung an bie Drang
fale, melde fie gleich zu Beginn überftanden hatten, und an den
Ruhm, welchen ihnen ihre Blaubensfeftigfeit erworben hatte ?).
Auch den „Mangel an allem fpeziellen pnterefje ?) und an
einex beftimmt motivierten Veranlaffung“ erkennt Baur, ©. 94f.,
als „ein Kriterium, das gegen den paulinifehen Urfprung ſpricht'.
Aber ift das namentlich Kap. 1-—3 hervorteetende Streben, bie
Gemeinde durch Auffriſchung der Erinnerungen feſt an Paulus
zu fetten und damit an feinem Evangelium feſtzuhallen, {ft die
ſcharfe Verwerfung der Juden, iſt die Fülle fehr konkreter Ere
mahnungen, tft die durch fo lebenswahre Bedenken hervorgerufen
Beſprechung ber eschatologiſchen Hoffnung wicht Zeugnis ganz ſpe⸗
zieller Intereſſen? Sind dte verfchlebenen Eindrüde (4, 13 ff),
Einflüffe (2, 13 ff.) und Einfläfterungen (2, 1ff.), welche die Neu⸗
gewonnenen dem Apofiel und dem Chriftentum wieder abwendig zu
machen. drohen, ift- ber Mangel an ftttlicher Reinheit (4, 1ff.) und
geiftiger Einheit (d, 12ff.), der in der Gemeinde gefährlich hervor⸗
doppelt unbegreiflih, wenn nur wenige Monate zwifchen dem Aufenthalt des
Paulus in Thefſ. und der Zeit des Brieflchreibers Tiegen.
1) &o Haben allerdings diefe Erinnerungen einen apologetifchen Zweck, ben
Baur bei ihnen, vermißt. |
2) Bol. hierzu Manen, ©. 52fl. j
8) Jowett vermißt auch ein Hervortreten des warmen Gefühle, das dem
Apoftel eigen ifl, „nor are they marked by any of the Apostle’s deepast
and most inward feelings“. Man vergleiche aber 2, & 11. 15f. 1720;
8, 6—10.
Der erſte Theffalonicherbrief. iR
trat, nicht Beranlaſſung, Beftimmt motivierte Beranlaſſung geung
für den fo plöglih von feiner Thätigkeit abgerufenen Water der
Bemeinde, fi; brieflich an fie zu menden? Und auch der nächſte
äußere Anlaß Hierzu fir Paulus ift nach den Andentungen bes
Vriefes Har gegeben, es ift die Rückunft des Timothens mit Rache
rihten von Theſſalonich 3, 6.
Sehen wir die Norm des Briefes als ſolchen an, fo bietet
wenigſtens die Abreffe kbeinerlei Anlaß zu Verdacht. In fänstfichen
ven der Kritik mit Grund in ihrer Echtheit angezweifelten Vriefen
Epheſer⸗ und Paſtoralbriefe) wird nur des Apoſtels Name dem
Brief vorgefegt; fie wollen auf des Apoſtels Autorität ruhen,
Namen zweiten Ranges Haben fle dabei nicht nötig. Paulus fekbft
dagegen hat, wern er Briefe an feine Gemeinden richtete, fteto
ichendwelche Genoſſen ſich an die Seite geſetzt, wie zur Stärkung
dee Bedeutung jener Schreiben, bald einzelne Frennde, bald, wie
bi den Galatern, alle Brüder; nur als er an bie Nöser fchrieh,
handelte es ſich nicht um ein autoritatives Schreiben, fonbern gleich⸗
jam um feine perſbnliche Bröfentation; da fchreibt er denn auch
allein umb ftellt dem Amtstitel bed drsoesoAog, bie perfünliche
Bezeichnung des dadlos Xesosev Inood woran. Sehen wir von
dem Eingang des zweiten Briefes an die Theſſalonicher ab, der
dem unfeigen völlig gleich ift, fo entfpricht bie Beifügung mehrerer
Namen ber Sitte Pauli und widerfpricht den Typus der unechtem
Briefe, wie ſich dem auch kin Grund benten liche, warum ber
Paufiner jene Namen beigefligt haben ſollte. — Anderſeits gehört
8 zum Typus ber oben genannten zweifelhaften Briefe, dem
Namen des Apoftels feinen Titel beizufügen. Die Übergehung
deöfelben bei einem Brief, der fich mit der apoftolifchen Autprität
fügen und vielleicht zugleich diefelbe verteidigen will, wäre eine
fonderbare Halbheit, um nicht zu fagen ein Selbſtwiderſpruch.
Die Weglaffung desſelben fpricht daher Gier, wie beim Phi⸗
lipperbrief, entſchieden fir die Echtheit und beweift, daß der Brief
in einer Zeit gefchrieben wurde, in welcher jener Titel jedenfalls
noch nicht Gegenftand der Eiferfucht und des Streits mar”).
1) Löwen, Manen.
18*
274 — v. Soden
Ohne jeglichen Ehrentitel hätte ein Pauliner den Namen ſeines
Patrous gewiß nicht an die Spitze des Briefes geftellt.
Selhftändig iſt auch die Form der Benennung ber Adreſſaten:
in allen anderen Briefen tritt die Ortsbezeichnung nicht als Genetiv
des nomen gentilitium auf, fondern ald Ortsangabe durch &v mit
dem Städtenamen, eine Abweichung, bie feinen Nachahmer, fondern
eher die Plerophorie des Apoftels erkennen läßt, ber unter dem frifchen
Eindruck feines Erfolgs ſich die Einwohner von Tcheffalonich fchon als
Sefamtheit in Beziehung zur Gemeinde denkt, während bie Tpäter ge
brauchte Form durch das Bewußtfein gefchaffen ift, daß die Gemeinden
nur einen bejcheidenen Wohnfik in dem großen heidniſchen Städten
baben, aber von ihnen völlig abgetrennt find. Die Verhältnisbeſtim⸗
mung zu Fsos rare xal xUgios ’Inooüs Xosoros fügt Paulus
fonft durchgängig erft dem Gruß an; follte ein Nachahmer ſich hier-
von eine Abweichung geftattet haben? Der Gruß ift infolge der
Borwegnahme jener religiöfen Beftimmung kürzer ausgefallen als
irgenidein paulinifher Gruß !). Ebenſo ift der Schluß pauliniſch.
Paulus diktierte feine Briefe (Laurent, St.u. Kr. 1864, S. 639ff.)
und fügte einen eigenhändigen Schluß bei: 1Kor. 16, 21ff. 2 Kor.
13, 12f. Gal. 6, 11ff. Kol. 4, 18. Phil. 4, 21 ff. (vgl. 2Theſſ.
3, 17). Diefem eigenhändigen Schluß geht ein fürmlicher Brief
abſchluß voraus. Ebenſo ſchließt 1 Theſſ. 5, 23f. den Brief ab,
und V. 25—28 folgt der eigenhändige Schluß. Er enthält vor
allem die Grüße, aber in völlig originaler Form, wie ein Vergleich
mit den anderen Briefichlüffen zeigt, und dann noch einen Wunfd,
ganz in der ſolennen Form. — Die Einfchaltung eines kurzen
1) Sehr inſtruktiv if es, daß der Berfaffer des zweiten Briefes, fo wört-
fich er fich fonft am die Aufſchrift des erften anfchließt, wohl in dem Gebanten,
den er 3, 17 verrät, es für nötig hielt, an Stelle diefes kurzen Grußes bie
längere pauliniſche Korn zu ſetzen, ohne zu empfinden, wie fchwerfällig und
umfändlich fein Eingang nun durch bie Wiederholung von Isos asıje zul
xögios Inooüs Xxqurocç in Adrefſe und Gruß geworben if. Man kann fih
nicht des Eindruds erwehren, daß der Apoftel noch feine feite Formel fich aus
debildet Hatte‘, als er unjern Brief fchrieb, daß ein Nachahmer dagegen Feine
jo Inappe, fondern eine der vollfiingenden formen ber fpäteren paulmiſchen
Briefeingänge gewählt hätte (vygl. auch Mauen, ©, 128),
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Der erſte Theffalonicherbrief. 270
Zwiſchengedankens, wie hier V. 27, erinnert lebhaft an die Ein⸗
haltung 1Kor. 16, 22. Über den Sinn von ®. 27 f. u.
2. Der dogmatiſche Gehalt des Briefes.
Zunächft fällt auf, daß der Brief wenig dogmatifche Auf⸗
ftellungen oder gar Auseinanderfegungen enthält. Da dies bei dem
vier Homologumenen anders ift, ift man geneigt, an der pauli⸗
niſchen Urheberfchaft bes Briefe zu zweifeln. Aber bie vier
Hauptbriefe können uns nicht mit Grund als normaler Typus
aller paulinifchen Schriftftelleret erjcheinen, wenn wir bedenfen,
daß fie ihren Charakter je durch die ganz fpeziellen Verhältniſſe
erhalten haben, denen fie ihre Entftehung verdanken. Der Galater«
brief und der zweite Korintherbrief find apologetiſche Schreiben,
jener zur Verteidigung der Lehre, dieſer zur Verteidigung der Perſon
des Apoftels gefchrieben. Beides war in Thefjalonich nicht nötig.
Der erfte Korintherbrief ift ein Antwortfchreiben auf eine Reihe
ganz konkreter, teilweiſe fpeziell dogmatifcher Anliegen der Gemeinde.
Eine Parallele Hierzu bietet der eschatologifche Teil unferes Briefes,
der auch durch Anliegen ber Theſſalonicher veranlagt ifl. Der
Römerbrief endlich follte gar nicht als Kriterium herbeigezogen wer⸗
den; denn in ihm fendet Paulus eine folenne Apologie feines Evans.
geliums gegenüber jubaifterenden Tendenzen an eine ihm unbelannte
Gemeinde, nicht einen Gelegenheitsgruß an eine feiner eigenen Ges
meinden. Unfer Brief hat alfo mit feinem der vier Briefe ana⸗
loge Entftehungsgründe, kann deswegen auch nicht mit ihrem Maß⸗
flab gemefjen werden. Denn man wird aus jenen vier Briefen
niht den Schluß zu ziehen wagen, daß Paulus nur in ähnlichen
Entfcheidung fordernden Fällen zum Briefichreiben fich. habe drängen
faffen und wir darum auch nur ähnliche Briefe von ihm zu er-
warten haben. Überdies ift der zweite Korintherbrief von Kap. 6
an an dogmatischen Ausfprüchen gewiß nicht reicher als uufer
Brief. Jowett (a. a. D.) vermißt die „große Frage” der Be
ſchneidung, aber diefe Frage konnte doc) nur in judenchriftlichen oder
gemifchten Gemeinden zur Befprehung kommen. ZZeesrour/ und
vowog find auch dem zweiten Korintherbrief unbelannte Dinge;
von den Iovdasos redet er nur genau im gleihen Zufammenhang.
876 v. Goben
wie unfer Brief (2 Kor. 11, 24. 1 Theil. 2, 14). Der Gegeniak
von Glaube und Werken fehlt auch in den Koriutherbriefen völlig,
setoris kommt dort nur vor im gewöhnlichen Sinn des Für-wahr:
baltens, je 7mal, gerade fo oft als im erften Theſſalonicherbrief,
wähtend «6 in Galater 19, in Römer 40mal flieht. Eine aus⸗
führlichere Rechtfertigungstheorie fehlt aud im erften Korintherbrief.
Aızososv jelbft lommt in biefem Sinne nur einmal vor, im zweiten
nie. Auch das „mystery of past ages““, das Jowett zu den
„great themes of his other Epistles“ rechnet, fehlt in den
Korintherbriefen ebenfo wie in unferem.
Was die einzelnen bogmatifchen Aufftelfungen betrifft, die ver
mißt werben, ſo wird hauptſüchlich von der Ehriftologie und von
der Berföhnungslehte und mit Hecht geredet, denn diefe beiden
Lehren erfcheinen in ben Hauptbriefen als der Mittelpunkt des
dogmatifchen Deukens bes Apoftels. Beides ift auch der 1, 10
fumtmarifch angegegebene Mittelpunkt des dogmatiichen Denkens bei
dem Verfafſer unferes Schreibens: Jeſus, der Sohn Gottes im
Himmel, ber von ben Toten Auferweckte, und Jeſus unfer Er⸗
retter aus dem Zorn. — Jeſus heißt außer bei Paulus viog Tov
Feed sur Bei ben Synoptiketn (worauf and bie einzige Stelle
in der Xpolalypfe 2, 18 zurüdzuführen fein dürfte), in den johan-
neifchen Schriften und im Hebräerbrief; die übrige neuteftamentlide
Litteratur, wozu ich auch ben zweiten Theſſalonicher⸗ und die Paftoral-
briefe rechte, gebraucht die Bezeichnung nicht (auch im Epheferbrief
findet fie fi) nur einmal 4, 13). Dies Verhältnis fcheint noch dem
Verfafſer ber Apoſtelgeſchichte bewußt geweſen zu fein; denn auf
er verwendet bie Bezeichnung nur 9, 20 als Charalterifierung der
Predigt Pauli. Auch die Betonung der Auferftehung Jeſfu ift im
Unterfchied von Apolalypje, Hebräer-, Johannis⸗, zweiten Theſſa⸗
lonicherbrief, Paſtoralbriefe, Yalobus eine Eigentümlichkeit der pauli⸗
niſchen Theologie, die nur in Epheſer und erſten Brief Petri bei⸗
behaften tft; in unferem Brief tritt fie 1, 10 und 4, 14 bedeutunge⸗
voll ala Mittelpunkt des chriftlichen Glaubens hervor, In ber Ber
ſoͤhnungelehre dat nur Paulus ovscHas anf die im Tode vollbrachte
Erlöfungsthat Jeſu angewandt (wieder mit Einſchluß von Kol. 1,18).
Die dpyr; Gottes als infolge der Sünde auf dem natütlichen Menſchen
Der erſte Theſſalonicherbrief. 877
ruhend und ſich einft emtlabend tft ſpezifiſch pauliniich 2). Außer
Paulus (au Kol, 3, 6) fteht fie mr Eph. 5, 6 als Wiedergabe
von Kol. 3, 6 und in, wie mir feheint, unpauliniſcher Übertreibung
Eph. 3, 3; endlich Joh. 3, 36. Unſere Faſſung aber ſtammt
aus dem gleichen Geifte, wie Rom. 5, 9 (vgl. die ganze Fade
lung Röm. 1, 18 ff.) 7, 24. Kol. 3, 6.
Die Dogmatif fpielt in echt pauliniſcher Weife in bie Ethik hinein
und hinüber 5, 10. Die unio mystita iſt vorausgeſetzt in 4, 16.
Der Glaube ift als eine wirkſame Macht vorausgeſetzt in 2, 13,
wo bem Er vuiv mit Nachtruck so miosesovosw beigefügt iſt.
Gerabefo wie ber Verfaſſer bes erſten Korintherbrief3 bat num
aber unfern Berfaffer in der Answahl feiner. Zehrmitteilungen ein⸗
fach das Bedürfnis der Gemeinde geleitet. Wie bei ben Korinthern,
jo beichäftigt bei den Tcheffalonichern die lebhafte griechiiche Phantaſie
vor allem die neue Lehre über das Ende der Dinge, fpeziell über
die Auferftehung. Eingetretene Todesfälle Haben dazu mitgewirkt, ihre
Gedanken ganz befonders nach diefer Seite hinzulenken. So muß ex
hierauf zu reden kommen, nachdem er zuerſt die praktiſchen Folgen
jmer Geiftesrichtung getabelt Bat (4, 11.) 2).
Aber hat denn Paulus bei feiner Predigt die Zukunft bes Heren
jo promirt, baß eine Geiftesrichtung, wie bie in unferent Brief
angedeutete, in einer paulinischen Gemeinde entftehen konnte?
Jowett meint, das Evangelium Pauli erſcheine nad) unferem
Brief nicht ul Evangelium vom Kreuz Chrifti, fondern vielmeht
1) Die Apokalypſe kennt die opy7 mir als ein Moment der Eschatologie!
fe Fällt zuletzt auf die, welche fich nicht belehrt haben; die pauliniſche doyn
deoõ ruht an ſich auf allen Menfchen unb wird nur durch Chriſtus von ben
an ihn Glaubenden abpewenbet.
3) Der großen Wahrſcheinlichkeit bes im Briefe angegebenen Anlafſes un.
ſetes Abſchnittes fett Bies, ©. 117, die Polemif gegen die Apolalypfe als
geheimen Zweck entgegen, ſofern nach ihrer Lehre an ber erſten Auferftehung nur
die ınn des Beugniffes von Ehriftus willen Enthaupteten teil haben (20, 4), bie
allgemeine Auferftehring aber erft nach bein tonfenbjäßrigen Rich erfolge (V. 12 f.).
Aber eine Polemik gegen dieſe Aufſtellungen konnte boch nicht ganz allgemein von
rexooL reden, fondern mußte bie dort bevorzugte Kategorie der Märtyrer ent«
weder ausdrücklich oder wenigkens durch ein premiertes navrss ob vexool Ev
Xoro beriifichtigen, ebenfo and mit dem bort grundweſentlichen Begriff des
taufendjährigen Reiches ſich irgendwie auseinunberfeien.
278 v. Soden
als Evangelium vom Kommen Chrifti. Welcher bdiefer beiden Pole
des urchriſtlichen Glaubens bei Paulus vorwog, ift eine offene
Frage für diejenigen, welche die beftimmt motivierte Entftehung
unferer vier Briefe recht überlegen. Daß jedenfalls der Gedanke
an bie Parufie vorne anftand in Pauli Denken, beweifen die fchon
von Lipfius (St. u. Kr. 54, ©. 923) gegen das genannte Be⸗
denken zufammengeftellten, die Barnfie berührenden Stellen, allein
aus dem erften Korintherbrief: 1, 3. 85:14, 15. 22; 4,5; 5, 5;
6, 3. 9; 7, 29; 11, 26; 13, 12; 15; 16, 22. Man-bes
denke ferner, daß Panlus die korinthiſchen Chriſten rundweg nennt:
ansxdeyöusvor vv anoxakvı)ım Tod xvolov juov "Inoov
Xosoroö 1XRor. 1, 7; man vergleiche die Ausfprücde 1 Kor. 15,
19. 32. 54; bie Sitte, Umdo vv vexparv zu taufen 15, 29;
man erwäge, daß für ihn das gegenwärtige Chriftenleben nur ein
aoaßav ift 2Ror. 5, 5; vgl. überhaupt die Gedanken 2 Kor. 5,
2 ff.; 1Ror. 7, 29 ff.; Röm. 13, 11 ff. und fpeziell zu 1Theſſ.
2, 12; 3, 18; 5, 23: 1Kor. 1, 8, 5, 5; 2Ror. 1, 14
(Phil. 1, 6. 10; 2, 16)2). Da erfcheint es auch nad den
wenigen auf uns gelommenen, fpeziellen Zwecken gewidmeten Dent-
malen des paulinifchen Glaubens zum minbeften zweifelhaft, wohin
der Schwerpunkt feiner Gedanken neigte. Wie follte es auch mög⸗
fich fein, an das perſönliche Erleben der Paruſie zu glauben, wie
dies Paulus that (1 Kor. 15, 51 f.; 7, 29 ff.; vgl. 1Thefſ. 4,
15), und nicht all fein Denken und Leben unter dieſen Haupt
gedanken zu ftellen! Dennoch iſt auch in unferem Brief der Pa-
ruſiegedanke nicht fo vorherrfchend, dag wir mit Baur in ber „bes
ruhigenden Belehrung über die Paruſie“ den Hauptzweck des Briefes
erfennen dürften. Denn wozu dann die ausführliche Einleitung
1, 1—4, 8? wozu die in ihrer Kürze fo feharf betonten Mah⸗
nungen 5, 12—24° Und wenn der Brief über die Parufie „be
ruhigen" follte, wie ungejchielt waren dann die häufigen Hin⸗
weifungen auf diefelbe 1, 10; 2, 19; 3, 13; 4, 2; 5, 20
(dgl. Reuß S. 75). Wenn aber Baur (P. I, ©. 101) meint,
1) Wenn Bies, S. 104, zu 1, 10 bemerkt, daß ſchon im Anfang ber
unpaulinifche Hauptgedanke des Briefes, die Parufie, hervortrete, fo vergißt er,
daß dies 1 Kor. 1, 7 in ganz analoger Weile geichiebt.
Der erfte Theſſalonicherbrief. 279
es fei „laum wahrjcheintih, daß ein Schriftfteller, welder feine
Vorjtellung über die leiten Dinge fo genau zu.begrenzen wußte,
wie dies 1Kor. 15 der Ball ift, in einem zuvor fchon gejchriebe-
nen Briefe fich jo weit darauf eingelaffen haben fol in einer Weiſe,
welche einen ganz in rabbinifchen Meinungen diefer Art befangenen
Glauben vorausſetzt“, fo fragt fi, ob der von Baur für die Be»
ſchränkung in 1Kor. 15 vorausgejeßte Grund der einzig mögliche
und der wirkliche ifl. 1Kor. 15 redet der Apoftel von ber Auf»
erftehung mit alleiniger Berückſichtigung der Lebenden, 1Theſſ. 5
von dem Scidjal der fchon Geitorbenen gegenüber der Barufie;
müſſen da nicht in beiden Stellen verfchiedene Dinge zur Sprache
fommen? Die Ausfürlichkeit aber, mit der bier der Apoftel die
Bedenken der Theifalonicher mit ausgeprägten Borftellungen zu
überwinden ftrebt, ift vielmehr ganz analog der gewiß an frap⸗
panten, fonft bei Paulus nicht erwähnten Anfchauungen noch viel
reiheren Ausführlichleit, mit der er die Zweifel in Korinth nicht
nur widerlegt, fondern an ihre Stelle die anfchaulichften Vor⸗
ftellungen über die bezweifelte Thatſache ſetzt. Das „ſpezifiſch⸗jü⸗
difche Gepräge* ift aber nicht eine Eigentümlichleit „ber ſpüteren
Zeit”, fondern eine weſentliche Seite des pauliniihen Glaubens,
wie feine Briefe ja an überrajchenden Aufftellungen aus echt rab⸗
binifcher Schule reich genug find. Dem Apoftel konnte die Barufier
lehre „ein noch unverjehrtes Stück feines Jugendglaubens“) fein, wie
ja Baur (S. 351) felbft zugiebt, daß der Apoftel fich die jüdi⸗
fche Eschatologie ganz wohl aneignen konnte. Ya, der Vorwurf, den
Baur. bem Berfafjer unferes Briefes im Vergleich zu dem Panlus
von 1Kor. 15 macht, läßt fich gerade umlehren: Wie zurückhal⸗
tend lauten gegenüber den Ausführungen über die Dafeinsform der
Anferftandenen, die wir 1Ror. 15, 35—53 finden, die Ausdrücke
unferes Briefes: dvaaznoovras, apnaynoousda, dadusda vv
zvoio, während er über die 1Kor. 15, 23—28 fo genau bejchrie-
benen der Auferfiehung folgenden „Ießten Dinge“ völlig ſchweigt.
Was nun den konkreten Anhalt unferes Abfchnitts betrifft, fo
„erklärt ſich der Brief im ganzen über die Parufie auf diefelbe
1) Renß, ©, 71.
Wo v. Soden
Weiſe, wie ſich der Apoftel ſelbft 1 Kor. 15, 51 hierüber erklärt
hatte“ (Baur S. 103). Für etwa erfindliche Differenzen im klei⸗
nen aber merken wir Baurs Wort über ben von ihm fupponterten
gemeinfamen Berfaffer der beiden Theffalonicherbriefe vor (&. 103),
daß es leicht denkbar ſei, dag ein Berfaffer, „wenn er einmal im
Gedanken an die Barufie fo Fehr Iebte, zu verſchiedenen Zeiten und
von verjchiedenen Standpunkten aus über einen an ſich proßlema-
tifchen Gegenftand auf verfchiebene Weite fich erklärte”.
Widerpanliniſche Züge finden fi in dem Inappgehaltenen Ge⸗
mälde nicht ?), fondern nur Angaben, bie fi fonft bei Paulus
nicht finden, ein Fall, in dem wir uns mit dem größten Teil von
1Kor. 15 auch befinden. Greifen wir zuerft heraus, was über
die Parufte Chriſti felbft gejagt wird, fo tft zu bemerken, daß
Paulus nit ale prophetiich infpirierten Apofalyptifer auftritt,
fondern ſich in aller Selbftbefcheidbung auf ein Herrenwort beruft.
Dos ift an ſich ebenfo echt pauliniſch (1Kor. 7, 10. 12. 20;
9, 14; 11, 23), als unwahrjcdeinlih vom Standbpunft eines Ver
ehrers des Paulus, der von des Apoſtels Autorität fo Hoch denkt,
dag er mit feinem Namen diefen Brief ausjtatten zu müſſen glaubt,
damit er feinen Zwed erreiche. Man vgl. dafür z. B. 2 Theſſ. 2,
befonder8 V. 5. Und es ift fehr bemerkenswert, daß der Ver⸗
faffer, wenn er diefe Berufung anf ein Herrenwort einmal für
nötig hielt, nicht gleich feine ganze Lehre in dasfelbe kleidete, ſondern
nur einen ben Herrn felbft betreffenden Ausſpruch. Das Herren
wort im Sinne des DVerfaffers ift in indirefter Rede angeführt
und befchränft fich auf die Worte (V. 16): ors aurds 0 xugos
Ev xsisvouari,. 89 Yywyi) agxayyalov xal Ev oalnıyys Jsoü
xeraßnosvaı an oveavod (vgl. hierzu Stähelin, J. f. d. Th.
74, S. 191 ff). Der orı-Sag in V. 15 ift Epexegeſe zu voöro
und drüdt nur bie ftrikte Negation der Furcht der Theſſalonicher
aus. Diefe konkrete, fichtlih den ganz fpeziellen, vorliegenden
Verhältniffen angepaßte Aufftellung für ein Herrenwort zu er
klären, wäre eine etwas plumpe Kühnheit, die doch auch dem Pau-
1) Für den Einwinf von Bies, S. 118, unfer Berfafier habe Paulus
„nicht begriffen“, ſofern die Vorſtellung desſelben „mechaniſch“ jet, welchen er
ſelbſt nicht näher begründet, können auch wir feinen Grund finden.
Der erſte Zheffalomicherbrief. 21
liner faum zuzutrauen fein dürfte. Der Gedanke ift alfo folgen-
der: „daß wir Übergebliebenen den Entfchlafenen nicht zuvorfommen
werden, das fage ich euch in einem Serrenwort, das dahin Lantet,
daß er felbft — der Herr — vom Himmel kommen wird. Und
bie Toten in Ehrifto werben zuerft aufftehen, dann werben wir ⁊c.“
Für folche Abteilung fpricht der Gedankengang: Obenan fteht die
logifche Konklufton: wenn wir glauben, daß Jeſus geftorben und
auferftauden ift, dann können wir auch an ber Auferftehung der
Entjchlafenen nicht zweifeln. Der Oberfag dieſer Konkluſion, in
der ſchon mitenthalten ift, daß dann die Geftorbenen aud nicht
hinter den Lebenden zurückbleiben werden, wird mit einem Herren⸗
wort bewiefen, und dann der Schluß daraus in ausführlicherer Weife,
diesmal zugleich mit Beziehung auf die Lebenden wie auf die Ges
ftorbenen, eben zur Klarftellung der in V. 15 zwifcheneingefchalteten
Behauptung wiederholt. Auch die Form der einzelnen Süße ent»
jcheidet für die gegebene Abteilung: auros 0 xuVosos ſcheint un⸗
widerfprechlich das Wort einzuführen, das adrös 0 xugsos von
ſich felbft geſprochen hat. Sollte diefer Sa dagegen mit dem fol⸗
genden: xwl 06 vexgot — rrouror, Erseısa Nusis zuſammen das
Herrenwort darftellen, fo wäre ftatt adros 0 xuosos und. einem
bei der zweiten Slategorie folgenden rrgeisov, daß rso@ros bei dem
Say über Ehrifti Auferfichung zu erwarten, in der Art von 1Ror.
15, 23; anaexgı) Xgidrös, Insıte—, sira —. Ferner: ift adros
0 xvgsog in der indirelten Rede ganz natürlich, fo wäre die Eine
fügung von npeis etwas kühn; jedenfalls Läge viel näher, daß auch
V. 17 in dem objektiven Ton des Meferats bliebe: Zee oi
Loveeg aonayıjoovras. Iſt aber der Sag mit Erreıva wegen
des nmeis vom Herrenwort ausgejchloffen, fo kann der Satz mit
rreeorov nicht von ihm getrennt werden; es bleibt aljo nur der
Ausfprud über die Wiederfunft bes Herrn felbft als Inhalt des
V. 15 angemeldeten Herrenwortes übrig !). ft fo, was von der
Parufie Chriſti ſelbſt zu fagen ift, auf einen Ausſpruch von Chriſtus
zurüdgeführt, fo kann man nicht verlangen, daß das Mitgeteilte
1) Damit glauben wir auch die Gründe von Dofterzee und Vies, bie fie
bazu beflimmen, V. 15—17, als das Herrenwort anzufehen, widerlegt zu haben.
282 2 v. Soben
als aus des Paulus Gedankenwelt ftammend, fi müſſe nachweiſen
lafjen. Übrigens macht die Erwähnung der doxaın odinıyE in
1Kor. 15, 52 und die paulinifche Engellehre, die ganz rabbiniſch
erſcheint, (Sal. 3, 19; 1Kor. 11, 105; Gal. 1, 8; vgl. über
eine ähnliche Verwendung ber Engel wie 1Theſſ. bei den Rabbinen
Stäpelin, S. 197 f.), die Belanntfchaft des Apoſtels mit einem
derartigen Ausspruch ſehr wahrſcheinlich. Adisvoue ift, wie das
Behlen einer Genetivbeftimmung zeigt, bie den inhalt andeutende
gemeinfame Bezeichnung für die zwei hörbaren Erſcheiunngen der
gYwvn) apxayysAov und ber ooAnmıyE Iso. Warum ber Aus
druck dem Paulus nicht follte vertrant fein können, obgleich er ihn
fonft nie verwendet, ift nicht einzufehen; es ift der Befehlsruf an
die Toten, wie wir ihn als Charakter des 1Kor. 15, 52 ans
geführten Trompetenftoßes ja auch denen müſſen. Auch die Bor-
ſtellung, dag Chriſtus xasaßrfosraı ar’ ovgavov, ift notwendige
Bermittelung zwifchen feiner Vorftellung, daß Chriſtus im Himmel
tft (1Ror. 15, 47 ff.) und der andern, baß er fi den Men⸗
hen offenbaren wird (1 Kor. 1, 8); und bat eine treffenbe Ana⸗
fogie in bem oixnzrgsov EE ovoavod, das ja eben mit ber Pa-
rufie Ehrifti den Glaubenden zufällt, fo daß fich der Gedanke auf:
drängt, wie das olxnzrjosov, fo kommt auch 0 Xoswrös herab 8
ovoavod. Died xaraßaivew EE ovgavod Tann aber, fobald man
es fich vorftellig machen will — und das hat Paulus doc gewiß
gethan —, nicht anders als durch den Luftraum gegangen fein.
Unterziehen wir nun auch die Aufftellungen über das Schidjal
der Ehriften bet diefer Paruſie einer Unterfuchung, fo ift jedenfalls
der Grundgedanke, daß nämlich die Auferftehung Ehrifti eine Ga⸗
vantie bilde für die Auferftehung der Chrifto Angehörigen (V. 14),
echt paulinifch. Der Urheber der Auferftehung ift Gott, nicht etwa
Chriftus; zugeteilt aber wird fie nur vermittelft Jeſu Chriſti
(1Ror. 15, 57; Röm. 5, 17), genauer denen, bie in Chriſto find
os vexgol dv Xosora (vgl. 1Kor. 15, 18. 22. 2Kor. 5, 17),
und zwar in dem Augenblick der ebenfalls von Bott (dfes vv
eve) gewirkten Parufte Chriſti; (vgl. 1Kor. 15, 24: od vov
Xgsorod &v 57 nrapovole adrod). Daß hierbei, wie V. 15 vers
fihert und dn6 rgwrov-Ensıra V. 16 und 17 näher ausführt,
Der erfte Theflalonicherbrief. 288
die Toten den Lebenden vorangehen, fteht auch 1Kor. 15, 52.
Auch das Ende, za ovroßg navrore GUY xuglo Eoousda, ent
fpriht ganz dem Wunfche Bauli dvdnungas rgoc Tov xUgior
2Ror. 5, 8 (vgl. Phil. 1, 20). New iſt nur die BVorftellung
darüber, wie ſich diefe Auferftehung und dies Sein bei Ehriftus
verwirfficht, ebenfo bei den Toten als bei den Lebenden. Inbetreff
der Toten heißt es nur a&ss adv avro. Gewiß ift der Ausdrud
zurückhaltend genug, denn er läßt, wie die Gefchichte der Exegefe
zeigt, unferen Konjelturen ben veichften Spielraum. Die glüttefte
Zurechtlegung wirb aber immer diejenige fein, daß ber Verfaſſer
fih die Toten bei Ehriftus oder wenigftens in der Nähe Chrifti
gedacht hat, fo daR der vom Himmel zur Parnſie erjcheinende
Chriſtus zuerft auf fie traf und fie dann zur Erde mitnahm. Im
Aufammenhang hiermit erklärt ſich wenigften® die andere Vor⸗
ftellung am natürlichften, daß die Toten den Lebenden voran fein
werden bei der Parufie. Darin aber irgendwie etwas Unpaulini⸗
fches zu erblicken, wird nicht zu rechtfertigen fein, wenn wir auch
die panlinischen Vorftellungen über diefe Dinge nicht genau genug
fennen, um die Übereinftimmung nachzuweiſen. Die ben Aus
führungen (2Kor. 5 und Phil. 1) zu Grund liegenden Vorſtel⸗
lungen find immerhin als ganz ähnliche zu vermuten.
Etwas ausführlicher fpricht ſich unſer Brief über die Art, in
der die Lebenden an der Parufie teil Haben werden, aus in ®. 17;
xonralsıv, das Wort, das Paulus 2 Kor. +;-2+ 2, 4 für ana
foge Verhältniffe gebraucht, entjpricht der Zeitbeftimmung &v
arönp, Ev ginn dydaluod 1 Ktor. 15, 52. Die Gleichzeitig-
feit &ua oUv adrois (Tols vexpois)!) troß des nacheinander ent»
fpricht ebenfo der Schilderung 1Kor. 15, 52. Nicht mit pauli⸗
nischen Ausſprüchen aus den vier Homologumenen zu belegen find
nur die lokalen Beftimmungen unferer Stelle: Ev vaypsiaıs, sis
enavımoıw Tod xvglov, eis aspa. Doß. bei vom Himmel
wiedererwartete Herr nicht anders als aus der Luft kommend vor⸗
geſtellt werden kann, iſt vorhin ſchon angemerkt worden; daß aber
dabei die an ſich leere Luft mit Wolken verdichtet gedacht wurde,
1) au adv bezeichnet nicht notwendig auch die lokale Vereinigung, ſondern
ſehr Häufig und urfprünglich nur die temporelle: Zum zänufog, ro gs, 75 co.
284 v. Soben
gebot die Erleichterung ber Vorſtellbarkeit. So finden wie denn
auch im Anfchlug on Dan. 7, 13 in der urchriftfichen Eschatologie
überall die Vorftellimg, daß der Herr in den Wollen des Him-
mels wiederfomme: Matth. 24, 30; 26, 64 mit Parallelen; Apok.
1, 7. Wer auch die Borftellung, daß Menjchen ins Quftreich,
wiederum durch Bermittelung der Wollen, entrückt werben können,
mußte der urchriftlichen Zeit ſchon durch Elias’ Himmelfahrt (2 Kön.
2, 11) vertraut fen; vgl. die Berflärung und die Himmelfahrt
Ehriftt Matth. 17, 5 und Bar.; Apg. 1, 9; ferner Apol. 11, 12.
Paulus felbft aber erzählt uns eigene innere Erlebniffe, die ihn
mit der Borftellung eines Erhobenwerdens in die Abteilungen bes
Lufthimmelraums völlig vertraut erfcheinen laſſen (2 Kor. 12, 2 ff.).
Unmöglih kann man nad) dem allem die in nuferer Stelle vor-
getragenen Vorftellungen für widerpauliniich erflären. Se, vie
mehr müſſen wir fagen, fie find unentbehrlig für die Vorftellbar⸗
feit anderer eächatologifcher Gedanken des Apoftels: Die vonara
ersovgavıa wit ben Charalter der Edavaclı mb apdupola
(1Ror. 15, 40. 48. 53 f.) lafſen fi unter ben gegenwärtigen
Erbverhäftnifjen nicht vorftellen, von einer Umſchaffung der Ich
teren bei der Parıfte redet aber Paulus nirgends; beum wenn
er auc eine endliche Verklärung derfelben hofft (Röom. 8, 21),
fo fann dach diefe noch nicht mit den Kreigniffen von 1Kor.
15, 23), fondern erft nach ber Übermindumg aller Mädhte und
Feinde, deren letzter erft ber Tod ift, (VB. 24—26) eintretend
gedacht werden. Fordert fo chen der Begriff ber vwuara
erovgavsa eine Lolalifierung berfelben über der Erde, mie auch
die Wahl des Ausdrucks Erroupgense im Gegenfag gu driram und
die Vergleihung V. 40 f. dadurch erft reiht zutreffend wirb, fo
können wir auch die deu auferweckten Chriften von Paulus zuge
fchriebenen Aufgaben: Gericht zu halten über den xdauos und die
Engel (1 Kor. 6, 2. 4), zu herrſchen mit Chriſtus his zur Über⸗
windung aller feindlichen Mächte (1 Kor. 15, 24 mit Röm. 5, 17;
1Kor. 4, 8; vgl. 1Theff. 2, 12) am leichteften erfüllt denken von
einem Ort über der Erde aus; an eine Entrüdung der Gläubigen
in den Himmel bei der Parufie zu denfen, verbietet aber bie
Beſtimmung EE gave 2 Kor. 6, 2. So ift bie Borſtellung,
Der erfte Theffalonifcherbrief. 288
dab die Gläubigen, wenn fie beim Schalt der letzten Trompete,
mit dem bie Ankunft des Herrn vom Himmel gemeldet wird, in
course Enrovocvie verwandelt werben (1 Kor. 15, 52), ihm
entgegengerücht werden in das Luftreih auf den Wollen (1 Thefi.
5, 17), deren er fi felbft nad aligemeiner urchriftlicher Vor⸗
ftelung zum Kommen bedient, eine völlig einheitliche, und es Liegt
teinerlei Grund vor, zu vermuten, daß beide Teile berfelben, des⸗
wegen weil fie nicht beide an der diefe Dinge befprechenden Korinther⸗
ftelle erwäßnt werden, auch nicht in einem @eifte vereinigt vor⸗
Banden gewefen fein. Da fie fich vielmehr, wie wir ſahen, gegen.
feitig fo fehe ergänzen, daß der eine Teil erft durch den andern
verftändfich und anſchaulich wird, fo ift es die allergrößefte Wahr-
ſcheinlichkeit, daß fie beide echt paulinifch find *).
In 5, 1-— 3 wird noch die Plöglichkeit, mit ber die Parufte
eintreten wird, hervorgehoben. Vies (S. 118) benft wegen ber
teifweife ähnlichen Ansdrüde an eine Abhängigkeit von den Sy⸗
noptifern (vgl. Matth. 24, 36. 43. 48. Lu. 21, 34). Strei⸗
hen wir die Ähnlichkeit von 1 Theſſ. 5, 1 und Matth. 24, 36,
die nur in dem Anfangswort 7s&04 befteht, fo bleibt als gemein.
fam erftens die Bezeichnung des xAsrweng zur Vergleihung (V. 2
1) And Bies (S. 86) weiß nur folgende brei Punkte gegen bie Pau-
linicitãt ber Stelle geltend zu machen: 1) Daß „wicht vom der Veränderung,
welcher ſich bie Lebenden unterziehen follen, geſprochen“ ſei. Aber erſtlich if
e8 eine offene Frage, ob Paulus fich die phnfiologiiche Konfequenz feiner escha⸗
tologifchen Hoffnungen damals ſchon gezogen habe, auf welche ihn der Zweifel
der Korinther 1Nor. 15, 38 führte und die dann die Lehre von der Berwand-
Inug der Lebenden hervorrief; fjobanı mill ja Hier Paulus Wer bie Teilnahme
ber Geftorbenen an der Parufte bie Gemeinden belehren, die nur zur Ergän-
zung beigefügte Teilnahme der Überlebenden Tomate darum ganz kurz in ihrer
äußeren Erjcheinung angedeutet werden, und niemand follte an dieſe Beifügung
die Forderung lebhafter Vollftändigleit machen. 2) Daß „bie VBeichreibung ber-
fefben als eim Herrenwort vorgetragen“ werde. Bei ber von uns verteibigten Be⸗
ſchränkung bes Herremvorts auf die Darftellung feiner eigenen Erſcheinung fällt
diefer auch an ſich nicht flichhaltige Einwand weg. 3) Daß „man jede Spur
des Zufammenbangs mit der Lehre von der unio mystica vermiſſe.“ Diele
aber ift mit ot vaxpol &v Kosoro genau ebenfo deutlich angezeigt als 1 Kor.
15, 22 (dv TO Xgioro), 24 (od Tod Xgsaros), Der Vorwurf teäfe alſo mit
gleichem Rechte 1 Kor. 15.
256 v. Soben
und V. 43); aber in unjerem Brief ift die Vergleihung ganz
furz: der Tag des Heren fommt wie ein Dieb in ber Nacht; bei
Matthäus ift died in. einer Parabel ausgeführt, in welcher un⸗
mittelbar nur das „Auf der Hut fein” ben Vergleichungspunkt bildet,
während, daß das Kommen de8 Herrn dem des Diebes ähnlich
fei, nicht ausgeführt, fondern vorausgeſetzt iſt. Wenn benn eine
der beiden Stellen von der andern hervorgerufen ober beeinflußt
fein fol, fo muß bie Titterarifche Kritik die Urfprünglichleit der
Thefialonicherftelle zufchreiben. Vielleicht bildet dann Apok. 3, 3
die Zmifchenftufe beider Stellen; jedenfalls beweift die letztere, daß
jene Vergleichung den urchriftlichen Kreifen nicht fremd war, viel
leicht vom Heren ftammte, wodurch das avroi yap axgsßas
oiders fi treffend erläutert. Ein ähnliches Verhältnis beſteht
zwifchen 1 Chefj. 5, 3 und Matth. 24, 48; hier haben wir eine
Schilderung aus dem Gemeindeleben herans, vielleicht mit Ans
Ichnung in der Form an Mia 3, 5. er. 8, 11; dort eine Pa⸗
rabel, in. die bdiefe in den Gemeinden fattifch vorhandenen Gedanken
Bineinverwoben find. Wenn eine Abhängigkeit Lonftatiert werben
müßte, hat da nicht die Thatfache aus dem Leben vor bem Spiegel-
bild der Parabel die Wahrjcheinlichkeit der Urfprünglichkeit für fich?
Übrigens findet fich, abgefehen von ber in beiden Fällen gefchilder-
ten Stimmung des Leichtfinns, in den gebrauchten Ausdrücken fo
gar keine Ähnlichkeit, daß es gefucht ift, Hier eine Titterarifche Be⸗
ziehung entdeden zu wollen. Wie natürlich ift das Eintreten fol
her Stimmung in jeder Gemeinde; wie natürlich, daß die Pre
biger des Paruſieglaubens darum überall dagegen anzulämpfen
hatten. Eine Übereinftimmung in Worten findet fich endlich zwi⸗
fhen V. 3 und Luk. 21, 34; beibemal ift Eyıoravaı zur Ber
zeichnung des Nahen, aiypvidıos zur Bezeichnung der Plöglichkeit
gebraucht; beidemal folgt der Gedanke an ein eventuelles Exyvyeir
(Luf. 21, 36); aipvidsos ift in Luk. und 1 Theſſ. «. A.; eyioravaı
hat Paulus nie, Lukvs nie in diefem Sinn. Auf welcher Seite
bie Urfprünglichkeit ift, ift fomit nicht zu entfcheiden; einfacher und
fürzer ift der Gedanke in 1Theſſ. gefaßt; eine litterariſche Be⸗
ztehung bleibt aber überhaupt zweifelhaft, da das Verbum bei Luk.
im Aktiv, bei Theſſ. im Medium gebraucht, bort mit Erst, hier
Der erfte Theffalonicherbrief. 287
mit bem Dativ fonftruiert ift, das Subjekt desfelben aber dort
iuson Exsivn it, hier oAedoos, dort zur Vergleichung beigefügt
ift os nrayls, hier @arrep 7) adv. Dieſe Unterfchiede überwiegen
entjchieden die Bedeutung des gemeinfamen Gebrauchs zweier Wörter
und Sprechen gegen jede Litterarijche Beziehung beider Stellen. Im
allgemeinen aber ift eine Anlehnung des Apoftel® Paulus an Worte
oder Gedanken der evangeliihen Tradition doch keineswegs cin be⸗
gründetes Verdachtszeichen; müfjen wir ihn uns doc mit derjelben
mehr oder weniger vertraut denken. “Die folgende Ermahnung 5,
4—11 ermweift eine Vergleihung mit Röm. 13, 11 ff. als echt
paulinifch; die Ähnlichkeit verrät die Verwandtſchaft, die Verfchie-
denheit fchließt eine Imitation aus.
Bietet fo der dogmatifche Gehalt des DBriefes einen Anlaß,
ihn dem Paulus abzuſprechen, jo ift weiter zu unterfuchen, ob
die gefchichtlichen Vorausſetzungen und Angaben des Briefe ihn
nicht einer [päteren Zeit zuweijen.
3. Die geihichtlichen Daten des Briefes.
Prüfen wir zuerft bie gejchichtlichen Daten, welche der Brief⸗
ſchreiber ſelbſt angiebt, auf ihre gejchichtliche Wahrheit und auf
ihre Originalität, ebenfowohl gegenüber dem Bericht der Apoftel«
geichichte, alS gegenüber verwandten Angaben in ben pauliniſchen
Homologumenen.
Die evangeliſche Predigt des Panlus geſchah in Theſſalonich
nicht nur in Worten, ſondern auch in Kraft und in heiligem Geiſt
und voller Zuverſicht (1, 5), wenn auch unter viel Kampf (2, 2).
Die Theffalonicher ihrerfeit8 nahmen das Wort auf als Gottes
Wort (2, 13), mit Freude heiligen Geiftes, wenn auch in großer
Bedrängnis (1, 6). In diefer Gründungsgefchichte ift nichts an
ſich unwahrſcheinlich, nichts einem uns befannten Original nach⸗
geahmt; denn wenn auch die einzelnen Ausdrüde alle gut paulinifch
find, fo finden fie fich doch nirgends in ähnlicher Zufammenftellung;
und wenn bie Apoftelgefchichte auch zu den Andeutungen von Kampf
und Bedrängnis eine treffende Illuſtration bildet, fo hätte ein
Verfaſſer, der den Bericht der Apoftelgefehichte vor fih urd die
Absicht Hatte, fich als mit der Gründungsgefchichte der Gemeinde
Theol. Stud. Jahrg 1886. 19
238 b. Soden
vertraut zu erweifen, gewiß konkrete Züge berjelben eingeflochten
und fi) nicht mit jenen allgemeinen Ausdrücken begnügt. Über⸗
dies unterfcheidet fich der Brief und die Apoftefgefchichte in zwei wer
fentlihen Punkten, die beidemal nichts find als Rollentaufch zwifchen
Juden und Heiden. Nach dem Brief befteht die Gemeinde aus
ehemaligen Heiden (1, 9; 2, 14), nad der Apoftelgefchichte wurde
fie in der Judenſynagoge gefammelt (17, 1 f.) und beſtand aus
Juden (adroi in zıveg &E adscv DB. 4 geht durch Vermittelung
von adrodg und srgög adrois V. 2 auf s@v Iovdaiww V. 1)
und Proſelyten (17, 4). Iſt e8 nun eher beufbar, dag ein bireft
an bie betreffende Gemeinde gerichteter Brief ihre faktifch juden-
Hriftlichen Glieder als geborene Heiden bezeichnet, oder daß eine
geſchichtliche Schrift allgemeinerer Tendenz bei einer einzelnen Ge⸗
meinde fi inbezug auf ihre Nationalität irrt? Die gefchichtliche
Angabe des Briefs wird man bei folder Stellung der Frage als
unbedingt wahr und, bei Vergleihung mit der Apoftelgefchichte, als
völlig felbftändig anerkennen müſſen. ALS Verfolger der Gemeinde
find im Brief Heiden (2, 14), in der Apoſtelgeſchichte FJuden (17,
5) angegeben. Iſt es, eine fpätere Entſtehung des Briefs einen
Augenblid vorausgeſetzt, wahrjcheinlicher, daß der in heidniſche
Kreife gefchriebene Brief in einer Zeit, im welcher bie Abwendung
der Juden vom Chriftentum mehr oder weniger entfchieden war
(Röm. 9—11), und die Aufgabe, bie Heiden zu gewinnen, immer
mehr in den Vordergrund trat, den Juden der Vorwurf feind-
feligen Auftretens widergefchichtlih abgenommen und ebenfo wider
gefchichtlich den Heiden aufgebürdet hat !), ober daß in ber foeben
harakterifierten Zeit folche Erinnerungen der Feindſeligkelt dem
heidnifchen Gewifjen abgenommen und ben verhärteten, feindfeligen
Juden auch alle früher den Chrijten zuteit gewordenen Feindſelig⸗
feiten zur Laft gelegt wurden? Auch Bier ift dem Brief Glaub⸗
würdigfeit wie Selbftänbigfeit nicht abzuerfennen. Außerdem wird
wenigftens die letztere erhärtet durch andere Widerfprüche mit dem
1) Die an ſich offenftehende Vermutung, der Verfaſſer könnte durch eine
uns unbelannte lokale Rückſicht oder biplomatifche Tendenz dazu veranlaft wor-
den fein, den Juden dies abzunehmen, iſt angeſichts des Ausfalle gegen biefelben
2, 15. nicht möglich,
Der erfte Theffalonicherbrief. 289
Bericht der Apoftelgefchichtee Nach dem Brief waren die Inden
weelduvres huäs rols &dveow Aciadur (A, 16); nad der Apoſtel⸗
geſchichte Hat Paulus unbehelligt in der Synagoge gelehrt und babei
and Griechen gewonnen (17, 2. 4); ebenfo paßt ber Ausdrurk
adımasıv (2, 15) nicht anf die Erlebniſſe Pauli im Theſſulonich
wie fie Apg. 17, 6. 10 gefchiibert werden, wonach Paulus und
Silas perſonlich nichts erfitten and nicht aus ber Stadt hinaus
verfolgt wurden, fondern fid) vorher freiwillig entfernten Wem
endlich nach dem Brief allerdings ein Hauptgewicht der Prebigt anf
die Paruſielehre fiel (1, 10), jo kann die Apoftelgefihichte wit ihrer
bogmatiicdyen Charakterifierung der Predigt des Upoftels (17, 3),
hierfüt wicht die Quelle gewefen fein .
Set dir Apoftel von der Gemeinde getrennt ift, bat fie noch
ferner Bedrüngniffe zu erbulden gehabt (3, 3), an Paulus ift
ihr verdächtigt worden (2, 8. 5. 14. 17); Züge, bie an Heiner
geſchichtlichen Unwahrſcheinlichkeit in ben erften Zeiten nach ber
Entſtehung ber Gemeinde leiden. Ihnen zum Troft imd ſich zur
Beruhigung Hat datum Paulus ben Thimotheus zu ihnen gefandt
(3, 1 ff.) Diefen Abſchnitt ut Baur (U, ©. 95 ff. 348 f.)
mit 2 Kor. 2, 125 7,5 f. der Suche, den Umſtändtn und ben
Worten nad fo ühnlith gefunden, daß er eine Nachbildung jener
Korintherftellen darin vermutet. Die Stimmung bes Paulus, welche
2 ſtor. 2, 18; 7,5 mit oda av Öbveoev, 1Theſſ. 3, 1 trotz
diefer boppelten Vorlage Mit areysı, einem echt paulinifchen Aus»
drud (1 Kor. 9, 125 18, 7) bezeichnet ft, tft 2Kor. 2, 13 damit
motiviert, daß Paulus den Titus nicht fand, 2er. 7, 5 damit,
daß ihn EmIer are Euudev oh quälen, 1Theſſ. 3 aber
damit, daß er bie Theſſalonicher fehen möchte und dazu nicht Zeit
1) Wir fliehen nit an, Manen (S. 37) beizuftiimmen, der auch die Be⸗
ſchränkung des Aufenthalts Pauli in Theffaldnich anf drei Wochen, wie fie bie
Apoſtelgeſchtchte angiebt, auf Grund unferes Briefes als unwahrſchrinkich bezwei⸗
felt: „Der Eindruck, welchen der Brief macht auf Anen Leſer, der nichts von
der Apoſtelgeſchichte weiß, kann wohl kein anderer fein, als der, daß Paulus
längere Zeit mit dem beſten Erfolg unter den Thefſalonichern gearbeitet bat,
Freud? und Leid mit ihnen teilte und darum fo begierig war, fie, feine Freunde,
die er wie ein Water feine Kinder etrmahnt und getebſtet (2, 11), wieder zu
Beben, . öbgleich vr noch nicht Tomte von ihnen gefthiebent war.
19*
2% v. Soben
findet; in 28or. 2 treibt fie ihn zur Weiterreife, in 2 or. 7
wird fie durch des Titus Ankunft, im 1 Chef. 3 aber durch des
Zimotheus Abfendung gehoben, deren Zwedbeftimmung überdies B.2f.
ohne jeden Anklang an 2 Kor. ift, dagegen in Röm. 1, 11 eine Parallele
hat. Und während 2 Kor. 7, 6f. Baulus in erfter Linie durch die
Rückkehr des Titus, erft in zweiter durch deifen Berichte beruhigt
tft, jo freut er ſich 1 Theſſ. 3, 6 f. nur über die Nachrichten von
jeiner Gemeinde. Und wie fchon hierin der feine pfychologifche
Unterfchied zu Tage tritt, daB es fih 2Kor. 7 vielmehr um eine
perfönliche Gemütsftimmung des Paulus, 1 Theſſ. 3 um eine amt:
liche Sorge des Apoftel® handelt, jo bewahren die Referate über
die Berichte diefe Färbung; dort betreffen fie nur die Beziehungen
zur Berfon des Apoftels (7, 7), bier vor allem den religiöfen Zu:
ftand der Gemeinde (3, 6, vgl. 7). Es bleibt nur übrig die
Thatfache der Sendung eines Apoftelgehilfen, von der Baur jelbit
fagt: „es verfteht fih von felbit, daß ein folcher Fall in bem
Leben des Apofteld mehr als einmal ftattfinden konnte” (S. 348),
und welche ein PBanliner doch unmöglich der Thefjalonichergemeinde
aufzudichten wagen konnte. Iſt es nun überdies nicht gelungen,
irgendeine Bedeutung diefer Epifode für den von Baur vermuteten
Zweck de8 Briefes, werde er nun in eschatologiſcher Belehrung
oder in Berteidigung reſp. Rehabilitierung des Apoftels gefucht, zu
entdeden, fo füllt auch der letzte Grund zur ‚Vermutung einer
Imitation der Korintherjtellen weg. — Aber au mit der Apoſtel⸗
gejchichte berührt fich unfer Abfchnitt, und Baur hat einerfeits aus
der Ähnlichkeit der Angaben auf Titterarifche Abhängigfeit, anderſeits
aus der Unvereinbarkeit derſelben auf geſchichtliche Unrichtigkeit un⸗
ſerer Briefſtelle geſchloſſen. In Wahrheit aber macht die Unver⸗
einbarkeit der erzählten Situationen eine litterariſche Abhängigkeit
im höchſten Grade unwahrſcheinlich, wie ſie anderſeits unentſchieden
läßt, welcher der beiden Berichte ungeſchichtlich ſei. Während dar⸗
um Vies, der mit Schrader (Ap. Paulus I, 69), Wurm (Tüb.
3.f. Th. 33, ©. 76), Yowett (Ep. of St. Paul 2 ed. I, 216 ff.)
beide Darftellungen für abfolut unvereinbar erklärt (S. 23 ff.),
auf diefe Inſtanz gegen die Echtheit des Briefes verzichtet, weift
Manen, ber zum gleichen Reſultat kommt (S. 25 ff.), Baurs
Der erſte Theffalanicherbrief. 291
Benutzung bed. Verhältnifjes für feine Kritit treffend ab. Dennoch)
drängt fich die Frage auf, ob denn wirklich fich unverföhnlich wider⸗
Iprechende Angaben in Brief und Apoftelgefchichte vorliegen, weil
dies, da folchen beiläufigen Angaben der Apoftelgefchichte doch ohne
Zweifel gefchichtliche Thatfachen zugrunde liegen, doch nicht jo ganz
leicht für unfern Bericht zu tragen wäre, wie Manen meint. In
der Apoftelgefchichte taucht 17, 14 in Berda neben Paulus und
Silas noch Timotheus auf, während 16, 19. 40, alfo auch 17,
1, dann ebenfo 17, 4. 10 nur von Paulus und Silas die Rede
ift, diefe ſyſtematiſche Ignorierung des Timotheus aber damit, daß
dee Verfaſſer fchon vor 17, 14 fein Vorhandenſein vorausſetzt,
unvereinbar ift. Er bat ſich alfo den Zimotheus in Beröa von
irgendwoher zu Paulus und Silas ftoßend gedacht. Don Beröa
geht Paufus voraus nad Athen (17, 14 f.), wo er fie erwartet
(8. 16), entjprechend feiner Weifung an fie, fo bald als möglich
wieber mit ihm zufommenzutreffen (V. 15). Über der Areopag⸗
rede wird aber dieſer Plan vergeſſen; 18, 1 zieht Paulus weiter
nad Korinth, und hier erft wird die Ankunft des Silas und Ti⸗
motheus gemeldet (V. 5). Soll, was in biefem Bericht pofitiv
behauptet ift, als geſchichtlich aufrecht erhalten bleiben, dann wird
fi) die Vereinigung desfelben mit den Angaben bes Briefes fchwer-
ih in ber von Hausrath amgegebenen Weife bewerkſtelligen
laffen, daß Timotheus doc den Apoftel in Athen getroffen babe
und von dort nach Theffalonich zurückgeſandt worden fei, da die
Anmefenheit des Zimotheus in Athen nicht hätte verjchwiegen
werden können, nachdem einmal angegeben war, daß Paulus
feine Gefährten dort erwartet habe. Wahrfcheinliher und mit
der Wahrheit beider Berichte vereinbar iſt die Annahme !),
daß Paulus durch Vermittelung eines Briefes oder eines Reiſenden
von Athen aus den in Berda zurüdgebliebenen Timotheus nad)
Theffalonich zurückbeordert Habe. Diefe Anderung des Planes war
dann die dem Verfaſſer der Apoftelgefchichte unbekannte Urfache von
ber Thatſache, die er getren referiert, daß Paulus, troßdem er
ursprünglich die beiden in Athen erwarten wollte (17, 16), doch
1) Ähnlich Hug, Wiefeler, Renf u. a.
292 u. Soben
allein weiter reift (18, 1) und erft in Korinth wieder mit ihnen
zufammentrifft (18, 5). Gegen dieſe Hypotheſe fpricht aber auch
der Brief nicht: drceupauen (3, 2), fest nicht notwendig das
Iolale Beifammenfein des Schickenden und bes Geſchickten voraus.
Koralsissew (3, 1) bedeutet nicht nur „weggehen von einem Po⸗
ſten“, fonbern auch „ausbleiben auf einem Boften*; einer Perſon
gegenüber nicht nur fie „verlaſſen“, fondeen auch fie „allein laffen* ;
der Ausbrud ift aber gang befonders berechtigt, wenn Paulus vor:
ber bie fefte Hoffnung gehegt Hatte, in Athen nicht allein zu fein;
ben dann fommt die Nichterfüllung biefer fehlen Zuverſicht, den
Timotheus bei fich zu haben, einem wirklichen „Werlaffenmwerben“,
alfe dem allerdings Hänfigeren Sinn von xesalsizeoder, un
gemein nahe. Silas wird dann inzwilchen in Berön geblieben fein,
dort Timothens zurüdzuerwarten und erft mit ihm zu Paulus zurüd-
zufehren. Auf diefe Weiſe laſſen fich beide Berichte wohl vereinigen,
mobei die hiſtoriſche Wahrfcheinlichleit und zugleich volle Selbr
fänbigkeit der Angabe unferes Briefes auch durch Vergleihuug mit
dem Bericht der Kpoftelgefhichte von neuen erhärtet wird.
Reben den bisher beſprochenen pofitinen Angaben, bie ber Ver⸗
faffer felbft macht, Haben num den Brief noch eine Reihe anberer
Behauptungen, bie in ber vom Brief markierten Zeit gefchichtlich
zu begreifen fchwierig feien und Zuftänbe einer fpäteren Entwicke⸗
lungszeit der Gemeinde verraten follen, in Verbacht gebracht. Beim
Außerlicheren anzufangen — „wie kann benn von Chriften einer
kaum erft geftifteien Gemeinde gefagt werben, dag fie Vorbilder
gewefen fein allen Glaubenden in Macedonien und Achaja, daß
ber Auf von Ihrer Aunahme bes Wortes des Herrn nicht bloß in
Macehonien und Achaja fi) verbreitet Habe, fondern aud ihr Glaube
&v wavvi vba EEehhludev, daß bie Leute allerorten davon er⸗
zübfen, wie fie ſich befehrt und von den Götzen zu Gott gewenbet
haben?" (Baur ©. 98; ebenſo Vies ©. 51 ff.) Aber waren
benn nicht Paulus ſelbſt und feine Gefährten von Theſſalonich
buch Macedonien und Achaja gewandert? wird er da gejchiwiegen
baben von feinen Erfolgen in Theſſalonich? Und wenn bies nicht
genügte, fo that die Verfolgung, welche die junge Gemeinde zu er
tragen hatte, das ihre; denn non felchen Exeigniſſen nerbreitet ſich
Der erſte Theffalonicherhrief. 298
allüberall das Gerede raſch. Endlich war Theffalonich eine berühmte,
überalihin handeltreibende Weltftabt, die mitten im lebhafteften Verkehr
ftand; können nicht Matroſen, können nicht Zandboten den Kreifen
angehört haben; in denen das Ebriftentum angenommen tefp. an⸗
gefeindet wurde, unb bie Nachricht von ber Gründung einer
Ehriftengemeinhe in Theſſalonich auf ihren Meifen, lobend oder ta-
deind, verbreitet Haben? Daß Paulus überall die fchon gegrün.
deten Gemeinden bei Neugründungen als Barbilder aufftellte, in⸗
dem er fir) einfach darauf berief, Vorbilder aljo nicht in fittlicher
Bolllommenpeit, fondern in der opferwilligen Aunahme des Evan⸗
geliums (B. 6) — und dies find fie, ob es kurz ober lange ber ift,
baß fie es annahmen — Äft nicht nur möglid, fondern höchſt
naheliegend; war doch, die einen Gemeinden den anderen als Vor⸗
bilder barzuftellen, nah 2Kor. 8, 1; 9, 2 paulinifche Praxis.
Daß Paulus jelbft einen großen Wert darauf legte, daB die Exi⸗
ftenz von Gemeinden möglichit belannt werde, zeigt Röm. 1, 8,
wo er als Gegenftand feines befonberen Dankes gegen Gott hervor»
bebt, daß man überall von dem Glauben ber römiſchen Gemeinde
erzähle. Zu der Übertreibung dv suavst sorrp (B. 8) endlich,
deren Bedeutung felbft übertrieben wurde, vgl. Röm. 1, 8. 1or.
4, 17%, Kol. 1, 6. — Auch was 4, 9 f. über den religiöfen
Stand der Gemeinde noch beftimmter gefagt wird, foll nah Baur
in fo kurzer Zeit nach Gründung der Gemeinde nicht denkbar ſein.
Als „eine ſchon allgemein erprobte Tugend“ wird die Bruderliebe
ber Theffalonicher aber nicht „gerühmt“, wie Baur fagt; fondern
diefe werben nur Feodidanros genannt in Beziehung nuf die Nächſten⸗
liebe, was eine lückenloſe, praltiiche Übung der göttlichen Lehre
feineswegs einſchließt, und bann fpeziell ob ihrer Liebeserweife gegen
die macedoniſchen Gemeinden belobt; daneben hat nod viel Mangel
an Liebe im Einzelverlehr, namentlich innerhalb des eigenen Ger
meindelebens Raum; und daß folder Mangel vorhanden ift, zeigt
die angeſchloſſene Mahnung zuegiovedesr udldov. Begeiſterte Er⸗
kenntnis der Liebespflicht, fleißige Ubung derſelben in äußeren Wer
ken (vermutlich Geldbeiträgen oder Gaſtfreundſchaft gegen die Brüder
in Macedonien), aber Unvollkommenheit der Liebe im täglichen
Leben und Verkehr — ift das nicht ein ſehr wahricheinliches Bild
294 v. Soden
einer jungen Chriftengemeinde? Überdies gehört es zur pädagogi⸗
ſchen Weisheit bes Paulus, mit voller Anerlennung des vorhande⸗
nen Lobenswerten eine Mahnung zu beginnen, wobei infolge ber
pleropborifchen Faſſung ber erfteren leicht der Eindrud eines Wider
ſpruchs entfteht; vgl. 1 Kor. 1, A—9 und den folgenden Inhalt;
1Ror. 8, 1umd 7; 11,1 und das Folgende; 2 Kor. 8, 7 und den
übrigen Briefinhalt; Sal. 4, 14 f. und das Folgende; 5, 7 und bas
Folgende; ebenjo Phil. 1, 5 und 9, und in unferem Brief das Rob
1,7 und die Mahnungen 4, 1—8. Auch in dem 4, 11 f. gerügten
Verhalten einzelner Gemeinbeglieder findet Baur Züge der fpäteren
mit Baruftehoffnung und apofalyptifchen Ideen lebhaft befchäftigten
Zeit. Aber follte nicht gerade unter dem erften Eindrud der
Barufieprebigt, unter Neben, wie wir fie 1Ror. 7, 29 f. bi
Paulus felbft finden, die Erregung ber Gemüter befonders ftarl
gewefen, follte nicht gerade in der erften Begeifterung für dieſe
Hoffnung Recht und Pflicht der Arbeit am Teichteften vergeſſen
worden fein? Auch dag nad 4, 13 ſchon Todesfälle vorgekom⸗
men find, findet Baur auffallend. Aber genügte nicht ein einziger
Fall, um die Frage zepi av norıuwuswov wachzurufen? gewiß
mußten bies gerade die erften Todesfälle thun, während bei einer
zweiten Generation, die fi) ans Sterben ber Ehriften gewöhnt Hatte,
das nachträglihe Auftauchen folder Bedenken doch viel Schwerer zu
begreifen wäre. Aber auch dem Paulus felbft foll der Verfaſſer
Anachroniftiiches aufgedichtet haben, nämlih die Sehnſucht nad
dem Wiederjehen der Gemeinde (2, 17 f.; 3, 10). Baur finde
auffallend, daß der Apoftel nad fo kurzer Zeit der Trennung nidt
bloß den wiederholten Wunſch, fondern den ein» und zweimal ge
faßten, nur durch den Satan hintertriebenen Vorſatz gehabt haben
fol, wieder nach Thefjalonich zu kommen, und daß er fchon in der
erften Zeit feines Aufenthaltes in Korinth unter den Sorgen und
Bemühungen, mit welchen ihn die Gründung einer neuen Gemeinde
in Anſpruch nahm und fefthielt, ſich fo leicht dazu hätte entfchlichen
können (347 f.). An fich ift die Sehnfucht die entfernten Brüder
wieberzufehen, wie überhaupt der Wunfch nach perſönlichem Verkehr
dem lebhaften Fühlen Bault freilich fo natürlich, und fo oft hat er
mit Vorliebe ſolchen Gefühlen Ausdruck gegeben, dag Baur eine
Der erſte Theſſalonicherbrief. 290
Nachahmung vonfeiten unferes Verfaffers vermutet (vgl. Sal. 4, 20.
18or. 16, 7. 8. 2Kor. 1, 15 f.. Röm. 1, 10. 13; 15, 23.
Phil. 8, 25). Aber auch fein einziges Wörtlein haben die Stellen
unfere® Briefes mit den angeführten gemein, jo daß die Vergleichung
nur den Eindruck Hinterläßt, daß unfer Brief und jene Stellen über»
einftimmend von einem und demſelben lebhaften Naturell Zeugnis ab»
legen. In dem im Theſſalonicherbrief vorausgejegten Fall mußte
diefe Sehnfucht fi ganz beſonders dringend äußern, da der Apoſtel
vor der Zeit und plötzlich die Gemeinde hatte verlaffen müſſen, noch
ehe feine Arbeit an ihr zu einem befriedigenden Abſchluß gekommen
war. Und gerade wenn er in Korinth jett erfahren durfte, wie
notwendig und wie fegensreich feine längere Anwefenheit und dauernde
Wirkſamkeit für die griechifchen Gemeinden war (denn was Apg.
18, 1—4 erzählt, kann ja lange Zeit hindurch gedauert haben),
mußte er doppelt bedauern, fo bald von feinen Theffalonichern ger
trennt worden zu fein, und doppelt lebhaft wünfchen, auch ihnen
zuteil werden zu laffen, was er jetzt der korinthifchen Gemeinde Teiften
konnte xaragriocı va dorepiuara rg iorews (3, 10). Nir⸗
gends aber ift angedentet, was Baur ohne weiteres vorausjegt und
worin er eine nene Schwierigkeit fieht, daß es die erfte Zeit des korin⸗
thifchen Aufenthaltes des Paulus, da die Gründung ber Gemeinde
den poftel noch in Anſpruch nahm und fefthielt, war, in der er
Schreibt, auch Liegt in dem Ausdrud vurzög nal Tusoag deduevo
eis vo Ideiv Öudv TO cooo@rcov nicht, daß der Apoftel alsbald
hätte reifen wollen, wenn ihm Gott Gelegenheit geboten hätte, Sondern
daß er wänfchte, noch einmal Gelegenheit zu befommen, die Theſſa⸗
lonicher zu ſehen; dabei fann er bei fich als felbftverftändlich voraus»
gefegt Haben, daß dies nicht möglich fei, fo lange ihn die korinthiſche
Gemeinde fo fehr befchäftige. Der zweimalige fefte Plan, fie zu ſehen
(2, 17), fällt dagegen vor die Sendung des Timothens, alfo vor
die Reife nad) Korinth (3, 1), fomit in die Zeit des Aufenthaltes
in Derda und Athen; warum der .Apoftel damals, da er ohnedies
im Reifen war, jenen Plan nicht wiederholt ſollte gefaßt haben können,
im Gedanten, dag jet die Stürme in Theffalonich fich gelegt haben
werden und er ungeftört fein Wert an den Thefjalonichern fort⸗
fegen und vollenden könne, tft nicht einzufehen.
a8 v. Soben
Nun follen aber gar zwei ganz deutliche Beweiſe für bie Ent-
ftehung des Briefes in einer fpäteren Zeit im Briefe enthalten
fein, nämlih 5, 27 und 2, 16. Vies nimmt geradezu 5, 27
zum entfcheidenden Anlaß, bie Hhpothefe einer fpäteren Entftehung
durch den ganzen Brief durchzuführen, indem er ſich in der Er⸗
Härung an Baur anſchließt; er erkennt in der fo nachdrücklich ges
gebenen Erinnerung 5, 27 „die Anfiht einer Zeit, welche in den
Briefen der Apoftel nicht mehr die natürlichen Mittel der geiftigen
Mitteilung, fonbern ein Heiligtum fehen, welchem man bie fchul-
dige Verehrung dadurch erwies, daß man fih mit Ihrem Inhalt
fo genau als möglich, beſonders durch öffentliches Vorlefen, bekannt
machte, woraus dann die Sitte entftand, folche und andere für
wichtig gehaltene Briefe in ber Gemeinde wiederholt öffentlich vorzu⸗
Iefen“ (&. 106f.). Schrader (B. 36) bat in dem Vers eine Zeit
vorausgeſetzt gefunden, „in. der fchon ein abgefonderter Klerus die
firchlichen Angelegenheiten leitete”. Gegen Schrader entfcheidet ber
Brief felbft, der nirgends die Exiſtenz eines Klerus anbentet, und
auch die Aufforderung 5, 27 nicht an Kleriker, fordern an die
Brüder richtet. Aber auch von einem Bffentlichen, feierlichen Vor⸗
lefen des Briefes fagt unfer Vers nichts; gar die Sitte ber wieber-
holten Lektionen darin zu erfennen, verbietet der Aoriſtus dva-
yoacIMvaı; abgejehen davon, daß dann der Brief kaum vor bie
Mitte des 2. Yahrhunderts geſetzt werden könnte und daB das
zvopuibev zur Unterftäßung einer ſchon herrfchend werdenden Sitte
ein unnötiger Aufwand wäre. Man braucht nit mit Olshauſen
anzunehmen, daß die Unannehmlichkeiten, bie etwa nach ben An⸗
beutungen 5, 12 f. zwiſchen der Gemeinde und ihren Leitern vor-
gefallen waren, ben Apoftel zu diefee Mahnung genötigt hätten
(fonft müßte fie eben an die Leiter gerichtet fein), oder mit Manen
(S. 89), dag der Verfafſer hier nicht zu allen, fondern zu einigen
Gliedern der Gemeinde fpreche, oder mit Flatt, daß unter ben
zrögıy vois Adelpoig alle Brijder Macebonjens verftanden feien;
fondern man laffe der Mahnung ihre Adreffe an alle Brüder in
Theſſalonich, ftelle fi) aber diefe Brüder in verfchtedenen Woh-
nungen verteilt por, ohne eine geordnete, regelmäßige, von allen
befuchte gottesdienftlicde Bereinigung, vielleicht unter fi nicht ganz
Der erfte Theſfſalonicherbrief. 291
einig, wie 5, 14; 4, 9. 10 durchſchimmern läßt, vielleicht einem
Teile nach in ihrer vertrauensvollen Liebe zu Paulus erjchüttert
und darum ohne reges Intereſſe (2, 3 ff.), fo ericheint die Mah⸗
nung auch in ber Zeit und aus dem Munde des Paulus wohl«
begründet. Überdies Haben wir kein Recht, zu bezweifeln, daß
Paulus, als er begann, Gemeindebriefe zu fehreiben, alsbald ſich
überlegt habe, daß diefe Briefe als Einigungs-, ja als Miſſions⸗
mittel dienen können, und daß er in ſolchem Gedanken bier die
Aufforderung zur alfgemeinen Mitteilung des Schreibens ausdrüd-
fi beigefügt habe. Daß dem Apoftel feine Briefe von allgemei-
nerer Bedeutung fchienen, zeigt bie Adreſſe 1 Kor. 1, 2 in ihrer
Allgemeinheit (vgl. auch 2 Kor. 1, 1, wo menigftens alle Gläu⸗
bigen Achajas eingefchloffen werden, und Kol. 4, 16 die Mah-
nung zum Anstaufch der Briefe mit Lapdicen).
Die andere Stelle 2, 16 foll Mar und deutlich auf die Zer⸗
ftörung Jeruſalems als eine vergangene Thatjache zurückweiſen und
jo ben Brief in die Zeit nad 70 verfegen. Dort ift nämlich) von
den Juden gefagt: EpIacev Erı’ abrods 7 deyn eis velog. Die
Bertreter ber Beziehung diefer Worte auf Jeruſalems Zerftörung
ſetzen bei dem Verfaſſer die Anficht voraus, daß mit der Zerftörung
Yerufalems das Zorngericht über bie Juden zur Endvollendung ge⸗
langt ſei; aber wie kann er dann zugleich von den ſchon vernich⸗
teten Juden noch in dem gegenüber dem Aorift dreoussıdvrov bop»
pelt prägnanten Präfens ſchreiben: In um dosondvrwv zei
nögıv dvggsros Erarriay, mohlvdrray Tuds Toig Edveoı
kalter; vote vollends kann er erft von der Zukunft das dva-
aimodoeı aurdw Tüs duaprias redvsore erwarten, wenn das
endgiftige Zorngericht ſchon Über fie ergangen tft? ‘Diefer unlös⸗
bare Widerfpruch bes Verfaſſers mit fich felbft bei jener Auffafjung
macht biefelbe unmöglich. Es kann fich angefichts diefer praesentia
und gar des futurifchen eis vo x. v. A. Überhaupt nicht um ein ab»
ſchließendes, in einer einmaligen gefchichtlichen Thatfache manifeftiertes
Zorngericht Handeln in unferem Ausspruch. Dies verlangen aber die
dabei gebrauchten Worte auch gar nicht; deyr iſt zunächft nur Aus⸗
druck für eine Stimmung und frhließt wicht ſchon in fich ſelbſt auch
den Begriff einer dem Zorn entjprechenden That ein. Von biefer
298 v. Soben
Stimmung heißt es EpIaoev dr arods eis rekoc; eig reine
aber ift fehr häufig Adverbium des Grades im Sinn von fun-
ditus, ohne jede Zeitbedeutung (vgl. Joh. 13, 1. Luk. 8, 5; bei
den LXX 2 Chron. 12, 12; 31, 1; Joſ. 8, 24. 4 Mof. 17,
13; ebenfo bei Profanfchriftftelleen der neuteftamentlichen Zeit vgl.
Bretſchneider, Lexikon; Vies, S. 64). Sollte der Ausdruck
feine Entftefung dem ovvrelsodn h̊ öoyz Dan. 11, 36 verbanten,
jo würde auch dies beweifen, daß er keineswegs ein terminus für
die Zerftörung Jeruſalems ift, wie Vies vorauszufelen ſcheint,
der eine Anfpielung auf Luk. 3, 21.23 vermutet (S. 107). Von
einer Vollendung des göttlichen Zornes gegen die Juden !), der auf
ihnen laftet al8 Teilhabern der menfchlihen Sündhaftigkeit (Röm.
1, 18—3, 20; vgl. bei. 2, 5), ber fich in der altteftamentlichen
Zeit ſchon entwidelt hat (Röm. 10, 19), Tann Paulus gar wohl
reden mit Beziehung auf die gegenwärtig fich vollziehenbe endgiltige
Verftocdung des Volkes; es ift Gottes Zorngericht, das fih in
der definitiven Verwerfung des Volkes, welche fich eben im dejien
Verſtocktheit beweift, vollendet nach dem Grundſatz Röm. 9, 15.
18. 22. In dem Ausbrechen der Zweige ohne jede Schonung
(11, 17. 21) und der Einfegung ber Heiden an die Stelle ber
Juden manifeftiert fi der Zorn Gottes 2). Damit ift das Boll
endgiltig verworfen, die Zerftörung Jeruſalems ift nur die äußere
Folge biefer Verwerfung. Iſt es nicht der echte Paulus, der die
Geſchicke feines Volkes fo tief, fo fittlich auffaßt und beurteilt,
1) Ähnlich, wenn auch nicht ganz zutreffend, Manen, &.69. Der Zar,
den die Juden fich allmählich fammelten (Röm.2, 5), ift auf fie gefommen bis
zum Ende, al® ein Zorn, ber, obwohl ſchon vorhanden, aber gedacht als rim
Meaffe, die Losbrechen fol, erft fpäter feine Folgen zeigen wird.
3) Man braucht alfo weder den Aoriſt futurifch zur deuten (fo frühe
Hilgenfeld), noh mit Grimm (Stud. u. Krit. 1850, ©. 774) eine Reihe
verhältnismäßig unbedeutender Einzelereignifie des Jahres 45 zufammen
fuchen, noch mit De Wette den Aoriſt von dem ſchon Beginnenden zu verſtehen,
indem der Apoſtel in der damaligen politiichen Lage der Juden fchon ihren
fünftigen Untergang ſchaute, noch endlich mit Hilgenfeld (Einl. ©. 249)
an ben Verluſt der flaatlichen Unabhängigkeit, das Joch der heidnifchen Herr⸗
ſchaft zu denken. Das erfte ift ſprachlich unmöglich, das zweite des großen ge
ſchichtlichen Blickes des Apoftels nicht würdig, das britte geziwungen, das vierte
war damals nichts Neues.
Der erſte Theffalonicherbrief. 399
während die Zeitgenoffen nur die herwortretenden äußeren Ereigniffe
fohen und notierten, wie die Zerftörung der heiligen Stadt?
Aber nicht nur das beiprochene Schlußwort eines zuſammen⸗
hängenden Abfchnitts, fondern dieſer jelbft, die Worte und Gedanken
von 2, 14—16 follen nah Baur (S. 96) „ein ganz unpaulini⸗
ſches Gepräge“ tragen und „nad der Apoftelgefchichte gebildet“
fein. Unpauliniſch follen dabei die über die Juden in V. 15f.
gebrauchten Ausdrüde fein. Zuerft werden drei geſchichtliche That⸗
ſachen, welche die Juden charakterifieren follen, ohne Urteilebeifügung -
referiert. Daß die Juden den Herrn und die Propheten getötet,
erwähnt Paulus auch fonft; das erftere 1Kor. 2, 8, das letztere
Kom. 11, 3; darin eine Nahahmung von Matth. 23, 31. 34
zu finden (Vies, S. 108), ift alfo unbegründet. Huds &xrdıw-
Sorıwv erinnert an Sal. 5, 11. 1Kor. 4, 12. 2Kor. 4, 9;
1l, 24; die Herbeiziehung von Matth. 23, 34 ift aljo gefucht;
wenn wir zugeben, daß den Apg. 17 erzählten Ereigniſſen in
Teſſalonich und Berda ein entfprechender biftorifcher Untergrund
nicht fehlen könne, jo ift der Ausdrud Exduwnsıv für die Art des
Vorgehens der Juden ganz beſonders treffend und genügte bie kurze
Charakterifierung, um in den Zefjalonichern die felbfterlebten draftis
hen Belege dafür in die Erinnerung zu rufen. Neben diefe in
feiner Weife unpaulinifche gefchichtlihe Charakteriftit der Juden
tritt eine zweite, welche ein Urteil einfchließt. Enge zufammen
wegen der gleichen Sagbildung und wegen der gegenfeitigen fach»
lihen Ergänzung gehören 300 un) dosonövswov und do dv-
Ionrros vavsiov. Hier ift niht nur Iew docoxeu eine pauli-
nifhe Phrafe (Röm. 8, 8. 1Kor. 7, 32) und die Nebeneinander-
ftellung des Verhältniſſes zu Gott einere und zu den Menfchen
anderſeits eine beliebte Gedanfenwendung des Apofteld (Gal. 1, 1.
10, 12. 1Kor. 14, 2. Röm. 2, 29 u. ö.), fondern in dem
ftarfen Ausdrud muß, wer des Apoſtels fcharfe, kaum abgemogene
Ausfälle gegen feine Gegner (vgl. Sal. 4, 30; 5,10. 12. 2Kor.
11, 3. 13. Röm. 2, 24. 25. Phil. 2, 3) kennt, des Apojtels
raſches Blut erkennen. Wenn Bies (S. 107) unglaublich findet,
dag gerade Paulus die Juden in fo ftarfen Ausdrüden wegen ber
Verfolgung der Chriſten, woran er doch felbft einft teilgenommen,
800 v. Soden
anfalle, fo vergißt er zu vergleichen, daß er imit derfelben Schärfe
über biefe feine eigene Vergangenheit redet 1Kor. 15, Sf. Dem
Urteil fügt aber Paulus felbft in dent epexegetiſch angehlingten
Particip eine Rechtfertigung bei, als ob er felbft fühlte, daß es
allerdings ohne biefen Beleg Hart und umbillig etſcheinen Lönnte:
Sie hindern bie Heidenpredigt, denn da biefe ben Heiden zur Nettung
dienen fol, beweifen die Juden fi damit als srdcım drdownox
&vavrior; und ba fie Gottes Wille ift (Gal. 1, 16. 10), al
ge un aokonovres. Der Ausbrud eis vo dvarıimodseı aörin
ros duagriag reivrors kann dann für fich allein keinen Verdachts⸗
grund mehr bilden; ihn aus Matth. 23, 32 abzuleiten umb fo dem
Berfaffer jenes Wortes eine Originalität zuzutrauen, die Ian dem
Schreiber unferer Stelle abfpricht, während beidemal nur alttefte-
mentliche Anfchauungen benust ſind (vgl. z. B. 1Moſ. 185, 16),
ift kritiſche Willkuüt. — Iſt fo der auf B. 15 ff. ruhende, ſchein⸗
bar fachlich begrämbete Verdacht widerlegt, fo wird der nur üſthetiſch
begränbett Einwurf gegen V. 14, daß nämlich die Vergleichung
der Schickſale bes Theſſalonicher mit den Chriftenverfolgimgen in
Judäa gefuht und für Paulus unangeineffen ſei (Baur, S. 96),
feine Hauptſtütze verlieren. Bon einer Abhängigkeit von der Apoſtel⸗
geichiete, die Baur vermutet, kann nicht die Rede fein, weil dort
Guben, bier Heiben die Widerfacher der Gemeinde find. Das
Schmerzlichſte und Untatürlichfte in ber Verfolgung, welche bie
Teffalonicher leiden mußten, war, baß biejelbe von ihren Volle⸗
genoffen, vielleicht von ihren WBlutsverwanbten ausging. Gerade
hierfür Zroft zu fchaffen durch Hinweifung auf ſolche, die in der⸗
jelben fchmerzlichen Weile Verfolgung leiden mußten, war nicht
„geſucht“, fondern im höchſten Grade zartfühlend. Und Hierfür
wählt der Apoftel die jübiſche Gemeinde, erſtens, weil vielleicht nod
feine heidniſche Gemeinde bamals eine befänntgetvordene Verfolgung
vonfeiten der Heiden erfahren Hatte, jedenfalls bie jeruſalemiſchen
Greigniffe, die Trennuttg vom Tempel, die Verfolgung und Ber-
fprengung der Gemeinden, der Märtyrertod des Stephanus und
Jacobus viel Leuchtendere Parallele bildeten, zweitens, weil dieſe
Stammgenofjenverfolgung ganz bejonders widerfprechend fegeinen
mußte, fofern das Ehriftentum doch ans den Schoß bes Juden⸗
Der erſte Theffälomicherbrief. 501
tums hervorgegangen war, alfo die jüdiſchen Chriften den Juden
noch viel tiger verwandt ſchienen als die der fremden Lehre an»
hängenden Heidendriften den Heiden, und drittens endlich, weil
Baulus ftets jede Gelegenheit wahrnahm, feine Gemeinden für die
urhriftlichen in Baläftina zu intereffteren (Gal. 2, 10. 2Xor.
8, 1f. vgl. Gal. 1, 22—2, 2). Eine vergleichende Zufammenftellung
beidnifcher und jüdiſcher Chriften ift aber dem Paulus überhaupt
nicht fernliegend (Röm. 15, 27. Bgl. 2Kor. 8, 13f.). So er-
färt fi denn die Zufanmenftellung völlig aus der Zeit, den Ge-
danken und Zwecken des gefchichtlichen Paulus heraus. Daß aber
Paulus die paläftinenfifchen Chriftenverfolgungen nicht hätte er-
wähnen können, ohne nuch feiner Beteiligung daran zu gedenken,
ft eine unbegreifliche Behäuptung. Sollten denn mit Pauli Bes
thrung die Berfolgungen aufgehört haben? oder follten wenigftens
nr jene Anfänge derjelben der Gemeinde und dem Baulus vor
der Erinnerung geftanden, ihre weitere Entwickelung aber, wie bei
ms infölge der uns fehlenden Berichte, ignoriert worden fein?
Und follte Paulus bei jeder Gelegenheit den einftigen Fehltritt ges
beihtet und feine Neue durüber zur Schau geftellt haben? gar,
wenn ſolche Erwähnung nur die Pointe hätte verwiſchen können,
wie bier, wo er die Juden als bleibende, verſtockte Feinde des
Epriftentums, fi aber als den von ihnen Berfolgten im Sinne
bat und eine Erwähnung der früheren Verſchiebung der Rollen
weiterer Auseinanderjegungen bedurft und der Stelle ihre kurze,
Ihlagenbe Klarheit geraubt hätte?
Mehr noch als alles bisher Beiprochene Kat aber ſtets den
Kritikern Anftoß zur Verſetzung des Briefs in fpätere nachpauli⸗
nische Zeiten gegeben die Selbitapologte des Apoftels 2, 3—13,
Die Vorwürfe, gegen die bier Baulus verteidigt wird, follen nicht
die lebhafte Farbe der paulinifchen Kampfesbilder tragen, fondern
„eine Abftraftion aus dem Konkreten der gejchichtlichen Verhält⸗
niffe“ 2), wie fie 3. B. aus den Korintherbriefen hervorgehen, fein.
Und darum follen die darin berührten Verleumbungen, troßbehi
1) Baur, ©. 344.
802 v. Soden
„es ſich von felbft verfteht, daß ein folcher Fall in dem Leben des
Apofteld mehr als einmal vorkommen konnte“, eine Nachahmung
der Korintherbriefe fein !). Diefe Vermutung nun mindeftens ift
eine völlig in der Luft ftehende, da ebenfo wenig die in der ganzen
Apologie gebrauchten Ausdrücke, als der Inhalt der Vorwürfe jelbft
irgendwie lebhaft an die Korintherbriefe erinnern 2). Dagegen ift
der erfte Einwand infoweit begründet, als allerdings den Vorwürfen,
um bie e8 fih 1Theſſ. 2 Handelt, jedes Eingehen auf den eigen
tümlichen Inhalt des Pauliniſchen Evangeliums und die paulinifchen
Grundfäge der Heldenmiffion fehlt. Eine theologiſche und, fagen
wir, firchenparteiliche Farbe fehlt ihnen allerdings; um fo Tebhafter
aber find die dem perfünlichen Charakter Bauli aufgetragenen Farben,
mit denen diefer farikiert wird. Als Quelle feines Evangeliums
(daher „Er“) ftellten die Berleumder zuAaoy oder dnadapoia auf,
theoretifchen Irrtum oder ethifche Unreinigfeit, dies einer mehr
objektive Wendung der Angriffe; oder fie ftellten, in fubjektiver
Drehung derfelben, den Apoftel als einen Betrüger hin (ev dsAw) ?).
Mit andern Worten: Die einen glaubten, was er predige, ſei Thor-
heit, die andern hielten ihn für einen Verführer zur Sittenlofigfeit,
bie dritten vermuteten in ihm einen Schwindler. Gegen alle dra
Borwürfe beruft fi der Paulus unferes Brief, ganz wie ber
Paulus der Galater⸗ und Korintherbriefe, darauf, daß ihm fein
Evangelium von Gott vertraut worden fei und dag er fich im feiner
Predigt genau daran halte, zugleich ſucht er bie Entftehung jener
Verleumdungen feiner Gemeinde dadurch erflärlich zu machen, daß
er bei feinem Predigen danach trachte, nicht den Menſchen zu ge
fallen, fordern Gott (vgl. hierzu Gal. 1,1.12.15; 2,7; 1, 10)
Nach diefer prinzipiellen Abweifung der Angriffe folgt nun aber
DB. 5 ff. noch die Widerlegung ihres konkreten Details gegen die
1) Bel. 1Kor. 2, 4; 4, 8f.; 9, 15. 2Ror. 2, 17; 5, 11.
2) Bol. dagegen allerdings die echtpaufinifchen Ausdrüde 2, 4 mıorevsede:
10 &vayysisov (Bol. 2, 7); oux ds avdpdsnos apeaxovrss (Bal. 1, 10).
3) Diefe klare logiſche Folge der drei Begriffe, in denen fich die Verdäch
tigungen zufammenfafjen, rechtfertigt die paffive Faflung von dan (= Irr-
tum); im Sinn von Betrug (aktiv) würde 8x nicht paffen und müßte es mit
doAos zufammengeftellt jein.
Der erſte Theffalonicherbrief. | 303
Unterftellung, Paulus wolle fich einfchmeicheln, beruft er fi auf
bie Gemeinde felbft (naIms ordare), offenbar mit Erinnerung an
manche ftrenge Rede, die fie von ihm hatte hören müſſen; gegen
den Verdacht, er wolle fich bereichern, ruft er Gott zum Zeugen
auf (Feög udorvs); die Nichtigkeit beider Verdächtigungen aber
weift er durch Berufung auf die damit unvereinbare Thatſache
zurüd, gegen bie man wohl auch Zweifel wachgerufen hatte, daß
er nicht Ehre gejucht babe bei Menſchen, jo wenig bei ihnen als
anderwärts, obgleich) er als Apoſtel Chrifti ſchon das Recht ge-
habt hätte, gewichtig aufzutreten, aber ftatt deffen Habe er nur
dienende, opferwillige Liebe bei ihnen geübt 1). Wie in nachträg⸗
Iiher Ausführung werden nun noch die beiden Vorwürfe von 3. 5
durch den Hinweis auf gefchichtliche Thatfachen widerlegt, V. 9f.,
zuerst der Vorwurf der zAeovedia, dann V. 11f. der der olaxie.
Es ift, als ob der Apoftel fich nach diefer Apologie nun ficher
fühlte; er fchliegt fie ab mit einem ‘Dank dafür, daß bie Teſſa⸗
Ionider damals fein Wort aufgenommen haben als Gottes Wort,
da8 ſeitdem fi) mächtig erweife in den Glaubenden; und läßt
darin die Zuverficht durchſchimmern, dag jene Verleumdungen feiner
Berfon ſie darin nicht irre machen werden. Ohne jeden vermitteln-
den Übergang knüpft er daran mit einem begrünbenden ydeo bie
Beiprechung der Bebrängniffe, welche die Gemeinde jelbft von ihren
heidniſchen Stammesgenoffen zu erdulden hatte (V. 14ff.).
Wie fchon bemerkt, treffen die Angriffe, gegen die hier Paulus
verteidigt wird, im feiner Weife fein Evangelium; fie tragen keinerlei
theologischen Parteicharafter. Hatten aber einmal die Yeindfelig-
keiten diefen Charakter angenommen, wie dies in der Zeit der
Salater- und Korintherbriefe der Fall ift, dann verfchwand er gewiß
nimmer und in feinem Stadium und auf einem Punkte des großen
Kampfes. Unfer Brief muß alſo in eine Zeit fallen, da diefe
1) Das ara ſcheint mir darauf zu weiſen, daß duwausvor mit obgleich
aufzulöſen ift, alfo die Negation in fi) birgt, an die «AA« anknüpft. ’Er
Bapes eivaı hätte ihm als Apoftel Ehrifti jedermann als ein Recht zugeftchen
müflen; aber fogar darauf, als auf einen Schein des dofav Inreiv (und viel-
licht der rAsovstie) verzichtete er, um ja keinen Anlaß zu Vorwürfen zu
geben, und hielt fich vielmehr wie ein Amos unter ihnen.
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 20
304 v. Soden
theologifch-firchlichen Kämpfe entweder noch nicht begonnen Hatten
oder fchon zur Ruhe gekommen waren. Lebteres ift aber nicht
denfbar, weil ja, fobald der Prinziptenlampf ausgefochten war, An-
griffe auf die Perfon des Paulus, wie wir fie hier finden, die nur
dem Kampf gegen fein Evangelium zue Stüße dienen follten (vgl.
2Ror. 10—13), feinen Sinn mehr hatten, alfo auch eine Ber-
teidigung des Apoftels zwecklos war. Weift uns fo die perfönlice
Art ber Feindfeligkeiten gegen den Apoftel in unferem Brief auf
eine Zeit vor dem Ausbruch des großen Brinzipienlampfes, von
dem fich darin keine Spur findet, fo ift der Abfchnitt 2, 3—13
ein zwingender Beweis für die Echtheit unferes Briefe.
Aber es entfteht nun die Trage, wen wir uns benn unter da
Gegnern, gegen die Paulus verteidigt wird, zu denken haben; ob
man fich wirkfich keine Mare Vorftellung von benfelben machen Tann
oder ob fie fich doch als Judaiſten einer fpäteren Zeitentwickelung
entpuppen. Diefe Frage hat Lipfins (St. u. Kr. 1854, S. 905 ff.)
ausführlich erörtert und folgendermaßen beantwortet; „Der erflt
Theflalonicherbrief bat gerade darum fo viel Intereſſe, weil bier
bie Oppoſition gegen den Apoftel nicht den beftimmt ausgeprägten
Charakter trägt wie in den Korintherbriefen.“ „Paulus fürchtet
die Bildung einer gegnerifchen, jubaifttfch-gefinnten Partei in Theſſa⸗
lonich.“ „Die Parteibildung gegen ihn ift noch nicht erfolgt; aber
die Elemente derſelben find ſchon dba, und der Apoſtel ſieht ben
Sturm gegen ſich heranziehen“ (914 ff.). Daß diefe entftehenden
Gegner aber zur Zeit jedenfalls feine Sendlinge der paläftinenfijchen
Ehriftengemeinden, aljo Leine Judaiſten fein können, fchließt Lipfius
mit Recht daraus, daß jene Gemeinden gleich darauf (2, 14) ald
Erempel für die Theffalonicher anufgeftellt werden. Er denkt fid
die Gegner darum noch als einfache Juden, bie aber auf dem
Punkt find, einen Zeil ber Ehriften zu einer judaiftifchen Partei
unter Berufung auf die jubenchriftlichen Paläftinagemeinden zu ver
einigen. Die Taktik des Apoftels ſei dem entfprechend die, erftlih
feinen eigenen Zufammenhang mit ben judiſchen Chriften darzulegen,
zweitens die jüdifchen Chriften von ben Juden zu trennen durch
Erinnerung an bie Berfolgung, welche in Baläftina bie” Juden⸗
riften von den Juden zu erfahren haben (2, 14). Zu diejer
Der erfte Theffalomicherbrief. 506
Enreihung der in unferem Brief angedeuteten Kämpfe in die Aus⸗
einanderfegung Pauli mit dem Indaismus glaubt ſich Lipfius ber
rehtigt, auf Grund des Ansfalls gegen die Yuden 2, 16f. Diefer
jei dadurch veranlaßt, daß Paulus „perfönlich angegriffen worden
fi um ded Evangeliums willen, gerade um des willen, weil er
ala Heidennpoftel auftrat” (S. I14f.). Uber die Heidenpredigt des
Paulus war doch gewiß für; bie Juden Teiln Anlaß, gegen den
Apoftel vorzugehen, fonderh daß ex überhaupt Ehriftum verkündigte
und gar fein Kreuz, nur das kann Gegenftand ihres Ärgerniſſes
geweſen fein; und nur als sine Folge diefer antihriftlichen, nicht
bloß antipaufinifchen Stimmung der Yuden (70v «ai vor uigıov
Ioodv dreonreivdvsov u. 5. M. B. 15) hebt Paulus, weil dies
für die Heiden, an die er fchreibt, von befonderer Wichtigkeit ift,
hervor, daß die Juden auf diefe Weife, indem fie jene antichrift-
liche Feindſeligkeit auch gegen den Heidenapoftel Paulus üben, die
Heiden verhindern, zum Hell zu gelangen. Die Juden aber hätten
Überhaupt ganz andere Vorwürfe gegen ben Abtrlinnigen erhoben,
als die oben aus unferem Brief zufammengeftellten. „Wie läßt
fih denken, Haß die Juden als Gegner des Apoſtels fich mit dem
Vorwurf der rAsovekie u. |. w. begnügten? Sie vermwerfen ent»
weder ſchlechthin das Evangelium als andvdaiov oder hakten den
Apoftel vor allem als Mpoftaten amd Gejegesfeind“ (Baur ©. 346),
Reiner der Vorwürfe ift Bezeichnend für jüdiſche Gegner; wenn
kipſius (S. 910) die vorgeworfene srAden, fie aktte faſſend, dahin
deutet, daß „Paulus, obwohl Nationaljude, dennoch unter den Leiden
das Evangelium lehrte, one diefen das moſaiſche Geſetz, insbeſondere
die Beſchneidung aufzuerlegen“, fo iſt dns erft hineingedentet; führt
überdied nur Judaiſten und nicht Juden als die Verläumder auf.
Die treffend eignet ſich dagegen ber Vorwurf der eidg, allerdings
im paffiven, oben verteibdigten Sinn des Wortes, für den geiſtes⸗
ſtolzen Griechen, dent das Kreuz und die ganze Predigt Panft eine
Thorheit ift (1Kor. 1, 23; 2, 1214). Daß aber die Gegumr
des Apoftels in Tcheffalonich wirklich Heiden geweſen fein, darauf
führt mit großer Wahrfcheinlichkeit die enge Verbindung, in die der
Apoſtel feine Apologie mit der Erwähnung der von den Heiden
ausgehenden Bedrängniſſe der Gemeinde bringt 2, I—13. 14ff.
20 *
806 v. Soben
Daß jene Bedrängnifje nur die thatkräftige Begleitung der Angriffe
gegen den Apoftel waren, mit dem gemeinfamen Zweck, die ge-
wonnenen Chriften von dem neuen Glauben wieder abzubringen,
jcheint 3, 1ff. zu zeigen. Die IAwyes bringen die Gemeinde
in die Gefahr des oalverdaı mit beftimmter Beziehung auf den
Slauben; der Apoftel fürchtet, unewg Erreigaoev öuds 6 na-
edlww nal eis nevöv yErmsaı 6 abrcos huav; er ſendet den
Zimotheus eig To ormoläaı Öuägs nal saganaltoaı Örcep Tig
zciorews ducv und freut fi) des Timotheus evayyslısausvov
quũv viv niorıw nal ν Aydrıw bußv nal Örı Exere uveiay
humv dyasıy ndvrors, ErrınoJodvres huds ideiv, nasüs
nei Tueig Önäs, und Örı orıjmers Ev nvoip. Diefe Verbindung
des Objektiven und des Berfönlichen in ber Befürchtung des Paulus
inbetreff des Einfluffes der HArwers und in ber Meldung des
Zimotheus fcheint darauf zu deuten, daß gerade mit den SAdıyars,
bie zunächſt nur die Gefahr des Abfalls vom Chriftentum brachten,
jene perfünlichen Angriffe gegen Baulus, die den Abfall vom Apoftel
bezwedten, Hand in Hand gingen. Auch Lipfins fühlt, daß die
Drangfale in einer folchen Beziehung zu den Angriffen gegen den
Apoftel ftehen: „Verharrten aber die Teffalonicher beim paulinifchen
Epriftentum, fo warteten ihrer natürlich neue Angriffe, neue Drang.
fale, neue Verſuche, ihren Glauben zu erfchüttern. Daher denn
die Ermahnung V. 3f.“ Aber die Beitimmung der Gegner des
Paulus in Theſſalonich als Juden offenbart fi gerade bei biefer
gewiß begründeten Zufammenftellung der Polemik gegen Baulus
und der Drangfale der Gemeinde als unmöglich, fofern dann ja
auch. die Drangfale ald von ben Juden ausgehend voransgefegt
werden müßten, wie die Angriffe gegen Paulus, dies aber ber
Haren Angabe 2, 14 widerfpricht, wonach bie Helden die Verfolger
der Gemeinde waren.
Iſt es fomit das Wahrfcheinlichfte, daß die Verleumbungen des
Apoftels in Theſſalonich von Heiden ansgingen und daß fie darum
eben jebes theologische Gepräge entbehren, fo find die Gründe, bie
Dies ©. 53—61 aus der Art, wie Baulus hier „gegen bie An⸗
griffe der Juden“ fich verteldige, gegen die Echtheit des Briefes
geltend macht, ebenfo hinfällig, als der Einwurf Baurs, daB bie
Der erſte Theffalonicherhrief. 7
„mdatftifchen“ Beſchuldigungen gegen Paulus in. unferem Briefe
im Vergleich zu 2Kox. 10— 13 farblos fein. Unſer Brief ift
donn vielmehr ein neben 1Kor. 1, 23; 2, 14 hergehendes inter-
eſſantes Zeugnis aus der Zeit der erften Berührung von Heiden»
tum und Chriftentum, darüber, was für einen Eindrud das Chriftens
tum auf die Heiden gemacht und auf welche Weiſe fie fich des⸗
jelben zunächft zu erwehren gefucht haben. Wie Hug aber waren
ihre Angriffe, die dem neuen Glauben galten, auf die Perfon des Ver⸗
treter8 desfelben zugefpigt, um auf eine Gemeinde einzumirken, deren
Belehrung fo fehr auf perfänlichen Eindrücken berubte, wie dies
nah 1, 5. 9; 2, 7. 8. 11; 3, 6 (hier ift es daraus zu fchließen,
daß Paulus fchon wejentlich beruhigt ift, feit er der Gefühle der
Gemeinde gegen ihn perfönlich ſicher ift) in Theffalonich der Fall
gewefen fein muß. Während Lipfins von den Übrigen Stellen, die
er noch im Sinne feiner Auffaffung der Gegner deutet, ſelbſt zus
gefteht, Daß fie auch eine andere Deutung zulaffen, glaubt er noch
die Stelle 5, 19— 22 nur aus feinen Vorausfegungen der Ges
meindeverhältniffe heraus befriedigend erflären zu können. Er be=
sieht V. 21 und 22 auf die vorher zur vollen Achtung empfohlene
Prophette, und fieht darin eine „Mahnung zur Vorficht gegen folche
Lehrer, welche (um fich ungeftörten Eingang zu verfchaffen, unter
dem Vorwand bes freien chriftlichen Charisma, ber Prophetie) auf
Untergrabung bes von Paulus gepflanzten Glaubens Hinzielen
mochten” (S. 931). Aber wenn die Prophetie in folcher Weiſe
mißbraucht worden wäre, jo hätte Paulus gewiß nicht obenan die ganz
vorbehaltslofe Ermahnung geſetzt: zo ruvsdun un aßevvuss, vv
noophseiav un &5ovFeveise; fondern er hätte zuerft gewarnt, und
dann Timitierend beigefügt: doch fage ich damit nicht, daß ihr dem
Beift däͤmpfen, die Prophetie für nichts achten ſollt. Waren bie
falfchen Propheten fo weit durchgedrungen, daß Paulus zu der Apo«
logetit von Kap. 2 fich genötigt fah, dann Tag Überdies darin ein
Beweis, daß bie Theffalonicher die Propheten keineswegs für nichts
achten, ben Geift keineswegs dämpfen; die Mahnımg V. 19f. wäre
aljo eigentlich ganz Überflüffig und nur mißverftändlich gewefen. Bei
B. 21f. aber ift gar kein Grund vorhanden, ben Mahnungen ihren
ganz allgemeinen ethischen Charakter zu nehmen; cd KuAdv narag-.
808 — v. Goben
yabeodat, seorsiv iſt ein pauliniſcher Ausdruck, allgemein ethiſchen
Charakters (Röm. 7, 18. 2Kor. 13, 7. Gal. 6, 9), alſs wohl auch
sd nardv narsdysıv, und 70» eldog swovnodr ift ebenfo ein ganz
allgemeiner Begriff; vielleicht kann mit Hilgenfeld (Einl. S. 246)
eldog beſtimmter im Sinn von , Aublick“ gefaßt und die Warnung
auf die fchäbfichen und verführerifchen Schauftellungen des Heiben-
tum® bezogen werden. So erklärt fih die ganze Stelle gut ohne
bie Beziehungen, welche Lipfins darin gefucht Hat.
Faſſen wir das Reſultat unferer Sinzelunterfuchungen zufam-
men: Reine Stelle im erften Theſſalonicherbrief trägt das Ge
präge des Unpaulinifchen, keine verurfacht bei der Annahme feines
pauliniſchen Urfprumgs Schwierigkeiten in bogmatifcher ober hiſto⸗
rifcher Beziehung; viele tragen bei aller Originalität der ſprach⸗
Then Yorm den umverwiſchbaren Stempel paulinifchen Gemitthes,
paufinifchen Geiftes, paulinifcher Ideen.
Iſt fo Fein Grund vorhanden, den Brief dem Paulus abzu-
fprechen und in eine fpätere Zeit zu verlegen, fo mag ſchließlich
als Kritil der Kritit demjenigen, was ſchon im Lauf der Unter⸗
ſuchung beiläufig Über die Schwierigkeit gefagt worben ift, welde
auf der Hypotheſe einer fpäteren Entftehung des Briefes Laften,
noch einiges beigefügt werden. Baur jagt (S. 94 f.): „ Die
Bedeutungslofigkeit des Inhaltes, der Mangel an allem ſpeziellen
Intereſſe und an einer beftimmt motivierten Beranlaffung ift an
fich ſchon ein Kriterium, das gegen den paulinifchen Urſprung
ſpricht.“ Soweit die Hierin gegebene Charakteriftik zutrifft, macht
fie vielmehr gerade die fpätere Entfiehung des Briefes zu einem
Kätjel: Hier Handelt es ſich nit um apolafyptifche Enthülfungen,
wie Im zweiten Theffalonicherbrief, nicht um gnoſtiſche Dogmatik, wie
in den von mir als SInterpolationen angefehenen Stelfen des Ko⸗
fofferbriefes *), nicht um Tatholifterende kirchliche Zwecke, wie im
Epheferbrief, nicht um Befeſtigung hierarchiſcher Inſtitutionen, wie
in den Baftoralbriefen, nicht um Troft in unerhörter Verfolgung,
1) Bol. Hierzu meine 3. 3. unter ber Prefje befindlichen Unterfuchungen
in den Jahrbh. f. prot. Theologie, im welchen ich die Stellen Kol. 1, 15-—20;
2, 10. 15. 18 als ſolche nachzuweiſen verfuche.
Der erfte Theffalontcherbrief. 808
wie im erften Petrusbrief, nicht um nachdrückliche Hervorkehrung der
Moral des Ehriftentums, wie im Jakobusbrief. Dem Brief fehlt
jede beftiimmte Einzeltendenz; er bient weder der Zurechtlegung einer
neuen Zeiterfcheinung noch der Vorbereitung einer neuen Zeitidee.
Die alter theologifchsreligiöfen Momente bare Apologie des Apoftels,
wie fle Kap. 2 geführt wird, hat in einer Zeit, da es ſich nicht
mehr um die Perfon des Apoftels, fondern um fein Prinzip hans
beit, keinen Stun und keine Kraft mehr; die Beruhigung über bie
Geſtorbenen kommt bei einer zweiten Generation zu fpät, und über⸗
dies teitt weder das eine noch das andere als der Anlaß und Zwed
des Briefes in beherrfchender Weife in demſelben hervor. Die
Farben einer fpäteren Zeit: Streit oder Vermittelungsverſuch zwi⸗
: hen Judaiften und Helleniften, Ausbildung des Tirchlichen Amtes
(mt einmal goiordusror wird 5, 12 als ein gewohnter Titel,
ſondern wie der Beiſatz &v xvoip zeigt, als eine perfünfiche Be⸗
zeihmung gebraucht; die Anfforberungen 5, 14 wäre in der Zeit
nach Paulus gewiß nimmer an die Gemeinde, fondern an deren
Vorſteher gerichtet), Eindringen einer entwidelteren, guoftifierenden
Dogmatik, Spuren einer zeitlichen Entwidelung in der Gemeinde
jelbft, einer Unterfcheidung von alten und jungen, von früheren Er⸗
inmerungen und neueren Erlebniſſen — alles das fehlt voliftändig.
Dagegen zeigt das Vorhandenfein charismatifcher Gaben (5, 19f.)
: Baurs Meinung, and dies ſei nur Nachahmung von 18er.
14, 39 f. widerlegt fi fon dadurch, daß dort vor Überfchläigung,
bier vor Unterfchägung der Gaben gewarnt wird; daß er, um bie
Beiftesgaben zum richtigen Unfehen zu bringen, gerade bie Pro⸗
phette namentlich heraushebt, entjpricht ganz dem Sinn des Apoftels,
der in der Prophetie die wichtigfte derfelben erfannte (1 Kor. 14)),
die ben Paulus zugefchriebene Hoffnung, die Paruſie zu erleben
(4, 15), die für nötig erachtete Mahnung, den Brief allen Brü⸗
dern mitzuteilen (fpäter, ba bie Briefe als Heilige Vermächtnifſe
des Apoftels in Anjchen kamen, wäre bies gewiß überflüffig ge-
weſen), beutlich bie Farben der apoftoliichen Zeit. Die Vergleichung
berfolgter Heidengemeinden mit ben paläftinenfifchen Chriftenverfol-
gungen wäre in fpäterer Zeit, da ähnliche Erfahrungen im heid-
niſchen Miſſionsgebiet reichlich vorhanden waren, Serufalem aber
810 v. Soden
ben Mittelpunft des Ehriftentums zu bilden aufgehört hatte, gejudt;
die ausführliche Erwähnung des Details der Belehrung der Theſſa⸗
lonicher (1, 4—10) wäre finnlos; die Behauptung, daß die Juden
die Heibenpredigt an ſich zu verhindern fuchen (2, 16), in einer
Zeit, wo biefe Heidenpredigt nicht mehr ausfchlieglich in den Hän⸗
den des von den Juden gehaßten Paulus war, wo alfo ber Hak
der Juden fih ohne Wahl auf alle Chriſtuspredigt ergoß, während
in den heidnifchen Ehriftengemeinden gewöhnlich ihr Streben richt
dahinging, die Wirkungen ber Predigt rückgängig zu machen, ſon⸗
dern als eine Brüde zum Proſelhtenmachen zu benußen, wäre zum
mindeften unverftändlid.
Erklärt fih fo der erfte Theffaloniherbrief ohne Schwierigfeit
nur bei Annahme feines paulinifchen Urfprunges, fo Hat er einen
Anspruch in viel reicherem Maße als bisher, Bet der Erforfhung
des Weſens des Paulinismns benügt zur werden. Waren die vier
großen Briefe GSelegenheitsbriefe, die ihren Charakter ganz augen
Scheinlich ihrer beftimmten Veranlaffung verdanken, fo haben wit
bier einen harmloferen Erguß panlinifchen Geiftes. Die Dogmatil,
die im Galater- und Römerbrief in ſchwerer Nüftung vor uns
tritt, bleibt völlig im Hintergrund; das Leben in Glauben um
Liebe und Hoffnung, das felige Vertrauen in die Erföfung und
einftige Verherrlichung tritt als das Weſen des paulinifchen Chriften-
tums hervor; und im Vordergrund feines Denkens und feiner
Predigt, im Mittelpunkt des Gemeindeglaubens fteht die Parufir-
hoffnung. Chriftus als der viög Ieod und der adoros iſt das
Bild, das feinem Glauben vorfchwebt. Chriftus, den verklärten,
hat er ja bei feiner Belehrung gefchaut; nicht der Hiftorifche (2 Kor.
5, 16), nicht der gefreuzigte (davon redet nur ber Galaterbrief,
weil das Kreuz da8 oxdvdadov für feine Gegner, bie Juden, iſt,
3, 1; 5, 11; 6, 12. 14, und im gleichen Zufammenhan
1Kor. 1; fiehe dagegen 2 Kor. 13, 4), fonbern ber verherrlichte
Chriftus ift Mittelpunkt feines Glaubens; nicht auf der Vergangen⸗
heit, nicht auf der Gegenwart, ſondern auf ber Zukunft ruht fein
Blick, und diefe Zukunft birgt ihm die Wieberkunft des im Himmel
geſchauten Herrn,
Gedanken und Bemerknngen.
1.
In welchem Jahre wurde Bugenhagen gebaren?
Von
D. Garl Rerthean.
Nach der allgemein verbreiteten Annahme ift Johannes Bugen⸗
hagen am 24. Juni 1485 geboren; vgl. Bogt, Johannes Bugen⸗
hagen Bomeranus, Elberfeld 1867, S. 3. Diefe Annahme ftüßt
fi auf die Angaben Melanchthons in der fogen. „Vita Bugenh.“
Corp. Reff. XII, Sp. 297, und Eberts im „Calendarium histo-
ricum*, vgl. Bogt a. a. O. So viel und bekannt, findet fich in
älterer Zeit nur eine Abweichung von biefer Angabe. Chrifitan
Eberhard Weismann giebt in feiner „Introductio in memo-
rabilia ecelesiastica, pars posterior", Stuttgardiae 1719, p.102,
an, Bugenhagen fei im Jahre 1486 geboren; aber dieſe vereinzelte
Notiz wird nicht wertvoller fein als die auf der folgenden Seite
fih findende, daß er im Jahre 1658 geftorben fer, obſchon nur
diefe Testere, nicht auch die das Geburtsjahr betreffende, im Druck⸗
fehlerverzeichnts berichtigt wird. Dagegen lefen wir bei Mori
Meurer in feinem „Leben Bugenhagens“ (Leben der Altwäter der
ntherifchen Kirche, 2, Band, 4. Abtl., Leipzig und Dresden 1862),
©. 1, 2. Anm., die Angabe: ...... Nach einer Bemerkung
Bugenhagens aber in einem Briefe an den König von Dänemarf
(Shumader I, 194) muß er bereit® 1484 geboren fein.“
814 Bertbeau
Meurer fcheint biefe Sache nicht weiter verfolgt zu Haben; er Bat
biefer eigenen Angabe Bugenhagens nicht recht getraut, wie es
Scheint; wenigftens giebt er hernach in der 3. Auflage feiner größeren
Lutherbiographie (Leipzig 1870), S. 341, Anm. 19, nur das
Jahr 1485 als Bugenhagens Geburtsjahr an, ohne einen Zweifel
an der Nichtigkeit diefer Zeitbeftimmung merfen zu laſſen. Doch
find andere feiner Notiz in jener Anmerkung gefolgt. So giebt
z. B. Yulius Köftlin in der „Allg. deutfchen Biographie", 3. Bd.,
©. 504, das Jahr 1484, allerdings mit einem Fragezeichen, als
das Geburtsjahr Bugenhagens an; in ber vierten Zeile dieſes Ars
tifels fteht durch einen Druckfehler 7. Juli ftatt 7. Yumi; wenn
diefes Verſehen berichtigt ift, wird das Citat aus jenem ſchon von
Meurer angeführten Briefe allerdings, wie es zumächft fcheint, für
das Jahr 1484 als Geburtsjahr bemeifend. Bogt a. a. O. und
Blitt in der „Theol. Realencyllopäbie”, 2. Aufl., 2. Bd., ©. 775,
bleiben bei dem Jahre 1485; fo auch Bouterwet in ber „Feſt⸗
Schrift des Gymnafiums zu Treptow a. R.“, Kolberg 1881, S.1;
Bellermann im „Leben Bugenhagens“ u.a. Man kann jedoch
Meurers Schluß nicht, wie Bogt a. a. O. will, mit der Bemer⸗
fung abweifen, daß die betreffende Angabe Bugenhagens „wohl
nicht hronologifch genau, fondern nur eine ungefähre” fei. Bugen⸗
hagen jchreibt: „Auff Johannis ſchyrft Tommend, bin ih LXX
Jar vol.alt, David warb nicht elter”; vgl. Andreas Schu»
mader, Gelehrter Männer Briefe an bie Könige in Dännemarf,
1. Zeil, Kopenhagen und Leipzig 1758, S.195. Iſt biefer Brief
an den König Ehriftien III. von’ Dänemark, wie Schumader an-
giebt, am 7. Juni 1554 gefchrieben, fo wird man nicht umhin
fünnen zu fagen, Bugenbagen fei nach feinem eigenen Zeugnis am
24. uni 1484 geboren. Am „Ichyrft kommenden“, d. h. nächft
fommenden (vgl. Schiller und Lübben, Mittelniederdeutſches
Wörterbuch, 4. Bd. Bremen 1878, S. 103) Johannistage werde
er voll 70 Fahre: das ift Feine ungefähre Angabe, ſondern eine ganz
genaue, wie auch bie Berufung auf David (vgl. 2Sam. 5, 4)
zeigt. Bugenhagens eigene Angabe würde in diefem Falle mit
derjenigen von Melanchthon und Ebert nicht ftimmen, und dieſer
feiner eigenen Angabe würbe dann ohne Zweifel der Vorzug zu
In welchem Jahre wurde Bugenhagen geboren ? 815
geben fein, wenn er nicht felbft an einer andern Stelle fich fo
äußerte, daß man doch wieder auf das Jahr 1485 als fein Ge-
burtsjahr geführt wird. Es finden fih nämlich in feinem Kom⸗
mentar zum Jeremias (In Jeremiam prophetam Commentarium
Johannis Bugenhagii Pomerani.. . nunc primum editum anno
1546 Witebergae, auf der Univerfitätsbibliothet in Halle a. d. ©.
und auf ber Dearienbibliothef ebenda) zwei Angaben von ihm über
fein Alter. Blatt 565* Tefen wir; „Haec scripsi Anno Dom.
MDXLVI. Undecima. Januarii. Anno aetatis meae sexagesimo
primo.“ Und Bogen A IV, am Schluß der Widmung an ben
Markgrafen Albert von Brandenburg fchreibt Bugenhagen: „Scripsi
ex Witemberga, Anno domini MDXLVI. XVI. Januarii.
Anno aetatis meae sexagesimo primo.* Die leßtere diefer
beiden Stellen citiert fhon Vogt a. a. O., S. 404, Anm. 2,
ohne fie für bie Seftftellung bes Geburtsjahres Bugenhagens zu
verwerten. Nach diefen beiden mit einander Üübereinftimmenden An⸗
gaben ftand Bugenhagen im Januar 1546 in feinem 61. Lebens⸗
jahre; ift num, wie nicht bezweifelt wirb, der 24. Juni fein Ge⸗
burtstag, fo muß er im Jahre 1485 geboren ſein.
Und Hierzu ftimmt nun jene Angabe in Bugenhagens Brief
an Chriftian II. auch, wenn diefer Brief nur richtig datiert wird.
Schumacher läßt ihn am 7. Yuni 1554 gefchrieben fein, was bei
ihm kein Druckfehler ift, wie man aus der Einordnung dieſes
Briefes in die ganze Reihe der Briefe Bugenhagens an den König
Ehriftion III. ſieht. Aber fchon der Anhalt des Briefes ſelbſt
zeigt, daß er nicht im Sabre 1554 gefchrieben fein kann. Bugen⸗
bagen ſchreibt S. 195: „Wir wiſſen hie nichts newes, das wir
€. M. konten fchreiben; vom Neichstage höret man noch nichts;
vnſer Bifitation Eccleſiarum ift angegangen.” Mit dem Reichs⸗
tage muß ber Reichdtag zu Augsburg gemeint fein, der erjt am
5. Februar 1555 wirklich zufammentrat, von dem man im Juni
1554 aud). noch nicht erwarten konnte, etwas zu hören; auch ale
der Reichstag begonnen hatte, waren noch mehrere Monate hin-
durch Feine Refultate der Verhandlungen zu melden; Bugenhapen
fonnte im Juni 1555 fchreiben, daß man vom Reichstage, nüm⸗
ih von einem Erfolge der Friedensverhandlungen, noc nichts
816 Bertheau
böre; fchrieb er doch noch am 22. Yuli 1555: „im Keichttage
ift nichts befchloffen, hoffen doc) einen guten Abſchied für Deutzſche
lande“, Schumader ibid. ©. 205. — Die Visitatio Eccle-
siarum aber, von welcher auch im Briefe Bugenhngens an ben
König vom 30. Oktober 1554, aber ald von einer erft ſpä⸗
ter beginnenden, die Rede ift, vgl. ©. 202f., tft bie in-
spectio ecclesiarum, von welder auch in Briefen Melanchthons
vom 10. und 14. April 1555 (Corp. Reff. VII, Sp. 458
u. 460) bie Rede ift, die um Ende März 1555 begonnene ſeitchen⸗
vifitatton in Sachſen. Werner fchreibt Bugenhagen dem Könige,
daß er ſchon in einem früheren Briefe fi für Die Fuchsfelle be
dankt babe, welche der König ihm gefchenkt Habe, &. 194 mıten;
aber erft in dem Briefe vom 30. Oftober 1554 bittet er dem
König um „gute Schwedische Füchffe zum Futter unter einen fangen
Rod, vnd unter einem Leip Rod, bamit ich müge diefen alten Bugen⸗
hagen warm halten Im Dienft Ehrifti, fo lange als Got wil*,
©. 203 f.; der Dank fir den Empfang diefer Felle kann ale
nicht in einem Briefe, der einem vom Juni 1554 noch voran
ging, abgeftattet fein. Endlih, um nur noch eins zu ermähnen,
bittet Bugenbagen im Narhtrage zu unferm Briefe den König, er
möge Melanchthon und ihm ihr Gnadengeld von diefem Jahre
1555 duch den Boten Brefins Scherff, ber diefen Brief dem
Könige überbrachte, zukommen lafien, eine Stelle bes Briefes, von
welcher jeder Herausgeber hätte merken müfjen, daß fie mit der
Dotierung des Briefe aus dem Jahre 1554 unverträglich ifl,
wenn aus ihr allein auch nicht zu erfennen if, in welcher Jahres⸗
zahl ein Verfehen ftattfindet. Dürfen wir aber nad) allen biejen,
dem Briefe felbft entnommenen Anzeichen jagen, daß ber Brief
aus dem Jahre 1555 fein muß, fo gewinnt es große Wahr
Scheinlichleit, daB er am 7. Juni 1555 gejchrieben fei, ba wir
von diefem Tage (außerdem auch vom 6.) einen Brief Meland-
tbons an den König haben, vgl. Corp. Reff. VIII, Sp. 501
u. 497; benn die Neformatoren in Wittenberg pflegten ihre Vriefe
an den König durch denfelben Boten zu ſchicken und fchrieben we
möglih dann an ihn, wenn gerade ein ihnen ſchon bekannter Bote
abging; fo haben wir 3. B. vom 22. Yult 1555 einen Brief
In welchem Jahre wurde Bugenhagen geboren ? 817
Bugenhagens und einen Melanchthons an ben König, vom 30. April
1556 einen Brief Bugenhagens mit Zufag vom 1. Mai und vom
1. Mai 1556 ein Schreiben Melanchthons an ihn u. |. f. Es
Ideint, al8 wenn Bugenhagen die Briefe dann fammelte und dem
Boten übergab.
Iſt es nach dem bisher Angeführten fchon nicht mehr zu ber
zweifeln, daß der betreffende Brief Bugenhagens, in welchem er
angiebt, dag er am "zunächft eintreffenden Johannistage voll 70
Jahre alt werde, am 7. Juni des Jahres 1555 gejchrieben ſei,
fo wird dieſe Überzeugung zu voller Gewißheit, wenn wir die Ants
worten des Königs Ehriftian III. auf die Briefe Bugenhagens an
ihn vergleichen. Diefe Briefe des Königs und weitere biefen Brief»
wechſel betreffende Angaben find mit einer großen Anzahl Briefen
an andere Neformatoren u. |. f. veröffentlicht in C. F. Wegener,
Asrsberetninger fra det kongelige Geheimearchiv inholdende
Bidrag til Dansk Historie af utrykte Kilder, 1. Band, Kopen-
bagen 1852-1854, 4°, ©. 215 ff. (Bpl. bierzu die Abhandlung
von Gymnaſiallehrer Dr. Friedr. Bertheau, „Über die Beziehungen
Ehriftions IL. von Schleswig. Holftein und Dänemark zu den
Wittenberger NReformatoren“, im Programm bes Ratzeburger Gym⸗
naſiums auf Oftern 1884.) Es wird uns ſchon von nicht ge-
tinger Bedentung fein, dag wir aus den Augaben, die Wegener
aus dem Löniglichen Archiv in Kopenhagen mitteilt, erfehen, daß
es in der That einen Brief Bugenhagens an ben König vom
7. Juni 1555 gegeben hat, vgl. S. 270; denn die Vermutung,
daß unſer Brief diefer fei, gewinnt dadurd einen ftarlen Halt.
Ganz befonders wichtig aber ift es, daß eine Vergleichung ber
Briefe Bugenhagens bei Schumacher und des Königs bei Wegener
deutlich zeigt, daß feinem Inhalte nach unfer Brief der am 7. Juni
1555 gefchriebene fein muß. Am leichteften einleuchtend wird das
aus den das Gnadengehalt und die Fuchsfelle betreffenden Mit
teilungen im Briefwechfel, die wir deshalb noch überfichtlich zu⸗
ſammenftellen wollen, ohne bier auf den weitern Inhalt ber Briefe,
der das gewonnene Reſultat nur beftätigt, weiter einzugehen. Was
das Guadengehalt angeht, jo fel zuvor nod daran erinnert, daß
Chriſtian III. an Luther, Melanchthon uud Bugenhagen zuerft
818 Bertheau
jährlich „Küchenjpeife* fandte (Butter und Heringe, vgl. Bugen⸗
bagens Brief an .den König vom 17. Januar 1542 bei Schn-
mader I, 29; und Kolde, Analecta, ©. 396, Anm.); her⸗
nach, als ſich Herausfiellte, daß diefe Sachen nicht richtig abge-
liefert wurden, verwandelte der König diefe Gabe in ein Geld-
geſchenk; jährlih auf Jakobi (25. Juli) ſollte jeder der drei Ge⸗
nannten 50 Gulden erhalten, die fie durch einen eigenen Boten auf
des Königs Koften follten einkaffieren laffen (vgl. die Briefe
Ehriftians IH. an Bugenhagen vom 25. Juni 1544 und an
Luther vom 5. Yannar 1545, Däniſche Bibliothek IX, 180;
Kolde, Analecta, ©. 409 Text u. Anm.); das Geldgefchent
wurde dann fchon im Jahre 1545 auf 50 Thaler erhöht (vgl.
Burkhardt, Luthers Briefwechiel, S. 463 Anm.) und biefer
Gehalt nad Belieben der Empfänger auf Margarethä, Jakobi oder
Bartholomäi, d. h. 12. Yuli, 25. Juli oder 24. Auguft fällig
geftelit (vgl. bef. in Bugenhagens Schreiben an den König vom
12. April 1545 bi Schumader I, 39). Am 2. November
1545 fendet der König dann die 150 Thaler für das Jahr 1545
und erſucht abermals, die jährliche Einlaffterung durch einen be
fonderen Boten auf feine Koften vornehmen zu laſſen; vgl. Dä⸗
nifche Bibliothek IX, 197 ff. Diefe Angaben, die fich Leicht ver
mehren Tießen, werden genügen, um die etwa 10 Jahre [päter fal⸗
(enden Erwähnungen diefes jährlichen Geldgeſchenkes, die für die
Fixierung des Datums des und intereffierenden Briefes in Be⸗
tracht kommen, zu verftehen. Wir teilen fie und die die Fuchs⸗
felle betreffenden möglichft kurz in chronologifcher Folge mit.
1553. November 30: Brief Chriftians an Bugenhagen bei
Wegener, S. 267. Der König meldet, daß er die Penfion
von je 50 Thalern von diefem Jahre für Bugenhagen und
Melanchthon durch den Boten Scherff fende.
1554 Oktober 30: Brief Bugenhagens an Chriftian III. bei
Shumader, S. 197—204. Bugenhagen bittet für ſich und
Melanchthon um das Gnadengeld, das der König „dieſem
Brofe Scherff“ ihnen zu bringen gnädiglich befehlen wolle;
er Tann alfo doch nicht wohl im Juni 1554 fchon einen Brief
In welchen Jahre wurde Bugenhagen geboren? 819
durch Scherff an den König gefandt haben, ba ber König in
diefem Falle das Gelb Schon im Juli würde haben auszahlen
laffen. Mit diefem Briefe vom 30. Oktober kam Scherff am
2. Dezember beim Könige an (Schumacher, ©. 304, Wegener,
©. 268); mit dem Briefe Melanchthons vom 7. Juni 1555
war Scherf vor dem 1. Zuli beim Könige (Wegener, S. 270);
er würde alfo mit einem Briefe Bugenhagens vom 7. Juni
1554 auch ficher Anfangs oder fpäteftens Mitte Juli beim Könige
eingetroffen fein. — Bugenhagen bittet um gute ſchwediſche
Füchſe, vgl. oben S. 317.
1554. Dezember 8: Chriftian LI. ſchreibt an Gertt Neutter
in Lübe um „etliche gute Fuchſe zw einem langen vnd weitten
Rode, mie die Geiftlichen pflegen zu tragen“. Wegener, ©. 268.
1554. Dezember 9: Chriftian III, ſchreibt an Bugenhagen,
er babe den Brief desfelben vom 30. Ditober am 2. Dezember
erhalten; es feien leider Leine Fuchsbälge vorhanden geweſen, er
(Greibe aber an „Gertt Reuter zu Lübeck“, daß der welche
ſchice. Ferner meldet der König, daß er die 100 Thaler
Penfion (alfo für das Jahr 1554) durch Scherff mit diefem
Driefe fende.
1555 in den Faften fandte Bugenhagen durch Scerff einen
Brief an den König, in welchem er fich für die ihm überfandten
30 Fuchsbälge und das Gnadengehalt vom Jahre 1554 be-
dankt, Shumader, S. 194. Scherff, der damals einen
Ratsherrn aus Schweinfurt, der ihn zum Geleitsmann gemietet
hatte, auf deſſen Reife begleiten mußte, fam damals nicht felbft
nad Dänemark zum Könige, fondern gab den Brief einem an-
dern Boten; Shumadher, ©. 205. (Der Brief ift nicht an-
gefommen.)
555 nad Oftern: Brief Chriftions III. an Bugenhagen durch
den Boten Sturglopff gefandt. Diefen Brief erhielt Bugenhagen
etwa Mitte Juli, vgl. Shumader, S. 204; wir kennen
ihn nicht. ALS der König diefen Brief fchrieb, konnte er den
zuleßt ermäßnten Brief Bugenhagens an ihn _ un haben.
Theol. Stud. Jahrg 1886.
320 Bertheaun
1555. Juni 7: Sagenhagen an, Chriftian III., — eben unfer,
von Schumqgcher ins Jahr 1554 geſetzter Brief, Schumader,
S. 194 - 197. Bugeyhagen meldet, daß er in den Faſten durch
Scherff dem Könige einen Brief geſandt Habe, im welchem er
fih für da8 Gnadengeld vom Jahre 1554 und für die Füchſe
bedankt habe; aber Scherff fei au ber Vollendung der Reife ge:
hindert worden und fei ohne Briefe vom Könige zurüchgelommen,
und nun wife er, Bugenhagen, nicht, ob der König den: Brief
erhakten habe, „Bud bitien Dominus Philippus vnd ich, E.M.
wolte dieſen Brofio Scherff vertrawen vnſer gnaden &elt
von diefem Jahre MDly, das wir fo wedder ay di
rechte Zeit kommen“, ©. 196 f.
1555. Juli ı: Chriftion IEL an Bugenhagen, — Brief nidt
vorhanden; eben an demjelben Tag fchrieb der König an Me
lanchthon (vgl. Wegener, ©. 270) als Antwort auf deſſen
beiden Schreiben vom 6. und 7. Juni (ngl. oben &. 318), jo
daß der König den gleichzeitig abgefandten Brief Bugenhagens
auh am 1. Juli ſchon in Händen gehabt hat und, der Brief
vom 1. Juli an Bugenhagen eine Antwort. auf den Brid
Bugenhagens vom 7. Yuni enthielt.
1555. Yuli 22: Bugenhagen an Chriftion II., der Schu
mader I, ©. 204 ff., abgedrudte Brief. Bugenhagen hat den
ihm durch den Boten Sturtzkopff gefandten Brief erhalten, aber |
noch nicht den am 1. Juli durch Scherff geſchickten. Bugenhagen
weiß daher noch nicht, ob der König feinen in den Faſten gejchrie
benen Brief erhalten Hat, da Scherff, der ihm Antwort bringen
Soll, noch nicht nad) Wittenberg zurüdgelommen ift. Da Scerfi,
wie oben angegeben, den Brief vom 7. Juni überbracht hat und
den Brief des Königs vom 1. Juli zurückbringt, aber am 22. Juli
noch nicht in Wittenberg ift, fo paßt Bier wenigftens wieber alles
aufs fchönfte, wenn, min annehmen, baßı.ber-unds vorliegende Brief
vom 7. Juni im Jahre 1556x geichriehen Tri. Obfihon: ber Bro
ſius Scherff, fo viek wir: wißien,. auch im Junj 4554 non Witten
berg nach Dänemark: gegangen: fein könute, fo widerſprechen die
ihn betreffenden Angaben dod auch unferer Annahme nicht
In welchen Jahre wurde Bugenhagen geboren ? Hi
Es ift nicht nötig, den Briefwechſel weiter zu verfolgen. Auch
auf die Geſchichte der Fuchspelze, bei denen Bugenhagen durch den
Lübecker Kaufmann wiedet hintergangen war, wie früher bei Butter
und Hering, weiter einzugehen, gehört nicht zu unſerer Aufgabe.
Daß aber Bugenhagen in der That am 7. Juni 1855 geſchrieben
hat, ex werbe am demnüchſt kommenben Yohanmistdge 70 Jahre
oft, das fcheint uns! aus der Zuſammenſtellung der Angaben dieſer
Briefe nnumſtoößlich feſtgeſtellt zir fein. Es ftͤmmen derinch die
Angaben: Bugenhagens, aus denen ſein Geburtsjahr berechnet werden
kann, völlig zu eiitander, und wir werben nicht fehlgehen, wenn
wir am 24. Juni 1885 feinen 400jührigen Geburtstag feiert.
2.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedel.
Eine Studie
Guſtavy Röoſch.
Die Erzahlung von der Begegnung Abrahums niit Meilhiſedek
in Ger 14 wäre eine Utkunde über den Sufammenhang: ber
hebrtiifthere Religionsheſchichte mit der anberweitigen‘ Temtttifchen;-
welcher an Alter und Werk Feine gleichläme, wenn ihre hiſtoriſche
Zuperfäfftgkeit' außer ZIweifel wire, Neueſtend wird jedoch diefe‘
Erzählung ſchon dadurch verdächtig, daß fie einem Wberlieferungs-
reis und «Stoff angehört, dem die von de Wette begonnene, von
Ed. Reuß, Vatke und Graf weitergebildefe und endlich von
Wellhaufen bis zu den letzten Konfequenzen durchgeführte. Kom⸗
poſttionskritik des: Hexatenchs die ihm bisher von'den theologiſchen und
profanen Geſchichtswiſſenſchaft gleich bereitwillig als jelbftierftänd-"
21*
822 | Röſch
Lich zugeſtandene Bedeutung für bie Rekonſtruktion des hebräiſchen
Altertums aus einer poſitiven in eine negative verkehrt hat. Die⸗
ſem aprioriſchen Mißtrauensvotum der Kritik leiſtet ſie ſodann
ſelbft noch durch die Konfiguration ihrer Schale wie ihres Kerns
einen leidigen Vorſchub.
Betraditen wir zumädft ihre Schale, die pentapolitanifce
Kriegsgefchichte, fo hat diefe Schon v. Bohlen !) zu einer Dichtung
ohne Wahrheit degradiert, indem er in den Invaſionskönigen Nad-
bilder der kteſianiſchen Zeitgenofjen des Untergangs des aſſyriſchen
Reiches, nämlih in Amraphel von Sinear den Sardanapal, in
Arioh von Elafjar den Arbaces und in Kedorlaomer von Elam
den Beleſys, entdedit zu haben glaubte. An diefen Schatten heißt
und die Affyriologte mit einem Seufzer für ihre ewige Ruhe vor-
übergehen. Gebieterifcher verlangt dagegen Hitig ?) unjere Auf
merkſamkeit, wenn er in dem, wie wohl allgemein anerkannt ift,
augenscheinlich ſymboliſchen und alſo ungeſchichtlichen Charakter der
vier Nebellennamen: „Frevler, Schurke, Schlangenzahn und Skor⸗
piongift“, wie er fie überfegt, in der Unzulänglichkeit der Streit.
fräfte Abrahams gegen das ftegreiche Invafionsheer und endlich in
der Gleichförmigkeit des elamitifchen Einfallsdatums mit dem affy
rifhen in 2 Kön. 18, 13, welche den Kedorlaomer als einen Refler
Sanheribs erfcheinen laͤſſe, zu ärgerlihe Verftöße gegen die ge
ſchichtliche Wahrfcheinlichkeit findet, als daß fie nicht dem Geſchichts⸗
fundigen imponieren müßten. Die Vorwürfe Hitigs hat Nöldeke?)
in verfhärfter und vermehrter Faſſung wiederholt. Er premiert
nicht allein den fymbolifchen Charakter der Rebellennamen, deren
zwei erfte er nad den alten Rabbinen mit jedermann auf ya und
y zurüdführt, während er über die zwei legten ein Non liquet
abgiebt, wenn man nicht etwa bei "arpy mit dem Samaritaner
das Reſch in ein Daleth Torrigieren wolle, um dann das Wort
1) P. v. Bohlen, Die Genefis, Hiftorifchekritifch erläutert. 1885.
2) Ferd. Hitzig, Die Pfalmen. 2 Bde. Erſte Ausgabe 1835 u. 1836.
Zweite Ausgabe 1863 u. 1865. Ferner: Geſchichte des Volles Israel. 1869.
3) Th. Nöldeke, Unterſuchungen zur Kritik des Alten Teftamentes. 1869.
Abſchnitt 8: Die Ungeichichtlichkeit der Erzählung Gen. 14, ©. 156-172,
Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 923
zu ber Überjeung: „der Name ift verloren“, zu vofalifieren, fons
dern er bemängelt auch, und zwar hauptſächlich wegen des an⸗
geblih unauffindbaren Elaffar und ber fatalen pri, die wie ein
Mißverftändnis der air an in Gen. 10, 5 ausfehen, die Namen
der Invaſionskönige als ein Gemengfel von atomiftifcher Überlieferung
und zweddienlicher Erfindung. Ya, er argwöhnt fogar in dem
Blachfeld des Zufammenftoßes der vier Könige mit den fünfen,
dem vormaligen Thal Siddbim an der Stelle des Toten Meeres,
einen geologifchen Anachronismus, wobei er erft noch durch die
Beſchränkung des Schlahhtfeldes auf den füdlichen, feichten Teil des
Sees, deſſen Entftehung in einer relativ gefchichtlichen Zeit wenig.
ftens möglich fein könnte, der Glaubwürdigkeit der Angabe mit«
leidig zuhilfe kommt. Nicht weniger unwahrſcheinlich erfcheint ihm
die Strategie der Fremden. Er betont hierbei zuerft ihren Zug
duch lauter, zum Zeil mythiſche, Urvölker, von denen er, wie
don &efenius und Tuch, die fonft unbefannten dom in om mit
beim der Ammoniter in Deut. 2, 20 unter der Borausjegung
einer alten Verderbnis an einer der beiden Stellen identifizieren
möchte, um dem Lejer den Verdacht eines fünftlihen Archaismus
nabezulegen. Bon den Völkern, durch die der Zug geht, wendet
er fi zu der Nichtung desselben durh Ammon und Moab auf
da8 Gebirge Seir und diefem entlang nach El⸗Pharan oder Aila
an der Nordfpige des Mlanitifchen Meerbufens und von da wieder
nördlich nach Hazezon Thamar oder Engeddi mit dem fchließlichen
Angriff auf das Mebellengebiet und verurteilt fie wegen der Un⸗
zugänglichkeit der genannten Gegenden für ein Kriegäheer und wegen
der Zweckloſigkeit des Umwegs zu der Züchtigung ber Pentapolis
bei der befannten Scheu ber altaftatifchen Eroberer vor ftarten und
nachhaltigen Anftrengungen als gefchichtewidrig. Die von Tu!)
verfuchte Rechtfertigung der Zugrichtung mit der Hypotheſe der
Sicherung der Handelsftraße von Damaskus nah Aila findet er
1) Frieder. Tuchs Kommentar Über die Genefis. Zweite Auflage beforgt
von Arnold und Merx. S. 257— 283: Bemerkungen zu Geneſis Kap. 14,
aus: „Zeitichrift der Deutihen Morgenländifchen Gejellichaft”, Bd. I, S. 161
bis 194.
BA | Röſch
im Kontexte nirgends angedeutet, und wenn er auch ihre Möglich⸗
keit zugeben wollte, jo könnte er doch die Hinausſchiebung des An-
griffs auf die Bentapolis in keines Weife fich zurechtlegen, de die
Handelsftraße durch deren blühende Niederung und nicht über das
anpabitifche Gebirge hätte führen müſſen. Ebenſo befremdlich ift
ihm bie Verfchanung des eigentlichen Kanaan ua der Nieder⸗
mwerfung der Amalekiter weitlih von Seix. Weiter legt er mit
Hitig ein Haupfgewicht auf die Unzulänglichkeit des Aufgebots
Abrahams zum Siege, Die Rüdfihtnahme auf das Kontingent
feiner drei Bundesgenoſſen erſpart ey fih duch deren Sublimation
zu Horgeg eponymi ber Umgegenb yon Hebron. Der erſte ber
drei amoritiſchen Brüder ſoll bie Berfanifilation des nach der
Grundſchrift alten Namens Mamre für Hebron, ber zweite bie
deq Yachrs Eskol und der dritte die bes Dſchebel Neir, beide in der
Nachbarſchaft Hebrons, fein. Den chronologiſchen Verdachtsgrund
endlich, mit weldem Hitzig fchließt, hat Röldelt ſchon am Ein⸗
gang in den Vorwurf einge willkürlichen Filtion zur Simulgtion
hiſtoriſcher Genguigkeit gelleidet, mag vor ihm ſchon Tuch!) ge⸗
than Bat. |
Zeigt bie Schale eing künſtliche Bildung flatt der naturwüchſigen,
fa gehärt freilich die pentopolitaniiche Kriegsgeſchichte unter die Apg«
kryphen ber Geſchichte. Iſt dem aber guch wirklih To? muß ber
Schraeiber dieies trotz ber prophetiſchen Porausſicht Nöldekes, daß
er mit feiner Beweigführung den unglücklichen Kombinationen keines⸗
wegß rin Ende gemacht hahen merde, auf ben Grund der Pflicht
bin: Tdvrq 8 dauudlere, 70 ehr yarixare, fragen.
Beginnen wir alfo die Prüfung ber Einwürfe, fo heweiſt zu
nüächſt die allgemein anerlannte Symbolik in den Rebellennamen
an und für ſich nichts gegen die Gejrkichtlichkeit ihrer Träger, de
fig lediglich nur das den Hebräern mit den Griechen unb Mömern
aemeinfgme Webärfnis und Verfahren darthut, harbariſchen Namen
wo möglich einen heimifchen Bau, Laut und Sinn zu geben. Daß
es ſich aber in&befondere bei diefen Namen nur um Umänderung
und nicht um Erfindung handle, macht ber ammonitifche Parallel:
1) Tuchs Kommentar, S. 247.
Die Begegnung Abruhams mit Melchiſedek. 80%
meint Sanibn ?) Für Stmeab, den König von Adama, wenigſtens
wahrſcheinlich. Was fodann die Namen der Invafionskönige an⸗
delangt, jo bat in ben letzten Jahren das Glück und Geſchick ber
Affyrielogen, wenn auch noch feine Inſchriften von ihren Trägern
oder über fie fo doch in den Kamen eines Amar⸗Sin von Ur und
eines Eriſm)⸗Aku von Lurſam (v), ſowie zweier Kudur von Elam
im dritten Yahrtaufend und eines Königs KudurrisBel ?) vor Babel
im elften Jahrhundert vor unferer Zeitrechnung neben dem eines
Gottes Lagamurn Korrelate zu den Königenamen Amtapbel
von Sinear, Arloh von Elaffar und Kedorlaomer von Elfam ®)
aufgefunden und ums für das bisherige Mißlingen der Befchaffung
rind Begenbildes zu Thideal, dem König ber „Heiden“, mit der
Korrektur der Iekteren fatnlen Nationalität burch de, wie es ſcheint,
babyionifgen Volkenamen Gutium ober Butt *) entſchübigt. Doc
niht allein zu den Namen, fondern auch zu dem Feldzug der In⸗
vbaſionskönige nach Kanaun haben uns die Aſſyriologen ein Biftori«
ſches Korrelat in dem einſtigen Herrſchafisbereich eines uralten
Kuduriden über Sudchaldäa und das „Weftland“ verſchafft. ind
nicht bloß die Namen laſſen ſich in den Keilſchriften rekognoszieren,
ſondern man fühlt fi) durch die aſſyriologiſchen Erhebungen ber
neneften Zeit fogar verfucht, mit Fritz Hommel ®) eine Wahrfiheins
lichleltsrechnung über dad Datum der Invaſion vom Enphrat her an⸗
zuftellen. Iſt namlich Arioch von Elaffar mit Eriakı von Larſam
identiſch, ſo ift ev ein Zeitgenofſe des babylonifchen Könige Cham⸗
muragas (uder — rabi), da er an diefen nach Keilurfunden Thron
und Neid) verlören bat. Chammuragas kommt Hurt als ſechſter König
auf der don Pinches verdffentlichten Keiltafel vor, welde anf ber
1) Frieder. Delitzſch, Wo lag das Paradise? ©. 294 u. d. W.
Anmön. Eb. Schrader, Die Heilinfchriften und das Alte Teftament. Zweite
Ausgabe.
2) Eine Notiz aus dem württ. „Staatsanzeiger“.
8) Delitzſch a. a. O., S:224 md Schrader a. a. O., ©. 185—137.
) Schrader ae O., © 137. Delitzſch a. a. D., ©. 233 — 234.
Mürdter, Kurzgefaßte Seidicäte Babyloniens und Afriene nad) ben Keil⸗
ſchriftdenkmälern. S. 8I—82. Fritz Hommel, Die ſemitiſchen Völker und
Sprachen I, 2, Abſchnitt: Das Hohe Alter der babyloniſchen Kultur,
d) Fr. Soniniek a. a. O., S. 328845.
324 Rh
Vorderſeite 11 Könige einer Dynaftie von Tintir oder Babylon
je mit der Zabl ihrer Negierungsjahre und auf der Rückſeite eben,
jo viele jedoch von dem Schreiber der Tafel feltfamermeife zu 10
zufammengezäßlte Könige einer Dynaftie von Shisku (— Tip nad
Lauth) ohne ihre Regierungsjahre aufführt. Die beiden Königsliften
biefer Tafel waren aber auch auf der ſechskolumnigen fragmentierten
Königstafel eingetragen, welche G. Smith für das Original der
Dpnaftieen des Berofus gehalten hat, und zwar ftanden fie in ber
gleichen Aufeinanderfolge, d. h. die Zintirfönige zuerft, oben auf
der vierten Kolumne, wie die wenigen noch erhaltenen Namen be
weifen. Da nun von ber fünften Kolumne noch 15 Zeilen übrig
find, die mit einem König Nambar-fhigu anfangen, der ungefähr
der achte der fechften (afiyriichen) Dynaftie bes Beroſus ift, welde
1273 v. Chr. beginnt, fo läßt der fragmentierte Raum zwiſchen
der vierten und fünften Kolumme, wenn man 75 Zeilen auf bie
Kolumne rechnet, nah Hommel auf den Berluft von ungefähr 66
(65) Königsnamen fchließen, welche die 49 der vierten, die 9 der
fünften und die 8 (7) erften der jechften Dynaſtie des Beroſus ge⸗
wefen fein werden, fo daß alfo die Zintir« und Shisku⸗Könige feiner
dritten und zweiten Dynaftie entfprecden müffen, wie Lauth und Hommel
annehmen. So wahrjcheinlich das nun auch ift, jo hat die Sache doch ihre
Bedenken, da die Aufeinanderfolge der beiden Dynaſtieen auf den
Reiltafeln bei Beroſus gerade umgekehrt ift, infofern er „bie medi⸗
[chen Tyrannen“ den (chaldäifchen) Königen vorangehen läßt, währen)
die Shiskulönige den Tintirkönigen nachfolgen, und da man ferner
die Zahl acht der mediſchen Tyrannen bei Beroſus in bie Zahl
elf der Shiskulönige, ſowie die 248 Negierungsjahre der dritten
Dynaſtie in die 304 der Tintirkönige korrigieren muß. Lauth nimmt
die erftere Korrektur wegen der Einführung der Könige der britten
Dynaſtie mit „rursus“ nicht fchwer. ‘Der Schreiber dieſes aber
bält fie wegen der Unficherheit des Keiltafeljchreibers in der Summe
der Shisfulönige überhaupt für unnötig. Nimmt man nun das
Wagnis der Verkehrung ber keilfehriftlichen Aufeinanderfolge der
Tintir⸗ und Shiskudynaſtie in die berofifche der zweiten und dritten
Dynaſtie und die Korrektur der Jahrſumme der dritten Dynaftie
auf fih, und rechnet man dann von 747 v. Chr. um bie berofiſchen
Die Begegnung Abrahams mit Melchiiebel. 827
Opneftieenjahrfummen 526 -+ 245 + 458 — 1229 bis zum Ende
der dritten Dynaſtie und von hier aus wieder um die keilſchrift⸗
lihen Hegierungsjahre der ſechs letzten Könige von Tintir mit
31 +21 +25 +25 + 35 + 55 = 192 bid zu Chammuragas 1
zurüd, jo erhätt man hierfür 747 -- 1229 + 192 = 2168 v. Ehr,,
wofür Hommel ?) rund 2150 v. Chr. fett. Nehmen wir nun an,
daß Chammuragas' Eroberung von Larfam in bie Mitte feiner 5öjäh-
rigen Regierang, aljo auf 2168 — 27 — 2141 v. Chr. gefallen fei,
jo muß Eriaku's Poläftinazug felbftverftändlich vorher, aber nicht
etwa gar 30 Fahre vorher, wie Hommel will, ftattgefunden haben.
2145 v. Chr, aber ift das bibfiihe Jahr der Berufung Abrahams
nad den älteren Ehronologen ?). Ein ähnliches Refultat erhält man,
wenn man von den 1903 Jahren der aftronomifchen Beobachtungen,
welhe Kallifthenes nad) der Einnahme von Babylon durch Alerander
den Großen an Ariftoteles fanbte, auf Sargen von Agade ober
Agane, den großen litterarifchen und namentlich auch aftronomtfchen
Sammler, zurückrechnet, denn 330 v. Chr. 4 1903 — 2233 v. Chr.
ımd zwifchen Sargon I. und Chammuragas wiffen wir bis jegt nur
bon Sargond Nachfolger Raramfin und einer Königin Ba’u-Mit ®).
Zu demfelben Ergebnis führt die Gründung Babylons, von dem
wir in der That vor der Tintirdynaftie Teine Spur Haben, bei
Philo von Byblus und Diedor 1002 Yahre vor dem trojanifchen
Krieg, deffen Datum nach der Marmordronit von Paros 1218
v. Chr. ift, denn 2220 v. Chr. tft eben die rumde Anfangszahl
der dritten Dynaſtie des Beroſus. Wenden wir uns von ben
Kriegsherren zu dem Kriegsfchauplat, fo wird man gegen den be
haupteten geologifchen Anachronismus in der Umwandlung bes
Thale Siddim zum Toten Meer immer noch mit Tuch an „bie
ſchwarzen Waffer“ appelfieren dürfen, welche die Stelle der 1138
n. Chr. durch ein Erdbeben verfunkenen perfifchen Stadt Dfhenzeh,
ausgefüllt Haben. Der Zug dahin burch Lauter zum Zeil fogar
möthifche Urvölker wird durch das Zeitalter begreiflich, in welchem
A. a. O., S. 342.
2) G. Röſch, Zeitrechnung, bibliſche, in Herzog, Realene. 1. Ausg. ©, 437.
I)A a. O. ©. 388,
88 I 17
diefe Völker noch bem Leben, und nicht ſchon der Sage angehärten.
Die Richtung des Zugs wird durch bie Hppothefe Tuchs vottreff⸗
Ti verteidigt, und dieſe ſelbft wird durch die Eiawendung, baf ihre
Andeutung im Texte fehle, infofern nicht befeitigt, als ihre An
deutung in ber Ausdehnmg des Zugs Bis Mila lit. Die für
Nöldele unverantwortliche Verzögerung bed Angriffe auf die Beute
yolis lann wohl mit der Rotwendigkeit der vorherigen Unterwerfung
der umwohnenden Berg⸗ und Wüftennöller zur Sicherheit vor ihnen
während der Kämpfe und Genüffe um bas und in dem Capua det
Ghor entfchuldigt werden. Die Verſchonung bes eigentlichen Rananne
von dem Imvaſionsheer wird das Refultat ber von unbekannten Mo⸗
tiven beftimmten Erwägungen feiner Führer gewefen fein. Die 318
Knechte Abrahams muſſen mit dem Kontingent feiner amoritiſchen
Bundesgenoffen verftärft werben. Das Tann freilich nur dam
geſchehen, wenn man bie Bundesgenoſſenſchaft ſelbſt durch die Not:
wendigfeit und Thatſache mehrfacher Bimdniffe der hebräifchen Ein-
wanberer in Kanam mit den eimheimifchen Clans, wie fie von
Gen 21, 22ff. 23 und 26, 28ff. bezeugt find, für verbürgt er
achtet und infolge beifen die Bundesgenoſſen für Biftorifche Per:
fonen *), wenn auch mit unbiftorifchen ber Lolalitäit ihrer Wohn
1) Hiſtoriſch unanfechtbar tft wenigftens bie nationale Charnfterifierung be
Bundesgenofien Abrahamıs als Amoriter, wenngleich der Vrieftercodeg bie Hethiter
zu Eimvohneru Hebrous in der Zeit Abrahams macht, da wicht bloß Amos 2,9. 10,
fondern auch die ägyptifchen Denkmäler aus der Rameffidenzeit die einzelnen Gebiete
und Vollsftämme Paläſtinas umter dieſem Generalnanten zufammenfaffen, vol.
Brugſch, Geſchichte Ägyptens unter ben Pharaonen, an ben im Regiſter zu
ben Ramen „Amori“ angeführten Stellen, und: Ed. Meyer, Kritik der Br
richte Über die Sroberung Paläſtinas, in B. Stabe, Zeitichrift file alttehe
mentliche Wiffenfchaft, Jahrg. 1881, ©. 127. Übrigens beruht auch die Ber
fegung von Hethitern nad Hebron nicht bloß auf ber Willkür des Prieſter⸗
coder, wie Ed. Meyer a. a. O. ©. 125, Anm. 3 meint, fordern auf ber
Hiftorifchen Thatfache der hethitiſchen Hegemonie in Weftaften vor dem Auflommen
der affyriſchen Macht, welche die Anlegung hethitiſcher Waffenplätze tief im
Süden zum Shut gegen Agypten involviert. Solche Waffenpläge mögen nad
Num. 13, 22 Hebron und fogar Zoan⸗Tanis im Delta gemweien fein. Die
hethitiſchen Garnifonen Hinterließen felbftverftändlich einen Nieberichlag it der
Bevölferung, ber im Lauf dev Zeit dieſer fogar den Ramen der Frenchlinge
neben dem eigenen urjprünglichen aufbrängen konnte,
Die Begegnung Wrahams mit Melchiſedek. 229
fitze, ſei es pon der Tradition felbft ober erſt vom dem Redaktor
derſelben, für fie entnemmenen Namen nimmt. Den Sieg Abra⸗
hams endlich beleuchten die Griechenſiege ber die Berferheere. Das
Kriegedatum aber wird ſchließlich entmeher als ein chronologiſches
Trümmerſtück aus den allmählich verwirsten und erblagten Erinne-
tungen an die Geſchicke der Väter in der Uxzeit der elomitifchen
Hegemonie im ben. Euphratländern, ober als pine in Babylon ge
machte Anleihe aus den bortigen Aufzeichnungen gleich ber Eponhmen⸗
und Verwaltungslifte zu bᷣehandeln fein... -
Genügen biefe Schutzmintel gegen die Hitzig⸗Nöldeke'ſchen Ans
griffe nicht, jo find ‚nach drei weitere Hauptwaffen zur Verteidigung
de8 fraglichen. Kriegsberichts in Gereitſchaft. Diefe find die völlige
Annlogie dep politischen Verhältniſſe Kananns im Buch Joſua mit
den in Gen. 14 zu Tage tretenden und bie unwilllürliche Über
einſimmung des friegerifchen Eingreifens Abrahams mit bem älte⸗
ſten Traditigus⸗ und Relationobild in Gen, 34, 25; 48, 22 und
49, 5 von dem Gebaren ber Hebräer in Kanaan mährend der
borägpptiichen . Zeit, zwei Umftände, auf welche ber eine ber beiden
Redaktenxe dieſer Zeitſchrift, Herr Profeffor D. Ed. Riehm, den
Schreiher dieſes qufmerkſam gu machen die Güte gehabt hat, ſowie
endlich die ohne den Rückhalt der geſchichtlichen Thatſächlichkeit rein
unmogliche Schilderung Abrahams als eines Kriegshelden gegenüber
von der auch von Nüldeke anerkannten: ſchlechthinigen Friedfertigkeit
leiner Grfcheinnng in ber gefomten anderipeitigen Tradition.
Dei einer folden eminent günftigen. Sachlage für bie hiftorifche
Wahrſcheinlichkeit des elamitifch- pentapolitanifchen Krieges ift es
nicht zu perwundern, -baß-er. in ſämtlichen mobernen Anfriffen der
Geſchichte des moxgenlandiſchen Altertums unter die gefchichtlichen
Vorgänge aufgenommen worden ift.
Iſt die Schale in Sen, 14 trag des gegenteiligen Anfcheins
biftorifch - geſund, ſo wird es auch der Kern, die Gefchichte der
Degeguung Abrahams mit Melchifedet dem König von Salem, fein,
denn Schale und Kern find mit einander organiſch verbunden.
Nur der Steg Abrahams giebt ja der Begegnung Motiv und In⸗
1) A. a. O. G. 165,
850 Ruh
halt. Diefer trieb den Priefterfönig von Salem zur dankbaren
Segnung des Retters aus der and feinem Gebiet und Stamm
drohenden Invafionsgefahr, wie den König von Sobom zur be
forgten Fürbitte für die durch das Kriegsglüd nunmehr dem Rächer
zugefallenen Sriegsgefangenen feine® Volles und ben Helden von Dan
einerjeitö zur frommen Zehentabgabe an den Priefter Gottes bes
Höchſten, der fich ihm eben als der rechte Kriegsmann bewährt Hatte,
und anderfeits zum edelmütigen Verzicht auf die Beute zugunften
der Sobomiter nnd feiner- YBundesgenoffen. Gleichwohl ift man
verfucht, diejen organifchen Zufammenhang zu verfennen oder wenig⸗
ften® doch dem Urteil Nöldekes )) und Dillmanns?) beizupflicd-
ten, daß fih das Stüd von Melchiſedek zur Not aus der übrigen
Erzählung heranslöfen Tiefe. Dean kann dafür den Anfchluß von
8. 21 an V. 17 und den fcheinbaren Widerſpruch zwiſchen der
Zehentabgabe Abrahams von der Kriegsbente umd deſſen Verzicht
anf diefelbe geltend machen, welch leßterer Anftand auh Eduard
Böhmer?) zu der Ansfheibung wenigftens der Worte von ber
Zehentabgabe als eines Zuſatzes des Schlußredaktors bewogen Bat,
wiewohl er ſich Löft, fobald man den Verzicht Abrahams als Über-
laſſung des Nefts der Beute nach Abzug des Zehenten für Del
hifedek auffaßt. Was einen aber am mächtigjten zu ber Aueſchei⸗
dung der ganzen Melchifedet- Epifode verfucht, das ift der Zwie⸗
Spalt zwifchen dem übermwältigenden &indrud der Gefchichtlichkeit
des pentapolitanifchen Kriege und dem unvermeidlichen Argwohn
der fritifchen Neflerion gegen die Hiftoricität der VBegegunng im
Königsthaf.
Das Hauptärgernis giebt Melchiſedek ber Kritit. Die jüdifche
und hriftlihe Schriftauslegung hat aus dem, was die Erzählung
über ihn berichtet und verfchweigt, von jeher den Schluß auf feine
Idealität gezogen, und das lange Zeit, ohne ſich der aus diefem
Schluß folgenden Konfequenz feiner Lngefchichtlichkeit bewußt zu
1) A. a. O. ©. 170.
3) Dillmann, Kommentar zur Geneſis. Ausgabe von 1882, ©. 219;
vgl. auch ſchon Geiger, Urfchrift und Überfegung der Bibel, ©. 74 ff. und
©. 33 f.
3) Ed. Böhmer, Das erfie Buch der Thora, ©. 198 f.
Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 881
werden. So hat man ihm bald die Berfon des Patriarchen Sem,
bald den Typus des Reformators Hiskia, bald eine Vorgeſtalt des
Meſſias, bald die Erfcheinung eines Engels, bald ſogar das Sche⸗
men einer trinitarifchen Hypoſtaſe, fubftituiert. Jedes biblische
Realwörterbuch, vor allem aber der Bleekſche Kommentar zum
Hebräerbrief, Liefert hierzu bie Belege. Die das allegorifche Spiel
der Vergangenheit bewegenden Hebel find die Angaben über feinen
Namen, feine Titel und feine Handlungsweife einer- und das Still
ſchweigen über feine Abkunft, feine Geburt und feinen Tod ander»
ſeits geweſen 1). Die pofitiven unter ihnen wirken noch heute nach,
nur nicht mehr auf die Phantafie, um Melchiſedek über die Gren⸗
zen der Menfchkichleit emporzubeben, fondern auf die Kritit, um
ihn aus den Grenzen der Wirklichkeit zu: verbannen. „König ber
Gerechtigkeit“, „ König aus der Friedensſtadt“, das find Namen,
welche unwillkürlich als ſymboliſch und alſo geichichtlih verdächtig
imponieren, zumal wenn fie, wie bier, vereinigt find. Erwehrt
man fich dieſes inftinktiven Eindrndes, um einer wifjenfchaftlich
anziemlichen Voreingenommenheit vorzubeugen, fo tft nad dem Ur⸗
teil Noldeles 2) ſchon die Übereinftimmung der zwei Königsnamen
Melchiſedek von Salem umd Adoniſedek von Serufolem (of. 10,
1 ff.) Hiftorifch bedenklich. Noch bedenklicher find jedoch die beiden
Reiidenznamen Salem und Jeruſalem. Beide gehören jedenfalls
der Zeit nah David an, denn vorher hieß die Stadt Jebus, eine
Notiz, welche immerhin die relative Neuheit ded Namens Jeru⸗
ſalem beweift und dur das Schalama im Verzeichnis der kana⸗
nitiſchen Eroberungen Ramſes' I. im Ramſestempel zu Theben
nicht umgeſtoßen wird. Da zwar Brugſchs Deutung ?) auf Salem
oder Saleim bei Scythopolis wegen des erjt fehr fpäten Vorkom⸗
mens dieſes Namens unannehmbar ift, darum aber die Identität
mit Salem» Serufalem noch keineswegs wahrfcheinfich wird, weil
nd auch an Saalim in 1Sam. 9, 4, Saelabin in Inf. 19, 42
and Saalbim in Richt. 1, 35 und 1Kön. 4, 9 denfen läßt. Wenn
2) Sehr. 7, 1—8.
2) Nöldele a. a. O., ©. 169.
2) Brugſch, Geſchichte Ägyptens unter den Pharaonen, ©. 515,
332 Röfch
nun auch der Name Salem vielleicht nicht, wie Nöldeke meint,
aus der Abſicht der Vermeidung- eines Anachronismus mit dem
nachdavidifchen Namen Jeruſalem und einer Beehertlichung-ber Je⸗
Bufiter mit dem alter Namen Jebus gemählerft, To verrät er doch
auch mad; dem Gefühl des Schreibers diefes die fiäte Seit der
Formulierung der Erzählung, wie ſie uns Beute vorliegt. Diefe
Inſtanz kann man: nidgt mehr mit der von Tui?) protegierten
Trennung Salem von Jeruſalenm oder mit feiner von H. Gray?)
vorgefchlagenen Verwandlimg im Sildh im Falk der hiſtoriſchen Aırf-
faffung umgeben, da, wenn: mar: auch dem kühnen Bräy für
Bi. 76, 3 das Recht zu jeinen Emendatisw: „ſelne Hütte (die
Stitshirte> war in SHoh, aber feine Wohnung (dert Tempel) ift
in Zion“ zugeſtehen wolfte, Melchiſedek als Parallelgefiult zu dem
in Jeruſalem refidierenden judäiſchen König in Pſ. 110- unmöglich
je einmal Inhaber irgenbeines im Alten Teſtament ſonſt nie ge
naunten- Dynaftenſitzes oder im: Reich: Idruel gelegenen Kullus⸗
ortes! geweſen ſein kann. Nächſt dem erſcheint die Doppelbürde
eines Königs und Prieſters im hohen Altertum Nöldekt darum
als: zweifelhaft, dag ſie zwar mit dem levitiſchen Geſetze ber Grund⸗
ſchrift im Wiberſpruch, aber! nach Pf. 110 mit den thatfächlichen
Berhältniſſen eines judätfchen Königs im Einkkang ſtehe: Endüch
mutet einen: andy die Form des Segensfprenches! Melchiſedeks mit
ihrer Vermeidung des im Munde eines Nicht⸗Israeltten unmöh⸗
lichen⸗ Jahvenamens und- doch- ſofortigen Umſchreibung desſelben
mit: einer ihn erfetzenden Redensart: nach der Anficht Nöolbekes ald
apokryphiſch an: Allerdings fragt'man: fiegibelitem Sprach: „Gr
fegnet fei Abram: Gott dem Höcften, dem Schöpfer Himmels
und der Erde; und gefeguet' fei Gott‘ der Höchſte, welcher deine
Dränger in beine Hand beſchloſſen hat“ mmilflürlich: ift’ das emt
aus- der älteſten Gottes»: und Wellanfchauung des Skemitismnt
außerhalb. Jsraels gefloffene, Sprade? - Klingt: ſie doch’. ganz: wie
die Pfalmene und Ptophetenfpradhe: üben die Schspferherrlichkeit
Gottes; gerade als ob fie den diametralen Gegenſatz zwiſchen der
1) Tuch a. a. O., ©. 254.
3) 9: Grätzz, Geſchichte der Juden. BL; S. 70, Anm: 1.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedel. AR
pagasiftifchen Weltzeugung. mit ihrem elelhaften Zufammenſpiel der
Hemente in Wolluſt und Granfamkeit und der bihliishen Welt⸗
Ihöpfung mit ihrer Yenfchen Redultion alles Werdens auf, ben fitte
lichen Willensalt ber Gottesmonade repväfentieren meallte! Weckt
nicht insbeſondero, möchte man weitere fragen., das. einzige noch»
malige Vorkommen des yivay In in Pi. 78 den: Verdacht eines
religiöfen Yunchronismus. in unferer: Erzählung. da. dieſer Pſalm
jedenfalls nicht vor dem Untergang des Reiches Epkmim verfaßt
fein faun? Beachten wir schließlich auch noch die Spende Melchi⸗
ſedels, fo iſt diefelhe im Vergleich mit feinem Segenoſpruch von
leichtem, ja. fo leichtem Gewicht in der Wagschale der Kritik, dag
te Rüuldeke gar nicht. erwähnt, unb doch ift auch. fie nem. hiſtori⸗
ſchen Stanbemmft aus: betrachtet, auffallend, Er brachte Brot uud
Bein. heraus,, wie es einem im erſten Augenblick werkommt,. zu
der gewiß hochnötigen Erquicheng der: zurückkehrenden Sieger, allein.
das Alte Teſtament nennt mu als alfgemeine: und genügende Nah—
rungdr und Erquickungsmittel nur Brot: und. Wafſer, lüßt es doch
foger; den Meſſins mit: einem Trunk aus dem Bache.)), fich zum
Kamnmfe: ſtänken, daneben rühmt es Brot: und Wein. als die zur,
Lehensfreude gehürigen und überall: verwendeten Gottesgaben. Doch
ehen an Wein: konnte der: Häuptling von Salem nicht wohl. reich
fein,. menigften® Teimesfalla.jo-veich, dag en Abrahama ganze Kriegs⸗
dar fat. dem Kontingent: feiner drei Bundesgeneſſen damit zu:
bewirten vermocht hätte,. derm die Umgebung: Jeruſalems: wird
unter den meisreichen: Bezirken bed; Landen im Alten Teſtament
nicht genannt. Das: drängt: einem die Vermutung auf, bar Ber
faffer. Habe der; Spende. Melchiſedeks nicht: ſowohl den Zweck einer:
Erquicknng, alo vielmehr den: einer, fumbekifchen: Oblation, etwa,
wie Fm. W. Schul ?): meint,. des Gutes des ganzen: Landes, unter⸗
legen; wolen. Iſt dach ber Weinſtock ober: Weinberg: iu: ber: Wibel
das Gleichmis des iornelitijchen Wollek, wodurch ein: goldeuer Wein⸗
ſtock das Emblem des herodianiſchen Tempels und eine Weintraube
V P. 110; 7.
) Fr. W. Schultz, Melchiſedek, Artikel, in der Nealeneyklopädie file pror
teſtantiſche Theologie und Kirche von Herzog und Plaͤtt.
384 Ric
das Münzbild der Makkabäüer geworden ift. Eine derartige Sym⸗
bolit würde num biefen Zug der Erzählung nur dann als hiſtoriſch
empfehlen, wenn wir nnd Melchiſedek von dem durchbohrenden
Gefühl des politifchen Nichts der einheimifchen Dynaſtieen zu biefer
finnbildfichen Übertragung bes Schirmrechts über das Land an dem
thatlräftigen Fremdling gedrungen denken dürften. Möglich ift das
immerhin, und durch diefe Möglichkeit verliert der Auſtoß im der
Spende Melchiſedeks feine Bedeutung.
Wenden wir und vom lanaanitifhen Priefterfönig zu dem beb-
raiſchen Erzvater, fo erwedt and fein Berhalten den Argwohn
der Kritil. Seine Anerkennung des Gottes Melchiſedeks ift zwar
nicht bedenklich, um fo mehr aber fein Vorbehalt des Jahvenamens
für feine Auffaffung dieſes Gottes: war denn Jahve fchon der
Gott Abrahams? das ift die große Trage. Ebenfo ift Abrahame
Abgabe des Zehnten von feiner Kriegsbente (ſeit Hebr. 7, 2 wird
jo doch. nur er als Subjelt zu den mm ergänzt) an und für fid
unverfänglich, weil den Zehnten einer Gottheit zu widmen uralte
Sitte bei allen Völkern war !), allein die Abgabe bed Zehnten
gerade an den BPriefterlönig von Salem nimmt fi unmilffürlic
wie eine kluge Fiktion zur Rechtfertigung des fpäteren BPBriefter-
zehnten mit dem Beiſpiel des Vaters Israels aus, und man fann
e8 daher Wellhaufen ?) nicht übel nehmen, daß er die Zehnten⸗
abgabe Abrahams von Salem, beziehungsweile an das judäiſche
Zentralgeiligtum, als eine fpätere Analogie zu ber Zehntenabgabe
Jakobs an den israelitiſchen Neichötempel auffaßt, hat doch auf
Zu?) hier „die Zurüctragung fpäterer Einrichtungen auf bie
Urzeit“ erkannt. Der fpezielle Gegner unferes Kapitels, Nöldeke,
redet übrigens von diefen Dingen gar nicht, er bezeichnet nur die
ſtolze Uneigennügigleit Abrahams, der nicht um Lohn gehandelt
haben möge, als eine Zuthat des Erzählere, allein eben diefe drüdt
zu charakteriftiich die jonveräne Verachtung des Sodomiters von
1) Winer, Bibliſches Realwörterbuch, dritte Ausgabe, Art. Zehent, der.
2) Wellhauſen, Die Kompofition des Hexateuch I, 415; in Jahrbücher
file deutjche Theologie, Jahrg. 1876.
3) A. a. O., ©, 266.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 886
dem ſich als Auserwählten Gottes fühlenden Patriarchen aus, als
daß fie ſich als erfunden kundgäbe.
So ſcheint denn der Kern in Gen. 14 gefchichtlich noch weniger
geſind zu fein, als dies bei der Schale der Fall war, unb dennoch
zeigt auch bie Begegnung Abrahams mit Melchifebet unter dem
Mitroflop des ravra de donıudbere ebenfo unverfennbare Zeichen
echter Gefchichtlichkeit, al8 der pentapolitanifche Krieg.
Betrachten wir zunächſt die „rätfelhaft und anfprechend er-
ſcheinende“ Geftalt Melchifebels, wie fie von Hermann Schul ?)
prädiziert wird, fo verliert fie unter dem Mikroſkop viel von ihrem
ſymboliſchen Helldunkel, allein was fie an ihrem weihevollen Zauber
einbüßt, das gewinnt fie dafür am gejchichtfichem Lichte. Der Name
Melchiſedek bedeutet nämlich ſchwerlich „König der Gerechtigkeit“,
jo trefflich auch diefe Bedeutung mit ber den Israeliten mit den
übrigen Drientalen gemeinfamen Hochſchätzung der Gerechtigkeit als
der erften Regententugend harmonieren würde, weil ber Augenfchein
das Urteil Eb. Neftles ®) über den Gehalt der zufammengefetten
femitifchen Namen beftätigt, wonach die meiften einen Gottesnamen,
fei e8 nun im erften ober im zweiten Gliede, in fich fchließen.
Neftle 4) weift diefe Regel insbefondere an den mit 759 zuſammen⸗
gejeßten Namen im Hebräifchen, Afiyrifchen und. Phönizifchen nad.
Benden wir fie nun auf prypbo an, fo fehen wir uns vor bie
ſchwierige bei allen diefen Zufammenfegungen nur von Fall zu Tall
zu entfcheidende Trage geftellt, welcher Beſtandteil das Subfelt und
welcher das Prädikat ſei. Das von Neftle mit 3737350 zuſammen⸗
geftelfte Pyafim (auch pyyhr) wide zb zum Subjeft empfehlen,
was uns auf einen phöniziich-Tanaanitifchen Molochdienfſt im vor-
iBraelitifchen SYerufalem führen würde. Die Thatſache eines folchen
Kultus mit feinen bekannten Menfchenopfern ſcheinen nım dem
Schreiber dieſes wirklich die beiden Erzählungen von der Verjuchung
⸗
F 1) Hermann Schultz, Altteſtamentliche Theologie. Zweite Ausgabe.
687:
2) Bf. 29, 4. If. 32,1. 2Sam. 8, 15m
3) EB. Neftle, Die israelitifchen Eigennamen nad) ihrer ——
lichen Bedentung. S. 21.
4 a. O., ©. 175—177.
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 22
836 Röſch
Abrahams zu der Opferung Iſaals in Gen. 22 und van dam
Altarbau Davids auf dem Standort des Peftengeld auf der Tame
Arafnas des Jebuſiters in 2 Sam. 24 zu verbürgen. Beide be
weiten nämlich die Verdrängung fannanitischer Menfchenopfer auf
dem Berg Morija durch die israelitifchen Tieropfer, insbeſondere
fegt die letztere es einem nahe, in dem gänzlich unmotivierten Stand-
ort de8 Wiürgengels auf der Yebufiterteune nach Asınfegie des
Berguamend nn) 7 von ben Götzenhöhen Salomos fur feine
ausländifchen Weiber in 2Kön. 23, 13 1) den phantoftifchen Reflet
der Tradition über den einſtigen Standort des Molochbildes währen
der jebufitifchen Herrfchaft zu vermuten und den Namen bes Tennen
befigers für. den des als legten Königs der Jebuſiter 2) auch zu
gleich letzten Repräfentanten des Miolochdienftes zu nehmen. Cine
hübſche Stütze wärde die Deutung ber erften Namenshälfte Meldi
fedel3 anf den Moloch auch in der phöniziſchen Abkunft des erfieren
bei Leo Grammaticus finden, welcher ihn zum Sohne des Sidos,
des Gründers von Sidon macht, wenn auf die byzautiniſche Trabi
tion mehr Verlag wäre, obwohl fi dann und warm eine Berl |
in biefem Kehricht findet, wie die im Chronicon paschale aus
Malalas erhaltene Berufung für die aſſyriſche Urgeſchichte auf fü
Schriften eines Zeumgususg 6 Baßvinıas Ikoong beweift, welden
Auter Gelzer?) wit Scharffiun und Glück in deu: ſumeriſch
alkadiſchen Keiljchriftberichten relognosziert bat, ein Beifpiel, au
dem man erſieht, wie Notizen fpütefter Traditionsſammlungen bis
ins höchfte Altertum zurückreichen können. Was nun das in diefem
Tall als Prädikat zu nehmende ps betrifft, fo dürfte man ihn
bei feiner Beziehung. auf den Götzen keinenfalls den Begriff vr |
1) Georg Hofmanns Überiegung des Ramms mit „Olberg” wmittelf
ber Hupotheſe einer Risoba von RM oder IND in B. Stade, Zeitigrit
für die altteftamentliche Wiffenfchaft 1882, ©. 175, hat doch wohl kein Bürger
echt is. der Wiſſenſchaft?
2) 2 Sam. 24, 23 und Emald, Gefchichte des Bolkes Israel. Dritte
Ausgabe. 3. Bd. ©. 221, Aum.
5) 9. Gelzer, Sertus Julius Afrilanıs und die byzantiniſche Chrond⸗
graphie. Erſter Teil. ©. 77.
9 A. a. O., ©. 89.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 38
wnipesfellen, füllich beſtimmten Gerechtigkeit unterlegen, ſondern mar
den der pariiknlariftiſchen fittlich indifftrenten, welche die Monolatrie
von ihrem betreffenden Volls⸗ und Detögatt für das Intereſſe
feiner. Verchrer erwarkete und wie fio ſich vielleicht ein Phklifter-
Kuptling von Aslalon, der in einem uſſyriſchen Keilſchriftbericht
Zidqa, das iſt möglicherweiſe Zedelic, Haft, im ſchwarzen Walfiſch
beim Baltrer dachde, wenn man bem H73 nicht mit Muckſicht auf
ef. 49, 24 nach dem Vorgang vos Schultens !), mit Bräto«
rind 2) und Neftle 3) die Bedentung kriegeriſcher Tapferleit oder weit
D. H. Mülter 9 die der Trefflicgleit Kberhampt mach dem Himjari⸗
iden und Arabifchen geben will, Wie die erfte, fo faaı man nun aber
auch mit W. v. Baudifjtn ?) His weite Hälfte deu Namens zum
Subjekt madhen, da dis drei Namenzuſammenſetzungen in den him⸗
Iarifchen Juſchrefter: Tsipts, der Gerechte hat fir) erinnent, yarız,
dt Gerechte hat erhöht (Baudiſſin: Sadil erglänzt), und nn,
bialektifch flatt ron, der Gexrechte hat gefät, in dem ps einen
Gettesnamen vermuten lafſen °), der dem auch wirklich ie der
phönigtfcheon Mytholbogie bei Phils und Dosnascas 7) in den Ber
grändern des Kultur und Site, den beiden Brüdern Biesng und
Soden (mit den Varianten Zudex ımb ZIedew) oder Sckdenog, dud
iſt hebräiſch up um pyn oder p3y, und im dem mudiſchen
Hanckeunamen 74 für Jupiter zu Tage tritt. Freilich haben
weder die hintjariſchen Inſchriften, noch die helleniftiſche Redaktion
der phöntzifchen Mythologie, noch bie shalımudifche Aſtrononiie im
biefer Frage Anſpruch auf Altertam und Nutorität, allein fie bewsiſen
maerhin die eiuftige myihnlegifche Berwendung von ps. Seiner
1) Sefenius, Der Prophet Jeſaja. 3. Teil. ©. 186.
2) Prätorius, Himjarifche Beiträge (Zeitfchrift dev Deutſchen Morgen⸗
ländiſchen Geſellſchaft 1872), ©. 747.
) Neſtle a. a D., S. 172, Mm 1.
4) Dav. H. Müller, Himjariſche Inſchriften (a. a. O. 1875), ©. 599.
i 5) Wolf von Bandiffin, Stuben zur ſemitiſchen NMeligionsgeichichte
15, Anm. 1
6) Brätorins ‚ Stmiarifche Iuachriften fa. a. O. 1872% ©, 426.
7) Joh. Konr. Orelli, Sanchoniatkenis ete. fragmente, pag- 22,
not, 48, pag. 32 u. 38, endlich pag. 89, not. 106.
22*
888 Röſch
Wahl zum Subjekt würde endlich feine durch den Namen des ſpä⸗
teren jerufalemifchen Häuptlings Adoniſedel verblirgte Stabilität
gegenüber von dem Wechſel des erften Elements von a5 zu fe
zu befonderer Empfehlung gereihen. Mag man nun aber aud im
erften oder im zweiten Namenelement den Gott fuchen: er bleibt
in beiden Fällen derfelbe, denn wenn nad Epiphanius !) die Inden
den Planeten Jupiter auch Xwyeß Baal nannten, jo wird man
hieraus den Schluß wagen dürfen, daß ps fein Spezialgott, ſondern
nur ein Epitheton des höchften Gottes war, wie e8 nach dem Urteil
Shlottmanne?) und v. Baudiffins?) Moloch, Baal und Adon
auch waren, jo daß aljo alle vier unter fich identiſche Vorftellungen
wären. Läßt fich mit dem vorftehenden Reflexionen die gefchichtliche
Wahricheinlichkeit des Namens Melchifedel verteidigen, jo wird man
dagegen die gefchichtliche Unmahrfcheinlichleit des Nefidenznamens
Salem mit nichts verringern fünnen, denn mit der von Hißig t)
zur Hebung feines Hiftorifchen Kredits verjuchten Ableitung vom
füdarabifhden Siläam, „Stein", laßt fih ſchon darum nichts aus⸗
richten, weil der Beweis für den ſüdarabiſchen Charakter der Sprade
der vorisraelitiichen Bewohner Jeruſalems wahrſcheinlich unerbring-
fich bleiben wird. Dafür dürfte die Meöglichkeit der Doppelwürde
Melcifedels als König und Priefter unanfechtbar fein, menigftens
treten Hermann Shulg) und Fr. W. Schulg ®) neuftens
für fie ein. Jedenfalls fteßt diefer Doppelwürde Melchiſedeks der
Priefterfürft Raguel⸗Jethro⸗Chobab, dem die ihn umgebende genen-
logiſche Verwirrung, noch ficherer aber die altarabifche Nominativ⸗
form feines Namens mit Vav⸗Cholem, arabiih Duma, ftatt des
hebräifchen Jether mit der abgeftreiften Dellinationsendung die Ge⸗
Schichtlichkeit gewährleiftet, wenn gleich Wellhaufen 7) fich die Ans
1) Epiph. adv. Hier. S. I, cap. 16.
3) Schlottmann, Baal, Art. in Riehm, Handbwörterbuch des biblifchen
Altertums. |
5 Wolf von Baudiffin, Moloch, Art. in der Henlencyklopäbie ı. [. w.
4) Hitzzig a. a. O., ©. 31.
5) Herm. Schultz a. a. O. ©. 148.
6) Fr. W. Schultz a. a. O.
7) Wellhauſen a. a. O. H, 539.
Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 339
fiht erlaubt, der Jahviſt habe in der betreffenden Erzählung viel-
acht urfprünglic gar keinen Namen genannt, als vettender Pendant
zur Seite,
Legt man endlih den Segensſpruch Melchifedels unter das
Glas, fo ift Nöldele allerdings zuzugeben, daß der Ausdrud „Bott
der Höchfte, der Schöpfer Himmels und der Erbe” fih wie eine
Umfchreibung des Jahvenamens ausnimmt, denn das Subjekt
by 5x vertritt mit yrby og in Pf. 78, 35 und 56 ohne Frage
Jahve und das Attribut yayy oroy UP hat feine Parallele dem
Gedanken nach in den Ausfprücden der Propheten» und Lehrbücher
des Alten Zeftaments über das Verhältnis Gottes zur Welt !)
und dem Wortlaut nad) abgejehen von dem Wechjel des Verbums
in dem ya) bay mes einer Neihe von Palmen ?). Indes iſt
8 wahrfcheinlich, daß der Ausdruck ynby x ein Hinter die Anfänge
der israelitiſchen Offenbarungsreligion zurüdreichender allgemein
femitifcher Gottesname ift, wie das von 5 allein Nöldele)
beiviefen hat. Dafür fpricht der Tünftliche Archaismus feines Ge⸗
brauchs in Pf. 78, der durch die von dem Dichter ausgejprochene
Afiht, Nätfel aus der Vorzeit zu verfündigen, bewiefen wird;
dafür fpricht der Rücktritt feiner Beftandteile aus der Sprache der
Brofa in die der Poefie während des Standes ber Dffenbarungs-
religion , welchen der altteftamentliche Kanon in dem Gros feines
Sahalts repräfentiert; dafür fpricht ferner die nirgends wahrnehm-«
bare Verwendung des einfachen jrby zur Namenbilbung, während
diefe bei dem doch auch der PBatriarchenzeit zugeeigneten sw in
zwei bis drei jedenfalls ſehr alten Beifpielen nachgewiejen werben
fan, Umftände, auf welche aufmerkfam gemacht zu Haben, das
Verdienst Neftles *) if. Dem allem fei Übrigens, wie ihm wolle;
daß pohy 5 ein auf breiterer, micht ſpezifiſch israelitifcher Baſis
ruhender Gottesname von hohem Altertum fei, bezeugt jedenfalls
die PBarallelifierung von by und noy im Eingang der legten
1) Serm. Schult a. a. DO. S. 526.
2) ®. 115, 15; 124, 8; 134, 8; 146, 6.
5), Nöldeke in den Situngsberichten der Alademie ber Wiffenfchaften zu
Berlin 1880. ©. 760 ff.
9 Neſtle aa. O., ©. 44.
340 Ri
Prophetie Bileams, deſſen Hochſprüche auch Wellhauſen?) für
bis auf Num. 28, 28 und 24, 20 —24 intalte Reſte alter Zrabition
im Buch des Jehoviften anfieht. Näheren Aufihlug über diefe
breitere Bafis, begiehungsweife über den vorbin behaupteten allge:
meinen femittichen Charakter bes Gottesnamens dürfte uns nun ein
Neihe von WBibelftellen gewähren. Bielleicht berechtigt ſchon in
DB. 88, 7—9 und 19 bie für die umter dem Beiſtand Aſſure
gegen Israel verblindeten Rachbarväller winfchenstverte Exrkemmitnis,
daß Yahve allen yrby auf ber ganzen Erde fei, zu dem Schluß,
daß die femitifchen Völkerſchaften alle biefes Prädikat für ihre ver:
fchiedenen National⸗ und Xervitorialgötter in Anfpruh und Ge
brauch genommen haben ?). Daß dies befonders in Bebylonien ge
ſchah, beweift unwiderleglich dao nad) ben kritiſchen Bihefforfchern
exiliſche 14. Rapitel Im Buch Jeſaja, deſſen Verfaffer feine Ver⸗
trautheit mit der babyloniſchen Mythologie durch den nyro "ir, den
„Berg des Stifte" bei Suter, ſonft gewöhnlich „Berfanmlungöberg”,
weicher nach Friebr. Deliuf 7) umd Schrader ©) dem keilſchrift⸗
lichen Gotterberg entfpricht, genügend dokumentiert. Diefes Kapitel
legt nämlich dem König von Babel den Titanenplan in ben Mund,
feinen Stuhl Über Be Sterne des EI erhöhen und fi dem &ffon
gleichfielfen zu wollen. Wan wird nicht zu weit gehen, wenn man
in biefer Prahlerei das Recht fucht, wenlgftens bie Idee, wenn auch
nicht den Terminus des ziby 5 dem babyloniſchen Gotterſhſtem
zu vinbizieren, zumal ba dieſe Idee Hei Deuterojefaja 46, 1 und
bei Seremis 50, 2 und 51, 44 in der Aufführung bes Bel als
erfien unter ben babyloniſchen Göttern realifient iſt 6). Nicht die
1) Wellhauſen a. a. O. H, 580.
2) Spuren Hiervon kann man wenigfiens mit Hitig a. a. O., ©. 45,
in dem moabitiſchen Ort6namen MDYbN und mit Haleoy im dem nordarabiſchen
Eigennamen I 729 in den ufchriften von Safe finden. Der erfiere hat
nayDR wohl == de ANegenemmen und ber letztere bemerkt in feinem Essai
sur les inscriptions du Safa. Suite et fin. im Journal Asistique, VI.
S. t. XIX, p. 482 zu 35 12Y: „O’est le ’Eisodv phemicien traduli par
Yyougarios [Nein!], lo by hebreu;t
8) Fr. Delitzſch a. 0. ©. ©. 118.
4 Eb. Schrader a. a. O., ©. 389,
5) Schiottmann a. a. O.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 341
gleiche Autorität wird man im diefer Frage bem Danielitifer zu⸗
erkennen Bönnen, wenn er den König Nebuladnezar 3, 26 an die
drei Männer im Feuerofen, 3, 32 an feine Völler und 4, 14 an
Daniel, fowie den letzteren feldft 5, 18 und 21 an den König
Belfazar das Wort vom why mby und why richten läßt, ba
ihn dabei ebenfo gut die dichterifche Licenz, als die poſitive Kennt⸗
nis don dem Abſchluß des Babylontfchen Pantheons mit einem
höchften Gott geleitet haben kann. Doch tft das letztere immerhin
möglich, weit er einerſeits Nebukadnezar 4, 5 monolatrifch von
Bel als feinem Gott veden läßt und anderjeite doch die Ehaldäer
ale durchaus polylatrifh I) ſchildert, disparate Vorfteflungen, welche
nur in ber Vorausſetzung eines Obergottes zu ihrer Einheit fommen.
Beftätigt werben diefe biblifchen Andeutungen durch die bisherigen
mythologifchen Erhebungen aus den Seilfchriften infofern, als, um
Delitzſch) für die Mehrzahl feiner Forſchungsgenoſſen reden zu
iaffen, „ganz frei von jeglichem die ober jene Stadtgottheit als
folche bevorzugenden Parlikularismus ber Glaube an ‚Einen Gott
über alle Götter‘ durch die babyloniſchen Prieftergefänge hindurch
geht”, wenn au der Name „Bott der Höchſte“ noch nicht ge.
funden worden iſt ). Der mit dem Brinzipat im älteften baby»
loniſch⸗ſemitiſchen Götterfyftem betraute Gott aber heißt Ilu, ein
Name, ber ſich auch bei Diodor von Sieifien *) in feiner befannten
1) Dan. 2. 11; 3, 12; 5, 4. 11. 28; 6, 8.
2) Er. Delikf a. a. O. ©. 164.
8) In dem Mittelglieb der theogontichen Triabe des Damaseius bei Mo-
vers, „Die Phönizier”, Sb. I, &. 275—276 und Eb. Schrader a. a. O.,
&. 12: — "row zei Amor zei "dor — ſcheint nflerdinge ein YSY durch-
zuſchimmern, allein ba das Affyriſch⸗Babyloniſche eine Nomirialbildung auf in
oder on Aberhaupt nicht kennt (Ebd. Schrader, Die affurifch- babyloniſchen
Keilinfchriften, S. 213— 214) und insbeiondere dag Adjektiv ilu bon dev Wurzel
br, bat, fo iſt ZAAswos wohl eher eine aus der Reminiseenz bes hebriifchen
roh entſtandene Verderbnis von Taoc ober Haoc, wie den auch Eb. Schrader
es in feinem Citat mit einem Fragezeigen verfehen bat. - -
4) Diod. Sic. D, 80. Es ift nämlich mit Weffeling fintt des finnlofen
2, Abov oder HAsov: "Hdov zu leſen, wie Gefenins, der Prophet Sefala ILL, ©. 833
will. Wefleling ſelbſt verftand das 'HAo» nicht und vermutete dafür Bijdor.
Zum Schutz der Becepta reicht die Angabe de Simplicius tm fechflen nach⸗
32 Rafc
Aufzählung der fünf chaldäifchen Planetennamen als Mogç für
den Kronos — Saturn erhalten hat. Ein inftinktiver Impuls ver
bietet die Trennung dieſes Ilu vom hebräifchen dx, dieſem etymo⸗
logiſchen Märtyrer der Neuzeit. Lngeftört bat fi) übrigens Ilu
im Befige feinee Würde nicht erhalten, er fcheint fie vielmehr teils
an Bel, wenn er nicht mit diefem identifch war, was freilich jehr
nahe Liegt, teild an Anu, den Anammelech der Bibel und Dannes
des Berofus, teil an den Meeresgott En, teil an den Mondgot
Sin, teil® an den fpäteren Lolalhauptgott der Stadt Babylon,
Merodach, verloren zu haben, wenn man anders nad) deren Ehren
prädifaten: „Der Erhabene, der Vater der Götter, der Schöpfer“
und „ber Herr der Länder" wie Bel‘); „Erftgeborener, Vater
der Götter”, wie Anı 2); „Herr des Himmels nnd der Erde“, wie
Ea ®); „Herr der Götter, Himmels und der Erbe, König der Götter
und aller Götter Götter, jo da bewohnen die großen Himmel“, wie
Sint); „König bes Himmels und der Erbe, König der Götter,
ilu iu = Gott Gott = Gott near 2Eoyıv (ob „höchfter Gott“?
wie Delitzſch und Schrader meinen), wie endlich. Merodach ©) ges
priefen wird ©), urteilen darf. Wie bei den Babyloniern, fo begegnet
uns ein höchſter Gott aber auch bei den Phöniziern, und zwar
nicht bloß mit dem Begriff, fondern au mit dem Namen des
by bin. Sreili find die alonim vealonuth im „Poenulus‘ des
Plautus ohne Beweiskraft für ihn, nachdem fie durch die Auffin
chriftfichen Jahrhundert: Koovov, öv jAlov darson ol aiasol TEXOSHyöpevor,
nit zu, demm ber gute Mann bat wohl nur nad Diodor geweisſagt und
dort die Recepta ſchon vorgefunden. Ebenfo wenig taugt die Papyrusnotiz
Letronne?s, flatt Saivoy rũ nAlov [aoznp, riv Lodt]wv xUxdor xıA.
wird zu Iefen fein: Balvo» BE Tod Alov rov xuxdov. Auch die Säuleninſchrift
von Beirut: xodvov Hilov Bouos, beruht entweder auf einem Mißverftänduis
bes Steinmeben oder bes Entzifferers.
1) &. Schrader, K. A. X, S. 174.
2) Ebenda S. 10—11.
3) Ebenda ©. 6.
4) Sr. Delitzſch a. a. O. ©. 185.
6) Eb. Schraber a. a. O., ©. 422.
6) Schröder, Die Phöntzifche Sprache. ©. 102. 129. 132. 174. 181.
200, und Neftle a. a. O., S. 48.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedel. 343
dung des Appellativs 7b für Gott außer Zufammenhang mit
moy gefeßt find umd die Smfchrift von Parahyba gerade durch
ihre nMyn omıdy ihren Kredit verloren bat. Ebenſo wäre ein
etwaiger Rückſchluß anf ihn ans den Angaben der famaritifchen
Helleniften ?) über die Beſtimmung bes Garisimtempels für den
„höchften Gott“ oder „höchften Zeus“ um der angeblichen phönis
ziſchen Abftammung der Samariter 2) willen nur ein Trugſchluß,
da der famaritifche „größte oder „hüchfte Gott“ bei Joſephus 3)
wie bei ben famaritifchen Helleniften nur der aus Gen. 14, 18—22
gezogene Ausdruck der Inanſpruchnahme des Salems Melchiſedeks
für ihre Hauptſtadt Sichem von ber famaritifchen Eiferſucht auf
Jeruſalem ift, welche zu dieſem Zweck die Septuagintaüberfegung
von Gen. 33, 18 benußt oder vielleicht fogar veranlaßt hat, nicht
aber der Ausflug eines jübifch-phöniztfchen Synkretismus, wie Mo»
vers 4) will, der fich für diefen Charakter der famaritifchen Re⸗
Iigton auf die doch nur für die Zeit ihrer Prägung beweijenden
jamaritifchen Münzen mit dem von Sonne und Mond flantierten
Zempelbild und auf die angebliche Prahlerei des Magier Simon
mit einer Inkarnation excelsi dei, qui sit supra conditorem
mundi in feiner Berfon 5), welche doch nur nach der gnoftijchen
Unterfcheidung zwiichen dem höchſten Gott und dem Demiurg zu
verſtehen ift, vergeblich beruft.
So bleiben nur noch die Philoniſchen Fragmente übrig, welche
in verworrener Darftellung von biefem Gotte reden). Sie laſſen
wur Zeit der Kabiren emen gewiffen „EAsodv genannt “ Yıyıoros "
und „ein Weib, genannt BneodI* mit einander in der Gegend
von Byblus gewohnt haben, denen zwei Kinder, ’Erriysos ober
Arrcy3wr, fpäter Odgevös genannt, und I, geboren worden
1) Sälottmann, Die fogenannte Inſchrift von Parahyba (Zeitichrift
der Deutſchen Morgenländiſchen Geſellſchaft 1874), ©. 486.
2) Srendenthal, Alexander, Polyhiſtor u. f. w., ©. 8586 und
Movers, Die Phönizier, Bd. I, S. 557—558.
3) Jos. Antt. XI, 8, 6 und XH, 5, 5. Die a. let. O.
4) Movers a. a. O.
5) Clem. rocogn. I, 72; D, 7.
$ Orelli, Sanch. Fragm., pag. 24 suq.
844 i LT.)
fein. Der Vater 5"Yıyıorog fei bei einer Begegunng mit wilden
Tieren umgelommen und darauf unter die Götter verſetzt worden,
der Sohn Uranos aber habe nad Übernahme dee väterlichen Herr⸗
haft feine Schwefter Ga geehelicht und mit ihr vier Söhne er⸗
zeugt: "IAoc ober Kobvos, Börviog und Aayaıv aber Size, ub
Arias, bo habe Urames auch von anderen Gemahllinnen eine
zahlreiche Nachkommenſchaft gehabt. Dies habe zu Eiferfudtt-
händeln zwiſchen ihm unb GA geführt, fo daß fie ſich getrennt
hätten, Uranos aber habe fie auch nach feiner Trennung von ih
befiebig befucht und vergewaltigt, um fie hernach wieder zu ver⸗
laſſen, ja er babe fogar ihre Rinder zu verderben verſucht. Auf
das Hin habe Gu Bundesgenoſſen geſammelt nud ihn oftmals ab-
gewehrt. Indeſſen fei Kronos zum Manne herangewachfen und
babe alodann auf Rat und mit Hilfe des Hermes Xrismegiftos,
die Partei der Mutter ergreifend, feinen Bater in. Bundesgenoſſen⸗
fchaft mit den ’EAoeise befriegt und vom Throne geftoßen, um
diefen felbit zu befteigen. Seinen Wohnfit habe Kronos mit einer
Mauer umgeben und Byblus als erfte Stadt gebaut. Nachher
habe er feinen Bruder Atlas aus Argwohn in bie Tiefe ber Erde
binabgeftoßen und verfcharet, ferner feinen Sohn Iddedos mit
deffen eigenem Schwert ermordet, wie auch ber eigenen Tochter dad
Haupt abgefhlagen. Der in diefer eubemeriftiichen Hülſe ertenm-
bare Kern ift: Die Phöntzter flntuterten einen höchften Gott als
Schöpfer des Himmels und der Erbe. Diefer hieß in Byblu
teile poby, teils du, teils wohl and infolge der Zufammennahm
beider Benennungen zu einem Namen poby In, denn ale Br
wohner der Gegend von Byblus ift Eliun mit dem Erbaner vor
Byblus, feinem Sohne Ylos Krenos, offenbar identiſch. Außer⸗
dem fiel diefer Hödhfte Gott aber auch noch mit dem von einem
Eber getöteten Adonis zufammen. Sein Charalter und Kultus wat
nach der Mordluft feines mit dem Großvater identiſchen Enbels
ein molochiſtiſcher. Soll nun der Gottesname ray un im vor⸗
israelitifchen Serufalem noch unhiftorifch fein? Und mie es der
Name nicht tft, fo tft es auch das Attribut nicht. Denn wenn
auch die Kosmogonieen des Semitismus alles Werben als einen
feruellen Prozeß der Urkräfte darftellen, fo fchränft doch die ba
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 845
byloniſche Tradition diefen Prozeß anf das Chaos ein und über⸗
trägt beffen kosmiſche Distribution, beziehungsweife die ausgeftal⸗
tende Schöpferthätigfeit, den in und mit ober neben bem Chaos
gewordenen Göttern, beziehungsweiſe diefem ober jenem inzelgott
ter Beihilfe der anderen. Wenn dagegen bie phönizifche nad)
Philo den fernellen Werdeprozeß auf das gefamte Schöpfungsdetail
ausdehnt, wenn fie insbefondere den Eliun den Uranos und bie
Ga geſchlechtlich erzeugen ftatt erfchaffen läßt, fo braucht man nur
dad ya mod ip im Munde des Tanaanitifchen Briefterfürften
im Sinne de Beftgerd von Himmel und Erbe zu nehmen, weil
er fie al8 feine Kinder erzeugt hat, wie Deut. 32, 6 Jahve als
Later Joraels deſſen Igp heißt, um auch dieſer Vorftellung gerecht
ju werden.
Wenben wir uns von Melchifedel zu Abraham, fo haben wir feine
bifterifche Exiſtenz als Vater Jaraels einftweilen auf die Autorität
eines Ewald, Dillmann und Riehm Hin vorausgefegt; neuer
dings wird biefelbe jeboch ebenjo angefochten wie die Melchiſedeks.
Ihre Gegner find, um nur Hauptnamen zu nennen, Nölbele ?),
Dozy), Wellhaufen®) und Stade 9. Eine dem Erzvater
nicht eben gilnftige Neutralität beobachtet Hermann Schulg ®)
mit jeinem fleptifhen Botum, man mäfje es nach dem Zuftand
der Überlieferung unentſchieden Taffen, imwiefern der Name und
die allgemeinen Lebensumriffe Abrahams von gefchichtlicher Zuver⸗
läſſigkeit ſeien. Bon den Gegnern begnügt fi mın Nötbele mit
der Appellation an bie allgemeine Tingefchichtlichkeit der angeblichen
Stammpäter ganzer Vöoller und an bie ſymboliſche Dignität des
Namens Abram oder „hoher Vater“. Mit dieſen beiden Waffen
beginnt auch Doz feinen Angriff, den Hauptichlag aber führt er
mit dem Parallelismus des Felſen und der Brunnengruft, daraus
2) Röldele a. a. O., &. 157.
2) Dozy, Die Iuraeliten zu Melle von Davids Zeit bis ins 5. Jahr⸗
hundert unferer Zeitrechnung. S. 21—26.
8) 3. Wellhauſen, Prolegomena zur Gedichte Iraels (Zweite Aus⸗
gabe der Geſchichte Israels, Bd. I), ©. 837— 838.
9 B. Stade, Gefchichte des Volkes Israel. S. 110, Anm. 2,
5) Hermann Schultz a. 0. O. ©. 108
844 . 47.)
feten. Der Bater ö"Yıyıoros fei bei einer Begegnung mit wilden
Tieren umgelommen und darauf unter Die Götter verſetzt worden,
der Sohn Uranos aber habe nach Übernahme der väterlichen Herr⸗
fchaft feine Schwefter Ga geehelicht und wit ihe vier Söhne er⸗
zeugt: "IAog ober Kodvos, Berukos und Aayaıv aber Zizem, ul
Arlas, bo babe Urenes auch von anderen Gemaßlinnen eine
zahlreiche Nachkommenſchaft gehabt. Dies Habe zu Eiferfuchts⸗
bündeln zwiſchen Ihm und BA geführt, fo dag fie ſich getrennt
hätten. Uranos aber babe fie auch nach feiner Trennung von ik
befiebig befucht und vergewaltigt, wm fie hernach wieder zu ber
laſſen, ja er babe ſogar ihre Finder zu verderben verfucht. Auf
das Hin habe Gu Bundesgemoffen geſammelt ımb ihn oftmals ab⸗
gewehrt. Indeſſen fei Kronos zum Manne herangewachſen und
babe alodann auf Rat und mit Hilfe des Hermes Xrismegiftos,
die Partei der Mutter ergreifend, feinen Vater in. Bundesgenoſſen⸗
Schaft mit den ’EAoeise bekriegt und vom Throne geftoßen, um
diefen felbft zu befteigen. Seinen Wohnfig habe Kronos mit einer
Mauer umgeben und Byblus nis erfie Stadt gebaut. Nachher
habe er feinen Bruder Atlas aus Argwohn in bie Tiefe ber Erde
binabgeftoßen und verfcharet, ferner feinen Sohn Zddedog mit
deſſen eigenem Schwert ermordet, wie auch ber eigenen Tochter da}
Haupt abgefchlagen. Der in diefer euhemeriftiichen Hülſe erkenn⸗
bare Kern iſt: Die Phonizier flatuterten einen höchften Gott als
Schöpfer des Himmels und der Erbe. Diefer hieß in Bub |
teile poby, teils bu, teile wohl and infolge der Zuſanmnennahme
beider Benennungen zu einem Namen yıbp In, benn ale Be
wohner der Gegend von Byblus ift Elinn mit dem Erbauer vn
Byblus, feinem Sohne Ilos Krenos, offenbar ideutiſch. Außer⸗
dem fiel diefer höchſte Gott aber auch noch mit dem von einem
Eber getöteten Adonis zufammen. Sein Charakter und Kultus war
nach der Mordluft feines mit dem Großvater identiſchen Gutes
ein molodjiftifcher. Soll nun der Gottesname jhhy da im vor
israelitifchen Serufalem noch unhiſtoriſch fein? Und wie es der
Name nicht ift, fo iſt es auch das Attribut nicht. Denn wenn
auch die Kosmogonieen des Semitismus alle? Werben als einen
jeruellen Prozeß der Urkräfte darftellen, fo fchränft doch die ba
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 845
byloniſche Tradition diefen Prozeß anf das Chaos ein und über⸗
trägt deffen kosmiſche Distribution, beziehungsweife die ausgeftal⸗
tende Schöpferthätigfeit, den in und mit oder neben bem Chaos
gewordenen Göttern, beziehungsweiſe dieſem ober jenem inzelgott
unter Beihilfe ber anderen. Wenn dagegen bie phyoniziſche nach
Bhilo den fernellen Werdeprogeß auf das gefamte Schöpfungsdetall
ausbehnt, wenn fie insbefondere den Eliun den Uranos und bie
Ga gefczlechtlich erzeugen ftatt erfchaffen läßt, fo braucht man nur
das ray may min im Munde des Kanaanitifchen Briefterfürten
im Sinne des Beſitzers von Himmel und Erde zu nehmen, weil
er fie al8 feine Kinder ergengt hat, wie Deut. 32, 6 Jahve als
Bater Israels defien 15p heißt, um auch diefer Borftellung gerecht
ju werden.
- Wenden wir uns von Melchiſedek zu Abraham, fo haben wir feine
bifterifche Exriftenz als Vater Jsraels einftweilen auf die Autorität
eines Ewald, Dillmann und Riehm Hin vorausgefeßt; neuer
dings wird biefelbe jedoch ebenfo angefochten wie die Melchiſedeks.
Ihre Gegner find, um nur Hanptnamen zu nennen, Mölbele !),
Dozy), Wellbanfen?) und Stadet). Eine dem Erzpater
nicht eben günftige Neutralität beobachtet Hermann Schulg ®)
mit feinem fleptifhen Votum, man mäfje es nach dem Zuftand
der Überlieferung umentfchteben Iaffen, inwiefern ber Name und
die allgemeinen Lebeusumriſſe Abrahams von gefchichtlicher Zuver⸗
fäffigkeit feier. Bon den Gegnern begnügt fi mm Röldeke mit
der Appellation an die allgemeine Ungeſchichtlichkeit der angeblichen
Stammpäter ganzer Völker und an die fymbolifche Dignität des
Namens Abram oder „Hoher Vater“. Mit dieſen beiden Waffen
beginnt auch Dez feinen Angriff, den Haupiſchlag aber führt er
mit dem Parallelismus des Bellen und ber Brunnengruft, daraus
1) Nöldeke a. a. O. &. 157.
2) Dozy, Die Jarageliten zu Melle von Davids Zeit bie ins 5. Jahr⸗
hundert unferer Zeitrechnung. S. 21—26.
3) 3. Welldanfen, Brolegomena zur Gefchichte Ieraels (Zweite Aus⸗
gabe der Seichichte Israels, Bo. I), ©. 837— 838.
9 8. Stade, Geſchichte des Volkes Israel. S. 110, Anm. 2.
5) Hermann Schultz a. a. O., S. 108.
846 Ric
Israel gehauen und gegraben ift, mit Abraham, feinem Water,
md Sara, feiner Gebärerin, bei Deuterojefaja ), dem er mit
einem kecken Hochdruck auf ben Buchftaben des Tertes und einem
gewandten Griff in ben arabifchen Sprachſchatz zur Entfchleierung
Saras die verblüffende Entdeckung abzwingt, dag Abraham eigent
ih ein Gößenftein und feine fürftliche Gemahlin die ihn bergende
Höhle geweſen ſei. Diefes Reſultat flankiert er auf der einen
Seite mit dem rabbinifchen Märchen von der Höhlengeburt und
» Erziehung Abrahams wegen Nimrods Mordbefehl gegen alle nen
geborenen Knäbchen um feines Traumes willen von einem fünf.
tigen Ufurpator, ob dieſes gleich eine jehr durchfichtige Archaifierung
des herodätfchen Kindermordes in Bethlehem ift, und auf der ar
dern Seite mit der Perfonififation des Volfes Israel in Abraham
bei den Propheten, woraus deſſen eigene Imperſonalität folge.
Leider verliert diefes Experiment mit bem Fortes fortuna burd
den Umftand viel von feiner Wirkung, daß Dozy9 Bafis zur po
fitiven Operation, die Behauptung, der ursprüngliche Name bes
Erzvaters Abram fei ein Gottesname geweſen und thatjüchlich dem
böchften Gott von Byblus beigelegt worden, eine haltlofe ift. Er
beruft fi nämlich für diefelbe auf Movers. Die Phönizier,
Zt. I, ©. 542, wo fteht, daß in Byblus die Miythe von Adonis
fofal gewejen und er in dem nad ihm benannten Fluß verehrt
worden jei, welcher jest bei den Arabern Nahr Ibrahim heiße,
ohne Zweifel darum, weil er früher ebenfo geheißen habe, nämlid
enan oder “Pauds, 6 Inpıoros Ieös (Heſych). Nun ift allerdings
fo viel. richtig, daß die Phönizter ihrem höchften Gott außer dem
vorhin befprochenen jſyhn auch das Epitheton om gegeben zu haben
fcheinen, wie die Bibel?) neben yn5y ja auch or und ninp ale
Epitheta Gottes gebraudt. Wenigftens fprechen hierfür die Na-
men: onbya und byaan in phönizifchen Inſchriften, Peuss in
der von Movers citierten Hefychifchen Stoffe und "Pruavdas in
der des Stephanus von Byzanz aus Philo, welche, freilich dunkel
1) Sf. 51,1. 2.
2) Jeſ. 57, 15. Pi. 92, 95 188, 6 und die Nomm. pr. EYIM umb
DM, au BYWIS.
3) Schrader a. a. O. ©. 19.
Die Begegnung Abrahams mit Melchifedel. 347
genug, fo lautet: “Paudvdag zovrdorıv dp Ünovug 6 Jedc"
gaudv yag ro Inyos, üIas de 6 eds!) Die Wahrfcheinlich-
kit des Gebrauchs von or als Epitheton für den höchſten Gott
bei den Phöniziern involviert jedoch noch keineswegs die Tchatfache,
daß fie dieſes Epitheton mit an zu einem Gottesnamen zufammen-
geſetzt und dieſe Zufammenfegung unter ihre Benennungen des höch⸗
ften Gottes eingereiht haben, und die arabifche Anderung des an«
tilen Waſſernamens „Adonisfluß* in den „Abrahamsfluß“ legt
ſchon darum kein Gewicht in die Wagſchale, weil wir den Grund
dieſer Änderung einfach nicht kennen. Aber auch wenn das Nichte
beiviefene wirklich bewiefen wäre oder noch bewiefen würde, fo
würde das einen Verdacht gegen die Gefchichtlichleit des menfchlichen
Trägers dieſes Namens an und für fich keineswegs rechtfertigen,
da die Sitte der Übertragung von Götternamen auf Menfchen bei
den Semiten trog der ſtrammen Behauptung Dozys *): „fein
Menſch trägt ben Namen eines Gottes“, mit phönizifchen ®), bibli⸗
hen und arabifchen *) Beiſpielen fich belegen läßt. Statt der
Seihichtlichkeit feines Trägers gefährlich zu werden, kommt ber
Name pIan, und zwar in oder ohne Zufammenhang mit BIN,
worüber man bekanntlich ftreitet, derfelben vielmehr fehr zuftatten.
Im erfteren Falle wird fie nämlich, durch den Umftand empfohlen,
daß fih der Name in der Form von Aburamu 5) aud als im
Aſſyriſchen gebräuchlich erwiefen hat, deſſen Sprachgebiet die Vor⸗
fahren der Hebrüer unter den Zweiflern an ber gefchichtlichen Exi⸗
ftenz des Erzvaters nur Wellhaufen ®) und Stade”) wegen ber
aus der Verlegung des urfprünglichen Wohnfies der Tharaiden
nah Ur in Chaldäa im Vierbundesbuch fich ergebenden Wider:
1) Zur Erklärung vgl. Ed. Meyer, Über einige ſemitiſche Götter in
der Zeitfchrift der Deutſchen Morgenländiichen Gefellihaft 1877, &. 731,
Am. 5.
2) Dozy aa. O. ©. 74, Anm. 2.
3) Schröder a a. O. ©. 254, Anm. 3.
4) Neftllen a. O. ©. 115.
6) Eb. Schrader a. a. O. S. 200.
6) Wellbanfen a. a. O. ©. 330.
7) B. Stade, Geichichte des Volkes Jorael. S. 110,
848 Abi
ſprüche und Unguträglichleiten entziehett wollen. Im letzteren Falle
aber wird fie dadurch .geheben, daß Abtam⸗Abitam alsdann we
nigften® jenen rütjelhaften Bannanitiich gefärbten Ramen auf ber
Dftfeite des mittleren Euphrats, wie Ahiramu nu. f. w., an die
Seite tritt, welche von Schrader ) für die Spuren ber einftigen
Raft der Hebräer in Haran uf ihrer Wanderung von Ur⸗Mugeir
nad Kanaan angejchen werden. „Ziemlich undurchfichtig“ ift da⸗
gegen die jpätere Ramensform des Erzvaters: Abraham, mm ums
das Prädikat Wellhaufens ?) für feine ihm ungeſchichtlich ſcheinende
Perſon wenigfiens im dieſem Punkte anzueignen. Rech Dozy ?)
ift fie jeher jung, nach Stade *) nit nur fehe alt, ſondern auf
die urjprüngläde. Nach dem erfteren verdankt fie nämlich um
ihred arabischen Etymon mham willen ihren Urjprung erft dem
babyloniſchen Exil als der einzigen Zeit ded Anfammenlchens ven
Juden und Arabern, wührend do nach dem Tekteren 5) der Stamm
Inda ſchon vor feiner Konfolidierung arabifhe Stämme zu Nach⸗
barn hatte und der Stamm Sineon mitten unter ihnen zeftete.
Rad) Stades 8) Auficht foll fie dagegen neben dem Hebraifiezten
Abram den Anteil verraten, weichen ein fremder Stamur au ber
von Haus aus nickkisraekitifchen, fondern vielmehr, weit an Sebren
gebunden, edomitiſchen Figur des Erzvaters habe. Gleichtr Anſicht
iſt offenbar auch Welihaujen ’), wenn er Abraham den „Heiligen
von Hebron * nennt und Ihn „Lalibbäifchen“ Urfprungs fein mb
mit Ram in 1Chros. 2 zufammenrhängen läßt. Doch dem ellem
fei, wie ihm wolle, eine Inſtanz gegen die gefchichktiche Eriften
und tramseupbratenfifche Herkunft Abrahams gieht die Namens
änderung nicht ab, da fir ſich durch ihre Aukküpfing ar bie ber
1) Schrader a. a. O. ©-110, Amm. 2 und ©. 18%.
2) Wellhauſen a. a DO, S. 337.
8) Dozy a. a. O. S. 25—26.
9 B. Stade, Wo entſtanden die genemlogifiher Sagen über den Urſptung
der Hebräer? (Zeitichrift für die altteſtamentliche Wiſſenſchaft 3881), ©; 348
bis 349,
5) Ebenda ©. 348,
6) Ebenda S. 349. |
) Wellhauſen a. a. O., ©. 338, am Schluß der Anm.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. X
trandeuphratenſiſchen Heimat desfelben fremde ügyptifche und ara⸗
biſche Sitte der Beſchneidung in Gen. 17 als ein ſpäterer, dem
arabiſchen Sprachgebrauch angepaßter Einſchub in die urſprungliche
Tradition erweift. Gemwäßren num ſchon hie beiprochenen Umſtände
der Gefchichtlichkeit Abrahams nach den Umrifſen der Geneſis einige
Sicherheit, fo empfängt diefe ihre glänzendfte Beftätigung durch
de Erwähnung des Erzvaters erſt von den exiliſchen Propbeten,
wenn anders Wellhanuſen im dieſem Punkte recht hat. Bekanntlich
fommt der Exrzvater bei Micha 7, 20. Jeſ. 29, 22 und Deutero⸗
kfain 41, 8; 51, 2; 63, 16, fowie bei Jerem. 83, 26 und
Heſeliel 33, 24, fonft aber nirgends vor, während man ihn dor
ouch bei Amos 7, 9 und 16 neben Iſaak erwarten dürfte Nun
it Micha 7, T—20 nad Wellgaufen 7) exilifch, wogegen aber dem
Schreiber diejed die Bezugnahme auf Affur in V. 12 zu fprechen
ſcheint, und ebenfo ohne Frage Jeſ. 28, 22 megen ber zweifellofen
Unechtheit der Worte: „welcher Israel erlöfte”, jo daß allerbinge
nur noch Stelien exiliſcher Propheten übrig bleiben. Hat aber erft
da8 babyloniſche Uuglüd ben armen Juda bie Geftalt feines
Stammoaters in bie Erinnerung zuridigerufen, fo muß diejelbe um fo
gewiffer hiſtoriſch fein, als die dichtende Phantaſie doc unmöglich
den Ahnherren unter dem Boll und im dem Lande feiner ſchreck⸗
lihften Feinde hätte fuchen küunen, wenn er nicht thatjächlid von
dort Bergeftammt Hütte. Wellhaufen 2) felbft zieht freilich einen
andern Schluß aus der prophetiſchen Prämifie: den, daB Abraham
wohl die jüngste Figur in der Patriarchengeſchichte und wegen
Amos 7, 9 u. 16 wahrſcheinlich erft verhältnismäßig ſput feinem
Sohne Iſaal vorgefsgt worden fei; allein die Art und Weife, wie
die exiliſchen Propheten Abrahams gedenken, beiweift evidemt genug
deſſen unvorbenflicden Primat im Heroenkreiſe Isſsraels. So fekt
>B. doch gewiß das Triumpirat Abraham, Iſaak und Jakob bei
Jeremja 33, 26. eine Iange Vergangenheit für feine Herrſchaft im
Vollsgedicht voraus.
1) Bleet, Einleitung in das Alte Teftament. Vierte Ausgabe, bearbeitet
von 3. Wellhauſen. & 425—426 Anm.
2) Wellbaufen, Proleg., S. 338,
30 Rich
Konnte num Abraham wirklich fchon feinen Gott Jahve nennen,
wie es ihn Gen. 14 Melchiſedek gegenüber thun läßt? Man hat
bekanntlich auf Grund der Bundſchließung Gottes mit Abraham
als zw don in Gen. 17 und der Verfchweigung feines Namens
Jahve vor den drei Vätern Israels in Er. 6, 2ff. den Gotte-
namen Jahyve der patriarchaliſchen Religiondftufe ab⸗ und erft der
mofaifchen zugefprodhen, und zwar Bat das ſchon Joſephus gethan.
Nach einer andern, und zwar von Dehler, Franz Delitzſch un
de Lagarde nod immer vertretenen Erklärung von Ex. 6, 2 ff. foll
bier jedoch nicht die Unbelanntfchaft der Erzpäter mit dem Jahve⸗
namen, jondern nur die göttlihe DVorenthaltung von Erfahrungen
über deſſen ganze Tiefe ausgeſprochen fein. Biegegen fragt Her:
mann Schulg!) mit Recht, was denn das heißen folle, „ein Name
ift befannt ohne feine Bedeutung“. Die wirkliche Sachlage ift
die, daß der Vorbehalt des mw dx für die patriarchalifche Religions⸗
ftufe lediglich Sache des Vierbundesbuches oder wie die den Lefern
bekannten Benennungen diefer Pentatenchader fonft Lauten, ift, weil
faſt alle Stellen, in welchen der Name zw I vorkommt, ihm ans
gehören 2); während der Gott der Erzväter fonft eben auch Jahve
und Elohim Heißt. Das Recht des Buches aber zu feiner Anfidt
fuht Neftle nah Ewald in den feltenen nur den Anfangözeiten
des Volles Israel angehörigen, fpäter aber fehlenden Namen
zufammenjegungen mit say. Neben dieſem deſtkriptiven Genus:
namen iſt jedoch auch noch“ ein ſpezifiſcher Eigennamen fiir ihren
Gott bei den Erzvätern vorauszufegen. Und diefer iſt? Jahve!
Denn Mofe bütte den Aufruf an fein Voll im Namen des Gottes
der Väter nicht widerfinniger inaugurieren können, als mit einem
neuen Namen für ben alten Gott?). Den Urfprung des Namens
Jahve hat man nun befanntli) intra muros et extra, umd zwar
nicht ohne den Tribut an das peccatur, geſucht. Der nenfte
Stand der Unterfuchung ift der, daß man fein Onelfengebiet auf
1) Hermann Schul& a. a. O., ©. 489.
T) Nefle aa. O., ©. 45.
8) W. v. Baudiffin, Studien zum femitifchern Religionsgefchichte. Heft I,
©. 226.
Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 31
den femitifchen Boden eingegrenzt bat. Hier gehen jeboch bie
Meinungen auseinander : die einen geben dem Namen einen ſpezifiſch
iraelitifchen, die andern einen fanaanitifch-babplonifchen, die dritten
einen arabiichen Urſprung. ‘Die erften haben die Etymologie und
Dogmatik unbebingt für fi, die zweiten und dritten werden bon
biftorifchen Gründen geleitet. Diejenigen nun, welche fir Kanaan⸗
Bobylonien plädteren, und das find, nachdem Lenormants Auv
kinuv im Anfang der Borfippa-Infchrift durch Opperts von De»
litzſch gebilligte Verwandlung dieſes angeblichen Gottesnamens in
dad Prädikat für Nebnladnezar „Hirte wahrhafter“, in Wegfall ge⸗
tommen ift, noch Schraber !) und Deligfch ?) berufen fich auf die
Anklänge an Jahveformen in teils Feilinfchriftlichen, teils phönis
hen, teils biblifchen Eigennamen, welche jedoch, wenn fie wirklich
den Jahvenamen involvieren, auch mit der Hypotheſe ber Auf-
nahme Jahves in das betreffende heidniſche Pantheon entlräftet
werden Tönnen, was die Vertreter diefer Anficht teilweife felbft zu⸗
geben, hauptſächlich aber auf das ſumeriſch⸗aſſyriſche Syllabar,
welches das fumerifche Schriftzeichen NI für ili, Gott, in feiner
afpriihen Spalte mit I und Ja-u erflärt, woraus man das
einftige Vorhandenfein eines babylonifch-affyrifchen Gottes Jau oder
ohne die affprifche Nominativendung Ja folgern möchte, den man
übrigens bis jet noch nirgends gefunden Bat. Selbftverftänblich
müßte bei biejer Ableitung als Hebrätfhe Urform my und m» und
für mm eine befondere hebräifche Adaptation des dem Israeliten
an und Tür fich unverſtündlichen Fremdworts angenommen werden,
wie Delitzſch will. Gegen dieſe Ableitung aus dem Babyloniſchen
bzw. gar aus dem Sumerifchen hat fih zunächſt Philippi ®)
erhoben. Er beweift zuerft in der etymologifchen Trage die Ur⸗
Iprünglichleit der Form mm aus ihrem ausfchließlichen Gebrauche
I) Eb. Schrader a. a. O. ©. 25, mit großer Zurückhaltunh.
2) Deligih a. a. D., ©. 161—164 mit aller Zuverfiht und Ent⸗
ſchiedenheit. |
3) Fr. Bilippi, IR mm akladiichefumerifchen Urſprungs? (Zeitfchrift
für Völkerpigchologie. Bd. XIV, Heft 2).
Theol. Staub. Jahrg. 1885. 23
— —
82 Röſch
in der Proſa und folgert hierans die Notwendigkeit, in ber etymo-
logiſchen Behandlung, nicht mit Deligich vom », 3, > zu mm, jondern
von mm zu > u. f. w. fortzufchreiten. Sodann beſpricht er die
Unerflärbarkeit des Übergangs der Zufammenfekung des Sume⸗
riihen I mit der afiyriihen Nominativendung u in Iau ode
Jau ftatt in Jju oder Ju als Diphthong und die infolgedefien fid
ergebende Undurchſichtigkeit der afiyriihen Erklärung des betrefia
den Zeichens neben I noch mit Iau oder Jau. Endlich Löft er mit
der Berufung auf ben Wechfel des phonetifch und ideographiſch
geſchriebenen i zur Darftellung des Lautwertes il und auf bit
durch die graphifche Abkürzung von Assur in as bewiejene Mig-
lichkeit der Abkürzung von il in i, wie fie Haleoy annimmt, dad
fumerifchsaffgrifche Gottesgebilde Yan oder Jahu in ein einfache
Ku auf. Hat e8 mit den in Frage ftehenden aſſyriologiſchen
Momenten eine ſolche Bewanbnis, fo Lafjen fie fi natürlich nid!
gut zu der Behauptung verwerten, daß Abraham Jahve als feinen
Gott aus feiner Heimat Ur in Chaldän, das außer Dillmanı
wenige mehr im meſopotamiſchen Norden fuchen, mitgebracht habe
Eher bürfte fi zur Stüge diefer Behauptung die von W. v. Bau: |
diſſin), Liele?) und H. Rawlinſon?) vorgefchlagene, vom
erfteren aber wieder zurückzenommene 4) Verbindung Jahves mi
dem ſüdbabyloniſchen, urſprünglich ſumeriſchen Waffergott Hr
oder En oder Ja, dem Lofalgott von Eridu, füdlih von Üru am
Euphrat, ‚als dem „Herrn des Himmels und ber Erde”, „Schöpfer
der Menfchheit“, dem „Gott des Lebens und ber Erkfenntnit‘,
dem „Herrn von Thib (der gefegneten Stadt) oder des Paradieſes“
empfehlen. Der Xerritorialgott von Ur und Haran, der Mittd
ftation des Tharaidenclans zwifchen der alten und neuen Heimat,
war aber eben der ſich aud) im Namen Labans verratende Mond
) 8. v. Baudifjin, Jahve et Moloch. ©. 8.
2), Tiele, Mor Müller und Fritz Schulge über ein Problem ber Ir
ligionswifſenſchaft. ©. 48.
8) H. C. Rawlinson, Notes on a newly-discovered day eylinder
of Cyrus the Great (The journal of the Royal Asiatie Society of Great
Britain and Ireland. N. S. Vol. XI, 1880).
4) W. v. Bandiffin, Studien u. ſ. w. ©. 219, Anm. 3.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 863
gott Sin !) und nit En: wie kam da wohl der Erzpater dazu,
fih von dem ihn umgebenden Lofalpaganismus loszumachen und
den Sin mit dem En zu vertaufchen? Die Antwort wäre leicht,
wenn es wahr wäre, was Joſephus 2) bei Berofus über Abraham
gefunden haben will, daß er in den himmliſchen Dingen ſehr er«
fahren geweſen fei, oder was die Hellenijten, teilweife nicht ohne
Widerſpruch mit fi felbft, von ihm rühmen, daß er die Aftronomie
und alle andern chaldäiichen Wiffenfchaften verbreitet ja erfunden
babe; er kommte alsdann durch Reflerion zu diefem Tauſche ver-
anlagt worden fein. Allein als Angehöriger eines Hirtenftammes
war er in Sachen des Geiftes einfach ein Höriger der ihn lei-
tenden Priefterfchaft und ihres Kultus und kann alſo nicht wohl
durch Setbftbeftimmung, fondern nur durch göttliche Einwirkung,
bw. Offenbarung, von dem Heidentum feiner Umgebung frei ge
macht worden fein. ALS den Urheber der ihm zuteil gewordenen
göttlichen Dffenbarung könnte er fid den Gott ber Weisheit und
der Heiligkeit im beimifchen Pantheon, den Ea, gedacht Haben,
deffen fumerifcher Name fchon unter der ſemitiſchen Volksſchichte
Sudbabyloniens die dem femitifchen Sprachgenins angemeftene
Anderung in mim erfahren Haben Tann. Auf Sübbabylonien als
die Heimat des Jahvenamens weift wenigftens den Schreiber diefes
da8 Sprichwort in Gen. 10, 9 von dem, wie Nimrod, gewaltigen
Zäger vor mm Hin. Nimrod ift nämlih nad Oppert?) einfad
eine Berfonififation de8 unteren Euphratgebiets, Elam mit ins
begriffen, weshalb man auch den Namen Nimrod im ganzen
Altertum nur unter den Königen ber zweiundzwanzigſten ügpptifchen
Dpnaftie finde, die alle echte fuflanifche gengraphifche Namen
tragen. Anders deuten ihn freilid Paul Haupt und Sayce *),
1) Schrader, Keilinfchriften und Geſchichtsordnung. S. 536, und a. a. O.
©. 149.
2) Jos. Antigua. I, 7, 2. |
3) Dppert in feiner Rejenfion von The Chaldean account of Ge-
nesis etc. by George Smith in ben Göttingischen gelehrten Anzeigen 1876.
©. 876.
9 Schrader a. a. O., ©. 93 u. 422. Delitzſch a. a.D., ©. 220
u. 228.
23*
852 Röſch
in der Proſa und folgert hierans die Notwendigkeit, im der etymo-
Logifhen Behandlung, nicht mit Delitzſch von », 3, 9 zu mm, fondern
von mm zu 3 u. f. w. fortzufchreitn. Sodann beſpricht er bie
Unerflärbarkeit de3 Übergangs der Zufammenfekung des Sume
rifhen I mit der afiyrifchen Nominativendung u in Jau oder
Jau ftatt in Jju oder Ju als Diphthong und die infolgedefien fig
ergebende Undurchſichtigkeit der aſſyriſchen Erklärung des betreffen:
den Zeichens neben I noch mit Iau oder Jau. Endlich Töft er mit
der Berufung auf ben Wechjel des phonetifh und ideographiſch
geſchriebenen i zur Darftellung des Lautwertes il und auf die
durch die graphiiche Abkürzung von Assur in as bewiejene Pig
lichkeit der Abkürzung von il in i, wie fie Halevy annimmt, das
ſumeriſch⸗aſſyriſche Gottesgebilde Jan oder Jahu in ein einfaches
Yu auf. Hat e8 mit den in Frage ftehenden aſſyriologiſchen
Momenten eine ſolche Bewanbnis, fo laſſen fie fi natürlich nidt
gut zu der Behauptung verwerten, daß Abraham Jahve als feinen
Gott aus feiner Heimat Ur in Chaldäa, das außer Dillmenı
wenige mehr im meſopotamiſchen Norben fuchen, mitgebracht habe.
Eher dürfte fi zur Stüge diefer Behauptüng die von W. v. Bar:
diffin?!), Ziele?) und H. Ramlinfon?) vorgefchlagene, vom
erfteren aber wieder zurückzenommene *) Verbindung Jahves mi
dem füdbabyplonifchen,, urjprünglih fumerifchen Waflergott Sr
oder En oder Ya, dem Lolalgott von Eribu, füdlih von Üru om
Euphrat, als dem „Herrn des Himmels und der Erde”, „Schöpft
der Menfchheit“, dem „Gott des Lebens und der Erkenntnis”,
dem „Herrn von Thib (der gefegneten Stadt) oder des Paradieſes“,
empfehlen. Der Territorialgott von Ur und Haran, der Mitt:
ftatton des Tharaidenelans zwifchen ber alten und neuen Keimal,
war aber eben der fi auch im Namen Labans verratende Mond
1) W. v. Baubiffin, Jahve et Moloch. ©. 8.
2), Tiele, Mar Müller und Fritz Schulte über ein Problem der Fe
ligionswifſenſchaft. S. 43.
8) H. C. Rawlinson, Notes on a newly-discovered day ecylinder
of Cyrus the Great (The journal of the Röy&l Asiatic Society of Great
Britain and Ireland. N. S. Vol. XI, 1880).
DM. v. Baubdiffin, Studien n. |. w. ©. 219, Anm. 3.
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 853
gott Sin !) und nicht Ea: wie kam da wohl der Erzvater dazu,
fih von dem ihn umgebenden Lokalpaganismus loszumachen und
den Sin mit dem Ca zu vertauſchen? Die Antwort wäre leicht,
wenn es wahr wäre, was Joſephus 2) bei Beroſus über Abraham
gefunden haben will, daß er in den himmliſchen Dingen fehr er«
fahren gewefen jei, oder was die Helleniften, teilweife nicht ohne
Widerfpruch mit fich felbft, von ihm rühmen, daß er die Aftronomie
und alle andern chaldäifchen Wiffenjchaften verbreitet ja erfunden
babe; er konnte alsdann dur Reflexion zu diefem Tauſche ver»
anlaßt werben fein. Allein als Angehöriger eines Hirtenftammes
war er in Sachen des Geiftes einfach ein Höriger der ihn lei⸗
tenden Priefterfchaft und ihres Kultus und kann alſo nicht wohl
durh Selbftbeſtimmung, fondern nur durch göttliche Einwirkung,
bw. Offenbarung, von dem Heidentum feiner Umgebung frei ge-
mat worden fein. ALS den Urheber der ihm zuteil gewordenen
göttlichen Dffenbarung könnte er fi) den Gott ber Weisheit und
der Heiligkeit im heimischen Pantheon, den Ea, gedacht Haben,
deffen fumerifcher Name ſchon unter der femitifchen Volksſchichte
Sidbabyloniens die dem femitifchen Sprachgenins angemefiene
Änderung in mm erfahren Haben Tann. Auf Südbabylonien als
die Heimat des Jahvenamens weift wenigftens den Schreiber diefes
da8 Sprichwort in Gen. 10, 9 von bem, wie Nimrod, gewaltigen
Jäger vor mm Bin. Nimrod ift nämlih nach Oppert?) einfad
eine Perfonififation des untern Euphratgebiete, Elam mit ins
begriffen, weshalb man aud ben Namen Nimrod im ganzen
Altertum nur unter den Königen der zweiundzwanzigſten ägyptifchen
Dynaftie finde, die alle echte fufianifche gengraphiiche Namen
tragen. Anders deuten ihn freilih Paul Haupt und Sayce 9,
1) Schrader, Keilinfchriften und Geſchichtsordnung. ©. 536, und a. a. O.
©. 149.
2) Jos. Antigg. I, 7, 2.
3) Oppert in feiner Rejenfion von The Chaldean account of Ge-
nesis etc. by George Smith in den Göttingifchen gelehrten Anzeigen 1876.
S. 876.
4) Schrader a. a. O., ©. 93 u. 422. Delitzſch a. a. O., ©. 220
u. 228.
23*
854 Röſch
deren erſterer ihn für das Nomen gentile der Stadt Marad
oder Amarad nimmt, während ihn der letztere für eine ſemitiſche
Umformung des ſumeriſchen Amar-ud, Sonnenkreis, das mit Me⸗
rodach identiſch ſein ſoll, erklürt, aber auch dieſe Erklärungen
führen nach Südbabylonien. Hiegegen läßt ſich die Folgerung
Welldaufens!) aus der Form des Namens Nimrod, daß
ihn die Hebräer von den Syrern überlommen hätten, die ihn m
Haran nach Jakob von Sarug in dem „Marri (Herrn) mit den
Hunden” noch in fpäter Zeit gehabt hätten, nicht verwerten, da
fie nur beweift, daß bie Götter wie die Menfchen vom Süden
gegen den Norden Meefopotamiens gewandert find, was auch der
von Jakob von Sarug vor dem Hundegoft aufgeführte harraniſche
Mondgott Sin deutlich zeigt. Nun wendet allerdings Hermann
Schultz ?) gegen Abraham als den perfönlichen Träger einer reinen
Offenbarungsreligion ein, e8 müßte dann dieje den Edomitern und
anderen arabiichen Stämmen im genenlogifchen Zufammenhang mit
Abraham ebenfowohl zu eigen geworden fein als ben JIsraeliten,
diefe Konfequenz hat jedoch eine von ihrem Lirheber gewiß nid
erwartete Beftätigung und Wiberlegung infofern gefunden, als das
gute Korn in dem zuerft von Tiele3) und dam von Stade‘)
aus dem Aufbruch Jahves aus Ser und Edom im Deboralie
und aus ber Verwandtichaft Mofes und Israels mit den Kenitern
gezogenen Schluß auf die auch von Wellhaufen) vermutet
mofaifche Entlehnung des Jahvedienſtes von arabifchen Stämme
die Waprfcheinlichkeit fein dürfte, daß dieſe abrahamifchen Vöoller⸗
haften wirklich Jahve zu ihrem Gott hatten, freilich in paganifti-
ſcher Entftellung, eines Allmachtsbegriffs zum Gewittergott &dom—
1) Wellhauſen, Proleg., S. X.
3) Hermann Schulk a. a. O., ©. 113.
3) W. v. Baudiffin, Studien u. ſ. w. ©. 227 u. 228.
9 Stade, Geichichte des Volles Israel. S. 129—131 und ©. 429,
Anm. 1, wo er Jahve vom arabiſchen 550, herabfallen, ableiten und ihm
die Bedeutung: „Fälle“, d. 5. der die Feinde und Sünder „Niederjchmetternie”,
unterfegen möchte.
5) Wellbanfen, Proleg, S 421.
Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 855
Duzap— Dufares 1) weil das lebendige Waffer aus dem Brunnen
Abrahams bei ihnen zur Pfütze geworden war. Erfcheint nun ber
von dem Erzähler in Gen. 14 dem Erzvater in den Mund gelegte
Gottesname Jahve immer noch als ein biftorifches Ärgernis?
Wenn der Erzähler dann ihn daneben auch noch den Gott Meldji-
fedels monolatrifch als wirklich anerkennen läßt, fo Heißt er Bifto-
rich ganz richtig den Stammpater einen Tribut zuerft zahlen,
welchen fein Volt nach ihm lange genug an die Heibengötter be»
zahlt Hat. Die Zehntabgabe an den Priefterlönig von Salem
werden wir dagegen, wie ſchon oben bemerkt worden tft, als eine
Ungefchichtlichkeit aus der Zeit des Verfafjerd oder des abjchließen-
den Redaktors der Erzählung preisgeben müſſen.
So kommen wir jchlieglih auf die Trage nad) dem Boden
und der Zeit, welchen die Erzählung entftammt. Ihre von ihrer
Umgebung abftechende Eigenartigleit und ihre in den Hauptſachen
und ⸗Geſtalten den Anforderungen der gejchichtlichen Wahrfcheinlich-
feit durchaus angemefjener Inhalt hat befanntliih Ewald ?) zu der
Vermutung ihrer Entlehnung aus einem vormofaifchen, Tanaani-
tiihen, Geſchichtswerk veranlagt, für deren Möglichkeit er ſich auf
die Spuren der Einwirkung uralter fanaanitifcher Traditionen auf
die Hebrätfche Gefhichtserinnerung und Geſchichtſchreibung berufen
bat. Den Schreiber diefes treiben diefe Umftände wenigftens zu
der Vermutung ihrer Entjtehung an Ort und Stelle, das heißt
im vorisraelitifchen Serufalem. Wenn Stade) recht Hat, daß
die Briefterkreife der verfchiedenen Lofalheiligtümer die Träger ber
Sage und Geſchichtſchreibung waren, warum foll es nicht auch
der vorisraelitifche Priefterfreis Jeruſalems, und zwar nicht bloß
etwa für Fabeln über den Lolalgott, jondern auch für gefchichtliche
Borgänge, wie die Begegnung feines Priefterkönigs Meelchifedet mit
dem heldenhaften hebräifchen Einwanderer, gewefen fein? Von dort
1) ©. Röſch, Das ſynkretiſtiſche Weihnachtsfeſt zu Petra, in der Zeitfchrift
dee Deutichen Morgenländiſchen Gejellichaft 1885, S. 2—A.
2) Ewald, Geichichte des Bolles Israel. Bd. I, S. 79—80.
3) Stade, Wo entflanden die genealogifchen Sagen über den Urfprung
der Hebräer? in der Zeitichrift für alttefkamentliche Wifjenfchaft, Jahrg. 1881,
©. 849.
866 Röſch: Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedel.
aus ift die Erzählung in den israelitifchen Priefterfreis eingedrungen
und nach vielleicht Tangem bloß mündlichkem Umlauf in den Ziid-
reden bei dem Opferſchmaus endlich in die von fpäten Intereſſen
beherrſchte Faſſung gebracht worden, in welcher fie um
aufbehalten if. Ein Überreft von ihrer früheren rhapſodiſchen
Umlaufsform ift aber auch uns noch geblieben, es ift Melchiſedek
Hochſpruch:
„Geſegnet ſei Abraham von 'El Eljon,
Dem Herrn über Himmel und Erde!
Und geſegnet ſei 'El Eljon,
Der deine Feinde geliefert in beine Hand!“ 1)
Havra 83 domualsrs, TO xalov xarsyeıe.
1) Aug. Palm, Atchebräifche Lieder. ©. 5.
Rezenſionen.
1
proteſtantiſche Keleuchtung der römiſchen Angriffe auf
die evangeliſche Heidenmiſſion. Ein Beitrag zur Charak⸗
teriſtik ultramontaner Gefchichtfchreibung. Bon D. Guſtab
Warneck, Pfarrer zu Rothenſchirmbach, Herausgeber ber
allgemeinen Mifj.-Zeitf hr. 1. Hälfte. Gütersloh 1884.
Man darf e8 zum Lobe der evangelifchen Geiftlichkeit in der
Provinz Sachen jagen, daß fih unter ihr eine verhältnismäßig
große Zahl von Männern findet, welche fich durch wiflenjchaftliche
Leiftungen Berbienfte erworben haben. Sie betreffen die verſchie⸗
denen Gebiete der Theologie; insbefondere find es gefchichtliche
Spezialforfhungen, wodurch unfere Hiftorifche Erkenntnis wertvollen
Zuwachs erhalten Hat. In der Neihe diefer Förderer der Wifjen-
haft nimmt D. Warned eine hervorragende Stelle ein. Der
Gegenftand, welchen er zu feiner Aufgabe gemacht hat, die. Heiden-
miffton, gehört ebenfo fehr dem praftifchen Chriftentum wie der
theologifchen Wiffenfchaft an. Es ift Hinlänglich befannt, daß er in
weitem Umfang die Teilnahme der evangelifchen Ehriften aller Stände
für die Miſſion erfolgreich angeregt hat. Dies ift ihm gelungen,
nicht nur durch die lebendige Darftellung und einfichtige Beurteilung
der gegenwärtigen Thätigleit evangelifcher Miffionäre in feiner treff-
lichen Deiffions- Zeitfegrift, fondern auch durch die vieljeitigen Ge⸗
fihtspunfte, unter welche er die Bedeutung, die Aufgaben und die
Wirkungen der Heidenmiffton geftellt hat, und durch das gründliche
1.
proteſtantiſche Beleuchtung der römiſchen Angriffe anf
die evangeliſche Heidenmiſſion. Ein Beitrag zur Charak⸗
teriftik ultramontaner Gefchichtfchreibung. Bon D. Guſtab
Warneck, Pfarrer zu Rothenſchirmbach, Herausgeber der
allgemeinen Miſſ.⸗Zeitſchr. 1. Hälfte. Gütersloh 1884.
Man darf es zum Lobe der evangelifchen Geiftlichkeit in der
Provinz Sachen jagen, daß fich unter ihr eine verhältnismäßig
große Zahl von Männern findet, welche fich durch wiſſenſchaftliche
Leiſtungen Berdienfte erworben haben. Sie betreffen die verſchie⸗
denen Gebiete der Theologie; insbejondere find es gejchichtliche
Spezielforfchungen, wodurch unfere Hiftorifche Erkenntnis wertvollen
Zuwachs erhalten Hat. In der Neihe diefer Förderer der Wiſſen⸗
haft nimmt D. Warned eine Hervorragende Stelle ein. Der
Gegenftand, welchen er zu feiner Aufgabe gemacht hat, die. Heiben-
miſſion, gehört ebenfo fehr dem praktifchen Chriftentum wie der
theologischen Wiſſenſchaft an. Es ift Hinlänglich bekannt, daß er in
weitem Umfang die Teilnahme der evangelifchen Ehriften aller Stände
für die Miſſion erfolgreich angeregt hat. Dies tft ihm gelungen,
nicht nur durch bie Lebendige Darftellung und einfichtige Beurteilung
der gegenwärtigen Thätigfeit evangelifcher Meiffionäre in feiner treff-
lien Miſfions⸗Zeitſchrift, ſondern auch durch die vielfeitigen Ge-
fichtspunkte, unter welche er die Bedeutung, die Aufgaben und bie
Wirkungen der Heidenmiffton geftellt hat, und durch das gründliche
1.
proteſtantiſche SKelenchtung der römiſchen Angriffe anf
die evangelifhe Heidenmiſſion. Ein Beitrag zur Charak⸗
teriftik ultramontaner Gefchichtfchreibung. Yon D. Guſtav
Warner, Pfarrer zu Rothenfchirmbach, Herausgeber der
allgemeinen Miſſ.⸗Zeitſchr. 1. Hälfte. Gütersloh 1884.
Man darf es zum Lobe ber evangelifchen Geiftlichkeit in ber
Provinz Sachen fagen, daß ſich unter ihr eine verhältnismäßig
große Zahl von Männern findet, welche fich durch wiffenfchaftliche
Leiſtungen Berdienfte erworben haben. Sie betreffen die verfchie-
denen Gebiete der Theologie; insbeſondere find es gejchichtliche
Speziafforfchungen, wodurch unfere hiſtoriſche Erkenntnis wertoollen
Zuwachs erhalten hat. In der Reihe biefer Förderer der Wiffen-
haft nimmt D. Warned eine Hervorragende Stelle ein. ‘Der
Gegenftand, welchen er zu feiner Aufgabe gemacht hat, die. Heiden-
miffton, gehört ebenjo fehr dem praftifchen Chriftentum wie ber
theologifchen Wiflenfchaft an. Es tft Hinlänglich befannt, dag er in
weitem Umfang die Teilnahme ber evangelifchen Ehriften aller Stände
für die Miſſion erfolgreich angeregt hat. Dies ift ihm gelungen,
nicht nur durch die lebendige Darftellung und einfichtige Beurteilung
der gegenwärtigen Thätigkeit evangelifcher Meiffionäre in feiner treff-
lichen Mifftons-Zeitfprift, fondern auch durch die vielfeitigen Ge⸗
fichtspunkte, unter welche er die Bedeutung, die Aufgaben und die
Wirkungen der Heibenmiffion geſtellt hat, und durch das gründliche
360 Warneck
Studium und die echt wiſſenſchaftliche Behandlung, welche er ihr
zuwendet. Hiervon hat er in der vorgenannten Schrift Zeugnis ab⸗
gelegt, welche vor wenigen Monaten ſeiner fruchtbaren Feder ent⸗
ſprungen iſt. Der Titel ſpricht einen Gedanken aus, welcher in dieſer
Vollſtändigkeit und Doppelſeitigkeit noch nicht durchgeführt worden
iſt. Die Verteidigung der evangeliſchen Miſſion wird zugleich zur
ſchweren Anklage der römiſchen Miſſionsmethode und Geſchicht⸗
ſchreibung.
Der Verfaſſer iſt von edlem Unwillen ergriffen über die Neu⸗
belebung und Steigerung der vorreformatorifchen Mißbräuche, melde
ber Papft und die römische Kirche fi in unferen Tagen zu
fchulden fommen läßt. Die neuen Dogmen von der Siündlofigfeit
der Maria und der Unfehlbarkeit des Papftes haben die Kreatur:
vergötterung zur offiziellen römischen Religion gemadt. Der Ery
bifhof von Avignon predigte während des Konzils in Rom, die
Fleiſchwerdung Gottes habe dreimal ftattgefunden: zu Bethlehem,
am Meßaltar und im Batilan. . Das ftreift an Blasphemie, aber
auch für die Vergötterung der Maria bat Warned eine Zahl von
Zeugniffen gefammelt, welche den Sieg des Heidentams über das
Ehriftentum im Papismus beweifen. Schon Pins IX. war trunfen
in diefem Wahn; feine Erlaffe ftrogen davon, während Chriſtus
kaum in ihnen erwähnt wird. Don ihm fcheint der Papft nichts
weiter zu wiffen, als daß er der Statthalter desjelben fei. Die
Erlöfung beruht ihm auf Maria. Unfer Heil ift auf die Heilige
Jungfrau gegründet, fagt er; wenn es für und eine Hoffmung
und eine geiftige Heilung giebt, empfangen wir fie einzig und
allein von ihr. Man wird an die Worte jenes Franzislaners er⸗
innert, welcher Chriftum anrtef, daß er ihm den Beiftand der
Maria vermittele. Wie diefer Aberglaube unter den vömifchen
Miffionären fortwuchert, das weiß niemand genauer als D. Warned.
Er berichtet die Erflärung der Miffionäre in Uganda: Der Maria
weihen wir unfere Seele, unferen Leib, unfer ganzes Leben, unfern
Tod und unfere Ewigkeit. Wir beſchwören fie, unfere Herrin und
Oberin zu fein. Wir erflären, daß wir alles Gute, was Bier ge-
ftiftet werden mag, Maria zu danken Haben, und daß ihr alle Ehre
davon gebührt. Der Verfaffer gedenkt der Betrügereien von Lourdes
Broteftantiiche Beleuchtung der vömifchen Angriffe ꝛc. 861
und Marpingen, anberfeits der Frechheit, womit der Ablaßhandel
betrieben wird, der Tyrannei gegen die Untergebenen, weldie vom
Papft auf die Bifchöfe fich fortpflanzt, und für welche er ein
treffendes Beifpiel in dem Verfahren des Bifchofs Martin von
Baderborn aufweift, vielleicht des zweibentigften unter den zwei⸗
deutigen Charakteren, welche in unfern Tagen mit der bifchöflichen
Würde bekleidet worden find. Nicht mit Unrecht bemerkt er, daß
die gründliche Verderbtheit der römifchen Kirche fie in verhältnig«
mäßig kurzer Zeit zu einer Kataftrophe treiben müſſe. Religion
md Sittlichleit find es, welche die Kirchen erhalten; wo aber bie
Religion zum Mittel herabgewürdigt wird für die Herrſchſucht des
Bapftes, wo es der höchfte Akt der Sittlichkeit ift, ihm das Ges
wiſſen zu opfern, wo die Lüge teils gefliffentlich geförbert, teils
ſchweigend geduldet wird, fo daß fie das Urteil über die Vergangen-
beit und die Behandlung der fittlichen und religiöfen Aufgaben in
der Gegenwart Immer vollftändiger durchdringt, da ift ein Gottes»
gericht unvermeidlich, und die Geſchichte Iehrt, dag e8 dann am
nächſten ift, wenn die Wepriftination am Ziele zu fein meint.
D. Warneck nennt das erfte Kapitel, „die römifche Provokation“.
Denn die Erneuerung der ſchnöden Mißbräuche richtet überall ihre
Spike gegen die evangelifche Wahrheit. Zu den belannteren direkten
Angriffen des Papftes und der Jeſuiten gegen umfere Kirche fügt
der Berfaffer die minder beachtete Schmähfhrift Leos XIII. vom
3. Dezember 1880 Hinzu, die in Geftalt eines Rundſchreibens bie
Miffionäre der evangelifchen Kirche für trügerifche Männer erflärt,
welche fich anftrengen, die Herrfchaft des Fürften der Finfternis
auszubreiten. In demfelben Zone reden die katholiſchen Mifftons-
Zeitſchriften und Gefchichtsbücher. Der Herabwürbigung der pro
teftantifchen Meiffionen und der ebenfo unwahren Verherrlichung
der eigenen ftellt der Verfaſſer die objektive und billige Behand-
Img gegenüber, welche die römifchen Miſfionen in den proteftan«
tiſchen Darftellungen erfahren. Wie nahe aber gleichwohl Chrift-
liches und Heidnifches, Politifches und Neligiöfes in Theorie und
Praxis der Römlinge bei einander Tiegt, davon geben die römischen
Mifftonsberichte unzählige Beifpiele. Eines der Iehrreichften neuerer
Zeit führt der Verfaſſer aus den von Selbftlob überftrömenden
362 Warneck
Berichten der römiſchen Miſſion in Madagaskar an. Ein fran⸗
zöfiſcher politiſcher Agent, gewohnt, nach jeſuitiſcher Methode Re
ligion in Politik und Politik in Religion zu verwandeln, empfahl
der kranken Königin „unter alle Nahrungsmittel einige Tropfen
Weihwaſſer zu miſchen; denn dadurch würden täglich Heilungen zu⸗
wege gebracht. Er näherte ſich der Sterbenden, gab ihr einige
fromme Gedanken ein, worauf fie Augen und Hände zum Himmel
erhob. Darauf Tieß er, als ob er fie magnetifieren wolle, ein
Gefäß mit Waſſer bringen, tauchte feine Hände darein und wuſch
die Stirn der Königin, indem er zugleich die ſakramentaliſchen
Worte ſprach. Keine der anweſenden Perfonen (ich vermute, die
Königin nicht ausgenommen) hatte auch nur die mindefte Ahnung
von der frommen Lift, welche da angewendet wurde, um ein
Seele zu reinigen“. Die fo getaufte Königin ift nun Batronin
der Inſel.
D. Warned gehört nicht zu der Zahl der evangelifchen Geilt-
lichen und Laien, welche aus übertriebener Empfindlichkeit gegen
die von ihnen abweichenden Richtungen der evangelifchen Kirche oder
vermöge der Shealifierung des Papismus oder aus politifchen Mo
tiven von einem Liebesbändnis mit der römischen Schweſterkirche
träumen; denn feine Studien haben ihn eines anderen belehrt.
Er fieht ihre vergifteten Waffen gegen das Evangelium und bie
evangelifche Kirche gerichtet, er verfolgt die Gegner auf ihr
Scleichwegen, er deckt ihre Verlogenheit auf und leiftet damit der
Erfenntnis der Wahrheit einen höchſt dankenswerten Dienft.
Es ift eine mühfame Arbeit, zu welcher er fich anſchickt, umd
nur wenige möchten außer ihm vorhanden fein, welche mit glei
fiherem Schritte in dem Irrgarten der römifchen Litteratur über
Milton fich zurecht finden könnten. Auf mehr als 50 Seit
giebt er eine Kritik des Werkes eines englifchen Konvertiten Ra
mens Marfchall, welches 1863 in beutfcher autorifierter Über⸗
ſetzung erfchien, unter dem Titel „die chriftlichen Miſſionen, ihre
Sendboten, ihre Methode und ihre Erfolge‘. Dies Werk, weldes
im römifchen Lager den höchften Rang einnimmt, ift, wie Warned
erfannt bat, bis auf ben heutigen Tag das Hauptzeughaus, wel⸗
chem die dortigen Gegner ihre Waffen und Gitate in Belämpfung
Proteftantifche Beleuchtung der römifchen Angriffe sc. 868
der proteftantifchen Miffton entnehmen, und zwar in ber Regel,
ohne es zu nennen. Die Geſchichte der Miſſion wird darin nad
dem von Kardinal Manning ausgefprochenen Grundfag behandelt,
daß die Dogmatik die Gefchichte überwunden habe. Über die pro-
teftantifche Miſſion urteilt er mit berfelben Gehäffigkeit, mit
welcher Leo XIII. die evangelifhe Kirche befchimpft. Die pro-
teſtantiſchen Mifftonäre, jagt Marfchall, können die Heiden nur in
Atheijten verwandeln. Eine ungeheuere und univerjelle Verbeerung
folgt ihnen überall Bin; denn da Gott ihnen alle übernatürlichen
Gaben vorenthielt, verhängen fie über die heidnifche Welt einen
noch ſchwereren Fluch, ein noch unheilbareres Wehe. Die pro»
teſtantiſchen Mifftonen find Überall das fchlimmfte Hindernis gegen
die Belehrung ber Heiden, ihr Chriftentum ift eine Täufchung, ihre
Bertreter Betrüger. In diefem Sinne und Ton wird das Ganze
und die einzelnen Mifftonäre beſprochen. Warned entlarut die
Gewiffenlofigfeit, mit welcher Marſchall die Statiftif der Bibelgeſell⸗
haft und der Miffionsgefellichaften behandelt. Denn die Beweiſe
Marſchalls find Berichte proteftantifcher und katholiſcher Schrift
fteller, welche entweder an fich unrichtig und gehäfftg find, oder
deren Urteile aus dem Zuſammenhang geriffen nnd in der bös⸗
willigften Weife verdreht und gedeutet werden. So wird 3. B.
der edle Miffionar der Südſeeinſeln, John Williams, ein feltenes
Mufter aufopfernder Liebe und Thätigkeit, nur erwähnt, um feine
ſittliche Reinheit zu befchmugen, und wenn er in feinem Berufe
den Märtyrertod erlitt, fo wird biefer als die gerechte Vergeltung
dafür bezeichnet, daß er die Infulaner ausgeplünbert habe. Die
Litteratur über die Miffionen der Südfeeinfeln ift reichlich vor-
handen, und jeder vermag, daraus mit Leichtigfeit die Zeugniffe zu
jommeln für den günftigen Erfolg, mit welchem da® Leben ber bes
tehrten Eingeborenen verfittlicht worden iſt. Marfchall dagegen
weiß Tediglich nieberträchtige, verwilderte Betrüger und Lügner dort
zu finden. Seinem fanatifchen Hafje gegen die evangelifche Kirche
fommt nur die Lüge gleich, welche ihm als Mittel dient.
Jedoch diefe Berleumdung, welche fich Gejchichtfchreibung nennt,
bat noch eine andere Folge für die Kirchengeſchiche. Janſſen
hat das Marfchaltfche Wert, welches er für ein Maffifches erklärt,
864 WVWarned
für feine Darftellung der proteftantiichen Miſſton benugt. Er
bat die Tendenz desſelben fortgepflangt und die leichtfertigen Be
hauptungen leichtfertig wiederholt. Die tendenzmäßige Wendung,
Heranziehung oder Weglaffung der Quellen ift diefem Hiftoriter
von Köftlin und anderen bei vielen gefchichtlihen Stoffen nachge⸗
wiefen worden; Warned in feiner Erörterung Über Janſſen bat
das doppelte Verdienft, auf dem Gebiet ver Miſſtonsgeſchichte zu
zeigen, wie er viel Malice mit wenig eigenem Studium verbinde,
die Dürftigfeit feiner Quellenkenntnis mit Plagiaten verdedt, u
tritifch und unmahrhaftig zu Lob und Tadel die Autoritäten heran
zieht. Während er im Stile Marſchalls Verunglimpfungen jeder
Art auf die evangelifhen Miffionen häuft, beharrt er bei den
Traditionen von dem apoftolifchen Charakter des Heiligen Jeſuiten
Xaver, der nur mit Kreuz und Brevier ausgerüftet nach beiden
Indien, nah den Moluffen, nah) Japan und China gezogen jei.
Und da ift e8 denn ein zweites Verdienſt D. Warneds, daß er
die verhimmelnden Lobhudeleien einmal gründlich ansgefegt hat, mit
welchen die römische Schriftftellerei diefen Miſſionar noch immer
umgiebt. Wer bei der Wirklichkeit ftehen bleibt, wird Xaver alt
einen für die Ausbreitung des römiſchen Ehriftentums begeifterten,
mutvollen, thätigen Mann jchägen, welcher in der Fürſorge für
Arme und Kranke auch großer Liebe fühig war. Übrigens abet
ift er in Benugung verwerflicher Mittel der richtige Jeſuit. Schon
das ift charakteriftiich, dag fein Mufter, Ignatius von Loyola,
„erft dam in ihm das Streben nah chriftlicder Vollkommenheit
zu entzünden vermochte, als er feiner Ehrbegierde fchmeichelte, feine
Talente fobte, ihm Schüler zuführte und in Gelbnöten aushalf”.
Dem eutfprechend betreibt er jelber die Miffton in Indien. Er
erwirkt einen Befehl des Königs von Portugal an den Bizefönig,
daß in feinem Bereiche die neuen Chriften aus dem königlichen
Schatze unterftätt werden. Es follen ihnen gewiffe zeitliche Bor:
teile, welche von großem Einfluß auf das Herz der Uuterthanen
jeien, zugewendet werben, damit die Heiden geneigt werben, fich
unter das Joch des Evangeliums zu beugen. Da aber Güte allein
nicht Hilft, fo follen alle Götzenbilder aufgefucht und zerftört, fireng
Strafen verfündigt werden gegen jeden, der es wagen follte, ein
Proteftantifche Beleuchtung der vömifchen Angriffe 2c. 865
Götzenbild zu verfertigen oder einen Brahminen zu beſchützen oder
zu verbergen. Aus einem von Warned mitgeteilten Briefe Xavers
an den König geht hervor, daß die königlichen Beamten jenem in
der Anwendung ber Zwangsmaßregeln zu faumfelig waren. „Strenge
Strafen“, jchreibt er, „müßten jeden Gouverneur treffen, wenn in
feiner Provinz die Zahl der Belehrten unbeträchtlich bleibt, denn
das fteht feit, daß e8 viel mehr Bekehrte geben würde, wenn Die
Beamten es ernftlich wünſchten. Ja, ich fordere, da Ew. Ma⸗
jeität einen feierlichen Eid fchwören, daß jeber Gouverneur, ber es
verfäumt, unferen heiligen Glauben auszubreiten, bei feiner Rück⸗
fchr nach Portugal durch jahrelange Einfperrung beftraft, feine
Güter Fonfisziert und zum Beſten wohlthätiger Zwecke verkauft
werden follen. Ich könnte Thatfachen in Menge anführen zur
Unterftügung der Notwendigkeit meines Rates.... Ich beſchränke
mich aber auf die Verficherung, daß, wenn jeder Vizelünig und
Gouverneur von dem vollen Ernft folchen Eides überzeugt wäre,
ganz Ceylon, viele Könige der Mealabarfüfte, das ganze Kap Co-
morin in einem Jahre das Chriftentum annehmen würden. So
lange aber die Bizelönige und Gouverneure nicht durch Furcht vor
Ungktade gezwungen werden, viele Chriften zu machen, barf Em.
Mofeftät wicht erwarten, dag die Predigt des Evangeliums in In⸗
dien eime erhebliche Wirkung habe, oder daß viele zur Taufe ge
bracht werden und ein bedeutendes Wachstum der Belchrten ftatt-
finde. Die einzige Urfache, baß Nicht jedermann in Indien an
die Gottheit Chrifti und an feine heilige Lehre glaubt, Tiegt in
der ftraffreien DVernachläffigung der Belehrung durch die Statt-
halter.“ — Als ein König der Miffton fich feindlich zeigte und
die Ehriften niedermebelte, deren Anzahl wahrjcheinlich fehr über-
trieben auf 700 angegeben wirb, fo verfuchte Xaver eine Revo⸗
Intion ‚gegen ihn ins Werk zu fegen und mit Hilfe der Portugiefen
deſſen Bruder zum Throne gu verhelfen, wenn diejer fi taufen
laſſen wolle. Die Politik fchlug aber zum Nachteil Xavers aus,
und er 309 es vor, Indien zu verlafien. Sein Mangel an Kenntnis
der Randesfprachen war ihm binderlih. Warneck beweiit das aus
feinem eigenen Zeugnis: „ES ift eine fchlimme Lage inmitten eines
Volles von fremder Zunge ohne einen Dolmetſcher. Rodriguez
866 Barnıd
verfucht zwar den Dolmetſcher zu machen, aber er verftcht wenig
Bortugiefih. Da lannft Dir alfo denken, was ich hier für ein
Leben führe, und was ih für Predigten halte, wenn weder das
Bolt den Dolmetfcher noch diefer mich verfteht. Ich follte Meifter
in der Zeichenfprache fein. Dennoch bin ich nicht ohne Arbeit,
denn ich brauche keinen Dolmetfcher, um neugeborene Kinder zu
taufen.” Dagegen weiß die Legende, daß er die zur Predigt nö
tigen Spraden wunderbar fchnell erlernte, und wenn das noch
nicht Schnell genug vonftatten ging, fo redete er die Sprachen durch
ein Wunder, ohne fie erlernt zu Haben; oder er redete eine folde
Sprache, daß von Zuhörern verjchiebener Nationen jeder in feiner
Sprade ihn verftand. Da dies durch die Kanonifationsaften ver-
bürgt ift, fo hat in der jefuitiichen Geſchichtſchreibung auch diesmal
das Dogma das widerfprechende Zeugnis XRavers überwunden. Es
ift auch nur eines von vielen Wundern. Er vollbringt mit Kru⸗
zifiren, Roſenkränzen und anderen Dingen fo viele Wunder, er bes
fehrt jo viele Heiden, „daß die Welt feit den Tagen des Apoftel
Paulus keinen Völkerlehrer gefehen hat, gleich dem heiligen Xaver“.
Wie aber die Qualität diefer Bekehrungen befchaffen war, davon
finden fich dei Warned mehrfache harakteriftifche Zeugniffe. Xaver
fie 3. B. den Glauben, das Gebet des Herrn, das Ave» Maria
und die zehn Gebote ins Tamulifche überfegen und die Säge wie
der und wieder nachſprechen. Beim Glauben fragte er nach jebem
Sake, ob fie das feft glauben? und wenn fie das bejaht, ermahnte
er, die Worte oft zu wiederholen und erklärte, daß Diejenigen
Chriften feien, die daran fefthielten. Ähnlich bei dem Vaterunfer
und den zehn Geboten. Dann folgte eine allgemeine Beichte, und
der Unterricht war fertig. Was die Quantität betrifft, fo wiſſen
feine Xobredner, daß er an einem Tage 10000 und im ganzen viele
Hunderttaufende getauft habe. Xaver felbft dagegen fchreibt gegen
Ende feiner Wirkſamkeit 1549 über das portugiefiihe Indien:
„Die Eingeborenen find fo fchledht, daß von ihnen niemals die
Annahme bes Chriftentums erwartet werden Tann. Man könnte
fie ebenfo gut auffordern, ſich umbringen zu lafien, als Chriſten
zu werden.” — Der Bericht des Jeſuiten Martin vom Jahre 1700,
welchen Warneck binzufügt, beftätigt e&, wie gering der Wert von
Vroteftantifche Beleuchtung der römifchen Angriffe zc. 3
Kavers Miſſion nach Zahl, Beichaffenheit und Wirkungen auf die
Folgezeit gewefen if. Es gebe, fagt er, unter den Indiern nur
drei Sorten von Berfonen, welche das Chriftentum angenommen
haben, ſeitdem es ihnen von europätfchen Mifftonären gepredigt
fü. Die erften feien die Bewohner ber Fifcherfüfte, welche vor
der Ankunft des Xaver aus Furcht vor den Mohammedanern und
wegen des Schutzes der Portugiefen fich Chriften nannten, und
dur welche Xaver Hindurcheilte, um fie zu unterrichten. Zweitens
die Bewohner an der Südküfte, jo weit bie Portugiefen fie unter»
johten. Sie belannten fich fofort äußerlich zur Religion der
Sieger. Man zwang fie, ihren Kaften zu entfagen und die euro-
päiſchen Sitten anzunehmen, mas fie aufs höchfte erbitterte und
ur Verzweiflung tried. Die Teste Klaſſe beftand aus Leuten,
welhe die Hefe des Volks bildeten, aus Sklaven ber Portugiefen,
oder aus folchen, welche wegen ihrer Lafter aus ihrer Kafte ge-
floßen waren.
Der Schwulft, in melchen das meift fehr einfache Leben der
römischen Meiffionäre und Helligen eingemwidelt wird, ift von altem
Datum. Wir erkennen ihn fchon in den alten Biographieen, welche
den Stempel römifcher Kirchlichfeit tragen. Seine Wurzel aber
hat er in den Panegyrifen bes finkenden Heibentums. An diefer
Stelle, wie an unzähligen anderen, hat fich die Verborbenheit des
heidniſchen und kirchlichen Noms gemifcht.
Warneck verkennt dennoch nicht, was in der Ausdehnung ber
römischen Mifftonsthätigleit Großartiges tft, auch nicht die Aufs
opferungsfähigfeit vieler römischer Mifftonäre; aber die Weihrauch-
wolfen, mit welchen römische Selbftgefälligkeit die Mifftonäre ums
giebt, will er Tichten, und wenn Janſſen in ber Miffion die fignis
flanteften Belege für die Heiligende Kraft der römifchen Kirche
findet, fo macht Warneck auf die nötigen Einfchränfungen aufmerf-
ſam. Vierhundert Jahre ungeftörter Mifften und Kirchenverwals
tung in Südamerika haben bewirkt, daß man in Ecuador, dem päpſt⸗
lihften aller Länder, welches fich ganz dem Bapfte zur Verfügung
geftellt hat und welches jeden proteftantifchen Gottesdienſt ausfchließt,
die einfachften Lehren der Religion ganz unbelannte Dinge find.
Die Pfarrer figen das ganze Jahr hindurch in Quito oder anderen
Theol. Stud. Yahrg. 1885. 24
8368 Warneck
Städten und reiten nur ein» oder zweimal zu ihren Gemeinden
hinaus, um Abgaben zu nehmen und nebenbei die Saframente zu
ipenden. Die fittliden Berhältniffe des ganzen Landes find elend.
In Merilo, Beru und Bolivia fteht es damit womöglich noch
ſchlechter. Man leſe die Tatholifchen Berichte darüber und über
Brafilien, Argentinien, Chile, welche Warneck vorführt, und man
wird diefelbe Beobachtung machen, zu welcher man bei ben roma⸗
nischen Volkern Europas gedrängt wird, daß je mehr eine Nation
dem Papismus preisgegeben ift, um fo mehr fie in Aberglauben
und Unfittlichleit verfinkt.
Einen bejonderen Abfchnitt widmet Warned der Eitierkunft
römifcher Schriftfteller. Hier wird an Marfchall, auch an Jauſſen
und anderen die Perfidie nachgewiejen, mit welcher andere Schrift.
fteller zugunften Roms und zu Schmähung der enangelifchen Kirche
benugt werden. Solche, weldye fich bei Kennern durch ihre Unze
verläffigkeit um allen Glauben gebracht Haben, werden als voll |
fommen zuverläffige Autoritäten gepriefen, dafern fie nur brauchbar
für die Parteizwecke find. Die dreifteften Unmwahrbeiten werben
ohne Bedenken ausgefprochen und womöglich aus den angeblichen
BZeugniffen von Proteftanten bewiefen, die entweder Krpptofathe
liken find oder gar nicht exiftieren. Um 1863 fagt die dentſche
Überfegung von Marſchalls Bud: Bis auf biefe Stunde hat Rom
100 Schulen mehr ald Berlin, und durch alle diefe Schulen wird
dem Volke genau dasfelbe gelehrt, was in Berlin gelehrt wir.
Triumpbierend fügt Marfchall Hinzu: „Sole Thatſachen fchlagen
eine Welt von Humbug in die Flut.“ Mean darf behaupten,
daß die Befcheideuheit in diefen Worten ebenjo gering ift wie ihre
Wahrheit. Warned bat fich die Mühe gegeben, ftatiftifche Notizen |
zuverläffiger Ablunft zu erlangen. Darnad) gab e8 am Ende der
päpftlichen Herrfhaft in Nom 14 Elementarſchulen. In dieſen
Schulen lernten die Knaben Iefen, fchreiben und etwas Grammatil,
die Mädchen Lefen, um das Gebetbuch zu verfiehen. Einen metho⸗
difchen &lementarunterricht, welcher die bei uns üblichen Fächer
umfaßt hätte, gab es nit. Auf 100 Rekruten im SKiccheuftaat
famen 59, bie nicht leſen konnten. Die Lönigliche Regierung brachte
bis 1876 die Zahl der Schüler in weltlichen und geiftlichen In⸗
Broteftantifche Beleuchtung der römischen Angriffe ꝛc. 809
ſtituten auf eima 18000; während in Berlin um 1881 etwa
118900 Elementarſchüler vorhanden waren. Welche Ergebniffe
der Unterricht in den häheren Schulen bis zum Jahre 1870 Hatte,
‚babe ih an einem anderen Orte geſchildert!) umd will das bier
nicht wiederholen.
Beachteuamwert ft die Bemerkung Warnede, daß Be Berichte
der römiſchen Mifftomäre unter einer noch ſtrengeren Zenſur ftchen
als die Verdffentlichungen heimischer Kleriker. Es befteht.ein Syftem
der Unmehrheftigleit in Rob und Verſchweigen, und mur felten
dringen Merichte von urkundlichem Wert in die Öffentlichkeit, wäh-
rend die Aufrichtigkeit ber proteftantifchen Sehriftfteller über Mif-
Non, welche mit dem Licht auch die Schatten erfennen laffen, der
römischen Feindſeligkeit und Schmähfucht die Arbeit erleichtern.
Man kann nicht behaupten, daß Warnecks Rüge gegen bie falfche
Lunſt der römiſchen Schriftftellerei zu ftrenge fei; fie argumentiert
vielmehr mit den Tchatfachen, und jeder vermag aus feiner Dars
legung die römische Art zu erkennen, welche faft unnermeiblich da,
wo Barteinng ins Spiel Tommt, dem Heiligen die Lüge anheftet.
Um zu zeigen, daß man mit ber gleichen böswilligen Sophiſtik
auch das Erhabenfte gemein machen unb die Wahrheit in Lüge
verwandeln famı, menbet er im fünften Abfchnitt diefe römische
Methode auf die ueuteftamentlihen Berichte und bie apoftofifche
Zeit an. Aus den tadelnden Bemerkungen und Ermmahnungen der
Apoſtel, die fih an die Grmeinden richten, läßt fih mit den glei»
hen Künften der Auslegimg ableiten, daß die Gemeinden bürftig
an Erkenntnis, von Laftern aller Art erfüllt, in innerer Zerriſſen⸗
heit begriffen waren, und daß, wenn ben thatfächlichen Zuftänden
und Vorgängen gegenüher die Apeoftel die Gemeinden loben, dies
nichts anheres als Schmeichelet und Schönfärberei ſei. Auch der
ünßere Erfolg, höchſtens 30 Keine Gemeinden befannten Namens,
laͤßt ſich als ein geringes Ergebnis der Arbeit von 12 Apofteln und
wenigfteus 30 Gehilfen darſtellen. Selbft die Apofiel, namentlich den
Cherafter des Petrus und Paulus, Iann man durch ſolche Mittel in
1) Jakobi, Streiflichter anf Religion, Polttit und Univerfitäten der Zen-
trumspartel. Halle 1888. ©. 19f.
24*
30 Barned
den Schmuß ziehen. Es kommt ein Zerrbild der apoftolifchen Zeit
zutage, ganz ähnlich demjenigen, was die Jeſniten von der Miſſion
der evangelifchen Kirche entwerfen. Das alles ift treffend ge-
zeichnet, nur glaube ih, die Parodie würde wirkfamer fein, wenn‘
fie kürzer wäre.
Einen der wichtigften und intereffanteften Abfchnitte bes War⸗
neckſchen Buches bildet das este Kapitel über die römische Mif-
fionslegende. Der Verfaffer findet mit Recht den allgemeinen und
tieferen Grund für das Gedeihen dieſer Wucherpflanze in ber
Selbftverherrlichung der römischen Kirche, in der Verkennung und
Verſchweigung ihrer Fehler, in ihrer Unkritik und Aufgeblafenheit.
Mit der gleichen Selbftverblendung, in der fie dem Gemifch von
wahren Chriften und Namenchriften alle Prädikate beimißt, welche
nur für die Gläubigen beftimmt find, überficht fie an dem einzelnen,
welche fie für auserwählte Werkzeuge Gottes hält, die Wirkſamkeit
der Sünde, drückt bie fittlichen Gefichtspunkte herab, um bie Men⸗
fchen zu erheben, ftattet fie mit Wundern aus, beren übernatürliche
Beſchaffenheit kaum jemals, felbft vor der wohlmwollenden Kritik zu
erhärten tft, die in der Regel durch Oftentation von dem füttlichen
Gehalt der neuteftamentlichen Wunder fich unterfcheiden,, außerdem
großenteil8 abenteuerfih und abgeſchmackt find, mithin ebenfo ver-
wandt den Erbichtungen der apokryphiſchen Evangelienlitteratur,
wie fie dem Geifte der echten Evangelien fremd find. Und das
alles mit jener Ruhmredigkeit vorgetragen, gegen deren konveutio⸗
nellen Bombaft der jogenannte pietiftifche Jargon, welchen die Röm-
linge den proteftantifchen Mifftonsblättern vorwerfen, ein Ge
ringes iſt. Warneck bemerkt treffend, daß die Miſſion die reichfie
Gelegenheit zur Sagenbildung darbiete, weil hier die Phantafie durch
die fremdartigen Bedingungen angeregt wird, und leicht Umgefſtal⸗
tungen des Thatfächlichen wirkt. Wir fügen Hinzu, daß entfernte
Großthaten und Wunder fehwerer zu kontrollieren find, als örtlich
nahe, und daß fich fehr gewöhnlich die pia fraus an die abſichts⸗
[08 dichtende Sage anſchließt. Warned hat die fehr wenigen ehren
vollen Ausnahmen auf römifcher Seite nach feinem gewohnten Ge⸗
rechtigfeitsfinn nicht überfehen. Ein um fo fchärferes Licht läßt
er auf die leichtfinnig oder abfichtlich hervorgebrachten Miſſioné⸗
Proteſtantiſche Beleuchtung der römiſchen Angriffe zc. 871
legenden fallen, namentlih auf den Nimbus des Xaver. Sehr
Iehrreich ift der Nachweis, wie die Legende in der Reihenfolge der
Berichte Tavinenartig wächft, und wie bie jefuitifchen Erzähler, felbft
wenn einmal ein Eritifcher Zweifel fich regt, durch zweidentige Dars
ftellung den frommen Lefer. darüber hinwegzuheben fuchen. Lehrreich
ift ebenfo die Beobachtung, daß auch in der Gegenwart der Same ber
Legenden in den Mifftonsgebieten ausgeftrent wird. Die prahlerifchen
und lügneriſchen Berichte jefuitifcher Miffionare Tegen diefe Keime,
welche mit oder ohne Abficht zu Wunbderbäumen fich entwickeln werben.
Ich glaube zwar nicht, daß die im Stickſtoff der Unfehlbarkeit
atmenden römischen Schriftfteller durh Warnecks Buch zu nüch⸗
ternerer und wahrhafteree Gefchichtfchreibung geführt werben; allein
die evangelifche Kirche und Theologie wird es ihm banken, daß er
auf dem Gebiet, in welchem er vor anderen heimisch ift, die tra⸗
dittonelle Unmwahrbeit als das aufgewiefen Hat, was fie tft.
Profeffor D. Yacobi.
2.
D. Bangemann, Die Intherifhe Kirche der Gegenwart
in ihrem Verhältnis zur Una Sancta. Eine Iubiläums-
gabe in fieben Büchern. Berlin 1883. 1884. Gelbit-
verlag des Berfaffers. In Kommiffion bei Wilh. Schulge
(Wohlgemuths Buchhandlung). ME. 31,70.
Das Werk zerfällt in folgende einzeln erfchienene Hefte):
1) Erftes Bud: Der fiebente Artikel der Augsburgifchen Kon⸗
feſſion, als Fundament zu einer biblifchen Lehre von der Una
Sancta. 1883. 70 © Mi. 1,25.
2) Zweites Bud: Gefhichtliche Darftellung des Ringens und
Kämpfens um Wiedergewinnung der verlorenen Einheit der Una
Sancta. 1883. 124 © Mt. 2.
1) Diefelben find im folgenden nach den Zahlen 1—9 citiert.
872 i Wangemann
3) Drittes Buch: Die nenlutheriſche Freilirche und ihre Ab⸗
irrungen von ber firchlichfymbolifchen Lehre von der Una Sancta.
1883. 197 ©. Mt. 3.
4) Viertes Bud: Die nenlutherifche Begriffsverwirrung in den
Kirchenideen hervorragender Stimmführer in dentfchen Intherifäen
Landeskirchen als ein vornehmliches Hindernis für die Ausge
ftaltung der Una Saneta. 1883. 150 S. Mi. 2,50.
5) Fünftes Bud: Bauplan und Bauſteine für die leibliche Aus-
geftaltung der Una Bancta. 1883. 279 ©. Mi. 4,ss.
6) a. Sechſtes Buch: Die preußifche Union in ihrem Verhältnis
zur Una Sancta. b. Stiebentes Bud: Die Una Saneta
nach der Lehre ber Heiligen Schrift. 1884. 359 ©. Mt. 5,50.
Dazu treten Ergänzungshefte:
7) Zum dritten Bud: Drei preußifche Dragonaden wider bie
[utherifche Kirche. 1884. 119 ©. ME. 1,90.
8) Zum fünften Bud: Johann Sigismundt und Paul Ger-
hardt oder der erfte Kampf der Intherifchen Kirche in Kur
brandenburg um ihre Eriftenz. Ein Eirchengefchichtliches Lebens⸗
bild aus dem 17. Jahrhundert. 1884. 256 ©. Mi. 4,20.
9) Grundlage für das fehfte Buch: Die kirchliche Kabinetts-
politit des Königs Friedrich Wilhelm III. inforiderheit in Be⸗
ziehung auf SKirchenverfaffung, Agende, Union, Separatismus
nach den geheimen füniglichen SKabinettsakten und ben Alten-
fteinfchen bandfchriftlichen Nachlaßaften des königlichen geheimen
Staatsarchiv gezeichnet. 1884. 452 ©. ME. 7.
Das umfaffende Werk des in den Kämpfen der preußiſchen
Landeskirche erfahrenen Verfaffers liegt nunmehr in neun Broſchüren
vollendet vor. Wir hatten die Beiprechung der bedeutſamen Arbeit
mit Abficht bis zum Abfchlug des gefamten Werkes aufgefpart,
um womöglich ein einheitliched Gefamturteil zu gewinnen. Ein
folches zu geben ift jedoch nach ber ganzen Anlage des Buchs
nicht möglih. Die Fülle einzelnen Stoffs hat eine einheitliche
Seftaltung nicht gefunden; eine ſolche ift auch von dem Verfaſſer
gar nicht beabfichtigt gewefen. Dadurch wirb allerdings die Be
fprehung auch nur eine fortlaufende Rückſichtnahme auf einzelne
Erörterungen des Berfaffers enthalten können.
Die lutheriſche Kirche der Gegenwart ꝛc. 878
Der Verfaſſer hat als Ausgangspunkt und Grundlage für das
gefamte Werk Art. VII (n. VIII) der Auguftana gewählt. An
diefem Artikel, in welchem der DVerfaffer das Bekenntnis zur Una
sancta findet, fol die Intherifche Kirche der Gegenwart einer Prüfung
unterworfen werben. Allerdings weift der fpezielle Titel des erften
Buchs (Nr. 1) fogfeih über den Gefamttitel hinaus. Wangemann
will nach diefem Spezialtitel (Nr. 1) dem fiebenten Artikel der
Auguftana „als Fundament zu einer biblifchen Lehre von ber
una sancta* zur Erörterung bringen. In der That folgt au im
legten Buch die Lehre der Heiligen Schrift von der una sanota,
Schon dieſe Folge giebt zu prinzipiellen Bedenken Anlaß. Nimmer-
mehr kann nach evangelifchem reſp. lutheriſchem Prinzip eine kirch⸗
lie Lehranffaffung zum Fundament für die biblifche Lehre dienen,
jondern umgelehrt fünnte nur die bibltfche Lehre das Fundament
bilden, auf dem die Korreltheit des Artikels VII der Auguftana
zur Erörterung käme. Allerdings Tiegt auch der Fehler mehr im
Ausdruck als in der Sade. Die biblifche Lehre von der una
sancta (Nr. 6P) ſchließt ſich durchaus loſe an das abgefchloffene
Berk an, nachdem bereits ber Verfaſſer das Schlußwort für das
Ganze gefchrieben hat (Nr. 6, S. 15379ff.) Auch verliert diejes
letzte Buch dadurch an Bedeutung, als es nur ganz kurz auf
44 Seiten eine fummarifche Überficht über bie biblifch-theologifche
Auffaffung des Verfaſſers ohne eingehendere exegetifche Begründung
giebt. Dabei verweift der Verfaffer auf die ausführliche Begründung,
die er in feinem früher erfchienenen Buch: „Das Opfer nach Lehre
der Heiligen Schrift" gegeben Hat. Wir müffen darauf verzichten,
an diefer Stelle auf diefes abfchließende fiebente Buch, das eben mehr
ein Anhang als ein organifcher Teil des Werks ift, näher einzugehen.
Die Auffaffung Wangemanns, nach der er bereits die vollftändige
Una sancta mit ihren Tonftitutiven Faktoren Gemeinfchaft der Gläu⸗
bigen einerfeits, Wort und Saframent anderfeits im Alten Teftament
ausgeftaltet findet, die tupologifche Verwendung des Alten Teftaments,
nah der er 3. B. im Allerheiligften die Dreieinigleit dargeftellt
ſieht (die Heiligkeit Gottes des Vaters in den verborgenen Geſetzes⸗
tafeln, die Gnade Gottes des Sohnes in der Bundeslade umd die
Herrlichkeit Gottes bes Heiligen Geiftes in den Cherubim, während
874 Baugemann
zugleich diefelben Zeile des Allerheiligften die drei Amter Chrifti
abbilden follen, S. 607), ift fo eigenartig und bietet fo mannig⸗
fahen Anlaß zu prinzipiellen Crörterungen biblifch = theologifcher
Natur, daß wir im Blick auf den übrigen reichen Inhalt des
Werts auf eine nähere Erörterung verzichten.
Das wefentliche Fundament ift und bleibt dem Titel gemäß für
das ganze Werk Auguftana VII (u. VII) und da Wangemann je
nicht mit Rom, fondern nur mit ſolchen ſich auseinanderſetzt, welde
alle auf dem Boden der Auguftana ftehen wollen, fo ift dieſes
Fundament für den verfolgten Zwed durchaus genügend.
Aus dem Gefagten erhellt ſchon, dag in dem gefamten Werl
die fnftematifche Ordnung fehlt, und wir glauben, daß der Verfaſſer
diefelbe zu fehr unterfchägt Hat, wenn er ausgefprochenermaßen,
wie wir fchon oben kurz anbdeuteten, nur „lauter einzelne, nicht zu
einem Ganzen verarbeitete Werkſtücke und Stoffe" bat geben
wollen (Nr. 6, ©. 582. 592). Dazu ift. doch ber Werkſtück
und bes Stoffes zu viel gegeben, als daß fie unverarbeitet neben
einander liegen bürften. Abgeſehen davon, daß die Verbreitung
bes Werkes, wie der Verfaſſer wiederholentlich felbft beklagt, durd
die neunfache Broſchürenform und die dadurch entftandene Verteue-
rung gehemmt ift, find bei der allmählichen Bearbeitung und Heraus:
gabe vieler in relativer Selbſtändigkeit erfcheinender Hefte fo viel-
fache Wiederholungen, Erweiterungen, Einfchaltungen, Nachträge ent«
ftanden, daß dadurch das Leſen des Werkes wejentlich erfchwert wird.
Der fachgemäße Plan, welcher der Arbeit hätte zugrunde gelegt
werben müffen, ergiebt ſich unſeres Erachtens einfach dadurch, daß
der Verfaffer an dem Reſultat der grundlegenden Entwidelung von
Auguftana VII der Reihe nad) die verſchiedene Stellung erörter!
hätte, welche die lutheriſche Kirche der Gegenwart dazu einnimmt.
Tann hätte fi an Buch I (Nr. 1) das jegige Buch IV (Rr. 4), di
Stellung der Stimmführer in den lutheriſchen Landesfirdgen zu⸗
nächſt angefchloffen. An dritter Stelle wäre die Entwickelung der
preußiichen Landeskirche und der Union getreten (Rr. 9 u. Rr. 6°);
dann erit wären die fogen. altlutherifchen Freilirchen (Wr. 3 u. 7)
zur Beſprechung gelommen, deren Entjtehung ja heuptiächlich di
Unionsfämpfe zur Borausfegung haben. Endlich Hätte ber Ber
Die Yutherifche Kirche der Gegenwart ꝛc. 875
faffer feine eigene Darlegung, die leibliche Geftaltung ber una
sancta betreffend gegeben (Nr. 5 und ein Teil von 6. So
allein wäre der Geſamttitel: „Die Intherifche Kirche der Gegen»
wart in ihrem Verhältnis zur una sancta* zu jeinem vollen
Rechte gelommen. Dadurch wäre ohne Scaben für das Ganze
Nr. 2 in Wegfall gelommen und nur Einiges des darin Hiftorifch
Erörterten etwa einleitungsweife für bie Geſchichte der Union vers
wendet worden. Das Ergänzungsheft Nr. 8 wäre als jelbftändige
Spezialunterfuhung aus dem Ganzen ausgeſchieden ). Diele
Wiederholungen wären vermieden worden (3. B. wäre das in
Nr. 9 über den Separatismus Entwidelte mit Nr. 3 verarbeitet
worden). Allerdings ift ja erft im Verlauf der Arbeit dem Verfaſſer
da8 überaus wichtige Material der Geheimen Kabinettsaften zuge:
gangen, wodurd eine Neubearbeitung und Ergänzung bereits früher
gedruckter Partieen nötig ward. Dadurch aber ift der fchon fo wie
jo loſe Zuſammenhang des Werkes um fo mehr gelodert worden.
Trotz all diefer methodischen und formellen Mängel gewinnt
die Arbeit des Verfaſſers dadurch das Anziehende, dag die Perfon
de8 Schreibers mit ihrem warmen Herzen aus allem Gefchriebenen
und entgegentritt. „Mag's mir feiner meiner Lefer Übel nehmen,
daß ich fo perfünlic rede. Es hat mir's fchon mancher verdacht,
aber man muß einen Menfchen nehmen, wie er ift; id) kann einmal
nit mit dem bloßen Berftande bloß wiſſenſchaſtliche Elaborate
fiefern, der Menſch fühlt, vedet, empfindet bei mir mit, und das
bat auch fein Gutes, denn alſo entftchen nicht Bücher, fondern
Zeugniffe, und ein folches follen meine neuen fieben Bücher fein“
(Nr. 8, ©. 14). Mit diefen Worten charakterifiert Wangemann
jelbft feine Arbeit. Darin liegt zugleich der Grund für die metho-
diihe Schwäche, aber auch für das Intereſſe, das beim Leſen der
Bücher ſtets vege bleibt. Dean muß freilich mit der wohlthuenden
1) Die darin enthaltenen Unterfuchungen über Johann Sigismunds Über-
tritt zur reformierten Kirche find durch die Benutzung des Staatsarchivs be-
jonder8 wertvoll. Auc über Paul Gerhardt ift manches neue Material herbei⸗
gebracht, ohne daß allerdings das bisher ſchon gewonnene Eharakterbild Gerhardts
wefentlich geändert wird. Der betreffende Teil des Werkes bebürfte einer ber
fonderen Beſprechung.
376 Wangemaun
Herzensfprache, aus der man ſtets des Verfaſſers innerſte Über⸗
zengung heraushört, auch viele ſcharfe und bittere Urteile über bie
Gegner hinnehmen, die wir Tebhaft bedauern.
Gehen wir nunmehr zur Beſprechung bes Werkes felbft über.
Die grundlegende Erörterung von Auguftana Artikel 7 im
erften Buche wird mit ganz befonderer Klarheit, Gründlichkeit und
Schärfe geführt und erhält einen um fo höheren Wert, als der
Verfaſſer damit ausgefprochenermaßen feine gefamte frühere Auf-
faffung lorrigiert. Es tft ja charafteriftiich, baß gerade über biefen
Artikel die Intherifchen Theologen der Nenzeit jo überaus ent-
fchieden diffentieren. „Wie oft“, fo fehreibt Kahnis in feinen Zeug
niffen von den Grundwahrheiten des Proteftantismus (S. 45),
„Haben wir Lutheraner uns in Konferenzen, Religiensgefprächen,
engeren Disputationen an der Beſtimmung der Kirche Artikel VI
der Augsburger Konfeffion die Zähne zerbiffen. Nie, nie Haben
wir uns einigen können.“ 1) Gegenüber all den Auffafjungen,
welche von einem abftraft dogmatifhen Standpunkte aus alles
Mögliche aus Artikel 7 Heraus» oder vielmehr in ben Artikel 7
bineinlefen, was fich bei näherer Prüfung als pure Unmöglichkeit
erweift, jobald man den gefchichtlichen Boden, auf dem bie
Auguftana erwachſen ift, in Betracht zieht, betont der Berfaffer
ſehr richtig dem hiſtoriſchen Ausgangspunkt, daß von einer von der
römifchen oder gar der reformierten Kirche abgegrenzten organifchen
Intherifchen Kirche noch gar nicht die Rede fein konnte, daß alfo
auch von dieſem Gefichtepunfte aus nimmermehr die Ausdrücke der
Auguftana erklärt werden können. Damit erweift der Verfaffer
ſehr richtig die Unmöglichkeit der von vielen neueren Bertretern
des Ruthertums verfochtenen Anficht, daß das Subjelt in dem ge⸗
nannten Artikel wechſele, fo daß zuerft bie Kirche als oongregatio
1) Eine harakteriftiiche Iluſtration für den unter den mannigfaltigen Ber
treteen ber Intherifchen Kirche beſtehenden Diffenfus giebt auch) Wangemann unter
der Überfchrift: „Ein fchönes Traumbild” (6, ©. 371 ff.), wonach der Zu⸗
fammentritt einer allgemeinen Iutherifchen Konferenz, welche Wangemann mit
regftem Eifer betrieben hatte, daran feheiterte, daB don vornherein eine Über⸗
einftimmung in den Hauptgebanfen, befonders betreffs der Lehre von der Kirche
nicht erzielt werden konnte.
Die Intherifche Kirche der Gegenwart zc. 877
sanctorum im idealen Sinne, und von ben Worten in qua au
die Kirche nah Seiten ihrer vielen Geſtaltung genannt werde.
Wangemann begnägt fich aber nicht damit, die Unmöglichkeit jolcher
Auffaſſung hiſtoriſch zu erweiſen; im Gegenteil gehören bie eins
gehenden Erörterumgen Uber die einzelnen Begriffe der Definition
mit zu den trefflichften Bartieen des Werkes. Der Nachweis, daß
der Begriff soeietas nicht als konkrete Gemeinfchaftsform, jondern
als „die Zugehörigkeit zur Kirche” verftanden werden muß, daß
mit dem consentire nicht an einen kirchenpolitiſchen Konſenſus und
mit der unitas seolesiae nit an einen Firchenpolitiiden Körper
gedacht werben Tatın, dag damit vielmehr das geiftliche Band, bie
Einigfeit des Heiligen Geiftes in den Herzen ber Gläubigen allein
gemeint ſei, iſt unwiderleglich von Wangemann geführt. Ebenſo
Klar find die Erbrterungen über das, was zu ben traditiones seu
ring aut ceremonias zu rechnen ſei. Wangemann kommt zu dem
rihtigen Refultat, daß das bezeichnete Gebiet alle diejenigen lirchlichen
Anordnungen umfaßt, welche in das Gebiet der Kirchenordnungen,
des Kirchenregiments und ber Agenbe gehören, welche alle nicht das
Weſen ber Kirche betreffen, alfo inbezug auf die Frage nad) der
Gemeinſchaft der Kirche nicht in Betracht gezogen werden können.
Bei der Erörterung don Wort ımd Sakrament als notae
erternae verfiht Wangemann bie Anfchauung, baf die Muguftana
nad Artikel 7 Wort und Sakrament nur als Erkennungszeichen
für die reale Exiftenz der Kirche anfleht und die konſtitutive und
effeltide Bedeutung für das Wefen ber Kirche in Abrede ftellt.
Dir können ihm bierin nicht beitreten. Zwar Artikel 7 enthält
nichts, was uns Uber „das Erkennungszeichen“ Hinausführt, aber
neben Artikel 7 iſt doch Artikel 5 und 13 mit in Nechnung zu
schen, wo bie Wirkſamkeit der Gnadenmittel zur Mitteilung des
heiligen Geiſtes und zur Erwedung des Glaubens, und darum
auch zur Konftitulerung der congregatio sanctorum zweifellos
ſchon in der Auguſtana bezeugt wird. In derfelben Linie müffen
auch Artikel 9 und 10 in Betracht lommen. In der Verwal:
tung von Wort und Sakrament liegt ein wefentlicher Faltor
der Kirche, wodurch dieſelbe auh in bie Sichtbarkeit tritt
(agnosei potest), fo daß ſchon nach der Anguftana ſich durchaus
8178 Baugemann
nicht ecclesia proprie sic dieta und large sic dieta mit be
Degriffen ber ecelesia invisibilis und visibilis beden. Bird
mehr kommt ſchon der ecclesia proprie sic dieta eine weſent⸗
lihe Sichtbarkeit in der fie mit konſtituierenden Faktoren von
Wort und Saframent zu. Wangemanns Entwidelung ift in diejem
Punkte aud nicht ohne Widerfprühe. Er mehrt entfchieben ab,
daß die Auguftana Wort und Salrament zu Tonftitutiven Tal
toren der Kirche erhoben habe. Es fei dies vielmehr ein refor
mierter, fpeziell calvinifcher Gedanke, der aber fpäter in ber In
therifhen Kirche durch die Konfordienformel Aufnahme gefunden
babe (1, ©. 31). Diejer Fortbildung der Konlordienformel zollt
Bangemann die vollfte Anerkennung (1, S. 63), betont aber dabei
wieder, daß diefer Fortſchritt den Gegenfak zu der reformiertn
Kirche bezeichne, „in der die eigentliche Firchenbildende WBebentun
der Saframente nie zum Ausdrud gelommen fe“ (©. 66).
Ehenfo wird Luther in feinem Streit gegen Carlftadt und bie
Schweizer bereits die Hare Erfenntnis von Wort und Sakrament
als grundlegenden Faktoren der Kirche zugefchrieben, anderjeits aber
wieder Kliefoth (Rr. 5, S. 249) getabelt, daß er im Widerfprud mit
der Apologie, weldhe Wort und Saframent nur als notae externae
occlesiao Teune, diefe Gnadenmittel als Tonftitutive Faltoren feinem
Kirchenbegriff einfügt. Dagegen wird wieder anderwärts (Nr. 6,
S. 311) die Predigt des Worts und fchriftgemäße Verwaltung ber
Sakramente als konftitutive Faktoren der Kirche nach Art. VII
der Auguftana bezeichnet, neben denen das Kirchenregiment als
dritter Faktor nicht geltend gemacht werden bürfe.
Debeutfam ift die eingehende Darlegung der fogen. altluthe⸗
rifchen Bewegungen im dritten Bud (Nr. 5), zu welchem ein Er-
gänzung&heft: „Drei preußifche Dragonaden“ (Nr. 7) tritt, im dem
vor allem die Hönigernfche Affaire aus den bisher geheimen, jegt
dem Staatdardhiv überwiefenen Alten eingehend behandelt ift. Der
Verfaſſer bekennt durch einſeitig parteiifche Geſchichtsdarftellung
früher ohne Wiffen und Wollen zugunften der jeparierten Qutheraner
das Urteil über bie Iutherifche Kirche in Breußen irre geführt zu
haben. „Gott wolle mir in Gnaden vergeben, daß meine frühere
gefchichtliche Darftellung dazu beigetragen hat, diejem Irrtum Bor
Die Iuthertiche Kirche der Begenwart ıc. 879
hub zu leiften. Meine Lebenstage geben zu Ende, ich fehne mich
heraus ans den Kämpfen und aus der Arbeit in die Ruhe, aber
mir ift e8 eine heilige Gewiſſensſache, da8 was ich damals ver-
jehen babe, wieber gut zu machen, fo lange ich noch lebe; ich
wärde nicht ruhig fterben können, wenn ich’& unterließe” (Nr. 3,
& 11). Es ift ein trauriges Bild, das Wangemann in biefen
Heften entrollt, woburd am Schluß die Thatfache Tonftatiert wird,
daß die fepariert Intherifche Kirche in 14 fach verſchiedenen Kirchen-
förpern in Deutſchland exiftiert, die unter einander auf das hef⸗
tigfte ſich befehden. Das Ergänzungsheft zeigt uns die Hönigernfche
Dragonabe aftenmäßig als ein Ereignis, in dem die Milde, Nadh-
fiht und Gewiffenhaftigkeit des Frommen Königs Friedrich Wilhelm III.
in das hellſte Licht tritt. Die Verleumdnugen, die ſich bis zum
heutigen Tage an dieſe traurige Geſchichte knüpfen, find unzweifel-
haft widerlegt. Außerdem behandelt dies rgänzungsheft eine
zweite „Dragonade* in Hermannsdorf, welche in einer vom Evan«
gelifchen Bücherverein in Hannover als Traktat verbreiteten Schrift
von Bolzberger beſchrieben ift, und erweift diefelbe in gebührender
Weiſe als eine vollſtändig aus der Quft gegriffene Verleumbung.
dern hätten wir tabei aber dem Verfaſſer die gar nicht hergehörige
Parallele am Schluß des betreffenden Heftes erlaſſen, in der er
die Berfolgung des Grafen Wolf von Schönburg um feines lu⸗
theriſchen Glaubens willen durch den damals in den Händen der
Bhilippiften befindlichen Kurfürft Auguft von Sachfen erzählt.
Die Gerechtigkeit einer Sache kann nicht dadurch erhöht werben,
daß man bie vorgelommenen Ungerechtigleiten in anderen Ländern
ihr gegenüberftellt.
Ebenfo müſſen wir unfer Bedenken äußern, daß Wangemann
die dogmatifchen Ungeheuerlichkeiten Scheibel8 und die Kirchenrecht»
lichen Utopien Hufchtes in fo hervorragender Weiſe betont, daß
diefe abfteufen Vorausſetzungen ſogleich allen denen auch zugerechnet
werden, welche im Verlaufe der weiteren Kämpfe in die Intherifche
dreificche eintraten (S. 36). Wir glauben, daß Namen wie Nagel,
Beiler u. a. nicht auf diefem Wege zu der Separation gelommen
find und nicht für die Grundideen ber beiden genannten Männer
verantwortlich gemacht werden können,
Bo Wangemann
Das vierte Buch (Nr. 4) behandelt die Abirrungen der gemuin
Intherifchen Lehre innerhalb der Intherifchen Landeskirchen. Debei
bat Wangemann uidt etwa die Landeslirchen jelhft, fordern aut
einzelne hervorragende Stinunführer derſelben, vor allem Lohe, Mir
foth, v. Zezſchwitz ins Auge gefaßt. Trefjflich ift hierbei der be
ſonders auf hiſtoriſchem Wege geführte Nachweis won der Lnhalt-
barkeit der Kliefothſchen Lehre vom Kirchenregiment als welent.
lichen Faktor der Kirche (S. 247 ff.). Heuptfäclich aber ift 4
v. Zezſchwitz, deffen Schrift über die Abendmahlsgemeinſchaft Wange⸗
mann ber eingehendften Kritik unterwirft. Schreiber diefes ift je
hierbei unmittelbar beteifigt, da feine mannigfach wunwolikomemen,
aber in allen weſentlichen Pofitiouen noch Beute vom ihm vm
tretene Schrift über „has Recht und bie Pflicht der gaftweiis
Gewährung der Abendimablsgemeinfchnft nach dem Beleuntnis de
Intherifchen Kirche” (Leipzig, Roßberg 1869) die Veranlaffung zu
v. Zezſchwitz' Gegenichrift geweien if. Wangemann Bat alle we
fentlichen Poſttionen jener Schrift gegenüber v. Zezſchwitz in aus⸗
führlicher Darlegung verteidigt. Der wefentlichfie Punkt iſt dabei
die Widerlegung der von den belämpften Stimmführern immer und
immer wiederholten Behauptung, die Vermeigerung jebweber Abend
mahlagemeinſchaft bei dilfentierendem dogmatifchen Belenntuis in
der Lehre vom Abendmahl gründe fich auf die Thatſache, daß das
Abendmahl nach Intherifger Lehre note confessionis fei. Schon
in der genannten Schrift hatte ich darauf hingewieſen, daß dei
Abendmahl aid nota confessionis zu betonen fpegififch zwinglijch fei
Es ift ja eine Thatſache, daß Luther das Abendmahl vor allem al!
Snadengabe Gottes anfah, die für fich ganz unabhängig ven um
ſerem Glauben tft, während Zwingli dagegen das Ahensmahl al!
Gemeindebeleuntnis allein auffaßt. Hier Liegen auch hie tieferen
Brände für die Betommmg der manducatio infidelium ſeitens Luthers
Dennoch mörhte ich ein Mißverſtändnis befeitigen, das ſowohl
durch meine bamalige Darftellung, wie auch durch Wangemann
warme Verteidigung und eingehende Begrlinbung biefer Poſition leid!
entftehen kann. Es würde falich fein, wollte man ſchon Zwingli
Betouung des Abendmahls als nota eonfessionis dehin auffaffen,
als habe er mit der Teilnahme am Sakrament das Belenuimis 7
Die Imtherifche Kicche ber Gegenwart ꝛc. 581
der ſpezifiſch reformierten Lehre vom Abendmahl im Unterſchiede
von Luther verlangen wollen. Zwingli will nichts anderes, als
das chriftliche Belenntnis zu der von Ehrifto vollbradhten Erlöjung
hervortreten Taffen; die Teilnehmer folten ſich der Kirche gegenüber
als Chriften (wicht als Zwinglianer) erweifen. Qui huic...
interest, toti se ecclesiae probat ex oorum esse numero, qui
Christo fident ?).
An diefem Sinne Hat ja auch die Auguftana das gute Hecht
des Abendmable als nota professionis inter homines an zweiter
Stelle anerlannt und konnte es auf Grund ber Schrift gar nicht
anders thun.
Es ift nicht richtig, wenn Wangemann behauptet, Auguftana
und Apologie verhielten fi der Bezeichnung nota confessionis
gegenüber nur abweiſend. Gewiß ift aber dem lutheriſchen Be⸗
kenntnis das Sakrament als signum et testimonium voluntatis
dei erga nos von viel höherer Bedeutung, weshalb es dieſe Be⸗
jeihnumg mit einem magis auszeichnet. Dabei bleibt aber ber
itehen, und darauf fommt es hier vor allem an, daß auf ber Linie
Bwinglifcher Lehre die einfeitige Betonung des Abendmahls ale
nota confessionis, als Zeugnis des Glaubens der Kirche gegenüber
liegt. Je mehr auf die Seite der Altivität der befennenden Ge⸗
meinde der Schwerpunkt gelegt wird, wie die Schweizer thaten, um
jo mehr erfcheint die Betonung des Abendmahls als nota con-
fessionis vonfeiten der neueren Lutheraner ald eine dem gemmin
1) Dies ift die einzige Stelle aus Zwinglis Werken, die von Zezſchwitz in
feiner Schrift (S. 52) merkwürdigerweiſe als Beweis gegen meine Behauptung
anführt, daß Zwingli dag Abendmahl ale nota confessionis anfehe. Noch über-
rafchender ift aber der daranf folgende Kommentar zu dieſer Stelle, der bie
jelbe im ihr ſtriktes Gegenteil verfehrend, alſo lautet: „Hier (in obiger Stelle)
handelt es ſich alfo um ein Bekenntnis Gott (?!) gegenüber, allgemein chrift«
iher Art, . . Wir dagegen reden von einem Belenntntsaht, ber vor
Menſchen reſp. der Kirche gegenüber Zeugnis giebt, zu welcher Vekenntnis⸗
gemeinschaft man fich hielt und haben dies als lutheriſche Anfchauung ... ber
gründet. Was Bat nun das mit einander gemein, und wie ſoll man e8 nennen,
wenn jemand es unternimmt, wegen des leiten Begriffes einen Lutberaner
Zwingliſcher Auſchauung zu zeihen”. Wir erwibern: Wie foll man ſolche Ber-
fchrung des Haven Wortfinnes in fein direktes Gegenteil nennen’?
882 Wangemann
Lutheriſchen abſolut fremde einſeitige Ausbildung und verhängnis⸗
volle Übertreibung des Zwingliſchen Grundgedankens und fällt dent⸗
lich und Har unter das Gericht der Apologie, die ba ſchreibt von
den „fürwigigen Gelehrten“, die ba meinen, das Abendmahl fei
um deswillen eingefett, „daß es fei eine Lofung und Zeichen eines
Ordens, wie bie Möndslappen ihrer Drden Zeichen und Unter
ſchied fein“ (R. 267, 68).
Von weittragender Bedeutung aber erjcheint es, dag Wange:
mann offen bekennt, die früher von ihm und von. den Intherijchen
Vereinen innerhalb der preußifchen Landeskirche feftgehaltene Po⸗
fition, daß das Abendmahl nota confessionis im Sinne des luthe⸗
rifchen Sonderbelenntniffes fei, fallen Laffen zu müſſen, als un
vereinbar mit der lutheriſchen Grundanfchauung.
Wenn der in Buch 3 und 4 geübten Kritik meift die gefunde
Iutherifche Lehre fich einen Ausdrud giebt ?), wobei wir nur bie
Schärfe der Polemik beklagen müfjen, fo Tönnen wir dem Ver⸗
fofjer in den pofitiven Darlegungen, die er im 5. Buch (Nr. 5)
al8 „Bauplan und Baufteine für die leibliche Ausgeftaltung der
Una sancta" giebt, nicht in allen Stüden folgen. Hier, glauben
wir, ift der Verfaffer felbft in vielen und weientlichen Punkten von
der genuin Intherifchen Lehre abgewichen.
Diefe unfere Ausftellung erftredt fich zunächft auf Bangemannt
Lehre vom Abendmahl. Wangemann betont als Gegenfa ber
Iutherifchen Lehre zu derjenigen Ealvins, daß diejer (wie Wangemann
durch gejperrten und fetten Druck bedeutungsvoll hervorhebt) Teugnet,
„ba durch das Sakrament ein mehres oder anderes gejchenft werde,
ale was dur das Wort dargeboten und im Glauben ergriffen
wird“, (S. 146) während nach [utherifcher Lehre im Abendmapl ein
anderes gegeben und gewirkt werde, als durch das Wort. Gegen dieſe
letztere Behauptung fteht entfchieden ber lutheriſche Grundſatz, der
auch in der Apologie feinen befenntnismäßigen Ausdrud gefunden
bat: „idem est effoctus verbi et sacramenti“ (R. 201). Diejer
1) Der firengen Kritik, welche Wangemann an dem in ber jächfiichen Landek⸗
kirche üblichen Amtsgelöbnis, welches den früheren Amtseid erjegt hat, ameübt
(4, ©. 321 ff.), können wir allerdings in feiner Weiſe beipflichten.
Die Iutherifche Kirche der Gegenwart ıc. 883
Grundſatz Liegt auch Luthers Salramentslehre zugrunde (vgl. 3. B
Erl. Ausgb. 29, ©. 345. 1°, ©. 306 u. oft). Die Heilsgabe
des Abendmahls ift nicht Leib und Blut Ehrifti, fondern die duch
die Darreihung von Leib und Blut Chriſti und vermittelte Vers
gebung der Sünden, die auch im Wort und angeboten wird. „Es
verhielt ſich mit nichten fo“, fagt Harleß 1) durchaus richtig, „daß
das, was im Saframent bes Heiligen Abendmahls gereicht wird,
bloß in dieſem und durch dieſes dargeboten wird. Es tft vielmehr
ein und dasfelbe, was im Sakrament und was im Verheißungs⸗
worte des Menfchenjohnes, dort unter der Bedingung der ihm zu
weihenden &lemente, bier unter der Bedingung des ihm durch den
Glauben gemweihten Herzens durch den erhöhten und verflärten Herru
zu eigen gegeben wird. Es ift auch Kein Unterfchied gradweiſer,
größerer und geringerer Fülle, ober wie fonft einem ſolchen, an
fh undenkbaren Unterſchied faſſen und formufteren wollte“; und
Harnack jagt ebenda 2): „Wir fehen, mie ſehr auch unjer kirch⸗
lies Bekenntnis von ber Anſchauung beberrfcht ift, daß uns burch
die einzelnen Gnadenmittel nicht ſpeziſiſch verfchiedene Gnadengüter
mitgeteilt werben, ſondern daß fie alle, wenn auch auf verfchiedene
Weife, bdiefelbe Gnade mit bemfelben Gnadenzweck und berjelben
Gnadenwirkung vermitteln.“
Wohl bat Luther an einzelnen Stellen ?) eine fpezififche Wir-
fung bes Abendmahls auch, auf das Teibliche Leben der Chriften
ausgefprochen, ohne daß jedoch diefe gelegentlichen Äußerungen einen
Einfluß auf feine Theologie ausgeübt haben. Wenn aber Wange-
mann von einer leiblichen, ja felbft natürlichen Wirkung des Sakra⸗
mentes im Gegenſatz zu und im Unterfchied von der bloß geift-
lichen Wirkung des Wortes und Glaubens fpriht (Nr. 1, ©. 54),
wenn er auf diefe fpezifiich von der Wirkung bes Wortes unter:
ſchiedene geiftleiblihe Wirkung des Sakraments vor allem die
Lehre von der Una sancta, als durch die Selbftmitteilung des
Leibes Chrifti im Abendmahl gewirkt, auferbaut, wenn er Luthers
1) Harleß und Harnad, Die Firchlich- religiöfe Bedeutung der reinen
Lehre von den Gnadenmitteln 1869. ©. 52.
2) ©. 185f.; vgl. Form. Conc. (R. p. 746).
8) Thomafins Hat fie in dev Dogmengefchichte I, 847 ff. zuſammengeſtellt.
Theol. Etub. Yahrg. 1885. 25
Lchre vom Abendmahl nad) einzelnen Äußerungen von diefem Punkte
aus entfaltet, fo wird dadurch das weientlich Lutheriſche verrüdt.
Zwar ſucht Wangemann feine Anfchauung vom Abenbmaßl audı
aus den Intberifchen Symbolen zu begründen, wenn er au „die
unleugbare Thatſache“ Eonftatieren muß, „daß in den ſymbolijchen
Büchern die gemeindebildende und Tirchenbildende Bedeutung bee
Saframentes hinter der eines perfönlichen Gnadenmittels für das
geängftete Herz zurücktritt“ (Nr.5, S.85). Wangemann beruft ih
indes zum Erweis, daß die Symbole die geiftleiblidye Wirkung
des Abendmahls lehren, auf die im der Apologie Art. X citierte
Stelle des Cyrill von Alerandrien, die mit ben Worten ſchließt:
„nonne corporaliter quoque facit, communicatione carnis Christi,
Christum in nobis habitare?* ſowie die andere Stelle, die von
einer participatio naturalis ſpricht. Aber er überficht, daß bie
ganze Stelle dort ausdrücklich nur zum Beweis dafür angeführt
wird, daß dafelbjt gelehrt werde: „Christum nobis corporaliter
exhiberi in coena.* Der Ausbrud participatio naturalis darf
doch jo wenig für ſich allein gepreßt werden, als ber andere neben
Cyrill citierte Ausſpruch des Vulgarius (Theophylakt): „panem
non tantum figuram esse sed vere im carnem mubtari.“ Könnte
man doc fonft auf Grund biefer letzteren Stelle ebenfo gut be-
haupten, Die Apologie lehre die Transſubftantiation. Wenn aber
Wangemanı den Sag aufftellt, es müßten für die Abendmahl:
lehre die Reſte ber früheren griechifchen patriftifchen Zeit (Cyrill
und Hilarius) wieder gewonnen werben, bie der Iutherifchen Lehre
im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen feien, anberfeits
aber an derjelben Stelle befennt, daß biefe Gedanken in ben fpäs
teren (?) Schriften Luthers und in den ſymboliſchen Büchern (1)
durchaus zurücktreten (Nr. 5, ©. 89f. 170), fo erfcheint die an«
gebliche „Lücke“, die in diefer Einfeitigkeit der lutheriſchen Kirche
Ttegen fol, doch vielmehr auf eine prinzipielle andere Auffaffung
der Saframentslchre Binzumweifen.
Damit wollen wir die Bedeutung bed Abendmahls ald gemein
Schaftsbildend nach Iutherifcher Lehre durchaus nicht in Abrede ftellen.
Dies folgt vielmehr aus der genuin Iutherifchen Lehre mit innerer
Notwendigkeit und wird ſtets von Luther betont als communio,
Die Intheriiche Kirche der Gegenwart ic. 886
Nur darf man dieſes Moment nicht losgelöſt von der eigentlichen
Bedeutung des Abendmahls als Gnadenmittel zum Ausgangspunkt
nehmen und nicht auf da® leibliche Leben gründen !).
Bon befonderer Bedeutung erfjcheint e8, daß Wangemann mit
Necht betont, Quther Habe ſich in die Lehre von der Ubiquität und
andere DVerfuche, ben Irrlehrern durch dogmatifche Ausdrücke den
Weg zu verlegen, allezeit nur ungern und mit Wiberftreben hinein⸗
nötigen laſſen (Nr. 5, S. 169). Ye mehr gerade in unferer Zeit
vielfach das Dogma von ber Ubiquität des Leibes Chriftt ale
da8 fpezififch Iutherifche Dogma allein gepriefen wird, während es
für Euther nur ein bei der Abendmahlslehre fi ihm nahelegenber
dogmatifcher Hilfsjfat war, um fo wichtiger iſt es, daß gerade
Wangemann vor der einfeitigen Betonung dieſes Punktes warnt.
Dagegen können wir wieder Wangemann in feiner Darlegung
der Lehre Luthers vom allgemeinen Prieftertum und vom geiftlichen
Amt durchaus nicht beiftimmen. Wenn Wangemann fagt, das Bild,
welches Luther vom allgemeinen Prieftertum entwerfe, entbehre der
Iharfen Grenze, und behauptet, Luther habe bis zu den Bauern-
kriegen jedem einzelnen Laten als durch die Taufe geborenem Priefter
das Botfchafteramt zuerkannt, habe aber dann faft wider Willen
auf Außerfiche Ordnungen zurüdgreifen müfjen, fo müſſen wir bie
Konfequenz und Klarheit der Lehre Luthers vom allgemeinen Priefter-
tum und feinem Verhältnis zum geiftlichen Amt entfchieben feft-
halten. Ich Habe dies in der Schrift: „Luther und die Ordina⸗
tion“ (Wittenberg bei Herrofe, 1883, S. 307) eingehend erörtert
und kann darum auf den dortigen Nachweis mich beziehen: Wanges
manns Behauptung, daß Luther das Amt nur in der früheren Zeit
ans der hriftlichen Gemeinde ordnungsmäßig erwachſen Laffe, fpäter
aber die unmittelbare göttliche Stiftung des Amtes im Unterſchied
von der Gemeinde betone, und dabei im Gegenſatz zu feiner
früheren Lehre die Amtsträger nicht mehr im Namen und anftatt
der Gemeinde ihr Amt führen laffe, tft nicht richtig. Gerade an
dee Stelle, die Wangemann S. 197 zum Erweis citiert, heißt es
in der don ihm weggelaffenen Fortfegung: „Denn fol Amt ift
1) Bgl. das Nähere in meiner Schrift über Abenbmahlsgemeinichaft S. 22 ff.
25*
886 Bangemann
nicht mehr denn ein öffentlicher Dienft, fo etwan einem befohlen
wird von der ganzen Gemeinde, welde alle Priefter find“
und „darum muß man etliche dazu auswählen und ordnen, fo zu
predigen geihidt .. . item fo die Saframente von wegen ber
Gemeinde handeln, damit man wife, wo da getauft worden fei
und alles ordentlich zugehe.“
Auch Wangemann läßt fi, wie Kliefoth und Stahl, durd
Äußerungen Luthers täufchen, in denen derjelbe die göttliche Einfeßung
des Amtes betont, als wenn er damit feine Aufchauung, daß ord-
nungsmäßig aus der Gemeinde da8 Amt erwachſe, verlaffen habe.
Niemals hat Luther beides in irgendwelchen Gegenſatz zu einander
ftehend angefehen. Gerade in dem durch ordnungsmäßiges Handeln
der Menſchen erwachjenden geiftlichen Amte vollzieht ſich bie Ein-
ſetzung des Amtes durh Gott und Chriftus. Luther begründet
ausdrücklich den Grundſatz, daß die Pfarrherren nit im Namen
ber Kirche, fondern „aus Einſetzung Chriſti“ das Amt verwalten
mit den Worten: „Denn der Haufe ganz kann folches nicht thum,
fondern müſſen's einem befehlen und laſſen befohlen fein“ (Erf.
25, ©. 364). Darum gefhieht die vocatio zum geiftlihen Amt
ftets „durch Menfhen und gleichwohl auch von Gott“ (Er. 15,
©. 5), „durch Menſchen und doch auh von Gott beftätiget“
(35, 59). Es ift gefund Iutherifche Auffaifung, den menfchlichen
und göttlihen Zaltor nicht zu fcheiden. Wenn Menfchen nad
Gottes Willen handeln, dann vollzieht fi) Gottes AYnftitution.
Die Stiftung des geiftlichen Amtes ift nicht ein einzelner Alt
Chrifti, wie die Einjegung der Taufe oder des Abendmahls, fon-
dern ift nad) Luthers Auffaffung unmittelbar mit der durch Chriſtus
vollbrachten Erlöfung für die geordnete Gemeinde von felbft ge
geben. „&ott Hat den geiftlichen Stand ſelbſt eingefegt mit fei-
nem eigenen Blut und Tode“ (Erl. Ausg. 20, S. 10).
Mit großer Entfchiedenheit vertritt Wangemann die Wieder
aufrichtung des Bilchofsamtes innerhalb der evangelifchen Kirche
und die Gewährung eines kanoniſchen Rechtes an diefelbe. Er be
klagt dabei das Fefthalten Luthers an feinem „ſpiritualiftiſchen“
Kirchenbegriff, der allerdings richtig und biblifch (1) die eigentlich
wahre Kirche jet, aber eine Einfeitigfeit enthalte, die ihre Ergän
Die lutheriſche Kirche der Gegenwart ıc. 887
zung finden müſſe, da bie Kirche nad; der andern Seite eine leib⸗
liche fein müffe, die in weltlichen Sormen und Ordnungen verfaßt
wird. Es fällt fchwer, diefe Klage mit dem in Buch 1 über
Auguftana VII Entwidelten in Einflang zu bringen, wo der von
Wangemann „fpiritualiftifch“ genannte Kirchenbegriff mit aller Ent⸗
ſchiedenheit als der einzig richtige vertreten wird. Wir müflen es
verneinen, daß der Kirchenbegriff Luthers und der Auguftana fpiri-
tualiftifch ift und der Ergänzung bebürfe; ber Fehler Tiegt auf
Wangemanns Seite, ber, wie wir oben entwicelten, die wefent-
lihe Sichtbarkeit ber Kirche durch die Fonftitutiven Faktoren Wort
und Sakrament nicht beachtet hat. In diefer wefentlichen Sicht-
barkeit, diefen Tonftitutiven Gnabenmitteln und ihrer Verwaltung
ft aber die Notwendigkeit einer äußeren Organifation, die in dem
Önadenmittelamt ihren Quellpunkt hat, fchon gegeben und braucht
nicht al8 Ergänzung noch hinzugebracht zu werden. Cine andere
Stage aber tft, ob Luther die Aufrichtung eines evangelifchen
felbftändigen Bifchofamtes im Unterfchied von bem einen Gnaden⸗
mittelamt, wie Wangemann meint (Nr. 5, ©. 208) erfehnt Hat.
Man kann gewiß viele Ausſprüche Luthers nach diefer Richtung
anführen, in denen er den Segen des rechten Biſchofsamtes be»
tont. Schwer aber füllt doch ins Gewicht, daß der Übertritt ber
beiden preußifchen Biſchöfe im Jahre 1524 durchaus nicht zu der
biſchöflichen Verfaffung führte. Die Stellung der Biſchöfe in
Preußen wurbe mwefentlich bie Stellung von Superintendenten, und
die bifchöfliche Gerichtsbarkeit ging ſpäter an die Konfiftorien über,
während der Landesherr das Summepiffopat wie anderwärts be-
ſaß. Auch die „Wittenbergiiche Reformation“ vom Jahre 1545
enthält durchaus nicht, wie man es oft darftellt, wie auch Wange⸗
mann es anfieht, die lebhafte Anerkenntnis von dem dringenden
Bedürfnis einer eigenen bifchöffichen Ordnung innerhalb der evange⸗
liſchen Kirche, da darin nicht von irgendeinem eigenen zweckmäßigen
Aufbau der evangelifchen Kirche, fondern nur von dem Wieder⸗
eintritt der evangelifchen Gemeinden in den von Bilchöfen regierten
Organismus der bisherigen Kirche gehandelt wird !).
1) Bol. Köftlin, Martin Luther IL, 611 (2. Aufl.).
588 BVBengemann
Bon ganz befonderer Bedeutung ift das als Grundlage für das
fechfte Buch bezeichnete Ergänzungsheft Nr. 9, zu dem das fechfte
Bud felbft nur die eng ſich aujchliegende Fortſetzung bildet. Sehr
wertvoll ift e8, daß Wangemann die Geheimen Königlichen Kabinetts-
often und ben Altenfteinfchen handſchriftlichen Nachlaß amsnuken
fonnte. Die Geſchichte der Agende und der Union erhält hier
intereffante Auffchlüffe, infonderheit tritt der perſönliche Anteil, den
der König an der Herftellung der Agende gehabt hat in ein gan
befonderes und wirklich überrafchendes Licht, das uns in die felb-
ftändigen liturgifhen Studien des Königs hineinblicken läßt. Aber
unferes Erachtens thut der Verfaſſer zu viel, wenn er, bis auf
die eine Ansitellung, daß der König die „referierende" Spendeformel
in ber Agende Hartnädig fethielt, alle Maßnahmen des Königs
rechtfertigt und die Ausübung des Titurgifchen Rechts feitens des
Königs im vollen Umfang durchaus verteidigt. Die Gegnerſchaft
Wangemanns gegen Schleiermader, deſſen Oppofition von feinen
reformierten Prinzipien aus Wangemann nicht genügend in ihrem
Rechte anerkennt, hat zu einer faft ausnahmsloſen Billigumg aller
Vorgänge in Sachen der Agende und Union geführt. Wenn
aber gar Wangemann am Schluß der Entwidelung fagt (Nr. 9,
S. 436): „Die Römiſchen und Evangelien Haben ihre heiligen
Orter, nach welchen fie wallfahrten. Die Römifchen haben ihre
wunberthätigen Bilder und Wafler, die Evangelifhen in Preußen
haben wor andern (?! welche andern?) zwei Orte”, und fodann als
diefe zwei Orte das Benfter der Arbeitöftube Kaiſer Wilhelms in
Berlin und die Srabftätte Friedrich Wilhelm II. in Eharlotten-
burg bezeichnet, jo muß jeder evangelifche Ehrift und gute Batriot
gegen eine derartige Parallelifierung entjchieden proteftieren. Daß
der Einführung der Agende wie ber Union manches Weenfchliche
beigemifcht war, daß das einfeitige Vorgehen des Königs als
summus episcopus, wie der Staatsbehörden, die doch den König
berieten,, nad) kirchlichen Grundfägen nicht vertreten werden Tann,
wird auch auf Grund des Wangemannfchen Buches wohl niemand
leicht in Abrede ftellen, der nicht den Xerritorialismus vertritt,
wenn auch viele Verleumdungen durch die Kabinettsakten ſich als
das, was fie find, erwiefen haben. Daß der König nur ein ihm zu-
Die lutheriſche Kirche ber Gegenwart tr. 389
ſtehendes formelles Recht ausgeübt hat, wird niemand beftreiten
können, aber eine andere Frage tft, ob das innere materielle Recht
der Kirche nicht durch eine derartige Ausibung bes Summepiflopats
gefährdet und verletzt werden mußte. Jedenfalls ift es inkonſequent,
wenn Wangemann wohl das Vorgehen des Königs durchaus ver-
teidigt, aber fein Feſthalten an der „referierenden” Spenbeformel
als unberechtigt befämpft. Nimmermehr darf Einverftändnis mit
einzelnen Maßnahmen oder Abneigung gegen andere der Maßftab
werden, nach dem die materielle Rechtmäßigkeit des Verfahrens
geprüft wird (vgl. z. B. Nr. 6, ©. 473 die Unterfcheidungen
wahrer und faljcher Union).
Auf die Darlegungen über die weiteren Entwidelungen innerhalb
der premßifchen Landeskirche in Buch 6 können wir im einzelnen
nit näher eingehen. Sie find lebendig umb anziehend gejchrieben,
weil der Verfaſſer felbft die Zeit durchlebt Hat. Nur möchten
wir bemerfen: So wenig wir die utopifchen Pläne bes Generals
fnperintenbenten Hoffmann, welche in feiner Schrift: „Deutfchland
einft und jet im Lichte des Wortes Gottes” ausgeführt wurden,
vertreten oder rechtfertigen Lünnen, und fo gewiß wir glauben, daß
Dorners kirchenpolitiſche Grundfäge vielfach zu fehr aus der
Theorie und ohne genügende Rückficht auf die hiftorifch berechtigten
konfeſſionellen Eigentümlichkeiten der Kirchenkreiſe innerhalb der
preußiſchen Landeskirche gefloffen find, fo ift die Beurteilung beider
Männer bei Wangemann doch zu fehr beeinflußt durch die aus⸗
geprägte Tirchenpolitifche Gegnerſchaft des Verfaſſers. Die Pa-
rallele mit dem Kryptocalvinismus (Nr. 6, S. 591) tft durchaus
unzutreffend. Darin liegt zunäcft kein Vorwurf. Schwerlich
wird jemand eine objektive Beurteilung einer Zeit gewinnen, in der
er jelbft als thätiges Mitglied einer ausgeprägten Partei kämpfend
geftanden hat. Ganz offenbar täuſcht fih Wangemann über fich
jelbft, wenn er noch heute fein Auftreten auf ber fogen. Oftober-
Ionferenz im Jahre 1871 durchaus verteidigt. Wer die damals
gehaltene Rede Tieft, wird den Eindruc gewinnen, daß ber Ver⸗
faffer der „Una sancta“ fo nicht mehr reden könnte. Daß damals
das Ziel der Rede Brückners, eine Konfüderation der verfchiebenen
evangelifchen Landeskirchen zu gewinnen von vornherein ausfichtslos
300 Wangemann
ward, war die Folge des Eindrucks, den Wangemanns Rede durch⸗
aus auf jeden Hörer hervorbracdte. Heute vertritt in warmer
Weile Wangemann genau diefe VBorfchläge der Oltoberkonferenz,
fogar mit dem Ausblid auf eine wirklich einheitliche deutfche evan⸗
gelifche Kirche (Nr. 6, ©. 486 f.)
Wenn wir zuleit auf die Forderungen bliden, bie Wangemann
unter den gegenwärtigen Verhältniſſen für die Landeskirche geltend
macht (vgl. Nr. 6, S. 450. 478f.), fo find es im wefentlichen
diejenigen ber Iutherifchen Vereine und ber Eonfeffionellen Partei
innerhalb ber preußifhen Landesklirche. Aber — und das ift das
Wichtige — fie find fämtlih durch bie vorausgehenden Crörte
rungen des gefamten Werls nur unter den Geſichtspunkt der
edvrakia gefordert, find aljo alle durchaus nicht Lebens⸗ um
Gewiffensfragen der Lutheraner als folcher innerhalb ber preußifchen
Landeskirche. Insbeſondere jagt Wangemann ausdrücklich: „Die
Lutheraner in Preußen haben, foviel ich weiß, nie die Organifation
als eine Sache des Dogma und bes Gewifjens, fondern nur genau
ihren Belenntniffen entjprechend als eöradia gefordert" (Nr. 6,
©. 396 Anm.) Damit fteht allerdings die bisherige Faſſung des
dritten der von den Iutherifchen Vereinen feftgehaltenen Grundſätze
(S. 312) in Widerfprud. Derfelbe lautet: „Das Tonfeffio-
nelle Recht ber Iutherifchen Gemeinden fordert zu feiner
Wahrung eine Fonfeffionelle Kirchenberfaſſung. Wir begehren
demnach die Anerkennung und Durchführung des evangelifch luthe⸗
rischen Belenntniffes in Kultus, Gemeindeordnung und Regiment.“
Wenn die Wahrung des Tonfefftonellen echte der Gemeinden
entfchieden eine Sewiffenspflicht ift, die Wangemann doch als
folche nicht Tengnen wird, zu diefer Wahrung aber (alfo nidt
bloß als logiſche Konfequenz) eine konfeſſionelle Kirchenverfaſſung
als nötig gefordert wird, fo weiß ich nicht, wie man dem Di⸗
lemma entgehen kann, daß den Tutherifchen Vereinen Preußens die
gefonderte Geftaltung der Iutherifchen Kirchenverfaſſung für bie
[utherifchen Gemeinden der Landeskirche im Linterjchiede von den
unierten und reformierten nicht eine Gewiſſensſache gewefen if.
Jedenfalls ift die ganze Frage jekt von Wangemann ausdrücklich
auf das Gebiet der edradia verwiefen, und wenn Wangemann,
Die Intherifche Kirche dev Gegenwart ꝛc. 891
wie er berichtet, mit Abfafjung eines den veränderten Zeitumftänden
entiprechenden neuen Programms für die Aufgaben der Tutherifchen
Vereine beauftragt ift (Nr. 6, ©. 582), und die Anfchauungen
Wangemanns, die er in der Una Sancta entwidelt, wie es fcheint,
innerhalb der konfeſſionellen Kreife Preußens Lebhafte Anerkennung
gefunden haben, fo ift dem bisherigen heftigen Streit die fcharfe
Spige genommen.
Ein Punkt ift es allerdings, den Wangemann als einen
brennenden Notftand innerhalb der preußifchen Landeskirche be⸗
zeichnet und der baldigft praltiih in Angriff genommen werben
müſſe. Er meint die Freigebung ber „belennenden“ Spendeformel,
wie er fie nennt. Diefe Forderung ift für Wangemann eine Sache
des Dogma und bes Gewiſſens (vgl. bejonders Nr. 6, S. 480 ff.)
Um fo mehr müſſen wir zulegt noch. auf diefelbe eingehen, ba fie
thatfächlich mit der bevorftehenden Revifton der Agende ihre endgültige
Entſcheidung finden muß. Je tiefer die Wunden find, welche ber
traurige Streit über die Spendeformel der Landeskirche gefchlagen
bat, um fo wichtiger ift die Verftändigung über biefe Frage für
unfere Zeit.
| Was ift die Bedeutung ber fogen. Iutherifchen Spendeformel,
ſpeziell, was ift ihre Bedeutung innerhalb der lutheriſchen Kirche? *)
Wangemann fieht fie als ein Belenntnis an, in der die fpezififch
futherifche Lehre des Abendmahls fich einen Ausdrud giebt. Wir
wollen es unerörtert Laffen, ob nicht mit Recht Wangemann ber
Einwand gemacht werden könnte: „So wird alfo doch wieder das
Abendmahl durch die ihm wefentliche Tonfeffionelle Spendeformel
jur nota confessionis, was im Buch 4 heftig befämpft ift.” Jeden⸗
falls aber wird der Spendeformel eine Bedeutung beigelegt, bie fie
innerhalb der Intherifchen Kirche ebenfo wenig als in der alten
Kirche gehabt Hat.
Es ift vor allem zu Tonftatieren, daß die Spendeformel weder
von Luther, noch von Bugenhagen, der uns bie Haffiichen Ius
therischen Agenden gegeben bat, als ein integrierender Beftandteil
der Abendmahlsfeier angefehen worden ift. Luther hat die Spende»
I) Bgl. meine Schrift über Abendmahlsgemeinſchaft S. 80 ff.
892 Wangemann
formel, die unrechtmäßigerweiſe den Namen „lutheriſch“ trägt, gar
nicht gelanut. Er Hatte nur bie Formel der Meſſe: Corpus
(sanguis) Jesu Christi custodiat animam meam (tuam) in
vitam aeternam. In feiner Formula missae erwähnt er bie
letztere. Nachdem er dort ven bem Gebet, das in der Mefie
vor der sumptio ftebt, gejagt Bat: quod si orationem illam
ante sumptionem orare voluerit, non male orabit, fährt: er
fort: Item et illam (sc. orationem): Corpus Domini etc.
custudiat animam tuam in vitam aeternam. “Damit bezeidjnet
er die Spendeformel als ein „Gebet“, das wohl gebraucht werden
fann, aber nicht wefentlich zur Feier if. Im der „deutſchen
Meſſe“ hat er Leine Ependeformel. Die Bugenhagenfchen Agenben
haben fäntfic feine Diftributionsformel. Die alte bänifche Kirchen
ordnung fchreibt vor: accipientibus panem et calicem nihil
dicatur, quia omnibus publice dictum est ante in consecratione
Christi. In der Schleswig-Holfteinfchen Agende von 1542 heißt
ed ausdrüdliih: „Wenn man das Salrament austeilt, foll man
den Kommunikanten, fo bad Brot und Kelch empfangen, nichts
fagen, denn zuvor ift es insgemein gejagt mit den Worten und
Befehlen Ehrifti im ihre Ohren. Das kann man nachmals nicht
beſſer machen.” Ganz ebenjo Tautet es in der Braunſchweiger
Kirhenerdnung von 1543 und ber Hildesheimer von 1544, welde
ebenfalls Bugenhagen zum Verfaffer haben).
1) Bel. König, Bibliotheca agendorum 1726, ©. 46. Dieſes Werk
von König Hat Friedrich Wilhelm ILL. bei Ausarbeitung ber Agenbe auch be
nut, wie fi) aus Wangemann Nr.9, S. 52 ergiebt. Das au der genannten
Stelle von Friedrich Wilhelm in feiner Erörterung nicht ausgeichriebene Citat
der Brannfchweiger Agende, defien Ausfall Wangemann bedauert, ift demmach
dies oben gegebene. Fälichlich ift aber dort vom König Friedrich Wilhelm die
Agende von 1563 flatt der von 1543 bezeichnet. Es beruht dies auf einer
irrtümlichen Auffaffung des Baffus in Könige Bibliotheca, wo allerbings
vorher auch die Agende von 1563 kurz erwähnt wird, während das Citat ent-
ſchieden aus der Kirchenordnung von 1543 angeführt wird, über welche allein
der ganze Pafſus handelt. — Befrembend ift e8, daß Richter in feiner befannten
Sammlung Evangelifher Kirchenordnungen weder in der Schleswig-Holfleiner,
noch Braunfchweiger noch Hildesheimer Kirchenorbnung, die er alle drei Im Auszug
mitteilt, diefen woichtigen Paſſus mit aufgenommen hat. Bgl. aber aufer König
Die Iutherifche Kirche der Gegenwart ꝛc. 396
Noch im Sabre 1616 und 1619 fpredden zwei Gutachten ber
Wittenberger theologiſchen Fakultät auf ergangene Anfrage ſich
dahin aus, daß die Anwendung der Spendeformel kein integrieren.
der Teil der Abendmahlsfeier jet, wohl aber zum Wohlftand und
zur Erbauung der einzelnen fehr dienlich fein könne, wenn bie
Austellung nicht bloß eine ftumme Handlung fe. Das zweite
Gutachten kennt noch lutheriſche Kirchen, in denen feine Spende
formel gebraucht wird !). Andere Agenden geben formulierte Spende»
formeln 2).
Die Bedeutung aber, bie die lutheriſche Kirche dev Spende»
formel beigelegt hat, beftand darin, daß fie die Applikation des
Saframents an den Einzelnen ausdrücken jolle, weshalb wir meiftene
and in den Spendeformeln den Singular: Nimm bin und iß zc.
finden. Die Wöürttemberger Kirchenorbnung vom Sahre 1553
Ihreibt vor: Wiewohl nun beides, Brot und Wein, was zu dem
pegenwärtigen Nachtmahl gebraucht wird, durch die Stiftung Ehrifti,
jo vorher in der Ermahnung und hernach infonderheit verlefen ge⸗
nugjam gereichet ift und es derhalben nicht wieder fonderlicher Worte
mehr bedarf, fo mag der Kirchendiener zu mehrerer Erinnerung
in Darreihung des Leibes und Blutes Chrijti zu einem Seglichen
ungefähr folgende Worte fprechen: Nimm bin und ig, das ift der
Leib Ehrifti, der für dich gegeben ift ®). Das oben erwähnte Gut
achten der Wittenberger Yalultät von 1616, nennt die Spendeformel,
die fie nicht für wefentlih zur Feier Hält, „eine Applikation bei
einem jeden Inbividuo zu mehrerer Erinnerung und Stärkung aller
Schwacgläubigen und zu mehreren Troft” ; und das andere genannte
Öutachten von 1619 fagt, der Spendeformel Zwed fei, „baß man
den Abdruck der Braunfchweiger Kirchenordnung bei Hordleder, Handlungen
von den Urſachen des teutfchen Krieges (I, 1722), ferner: König, Casus consc.
p.575. Kliefoth (Liturg. Abb. VIII, 128), und befonders Kawerau, Zur
Geſchichte der luth. Spendeformeln in Zeitfchr. für luth. Kirche und Theol. 1870.
1) Dedeken, Thesaurus decisionum I, 577 sqq.
2) Zufammengeftellt find 12 verjchiedene in den lutheriſchen Agenden vor-
tommende Kormeln bei Höfling, Urkundenbuch, S. 124 ff., zu denen Klie-
foth, Liturg. Abh. VIII, 124 ff. noch IX Yinzufügt.
8) Richter, Kirchenordnungen II, 137.
jien Semumnilnter des Here Chrinti Weohltheten, auch dieſes
Gefrumese6 Ruz mub Satans ebfeuberfih erinnert werde“.
Bengmemu Isitet bie Geguerichaft des Königs gegen bie befla-
ratıue Epenbefermuel ab amS der falidden ifem vorgefpiegelten Auf:
feffung, «iS fei birfefbe mer cime Sinägeburt des Safjes der Luthe⸗
ramır gegen die Sruptecafniniien (Rr. 6, ©. 185) und in be
That Ielmmben bie eigruhänbigen Retizen des Königs die Richtigkeit
Diefer Unit Wengemauns (Rr. 6, ©. 5iff.) Die Auffaffung
des Lönigs, als fei die Ependeformel: Rehmet hin und effet x.
ans Heft zub Berfelgungejucht gegen die Kryptocalviniften er⸗
fundben, iſt wicht zu beften, aber Thatſache ift es doch — und
dies beachtet WBangemeuu als den wahren Kern dieſer Auffafjumg
nit — bei im Berlauf der kryptocalviniſtiſchen Streitigkeiten
Diefe beflarative Shpeubeformel zur Ipezififchen Formel der Tutheri-
fügen Kirche umb zum weſentlichen Bekenntnis Intherifcher Lehre
erft gemacht werden iſt. So entfcheibet bie Leipziger Fakultät in
einem Gutachten, dem die Jahreszahl fehlt, das fich aber deutlich
als aus der Zeit des Kryptocalvinismus entftandenes kundthut, um
die Salviniften zu feparieren, genüge nicht mehr die Formel: das
Blut Yen Eprifti, für eure Sünden vergoffen, ftärke und erhalte
euch im wahren Glauben, fondern es müßte fortan gefagt werben:
Nehmet Hin und effet, das ift x.!) Zu diefem Zwecke allein wird
fie in manchen Agenden noch durch den Zuſatz: Das ift der wahre
Leib verftärkt ?). Im Yahre 1627 verfuchte Hunnius in langen
Kämpfen in Lübel, wo bis dahin noch feine Diftributionsformel
überhaupt im Gebrauch geweſen war, die deflarative Spendeformel
mit der Erweiterung der „wahre“ Leib einzuführen, drang abet
damals nicht durch. Erft im Jahre 1647 gelang es in Lubed
wie in Roſtock °).
Somit bleibt ganz gewiß als hiftorifche Thatfache beftehen, daf
einer durchaus fachgemäßen und wenn auch nicht von Luther umd
Bugenhagen, fo doch frühzeitig von der Iutherifchen Kirche in Ge⸗
1) Dedeken |. c. I, 578.
2) Bol. Kahnis, Dogmatif III, 511.
8) Aliefoth a. a. O.
Die lutheriſche Kirche der Gegenwart 2c. 895
brauch genommenen Spenbeformel wider ihre urfprüngliche Tendenz
eine Applifation an ben Einzelnen zu fein, der Sinn eines kon⸗
feſſionell Intherifchen Belenntniſſes zur Abhaltung Irrgläubiger
untergelegt wird.
Wie verhält es ſich num mit der Spendeformel der preußifchen
Agende? Sehen wir zunächſt ab von ihrer Tendenz, die ihr als
Unionsformel beigelegt wurde, jo wird niemand fie in ihrem Wort⸗
laute als unpaffend bezeichnen Tünnen. Auch Wangemann verwirft fie
feineswegs (Nr. 6, ©. 481). Sie Heißt mit Unrecht bie refe-
rierende Spendeformel, wie Nitzſch gut nachgewwiefen bat !), denn
fie bezeugt die Gegenwart des Herrn, der zu ben Kommunikanten
Ipriht: Nehmet hin ꝛc. Bugenhagen, der, wie wir fahen, die An-
wendung jeder Spenbeformel für unnötig hält, weil die Gemeinde
Chrifti Wort aus den Konfefrationsworten fchon in ihren Ohren
babe und man es nicht befier machen könne, würde gegen bie
betr. Spenbeformel ber preußifchen Landeskirche am wenigften etwas
einwenden können, weil fie eben ganz unveräudert biefe „nicht
beffer zu machenden” Worte als in diefem Augenblick von Chriſto
zu den Kommunikanten gefprochen darbietet.
Aber allerdings kommt bet der Beurteilung ihrer Einführung
durch die preußifche Agende die Tendenz in Betracht, die ihr als
agendarifche Unionsformel untergelegt wurde, genau fo wie jener
früher befprochenen Formel eine konfeſſionell futherifche Tendenz
beigelegt wurde, bie fie an und für fich nicht gehabt Hatte. Beide
durchaus unanftößigen Formeln belommen fofort einen anderen
Charakter, und die unbefangene Anwendung der einen ober ber
anderen wird gejchädigt, fobald fie zum Scibolet irgendwelcher
Sondertendenz, dort der Konfeffion, hier der Union gemacht würden.
Wir leben nicht mehr in der Zeit der Einführung der Unten.
Im Laufe der faft ſiebzig Jahre Hat fich eine Obfervanz betreffs der
Spendeformel in den verfchiedenen Gemeinden gebildet, welche kirchen⸗
regimentlich gefchägt ift. Unterm 7. Juli 1857 ift vom evangeli-
Ihen Oberkirchenrat eine Zirkularverfügung erlaffen, welche neben
andern berechtigten Abweichungen von der Agende außer der agen⸗
1) Prakt. TH. 5 360,
26 Wangemann
dariſchen noch folgende Spendeformeln als gleichberechtigt be
zeichnet: 1) die ſogen. „lutheriſche“ Spendeformel mit mehreren
Barianten; 2) die Spendeformel der römischen Meſſe, welche
Luther gebraucht hat; 3) für die Gemeinden reformierten Belennt-
niffes, die dafelbft übliche Formel 1Kor. 10, 16. Mit dieſer
„Gleichberechtigung“ ift aber nicht der beliebige Gebrauch frei-
gegeben. Würde da doc fofort wieder der Streit in ben Gemein-
den entbrannt fein. Vielmehr wird überall der status quo feft-
gehalten, die Bertanſchung der agendartichen Spendeformel mit
einer der genannten gleichberechtigten ift an die Genehmigung bes
Konfiftoriums gebunden, welches forgfältigft zu prüfen hat.
Wie wird ſich nun die Nevifion der Agende hierzu zu ftellen
haben? Der Oberkirchenrat hat in dem Proponendum, welches be»
treffs der Agendenrevifion im Jahre 1881 den Provinzialfgnoden zu⸗
ging, es ausgefprochen: „Wir können es nicht für bedenklich erachten,
dem uns ausgefprochenen Wunfche zu genügen und die genehmigten
Barallelformulare zur agendarifchen Spenbeformel al& foldye und an
geeignetem Orte in der Agende mit zum Abdruck zu bringen.”
Wo aber tft der geeignete Ort? Etwa im Anhang oder in ber
Anmerkung unter dem Tert? Wir würden es geradezu als ver:
hängnisvolf anfehen müffen, wenn nicht den vom Oberlirchenrat ans⸗
drücklich als „gleichberechtigt“ bezeichneten Spenbeformeln ber ihnen
als folcher gebührende Pla im Text der gende gegeben würde.
Damit würde allein ben berechtigten Anfprächen der fonfefflonell
Lutherifchen innerhalb der Landeskirche genügt werden, daß die be
treffende Formel nicht mehr bloß als aus Nachficht geduldet erfcheint.
Dadurch allein auch würde beiden Formeln die ihnen im Laufe
ber Gefchichte untergelegte Tendenz genommen werben, welde fie
zu einander entgegengefetten macht, nnd es wärde durch ihr gleich
berechtigtes Nebeneinanderftehen bezeugt, daß fie einander nicht aus⸗
ſchließen, oder gar wider einander ftreiten. Aber eben fo verhäng-
nisvoll wäre es, wenn man, was allerdings Wangemann will
(Rr. 6, ©. 483) den Gebrauch der Spendeformel den Befchliffen
jedes Gemeindekirchenrats freigäße und damit wieder die Tendenz
provozierte. Vielmehr ift der status quo zu wahren und in ber
Agende in einer unter den Text zu fegenden Anmerkung die Änderung
Die Intherifche Kirche ber Gegenwart ac. 897
der in der Gemeinde üblichen Spendeformel an die Genehmigung
der firchlichen Oberbehörde zu binden. Nach diefer Richtung hatte die
Kommiffion ber ſächſiſchen Provinzialfynode 1881, in der die aus⸗
geprägteften Vertreter fowohl der konfeſſionellen, mie ber poſitiv
unierten Bartei, wie der evangeliichen Vereinigung faßen, einmiütig
fih dahin geeinigt, inbetreff diefes Punktes der Synode vorzufchlagen:
Den Intentionen des Dberfirchenrats gemäß follen die in der Ver⸗
ordnung vom 7, Juli 1857 als gleichberechtigt mit der agendari⸗
hen Spenbeformel bezeichneten Spendeformeln dem Text ber Agende
eingefügt werden, mit dem in ber Anmerkung aufzunehmenden Hin»
weis auf die für den Gebrauch derfelben beftehenden kirchenregiment-
lichen Beſtimmungen.“ Aus ber Synode tft keinerlei Widerſpruch
gegen dieſen Beſchluß erhoben worden.
Wir haben uns länger bei dieſem Bunte aufgehalten, weil Wanges
mann ihn für den bremmendften hält. Wir wäßten Feine Löſung,
welche alle berechtigte Wunſche berückſichtigte ohne hiftoriſch Gewor⸗
denes zu zerftären und unberechtigte Willkürlichkeiten zu begünftigen.
Denn’ es Wangemann allerdings als eine Gewiſſenspflicht für fich
bezeichnet, daß er niemals die agendariſche Spendeformel in Gebrauch
nimmt, fo bleibt für ihn, wie für die, welche gleicher Anficht find,
nichts Abrig, als nur in folchen Gemeinden ein geiftfiches Amt an⸗
zunehmen, in denen die fogenannte Intherifche Formel in berechtigtem
Gebrauch ift.
Wir brechen bier ab, fo zahlreich die Punkte auch find, die der
Erörterung fich nahelegen. Da ausgeſprochenermaßen das ganze
Buch nur einzelne Werkftücke und Stoffe enthält, tft fewohl bie
einheitliche Benrteilung des Werkes als bie Bollftändigkeit der Bes
ſprechung aller einzelnen Punkte bei befehränktem Raum unmöglich.
Trotz all der genannten und anderer Mängel (3. B. in ben Dar⸗
legungen der Abendmahlslehre Calvins u. a. m.) ift das Wange⸗
mannfche Werk hoch eine fehr verdiente und bedeutfame Erfcheinung,
gerade für unfere Zeit um fo bebeutfamer, als bie weiteften Kreiſe
der Vereinslutheraner innerhalb ber preußifchen Landeskirche den
Grundfägen Wangemanns zugeftimmt haben. Für den Beſtand der
preußifchen Landeskirche Handelt es fich gar nicht um die Konfenjus«
union, ſondern wejentlich nur um die Doppelfrage: zuerft, ob der
898 Wangemann: Die Iutheriiche Kirche der Gegeitwart 2c.
Beſtand des lutheriſchen Bekenntniſſes und der Tutherifchen Kirche
völlig gefichert ift bei Gewährung der Abendmahlsgemeinſchaft an Re⸗
formierte, und über diefen Bunkt herrſcht keinerlei Differenz. Dazu
tritt die andere Frage, ob und wieweit ber Beftand bes Iutherifchen
Belenntniffes und der Intherifhen Kirche eine felbftändige von den
reformierten und unierten Gemeinden gefonberte verfaffungsmäßige
Ausgeftaltung der Iutherifchen Kirche bedarf. Diefes tft die eigentliche
brennende Frage. Wir glauben, daß mit den bisherigen Beftrebungen
der Iutherifchen Vereine in Preußen die Auflöfung der einheitlichen
Verfaſſung der Landeskirche notwendig gegeben würbe, was mit ber
Auflöfung der Landeskirche felbft identisch ift. Wenn aber durch Wange
manns Buch die Überzeugung ſich in weiteren Kreifen Bahn bricht,
daß alle diefe Fragen nicht Lebens⸗ und Gewifjensfragen jind, ſondern
die Fragen des Kirchenregiments- und der Kirchenordnung, wie der
Agende unter die ceremoniae ritus und traditiones der Auguftana
zu rechnen find (Nr. 1, S. 20), wobei der Grunbfag der edzadia
maßgebend ift, dann hat der Streit innerhalb der preußischen Landes⸗
kirche feine prinzipielle Schärfe verloren. Der Kampf betreffs ber
Spynodalverfaffung, welcher hauptſächlich die jet beftehenden Parteien
ber Landesfirche von einander fhied und dem Streit die Schär
gab, kommt zur Zeit nicht mehr in Trage. Trügen nicht alı
Zeichen, fo bereiten fich innerhalb des Parteilebeng neue Änderungen
vor. Auch Wangemauns Bud) wird dazu beitragen. Durch dasſelbe
wird zunächft innerhalb der Konfeffionellen der prengifchen Landes
fire eine weitere Auseinanderfegung reſp. Scheidung bewirkt werben.
Jedenfalls aber find auch ganz neue Bahnen dadurch bereitet zur
weiteren Berftändigung mit allen denen, welche innerhalb der bie
Union, d. 5. die eine evangelifche Kirche vertretenden Parteien ftehen,
welchen e8 mit der Wahrung des Belenntnisftandes neben ber Union
nah 8 1 der Generalſynodalordnung ernft ift.
Wittenberg. D. Rieiſchel.
Miscellen.
Theol. Stub. Jahrg. 1886.
26
1.
Programm
der
Haager Geſellſchaft zur Verteidigung der chriſtlichen Religion
für das Yahr 1884.
Die Direltoren haben in ihrer Herbftverfammlung, am 8. Sep-
tember 1884 und folgenden Tagen, ihr Urteil gefällt über vier
Abhandlungen, welche vor dem 15. Dezember 1883 zur Löfung
der im Jahre 1882 ausgefchriebenen Preisaufgaben eingegangen
waren.
Drei derfelben bezogen ſich auf die Aufgabe:
Die Geſellſchaft wünſcht zu erhalten: Eine gemein»
faßliche Schrift für Gebildete, worin mit Rück—
fiht auf die Bedürfnifje der gegenwärtigen
Zeit, die wichtigſten Fragen das fittlihe Leben
betreffend ins Licht geftellt und beantwortet
werden.
Die erfie, ein beutfher Aufſatz, nur etlihe Seiten groß
(Motto: 10h. 2, 17) verdiente feine ernfthafte Kritik und wurde
gleich beifeite gelegt.
Die zweite Abhandlung war gleichfalls eine deutſche und ges
zeichnet mit den Worten: Die Moral ift bie eigentliche
Wiffenfhaft u. f. w. (Rode), Es war in diefer Schrift viel
26*
402 Programm
Gutes, was Beachtung verdiente. Sie zeugte nicht nur von fitt
fihem Ernfte und warmer Sympathie mit bem Evangelium,
fondern auch von Belefenheit und Studium. Jedoch entfprad fie
gar nicht den Forderungen, welde in ber Preisaufgabe geftelit
werden oder daraus hervorgehen. Der Aufgabe zufolge hätte der
Verfaſſer fowohl in der Wahl der von ihm zu befprechenden
Gegenftände als auch in ber Art und Weife der Bearbeitung,
fowie inbezug auf die Form feiner Schrift, fich von den Bedürf⸗
niffen und der Empfängfichleit der gebildeten Leer unferer Tage
müſſen leiten laffen. Es zeigte fich nicht, daß er fich deſſen be
wußt worden wäre, oder daß er fortwährend des Zweckes und ber
Beftimmung feiner Arbeit eingedent gewefen wäre. Es fehlt
feinem Stile an jeder Aufgewedtheit und Lebhaftigfeit, und der
jelbe war hie und da ungelenkig. Die VBeweisführung war, mit
einem Worte, ſchulmäßig. Der Berfaffer ging nicht von ben
Keen und Vorftellungen aus, von denen man vorausſetzen barf,
daß die Laien der heutigen Zeit in ihnen aufwachjen und leben,
jondern von den Fragen, welche und wie fie in den Schulen der
Philofophie geftellt und beantwortet werden. Demzufolge behar-
deite er manche Einzelheit, welche außer dem Gefichtskreife des
Laien liegt und ihm Fein Intereſſe einflößen kann. Aber auch bei
der Wahl der „Tragen das fittliche Xeben betreffend“, an deren
Löſung der Verfaffer feine Kräfte verfuchen follte, waren die Br
dürfniffe des Laien außeracht gelaſſen. Obgleich vollftändig zus
Heftanden werden muß, daß auch für ihn alles von den Brin-
zipten abhängt, fo geht hieraus doch nicht hervor, daß bie prak⸗
tifhen Fragen vernadhläffigt werden dürfen, fondern im Gegen
teil, daß bei der Behandlung diefer Teteren die Bedeutung und
der Wert jener Prinzipien zutage treten müfjen. Dies war vom
Verfaſſer nicht im Auge behalten, und demzufolge wurde auch dur
feine Abhandlung den Anforderungen der Aufgabe kein Genüge
geleiftet. Es kam noch Hinzu, daß die Direktoren, gegen mehr als
eine Unterabteilung feiner Bemweisführung von rein wiſſenſchaftlichem
Geſichtspunkte aus wichtige Bedenken Hatten. Nicht hierdurch jedod),
fondern durch den Charakter der Abhandlung im ganzen murbe ihr
abweifendes Endurteil beftimmt.
der Haager Geſellſchaft 3. Berteid. d. chriſtl. Religion. 408
Auch der dritten Abhandlung, einer franzöftfchen, gezeichnet mit
dem Motto: Si je n’ai pas l’amour, je ne suis rien
(Saint-Paul), konnten die Direftoren zu ihrem Bedauern den Preis
nicht zuerfennen. Zwar neigten einzelne von ihnen, trog vieler
und wichtiger Bedenken, zur konditionellen Krönung Hinz ihre Mei
nung fonnte jedoch nach ernftliher Erwägung keine Mehrheit er-
halten. Einftimmig gaben fie alle dem DVerfaffer das Lob, daß
er, ganz dem Wunfche der Geſellſchaft gemäß, in fchöner, hie und
da hinreißender Form feine Ideen vorgetragen hatte und nament⸗
(ih in ben erften zwei Teilen feiner Schrift („La vie morale et
le monde matöriel“ und „La vie morale considöree en elle-
möme“) vortreffliche Beiträge zur richtigen Löfung der in ber
Schwebe befindlichen fittlichen Probleme geliefert hatte. Gleichwohl
trugen die meiften fchon gegen den Anhalt diefer Teile Bedenken:
die Anficht der Gegner ſchien ihnen hie und da nicht richtig auf»
gefaßt und mitgeteilt zu fein und der Widerlegung derfelben mußten
fie oft die Beweiskraft abſprechen. Nach Lefung und Erwägung
des dritten Zeiles (La vie morale et l1’Evangile“) aber erlangten
die nämlichen Direktoren die Überzeugung, daß der Verfaſſer nicht
geliefert Hatte, vielleiht von feinem - Standpunkte aus ſchwerlich
fiefern konnte, was mit der Preisaufgabe beabfichtigt wurde. War
diefer Teil einerfeits, nad) der Überzeugung des Verfaſſers ſelbſt,
unentbehrlih in der Abhandlung, fo war er anderfeits nur für
diejenigen brauchbar, welche mit ihm auf dem nämlichen ethijch-
orthodoren Standpunkt ftehen und eine mehr oder weniger modi-
fizierte Auffoffung der kirchlichen Erlöfungsfehre mit dem Evan-
gelium identifizieren. Um dieſer Gefinnungsgenoffen des Verfaſſers
willen durften nach dem Urteil der oben bezeichneten “Direktoren,
die zahlreichen Andersgläubigen unter den Gebildeten um fo weniger
vernachläffigt werben, als nicht jene, fondern gerade diefe einer
gemeinfaglichen und zugleich wiffenfchaftlichen Behandlung der fitt-
lichen Fragen, welche gegenwärtig an der Tagesordnung find, ber
dürfen. Auch im Intereſſe feiner Geiftesperwandten felbft hätte
außerdem der Berfaffer in bdiefem Zeil feiner Abhandlung nicht
den unverbrüchlihen Zuſammenhang zwischen der Moral und
einer beitimmten Dogmatik darthun, fondern vielmehr das Kriftlich«
40d Programm
fittliche Leben in feiner Eigentümlichkeit und in ber Verſchieder⸗
heit feiner Formen befchreiben und es fp auch denjenigen, welde
nicht feiner Anficht waren, anempfehfen müflen. Die Direktoren
würden fich gefreut Haben, wenn ber tafentnolle Verfaſſer fein
Aufgabe auf biefe Weile aufgefaßt Hütte, aber da fick zeigt,
daß dies nicht der Ball war, mußten fie ihm die Krönung ver
weigern.
Die vierte Abhandlung, von einem nieberländifchen Verfaſſe,
mit dem Sinnfpruch: "Errornodoundevreg Erni vo Heuehip x
(Ephef. 2, 20) war hervorgerufen durch die Aufgabe:
Die Gejellfchaft verlangt: Eine tritifch-hiſtoriſth
Unterfuhung über den Urfprung des Apoſtolate
und die Bedeutung, weldhe demfelben nad de
Schriften des Neuen Teftamentes und ber mei
teren hriftliden Ritteratur der erften zwei Jahr
hunderte, in der hriftliden Kirche zuerkan
wurde. |
Sie konnte jedoch nicht für eine Antwort auf diefe Fragr
halten werden. Der Verfaſſer handelte nicht oder wenigſtens ut
geffiffentlich über den Apoſtolat als ZYuftitmt oder Würde, M
deſſen Urſprung und über die in den erften zwei Jahrhundert
demſelben zuerfannte Autorität, fondern über die Apöftel, I
Bildung, ihre Wirkſamkeit und ihren Einfluß. Schon diefes Dir
berftändnis inbezug auf die Mbficht der Trage würde die Krönum
unmöglic gemacht haben. Aber die Abhandlung mar außerden
in mehr als einer Hinficht äußerſt mangelhaft. Vom Geſficht—⸗
punkte der Form aus ließ fie viel zu wunſchen ührig: die Spradt
war nicht fauber, der Stil bisweilen platt, das Aneinanderreihen
der Gedanken oft unlogifh. Noch unglnftiger lautete das Urt
über den Inhalt. Der Verfaſſer erklärte, der hiſtoriſch⸗kritiſchen
Methode zu Huldigen, aber zeigte deutlich) und Mar, daß er dieſelbt
nicht verftehe. Sein Urteil über das Alter und den Charalin
der Quellen ftimmte mit dem Gehrauch, den er danon malt,
nicht überein. Bei der Scheidung hiſtoriſcher und unhiſtoriſcher
Beftandteile in diefen Quellen verfuhr er ganz willkürlich, um
der Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 5
geriet er micht felten in die Irrtümer eines veralteten Rätionalismmus.
Troß des Fleißes, womit er gearbeitet Hatte und feiner guten
Abfichten mußte ihm daher jeder Anfpruch auf den Ehrenpreis
verfagt werden.
Nachdem diefes Urteil gefaßt war, befchloffen die Direktoren,
die beiden Aufgaben des Jahres 1882 aufs neue auszufchreiben.
Sie Tauten folgendermaßen:
J.
II.
Die Geſellſchaft verlangt: Eine kritiſch-hiſtoriſche
Unterſuchung über den Urſprung des Apoſtola—
tes und die Bedeutung, welche demſelben nach
den Schriften des Neuen Teſtamentes und der
weiteren chriſtlichen Litteratur der erſten zwei
Jahrhunderte in der Hriſtlichen Kirche zuer—
kannt wurde.
Die Geſellſchaft wünſcht zu erhalten: Eine gemeinfaß-
tihe Schrift für Gebildete, worin, mit Rückſicht
auf die Bedürfniffe der gegenwärtigen Zeit, bie
wihtigfien Fragen, das fittlihe Leben betref-
fend, ins Licht geftellt und beantwortet werden,
Sie fügen jetzt diefe neue Preisaufgabe hinzu:
III.
Die Gefellfchaft verlangt: Eine Abhandlung, worin
der Gebrauch des Wortes Äyıos und feiner Des
rivate in den Schriften des Neuen Teftamentes
genetifch erklärt und zur Charakteriftit des älte-
ten Chriftentums verwandt wird,
Ber dem 15. Dezember 1885 wird den Antworten entgegen
gefehen. Was fpäter eingeht, wird der Beurteilung nicht unter-
zogen und beifelte gelegt.
Ber dem 15. Dezember 1884 erwarten die Direlturen die Ant-
worten auf die im Jahre 1883 ansgefchriebenen Preisftagen über
die Lehre des Gebetes nah dem Neuen Teſtamente
und über die Anwendung hiſtoriſcher Kritil auf die
Bibel,
Tür die genligende Beantwortung jeder Preisaufgabe wird bie
Summe von vierhundert Gulden ausgejet, welde die Vers
8 Brogramm
fonen, mit welchen Coornhert perjönlich oder brieflich verkehrt Hat.
Die wichtigen Fragen nad) dem Verhältnis des Staates zu den
Kirchengenoſſenſchaften überhaupt und zur Reformierten Kirche be-
fonders, der Streit des Klerikalismus und des Dogmatismus,
das Entftehen der erften Keime des Widerſtandes gegen den Cal:
vinismus, welche In kurzem zum Arminianismus führen follten,
und der Einfluß, welchen Coornherts Schriften jowohl auf bie
Staatsmänner als auf Arminius felbft ausübten, alles diefes wird
foum berührt. Umfonft fucht man Belege dafür, dag der Autor
bekannt ift mit den Selten jener Tage, mit Koryphüen der anti-
bogmatifchen Richtung, wie Corranus ımd Dverhaagh, Spiegel,
Hooft, Roemer, Viffcher, Albada, Hans de Nies n. ſ. w. Unbe⸗
fannte, hie und da gewiß noch verborgene Dokumente zu entdeden
und zu verwenden, — daran hat er nicht gedacht; mit einem
Worte — der Stempel wiſſenſchaftlicher Unterſuchung Aft dieſer
Arbeit nicht aufgedrückt.
Die Geſellſchaft, eine gründliche Bearbeitung diefes Gegen-
ftandes ſehr jchägend, wiederholt nicht blog die Aufgabe, fondern
dehnt den Termin zur Einfendung der Abhandlung auch noch auf
zwei Jahre aus und hofft jo vor dem 1. Yanuar 1887 eir
folche zu befommen über:
„Nachdem eine ausführliche Bibliographie ber
Schriften Eoornherts, mit Andentung der Büther-
fummlungen, wo biefe vorhanden find, neulich
in der „Bibliotheca Belgica‘ gegeben tft, ver-
langt die Gefellfhaft als Beitrag jur Ge
ſchichte der hriftligen Kirche nnd bes hriftlichen
Lebens in den Niederlanden ein Lebens» und
Charafterbild Dirk Bollertszoon Coornherts.“
Als neue Preisfrage, vor dem 1. Januar de jahres 1886
zu beantworten, wird angeboten:
„Eine Geſchichte der Kriftlihen Gemeinden in
Klein-Afien bis zum Ende des zweiten Jahr—
hunderte.“
der Teylerſchen theologischen Gefellichaft zc. 409
Der Preis befteht in einer goldenen Medaille von 400 Gulden
an innerem Wert.
Man kann fich bei der Beantwortung des Holländifchen, La»
teinifchen, Frunzöſiſchen, Engliſchen oder Deutfchen (nur mit Latei⸗
nisher Schrift) bedienen. Auch müffen die Antworten mit einer
andern Hand als der des Berfafjers gefchrieben, vollftändig einge⸗
ſandt werden, da feine unvolljtändigen zur Preisbewerbung zugelafjen
werden. Alle eingefhicten Antworten fallen der Geſellſchaft als
Eigentum ankeim, welche die gefrönte, mit oder ohne Überfegung,
in ihre Werke aufnimmt, ſodaß die Verfaffer ſie nicht ohne Er»
laubnis der Stiftung herausgeben dürfen. Auch behält die Gejell-
haft fih vor, von den nicht gefrönten Antworten nach Gutfinden
Gebrauch zu machen, mit Verſchweigung oder Meldung des Namene
der Verfaſſer, doch im legten Falle nicht ohne ihre Bewilligung.
Auch können die Einjender nicht anders Abjchriften ihrer Antworten
befommen al8 auf ihre Koften. Die Antworten müfjen nebjt einem
verfiegelten Namenszettel, mit einem Denkſpruch verjehen, einges
jandt werden an die Adreſſe: Fundatiehuis van wijlen den Heer
P. TEYLER VAN DER HULST, te Haarlem.
Drud von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.
Im Verlage von Wiegandt & Grieben in Berlin iſt ſoeben erſchienen
und durch jede Buchhandlung zu beziehen:
Srand, Paſtor. Die hriftlide Wahrheit für das Ver:
ftändnis der Gegenwart. Mi. 4.
Steinmeyer, Prof. D. Die Wunderthaten des Herrn
zum Erweife des Glaubens erwogen. Mi. 2. 25.
Wiele, D. Über die Mißbräuche der Sprade. 2. verm.
Auflage. Mi. 1. 20. [117]
Verlag von Bleyl & Kaemmerer in Dresden.
Soeben erschien:
Johann Friedrich Herbarts
philosophische
[114] Lehre von der Religion
quellenmässig dargestellt.
Ein Beitrag zur Beantwortung der religiösen Frage der Gegenwart
von Dr. Albert Schoel,
Professor an der Kantonsschule in St. Gallen.
Preis 5 Mark.
Näheres besagt der diesem Hefte beiliegende Prospekt der Verlagshandlung.
Antiquarische Buchhandlung (Spezialität: Theologie)
[122] von Bernh. Liebisch,
Leipzig, Kurprinzstrasse 4.
Soeben erschienen und stehen gratis und franco- zu Diensten folgenie
theologische Kataloge:
No.1: Encyklopädie. Gesammelte Werke u. Zeitschriften. Bibelausgaben.
Philologia sacra. Exegese und Kritik. Christologie. 1600 Nrn.
No. 2: Praktische Theologie: Pastoraltheologie, Predigten, Erbauungs-
bücher, Katechetik, Liturgie, Missionswesen. Hymnologie. Geschichte
und Litteratur der" religiösen Poesie. Kirchenrecht. 1300 Nrn.
In Vorbereitung sind:
No.3: Dogmatik. Patristik. Religionsphilosophie. Hebraica und Judaica;
Religionswesen und heilige Schriften der übrigen nicht - christlichen
Völker. ca. 1400 Nrn.
No. 4: Kirchen- und Dogmengeschichte. ca. 1600 Nrn.
ganzer Bibliotheken und einzelner Werke.
Hierzu: Eine Beilage von Joh. Ambr. Barth in Leipzig.
Eine Beilage von Wilhelm Her (Beſſerſche Boch) in Berlin.
Eine Beilage von Bleyl & Kaemmerer in Dresden.
Eine Beilage von Julius Niedner in Wiesbaden.
Eine Beilage von G. Grote'ſche Verlagsbuchhandlung in Berlin.
Eine Beilage von * MIA Marsa a des Evangel. Vereins
an
Eine Beilage von Ir Wilh. Grunow in Leipzig.
Bur gefälligen Beachtung!
Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen
find an Brofeffor D. Riehm oder Konfiitorialrath D. Köftlin in
Halle a/S. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Titel
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re⸗
daftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Pakete
zu frankieren. innerhalb des Poſtbezirks des Deutfchen Reiches, fowie
aus Oſterreich Ungarn, werden Manuffripte, falls fie nicht allzu
umfangreih find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nidt
überfteigen, am beften als Doppelbrief verfenbet.
Friedrich Andreas Perthes.
492 Programm
Butes, was Beachtung verdiente. Sie zeugte nicht nur von fitt-
fihem Ernfte und warmer Sympathie mit dem Evangelium,
fondern auch von Belefenheit und Studium. Jedoch entiprach fie
gar nicht den Forderungen, welche in der Preisaufgabe geftelft
werden ober daraus hervorgehen. Der Aufgabe zufolge hätte der
DVerfaffer jowohl in der Wahl der von ihm zu bejprechenden
Gegenftände als auch in der Art und Weife der Bearbeitung,
fowie inbezug auf die Form feiner Schrift, fih von ben Bedürf⸗
niffen und der Empfänglichkeit der gebildeten Lejer unferer Tage
müffen leiten laſſen. Es zeigte fich nicht, daß er ſich deſſen be=
wußt worden wäre, oder daß er fortwährend des Zwedes und der
Beftimmung feiner Arbeit eingedent geweſen wäre. Es fehlte
feinem Stile an jeder Aufgewecktheit und Lebhaftigkeit, und ber»
felbe war bie und da ungelenlig. Die Beweisführung war, mit
einem Worte, ſchulmäßig. Der Verfaſſer ging nit von den
Ideen und Vorftellungen aus, von denen man borausfegen darf,
daß die Laien der heutigen Zeit in ihnen aufwachſen und eben,
Sondern von den ragen, weldhe und wie fie in den Schulen der
Philoſophie geftellt und beantwortet werden. Demzufolge behan⸗
delte er manche Einzelbeit, welche außer dem Gefichtöfreife des
Laien Tiegt und ihm fein Intereſſe einflößen kann. Aber auch bei
der Wahl der „ragen das fittliche Leben betreffend“, an deren
Löſung der Verfaſſer feine Kräfte verſuchen follte, waren die Be:
dürfniffe des Paien außeracht gelaffen. Obgleich voliftändig zu«
geftanden werden muß, daß auch für ihn alles von den Prin—
zipien abhängt, jo geht hieraus doch nicht hervor, daß die prak⸗
tifhen Fragen vernadhläffigt werden dürfen, jondern im Gegen
teil, daß bei der Behandlung dieſer Tegteren die Bedeutung und
der Wert jener Prinzipien zutage treten müffen. Dies war vom
Verfaffer nicht im Auge behalten, und demzufolge wurde auch durch
feine Abhandlung den Anforderungen der Aufgabe fein Genüge
geleiftet. Es fam noch Hinzu, daß die Direktoren, gegen mehr als
eine Unterabteilung feiner Beweisführung von rein wifjenfchaftlichem
Geſichtspunkte aus wichtige Bedenken Hatten. Nicht hierdurch jedoch,
fondern durch den Charakter der Abhandlung im ganzen wurde ihr
abweifendes Endurteil beftimmt.
der Haager Gefellichaft 3. Berteid. d. chriſtl. Religion. 408
Auch der dritten Abhandlung, einer franzöftfchen, gezeichnet mit
dem Motto: Si je n’ai pas l’amour, je ne suis rien
(Saint-Paul), konnten die Direltoren zu ihrem Bedauern den Preis
nicht zuerfennen. Zwar neigten einzelne von ihnen, troß vieler
und wichtiger Bedenken, zur konditionellen Krönung Hinz ihre Mei⸗
nung fonnte jebod nach ernftliher Erwägung feine Mehrheit er»
halten. Cinftimmig gaben fie alle dem VBerfaffer das Xob, daß
er, ganz dem Wunfche der Gefellichaft gemäß, in jchöner, hie und
da hinreißender Form feine Ideen vorgetragen hatte und nament⸗
ih in den erften zwei Zeilen feiner Schrift („La vie morale et
le monde mat£riel“ und „La vie morale considöree en elle-
möme‘) vortrefflihe Beiträge zur richtigen Löfung der in der
Scwebe befindlichen fittlichen Probleme geliefert hatte. Gleichwohl
trugen die meiften ſchon gegen den Inhalt diefer Teile Bedenken:
die Anficht der Gegner fchien ihnen hie und da nicht richtig auf-
gefaßt und mitgeteilt zu fein und der Widerlegung derfelden mußten
fie oft die Beweiskraft abjprechen. Nach Lefung und Ermägung
des dritten Teiles (La vie morale et l’Evangile‘) aber erlangten
die nämlichen Direktoren die Überzeugung, daß der Verfaffer nicht
geliefert Hatte, vielleiht von feinem - Standpunfte aus fchwerlich
liefern konnte, was mit der Preisaufgabe beabfidhtigt wurde. War
diefer Teil einerfeits, nach der Überzeugung des DVerfaffers felbft,
unentbehrlich in der Abhandlung, fo war er anderjeits nur für
diejenigen brauchbar, welche mit ihm auf dem nämlichen ethifch-
orthodoxen Standpunkt ftehen und eine mehr oder weniger modi-
fizierte Auffaffung der kirchlichen Erlöfungsiehre mit dem Evan⸗
gelium identifizieren. Um diefer Gefinnungsgenofjen des Verfaſſers
willen durften nach dem Urteil der oben bezeichneten ‘Direktoren,
die zahlreichen Andersgläubigen unter ben Gebildeten um fo weniger
vernachläffigt werden, al® nicht jene, fondern gerade diefe einer
gemeinfaßlichen und zugleich wiljenfchaftlichen Behandlung der fitt-
lihen ragen, welche gegenwärtig an der Tagesordnung find, bes
dürfen. Auch im Jutereſſe feiner Geiftesverwandten felbft Hätte
außerdem der Berfaffer in biefem Zeil feiner Abhandlung nicht
den unverbrüchlihden Zufammenhang zwifchen der Moral und
einer bejtimmten Dogmatik darthun, ſondern vielmehr das chriftliche
Add Programm
ſittliche Leben in feiner Eigentümlichkeit und in ber Verſchieden⸗
heit jeiner Formen bejchreiben und es ſo auch denjenigen, melde
nicht feiner Anficht waren, anempfehlen müſſen. Die Direktoren
würden firh gefreut Haben, wenn ber tafentvolle Verfaſſer feine
Aufgabe auf diefe Weiſe aufgefaßt hätte, aber ba ſich zeigte,
daß dies nicht der Fall war, mußten fie ifm bie Krönung ver-
weigern.
Die vierte Abhandlung, von einem nteberländifchen Verfaſſer,
mit dem Sinnſpruch: "Erroınodounderres Erri zo Ieuehip wre
(Epheſ. 2, 20) war hervorgerufen durch die Aufgabe:
Die Gefellfchaft verlangt: Eine kritiſch-hiſtoriſche
Unterfudhung über den Urfprung des Apoftolates
und die Bedeutung, welche demfelben nad den
Schriften des Neuen Teftamentes und der weis
teren hriftliden Litteratur ber erften zwei Jahr—
hunderte, in der dKriftliden Kirche zuerkannt
wurde.
Sie konnte jedoch night für eine Antwort auf diefe Frage ge
halten werden. Der Verfaſſer handelte nicht oder wenigftens nidt
gefliffentlich über den Apoſtolat als Zuftitut oder Würde, über
deſſen Urfprung und über die in den erften zwei Jahrhunderten
demfelben zuerfannte Autorität, fondern über die Wpnitel, ihre
Bildung, ihre Wirkſamkeit und ihren Einfluß. Schon diefes Mis⸗
berftändnis inbezug auf bie Abficht der Frage würde die Krönung
unmöglid) gemacht haben. Aber die Abhandlung war außerdem
in mehr als einer Hinficht äußerft mangefhaft. Vom Gefichts-
punkte der Form aus ließ fie viel zu wünſchen ührig: bie Sprade
war nicht fauber, der Stil bisweilen platt, das Aneinanderreihen
der Gedanken oft unlogiih. Noch ungünftiger lautete das Urteil
über den Inhalt. Der Verfaffer erklärte, der hiſtoriſch⸗kritiſchen
Methode zu buldigen, aber zeigte deutlich und ar, daß er dieſelbe
nicht verftehe. Sein Urteil über das Alter und ben Charakter
der Quellen ftimmte mit dem Gebraud), den er davon machte,
nicht überein. Bet der Scheidung hiftorifcher und unbiftorifcher
Beitandteile in dieſen Quellen verfuhr ex ganz willlürfih, und
der Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 5
geriet er nicht jelten in die Irrtümer emes veralteten Nationalismus.
Trotz ded Fleißes, womit er gearbeitet Hatte und feiner guten
Adfichten mußte ihm daher jeder Anfpruch auf den Ehrenpreis
verfagt werben.
Nachdem diefes Urteil gefaßt war, befchloffen die Direktoren,
die beiden Aufgaben des Jahres 1882 aufs neue auszufchreiben.
Sie Lauten folgendermaßen:
I. Die Geſellſchaft verlangt: Eine kritiſch⸗-hiſtoriſche
Unterfuhung über den Urfprung des Apoftola=
tes und die Bedeutung, welde demfelben nad
den Schriften des Neuen Teftamentes und der
weiteren Kriftlihen Litteratur der erften zwei
Jahrhunderte in der hriftliden Kirche zuer-
fannt wurde,
II. Die Geſellſchaft wünfcht zu erhalten: Eine gemeinfaßs
liche Schrift für Gebildete, worin, mit Rückſicht
auf bie Bedürfniffe der gegenwärtigen Zeit, bie
wichtigftien Fragen, das fittlihe Leben betref-
fend, ins Licht geftellt und beantwortet werden.
Sie fügen jetzt diefe neue Preisaufgabe hinzu:
IH. Die Gefellfhaft verlangt: Eine Abhandlung, worin
der Gebrauch bes Wortes Ayıos und feiner Des
rivate in den Schriften des Neuen Teftamentes
genetifch erklärt und zur Charakteriftit des älte-
fen Chriftentums verwandt wird,
Vor dem 15. Dezember 1885 wird ben Antworten entgegen»
gefehben. Was fpäter eingeht, wird ber Beurteilung nicht unter-
zogen und beifeite gelegt.
Ber dem 15. Dezember 1884 erwarten die Direktoren die Ant-
worten auf die im Jahre 1883 ansgefchriebenen Preisfragen über
die Lehre des Bebetes nad dem Neuen Teſtamente
und über die Anwendung hHiftorifher Kritik auf die
Bibel.
Für die genligende Beantwortung jeder Preisaufgabe wird bie
Summe von vierhundert Gulden ausgefeht, welche die Vers
28 Programm
fonen, mit welchen Coornhert perſönlich oder brieflich verkehrt hat.
Die wichtigen Fragen nad) dem Verhältnis des Staates zu ben
Kirchengenoſſenſchaften überhaupt umd zur Reformierten Kirche be-
fonders, der Streit des SKlerifalismus und des Dogmatismusg,
das Entftehen der erften Keime des Widerftandes gegen ben Cal⸗
vinismus, welche In kurzem zum Arminianismus führen follten,
und der Einfluß, welden Coornherts Scheiften jowohl auf die
Staatsmänner als auf Arminius felbft ausübten, alles dieſes wird
faum berührt. Umjonft fucht man Belege dafür, daß der Autor
bekannt ift mit den Selten jener Tage, mit Koryphüen der anti⸗
dogmatiſchen Richtung, wie Corranus und Overhaagh, Spiegel,
Hooft, Roemer, Viſſcher, Albada, Hans de Ries u. ſ. w. Unbe⸗
kannte, bie und da gewiß noch verborgene Dokumente zu entdecken
und zu verwenden, — daran hat er nicht gedacht; mit einem
Worte — der Stempel wiſſenſchaftlicher Unterfuchung iſt diefer
Arbeit nicht aufgedrückt.
Die Gefellfhaft, eine gründliche Bearbeitung dieſes Gegen⸗
ftandes fehr fchätend, wiederholt nicht bloß die Aufgabe, fondern
dehnt den Termin zur Einſendung der Abhandlung auch noch auf
zwei Jahre aus und hofft jo vor dem 1. Januar 1887 eine
ſolche zu befommen über:
„Nachdem eine ausführliche Bibliographie ber
Schriften Eoornherts, mit Andentting der Büther-
ſammlungen, wo dieſe vorhanden find, neulich
in der ‚Bibliotheca Belgica‘ gegeben tft, ver—
langt die Geſellſchaft als Beitrag Zur Ge—
ſchichte der chriſtlichen Kirche nnd bes hriftlihen
2ebens in den. Niederlanden ein Kebens- und
Charafterbild Dirk Bolkertszoon Eoornherts.“
ALS neue Preisfrage, vor dem 1. Januar des Jahres 1886
zu beantworten, wird angeboten:
„Eine Geſchichte ber Hriftlihen Gemeinden in
Klein-Afien bis zum Ende des zweiten Jahr—
Hunderte.“
der Teylerſchen theologischen Gejellichaft zc. 409
Der Preis befteht in einer goldenen Medaille von 400 Gulden
an innerem Wert.
Man kann fi bei der Beantwortung des Holländiſchen, La⸗
teinifchen, Franzöſiſchen, Englifchen oder Deutſchen (nur mit Latei⸗
niſcher Schrift) bedienen. Auch müflen die Antworten mit einer
andern Hand als der des Verfaſſers gejchrieben, vollftändig einge
jandt werden, ba feine unvolljtändigen zur Preisbewerbung zugelafjen
werden. Alle eingejchietten Antworten fallen der Geſellſchaft als
Eigentum ankeim, welche die gefrönte, mit oder ohne Überfegung,
in ihre Werke aufnimmt, fodag die Verfaffer fie nicht ohne Er⸗
laubnis der Stiftung herausgeben dürfen. Auch behält die Geſell⸗
ſchaft fih vor, von den nicht gefrönten Antworten nach Gutfinden
Gebraud zu machen, mit Verſchweigung oder Meldung des Namens
der Verfaffer, doh im letzten Falle nicht ohne ihre Bewilligung.
Auch können die Einfender nicht anders Abjchriften ihrer Antworten
befommen als auf ihre Koften. Die Antworten müfjen nebjt einem
verfiegelten Namengzettel, mit einem Denkſpruch verjehen, einges
fandt werden an die Adreſſe: Fundatiehuis van wijlen den Heer
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Im Berlage von Wiegandt & Grieben in BWerlin ift focben erichienen
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ftändnis der Gegenwart. ME. 4
Steinmeyer, Brof. D. Die ee des Herrn
zum Ermweife des Glaubens erwogen. Mi. 2. 25.
Wieſe, D. Über die Mißbräuche der Sprade. 2. verm.
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122] von Bernh. Liebisch,
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Philologia sacra. Exegese und Kritik. Christologie. 1600 Nrn.
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bücher, Katechetik, Liturgie, Missionswesen. Hymnologie. Geschichte
und Litteratur der religiösen Poesie. Kirchenrecht. 1300 Nrn.
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Religionswesen und heilige Schriften der übrigen nicht - christlichen
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Eine Beilage von Wilhelm Hertz (Beſſerſche Buch) in Berlin.
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Eine Beilage von der Schriften-Riederlage des Evangel. Vereins
Hurt a
Eine Beilage von Fr Wilh. — in Leipzig.
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Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendbungen
find an Profeffor D. Riehm oder Konfiitorialrath D. Köſtlin in
Halle a/S. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Titel
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren
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daftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Palete
zu franfieren. Innerhalb des Poftbezirts des Deutfchen Reiches, fowie
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Friedrich Andrens Perthes.
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8 Inhalt. S
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> Abhandlungen. n
» A
ß 1. Hering, Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation IT\ . . 195 v
m 2.0. Soden, Der erfte Theffaloniherbrief - - - > 0 2 0 0. 263 I
} Gedanten und Bemerkungen. R
= =
(; 1. Bertheau, In welchem Jahre wurde Bugenhagen geboren? . . 313 m
D 2. Röſch, Die Begegnung Abrahams mit Melhifebel . » - . .» . 321%
” ,
Rezenfionen. .
1. Warned, Proteftantifche Beleuchtung dev römischen Angriffe auf die s
— evangeliſche Heidenmiſſion, 1. Hälfte; rez. von Jacobi... 359 *
BD 2. Wangemann, Die lutheriſche Kirche der Gegenwart in ihrem Ber- 2
* hältnis zur Una Sancta; rez. von Rietſchee....4371 *
Miscellen. *
1. Programm der Haager Geſellſchaft zur Verteidigung der Be
Religion für das Jahr 18854 . . . . 401
2. Programm der —— Pe Sera Ai Sauren Mi Ä
das Jahr 1885 . . „407
-ENORETARETIENETIA ETF
Dead von mn. Audr. Verthes in Gotha.
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Cheologifche
Studien und Kritilen.
Fine Zeifſchrift
für
das gejamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. €. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit
nd in Verbindung mit |
D. 6. Sanur, D. W. Beyſchlag um D. 3. Wagenmann
| herausgegeben
von
D. 3. Köftlin un D. E. Riehm.
EIER — —
Jahrgang 1885, driffes Heft.
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Studien und Kritiken.
Fine Beitfhrift
für
das geſamte Gebiet der Theologie,
begründet von
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und in Verbindung mit
D. ©. Baur, D. W. Beyſchlag u D. 3. Wagenmann
herausgegeben
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a PR D. J. Köſtlin und D. E. Riehm.
OFFEN
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\ ‚„o
1885.
Achtundfünfzigſter Dahrgang.
Zweiter Band.
Gotha.
Friedrich Andreas Perthes.
1885,
Theologiſche
Studien und Kritiken.
cdine Zeitſchrift
für
das geſamte Gebiet der Theologie,
begründet von
D. C. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit
und in Verbindung mit
D. ©. Sanur, D. W. Beyſchlag um D. J. Wagenmann
herausgegeben
D. 3. Köſtlin D. E. Riehm.
— RE
Dahrgang 1885, driftes Heft. -Eopt. Lit )
—
Gotha.
Friedrich Andreas Perthes.
1885.
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Abhandlungen.
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1.
Dem Andenken von
D. 3. 9. Dorner.
Bon
Prof. D. Dorner in Wittenberg.
Bon der verehrten Redaktion diefer Zeitſchrift wiederholt auf:
gefordert, einen Nachruf für meinen feligen Vater D. J. A. Dorner
zu fchreiben, konnte ich mich den Schwierigkeiten kaum verfchließen,
welche gerade der Löoſung diefer Aufgabe dem Sohne des Ent»
ichlafenen entgegentreten müfjen. Denn wenn einerjeitd die Pietät
und die Liebe zu dem unvergeßlichen Bater den Wunſch erwedte,
ihm auch, jomeit e8 in meinen Kräften fteht, Worte der dankbaren
Erinnerung zu weihen, jo mußte ic) mir doc auf der andern
Seite jagen, daß es dem Sohne befonders fchwer fallen müffe, in
einer wifjenjchaftlichen Zeitfchrift die Bedeutung des großen Theo»
logen objektiv zu würdigen. So möge der Leſer denn die nad)
folgenden Seiten nachſichtig beurteilen, welche es ſich zur Auf»
gabe jegen, das wiljenfchaftliche Bild des Entjchlafenen in kurzen
Zügen zufamenzufaffen und die Grundlinien feiner weitverzweigten
praftifchen XZhätigleit im Zuſammenhang mit feinen wiſſenſchaft⸗
lichen Überzeugungen zu verftehen. Ebenfo aber wird e8 wohl jeder
mann als bereihtigt anjehen, wenn fich Verfaſſer auf den refe-
rierenden Ton beſchränkt und ſich einer felbftändigen Beurteilung
nah Kräften enthält,
418 Dorner
Das ift jedenfalls auch für den oberflächlichen Betrachter deut⸗
ih, daß Dorner in keiner Weile richtig gewürdigt wird, auch
nicht nach der wiffenfchaftlihen Seite, wenn man ihn nicht zugleich
in feiner raftlofen praftifchen Arbeit betrachtet. Denn es war feine
Grundüberzeugung, daß die Wilfenfchaft, vor allem die Theologie,
auch dem Leben nahe ftehen müſſe, fo wenig er anderfeits eine
voreilige Einmifchung praltifcher Intereſſen in das wifjenichaftliche
Studium und in die ruhige Denkarbeit billigen konnte. Diefe
Richtung auf die Verbindung von Wiffen und Handeln Hatte er
mit feinem großen Lehrer, Schleiermader, gemein, und diefe Eigen-
tümlichleit feines Wefens verdient um fo mehr hervorgehoben zu
werden !), als gerade Dorner 'als einer der Hauptvertreter der
fpefulativen Theologie ſich mit Problemen zu beſchäftigen liebte,
welche fcheinbar von der Praxis weit ablagen. Er ift fich bes
Zufammenhanges derfelben mit dem religiöjen Intereſſe und mit
der praktifchen Frömmigkeit dennoch ftets bewußt geblieben, wie
feine Arbeit über die Unveränderlichkeit Gottes in ihrem Schluß⸗
teile gerade die praftifche Fruchtbarkeit feiner mit großer Gelehr-
ſamkeit hiftoriich und fpefulativ begründeten Anficht nachweifen ſoll.
Und wenn er in feiner Dogmatik mit fühner Spekulation in die
Seheimniffe der Zrinitätslehre und der Chriftologie einzubringen
juchte, fo wird man, man mag feine Refultate fonft beurteilen wie
man will, nicht in Abrede ftellen dürfen, daß es ihm bei erfterer
zugleich darum zu thun war, das Weſen des Sittlichen in feiner
Tiefe und Lebendigkeit zu erforfchen, und daß, fo fehr er auch einen
Standpunft, der bloß die ökonomische Trinität gelten Laffen will,
als religiös berechtigt anerlannte, dennoch zugleich für das fromme
1) Vgl. „Zur Erinnerung an 3. X. Dorner”, Tuttlingen 1884: „Er, ber
vorzugsiweife der Mann der theologiihen Wiffenichaft war, hat mit feiner
wiederholten Einkehr im Hirten- und Lehramt uns auch daran erinnert, daß
es unſere Pflicht if, Feine wiſſenſchaftliche Schriftkenntnis unvermwertet zu Laffen
für unjern Dienft an der Gemeinde Ehrifti, S. 20. 24. Hier (in Neuhaufen)
haft du je und je in gleich jchlichter Weife felbft das Wort Gottes zır. diefen
ländlichen Chriftenleuten geredet, und dein letes war, vor wenigen Jahren der
Jugend in der Chriftenlehre das geiftliche Brot zu brechen, die einfache Milch
des Evangeliums zu reichen.”
Dem Andenfen von D. 3. A. Dorner. 419
Gemüt einen Ertrag aus feiner Spekulation erhoffte. So war
er weit von einer Theologie entfernt, welche fih in unfruchtbare,
rein theoretiihe Erörterungen, in einen formaliftifhen Intellektua⸗
lismus verliert. „Auch wir”, fagt er in einem Brief vom Juni
1878, „hätten Schuld an der Erkrankung unfres Volkslebens, wenn
wir forglos und in Verſchwendung von Zeit und Kraft die Wiffen-
ſchaft nicht fo betrieben, daß aus den Gedanken der Wahrheit zün-
dende, begeifternde Funken in die Gemüter fielen oder fallen, wenn
wir vielmehr einer Art von vornehm fcheinendem wiſſenſchaftlichen
Egoismus verftelen, der nicht dienen, nügen, fi dem gemeinen
Beiten opfern, fondern Lieber nur an ſich, an das eigene Behagen
und geiftige Genießen denken will.“
Wie aber Dorner Wiffenfchaft und Praxis vereint wiſſen
wollte, fo war feine wiljenfchaftliche Arbeit nicht nur eine viel-
feitige, fondern fie war aus einem Guſſe. Er hat nicht bloß auf
alle Gebiete der Theologie feine Thätigkeit ausgedehnt, fondern
e8 war ihm auch zu thun um die richtige Stellung der Theologie
zu den übrigen Wiffenfchaften. Diefen univerfellen Geiſt fpricht
ganz bejonders die akademische Rede aus, welche er am 15. Ok⸗
tober 1864 als Rektor der Berliner Univerfität gehalten Hat.
Hier führt er aus, wie die Gefchichte der Univerfitäten in unferem
Jahrhundert die Selbftändigkeit der Fakultäten gegen einander ge-
zeitigt habe. „Die Vermifchung der Gebiete, die Benormundung
der einen durch die anderen ift aufgehoben und zwar vornehmlich
durch die Fortfchritte, welche durch die Teilung der Arbeit erzielt
find. Jedem diefer Gebiete ift nicht bloß die Freiheit der Rede
und Lehre in Schrift und Wort vergönnt, alle haben wenigftene
einen Anfang auch der inneren Freiheit gemacht durch bewußtes
Ergreifen ihres eigentümlihen Prinzips, worin das Geheimnis
ihrer Kraft Liegt. Aber eben damit“, führt er fort, „find auch der
Univerfität neue Aufgaben erwachſen. Es kommt darauf an, zu
1) Prof. Fifher von Newhaven fchreibt in dem „Independent“ vom
24. Juli: „It was evident, that while his mind was earnestly engaged
on the deep problems of theology, his heart was near to God.“ Bgl. aud)
J. A. Dorner von $ Innp. ©. 2.
420 Dorner
verhüten, daß die einen Willenfchaften die anderen feindlich, oder
was noch ſchlimmer ift, imdifferentiftiich betrachteten“, damit wicht
die Trennung dazu führe, daß die Gedankenwelt ein und derfelben
Nation in fich gefpalten werde, was auch die innere Einheit und
Kraft der Nation fehädigte; würden Spezialfchulen aus den Uni-
verfitäten, fo würden diefe „früher oder fpäter einem banaufifchen
Pralkticismus entgegeneilen, weil fie fich abfchließen von dem echt
Menſchlichen, das von ihrer Wiſſenſchaft nicht umfpannt tft, von
ber Gefamtentwidelung der Vernuuft in unferem Geſchlecht und
dem Lebensgeifte be8 Ganzen”. Die Hegemonie einer Wiſſenſchaft
lehnt er ab; aber da8 fordert er, daß „den Fächern, welche die
höhere allgemein menfchliche Bildung vertreten, Philologie, Ge⸗
ſchichte, Mathematik, Philofophie die Geltung für bie akademiſche
Jugend aller Fakultäten in feiner Weiſe verfümmert, fondern ge
mehrt werde*. Er fordert ferner von jeder Wiſſenſchaft, „daß fie
auch für die andere etwas fein und leiften muß. Denn fchon in
den fchöpferifchen Gründen des Alls tft ein geheimer realer und
vernünftiger Zufammenhang aller Gebiete des Dafeins angelegt,
und das fittliche Werk der Meenfchheit ift es, diefen zu exfennen
und zu lebenspoller Wirklichkeit zu bringen: Ein Gott, eine Welt
und Menfchheit, fo geartet, daß die Grenzen jedes Gebiets richtig
und feharf erfaßt, nicht abfchließen, fondern Brücken und Über:
gänge zu den anderen bilden. Nicht das ift die fittliche Forde⸗
rung, daß wir uns vermefjen, auch über andere Gebiete als das
unfrige gleichjam gejetgeberifch, entjcheidende Urteile abgeben zu
wollen. Aber was uns zulommt, ift: mit Kraft und Tüchtigkeit
im eigenen Fach, die das erjte fein muß, den offenen freien Sinn
für alles Menſchliche außer uns, ein DVerftändnis für alle Mächte
des Volkslebens zu verbinden“. Und auch in diefer Rede weilt er
zum Schluß auf den fittlihen Einfluß der Wiffenfchaft Hin. „Die
Philologie wird ihre Haffiihen Schäge als Gemeingut der Kultur
unferes Volkslebens einverleiben und die Gefchichte die ewigen fitt-
lichen Gefege des Steigens und Fallens der Völker und Weiche
enthüllen und dem heranwachjenden Gefchlecht Vorbilder des Herois-
mus, aber auch der Macht der Treue im Kleinen und des Sieges
der Ausdauer geben. Die Philofophie wird gegen materialiſtiſche
Dem Andenken von D. 3. A. Dorner. 421
und fleptifche Richtung eine geiftige Schutwehr bilden und die
tbeale Haltung in Sinn und Streben, diefen Schmelz der Jugend
hervorrufen und bebüten helfen, die Naturwiſſenſchaft den Sinn
für die Thatfache, das Reale jchärfen und zur reinen objektiven
Hingebung an die Sache gewöhnen. Die Yurisprudenz der ewigen
Idee des Rechts und Gerechtigkeit dienend, weiß bejonders den
Sinn für Hiftorifche Kontinuität einzupflanzen; von ihr und ihren
Süngern gehen für Bildung männlicher Charaktere die Cinflüffe
aus, die in ihr einen anserwählten Sig haben, und jo wird dem
Lebensblut, das durch die Adern der Umiverfität kreiſt, auch der
nötige Eifengehalt nicht fehlen. Und endlich die Theologie vermählt
alle diefe Formen des Weltbemußtfeins und Selbftbewußtjein mit
dem Gottesbewußtfein. . . Sie weilt das vielbewegte Menſchen⸗
(eben, auch das der Univerfitäten mit all ihrem edlen Streben auf
den, der aller Dinge Urfprung und Hoffnung ift, den Vater des
Lichtes, der neidlos uns alle gute und volltommene Gabe ſchenkt“.
Beſonders behielt Dorner das Verhältnis der Theologie zn der
Philofophie im Ange, deren Entwidelung er bis in die letzte Zeit
mit unaußgefeter Aufmerkſamkeit verfolgte; er erkannte die Auf:
gabe in vollem Umfange an, den chriftlihen Gtaubensinhalt in
einer den Anforderungen der Zeit entfprechenden Weife zur Dar:
ftellung zu bringen und war der Überzeugung, daß die Denk;
arbeit der Philojophie feit Kant nicht ignoriert werden dürfe !).
Er felbft hat ſich am engiten an Scjleiermader und Hegel anges
ichloffen, ohne daß man fagen könnte, daß feine Theologie den
Charakter des Eklekticismus trage. Was ihn an Schleiermader
feffelte, war die pſychologiſche Begründung der Religion im Ge⸗
müte; Hegel fchien ihm durch die Betonung des objektiven Ele⸗
mentes des Erkennens den Schleiermaderichen Subjektivismus des
Gemütes zu ergänzen und mit Recht auf ein Erkennen der Wahr-
heit zu dringen. Aber feine Theologie war trog alledem jelbftändig
gedacht und von einem alles beitimmenden Prinzip getragen, das
fih überall im einzelnen fühlbar machte.
1) Bgl. Kleinert, Rede bei der Gedenkfeier der theologifchen Fakultät in
Derlin. S. 12. Dorner, GOefchichte der proteftantifchen Theologie. S. 776.
422 Dorner
Der Grundgedanke feiner Theologie !), vom dem er ausging,
war der, ben er in feinem erften Hauptwerke zur Darſtellung zu
bringen fuchte, daß fowohl das religiöfe wie das fittliche Ideal der
Menſchheit in der Perſönlichkeit Chrifti verwirklicht ſei, und
daß deshalb weder ein abftrafter Idealismus noch ein theologiicher
Empirismus haltbar feien, weder eine Auffaffung, welche das Real-
werden des deals in Chrifto leugnet oder abjchwächt, noch eine
Denkweiſe, welche fih nur an die gegebene Biftorifche Offenbarung
hält. In legter Beziehung war feine Überzeugung vielmehr darauf
gerichtet, zu zeigen, daB das der Menfchheit vorgezeichnete Ideal
in religiöfee und fittliher Beziehung auch als ſolches deal er
fennbar fein müſſe, daß fich zeigen Laffen müſſe, daß die der Ver⸗
nunft innewohnenden been des Sittlihen und der Gottheit erſt
im Chriftentum zu ihrer Vollendung kommen. Das war nicht fo
gemeint, als ob das Chriftentum könne andemonftriert werden.
Vielmehr fette feine Theologie den Glauben voraus. Aber er war
der Meinung, daß in ber Erfahrung des Glaubens ein zentrales
unmittelbare Erkennen enthalten ſei, ein objeltiver Wahrheits⸗
gehalt, deifen fi die denkende Vernunft bemächtigen könne und
zwar in der Weife, daß die der natürlichen Vernunft innewohnende
Kunde vom Sittlichen und Göttlichen nicht durch die chriftliche
Erkenntnis vernichtet werde, ſondern vielmehr als die Voraus:
jegung und der Anknüpfungspunkt zu behandeln fei, von welchem
ans die chriftliche Erkenntnis als die alles vordhriftliche Erkennen
vollendende ſich erweifen Laffe. Eben daher war fein Blick ebenfo
fehr wie auf die thetifche Darftelung der Glaubens⸗ und Sitten
lehre auf die Geſchichte gerichtet, in welcher der Prozeß der Vers
einigung von Hiſtoriſchem und Idealem fich verwirklicht. Ya, als
den Kern feiner Theologie kann man den Gedanken bezeichnen, daß
die aller Religion zugrunde liegende Idee der Gottmenfchheit und in
Berbindung hiermit das ethifche Ideal in Ehrifto verwirklicht wor:
den jet, daß eben deshalb Chriftus der Mittelpunkt der religiös.
ethifchen Gefchichte und Haupt der Deenfchheit fei. Allein dieſe
1) Bol. Pünjer, 3. A. Dorner, „Augsburger Allg. Zeitung“, Beilage
Nr. 283. Ebenfo „Andover Rewiew“ Auguft 1884 3. A. Dorner, ©. 176f.
Dem Andenten von D. 9. A. Dorner. 42
Offenbarung in Chriſto muß man zum Gegenſtand perfönficher
Lebenserfahrung machen, und Dorner bemühte fih, den Weg zu
zeigen, wie man zu biefem Glauben kommen fünne. Der menſch⸗
lie Geift durchlänft Hier Stufen, welche er in der Pifteologie
Ichilderte. Der bloß Hiftoriiche Glaube, welcher fich der Autorität
jei es der Kirche, ſei e8 der Schrift fügt, ift nur eine Vorſtufe.
Ebenjo aber auch diejenige Betrachtungsmweife, welde im Chriften-
tum nur ewige Wahrheiten fieht, feien dieje im Gebiet des Er-
kennens, Wollens oder Gefühle. Vollkommen ift erſt der Glaube,
„der das Evangelium innerlich) ameignet und dem jich dieſes in
eigenfter Erfahrung als die Kraft des Heils und als die Wahr-
heit erweilt, die eine neue Weife des Seins und Bewußtfeins ber
Gotteskindſchaft begründet”.
Wie es ihm auf bie Erfahrung einer objektiven Realität an-
fommt, die im Glauben wurzelt, jofern ſich Ehriftus dem Glauben
al® der Gottmenſch und das ethifche Ideal bezeugt, wie alfo bei
Dorner eine Richtung auf eine Vereinigung des Subjelts mit dem
Objekt des religiöfen Erfennens genommen wirb, fo ift feine ganze
Theologie darauf gerichtet, ein objektives Erkennen von ber relis
giöſen und ethifchen Wahrheit als realer Wahrheit, nicht bloß ale
Idee oder Ideal zu gewinnen. Ebendaher mußte er darauf aus»
gehen, die der chriftlihen Erfahrung zugrunde liegenden objektiven
Prinzipien zu erkennen, die in Gott liegen. Oder: die in Chrifto
verwirklichte dee der Gottmenfchheit und das damit verbundene
in Chrifto verwirkfichte ethifche Ideal weifen auf Gott als letzte
Quelle zurück und find von Gott aus, d. 5. von dem richtigen
Gottesbegriff aus erft recht verſtändlich, der freilih nur unter der
Vorausſetzung des Glaubens zu gewinnen if. Es war daher
nicht zufällig, fjondern Bing mit dem Grundgedanken feiner Theo⸗
logie zufammen, wenn er für Religion und Ethik das in Chrifti
PVerfönlichkeit real gewordene Ideal in legter Beziehung in Gott
objektiv begründet fand und deshalb vor allem eine gründlich durch⸗
geführte Gotteslchre als das erfte Defiderium einer fruchtbaren
Theologie betonte. Der in Chriſto offenbarte Gott war ihm nicht
bloß Gegenftand fubjeltiver Erfahrung, fondern Objelt der Er»
fenntnis, und er hat bie ganze Sraft feines fpelulativen Geiftes
4% Dorner
darangefeßt, eine befriedigende Gotteslehre troß aller fleptifchen
Zeitftrömungen und treg aller vom Neuplatonismus berftammenden
Traditionen, welche zum Teil den Gottesbegriff der Kirche be⸗
berrfchten, zur Durchführung zu bringen), Dabei war er der
Überzeugung, daß unfere Erkenntnis von Gott es nicht bloß mit
der Offenbarung Gottes, nicht bloß mit der Art der Wirkfamteit
Gottes in der Welt zu thun babe, fondern daß vielmehr die Offen-
barnng Gottes gar nicht Offenbarung wäre, wenn fte nicht das
wahre Weſen Gottes uns offenbarte. Wenn daher nad dem Er-
örterten Chriftus ihm in den Mittelpunkt der Theologie trat, fo-
fern „in ihm alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis ver
borgen Liegen“ ®), fo ift für ihn das objektive Realprinzip von
allem, das freilich ohne Ehriftus nicht voll erkennbar fei, Gott;
und nur von feinem Gottesbegriff au, welcher die Prinzipien für
die Religion wie die Ethik enthalten foll, ift feine Auffafjung des
religiöfen wie des ethifchen Lebens der Menſchheit zu verftehen.
Man kann alfo kurz jagen: die Erfahrung Ehrifti ift die reli-
giöſe Bafis, von der er ausgeht; in ihm find wir mit Gott
geeint. Darin aber ift zugleich eine Erkenntnis enthalten. Die
Aufgabe ift nun, „daß die thatfächliche Gewißheit, die dem Glau⸗
ben von feinem Inhalte beimohnt, zur wiffenfchaftlichen Erkenntnis
oder zum Bewußtſein von dem inneren Zufammenhang und der
objektiven Begründung dieſes Inhalts gebracht werde. Die reli⸗
giöfe Gewißheit Tann und muß zugleich zur wiffenfchaftlichen Ge⸗
wißheit werden.” In letzter Beziehung fchreibt er in einem Briefe
vom 25. April 1877: „Zür die Wiffenfchaft kommt es nicht darauf
an, daß alle empirischen Menſchen gleich hoch ftehen und die Wahr:
heit gleichermaßen anerkennen, fondern darauf, daß die Vernunft
als Vernunft eine Gewißheit von der Wahrheit hat. Diefe Ger
wißheit Hat aber die Vernunft auch als religidje, nicht bloß ale
1) VBgl. den Nachruf in der „Neuen Ev. Kirchenzeitung”, welcher befonbers
die Kunſt hervorhebt, „die fchwierigften Fragen zugänglich zu machen”, die
Leichtigkeit der Korn, in die er die Darftellung der jchmerften Probleme zu
gießen vermochte, die geflaltende Kraft in der Sprache.
2) Das ift da8 Motto, das er unter fein in Göttingen angefertigtes Bild
ſetzte.
‚ Dem Andenken von D. 3. X. Dorner. 425
fittliche oder für das Sittliche beftimmte, nämlich wenn fie — was
die Aufgabe aller ift — die nötige Ausbildung, ja die Erfüllung mit
Hriftlichem Geifte gewonnen hat.” Ergänzt wird diefe Bemerkung
durch eine andere vom 13. März 1881: „Es iſt gewiß richtig,
daß man a priori nie das fonfrete Einzelne erreicht, aljo daß man
auch nicht zum Glauben an Chrifti Perfon auf apriorifchem Wege
fommen kann, bern auch wenn man die Notwendigkeit ber Menſch⸗
werdung und zwar in Einem begründen zu können überzeugt ift,
wie ih es bin, fo ift doch mit diefer Notwendigkeit die Wirk⸗
lichkeit nicht erreicht: das bleibt ewig wahr. “Die entgegengefeßte
Annahme würde auch wieder zu dem Irrtum zurüdführen, daß der
Glaube andemonftrierbar fei; er ift aber Anfhauung einer Wirf-
lichkeit, Ergriffenfein durch fie. Er beginnt mit der Empirie, aber
duch PVertiefung in fie erfaßt er fie als verwirflichte bee oder
Wahrheit.“ ben der Glaube als principium cognoscendi ver-
weift uns auf den in Chrifto offenbaren Gott als das Real⸗
prinzip der Welt, und es ift daher die Aufgabe der Theologie eine
volffommenere Gotteserkenntnis, die aus der Offenbarung in Ehrifto
und ber Vernunft gemeinfam zu ſchöpfen ift, wie ja die Offen.
barung in Ehrifto jelbft an die Vernunft anfnüpft und fie vollendet.
Gott ift alfo als das Realprinzip zu erfaflen, und von dem chriftlich
beftimmten Gott ans ift die Welt, vor allem die Welt der Neligion
und Sittlichkeit zu verftehen, welche in der Realifierung der Gott-
menfchheit gipfelt. Darum ift auch die ſpekulative Methode die für
die thetifche Theologie geeignetfte. Denn fte hat die Aufgabe, die
Momente, welche in der Erfahrung enthalten find, auf ihr Prinzip
zurkdzuführen und von biefem Prinzip aus auf debuftivem Wege
darzuftellen, fo daß das vernünftige Denfen von Moment zu
Moment mit Notwendigkeit fortfchreitet, bis es befriedigt ift umd
in einer zufammenhängenden Darftellung feinen Inhalt ex-
pliziert bat. I
Bei der Ausbildung der Gotteslehre war es ihm vor alle
darum zu thun — und bier ging er ſeinem Prinzip entfprechend
den entgegengejegten Weg wie Hegel — zu zeigen, daß der Begriff
des göttlichen Seins nicht der Höchfte, ſondern der Leerfte fet, daß
man nicht mit dem vntologiſchen Argumente abfchliegen, fondern
4% Dorner
mit-ihm beginnen müſſe. Denn daß vor allem Gottes objektives
Sein, feine von dem Subjekt unabhängige Exiſtenz feſtgeſtellt und
anerfannt werden müſſe, war in der Örundrichtung feines Dentens
angelegt, welche dem Piychologismus und Subjektivismus jeder
Art entgegengejett war. Aber das Sein, auch die Afeität Gottes
war ihm nur die unerläßliche Baſis, um barauf bie näheren Ber
ftimmtheiten Gottes aufzubauen. Auch wäre Dorner mißverftanden,
wenn man ihm imputieren wollte, dag er das Sein als eine ge
trennte Eigenschaft Gottes für fich angejehen hätte, als ob er zuerit
Sein an fih und dann noc beftimmtes Sein wäre; vielmehr iſt
fein Sein durchaus beftimmt; aber feine Beitimmtheiten find aud
eriftent. Die Gotteslehre näher darzulegen, kann bier nicht die
Abficht fein. Nur das fei erwähnt, dag er die metaphyſiſchen und
phyſiſchen Eigenfchaften Gottes nicht bloß im Intereſſe der ob
jeftiven Exiftenz Gottes, fondern vor allem im Intereſſe des ethifchen
Weſens Gottes für nötig bie. Denn Gott ift ihm nicht bloß
Vertreter der fittlichen Idee, auch nicht bloß fittliches Geſetz, ſon⸗
dern vor allem der realiter Gute, der perjünlih Gute, und wenn
auch die Exiſtenz und Aſeität Gottes metapbyfifch angefehen die
Baſis für die Gotteslehre ift, jo tft doch —, und das wirb häufig
nicht fo beachtet — in letter Inſtanz der Grund, warum Gott
abfolute Exiftenz, Afeität, Lebendigkeit, Intelligenz, Harmonie be
anfprucht, diefer, weil er als ber ſchlechthin Gute alles died
braucht. Alles ift Mittel für den letzten Zweck; Gott als der Ur-
gute muß fein. Der abſolute Selbſtzweck ift es, ber zulett alles
trägt; um bdesfelben willen müſſen Gott alle Eigenfchaften zu
gejchrieben werden. Vor allem muß Gott als ethifcher auch meta
ponfifche Eigenschaften haben. Denn wenn nicht er als ber Ur⸗
gute abfolutes Sein, abjolute Kaufalität wäre, jo würde das
Gute niemals zur wahren Exiftenz kommen. Das Ethiſche ift
ihm nicht ſubjektives Ideal; es ift ihm vor allem vollendete Ren
lität in Gott.
Diefes Ethifche in Gott ift ihm aber fo wenig, mie bloße
Idee, auch bloßes Sein. Vielmehr ift das Sein Gottes ſchon ald
lebendiges zu denken; Gott aber ift vollends der Urgute nur da
durch, daß er fich felbft ewig durch feine eigene Aftion dazu macht,
VE hu u 6⏑⏑— ———
Dem Andenken von D. J. A. Dorner. 427
daß er das abfolut Vernünftige, in fi) Wertvolle ftetS mit Frei⸗
beit will, dag in ihm Einheit von Freiheit und Notwendigkeit ges
geben iſt. Er Hat die Zrinitätslehre fo zu begreifen gejucht, daß
fie da8 ewige immanente Leben Gottes als einen ewigen Prozeß
darftelit, durch welchen er ewig fein Leben, feine Intelligenz, fein
ethiſches Wefen durch Xhätigkeit Hervorbringt. Er wollte damit
das Ethiſche auch in Gott nicht al8 Sein, fondern als abfolute
Thätigkeit bezeichnen. Gott ift ihm nicht bloß ethifche Welt-
ordnung, Weltgeſetz, fondern der wahrhaft ſeiende aktive
perſönliche Gute.
Er Hat aber auch das Ethifche ſelbſt genauer unterfucht und
fand als Reſultat, daß es nur gedacht werden könne als Einheit
von Gerechtigkeit und Liebe. Gott will zunächſt fich felbit als ben
abfolut Sittlihen, al den, welcher das DVernünftige, in ſich Wert-
volle mit Freiheit will. Gott ift nicht bloß Liebe ohne Selbit-
behauptung, fein Selbftzwed Liegt nicht außer ihm, er will viel
mehr fich felbjt, aber nicht willfürlich, fondern weil er ſich als den
Guten will, und hierin ift zugleich enthalten, daß er ſich auch als
die Quelle von möglichem Guten will, da8 außer ihm, wenn aud)
nur durch ihm, möglich ift. Der Wille, die Gefinnung der Selbft-
mitteilung, ift zu unterfcheiden von der Selbftmitteilung, und dieſer
Wille ift immer nur fo zu denten, daß Gott auch anderes Gute
will, weil er fih als den Guten will. Hierdurch wollte er den
Pantheismus wie Deismus gleichmäßig ausfchliegen. So kann
Gott nicht profufe Güte fein; er muß vielmehr fi) als den Ur-
guten wollen, ja fi wollen, weil er al8 der Urgute abfoluter
Selbftzwed ift, und wenn er feiner Gefinnung nad) auch anderes
Gute will, das als Gutes auh nur perjönlicher Art fein kann,
jo will er eben auch da einen Selbitzwed, der, weil er in jich
wertvoll ift, auch gegen jede Anfeindung geſchützt werden muß.
Dorner berührt fih darin mit Kant, daß er das Sittliche, welches
Selbſtzweck ift, fo denkt, daß es eben deshalb unbedingtes Recht
auf Eriftenz hat und daß eine Verlegung desfelben Verlegung eines
unbedingt Wertvollen iſt. Sole Verlegung kann nicht als etwas
Sleichgültiges ignoriert werden, weil darin läge, daß Gott nicht
das Gute als das anjähe, das allein unbedingtes u zur Eriftenz
Theol. Stub. Jahrg. 1886.
428 Dorner
hat. Vielmehr wo das Recht des Guten verlet ift, fordert bie
Selbftbehauptung des Guten, welche eben nur das Recht bes ab-
folut Wertovollen behauptet, daß dem Rechte des Guten gemug ge
than werde.
Die Konjequenzen diefer Grundgedanken der Gotteslchre zeigen
fich in feinem Lehrſyſtem dargeftellt. Iſt Bott ale der perfünlid
ethifche, Urheber der Welt, fo kann er in letter Hinficht nur ſolche
Weſen wollen, welche felbjt ethifcher Art find; fo hat die Welt
um ihres Endzweckes willen au für Gott Wert. Das Ver⸗
hältnis Gottes und der Welt muß fo angelegt fein, daß die ethi⸗
schen Weltweien, obgleich gefchaffen, jelbft das Sittliche Hervor-
bringen können auf Grund deſſen, was ihnen von Gott gegeben
ift, daß aber zu dem Hervorbringen des Sittlichen das richtig
Verhältnis zu Gott als dem Urquell alles Sittlihen erforderlid
tft. Eben daher ift Religion und Sittlichleit in Wahrheit nicht zu
trennen. Das Sittliche ift Vereinigung von Selbftbehauptung un
Selbftmitteilung. So teilt Gott fich der Menfchheit mit, aber
nicht in abforptiver Weile, fondern jo, daß Gott, wie er felhft
den Unterſchied von ſich und der Kreatur aufrecht erhält, auch ber
Kreatur die Kraft der Selbftbebauptung gewährt; er teilt fid
daher jo mit, daß die göttlichen Mitteilungen ben Menfchen er
heben und feine Kraft ftärken, wie fie feiner Empfänglichleit ent-
iprechen. Aber ebenjo hat auch der Menfch Gott gegenüber em
pfänglih und auf Grund des Empfangens felbftthätig zu fein.
Beides, die göttliche Selbftmitteilung und die ethifche Selbftthätig
feit gipfelt in bem Gottmenfchen. Weil ihm der ethifche Gott ſich
voll mitteilt und in ihm wohnt, darum ift er auch ethiſch thätig.
Daher ihm Chriftus ebenfowohl für die Ethik wie für die Dogmatil
den Mittelpunkt bildet. ‘Denn da Gott einerjeits fich mitteilt, ander-
ſeits die Menſchheit felbfithätig fein foll, fo unterſcheidet ſich Dog⸗
matik und Ethik fo, dag erftere die göttlichen Thaten beſchreibt,
letztere das Handeln des Menfchen, jedoch fo, daß man bei erfterer
durch die göttlichen Thaten auf das fittliche Leben zugleich Binge-
wiefen wird, wie umgelehrt die Beichreibung des fittlichen Lebens
an die göttliche Selbitmitteilung anzufnüpfen hat.
Das Verhältnis Gottes und der Welt bedingt dies, daß das,
Dem Anbenten von D. J. A. Dorner. 429
wos Im Gott In vollendeter Harmonie Hetvortritt, in bet Welt
auseinanbertreten muß. SU ein gefchaffenes Weſen ethifch fein,
jo Tann Ihm nicht bie ethiſche Vollendung anerjchaffen fein. Biel
mehr wird bie Hervorbringung des Sittlichen in der Welt, welche
der abjoluten ewigen GSelbfthervorbringung Gottes als des Ethi-
ſchen entſpricht, in zeitliche Deomente anseinanderfallen müſſen.
Auf Grund der auf völlige Harmonie berechneten von Gott ge
ſchaffenen Naturanlage ſoll bei gefchaffenen Wefen, melde Sitt⸗
liches hervorbringen Tollen, der religiss⸗ſittliche Prozeß als ein all-
mäßlicher ſich entfalten. Hieraus folgt von jelbft, daß das Ziel
ber Entwidelung, welches ber wirklichen Entwidelung der Welt
fine! vorausgeht, nur in allmählichem Prozeſſe kann erreicht wer⸗
den, und daß «8 demgemäß nicht bloß ein religids-fittliches Ideal
in den Sinne der Vollendung, fondern auch ein Ideal des fitt«
lichen Werbens giebt. Vor allem uber Hat Dorner mit aller
Energie betont, daß das GSittliche nicht bloß als Ideal beftchen
darf, nicht bloß als Geſetz und Forderung, fondern, daß es reale
Exiftenz im Willen und Werd gewinnen muß; und daher ſchien
ihm bie Ethik ber richtigen Metaphyfik nicht entbehren zu Yünnen,
baher kam es ihm befonders baranf an, daß das religids - fittliche
Ideal Hiftorifch realifiert werde; daher legte er ben größten Wert
auf die Geſchichte als die Stätte, in welcher fich der fittliche und
religiöfe Prozeß der Menſchheit auswirke. „Die Brücke zur Ge
ſchichte“, Fchreibt er in einem Briefe vom 23. Juni 1877, „ift
das Ethiſche. Denn es ift dasjenige Ideale, was nach innerem
Sefeg und Trieb That, Gefchichte muß werden wollen. Aber be-
Hindert an dieſem Übergang ift man durch eine Metaphyfik, welde
son der falſch gedachten, lebloſen Unverunderlichkeit Gottes willen
ihm feine Hände und feinen Gang, um nicht zu fagen fein Herz,
bindet." Demgemäß nahm er Stufen der Entwidelung an und
mar der Meinung, daß wie die Welt eine wirkliche Entwidelutig
nach göttlichem Willen haben folle, fo auch ber göttliche Liebes-
wille nicht in feinem Verhältnis zur Welt an ftarre Unveränder⸗
fichkeit gebunden fein Lönme, fondern feine Mitteilungen an die
Welt dem Prozeffe der Welt emtiprechend vollziehe und daß die
Sich⸗ſelbft⸗Gleichheit Gottes nur darin beftehe, daB er das Ethiſche
28 *
430 Dorner
überall in feiner abfoluten Würde bewahre. Der allgemeine Ge⸗
danke, welcher feine religiöje Entwidelungstheorie beherrfchte, war
feiner Gotteslehre entiprechend der, daß bie göttliche Mitteilung
ſtets vorangebe, daß auf Grund berfelben eine fittliche Selbitthätig-
keit fich entfalte, welche zugleich eine neue Empfänglichkeit für gött⸗
liche Mitteilung bervorrufe, und daß diefer Empfänglichkeit eine
neue Mitteilung entjpreche, womit wieder eine höhere Stufe bee
Schritten ſei. So ift die göttliche Wirkſamkeit oder Offenbarung
nicht eine fchlechthin übernatürliche, fondern fie kommt einem Be
dürfnis entgegen und befriedigt dasfelbe, ja hebt die religiöje Ver⸗
nunft auf eine jedesmal Höhere Stufe. Syn concreto ging et
davon aus, daß — feiner Gotteslehre entiprechend — der ethiſche
Zwed zunächſt einer realen Bafis bedarf, auf der er ſich aufzubauen
vermag, die aber an fich noch nicht fittlich fein kann, fondern nur
conditio sine qua non für eine fittliche Entwidelung. Diele
Bedeutung hat die äußere Natur, ebenfo aber auch die Natur
anlage des Menfchen, welche in der religiös -fittlichen Anlage
gipfelt. Diefe kommt aber nicht fofort zur vollen Realität. Biel
mehr fann der Menſch eine Zeit lang ein vorfittliches Daſein
führen, in weldem er feinen natürlichen Anlagen entjprechend in
der Natur und in den natürlichen Gemeinfchaften dahin Lebt, wäh.
rend die Gottheit ihm höchſtens nad der Seite der Macht fih
offenbaren kann. Aber diefe, der guten Anlage entjprechende Lebens⸗
weile ermweift fi ber wachſenden Kompfiziertheit der Verhältnifie
nicht gewachſen. Die natürlihen Anlagen und Gemeinfchaften
haben nicht die Kraft, auf die Dauer dem Menſchen als Leititern
zu dienen, je mehr fich feine Selbftändigkeit durch die Bethätigung
entfaltet. Notwendigkeit und Freiheit treten einander gegenüber; in
dem Menfchen erwacht die Idee des Gefekes; damit coincidiert, daß
die Gottheit fich ihm als Geber und Hüter des Sittengejeges im
Gewiſſen offenbart, welches feine Freiheit beftimmen fol. Hier
treten Gejeß und Freiheit, Gott und Menſch einander gegenüber;
Gott ift der fordernde Gefetgeber; der Menfch foll das Geſetz
vollziehen. Aber auch diefe Stufe ift unvolllommen, felbft wenn
fie normal verlief. Es kommt darauf an, daß der Menſch
nicht bloß dem Geſetz um der Autorität willen folgt und Gott
Dem Andenken von D. 3. X. Dorner. 481
gegenüber Gehorfam übt; vielmehr wird die Ausübung des Ge⸗
fees felbit erit dann volllommen fein, wenn dasfelbe nicht bloß
im Wiffen lebt, fondern in den Willen aufgenommen und zum
Lebensgeſetze geworden ift, und wenn Gott nicht als der Gefegeber
fremd ihm gegenübertritt, fondern den Menſchen als befeelendes
Prinzip erfüllt, fo daß Gott ſich volllommen dem Menſchen mit-
teilt, der Menſch dauernd von feinem Gelfte erfüllt ift, und das
Geſetz nicht als eine äußere Notwendigkeit, fondern ala Gefe ber
Freiheit von ihm aufgenommen und realiftert wird. ‘Diefe Stufe
fann nur erreicht werben durch eine That Gottes, und zwar Tann
fie überhaupt nur durch eine felbftändige Perfünlichkeit zur Dars
ftellung kommen, ben Gottmenſchen, der von dem ethifchen Gott
volffommen erfüllt auch das fittliche Ideal realiftert. Diefer Gott-
menfch tft aber durch feine Perjünlichkeit der Anfang einer neuen
Entwicelungsreihe; er offenbart durch fich jelbft die evangelifche
Stufe in ihrer Vollendung. Alle übrigen, welche die evangelifche
Stufe befrhreiten follen, müfjen ben Geift Gottes empfangen, den
er mitteilt.
Es entfpridht völlig der Gotteslehre Dorners, daß er es mit
jeltener Klarheit zum Ausdrud bringt, daß e8 nicht in der Welt
beit dem Standpunkt des Geſetzes, der Forderung des Sollens
bleiben Tann, daß vielmehr wie in Gott Freiheit und Notiwendig-
keit abfolut geeint find in der fich felbft behauptenden Liebe, die⸗
jelbe Einheit als das fittliche Weltziel angefehen werden muß.
Ebendaher fteht ihm auch im Mittelpunkt nicht das Neich Gottes
als Gemeinfchaft, fondern die Perſon Chriſti, welche neue Per:
Sönlichkeiten aus uns machen kann, die das Notwendige frei wol⸗
fen. Für feine Lehre von der Kirche folgt hieraus, daß er nicht
die Kirche als Anftalt den Perſonen vorangehen, jondern bie
Kirche aus der Gemeinfchaft der Perſonen werben läßt‘). ‘Denn
auch das Verhältnis des einzelnen zu der Gemeinfchaft betrachtet er
1) Das ſchließt natürlich nicht aus, daß die einmal beftehende Kirche zu
Chrifto binführen kann; nur wird jemand erft ein volles Glied der Kirche,
wenn er wirklich chriftliche Perfönlichkeit ift; dann bringt er aber, ethiſch be
trachtet, auch immer wieder die Kirche mit hervor. Vgl. „Olaubenslehre“ IT,
8 128, 1.
482 Dorner
fa, daß dasfelbe dem befprochenen Stufen nad ein verſchiedenes ikt.
Zriet der Menſch als Naturmenſch in feinem vorfittlichen Zuftend
noch nicht der Gemeinſchaft felbftändig gegenüber, tritt dann auf
der gefjelichen Stufe die Gemeinſchaft dem Menſchen euteritatin
gegenüber, fo ift auf der evangeliichen Stufe der einzelne erft in
der Einheit mit dem Gottwenſchen dur die Beſtelung des heiligen
Geiftes zu einer felbftändigen Perſönlichkeit geworben, und bie Ge⸗
meinfchaft erfcheimt hier in höherer Form als das fittliche Prodult
ber gotterfüllten Berfünlichkeiten. Daher vertritt er inbezug auf
die Erlenntnis mit jo großer Energie das Recht der Berfon auf
eigene, nicht durch Autorität garantierte Gewißheit umd inbezug
auf das Sittlihe die unbedingte Verantwortlicgleit der Berjon fir
fid und ihre Handlungen, inbezug auf das refigiöfe Verhäftnid
aber das Recht der Berfon mit Gott felbft in Verkehr zu füchen,
ohne kreatürliche Mittler, beißen fie Schrift oder Kirche, ſo fehr
er die Bedeutung beiter als Gnabenwittel, d. 5. als Mittel, melde
zu Gott fetbft führen, aber nicht bei fich, als leizter Quelle für
das religiöfe Leben ben Menſchen fefthalten wollen, auerkennt
Beil Gott ethiſcher Bett ift, fo ift auf der evangeltichen Stufe
die vollendete Einheit mit Gott zugleih die Duelle vollbomenener
ſittlicher Freiheit, wie es urbildli der Gottmenſch Chriftws dar⸗
ftellt, deſſen Bemußtfein wir uns aneignen, deſſen Geiſt wir in
uns aufnehmen.
Es ift nicht wohl möglich — auch an dieſer Stelle nicht
nötig —, die dogmatiſchen Überzeugungen Dorners im einzelnen
barzulegen. Nur auf Einiges, das ebenfalls eng mit feiner Gottes⸗
Ichre zufammenhängk, jei noch hingewieſen.
Wenn er in der Chriftologte. der: mobersen Kemofe abgeneigt
war, fo lag das im ſoiner Überzeugung begründet, daß der ethiſche
Gott nicht ethiſcher wäre ohne Selbſibehauptung, daß Gett als
ethifcher ſich ſelbft gleich. ſein müſſe und uicht fi verkieren könne.
Wenn er auf der andern Seite aber die alte Annahme ablehnte,
daß Chriſtus von Anfang am ſchon vollendeter Gott geweſen ſei
und nur von ſeiner Gottheit entweder keinen Gebrauch gemacht
oder fie nur insgeheim gebraucht habe, ſo war es wieder das
ethiſche Prinzip, welches ihn Hierzu beſtimmte. Der Weg, be er
Dem Andenten von D. 3. X. Dorner. 458
zu gehen verfucht, ftimmt mit feiner DVorftellung, daß die Einheit
Gottes mit dem Menjchen durch die fittlich beftimmte Empfüng-
lichleit bes Menfchen hindurch fich vermittelt und an Innigkeit
wächſt, und daß auf Grund diefer wachjenden Einheit auch ein ſitt⸗
liches Wachstum ftattfindet. Wenn er es aber für nötig hielt,
entgegen einer weitverbreiteten Anficht, auch auf die ſozuſagen vor»
fittliche Anlage Chrifti zurückzugehen und in ihre die Möglichkeit
für feine eigentümliche Entwidelung zu finden, fo entjpricht das
durchaus dem Grundſatz, daß fittlide Stufen zu durchlaufen find
md dag nicht bloß Chrifti Berufsthätigkeit für das Chriftentum
von Wichtigkeit ift, fondern feine Perſönlichkeit, von welcher auch
feine Berufsthätigkeit ausgeht und welche diefer Thätigkeit erſt
ihren vollen Wert verleiht, im Mittelpunkt fteht. Wie aber ber
Menſch aus dem vorfittlichen Zuſtand fich ethiſch entwidelt (ſ. oben),
fo wird auch Ehrifti Perfon nur verfianden, wenn man fie nicht
bloß als fertige, jondern au in ihrem fittlihen Werden, und
nach der vorfittlichen Anlage, aus der fie als ans dem Natur-
grund fich ethiſch entfaltet, zu verftehen jucht, eine Anlage, welche
feiner Meinung nad) bei Ehrifto auf eine bejondere göttliche Aktion
als ihren Grund zurückwies.
Nicht minder ift die Xehre von der Sünde und von ber Ver⸗
ſöhnung und Erlöfung durch feine Gottesichre beftimmt. Denn
einmal tft ihm die Sünde Abwendung von Gott, aber von Gott
al8 dem Urquell des Sittlichen und daher religiös und fittlich zu⸗
glei. Anderſeits aber ſoll das Sittlihe und das religiöfe Ver-
hältnis im allmählichen Prozeß realifiert werden und hat daher
Stufen. So macht Dorner auf der einen Seite geltend, daß die
Sünde auf jeder Stufe der Entwidelung Verlegung eines unbe-
dingt Wertvollen ift, und daß das Recht bes Buten unbedingt ges
wahrt werden muß, daß über der Sünde die göttliche Ungnade
schweben und daß fich diefelbe auch objektiv in der Strafe offen-
baren muß. Demgemäß leugnet er, daß erft die enangelifche Stufe
Sittliches enthalte, dejjen Verwerfung die Ungnade Gottes auf fich
zieht, da die evangelifche Stufe ſittlich gar nicht zu erreichen ift,
wenn nicht die anderen Stufen vorhergegangen find, auf denen fie
ruht. Auf der andern Seite hebt er aber doch hervor, daß bie
484 Dorner
Sünde, bevor bie evangelifche Stufe erreicht ift, noch nicht als
definitive aufgefaßt werden kann, noch einen provtjorifchen Charakter
trägt und noch nicht die ewige Verdammnis ale Strafe zur
Folge haben Tann.
Dem entfpricht nun die Modifikation der Offenbarung der
göttlichen ſich felbft behauptenden Liebe in Chriſto, welche die Sünde
notwendig macht. Chriftus wird nicht bloß überall der Sünde,
wo fie ihm begegnet, Träftigen Widerftand leiften; vielmehr damit
die Menfchheit in ihm zur volllommenen Einheit mit Gott kommen
kann, dazu iſt nötig, daß das Unrecht des Böſen und das Recht
des Guten anerfannt, daß die Schuld gefühnt werde, welche die
vorchriftliche Menſchheit drüdt, dag die göttliche Ungnade, weldt
aus der Selbitbehauptung bes ethifchen Gottes gegenüber dem
Böſen mit Notwendigkeit hervorgeht, aufgehoben werde. Wenn
alfo Chriſtus die Einheit mit Gott und die höchſte Stufe der
Sittfichkeit innerhalb der Mienfchheit darftellen fol, fo kann er nur
fo fich mit Gott einen, daß er zugleih das Bewußtſein der Un
gnade Gottes gegen die Mienfchheit in ſich aufnimmt und im Mit
gefühl die göttliche Ungnade und Strafe mitzutragen bereit ift,
und fo das verlegte Recht des Guten wiederherftellt. Kurz, de
die Sünde zwar die göttliche Ungnade notwendig macht, aber ald
proviforifche die göttliche Liebe noch nicht ausfchließt, fo muß die
göttliche Liebe fich jo offenbaren, daß zugleich der Wert des Guten
der Sünde gegenüber zur Anerfennuug kommt: und Chriftus, der
die vollendete Einheit mit Gott innerhalb der Menſchheit realifiert,
realifiert fie fo, daß er zugleich die Selbitbehauptung des Guten
der Sünde gegenüber zur Geltung bringt, indem er als Haupt
der Menſchheit das Recht der göttlichen Ungnade aus Liebe ar
erkennt und die Schuld fühnt. Daß aber Ehriftus die Menſchheit
vertreten Tann, bat feinen Grund zugleich darin, daß, bevor die
höchfte Stufe befchritten ift, der einzelne dem Zufammenhange und
der Autorität ber Gemeinfchaft gegenüber noch unfelbftändig if,
noch unter dem Einfluß des Ganzen fteht, noch nicht im vollen
Sinne felbftändige Perſönlichkeit ift, daher auch auf diefer Stufe
noch Stellvertretung des einzelnen durch den Vertreter bes Ganzen
möglih ift. Erjt indem Chriftus die Meenfchheit mit Gott ver-
Dem Andenken von D. I. U. Dorner. 485;
ſöhnt, ift e8 möglich, daß ber einzelne, ber ſich Chrifti Geift an⸗
eignet, der vollen Perſönlichkeit teilhaftig wird. Wie alfo Chriftus
der geſetzlichen Stufe gegenüber erft die volle Freiheit der Perſön⸗
lichkeit realifiert, jo befreit er auch die Menfchheit von dem ſün⸗
digen Zufammenhang der Gemeinfchaft, indem er die über ber
Menfchheit ſchwebende göttliche Ungnade durch feine Stellvertretung
der Menfchheit aufhebt und es num jedem einzelnen möglich macht,
eine in ihm mit Gott geeinte freie fittliche Perfönlichteit zu wer⸗
den, welche von dem Zuſammenhange mit der allen gemeinfamen
Sünde und Schuld befreit ift. Von Gott aus gefehen, muß hier-
nach gejagt werden, baß durch Chriftus die über der Menjchheit
ſchwebende Ungnade befeitigt, Gott alfo verfühnt iſt. Wie Gott
um feiner ethiichen Sich-jelbft-Gleichheit willen das Böſe nicht igno-
rieren konnte, jo kann er auch die in Chrifto vollzogene Verſöh⸗
nung nicht ignorieren; wie er zuerft feine Ungnade, wenn auch
mit Langmut gepaart (wegen des noch proviforifchen Charakters ber
Sünde) offenbart, fo ift er nun der Menſchheit verföhnt, und jeder
einzelne kann in der Gemeinschaft mit Chrifto der göttlichen Liebe
al8 gerechter Liebe teifhaft und auf Grund der Einheit mit Gott
eine fittlich freie Perfönlichkeit werden.
Wenn Dorner hiernach die Sünde nur als ein Zwifchenneinge-
fommenes behandelt, fo leitet ihn dabei nicht etwa eine Verfennung
des Gewichtes derfelben; vielmehr hat er dies mehr geltend gemacht
als andere, die Chriftus wefentlih nur als Erlöfer, nicht als Ver⸗
jöhner auffaffen. Seine Abficht war vielmehr die, die Anficht ab»
zufchneiden, als ob Chriftus Tediglich der Wieberherfteller eines
früheren normalen Zuſtandes fei. Er mollte beides verbinden, daß
durch Chriftus bie Menfchheit von Sünde und Schuld erlöft, aber
zugfeih aud auf eine höhere Stufe geführt worden fei, die fie
auch bei normaler Entwidelung erft durch Chriftus hätte erreichen
fönnen. Der Gehalt der Geſchichte war für Dorner nicht nur ein
immer gleicher, der höchftens gegen Verderbnis behauptet oder wieder:
hergeftellt werden müfle, fondern ein ftufenweife wachjender. Die
Geſchichte war ihm zugleich der Schauplag des Fortichritte.
Ich Habe gerade diefen Punkt deshalb ausführlicher berührt,
weil Dorner bis an das Ende feines Lebens die Rechtſertigung
488 Dorner
als das Kleinod der proteftantifchen Kirche verteidigte. Es wird
das um fo mehr begreiflih, wenn man ſich vergegenmärtigt, daß
er in ihr nicht bloß die Befreiung von Schuld, nicht etwa nur
eine prinzipielle fubjeltive Ummendung, fondern ben Eintritt ber
höchſten Stufe der religiössfittlichen Entwickelung erfannte, die Be-
grändung der mit Gott geeinten fittlich freien Perfönlichkeit, melde
nicht auf ihre eigene fittliche Umkehr, fondern anf die Erfahrung
der verfühnten Liebe Gottes gegründet ift und hierin den Quell⸗
punkt für ihre fittliche Bethätigung befitt, da Gott ethifcher Gott,
der Urgute tft.
Es könnte fich zu widerfprechen fcheinen, wenn Dorner einerfeits
in der Gotteslehre bie realen Prinzipien auffuchte, und anderfeits den
Grundfatz fefthielt, daß die proteftantifche Kirche als ihr Material⸗
prinzip die Rechtfertigung, als ihr Formalprinzip die Schrift anſehe.
Indes läßt fich beides wohl vereinigen. Deun daß die Religion in
Gott begründet fein muß, daß die Gotteslehre erklären muß, daß Gott
als ethifcher Gott in ein Liebesverhältnis zur Kreatur treten will, dad
eben in der Religion fich darftelit, fchließt andererfeits nicht aus, daR
von dem Proteftantiemus als der höchſten Stufe der riftlichen Re⸗
ligion ausgefagt wird, fein Prinzip als Religion fei eben die
in der Rechtfertigung in Chrifto gegebene Einheit Gottes und de
Menſchen, wie diefelbe auf der höchften Stufe des refigiös-fittlichen
Prozefſes fich darftelle.e Daß er aber dieſer religiöfen Erfahrung
die Schrift zur Seite ftelite, hat den Grund, daß er die Reali⸗
fierung der höchften Stufe nur als eine gefchichtliche Thatfache be:
geeifen kann, da bie Menſchheit nur in dem gefchichtlichen Prozeſſe,
in der biftorifchen Erſcheinung Chrifti diefe Stufe erreicht. Ohne
Epriftus ift diefe Stufe vollends bei dem Eintritt der Sünde un-
denkbar; die Schrift aber ift die Urkunde über bie hiſtoriſche Per:
ſönlichkeit Ehriſtt und feine urſprüngliche Wirkſamkeit im dem
Gläubigen. Iſt alfo: in Chriſto dieſe höchſte Stufe beichritten, fo
kann fie auch nicht gewonnen und fefigehalten werben, wenn nicht
das Hiftorifche. Bild Chriſti und das Bild feiner Hiftorifchen Wirk
ſamkeit gegenwärtig bleibt. Wollte man von der Schrift abjehen,
fo: würde man eben von der Gefchichte, von dem Realwerden der
höchften Stufe des religiös » ſittlichen Lebens in der Welt abfehen,
Dan Andenken non D. I. 4. Dorner. 4
d. 6. man würde auf die Stufe des bloßen Ideales ohne Rea⸗
lität, anf die Stufe des Sollens ohne Sein, auf bie gefeiglide
Stufe zurückſiuken. So bedarf aljo der Proteftantismus nad
Dorser ber Schrift als ber Urkunde ber hiftorifchen Offenbarung
in Ehrifto, aber diefe Urkunde foll ums zugleich den in Ehrifto
reafgewardenen ewigen religiös-fittlicden Gehalt offenbaren und zur
eigenen Erfahrung führen. Rechtfertigung, die nicht auf bie hiſto⸗
rifche Realität Chriſti zurückginge, ſich auf die Schrift nicht ſtüͤtzte,
ſchwebte in der Luft, da es fich gerade mm das Real⸗geworden⸗ſein
der höchften Stufe handelt. Schrift ohne Erfahrung der Recht⸗
fertigung würde aber ebenfo unmöglich fein, da der Yuhalt der
Schrift eben zu der Erfahrung hinweift. Auch handelt es fich nad
Doruer in Wahrheit nicht um zwei Prinzipien, jondern wm eines,
nämlih um den im der Schrift wie in ber Erfahrung wirkſamen
Geiſt Ehrifti.
Es erwies fih Ihm die chriftlicde Stufe dadurch ale die höchſte,
über welche hinaus micht nene Stufen befchritten werden fünnen,
daß das Prinzip ber Rechtfertigung und die Erfahrung derſelben
ein immer gleiches iſt. Es kann einer nicht mehr oder weniger
gerechtfertigt fein, Gottes Bunde ift ihm zuteil geworden; er ift
ein Sind Gottes. Wem auch die Gewißheit der Nechtfertigung
Grade hat, fo ift fie am ſich doch eine göttlich objektive That, die
jedem Glaͤubigen durch Aneignung in der hriftlichen Grunderfahrung
zuteil wird. Dagegen Bat die Heiligung und ebenfo auch die An⸗
eignung de8 Heils im Erlennen ihre Stufen. Dadurch aber wird
das Grundverhaltnis Gottes und des Menſchen nicht geändert. Viel⸗
mehr auf Grund ber Sündenvergebung, auf Grund der Erfahrung
der göttlichen Liebe beginnt ein neuer Erkenntnisprozeß und eim meer
fittlicheer Prozeß. Der Menfh Handelt aus der Einheit mit Gott
heraus; dieſes Handeln kann vollfonmener und. unvolllommener
fein. Bon ben Werken hängt die Rechtfertigung nit ab. Das
Einzige, was fertig ift, pflegte er zu fagen, tft die Rechtfertigung ?).
Altes andere ift im Werden auch bei dem Ghriften.
1) GEs if daher durchaus begreiflih, ba Dorner in einer vom ihm ver⸗
faßten Denfichrift des evangeliſchen Oberkirchenrates diefe Auffaffung ber Recht⸗
488 Dorner
Es erübrigt und nun, noch einen Augenblic® bei der Auffaffung
Dorners von dem Prozeß der Geſchichte zu verweilen, auf den
er durch feine Grundanſchauung hingewiefen war. Wenn er auch zu⸗
gab, daß die wirkliche menſchliche Entwidelung nicht dem Ideale der
Entwidelung entfpredde, fo nahm er doch an, daß Gott in dem
Lauf der Gefchichte die Menfchheit nie verlaffen habe und daß
zwar durch die Sünde eine Modiſikation in ber Entwidelung ein-
getreten, daß aber nichtsdeftoweniger doch ein Fortſchritt felbft
in der vorchriftlichen Gejchidhte zu erkennen fe. So war er der
Meinung, daß die verfchiedenen vorchriftlichen Religionen, wenn
auch einfeitig und darum teilweife verkehrt, einen wahren Kern in
dem einer jeden eigentümlichen Inhalte beſeſſen haben, daß ein
jebe ein Moment des göttlichen Wefens befonders zum Bemußtfeir
gebracht habe, 3.3. die brahminiſche das göttliche unendliche Sein,
die chinefifche Gott als den Urheber des Maßes, die griechiide
Gott als die Quelle der Harmonte und Schönheit, die hebräifd:
Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit; dag aber alle Religionen der
außerchriftlichen Welt bald mehr bald weniger einen tiefen Zwie⸗
ſpalt zwifchen Gott und der Menſchheit empfinden und nach eine
Verführung traten, daß alle Religionen auf das Chriftentum
binweifen, in welchem Gott die vollendete Offenbarung gegeben
hat, und daß, wie der chriftliche Gottesbegriff alle Momente des
GSottesbegriffs umfaßt und untereinander erft in das rechte Ver⸗
bältnis fett, fo aud, das Wahre aller Religionen in dem Chriften
tum zur Anerkennung komme, wodurd fich dasſelbe eben als die
abfolute Religion erweift, bie alle niederen Stufen ihrer Wahrheit
nach in fich aufbewahrt.
Rechtfertigung gegen Hengftenberg verteidigte, und es ift das nicht etwa ein
kirchenpolitiſches Manöver feiner Tendenz nad) gemwejen, wie es im ber „Se
maine religieuse‘ 16. Auguft 1884 angedeutet wird. Das ift um fo mehr be⸗
greiflich, al® er zu erkennen glaubte, daß mit ber Verfälfchung der Recht⸗
fertigungsiehre der evangelifhe Standpunkt mehr oder weniger verlaffen werben
müffe und geſetzliches Wefen in der einen oder andern Weife in der Kirche
Einzug halte D. B. Weiß fagt in feinem Nachrufe in den „Fliegenden Blät-
tern”: „Die Rechtfertigung war die Seele feiner ganzen Theologie, ein Glaubt,
der eben weil er des ewigen Heiles gewiß macht, die Leuchte für jedes Er-
kenntnisſtreben und die Kraft eines neuen Lebens wird.“
Dem Andenken von D. 3. X. Dorner. 439
Diefe abjolute Religion felbit Hat er dann in ihrer urſprüng⸗
lichen Geftalt und Neuheit in feiner neuteftamentlihen Theo-
logie zur Darftellung gebradt. Sie war der Ertrag feiner exege⸗
tischen Forfchungen, die er auch in einzelnen exegetiſchen Vorleſungen
befonders über Evangelium Johannis, NRömerbrief, Bergpredigt
n. a. feinen Schülern mitteilte, Vorlefungen, welche troß ftrenger
Handhabung einer exregetifchen Methode, welche den Kreis der mög»
lihen Auslegungen umfchrieb, um jchlieglih nach Ausſchließung
der nicht annehmbaren, die ihm richtig fcheinende Erklärung als
Refultat zu erweiſen, ungeſucht zugleich einen erbaulichen und
praftifchen Charakter trugen. Einerſeits fuchte er zu zeigen, wie
das Chriftentum auf einer neuen That Gottes beruhe, die ber
Empfänglichkeit der Sehnfucht entgegenfommt, die in der Menfch-
heit vorhanden war. Anderjeits zerfällt ihm auch die Urzeit in
verschiedene Stufen. In Chriftus wie in den Chriften ift die
Einigung des Göttlichen und Menfchlichen gegeben, aber in Ehrifto
urfprünglih, in den Chriften abgeleitet; daher zerfällt ihm bie
neutejtamentliche Theologie in die Darftellung Chrifti, feines Les
bens und feiner Lehre und in die Darftellung der Art, wie bie in
Chriſti Perſon realifierte Gottmenſchheit in die Chriften eingeht
und von ihnen aufgefaßt wird. In letzter Beziehung findet Dorner
Stufen der Aneignung des chriftlichen Prinzips. Der zweite Teil
der neutejtamentlichen Theologie zeigt Hauptfächlich drei Stufen,
einmal das Chriftentum im Anſchluß an das Alte Zeftament (an
das Sittengefeg: Jakobus, an das Zeremonialgeſetz: Hebräerbrief,
an die Prophetie: Petrus), ſodann das Chriſtentum in ſeiner Neu⸗
heit im Gegenſatz gegen das Alte Teſtament bei Paulus, endlich
das Chriſtentum als die „abſolute Religion“ über den Gegenſatz
hinaus in den Johanneiſchen Schriften. So ſtellt das Neue Teſta⸗
ment das Chriſtentum in feiner perſönlich prinzipiellen Erſcheinung
in Chriſto dar, ſodann in ſeinem Verhältnis zu der bisherigen
Entwickelung, in ſeinem Anſchluß an dieſelbe, in ſeinem Gegenſatz
gegen dieſelbe, endlich in ſeiner eigenen Selbſtändigkeit und inneren
Vollkommenheit als abſolute Religion. So iſt die Schrift ſelbſt
ein Produkt des von Chriſto ergriffenen, ihn ſich ſtufenweiſe an⸗
eignenden menſchlichen Geiſtes. An die Periode der Urkirche,
440 Dorner
welche im wefentlichen, wenn auch in verfhiedenen Stufen, die hrift-
liche Grundthatſache und Grunderfahrung wiederſpiegelt, ſchließt fid
die Entfaltung des chriſtlichen Prinzips in ber Kirche: und auch hier
nimmt Dorner wieder eine Stufenreihe in der Entwidelung an.
In feiner Symbolik ſucht er den Gedanken durchzuführen, def
die hriftliche Heilserfahrung, die ihrem Kern nad) fich gleich bleibt,
Stufen ihrer Aneignung durchläuft. Die Abmormitäten, welche mit
jeder Stufe eintreten, wenn fie ſich einfeitig abfchließt und verfeftigt,
verfeplt Dorner nicht zu berückſichtigen. Zuerſt fei die Reflexlon af
den chriftlichen Inhalt in den Vordergrund getreten, das Ehriftentun
jet als Sache der Intelligenz vorwiegend behandelt worden. Dir
Stufe, weldye beshalb die objektiven Dogmen, den riftlichen Gottes⸗
begriff und die Ehriftologie zur Darftellung bringt, repräfentiert &
griechiſche Kirche. Sodann beginnt die chriftliche Erfahrung, fif
des Willens zu bemächtigen; diefe Stufe erhebt fich auf der vor
hergehenden. Aber auf Grund der gewonnenen Erkenntnis win
nun das Chriftentum als Lebensgefeg aufgefaßt; die Welt wir
für das Chriftentum gewonnen und von ihm durchdrungen; der
objektive Zweck, das Reich Gottes ſoll realifiert, das höchfle Gut
hervorgebracht werden. Es handelt fih Hier vor allem um de
Ausbau der Kirche und ihrer Organifatin. Diefe Stufe repri-
fentiert die römifche Kirche. Die dritte Stufe ſieht Dorner im
Proteſtantismus befchritten, in welchem die unmittelbare Erfohrung
bewußt in den Mittelpunft geftellt wird und die Hriftliche Perjür-
feit im zentrafen Gemütsleben ſich erfaßt. Ohne daß die Chätie
feit der Intelligenz und des Willens ausgeſchlofſen iſt, tritt hier
doch Gott gegenüber das Bewußtſein des Empfangens in dm
Mittelpunkt, und hierin wirb die Grundquelle der Tugendfraft wie
der chriſtlichen Erkenntnis mit Bewußtfein erfaßt. Es kommt abe
hier befonders darauf an, daß das Subjekt mit der objeltiven
biftorifchen Offenbarung in Chriftus, der aber zugleich ewig lebe
dige Kraft ausübt, fich zuſammenſchließt, daß der einfeitige Sub
jektwismus ansgefchloffen ſei, wie auch anberfeits der einſeltige
Objektivismus, daß das Subjekt der eigenften Erfahrung der WR
hiftorifchen Chriftus offenbar gewordenen göttlichen Gnade fi
teilhaft wiffe, daß alſo Erfahrung und Urkunde ber hiſtoriſchen
Dem Andenken von D. 3. U. Dorner. 41
Offenbarung nicht auseinanderfallen, ſondern in ihrer Einheit und
Zuſammengehsrigkeit erfaßt ſeien.
Wie Dorner die urſprüngliche Heilserfahrung zuerft die Welt
der Intelligenz, dann die Welt des Willens ergreifen und ausge⸗
ftalten läßt, bis der Proteftantismus auf die zentrale Heilserfah-
rung felbft in vollbewußter Weife fich richtet und dieje zum
Mittelpunkt feiner Erkenntnis und Willensrichtung macht, um von
dem Zentrum aus auch bie Arbeit der vorhergehenden Stufen neu
aufzunehmen und zu verwerten, jo betrachtet er in feiner Gefchichte
der proteftantiichen Theologie die Stufen, welche der Proteftantie-
mus bis jett durchlaufen Hat. Wenn in feinem Urfprung ein
fräftiger Zufammenfchluß der fubjeltiven Heilserfahrung mit dem
objektiven in Chrifto erjchienenen von der Schrift urkundlich bes
zeugten Heil gegeben ift, fo tritt doch diefer Zufammenfhluß
felbft noch in unmittelbarer Weife auf. Er glaubt daher, bag
die Entwidelung zunächit jedes ber Momente, das objektive und
da8 ſubjektive für fih und darum in einfeitiger Weiſe ins Auge
gefaßt habe, daß einer einfeitigen Schrifttheologie, welche als letzte
Duelle die Schrift, die objektive Autorität derfelben erfaßte, ohne
völlig die Erfahrung fallen zu lafjen, eine ebenfo einfeitig dem
biftorifchen Prinzip abgewandte ſubjektiv⸗idealiftiſche Richtung gegen-
übergetveten ſei, bis die neuere Zeit insbefondere feit Schleier-
macher, Schelling und Hegel an dem Verſuch arbeite, in wiſſenſchaft⸗
licher Weiſe die objektive Seite und die ſubjektive Seite, das Hiſto⸗
riſche und Ideale, bie Schrift und die fubiektive Glaubenserfahrung
zu einer volleren Einheit zufammenzufchließen. Indem dies geſchieht,
wird es zugleich möglich, von diefer Einheit aus die Erlenntnis
zu einer höheren Stufe zu erheben, eine volllommenere Gotteslchre
und Ebhriftologie anzuftreben (in der Theologie 3.8. die Einheit
des fittli Notwendigen [objektiven] und des Freien [jubjektiven]
gegenüber dem mittelalterlichen Thomismus, der das Notwendige,
und Skotismus, der das Freie als Willkür betonte, geltend zu
machen) und ebenfo auch das chriftliche Prinzip nad der Willens-
feite bin durch Kirchliche Organifation und Liebesthätigkeit zu ent⸗
falten: und hierin fand er die Hauptaufgaben der Gegenwart für
Theologie und Kirche.
442 £ Dorner
Obgleich alſo in der dhriftlichen Entwidelung keineswegs ein
normaler Verlauf behauptet wird, fo verfucht Dorner doch einen,
wenn auch durch zum Xeil gegeneinander fich abfchließende Ein-
feitigfeiten hindurchgehenden Fortfchritt in der religids⸗ethiſchen Ge⸗
fhichte der Mienfchheit zu erſchauen. ALS allgemeinften Teitenden
Gedanken für dieſe Betrachtung der Geſchichte kanu man vielleicht
diefen bezeichnen, daß der menfchliche Geift, der die göttliche Offen:
barung ftufenweife empfängt, diefelbe auch ftufenweife fi) aneignet,
und indem er auf Grund derfelben fich zugleich ethifch bethätigt,
jedesmal Produkte hervorbringt, weldhe die jedesmal objektive Bafis
für feine weitere felbftthätige Entwidelung und feine ethiſchen Her⸗
vorbringungen bilden, wie auch die Empfänglichkeit Gott gegenüber
fteigernd modifizieren.
Ahnlich Hat Dorner auch die Geſchichte der Chriftologie bes
handelt. Auch bier fuchte er von einer eminenten Gelehrſamleit
unterftüßt zu zeigen, wie das Berftändnis ber Berjon Ehrifti in
der chriftlichen Kirche von Stufe zu Stufe fortgefhritten fei *).
Es ift in der erften Zeit das Bewußtſein feitgeftellt, daß in Chriſto
das Göttliche und das Mienfchliche geeint fei und biefe Erfenntnie
durch Ausfchlug von immer feineren Formen des Ebjonitismns
und Dofetismus zu immer klarerem Bewußtſein gebracht. Indem
aber zugleih die Momente des Göttlichen und des Menfchlichen
für fich firiert werden, entfteht die Zweinaturenlehre und bie Auf:
gabe einer konkreten Beftimmung des Wie der Vereinigung beider
Naturen, des göttlihen und menſchlichen Faltors. Zunächſt über-
wiegt bei den Berfuchen der Bereinigung bis zur Reformationgzeit
die göttliche Seite, nad) der Reformationgzeit die menjchliche Seite;
die dritte Periode feit dem Anfang unferes Jahrhunderts fucht die
Perfon Ehrifti als Einheit des Göttlichen und Menfchlichen im
Gleichgewicht und Unterfchied beider Seiten zu erfennen. Wie ihn
bier der Gedanke leitet, daß aus der unmittelbaren Einheit die
Fixierung ber in der Einheit unmittelbar verbundenen Momente
hervorgeht und dann wieder die Aufgabe erwädhft, die Verbindung
1) Bol. Entwidelungsgefchichte der Lehre von der Perſon Chriſti. 2. Aufl.
I, ©. 119. „Glaubenslehre“ II, 1. ©. 300f.
Dem Andenlen von D. 3. X. Dorner. 448
der Momente näher zu erforfchen, was in der bezeichneten Weiſe
mannigfaltig gejchieht, fo batte er auch bei anderen Dogmen bie
Tendenz, die Hauptanfichten, welche im Laufe der Gejchichte über
diefelben hervortraten, al8 ebenjo viele Momente zu betrachten, welche
ftufenweife erfcheinen und alle Berüdfichtigung verdienen. In ber
Berföhnungslehre 3. B. fuchte er die Hauptanfichten entjprechend
den Hauptmomenten des Gottesbegriffs, welche einfeitig firtert wer⸗
den, zu begreifen; demgemäß findet er einſeitig phyſiſche, äfthetifche,
logiſche, abſtrakt juridifche, moralifche oder einfeitig veligiöje, auf
die Liebe Gottes einfeitig zurückgehende Auffafjungen der Verjüh-
nung, welche in objeftiver wie in ſubjektiver Form, in erfterer in
der Älteren, in letterer in der neueren Zeit auftreten *); ebenfo
juht er dasfelbe inbezug auf die Ponerologie ?) durchzuführen.
Diefe Auffaffung der Gefchichte, nach welcher ſich in derjelben
Stufen der geiftigen Entwicelung offenbaren, ift Dorner mehrfad)
als Geſchichtskonſtruktion in Hegelſcher Manier verdacht worden.
Indes wird man nicht leugnen können, daß, wenn man nicht ein⸗
fach bei einer Regiſtrierung und Aneinanderreihung der einzelnen
geſchichtlichen Thatſachen ſtehen bleiben will, die Auffaſſung der
leitenden Geſichtspunkte immer zugleich durch die eigene Welt⸗
anſchauung bedingt iſt und ſein wird, und es kommt nur darauf
an, ob dieſe Weltanſchauung ewigen Wahrheitsgehalt in ſich birgt
oder nicht. Auch wird man umgekehrt ſagen müſſen, daß die Rich⸗
tigleit einer Anſicht über den Zuſammenhang der geſchichtlichen
Entwickelung in dem Maße ſich ſteigert, als dieſelbe imftande iſt,
den verſchiedenen Standpunkten, welche hiſtoriſch aufgetreten ſind,
gerecht zu werden und zu erkennen, was dieſelben an Wahrheits⸗
gehalt gefördert haben, der niemals verloren gehen darf. Jeden⸗
falls iſt eine Theologie um fo größer, ſteht auf um fo höherer
Warte, je mehr fie imftande ift, fremde Standpunkte zu würdigen.
Auch ſah Dorner ftets das allein als das rechte Ziel der Polemit
1) Bgl. „Staubensiehre” II, 2. ©. 608 f.
2) Bol. „Glaubenslehre“ II, 1. ©. 132. Auch die Schilderung der chriſt⸗
hen Bott ebenbilblichen PBerfönlichleit in feiner Ethik entjpricht den Haupt»
momenten des Gottesbegrifis.
Theol. Stud. Yabrg. 1886. 29
4A Dorner
an, die Wahrheit, welche der Gegner vertritt, ans den Einfeitig-
feiten, in welche fie verftridt ift, zu befreien, und hierzu war die
Theologie Dorners in hohem Maße befähigt.
Das bewies er auch in dem perfünlichen Verkehr befonders
mit Studierenden 4), „indem er ebenfo ftreng Konfeffionelfe wie
negativ Gerichtete, Kantianer wie Herbartianer und Empiriften zu
Worte kommen ließ und fih mit den Gründen, die fie für ihre
Standpunkte geltend machten, mit aller Ruhe, Objektivität und
Freundlichkeit auseinanderfeßte*.
Auch in der Kirche war er aller Enge fremb und wollte, daß
im Intereſſe der fortjchreitend tieferen Erfaffung der Offenbarung in
Ehrifto und des Fortſchrittes des ethifchen Lebens Luft und Licht
frei erhalten bleiben. Denn fo jehr er gerade auf die Prinzipien
der Reformation zurüdging, fo wenig glaubte er, daß die Refor⸗
mationszeit den abfoluten Höhepunkt chriftliher Erkenntnis dar-
ftelle. Dem entſprach feine Thätigleit auf der Generaliynode von
1846, wo er mit Nisih und Julius Müller auf eine Lehrordnung
drang, welche der Entwidelung freien Spielraum gewähren follte;
ebenfo Hatte Hierin ein harter Streit mit der ftreng Iutherijchen
Geiftlichleit in Hannover feinen Grund, wo er ein Gutachten der
Göttinger Fakultät abfaßte, nicht minder feine jchonende Behandlung
der „freifinnigen* Theologie, welche er im hannoverjchen wie im
preußifchen Oberfonfiftorium in einer Reihe von Fällen zur Gel⸗
tung bradte. Und wie es ihm vor allem um die Perföntlichkeit
zu thun war, fo haßte er «8, wenn man einzelne Perſonen in
Bauſch und Bogen verurteilte, weil fie beftimmten Richtungen an-
gehören, und fuchte bem in Theologie und Kirche fich leider immer
mehr breitmachenden Unweſen zu fteuern, die Leute nach Partei⸗
etifetten zu beurteilen, wie er in diefer Hinfiht oft im Scherz
auch von einer gegenfeitigen Lobesaſſekuranz reden konnte.
Der Reichtum, welder ſich in den verjchiedenen Zweigen der
Reformationskirchen barjtellt, follte nicht durch gegenjeitige Abfper-
rung verfümmert, fondern zu gegenfeitiger Befruchtung verwandt
werden. Daher feine hervorragende Thätigfeit für die evangelifche
1) Nachruf im „Schwäbifchen Merkur” 24. Auguft 1884.
Dem Andenken von D. 3. A. Dorner. 445
Alltanz, bie er häufig — fogar die Verſammlung in Newport —
bejuchte, daher auch feine Thätigkeit beſonders im preußifchen Ober⸗
firhenrate zur Gehaltung der Union. Wie er in feiner Ethik gel-
tend machte, daß die Welt der „erften Schöpfung“, nad ihrer
natürlichen Seite wie nach Seiten der ethifhen Produfte von dem
Chriftentum nicht abforbiert werden folle, fo wollte er auch das
proteftantifche kirchliche Leben in Deutjchland mit dem nationalen
Leben verbunden willen und eime proteftantifch » deutiche National-
fire war eine feiner Lieblingsibeeen, für bie er in Schrift und
Wort eintrat. Mit ber ihm eigentümlichen Zähigkeit pflegte er
die Anfänge zur Verwirklichung derjelben durch rege Beteiligung
an der Eiſenacher Konferenz der Kirchenregimente, deren Be⸗
deutung er duch Zuziehung von Synodalmitgliedern zu fteigern
wünfchte. |
Weil er ferser auf die Berfönlichkeit in feinem SKirchenbegriff
ein fo großes Gewicht Tegte, fo vertrat er, durch eine nach der
Studienzeit nah England unternommene Studienreiſe in dieſer
Richtung bejtärkt !), die Auficht, daß bie deutſchen Landesfirchen
durch Die Lebendige Beteiligung der Laien au den Firchlichen und
religtöfen Angelegenheiten nen belebt werden müſſen. ‘Dem ent-
ſprechend war er ein Freund der jynodalen Einrichtungen, arbeitete
für diefe Idee — eine Verbindung des FTonfiftorialen mit dem
preöbpteriafen Elemente, auch hierin an die gegebenen Traditionen
da8 Neue antnäpfend — in Hannover und befonders in Preußen,
jchon auf der @eneralignode 1846, nicht minder aber feit feiner
Berufung in den enangelifchen Oberkirchenrat wie auf Kirchentagen.
Dieſe Zuziehung der Laien für die kirchliche Organifation follte
aber zugleich auch das religiöſe Intereſſe und die Luft an der
Bethätigung desfelben werden, und es fohlte duch die offizielle Be⸗
tiligung der Laien an der kirchlichen Organifation auch eine
1) Er Bat fon vorher als Bilar feines Baters in Neuhaufen auf eine
Ändernsig der Kirchenverfaſſung gebrungen. In der von ihm verfaßten Auto-
biographie, welche leider nur bis zu der Mepetentenzeit fortgeführt ift, ſchreibt er:
„Bon unſerer Diöcee ging, während ih in Neubaufen war, auch eine Petition
ın den Landtag, worin wir um eine Kirchenverfaffung baten, für welche ich
nich lebhaſt intereſſierte, ſeitdem die Idee der Kirche mich gefefjelt hatte.”
29*
446 Dormer
Befruchtung der freien Xhätigkeit erzielt werden, welche im der
inneren Miffion im Gange war. Letztere bat er ſtets auf das
wärmfte unterftäßt; er bat in Bonn felbft innere Miſſion ge-
trieben, den „Geiftern im Gefängnis gepredigt“, wie er von feinen
Beſuchen der Strafanftalt fagte, er war langjähriges Mitglied des
Zentralausjchuffes für innere Miffton und hielt gerade die Thätig⸗
feit, welche auf freie Weife den einzelnen Perſönlichkeiten nachgeht,
für den geeignetften Weg, auf welchem die proteftantifche Kirche
zur Löſung der fozialen Frage beitragen könne. Er bat auf der
Konferenz in Magdeburg einen Bortrag — den legten öffent-
lichen — gehalten, in welchem er einen Überblick über die außer⸗
ordentliche Ausbreitung dieſes Werkes gab, der wohl geeignet ift,
zu zeigen, welchen Einfluß auf das Vollsleben diefe freie Thätig⸗
feit ausüben Tann ?).
Es ift oben ausgeführt worden, welches Gewicht Dorner auj
die heilige Schrift legte. Dem entfpricht e8, daß er an der Rich⸗
tigkeit der Überfegung derfelben mit dem gejamten Proteftantisumus
das größte Intereſſe haben mußte. Indes war e8 doch noch ein
befonderes Intereſſe, das ihn zu einem der Hauptoorfedhter der von
der Eifenacher Konferenz in Angriff genommenen Bibelüberfegungs-
revifion machte, über die er im Oberkirchenrat das Referat hatte.
Gegen eine Änderung der Iutherifchen Bibelüberfegung wurde von der
foufefftonellen Richtung ftarle Oppofition gemacht; diefem Traditio⸗
nalismus gegenüber, der auch wieder einen gejeglihen Zug au fidh
trug, machte Dorner das Hecht der proteftantifchen Kirche geltend,
auch an den Werken ihrer Väter Kritif zu üben und die Reſultate
einer fortgefchrittenen Wiffenf haft auch ihnen gegenüber zu ver-
werten. Er wollte verhindern, daß aus der Iutherifchen Bibel⸗
überfeßung eine Art Vulgata werde. Es handelte fi ihm bei
diefer Arbeit um ein Prinzip. Zu gleicher Zeit mochte ihn babei
wie bei jo mandem andern Werke das Bewußtſein leiten, daß bie
Wiſſenſchaft ihre Früchte auch in der Praxis bringen müfle, daß
nichts fchäblicher fei, als wenn fich die Wirfenfchaft dem Bolks⸗
leben entfrembe, ftatt dasfelbe gejund zu befruchten: und wo konnte
1) Bol. den Nachruf von B. Weiß in den „Hliegenden Blättern”, ©. 6,
Dem Andenken von D. 3. A. Dorner. | 447
mehr eine ſolche Fruchtbarkeit der Wiffenfchaft fich zeigen als bei
der Überfegung des religiöfen Volksbuches zus’ Foxijy? Das find
die Ideale, die ihm bei diefem Werke vorjchwebten.
Inbezug auf eine andere das Volksleben in feinen Wurzeln bes
rübrende Frage hat er ebenfalls praftifch eingegriffen. In der
von ihm verfaßten Denkichrift des evangelifchen Oberkirchenrates
über die Sonntagsfrage fordert er die Verbindung religiöfer Er»
bauung mit ethifch-notwendiger Erholung, befonder& in der freien
Sefelligkeit, feinem ethifchen Grundſatze gemüß, daß das menschlich
Sittliche, weil es in fi wertvoll ift, von dem Neligidjen nicht
darf abforbiert werden. Es zeigte fich Hierin ferner auch die Kon
jequenz feiner Unterſcheidung von Geſetz und Evangelium, indem
er einer puritanifchen gefeßlichen Auffaffung der Sonntagsheiligung
abgeneigt war. Diefe Durchführung des evangelifchen Standpunftes
ag ihm in feiner praftifchen Thätigkeit überall am Herzen. Wie
das Dogma nicht zum Lehrgeſetz werben follte, fo fuchte er zu
wehren, daß die erziehende Tchätigkeit der Kirche befonders in der
Kirchenzucht in Gefetzlichkeit ausarte; die Kirche follte nie aus dem
Auge verlieren, daß fie e8 mit der Pflege der Neligion zu thun
hat, welche Sache freier Überzeugung ift, und daß ihr Ziel fein
muß, mündige Berjönlichleiten heranzubilben. Daher er auch bei
Beratung der preußifchen Kirchenverfaffung die Furcht nicht zu teilen
vermochte, welche viele vor ben „Schlußbeftimmungen“ hatten, weil
er von dem Bertrauen auf die in den Perfünlichkeiten freiwirkende
Kraft des Evangeliums befeelt war.
Schließlich ſei noch ein Punkt erwähnt. Weil ‘Dorner den
vorchriftlichen Produkten des fittlichen Schaffens, der Welt der
erften Schöpfung ihren Wert zuerfannte und ihre Selbftändigfeit
verfocht, verteidigte er die Unabhängigkeit und Würde des Staates
und befämpfte — Hierin mit Lutheranern wie Harleß eins — die
Stahlſche Idee eines chriftlichen Staates, in welchem er nur eine
Zurückſchraubung des Ehriftentums auf geſetzliches Weſen zu fehen
vermochte. Dasjelbe aber machte er inbezug auf die Ehe geltend.
Eben daher Hat er auch in feiner praftifchen Wirkfamkeit die Ber
rechtigung des Staates, die Zivilehe einzurichten, anerfannt und von
der Kirche bie Anerkennung der Zivilehe als Ehe gefordert, eben
448 Dorner
daher auch mit ber neuen firdhlichen Ehegeſetzgebung in Breuken
fig nicht völlig befrennden können.
Ebenfo aber fand er in dem Kampfe des Staats mit dem
Ultramontanismms umentwegt auf der Seite des Staates; er faßte
feine Anfiht in einer Rede, bie er auf bem Berliner Rathaufe
hielt, in die Worte zufammen: der Staat muß Herr in feinem
Haufe fein. In dieſem Sinne begrüßte er die Falkſche Gefek-
gebung ihrem Kerne nad als einen großen Fortſchritt. Daß er
ebenfo als furchtloſer Patriot das Wort zu ergreifen fi nicht
fchente, wo er es für feine Pflicht hielt, das hat er unter anberem
anf dem Stuttgarter Kirchentage bewieſen, wo er für den be⸗
drängten Brubderftamm in Schleewig - Holften mannhaft eintrat.
ie hätte er auch anders handeln follen, da er als die Aufgabe des
Staates — auch Hier an feine Gotteßichre aufnüpfend — anfah,
immer mehr das Abbild ber göttlichen Gerechtigkeit auf Erden zu
werben] ?)
&o war Dorner ein Mann, der danach ftrebte, nicht nur
Glauben und Wiſſen zu verfühnen und eine in jih zufammen-
hängende Weltanfhanung auszubilden, ſondern aud) diejelbe prak⸗
tifch zu bethätigen, ein Dann aus einem Buffe, und hierin (ag das
Geheimnis feiner umfaflenden und tief eingreifenden Wirkſamkeit.
Im beften Sinne des Wortes war er Ybealift; mit feiner Grund-
überzengung von dem Fortſchritt des Chriftentums und der Huma-
nität, die fich nicht ansfchließen follten, hing e8 zufammen, daß er
ein Dann der Hoffnung war, der fi über die Welt zu erheben
vermochte, über die Enttänjchungen, die fie auch ihm brachte.
Darum wußte er, wie ihm im Scherz gefagt wurde, eine olym⸗
pifche Ruhe zu bewahren. Als eine innerlih harmoniſche Perfön-
Cichteit war er zum Optimismus geneigt, fuchte alles zum beften
zu fehren und, wo es irgend möglich war, einen Anfat von Gutem
zu finden, an den man anknüpfen könnte. So wurde er vielen
1) Obgleich ſchwer Ieidend, begab er ſich auf jeiner letzten Reife nach Rüdes⸗
heim, um das Niederwalddenkmal noch mit eigenen Augen zu fehen und fich
an biefem Tünftlertfchen Symbol der neuentfiandenen Einheit und Blüte bes
dentſchen Baterlandes zu erquiden; und bier ereilte ihn ber tödliche Blutſturz.
Dem Andenken von D. I. X. Dorner. 4
ein Wegweiſer für ihr Leben ). Dorner bielt den rechtfertigenden
Glauben für den Mittelpunkt des Chriftentums. Aber der Glaube
war ihm triebfräftig für das fittliche Leben und wie er theoretifch
bier ein ftufenmweifes Fortſchreiten behauptet, jo hielt er praftiich
und perſönlich bis zum legten Atemzuge die Hoffnung feft, als
„den Glauben, der in die Zukunft fchaut“.
In der Gegenwart aber übte er eine raftlofe Thätigkeit, und
nie ermüdete er, fein Willen zu bereichern in allen Gebieten. War
von irgendeinem intereffanten Gegenftande bie Rede, über ben er oder
wir nicht im Haren waren, fo pflegte er oft in feine ausgezeichnete
Bibliothek zu gehen, die fein Stolz war, und uns fofort durch ges
meinfame Lektüre zu orientieren. Wenn er aud der Stepfts Feind
war und befonders dem Hochmut, mit dem fie oft auftritt, fo
machte er doch felbft auf die Grenzen unferer Erkenntnis aufmerk⸗
ſam. Er fagt 3. B. in einem Briefe vom Jahre 1871: „Kann
man bei der Schleiermacherſchen und Altichellingichen Anficht von
einem nur quantitativen Unterfchied von Geiſt und Natur doch
fefte Unterjchtede herausbringen für die göttlichen Cigenfchaften
(ethifche und phyſiſche), jo will ich über diefen ſchweren Punkt
nichts gefagt haben, der mir felbft noch nicht ficher fich geftaltet
bat.” Aber nicht nur durch Studium fuchte er fich zu bereichern;
der anregende Austaufh mit Freunden war ihm nicht minder Bes
dürfnis 2). Seine Perjünlichkeit fuchte er im Verkehr mit andern zu
bilden und zu fördern. Davon zeugen auch die Mitteilungen,
welche mir einer feiner nüchften Breunde (D. Herrmann) über die
Zeit feiner Wirkſamkeit in Kiel gemacht hat, und die hier eine
Stelle finden mögen. „Dorner“, fo fehreibt er, „fand für feine
1) Heinrici fagt in den „Deutfchrevangelifchen Blättern“ Hft. IX: „Dorner
war (den Schlilern) mehr als der Vermittler der theologifchen Bildung; er war
ihnen die lebendige Verwirklichung der Eurythmie der chriftfichen Perfönlichkeit,
die in der Schlichtheit und Güte einer flarten Seele fich ihnen kundgegeben
hatte,“
3) Jeep fagt a. a. DO. ©. 5: „Es hätte ihm ein Lebenselement gefehlt,
wenn er nicht auch in Berlin einen engeren Kreis von Berufsgenoffen zu
fruchtbarer Sejelligfeit hätte fammeln können; denn im Freundesverkehr erichloß
fich am reichften fein Herz und Geiſt. So ſuchte er auch nach diefer Seite hin
ben Begriff ber Univerfität lebensvoll zu verwirklichen.“
450 Dorner
Wirkſamkeit ein fehr bereites ımb empfängliches Feld in Kiel vor.
Die theologiſche Jugend zeichnete fich durch ein Lebhaftes Erkenntnis:
bedürfnis aus, und raſch gewann Dorner durch Borlefungen und
perfünlichen Verkehr die Stellung des einflußreichften und gelieb-
teften Lehrers. Seine Vorlefungen umfaßten außer ber Dogmatit
und Ethik einen großen Teil der Exegefe, der Synoptiker, des Evan⸗
gelium Johannis, des ARümerbriefes, ferner die Theologie des Alten
und Neuen Teftamentes und vor allem die damals ſchon mit Vor:
liebe von ihm gepflegte Gefchichte des proteftantifchen Lehrbegriffs,
in welchem er den Grund zu feiner Gefchichte der proteftantifchen
Theologie legte. Alle mit ibm im der theologifchen Fakultät zu-
fammenwirfenden Genofjen fanden fi durch ihn in ihrem Streben
gefteigert und unterftüßten ihn gerne und neidlos, jo daß eine aud
von der jungen Welt tief empfundene Harmonie des wifjenfchaft:
fihen Zuges bie Fakultät zuſammenſchloß. Charalteriftifch aus
bem Einfluß der theologischen Bildung feiner ſchwäbiſchen Heimat
berrührend war da8 den Schleöwig-Holfteinern durchaus Tongeniale
Streben nad philofophifcher Vertiefung und Ergänzung der theo-
logischen Erkenntnistheorie. Alte feine theologiſchen Kollegen fanden
ihm nahe, objhon mit Mau, Belt und Thomfen ein befonders
enges Verhältnis beftand. Von ben praktifchen Geiſtlichen war
Claus Harms e8 vor allen, der durch feine Predigten ihn in feinem
inneren chriftlichen Qeben förderte, ohne daß ihn die Zeichen der
Hyperſthenie des landſchaftlichen und Tonfeifionellen Bewußtfeins
irgend verlegt hätten. ALS im Jahre 1841 die 2djährige Wirk:
famteit von Harms in der Kieler Gemeinde feitlich begangen wurde,
beteiligte fih Dorner an berfelben durch Überreichung der Schrift
„Das Prinzip unferer Kirche nad dem inneren Verhältnis feiner
zwei Seiten”. Diefes Thema, das ihm Thon lange im Sinne
Tag, hat ihn bis zu feinem Lebensende bejchäftigt. Auch die nicht:
theologifchen Kreife Kiels empfanden und genofjen den erfrifchenden
Einfluß des neuen Kollegen. Bald nad) feiner Ankunft ſchloß fid
eine während des ganzen Lebens ausharrende und fruchtbare Freund⸗
Ihaft mit E. Herrmann, in welcher gerade die Richtung auf bie
Erkenntnis des proteftantifchen Prinzips und beffen Verwirklichung,
bon deſſen Feſtſtellung aus Dorner die gefunde Entwidelung ber
Dem Andenken vor D. 3. A. Dorner. 451
Reformation zur evangelifchen Theologie und Kirche erwartete,
vorzugsweife das treibende Motiv war und blieb. Ein dritter
in diefer Gemeinfchaft war der Philoſoph Ehalybäus. Die drei
Männer hatten einen engen wiljenfchaftlichen und fozialen Verkehr
und genofjen auch die Schönheiten des Landes und die Annehm⸗
Iichleiten der Umgebung in gemeinfamen Touren, welche befondere
gerne nad der Inſel Alfen und nach Lübed unternommen wur-
den. Genoffen derfelben waren häufig nahe verbundene Kollegen,
unter welchen vor allen Waig als ein erwünfchter Begleiter und
hochgehaltener Freund genannt werde. Nach dem allem war Dorner
in der Lage, ber Univerfität Kiel nicht bloß von dem Seinigen zu
geben, fondern auch von ihr und dem Lande reichlich zu empfangen.
Die vaterländifchen Fragen deuteten damals nur in vereinzelten
Erfcheinungen ihren großen Ernft an. Unter diefen andeutenden
Ereigniffen fei erwähnt, daß, als Dorner und Herrmann eine ges
meinfame Reife nach Kopenhagen machten, eine Audienz, die ihnen
der damalige König Chriſtian VIII. bewilligte, die Gefahren vor
ihre Augen rückte, die vonfeiten der immer mächtiger werdenden
Bartei des dänischen Einheitsftaates drohten. Dorner hatte gegen
die Tönigliche dee, eine Tutherifche Gefamtlirhe der Monarchie
duch Einführung einer einheitlichen Liturgie herbeizuführen, feinen
Widerſpruch geltend zu machen, während Herrmann vor ber Aus»
führung des Gedanfens warnen mußte, eine bänifche Rechts⸗ und
NReichseinheit durch eine einheitliche Strafgefeggebung anzubahnen.
Unter den Kopenhagener Gelehrten, mit denen fie verkehrten, konn»
ten fie einen Eifer für ſolche Ideale nicht wahrnehmen. Den Ins
tereſſen ber Wiffenfchaft ernftlich Hingegeben, ſchienen fie nur dafür
begeiftert, daß das dänifche Glied der germanifchen Völkerfamilie
durch feine Leiftungen für die gemeinfamen Kulturaufgaben eine
bedeutende Stellung einnehme und dafür anerkannt werde.“
Unter den bänifchen Gelehrten war Dorner befonderd eng mit
Martenſen verbunden und hat diefe Verbindung durch einen regen Brief-
wechfel bis an das Ende des kurz vor ihm heimgegangenen Freundes
gepflegt, ein Briefwechſel, in welchem beide Männer ihre theologiſchen
Überzeugungen, ihre Anfichten über neue Erfcheinungen in der Wiſſen⸗
ſchaft gegenfeitig austaufchten, aber auch die kirchenpolitifchen und
452 Dorner: Dem Andenken von D. J. U. Dorner.
vaterländifchen Bewegungen beiprachen, ohne daß durch ben natie
nalen Gegenfag je ihre Freundſchaft eine Trübung erlitten hätte
Seinen univerfellen Beift bewährte Dorner perjönlich durch die
vielen und mannigfaltigen freundfchaftlihen Beziehungen, die er
mit bedeutenden Männern der verfchiedenen Fakultäten, mit hervor
ragenden Praktikern in Staat und Kirche im eigenen Vaterland
wie über die Grenzen des beutfchen Baterlandes hinaus beftändig
unterhielt und mit der ihm eigenen Treue und Bietät bewahrte.
Einem amerikanifchen Freunde fagte er, fich ſelbſt charakterifieren,
„I regret that we cannot as often as we wish talk over im-
portant theological questions of the day. Iam of a diologistic
nature and in conversation with friends I succeed best in
clearing up hard points for myself.“ Als ihm dann im Laufe
ber Jahre fo mancher Freund genommen wurde und er fchlieklih
fich felbft in feiner Thätigkeit mehr und mehr eingefchränkt fühlte,
da hat er mir einft in den folgenden denkwürdigen Worten feine
Stimmung ausgefprochen, mit denen ich dieje Erinnerungsbfätter
Schließe. „Man muß daran fefthalten: Keiner ift unentbehrlich, im
Gegenteil, wenn das, was er repräfentiert, gewirkt bat, fo könnte
ein längeres Wirken auch hindern und ben Gang erfchweren.
Jeder Zeit giebt der Herr der Kirche doch das, was fie bedarf.
So lange aber Kraft und Odem noch in und [ebt, haben wir aud
eine Aufgabe, und es ift, wie wenig wir feien, für das große
Ganze auch auf uns und unfere Gabe gerechnet.” Und während
er derartige Worte ſprach, leuchtete aus dem Liebreichen Auge dab
Feuer der ewigen “Jugend.
Weiß: Über das Weſen des perfönlichen Ehriftenftandes. 458
%
2.
Über das Weſen des perfünlichen Chriftenitandes.
Zweiter Artikel ’).
Poftine Entwickelung.
Bon
Dr. Sermann Weiß,
Profefior in Tübingen.
I.
Wir Handeln fpeziel nur von dem perſönlichen Lebens—
ftande des einzelnen Ehriften, wie er feinem wejentlichen
Inhalte nah unter dem Xitel des ordo salutis innerhalb der
Dogmatif und meiftend auch in dem erften grundlegenden Zeile
des ethifhen Syſtems bargeftellt wird. Dabei muß freilich auf
die objektive Seite des Erlöfungswerles und auf den Zuſammen⸗
hang des imdividuellen Heilsftandes mit der chriftlichen Gemein⸗
ſchaft Nüdfiht genommen werden. Gehen wir nım gerade davon
aus, daß der perfönliche Lebensftand des Chriften die individuelle
Aneiguung und Verwirklichung deffen darftelle, was in der Berfon
und dem Erlöſungswerke Chriſti objektiv al8 Gabe und Kraft für
die Menfchheit, genaner für die chriftliche Gemeinde, zunächit inner»
halb ihrer irdiſchen Entwidelung gefegt ift, fo folgt daraus un⸗
mittelbar dreierlei: einmal daß dieſer Stand ein fpezififch neuer,
fodann daß er ein im Prinzipe vollfommener, endlich daß er weſent⸗
lich von Gott durch Ehriftum gefchaffen ift und auf dem leben«
digen Zufammenhange des Subjeltes mit Chriftus beruht. Der
Shrift ift durch feine Gemeinschaft mit Ehriftus prinzipiell in den⸗
jenigen Stand verjegt, welcher der Idee der Religion oder Gottes⸗
3) Bol. in dieſer Zeitſchrift Sahrg. 1881, Hft. 8.
454 Bei
gemeinſchaft, zugleich aber auch dem Ideale fittlicher Perſonlichkeit
entfpricht, fein Verhältnis zu. Gott und fein Berhalten gegen den⸗
felben Haben bie normale Geftalt erhalten und ſtellen wenigftens
im Brinzipe die Erfüllung menſchlicher Anlage und Beſtimmung
dar ?). Aber der ueue Stand prinzipieller Bolltommenbeit iſt
weientih Erlöfungsftand durch Chriftum, er ift alfo nidt
bloß entgegengefeßt dem Stande der Unvolltommenheit, fondern bem
alten Leben in Sünde, Schuld und Verderben; daraus vollends
bildet fi, da wir dieſes Leben begrimdet wifjen in dem gleichen
Sefamtzuftande des menfchlichen Gejchlechtes, die unzweifelhafte Er:
fenntnis, daß der neue Lebensftand wefentlich ein von Chriftus
mitgeteilter, durch denjelben im Subjefte gefchaffener, nicht etwa
bfoß ein unter feiner Beihilfe von dem Subjelte erworbener ober
produzierter ift.
Der Rationalismus, um uns vorläufig diefer allgemeinen
Kategorie zu bedienen, kennzeichnet feine Einſeitigkeit und feinen
Irrtum anf unferem Gebiete immer dadurd), daß er die ſpezifiſche
Neuheit, fodann die prinzipielle Bolllommenbeit, endlich den weſent⸗
lichen Urſprung aus göttliher Mitteilung beim Chriftenftande ver-
fennt, ganz entfprechend feiner ähnlichen geringeren Schätzung Ehrifti
felber und feines Erlöſungswerkes. Man hat mit Recht fchon oft
darauf hingewieſen, daß der Nationalismus keinen abfoluten Maß—⸗
ftab an das Menschenleben anlege, fondern immer in Nelativitäten
hängen bleibe. Sünde und Sündenverberben find ihm nichts Ab-
folntes, fie find ihm keine Größe, welche einen reinen pofitiven
Gegenſatz gegen da8 deal darftellt, fondern nur verhältnismäßige
Unvolllommenheit und Tehlerhaftigkeit, darum bildet für diefen
Standpunkt auch Chrifti Erfcheinung und Wirkſamkeit nur einen
relativen Fortfchritt oder Anftoß, feinen abjoluten Wendepunft,
der Chriftenftand ift zwar bedeutend beſſer al8 der vordriftliche
und außerdhriftliche, aber er iſt nicht ein prinzipiell volllommener
Stand, und wie der Ehrift Chrifto gegenüber bei dem Eintritt in
1) Auf Joh. Gerhard Loc. XVII, $ 238 redet fchon in dieſem Simme
von einer perfectio renatorum, noch zu unterjcheiden von dem summus per-
fectionis gradus in lege divina requisitus. gl. Loc, XVIH, 77 ff. 113.
Über das Wefen des perſönlichen Chriſtenſtandes. 455
den Chriftenftand nicht abfolut empfangend, fondern vielmehr mit⸗
wirkend fich verhalten hat, jo hängt auch die Weiterbildung des⸗
ſelben in erfter Linie von feiner Aktivität, von feinem unendlichen
Hortfchreiten ab. Der Chriftenftand ift alfo von dem vorchriſt⸗
lichen und außerchriftlichen nicht prinzipiell geichteden und ebenfo
wenig die GenefiS des Chriftenftandes von der Fortführung des⸗
jelben: der tiefere Grund Biervon liegt darin, daß aud in Chrifto
nichts Abſolutes, nichts ‚fpezifiich Neues und Volllommenes ges
funden wird. Schleiermader Hat belanntlicd eben dadurch den
Rationalismus wirklich überwunden, daß er das volllommene Sein
Gottes in Ehrifto und damit ebenſowohl die Erlöfung der Menſch⸗
beit als die Vollendung menſchlicher Natur, die vollendete Schöpfung
derfelben in ihm ftatuiert Hat und von ihm ans fich auebreiten
läßt („Slaubenslehre” 8 86 ff.). Und entfchiedener kann die fpezi-
fiihe Neuheit und Abfolutheit des Chriftenftandes nicht bezeichnet
werden als durch die Bemerkung Schleiermaders: „Der einzelne,
auf welche dieſe erlöfende Einwirkung (Chrifti) ſich äußert, muß
eine Berfönlichleit erlangen, die er vorher noch nicht
bat“ ($ 106, 1; vgl. 113, 3 und 4 und 108, 4). In der
Behauptung, daß der Chrift in der Gemeinſchaft mit Chriftus eine
fpezififch neue, ja erft überhaupt bie wahre und nun im Prinzipe
volllommene (teligiössfittliche) Perſönlichkeit erlange, Täßt fi) das
Weſen des Chriftenftandes treffend ausdrüden.. Man muß nun
aber nicht nur nad rüdwärts den vorangegangenen Zuſtand der
Unvollkommenheit und Sünde fich voll vergegenwärtigen, fondern
auch an der neuen Perfünlichkeit deſſen, der in Chriſto ift, die
mannigfaltigen Seiten derjelben ins Auge faflen. Neu und im
Prinzipe volltommen ift diefelbe geworden in drei Grundbeziehungen :
in ihrem Verbältniffe oder ihrer Stellung zu Gott, fodann in ihrer
inneren Qualität, endlich in ihrem Verhältniſſe und Verhalten zu
er Welt, fpeziell zu der Menſchheit. Wir dürfen bier nicht vor»
jreifen, um dies. etwa im einzelnen an dem Stande der Gottes»
indfchaft nachzuweiſen, worein der Chrift dur feine Gemein⸗
haft mit Chriſtus eingetreten if. Wenn aber gejagt worden ift,
er Chriftenftand fei unmittelbar in feinem Daſein ein Stand
rinzipieller Volllommenheit, fo ift allerdings damit die Vollendung
466 Bei
diefes Standes felber, die Vollkommenheit im firengen Sinne dieſes
Wortes, von welcher unten zu reden ift, uoch wicht gefekt.
Bon Hier aus lafſſen fih num fon zum Boraus die Ein-
feitigleiten und Berirrungen firleren, in weldje man bei
der näheren Beftimmung des Chriftenftandes hineingeraten kaun
und fchon oft himeingeraten iſt. Es ergiebt fidh kein bloker Forme-
liomus, wenn wir zumächit fagen, die Fehler oder Einſeitigkeiten
entftehen dadurch, daß hinfichtlih des Chriftenftandes entweder
zu viel oder zu wenig gefegt werde und zwar in doppelter
Beziehung, nämlich teil inbetreff feines Urfprungs oder feiner
Bildung teils imbetreff feines Inhaltes oder Refultates. Dabei
find die Anfichten inbetreff des Urfprunges und des Inhaltes ein-
ander ftetd analog. Wenn in beiden zu viel geſetzt wirb, fo über⸗
wiegt da8 Göttliche, und wir gelangen bis zu derjenigen Grenze,
wo da8 Menſchliche ausgeſchlofſen oder doch unterdrückt erſcheint,
meiften® der Abficht nad) zuguniten des religiöfen Momentes, während
das ethiſche mehr oder weniger preißgegeben wirb; umgelehrt verhält
es fich bei derjenigen Auffaffung, weiche im Urfprunge und im In⸗
halte des Chriftentums zu wenig fett.
Nehmen wir zuerft an, es werde zu viel geiekt, und zwar
zunähft im Urjprunge, bei der Bildung des Chriftenftandes,
bzw., da wir unfere Betrachtung hier ebenfo gut bis dahin aus-
behnen fünnen, des gejamten Chriftentums überhaupt, jo wird die
abfolute Neuheit des Chriftentums und die ſchöpferiſche Wirkſam⸗
feit Gottes bei feiner Hervorbringung, alfo nad beiden Seiten hin
Bas Wunder ſeines Urfprungs überfpamt. Es wird die Bor-
bereitung und Anlnüpfung, wie fie in der urjprünglihen Anlage
und im gefchichtlichen Leben gegeben fein könnte, aud die VBorbe⸗
zeitung durch die univerfale Wirkfomleit Gottes, namentlich aber
jede Urt der menjchlicden Bermittelung für die Entſtehung des
Chriſtlichen, entiprechend aljo die Analogie des Vorchriſtlichen und
Außerchriſtlichen ausgefchloffen oder doc, auf ein bedeutungsloſes
Minimum reduziert. Es waltet bier eine Auffaffung, welche den
religiöß-ethäichen Prozeß in einen magifdh-naturaliftiicden verwanbelt,
wie berfelbe der ethilchen Natur Gottes des Heilsurkebers und
gleichermaßen des Menſchen des Heildempfängers und Ehrifti des
Über das Weſen des yerfönlichen Ehriftenftandes. 47
Heilsmittlers widerſpricht. Der fouveräne Wille und die reine
Ichöpferifche Kraftwirkung Gottes (gratia irresistihilis) erfcheint ala
zureichender und faltiſch al8 alleiniger Erklärungsgrund des Chriften-
tums, und die göttliche Art der Wirkſamkeit anf dieſem höchften
Gebiete des geiftigen Lebens trägt alfo einen natwraliftiichen Cha»
rakter. — Ganz entſprechend beftimmt ſich bei diefer Auffaffung
auch der Inhalt des Ehriftentums oder des neuen Lebens. In
demjelben tritt das ibdealiftifche Element, das Perfönliche, Willens-
mäßige, das fpeziftiich Geiftige zurück gegenüber von einem natura-
liſtiſchen Subftantialiemus, auch wird das neue Leben gerne wie ein
ganz fertiges Produkt aufgefakt, dasfelbe erfcheint liber das Werben
und Ringen, wie ed doch zum Charakter alles geiftigen Lebens im
Diesfeits gehört, über die wefentliche Spannung gegen Wechfel,
Unvollkommenheit und Simde durch feine göttlich beftimmte Natur
erhaben, es bedarf höchſtens wie der Keim ber Pflanze entfaltet,
nicht aber eigentlich entwickelt und ebenjo wenig durch befonbere
Anftrengung erhalten zu werden. Man kann, anjchließend an eine
beftinnmte duch Schleiermacher aufgeftellte Parallele („Glau⸗
benslehre” 5 22. 100 und 101, vgl. 113, 4) fagen, die feither bes
jchriebene Auffafjung des Chriftenftandes, bei welcher in Urfprung
und Juhalt zu viel gefegt, d. H. dem göttlichen Faktor ein ein-
feitige8 Übergewicht eingeräumt wird, entfpreche dem Euthchianis⸗
mus oder Monophyfitisumne bzw. dem Doletismus in ber Chrifto⸗
logie. Die Bertreter einer derartigen Auffafjung des Chriſten⸗
ftandes innerhalb der kirchlichen Entwickelung find Leicht zu entdeden,
diefefben lehnen fich einfeitig an gewiſſe Ausfagen von Panlus
und Johannes tim Neuen Xeftamente an. Nach einer Seite
gehören hierher der Auguftiniemus und der reformierte Prüdeſti⸗
nationismus (auch Luther de servo arbitrio), nad einer anberen
Seite alle diejenigen Theorieen, welche bie Wiedergeburt ſchlechthin
über die Rechtfertigung ftellen und nun mehr oder weniger beut-
(ich eine Art von naturaliftiicher Wiedergeburt entweder fchon in
der Kindertaufe oder in dem Progefje der Bekehrung zuftande
kommen lajjen ?) (vgl. Schleiermader 8 88, 4).
1) Bekanntlich führt aber die ertreme Hintanſetzung des Menfchlich» Ge⸗
458 Bei
Die entgegengefeite Berirrung befteht nun darin, daß bei dem
Entftehungsprozefje und in dem Inhalte des neuen Lebensftandes
zu wenig gefeßt wird. Geſchieht dies im Eutftehungsprogzefle,
fo ergiebt fi jene Auffaffung, welche auch heute noch am für-
zeften und anſchaulichſten als Pelagianismus oder doch als pelagia-
nifterend bezeichnet wird. Die menſchlich⸗ natürliche, teils im ber
erften Schöpfung begründete, teils gefchichtlich erarbeitete Borberei-
tung, Analogie und Selbftthätigleit, fowie die univerfale göttliche
Propädentil werben in folder Weife betont, daß eine fchöpferifche
Einwirtung Gottes zur Begründung des neuen Lebens dadurch
überflüffig, ja unmöglid wird. Gott trifft auch durch Chriftum
nur gewifje erleichternde Veranftaltungen (adjuvare), auf Grund
welcher der Menſch fein Heil fchafft und erwirkt, foweit überhaupt
gefagt werden lann, daß diejes auf Erden in einem abgefchloffenen
Momente oder in einem Zuftande faltifch ſchon vorhanden fe.
Denn wenn wir nun auf da8 Reſultat jenes fo aufgefaßten
Prozeſſes blicken, fo ift ja auch im Chriftenftande das Heil nicht
eigentlich vorhanden, auch nicht im PBrinzipe, der Chrift bewegt fid
nur mit größerer Sicherheit und Leichtigkeit auf dem Wege, welcher
zum Heil führt, er bat von Ehriftus aus in feinem Erkennen und
Wollen nur eine unvergleichlich wertvolle Anleitung und Anregung
für fein Streben nad) dem Heil empfangen, durch welche er in
den Stand gejegt ift, bei gehöriger eigener Anftrengung das Ziel
zu erreichen. — Auch diefe Auffafjung läßt allerlei Modifikationen
zu und bat diefelben thatfächlich erfahren, diefelbe lehnt fich etwa
an Jakobus, nod mehr an die Synoptifer an, welde fie
überdie® einfeitig deutet, bat zum Hintergrund einen judaiſtiſch⸗
deiftifchen Gottesbegriff und eine ebionitifche oder ebionifierende
Ehriftologie. Gegenüber von der zuerft befchriebenen Einſeitigkeit
wahrt fie das Mecht des Menfchlichen, des Ethifchen, des Geſchicht⸗
fischen, damit den Zufammenhang des Chriftentums mit dem Vor⸗
fchichtlichen gegenüber von ber göttlichen Gnadenwirkſamkeit bei einzelnen (mie
Zwingli) auch dahin, daß felbft die gefhichtliche Vermittelung Ehrifti zum
Heile nicht unentbehrlich erjcheint. Gott kann durch ſeinen Logos und feinen
Geiſt auch folche jelig machen, welche Ehriftum noch nicht Tennen (vgl. Sch Leier-
macher $ 100, 3; 108, 5. 124),
Über das Weſen des perjönlichen Chriftenftanbes. 459
Hriftlichen und Außerchriftlihen (vgl. Schleiermader $ 13)
und enthält eine berechtigte Warnung wie gegen naturaliftifchen
Magismus ebenjo gegen einen myſtiſchen Quietismus, welcher fo
gerne vergißt, daß ein Chriftenmenjch bei aller Sicherheit des Seine
im Werden fteht und feinen feften Befig nur durch die kontinuier⸗
lihe That behaupten kann.
Noch foll aber in aller Kürze auf eine weitere Reihe von
Einſeitigkeiten Hingewiefen werden, welche in dem bejchriebenen
Örundgegenfage bei der Auffaffung des Chriftenftandes nicht uns
mittelbar enthalten find, fondern fich ebenfowohl mit der einen ale
mit der andern Seite verknüpfen lafjen, obgleich der eine Zeil der»
jelben naturgemäß zu der erften, der andere zu der zweiten Seite
jenes Gegenfages Bin grapitiert. Wie nämlich nach dem oben ger
ſchilderten Gegenjage ein verjchiedenes Maß von Intenſität in
der einen oder anderen Richtung bei Entitehung und Inhalt des
neuen Lebens ftatuiert werden Tann, fo ift es auch möglich, daß
gerade an dem Inhalte ſelber eine Richtung einfeitig hervor⸗
gehoben und dafür andere zurücgeftellt werden. So betonen die
einen bei der Schilderung des neuen Lebenszuftandes zu aus⸗
Schließlich diejenigen Momente, buch welde er als Aufhebung
des alten Zuftandes (von Sünde und Schuld) erfcheint, andere
dagegen lafjen das Moment der Erlöjung und Belehrung ganz
zurücktreten gegen die vollendete Schöpfung; ferner kann an dem
religiöfen Momente des Chriftenftandes entweder da8 Ders
bältnis, die Stellung zu Gott (justificatio, adoptio), alfo die
ideale Seite, oder ebenfo die reale, das neue Leben aus
Gott und in Gott (regeneratio, renovatio) einfeitig hervorgehoben
werben. Wiederum fajjen manche eben nur das Weligidje im
engeren Sinne, die Gottesgemeinfhaft und was ideal oder
real unmittelbar mit ihre gefet ift, ins Auge, während andere dies
ganz zurüddrängen und die Aufmerkfamkeit nur auf die neue Stel:
lung und Aufgabe Hinlenten, welche der Ehrift der Welt, insbe:
ſondere noch der Menschheit gegeniiber befommen habe. Den einen
ft das Chriltentum ganz vorwiegend eine neue Erleudtung
oder Einficht, den anderen ein neues praftifches Verhalten, wie
wir Diefen Gegenfag ſchon im Firchlichen Altertum rge belle»
TZTheol. Gtub. Jahrg. 1886,
400 Weiß
niſchem Morgenland und romaniſchem Abendland ausgeprägt finden.
Auch als einfeitige Gefühls beſtimmtheit und Gefühlerichtung ift
ja das Chriftentum ſchon öfter aufgefaßt und gepflegt worden.
Endlich binden die einen Urfprung und Ziel des Chriftentums
fo enge an die Gemeinſchaft, daB das individuell» Perfönliche
darüber verloren gehen will, und andere verlieren Aber dem Ber:
fönlihen und Fudividnellen den Zuſammenhang mit der &emein-
Schaft faft ganz aus den Augen. Die Tonfreten Beifpiele für bie
genannten Einfeitigleiten lafjen- fi aus Bergangenheit und Gegen:
wart fo leicht auffinden, daß es überflüffig wäre, diejelben nament⸗
lich zu erwähnen, Schleiermader hat aud für diefe Einfeitig-
feiten unter allen Neneren daB feinfte Gefühl und die fchärffte
Aufmerkſamkeit bewährt. Man thut ihm auch unrecht, wenn man
ihm beilegt, daß er den Chriftenftand zu einfeitig an die Gemein:
fchaft gebunden Habe, fehon feine bekannte Formulierung des Gegen⸗
Tages zwifchen Proteftantismus und Katholicismus („Glaubenslehre“
8 24) fpricht gegen diefe Annahme, er bedadhte recht wohl, daß
eine „volllommene Gegenfeitigleit“ im Verhältniſſe der einzelnen
und der Gemeinfchaft zu einander im Ehriftentum ftattfinde (S 90, 1;
106, 1 und 2; 115; 123, 3). Wenn e8 zuweilen bei ihm ſcheinen
kann, als ob das neue Leben des einzelnen nur eine unfelbftändige
Manifeftation des chriftlichen Gemeingeiftes wäre, fo ftellt er diefer
Einfeitigkeit die Erwägung entgegen, daß „doch urfprünglich ein»
zelne von Ehrifto ergriffen wurden und aud jet noch e® immer
eine durch die geiftige Gegenwart im Wort vermittelte Wirkung
Chriſti ſelbſt ift, wodurch die einzelnen in die Gemeinfchaftt
des neuen Lebens aufgenommen werben”. Es ift daher no
immer geraten, gerade auch in diefem Stüde die ebenſo ſchöpferiſch⸗
genialen als umfichtigen und überaus beziehungsreichen Ausführungen
Schleiermachers fi zum Mufter zu nehmen.
u.
Wir menden uns zu einem zweiten Zeile umferer Aufgabe,
indem wir daran gehen, die wichtigften Lehren de8 Neuen Tefta-
mentes über den perfönlichen Chriftenftand in der Kürze zu über:
Über das Weſen bes perfönfichen Ehriftenftandes. 461
blicken. Wir wollen ums daraus vor allem verfiddern, daß ſchon
die originalen unb normativen SZeugwifle desielben die volle Wirk⸗
lichleit und Eigentümlichkeit des neuen Lebens behaupten, zugleich
aber wird uns dben fein eigentümlicher Charakter nach feinen
wejentlichen Seiten durch jene Zeugniffe anfhaulid und verſtänd⸗
ih gemacht erden, und mir werden ertenmen, baß feine Gefamt-
anſchauung alle jme oben vorgefährten Ginfeitigleiten vermeidet unb
überragt, während fie in ihrer Konzentrieeten Lebensfülle die Wo-
mente bewahrt und harmoniſch vereinigt, welche in ihrem Aus»
einanderftreben jeme Einjeitigleiten hervorrufen.
Schon bei den Synoptilern !), ſei es im Munde Jeſu, fei
e8 im eigenen Berichte der Evangeliften, findet fich unverkennbar
dad Bewußtſein ausgeſprochen, daß die Jimger Jeſu, melde ale
ſolche Genoffen des Gottesreiches find, durch ihre Verbindung wit
Jeſus im jenen ganz fpestfifchen Zuftand des neuen Lebens einge
treten find, wie er andy ben Frommen des Alten Bundes noch nicht
eigen war (Matth. 5, 3ff.; 31, 11. 27ff.; 12, 49f.; 26, 28
2. a.). Sie find durch ihn Kinder Gotteo geworben in dem
breifachen Sinne, daß fie in die voukvmmene Gnadengemeinſchuft
Gottes eingetreten find (adoptio), daß die Gefinnung ihres Her-
zens von Grund aus umgewandelt ober in bie normale Richtung
gebracht worden (regeneratio, conversio Matth. 5, 3ff.; 13,
2—9. 24fl.; 18, 3; 19, 26; vgl. Jak. 1, 18. 1Petr. 1, 23),
endlich daß ihnen der Antrieb zu behartlichem gotigemüßem Streben
md Handeln verlichen worden iſt (ogl. Matth. 5-7 unb fonft).
Begründet wirb der neue Lebeneftand auch bei den Synoptilern
durch den Slauben au Chriſtus, dadurch, daß der Menfch
angezogeh von feiner ſpeziſiſchen Heile- amd Neihebotfehaft, deren
Wohrheit ihm durch ben Eindruck feiner Perfon verbürgt wird,
auf entfcheibende Weife in jenes ganz eigentiimliche Berhältnis bee
inwerften Vertrauens und der ımbedingten Folgſamkeit zu ihm ale
dent Siellvertreter Gottes eintritt, welches fich unmittelbar zur
Nachfolge feines Lebens, alfo zur beharrlichen Teilnahme an ber
2) Ich darf Hier vermeifen auf meine Abhandlung Aber „Die Grundzlige
ber Heilslehre Jeſu bei den Synoptikern“ in dieſer Zeitſchr. 1869, Hft. 1.
30*
462 Weiß
praftiichen Richtung wie an dem Gute desfelben geitaltet. So hat
der Menſch durch eine enticheidende Wendung jenen neuen Weg
betreten, welcher zum Leben führt, aber doc auch ſchon unmittelbar
an demfelben teilnehmen läßt (Matth. 7, 14; 11, 28f.; 16, 24f.;
19, 21).
Eigentümlih ift freilich für die Auffaffung der Synoptifer
ein mehrfaches: einmal tritt als Objelt und Grund des Glaubens
das Wort Ehrifti, und zwar in ber unmittelbaren Vereinigung
von Verheißungs⸗ und Befehlswort, feinem Werke, hier Tpeziell
der Himmelreichsftiftung, und wiederum aud das letztere feiner
Perſon entfchieden voran, und Wort, Werl und Berfon Chrifti
erichienen durchaus ale den Vater offenbarend und zu ihm bin-
feitend. Sodann ift beim Glauben die ihm auch bier als Grund⸗
eigenjchaft beigelegte Empfänglichkeit ftets verbunden mit der fitt-
lich gearteten und fittlich ftrebenden Aktivität, er iſt deshalb auch
niemal® ausschließlich auf das Heildgut der Begnadigung gerichtet,
fondern ftets. zugleih auf den neuen Gehorfam. Endlich ift der
entfcheidende Wendepunkt der Belehrung oder Wiedergeburt nicht fo
beitimmt markiert wie bei Paulus, und die fchöpferifhe Einwirkung
Gottes zur unmittelbaren Herporbringung des Glaubens ift nicht fo
ausdrüdlih im Unterjchiede von der menfchliden Empfänglichkeit
und Folgſamkeit ijoliert heransgeftellt, fo daß die letztere ſtets als
mitwirkend bei der Belehrung oder Glaubensbildung auftritt. Den-
noch fehlen die vorhin genannten, bei Paulus mit befonderem Nach⸗
drud bervorgehobenen Requifite der Belehrung oder der Wieder:
geburt keineswegs, ſpeziell die Schöpferiiche Wirkfamleit Gottes in
Chrifto wird durch die eigentümliche Kraft feines Wortes vertreten
(dgl. zu den oben angeführten Stellen noch Matth. 16, 17), nur
eine myſtiſche Lebensgemeinfchaft mit Chriftus und ein unmittel⸗
bares fchöpferifches Durchdrungenwerden von dem heiligen Geifte
find faum angedeutet. Dieſe zulegt genannten Elemente des neuen
Lebens erfcheinen bei der fynoptifchen Lehre fchon deshalb mehr
eingewidelt, weil diejelbe in ihrem näheren Zufammenhbang mit
dem altteftamentlichen Typus und tin ihrer unmittelbaren Abzweckung
auf die erfte Süngerbildung innerhalb des altteftamentlihen Bundes⸗
volkes gerade im Munde des irdifchen Ehriftus ſolche Punkte natur-
—
Über das Wefen des perfönlichen Chriſtenſtandes. 468
gemäß noch nicht hervorbebt, welche den Tod und die Verklärung
Ehrifti fowie die Ausgießung feines Geiftes zur Vorausfegung
haben. Die dur den Umgang mit Jeſus gründlich vorbereitete
Belehrung oder Wiedergeburt der erften Jünger ift ja auch erft
unter der Einwirkung diefer Thatſachen perfekt geworden.
Der Standort des Apoftels Paulus ift nun gerade ber
umgekehrte. Sein Evangelium webt gänzlih in der Anfchauung
und Verkündigung bes für uns gekreuzigten und auferftandenen
Chriftus und des erhöheten Herren, welcher der Geift ift und durch
welchen der Geift der Kindfhaft vom Water mit feiner fpeziftich
erneuernden Kraft wirkt und eingeht, freilich fo, daß auch hier die
Berfündigung von Chriſto als unentbehrliche Vermittelung erfcheint.
Nehmen wir noch die anthropologifhen Vorausfegungen des Paulus
vom fleifchlihen und unter dem Banne der Schuld verhafteten
Zuftand des natürlihen Menfchen Hinzu, fo erhellt fofort, daß
Gott und der Menſch, auch wenn jener diefem durch Chriftus ers
Löfend entgegenlommt, von vornherein in einem weit ſchrofferen
Gegenſatze zu einander fich darftellen, al® dies auf dem Boden
der Synoptiker der Fall ift. Auf der anderen Seite aber ift wies
der in dem für uns geftorbenen, auferjtandenen und zum Geift
verffärten Chriftus ein Mittler gegeben, durch welchen auf dem
Grunde des Glaubens fogar eine noch innigere Gemeinfchaft
zwifchen Gott und den Menfchen bergeftellt werben Tann, als dies
unmittelbar durch den Chriſtus der Synoptiker gefchieht. Die
Löſung des fcheinbaren Widerſpruchs erfolgt dadurch, daß bei
Paulus der Eintritt in die Heilsgemeinfchaft Chriſti noch entſchie⸗
dener als bei den Synoptikern als radilaler Bruch mit dem
alten Leben fich vollzieht und eine Erneuerung der Perfünlichkeit
und ihres gefamten Lebensftandes involviert und daß gerade ber
paulinifche Ehriftus famt dem mit ihm verbundenen heiligen Geift
als die übermächtige Kraft erfcheint, welche von ſich aus jenen
Bruch und diefe Erneuerung bewirkt.
Zum Nachweife hierfür darf man nur auf fo befannte db.
Schnitte und Stellen wie Röm. 6—8. 1Kor. 6, 17. 2Kor. 3,
17f.; 5, 15. 17. Gal. 2, 20. Eph. 2, 4-10. Kol. 2, 12f.;
3, 3 verweiſen. Es ift willfürlic) und fteht auch im Widerſpruch
484 Beiß
mit der Lehrbarftellung der Reformatoren und der alten engmge-
then Dogmatifer, wenn man ber in biefen Abfchnitten ausge⸗
drüdten Aufchauuug von der Geneſis und dem Welen des Chriften-
ftandes innerhalb der paulinifchen Geſamtlehre, fpeziell im Ber
hältnis zu feiner Rechtfextigungslehre, nur einen untergeordneten
Plag anweiſen will). Richtig ift, daß jene Anſchauung Heupt-
ſachlich an eine ſymboliſch⸗ miyſtiſche Auffaſſung ber Taufe fi
anſchließt; aber im Vorgange der Zaufe iſt für Paulus der Faktor
des Glaubens nach ber vollen Bedeutung und Wirkſamkeit des⸗
jelben mitgefeßt, ia der Slaube, welcher wit Chriftus zur Ge⸗
meinſchaft des neuen Lebens fi zufammenfchließt, fpielt offenbar
bei der Bildung bes neuen Lebens überhaupt bie entſcheidende Nolle
(Kol. 2, 125. Phil. 3, 8—12. Gal. 2, 20. Eph. 1, 18; 2, 8).
Man darf au nicht aus folden Stellen wie Sal. 4, 6 etwa ben
Sat ableiten, daß bei Paulus zeitlich zuerſt Die Rechtfertigung ober
die adoptio als Frucht bed Glaubens eintrete, daß aber bie reale
Umwandlung des Subjeltes oder die Wiedergeburt erft als Wir
tung der nachfolgenden Gejstesmitteiluug fich einftelle, und zwar
weientlih im Anſchluß an die Taufe aber ger erſt an den mei
teren Glaubensgehorſam. Wohl fondert Paulus Rechtfertigung
und Wiedergeburt ſachlich und logiſch genau und läßt in diefem
Sinne die erfters der letzteren und fo auch der Geiftesmitteilung
und der unio cum Christo vorangeken, wie man beutlich erkennt,
wenn man den Zufanımenhaug des Abſchnittes Nöm. 3, 21 his
zum Schluffe von Kap. 5 mit dem Inhalte von Kap. E-—8 ner
gleicht. Aber zeitlich find jene wicht getrennt, fie find vielmehr bie
unzertrennlicden Momente besfelben Vorganges, welcher anfchan:
ih dur die Taufe deſſen fixiert wird, der Chriftum im Glauben
ergreift, wobei djefer in einem für ihn der Grund der Recht⸗
fertigung und ber Ernenerung wird (ogl. ſchon Röm. 5, 1 mit
V. 5). Auch ift der in Rom. 8 im feinem Höhepunkte gefchifderte
1) Tieffinnig iſt diefelbe au von Schleiermader (4. 8. S 101, 2;
100, 1) verwendet worden. Reuß bat bdiefe Seite gleichfalls beſonders ge
würdigt, geht aber zu weit, wenn er bie Rechtfertigung bei Paulus vom ber
Wiedergeburt abhängig denkt.
Über das Wefen des perfönlichen Chriftenftandes. 465
Chriftenftand durchaus nur verftändlich, wenn jeine Vorausfegungen
gleihermaßen in jenem Prozeſſe realer Ummandlung (nad) Kap. 6
und 7) mie in der (Kap. 3, 21 bis Kap. 5 befchriebenen) Recht⸗
fertigung gefucht werden. Bon beiden Vorausjegungen mag wohl
gelten: menge fie nicht! aber ebenfo gewiß: trenne fie nicht!
Weit eher haben wir Anlaß, die einheitliche Wurzel derfelben aufs
zufuchen.
Wohl fteht dem Apoftel das Intereſſe der Rechtfertigung nad
den bekannten Gegenfage feiner Lehre gegen die Geſetzeslehre zu-
nächſt als das entjcheidende voran, und er begründet die Recht⸗
fertigung nicht auf den Xgsozos &v nur oder auf den Geiſtes⸗
befig und ſomit auf die Wiedergeburt fondern allein auf den
Glauben, welcher die Gnadenbotfchaft des Evangeliums von dem
für uns gefreuzigten und auferftandenen Chriftus vertrauensvoll
ſich aneignet. Indeſſen fchliegt diefe Aneignung ale That des
Gläubigen fein Angeeignetwerden durch Chriftus unmittelbar in fich,
der Gläubige ift unmittelbar durch den Akt feines Glaubens in
Chriſtum hineinverſetzt (Ev Xgıozo), ift ein Zugehöriger Chriſti
im rechtlichen und realen Sinne, und beshalb gilt für ihn Chriſti
Gerechtigkeit als feine eigene, und er hat teil an dem Leben Chrifti
zunächft im redhtlihen und dann auch im realen Sinne (2 Kor.
5, 21, vgl. 3.17. Phil. 3, 9, vgl. V. 12 und Kap. 1, 6. Röm.
8, 1, vgl. V. 10; 6, 7—11; 7,4—6). Wenn nun ber Ölaube
gerade als rechtfertigender jedenfall® zunächſt das Angeeignetfein
von Chriſto teils anzeigt, teils vollends realifiert, jo bildet das
ev Xosoro sivaı von felber das Mittelglied, welches
unmittelbar das Eingehen Chrifti und feines Geiftes in den
Gläubigen nad fich zieht, um fo mehr, als das Släubigwerden
felber nur erfolgt, wenn das Subjelt von Ehriftus und von feinem
Geifte innerlich ergriffen ift (Röm. 10, 8ff. 1Kor. 12, 3. 2 Kor.
4, 3—5. Bhil. 3, 12. Eph. 2, 8—10, vgl. Apg. 16, 14). Wenn
nun das von Chriftus durch Wort und Geift ergriffene Subjekt
diefen hinwiederum im Glauben ergreift und dadurch ein Zuge
höriger Chrifti und ein gerechtfertigtes Gottesfind wird, jo muß
ia diefer Prozeß ganz unmittelbar darin fich vollenden, daß Chriftus
und fein Geiſt in den Gläubigen eingehen und dadurch im realen
Bei
A6
Sinne ber Grund feines neuen Lebens im Geiſte werben, um |ı
mehr, als ja der Haube fchon beim Sudyen und Ergreifen du
rechtfertigenden Gnade Ehrifti nur im volffländigen Anfgeben vr
alten Egoität und in der reinen Selbfihingabe an Ehriftum fi
vollziehen Tann.
Deutlich und beftimmt bat alfo Paulus den Akt der Reit
fertigung durch den Glauben ganz unmittelbar mit der Belehrun
und ber Wiedergeburt verknüpft, und die letztere hat auch noch di
Thatfahen ber Geiftesmitteilung und der unio mystica cm
Christo, welde ſich an die Rechtfertigung anschließen, zu ih
inneren Vorausfegung. Der Geredhtfertigte ift auch in bie Xebent
gemeinſchaft Ehrifti aufgenommen, und Chriſtus lebt in ihm, mil
rend durch denjelben Akt fein alter Menfch prinzipiell ertötet, fen
ungdttliche und widergöttliche Natürlichkeit, Egoität und Simlid.
feit (oagE) zerbrochen tft, und mit Chriftus ift auch der heilig
Geiſt zum befeelenden Brinzipe feines Perfonlebens gemorden.
So ift der Gläubige vermittelft der fchöpferifchen Einwirkung
Gottes in Ehrifto eine zaıyn) xuioıs (Sal. 6, 15. 2Ror. 5. 11.
Eph. 2, 10) geworben, freilich nur im unmittelbaren und ftetigen
Zufammenhange mit feinem neuen Lebensgrunde Chriftus (Rön.
8, 1ff.).
Man kan nur die Frage aufwerfen, ob ein Paulus, wen
er feine Anfchauung auch auf folche Hätte anwenden follen, weldt
in der Kriftliden Gemeinfhaft als Kinder geboren, ge
tauft und bann erzogen find, diefe Hinfichtlich derfelben modifiziert
haben würde. Denn feine Darftellung fett ja überall dem Über
tritt vom Judentum oder Heidentum zum Chriftentum voran.
Allerdings ift gerade auch nad) der Darftellung des Panlıs (Röm.
5, 12 ff. und fonft) mit der Erfcheinung Chrifti ein neues Or
famtleben für die Menfchheit und in der Menfchheit begrümbet
worden, und die Gemeinde der Gläubigen ift als Gejamtheit dt
organifierte Gemeinfchaftöfreis, in welchem dieſes Gefamtichen
reale Geltung Bat und vermittelft deſſen allein es fi fertpflant
Diejenigen, welche in der hriftlichen Gemeinde aufwacer, erfahre
innerhalb derfelben jedenfalls die vorbereitenben Guabenmeerkuugn
Gottes und künnen von Kindheit auf ganz allmählid vom Chile
Über das Weſen des perfönlichen Chriſtenſtandes. 467
angeeignet werden und fich aneignen laffen. Aber der bleibende
Quellpunkt für diefes Gefamtleben ift die Einigung der einzelnen
mit Chriftus im Glauben, nicht ihre Verbindung mit der Ge⸗
meinde. Unmöglich aljo Könnte jene Modifikation darin beftehen,
daß die Nechtfertigung weſentlich als objeltiver Gemeindebefit, d. h.
als ein Thatbeſtand gedacht wäre, welcher für die einzelnen fchon
vor ihrer Aneignung besfelben im Glauben Geltung bat, und un⸗
möglich könnte auch dann der die Verfühnung mit Gott im ſub⸗
jeftiven Sinne vermittelnde Glaube vorgeftellt werden abgelöft von
wirfliher Belehrung oder Wiedergeburt. Nimmermehr hätte Pau⸗
lus einen Chriftenftand ftatuieren können, welcher nicht begründet
wäre in einem durch Chriftus felber bewirkten Umfchwung in der
innerften religiössfittlihen Grundridtung und Grundftellung des
Subjektes und in einem realen Bande, welches dasfelbe fortan in
feinem Herzen mit. Gott durch Chriftus verfmüpft, ein Verhältnis
aber zw Chriftus, welches diefem Umfchwung erft zuftrebt, hätte
er immer nur als eine Annäherung an den Chriftenftand, alſo
noch nicht als Heilsbegründend für das Subjekt betradhten können
(vgl. auh Schleiermader 8 106 und 107. 115 und 87, 3).
Auch bei Johannes ift der Ehriftenftand gleichbedeutend da»
mit, daß wir durch den Glauben, womit Erkenntnis und Liebe
innig verbunden find, Ev Xoro uns befinden, und hieraus fließt
al8 unmittelbare Folge, daß auch Ehriftus und mit ihm Gott der
Bater und der Heilige Geift in den Gläubigen lebt, wohnt und
wirft (Joh. 15, 1—16; 17, 6—10. 14; 1, 12f. 1908. 1, 3;
3, 6. 24). Auch Hier ift der Chriftenftand im Gegenfage zu dem
Zuftande derer, welde &v To xooum find, mweientlih ein An⸗
geeignietjein von dem verflärten Chriftus und ein Durcddrungenjein
von ihm in der Gemeinfchaft feines Lebens, wodurdh man teils
nimmt an feinem Lebensgute wie an feinen Lebensimpuljen (vgl.
roch Kap. 6, 37 ff. 44; 12, 44ff.; 16, 27. 33). Aber gegen«
iber von Paulus verrät ſich noch eine charakteriftifche Steigerung
yauptfächlid in folgenden Punkten. Schon der irdifche Chriftus
rägt in feinem inmwendigen, jedoch für das empfängliche Auge
iberall durchſcheinenden, Weſen die Herrlichkeit, den göttlich«geiftigen
debensgrund und Lebensgehalt, an ſich, diejelbe Tann daher auf bie
ER Bei
Yünger ſchon während des Erdenwanbdels Ehrifti übergehen, und
diefe können Schon in dieſer Zeit in die myſtiſche Lebensgemein-
ſchaft mit ihm umd dem Vater eintreten, welche durch die Geiftee-
jendung nar erhalten und noch in gewiffen Sinne weitergeführt
wird (Kap. 1, 14. 16—18; 6, 32 ff.; 8, 12; 11, 25; 14, 9—16;
16, 13—15; 17, 10. 22). In dem Heildgut aber, welches man
von Chrifto empfängt, find der Empfaug der Gnade und derjenige
des Geifteslebens nicht mehr fo wie bei Paulus ftreng von ein-
ander unterfchieden, weil das Intereſſe der Beguadigung oder gar
der Rechtfertigung bei Yohannes merklich zurüdtritt, vielmehr find
jene beiben zufemmengefaßt in der Aneignung der göttlichen Vater⸗
liebe, doch auf höherer Potenz der Anſchauung als bei den Synop⸗
titern, wie Chriftus ſelber als Sohn Gottes auch noch in Höheren
Sinn ale der Träger und der Vermittler der aufnehmenden und
der belebenden Vaterliebe Gottes erfcheint (vgl. noch beſonders Kap.
1, 12—18; 15, 1—17, 130h. 4, 4 bis Rap. 5, 5 al.). In
dem Begriffe der Gotteskindſchaft find alfo auch die adoptio und
bie regeneratio unmittelbar vereinigt (Rap. 1, 12f., vgl. 3, 6.
1908. 2, 29; 3, 2. 9).
Ganz beſonders charakteriftifg wird aber die johanneifche Auf-
faffuug von der paulinifchen no durch einen dritten Bunt
unterschieden, in welchem man befanntlih am meilten ſchon eine
Annäherung an die Gnoſis hat finden wollen. Wie der irdiſche
Chriftus als der Aoyos aaopE& ysvduevos bereits das vollfommene
Eingehen des göttlichen Lebens in die Menſchheit darftellt, che er
fein Werk ausführt, und wie das lektere eher unter dem Gefidhie-
punkte einfacher Ausbreitung der in ihm vorhandenen Lebensfälle
unter den Empfänglichen erfcheint, während es bei Paulus fait
noch mebr als bei den Synoptifern als eine den Gegenfaß der
Sünde und Welt übermindende Lebensarbeit und auch als ein per-
fönfiches Hindurchdringen in die Verklärung fich darftellt: fo zeigt
der Glaube und das dur Chriſtus in ibm gebildete Leben der
Gottestinder in manden Stellen eine Geftalt, wie wenn darim eben
der urfprüngliche Gotteszug (die Kogosverwandtichaft) ihres eigemen
Weſens unter der Einwirkung des menfchgewordenen Chriſtus zur
Offenbarung und Aftualifierung gelangte (Rap. 8, 47; 10, 26f. 29;
Über das Weſen des yerjönfichen Chriſtenſtandes. 489
6, 37; 11, 52; 17, 6; 18, 37; 3, 21; vgl. 1908. 3, 8ff.).
Zwar find feine vermittelnden Worte und Werke jedenfalls not⸗
wendig, um das neue Leben ind Dafein zu rufen, und die Gottes»
finder bringen feiner Offenbarung und urſprünglichen Lebensfülle
kaum mehr als die lebendige Empfänglichkeit entgegen: aber man
lann doch mit demſelben Nechte jagen, daß das Leben aus Gott
feiner Grundlage nad in ihrem Innern nur ermedt und dann zu
feiner Erfüllung gebracht, als daß es durch die Einwirkung Ehrifti
dort erft erzeugt oder gepflanzt werde. In Stellen wie ob. 1,
12 f.; 3, 6, weniger entfehieben in 1305. 2, 29; 3,2. 9, vgl. ®. 14,
liegt jene zweite Seite auch vor, aber ohne deutliche Bermittelung mit
der anderen. Sind Chriſtus und die Gottesfinder denmach ſchon
vonhaufe aus mit einander weſensverwandt, indem ihnen, wen
auch in weientlicher Verfchiedenheit der Art und des Maßes unb
deshalb in ſpezifiſch verſchiedener Potenz, derfelbe göttliche Lebens⸗
grund mit ihm urſprünglich innewohnt, fo ift es eine erklärliche
Konfequenz, daß die Anſchauung vom Chriftenftande, welcher durch
die Bereinigung Chrifti mit den Gläubigen gebildet wird, hier
vollends jene Höhe erreicht, wonach die Gottesfindichaft die volle
Analogie oder dns getreue Nachbild, gewiſſermaßen die ungehemmte
Fortfegung von dem Verhältniſſe des eingeborenen Sohnes zum
Bater (und zum heiligen Geifte) und eben damit die Vollendung
des religiöfen Verhäliniſſes und Verhaltens überhaupt in fich ber
greift (Rap. 16, 26f.; 15, 7—11; 17, 21—26; vgl. 7, 38 f.;
14, 12—21. 1%. 4, 7—16). Der Inhalt der johanneiſchen
Ausfagen geht auch in diefer Beziehung noch hinans über bie Höhe
ſolcher panliniſcher Stellen, wie Röm. 8, 28—30 und 1Mor.
15, 28. 45—49, und aus dem ganzen Zufammmenhange derſelben
ft wohl erflärlih, daß der Stand des Heils mehrfad als ein
ınverlierbarer und in feinem Grunde unveränberlicher dargeftellt
ft (1Joh. 3, 9; 2, 19; 5, 18f. Joh. 10, 27—29). Doc
Heinen ob. 15, 6 und 17, 11. 15 die Gefahr des Abfalls
oranszujegen. ‘Die dogmatifche Bearbeitung der Lehre vom Eheiiten-
tande aber bat auch die aufgeführten fpeziellen Ausjagen der jo-
armeifchen Lehre in fich aufzunehmen fo gut wie diejenigen der
gnoptifchen und der pauliniſchen. Es wird fih nur fragen, ob
Klo Bei
biefe drei Lehrtgpen ohme eine gewiſſe Beihränfung ober auf
Umbildung ber jedem derfelben eigentümlich ausgebildeten Momente
fit kombinieren laffen. Bor allem aber wird unſere Aufgabe
fein, die Fülle der fi ergänzenden Momente in einer eimbeitlicen
Geſamtanſchauung richtig zufammenzufaffen und zur Entwidelung
zu bringen.
II.
Unfere ſyſtematiſche Entwidelung ſoll in drei Abfchnitten fol-
gende Hauptpunfte näher erörtern; 1) die nachgewieſene Thatſache
des neuen Lebensftandes in engem Zufammenhange mit der Trage
nad feinem Urfprunge; 2) feine inneren Hauptmomente, befonders
Rechtfertigung und Wiedergeburt in ihrem Verhältniffe zu ein
ander; 3) einige Folgerungen über Gewißheit, Bewahrung und
Bedeutung des neuen Lebensftandes.
1) Die Thatſache nud der Urſprung des nenen Lebens:
ftandes,
Durch das neuteftamentliche Zeugnis ift vollends evident ge
worden, daß die fpezififche Dignität des Chriftentums als der ab-
foluten Religion und der Religion der Erlöfung, insbefondere nod
die fpezififche Dignität Ehriftt des Erlöfers ihre Brobe darin findet,
daß der perfönliche Ehriftenftand ald Stand des neuen Lebens
im abfoluten Sinne fi darſtellt und behauptet wird. “Der
durch den Glauben vollzogene entfcheidende Eintritt in die Gemein:
Schaft Ehrifti muß für das einzelne Subjelt den prinzipiellen Beſitz
des Heils, der Gottesgemeinſchaft, den Anteil am Reiche Gottes
mit feiner Gnade und feinem fpezififchen Leben unmittelbar ver-
mitteln, er muß aber auch eine folche innere Wendung, Willens-
rihtung und Begabung des Subjeltes in ſich fchließen, wie fie
im Grunde dem Welen und Willen Gottes und Chrifii adäquat
ift und ein demjelben entiprechendes zufammenhängendes Handeln
naturgemäß aus fich hervorgehen Täßt und verbürgt. Alle dieſe
Attribute faffen wir am fürzeften und bezeichnendften im Weſen
der Gotteskindſchaft zufammen (vgl. Schleiermader,
Über das Wefen des perfönlichen Chriftenftandes. ai
Ölaubenslehre $ 109. 124, 1 und 2). Daß wir auch nad) dem
Zeugnis der Synoptifer durch den Glauben an Ehriftum Kinder
Gottes im vollen Umfange diefes Begriffes werden, ift oben ge-
zeigt worden, bei Paulus und Johannes tritt uns biefe Ausfage
ohnehin deutlich und energifch entgegen. Die Kehrfeite berjelben
aber liegt in der Einficht, daß es für den Menſchen unmöglich ift,
ohne den Glauben an Chriftum, außerhalb feiner Gemeinfchaft,
alfo mit den Kräften und Mitteln des natürlichen Lebens jenen
vollfommenen und adäquaten religiös -fittlichen LXebensftand zu er»
reihen. Dieſe Einfiht entipringt freilih nur aus der ſpezifiſch
Kriftlichen Erfahrung, fie kann aljo weder aus allgemeinen Prin⸗
zipien noch durch die Verweiſung auf die Gejchichte demjenigen
dbemonftriert werben, welchem jene Erfahrung noch ganz fremd ift
(1Ror. 2, 7 ff. 14). Für den Chriſten aber befteht kein Zweifel,
daß der vorhergehende Zuftand im alten Leben der Sünde und der
Unvolffommenheit nur durch die erlöſende That Gottes auf-
gehoben und in den neuen der Gottesfindfchaft verwandelt werden
fann, und diefe That muß ſich vermittelft der allgemeinen Heils⸗
veranftaltung auch noch befonders auf den einzelnen erftreden.
Diefer könnte von fi) aus und unter der allgemeinen Päbdagogie
Gottes im beften alle zu einer Vorahnung des neuen Zuftandes
und zu einer Sehnfucht nach demfelben gelangen, felbft für das bes
ftimmte Suchen und Erftreben der Gottestindfchaft müßten wir fehon
befondere vorbereitende Einwirkungen Gottes vorausfegen (Schleier
macher 8 87 und 108, 6). Zu diefer Folgerung gelangt man
in jedem Falle, wenn man den Zuftand der außerchriftlichen Menſch⸗
beit mit demjenigen Maßftabe mißt, welchen uns die Ausfagen der
Heiligen Schrift und der chriftlichen Erfahrung über den durch
Chriftum herbeigeführten Normalzuftand an die Hand geben, wie
man aud den Urjprung der Sünde erflären und wie weit man
dabei auch den Zuftand der Unpolllommenbeit in Anfchlag bringen
möge, der von der erften Schöpfung des Menfchen nicht hinweg⸗
zudenken ift.
Die fortfchreitende Erforfhung heidnifcher Religion und Sitt⸗
ichleit wie auch der israelitifchen Vorſtufe, mag diejelbe noch fo
ınbefangen den Spuren des Lichtes darin nachgehen, dient nur
f
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?
N
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*
—
durch die Einwirkung des chriſtlichen Geiſtes von Chriſtus her ale
Borbereitung oder doch als Analogie des neuen Lebens im ihnen
gewedt werden if. Zum DBeweife für ımfere Behauptung er⸗
ismert man neuerdings beſonders gerne daran, daß der Menſch
ohme Chriftus das wahre, höchſte Gut nicht kenne und erftrebe,
nämlich das überfinufide Gut des ewigen Lebens, daß er ferne
die Erhabenheit über bie Welt und ihren Lauf, wie fie zum Wein
der geiftigen Perſonlichteit gehöre, nicht befige und daß es ihm
ganz ferne liege, das Reich Gottes als ein Reid allgemeiner
Menfcenliebe zu kennen und zu wollen. Dies it unzweifelhaft
richtig, namentlich wenn die genannten Attribiste des Chriftenftand«s
in jenem vollen Sinne aufgefaßt werben, welder ifnen urfpräng
fi im Neuen Teftamente zulemmt. Doch wird man den tiefiten
Gegenfatz zwiſchen dem natürlichen und dem chriftlichen Lebens
ftande immer darin finden müflen, baß der natürliche Menſch ſich
felber Lebt und der Welt, und daß er unter dem Bunme ver
Schuld fi) befindet und durch beides von Gott geſchieden ift,
während der Ehrift, durch Ehriftum aufgenommen in Be Onaden⸗
gemeinfchaft Gottes, auch für ihn im feinem Weide Lebt und
nach der Bollmdung der Gottesgemeinfchaft in demfelben trachtet
(2Ror. 5, 15. Sal. 2, 20).
Die neuere Philoſophie feit Kant hat, offenbar Hierzu
angeregt dur daB proteftantifde Ehriitentum, von ihrem Stand»
punkte aus das Problem einer radikalen Ernenerung Des natür⸗
Tichen Menſchen auch ernftlich ins Auge gefaßt. Kant ift ber
Anficht, dag der menſchliche Wille nicht wahrhaft gut und frei
werden könne, außer auf dem Wege einer „moraliichen Rewelutten”,
er hoffte diefelbe, wie es fcheint, von der Einkehr des Wewfdher
in feinen intelligißeln Charalter, d. 5. in fein geiftiges Grund⸗
weien, welches ihm zunädft als Unlage mitgegeben it, und durch
die ernftliche Aufnahme des Ideales der gottwoßfgefälligen Menſch⸗
Über das Wefen des pesfönlichen Chriftenftandes. iR
beit ins Innere der Perjönlichleit. Aber ſchon Fichte, noch voll»
ftändiger Schelling und Hegel Haben erlanıt, daß nur ber
Saft Gottes jelber in feiner intenfioften Gelbftoffenbarung im
Subjekte jene Wiedergeburt bewirken, der Geiſtigkeit md Freiheit
des Subjeltes zum Dafein verhelfen könne. Nur die zentrate
Einigung des menfhlichen Geiftes mit dem abfolut
Guten, d. 5. mit Gott, und zwar mit dem perfönlichen Gott,
fann zur prinzipiellen Begründung des Guten im Menfchen führen,
die Initiative aber zu diefer Einigung muß don Gott aus»
gehen, und fie muß ſich zunädft in einer menfchlichen Berfon
bon volllommener Empfänglichleit in urbildlicher und zentraler
Weile vollziehen. Das Streben des natürlichen Menfchen nad
dem Guten entfpringt aus einer dunkeln und beſchränkten Erfaffung
der Idee desfelben und kann niemals zur Realiſierung desſelben
führen. In Chriftus ift das Ideal der gottwohlgefälfigen Menſch⸗
beit wirklich geworden und zwar durch die befondere Schöpfung
Gottes und in urfprünglicher und volllommener Vereinigung mit
denfelben, deshalb kann unter feiner Fchöpferifhen Einwirkung jene
moralifhe Revolution bewirkt und überhaupt der Menſch vom
alten in den neuen Lebensſtand hinübergeführt werden. Die Phi⸗
lofophie mag es überdies bei ihren Verſuchen unentjchieden Laffen,
ob die Wiedergeburt als einmaliges Faltum im Leben des Men-
ſchen fich vollziehe oder ob fie doch nur einen kontinuierlichen Prozeß
darjtelfe, für den Chriften wird fie durch den Anſchluß an den
biftorifchen Erlöfer zum empirischen Saltum und eben dadurch zur
wahrhaften Wirklichkeit. Daß aber das neue Beben aud bei den
Gläubigen nicht in feiner Reinheit und Vollkraft wirkfam wird,
muß für diefelben vielfach ein Anlaß zum Vorwurfe fein, beweift
jedoch nichts gegen feine ausſchließliche Abftammung von Chrifte
ber umd gegen jeine ſpezifiſche Dignität, weil der neue Menfch and
in den Gläubigen erft zu wachſen und überdies die noch vorhandenen
Nachwirkungen und Reſte des alten Menſchen und bie aus der
Belt ftammenden Verſuchungen fortwährend zu überwinden bat,
weil der Gläubige von Ehriftus zwar angeeignet, aber noch nicht
vollfommen durchdrungen und erneuert ift. Aber in der. Ent»
jhiedenheit, womit der Wille jett, im einzelnen mehr oder weniger
wonuen haben, wie es von Chrifte aus gerade im den
einzelnen zuftande fommt. Bir berüßren bier die ſchwierigen
Fragen liber das Verhältnis von Gnade und Freiheit, über deu
Vorgang der Belchrung und Wiedergeburt. Dan darf ſich nidıt
begnugen, zu fagen, in der Erfcheinung und dem Lebenswerke Ehrifti,
feruer in dem Dafein, Bewußtſein umd Leben, insbefondere in dem
Zeugniffe der hriftlihen Kirche feien die hinreichenden allgemeinen
Vorausfegungen für das AZuftandelommen des Glaubens in ben
einzelnen gegeben, die innere Bildung desfelben im Subjelte aber
fei nicht weiter zu erforfchen, weil fie nach ganz individuellen Be⸗
dingungen erfolge. Zwar ift in jenen „allgemeinen Borausfeßungen”,
wie fie eben genannt worden find, fobald fie ernftlich als ſpezifiſche
Bnabenveranftaltung Gottes in Chrifto gedacht werden, auch fchon
ein Boden für göttlihde Gnadenwirkung gelegt, und der Glaube,
welcher auf biefem Boden fich bildet und mur auf demfelben ſich
bilden ann, ift nicht reines Eigenwerf des Menſchen. Man würde
alfo jene Anſchauung mißlennen, wenn man fie ſchlechtweg des
Pelagianismus befchuldigen wollte Dennoch fegt diefelbe ein Zu-
wenig göttlicher Gnadenwirkung, jo daß auch der zu poftulierende
neue Lebenoſtand nicht hinreichend erklärt oder begründet ijt, und
ed können fich hieraus bedenkliche Konfequenzen für das Selbſt⸗
bewußtfein und Verhalten des Chriften ergeben ?). Freilich muſſen
wir, wie ja fchon Luther fo nachdrücklich hervorgehoben Bat, uns
die göttliche Einwirkung ſtets vermittelte denfen durch des Mittel⸗
glied der hriftlihen Gemeinde und insbeſendere darch die
Berlündigung des göttlichen Wortes im berielben. Die Gemeinde
Y) Re auch Iufns Heer, Über den Mhgientbegrii Ti tſchus
Zürich 1584,
Über das Weſen des perfönlichen Chriftenftandes. 475
Ehrifti ift zumächft dazu beftimmt und ausgerüftet, um den That⸗
beftand und die That feines Lebens, aljo das Himmelreich mit
feinen Gütern nnd Kräften, in der Menſchheit zu erhalten und
fortzupflanzgen; fie befteht und wirft auf Erden von Chriſto ber als
da8 Volk des Neuen Bundes und als die neue geiftlihe Mienfchheit,
in ihrer Mitte befindet fich das Neich der Gnade (Röm. 5, 21).
Wir können eben deshalb eine direkte Präfenz und Einwirkung
des erhöheten Ehriftus wenigſtens dogmatifch nicht behaupten und
verwerten: aber im heiligen Geifte als der eigentümlichen Form
der Gegenwart und Wirkfamfeit, in welcher das fpezififche Sein
Gottes in Ehrifto feit deffen Hingang zum Vater innerhalb der Ge⸗
meinde fich fortjegt, wirft Gott und mittelbar Chriftus nun auch)
in da8 Innere deſſen Hinein, welchen er belehren will. Speziell
wird das Evangelium von Chrifto zum Mittel der ſchöpfe⸗
rifchen Einwirkung Gottes in Chrifto auf das Herz des Men⸗
ſchen, und es ift richtig, zu jagen, daß der Menſch demfelben zu-
nächſt nichts emtgegenbringen könne als die reine Empfäng—
lichkeit, innerhalb deren von Gott in ihm jene Selbftthätigkeit
geweckt oder erzeugt werde (gratia operans), deren Vereinigung
mit der Empfänglichleit zu dem entfcheidenden Alte des Ergreifens
Chriftt im Glauben oder zu ber Belehrung führt. Jene Em-
pfänglichkeit, welche fich durch die göttliche Gnade zur zuftimmenden
und aneignenden Selbitthätigleit erweden und umbilden läßt, ift
freifih mehr als capacitas mere passiva, fie ift ja fchon ein
ethifch » geiftiges Verhalten, und manifeftiert fi als folches ſchon
im willigen oder gar begierigen Anhören des göttlichen Wortes,
zum Annehmen desfelben aber erhebt fie fi nicht von felbit, fie
wird dazu erhoben durch die fchöpferifche Gnade (vgl. auch Lut⸗
Hardt, Kompendium der Dogmatit, :$ 61). Xreffend bemerkt
Schleiermadher: „Jedes Gejteigertwerben jener lebendigen
Empfänglickeit ift ein Werk der vorbereitenden göttlichen
Gnade, durch die zur Belehrung wirkſame Gnade aber wird fie
in belebte Setlbftthätigfeit verwandelt. Derfolgen wir
aber jenes Element von diefem Punkt, wo es fchon durch die vor-
bereitenden Gnadenwirkungen gefteigert erfcheint, weiter rückwärts
und fragen, worin denn in ben erften Anfängen die Lebendigkeit
Theol. Etub. Jahrg. 1886. 31
416 Bei
beftanden habe, wodurd fie fi von ber Paſſivität unterjchieden:
jo ijt wohl nur hinzuweiſen auf das, wenn auch noch jo jehr an bie
Grenze des Bewußtſeins zurückgedrängte, doch nie gänzlich er-
loſchene Berlangen nad der Gemeinfhaft mit Gott, welches
mit zur nefprünglichen Vollkommenheit der menjchlihen Ratur ge-
hört“ („Slanbenslehre* 8 108, 6; vgl. $ 14; 88, 4; 91). Über:
baupt iſt die ganze Darftellung, in welder Schleiermacher das
ihwierige Problem der Belehrung und Wiedergeburt bebanbelt
($ 107 und 108, vgl. $ 100. 101. 124) noch heute klaſſiſch zu
nennen.
Nur feiner Behauptung können wir nicht beiftimmen, daß jo:
gar im Gebiete der Erlöjung ein vereinzeltes Wirken Gottes in
Raum und Zeit ſich nicht denken laſſe (S 97, 2; 109, 3; 122, 3).
Denn wenn aud gerade das erlöfende Wirken Gottes innerhalb
eines großen und geordneten Zufammenhanges ftattfindet, welchen
wir in feinem weiteften Rahmen durch den Umfang des göttlichen
Heilsratjchlufjes und Weltplanes bezeichnen, jo muß doch Gott eben
in diefem Zufammenhange aud wieder perſönlich an den einzelnen
handeln. Falls im Siune des chriftlihen Theismus mit der Ber:
fünlichkeit Gottes voller Ernft gemadt wird, dann wird Gott ge-
rade bei der enticheidenden Gnadenwirkung der Belehrung , Recht⸗
fertigung und Wiedergeburt auch als perſönlich beteiligt zu denken
fein, damit die Annahme und die Erneuerung zum Kinde Gottet
an den einzelnen wirklich als fein Werk fich vollziehe. A. Schwei-
zer, welcher Gott auf der Stufe des Naturzufommenhanges und
des Gefeges nur mittelbar auf die einzelnen wirken läßt, fcheint,
wenn wir ihn vecht verftehen, doch gerade darin aud das Aus
zeichnende der Wirkſamkeit Gottes im Gebiete der Erlöfung zu
finden, daß Hier diefelbe zu einer unmittelbar perjünlicden fich ge
ftaltet ). Gerade in der Gottesfindfchaft ſoll der Ehrift zur um
mittelbaren Gemeinfchaft mit Gott feinem Vater erhoben fein, da⸗
durch gewinnt er jenen unendlichen Wert und das ewige Leben.
Wenn fogar die Belehrung, Rechtfertigung und Wiedergeburt nur
1) „Glaubenslehre“ 8 100 ff. 108. 157 ff. 184. — Bol. Harleg, Ethil
8 21.
Über das Wefen des perfönlichen Chriftenftandes. 477
als indirelte Wirkungen Gottes an den einzelnen aufgefaßt werden,
dann ift große Gefahr vorhanden, daß das eigentlich Reale an
diefen Alten einfeitig in das menfchliche Bewußtſein und in die
menschliche Selbfithätigleit Hereinfalle, wodurd) der einzelne auf dem
Grunde der chriſtlichen Hellsanftalt fi die Gnade Gottes zueignet
ober zufpricht, und daß dieſelben fomit ihre objektive Wirklichkeit
und ihre Bedeutung als göttliche Thaten verlieren. Diejer Cha⸗
ratter kann ihnen bei ſolcher Auffaffung mur durch den Prädeſti⸗
natianismus gefichert werden, wie wir allerdings an dem refor«
mierten Lehrſyſteme ſehen.
Schleiermacher freilich hat die entſchiedene Tendenz, auch
jenes indirekte Wirken Gottes auf dem Gebiete der Erlöſung doch
als ein objeltives und reales zu ſaſſen, nur fein abftralter Gottes⸗
begriff hält ihn ab, dies gehörig zur Durchführung zu bringen.
Deshalb bemerkt er ſchon hinſichtlich der Perſon Chriſti, daß
„Chrifto ein ſchlechthin kräftiges Gottesbewußtſe in zuſchreiben
und ihm ein Sein Gottes in ibm beilegen ganz eines und das⸗
jelbe ift. Der Ausdrud Sein Gottes in einem anderen Tann
immer nur das Verhältnis der Allgegenwart Gottes zu dieſem
andern ausdrüden“ ($ 94, 2 und 109, 3; 116, 3; vgl.
$ 52 und 53). Das aber ift fein großes und bleibenbes Ver⸗
dienft, daß er einerfeitS das vollfommene Sein und erlöfende
Wirken Gottes in Chrifto umd weiterhin in dem heiligen Geifte
„als der Bereinigung des göttlihen Wefens mit der
menſchlichen Natur in der Form des das Gefamtleben ber
Gläubigen befeelenden Gemeingeiftes" (S 123, vgl. 100 und 101)
entfchieden lehrt und dabei doch die erlöfende Wirkſamkeit Gottes
von Chriſto aus ohne falfche Transcendenz in dem Bette feines
biftorifchen Fortwirkens innerhalb der chriftlichen Kirche namentlich
mittelft des Wortes Chrifti ſich vollziehen läßt !). Wie in feiner
Chriftologie, fo finden fi namentlich auch in feiner Lehre vom
heiligen Geifte überaus wichtige, neue Momente („Glaubenslehre“
$ 110, 3; 115 und 116. 121—124), wie fie am meiften von
2) Bol. auch Gaß, Art. Schleiermacher in Herzogs Renlenchllop. 2. Aufl.
8b. XIU, ©. 567.
51 *
478 Beiß
Rothe bewahrt und eigentümlich weitergebildet werben find. Er
bezeichmet deufelben zwar öfter6 Turzweg als den dyriftlichen Gemein:
geift, aber feiner Subftanz nad), oder, wenn biefes Wert zu rea⸗
liftiſch lauten jollte, feiner Grundlage und jeinem Weſen nad, iſt
er die „Bereinigung des göttlichen Weſens mit der menſchlichen
Natur" (8 123), alfe die genaue Fortſetzung der Erſcheinung
Eprifti, ja er ift dieſes ſo jehr, daß dieſe Auffafjung eher ber
fabellianifchen nahelommt, als dag fi für Schleiermadher der hei⸗
fige Geift nur in eine eigentümliche Form fubjektiven menſchlichen
Bewußtfeins verwandeln würde. Bon berfelben Anfchauung ift
die „hriftliche Sitte“ ganz durchdrungen (vgl. nur S. 311 ff. 518).
Dazu kommt dann nod) der ganz zutreffende Gedanke, daß ein
Einwohnung des Heiligen Geiftes, im Unterfchiede von bloße
Einwirkung desjelben, im Subjefte nur zuftande kommt, wen
die Empfänglicgkeit für Chriſtum in die felbitthätige und zu:
fammenhbängende Nachbildung desfelben übergeht, und and) de
gegen wird nichts einzumenden fein, daß diefes jedenfalls in feinem
Beginne nicht ohne ein gemeinfames Thun, ohne ein Aufein
auderwirken und Miteinanderwirken der Jünger Jeſu fich vollziehe.
Denn der heilige Geift, wie er in den Gläubigen als der Geiſt
der Kindſchaft und als das fpezififche Leben der chriftlichen Gr
meinde vorhanden ift, bat eben das Doppelte an fi, dag er
einerfeits ein fpezififches Sein und Wirken Gottes, wie es burg
Ehriftum vermittelt ift, darftellt, anderſeits aber doch auch ein
Brodutt menſchlicher Selbftthätigleit bildet, welches von der
felben auf dem Grunde jenes fpezififchen göttlichen Einwirkens und
Eingehen in die menfchliche Perfon und in Gemeinfchaft mit dem.
felben erzeugt wird. Wie fchon bemerkt, bat unter den Neueren
nur Rothe biefes eigentümliche Wefen des heiligen Geiftes noch
deutlicher entwidelt, obwohl auch andere, wie A. Schweizer in
derfelben Richtung ſich bewegen, die Ausführungen Schleiermadhers
und Rothes bieten aber aud allein einen wirklichen Schlüffel zum
Verjtändnis der paulinifchen und aud der johanneifchen Ausfagen
über den heiligen Geift.
Es ift jedenfalls eine faljche Entgegenfegung, wenn man bie
pſychologiſche Wirkung des göttlichen Wortes, welche ja doch zu
Über das Weſen des yerfönfichen Chriftenflanbes. 479
gleich feine religiös »ethifche ift, als bloß natürliche von einer erft
durch den heiligen Geift Hinzugefügten übernatürlichen Wirkung
ſchlechthin unterfcheiden will. Und doch kann die heilsfräftige Wire
fung bes Evangeliums erft erklärt werden durch die VBorausfekung,
daß die Einwirkung des heiligen Geiftes mit dem natürlichen Ein»
druck derfelben fih verbunden habe (vgl. Matth. 16, 17. Joh.
6, 44f.; 8, 47. Apg. 16, 14. 1Ror. 2, 5. 2 Kor. 4, 65 vgl.
mit 3, 6 und 1Theſſ. 2, 13); wir müſſen dabei fowohl an bie
unter göttlicher Leitung und Einwirkung befonders ermwedte Em⸗
pfänglichkeit denken, ohne welche das Evangelium in keinem Herzen
wirffam werden kann, al8 an die mehr oder weniger unmittelbaren
Anregungen aus dem Gemeinfchaftsleben, welche dazu beitragen,
um das Evangelium kräftig werden zu laſſen, in beiden erweiſt fich
die hinzutretende Wirkſamkeit des heiligen Geiftes (vgl. Schleier.
mader 8 124; 108, 5 und 6). So wird auch einigermaßen
verftändlih, warum einzelne auch abgefehen von verfchuldetem
Widerftreben, fi wenigftens für die befehrende Kraft des göttlichen
Wortes noch nicht empfänglich zeigen, ihre Empfänglichkeit ift durch
die befchriebene Wirkſamkeit des Heiligen Geiftes noch nicht hin⸗
reichend ausgebildet.
Schon die allgemeine Kenntnis, Erfahrung und Gewißheit
(notitia et assensus) davon, daß in Chriſto jenes neue Leben
für die Menjchheit vorhanden und zugänglich fe, übt eine erleuch⸗
tende, anziehende und befreiende Macht über den zuvor in Dunkel,
Furcht und Verkehrtheit gefangenen Geift aus. Wenn aber das
Herz es wagt, auf dem Grunde des Evangeliums die Gnade
Gottes in Chriſto al8 fein Heil und Höchftes Gut perfönlich in
feſter Zuverficht fich zuzueignen (fiducia specialis), dann gewinnt
e8 eben fein neues Leben. Aber gerade diefes perfünliche Wagnis
ſetzt nicht bloß die allgemeine Einladung Gottes voraus, das Herz
muß dazu von Gott getrieben fein durch feinen heiligen Geiſt. So
entfteht der feligmachende Glaube (fides salvifica) durch die
heilsträftige Wirkung des Evangeliums und des heiligen Geiftes,
und denfelben Alt müfjen wir auch die Belehrung nennen. Bei
dem letzteren Alte denken wir nun vorwiegend an die prinzipielle
Abwendung von dem alten fündigen Zuftande und Verhalten jamt
450 Bei
der gründlichen Verurteilung bderfelben in ber Buße, ber erſtete
drüct hauptſächlich die entfcheidende Hinwendung zu der entgegen:
fommenden und nenfchaffenden Gnade Chriſti ans, wodurch das
Subjekt fi von ihm aufnehmen läßt, aber auch ihn aufnimmt in
vollem Vertrauen uud reiner Hingabe. Mit Recht haben die Re
formatoren und die alten edangelifchen Dogmatifer allen Nachdrud
darauf gelegt, daß der Glaube von der Buße nicht getrennt werden
dürfe und dag die Belehrung und die Wiedergeburt ummittelbar
damit verbunden fein. Die Intberiihen DBelenntnisfchriften und
Dogmatiter find nur buch ihre Auffafjung der Kindertaufe teil,
weife gehindert worden, dies ganz deutlich und Tonfequent zu ent
wideln.
Wenn Calvin (Inst. III, 3) !) die poenitentia immer zugleich
ſchon aus der fides hervorgehen Täßt, nicht ausfchließlich aus bem
timor Dei (3, 7 und 15) und die Fortfegung der poenitentia in
der mortificatio und vivificatio durch das ganze Leben hindurch be
tont, jo bängt dies einerjeits mit feiner Erlöfungslchre und ber
von ihm vorausgeſetzten unio cum Deo et Christo fowie mit
feiner Polemik gegen den ſchwärmeriſchen Anabaptismus (2. II,
2, 11; 3, 2 und 14) zufanımen, anderſeits find darin Gefſichts⸗
puntte vertreten, welche auch in ber Intherifchen Lehre entweder
ſchou enthalten find ober fich doch darein leicht einfügen laſſen.
Ehe der entjcheidende Glaubensakt eintritt, ift ja vollends bei dem
Getanften und in ber hriftlihen Kirche Erzogenen auch fchon ber
aufleimende Slanbe wirkſam, und niemals kann und foll überhaupt
im Neuen Bunde bie bloße Geſetzespredigt ohne die Gnadenverfän-
digung zur Erwedung der Buße angewendet werden, alfo geht freilich
die entfcheidende Buße, wie fie bei der Belehrung in Verbindung mit
dem entjcheidenden Glaubensakt zu ihrer vollen Wirkſamkeit gelangt,
felber fehon aus einem gewiften Glauben an da® Heil in Chriſto
hervor. Aber damit ift die Wahrheit und Forderung nicht befeitigt,
daß jener feligmachende Glaube eben doch aud aus der Buße
wiederum hervorgehe und das durch fie vertretene Moment in ber
3) Bgl. Lobſtein, Ethik Calbine, Kap. V.
Über das Wefen des perfünlichen Chriſtenſtandes. 481
Belehrung zur vollen Geltung bringe !). Und fo kennt auch Calvin
eine grundlegende poenitentia, aus welcher die fructus derſelben
hervorgehen (III, Kap. 3, 2—11), wenn er auch nicht einen dies ober
gar unum momentum derſelben gelten laſſen will, unb er redet
öfter von ber participatio Christi und von der regeneratio ale
von einer Thatfache, welche ein- für allemal vollzogen ift und
weiche die Vorausfegung der Heiligung bildet (III, Kap. 3, 6.
9. 10f. 18. 21; vgl. Kap. 1, 1—4 und Rap. 11, 10). Die
Spnoptifer und Paulus verbinden ohnehin die grundlegende Sinness
änderung und Belehrung aufs engfte mit dem entjcheidenden Glau⸗
bensafte, und wenn dies bei Johannes auffallend zurücktritt, fo
wird doch niemand aus dieſer eigentümlichen Lehrdarftellung heraus
eine weſentliche Abweichung in der genannten Richtung begründen
wollen.
Die hiernach weſentlich durch die anziehende und fehöpferifche
Einwirkung Gottes bewirkte Ummendung des Subjektes im Inner⸗
ften von fich felbft und damit von Sünde und Welt zu Gott in
Chrifto ift zugleich deſſen innerſte That, der höchſte und ent-
fcheidende, der fchlechthin neue Befreiungs⸗ und Freiheitsaft, wo⸗
durch feine religiös⸗ſittliche Grundftellung und Grundrichtung prins
zipiell verändert und eben die nene Perfönlichkeit gefchaffen ift
(Joh. 6, 28f. Röm. 4, 20). Und da jegt das Subjekt in feiner
vollen Hinwendung zu der göttlichen Gnade, in feiner lauteren An⸗
eiguung ber göttlichen Vaterliebe und zugleich im gänzlichen Ber-
ziht auf bie entgegenftehende Egoität auch für die Einwirkung und
Gemeinschaft Gottes gründlich und gänzlich geöffnet ift, fo bildet
fih unter der Einkehr Gottes in demſelben (Röm. 5, 5; vgl.
1%0h. 4, 16) die wahrhafte Kebensvereinigung mit Gott
in Chrifto (unio mystica) und die davon umnzertrennlihe Ein»
wohnung des heiligen Geiftes in unmittelbarer Folge jener
Hinwendung und Hingabe. Dadurch erweitert ſich die entjcheidende
That des Subjeltes und der darin geſetzte religiös-fittliche Zuftand
derjelben vollends entfchteden zu einem neuen Leben und Sein
1) Bol. Bed, Ehriftliche Ethik I, 232. 241 ff. Harleß, Ethik, 5 18,
©. 184 f.
ans Gstt und in Gott, umb mit Yezichung Kieranf ik dieſt
Bollendung des Prezeſſes der Befchrung, welche jedech zeitlich
faum von dDiefer zu umterjcheiden ift, die Wiedergeburt zu
nennen "); denn es ift wahrhaftig mum eim memes Geiſtesleben, bei
mau cin gottmenfchlidkes nennen darf, eine Fortſetzung des Lebent
Eprifti in relativem Maße, im Grunde der Berfönluhleit geſchaffen
worden. Schen bei Luther (Comm. ad Gal.) findet ſich die
merfwürbige Außerung: fides consummat divinitatem et, ut
ita dicam, creatrix est divinitatis non in substantia Dei sei
in nobis. Aber wenn er hundertfach hervorhebt, daß wir dur
den Glanben, welcher Gottes oder des heiligen Geiftes Werk in mt
fei, wahrhaft wiebergeboren werben, fo ift je ſchon hierin basienig
im Grund gegeben, was vorhin ven und nur in feine einzeln
Momente zeriegt worden if. Und follte vielleicht Luther feine in
der Schrift „De servo arbitrio““ mit der geiwaltigften Plerophorie
bis ins Außerfle Extrem geltend gemachte Anfchauung je fo voll
ftändig verlafien Haben, dag er bei feiner Auffaffung des recht⸗
fertigenden Glaubens Gottes ſchöpferiſche Wirkſamkeit und dauernde
Einwohnung im Subjekte ganz hintangeſetzt Hätte! Ein oh.
Gerhard 3. B. in feinem gewiß korrekten Locus XVII: „De
justificatione per fidem‘‘ wird nicht müde, zu lehren, daß bie
regeneratio oder renovatio hominis interior und die unio cum
Deo et cum Christo und die donatio spiritus sancti unmittel-
bar mit der fides und der justificatio verbumden feien, da ja aud
fhon die fides nur als opus Dei spiritus sancti in nobis zw
ftande komme (vgl. $ 128. 184—186. 205—211. 226 al). |
Daß nur dieſe Lehre mit Paulus und Johannes übereinftimmt
bedarf Teines Beweiſes, ihr Zufammenhang mit den Synoptikern ift,
wie ſchon oben angedeutet wurde, mehr ein indirekter, und diefe follen
uns vor einfeitiger Ausbildung der bei Paulus und Yohannes
1) Bgl. J. T. Bed, Ehriftliche Ethik IL, S. 242 ff. Schon Hollaz, dem
A Schweizer, Wuttle u. a. faflen die Wiedergeburt als die Vollendung,
das Reſultat der Belehrung. Auch für Calvin mie für Luther iſt dieſelbe
nur in der Bereinigung fämtlicher genannten Momente vorhanden (Inst.
UI, 1-8. 11).
Über das Weſen bes perſönlichen Chriſtenſtandes. 488
vertretenen Seiten ber Abhängigkeit von der fchöpferifhen Wirk⸗
famkeit Gottes und der Rebensgemeinfchaft mit ihm bewahren.
2) Die hanptiächliden Momente des neuen Lebens in
ihrem inneren Berhältniife zu einander.
Aber freilich ein perſönliches Geiſtesleben ift in der
Wiedergeburt gefchaffen worden durch Gott im Menfchen und doch
zugleich durch die höchfte ethifche That des letzteren, und jo ift das
Geſchaffene nicht eine Art von hyperphyſiſcher Subftanz, nicht
ein naturartiger Reim oder Potenz aus Gott, was weder mit dem
perfönlich-geiftigen Wejen ‚Gottes noch mit demjenigen bes Men»
ihen ale des göttlichen Ebenbildes vereinbar wäre. Es wird daher
in biefer Richtung mindeftens zu einer irrigen Auffaffung Anlaß
gegeben, wenn geradezu gejagt wird (Bed a. a. O. I, 254f.),
es fei das nene Leben bes Wiedergeborenen „eine aus Gottes Geift
mitgeteilte felbftändige Lebensſubſtanz und Kraft, bie fich eben
als Geift mit der geiftigen Innenſeite der Seele organiſch zu⸗
jammenfchließt, wie der Leib zufammengefchloffen ift mit der finnen-
haften Außenfeite dev Seele". Das neue Leben befteht aljo auch
nur als kontinnierliher Wille und That der Perfönlichkeit, als
Richtung und Verhalten des Geiftes, aber als ein folches, welches
kräftig und beharrlich ift, weil es einen neuen, in Gott felber ge⸗
gründeten, aus Gott geborenen Anfang darftelit, weil e8 immerhin
zugleih ein Sein ober eine Kraft in fich begreift (Joh. 3, 6.
Röm. 8, 9ff.). Durch diefen Prozeß und diefe That Hat der
Menfch die neue, ja überhaupt erft die volle Perfünlichkeit erlangt,
wie er fie nur durch die prinzipielle Einigung mit Gott, feinem
Vater, feinem geiftigen Lebensgrunde (Apg. 17, 28, vgl. das Ex
zov Ysod sivar bei Joh. 8, 47 u. f. w.) erlangen und nur in
berfelben behaupten kann. Dies tft das tiefite Weſen der Kind⸗
fhaft Sottes. Man kann diefelbe auch einen höheren neuen Cha⸗
rafter nennen, und zwar ben intelligibeln Charakter nad)
einer befannten Bezeihnung Kants, fofern er auch durch eine in⸗
telligible That begründet worden ift. Denn die Belehrung ift nicht
ein ſchlecht empirifcher, einzelner Alt der Seele und ihr Probuft ift
nit eine empirische Beſtimmtheit derfelben im gewöhnlichen Sinne,
wie fie fort tur cmm ciupinre Eerfemelt, am einen folkı
zu geögerer Exerge, in ir geirgt wird. Wenn dieſelbe auf in
ker 3:1 RS sc_:sgex Get, ie feche fie doch als inmerfter un
jexrtraler Geittesaft, welter die gejeme Richtung und hl:
tung des perii:chen Gem̃etlebens im Yemerfien verändert, ll
„mereliihe Revointisn zu rabileler Umfche in der Ordnung der
Triebfedern uud Darimen”, welche alſo eine total neue Neihe vn
pfychologiſchen Allen begründet und fertan beherrichend durchführt,
hinter und über dem empiridhen pinchologiichen Setriebe, welches
weſentlich durch den im dem empiriichen Charakter angelegten Far
falnerus beherrſcht ift. Auch ift jene Beränderung zwar teifweik
durch das empirische Seelenleben vermittelt worden, aber fie ver
danft ihren wirfliden Urfprung dem „intelligibeln“ Geifteswein
des Menſchen und dem Eimvirkten bes überfinnfichen Gottesgeiftet
anf dasfelbe, fie ift eine von oben her gewirfte neue, vollendete
Schöpfung des Geiſtes oder im Geifte des Menſchen, durch melde
die Anlage des gottebenbifdfichen Menfchen zur Gotteskindſchaft et
zur Altualität erhoben und zu jenem überfinnlichen Treiheitsakte be⸗
fähigt worden ift, fie behält auch ihren überweltlicen
Hintergrund und Stügpunkt (ihr dos nos zo ce)
an der neuen Gottesgemeinfhaft in Chriſto und bilde
die Quelle eines ganz neuen Geifteslebens, welches nun kontinuier⸗
li beherrſchend, freilich auch noch kämpfend, hereingreift in das
natürliche Perfonleben und dadurch den empirifchen Charakter ded
Menfchen fortfchreitend verändert.
Gerade auch den letzteren Punkt, nämlich daß das neue Geiftes⸗
(eben trog aller Immanenz desfelben in der neuen Perſönlichkeit
während ihrer irdifhen Entwidelung immer auch relativ trand
cenbent bleibt, weil es ganz an feinem transcendenten Grunde hängt,
hat wiederum Schleiermacher wohl ins Auge gefaßt, nur un
derjenigen Modifikation, welche ihm durch feine Geſamtanſchauung
an die Hand gegeben war. Nach ihm befteht die relative Tran
cendenz an dem Leben bes Wiedergeborenen darin, daß weſentlich
der Gemeingeift, d. 5. ja freilich für ihm der Heilige Geiſt,
welcher nie völlig in die Verfünlichkeit eingeht, ber Grund feine
neuen Lebens ift und bleibt (5 123, 3). In ühnlider Richterz
Über das Weſen des perfönfichen Chriſtenſtandes. 485
bewegen fich die treffenden Bemerkungen von Harleg (Ethik T. A.
S. 220 und 237): „Was da (in der Wiedergeburt) geworden iſt,
ift nicht ein bloß neu geworbenes Geiftesleben des Menfchen, ſon⸗
bern eine Geiftesgemeinfchaft des Tebendigen und bleibenden
Öottes mit une... . Was primitiv in der Wiedergeburt eins
tritt, ift eme neue wirkſame Relation Gottes zu dem
Menfhen. Auf folden Relationen des Nealgrundes unferes
Dafeins ruht aber überhaupt alles rein und wahrhaft geiftige dem
Menfchen fpezififch eignende fogenannte Vermögen. Gerade aud)
die Freiheit ruht ausfchließlih In der Wechfelbeziehung zwiſchen
Gott und dem Menſchen, nicht in der Kreatur als ſolcher, losge⸗
(öft und Tebiglich gedacht von dieſer faktifchen Beziehung.“ Go
verhält es jich in der That; aber eine verbreitete Richtung in ber
heutiger Theologie verwirft folche einfache Srundwahrheiten ale
Myſticismus, faſt als könnte es Religion und Ehriftentum geben
ohne eine Lebendige Wechfelbeziehung zwiſchen Gott und bem
Menfchen. Freilich) darf auch nicht die im unbewußten Grunde ber
Seele wirkſame Relation Gottes in Ehrifto zu dem Menſchen fchon
als die Wiedergeburt unmittelbar begründend angefehen werben, wie
Zhomafins, Harleß u. a. zugunften der Kindertaufe annehmen; zu⸗
nächft liegt im jener Relation an ſich nur die Vorausfegung und
Borbereitung der Wiedergeburt, aber fie kommt in der Wieber-
geburt zur vollendeten Wirkſamkeit und felber zu prinzipieller Voll⸗
endung. Aber noch weniger ift e8 fo gemeint mit jener relativen
Zranscendenz des neuen Lebens, als ob einer ſchon darum bes»
ſelben teilhaftig wäre, weil er äußerlich der CEhriftengemeinde an-
gehört und auch innerlich eine gemwiffe Übereinftimmung mit ihrem
Glauben hegt, während er doch niemal8 Chriftum perſönlich
in entfcheidender That der Belehrung und des Glaubens ergriffen
hat. Die Relation der Gemeinde zu und, auch wenn fie eine
:inigermaßen innerliche ift, ift noch fein ausreichender Grund des
perfönlichen Ehriftenftandes , fie hat nur vorbereitende und vermit-
ende Bedeutung (Schleiermader $ 108, 4).
Meſſen wir von Hier aus noch einmal mit wenigen Worten
ven nunmehr nach feinem wefentlihen Grunde und Inhalte er-
lärten Rindfhaftsftand an der religiöfen Idee, fo er
vi
auf die Annahme und Neuſcheffung des Süubers m
Kinde Gettes Seiner immeren DOualität nad iſt der Menſch al
wicbergeberener, geifilicher, im der Gemeinſchaft Gottes Leben
prinzipiell zur Erfüllung feines der Anlage und Beftimmumg
anerfchaffenen, aber dur Unvelllommenheit und Sünde bit
und verberbten Weſens, zu der Abnlıcke
im Stand der Bolllommenheit erhoben. In
Berhältniiie zu der Welt als der Summe der endlichen Sr
der Chriſt als Kind Gottes feine Erhabenheit oder
Freiheit, aber and jenen Sinn, Trieb und Kraft, welcher dieſelbe
gemäß dem ihm zugewiefenen Standorte und Berufe nach dem
Willen Gottes zu bearbeiten und dem Reiche Gottes einzunerleibe
oder doch dienfibar zu machen firebt, und diefe Stellung bethätigt
er noch jpeziell der Menſchheit und in fpezififcher Modifikation der
chriftlichen Gemeinfhaft gegenüber. In letzterer Beziehung tritt
die chriftliche Nächftenliebe als unmittelbare Erſcheinung der danl⸗
baren Gottes⸗ und Chriſtusliebe mit ihrer extenfiven und inten
fiven Unendlichkeit beherrfchend in den Vordergrund. Das Kind
Gottes ift Abbild Ehrifti geworden, in feiner reinen Gottes⸗
gemeinfchaft vornehmlih ein Abbild feines Prieftertums, in
feinem DBerbältniffe zur Welt ein Abbild feines Künigtumt,
beides auf unzertrennliche Weife in feinem inneren Wefen (vgl.
Luther, delibertate christiana). Schleiermader faßt alle
zufammen, wenn er von der chrijtlichen Kirche, fofern fie Gemein
Schaft der Wiedergeborenen und des heiligen Geiftes ift, folgendes
fagt: „Das Wollen des Reiches Gottes ift die Lebenkein⸗
heit des Ganzen und in jedem Einzelnen fein Gemeingeift; es iſt
aber in dem Ganzen feiner Innerlichkeit nad} ein ſchlechthin krüfties
Gottesbewußtfein, mithin das Sein Gottes in bemfeldtn,
bedingt aber durch das Sein Gottes in Chrifto“ ($ 116, 3).
Fein tft auch fchon in $ 100, 2 von ihm ausgeführt worden,
Über das Weſen de perfönlichen Chriftenftandes. 487
daß die Thätigkeit des Erlöfers an dem Gläubigen nicht nur als
eine perfonbildende, fondern auch als eine weltbildende fich
darftelle.
Diejelbe Höhe und Vollkommenheit des Chriftenftandes in feiner
Richtung auf die mejentlihen Beziehungen des Menfchenlebens
(euchtet an demfelben hervor, wenn wir ihn ale den Stand ber
Zugehörigkeit zu Chriſtus oder beftimmter dee Gliedſchaft
Ehrifti (participatio Christi) betrachten. Der leßtere Ausdrud
behält feine volle Geltung, aud wenn wir feine unmittel-
bare Beziehung zu dem himmlischen Ehriftus annehmen und
uns die unentbehrliche Vermittelung durch den heiligen Geift mit
demfelben und fpeziell durch den gejchichtlihen Zufammenhang mit
feiner irdiſchen Erfcheinung und Gemeinde babei gegenwärtig er-
halten (vgl. Schleiermader 8 100, 3). Denn da Ehrifti
Perfon und Werk ganz in Gott gegründet ift und bie wefentliche
und dauernde Offenbarung und Heilsgegenwart Gottes in ber
Menfchheit vermittelt, fo ift der gefchichtliche Zufammenhang mit
ihm als getragen von dem heiligen Geift zugleich ein Zufammen-
bang mit dem himmlischen und ewigen Chriſtus, das Leben der
Chriften ift durch die Gemeinfchaft des Glaubens mit ihm er»
hoben in die Mitte des göttlichen Lebens, zu welcher die Menfch-
heit an fich fohon in dem Menfchenfohne erhöht worden ift, und
welche nun durch ihn gegenwärtig und wirkſam ift, nur in ver-
Ichiedener Weife, wie im Himmel fo auf Erden (Kol. 3, 1—4)').
1) Wenn für Gott jedenfalls Zeit und Raum, als bloße Ordnungen für
das Leben der Kreatur, feine Mächte bilden, welche feiner Gegenwart und Wirk⸗
ſamkeit irgendwie hemmend oder trennend fich entgegenflellten‘, fo gilt dasjelbe
für das Leben und Wirken Chriſti und bes heiligen Geiſtes, fofern und foweit
es unmittelbar Gottes Leben in fich trägt und darſtellt. Die Verklärung Ehrifti
durch dem heiligen Geift auf Erden, ganz entjprechend feiner perjönlichen Ver⸗
Närung durch die Erhöhung in den Himmel, ift aber Mittel und Erweis
einer noch höheren Gegenwart und Wirkſamkeit besfelben, als fte dem irdiſchen
Ehriftus zukommen konnte (Joh. 14—17). Chriſtus iſt die zepadn der neuen
Menfchheit nicht bloß durch feine Stellung im göttlichen Ratichluß und durd)
fein tebifches Lebenswerk, fondern erft recht durch feine Erhöhung und durch
fein Fortwirken im heiligen Geifte; nur vollzieht fi) das letztere, bie Ber-
gegenwärtigung und Wirkſamkeit des erhöheten Ehriftus, allein im fletigen Zu⸗
40 Beiß
Chriſtus ſamt dem von ihm ausgehenden heiligen Geifte fie
uns nicht bloß den Wert der Gottheit dar, fondern Gott iſt in
ihnen und durch fie vorhanden und fpezifiich wirkſam in er
Menſchheit, und deshalb nimmt der Glaube im heiligen Geifte u
Chriftus als dem Träger und Bermittler gottmenſchlichen
Lebens teil, auch wenn Cbriftus vorerft in die Unfichtbarteit it
Himmels entrüdt ift. Die Ehriften haben aljo al8 Glieder Chriſt
Anteil an der ganzen Fülle und Bedeutung feiner Perfon, fein
Erſcheinung und feines Werkes und zwar in der Zufammenfaflug
des irdifchen und des erhöheten Chriftus, nur dag fie maturgemöf
erft allmählich von der Fülle feiner Gaben durchdrungen werden,
dag überdies nur in ihrer Geſamtheit d. 5. in feinem gan
Leibe fein Leben in annäheruder Vollſtändigkeit fich abbildet
(Schleiermader $ 113, 124 u. 125) und daß fie erft in
der Stunde der zufünftigen Vollendung feiner vollen Herrliälet |
teilhaftig werden können. Darin aber liegt das Entſcheidende für
ihren Stand, daß fie den Zufammenhang mit Ebriftus und ſeinen
Leben nicht erft fuchen und erftreben, fondern als Gläubige auf
dem Grunde feiner Gemeinfchaft in der ftetigen Aneignung und im
ftetigen Gebrauch aller der Büter, Gaben und Kräftebegriffen find,
welche ihnen von Ehrifto und von ber oberen Geifteswelt, ber je
mit ihm angehören, berzufließen. Sie befinden fich durch das Auf
genommenfein in die Gemeinfchaft Chriſti dauernd und prinzipiel
auf einem ganz neuen Lebensboden, in einer neuen Leben“
Sphäre und Lebensatmosphäre, welcher fie mit dem JInnerſten ihret
Geiſtes zugewendet find, und damit aud) unter einer der feitherigen
entgegengefegten Lebensrichtung und Lebenspotenz, deren beherrſchen⸗
den Einflüffen ihre Perfönlichleit ebenfo gründlich als andauern)
geöffnet iſt (Köm. 5, 15. 21; 6, 13f. Kol. 1, 13; vgl. Joh
15, 1—16). Dabei ift wohl zu beachten, daß es Gottes Guade
in Chriſto ift, welche in diefem jene neue Lebensfphäre gefchaffer
und auch die Gläubigen, freilich nicht ohne ihre freie Annahme
diefer Gnade, in diefelbe verjegt Kat; dies ift beſonders deutlid
ſammenhange mit feinem irdiſchen Lebenswerke (Joh. 16, 13—16; vgl Matti.
18, 20).
Über das Weſen des perfönfichen Chriſteuſtandes. 489
ausgeiprochen in ber Anfchauung des Apoſtels Paulus, daß bie
Rinder Gottes oder die Genofjen des Gottesreihes das Ge⸗
Ihlecht des zweiten Adam barftellen (Röm. 5, 15 ff. 1Kor.
15, 45 ff). Hofmann fagt hieran anſchließend: „Der Wieder
geborene befigt fpezifiich das Gut der Lebensgemeinfchaft mit dem,
welcher für die ganze Menſchheit Anfünger eines neuen Lebens ges
worden iſt.“ Aber aud) die Synoptifer enthalten ſchon die Grund»
züge einer folchen Anfchauung von ber Gliedſchaft Ehrifti in allem
denjenigen, was fie über Chriftus als den Herren bes Himmel⸗
reiches und über feine Jünger als die Genoffen oder auch Unter⸗
thanen deöjelben ausfagen (vgl. bef. Matth. 12, 49f.; 17, 26;
22, 1ff.; 18, 18—20; 19, 13—15; vgl. 18, 1—7). Durd die
größere Verinnerlichung, welche dieſe Ausfagen bei Paulus und
Johannes erfahren Haben, find dieſelben nur konſequent fortgebildet
worden entjprechend denjenigen Erfahrungen, welche die Gläubigen
nah der Verklärung Chrifti bei dem Vater von feinem Leben und
Wirken in den Chriften gemacht haben.
Wir haben nun aber das DBerhältnis von Wiedergeburt
und Rechtfertigung zu einander noch bejonders zu beiprechen.
Unfere entjchiedene Hervorhebung ber Wiedergeburt künnte die Mei-
nung erweden, al& ob die prinzipielle Sündenvergebung oder die
Rechtfertigung von ber Wiedergeburt abhängig gedacht wäre, und
dies wird ja neuerdings als „pietiftifche Unterordnung der Wieder-
geburt unter die Rechtfertigung“ ganz befonders getadelt. Wenn
indefien Schleiermader ($ 109, 3 und 4 und $ 101, 1),
Rothe, Nitzſch, Martenjen, Bed (Ethil5 5,3; L, 257 ff.)
unter diefen fchon von Thomafius (Dogmatik $ 75, eine von
ihrem Standpunkte aus vortreffliche Darftellung) ausgefprochenen
Zadel fallen, welchem namentlih auch Dorner (Ölaubenslehre
I, 730 ff.) nunmehr forgfältig auszumweifen gefudht Hat, fo muß
für jene Auffafjung der Sache eine Berechtigung vorliegen, deren
Berüdjichtigung noch keineswegs in die katholiſche oder in bie
Oftandrifche Lehrweife hineinführt. Auch heben jene Theologen
(wenn auch nicht alle mit derfelben Entfchiedenheit, da bei Rothe
und Bed der Gefihtspuntt realer Erneuerung durch Gott einfeitig
überwiegt) hervor, daß fie die Nechtfertigung dennoch als abjoluten
4% Weiß
Gnadenakt Gottes an dem Sünder feſthalten und fie im fen
Weife erft von der wachſenden Heiligung ober gar von menihligem
Verdienfte abhängig machen. Sie wollen den Hechtfertigungät
nur bewahren vor juridifcher oder aud vor kirchlicher (ſakrame—
taler) Außerlichkeit und wollen die beiden, innig verbundenen Mr
mente zur Geltung bringen, daß wir nur auf Grund bes Glu
bens (immerhin per fidem, nit propter fidem) gerectfertig
werden und daß der Glaube ala Wert Gottes in uns allerding
auch die Belehrung oder Wiedergeburt und die lebendige Gemein
Schaft mit dem Erldfer, alfo den Grund des neuen Lebens in
ethiſchen Sinne, in fi ſchließe. Auch die Reformatoren, Lulkt
voran, und in der Hauptfache die evangelifchen Belenntnisicrifte
und Dogmatifer fuchen jenes ganz beredhtigte Intereſſe durdm
zu vertreten, indem fie wenigftens, wie fchon oben angedeutet wır
den tft, die Gleichzeitigkeit von Nechtfertigung und MWiedergeb
oder Belehrung, ferner im Weſen des von Gott gewirkten Glır
bens feine ethifche Natur und feine Kraft zur unio cum Christ
und zur Vermittelung des heiligen Geiftes hervorheben, wenn auf
namentlich im Anſchluß an Melandhthon!), daneben wieber ci
andere Lehrdarftellung hergeht, welche die Grenze jener juribilcen,
ſakramentalen oder auch intelleftualiftifchen Rechtfertigungslehre ev
reicht, indem ſie den Christus extra nos oder die imputatio de
meritum Christi al& objektiven Grund ber Rechtfertigung, bein
Glauben aber das reine Hgyavov Anrzsıxov einfeitig in den Vorder
grund ftellt. Aus diefer legteren Einfeitigkeit haben fich bekannt
für Lehre und Leben namentlich der Iutherifchen Kirche Folgen en
wickelt, welche die Reaktion des Pietismus gerade auch auf diem
1) Die Lchre Melanchthons von der fides und ber justificatio (m da
dritten Ausarbeitung ber Loci) trägt in dem Streben nach logiſcher und lirh
licher Korrektheit einen gewiffen Außerlichen und formaliftiichen Charakter. Cr
Ergänzung kann darin gefunden werden, daß als drittes Stüd ber poenitents
(neben contritio und fides) die nova.obedientia aufgeführt wird. Das Ethik
tritt aber hier mehr dnaliſtiſch neben das Religiöfe (neben die fides), Ahuld
wie die donatio spiritus sancti neben die remissio peccatorum (dgl. and
Lipsius, Dogmatif, 8 714 und Herrlingen, Melandithon, ©. #1
50—58).
Über das Weſen des perſoͤnlichen Chriſtenſtandes. 491
Punkte zunächſt als heilſame Rückkehr zu dem neuteſtamentlichen
und reformatoriſchen Standpunkte erſcheinen ließen ).
Es handelt ſich hier um die wichtige Aufgabe, die evangeliſche
Lehre in ihrem Mittelpunkte davor zu bewahren, daß fie nicht der
Sicherheit toter Gewiſſen Vorſchub Teifte, ftatt der Troſt der er-
ſchrockenen Gewiffen zu fein, und daß nicht entweder ber ethifche,
nah Schleiermachers Ausdrucksweiſe der teleologifhe, Charakter
des Chriftentums verloren gehe, indem die fittliche Forderung bes
neuen Lebens kaum in Betracht gezogen wird neben dem Beſitze
der Sündenvergebung, ober aber der göttlichen Gnade ihre grund»
legende Bedeutung entzogen werde, indem bie Wirkung bderjelben
auf die Zuteilung der Sündenvergebung bejchränft, die Aufgabe
der Belehrung und Erneuerung aber ganz von den eigenen Ans
firengungen (propriis viribus) des Ehriften abhängig gedacht wird.
Eines wie das andere will z. B. Schleiermader abwehren,
wenn er keine Aufnahme in die Gemeinſchaft der Seligfeit Chrifti
zulafien will unabhängig von der Aufnahme in die Sräftigfeit
feines Gottesbemußtfeind und nun die Mitteilung ber Seligkeit
dadurch unabtrennbar macht von der Mitteilung der Vollkommen⸗
beit, daß beide unmittelbar in der Aufnahme in die
Lebensgmeinfhaft Ehrifti gegeben find (8 101, 1) 2).
Diefe Aufnahme aber ift ihm identifch mit der fchöpferifchen Wirk⸗
ſamkeit Chrifti oder der göttlichen Gnade zur Belehrung des Sün⸗
ders, in diefem Sinne find bie Rechtfertigung und die Belehrung
des Sünders als dur einander bedingt gedacht. „Man kann mit
Recht jagen, jeder Akt der Belehrung fei, infofern zugleich das
Bewußtſein der Sündenvergebung nnd der Kindichaft Gottes mit
dem Glauben entfteht, in dem Menfchen felbft eine Deklaration
des allgemeinen göttlichen Ratfchluffes um Chrifti willen zu recht⸗
fertigen.“ So verfchwinde uns das Deklaratorifche wieder in dem
Schöpferifhen (8 109). Schleiermader begnügte fich alfo
1) Bgl. auch 2. Müller, Dogmatifche Abhandlungen, S. 221f. 226 ff.
Dorner, Geichichte der prot. Theologie, S. 634 ff.
3) Als Vorgang vgl. nicht nur Calvin Inst. III, 3, 9; 11, 10 al., fon-
dern auch anftveifenb bei Foh. Gerhard, Loc. XVII, 8 208.
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 32
492 Wei
nicht damit, unfer Problem nur durch einen „Wechſel der Ve⸗
trachtung“ (der religidfen und der ethifchen) Löfen zu wollen, ne
mit feine Löfung gegeben ift für denjenigen, welcher die wirklite
Einheit und die einheitliche Wirklichleit des Neligiöfen und det
Ethifchen im Mittelpunkte der neuen Lebensbildung (Rechtfertigung,
Bekehrung, Wiedergeburt) erlennen möchte. In feiner Darftellug
fiegen Momente der Wahrheit, welche ganz entfchieben feſtzuhalten
find. Der deklaratoriſche Akt der Rechtfertigung ift aufs engite
mit dem fchöpferifchen Gnadenalt der Belehrung zu verfnühfe,
Rechtfertigung umd Wiedergeburt aber find mir als bie zwei w
zertrennlichen Seiten der Aufnahme des empfänglichen Sünders in
die Rebensgemeinfhaft Chriftt zu betrachten. Bedenklich iſt Mi
Schleiermacher nur, daß er, wie ſchon oben hervorgehoben, Got
nicht unmittelbar an der Belehrung und Rechtfertigung bes ein:
zelnen beteiligt fein läßt und dag ſich ihm infolge deſſen di
Rechtfertigung in einen Alt des menſchlichen Bewußtſeins ver
wandelt, Freilich ift er bei ihm als Ausflug der intenfiofte
Gnadenwirkung Gottes zur Belehrung des Sünders keinesweg
bloß menſchlicher Bewußtfeinsatt, zumal wenn wir zugleich daran
denken, wie derfelbe nach Schleiermacher, ganz ähnlich wie bei de
Reformierten, mit der göttlichen Erwählung zufammenhängt.
Wenn man die perfünlihe Gnadenthat Gottes zur Beleh
rung des Sunders oder zu feiner Aufnahme in die Lebensgemei
haft Ehrifti als Grundlage bes perfünlichen Heileftandes ent
ſchieden fefthält, dan kann auch nicht gejagt werden, bie dari
enthaltene Rechtfertigung des Sunders fei ein analytifches Urteil,
weil bei jener Auffaffung der Sünder entfchieden per fidem, nikt
propter fidem gerechtfertigt wird. Die Nechtfertigung vollzieht
fih aber auch nicht bloß als fyntHetifches Urteil, ſondern al
eine That Gottes, welche deflaratorifch und fehöpferifch zugleich if,
jedoch fo, daß für dad Bewußtſein des Gläubigen das Deklarato
riihe dem Schöpferifhen fahlih übergeordnet iſt. Dem
der reine und freie Gnadenwille Gottes in Chrifto ift der Grund
der ebenjowohl vechtfertigenden als neufchaffenden That Gottes at
dem Sünder, wodurch er ihn in die Lebensgemeinfchaft Ehrifti auf
nimmt, und auf diefen reinen und freien Gnadenwillen Gottes in
Uber das Weſen des berfönfichen Chriſtenſtandes.
Chriſto bezieht ſich ber Glaube auch ansſchlichlich, am feine Recht⸗
fertigung bet bie Erklilrung aus einem ausreichenden Motive
ſicheryuſtellen. Die Reflexion auf das ſchopfetiſche Wirken Gottes
un thin kritt ihm nur beftätigend hinzn. So war ja ſchon bie
Wiekſamkeit Chriſti an dei Sundern anf Erben beſchaffen, daß
derſelbe auf eine untrennbare Weiſe durch die Kundgebung der bes
gntidigenden Vaterliebe Gottes re auzog und zugleich durch Die
Offenbarung ſeines ernenenden Geiſtes auf ihre Bekehrung ein⸗
wirkte, und wenn nun die Empfanglichen wirklich im Glauben an
Ehriſtas ſich auſchlofſen, fü wurden fie durch den Alt Ihrer Auf⸗
nahme zugleich in bie lebendige Geiſtesgemeinſchaft Chrifti vollends
hereingezogen, wuhrend fe in erſter Linie beguadigt, d.h. der Ver⸗
gebung ihrer Sunden und der Kindesannuhme verſichert wurden
(Maitthh. 5, 6ff.; 11, 28ff.). Indefſen Hit z. B. auch Schleier
macher (8 109, 4) mit aller Entſchiedenheit ausgeſprochen, daß
Die Rechtfertigung ein freie und abfoluter Gnadenalt Gottes ſei,
bet Beck (Eh I, 287 ff.) Finder fich dieſe Erklaärung in mehr
teſtringletter Weiſe. Wenn man die Rechtfertigung üls That Gottes
auf Die gange Gemeinde bezieht, Ts witd das Wefentlicht an der⸗
felben überhaupt fallen geläfien. Wezieht man dieſelbe aber anf ben
eiuzelnen, fo THHB man inimer fragen, was dern die Rechtfertigung
abgeſehen von dem wenitzfiens ſicher hinzutretenden Bewußtſein der⸗
ſeſlben Uberhaupt becheute, und da doch alle das ketztere dus dem
Glauben herlelten, fo kann alſo bie Rechtfertigung nicht als voll⸗
zogen gedacht werden, außer mit der vollen Etwecdung des Glau⸗
bens (Aoriatio Rasi). Dies behält ſeine Richtigkeit, wenn auch bie
volle Genthyhelt der geſchehenen Rechtſerlignng für den Glanben erſt
allciahlich öde Uberhuupt erſt ſpaͤter ſich einſtellen mag. Somit
vollzicht Dort He Rechtfertigung des Anzeinen allerdings durch ein
ainmerliches Hanbeln im beit Geiſte, Hetz und Gewiffen deeſekben,
nie ja bie Bildung des Glaubens ober der Belehrung ſchon zuvor
dis innerliche und perſbntiche Entgegenkommen Gottes in Chrifto
vorausſetzt. Auch nah Thomafius vollzieht Gott die Recht⸗
fertigting vermöge eines Als wirkſamer Anſchauung desſelben
als caes Bläuibigen in Chriſto, und ber Rechtfertigungsatt blekbt
dein Meiſſchen micht äußerlich, fondern vol lzieht ſich im Glauben
92 *
494 Weiß
und Gewiſſen desſelben (Dogmatif 8 75). Wenn aber dieſes
zugeftanden wird, dann ift doch der „innergöttliche At“, welchen
Thomafins dem Vollzug der Rechtfertigung im Menſchen voran
gehen Täßt, eben noch nicht dieje felber fondern nur ihre Einli-
tung, fozufagen ihr erfter Zeil. Darf man aber aljo teilen beim
Handeln Gottes?
Wir begründen alſo die Rechtfertigung nicht auf die fittlide
Qualität, welche der Ehrift durch den Glauben oder die Wieder:
geburt fid) erworben hat, nicht auf ben Christus in nobis, wohl
aber auf unfer Angeeignetfein im Glauben von Chrifto, auf unſer
durch ihn bewirktes Sein in Ehrifto, wie aud Luther (5. d.
zu Joh. 14, 20) gerne die Sache dargeftellt hat. Und nun er
giebt fich allerdings als unmittelbare Folge der Rechtfertigung, daß
in dem alfo zunächſt zur Begnadigung von Chrifto Angeeigueten
auch Chriſtus und der Heilige Geift einkehren, um durch dieſen
Alt das Werk der Wiedergeburt an ihm zu vollenden. Dem Ein
gehen oder Einwohnen des Heiligen Geiftes entfpricht dann auf der
fubjeltiven Seite die dankbare, hingebende Gegenliebe gegen Gott
und Chriftus, wie fie ja von Paulus und Johannes aufs innigſte
mit dem Befige des heiligen Geiftes verfnüpft und als die um
mittelbarfte und gleichermaßen andauernde Erwiberung der fid) mi
teilenden Liebe Gottes aufgefaßt wird (Röm. 5, 5; 8, 28. Gal.
5, 6. 1%0h. 4, 11ff.). Wir fegen aber auch voraus, daß der
rechtfertigende Glaube Chriſtum ergreife oder dag der Chrift im
Slauben von ihm angeeignet werde, fofern er nicht bloß der Offen
barer, jondern fpeziell in feinem fühnenden Leidensgehorfam, als
der Gefreuzigte und Auferftandene, der wirkliche Vermittler der
göttlihen Gnade, ber wahrhaftige Bundesmittler um
Berfühner ift, welcher durch feine fühnende Genugthuung det
heiligen Baterliebe Gottes es möglih gemacht bat, mit det
Sündern den volllommenen Bund der Gnade und die innigfte Ge⸗
meinfchaft des Lebens einzugehen (Röm. 5, S—11. 28or. 5,
18—21). |
Nur indem wir aud) diefes Moment an dem objektiven Grund
der Rechtfertigung bewahren, bleiben wir in der Kontinwität der
biblifchen und der Kirchlichen Lehre. Auf diefem Grunde wird auf
Über das Weſen bes perfönlichen Ehriftenftandes, 495
erſt der NRechtfertigungsaft felber in feiner. tiefften Bedeutung ver-
ftanden. Denn bei diefem Alte Handelt e8 fi) darum, daß zuerft
das perfünliche Verhältnis zwifchen dem heiligen Gott und dem
fündigen Menfchen wieder richtig geftellt und ins Reine gebracht
werde, ehe die Liebesgemeinfchaft zwifchen beiden fich vollzieht. Es
muß alfo durch die vergebende Gnade Gottes die trennende Schuld
bes Siünders hinweggethan werden. Der Ernft dieſes Vorgangee
aber wird nur gewahrt, wenn Gott feine Vergebung auf einen
von ihm felber veranftalteten Alt der Buße oder Sühne gründet,
wie er von Chrifto als dem heiligen Stellvertreter der Menjchheit
geleiftet worden ift und für diejenigen Geltung bekommt, welche
durch den bußfertigen Glauben in die ſolidariſche Gemeinfchaft
Chriſti des Verfühners eintreten. Läßt man diefe fühnende DVer-
mitteluug im Lebenswerke Chrifti fallen, fo wird man entweder zu
der Annahme Hingeleitet, dag die Sünde im vorchriftlichen Stadium
feine wirffihe Schuld Gott gegenüber herbeiführe, oder man läuft
Gefahr, nachträglich an der Gewißheit der Rechtfertigung zu zweifeln.
Wenn die zuerft genannte Annahme ftattfindet, fo fehlt die Tiefe und
Gründfichkeit der Buße vor dem Empfange und die innige Dank⸗
barkeit nad dem Empfange der Rechtfertigung; beides wird nur
unter dem Kreuze Chrifti des DVerfühners in feiner reinen Stärke
erweckt werden. Jener Zweifel aber müßte fich gerade bei den⸗
jenigen, welche als Glieder der hriftlichen Kirche aufgewachfen find,
um fo leichter und kräftiger einftellen, weil fie in dem gewöhn⸗
lichen Falle, daß fie erft in fpäteren Jahren zur Belehrung kom⸗
men, ihre im Stadium vor der Belchrung begangenen Sünden
noch entfchiedener als wirkliche und perſönliche Schuld ſich anrechnen
müffen als etwa folche, welche vom Heldentum oder Judentum
herüber zu Chrifto geführt werden. Alfo nur indem das Evans
gelium dem Sünder die Gnade Gottes verfündigt, wie fie ihm in
Chrifto dem Verſöhner entgegenfommt und indem der Geift
Gottes ihn zur Aneignung derfelben einladet, Tann in ihm das
trennende Mißtrauen gegen Gott oder die Furcht des böjen Ges
wiffens völlig ſchwinden und jenes ebenfo demütige als freudige
Vertrauen zu ihm fich bilden, welches bie Grundlage für die Recht⸗
fertigung und ihren Brieden abgiebt.
406 | Weiß
3) Bewahrung, Entwickelung und Gewißzheit des nem
Lebensftandes,
Wenden wir und zunäcft zu ber frage von ber Memahruy
und damit zugleih von der fittlihen Bedeutung bes um:
Sehensftandes. Wäre derſelbe eimfeitig durch Gottes allnädtig
Bnadenwirkung in dem Subielte hervorgerufen, in welchem Jul
er denn auch ganz wie eine höhere Natur oder Naturkraſt fü
darftellen würke, dann wäre er auch unverlierbar, er hätte ur
feine Kraft zu entfalten und zu bethätigen. Durch unfere p
ſamte Entmidelung ift eine ſolche Porftellung ausgeiclein
Amifchen dem perfünfichen Bott und feinem kreatürlichen Ebenbik,
dem Menjchen, faun nur eine perſönliche, ethifche, d. 5. in ihm
innerften Kerne durch den Willen unb die Freiheit beftimmte 3
ziehung ftattfinden. Zwar wirb die Freiheit und Geiſtigkeit de
Menfchen im vollen realen Sinne erft im der Wiedergeburt vw
Gott geſchaffen, aber «8 gefchieht wenigftene unter der Meitwirkm
der freien Empfünglichleit des Menfchen, und gerade der Glaubt,
durch welchen die fittlichsgeiftige Berfönlichkeit zur vollen Aktusl-
tät gelangt, kann nur als das Band einer ebenfg freien gfg inuign
Gemeinſchaft mit Bott gedacht werden, und ebenfp bildet bie al
dem Glauben entfprungene Liebe zu Bott ein Prinzip, more de
reinfte Hingabe an denfelben mit der höchſten Selbftändigfeit um
fittlichen Aktivität vereinigt iſt, Somit hefteht eine Gemeinſchuß
auch nur fort durch die kantinuierliche That das Glaube
durch hie heftändige Wiedererztugung jener geiftigen Grundrichtun
aus beren erftmaligem, entſcheidendem Auftreten das neue Lem
gehoren worden iſt. Tireilich die Gnade Gottes, durch melde det
Alt des Glaubens hemirft worden ift, wird unter ber WBemwahrun
derfefben in beim Subjekte immer Fröftiges und gebt tiefer in dab
felbe ein, fo daß her Glaubensalt und Glauhensſtand demſelben
immer mehr erleichtert, immer mehr naturlich und habitneli un
alfe das Banh der Gottesgemeinſchaft immer inuiger und feſter
wird.
Dabei ift nun aher folgender Punkt wohl zu erwägen, melde
gewöhnlich unter dem Titel von Glaube und Werke abgehan
Über das Wefen des perfänlichen Ehriftenftandes. 497
beit wird. Der Glaube bildet zunächft den intelligibeln Cha-
rafter des Wiedergeborenen d. 5. den innerften Punkt feiner per-
fönlichen Lebensrichtung, wodurch er mit Gott und dem Neiche
des ewigen Lebens in Chrifto zufammenhängt; das in ihm geſetzte
Prinzip des göttlichsgeiftigen Lebens ift aber noch nicht zum em⸗
pirifchen Charakter des Menſchen geworden, es muß fich dort
erft ausbreiten und auswirken in ber Succeſſion zeitlicher Seelen⸗
afte und in dem gefamten Umfange des pſychiſchen Organismus
in der Wechjelwirfung mit dem finnlichen Bewußtſein und dem
weltlichen Leben. Hierfür ift nunmehr die Grundlage in ber
neuen Perfönlichkeit gefchaffen, während ohne die Baſis der Wieder:
geburt das Subjelt gerade an den ſucceſſiv Hervortretenden Auf-
gaben, welche das Leben dem fittlihen Streben ftellt, ohne durch⸗
greifenden Erfolg fih abmüht und niemals ein Ganzes oder Voll»
fommenes hervorzubringen imftande ift. Wie leicht zu erſehen ift,
(affen fich bier das inmere und das Äußere Handeln oder empi-
rifcher Charakter und Wandel nicht von einander fcheiden, beide
müffen fortan mit einander von dem neuen übermeltlichen Prinzipe
des Geiftes beftimmt, durchdrungen und gereinigt werben, die Wieder-
geburt muß fih jo in die Heiligung umfegen und darin bes
währen (Röm. 6, 11ff.; 8, I—14. Gal. 5, 16. 25 vgl. Matth.
16, 24ff.). Helligung und Wiedergeburt ftehen, wie auch ſchon
Schleiermacher bemerkt hat (S 106, 1; 110, 3) in einem Ber
Hältnis zu einander, welches demjenigen parallel geht, deſſen Nach⸗
bild e8 ift, welches bei Ehrifto ftattfindet zwifchen dem Alte der
Bereinigung bes Göttlihen mit feiner menjchlihen Natur und
zwifchen der Entwidelung und Wirkungsweife feiner Perfon wäh.
rend des Vereintſeins von beiden in berjelben. Hierher gehört
aud die Bemerkung Schleiermachers in der „chriſtlichen Sitte“
(S. 312): „Soll die Wiedergeburt ein Begriff fein, der Realität
het, fo kann fie nichts anderes fein ald die Einigung des
göttlihen Geiftes mit ber menfhlidhen Intelligenz,
und diefe Einigung rein für fich betrachtet muß als vollendet
erfcheinen, denn der göttliche Geift ift mit ihr als Impuls ober
als Agens im Menſchen gejegt und an ein Mehr ober weniger
ift dabei nicht zu denken, ohne den göttlichen Geiſt felbft dem
4% Weiß
Gnadenakt Gottes an dem Sünder feſthalten und ſie in keiner
Weiſe erſt von der wachſenden Heiligung oder gar von menſchlichem
Verdienſte abhängig machen. Sie wollen den Rechtfertigungsakt
nur bewahren vor juridifher oder auch vor kirchlicher (ſakramen⸗
taler) Außerlichkeit und wollen die beiden, innig verbundenen Mo-
mente zur Geltung bringen, daß wir nur auf Grund des Glau⸗
bens (immerhin per fidem, nicht propter fidem) gerechtfertigt
werden und daß der Glaube ala Werk Gottes in uns allerdings
auch die Belehrung oder Wiedergeburt und die lebendige Gemein:
fhaft mit dem Erföfer, alfo den Grund des neuen Lebens im
ethifchen Sinne, in fich ſchließe. Auch die Neformatoren, Luther
voran, und in der Hauptſache die evangelifchen Bekeuntnisſchriften
und Dogmatifer fuchen jenes ganz berechtigte Intereſſe durchweg
zu vertreten, indem fie wenigftens, wie fchon oben angedeutet wor:
den ift, die Sleichzeitigkeit von Wechtfertigung und Wiedergeburt
oder Belehrung, ferner im Wefen des von Gott gewirkten Glau-
bens feine ethifche Natur und feine Kraft zur unio cum Christo
und zur Vermittelung des heiligen Geiftes hervorheben, wenn auch,
namentlich im Anſchluß an Melandhthon!), daneben wieder eine
andere Lehrdarftellung hergeht, welche die Grenze jener juridifchen,
jatramentalen oder auch intelleftualiftiichen Rechtfertigungslehre er-
reicht, indem fie den Christus extra nos ober bie imputatio des
meritum Christi als objeftiven Grund der Rechtfertigung, beim
Glauben aber da8 reine Ogyavov Anrzrıxov einfeitig in den Vorder:
grund ftellt. Aus diefer legteren Einfeitigfeit haben fich befanntlic)
für Lehre und Leben namentlich der lutheriſchen Kirche Folgen ent»
wickelt, welche die Reaktion des Pietismus gerade auch auf diefem
1) Die Lehre Melauchthous von der fides und ber justificatio (in der
dritten Ausarbeitung der Loci) trägt in dem Streben nach logifcher und kirch⸗
licher Korrektheit einen gewiflen äußerlichen und formaliftiichen Charakter. Eine
Ergänzung faun darin gefunden werden, daß als drittes Stüd der poenitentia
(neben contritio und fides) die nova obedientia aufgeführt wird. Das Ethiſche
teitt aber hier mehr dualiftiich neben das Religiöſe (neben die fides), ähnlich
wie die donatio spiritus sancti neben die remissio peccatorum (dgl. aud)
Lipsius, Dogmatif, $ 714 und Herrlingen, Meandthon, S. 24.
50— 58).
Über das Weſen des perſoͤnlichen Chriſtenſtandes. 491
Punkte zunächſt als heilſame Rückkehr zu dem nenteftamentlichen
und reformatorifchen Standpunkte erjcheinen ließen ?).
Es handelt fich hier um die wichtige Aufgabe, die evangelische
Lehre in ihrem Mittelpuntte davor zu bewahren, daß fie nicht der
Sicherheit toter Gewiſſen Vorſchub Leifte, ftatt der Troſt der er-
Ihrodenen Gewiffen zu fein, und daß nicht entweder der ethifche,
nah Schleiermaders Ausdrucksweiſe ber teleologiihe, Charakter
des Chriftentums verloren gebe, indem die fittliche Forderung des
neuen Lebens kaum in Betracht gezogen wird neben dem Befige
der Sündenvergebung, oder aber der göttlichen Gnade ihre grund»
legende Bedeutung entzogen werde, indem die Wirkung derfelben
auf die Zuteilung der Sünbenvergebung befhränft, die Aufgabe
der Belehrung und Erneuerung aber ganz von den eigenen Ans
ftrengungen (propriüs viribus) des Chriften abhängig gedacht wird.
Eines wie dad andere will 3. B. Schleiermadher abwehren,
wenn er keine Aufnahme in die Gemeinfchaft der Seligkeit Chrifti
zulaffen will unabhängig von der Aufnahme in die Kräftigkeit
ſeines Gottesbewußtfeind und nun die Mitteilung der Seligkeit
dadurch unabtrennbar macht von der Mitteilung der Volllommen-
beit, daß beibe unmittelbar in der Aufnahme in bie
Lebensgmeinfhaft Ehrifti gegeben find ($ 101, 1) 2).
Diefe Aufnahme aber ift ihm identisch mit ber fchöpferifchen Wirk⸗
ſamkeit Chrifti oder der göttlichen Gnade zur Belehrung des Sün⸗
ders, in diefem Sinne find bie Rechtfertigung und bie Belehrung
des Sünder als durch einander bedingt gedacht. „Man kann mit
Recht jagen, jeder Alt der Belehrung fei, infofern zugleich das
Bewußtſein der Sündenvergebung und der Kindfchaft Gottes mit
dem Glauben entjteht, in dem Menſchen felbft eine Deklaration
des allgemeinen göttlichen Ratfchluffes um Chrifti willen zu recht⸗
fertigen.“ So verjchwinde uns das Deklaratorifche wieder in dem
Schöpferiiden ($ 109). Schleiermacher begnügte ſich alfo
1) Bgl. au 8. Müller, Dogmatifche Abhandlungen, S. 221. 226 ff.
Dorner, Geichichte der prot. Theologie, S. 634 ff.
3) Als Vorgang vgl. nicht nur Calvin Inst. III, 3, 9; 11, 10 al., fon-
dern auch anftveifend bei Joh. Gerhard, Loc. XVII, $ 208.
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 32
4% Weiß
nicht damit, unſer Problem nur durch einen „Wechſel der Be⸗
trachtung“ (der religiöſen und der ethiſchen) Löfen zu wollen, wo⸗
mit feine Löfung gegeben ift für denjenigen, welcher die wirkliche
Einheit und die einheitliche Wirklichkeit des Religiöſen und bes
Ethifchen im Mittelpunkte der neuen Lebensblldung (Rechtfertigung,
Belehrung, Wiedergeburt) erkennen möchte. In feiner Darftellung
Liegen Momente ber Wahrheit, welche ganz entfchieben feſtzuhalten
find. Der deflaratorifche Alt der Rechtfertigung tft aufs emgfte
mit dem fchöpferifchen Gnadenakt der Belehrung zu verknüpfen,
Rechtfertigung und Wiedergeburt aber find nur als die zwei un-
zertrennlichen Seiten der Aufnahme des empfänglichen Sünders in
die Lebensgemeinfchaft Chrifti zu betrachten. Bedenklich ift bei
Schleiermacher nur, daß er, wie fchon oben hervorgehoben, Gott
nicht unmittelbar an ber Belehrung und Rechtfertigung des ein:
zelnen beteiligt fein läßt und daß ſich ihm infolge deſſen die
Rechtfertigung in einen Alt des menſchlichen Bewußtſeins ver-
wandelt. Zreilih ift er bei ihm als Ausflug der intenfioften
Gnadenwirkung Gotte® zur Belehrung des Sünders keineswegs
bloß menschlicher Bewußtfeinsaft, zumal wenn wir zugleich daran
denken, wie derfelbe nach Schleiermacher, ganz ähnlich wie bei ben
Neformierten, mit der göttlichen Erwählung zufammenhängt.
Wenn man die perfünlihe Gnadenthat Gottes zur Belch-
rung des Sünder oder zu feiner Aufnahme in bie Qebensgemein-
ſchaft Ehriftt als Grundlage bes perfünlichen Heilsftandes ent-
tchteden fefthält, dann kann auch nicht gejagt werden, bie darin
enthaltene Rechtfertigung des Sünders fei ein analytifches Urteil,
weil bei jener Auffaffung der Sünder entjchieden per fidem, nicht
propter fidem geredtfertigt wird. Die Neöhtfertigung vollzieht
fih aber auh nit bloß als fynthetifches Urteil, fondern als
eine That Gottes, welche deklaratoriſch und ſchöpferiſch zugleich ift,
jedoch fo, daß für dad VBewußtfein des Gläubigen das Deflarato-
riihe dem Schöpferifhen fahlih übergeordnet if. Denn
der reine unb freie Gnadenwille Gottes in Chrifto ift der Grund
ber ebenſowohl rechtfertigenden als neufchaffenden That Gottes an
dem Sünder, woburd er ihn in die Lebensgemeinſchaft Ehrifti auf-
nimmt, und auf biefen veinen und freien Gnadenwillen Gottes im
Uber da8 Weſen des betfönfichen Ehriftenftandes, 408
Chrifto bezieht fich ber Glaube auch ansſchließlich, am feine Recht⸗
fertigung durch bie Erkllrung aus einem ausreichenden Motive
ſicher juſtellen. Die Reflexion auf das ſchopferiſche Wirken Gottes
un iin kritt ihm nur beſtätigend hinzn. So war ja ſchon die
SWirkſumkeit Chriſti an den Sundern anf Erben beſchaffen, daß
derſelbe auf eine untrennbare Weiſe durch die Kmdgebung der be⸗
gntidigenden Vaterliebe Gettes ſie auzog und zugleich durch bie
Offenbaruug ſeines ernenenden Geiſtes auf ihre Bekehrung ein⸗
wirkte, und wenn nun die Empfänglichen wirklich im Glauben an
CEhrtiſtus fi) auſchloſſen, fo wurden ſie durch den Alt Ihrer Auf⸗
nahme zutzleich in bie lebendige Geiſtesgemeinſchaft Chrifti vollends
hereingezogen, wuhrend ſie ih erſter Linte begnadigt, d.h. der Ver⸗
bung ihrer Sunden und der Kindesannahme verſichert wurden
(Multh. 5, 5ff.; 11, 28ff.). Indefſen Bat z. B. auch Schleier⸗
macher (8 109, 4) mit alter Entſchiedenheit ausgefprochen, daß
Die Reqhtfertigung ein freier und abfelater Gnadenalt Gottes jet,
bei Bed (Eihkl I, 257 ff.) finder Fi dieſe Erklaärung in mehr
teſtringletter Worte. Wenn mian die Rechtfertigung als That Gottes
auf die gaͤnze Gemeinde beziehht, ſo wird das Wefentliche am der⸗
felben Aberhaupt fallen gelaſſen. Bezieht man dieſelbe aber auf ben
einzelnen, fo muß man immer fragen, was dern die Rechtfertigung
abgeſehen von dem wenigftens ſicher hinzutretenden Bewußtſein ders
ſelben überhaußt Beute, und da doch alle das ketztere aus dem
Glauben heittten, fo kann alſo die Rechtferizung nicht als voll»
zogin gedacht werden, außer mit der vollen Erweckung des Glan⸗
bins (donatio Raei). DieB behult fehte Richtigkeit, wenn auch bie
volle Gerttzhelt ver geſchehenen Rechtferligung für ben Glanben erſt
SINHähtie odet Uberhaupt erſt ſpäter ſich einſtellen mag. Somit
vdilzichz Gott Se Rechtfertigung des einzelnen allerdings durch ein
duinerliches Banden an bein Geiſte, Hetz und Gewiffen desſelben,
wit ja bie Bildung des Glaubens oder der Bekehrung ſchon zuvor
ns intierliche und perſbatiche Entgegenkommen Gottes in Chrifto
vorausſetzt. Auch nach Thomaſius vollzieht Gott die Recht⸗
feetiung vermoge eines Als wirkſamer Anſchauung desſelben
als dies Glaͤubigen in Chriſto, und der Rechtfertigungsatt biekbt
dem Merfcjen wit äußerlich, fondern vollzieht ft) im Glanben
52 *
494 Weiß
und Gewiffen desfelden (Dogmatik $ 75). Wenn aber diejes
zugeftanden wird, dann ift doch der „inmergöttliche Akt“, welchen
Thomafius dem Vollzug der Rechtfertigung im Menſchen voran-
geben Täßt, eben noch nicht dieſe felber jondern nur ihre Einlei-
tung, fozufagen ihr erfter Zeil. Darf man aber aljo teilen beim
Handeln Gottes?
Wir begründen alfo die Rechtfertigung nicht auf die fitkliche
Qualität, welche der Chrift durch den Glauben oder die Wieder-
geburt fich erworben bat, nicht auf den Christus in nobis, wohl
aber auf unfer Angeeignetfein im Glauben von Chrifto, auf unfer
durch ihn bewirktes Sein in Ehrifto, wie auch Luther (7.2.
zu Joh. 14, 20) gerne die Sache bdargeftellt hat. Und nun er⸗
giebt ſich allerdings als unmittelbare Folge der Rechtfertigung, daß
in dem aljo zunäcft zur Begnadigung von Chrifto Angeeigneten
auch Chriftus und der Heilige Geift einkehren, um durch diejen
Alt das Werk der Wiedergeburt an ihm zu vollenden. Dem Ein.
gehen oder Einwohnen des heiligen Geiftes entjpricht dann auf der
fubjeftiven Seite die dankbare, Hingebende Gegenliebe gegen Gott
und Chrijtus, wie fie ja von Paulus und Johannes aufs innigfte
mit dem Beſitze des heiligen Geiftes verknüpft und als die un-
mittelbarjte und gleichermaßen andauernde Erwiderung der fich mit-
teilenden Liebe Gottes aufgefaßt wird (Nöm. 5, 5; 8, 28. Gal.
5, 6. 1J0h. 4, 11ff.) Wir fegen aber auch voraus, daß der
techtfertigende Glaube Chriftum ergreife oder daß der Chrift im
Glauben von ihm angeeignet werde, fofern er nicht bloß ber Dffen-
barer, fondern fpeziell in feinem ſühnenden Leidensgehorfam, als
der Gekreuzigte und Auferftandene, der wirkliche Vermittler ber
göttlichen Gnade, der wahrhaftige Bundesmittler und
Verſöhner ift, welder burch feine fühnende Genugthuung ber
heiligen DBaterliebe Gottes es möglich gemacht ‚bat, mit ben
Sündern den volllommenen Bund der Gnade und die innigfte Ge⸗
meinfchaft des Lebens einzugehen (Röm. 5, S— 11. 2Kor. 5,
18—21).
Nur indem wir auch diefes Moment an dem objektiven Grunde
der Rechtfertigung bewahren, bleiben wir in der Rontinuität der
bibfifchen und der kirchlichen Lehre. Auf diefem Grunde wird auch
Über das Weſen bes perfönlichen Chriftenftanbes, 495
erſt der Rechtfertigungsaft jelber in feiner. tiefften Bedeutung: vers
ftanden. Denn bei diefem Akte handelt e8 fich darum, dag zuerft
da8 perfünliche Verhältnis zwifchen dem Heiligen Gott und dem
fündigen Menfchen wieder richtig geftellt und ins Reine gebradt
werde, ehe die Liebesgemeinfchaft zwifchen beiden fich vollzieht. Es
muß alfo durch die vergebende Gnade Gottes die trennende Schuld
des Sünders hinweggethan werben. Der Ernft dieſes VBorganges
aber wird nur gewahrt, wenn Gott feine Vergebung auf einen
von ihm felber veranftalteten Aft der Buße oder Sühne gründet,
wie er von Chrifto als dem heiligen Stellvertreter der Menſchheit
geleiftet worden ift und für diejenigen Geltung bekommt, welche
durch den bußfertigen Glauben in die folidarifche Gemeinfchaft
Ehrifti des Verfühners eintreten. Läßt man diefe fühnende Ver⸗
mittelung im Lebenswerfe Chrifti fallen, jo wird man entweder zu
der Annahme Hingeleitet, daß die Sünde im vorcriftlichen Stadium
feine wirkliche Schuld Gott gegenüber herbeiführe, oder man läuft
Gefahr, nachträglich an der Gewißheit der Rechtfertigung zu zweifeln.
Wenn die zuerft genannte Annahme ftattfindet, fo fehlt die Tiefe und
Gründlichkeit der Buße vor dem Empfange und bie innige Dank⸗
barkeit nach dem Empfange der Rechtfertigung; beides wird nur
unter dem Kreuze Chrifti des Verſöhners in feiner reinen Stärke
erweckt werden. jener Zweifel aber müßte fich gerade bei den⸗
jenigen, welche als Glieder der chriftlichen Kirche aufgewachfen find,
um fo leichter und kräftiger einftellen, weil fie in dem gewöhn⸗
lichen Falle, daß fie erft in fpäteren Jahren zur Belehrung kom⸗
men, ihre im Stadium vor der Belehrung begangenen Sünden
noch entfchiedener als wirkliche und perjünliche Schuld fich anrechnen
müffen als etwa ſolche, welche vom SHeidentum oder Judentum
herüber zu Chrifto geführt werden. Alfo nur indem das Evan⸗
gelium dem Sünder die Gnade Gottes verfündigt, wie fie ihm in
Ehrifto dem Verſöhner entgegenkommt und indem der Geift
Gottes ihn zur Aneignung derjelben einladet, kann in ihm das
trennende Mißtrauen gegen Gott oder bie Furcht des böfen Ges
wiſſens völlig fchwinden und jenes ebenjo demütige als freudige
Vertrauen zu ihm ſich bilden, welches die Grumdiage für die Recht⸗
fertigung und ihren Frieden abgiebt.
496 | Weitß
3) Bewahrung, Entwickelung und Gewißzheit des neuen
Lebensftandes,
Menden wir und zunächſt zu der Frage von ber Memwahrung
und damit zugleich von der fittlihen Bedentugg des ueuen
Beheneftandes. Wäre herfelbe einfeitig duch Gottes allmächtige
Gnadenwirkung in dem Subielte hervorgerufen, in welchem Kalle
er denn auch ganz wie eine höhere Natur oder Naturkraft fich
darftellen würke, dann wäre er and unnerlierbar, er hätte nur
feine Kraft zu entfalten und zu bethätigen. Durch unfere ges
ſamte Entmidelung ift eine ſalche Porſtellung gaugsgeſchloſſen.
Awiſchen dem perſönlichen Bott und feinem kreatürlichtzn Ebenbilde,
dem Menſchen, hann nur eine perſönliche, ethiſche, d. h. in ihrem
innerſten Kerne durch den Willen und bie Freiheit beffimmte Ber
ziehung ſtattfinden. Zwar wird die Freiheit und Geiſtigkeit des
Menſchen im nollen realen Sinne erſt im der Wiedergeburt you
Gott geichaffen, aber «8 gejchieht wenigftens unter der Mitwirkung
der freien Empfünglichleit des Menfchen, und gerade ber &laybe,
durch welchen hie fittlich-geiftige Perfönlichkeit zur vollen Altugli⸗
tät gelangt, kann nur als das Band einer chenfg freien glo innjgen
Gemeinſchaft mit Gott gebacht werden, und ebenſo bifdet hie gue
ben Glauben entjprungene Liebe zu Gott ein Prinzip, morie die
veinfte Hingabe an denfelben mit der höchſten Selbſtändigkeit nah
fittlichen Aktivität wereinigt iſt. Somit heiteht eine Gemeinſchaft
auch nur fort durch die Fanginuierliche That des Glaubens,
durch hie heftändige Wiedererzeugung jener geiftigen Grundrichtung,
ang deren erftmaligem, enticheibendem Auftreten dns neue Leben
gehpren worden ift. freilich die Gnade Gottes, durch welche ber
Akt des Glaubens bemirft worden ift, wird unter der Bewahrung
derfefhen in dem Subjekte immer Fröftiger und gebt tiefer in das⸗
ſelbe ein, fo daß her Glaubensgkt und Glauhensſtand demſelben
immer mehr erleichtert, immer mehr natürlich und hahitnell und
alſa das Band der Gottesgeweinſchaft immer inuiger und fefter
wird.
Dabei ift nun aher folgender Punkt wohl zu erinägen, welcher
gewöhnlich unter dem Titel von Glaube und Werke abgeban«
Über das Weſen des perfönlichen Chriſtenſtandes. 497
delt wird. Der Glaube bildet zunächft den intelligibeln Cha-
rafter des Wiedergeborenen d. h. den innerften Punkt feiner per-
fönlichen Lebensrichtung, wodurch er mit Gott und dem Reiche
des ewigen Lebens in Chrifto zufammenhängt; das in ihm gejeßte
Prinzip des göttlich-geiftigen Lebens ift aber nach nicht zum em⸗
pirifhen Charakter des Menſchen geworden, e8 muß fidh dort
erft ausbreiten und auswirken in der Succeffion zeitlicher Seelen»
afte und in dem gefamten Umfange des pfychifchen Organismus
in der Wechjelwirkung mit dem finnlichen Bewußtſein und dem
weltlichen Leben. Hierfür ift nunmehr die Grundlage in der
neuen Perfönlichkeit gejchaffen, während ohne die Bafis der Wieder-
geburt da8 Subjekt gerade an den fucceffiv hervortretenden Auf⸗
gaben, welche da8 Leben dem fittlihen Streben ftellt, ohne durch»
greifenden Erfolg fi abmüht und niemals ein Ganzes oder Voll-
kommenes bervorzubringen imftande iſt. Wie leicht zu erfehen ift,
laſſen fich hier das innere und das äußere Handeln oder empi⸗
riſcher Charakter und Wandel nicht von einander fcheiden, beide
müffen fortan mit einander von dem neuen übermweltlichen Prinzipe
des Geiftes beftimmt, durchdrungen und gereinigt werden, die Wieber-
geburt muß fih fo in die Heiligung umfegen und darin be
währen (Nöm. 6, 11ff.; 8, 1—14. Gal. 5, 16. 25 vgl. Matth.
16, 24ff.). Heiligung und Wiedergeburt ſtehen, wie auch fchon
Schleiermacher bemerkt hat (8 106, 1; 110, 3) in einem Der
bältnis zu einander, welches demjenigen parallel geht, defjen Nach⸗
bild es ift, welches bei Chrifto ftattfindet zwiſchen dem Alte ber
Bereinigung des Göttlichen mit feiner menfchlichen Natur und
zwiichen der Entwidelung und Wirkungsweife feiner Berfon wäh⸗
rend des Dereintfeins von beiden im derfelben. Hierher gehört
auch die Bemerkung Schleiermachers in der „chriftlichen Sitte“
(S. 312): „Soll bie Wiedergeburt ein Begriff fein, der Realität
bat, fo kann fie nichts anderes fein als die Einigung des
göttlihen Geiſtes mit der menſchlichen Sntelligenz,
und diefe Einigung rein für fich betrachtet muß als vollendet
ericheinen, denn ber göttliche Geift ift mit ihr als Impuls oder
als Agens im Menfchen gefetst und an ein Mehr oder weniger
iſt dabei nicht zu denken, ohne den göttlichen Geift felbft dem
498 Weiß
Mehr oder Weniger zu unterwerfen. Ein anderes aber ift es
mit der Einwirkung diefer Einigung beider auf den
pfyhifden Organismus (vgl. Rothe, 8 86 und 200.
Harleß, Ethik $ 25).
Aber nur indem das neue Leben fi alfo bewährt, kann es
fich auch bewahren. Zwar hängt die Bewahrung vor allem von
der befchriebenen ftetigen und kräftigen Neproduftion des Prinzipes
d. h. des Glaubens ab, aber doch auch von ber Durchführung des
Prinzipes im zeitlichen Verlaufe des Seelenlebens und im verein-
zelten Handeln, in welchem die entgegengefeßte Richtung des alten,
natürlich fündigen Lebens fortfchreitend aufgehoben werden muß.
Ora et labora, diefe doppelte Bewegung des Geiftes ift auch zur
Bewahrung des neuen Geiftcölebens notwendig, und die Intenſität
beider Seiten wird nur vorübergehend eine ungleiche fein Können,
weil eine Wechſelwirkung zwijchen beiben befteht und weil beide in
derfelben Wurzel der religiös-fittlihen Energie des neuen Sub-
jeftes ihren Grund haben und zufammenlaufen. Wohl aber dürfen
wir dem Gedanfen Raum geben, daß bei ftetigem und treuem
Feſthalten und Arbeiten nach beiden Seiten hin in der Erneuerung
der Gottesgemeinjchaft und im Geſchäfte der Heiligung zuletzt eine
folhe eftigkeit der erfteren und eine ſolche Durchführung der
leßteren eintrete, baß der neue Lebensftand ein unverlierbarer
werde und nun im engeren Sinne zu einem Stande der Boll-
tommenbeit, foweit diefelbe auf Erben erreichbar ift, geworben
ſei. Durch diefe Annahme glauben wir das Intereſſe des Glaubens
und die betreffenden Ausjagen des Neuen Zeftaments, welche auf
eine Unverlierbarfeit des Gnadenſtandes gerichtet find, um deren
willen auch viele Neuere (Schleiermacher, Nitzſch, Rothe, 3.
Müller, Dorner) diefelbe dem Wiedergeborenen als folchen beilegen,
zu befriedigen und doch auch denjenigen Momenten Rechnung zu
tragen, welche die Verlierbarfeit des Gnadenftandes begründen.
Während Glaube und Wiedergeburtsftand an fih noch einen lös⸗
baren Zufammenhang zwifchen der menfchlichen Subjektivität und
Chriſto darftellen !) fann auf dem Grunde diefes Zufammenhanges
3) Diefe Behauptung ſcheint fi auch aus ber fittlichen Natur der fiden
Über das Wefen des perfönfichen Chriftenflandes. 499
und unter der Mitwirkung ber neuen Perfünlichkeit da8 Band ber
Semeinfchaft mit Chrifto fo feft geknüpft und das Leben des
heiligen Geiftes fo völlig in den gefamten inneren Organismus
derfelben aufgenommen und eingeführt werden, baß der neue Lebens⸗
ftand, zu einer anderen höheren Natur ausgebildet, ein uns
verlierbarer und unzerftörbarer geworden ift. Der Zufammenhang
mit Chriftus ift zur wirklichen Ähnlichkeit mit ihm und zu einem
Berklärtfein durch ihn, wie zu einem Eingelebtfein in ihn fortgebildet ;
der Wiebergeborene tft aus dem Stadium der Kindheit in das
gereifte Mannesalter eingetreten, in welchem die Richtung der Per-
fönfichkeit eine fefte und ausgebildete geworden ift, und an eine
Änderung ihres Grundeharakters ift namentlich deshalb nicht mehr
zu bdenfen, weil er auf dem Grunde der Gnade und Treue Gottes
in Chrifto ruht, welche ihr begonnene und unter der Mitwirkung
des Gläubigen bis zu diefem Punkte fortgeführtes Wert nun auch
vollenden wird (Röm. 8, 28ff. 2 Kor. 4, 6ff. Phil. 1, 6. vgl.
Joh. 17, 1ff. 1905. 2, 14. 19; 3, 6—9). Empirifch Täßt ſich
freilich die Thatſache diefer erreichten Reife des Ehriftenlebens nicht
feftftellen, der Ehrift ſoll feine Seligkeit bis ans Ende mit Furdt
und Zittern und in ftetS ernewertem Suchen ber göttlichen Gnade
fhaffen und nur daneben deffen fich immer wieder getröften, daß
die Treue. Gottes ihn fefthält und am feiner Vollendung arbeitet
(Röm. 8, 12—17. Phil. 3, 12—15; 2, 12. vgl. Joh. 10,
27ff.; 14, 1-17). Am wenigften kann davon die Rebe fein, daß
der zu folder Stufe der Vollkommenheit fortgefchrittene Chrift
das Wohlgefallen Gottes und die ewige Seligkeit nun wie ein
Recht oder Berdienft beanfpruchen und damit den Grund ber recht:
fertigenden Gnade verlaffen würde (Luf. 17, 7). Aber in dem
entwidelten Sinne muß auch auf evangelifhem Boden von chrift-
licher Vollkommenheit gefprochen werden. Wenn dagegen die eine
oder die andere Seite jener oben bezeichneten Doppelbewegung ans
zu ergeben, welche die evangeliiche Lehre, und zwar die Iutherifche noch konſe⸗
quenter als die reformierte, behauptet. Die fides und peccata mortalia (pec-
cata contra conscientiam) Fönnen nicht zufammen beftehen. Vgl. Joh. Ger-
hard, Loc. XVH, $ 188 ff. und XVIU, 8 134—140.
Weiß
haltend verſüumt oder vernachläſſigt wird, dann muß das Band
der Gottesgemeinſchaft wieder erlahmen oder reißen, das neue
Geifteslehen ind Stocken und Siechtum geraten und zuletzt erfterben.
Wer da hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, von dem wird
auch genammen, was er hat, der trügeriſche Schein des Lebens
kann vielleicht längere Zeit vorhalten, der Wiedergeborene kann,
gerade, wenn es ihm an ber rechten Wachſamkeit über fich ſelbſt
fehlt, hei dem allmäßlichen Dahinfchwinden feines neuen Lebens fid
wohl auch felbft über feinen Zuftand täufchen; aber wie ber Fort-
fhritt und das Wachstum in der Vollendung der neuen Berfün-
lichteit, fo muß früher oder fpäter die Untreue ind die Abnahme
im Verfall und Tode derjelben offenbar werden.
Bon bier aus läßt fih nun auch die Frage nad ber Gewiß—⸗
heit des neuen Lebensſtandes (certitudo salutis) annähernd
beantworten. Wenn wir den neuen Lebensftand in dem gefamten
bisher entwidelten Sinne überhaupt als wirklich ſetzen, fo muß der
darin befindliche Chriſt auch eine gewiſſe perfänliche Erfohrung und
Überzeugung davon haben oder doch nad) einiger Zeit gewinnen.
Ein fo neues, fpezififches und entjcheidendes Geiftesleben kann für
denjenigen, welcher es errungen bat, beziehungeweile dem es
von Gott gejchentt worden tft, nicht dauernd verborgen oder
ungemiß bleiben (Röm. 5, 5; 8, 14—16. 2 Kor. 5,5. Eph. 1,
13f. 1 Joh. 3, 18—20. 24; 4, 17ff. vgl. Joh. 14, 21; 15,
45; 16,24; 17, 22f.). Allerdings kann das Bewußtſein vor ber
eylangten Gewißheit und auch nad) berfelben längere Zeit ſchwanken,
wenigftens fa lange nicht jener oben befchriebene Stand der Reife
oder Bolllommenbeit erreicht wird, welcher vielleicht wenigen
Ehriften auf Erden befchieden ift. Bor der Belehrung kann ja
der Borbereitungszuftand ſchon viele Ähnlichkeit mit dem Stande
des neuen Lebens zeigen, und nach derfelben treten nicht felten Zu⸗
fände des Rampfes und der Schwäche ein, welche zu Zweifeln über
das Vorhandenjein des neuen Lebens führen können; für fo viele,
welche in der chriftlichen Kirche aufwachfen, ift ohnehin der letzte
Übergang aus dem Stadium der Vorbereitung in den neuen Lebens⸗
ftand ein fo innerlicher und verborgener, daß der Moment bes
Übergangs fich empirisch durchaus nicht fixieren läßt, und da wir
Über das Weſen bes yerfiefichen Chriſtenſtandes. Sn
auf ber amberen Seite die Möglichkeit des Abnehmens und Er⸗
fterben® im neuen Leken nicht ausgefchlofien haben, fo kann aud)
ein banges Schwanlen darüber entfliehen, ob nicht bereits wieder
der Berluft des neuen Lebens eingetreten fe. Wenn man biefe
Schwierigkeiten erwägt, in weldden der Chriſt fich befindet, ſobald
er Hber feinen Beſiiz des neuen Lebens zur Gewißheit gelangen
wi und hbany weiter hebeult, welden Schaden er ebenfomohl
durch ängftliche Skrupulafität als durch eitle Einbildung fich zu⸗
zießen Tann, zumal vollends, menn diefe Srage noch mit der an⸗
deren von ber götilichen Ermählung in Verbindung geſetzt wird,
fo Begreift man die YZurüdhaltung, ja den Widerwillen, womit
auch einzelne evangeliiche Theologen der Behauptung gegenüber
ftehen, daß eq eine nerfünliche Semißheit des Gnadenftandes gebe
und geben falle. SIudeflen ift der Widerfpruch gegen die Erlenn⸗
barkeit des Gnadenſtandes, ſpeziell gegen die ſubjektive Heilſsgewiß⸗
heit, öfters ber Verräter der nieht deutlich erfannten ober auch ber
kanuten Anficht, daß «6 überhaupt Teinen ficheren Heilsftand des
Subhjektes gehe, welder von dem Stadium bes bloßen Trachtens
nach dem Heil heftimmt gefchieben wäre. Diefe Anſicht glauben
wir durch unfee gefomte Ertwickelung widerlegt zu haben, fie
kann auch nur dazu fühnen, die abfolnte Bedeutung ber Er⸗
löfung aufzuheben und mod; fpeziell den Ernſt der Belehrung
und den Wert des Glaubens fomie die Freudigleit des neuen
Gehorſams abzuſchwächen oder auch das Suhjelt, wie im Ka⸗
tholieiaus, an Me ſleitende Macht der Kirche d. h. des Prieſter⸗
tus zu überfiefern,
Bielleicht mürde aber auf enangelifhem Boden wenigftene ber
Widerwille gegen die behauptete Heilsgewißheit verfchminben, wenn
ftet® der Grundſatz heobarhiet würde, daß niemand weder hei an⸗
been up bei firh ſelber denjelben durch hejondere Er⸗
forſchung ader durch außeyordentfiche Anftrengungen feft« und.
ficherauftellen ſucht, weil dieſe Gewißheit ba, wa dag neue Leben
narhanden. ift, ſchon von ſelher fich aufbringen werde und ſich auf«
4) Rgl. ſchon bie teeffenbe Poſemikl Calvins gegen Anabaptiſten ums
Jeſuiten (Inst. IIL 4, 2. 14), Ähulich Luther in der Schrift „Wide bie
602 | Weiß
dringen muſſe !). Es verhält ſich hier doch ähnlich wie mit ber
leiblichen Gefundheit, über deren Borhandenfein diejenigen aus na»
türlihen Gründen am wenigften reflektieren, welche fie wirklich
befigen. Leben will, wie fchon Bengel in unferer Frage her-
vorhebt, erlebt fein, und wer es erlebt, der gelangt auch zu
dem frohen Gefühle feines Beſitzes, wer es aber nicht erlebt, ſieht
auch früher oder fpäter die Einbildung feines Befſitzes dahin⸗
Ihwinden. Allerdings find auch die naturgemäßen und von Gott
geordneten Bedingungen zu erfüllen, welche ein gefichertes und
zuweilen auch gehobenes Gefühl des neuen Lebens herbeiführen.
Diefe Bedingungen find dreierlei; einmal der unmittelbare
Glaubensakt auf dem Grunde des Evangeliums, der Sakramente
und des chriftlichen Gemeinfchaftstebens, welcher allmählich den Cha⸗
rafter einer ftetig fich reproduzierenden Gefinnung annimmt, jodann
die befondere Erfahrung der Gottesgemeinſchaft im Gebet oder
überhaupt im geordneten Umgange der Seele mit Gott, endlid
ganz befonders noch die Bewährung des neuen Lebens im geord-
neten fittlihen Handeln. Unter der normalen Bereinigung dieſer
drei Funktionen wird die göttliche Verficherung durch den heiligen
Geiſt, ohne welche es feine perfönfiche Heilsgewißheit geben Tann,
beim GChriften ſich einftellen. Dagegen entftehen bei einfeitiger
Pflege der einen oder der anderen von den genannten drei Thätig-
feiten abnorme, ungefunde Richtungen, ebenfo bei allen dreien,
wenn nicht die naturgemäße, geordnete Übung derfelben eingehalten
wird. WIN man dur einfeitige, überfpannte Reflexion auf die
objeltiven Gnadenmittel und auf bie Kirchliche Gemeinſchaft ſich
des Gnadenftandes verfichern, fo entjteht die falſche Kirchlich—
feit, und wir nähern und dem Katholicismus, will man das⸗
ſelbe bewirken durch Fünftliche Pflege und Steigerung des inneren
Umganges mit Gott und Chriftus, fo entfteht myftifher Spi-
ritualismus und Separatismus, will man endli das
Ziel erreichen durch einfeitige und gefteigerte Übung des fittlichen
Handelns, der guten Werke, alfo vielleicht mit befonderer Vorliebe
bimmlifchen Propheten“. Im meientlichen ift damit das Prinzip des Methodis⸗
mus fon verurteilt. — Zn
Über das Weſen des perfönlicsen Chriftenftandes. 508
durch Übung folder Werke, welche nicht direkt durch den Beruf
borgezeichnet find, fo entfteht der Prakticismus mit feinen ver-
fchiedenen Färbungen mehr kirchlicher oder mehr perjönlich-asfes
tifcher oder auch mehr weltlicher, moralifierender Art !). Wir wieber-
holen alfo, daß die perfünliche Heilsgewißheit als ein fpezififches
Lebensgefühl von Gott demjenigen früher oder ſpäter gefchenft
wird, welcher in jenen für den Chriftenitand unentbehrlichen drei
Richtungen bie naturgemäßen, geordneten Funktionen ausübt, und
fie wird ihm, wenn auch Hinfichtlich der Intenſität als eine 08
cillierende, fo lange verbleiben, als er biefelben in normaler Weife
ausübt. Das Chriftenleben wird bei normaler Vereinigung der
genannten Funktionen namentlich auch jene gefunde und erhebende
Harmonie ruhiger, feliger Heildgewißheit und ernten Heiligungs-
ftrebens barftellen, welche die Signatur feiner Vollendung bildet
und die höchſten chriftlichen Charaktere, wie einen Apoftel Paulus,
Luther, Bengel auszeichnet, wie fie uns als Produkt gegenfeitiger
Durchdringung des Intherifchen und des reformierten Typus ber
Srömmigleit vorihwebt (Schleiermadher $ 101, 13).
Man kaun mit einem gewiffen Rechte jagen, das eben bes
Schriebene geſunde Erleben der Heilsgewißheit ſei felber fchon die
Erfahrung des ewigen Lebens; nur follte nachdrücklich hinzu⸗
gefügt werden, es jei dies nur der unvolllommene Beginn bes
ewigen Lebens, welcher auf die jenfeitige Vollendung harre, aber
auch das fichere Unterpfand derſelben darftelle (Joh. 11, 25f.
2Ror. 5, 5ff.). Daß Gott, der Bater der Geifter und bie
Liebe felber, nicht ein Gott der Toten, fondern der Lebendigen ift,
bewährt fi uns zunächſt darin, daß er die nach feinem Bilde ges
ichaffenen und zur Gemeinfchaft mit ihm berufenen Menfchen zus
erft auf Erden geiftig lebendig macht und zu feiner Kindfchaft er-
hebt in Chriſto, dem Urbilde und Herſteller diefer Kindfchaft ımd
1) Bgl. Schleiermacher, Glaubensichre 5 87, 2 und 3. Calvin,
Inst. Lib. III, 14, 16—21. Melandthon, Loc. de praedestinatione.
Luther auf der Höhe feines Glaubensidenlismus (3.8. in „de lib. christ.‘“)
bedarf der Neflerion auf die Werke gar nicht, obgleich ihm dieſelben aus dem
heilsgewifien Glauben ummittelbar folgen. Dagegen vergleiche wieder Job.
Gerhard, Loc. XVII, $ 26; vgl. $ 82 ff. 104.
804 Weiß: Über bad Weſen des perſbulichen Chriftertlandes.
dieſes Lebens. Indem er hierzu bie Bahn der Erldfung dm
ſchlägt, Hat er zugleich denjenigen Weg gewählt, auf welchem allen
für unfere menſchliche Einficht bie teligiöfe Abhingigkeit und Sie
fittliche Freiheit, göttliches utd menfchlichee Zuſamccenwirken, und
auch unter den Meunſchen felber individnelle Perfünlichleit und ſitt⸗
liche Gemeinfchaft zu demſelben Ziele der Hervorbringung eines
gottebenbildlichen Geifterreiihes auf dem Wege allmitihlicher Gut:
wickelung und Arbeit fi vereinigen lufſen. Diefe in Chrifto er⸗
löften und erneuerten Perfonen bilden in ihrem gliedlichen Zu-
fammenhange bie neue Menſchheit, ben Leib Ehrifti, in Ihrem
Durhdrungenfein vorn Gott und feinem Leben fein wahrhaftiges
Reich. Ihrre Werke haben in erfter Linte der Förderung und Ent
widelung ihres perfönlichen Lebens zn dienen, der letzte Zweck
Gottes Tiegt nicht in den Werken der Kinder Gottes ſondern ia
itmen felber und in ihrer Gemeinfchaft mit Gott ums unter ein⸗
nanber, welche der Tempel Gottes iſt und die Offenburung feine
Hirrlichten (1 Kor. 15, 28. Veh. 17, 22ff.).
Det perfönlihe Chriſtenſtand auf Erben, wie ur aus
bet Offenbarung Gottes in Chrifto vom Himmel, aus bot Tiefe des
göttlichen Lebens, ſtammt und die Kräfte des göttlichen, ewitgen
Lebens in diefer irdiſchen und fündigen Menſchenweit offenbart,
iſt amd die befte Apologie des Chriftentums und Ber fidßerfie
Deweis für die von den Ehriften erhoffte Vollendung im hinm—⸗
liſchen Leben. Don diefer Thatſache hat bahet auch alle Theo
logie ausgehen, und amf diefelbe Hat fie alles zu beziehen. Huf
dtefem runde Het fie bie Delle der Selbfägewibhelt und einen
mmerſchüttetkichen Deſtand, in biefes Befchtündung zuncichſt eine um
aufechtbare Poſition, an dieſet Vorausſetzung zunüchſt einen wi
trüglichen Maßſtab und Prufftein der Lehre (vgl. dus testimenitim
Spiritus saneti), Abre ihr Standpunkt Befindet ſich ke Mittels
punkt aller höheren menfchlichen Betrachtung, jaim Mittelpuntte
des Gott und die Menſchheit umfaſſenden gelftigen
Lebens, und deshalb ift die Theologie chen nicht bloße Anthrv⸗
pologie oder empirifche Anleitung zum feligen Leben, fondern fie
ift das Zeugnis von den höchſten Wahrheiten über Gott und bie
Menfchheit, über ihre Vereinigung in Chriſto and über den dur
Klöpper: Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid 2c. 5
tn angebahnten Weg und das zulünftige Ziel der Vollendung der
Menſchheit in Gott und in feinem Weiche.
3.
Der ungewallte Flicken und dns alte Kleid, Der
nene Bein und Die alten Schläude ).
Born
D. Xldert Alöpper.
Es ift bekanntlich Teine vereinzelt daftehende Erfcheinung tn
der nenteftamentlichen Exegeſe, daß über den Sinn von gewiſſen
Schriftworten, die jedem Nichttheologen ohne weiteres Kar zu fein
fcheinen und deshalb als Sprihwörter in den täglichen Gebrauch
übergegangen find, trogdem unter ben Fachmännern bie verſchie⸗
benften, ja entgegengefettten Anfichten ſich erhalten oder neu er»
zeugen. Zu diefen Stellen gehört nit am wenlgften auch bie,
der wir im Folgenden unfere Aufmerkſamkeit zuwenden wollen.
Wir tönnen uns der Aufgabe entheben, die Gefchichte der Aus⸗
legung bes betreffenden Abfchnittes, auch nur im Umriſſe zu ver⸗
zeichnen, da dies vor nicht langer Zeit in dankenswerter Weiſe
von W. Beyfchlag ?) gethan ift, und amch der auf biefem Gebiete
gut orientierte H. Holgmann eine kritiſche Überficht über die
bez. neueren Verhandlungen gegeben Hat °). Wenn wir trotz biefer
und anderer, namentlich der verfchiedenen, auch den fraglichen Ge⸗
1) Matth. 9, 14—17. Marl. 2, 18—22. Luk. 5, 33—39.
3) Der Gleichnisreden Jeſu Matth. 9, 14 — 17 u. ſ. w. Oſterprogramm
der Unviverſität Halle⸗Wittenberg. Halle 1876.
3) Jahrbb. für prot. Theol. IV, 332342.
506 Klöpper
genftand bejprechenden Schriften von B. Weiß, uns von neuem
der Erörterung jenes zuwenden, fo ift e8 von dem Bewußtſein
aus gefchehen, daß bei allen, der Deutung unferer Perikope ges
widmeten uns befannt gewordenen Publikationen, noch gewiſſe
Dunfelheiten und Zweifel zurüdlaffende Punkte rüdfichtlih bes ur-
ſprünglichen Sinnes ber parabolifchen Ausſprüche Jeſu im Rück⸗
ftande geblieben zu fein fchienen, welde uns zu weiterer Klar⸗
ftellung berfelben die Aufforderung geben.
Voraus geht bei allen drei ſynoptiſchen Evangeliften !) der Be
richt, dag Jeſus im Haufe des Zöllnere Matthäus (Mark. und
Luk.: Levi) mit vielen Zöllnern und Sündern gefpeift Hat; dieſer
Umftand von den Pharifäern (Mark.: Schriftgelehrten der Pha-
rifäer, Luk.: Schriftgelehrten und Pharifäer) einer tadelnden Kritik
unterworfen wird, der gegenüber Jeſus fein Verhalten mit dem
Ausfpruch verteidigt, daß nicht die Gefunden fondern die Kranken
des Arztes bedürfen, und daß er nicht gelommen fei, die Gerechten
Sondern die Sünder zu berufen.
Der nun folgende Abfchnitt fcheint nach allen drei Referenten
in irgendwelcher näheren, zeitlichen Verknüpfung mit dem vorauf-
gehenden zu ftehen. Matthäus macht dies am merklichften durch
fein: „rors mgooseygovraı auto os nadnral Indvvov Asyovres“
(9, 14); aber aud) die „os de“ des Lukas (5, 33) weifen auf
die V. 30 namhaft gemachten Schriftgelehrten und Pharifäer zu-
rüd, die alfo noch al8 gegenwärtig vorgeftellt zu werben fcheinen.
Am lockerſten erfcheint die Verknüpfung dieſes Paffus mit dem
Boraufgehenden, bei Markus, wenn er ihn mit den Worten ein-
leitet: „Kai noav of uadnıal Imavvov xal oi Dapıcaloı vr-
orsvovrsg xal Eoyovras xai Asyovos auto x. v. A.“ Diefe
Worte laſſen bekanntlich eine zwiefache Deutung zu. Entweder
giebt Markus durch das yoa» — vnovevovseg eine archäologifche
Notiz; wogegen aber nicht ohne Grund bemerkt worden ift, daß
man in biefem Falle ein roAld oder nuxva als Zufag erwarten
follte. Oder derfelbe Hat andeuten wollen, daß ſich zu der Zeit,
wo Jeſus fih an einem Gaftmahle mit Zöllnern und Sündern
1) Matth. 9, 10—13. Marl. 2, 15—17. Luk. 5, 29 - 32.
Der ungewaltte Flicken und das alte Kleid ıc. 507
beteiligte, die Johannesjünger und Bharifäer eine Faſtenübung ab⸗
gehalten hätten !).
Was nun die Perfönlichkeiten der Fragefteller anlangt, fo wird
man beim erften Anblid bei Markus dazu veranlaßt, anzunehmen,
daß die nämlichen Subjelte, von denen ein damaliges Obfervieren
von Faften notiert war, auch die Fragenden gewejen fein müßten.
Allein die Frageitellung felbft: „dee vi 05 uednrai Inavvov xei
os zav Pagıcalwv vnorevovar“, läßt doch jene Annahme kaum
zu, da man nicht begreift, warum die Fragenden von fich felber
in der dritten Perfon gefprochen haben follten. Nimmt man aber
an, daß das Subjelt indem Zoxovras xai Asyovoı audro ein uns
beitimmtere8 wie zıwös ray Dapıcalov (Marl. 2, 6; fo Bey⸗
Ihlag; Weiß: „Die befannten Gegner Jeſu“) geweien fei, fo ift
jwar „os nadmrai voö ’Iodvvov‘ korreft, aber ftatt ‚os zwv
Dapıoalov“ sollte man doc wohl eigentlih erwarten ,,oi
Nuszegos““,
Bei Lukas können die Sragefteller nur die Schriftgelehrten und
Phariſäer fein, welche wiffen wollen, warum die Jünger des Jo⸗
1) Wenn Weiß hHiergegen (in der 6. Aufl. des Meyerſchen Kommentars
I, 2, ©. 38) bemerkt: daß aber auch nicht der Tag des Feſtmahls V. 15 ge
meint fei, fondern Markus ung in eine ganz neue Situation verfege, um an⸗
zudeuten, daß fich die Erzählung wieder fachlich anreiht, fofern die Gegner ſich jetzt
mit ihrem Borwurf an Jeſum felbft wenden, obwohl fie deufelben nod) in eine
Kritik des Verhaltens feiner Schüler Heiden: jo legt ſich die Frage nahe, welche
Bedeutung haben im angenommenen Falle die WW. joav vnorevorzes? Sollen
fie wiederum nur als eine archäoloifche Nebenbemerkung angejehen werden ?
Wenn dies aber nad) dem „Leben Jeſu“ des Berfaffers (I, 513) nicht ange-
nommen und die Sadjlage dort fo geſchildert wird: „Es war an einem der
traditionellen Fafttage, an dem die Pharifäer und alle, die ſich durch Frömmig⸗
keit auszeichnen wollten, fafteten, wo man Jeſum fragte u. ſ. w.: jo wird man
fragen dürfen, was war da8 für ein traditioneller Faſttag? Etwa der große
Berföhnungstag ober ein wegen einer Landesfalamität Öffentlich ausgefchriebener
Fafttag? In beiden Fällen möchte e8 fich aber ſchwerlich begreiflich machen
laffen, daß Jeſus und feine Jünger ſich von ihrem ganzen Volke jo tfoliert
haben follten, daß fie fih nicht mit am dem beteiligten, wozu die Pharifäer und
alle, die ſich durch Frömmigkeit auszeichnen, wollten ſich in einer durchaus ber
Schrift gemäßen Welle gedrungen fühlten.
Theol. Stud. Jahrg. 1886, 33
508 Klöpper
hannes Häufig faften umd Gebete verrichten in ähnlicher Weiſe wie
auch die Junger der Pharifäer.
Endlich bei Matthäus find die Fragenden die Johannesjünger.
Sie fagen: „dia se nusic xai ol Dapıcaloı vnowsdouev Tolle,
ob dd uadnzal aov od vnorsvovan.“ Man bat gegen biefe Stel.
lung ber Frage eingewendet, daß es unpafjend geweſen fein wiirde,
wenn die Yohannesfünger von Jeſus den Grund (das Motiv) ihres
eigenen häufigen Faſtens hätten erfahren wollen. Allein diefer Ein-
wand ließe fich eben fo gut erheben gegen die Bormulierung der
Frage bei Markus und Lukas, da dort die Schriftgelehrten ber,
tefp. und Pharifäer doch auch das Motiv des Faftens ihrer Schüler
zu wiſſen beanſpruchen. Jener Einwand erledigt fi) einfach da⸗
durch, daß man die Ungelenkheit in der Periodenbildung der hebrai-
fierenden Sprache bei Matthäus in Rechnung zu ziehen bat ?).
Die Yohannesjünger bei Matthäus wollen offenbar nicht ſowohl
wiffen, warum fie felber nebſt den Pharifäern häufigen Faften⸗
übungen ſich unterziehen, fondern vielmehr: weshalb, während
fie und bie Bharifäer?!) Häufige Faſten abhalten, So
Jünger fih des Faftens enthielten ?).
1) Ganz ähnlich Tiegt die Sache Matth. 13, 11, wo Jeſus auf die Frage,
weshalb er zu den 5xAos in Parabeln. rebe, antwortet: „ors vuiv SEdoras
yvavaı rd uvorigia tüs Paoıdslas Toy ovgaruv, &xelvois dE vv dedoras“:
d. h. weil, während e8 auch gegeben ift, zu erfennen..... ‚8 jenen aber nicht
gegeben if. Bol. au Matth. 11, 25, wo Jeſus feinem himmlischen Bater
dafür dankt, daß während dieſer dasfelbe (d. h. die Geheimnifie dee 2. ©.)
den Weiſen und Berftändigen verborgen, er e8 ben Unmündigen offenbart habe.
2) Wenn Weiß und Beyſchlag es als eine „Seltſamkeit“ bezeichnet
haben, wenn die Sohannesjünger fi) auf die Pharifäer, das Otterngezücht ihres
Meifters, berufen haben follten: fo will da® um fo weniger befagen, als ja die
Johannesjünger den Pharifäern ihrer ganzen Geiftesrichtung gemäß weit näher
flanden als Jeſus den Pharifäern, und biefer tro der anderweitig fchärfften
Polemik, namentlich gegen ihre Heuchelei, fie mit ihrer Geſetzeslehre den Sei-
nigen gelegentlich als vefpeftable Autoritäten Binftellt; wenn auch natürlih nur
ihre Worte, nicht ihre Thaten (Matth. 23, 2—3). Warum follen fih num bie
Zünger des Johannes, deren Meifter die Pharifäer ja um nicht® weniger als
um ihrer Faften willen ſcharf angelaffen hatte, fich nicht da, wo es fih um
ein beiden Zeilen Gemeinſames handelte, ganz unbefangen auf die Bharifäer,
als ihre Mitgenoffen in der fraglichen Angelegenheit, berufen haben? Daß bie
Der ungewalkte Fliden und das alte Kleid zc. 509
Faßt man die Worte jo auf, jo ſtellt Matthäus zweifellos die
Sache am einfachften und richtigften dar; und Markus und Lukas
geben nur fcheinbar ein anjchaulicheres Referat, das aber, wie oben
gezeigt, bemerkbarere Unzuträglichleiten mit fich führt als der Be⸗
richt de8 Matthäus. Wahrfcheinlich find aus der, von den Jo⸗
bannesjüngern gefchehenen, fehr paffenden und begreiflihen Miter-
wähnung der Pharifäer, als oft fajtender (bei Matthäus), von
Markus und Lukas die Schriftgelehrten der, vefp. und Pharifäer,
als fih mit an der Frage beteiligende, herausgeſponnen worden.
Dofür, dag nur die Johannesjünger felbft mit einer Trage betreffs
igrer und ber Pharifäer Faften, an Jeſus herangetreten feien, läßt
ſich auch das anführen, daß, wie wir uns fpäter überzeugen werden,
die folgenden Worte Jeſu unverhältnismäßig mehr den Eindrud
machen, an eine ihm naheftehende Genoſſenſchaft, als an bie, wenn
auch zur Zeit noch nicht mit vollem fanatifchen Haß, aber doch
immerhin fchen im feindfeliger Beobachtung ihn umkreiſenden Pha⸗
riſder, gerichtet zu fein.
Die Worte, mit welchen Jeſus die an ihn gerichtete Frage zu⸗
nächſt beantwortet ?), bieten Leine erhebliche Schwierigkeiten bar.
Derfelde motivirt die Unangemeffenheit der johanneifchen und pha-
rifäiihen Faſtenübungen für feine Jünger damit, daß ja biefe
leßgteren, die zu ihm, als dem Bräutigam der meſſianiſchen Hoch⸗
zeitöperiode, in dem Verhältnis nüchfter Angehörigkeit (vioi Too
yvugovos) ftehen, ſich während feiner Anwefenheit nicht paſſend an
einem Ritus beteiligen könnten, der ja nur als entfprechender ſym⸗
boliſcher Ausdrud tiefer Trauer, niederbeugenden Schmerzes ange⸗
feben werden darf. Hatten ja zu diefer Stimmung die (Jünger
des Yohannes, angefichts des vom Täufer verfündeten unmittelbar
bevorſtehenden ſich im verzehrenden Feuer kundgeben follenden End⸗
gerichtes, im Hinblick auf einen, die Tennenreinigung binnen kurzem
vollziehenden Meſſias vollentſprechenden Anlaß. In analoger Weiſe
Phariſäer vor Johannes einen nicht geringen Reſpekt hatten, läßt ſich aus
Matth. 21, 25 ff. und Parallelen, fo wie aus dem günſtigen Bericht des Joſephus
über den Tänfer folgern, der mit Recht von Schürer (N. T. Zeitgeidhichte,
©. 242) auf pharifäiicen Einfluß zurückgeführt ift.
1) Matth. 9, 15 und Barallelen.
83 *
510 Klöpper
auch die Pharifäer, welche das Ende der Dienftbarkeit Israels
unter die Heibenvöller und die Tage des Meſſias dur Bußübungen
berbeizuzwingen fich angelegen fein Tießen. Nicht aber die Sylinger
Jeſu, in deffen Perfon der Meſſias fon in ihrer Mitte war,
und zwar nicht in der Funktion eines Voliftreders göttlicher Straf:
gerichte fondern in der Eigenſchaft eines ſolchen, der ihnen durch
die frohe Botſchaft von dem bereits Berbeigefommenen Himmel»
reiche felige Tage der Freude, und durch feine heilsfpenbenden
Thaten ihnen die Vorempfindung ewiger Erlöfungsherrlichkeit ge
währte.
Sind fomit in der Gegenwart für bie Jünger Jeſu, denen täg-
lich die Schäge des Reiches Gottes in reicher Fülle ausgeteilt
werben, Aktionen nicht an der Stelle, durch welche Leichenfeterlich-
feiten mimetifch zur Darftellung gebracht werben ): fo macht dod
Jeſus anderſeits darauf aufmerffam, daß zu anderer Zeit und
unter anderen Verhältniffen auch für die viol zoü vuupavos
innere Dispofitionszuftände und Motive fi) herausbilden könnten,
aus denen heraus eine Enthaltung von ber gewohnten Lebensweife
in Speife und Trank, als naturgemäße äußere Abfolge fih ergeben
würde. Es fei das bie Zeit, wo der Bräntigam von ihnen ge
nommen fein werde 2). Daß in bdiefen Worten Sefus, von Todes»
ahnung ergriffen, die Möglichkeit eines gewaltſamen Endes in Rech⸗
nung ftellt, kann nicht bezweifelt, und weder durch allegorifche Deu⸗
tung des bez. Ausfpruch® noch durch die Annahme eines rein ob»
jeftiven parabolifchen Beifpieles, deffen direlte Anwendung auf ihn
felber, Jeſus nicht bezwedt hätte, als Thatſache befeitigt werden.
Für die Möglichkeit einer fo frühen Todesweisſagung hat u. E.
n. Beyſchlag einige nicht zu unterfchäenden Inſtanzen gegen
Keim zur Geltung gebracht 3); wie uns denn überhaupt von dem
Grundfage: nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu,
in neuerer Zeit für das Leben Jeſu nicht felten eine zu weit-
1) Matth. 11, 17. Luk. 7, 32.
2) Bol. Joel 1, 8: „Sammere [o Lanb!] wie eine Jungfrau, umgürtet von
Sadtud, um den Bräutigam ihrer Seele.” — er. 6, 26.
) A. a. O. S. 12f.
Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid ıc. 511
greifende Anwendung gemacht, und dem Ahnungsvollen bei fein
organifierten Naturen zu wenig Spielraum gelaffen zu fein fcheint.
Das Renanſche Vorbild der idyllifchen galliläifchen Frühlingszeit
ift von feinen deutſchen Nachfolgern oft buchftäblicher und pedan⸗
tifcher verwertet worden als bei einer geiftigen Organifation zu⸗
läfftg fein dürfte, bei der das Simultane und das Succeffive
nicht fo fcharf zu fcheiben fein wird, daß man für jede neue Kon-
zeption immer auch einen beftimmt nachweisbaren Anftoß von außen
fordern zu müfjen glaubt, um jene, als eine für die reſp. Zeit-
periode mögliche und zuläffige, acceptieren zu können. Daß der
Anblid der ihres Meifters beraubten Johannesjünger, deren Faften
infolge des Scidjals, welches jenen getroffen hatte, zugleich durch
ein neues Motiv von jubjeltiver Natur intenfiv verfchärft erfchien,
Jeſu, der fih ja bewußt war, ein mit ber berrichenden Denk⸗
mweife der maßgebenden Autoritäten ungleich ftärker in Gegenſatz
ftehendes Prinzip zu verfolgen, als dies Johannes gethan hatte,
die Vorahnung eines analogen Geſchickes erweckte, erfcheint uns
phychologiſch nicht jo unwahrfcheinfih, daß wir, die bez. Perikope
in einen beträchtlich fpäteren Abſchnitt des Lebens Jeſu Hinauf-
zurüden, für notwendig erachten müßten. Was dagegen das ein⸗
fache: rörs vnorsvoovos de8 Matthäus anlangt, fo entfpricht es
entfchieden am beiten der in der dämmernden Ahnung Tiegenden
eventuellen Zufunftsperfpeftive, und find wir nicht geneigt, ung die
von Markus und Lulas dargebotenen rveichern Zuſätze (Ev Exetın
zT) Nneog, &v Exslvaıs vais Nuegaıs) anzueignen, da fie jene
Zufunft (post eventum) weit ftärfer accentuieren und zeitlich
firieren, als zuläffig erfcheint, und fie jedenfalls (wenn auch mohl
ohne direftebewußte Intention ihrer Referenten) fchon in ſehr
alter Zeit feitens der Chriſten die Auffafjung nahe gelegt Haben,
die wir in der „Tıdayn z@v ansoozdAmv‘‘ !) finden, in ber es
beißt: „Ihr Lim Gegenfag zu den beuchlerifchen Pharifäern] follt
faften am vierten Tage der Woche und am Nüfttage (nagaoxevnr,
d. h. Freitag).” Ein buchftäbliches Verftändnis der urfprünglichen
Worte Jeſu, mit welchem die nachfolgenden parabolifchen Aus⸗
1) Kap. 8, Auf.
512 Klöpper
ſprüche deöfelben, zu denen wir nunmehr uns wenden, im ftärferen
Kontrafte ftehen.
Was die nun folgenden zwei Kleinen Gleichniſſe anlangt, fo ift
die Formation berfelben bei Matthäus und Markus ziemlich gleich-
lautend, während Lukas erhebliche Abweichungen von jener bar»
bietet. Da nun diefe Tetteren, nad faft einftimmigem Urteil der
neueren Kritiker den Eindruck machen, felundbäre, einem fpäteren
religiöfen Bemußtfein Rechnung tragende Züge barzubieten, fo laffen
wir das lukaniſche Referat zunächſt bei Seite liegen und halten
uns an die ältere Faffung, wobei wir die neueftens mit erfchöpfen-
ber Akribie Eonftatierten und beurteilten Nüancen, bet dem erften und
zweiten Evangeliften, da fie für die Saderflärung von unerheb-
licher Bedeutung find, bier unerdrtert laſſen.
Die bez. Gleichniffe fagen ihrem Inhalte nach aus: Nimmt
man einen Fliden von ungewalktem Zeuge und fett diefen auf
ein altes Gewand, fo erreicht man nicht das, was man anftrebt,
eine Wiederheritellung der Brauchbarkeit des fchadhaften, morjchen
Kleides. Im Gegenteile wird das alte Kleid durch diefes Ergän-
zungsſtück nur noch mehr in feinem einheitlichen Beftande gefchä-
digt. Der neue unappretierte Flicken nämlich zieht ſich nach einiger
Zeit infolge von Näffe zuſammen, erweift ſich zu enge für Die
Stelle, die er ausfüllen foll, und reißt um des willen weitere Stüde
von dem brüchigen Gewande los, fo bag ber Riß, der verftopft
werden follte, nur noch größer wird, als er fchon war.
Nicht minder als in dem erfteren Gleihnis, thut man etwas
Zwedwiderfprechendes, wenn man jungen Moſt in alte Schläuche thut.
Die Schläuche werden gefprengt, der Wein verfchüttet, und feine
undurabler Behälter zu Grunde gerichtet. Vielmehr find für jungen
Wein neue Schläuche zu verwenden, in welchem Falle erreicht wird,
daß beide Beftandteile, der Wein und bie Schläuche, Tonferpirt
werben !).
Berfucht man diefe Gleichniffe zu deuten, fo fcheint es ſich
auf den erften Anblic Hier nahe zu legen: Jeſus babe in ihnen
1) Diefen letzteren Zug: za auporspos ovvrnpoövras, hat nur Mat
thãus. |
Der ungewaltte Flicken unb das alte Kleid ꝛc. 513
das geſchildert, was die Johannesjünger thaten, und was bei ihnen,
und, falls es von Jeſus für feine Jünger adoptiert würde, auch
bei biefen letzteren einen fo zweckzerſtörenden Erfolg haben werde,
wie die beiden Beifpiele vor Augen ftellen. Hiernach wäre das
alte Kleid — das alte jüdische Neligionswefen; die alten Schläuche
— gewiſſe Lebensordnungen desjelben ; ber neue ungewalkte Lappen —
das Faften der Johannesjünger und Pharifüer; der junge Moſt —
das geiftige Prinzip des Täufers, reſp. Jeſu. Allein, jo wird
neueſtens von gewichtiger Seite ?) erwibert, — zur Erklärung des
Umftandes, warum Jeſus feine Finger von Faftenübungen dis⸗
penfiere, können Parabeln nicht verwendet worden fein, in denen
von den Johannesjüngern etwas gejagt fein würde, was fie ja gar
nicht thaten, nämlich: ein Neues zu dem Alten hinzufügen. Gehörte
ja doch das Faften der alten Ordnung der Dinge an, folglich kann
dasfelbe durch den neuen Flicken und den neuen Moſt nicht ſym⸗
bolifch dargeftellt worden fein. Und hätten die Jünger Jeſu die
alte Faſtenordnung der Sohannesjünger und Phariſäer adoptiert,
fo würden fie ja eben nicht ein Neues mit dem Alten, fondern im
Gegenteil ein Altes mit dem Neuen in unzwechmäßiger Weife zus
fammengeftelft haben.
Diefe Erwägungen, fo bdeduziert man weiter, müfjen notwendig
zu ber Einficht führen, daß in den beiden parabolifchen Ausſprüchen
nicht eine Darlegung der Zweckwidrigkeit der Faften für die Jünger
Jeſu enthalten ſei (diefe Trage ſei ja bereits in dem Gleichnis
von den Söhnen des Brautgemaces und dem Bräutigam erle
digt). Vielmehr dienten jene Parabeln dem Zwecke, zu entichul-
digen, oder richtiger: zu erklären, warum die Johannesjünger
nicht anders könnten als das Faftengebot ihres Meifters aus»
führen. Es würde zwedwiderfprechend fein, wenn die Johannes⸗
jünger einen neuen ungewalften Flicken (d. h. die Faftenfitte Jeſu
beftehend in ber Enthaltung von Faften) auf ein altes Kleid
(d. 5. ihren alten jüdifchen Standpunkt) fegen wollten. Die Folge
davon könnte nur bie fein, daß diefe Heräbernahme ber neuen
1) Weiß, Markusevangelium S. 97 ff. und an die bezüglichen Stellen des
Meyerſchen Kommentars; Beyſchlag, a. a. D. ©. 2lf.
614 Klöpper
Sitte ihre gefamte alte Lebensweiſe in Auflöfung bringen werde.
Ähnlich verhafte es fih mit dem zweiten Gfeichniffe ). Der neue
Wein (d. 5. die Faftenfreiheit) dürfe nicht in die alten Schläude
gegoffen (nicht in die alten Xebensgemohnheiten aufgenommen) werben,
wenn nicht diefe felbft zu Grunde gehen follten.
Allein, fo paſſend dies alles auch gefagt fein mag, fo können
wir doch nicht umhin, einige befcheidene Zweifel gegen die Richtig.
feit und Ungemefjenheit der Deutung und Anwendung der be}.
Gleichniſſe gelteud zu machen. Wir dürfen erftlih, wenn aud
nicht für unmöglich, fo doch für gewagt erachten, wenn ein rein
Negatives, das Nichtfaften, durch einen ungewalkten Lappen
parabolifcy dargeftellt worden wäre. Dieſer Anftoß fteigert ſich
noch erheblich bei dem zweiten Gleichnis, wo die Abftinenz von
Faftenübungen mit gährendem Moſt verglichen worden wäre.
Berner: Iſt es angemefien, daß Jeſus — wie bier angenommen
wird — feinen alten Gegnern, den Schriftgelehrten
der Pharifäüer gegenüber, den Standpunkt der Johannes⸗
jünger, der in ber vorliegenden Trage doch zugleich der der
Widerfader felbft war, fo nachfichtig und milde beurteilt? War
eine Rechtfertigung oder auch nur ein Erflärlichmachen defien, was
die Johannisjünger in Gemeinichaft mit den Pharifäern objervierten,
der angenommenen Situation irgendiwie entfprechend! Wäre es
nicht etwas fehr Wohlgethanes geweien, wenn die Pharifäer und
Sohannesjünger fih aus dem neuen evangelifchen Standpuntte
etwas angeeignet hätten, gleichviel, ob ihr altes Seid dabei
noch weiter auseinander ging? Welches Unglück wäre herbeiges
führt worden, wenn Johannesjünger wie Pharifäer auf ihrem alten
Standpunkte, an dem neuen Wein Anteil genommen hätten, wären
auch immerhin dabei ihre alten Schläuche in die Brüche gegangen ?
Iſt es im weiteren glaublih, daß Jeſus vor den Augen der
Schriftgelehrten der Pharifäer das Thun der Yohannesjünger be-
greiflich gemacht haben follte unter Hinweis auf das, mas gefchehen
würde, wenn fie, auf ihrem alten Boden ftehen bleiben wollend,
die Faſtenfreiheit fich aneigneten, was ja nichts anderes war als
2) Wie Beyfchlag Hierüber urteilt, ſ. u.
Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid ıc. 515
der völlige Zufammenbruch ihres bisherigen Standpunktes, ohne
dag der Redner zugleich auch bemerklich gemacht haben follte, in
welcher Weife denn nun das Neue verwendet werden follte? Welchen
Gewinn Hätten denn die Schriftgelehrten für ihre Einficht erlangt,
wenn ihnen nur gejagt wurde: Die Johannesjünger, und fomit
auch ihr felber, thut gut, fo lange ihr noch auf dem Boden des
Judentums verharren wollt, fo zu bleiben, wie ihr feid, da mit
der Aneiguung der enangelifchen Faftenfreiheit nur der Zufammen-
fall eurer gefamten, veligiös-fittlihen Lebensweife erfolgen kann?
Dazu ift noch in Anfchlag zu bringen, dag die Faftenobfervangz
der Bharifäer und Johannesjünger gar nicht etwas jo eng und unzer⸗
trennli) mit dem Judentum Verfnüpftes war, daß, wenn man
einfach von berfelben abftrahbierte, dies als ein fo durchaus Neues
bezeichnet werden durfte, infolgedefien das Judentum felbft feiner
Auflöfung entgegengeführt worden wäre. Große Schichten des
Volkes fetten ja ebenfalls diefen neuen Flicken (d. h. die Faſten⸗
freiheit) auf ihr altes Kleid, thaten ben neuen Wein in alte
Schläuche, ohne daß fich entfernt auch nur die fchlimmen Folgen
eingeftellt hätten, weldye in den beiden Parabeln in Perſpektive ges
ftelit werden. Vielmehr war das Faften, in der Form, mie
e8 die Pharifäer und Johannesjünger betrieben, viele
Jahrhunderte Hindur in Israels Gefchichte etwas Unbekanntes
geweien, ohne daß die Keligionsordnung der alten Hebräer fich
deshalb aufgelöft oder auch nur irgendweldye Beeinträchtigung und
Schädigung erlitten hätte. Würde alfo im Zeitalter Jeſu von
den Pharifäern und den Sohannesjüngern ber neue Flicken auf
ihr altes Kleid gefeht, der neue Wein in bie alten Schläuche ger
goffen fein, fo wären die betreffenden ja damit nur zu einer
Freiheit zurückgekehrt, bei der ihre Vorfahren fi ſehr wohl bes
funden Hatten und von ber auch für die Gegenwart gar nicht ab»
zufehen war, daß fie eine fo verberbliche Wirkung auf den Be⸗
ftand des Alten werde ausüben können, wie Jeſus dies in Aus⸗
ſicht ftellte.
Diefe Einwände gegen bie uns angebotene neue Deutung der
beiden &leichniffe möchten fo erheblicher Natur fein, daß ein Ver⸗
ſuch einer andersartigen Auffaffung derfelben nahe gelegt zu fein
516 Klöpper
bürfte. Daß namentlih die zweite Parabel fich fchwerer unter
den angenommenen Gefichtöpuntt einer Rechtfertigung ober Erklä⸗
rung ber Faftenfitte des Johames und feiner Jünger rüden Lafle,
biefer Einficht hat fih auch Beyſchlag nicht verfchloffen. Allein
der von ihm angebotene Vorſchlag, dem zweiten @leichnis einen
anderen Zwed unterzulegen al® dem erfteren, ift doch von vorn-
herein ſchon durch die große Ähnlichkeit beider, ein fehr gemagtes Unter:
nehmen, zumal da der Redner felbft nicht die mindefte Andeutung
giebt, daß die zweite Parabel, wie der gedachte Exreget annimmt — die
Antwort auf eine andere Trage („warum faften deine Jünger
nicht?“) — gebe, als bie erftere, welche die Yrage beantworten
folle: „Warum faften die Fohannesjünger und Pharifäerjchüler fo
viel?" Werden in biefem letteren Falle die Johannesjunger in
ihrem Thum gerechtfertigt ober entfchuldigt, To zeige Seins in bem
anderen alle durch das zweite Gleichnis, daß, wenn er jungen
Wein in die alten Schläuche thue, dies ein foldher Innerer Wider»
fpruch fein würde, daß beides, Form und Inhalt, Sitte und Leben
daran zugreumde gehen könnte, daß feine Jünger Gefahr Liefen,
an beiden zugleich irre zu werden, weshalb es vielmehr gelte, für
dies neue Leben der Reich⸗Gottesgemeinſchaft neue entfprechendere
Formen zu fuchen !).
Indes, wenn wir aud anerkennen, daß Beyſchlag auf dem
angedeuteten Wege dem zweiten @leichnis ein verhältnismäßig
befferes, feinen charakteriftiichen Zügen entfprechenderes Berftändnis
entgegengebracht bat, fo ift doch die von ihm herausgebracdhte Frag⸗
ftellung eine zu künſtliche, veißt nach bdemfelben Typus gebildete
Sleichnisreden gewaltfam auseinander" und miſcht überdem, unter
dem Bann von gewiffen Vorausfegungen ftehend, auf die wir oben
bereitS hingedeutet haben und die wir fpäter noch näher erörtern
werden, fo fremdartige Züge auch in die relativ richtigere Deutung
der zweiten Parabel, daß wir auch diefe letztere uns nicht jo ohne
weiteres aneignen können.
Gehen wir deshalb, um uns eine eigene Überzeugung zu ges
winnen, an bie Sinterpretation ber fo viele Rätſel bietenden Gleich⸗
1) A. a. O. S. 22f.
Der ungewalkte Flicken unb das alte Kleid ıc. 517
nifſe! Es möchte ſich empfehlen, zunächft die rein formalen
Elemente und Verhältniffe, die in demfelben fich darbieten, ins
Licht zu fielen. Was ift das Gemeinfame in beiden, und worin
differieren fie von einander?
In beiden Parabeln wird ein Neues zu einem Alten in ein
nicht entfprechendes Verhältnis gejett. Sin beiden angenommenen
Fällen übt das Neue in Rüdfiht auf das Alte eine folche Wir⸗
fung aus, daß das Alte dadurd eine Schädigung erleidet. In
beiden Gleichniffen ift da8 Neue offenbar ein an fi Wertvolles
und feineswegs ein für ſich Schädliches, fondern das letztere
nur um des willen, weil es in unangemefjener, zweckwiderſprechen⸗
der Weife mit einem anderen in Verbindung geſetzt wird. So⸗
weit das Gleichartige. Nunmehr die unterfchiedlihen Momente.
Das Bild vom ungewaltten Flicken legt als folches die Vorſtellung
nahe, als fei das bez. Neue etwas Vereinzeltes, Fragmentariſches,
von einem größeren Ganzen Abgetrennted. Dagegen führt uns
der neue Wein auf die Anfchauung einer irgendwelchen neuen
fi) lebendig erweifenden Kraft, eines geiftigen Brinzipes, das eine
ftarfe Expanfionsfraft bethätigt, fih gewaltig auszuwirken und
weiter zu verbreiten ftrebt. Ferner das erftere Gleichnis begnügt
fi; einfach damit, anfchaulich zu machen, daß man ein DVereinzeltes,
Fragmentariſches, eine gewiſſe Kontraktionskraft befigendes, nicht
als Meittel bennten dürfe zwecks der Wiederbrauchbarmachung eines
Beralteten, Undurabeln; dagegen iſt nichts Pofitives darüber ange⸗
deutet, was denn nun Überhaupt geichehen folle. Dagegen fagt
das zweite Gleichnis nicht bloß aus, in welcher Weife ein Neues
mit einem Alten nicht in Beziehung zu fegen fei, fondern zu⸗
gleih pofitiv, was man zu thun habe, um dem Neuen, was ale
folches offenbar in fo hohem Maße wertvoll ift, um dauernd kon⸗
jerviert zu werden, eine angemefjene Yorteriftenz zu fichern. In
dem erjteren Gleichniffe ift alfo die Erhaltung des Alten Zweck;
das Neue, Mittel, um biefen Zweck zu erreichen. In dem zweiten
die Erhaltung des Neuen Zweck; das Alte verfehltes Mittel zur
Erreihung des Zweces, welcher nur durch ein neues Mittel er»
zielt werden Tann.
Nach diejen formalen Präliminarien die Erinnerung an einige
518 Klöpper
allbefannte, aber nicht immer im Gedächtnis behaltene archäo⸗
logische Thatfachen.
Das mofatfche Geſetz hatte nur einen, ein für allemal be
ftimmten Fofttag, den ganz Israel feiern follte dadurch, daß es
„jeine Seele Leiden ließ“ *), den großen Verfühnungstog. Dieſes
Baften entfpricht ganz dem Tage, mo man über feine Sünde Leid
tragen, mit Eruft und Demütigung Buße thun, und Gottes ent-
zogene Gnade wieder zu erlangen fuchen follte. Im Übrigen war
die Beobachtung von Faften dem freien Willen und Antriebe der
Einzelnen überlaffen. Für das ganze Voll wurden Fafttage nur
in folchen Zeitläuften ausgefchrieben, wo befondere Unglücksfälle,
Landesfalamitäten dazu aufforderten, die Seelen vor Jahve zu
beugen, unb bie zeitweilige Enthaltung von der gewöhnlichen Nah.
rung bie äußere ſymboliſche Darftellungsform der inneren, iiber die
Berfündigung und Verſchuldung tief trauernder, gebrochener, zer-
knirſchter Stimmung fein follte. Erft während des Exils traten
zu dem einzigen, vom Geſetz gebotenen Fafttage vier neue, durch
Baften gefeierte Trauergedenktage Hinzu, die auf beftimmte beſon⸗
ders tragiiche Vorfälle der Iettten Unglückszeit eine Beziehung
hatten 2). Nachdem jedoch der Tempel aus feinen Trümmern wieder
erftanden war und eine ‘Deputation aus Bethel nah Jeruſalem
gefandt, die Anfrage ftellte, ob man fernerhin im fünften Monat
trauern und fich enthalten (d. h. faften) follte, erhält Sacharja von
Jahve den Auftrag, in feinem Namen zu fprehen: „Wenn ihr
gefaftet und Leid getragen habt im fünften und fiebeuten Monat,
habt ihre dann mir (d. 5. in Beziehung auf mich, mich dadurd
1) WE) MN, ranewoör vnv yuyiw, die Seele herunterdrücken, herunter-
fiimmen, ſchwächen (3Mof. 16, 31; 28, 27. 32. AMof. 29, 7; 30, 14 xa-
x000 wur), der urfprüngliche Ausdruck für Kaften, |. DilImann, Exod.
und Lev. ©. 582. — „Es fol, um den Ernft der Buße, der Treue u. ſ. w.
zu bezeugen, dem natürlichen Willen etwas abgebrochen, ein ihm fonft erlaubter
Genuß entzogen werden” (Dehler, Theologie des Alten Teftaments, 2. Aufl,
©. 452). In den fpäteren Büchern des Alten Teftaments DIS Jud. 20, 26.
Zah. 7, 5. 2Sam. 12, 16. Eſth. 9, 31. MIYN, das Sich-fafteien, Car. 9, 5;
hald. MW Dan. 6. 19.
2) Sach. 7, 3. 5; 8, 18.
Der ımgewaltte Flicken und das alte Kleid zc. 619
berübrend) gefaftet. Und wenn ihr effet und trinfet, feid ihr es
nicht, die eſſen und trinfen?* ?) D. h. Wie Efien und Zrinfen, fo
fei auch das Faſten ihre Sache. Sie thun damit das, wozu bie
trauernde Seele fie auffordert; Gott Hat davon fo wenig Gewinn
al8 von der Frömmigkeit des Dienfchen (Hiob 22, 2. 3); aber
letstere verlangt er 2). Ya, nah Sad. 8, 18 follen die im Exil
eingeführten Yaftzeiten „dem Haufe Judas zu Luft und Freude
und fröhlichen Fefttagen werden”, d. h. man werde die in Ans
regung gebrachten Faften beibehalten aber fie als Freubenfefte bes
gehen.
Es wird aus dem Angedenteten erhellen, wie weit die Neligion
des Alten Bundes in ihrer klaffiſchen Periode davon entfernt ift,
das Faſten über den im Geſetze felbft firierten Verſöhnungstag
hinaus in der Weife zu erweitern, baß von vornberein beftimmte
Monats oder gar Wochentage diefer Obfervanz gewidmet worden
wären. Im Gegenteil war der prophetijche Geiſt darauf geftimmt,
jelbft die wenigen in der Exildzeit eingedrungenen, von vornherein
beftimmten Yafttage für obfolet zu erklären, nachdem die innere
Gemütslage des Volkes infofern eine andere geworden war, als
eine Situation vorlag, in der es weniger angemeſſen gemwefen wäre,
Jehovas Zorn durch harte auferlegte Opfer zu beſchwichtigen, als
vielmehr feine erlöfenden Thaten mit freudigem, dankerfüllten Herzen
zu preifen.
Wenn nun, biefer Auffafjung entgegengefeßt, feit ber makka⸗
bäifchen Zeit von der pharifäifchen Richtung des Judentums eine
Taftenpraris Eingang fand, welcher zufolge nicht bloß, wie bisher,
in ganz befonders dazu die inneren Motive darbietenden Situationen
aus freiem Antrieb, vom Privatmann oder vom ganzen Volke dann
und wann gefaftet wurde, fondern von vornherein an einem ober
mehreren Tagen der Woche ein ftationäres Faften als eine
notwendige, unverbrüchlihe Äußerungsform echter und wahrer
Frömmigkeit feftgefegt wurde: fo war biefe derartige von ben
pharifätfchen Schriftgelehrten aufgebracdhte und beobachtete Faften⸗
1) Sad. 7, 5—6; vgl. Jeſ. 58, 2—6.
3) Steiner, 81. Proph. ©. 360 fi.
529 Klöpper
objervanz infofern ein novum in SYrael, als darin der urfprüng-
fiche im Geſetz vorgezeichnete und auch vom Prophetismus innege-
baltene Standpunkt in der bezüglichen Frage, nicht unerheblich über-
fchritten war. Zwar war auch diefe neue pharifäifche Faftenübung
urfprünglich wenigftens aus geiftigen Motiven herausgewachien, bie
eine innere Verwandtfchaft hatten mit denjenigen, die in der Erils-
periode zu der Beobachtung von den gedachten Tranerfafttagen im
Jahre geleitet Hatten. Waren ja doch zu der Zeit, in der jene
neue pharifäifche Faſtenweiſe ſich auszubilden anfing, die Nöte und
Drangfale der Exilsperiode zurücgelehrt und eben damit die pfy-
chologiſche Dispofition zu tiefer Trauer, zur Beugung unter die
gewaltige ftrafende Hand Jahves, ein durch Selbftentjagung ver-
ftärftes Flehen um Abwendung der Züchtigungsgerichte vollauf ge-
geben. Ja, felbft im Anbruch der neuteftamentlichen Zeitgefchichte
fehlten innere Motive für das, was in den pharifälfchen Waften-
übungen zum Ausbruc gebracht werden follte, keineswegs, da ja
Jorael, duch feine Sünde und Schuld in die Harte Kuechtfchaft
von beidnifchen oder halbheidniſchen Gewaltherrſchern binabgeftoßen,
in feinen innerften religiöfen Gefühlen täglich auf das empfind-
lichſte verlegt, an der vollen Geltendmachung und Befolgung feines
heiligen Geſetzes mannigfach behindert, umd jo in feinem Berufe
als Gottespolf geftört und von der ihm gewordenen Verheißung,
die Heiden zu unterwerfen und Jahves Gefege unterthan zu machen,
weit entfernt zu fein fchien. Sicher Motive genug, um fich im
Seldftgericht der Buße, in ber Trauerftimmung der eigenen Un⸗
wöärdigfeit zu dem zu reden, der allein die Macht hatte, das Joch
der Sünde zu zerbrechen und Tage ber Freiheit, bes Glückes umd
friedlichen Wohnens in einem von einem Dapididen glorreich bes
berrichten Reiche herbeizuführen!
Welches waren nun aber die Mittel, welche bie Phariläer an-
wendeten, um ihrer Bußftimmung einen Ausbrud zu geben, wem
die Tilgung der Sünde und ihrer Folgen herbeizuführen?
Der Gefamtrichtung des nachexilifchen Judentums entfprechenb,
nach weldyer nicht auf bie innere religiöß-fittliche Gefinnung, fon-
dern auf das äußere, dem Buchſtaben des Geſetzes entſprechende
Thun das Hauptgewicht gelegt wurde: Inm es dem Pharijismus
Der ungewalfte Flicken und das alte Kleid ꝛc. 21
weit weniger auf die Buße als Zerkunirſchung des Herzens, als
wahre aufrichtige Neue über die Sünde felbft an, denn vielmehr
auf gewiffe ritnale Formen, die als Werkleiftungen Gott darge⸗
bracht, ein Verdienſt (Lohn) vor ihm begründen und ihn zur
Zurücknahme feiner Strafbeftimmungen zu veranlaſſen. Trotzdem
Ihon bie Propheten gegen diefe, dem finnlichen Menſchen nahe
liegende Meinung, durch eine Gabe als ſolche, durch die alt-
heiligen Formen der Opfer und Kafteiungen, bie nicht als Aus»
druck, fondern in Stellvertretung der Selbftdemütigung und ber
Aufopferung der böjen Willensrichtung, dargebradht wurden, Gott
zur Berfühnung umftimmen und zum Strafnachlaß bewegen zu
können, als auf bie gefährlichften Abwege wahrer Srömmigleit ihre
warnende und rügende Stimme erhoben Hatten, jo fehrten diefe
nämlichen Beftrebungen, wenn and in etwas verfeinerten, fo doch
in nicht minder der echten Neligiofität gefahrbringenden Formen
innerhalb der Kreife der pharifäifchen Schriftgelehrten zurüd.
In der altſynagogalen Theologie ift die Buße (teschuba) eine
Leiftung, durch welche eine begangene Sünde gut gemadt und
ihre Wirkung wieder aufgehoben wird. „Man achte auf den Aus⸗
drud Iamwn mwy]: die Buße ift ein Werk, eine Leiftung, nicht
Sinnedänderung, neravore" 1), „Die Buße nam ift dem Wort⸗
laut nad die Rückkehr des Siünders von ber Geſetzwidrigkeit zur
Geſetzeserfüllung. Sie wird weſentlich als Thun aufgefaßt. Wo fie
näher bejchrieben wird, findet ſich als erfter Wefensbeftandteil nn
Belenntnis der Sünden” 2). — „Das Belenntnis gewährt nad
Jalkut Schim., Beresch, 159 ein Berdienft und ift förderlich für
diefes und das ewige Leben“ 2). „Die Buße als Selbftwerurtei«
fung des Sünders findet einen thatfächlichen Ausdrud in dem,
was ber Sünder ſich felbit anthut, um feine Sünde an fich zu
ftrafen. Nach Pesikta 160* gehört zu ihr das Faſten, welchem
gleichfalls die Aufhebung des göttlichen Strafbefchluffes als Wir-
fung beigelegt wird Beresch. rabba c. 44, und weldes als ver»
1) Weber, Syſtem ber altiynagog. Theologie, S. 252.
2) Ebd. ©. 308.
8) Ebd. ©. 304.
622 Klöpper
bienftlich rar und als Bedingung für ben göttlichen Strafnachlaß
bezeichnet wird, an beiden Stellen in Verbindung mit den Al
mofen. Wenn Gottes Zorn auf der Gemeinde laftet und fie mit
Dürre heimfucht, jo bejänftigt es neben dem Gebet ben göttlichen
Zorn Taanith 8°. Durch Baften bewahrt man fich nad) Baba
mezia 85* vor dem Feuer des Gehinnom und macht fi) pofitiv
der Erbörung des Gebete würdig; gewiſſe Bitten werben ofne
Saften nicht erhört“ ?).
Aus diefem Anſchanungskreiſe heraus machen fich die Züge,
welche die Evangelien von dem Faſten der Pharifäer entwerfen,
durchaus verftändlih. In dem Faſten der „Heuchler“, vor wel
chem Matth. 6, 16—18 gewarnt wird, foll durch das, was der
Menſch feinem Leibe anthut und wovon der trübfelige Ausdrud
des Gefichtes Zeugnis giebt, die Bewunderung der Zufchauer und
ber Lohn jeiteng Gottes (der doch ind Verborgene fieht), erworben
werden. Der Pharifäer des Infauifchen Sleichniffes (18, 10O—14)
bat in dem Dantgebet, in welchem er Gott feine Verdienjte vor:
rechnet, unter den pofitiven Gerechtigfeitsleiftungen an erfter Stelle
das durch feine Zeitdauer imponierende zweimalige Taften in jeder
Woche, ohne dasjelbe auch nur mit irgendeiner an Bußfertigfeit
anflingenden Stimmung in Beziehung zu jegen.
War fomit die Frömmigkeit der Phariſäer wieder geworben,
worüber feiner Zeit Hofea zu Hagen Hatte, — „wie das Morgen⸗
gewölt und wie der Zau, der bald fchwindet“ , ober wie es Je⸗
remia ausbrüdt zu einem „Umkehren mit Trug“ 2): fo tritt une
die Buße und ihre Außerung bei Johannes dem Täufer wieder in
einer Auffaffung und Geftalt entgegen, wie fie dem prophetifchen
Geiſte des Alten Bundes entiprah, und wie fie als Vorbe-
dingung für das Herannahen „des Tages Jahves“ und feines
Gejalbten jchlechterdings erforderlich war. Johannes leiftete dem
Worte des Propheten Folge, der da fpricht: „Aber auch jetzt noch,
ſpricht Jahve, Tehret zu mir mit eurem ganzen Herzen und mit
Faften und Weinen und Klagen, zerreißet eure Herzen und nicht
1) Weber a. a. O., ©. 304 f.
2) Hof. 6, 4. Jer. 8, 10.
Der ungewallte Fliden und das alte Kleid zc. 523
eure Kleider und fehret zu Jahve, eurem Gott, deun gnädig und
barmherzig und langmütig ift er.“ „Weihet ein Faften ....
denn nahe ift Jahves Tag“ ?). Und der Ernft, die Aufrichtigkeit
und Wahrhaftigkeit der Sinnesänderung, melde er von dem Wolfe
beanipruchte, gewährte ſolchen Pharifäern keinen Zutritt zu feiner
Bußtaufe, welche im ftolzen Vertrauen auf ihre Abrahamskind⸗
fchaft keine Garantie ungehenchelter, demütiger Beugung vor Gott
und thatbereiter Umkehr zum letzteren gemwührten. Sein Faften
war die treue Wiederſpiegelung der inneren Stimmung, die Ber-
leiblichung des ihn ganz durchdringenden Bewußtſeins, daß die Axt
an die Wurzel der Bäume gelegt fei, daß es alſo darauf an⸗
tomme, ſich im eine folche innere und äußere Verfafjung zu jeten,
um dem fi binnen kurzem im einem vermihtenden Fenergericht
entlobernden Gotteszorun zu entrinnen. Indem “Johaunes bie Miſ⸗
fion Hatte, die Intonation zum geben zum Sonvroas, jo mar bier-
für die angemefjene äußere Lebensform bie eines ars dardtem
units ivov ?).
Allein, wenn fo für den Täufer, als den dem Meſſias die Bahn
bereitenden wiedererweckten Elias, Bnftrauer und Falten die Mo⸗
mente waren, die er als Borbedingungen des Eimtritts in das
fünftige Gotte@reih prinzipiell zur Anerkennung zu bringen hatte:
hatten denn biefelben das Recht, eine ausſchließliche uneinge-
ſchränkte und unbedingte Geltung und Bedentung auch dann noch
für ſich in Anfpruch zu nehmen, als der Meſſias bereits gekommen
war, das Signal zum ooxrjoaadas gegeben hatte und ſich ale
vos ardanisnov dadlov zei relvoy ber Welt dargeftelit hatte? ®)
Daß dies nicht ber Fall jet, daß die, wenn auch für die unmittel⸗
bar-vormeifianifche Zeit durchaus berechtigte uud dem Raiſchluſſe
ber göttlichen Zoglc enkfprechende “) Stimmungs⸗ und Lebensweiſe
des Zohammes eine Einschränkung und Modifilation erleiden mäße
für diejenigen, in deren Mitte der meſſianiſche Bräutigam be⸗
1) Joel 2, 12—13 ; 1, 14f.
2) Matth. 11, 17. Luk. 7, 32f.
8) Matth. 11, 17—19. Ruf. 7, 82. 34.
4) Matih. 11, 19. Luk. 7, 85.
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 34
524 Klöpper
reits verkehrte, haben wir aus dem Munde besjelben bereits ver-
nommen. -
Wenn nun aber die Jünger des Täufers, ohne Flares und
höheres Bewußtfein bavon, daß dad Mejfinsreich nicht mehr in, von
den dunkeln Wollen des göttlichen Gerichtszornes verhüflter Nebel-
ferne lag, fondern fich bereits in der Perſon Jeſn mit feinen
Heildgütern auf der Erde auszubreiten angefangen hatte, ungeachtet
deſſen fich harten, mit peinlicher Gewiſſenhaftigkeit und Geſetz⸗
mäßigfeit innegehaltenen Faftenerercitien Bingaben, lag diefem Thun
nicht die Vorausjegung zugrunde, einmal, daß die alte Religions⸗
ordnung noch beftehe und daß fie vorderhand fortbeftehen werde
und folle; dann, daß fie Hier und da an einzelnen Punkten ber
Beſſerung bedürftig fei; und endlich, daß ihr diefe Reparatur durch
die große, der Ankunft des Mefifias vorausgehende, in fcharfen
Saftenkafteiungen ihre Wahrheit und Echtheit bewährende Buße zu
teil werden müſſe?
Wie wäre e8, wenn wir das, was wir als Anfchauung, Zweck
und Praris der Fohannesjünger Fonftatiert haben, in dem Worte
des Herrn von dem Auffegen eines ungewalkten Zeugftückes auf
ein altes Kleid dargelegt finden könnten? Das alte Gewand märe
nicht die Religion des Alten Bundes, fondern das empirische JIuden⸗
tum, wie es zur Zeit fih als ein mannigfache einzelne Schäden
an fi Habendes präfentierte. Allein, wenn auch hier und da Riſſe
in bemfelben fich bemerklih machen, fo ift e8 troßdem, nad) der
Anfchauung des Täufers und feiner Schüler, noch nicht fo un-
brauchbar, daß es nicht durch einzelne, ihm beizubringende Korrel⸗
turen wieder in Stand geſetzt werden könnte. Dies foll bemirft
werben durd einen ungewalkten Zappen, d. 5. durch die mit ber
Meifiasidee in unmittelbarer Beziehung ftehende, vertiefte und fid
dem entfprechend in verfchärften Baftenlafteiungen einen Ausdruck
gebende Bußtraner.
Und der Erfolg, den Jeſus von diefer, an dem alten Ge⸗
wande vorgenommenen Nteparaturarbeit, d. h. von der Verwer⸗
tung eines fragmentarifchen Beftandteiles der neuen mefjianifchen
Drdnung der Dinge zur Ausbefjerung des zeitgenöffiichen Juden⸗
tums vorausfieht, kann er ein folcher fein, welcher der Intention
Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid zc. 525
ber betreffenden Perfönlichkeiten entfprechend wäre? Ein folcher,
daß Jeſus auch feinerjeits diefe Methode für feine Jünger zu
aboptieren fich aufgerufen fühlen fünnte? Mit nichten. In dem
Maße, als nicht die Fülle, die ZTotalität der meſſianiſchen Idee
zur gründlichen Renovation bes alten jüdifchen Religionsweſens
verwendet, jondern nur ein von dem Ganzen losgezetteltes Stück⸗
wert zur Ausbefjerung des im großen und ganzen für intakt gel«
tenden $udentums benußt werden follte; in dem Maße, als jenes
an fich wertvolle Fragment, die bußfertige, fi vor Gott auf-
richtig bemütigende Gefinnung, unter den Händen der Johannes⸗
jünger wieder in die Bahnen einlentte, wo das Innerliche ſich in
die Formen eines gefeglich-ritualen Thuns, einer das göttliche
Wohlgefallen herbeindtigenden Leiftung, eines opus operatum
eingelapfelt wurde, konnte Jeſus diefen derartigen Beftrebungen nur
die Prognofe ftellen, daß dadurch die Riſſe des alten faferigen
Gewandes nur vergrößert, anftatt verftopft werden würden. Denn
war auch immerhin die Bußftimmung der SYohannesjünger eine
echtere und lanterere als die phariſäiſche; waren aud ihre Faften-
obfervanzen frei von phariſäiſcher Hypokriſie und Oſtentation,
fo wurde doch auch in ihren — der Johannesjünger — Kreijen
auf die äußeren Ritualmwerke in nafiräifchen Enthaltungen, Herfagen
von Simndenbelenntnis-Formularen, Gebetöformeln, ein Wert unb
ein Accent gelegt, daß ſich aus diefer Praxis für die Zukunft nicht
heilende, jondern nur verhängnisvolle Einwirkungen auf den reli-
gidfen Zuftand des Volkes erwarten ließen; daß gar leicht die neuen
Mittel der Remedur, weil allmählich den Mitteln ähnlich werdend,
welche die Schabhaftigkeit bes alten Religionsweſens herbeigeführt
hatten, die Schäden desjelben nur vermehren künnten. Don dieſem
Geſichtspunkte aus lehnt Jeſus die ihm von den Johannesſchülern
indireft nahe gelegten, ftationären Faſtenobſervanzen für feine Jünger
ab, weil für ihn weber die Vorausfegung, daß das alte Kleib noch
durch einzelne, wenn auch an ſich achtbare Fragmente repariert wer»
den könne, nicht vorhanden ift, und weil ihm auch ſelbſt das
Mittel der Ausbefferung, — man vergefje nicht, daß die Inter⸗
pellanten jelbft fi) mit den Pharifäern als Häufig faftende zu-
fammenftellen, aljo ihre Faftenweife mit der der Phariſäer unter
34%
5% Klöpper
einen Gefihtspunft gerückt hatten, — nicht fo unbedenklich er:
fdien, da die Erfahrung ihm gelehrt hatte, wie leicht eine an fi
achtbare Neligiofität, die aber von Haufe aus eisen ftarfen Zug zur
Selbſtdarſtellung in gefetlich gebumdener Form Hat, fich in bera
veräußerlihte Surrogate umfebt, und wie man mit, den geiftigen
Gehalt verdunkelnden Symbolen einem, gerade durch zu vice
Schattenwefen Trank gewordenen Religionswefen nicht dauernd auf
helfen könne, fondern nur zu feiner weiteren Zerfetung beitragen
werde.
Wenden wir uns nun, nachdem wir eine angemeſſene Deutum
des erfteren Gleichniſſes gefunden zu haben meinen, zur Erflärumg
des zweiten.
Die formale Analyfe zeigte uns, daß, während in ber eben
beiprochenen Parabel die Reparatur eines Alten, Zweck, das Neu
Mittel zum Zweck war, in dem jet zw erörternden, von den be.
Perfönlichkeiten die Konfervierung eines Neuen ale Zwed an
geftrebt wird, zu deſſen Erreichung in einem Kalle falfche, in
dem anderen richtige Mittel gewählt werden. Das Neue, um
defien dauernde Sicherung und Aufbewahrung es ſich Handelt —
(der junge Wein) —, erjcheint hier nit als ein relativ Gute,
wie der ungewaltte Flicken, fondern als ein ſchlechthin Wertvolles;
es ift fein Stüd, Fragment von etwas Gutem, fondern ein duch
feine eigene Natur belebend, erfrifchend, ftärkend wirkendes Prin⸗
zip, bei dem alle Mühe, Sorgfalt und Umficht anzumenben if,
daß Behälter, Aufbewahrungsmittel gefunden werben, in denen dass
felbe eine fichere umb dauernde Unterkunft findet. Diefe Behätter
müffen um fo ftärfer und elaſtiſcher fein, als der Wein noch jung
ift und deshalb eine ftarke Expanfionskraft Befikt, d. h. als das
Prinzip ein neues, fich gewaltig Bahn brediendes, überall Hin feine
duvyauıs zur Eyeoysme zu entfalten ftrebt.
Unter dem neuen Wein verftcht Jeſus das uvam mis
Beorlelas Tod Ieod !). Er kann dies Iektere unter dem Bilde
des Weines vorführen, weil e8 wie diefer ein das (höhere). Reben
beförderndes, erhaltendes und ftärfendes Gut iſt. Er kann die Idee
1) Mark. 4, 11. Matth. 18, 11. Luk. 8, 10.
Der ungewalfte Flichen umd das alte Kleid ıc. 527
des Meiches Gottes als jungen Wein parabolifcd) darftellen, weil
fie fowohl ad extra (vgl. das Gleichnis vom Senfforn) als auch
ad intra (Gfeichnis vom Sauerteige, Salz) fih energiſch auszu⸗
wirken die lebendige Zriebfraft in fich hat.
Welcher Art müſſen nun die Darftellungsmittel, Lebensformen
fein, damit dem lebenſpendenden, neuen, mit gewaltiger Expanſions⸗
fraft ansgeftattetem evangelifch= meſſianiſchen Prinzipe feine Fort»
eriftenz und Wirkfamfeit auf die Welt gefidert werde? Soll
Jeſus, als der meifianifche Vertreter des Gottesreichs-⸗Myſteriums
ed jo machen, wie die Johannnesjünger es verlangen, foll er das⸗
jelbe in die alten abgenutten Lebensformen einfchließen, welche das
zeitgendfjige Judentum ihm nahe legte und anbot? Sollte die
frohe Botfchaft vom Gottesreihe, die ſich in Mafarismen er»
öffnete, Schäge von unvergleichlicdem Wert zur Annahme darreicht,
zur Teilnahme an dem von Gott zugerüfteten Hochzeitgmahle eine
[adet, in Lebensformen eingezwängt werden, wie fie das alternde
Judentum berausgebildet Hatte, wo auf regulierte Kafteiungen des
Leibe, oder andere ritunle Werkleiftimgen, bei unflarer und uns
fiherer Schäßung des Weſens und der Zorn, ein ungebührliches
Gewicht gelegt wurde?
Das „respice finem‘‘ muß ihn von der Wahl folder, durch
vielfachen Mißbrauch brüchig gewordener Behälter zurüdhalten.
War ja do fein anderer Effekt bei ſolchem Thun vorauszu⸗
beredjnen, al& der, daß das übermäcdhtig fi) Bahn brechende Prin-
zip die engen, Tnappen, undurablen Lebensformen zerbrechen, ſich
damit aber jelbft abhanden kommen und verflüchtigen werde.
War das erftere Gleichnis darauf Hin angelegt, daß es nur ne⸗
gativ ein gewiſſes verfehltes Thun fehilderte, und ließ ſich mit Beibe⸗
haltung der Figuren bdesjelben nicht anſchaulich machen, was für
ein richtiges Thun an die Stelle des zwedzerftörenden Verfahrens
gelegt werben follte, jo bietet die zweite Parabel volllommen die
Mittel dar, um zugleich eine pofitive Anweifung zu geben, wie in
dem bez. alle gehandelt werden ſolle. Das alte Kleid follte nad)
der Intention Jeſu gar nicht mehr durch Flickwerk neu aufge⸗
fiugt werden, weder durch einen ungewalkten nod durch einen ge⸗
walften Lappen. Wohl aber find für die Frohbotſchaft vom Neiche
528 Llöpper
Gottes Lebensformen zu fuchen und herauszubilden, in benen fie
zur äußeren Darftellung gelangt, in denen fie als in freien,
weiten, aber dabei doc feften und hHaltbaren Gehäuſen eine
ihrem qualitativen Wefen entfprechende Unterkunft erhält. Fragt
man, welches denn nun in concreto diefe neuen Schläude
ſeien, in bie der Herr feinen neuen Wein gegoffen hat, fo wird
man in den &pvangelien wenig von dem finden, woran man
bei den aoxoi xaıvol zunächſt zu denken geneigt fein könnte,
nämlih von nen aufgerichteten Kultusordnungen, Ritualſatzungen
und Berfaffungsformen. Da das von ihm vertretene Prinzip das
Muyfterium von Gottesreich ift, fo erforderte die Konfequenz desſel⸗
ben, daß, dem Matth. 10, 24 und Barallelen ausgefprochenen Kanon
gemäß, in erfter Linie dafür geforgt wurde, dag Verkündigungs⸗
organe ber neuen Offenbarung berangebildet wurben. Im übrigen
befolgte Jeſus in Beziehung auf die Geftaltung von gottesbienft-
lichen Gebräuchen und Gemeindeordnungen den Grundfag, das Ge
je und die Propheten nicht aufzulöfen fondern zu erfüllen. So
wenig wir bei ihm Ausfprüche finden, welche direkt auf Abſchaffung
des Sabbats, der übrigen Fefte, der Opfer und anderer NRitualien
gerichtet find, fo wenig jehen wir ihn auch bemüht, über bas,
worin bei diefen gejeßlichen Drdnungen ihre „Erfüllung“ beftehen
jolle, fi ander® zu äußern, als nur fo, baß die allgemeine
prinzipielle Norm angedeutet wird, nach welcher ber, die ganze
Maſſe durhdringende Sauerteig ded Evangeliums auch auf jenem
Gebiete feine erneuernde und umbildende Kraft bewähren werbe.
Und diefe Norm läßt ſich dahin beftimmen, dag, wie wir bies
fhon auf dem engeren Gebiete des Faſtenweſens Hinlänglich zu
Tonftatieren Gelegenheit gefunden haben, fein Äußeres, Symboliſches
das Recht für fich Hat, ſich als folches, d. H. in der Abtrennung
oder aud nur relativen Ablöfung von der entjprechenden innerlichen
religiöfen Gemütsftimmung zur Geltung zu bringen, fondern nur
foweit die Berechtigung befigt, im Neuen Bunde eine Stelle zu
finden, als es der vollkommen adäquate Ausdrud einer geiſterfüllten
innerlihen Zuftänblichkeit if. Wie notwendig es dagegen ſei, daß
fih aud in der, von Jeſu inaugurierten Drönung der Dinge
jolhe äußere Lebensordnungen zur Aufbewahrung und Fortfeitung
Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid zc. 529
des neuen Prinzipes auch wirklich herausbilden, ift in den Schluß⸗
worten des Matthäusreferates (za augporegoı avsrneoüvres) auf
das beftimmtefte betont, und damit, bei allem Drängen darauf,
daß die äußeren Formen geiftdurchörungen find, doch einer rein
fpiritwaliftifchen Auffaffung des Sachverhältnijfes vorgebeugt. Wie
in allen einzelnen Fällen, wo fich Veranlaffung dazu darbot, Jeſus,
dem bier geäußerten Srundfage gemäß, prinzipielle Anleitungen
gegeben bat, wie etwa neue Schläudhe für den neuen Wein ber»
zuftellen feien; oder wie er felbft in einigen Fällen beftimmte
Anordnungen neuer Formen für das gottesdienftlihe Gemeinde⸗
weien getroffen hat, — dieß hier näher zu erörtern, liegt außer-
halb der Aufgabe, die wir für diesmal uns geftellt haben. Nur
daran wollen wir zum Schluß noch erimmern, daß bie Feier des
letzten Mahles, welches Jeſus mit feinen Jüngern beging, die beite
Illuſtration auch dafür giebt, welche Art von neuen Schläuchen
Jeſus an die Stelle der alten, auch von den fich Tafteienden Jo⸗
hannesjüngern benugten, für feinen neuen Wein verwertet wifjen wollte.
Wir wenden ung zum Schluffe noch zu dem Texte, in welchen
ber dritte Eoangelift unjere beiden Parabeln überliefert bat.
Liegen Matthäus und Markus die beiden zulegt erörterten
Gleichniſſe, ohne eine einleitende Bemerkung, auf den parabolifchen
Ausspruch von dem Bräutigam und ben Hochzeitsgenoffen folgen,
und deuteten dadurch an, in einer wie engen Beziehung jene zu diefem
ftünden: jo führt Lukas jene durch die Worte ein: Eaeys de xal
sragaßoinv rrgög avrovs“, und giebt ſchon hierdurch zu erkennen,
daß die folgende Gleichnisrede dem in V. 35 Enthaltenen nicht
unbedingt gleichartig ſei, ſondern die fo eben beiprochene Sache
nad einer etwas anderen Richtung Hin in Betracht ziehe.
Was nun den Wortlaut der Parabelm felbft anlangt, jo Hatten
die beiden erftern Evangeliften von einem, aus einem ungemalften
Lappen beftehenden Flicken gefprochen. Lukas läßt ihn ericheinen als
einen von einem neuen Kleide abgetrennten!). Da nun
der von einem bereits fertigen Gewande abgejchnittene Flicken nicht
1) 5, 36: „örs ovdeis EntBiAnua ano iuarlov xaıvoü oyloas
£nıßarreı Eni Fudriov naAaıoy.“
5850 Klöpper
mehr als ein ungewalftes Stüd Zeug gedacht werden darf, fo kaun
notürlih von einer zerftörenden Wirkſamkeit jenes Flickens in Bes
ziehumg auf das alte leid, für das er als Ergänzungsftüd
dienen fol, nicht bie Rede fen. Deshalb wird als folge ber
von Lukas berichteten Manipulation angegeben, daß dadurd einer
jetd das neue Kleid, von bem der neue Flicken genommen, zer
fpalten merden, anderfeit8 der neue Anfjag mit dem alten
Kleive nicht in Harmonie ftehen würde !).
Endlich Bat Lukas zu dem zweiten, tim mefentlichen mit dem
Texte ded Markus übereinftinnnenden Gleichnis, noc einen Zuſatz,
in welchem ausgejprochen wird, daß niemand, nachdem er alten
(abgellärten) Wein getrunken Bat, zu jungem Wein (no in Gäh⸗
rung befindfichem Moft) Luft verfpiiet, indem er (fich) fagt, der
alte ift gut (milde) 2).
Aus dieſen abweichenden, charakteriftiichen Zügen des dritten
Evangeliften ergiebt fich für den Gedankengehalt der betreffenden
Parabeln folgendes.
Unter dem neuen Gewande, von dem der Flicken genommen
wird, fann man nur die neue, von Jeſus inaugnrierte Lehr⸗ umd
Lebensordnung des Reiches Gottes ſich vorftellig machen. Die
jelbe wird bier als eine ſchon vollkommen fertig geftellte, in eim-
heitlichem Beftande fi) der Anſchauung barbietende Größe voraus
gejegt. Wenn nun von dieſer neuen Ordnung der Dinge von
Phariſäern und Johannesjüngern ein einzelnes Stück Iosgelöft
und auf ihr altes Kleid des theofratifchen Judentums aufgejeht
wird, jo wird durch ein ſolches Verfahren, in welchem gewiſſe
Elemente einer freieren religiös-fittlichen Gefamtanfchauung und
Lebenspraris ausgebrochen und auf ein altes, an enge gejetliche
Formen gebundenes Neligionsiwefen transportiert werden, ebenfowohl
bie nene NReichsordnung in ihrem eimheitlichen Beſtande geſchädigt
werden, als auch die neuen Lebensgewohnheiten mit der alten
1) et d2 un VE, zul 10 xawov oylosı xal TO naAud 0V Ovupwvnoe
10 EnißAnuo To ano Tod xuvoü,
2) 8. 87: xal odders nıWv noAmor Ieicı vEor' Adycı ö nakaıos
zonotös Eorı.
Der ungemwalfte Fliden und das alte Kleid zc. 531
Gefamtanſchauung und Praxis, mit der fie jo willlürlih algamiert
find, in ſeltſamem Kontraft ftehen.
Was ferner den Sinn des von Lukas zu dem zweiten Gleich
nis gemachten Zuſatzes anlargt, jo wird er nicht wohl ein anderer
fein fünnen als der folgende: Es fei begreiflich und verftändlich,
daß die Pharifüer und Johannesjünger, denen durch Langjährige
Eingewöhnung in die alten Bewußtfeind und Lebensformen des
gejetlichen Indentums, diejelben geläufig, Iieb und bequem gewor-
den feien, micht Luft hätten, Methoden des ſittlich⸗religiöſen Ver⸗
haltens zu adoptieren, gegen die fie, als noch unbewährte, zu freie
und ungebundene, eine naturgemäße Averſion haben müfſen.
As Summe der Iufarishen Gejamtdarftellung der Parabel»
ausſprüche Jeſu ergiebt ſich aljo: eine Verwendung fragmentarifcher
Beitandteile einer neuen Ordnung der Dinge taugt weder für den
neuen noch für den alten Standpunft. Es wird dadurd nur eine
Spaltung in der neuen Neligionsverfaffung bewirkt, fowie die diefer
entnommenen und auf den alten Standpunkt übertragenen Ele⸗
mente mit diefer Ietteren in Discrepanz ftehen. Bei Kombination
der neuen Religionsordnung — (neuer Wein) — mit alten Lebens⸗
obfervanzen — (alte Schläuche) — durchbricht erftere biefe letz⸗
teren, wobei aber der neue Religtonsgehalt ſich jelber abhanden kommt,
und die undurabeln jüdifchen Lebensformen zugrunde gehen. Es
jei begreifiich, wie Anbünger der alten Religion fih nur ſchwer
von ihren aligemohnten Bräuchen trennen könnten
Man wird nicht leugnen können, daß diefe lukariſche Verſion der
Gleichniſſe Jeſu im ſich wicht fo übel zufammenftimmt. Eine an⸗
dere Trage aber ift e& freilich, ob dieſe Barabeirede Jeſu fih für
die Zeit feines Auftretens, und zumal feiner beginnenden Xehrthätig-
feit, genügend verftändlich machen umd ſich in den Rahmen feines
damaligen Bewußtſeins paffend einreihen Laffen werben.
Zunächft würde doch als auffällig zu notieren fein, wenn Jeſus,
der erft ſeit kurzem die erften Samentörner feiner evangelifchen
Lehre auszuftresen begonnen hatte, ſchon von einer in der Tota⸗
(tät ihrer Momente daftehenden neuen Lebensordnung (neues Kleid)
geredet haben follte, von welcher als Möglichkeit vorausgefett
wird, daß mun von ihr einzelne Elemente abtrennen und zur Auf⸗
532 Klöpper
beiferung einer alten religiöfen Verfafjung verwenden könne. Doch
wenn man über diefen Stein des Anſtoßes nocd allenfalls hinweg
fommen fönnte, — ift e8 angemefjen, wenn Jeſus die Schriftge-
fehrten und Pharifäer, um ihnen die Unangemefjenheit eines folden
Verfahrens, — zu welchem fie begreifliherweile nicht im Ge⸗
tingften die Neigung verjpüren konnten, — darauf aufmerkſam ges
macht hätte, welchen Schaden feine Sade infolge davon Haben
werde, wenn feine Gegner und die Johannesjünger fich Vereinzeltes
von ihr aneigneten? Was lag den nterpellierenden daran, ob die
von eins aufgerichtete Neligionsordnung — einmal angenommen,
dag wirklich von den auf dem alten Boden ftehen Bleibenden, ein-
zelne freiere Gewohnheiten adoptiert wären —, ob, fagen wir, biefe
neue freiere Genoffenjchaft gut oder fchlecht dabei fuhr? Ein Mo-
tiv, da8 fupponierte Verfahren zu unterlaffen, wäre doch das gel-
tend gemachte Moment für fie kaum geworden. Eher könnte als
ein ſolches Zurücdhaltungsmittel der Gefichtspunft ber Nichthar-
monie des Neuen mit dem Alten erfcheinen, wenn —, wa® aber
freilih wiederum faktifch nicht ausführbar war — die bezüglichen
Berjönlichkeiten einen Vergleich zwijchen dem neuen fertigen, in
volfendeter harmonifcher Geftalt vor ihnen ftehenden Religionsweſen
und ihren bisherigen alten, mit ein paar neumodiſchen Zuthaten
verjehenen, Hätten anftellen fünnen, bei welchem fich ihrem Be
wußtfein die Buntjchedigkeit und Geſchmackloſigkeit ihres Koſtüms
unwilltürlic” würde aufgedrungen haben. Endlih, wie kann man
fi) vorftellig maden, daß Jeſus feinen Gegnern eine ſoweit ge
hende Konzeifion gemacht haben follte, das Lebenselement der Pha⸗
rifäer und Johannesjünger unter dem Bilde bed alten Weins
darzuftellen, da ja doch diefer erfahrungsgemäß ber objektiv beſſere
und wohlſchmeckende iſt? Und foweit follte Jeſus in feiner Tole⸗
ranz fich der Gegenpartei genähert haben, daß er ihr zu verftehen
gab, man könne den, ihren alten bewährten Gewohnheiten Anhäng-
lihen es gar nicht fo jehr verübeln, wenn fie feine bejondere Dis-
pofition in ſich verfpürten, fich in die neue, noh in der Ent-
wickelung beftndliche, unerprobte Lebensweiſe, wie es die feine zur Zeit
noch fei, zu finden?
Iſt nun dies aber alles fo befchaffen, dag es in die Periode
Der ungewallte Fliden und das alte Kleid ꝛc. 583
bes Lebens Jeſu gar nicht Hineinpaßt, jo legt fi) nahe, die Iufa-
rifhe Formulierung der bez. parabolifchen Ausſprüche daraufhin
anzufehen, ob fie etwa den Barbenauftrag einer jpäteren Zeit an
fih Habe, und fomit ſich als Ausdrud gewiſſer Verhältniffe bes
apoftolifchen Zeitalters begreiflih machen Tiefe. Bekanntlich)
fam es in biefem zwifchen dem nomokratiſch gerichteten Inden⸗
hriftentum und dem freieren panlinifchen Heidendriftentum zum
Konflitt. Nach der Anfchanung der Heibenchriften hatten fich ja
die Judenchriſten herbeigelaffen, von der evangelifchen Lehr⸗ und
Lebensorbnung einzelne Lappen loszutrennen und auf ihr altes Ges
wand des theokratifchen Judentums zu ſetzen. Dieſes Verfahren
bringt einmal ein Schisma in das Chriftentum. Anderſeits
ftehen wiederum bie, feitend ber Judenchriſten angeeigneten neuen
evangelifchen Fragmente mit ihrem, dem Weſen nach noch jüdischen
Standpunkte in Disharmonie. Das Chriftentum ift eben nicht
in die alten engen jubaiftiichen Schläuche (Lebensformen) einzu«
zwängen. Die Folge davon fünnte nur die fein, daB das neue
hriftliche Prinzip fich fo gewaltig exrpanfiv erweiſt, daß die alten
judaiſtiſchen Aufbewahrungsbehälter zerfprengt, der neue chriftliche
Geiſt fih verflüchtigt, und zugleich bie alten Lebensformen der
Bernichtung anheimfallen.
Nachdem jo das dem Chriften- und Judentum Verderbliche
dieſes jnbenchriftlichen Standpunktes bargelegt ift, folgt ſchließlich
ein dem ansgleichenden, untonsfreundlichen Standpunkt des Lukas
entfprechenber Ausfpruch, der das Judenchriſtentum einer milden,
fchonenden, toleranten Beurteilung unterftellt. Die Judenchriſten
haben fich als geborene Glieder des alten theofratifchen Gottes»
volles jo ſehr an ihren alten, abgeflärten milden Wein gewöhnt,
dag man dafür ein aufgefchloffenes Verftändnis, die Stimmung
fangmütigen Tragens, haben werde, wenn fie fich nicht fofort ent-
Schließen können, bem noch in Gährung befindlichen Moſt des
neuen evangelifchen Prinzips ben entfchiebenen und unbedingten Vor⸗
zug zu geben.
Faßt man die Ausfprüche Jeſu, wie fie Lukas referiert, in der
gedachten Weife auf, fo werden fich alle jpeziftichen Züge jener
verftändlich machen. Wir begreifen, wie das Chriftentum ſchon
5A Klöpper: Der ungewalkie Flicken und bas akte Kleid ac.
unter dem Bilde eines fertig geftellten Gewandes erſcheinen konnte,
von dem man einzelne Elemente abtrennt und auf das alte Meib
des Judentums fetzt, wie durch biejes Thun bie wahre Religion
in ihrem Wehen geſchäüdigt wird. Man verfteht, wie das Unharmoniſche
in der ſynkretiftiſchen Formation des -Yudenchriftentums ſich dem
Dewußtjein der freier denkenden Heidenchriften bemerkbar machen
mußte. Enblih, wie man von einem zur Billigkeit geneigten
Unionsftandpunlte aus, nachdem man gegen das Unangemeſſene,
Schüdliche, Berhängnisnolle der jubaiftifchen Intentionen Proteft ein-
gelegt hatte, doch noch ein mildes begütigendes Wort für falche
judenchriftliche Brüder übrig Hatte, die fi) nicht fo leicht von
ihren, von den Vätern ererbten, altgeheiligten Lebensgewohnheiten
trennen konnten, und vor einem unvermittelten, decidierten Übergang
zum geſetzesfreien Paulinismus zurückſcheuten.
Da nun, wie auf der Hand liegt, diefe lulbarifche Berfion
der Worte Yen fich dem Verfiändnts der Glieder eine® Schon als
felbftändige Religionsverfafſung beftehenben Chriſtentums ungleich
teichter aufſchloß als die ältere, ſprödere, eine genauere Keuntnis
der eriten Entftehungsbedingumgen des von Jefu gegründeten Gottes⸗
reiches zum Grunde habende Fafſſung ber Worte, die uns bie beiden
erften Evangeliften barbieten: jo ift es aus bemfelben Umſtande
auch feicht zu erklären, daß faft alle neueren Interpreten dieſer
Parabeln, ſelbſt in dem Talle, wenn fie den Tert des Matthäus
oder Markus al8 den Altern bevorzugten, doc) in der Deutung des⸗
felben in den Spuren des Lukas gewandelt find, und bies oftmals
treuer, als fie es fich felbft mögen eingejianden haben.
Gedanken und Bemerkungen.
!.
Der Streit über die Echtheit eines Luther
fundes ’).
Bon
Brofeffor H. Hering in Halle.
Einem Sammelbande der an noch ungehobenen Schägen reichen
Zwidauer Ratsbibliothet gehört als erjtes Stüd eine 50 Blätter
enthaltende Handfchrift mit dem Titel an: „Praelectio Doctoris
Martini Luteri in liprum Judicum.“ Obwohl nicht Original
fondern Abſchrift einer Nahfchrift und daher Außerlih nicht in
gleicher Weife verbürgt, wie die von Seidbemann herausgegebene,
von Luther ſelbſt gejchriebene Pfalmenvorlefung, ift bdiefe von
ihrem Entdeder, Herrn Dr. Buchwald, unter Luthers Namen
als eine Vorleſung des Neformators veröffentlicht, von Köftlin
mit einem einleitenden Vorwort, das fofort für die Zeit der Ab⸗
faffung einen wertvollen Winf gab (S. vu), ausgeftattet und mit
Freude und Dank gegen den Herausgeber von allen begrüßt wör-
den, welche fih für die Entwidelung Luthers interejfieren. De
brachte eine der erften theologischen Beſprechungen einen Zweifel
1) D. Martin Luthers Vorleſung fiber da8 Buch der Richter, aus einer in
der Zwidauer Natsbibliothet befindlichen Sandichrift herausgegeben von Georg
Buchwald, Dr. phil., cand. (jest Lic.) theol., Oberlehrer am Gymnaſium zu
Zwidau. Leipzig (3. Dreichers Verlag) 1884. X und 80 ©. Ich citiere die⸗
jelbe mit der Abkürzung Jud., Luthers Vorleſungen über die Pialmen mit Schol.
538 Hering
an Luthers Autorſchaft. D. Dieckhoff war es, welcher, nachdem
er fi mehrfach mit den von Seidemann edierten Scholien Luthers
zu den Pfalmen litterarifch bejchäftigt, beſonders auch Luthers
Stellung zur Kirche und ihrer Reformation vor dem Ablagftreit
in einer Feſtſchrift 1883 dargeftellt hatte, in diefer neuen Ver
öffentlihung trog mander Annäherungen an Luthers Art umd
Lehrweife ihn felbft nicht zu finden vermochte !). War dies für alle
überrafchend, die auf gleichem Arbeitsgebiet thätig, ſofort ficher ge-
weien waren, feinen anderen als Luther in der Vorlefung über dad
Richterbuch zu hören, fo war es nicht minder die Hypotheſe, melde
D. Dieckhoff mit dem Hinzufligen, er zweifle nicht, Daß fie fid
beftätigen werde, zur Prüfung verlegte; denn in D. Staupig wollte
er den Derfaffer fehen. Man fragte fih, mit weldem Recht die
Argumentationen gegen das göttliche Recht der römischen Biſchöfe
al8 der Nachfolger Petri, wie die Klagen über fehlimme Erfah:
rungen wegen freimütigen Zeugniſſes, wie abjchäßige Urteile über
abergläubifche Wallfahrten, wenn mit D. Diedhoff alles dies dem
Luther vor dem Ablaßſtreit abgefproden werben fellte, in ben
Mund eines jo behutfamen Beurteilers kirchlicher Dinge, als wel
chen wir bisher Steupis kennen, gelegt merden dürfe, und in der
That hat D. Diedhoff diefe Frage gar wicht angerührt. Offenbar
find es beſonders zwei vereinzelte Wahrnehmungen geweſen, die,
für die Erkenntnis des geſchichtlichen Zufammenkanges der Bor-
tefung nicht ohne Wert, Dieckhoff mit einer Hypotheſe befreundet
haben, die jedes meiteren Anhaltes entbehrt. Ir dem zweimal
oorfommenden tuus sum, salvım me face (Jud. S. 47f. 59)
hatte er namlich das Motto des Staupis und in dem nos Mis-
nenses dicimus einen Himweis auf die Heimmt desfelben gefunden.
Und nun Sam Hinzu, daß nach Dieckgoffs Urteil Der Inhalt der
Borlefung, mie ſtark er in Einzelheiten an die Schriften Luther
im jener Zeit erinnere, doch die Seele der Lehre Luthers, nament
lich Luthers Aufführung von der Neue, und ebenfo eine Steherheit
in der Auffaffung des Verhältniſſes zwifchen Rechtfertigung und
Heiligung in der Ordnung der Wiedergeburt vermiffen Laffe.
3) In Luthardts Zeitſchr. für lirchl. Wiſſenſch. 1884. ©. 356.
Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 639
Andes waren hiermit nur Fragen aufgeworfen, welche Beant-
wortung erheifchen; aber eine genügende Bafis für die
Hypothefe der Autorfhaft des Myſtikers, deſſen Sprache
und Lehrweife unferer Erkenntnis faft ebenfo zugänglich geworden
ift, wie die Luthers felbit, war keineswegs gegeben. Die
Richtervorlefung und die Werke des Staupig hätten auf Ahnlich-
feit und Unterfchied und zwar ebenjo in Titterarifcher wie in theos
logiſcher Hinficht unterfucht werden müffen, um eine haltbare Hypo⸗
theje zu begründen. Nur auf den zwei genannten Stützpunkten ruhend
ift diefelbe ausſichtslos. So hat denn ſchon Kolde in feiner Anzeige
der Buchwaldſchen Veröffentlichung DiedHoffs Gründe mis Recht nicht
für ftihhaltig erkannt )). Immer bleibt die Aufgabe, Luthers
Autorfchaft näher zu begründen, und diefer bat ſich foeben Buch⸗
wald, Diedhoff befämpfend, mit Erfolg unterzogen, während Died-
Hoff in demfelben Heft feine Hhpothefe gegen Buchwalds Einwen-
dungen zu verteidigen ſucht?). Wie fchon Kolde zur äußerften
Vorficht inbetreff des argumentum a silentio gemahnt, fo weit
Buchwald auf das Unrichtige einer Argumentation hin, welche neue
auffallende Äußerungen Luthers beanftandet, weil wir bisher fein
Seitenftüd zu ihnen haben. Für unfere Kenntnis der
früheren Entwidelung Luthers müffen wir ja immer
noh vorhandener Aporieen eingedent bleiben. Auch
erinnert Buchwald gegen die Beanftandung der abfchügigen Auße-
rung über das Wallfahrtswefen mit Recht, daß Luther in der
Offentlichkeit feine Polemik milderte. Es bedurfte Hierfür nicht
des Hinweiſes auf die erft 1523 gehaltene Deuteronomiumovorles
fung; näher noch und beweisfräftiger tft der Vergleich der Vor⸗
lefungen Luthers und jeiner Predigten. Jene enthalten rückſichts⸗
lofen, diefe gemäßigten Tadel der firchlichen Inſtitutionen. Und
eben diefe Mäßigung entfpricht dem für Luthers ſpäteres Auftreten
Tennzeichnenden Prinzip, Schwachen nicht Ärgernis zu geben.
Buchwald ift dann weiter dazu Übergegangen, die Richtervorle-
fung mit den Scholien zu vergleihen. Er hat zunächft nachgewiefen,
1) Theol. 2.-3. 1884. ©. 558 ff.
2) Luthardts Zeitſchr. file kirchl. Wiffenfch. 12. Hft. = 630 ff. 638 ff.
Theol. Stud. Jabrg. 1885.
540 Hering
daß die Behandlung der Steffen des Buches der Richter, welde
in den Scholien vorkommen, gleiche oder ähnliche Gedanken ergiekt,
und er hält gegen Diedgoff auch daran feft, daß die Deutung von
Nicht. 14, 14 (S. 77) in ber Hauptfache mit derjenigen überein
ftimme, welche ji in der Ofterpredigt vom Jahre 1516 findet.
(Ausgabe von Fuaate I, 595. Er. Ausgabe Op. var. arg.
1, 96 ff.) „In beiden“, fagt er, „wird Simfons Nütfel von
Ehrifti Auferftehung gedeutet, und dies ift doch wohl die Haupt
ſache.“ Er betont dies mit Recht gegen Diedhoff, der in feinem
erften Anfiag die Abweichungen, die fi immerhin bei ähmlicher
Deutung finden, als Zeichen verfchiedener Autorichaft genommen
hatte. Wenn berfelbe jett fagt, dag er ein großes Gewicht auf
biefe Einzelheiten nicht gelegt habe, aber es immer auffallend findet,
daß Luther verfchiedene allegorifche Erklärungen gegeben haben follte,
ohne auch nur der aufgegebenen Erklärung Erwähnung zu thun,
fo verfennt er, daß Luther jchon in den Scholien gegenüber einem
fiarren Tefthalten an ber Tradition das Recht neuer Auslegung
als das der Fülle des Schriftfinnes Entſprechende vertreten hat
(Schol. II, 205) 2). Als Buchſtabe, und nicht als Geift mürde
thm das bloße Verharren auf der Tradition oder auf eigener, einer
früheren Erfenntnisftufe entjprechenden Auslegung gegolten Haben;
denn omnis locus scripturae infinitae est intelligentiae (Sol.
I, 297). Nun hat zwar weiter Diedyoff auf die Möglichkeit
einer gemeinfamen Quelle für die Übereinftimmung der allegarifchen
Deutung in Schol. und Jud. und auf eine Stelle aufmerkſam
gemadt, in welcher Luther fi auf Anguftin für die Deutung
mehrerer Namen beruft (a. a. O., S. 640); aber diefe Überein-
ftimmungen ber Allegorien in Jud. mit denen der Scholien erhalten
dennoch dadurch, daß fie fih in einem Schriftftüd finden, welches
fonft mit Merkzeichen Iutherifcher Art überjät ift, die Bedeutung
von Indicien, die nicht gering zu ſchätzen find.
Auh der philologifche Beweis, den Buchwald dafür
führt, daß Luther die Richteruorlefung gehalten, wird von Died»
1) Kür alle weitere Bergleihung verweiſe ich anf meinen Aufſatz über
Luthers erfte Bodlefungen in den Stud. u. Krit. 1877, ©. 588 ff.
|
‚Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 541
hoff nieht Hinreihend berückſichtigt. Er wendet ein, das
nota, notandum, welches zuweilen in Luthers Predigten 1514 bis
1516, in Schol. wiederholt, häufiger noch in Jud. fich findet, fei auch
jonft im eregetifchen VBorlefungen ganz gewöhnlich geweſen (a. a. O.,
©. 637, vgl. S. 643). Dies ift wohl richtig; doc iſt mit dieſem
Sprachgebrauch immer nod individuelle Anwendung verträglich, fo
daß das Vorkommen einzelner diefer Formeln aber ihr Nichtvor-
fommen einen Schriftfieller Tennzeichnen Bilft.e Aus dem Vorrat
traditionell gewordener Einführungäphrefen, die auch in die deutſche
Literatur übergegangen find: „Nun fällt eine Frage (quaeritur)
— Die Meifter Sprechen — Etliche ſprechen — Nun mertet
(notandum) u. |. w.“, bevorzugt der eine in der mittelalterlichen
Litteratur diefe, der andere jene !), auch find diefe Wendungen
durchaus nicht auf VBorlefungen und Predigten bejchränft, wie
Dieckhhoff meint; fie finden fidh ebenfowohl in Traktaten, wie z. B.
in denen des Meifter Edhart häufig *), jo daß es nicht ftichhaltig
ift, ihr Nichtvorkommen bei Staupig aus der Traltatform feiner
Schriften zu erflären. Dieckhoff verweift nun auf Luthers Traktat
„Bon der Treiheit eines Ehriftenmenfchen*, in welchem fich der-
gleichen ebenfalls nicht findet. Aber nicht die Traßtatform, ſondern
die zwifchen 1516 und 1520 liegende ſprachliche Entwidelung hat
Luther fich ablöfen laffen non der Demonftrier- und Disputierphraſe
der früheren Zeit. Für Luther als Verfaffer der Nichterbuchuor-
leſung bleibt daher das häufige nota zufammen mit dem igitur an
1) Hermann von Friglar 3. E. wendet das: „ez ist ein vräge,
ich mach ein vräge“ ziemlich oft an: Ausg. von F. Bfeiffer, ©. 14. 17.
22. 26, bei. 44. Nikolaus von Straßburg dagegen braucht diefe Formel
m. ®. nie, auch da nicht, wo e8 nad) dem Gedankengang uahe gelegen hätte,
wie ©. 264, 26; 265, 19; 273, 30; 275, 31; 286, 3 u.ö., während andere
diefer Ausdrüde: „nü merke, ir sönt wizzen“ n. dgl. bei ihm ſowohl, wie
bei Hermann von Friglar vorlommen. Vgl. 263, 7; 265, 6; 278, 25 mit
3, 1; 41, 35.
2) Als Beifpiele aus den zahlveichen Stellen nur folgende (Ausg. von
5. Pfeiffer): „nü ist ein vräge“, ©. 384. 390f. 395. 417; „nü möhte
man fragen‘, ©. 888; „nü frage ich für baz“, ©. 389; „at merket“,
©. 385. 386. 388; „man sol vuch wizgen‘ (sciendum bei Luther), ©. 397.
419.
35*
542 Hering
der erften Stelle des Satzes und der Vorliebe für ideo ein fo
lange nicht gering zu ſchätzendes Zeugnis, bis, was Dieckhoff nicht
getban, gleicher Redegebrauch bei Staupig nachgewieſen ift.
Hierzu kommen nun die zahlreichen verdeutlichenden, im ben
fateinifchen Text eingeftreuten deutfchen Worte (Jud. 34. 35. 36,
39. 42 u. f. w. Schol. I, 61. 62. 65. 88. 160. 232. 247
u. f. w.). Im ihnen kündigt fi) das Genie und ber Trieb des
geborenen Dolmetſchers an, welcher mit Worten der Mutterſprache
zeigen möchte, was die Schrift meine; zumeilen blickt bier auch der
derbe Humor dur, der uns an Staupig befremdlicher als an
Luther dünken möchte (Jud. ©. 71) ).
Für Luther als Verfaſſer entfcheidet endlich die von Buchwald
S. 637 nadjgewiefene überrafchende Übereinftimmung eines Zeile
der Stelle in Jud. S. 26 mit einer von Luther über das dritte
Gebot gehaltenen Predigt (Ausgabe von Knaake I, 445, 23) 2).
Wenn nun Dieckhoff mit Scharffinn feftzuftellen ſucht, daß das
benugte Original in der Predigt vorliegt, weil fie einige Worte
in ftrengerem Zufammenhange bietet, fo ift dies möglicherweife
richtig. Da die Predigten Über die zehn Gebote 1516 gehalten
find, dürfte jemand annehmen wollen, daß Luther das im ber
Predigt über das dritte Gebot gejprochene Wort bald darauf in
feine Nichtervorlefung habe einfließen Laffen. Aber Dieckhoff ge
langt durch feine Analyfe zu dem Ergebnis, daß die Worte ideo
cogitur populus etc. nit in den Zufammenhang der Richter⸗
vorlefung pafjen, und jo möchte er eine Interpolation annehmen,
die — er deutet nicht an, durch wen und in welder Abſicht —
nach 1518 vorgenommen ſei, weil erft in diefem Jahre Luther
feine Predigten veröffentlicht habe. Aber die Analyfe, aus der
I) Den Eifer des Schriftausfegere und zugleich eine nach Koldes Urteil
bei Staupit nicht zu vermutende Kenntnis des Hebräifchen befunden auch die
Stellen Jud. 33. 44. 55. 66. 78. Bgl. Schol. H, 80. 93. 129. 154 umd
viele andere Stellen.
2) In einer Beſprechung, die erſt während bes Drudes des obigen Auf⸗
ſatzes erichienen ift (Luthardts Zeitfchrift für kirchliche Wiſſenſch. 1885, Hft. 1,
S. 40), macht D. Kawerau nod) darauf aufmerffam, daß in Jud. mehrfach
auf die dietata super psalterium zurädverwiefen wird, fo daß ein Zweifel
über die Identität des Verfafſers fich nicht behaupten Tann.
Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 543
dieſe zweite Hilfshypotheſe, kühn wie die moderner neuteftament-
licher Kritifer hervorgeht, ift troß des aufgewandten Scharffinns
dennod) gerade dem eigentüimlichen Gedankenzuge des betreffenden
Abſchnittes in Jud. nicht gerecht geworden und daher verfehlt. Syn
der Predigt handelt Luther von der Pflicht des Volkes, das gött⸗
lihe Wort zu hören. Bon hier aus thut er einen Blick auf bie
Berpflihtung und auf die Berfäummisichuld der Prediger und er-
klärt e8 daraus, daß troß der ftrengen Verbote die Pfarrkirchen
nicht befucht werden. In der Nichtervorlefung dagegen ift Gegen-
ftand feiner Rede die Pflicht, recht da6 Wort Gottes zu predigen,
und auf diefe deutet da8 in ore gladii des Textes. Er fchildert
nun drei Arten von Predigern. Die erften find die, deren erftes
Wort im Gottesdienft aus Thomas oder Ariftoteles her iſt. Diefe
vergleicht er mit Fröfchen in kotigen Sümpfen, ganz jo wie
tin den Scholien 1, 457. Die zweiten beſtehen aus denen,
welche mit dem Schwert des Wortes nicht verwunden. Das find
fofche, welche dem Volt, nicht Gott zu gefallen ftreben, befonders
die, welche den PBrälaten fchmeicheln und mit Flaumfedern ftreicheln,
während doch Chriftus, der Gründer der Kirche, befohlen Hat,
freimütig und furchtlo8 feine Lehre zu predigen, nicht, wie Quther
auf den erften Abjag zurückweiſend Hinzufügt, ariftotelifche Dekrete,
nicht fophiftifche oder fcholajtifche Lehre, nicht Narrenpofjen oder
theologische Zänkereien. Wenn daher da8 Boll zum Hören des
Wortes mit fo viel Strenge verpflichtet ift, mit wie viel Strenge
die Prediger des Wortes! Nun klagt Luther Über das entſetz⸗
liche Elend einer fait völligen Verſäumnis dieſes fo dringlichen,
allen Geboten vorgehenden Auftrages. So liegt e8 doch nahe,
daß er von hier aus mit dem Sag cogitur jam etc. den gegen-
wärtigen Schaden des kirchlichen Lebens beleuchtet, daß das Bolt
gezwungen wird, in feiner Parochie das Evangelium zu hören, und
dies nicht thut, weil die Priefter gezwungen find, das Evangelium
zu predigen — Luther meint: es in feiner verwundenden, aud) durch
Philofopheme nicht geſchwächten Kraft zu predigen — und dies
nicht thun, weil fie es nicht Kennen. Und nun fchildert er diefe
zweite Klaffe von Predigern abfchließend als folche, welche in dider
Unwifjenheit mit Fabeleien und falfchen Lehren Narrenpofjen treis
B4d Hering
ben. So ift auch diefe Betrachtung in fih geichloffen; hier
ktegt nichts außer dem Zujammenbang, bier ijt nir—
gende Flickwerk eines Anterpolators, namentlich der
tete Sag: Ideo nugantur fügt ſich ſehr wohl in die Architel⸗
tom des Mbfchnittes, der zum Xextwort percusserant civite-
tem etc. (Jud. 25) gehört. Jeder Abſatz fchließt mit einer
Schilderung der betreffenden Prediger. Die erften werden wegen
ihrer philoſophiſchen Geſchwätzigkeit getadelt; die zweiten treiben
Boffen mit menschlichen Erdichtungen und beide verwunden nicht
mit der Schärfe diefes Schwerted. Die dritten find die rechten Pre
diger , weiche Berfolgung erleiden und den Spruch: „Euge serve
bone et fidelis‘‘ hören werden.
Aber durch genaue Beleuchtung diefer einen Stelle find wir
auch ſchon Über Einzelheiten hinaus zu einer zentralen Gemeinſam⸗
feit von Jud. mit Schol. geführt. In beiden nämlich ift
es dem Verfaſſer um das Wort Gottes zu thun. Die
Klage über Berfäumnis des Wortes vernehmen wir fchon in den
Scholien. Dieckhoff zeige doch Ähnliches bei Stanpig! Und ebenfo
ftimmen die lebhaften Äußerungen über die Heilige Schrift, die in
einer Fülle, weiche wir bei Stanpit vergeblich ſuchen, in Jud. ſich
finden, mit dem Typus der Scholien überein. Wie in der Wolfen
büttler Gloſſe und den Scholien fuht er in Bildern und Ber
gleichen, zu welchen die Allegorefe immer neuen Stoff bietet, den
Wert der heiligen Schrift zu ermeifen. Sie verfteht er unter
Schild und Lanze (S. 44) und unter dem Schwert (S. 25); fie
ift Gottes Blitz, weil fie alles in den Menfchen ausrichtet, wat
der Blitz auf Erden thut (S. 23). Die heilige Schrift ift die
Norm, an welcher alles gemeſſen wird (S. 68). Sie giebt der
Predigt ihren Inhalt (S. 59) und für jeden Prälaten ift fie das
Schwert bes Mundes (S. 65); fie ehrt, was Papſt und Biſchöfe
thun follen (S. 72), und fie enthält, was alle Gläubigen ver-
tragen können, aud bei nicht völligem Verſtändnis (S. 37) ').
Sie tft zu hören, wie wenn man Ehriftus felbft reden hörte, umd
— — — — —
1) Bol. Ausg. Knaake I, 81, 12, wo Luther erwähnt, daß einige von
feiner Predigt fagten: „haec scandalisant infirmos“.
Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. BA
fie fol ohne Menſchenfurcht, freimütig als vermundendes Schwert
gehandhabt werden (S. 23. 26). Wie in den Scholien, jo ift dann
weiter das Verhältnis von Geſetz und Evangelium, von Altem und
Neuem Teftament ein Hauptgegenftand der Erörterungen. An Aus»
führungen find befonder8 die von S. 56—59 nad) ihrem Inhalt und
bis in die charakteriftiichen Ausdrücke und Antithefen ein Nachhall
der Scholien. Water ift zur beachten, daß Luther, während er den
Glauben der Frommen des Alten Teftaments mit dem umfrigen
ebenſo wie in den Scholien identifiziert (S. 20), eifrig dem Rück⸗
fall des Schriftverftändnifjes aus dem Geift in den Buchftaben
wehrt und aus diefem Grunde da® Recht der Allegorefe verteidigt.
Bon hier aus wendet er fi dann weiter gegen die Modernen,
welde am Buchſtaben leben, während das Schriftverftändnis es
auf ein Ganzes anlegen, nicht verftücdt bleiben müſſe, denn das
Heiße mit den Juden Steine fammeln (S. 30).
Und wie die Auffaffung der Schrift, namentlich
des Neuen Zeftanrents im Unterfhied vom Alten
Teftament der evangelifchen Heilsertenntnis, wie fie
damals Luther fhon befaß, die Hand reiht: Das Wort
Chriſti verleiht (confert) die Vergebung; das Evangelium tröftet
und heilt, ift ministratio laetitiae, gaudii, salvationis, fo finden
fih audb die Grundlinien der Rechtfertigungslehre
Quthers in Jud. wieder. Er hatte ſchon in der Wolfen
büttelfchen Bjalterglofje den Glauben den furzen Weg zum Heil
genannt; jo fagt er auch jest, der Glaube an Jeſum Chriftum
ift der durd) das Evangelium gelehrte Weg, um von Sinden und
Unruhe frei zu werden (S. 58). Bethel heißt porta coeli, weit
dort ben Gläubigen (das credentibus ift zu beachten) der Zugang
zum Grgreifen des Himmelreihe offen fteht (S. 31). Daß foldye
Worte den Kern feiner perjünlichen Frömmigkeit ausjprechen, zeigen
weiter feine feelforgerlichen Ratſchläge für Angefochtene. Denn
zum Glauben, und was ihm dasfelbe bebeutet, zum Hoffen wer»
den wir durch Anfechtung gewöhnt (ut discamus contra spem
in spem credere) (©. 66). So foll man allen Angefochtenen
Gottes Barmherzigkeit vor Augen ftellen, damit die Hoffenden auf
Chriftus aufgerichtet werden (S. 76), und: hinwiederum ift das
546 Hering
die Heftigfte Anfechtung, wenn Gott dem, der um Vergebung
(venia) bittet, feine Wohlthaten aufrüdt, und wenn Solchen Er-
barmung und Bergebung (indulg. venia) jogar gänzlich verfagt
wird (S. 66).
Mit dem Lutherifchen diefes Lehrtypus, der hier
nicht ausführlich dargeftellt werden fann, harmoniert der Lu—
thergeift der Zeugniffe. Das kennzeichnet ja überhaupt bie
Lehrnorträge Luthers fchon in jener Zeit, daß in ihnen ber Feuer⸗
geift eines reformatorifchen Eifers durchbricht, den fo nur er beſaß.
So gewaltige Rügen der Mißftände wie z. B. ©. 63
und 72 muß man lefen, um zu hören: das ift Yuthers
Stimme, wie wir fie aus den Scholien fennen.
Nun gilt diefer reformatoriiche Eifer allerdings aud) dem mön⸗
hifhen Ideal, der Wiederherftellung der volllommenen
Dbedienz gegen die urfprüngliche Ordensregel (S. 49). Wenn
auch Luther in den Scholien fich ähnlich vernehmen läßt, fo über-
rafht e8 uns doch, wenn er von der Ordensregel des Auguftin
und Benedict in Jud. fagt, fie enthalte hinlänglich far, was zum
Heil gehöre (S. 46); wenn er urteilt, ein Mönch, melcher die
verfprochene Obedienz nicht leifte, Lältere und leugne Chriftum und
das Kreuz (S. 74); wenn er Chriftum unter den Beijpielen ber
volllommenen Obedienz mitnennt (S. 49), und am meijten, wenn
er für die Überwindung der Schwierigkeiten ſich auf feine eigene
Erfahrung beruft: auch ihm fei der volllommene Gehorfam wohl
vernunftwidrig erfchienen, aber wunderbar zu jagen, fei jofort der
Herr alsbald gegenwärtig gemwejen, und jo fei auch das ihm leicht
vonftatten gegangen, was ihm vorher thöricht erjchtenen ſei (S. 54).
Aber auch diefe Forderungen, die wir uns gewöhnt haben im
Gegenjag gegen Luthers evangelifche Erkenntnis zu denken, und
ihre Erfüllung ſchaut er noch mit dem Evangelium zufammen.
In ihnen tritt uns Gottes Befehl entgegen (S. 53), darum find
fie unbedingt gültig; und die Erfüllung ift nur dem Glaubenden
(credenti) möglich; was unmöglich erfcheint, muß fide fixa ange:
griffen werden (S. 54).
Erhellt ſchon aus dem nobis religiosis, daß Luther die
Borlefung vor Mönchen gehalten (Köftlin im Vorwort
Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 547
S. vi), fo führt uns diefer Eifer um MWiederherftellung der
Klofterregel zujammen mit den Betrachtungen über Novizenbildung
auf die Vermutung, daß Luther damals einen bejon-
deren Anlaß Hatte, fo zu reden. Und diefe wird durd
feine Briefe aus dem Jahre 1516 beftätigt, wie ſchon Kolde in
- feiner Beipredhung mit Recht darauf hinweift, daß gewilfe Gedanken
und Ermahnungen in den Briefen, allerdings mit ftärferem Ans
Hang an die Myſtik, auch in Jud. jich vernehmen Lajjen !). Wie
er in jenen ermahnt, die Schwachen, Ungehorfamen mit Kreuzes⸗
finn zu tragen, wie er erinnert, daB einer des andern Scand-
dedel fein müſſe nah Chrifti Vorbilde ?), jo fchärft er in Jud.
den Mönchen das Kreuztragen als erfte Regel ein (S. 35. 71).
Die ungebuldigen Brüder fol man als von Gott gegeben anſehen,
um Geduld, Demut und Selbfterkenntnis hervorzuloden (S. 69 f.).
Werden ungeduldige Menfchen zum magisterium novitiorum ers
wählt, fo werden auch die Zöglinge unwillig, ungeftüm und unge»
duldig (S. 35). Wir gehen ſchwerlich irre, wenn wir annehmen,
daß Luther diefe VBorlefungen als Diſtriktsvikar,
und zwar im vollen Eifer jeines ihm feit dem Mai
1515 übertragenen Amts vor Mönchen des Witten»
berger Kloſters als regens studii gehalten hat).
Und nun erklärt fi auch da8 „nos Misnenses dicimus .....
Saxones vero“ (S.47f.). Wenn Luther fih am 1. Mai 1516
vicarius per Misnam et Thuringiam nennt *), fo erhellt, daß
er fih mit Mönchen, die diefem Bezirk angehörten, fehr wohl in
ein „nos Misnenses“ zuſammenfaſſen konnte, und dies dann weiter
auch in dem Sinn, daß er mit ihnen zufammen in Hinſicht auf
die Mundart das Meitteldeutfche gegen das Sächſiſche, d. h. Nieder-
deutfche vertrete. Denn wenn ſich auch da8 Sprachgebiet des Nieder-
—— — —
1) Theol. L.⸗Z3. 1884, &. 560.
2) Lutherbriefe, Ausgabe von Enders 1884 I, 80. 33. 60. 67. 77.
8) Lutherbriefe, Ausgabe von Enders I, 67. — Über Luther als Diſtrikts⸗
vikar vgl. Köftlin, M. Luther I, 130. Knaake, in der Zeitfchr. für Iuther.
Theologie und Kirche 1878, ©. 628. Kolde, Die dentichen Auguſtiner⸗Kon⸗
gregationen und Staupitz, ©. 264.
4) Enders, Lutherbriefe I, 34.
548 Hering
deutfchen zur Zeit Luthers weiter na Süden erftredte, als jekt,
und namentlich die eingemwanderten Bewohner des Flämig Dielen
Dialelt bis in die Neuzeit feitgehalten haben, jo war dies ſowohl
in den Dörfern der Niederung, als auch in der Stadt Wittenberg
anders. Im die Bufchdörfer, welche früher von Wenden bewohnt
wurden, waren dadurch, daß fie dem meißnifchen Sprengel zuge:
wiefen worden waren, Geiftliche mitteldeutfcher Abftammung ge
tommen, und mit ihnen die Sprache derfelben, fo dag ein Mid:
dialeft entftand ?). In Wittenberg wurde das ftädtifche &erichts-
buch feit 1416 nicht mehr, wie bisher niederdeutfch, fondern mittel:
deutjch mit einigen Anklängen an die biöherige Mundart verfaßt?)
Als Luther feine VBorlefungen hielt, fprah man in
Leipzig, Halle, Wittenberg meißniſch?).
Werner erklärt fih auch das tuus sum, salvum me fac!
(S. 47. 59.) Daß wir es mit emem Citat das Wortes eines
andern zu thun haben zeigt fchon die Stellung diefes Ge—
betsfpruches zwifchen zwei Pfalmworten ©. 59. Dem
vor Auguftinern Medenden lag es, abgejehen von feinem perjün
fihen Verhältnis zu Staupig, nahe, an dies Motto des General:
vikars zu erinnern.
Demnach erweift fih die neue Verdffentlihung
als wertvolle Bereiherung der Qutherforfhung. Wie
Schol. Quther als Brofeffor, fo zeigt Jud. den Di-
ſtriktsvikar in hellem Licht.
Die Berwandtfchaft dea Inhalts beider Vorleſungen nötigt,
Jud. in der Zeitnähe der Scholien entftanden zu denken; die Briefe
des Jahres 1516, die Berührungen mit der Ofterpredigt und der
Predigt über das dritte Gebot lafien das Jahr 1516 vermuten,
1) Winter, Die Sprachgrenze zwifchen Platt- und Mitteldeutich in „Neue
Mitteilungen des thür.-fächf. Altertumsvereins”. Bd. IX, 1862, Hft.2, ©. 12.
14. 19.
2) Stier, Über die Abgrenzung der Mundarten im Churkreiſe. Wittenb.
Gymn. Progr. 1862.
3) Auffatz von Hildebrandt in den „Grenzboten“ 1860 I, 111, auf den
mid) Herr Dr. Konrad Burbach, der ſich mit diefem Gegenftand als Forſcher
beichäftigt, aufmerkſam gemadjt Hat.
Der Streit über die Gchtheit eines Lutherfundes. 549
nur ift bie Zeit von Mitte April bis Anfang Juni ausge
ſchloſſen, weil Luther fih damals auf feiner Vifitationsreife be
fand’). Zu Ende Oftober beichäftigt Luther die Peſt in feinen
Briefen und Predigten ?); follte er in feiner Vorlefung vor Mönchen
geihwiegen, die Gelegenheit feeljorgerliher Beratung nicht auch
bier benugt haben, während er fich für fein eigenes Bleiben auf
die Obedienz berief? ?) Und eben in diefer Zeit beginnt auch ber
Einfluß der deutihen Myſtik fo ftart auf fein Denken und feine
Sprache einzuwirten, daß es unmöglich ift, die Vorleſungen fpäter
zu verlegen. Zwar find diefelben nicht ohne Myſtik, wo er 3. B.
von einer solitudo fpridht, die umferem Geift nötig fei, um
Gott zu ſchauen (S. 20). Und wenn er für die rechte Ver—⸗
faffung der Gläubigen in einer für ihn charafteriftifchen Formu⸗
fierung desperatio de se und sperare in Deum fordert (S. 47),
fo fpüren wir die im Geift Bernhards fcharf ausgeſprochene Rich»
tung gegen Eigengerechtigkeit und Selbftvertrauen, die wir aus den
Scholien tennen. Aber ſowohl die Predigten wie die Briefe aus
dem Spätjommer und Herbit zeigen mehr muftiiche Färbung. Es
wird fchwer fein, zu entjcheiden, ob dies in der anderen Gattung ber
Rede begründet ift *), oder ob wir dennoch die Zeit der Vorlefungen
vor Dftern 1516 zu denken haben. Am letzteren Falle bliebe es
auffallend, daß Luther joniel fpäter ein Stüd feiner Vorlefung hätte
follen in die Predigt über das dritte Gebot einfließen laſſen.
Gerade diefer Umftand dürfte dafür fprehen, dag Luther
die betreffende Stelle der Ridhtervorlefung in der
Zeit Mitte Auguft bis Mitte September geiproden
bat®). Das ift jedenfalls ausgefchloffen, was Kolde für möglid)
1) Köftlin, M. Luther I, 130f.
2) Ebenb. I, 133.
8) Enders, Luthers Briefe I, 68.
4) Die Erordien der Predigten iiber die decem praecepta find 3.8. tiefer
mit myſtiſchen Gedanken gefättigt, als die Behandlung der Gebote jelbft.
5) Am 15. Auguft 1516 begann Luther feine Erffärung des zweiten Gebotes,
am 5. Oktober wohl bie Predigt Über das vierte Gebot. Ausgabe von Krraale
I, 480 - 447. Das Jahr 1516, in weldem die Predigten gehalten, nicht das
Sahr 1518, im welchem fic veröffentlicht woorden find, glaube ich für die Ve⸗
550 Hering
hält, einzelne Zeile der Vorlefung wegen des fcharfen Tadels kirch⸗
liher Mißſtände in die Zeit des Ablafftreites oder gar fpäter zu
verlegen. Die Vorleſung ift inhaltlid aus einem Guß, und bie
Erfenntnisftufe, welche fie Lennzeichnet, da8 Zuſammenſchauen kirch⸗
licher Erfcheinungen mit evangelifchen Prinzipien, wie es fih in
der Beurteilung der Obedienz zu erfennen giebt, bat in diefer Uns
befangenheit den Ablaßſtreit nicht Überdauert.
Auch das fcharfe Auftreten Luthers mötigt nit zu der An
nahme einer ſpäteren Abfafjung. Dasſelbe verlangt allerdings noch
eine gejonderte Beiprehung im Zujfammenhang mit der Trage,
welche Anregungen dem Auftreten Luthers gegen fozial - kirchliche
Mikitände voraufgegangen find. Die merkwürdige Stelle, in wel
cher Luther Hilfe für die Tirchlichen Schäden von der Seite der
Laien erwartet (S. 77), berechtigt zu diefem Schluffe nicht. Die
Neubildung des Kirchenbegriffs, die fih in ihm vollzog und ihn
ihon in den Scholien fagen läßt: jede Perjon könne der andern
Auge und Seele fein, während zunächft doch die kirchlichen Lehrer
ihm dafür galten 1), Ließ eine Äußerung wie die obige wohl zu,
und auch gefhichtlih war vor der Reformation der Anteil hervor⸗
ragender Laien an den Verſuchen einer Klofterreform, wie an den
Konzilien groß genug, um Luther, welcher von der Verderbnis unter
den Prälaten damals ſchon fo tief überzeugt war, an Hilfe durd)
Laien denken zu laſſen ?).
flimmung der Zeit, in welcher die Richterbuchvorlefung gehalten worden ift, zur
grunde legen zu müſſen; denn wie follte man zu der Annahme gelangen, daß
die Stellen, welche fidy mit Jud. berühren, erft zwei Jahr nach dem erften Ent-
wurf, bei einer ev. Redaktion zum Zweck der Herausgabe eingefchaltet worden
jeien? Und doch kann nur unter diefer m. E. nicht zutreffenden Vorausſetzung
D. Kamerau der Koldeſchen Anficht von einem Sicherftreden der Vorleſung
durch mehrere Jahre fo viel zugeftehen, daß er e& für möglich hält, die Vor⸗
lefung möchte fich bis ins Jahr 1518 und vielleicht uod) länger mit mancherlei
Unterbredjung Hingezogen haben (vgl. den oben ©. 542, Anm. 2 angeführten
Aufſatz).
1) Schol. I, 110. Bgl. Stud. u. Krit. 1877, ©. 633.
2) So beabfichtigte Herzog Wilhelm von Sachſen 1446 eine Generalvifte
tation in feinen Landen, wo ber Berfall des Firchlichen Lebens übergroß ge
worden war. Reinhardt, De jure principum; nad) Schilter, De lib.
Dir Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 551
Der Text der NRichterbuchvorlefung, wie er vorliegt, bedarf der
forgfältigften Emendation. Dieſelbe wird vielleicht in manchen
Fällen durch nochmalige Vergleichung der Handfchrift gefördert
werden, wahrfcheinfich aber find viele Fehler durch Flüchtigkeit der
Nachſchrift oder Verfehen des Abfchreibers entitanden und nur durch
Konjektur zu verbeſſern. Köftlin hat fchon jactat (S. 37, 3. 15
v. u.) in lactat berichtigt (Vorw. ©. ıx), das der Zufammenhang
unzweifelhaft ergiebt, nur daß man nad dem Gebrauch diefes
Wortes bei Luther (Ausgabe von Knaake I, 79, 3. 4) das Paffiv
erwartete. in Lefefehler konnte Leicht entftehen, falls Luther, der
mit vielen Abkürzungen zu fhreiben pflegte, die Endfilbe ur in
Baffivformen durch ein Häfchen oben rechts am t bezeichnet haben
follte, wie e8 in den älteren Druden Brauch ift. Hierüber muß
das Manuffript der Scholien Klarheit verichaffen. An und für
fih kann ja freilich das Aftioum lactare fowohl faugen wie füugen
bedeuten. Für das finnentftellende cognitas ©. 34, 3.7 v. o. hat
Dieckhoff durch Vergleichung der Stelle bei Auguftin cognitor her»
geitellt, S. 645 feiner „Antwort“. Im Folgenden biete ich eben-
falls eine Neihe von Verbefferungen und Vorfchlägen.
©. 22, 3. 10 v. o. ift das Fragezeichen hinter Christum zu
tilgen und wohl hinter quaerentes zu fegen. ©. 26, 3.19 v. u. lies
puras ftatt pares. ©. 27, 3.1 v. o. lies leonino für Theonino.
Bol. das leoninas fauces ©. 77, 3.10. o. und dazu ©. 41, 3.11
v. u. ©.30, 3.9 v. u. lie$ intuentes für intuens. ©. 35, 3.14
dv. 0. möchte ich emendierend und anders abteilend [efen: ut crucem ....
voluntarie portarent mente et corpore, deo, non mundo (für
modo) amplius adhaererent (ftatt adhaerent) spiritu et corde
toto (vgl. auch S. 47, 3.16 v. u.), voluntatem propriam .....
resignarent superiorum pro dei amore. So ift der Sat nad)
Sinn und Rhytmus durdfidhtig. Die folgenden Worte fitque
perfecte quilibet resignatque bedürfen gewiß ebenfalls einer
Änderung. Luther ſcheint einen „vollkommenen“ Mönch in dem mit
eccl. Germ., 1. 6, c. 7,8 7; und Friedberg, De finium inter eccle-
siam et civitatem regundorum judicio quid medii aevi doctores et leges
statuerint. Lips. 1861.
562 Hering
fitque beginnenden Sag ſchildern zu wollen, einen jolchen, welcher
nah der von ihm eben befürmworteten Methode erzogen if. Der
Übergang ins Präſens ift hart, aber doch hat das fitque in 3. 10
v. o., das quilibet am cuilibet monacho ©. 34, 3. 10 v. u.
ein Präcedend. Unverträglich miteinander find dagegen die eben-
falls in den Zufammenhang paffenden und kurz zuver gebrauchten
Worte perfecte und resignatque. Sollte hinter perfecte ein
Wort etwa institutus oder oboediens auögefalten fein ?
5.37, 3.2 v..a. lied opinione jtatt opinio. Ebeud. 3.11 v. o.
verlangt entweder audiat oder legit. ©. 39, 3. 17 v. u. lies mi-
litiam ftett malitiam. So fchon des Sinne wegen, vgl. aber
auch S. 40, 3. 18 0.0. — ©. 40, 3. 17 v. u. lied exereitu
ftatt exereitus. ©. 41, 3. 1 umd 2 v. un. lies volunt.. .
sectantur. ©. 46, 3. 7 v. u. lies rarissime ftatt verissime.
S. 48, 3.80. u. lies de peccato cave future. ©. 53, 3. 12
v. o. lied permittunt ftatt permittuntur. ©. 56, 3. 12 v. o.
lies persequuntur ftatt persequantur. ©. 57, 3. 1 v. o. lies
eam ftatt non. &bend. 3.8 v. o. ift ne ftatt neque erforderdicdh.
Ebend. 3. 6 v. u. lied operiri ftatt operire. ©. 59, 3.6 v. o.
wird hinter existens ein desperet vermißt. ©. 64, 3. 1 v. o.
ift non zu tilgn. S. 66, 3. 5 v. u. ift hinter vehementissima
ein Punkt zu fegen, fo daß mit Prima, veniam die Aufzähfung
beginnt. Dgl. das Secunda ©. 66, 3.2.0. — ©. 67,
3. 11 v. o. ift an eam überflüffig, obſchon vielleicht von Luther
anakoluthiſch fo geiproden. S. 68, 3. 16 v. u. ließ gratise
ftatt gratia. ©. 69, 3. 10 v. o. lie religiesi ftatt religiose.
©. 74, 3. 13 v. o. tft entweder varia zu lejen, oder Hinter
varias ein Wort, etwa sententias oder historias zu ergänzen.
©. 77, 3. 20 ff. v. u. ift die Periode in Unordnung. Ich ver-
ftehe unter castra befeftigte Klöfter, wie 3. 3. das castrum
Sancti Petri et Pauli zu Belbug eines war (Bogt, Bugenhagen
©. 7), fo daß das folgende monasteriorum darauf zurüdweift;
und laffe dem Jam namque zu Anfang der Periode parallel mit
Jam nunc ad felicitatem einen neuen Sat beginnen, der wie
der erſte herb, ja farkaftijch (felicitatem!) die gegenwärtigen Klofter«
zuftände darftellt. Ferner ift gewiß lanceariis ftatt des Nom. zu
Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 5658
leſen, und jo lautet die Periode: Jam namque dicuntur eccle-
siae, si episcopus vastioribus dominetur finibus; si castra
hostes non timeant, si lanceariis equitibus adornantur. Ejus-
modi monasteriorum quam de bonis studium extat. (Hier
vermißt man einen zu studium gehörigen Komparativ, durch den
dad quam erit berechtigt wird.) Jam nunc ad felicitatem de-
venimus, ul. %
Einer Reviſion fcheinen auch folgende Stellen bedürftig. S. 19,
3.3 v. u. vielleiht quae armata veniebat. ©. 22, 2.13 v. o.
wohl eine Lücke hinter praedicatore. ©. 75, 3. 14 v. u. führt
der Zujammenhang mehr auf corporali als Abl. compar. al8 auf
den Nom. corporalis.
Die Verbefferungsvorfchläge zeigen ebenjo wie die Diedhoff
zu danfende Emendation auf S. 34, daß viel Sinnentitellung mit
einfachften Mitteln zu befeitigen ift. Zugleich echellt aus der von
Dieckhoff angeftellten PVergleihung zwiihen Jud. und Auguſtins
Quaestio 17 in Judices (S. 644 des Diedhoffichen Aufſatzes),
daß die Nachſchrift faft den Wortlaut der Vorlefung miedergieht.
Dieckhoffs Urteil über die Mängel des Zuſammenhangs (S. 648
fetter Abfat) ift daher nicht richtig. Überaus verfehlt ift aber Died-
hoffs Beiprechung derjenigen Stelle der Vorlefung, welche S. 33
zunächft den Anfong des dritten Kapitels in lateinifcher Überfegung
giebt und den Text gegen die ©. 34, 3. 1 oben beginnende Aus⸗
legung ausbrüdlich abgrenzt Durch die Bemerkung: Hactenus verba
textus. Dieckhoff dagegen will den Text nur in den Anfange-
worten bis Chananaeorum jehen und ergeht fich über den Zu-
ftand des uns vorliegenden Wortlautes der Veröffentlichung in
Neflegionen, die faft mit einem Verdikt zu jchließen drahen. Aber
mie? Die betreffenden Worte lauten bei Luther: propter con-
tribulationes filiorum Israel, ut doceret illog bellum. Wenn
nun die Vulgata den zweiten Vers wiedergiebt: ut posten dis-
cerent fili eorum certare cum hestibus etc., fo ift, von dem
contribulationes hei Luther zunächft abgefehen, doc, genug Über⸗
einftimmung des Sinned vorhanden, um einen Kritiker vor der
Behauptung zu bewahren, jene Stelle gehöre nicht zum Tert! Nun
aber konnte ein Blick in den hebräifchen Text ihn befehren, wie
554 Hering: Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes.
eng fi) bis auf das eine fragliche und zunächſt als verdächtig zu
bezeichnende Wort contribulationes Luthers Wiedergabe an jenen
anschließt, welcher ®. 2 lautet:
onen Dme29 Manknap Mm nya 1002 pr
Luther, der ſich auch fonft öfter um den hebräifchen Tert be-
müht zeigt, ift alfo von feinem dem jumb entſprechenden propter
an dem Urtert genau gefolgt, vielleicht unter Mitbenutzung der LXX,
welche überfegt: An» dia vas ysveag viav Iogani Tod dıdadka
avdrods rröisnov. Luthers wörtliche Übereinftimmung mit dem
Hebräifhen und Griechiſchen erleidet nur durch das contribula-
tiones, welches dem Sontert nach dem ninTn, ysvezs entipreden
müßte, eine jehr auffällige Unterbrechung. Aber gerade die
Schwierigkeit hebt ſich durch die bis zur Evidenz gewiſſe Konjektur,
daß ftatt contribulationes vielmehr contribules zu leſen ift, ein
Wort, das von Du Cange mit consanguinei, cognati wieder
gegeben (Ausgabe von Hentſchel, Paris 1842, ©. 577) um
als Überfegung des hebräifchen und griechifchen Wortes noch kennt—
licher wird durch die Erflärung bei Johannes de Janua Summa
quae vocatur Catholicon. Mogunt. 1460: Contribulis a con
— tribulis.... simul ejusdem tribus. (&benfo bei Forcellini.)
Quther bat. fih aljo nur die Freiheit genommen, ftatt „Stämme
der Kinder Iſr.“, zu fagen: „die Stammesgenofien“.
Anftatt dieſes Emendationsverſuchs wäre allerdings noch eine
Möglichkeit zu berückſichtigen. Nach Du Cange findet fih Bei
dem Lerifographen Guilelmus Brito aud da8 Wort contribulitas
im Sinn von cognatio oder consanguinitas. Da dasfelbe aber
in dem oben zitierten Catholicon, welches im 16. Jahrhundert
viel gebraucht wurde und daher wahrjcheinlich den lateinischen Wort-
ſchatz der Zeit enthält, fehlt, jo wird man wohl vorziehen, ſich für
contribules zu entfcheiden.
Drudverfehen ©. 23, 3.2 v. o. lies: debemus. — ©. 29,
3. 170. o. lies: vestigia. — S. 31, 3. 3 v. u. lied: voca-
verunt. — ©. 32, lette Zeile des 2. Abſatzes lied: regnet. ©. 68,
3. 19 v. u. lied: nudius tertius.
Buchwald: Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers ıc. 555
2,
Noch eine Bemerlung zu dem Streite Luthers
mit den Wittenberger Stiftsherren, 15323 -249.
Von
Lie. Dr. ©. Budwald,
Oberlehrer am Gumnafium zu Zwickau.
Die Poachſche Sammlung von Predigten Luthers barg, wie
ihr Indexband anzeigt, urjprünglih auch Luthers Predigten aus
dem Jahre 1523. Leider ift der betreffende Band verloren. Diefer
Berluft ift uns nun, wenn auch nicht vollftändig, fo doch einiger»
maßen erfegt durch Roths unmittelbare Nachſchriften von Predigten
Luthers ?). Diefe beginnen mit dem 21. Juni, Roth muß mithin-
ſchon gegen Mitte des Jahres 1523 nad Wittenberg gekommen
fein, wo er fich bei Beginn des Winterfemefters 1523 — 24 in-
matrifulieren Tieß ®). Dasfelbe geht aus den Adreffen der an ihn
gerichteten Briefe hervor.
Die und aus dem Fahre 1523 in Rothſchen Nachichriften er-
haltenen Predigten Luthers find, wie der Vergleich mit Poachs Inder
ehrt, tdentifh mit den von diefem fatalogifierten. Mit völliger
Gewißheit kann dies auch daraus gefchloffen werden, daß beide,
Roth und Poad, für den 4. und 7. Zrinitatisfonntag ausdrücklich
Amsdorf und nicht Luther als Prediger angeben.
Die von Roth im Jahre 1523 nachgefchriebenen Predigten
Zuthers find nun folgende 9:
1) Bol. Theol. Stud., Jahrg. 1884, ©. 562 ff.
2) Bgl. Andreas Poachs handichriftlihe Sammlung ungedrudter Predigten
D. Martin Luthers. 1885. I, p. XXXII ss.
3) Bgl. Müller, Stephan Roth in „Beiträge zur ſächſiſchen Kirchen-
geichichte” 1882, ©. 57. s
4) Bgl. Poachs Sammlung 1. c.
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 36
556 Buchwald
I. Am 3. p. Trin. (21. Juni) über Luk. 15.
I. „ Sohannestag (24: Juni) über Luf. 1.
II. „ Xag Mariä Heimfuhung (2. Juli) über Luk. 1.
IV. Am 5. p. Trin. (5. Juli) über Sul. 5.
V. „ 6 p. Trm. (12. Juli) über Motp. 5.
VI. „ SZatobustag (25. Juli) über Matth. 20.
VI. „ 8. p. Trin. (26. Juli) über Matth. 7.
v2I. „ 9. p. Trin. {2. Auguft) über Luk. 16.
IX. „ 11. p. Trin, (16. Quguft) über Luk. 18.
X „ 12. p. Trin. (23. Auguft) über Marf. 7.
XI. „ 13. p. Trin. (30. Auguft) über Luk. 10.
XN. „ 14. p. Trin. (6. September) über Luk. 17.
XH. „ 135. p. Trin. (13. September) über Mattb. 6.
XIV. „ 20. p. Trin. (18. Oftober) über Matth. 22.
XV. „ 22. p. Trin. (1. November) über Dlatth. 18.
XVI „ 23. p. Trin. (8. Revember) über Matth. 22.
Unter diefen Predigten. befindet fi nun alſo auch Die vom
2. Auguft, im welcher Luther gegen das Wittenberger Domkapite
anfümpfte. Den insbeſondere polemiſchen Abfchnitt der Predigt
hatte Roth urſprünglich gar nicht mit nachgeſchrieben. Es ik
wahrfcheinlih, daß Luther bereit6 am 12. Juli, am Tage nad
einem zweiten Schreiben an dad Deomfapitel ?), Gelegenheit nahe,
nad) feiner Gewohnheit am Schluffe der Predigt, von der Kanzel
‘aus fi) über feine Stellung zu den Wittenberger Stiftsherren zu
erklären. Luthers Worte waren indes dem jungen Magifter „zcu
Iharff“ : „de judicio coneilio etc. tft zeu ſcharff, relinquamus
ergo: —“ fließt er feine Nachſchrift. — Auch am 2. Auguft
hatte es Roth vorgezogen, den polemifchen Schlußteil der Predigt
Luthers nicht mit zu notieren. Die legten Worte in feiner Nach⸗
Schrift lauten: „ea dieta sunt uff die Kern vffin Schloß zc.: —
Et multa hic dixit tanta vehementia ut nihil supra.“ —
Wegen des gefchichtlichen Intereffes jedoch, welches gerade diefes
Predigtftücd in der Folgezeit erlangte, jchrieb ſich Roth jpäter zwi»
1) De Wette I, 354 ff.
Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers ꝛc. 557
then dem 6. und 13. September basjelbe von einer Nachichrift
ab. In Rothe Heft iſt nun dieſe Kopie durchſtrichen — ein
Zeichen dafür, daß der Schreiber fie fpäter nechmals ab» und ſo⸗
zufagen aufs reime schrieb. Dieſer Reinfchrift gab dann Roth den
Titel: „Bon Zweirley ergernuß ber Lehr vnd ber liebe ein
furger vuterricht D. M. 2." — Dies iſt der von mir an oben ger
nannter Stelle ber „Theologischen Studien" veröffentlichte Predigt-
abkchnitt.
Luther wurde aljo nicht, wie l. c. &. 572 vermutet wurde,
von der epiftolifihen Berifape für den 9. Trinitatisſonntag, zu
feinen Invektiven veranlaßt, fendern dad &feihmid vom unge⸗
rechten Baushalter führte ihn dazu, wie bie Wiedergabe der
Rothichen Nachſchrift zeigen wird.
Dominica post Petri D. M.
Evan: Lucae 16.
Non praedicat de fide, sed de operibus et fructibus fidei,
scilicet charitate proximi, stat in hoc, ut proximo cura ha-
beatur. Diene ihm mit leib vnd leben, gut ꝛc.
Non satis est ‚predigen vorſtehen, deren, sed armati simus
etiam, ut defendamus tales praedicationes et maneamus in
eo etc. comtra diabolum in morte etc. YVidetur hoc evan-
gelium et pleraque alia ad opera respicere etc. hec adferat
Sathan, et hic in vita justitiarii, hypecritae etc. ut hic simus
armati fc.
Facite vobis etc. hic clare dicent: ponitur ut fiant
bona opera et fa[cite]: almieos]: de mam[mona]: etc. ubi
nunc est doctrina tua de fide quae sola justificet etc. vides
hic opera ete. Oportet ut simus hic t{ug. Dicatis quod hec
seriptura, et verba dei gebrauchen. ‘Der ſprach ut homines
inter se Ioquuntur, Iha wie man vff der gaſßen redt, ut mater
cum puero etc. primum Innerlich, seeundo üußerlich, loquitur
scriptura de Justificatione, primum wie e8 Innerlich Im bergen
vor gott gehet, 2° wie es vor den menfchen gehet zc. coram deo
non justificatur nisi qui habet lauter her, corda purificans
fide cor respicit etc. non opera. deus corde creditur etc.
36*
668 Budwald
Paulus Rho. 10). coram deo sola fides justificat sine operi-
bus, Innerlich est ista justificatio. loquitur scriptura nunc
ut est inter homines, nunc coram deo, non simul et semel,
oportet et ſpruch darnad ..... si contrariantur, nos non
contra id possumus aliquid, hic nulla sunt opera, non juvant
wallen ıc. sed sola fides etc. Sed illa ſpruch ut hic gehen
herauß coram hominibus, ore fit confessio ad salutem etc.
ut certus sis et coram te et coram hominibus etc. qui non
habent differentiam inter scripturas, faciunt errorem. lo-
quitur more hominum etc. et ut parentes jubent filios esse
mites, misericordes etc. per opus non fit misericors, sed
oportet prius esse miseric[ordes], et vade, indica te opere
esse misericordem etc. textus clare dicit: facite vobis etc.
id est si es Christianus in fide intus, vade et ostende foris
te erga proximum, ut tu certus sis et alius etiam ut exeat
fides et ostendat se etc. Nota veruntamen quod super est:
date ele[femosynas]: animo salicet ... vobis etc.: — et hoc
dictum habebunt adversariüi, non loquitur von den weßen das
gwifchen gott ond menfchen gehen, sed quod zwitſchen [!] menschen
und menfchen si dederis elefemosynas]: faciet te intus rein et
extra coram hominibus ita ut fides tua te manifestet mundo.
Sic Danieli dietum ad Nab[uchodonosor] redime peccata
eleemos[ynis] 2). Der redet vor gott, der ander vor den men-
fhen, nunc de fide in corde, alter coram hominibus etc. id
est tua elemosyna faciet te certum esse remissa peccata te
teste et alis: — oportet scripturam loqui de operibus. Non
satis est habere opera, sed et cor requiritur, opus tauge
nit, si non est ex rechtſchaffen bergen. opus fein nu nisi cor
adsit, oportet cor esse rectum si opus dfebet] esse redt:
ſchaffen. oportet fidem adesse, opera non faciunt rein in
corde, sed foris coram te et aliis hominibus etc. dic ex
scriptura hanc glossam etc. Pro illo habes dictum Petri °)
1) Röm. 10, 6.
2) Dan. 4, 24.
3) 2Petr. 1, 5.
Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers ꝛc. 659
pfeißet euch mit gutten werten ꝛc. 2Pe. 1: non diecit ut per
opera justifiatis etc. sed dicit; - facite ut certi sitis etc.
Scriptura loquitur de justificatione duplici, primo redhtfertig[ung]
an Ir felber in qua non est conscientia gewiß, 2° de recht⸗
flertigung] ut est gewiß ꝛc.
Loquitur hie textus clare de amicis hic in terris, non in
coelis, ut eruamus oculum, qui respieit in coelum et sinamus
oculum qui respicit sanctos in terra etc. sancti in coelis non
egent nostris operibus, sed sancti in terris etc. ſchaff frunde,
ubi vides pauperes, infirmos, vnvorftendig, illi sis auxilio, üi
dabunt testimonium tibi in. extremis, ii werden bey dir ftehen
et ostendent tuam fidem etc. sic eris certus tu quod fidem
habes: — Non ad sanctos respiciendum etc. intercessio nulla
erit tune: —
Mammon reidthum, gut, das vbrig ift, dicit iniquum, quia
non est homo qui bene utitur, quia qui est sine fide, non
cogitat juvare proximum, niemandt thut recht damit exceptis
Christianis etc. datum est ut egentem juvat [!], semper cu-
mulant avari, cogitant de ventre etc: —
1) Peccatum dupflex]: peccatum quod est contra fidem
non est ferendum, quod contra charitatem bene est feren-
dum etc. infirmi in fide et vita sunt ferendi leiden ıc. cum
peccatoribus crassioribus habendum est mittleiden :c. denique
cum iis agendum est, ut meliores fiant, si ceciderunt, ut re-
surgant etc. sed quod est contra fidem, non est ibi tacen-
dum etc. Item ii non ferendi sunt qui nolunt meliores fieri
et confitentur etc. rectum esse etc. Nota exemplum in
Christo etc. ftellen ons zur libe faullig 2. — ea dieta sunt
off die dern vffm Schloß ꝛc. — Et multa hic dixit
tanta vehementia ut nihil supra: —
Das Folgende ift bereits aus Roths Reinfchrift mitgeteilt, melche
bi8 auf wenige Varianten mit der urfprünglichen Abfchrift über»
einftimmt. Diefe lieft (Theol. Stud. 1. c. S. 567, 3. 3 v. o.)
1) Hier beginnt das bereits mitgeteilte Predigtftüd, aber hier nod) in un⸗
mittelbarer Nachſchrift, alfo in urfprünglichfter Form.
560 Buchwald: Noch eine Bemerkung zu den Steeite Luthers zc.
nad „gehen“ noch: „aber das wollen wir nod ein weil wehren“,
nah „wirt“ (3. 5 v. 0.) noch „Bo werden fie wollen ſchreihen
ond Hulff fuchen“; es fehlen in ihr die Worte „und ihr vnchriftlich
weßen nit abftellen“ (Al. 2, 3. 6 v. o.), „boß“ (3. 8), „vnd
folfens nicht leiden“ (3.12), „ond widder die lehr des glaubeus“”
(3. 14), fowie die Schlußworte „babei wollen wird“ zc.
Kezenjionen.
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l.
Das Alte Teftament bei Johannes. Ein Beitrag zur Er-
Härung und Beurteilung der johanneifchen Schriften von
Lie. U. 9. Franke, Privatdozent (jetzt außerordentl.
Profeffor) in Halle. Göttingen, VBandenhoed und ARuprechts
Berlag. 1885. V u. 316 ©. 8°. Preis 6 Marl.
Unter vorftehendem (übrigens in feinem Hauptteil nicht glück⸗
ih formulierten) Zitel liegt uns ein Werk vor, welches ganz ge-
eignet ift, den Unterfuchungen über die johanneifchen Schriften
einen neuen fräftigen Anftoß zu geben und die Zuverſicht vieler
Vertreter der Tübinger Tendenzkritif, dag der’ „wilfenfchaftlichen
Theologie" die Unedhtheit des Yohannesevangeliums als ausge⸗
macht gelten müjfe, einigermaßen zu erfchüttern. Denn das Buch
— dieſes Eindruds wird fi fein aufmerkjamer Lejer erwehren
fönnen — gehört nit zu den nur vom apologetifchen In⸗
tereffe eingegebenen VBerteidigungsichriften für das Johannesevan⸗
gelium. Es enthält gründliche und umfaſſende Unterfuchungen.
Der mit ber einfchlägigen Litteratur genau befannte Verfaſſer, fo
entjchieden er auch für die Echtheit der johanneifchen Schriften ein»
tritt, will den wirklichen Sachverhalt nirgends vertufchen, die ihm
in den Weg tretenden Inſtanzen nicht mit mehr oder weniger
jcheinbaren Ausreden beifeite fchieben, vielmehr alle Beobach⸗
tungen feiner Gegner, die fi) ihm als begründet erweilen, unum⸗
564 Franke
wunden anerkennen; nur dadurch, daß er die vorliegenden
Probleme, deren Schwierigkeit er nicht unterſchätzt, mehr ale
bisher gefhehen war, bei der Wurzel anfaßt, gewinnt
er feine die Echtheit der johbanneifhen Schriften feiter
begründenden Ergebnijfe. Nicht felten ftellt ſich dabei her-
aus, daß die Beftreiter der Echtheit ihre fchärfften Waffen Auf-
fafjungen johanneifcher Anfchauungen und Bofitionen verdanten,
welche auch von den PVerteidigern der Authentie geteilt, zumeilen
fogar zuerft aufgebracht worden find, und welche ſich der tiefer
dringenden Unterfuchung nicht bewähren, und der Verfafjer hat da-
her vielfachen Anlaß, nicht nur einzelne Stellen der johanneijchen
Schriften, fondern auch die Grundbegriffe und die Geſamtanſchau⸗
ung des. Johannes in helleres und richtigeres Licht zu fegen. Er
felbit legt hierauf, wie der Nebentitel „Ein Beitrag” u. f. w. ar
deutet, das Hauptgewicht in der mohlbegründeten Überzeugung, daß
die Entfcheidung der kritiſchen Frage mit dem richtigen Ber:
ftändnts ber johanneifhen Schriften im wefentlichen ſchon ges
geben iſt.
Freilich bildet nur das Verhältnis der johanneifhen Schriften
zum Alten Teftament den eigentlichen Gegenftand der Unterfuchung.
Aber ſchon die in der Einleitung (S. 1—9) in eben fo flarer
als präziſer Darftellung vorausgeſchickte Überficht des bisherigen
kritiſchen Streites über die johanneifchen Schriften weift nad, daß
dieſes Verhältnis der Angelpuntt ift, um welchen die ganze kritiſche
Verhandlung ſich dreht. Aus neueren Modifikationen der Tüͤ⸗
binger Johanneskritik, namentlich aus Thoma's „Geneſis des
Johannesevangeliums“ zeigt der Verfaſſer zugleich, daß mit dem
bloßen Nachweis der Verarbeitung altteſtamentlichen Materials in
den johanneiſchen Schriften für deren Authentie noch nichts ge⸗
wonnen, daß vielmehr eine allſeitige Unterſuchung des Verhält⸗
niſſes der johanneiſchen Schriften zum Alten Teſtament erforder—⸗
lich iſt, zu welcher bisher wohl dankenswerte Vorarbeiten vor⸗
handen waren, die aber noch niemand unternommen hatte.
In drei Teilen löſt er ſelbſt die Aufgabe, die er fich geſtellt
bat. Der erſte (S. 10—88) macht da8 prinzipielle Ber-
Hältnis des Johannes zum alten Bunde zum Gegenftand ver
Das Alte Teftament bei Johannes. 365
Unterfuchung. Es handelt ſich aljo Hier mejentlih um dem. von
Baur behaupteten, von feinen Nachfolgern trog mander Ein»
ſchränkungen feitgehaltenen und aud) von einzelnen DVerteidigern der
Echtheit der johanneiſchen Schriften zugeftanbeuen Antijudais:
mus de vierten Evangeliſten und um die richtige Beleuchtung
des: Sachverhalts, auf welchen diefe Behauptung gegründet worden
ft. Dabei kommt wieder ein Dreifaches im Frage: Die Stel-
tung des Johannes zum Bolle, zu der Offenbarung und zur
Schrift des alten Bundes. In dem erften der damit gegebenen
Abfchnitte (S. 11— 27), defjen Inhalt der Verfaffer in etwas
weiterer Ausführung ſchon im feiner 1882 gedruckten Habilitations-
Differtatiom mitgeteilt hat, wird das Problem in voller Schärfe
dahin. formuliert: „Wie iſt die Verwendung der Iuden als der
Repräſentanten des ımgläubigen Kosmos im Evangelium (Johames)
aufzufaſſen?“ Unter Ablehnung ungenügender Löſungen wird an-
erfannt, dag der Evangelift im diefer Beziehung in feiner Dar⸗
ftelung allerdings eine befiinente Tendenz verfolgt, obſchon man
diefelbe nicht für den eigentlichen Zweck feines Evangeliums aus⸗
geben darf. Daß diefe Tendenz aber nicht Antijudaismus ift, be-
weist der Verfaſſer aus den Zeugnifjen perfönlichen Intereſſes des
Evangeliften an der füdifchen Nation und ihrem Geſchick. Viel⸗
mehr will Johannes die ihm wor Augen Tiegende Thatfadhe, daß,
während eine Gemeinfchaft von Kindern Gottes aus aller Welt,
ohne Rückſficht auf nationale Herkunft, ſich des Heiles in Chrifto
freut, das Bolt des alten Bundes von demjelben au$-
geihlojfen geblieben tft, daraus erflären, daß Jeſus ſchon
während feiner perjönlichen Wirkſamkeit auf der Erde von dem
Volke der Juden als ſolchem verworfen worden ift. Im Lichte
der Thatfache, daß die Verwerfung des meſſianiſchen Heils jeitene
der jüdifchen Nation entjchieden war, konnte Johannes das
Berhaften, welches diefe in ihren Häuptern und Führern fchon
Jefu gegenüber bewiefen Hatte, nicht mehr mit Unmifjenheit ent:
ſchuldigen, mußte vielmehr darin die aus entfchiedenem Unglauben
und völliger Gottentfremdung entiprungene Verſchuldung erkennen,
welche das Judenvolk jeines Charakters und feiner Privilegien als
des Volkes Gottes verluftig und es zum Nepräfentanten des gott-
566 Franke
entfremdeten Kosmos gemacht hatte. Hiermit ſcheint uns der Ver⸗
faſſer in der That eine völlig ausreichende Löſung des Problems,
durch welche namentlich auch das vielberufene 06 Zovdados alles
auffällige verliert, gefunden zu haben; ja es iſt dies die allein
mögliche Löſung des Problems, falls man nicht einer einheitlichen,
in fi widerſpruchsloſen Auffaffung aller johanneifhen Ausfagen
über die Juden (vgl. namentlich Joh. 4, 22) die Annahme vor
ziehen will, daß zwei einander widerfprechende Betrachtungsweiſen
der Yuden im Evangelium Yohanne® unvermittelt und unverföhnt
neben einander hergeben. |
Es ift ganz richtig, was der Verfaffer betont, daß jich jene
Betrachtungsweife der Oppofition, welche ſchon Jeſus ſelbſt unter
jeinen Volksgenoſſen, insbefondere bei deren Häuptern und Führern
fand, für Johannes zunächſt aus der gefchichtlihen Sachlage, wie
fie fich gegen Ende der apoftolifchen Zeit geftaltet Hatte, ergab.
Wir möchten aber bier noch weiter darauf aufmerkſam machen,
wie feine altteftamentliden Anſchauungen ihn mit innerer
Notwendigkeit auf jene Auffaffung der Sachlage und jene Betrach⸗
tungsweiſe der jüdifchen Oppofition gegen Jeſum führen mußten.
Bon einer Verwerfung des ermählten Eigentumsvolkes Jehovas
weiß freilich da8 Alte Teftament, wifjen auch die Propheten noch
nichts. Immerhin erheben diefe aber oft genug gegen das Voll
Israel als ſolches die Anklage treulojen Abfalls und unbuf-
fertiger Feindſchaft gegen feinen Gott; oft genug ift auch in ihren
Augen da8 Voll in feinem gegenwärtigen Beftand, na
mentlich fofern e8 durch feine Häupter und Führer repräfen-
tiert ift, verworfen und dem Gericht verfallen, und alle Hoffnung
auf eine Wiederherftelung des Bundesverhältniffes richtet fih auf
die Zukunft und hat das aus dem Reit der Bekehrten erneuerte
Bolt zum Gegenftand. — Weiter ift e8 eine fchon im Alten
Teſtament ausgeprägte Anfchauung, daß zwar bei den gottesver-
gefjenen, durch ihre Götzengreuel verunreinigten Heiden das Böſe
eine unbeftrittene Herrſchaft übt, aber doc, weil fie Gottes Geſetz
nicht kennen, jein innerſtes Weſen noch nicht offenbart und feine
höchſte Macht noch nicht entfaltet. Erit in Israel, das fidh
dem ar bezeugten Willen Gottes gegenübergeftellt fieht und fort
Das Alte Teftament bei Johannes. 567
und fort Objelt der göttlichen Erziehung ift, offenbart das
Böfe fein innerftes Weſen und die ganze TInechtende
Macht, weldhe es über die Herzen der Menfchen übt.
Da tritt die bewußte Yeindfchaft gegen Gott, die entichloffene Auf»
fagung des Gehorfams gegen ihn, die gefliffentliche Verachtung und
Übertretung feines Geſetzes, das empörerifche Ankämpfen gegen
feine NRechtsordnungen, die freche Verhöhnung und Profanierung
alles Heiligen an den Tag (vgl. 3. B. Yel. 3, 8; 30, 10. Ger.
2, 20. 27. Am. 2, 7. Pf. 50, 16 u. v. a.), um beremmillen
Israels Verderben und Verſchuldung größer ift, als die der
Heiden (2Rön. 21, 9. &. 5, 6f.), umd felbft Sodom ihm
gegenüber noch gerecht erſcheint (Ez. 16, 47 ff.). Wenn nun bie
Thatfache, daß das jüdifche Volk als ſolches die legte und
höch ſte Offenbarung in dem Sohne verworfen hatte, dem Evans
geliften vor Augen lag, fo mußte er einen Schritt weiter gehen,
als die Propheten: jener Reſt konnte in feinen Augen nicht mehr
der Zukunft angehören, weil eine weitere, noch vollfommenere
Offenbarung und Heilsthat Gottes nicht mehr zu erwarten war;
je mehr bei ihm die Betrachtungsweife des meſſianiſchen Heils als
eines fchon der Gegenwart angehörigen Gutes überwog, um fo
mehr mußte in feinen Augen auch jener Reſt mit den in die Ges
meinfchaft der Kinder Gottes jchon aufgenommenen oder noch ein⸗
gehenden einzelnen Israeliten zufammenfallen, und um fo mehr
mußte fih ihm der Ausichluß des jüdiichen Volkes in feinem
gegenwärtigen Beftand von dem Heil in Chrifto ſchlechtweg
als nunmehrige Verwerfung des jüdifchen Volks darftellen;
benn jenen geretteten Reſt fonnte er unmöglich als das nod)
fortbeftehende Volk anjehen. Hatte doch aud die altteftamentliche
Weisfagung fhon bezeugt, daß die verftocdte Verſchmähung der
meifianifhen Heilsgnade das unwiderrufliche Vernichtungsgericht
nach ſich ziehe (vgl. Ez. 20, 38. Jeſ. 65, 11ff. 66, 24
und meine Schrift „Die meifianifche Weisfagung”, S. 191). So
mußten alfo für Johannes die Begriffe „Volt Gottes“ und „Volk
der Juden“, die für die Propheten zwar nicht identisch, aber doch
noch untrennbar verbunden waren, fi) von einander löfen. Sah
er fih aber jo dur den gefchichtlihen Sachverhalt genötigt in
508 Srante
femem Urteil iiber das nunmehrige Verhältnis der jlidifchen Na⸗
tion zu Gott und ſeinem Heil einen Sihritt weiter zu gehen, als
die Propheten, fo mußte er auch weiter auf GOrund der anderen
vorhin angeführten altteftametiichen, insbefondere propketifchen
Anſchauung in der verftocten Berwerfung des in dem eingeborenen
Sohne dargebotenen Heiles den denkbar höchſten Gipfel der
von den Juden fchon von Alters her bewiefenen Gottfeindſchaft
und daher auch in dem ungläubigen jüdischen Voll den vollen»
detften Typus des gottentfrembeten Kosmos erkennen.
Ja nur unter der VBorausfegung, daß das Beil in Chriſto
zunächſt ben Juden beftimmt und im einer Feine Entjchuldigung
übrig laſſenden Klarheit dargeboten war, konnte er und von ihr
aus mußte er zu einer folchen Betrachtuugsweife „der Juden“
fommen. Daraus ergiebt fich denn won jelbft, wie beim Rückblick
auf die Geſchichte Jeſu Chrifti die Thatjadye: Eis ra iden nAYe,
xai ol idsos avzov ov nuoskoßov (Yoh. 1, 11) von Johannes
aufgefaßt und dargeitellt werden mußte, und mie notwendig ihm
dabei diejenigen, welche zuvor os 3%sos waren, nunmehr als ai
'Jovdaios den an den Namen des Sohnes glaubenden Kindern
Gottes (Joh. 1, 12.) ale den nunmehrigen ödsos 08 &v zo xdaue
(Joh. 13, 1) gegenübertraten. Es mar nicht Autijudaismus, fons
dern es waren gerade feine altteftamentlichen Glaubensüberzeugungen,
melche ihm die von ihm eingenommmene Stellung zu feinen Volks⸗
genofjen anwieſen.
Der zweite Abſchnitt (S. 27—46) handelt von der Stellung
des Johannes zu der Offenbarung bes alten Bundes und weift
pofitiv und negativ, d. h. durch Abwehr der Mißdeutung von
Stellen, wie Joh. 1, 18; 5, 37; 10, 8 u.a. nad, daß fem
Glaube an diejelbe ehenfomenig einem Zweifel unterliegen kann, als
der der andern neuteſtamentlichen Schriftfteller, und daß er — bei
aller gelegentlichen Bezeugung der Erhabenheit der in dem Sahne
gegebenen Dffenbarung, als ber abfoluten, auch die Errovgavız
fund machenden (Joh. 3, 12f.), über die vorbereitende des alten
Bundes — den inneren Zufammenhang beider Offenbarungen und
die Zweckbeziehung der altteftamentlichen auf die des neuen Bundes
nachdrüdlich betont. Mit Recht fordert dabei der Verfafler, daß
Das Alte Teſtament bei Johannes. 569
man Judentum und altteftamentlide Religion wit, wie von der
Tübinger Kritit meiit geichehen ijt, ohne weiteres identificiere, ſon⸗
dern wohl unteufcheide, fall8 man Johannes vet veritehen wolle,
und entwidelt namentlich den Sinn von Joh. 1, 17 im Lichte
diefer Unterſcheidung in einer m. E. durchaus zutreffenden Weife,
Schon in diefem Abjchnitt tritt uns aber auch ein im weiteren
Berlauf der Unterfuchungen noch öfters bemerfbarer Mangel in
der DBeweisführung des Verfaſſers entgegen, welcher m. E. ihre
Überzengungsfraft zu beeinträchtigen geeignet ift. Sch glaube näm⸗
ih, daß diejelbe noch wirkſamer geweſen wäre, wenn er weniger
Gewicht auf die Beziehungen jphanneifcher Ausfagen auf beftimmte
einzelne Stellen des Alten Teftamentes, die er entdeckt zu haben
glaubt, gelegt Hätte. Tritt er auch der Sritiklofigfeit, mit welcher
nach %. Adf. Lampes Vorgang Hengftenberg folche Beziehungen
gejammelt hat, ensfchieden entgegen, jo jcheint er mir doch auch
jelbft darin noch zu weit zu gehen. So legt er (S. 32f.) be⸗
deudende® Gewicht darauf, daß Johannes in Joh. 1, 14, mie
ichon Lampe erfannt Habe, „die ihm felbft durh Jeſum vers
mittelte Gottesſchan“ als das Gegenbild der nach 2Moſ. 33, 18 ff.
Moſes zuteil gemondenen darſtelle (vgl. au S. 102. 204.
265. 291), Das ſtcheint ums aber troß der aus dem Inhalt
und den Ausdrüden in Joh. 1, 14. 17 und 18 entnom«
menen Beweisgründe (zu denen man nad eine gegenfägliche Be⸗
zieyuug des Eoxnvocev ph. 1, 14 zu dem napsoxsodaı in
2Mof. 33, 19. 22. 34, 6 Hinzufügen könnte) äußerjt zweifel«
haft. Der Berfaffer weift felbft (S. 288) darauf Bin, dag
dad nom on 23 2Mof. 34, 6 in der Sept. mit zodvsieos
ai aAndsvos wiedergegeben ijt, daß überhaupt dem hebräifchen
nem nor in der Sept. ftändig Zieos zai aAndsım entſpricht
und das Wort "on nur Eſth. 2, 9, wo es dem jonft gebrauchten
m in der Redensart „Gnade finden” entfpricht, mit gas wieder»
gegeben ift. Letzteres Wort ift nämlich in der .Sept. die Wieder-
gabe von ın. Darin will der Verfafjer nber einen Beweis dafür
finden, daß Johannes, obwohl er fi in der Regel an die Sept.
halte, auch von Haufe aus mit dem Hebräifchen Grundtert bekannt
gewejen fei. Ohne dies hier in Abrede jtellen zu wollen (f. u.), meinen
570 Srante
wir doch, dieſer Beweis dafür fei jehr prefär, umd die richtige
Fofgerung aus jenen Wahrnehmungen wäre vielmehr die längft
gezogene (vgl. 3. B. Meyer und Weiß zu oh. 1, 14) gemeien,
daß die Korrefpondenz des johanneifchen gagıs zui aAjYEı« (oh.
1, 14 und 17) mit dem altteftamentlihen nom "on nur ein täu⸗
fchender Schein ift. Denn wer wirflid auf den Grundtert zurüd-
ging, dem konnte die Inkongruenz der Ausdrüde non und «Anden
(zumal in der johanneifhen Bedeutung diefes Worte6) nicht ver»
borgen bleiben, und er hätte mehr Anlaß gehabt, bezüglich diejes
Wortes von der griehifchen Bibel abzuweichen, als bezüglid des
Wortes on. Für feine Leſer hätte Johannes Überdies, wenn
er wirfli) eine Bezugnahme auf das alttejtamentlihe nom on
beabfichtigt Hätte, diefelbe durc; Abänderung der ftehenden Wiedergabe
diefer Wortverbindung in der griechifchen Bibel jedenfalls wieder ziem-
ih unkenntlich gemacht. Auch die Beziehung von Joh. 3, 12 auf
5Mof. 30, 11ff. (S. 37. 197) ſcheint mir bei der völligen Ber-
Ichiedenheit der Gedanken und Zwecke der beiderieitigen Ausjagen
ſehr zweifelhaft, und felbt eine auf unbeftimmter Reminiscenz an
die deuteronomiſche Stelle beruhende bloße Entlehnung des Aus:
druds in den Worten xai ovdsis avaßspnxev eis Tüv oVpavov
läßt fi) angefihtd der Stellen Spr. 30, 4. Bar. 3, 29 einer:
jeits und Joh. 6, 38. 62 andrerfeits nicht mit voller Beftimmt:
heit behaupten. Auch geht Franke zu weit, wenn er in Joh. 3,
12. die Anſchauung ausgefprocden findet, daß die altteſtamentliche
Offenbarung nur die erriysır zum Inhalt habe; in Hebr. 12,
18—29 iſt der von ihm erörterte Unterfchied zwilchen der alt
und der neuteftamentlichen Offenbarung gemacht (vgl. meinen Lehr:
begriff des Hebräerbriefs S. 113ff.); aus jener johanneifchen
Stelle aber läßt er fih doch nur fehr mittelbar erſchließen. —
Der dritte Abfchnitt (S. 46—88) Handelt von der „Stellung
des Johannes zur Schrift des alten Bundes“ und weift über:
zeugend und allfeitig nah, daR fih dem Evangeliften „Schrift
glaube und Chriftusglaube, das Verftändnis der Schrift und der
Eindlit in die Wege Gottes zum Heil der Welt“ in und mit
einander entwideln und vollenden. Beſonderer Beachtung empfehlen
wir die trefflichen Erörterungen über die auf dem Boden de$
Das Alte Teftament bei Johannes. Hi
Geſetzes fich bewegenden apologetifchen und polemifchen Ausein-
anderfegungen Jeſu mit den Juden (S. 62—-72).
Dos aus den Unterſuchungen über das prinzipielle Verhältnis
des vierten Koangeliften zum alten Bunde gewonnene Ergebnis,
daß er ein der gotwwerliehenen Prärogativen feines Volles ſich wog!
bewußter, in den heiligen Schriften des alten Bundes lebender und
webender Israelite war, muß ſich nun aber auch an dem Gepräge,
welches feine chriſtliche Geſamtanſchauung an fich trägt, bewähren.
Darum Handelt der zweite Hauptteil, auf welden der DVerfaffer
mit Recht das Hauptgewicht gelegt bat, von den „altteftamentlichen
Grundlagen des johanneifchen Lehrbegriffs“ (S. 89— 254). Sollen
nım die in ihrer Art fehr eigentümlichen johanneifchen Schriften
wirklich ans dem Apofteltreife, und dazu von einem der Urapoſtel
herrühren, jo müffen zumächft die allen andern neuteftamentlichen
Schriftftellern gemeinfamen, aus dem Alten Teftament ftammenden
Grundanſchauungen auch ihnen eigen fein. Das weit der Ver⸗
faffer in der eriten Abteilung ded zweiten Teiles bezüglich der drei
Hauptpimfte, die auch in den kritiſchen Verhandlungen über die
johanneifhe Frage in den Vordergrund getreten find, nämlich ins
betreff der Anſchauungen über Gott md Welt (S. 91—143), der
Eschatologie (144-—166) und des Meſſiasglaubens ale der Wurzel
des Glaubens an Ehriftum (S. 166-185) mit einer der ent⸗
fcheidenden Bedeutung diefer Unterjuchung entfprechenden, das Der
tail im umfaffender Weije berücfichtigenden Grändfirhkeit nad.
Wir lönnen den Gang feiner Ausführungen dem Leſer nicht vor»
führen, fondern müſſen auf das Buch felbft verweilen. Mit einem
Bedenken aber wollen wir nicht zurückhalten. Beſonders in den
beiden erſten Abjchnitten Hatte es der DVerfaffer mit den johannei⸗
[hen Anſchauungen zu thun, in welden man Zeugnifje feiner
alexandriniſchen Geiftesrihtung und des Einflujjes
Philos zu finden pflegt. Run bat Franke den tiefgreifenden
Unterfchied zwifchen der johanneiſchen und der päilonischen Ans
ſchauung, die er zu diefem Zwed auf Grund umfafjender Quellen⸗
ftudien ſehr eingehend entwickelt hat, gut aufgezeigt und überzeugend
uachgewiefen, daß Johaunes in allem, worin Philos intellektua⸗
tiftiſche Spekulation den Boden der religidfen Anſchauungen des
Theo. Stud. Jahrg. 1886. 97
572 Franke
Alten Teſtaments verläßt, im Gegenſatz zu ihm und auf der Seite
des Alten Teftaments fteht. So ſehr wir aber feine Überzengung
teilen, fo will e8 uns doch vorkommen, als ob er derjelben einen
zu fchroffen, mindeftens mißverftändlichen Ausdruck gegeben habe,
wenn er den „angeblichen Alerandrinismus” des Johannes gerade,
zu „als Fiktion. vorurteilßpoller Kritik oder unbefonnener Inter⸗
pretation“ bezeichnet (S. 92), und ale ob er über der Verfchieden-
beit die immerhin in gewiffen Maße vorhandene Verwandticait
nicht genügend anerkenne. Philonismus und Alerandriniemus darf
man ja nicht identifizieren und den legteren nicht in fo fchroffen
Gegenfag zu der bibliiden Denkweiſe ftellen. Wir hätten ge
wünjcht, daß der Verfaſſer in feiner ganzen Unterfuchung über
den Alerandrinismns der johanneifhen Schriften der Schlufbemer-
fungen in der Abhandlung Weizſäckers über die johanneiſche
Logoslehre (Jahrb. für deutfche Theol. 1862, S. 708) mehr
eingedent geblieben wäre: „Es ift ja nichts leichter, als die große
Verſchiedenheit beider Lehren (der johanneifchen und der philonifchen
Logoslehre) ‚zu zeigen, nachzuweiſen, daß fie auf verfchiedenen
Srundanfhauungen beruhen... Uber dies fchließt doch gewiß
nicht aus, daß diefelbe (die johanneifche Logoslehre) unter der An-
regung durch geläufige Begriffe, die von dorther, oder wenigftens
aus verwandten Gebieten famen, angeregt wurde.“ Mit Recht ift
dort weiter betont, daß alle neuteftamentlihen Schriftfteller bei
ihrem Zurüdgehen auf das Alte Teftament diefes mehr oder we:
niger „durch das Medium der zeitgendffifchen jüdifchen Auffaffung“
anfehen. Die Richtigkeit diefer Bemerkungen ftellt Franke freilich
nicht in Abrede; er giebt (S. 112) die Möglichkeit zu, daß
die johanneifhe Gefamtanfhauung einen ausgeprägten biblifchen
Charakter haben, und dag doch bie Logosidee von Philo entlehnt
fein könnte; und nachdem die nähere Unterfuchung ergeben hat, daß
fi das Philo und Johannes Gemeinfame auf das biblifch-jüdifche
Element der philonifchen Logoslehre beſchränkt, erflärt er es doch
(S. 127) „für gefchichtswidrigen biblifhen Purismus, alfo für
Dogmatismus, wenn man den Mpoftel feine Logoslehre unmittel-
bar aus den Ausfagen des hebräifchen Kanons über ‚Wort‘ und
‚Weisheit‘ gewinnen läßt”, und fehreibt felbft dem alerandrinifchen
Das Alte Teftament bei Johannes. 6783
Buche der Weisheit Salomos, indbefondere der bekannten Stelle
Rap. 18, 14—25 einen bedeutenden Einfluß ſowohl auf die An⸗
fhauung des Apofalyptifers von dem Worte Gottes (Ap. 19,
11 ff.) als auf die johanneifhe Logoslehre zu (S. 127 ff.). Von
folhen richtigen Erfenntniffen aus, hätte er aber von vornherein
ftatt jener fchroffen Zurücdweifung de8 „angeblichen Alerandrinig-
mus“ des Johannes die Aufgabe fchärfer im Auge behalten fols
fen, die Übertreibungen der Tübinger Tendenzkritit auf ihr rich—
tiges8 Maß zurüdzuführen. Dean unterfhägt, wie mich dünft,
vielfah die Bedeutung, welche die Helleniftifhe Bildung und
Denkweife für die erfenntnismäßige Ausbildung der urchriftlichen
Olaubensüberzeugungen von Anfang an gehabt Hat. Sie konnte
aus verfchiedenen Gründen bet diefer Ausbildung weit mehr Bei⸗
hilfe Leiften, al8 die Schufgelehrjamteit paläftinifcher Schriftgelehrten.
Die helleniftiſche Bildung aber ftand überall mehr oder weniger
unter dem Einfluß des Alerandrinismus. War dod, Alerandria
ihr Hauptfig, von welchem aus die griechifchredenden Juden auch
ihre Bibel erhalten Hatten. Auf Grund folder Erwägungen ift
m. €. die Frage fo zu ftellen: Läßt das Medium, durch welches
der Verfaſſer der johanneifchen Schriften das Alte Teftament ans
fieht und das aud feine Auffaffung der altteftamentlichen Begriffe
und Anfchauungen färbt, mehr den Charakter paläftiniiher Schrift»
gefehrfamkeit oder mehr den der helleniftifchen Bildung und dar
mit and eine gewifje Verwandtſchaft mit dem Alerandrinismus er»
fennen? Jenes dürfte allerdings in “ob. 12, 41 der Fall fein,
wo — mie ſchon Schlottmann (da8 Bud Hiob, 1851, S. 130f.)
gezeigt hat — der Einfluß der üblichen jüdiſch-aramäiſchen Para-
phrafe auf die johanneiſche Auffaffung altteftamentliher Schrift:
worte ſchwerlich verfannt werden kann. Weit überwiegend tritt
aber in den johanneiſchen Schriften helleniftifche Denk- und Aufs
faffungsweife an den Tag, die in Mandher Beziehung dem älteren,
nicht philonifchen Alerandriniemus verwandter ift, al8 der paläfti-
niſchen Schriftgelehrſamkeit. Und diefer Befund jcheint mir der
Abkunft dieſer Schriften von dem aus der Takılata zuv EIva»
ftammenden Fiſcher, der nicht in den Schulen der Schriftgelehrten
gebildet war, und erft ald Jünger Jeſu und dann als Apoftel in
37*
874 Franke
Jeruſalem, wo ein beträchtlicher Teil der Gemeinde ans Helleniſten
beftand (Apftlg. 6, 1), und fchliegli als Vorſteher eines griechiſch⸗
redenden nnd überwiegend heidenchriftlichen Gemeindekreifes feine
chriſtliche Geſamtanſchauung ausgebildet und fi) immer mehr in
das Schriftwert hineingelebt hat, beineswegs ungünftig zu fein.
Es ift hier nicht der Ort zur näheren Ausführung und Begrün
dung biejer Andeutungen. Pur zur Exemplifikation der gemadtn
Ausftelung verweife ich gleich auf die erften Ausführungen de
„Gott und Welt“ überjchriebenen Abfihnitts (S. 92ff.). Hie
ſcheint mir Franke bie räumliche Borftellung des Johannes von
dem Himmel und feinem Gegenſatz zu der bießfeitigen Welt viel
zu fchroff der Philoniſchen Lehre von den beiden Welten, de
Stunenweit und der Ideenwelt, gegenüber zu ftellen. Erkennt «
auch an, daß bei Philo die altteftamentliche räumliche Vorſtellung
noch nachwirkt (S. 95), jo hat er doc, wie mich dünkt, bei I
hannes Über der einjeitig betonten Berjchiedenheit feiner Borftellung
von ber Philoniſchen das, was fie mit dieſer gemein Bat, allzuſeht
beifeite geſtellt. Er Hat gewiß darin Recht, daß nicht mur bie
Ausdrucke zdapos vorzös und aiaInTog, fonderu auch die durh |
diefelben bezeichnete Anfchanımg dem Johannes ebarfo fremd ift,
wie der ganze intellektualiftifh-fpelulative Idenlismus,
aus welchem fie erwachſen if. Das aber darf man nicht ver
fennen, bag vermöge der Korrefpondenz der Begriffe „himmliſch
und „überfinnlih” und weil der Himmel in der biblifchen An-
ſchauung in erfter Linie Wohnftätte Gottes ift, aus der räum
lichen Vorftellung von demfelben im Neuen ZTeftament bald meh
bald weniger eine ideale Bedentung des Ausbruds heraustritt,
und daß dies innerhalb des Neuen Teftaments am meiften bei Yo
hannes der Fall if. Wie hätte diefer ſornſt — um von dem
ov &v To odoavo in Ych. 3, 13, deifen Echtheit zweifelhaft
ift, ganz abzufehen — das Jenſeits fchon ir dem Mage in Chrifte
ing Diesſeits getreten und da® ewige Leben als fchon gegenwär
tiges darstellen können, daß „barüber geradezu der Gedanle an eine
erſt durch Verſetzung ins Jenſeits zu gewinnende Seligfeit und
Vollendung durchaus zurücktritt“ (S. 134. 150. 174. 198. 242)?
At die himmlische Welt dem Gläubigen in Jeſu Ehrifto ſchon
Das Alte Teftament bei Johannes. 575.
erichloffen, und ift ihm in der Gemeinfchaft mit dem Water und
dem Sohne das alles andere in ſich fchließende Gut der himm⸗
Eichen Welt, das ewige Leben ſchon eigen, fo fett das voraus, daß
auch in der Vorftellung des Himmels das Moment des Überfinn⸗
lichen, Geiftigen, Ewigen, Gotteigenen das räumliche fo überwiegt,
daß diefelbe der alerandrinifchen Auffafiung des Himmels, berem
intellektualiftiſche PVerbildung und — wenn man wii — Ber
Haltung Philos Ideenwelt ift, in der That näher fteht, als ber
faft ausschliehlih räumlichen des Alten Teftaments und des pa—⸗
fäftinifchen Judentums. — Ebenſo fcheinen mir Franke's Bemer⸗
fungen über den Gegenſatz, in welchem die eben berührten johannei⸗
chen Anfgauungen von dem Verhältnis des Jenſeits zu dem ‘Diebe
feit8 und vom ewigen Leben zu dem Alexandrinismus ftehen
(S. 134 ff.), diefen Gegenſatz, der in Philos dualiſtiſcher Anfchauung
über da® Verhältnis der Körperwelt zur Geiftesiwelt nnd in feinem
die Bedeutung der Heilsgefhichte und damit auch der Prophetie
verfennenden Intellektualismus begründet ift, einfeitig hervorzu⸗
heben und darüber das, was Johaunnes mit dem Alerandrinismus
gemein bat, zu verdeden. Philos Beichreibungen des Zuftands der
Ruhe und rende, in welchen der Weife verjegt ift, wenn er fi)
ans dem Sinnlihen in das Geiftige und Göttliche erhoben Hat,
find doch ein Analogon zu dem Frieden und der Freude, welche der
Häubige im Bewußtſein des ſchon gegenwärtigen Beſitzes des
ewigen Lebens genießt; wie es denn überhaupt nicht wohl andere
fein konnte, al8 daß ber fpefulative Idealismus Philos und der
veligiöfe Idealismus des Johannes troß ihrer verichiedenen Grund⸗
richtung in manchen verwandten Anfchauungen zufammentrafen. —
Im einzelnen möchte ih noch auf die S. 122f. gegebene Aus⸗
legung von Joh. 1, 4 und 5 aufmerfjam machen, bei welcher
Franke aber näher hätte nachweifen follen, baß ihre der Gegenſatz
des Tv in V. 4b und des praes. yalvss in B. 5a nicht im
Wege jteht.
Bon befonderer Wichtigkeit ift der gründliche Nachweis, daß
alle wefentlihen Momente der urchriftlihen Eschatologie auch in
dem Gedanfenkreife des Johannes noch eine Stelle behalten haben,
fo fehr fie auch durch die Auffaffung des ewigen Lebens als eines
576 Stante
ſchon gegenwärtigen Befiged der Gläubigen in den Hintergrund
gedrängt find. In der ebenfo wichtigen Unterfuhung über den
Meifiasglauben und feine Bedeutung in der johanneifchen Ehrifto-
fogie hat der Verfaſſer (S. 184; vgl. auh S. 215f.) unter an-
derm mit Recht die Stelle 1%0h. 5, 6ff. Herbeigezogen, inbetreff
deren ich bei diefer Gelegenheit meine Ausführungen (in diefer
Zeitſchr. Jahrg. 1864, ©. 552 ff.) in Erinnerung bringen möchte.
Die zweite Abteilung des zweiten Teiles (S. 185—254) ift
dem Nachweis gewidmet, daß auch die eigentümlidh johannei-
chen Ideen im Alten Teftament wurzeln. In ſechs Abfchnitten
mit den Auffcriften: „Das Heil in Chrifto al3 Erfüllung des im
alten Bunde gegebenen“ (S. 186—192), „die Gottesihau in
Jeſu Chriſto“ (S. 192 —213), „das Bundesopfer und die Sühne“
(S. 214—222), „das neue Gebot“ (S. 222— 231), „das ewige
Leben der Gottesgemeinihaft" (S. 231—243) und „die neue
Gemeinde" (S. 243—254) wird diefer Nachweis geführt. So
überzeugend er mir im ganzen erjcheint, fo trat mir doch gerade
bier der oben erwähnte Mangel, daß manchmal recht zweifelhafte
Beziehungen auf beftimmte einzelne Stellen des Alten Teſtaments
geltend gemacht und betont werden, mehrfad entgegen. So foll
1Joh. 5, 20 in feinem fignifilanteften Zeile Reproduktion von
Ser. 24, 7 fein (S. 187. 250. 262). In ber Sept. lauten die
betreffenden Worte: xai duow avrois xagdlav vov eidsvar av-
vous Eus, Or &@ eins xlosos; das trifft mit 1%0b. 5, 20
wenig genug zufammen; Johannes müßte aljo auch hier den Grund⸗
text felbftändig reproduziert haben, was aber bei einer Ausſage,
die ſich ſo ganz in feinem eigenen Begriffsfreis und feiner Termi⸗
nologie Hält, wenig Wahrjcheinlichkeit hat. Gewiß hat auch fie
altteftamentliche Wurzeln, wie dies namentlih von dem johannei⸗
ſchen yıydaxsıy Tov IE0v gilt (vgl. meine Bemerkungen im
Jahrgang 1864, S. 543); aber es ift nicht eine einzelne Stelle,
fondern ein viel breiterer Boden, in welchem diefe Wurzeln zu
juchen find. — Nur mittelft künſtlicher Kombinationen ift ferner
S. 205 die Beziehung von Joh. 17, 11. 6. 26 auf den Engel,
in welchem Gottes Name ift (2Mof. 23, 20f.) Hergeftellt. Bon
jonftigen zweifelhaften oder ganz unannehmbaren Beziehungen nos
Das Alte Teftament bei Johannes. 57
tiere ich die von Joh. 11, 52 auf Jeſ. 53, 6 (S. 219) und um
gleich die im dritten Teil des Werkes vorfommenden hinzuzufügen
— bie von 1 Joh. 2, 10 auf Bi. 119, 165 (S. 262), von
Koh. 20, 22 auf 1Mof. 2, 7 (S. 263. 313), von oh. 1, 1
(nv noös Tor Heov) auf Spr. Sal. 8, 30 (©. 265. 288)
und von Joh. 10, 28f. auf Jeſ. 43, 13 (S. 266), wo das
übrigens öfter gebraudte (5Mof. 32, 39. Hiob 10, 7; vgl.
Hof. 5, 14 u. a.) dıso mn pom einen ganz anderen, im der
Sept. richtig wiedergegebenen Sinn Hat (bıym nicht = rauben, ent»
reißen, fondern — erretien). — Einige Einzelheiten mögen hier
noch zur Sprade kommen. Als Beifpiel dafür, wie mande Stelle
von dem Verfaſſer gelegentlich in helleres und richtigeres Licht ge»
fegt ift, hebe ih die S. 208 über Joh. 1, 52 gegenüber der
berrfchenden Meinung (vgl. 3. B. Weiß 3. d. St.) gemachte, rich⸗
tige Bemerkung hervor, dag Chriftus ſich nicht al3 den antitypifchen
Jakob, fondern ale das antitypische Bethel darftelit. — Unklar ift
mir geblieben, wie Franke in dem Ausdrud zzagaxinzos die Bor:
ftellung eines „Vertreters Gottes“ finden kann (S. 212), und nicht
beiftimmen Tann id, wenn er in Abrede ftellt, dag in 1Joh. 4. 19-
eine Aufforderung zur Liebe zu Gott enthalten fei (S. 226); dae
avrov in diefer Stelle ift freilich ein fpäterer Zufag; ayanmoperv
aber wird gemäß V. 7. 11 und 20f. nicht als Ind. fondern als
Konj. zu faffen und in umfafjendem, nah V. 11 die Bruderliebe
einschließenden, aber nah V. 18 in erfter Linie auf die Gottee-
Liebe bezüglichen Sinne zu nehmen fein. — Unfere kleinen Aus-
ftellungen können uns nicht hindern, das Schlußergebnis bes
zweiten Teiles als ein durch die Unterſuchuugen des Berfaflers
wohl begründetes anzuerkennen; er fpridht e8 S. 254 in den
Worten aus: „Des Johannes Schriften find ein Zeugnis dafür,
daß ſchon gegen Ende des erjten Jahrhunderts die auf helleniſch⸗
heidnifhem Boden begründete Gemeinde es war, in welche der
Schwerpunkt der neuen Kirche ſich verlegt Hatte. Und der Mann,
welcher in ihnen redet, ift rückhaltslos den Weg mitgegangen,
welden Gott die Kirche geführt. Aber das Evangelium vom ewigen
Leben für jeden der da glaubt, zeugt an jedem Punkte ba>
für, daß es das Alte Teitament war, in deffen Licht Jo⸗
578 Franke
hannes Jeſum zuerſt erblickt, an deſſen Hand er auch die
Theologie entwidelte, welche für das gegenwärtige Heil in
Ehrifto immerhalb des Neuen Teftaments den höchſten Ausdrud ge
fanden. Keiner der nenteftamentlihen Schriftfteller hat die Ans
einanderſetzung mit der jübdifchen Vergangenheit der Kirche klarer
und voffftändiger vollzogen, Feiner aber auch den idealen Gehalt
des Alten Teſtaments für das in Ehrifto erſchienene Neue voller
und freier nutzbar gemacht, al3 Johannes.“
In dem dritten, „das Alte Teftament in der Darftellung
de3 Fohannes“ überfchriebenen Teil handelt der Berfaffer von dem
Gebrauch, welden Yohannes von dem altteftamentlichen Schrift:
wort macht (S. 255—282), von dem Maß, in welchem er babe
an die Sept. fi hält und anf den hHebräifchen Grundtert zurüd-
geht (S. 282-293), und von feinem Hermeneutifchen Verfahren
(S. 293—815). Der erfte diefer Abfchnitte weift von verſchie⸗
denen Gefichtspunkten aus einen folchen Reichtum von altteftament-
fihen Elementen und einen fo bedeutenden Einfluß des Alten
Teſtaments auf die Darftellung und Ausdrudsmeife in ben jo
hanneiſchen Schriften nah, daß, wenn man auch die Fülle der
Belege einiger Sichtung bedürftig finden mag, doch genug übrig
bleibt, um die Behauptung zu rechtfertigen, daß Johannes im
Alten Teftament lebt und mwebt. Die Bemerkungen, daß die Ci
tationsformeln des Johannes durchweg noch dem älteren, unbe
fangeneren Ausdrud des Glaubens an die Schrift entfpreden
(S. 258), und daß feine Eitate mit wenigen Ausnahmen dem
Kreis der in der urchriftlichen Gemeinde von Anfang an mit Bor
liebe benügten Schriftzeugniffe angehören (&. 259f.), feien hier
befonder3 hervorgehoben.
Weniger überzeugend fcheint mir der zweite Abfchnitt biefed
Teiles. Sein überrafchendes Ergebnis tft, daß Idhannes alferdinge
nur in den Gitaten Joh. 13, 18 und 19, 37 und wahrfcheinlid
auch oh. 12, 15 und 6, 45 von ber Sept. auf den Grundtert zu-
rüdgegangen: ift, daß aber in feiner freien Benutzung von Schrift:
ftellen, in den bloßen Anflängen an altteftamentliche Schriftworte
und in feinem Sprachſchatz die Sept. gar feinen nennendwerten
Einfluß geübt Hat, vielmehr der Grundtert maßgebend geweſen if.
Das Alte Teftament bei Johannes. 879
Daraus wird die Folgerung gezogen, daß der Verfaſſer der jo
hanneiſchen Schriften von Hanfe aus micht mit der griechifchen,
jondern mit der Bebrätfhen Bibel vertraut gemefen jei, und daß er
erft ſpüter bei feinem Eintritt in einen griedhifchredenden und nur
mit der griechiſchen Bibel vertrauten Gemeindekreis ſich dem Ge
brauch der letzteren angetchloffen habe, indem er nur noch da, wo
ihm feine Erinnerung koftbare Weisfagungdworte darbot, die der
griechiſche Text nicht genligend erkennen Tieß, auf den @rundtert
zurüdging. — Hier ift mir fraglich, ob der Sachverhalt iu riche
tigem Lichte dargeftellt ift. Zunächft fcheint mir der Verfaſſer
ganz außer Acht gelaffen zu haben, daß zwifchen der „Mutter⸗
ſprache“ (S. 290) des Johannes, dem jidifch-aramäifchen Volks⸗
dialeft und der hebräiſchen Sprade ein beträdhtlicher Unterſchied
it, und daß daher Johannes nur auf dem Weg bejonderen Stus
diums mit der Iekteren und mit dem Grumdtert hätte vertraut
werden können. Sodann liegt, wenn man auch die angeblich) fchon im
erften Jahrhundert neben der Sept. vorhandenen griechifchen Übers
fegungen ber Bibel und „die griechiſche Volksbibel zur Zeit Jeſu“
mit dem Berfafler (S. 285) für Phantafiegebilde Hält, doch keines⸗
wegs nur die Alternative: Sept. ober Grundtert vor. Franke
(äßt Hier außer Acht, daB es fir Juden und Chriften, welche die
Sept. zu gebrauchen gewohnt waren, auch noch einen anderen,
mittelbareren Weg gab, auf welchem fie zu von der Sept. ad»
weichenden und dem Grundtert entjprechenderen griedhifchen Citaten
fommen fonnten, als das Studlum des hebräifchen Kanone; ich
meine den Gebraud des Schriftworts im Gottesdienft. Bei den
Hebraiften in Paläftina wurde im Shynagogengottesdienft der he»
bräifche Text verlefen und dann mündlich im jüdifch-aramäijchen
Volksdialekt wiedergegeben und ausgelegt. Ein fabbatlider Be
fucher desſelben — und ein folcher wird Johannes ebenſowohl ge
weien fein, wie fein Herr und Meiſter — konnte jo manches
Schriftwort in hebräifcher oder jüdiſch-aramäiſcher Faſſung in fein
Gedächtnis aufnehmen. Aus diefer Duelle dürfte wohl, was fid)
von Einfluß der üblichen jüdifch-aramäiichen Paraphraje des he⸗
bräifchen Textes auf die johanneiſche Auffaffung aftteftamentlicher
Schriftworte nachweifen läßt, namentlich jene Spur in Joh. 12,
580 Franke
41 (f. oben), abzuleiten fein. Im Synagogengottesdienſt der
Helleniften aber konnte trotz des Gebrauchs der Sept. in den aus-
fegenden und paränetiihen Anſprachen manches Schriftwort im
Munde eines mit dem Grundtert befannten Mannes oder auch in-
folge jener Neminiscenzen eine von der Sept. abweichende, dem
hebräiſchen Text entiprechendere Geftalt erhalten, und dieſe Geftalt
fonnte, wenn das betreffende Scriftwort ein häufig gebrauchtes
war, leicht andy bei Helleniften ftereotyp werden. Noch leichter
fonnte dies in⸗ und außerhalb Paläftinas in den Gottesdienften
griechiſchredender Chriftengemeinden gefchehen. Auf diefe Weiſe ift
m. €. die Übereinftimmung in der von der Sept. abweichenden
und den hebräifchen Text entiprehenden Form der Gitate in Hebr.
13, 5 umd bei Philo de confus lingu. p. 344 und wohl aud
die in Hebr. 10, 30 und Röm. 12, 19 zu erklären. Verhält
fih dies fo, fo läßt ſich bei einem in der Pegel die Sept. ge
brauchenden Schriftfteller, wie der Verfaſſer der johanneifchen
Schriften, aus einigen wenigen mehr mit dem hebräiſchen Text
übereinlommenden Citaten noch nicht einmal mit voller Sicherheit
auf ein in diefen Fällen ftattgehabtes felbjtändiges Zurückgehen
auf den Grundtert fehfießen, gefchweige denn darauf, daß dem
Scriftfteller der Grunbtert ebenjo geläufig war, wie die Sept.
Auch gewinnt von jenem Gefichtepunft aus bezüglich des Citats
Joh. 19, 37 das Zufammentreffen mit Offb. 1, 7 und die ana-
loge Form des Eitats bei Yuftin mehr Gewicht, als der Verfaſſer
(S. 285) zuzugeſtehen geneigt iſt. In dem freien Citat Joh.
12, 15 vollends hat das un Yoßov nicht fo viel zu bedeuten,
als Franke (S. 286) meint, da die Sept. es oft genug darbot
GSeſ. 10,24; 41, 10.13. 14; 43, 1. 5; 44, 2; 54,4 u. a.).
Schwerer als die vereinzelten Citate würde es allerdings wiegen,
wenn die Vertrautheit des Johannes mit dem Grundtert fi aus
feiner freien Benugung von Schriftftellen, den bloßen Anklängen
und aus feinem Sprachſchatz beweifen ließe. Ich muß aber ges
ftehen, daß mir Franke den von ihm gelieferten Nachweis ehr
zu überfchägen fcheint, wenn er gegenüber den Berührungen
johanneifcher Stellen mit dem Grundtert, die mit der Sept. ale
„Kleinigkeiten“ bezeichnet (S. 288) und den Bann gefprengt zu
Das Alte Teftament bei Johannes. 581
haben meint, welcher der Anerkennung jo mander Schriftbezie-
Hungen des Johannes im Wege ftand, weil man an den betreffen
den Stellen den Wortlaut der Sept. nicht wiederfand (S. 291).
Denn eine Anzahl feiner Belege (So. 1, 1. 14. 17; 9, 7;
10, 28 [1]) befteht eben in ſolchen ſehr zweifelhaften Schrift-
beziehungen, fo daß fich bezüglich ihrer die Beweisführung im
Zirkel dreht; bei andern (Joh. 1, 29; 3, 14; 12, 13. 40).findet
wohl Abweichung von der Sept., aber keine Annäherung an den
Grundtext ftatt: und wo die letztere ftattfindet, war erft zuzufehen
ob fie nicht andere Gründe bat, al8 die Reminiscenz an den Grund⸗
tert; fo ift Joh. 1, 52 das Bart. ftatt des Verb. finit. in
der Sept. gewiß nicht in der Rückſicht auf den Grundtert,
fondern in der ſchon zuvor begonnenen Bartizipialfonftruftion
begründet. Überhaupt hat Franke zweierlei nicht gehörig im Auge
behalten ; nämlich einmal, daß bei einem Schriftiteller, der aner-
fanntermaßen das Schriftwort in fehr freier Weife verwendet, Abs
weichungen vom Septungintaausdrud nicht auch ſchon Beweije von
Nachwirkung der Erinnerung an den Grundtert find; und fodann,
daß ſowohl der griechifche Sprachgebrauch und die griechiſche relis
giöje Terminologie, welche fi unter der Einwirkung von mancher»
lei Faktoren, von denen die Sept. nur einer ift, in der urdrifte -
lichen Gemeinde gebildet hatte, als der eigentümlich johanneifche
Sprahgebraud natürlich auch auf die Faſſung, in welcher in den
johanneifhen Schriften Schriftworte angeführt oder ſonſt verwendet
worden find, Einfluß geübt hat. So ift 3.2. der nur in Matth.
13, 15 und Apoftg. 28, 27 beibehaltene Hebraismus Eenayvvsn
in ob. 12, 40 dem mnenteftamentlichen Sprachgebraud) gemäß
durch das griechifche nweoö» erfegt, während das dJWwmos Joh.
3, 14 der eigentümlich johanneifchen Terminologie angehört. Wir
können nicht alle einzelnen von Franke angeführten Belege hier be
ſprechen. Uns erfcheinen fie aber alle nicht geeignet mehr zu be»
weifen, ald das, daß die Belanntfchaft des Johannes mit der
Schrift und feine religiöje Terminologie noch andere Quellen hatte,
ala das Stubium der Sept.; daß fie namentlich nicht geeignet find,
ein feinem Gebrauch der Sept. vorangegangenes Studium des hebräi⸗
ſchen Grundtertes und eine Bertrautheit mit demjelben zu ermweijen.
582 Franke: Das Alte Teftament bei Johannes.
Veit überzengender als ber zweite tft ber dritte Abſchnitt,
weicher eine gründfide und allfeitige Charakteriſtik Des hermenen⸗
tiſchen Berfahrens des Johannes giebt, den Einklang desſelben mit
dem allgemein neuteſtamentlichen, ſeinen Unterſchied von dem ſchul⸗
mäßigen bes Apoſtels Paulns und feinen Gegenſatz zu dem Bir
loniſchen zutreffend nachweiſt und die übertriebenen Anfichten von
der johanneiſchen Typologie auf ein richtiges Maß zurkcfühtt,
Wir mahen noch darauf aufmerffam, daß hier Franke ſelbſt
(S.310f.) bezüglich der (übrigens auch von Higig, die Palmen 1,
S. 191 bemerkten) Kombination ven Pi. 35, 21 mit 2Md.
12, 46 in oh. 19, 36 einen Einfluß der Sept. auf die je
banneifche Auffaffung der Pfalmftelle nachweift.
Haben wir auch einiges in ein ambered Licht ftellen müffen,
als in welchem Franke es darftelt, an feinem Schlußergebnis
(S. 315 f.) wird dadurch nichts gelindert: dag nämlich der Verfaſſet
der johanneifden Schriften ein „auf dem Boden der nationalm
Theokratie heimiſcher Mann war, welder, auch nachdem ihm in
Jeſu ein Höheres aufgegangen, als, was der alte Bund ihm bet,
und nachdem ihn der Beruf des Zeugen Jeſu auf einem anderen,
als den nationalen Boden geftellt hatte, doch die alte Heimat nicht
verleugnet.”
Schließlich notieren wir noch einige Druckfehler: S. Al, 3.7
v. o. fies „Indentifikation“; S. 98, 3. 7 v. u. flatt „ne
rungen“ lied „Andeutungen’; ©. 104, 3.13 v. u. ftatt „bracdhte‘
lies „beachte; S. 113, 3.8 v. u. lies „hypoſtatiſcher“; ©. 120,
3. 10 v. u. lies „Weſens“; ©. 124, 3. 19 v. u. fies „evx;
©. 127, 3. 12 v. u. lies „Offb. 19, 11ff.“; ©. 250, 3. 20
‚dv. u. lies „Ser. 31, 34*; ©. 288, 3. 17 v. o. lies „Eh.
2, 9". — Zu wünfchen wäre gewefen, daß es dem Berfajier
gefallen hätte, ein Regiſter der erläuterten Stellen beizufügen.
Halle a. ©. Ss. Riehm.
Schmid: Geidhichte der Erziehung xc. 538
2.
Gedichte der Erziehung vom Anfang au bis auf unfere Zeit,
bearbeitet in Gemeinfchaft mit einer Anzahl von Gelehrten
und Schulmännern von Prälet Dr. 8. U. Schmid,
Oherfiudienrat und Gymmnafialdireftor a. D. Erſter
Band: Die vordriftlicde Erziehung, bearbeitet von
K. A. Schmid und G. Banr. Stuttgart, Verlag der
Cottaſchen Buchhandlung. 1884. VI u. 333 ©.
Das Wert, befien erfter Band vorliegt, und welches auf vier
Bünde berechnet ift, tft nach dem Vorworte für die Gebildeten be»
ftunmt, „jenen Mittelftand zwifchen den Ungebildeten und den Ge
feheten“, umd foll denfelber mit der Leuchte der Gefchichte den
Weg weiſen, den fie bei der Erziehung zu wählen haben. Zu dem
vorliegenden erften Bande hat D. Baur die Einleitung und die
Geſchichte der Erziehung bei den Naturvöllern, den Kulturvöllern
des Drients und dem Wolle Jorael geliefert, ber Herausgeber die
Darſtellung ber Erziehung bei den Haffichen Völkern, den Griechen
und Römern.
Ich verſuche zunüchft den reichen Anhalt dieſes Bandes zu
ſtizzieren. Die Einleitung handelt 1) von dem Gegenſtande
und feiner Bedeutung. Die Gefchichte der Erziehung iſt nicht
bloß die Sefchichte der Pädagogik im engern Sinne, ber Erziehungs-
wöllenfchaft ımd der ans dieſer hervorgegangenen pübagogiichen
Same. Sie hat vielmehr die gejamte getitige Atmoſphäre ku
berüdfichtigen, in welcher jene Syſteme erwachſen find, ferner bie
paudagogiſchen Grundſätze aufzufuchen und darzuſtellen, melde in
verfchiedeuen Perioden mund bei verſchiedenen Völlern für die Er-
ziehmg maßgebend gewefen find, ja auch die ohne bemußte Grund⸗
füge vollzogene faktiſche Erziehung in den Kreis ihrer Beobach⸗
tungen aufzunehmen und endlich und namentlich den erziehenden
Einfluß der realen Mächte des Familienlebens, ber Volkstimlichkeit,
581 Schmid
der ftaatlichen Gemeinfchaft, der Wiffenfhaft und Kunft und vor
allem der Religion darzuthun. Sie ift alfo eine Geſchichte der
Erziehung als der fittlihen Einwirkung der älteren Ge—
neration auf die jüngere (Scleiermader). Inſofern ift fie
ein Teil der Kulturgefchichte, ja fie führt im den eigentlichen
Mittelpunkt und Lebensquell derfelben ein, indem fie die Bil-
dungsideale aufſucht und aufzeigt, deren Verwirklichung die ver-
Ichiedenen Völker und Zeiten nachftrebten. Neben diefem allge⸗
meinen kulturwiſſenſchaftlichen Intereſſe aber bietet die Geſchichte
der Erziehung ein entjchieden praftifhes Intereſſe für die
Ausübung des pädbagogifhen Berufes dar; fie ermeitert
den Gejichtökreid des Pädagogen und bereichert ihn mit einer Leben»
digen Anſchauung der mannigfachſten pädagogifchen Verhältniſſe
und Beftrebungen; fie flößt ein Heilfames Mißtrauen gegen das
blendende Neue ein, indem fie darauf aufmerkſam madıt, mie fo
manchesmal ſchon dergleichen als eine Zäufchung ſich erwiefen Hat,
und fie mahnt zur Demut in der Erwägung, ein wie reiches Erbe
wir von den vergangenen Gejchlechtern empfangen haben, und wie
jo manches, was nicht in des Erziehers Macht fteht, fördernd und
bindernd bei der Erziehung mitwirkt. Vor allem zeigt die Bes
ſchichte der Erziehung den innigen Zuſammenhang der Erziehung
mit der Religion auf und belehrt die Erziehung, wie alles religiöfe
Leben und alle erziehende Thätigkeit im Grunde jederzeit ala von
der eigentlichen und richtigften Lebensfrage von der Frage beftimmt
gewefen ift: „Was muß ich thun, daß ich jelig werde?“, wie bie
mannigfaltigen vorchriftlichen Verſuche, diefe Frage zu löſen, fi
als unzulänglich erwiefen haben, und wie dagegen das Chriftentum
als die richtige Löſung fich bewährt und von jeiner Entftehung an
al8 der wichtigfte und eigentlich maßgebende Faktor des gefamten
Rulturlebens und insbefondere der Erziehung ſich bethätigt hat.
Die Einleitung entwidelt 2) den Gang und die Methode
der Behandlung. Gemäß ihrem innigen Zufammenhange mit der
Religiondgefchichte ftellt die Geſchichte der Erziehung zuerft die Ent»
widelung der Erziehung innerhalb des Gebietes der natürlichen
Neligionen dar und zwar, nachdem fie den zerftreuten Spuren
großenteil® unbewußter pädagogifcher Einwirkung bei den fogenannten
Geſchichte der Exziehuug zc. 685
Naturvölkern nachgegangen ift, bei den weltgefchichtlich bedeu⸗
tenden Kulturvölkern der vorchriſtlichen Welt, geht dann
zu dem ißraelitiichen Volke als dem Träger der vorbereitenden ge»
offenbarten Religion über, um dann zu zeigen, wie die gejamte
Erziehung dur das Ehriftentum eine Umgeltaltung erfahren
bat, und endlich die Geſchichte der Erziehung unter dem Einfluffe
des Chriftentumsd darzuftellen. Dabei hat fie, eingedenf der Auf.
gabe der Geſchichte, „die Thatfachen möglichit in ihrem wirklichen
Zufammenhange darzuftellen”, ſowohl bloßes chronikartiges äußeres
Aneinanderreihen einzelner Ereigniffe als auch willfürliche Gefchichts-
. Sonjtruftion zu vermeiden. Aus legterer Rückficht ftellt fie die Er»
ziehung bei den vordriftlichen Kulturvölkern einfach in der Reihen⸗
folge dar, wie diefe auf dem Wege von Oſten nach Weiten ihr
begegnen: Chinefen, Juden, Perſer, Semiten, Ägypter, Griechen
und Römer.
Endlih führt die Einleitung 3) die Litteratur an, ©. 19
bis 28, befchränft fih aber dabei auf ſolche Schriften, welche mehr
oder weniger das Gejamtgebiet der Erziehungsgeihichte berück⸗
fichtigen.
Begonnen wird mit der Erziehung bei den Naturvölkern,
S. 29—57. Es find diejenigen Völker, bei welchen die Kraft des
Geiftes den Bann der Natur nicht zu brechen vermag, welche der
Natur gegenüber feine eigentliche, eines beftimmten Ziele bewußte
Initiative Haben, ſondern fich wejentlid auf einen Verteidigung»
zuitand befchränten und fich genügen lafjen, wenn nur von Tag
zu Tag die Natur ihnen freiwillig gewährt oder fie ihr abringen
fünnen, was fie zum leiblichen Leben bedürfen. Ihre Religionen
beruhen auf dem Glauben an eine von den Naturkräften ganz ver-
fchiedene urfichtbare Macht oder auch an viele foldher Mächte, die
fih in den Seelen VBerftorbener oder in auffallenden Naturdingen
manifeftieren, ober denen man felbft Repräfentanten ſchafft (Ani-
mismus und Fetischismus). Sie fordern feinen Gottesdienft, der
mit einem dem Willen der Gottheit entfprechenden fittlichen Handeln
verbunden ift. Wegen diefes im ganzen gemeinfamen Charakters.
wird die Erziehung der einzelnen Naturvölfer nicht nach einander:
befprochen, fondern nur die pädagogifch interejlanten Einzelheiten,
586 Sämid
welche bald allen oder mehreren diefer Bölker gemeinfam, bald
einzelnen eigentümlich find, unter gewiſſen allgemeinen Gefichts⸗
sunfkten zuſammenftellt. Gemeinfam ift ihuen die Unfähigkeit, den
ſpezifiſchen Wert der menſchlichen Perſönlichkeit als foldyer, der
geiftigen Natur des Dienfchen, zu ſchätzen. Daher die Gering⸗
ſchätzung des eigenen und deö fremden Lebens, der Ramibalismus,
die Sklaverei, der Kindermord. Darum auch feine Erziehung im
engeren Sinne, feine bewußte Hinleitung der AYugend zu einem
beftimmten, durd das Gele des Geiſtes vorgeftedtten Ziele, fon-
dern nur Erziehung in dem weiteren Sinne einer freien Einwir⸗
fung der älteren Beneration auf die jüngere, fo befonders, aber
auch faft ausfchlieglih im Yamilienleben. Aber aud, hier nur
vereinzelte und noch fehr fchwanfende Anfäge zu den beiden Grund»
pfeilern aller erfolgreichen Erziehung, der Autorität auffeiten des
Erzieher und der Pietät feitend des Zöglings. Die bewußte
und freie Einwirkung erftredt fi) auf die Beichaffenheit, Bil-
dung und Ausbildimg bed Leibes. Eine Einwirkung auf das
geijtige Leben findet nur unbewußt ftatt durch die Mutter⸗
ſprache, durch Volkspoefie, Anfänge bildender Kunſt und Sprud
weisheit. So haben auch die Naturvöller an der aktiven umd pafs
fiven Erziehungsfähigkeit entfchieden teil, ja einige von ihnen haben
fich felbit auf eine Stufe erhoben, weldye es zweifelhaft madht, ob
man fie nicht zu den Kulturoöffern rechnen foll, die Meritaner
und Beruaner. Über fo anerfennendwert auch ihre bedeutfamen
Anfänge wirklichen Kulturlebens find, zumal da fie höchſt wahr-
fcheinlih autochthon find, fo Haben doch auch diefe Völker nicht
vermocht, den auf ihnen liegenden Bann de Natürlichen mit
klarem Bewußtſein eines höheren Zieles und freier felbftthätiger
Geiftesfraft zu durchbrechen.
Die Chineſen, S.59—87. Sie find ein Kulturvolk, deffen
nach verfchiedenen Seiten hin reich entwicelte Kultur Anerkennung,
ja Bewunderung verdient. Aber diefer Kultur ift dod eine ber
ſtimmte Schranke geſetzt; fie erhebt ſich aus einer mechanifchen
und technifchen Fertigkeit nach beitimmten äußeren Regeln nicht zur
freien geiftigen Produltinität und dient nur praftiichen Intereſſen.
Diefe Eingefchränttheit des chineſiſchen Geiftes und Lebens findet
Geſchichte der Erziehung ꝛc. 587
ihren unmittelbarften und prägnanteften Ausdrud in der Religion
der Chinefen, die über den Standpunkt eines nüchternen abftraften
Deismus nicht hinauskommt und ganz in die Moral aufgeht, welche
auch nur durch ftete Beziehung auf das im bürgerlichen Leben
Nützliche beftimmt if. „Daß nur nit dur ordnungsmwidriges
Berhalten die von Thian in die Welt hineingelegte Harmonie ges
ftört werde”, das ift e8, was die Moral der chineftichen Religion
fordert. So wird die Ordnung auf das entjchiedenfte gewahrt.
Sie ruht hier auf der feften Naturbafis der Familie. Die fitt-
liche Gefinnung der Pietät ift die eigentliche Kardinaltugend des
hinefiihen Volles. Auch der Staat trägt durchaus Familien⸗
mäßigkeit. Und darum hat das geſamte Staatswejen Chinas einen
pädagogifchen Charakter empfangen. Das ganze chineftfche Neich
ift eine große Kinderftube, welche infolge bes uralten Beſitzes
einer Schrift und reichen Litteratur zugleich eine große Kinder»
ſchule ift. Die bis in das einzelnfte genauen pädagogijchen Ein⸗
richtungen Chinas werden nad biefer Grundlegung anziehend ges
fchildert. Das Reſultat aber ift doch: Auch dem chinefischen Er»
ziehungswejen ift eine Schranke gefett, über welche hinauszukommen
es weder vermag noch auch verfucht. Es ift ein warnendes Erempel
für alle, welche durdy äußere Normen erreichen zu können meinen,
was nur der felbftthätigen und freien Bewegung des Geiftes ge⸗
lingen kann, welcher das leitende Gefeg mit Freiheit in ſich auf⸗
genommen und zu feinem Lebensprinzip gemacht Hat.
Die Inder, ©. 87—115. Ihre Religion war urſprüng⸗
{ich eine frische Verehrung lebhaft empfundener und phantafievoli
perjonifizterter Naturfräfte. Nach ihrem Vordringen über Vorder-
indien vollzog fih, für das Erziehungsweſen von entfcheidender
Bedeutung, die Ausbildung des Kaſtenweſens und die Umbildung
ber Volksreligion der Veden in eine Priefterreligion, den Brah⸗
mantömus, welcher die höchſte Lebensaufgabe des Menfchen darin
fand, in treuer Erfüllung der vorgefchriebenen Pflichten, ganz bes
fonder8 aber in felbftverleugnender Büßung und Abkehr von ber
Welt danach zu tracdhten, daß feine Seele zu Brahma ſich wieder
erhebe, ja völlig mit eins werde und in ihm aufgehe. Der
Buddhismus ift Hierzu nicht ein Gegenfaß, fondern das Subli⸗
Theol. Stub. Jahrg. 1885. 38
588 Schmid
mat des Brahmanismus; er ſetzt ſogleich bei der höchſten Stufe
der Vervollkommnung ein, ohne fi) um die Vorftufen im Brah—⸗
manismus zu kümmern, Hält fi) an bie abfolute Stufe des Nir-
wona, und er macht dieſes felige Gut zu einem allgemeinen
Gute, womit er prinzipiell das Kaftenweſen durchbricht. Bei Be⸗
ſprechung der alſo bedingten Erziehung der Inder wird von der
Familie ausgegangen, ber Wert des Kinderbeſitzes und die niedrige
Stellung der Frau betont und gezeigt, wie die Kindererziehung durch
beſtimute Geſetze zur heiligſten Pflicht gemacht und geregelt war,
alferdings jo, dag das äußere Zeremoniell befonders berichfichtigt
ift. Die Leitung der Erziehung und des Unterrichts Liegt in den
Händen der Brahmanen; fie gilt auch wiederum bejonbers den
Brahmanenfprößlingen. Diefe Erziehung des Brahmanen wird
eingehend gejchildert: das Verhältnis des Schülers zum Lehrer,
der Unterrichtögegenftand, die Beden, fo daß alle Disziplinen zu
Bedangas werden, d. h. zu &liebern oder Zweigen bes Beda,
bie Methode des Unterrichts. Aber dieſer erklufive brahmaniſche
Unterricht hat das reichentwickelte geiftige Leben der Inder nicht
allein hervorgebracht; dabei haben mitgewirkt die jchon frühzeitige
felbfttHätige Beteiligung an dem religiöfen Gedankenleben, Extra-
ftunden bei anderen Lehrern, die lebendige Fühlung mit der reichen
nationalen Poeſie und die Kenntnis der Schrift. Das Haupt
refultat der Betrachtung des indischen Erziehungs- und Unterrichts
weſens ift trogdem die Wehrnehmung, daß die Inder inbezug auf
die Organifation des Volksunterrichtes hinter den Chineſen weit
zurücbleiben, die mechanifche Methode im ganzen mit ihnen teilen,
und dag vielmehr tn der geiftigeren Weltanfchauung nnd ber tie-
feren, volleren uud Lebendigeren Auffaffung des Weſens der Gott:
beit und ihres Verhältniſſes zur Welt trog allen Ausichreitungen
des indischen Geiftes der weſentlichſte Dienft zu fuchen ift, welchen
das indifche Volt der Erziehung der Menfchheit geleitet hat.
Die Berfer, S. 115 — 137. Nachdem Goethes Lob der
älteren PBerjer in den Noten zum weftöftlichen Diva mitgeteilt umb
modifizgert worden ift, wird die perfifche Religion mit ihrer dna-
liſtiſchen Grundanſchauung gejchildert. Ihre Vorzüige vor der in-
diſchen Weltanſchauung find: die Sonzentration ber verſchiedenen
Geſchichte der Erziehung zc. 289
Gottheiten um zwei Grundprinzipien, deren ethiſche Beitimmtheit
und die dadurch bedingte Yorderung an den Menſchen, fich von
dem Einfluſſe Ahrimans frei zu maden und in den Dienft Or-
muzds zu ftellen. Sodann werben die heiligen Schriften, die aud)
bier die fefte Grundlage für die Erziehung, insbefondere für den
Unterricht boten, harafterifiert. Der priefterliche Unterricht für
die Prieſterſöhne umd für weitere Kreife Hatte zum eigentlichen
Lehrziele, dem Schüler den Inhalt der Heiligen Bücher möglichft
genan und vollftändig einzuprägen. Daneben war die veligiöje Er⸗
ziehung wejentlich auf die Ausführung beftimmier Kultusformen ges
richtet. Aus den ergänzenden Berichten abendländifcher Schriftfteller,
fo des Herodot und Zenophon, geht Hervor, daß den Belennern
der Lichtreligion als eigentliche Grundtugend die Wahrhaftigkeit in
Wort und That erfhien. Am Schluß wird der mächtige und not»
wendige päbagogifche Einfluß der religiöſen Grundanfegauungen bes
Aveſta noch einmal betont, zugleich aber auch auf die Schwächen
der perfiichen Volkstümlichkeit und Erziehung aufmerkſam gemadht,
deren Grund nit, wie man in alter umd neuer Zeit gemeint, in
unansgebildetem Denfvermögen ruhe, fondern in der religiöfen An⸗
fchauung der Perjer, die doch nur Naturreligion war.
Die Semiten, insbejondere die Affiyrer, ©. 137
bis 153. Es wird zunäcdft der Unterſchied der indogermanifchen
und der ſemitiſchen Vollstümlichleit als ber eimer vorberrichend
objeftiven und eimer vorherrfchend fubjeltiven Richtung feftgeftelit
und im einzelnen nachgewiefen. Unter Zurückweiſung der Renan⸗
fhen Hypothefe wird fodann die Eigentümlichkeit der ſemitiſchen
Religion mit ihrer Abftraltion umd Konzentration gejchildert: feine
eigentliche Mythelogie, weil fih der Semite nur an das Hält, was
die Götter für ihn bedeuten, nicht an das, was fie au fich waren
und find; die Naturkräfte nicht perfonifiziert, fondern unter allge»
meine Begriffe zufammenfaßt; das Element des Kultus beſonders
hervortretend und zwar mit außerordentlicher Intenfitüt der fub-
jeftiven Beteiligung. Bezüglich der jemitifchen Erziehung werben
die Notizen bei Cicero, Cenforius, Diodor und im Buche Daniel
angeführt, auf die wir bier zunächſt bejchränkt find. Am Schluffe
aber wird darauf hingewieſen, daß ſich durch die Entzifferung der
38 *
590 Schmid
aſſyriſchen Seilinjchriften die Ausficht eröffnet, die Kunde von ber
affyriichen Erziehung aus dem Bereiche begründeter Vermutung in
den urkundlich beglaubigten Thatfachen erhoben zu fehen.
Die Ägypter, ©. 153—177. Nach einem Überblick über
die Entzifferung der Hieroglyphenſchrift der Ägypter wird nad
Herodots Ausſpruch, daß Ägypten ein Geſchenk des Nil fei, nad
gewiefen, daß die uralte ägyptifche Kultur großenteils ein Produkt
diefes Stromes fet, hierauf eine Überficht der Gefchichte des Volkes
gegeben und fodann feine Religion dargeftellt als die eigentlich be
gründende und beftimmende Macht des eigentümlichen nationalen
Lebens, wie es fih in Kunft, Wilfenfchaft, Erziehung und Unter
richt bekundet. Bezüglich letzterer wird die Zielbewußtheit und
Planmäßigkeit betont und gefchildert. Hieran ſchließt fich eime
febendige Schilderung der großartigen Erziehungs» und Unterrichts
anftalten Ägyptens mit ihren Einrichtungen und Disziplinen. AL
die alles beſtimmende Eigentümlichkeit ergiebt fich die Tendenz der
ägyptifchen Erziehung, das von den Göttern felbft ftammende hei-
fige Erbe ber Väter dem heranwachlenden Gefchlechte rein zu über⸗
liefern und zum vollen Eigentume zu machen. Diefe Gebundenheit
an eine unverbrüchliche Überlieferung hemmte aber bie freie Ent-
wicelung und Bewegung des Individuums und bie Angftlichkeit,
alles Neue fernzuhalten, jeden lebendigen Fortjchritt, wozu noch die
ftete Beziehung aller Wiſſenſchaft und Kunft auf die praftifchen
Lebenszwede als hemmende Schrante tritt.
Geſchichte der Erziehung bei den klaſſiſchen Völ—
fern!) A. Die Griechen, S. 178— 257. Zunädft wird
ein Überblick über bie Gefchichte der Erziehung in Griechenland ge-
geben: die heroiſche Zeit, die homerifche Zeit und die Blüutezeit.
Sodann werden die griechiſchen Erziehungstheoretiker behandelt.
Hierauf folgt eine eingehende und fefjelnde Darftelung der grie
hifchen Erziehung nach den drei Erziehungsperioden: der häuslichen
Erziehung, der öffentlichen Erziehung nad ihrer gymnaſtiſchen und
muftichen Seite, und der Erziehung im Alter der Ephebie: a) die
1) Diefe Überfchrift iſt den bisherigen nicht entfpredhend. Nach der Ein-
leitung, S. 16f., und ber ©. 58 ftehenben Überſchrift mußte fie Tanten: Die
Kulturvölker des Occidents und das A und B wegfallen.
Gefchichte der Erziehung ıc. 591
gymnaſtiſche Fortbildung, b) die Vollendung der mufifchen Aus»
bildung und zwar vorzugsweife durch Beredſamkeit und Philofopbie
(und bier eine kurze Darftellung der griechiſchen Philoſophen).
Bei Beiprehung der gymnaftifchen Erziehung wird die religiöfe
Bedeutung der Feftfpiele hervorgehoben, bei der Darftellung ber
mufifchen Erziehung die religiöfe Erziehung behandelt. Als das
mit Bewußtjein feitgehaltene Ziel der griechiſchen Erziehung er«
Scheint befonderd in der Blütezeit die Harmonische Ausbildung der
Seele zur Selbftbeherrfchung und Befonnenheit, de Leibes zur ges
funden Kraft, Schönheit und würdigen Haltung.
B. Bei den Römern, ©. 258—293. Begonnen wird
mit einer Befprechung der geographifchen Bejchaffenheit des Lan⸗
des, die zugleich den römischen Charakter bedinge, das fefte, ftarte
Wollen, das felbftverleugnende Handeln aus Pflicht, das beharrliche
Streben nad) Far erlannten Zielen und das aufopfernde patrio⸗
tiihe Thun. Diefer urfprüngliche Charakter erhielt fi), wenn⸗
gleich nach den erften Jahrhunderten ſtufenweiſe fintend, in ber
Geſchichte der Römer, auch in der ihrer Erziehung, in welcher ſich
deutlich drei Perioden unterfcheiden Tafjen, deren erfte bis zum
Zweiten punifhen Kriege, deren zweite bis zum Untergange der
Republik reiht. In der erften Periode war bie Erziehung ftreng
und rein; in der zweiten nahm fie Elemente auf, die wohl den
Unterricht bereicherten, aber feine erziehende Kraft ſchwächten; in
der dritten ſchwand mehr und mehr die nationale Eigentümlichkeit
und machte einem farblofen Kosmopolitismus Plag. Nachdem ſo⸗
dann das römifche Familienleben, die hohe Stellung der Frau und
deren erzieheriicher Einfluß gejchildert worden ift, wird der Unter»
riht auf den drei Unterrichtöftufen. ausführlich dargeftellt: ber
elementarifche, der grammatifche und der rhetorijche, als deſſen Ab»
jchluß der Unterricht im Jahre des Tirociniums folgte, entweder
das tirocinium militiae oder das tirocinium fori. Das ab—⸗
jchließende Urteil über die römische Erziehung ift: fie war ledig»
ih national und weſentlich praftifh, durchaus keine menfchheitliche;
finden ſich hin und wieder, befonders in der Kaiferzeit, Fortfchritte
zu freierer Humanität, jo find fie nicht aus dem alten und eigent-
lichen Römertume erwachjen.
592 Schmid
Das Bolf der vorbereitenden Offenbarung, die
Israeliten, S. 294—333. Nahdem die altteftamentliche Re⸗
. ligion aufs neue, vgl. S. 16 und 143, als eine geoffenbarte Re-
ligion dargethan und in ihrer Erbabenheit über den natürlichen
Religionen charakteriftert worden ift, wird gezeigt, wie die gefamte
Geichichte des Volles Israel eine Gefchichte der göttlichen Er:
ziehung iſt. Durch diefe war bedingt die Erziehung innerhalb des
Volkes. Durch die Religion waren die Faktoren rechter Erziehung
gegeben: die Anerkennung der eingebornen Würbe eines jeden Men⸗
fen, die nicht bloß natürliche, fondern geheiligte Liebe der Eltern
zu den Kindern und bie Tindliche Pietät. Durch den Charakter der
geoffenbarten Religion war ferner bedingt die abfichtliche und aus
brüdliche Unterweifung und ald Summe aller päbagogifchen Weis
beit der Spruch: „Die Furcht des Herrn ift der Weisheit An-
fang." ALS Unterrichtsmittel ergeben fih Schriftlunde und Schrift-
gebranh. Ein regelmäßiger öffentlicher Unterricht fand nicht ftatt.
Seit dem Jahre 722 vollzog ji die Umwandlung, daß an Stelle
der Prophetie die Weisheitölehre trat; aber auch da ward der
Nachdruck nicht auf bloßes Unterrichten, jondern auf die Erziehung
für das Leben gelegt. Erft in der nacderilifchen Zeit kam durch
das Schriftgelehrtentum ein dibaktifcher Zug in die Erziehung und
fand ein Unterrichten von Schülern ftatt; aber auch in biefer
Zeit gab es keine eigentlichen öffentlichen Schulen, denn die Sy-
nagogen dienten dem Zwecke, das ganze Bolt zu gründficher
Kenntnis und gewiſſenhafter Ausübung der väterlichen Religion
zu erziehen. Nachdem ſodann die Schriften pädagogifchen Inhalts
aus der naceriliihen Zeit beſprochen worden find, wird bie
Stellung des Volles Israel in der Geſchichte der Erziehung
präcifiert. Es ergiebt fi) als Vorzug der Israeliten vor allen
vorchriftlichen Völkern, daß Gott felbft durch feine Offenbarung
zur Erkenntnis feines Weſens als des einen rein geiftigen Gottes
und ſeines Heiligen Willens als des höchften Geſetzes erzog,
als Schranke dies, daß der Wille Gottes den Israeliten zu⸗
nächſt nur als äußeres Geſetz gegenübertrat, daß infolge deffen
in der Erziehung des Volkes Israel das negative Element der
Zudt vorwiegt. Das gehört zu der Unvolllommenheit des Alten
Geſchichte der Erziehung ꝛc. 598
Bundes, wodurch diejer eben als ein nur vorbereitender charakte⸗
riftert wird.
Diefe Inhaltsangabe zeigt, daß Hier ein Wert erftaunlichen
Fleißes und vielfeitiger Gelehrfamkeit vorliegt. Nehmen wir dazu
die Kunſt, mit welcher das weitfchichtige Material zufammengefaßt
ift, und die Kfarheit und Frifche der Darftellung, fo künnen wir
den Berfaffern Anerkennung und Dank nit verfagen. Es ift
aud) zweifellos, daß hier ein zeitgemäßes Unternehmen in Angriff
genommen worden ift, da gewiß bie Leuchte der Geſchichte gerade
auf dem Gebiete der Erziehung mit feinen vielen, oft weit aus⸗
einandergehenden Anfichten und mit feinen mandherlei Experimenten
fubjektivfter Art und Willkür recht ſehr notthut. Was in der
Einleitung von dem praftiihen Nugen einer folden Gefchichte der
Erziehung verheißen wird, kann jeder aufmerffame Pädagoge und
Erzieher nad der Lektüre diefes Buches an fich jelbft beftätigt
finden. Und diejer praftifche Zweck ift ficherlih um jo beſſer und
ficherer erreicht, je weniger derfelbe in der Darftellung in gejuchter
Weiſe verfolgt und hervorgehoben ift. Die Früchte werben nicht
abgepflüct zum Genießen angeboten oder gar aufgebrängt, fondern
bangen am Baume und laden zum Genießen ein. Ich denfe da
befonders an die Zuſammenfaſſung am Schluſſe jedes Abſchnittes
und an folche eingeftreute Bemerkungen, wie fie jih 3.8. S. 106.
183. 190. 198. 222 finden. Aber eben weil das Werf für die
gebildeten Erzieher mit beftimmt und vorzüglich geeignet ift, ift
gewiß zu bedauern, baß ein großer Zeil derfelben durch viele ge⸗
lehrte Partieen, welche ein nicht geringes Maß von Gelehrfamteit,
befonder8 die Kenntnis der lateinifchen und griechiſchen Sprade
vorausfegen, von der Benutzung besjelben ausgefchlofjen tft, und.
der Wunſch berechtigt, es möchte bei einer zweiten Auflage der
Anhalt nad) diefer Richtung Hin vereinfacht werden. Daß Dies
ohne Schädigung der Güte des Inhalts gefchehen kann, beweift
das Buch ſelbſt auf mehr als einer Seite, befonders die Art,
wie in das PVerftändnis der chinefifhen Sprache, der Keilinſchriften
und ber Hierogiyphenjchrift eingeführt wird. Hier wird nur all
gemeine Durchſchnittsbildung voransgefegt und in lojerem Zus
594 Schmid
fammenhange mit dem Ganzen verjucht, biefelbe zu fördern; bort
wird Eaffifche Bildung und Gelehrfamleit vorausgejeßt: das ift
eine Ungleichmäßigkeit, welche auffällt.
Eine andere Ungleihmäßigfeit ber Bearbeitung macht fich darin
geltend, daß Baur die gejchichtliche Entwidelung der Erziehung
im großen und ganzen und auch bei den einzelnen Völkern befonders
berücfichtigt und, wo das irgend möglich ift, aufzeigt und dar⸗
ftellt, während Schmid eine abgerundete Darftellung der Erziehung
bei den Griechen und Römern giebt, ohne den einzelnen Entwide
lungsſtufen derfelben nachzugehen, obwohl er diejelben nennt und
kurz charakteriſiert.
Den Theologen intereſfiert am meiften die in ber Einleitung
ausdrücklich betonte und dur das Ganze verfolgte Abficht, auf
geichichtlichem Wege den innigen Zufammenhang der Erziehung mit
der Religion, der Gejchichte der Erziehung mit der Religions
gefchichte nachzumweifen. Diefer Nachweis foll vor dem Radikalis⸗
mus in der Erziehung warnen umd zur Achtung zwingen por ber
Religion, welcher „eine fo umfafjende und gewaltig wirfende Macht
unmöglich innewohnen könnte, wenn fie eine bloße Einbildung wäre“,
S. 9, zur Wertfchägung beſonders der chriftlichen Religion. Wer
wollte in unferer Zeit die Wichtigkeit ſolchen Beweiſes Teugnen?
Wer wollte in unjeren Tagen verfennen, daß folcher Nachweis um
fo eher und nachhaltiger wirken wird, je mehr er auf das gejchicht-
liche Gebiet, das Gebiet der Thatjachen verlegt wird? Wer wollte
fich nicht darüber freuen, daß gerade die allgemeine Religionsgefchichte
gegenwärtig fo energifch für die Zwede der Apologie ausgebeutet
wird? Faſt zu gleicher Zeit gefchieht dies in hervorragender Weiſe
von zwei Seiten in zwiefadher Art. Hier wird mit der Neligions-
gefchichte in die Innigfte Verbindung gebracht die Gefchichte der Er-
ziehung, von anderer Seite die fpelulative Theologie (vgl. B. Gloatz,
Spek. Theologie in Verbindung mit der Neligionsgejchichte, 1. Bd.,
1. und 2. Hälfte, Gotha 1884). Gewiß beides höchſt danfens-
werte Unternehmungen. Das Unternehmen in bem uns zur Be
ſprechung vorliegenden Werte aber ift beſonders deshalb bedeutfam,
weil es als Gefchichte der Erziehung „in den eigentlichen Mittel⸗
punkt und Lebensqueli der Kulturgejchichte einführt“. Die
Geſchichte der Erziehung ꝛc. 595
eminent apologetifche Bedeutung der KRulturgejchichte aber darf wohl
gegenwärtig als allgemein anerkannt gelten.
ft nun jene Abficht erreicht? Wir ftellen die Vorfrage: Iſt
fie gleichmäßig verfolgt? Hier tritt und wieder ein Hauptunter⸗
schied in den Arbeiten der beiden Verfaſſer entgegen, welder der
Gleichmäßigkeit des ganzen Werkes befonders gefchadet und aud
die Erreichung jener Abficht zum Zeil verhindert hat. Baur hat
in der Einleitung und in den von ihm behandelten Abfchnitten die
Geſchichte der Erziehung mit ber Religion auf das engfte ver«
fnüpft und durchgehende die Darftellung der religiöjen Anjchau-
ungen eines Volfes der feiner Erziehung vorangejtellt; Schmid
dagegen hat die Darftellung ber Religion der Griechen und Römer
in die Darftellung ihrer Erziehung nur eingeflodhten, fo daß
der Einfluß der Religion auf die Erziehung nicht auf der ganzen
Linie erfennbar wird. So gewiß man nun auch die Methode des
erſteren als die den Grundfägen der Einleitung entjprechendere
wird bezeichnen müfjen, jo babe ic) doch den Eindrud gewonnen,
als ob diejelbe nicht immer zum Ziele führte. Wird nämlich die
Darftellung der Religion eines Volkes zu audfchlieglih und zu
ausführlich an die Spite geftellt, fo kann man leicht die Fäden
zwifchen Religion und Erziehung verlieren. Wenigftens tft es mir
bei der Lektüre des erjten Abjchnittes „Die Naturvöffer“ fo ers
gangen. Im übrigen aber ift die Aufgabe meifterhaft gelöft.
Schon die in der Einleitung, S. 12 ff., gegebene überfichtlihe Be⸗
ftimmung des duch ihr Weſen bedingten verfchiedenen Einfluffes
der natürlichen und geoffenbarten Religionen auf die Erziehung iſt
vortrefflich. Wie deutlich erkennt man ferner den Einfluß der res
Tigiöfen Anjchauungen auf die gejamte Erziehung bei den Chinefen,
Indern und Perfern. Wie fein wird der Unterſchied zwiſchen der
hinefifchen und indifchen Erziehung auf den Himmelweiten Unter⸗
Ichied der Weltanichauungen der Chineſen und der Inder zurück⸗
geführt, S. 94. 95. 102. Wie anfchaulic) wird wiederum die
Erhabenheit der iranischen Welt» und Religionsanfhauung über der
indiſchen und beider entfprechend verfchiedene Einwirkung auf das
gejamte nationale und foziale Leben dargeftelt, S. 121. Wie
wird bio in das Einzelne nachgewiefen, daß bei den Ägyptern bie
596 Schmid
Religion die eigentlich begründende und beftimmende Macht des
eigentümlichen nationalen Lebens geweſen ift, S. 163 ff. Wie tref-
fend wird aus der Eigentümlichkeit der indifchen Weltanfchauung
heraus der Umftand erflärt, dag in Indien das Verhältnis des
Schülers zum Lehrer als Heiliger galt denn das zu Vater und
Mutter, ©. 106. Wie fchlagend wird das fittlich thatkräftige
Leben ber Perfer und der Ägypter im LUnterfchiede zu der müßigen
Beichaulichkeit der Inder darauf zurücgeführt, daß jener Religionen
eine jenfeitige Vergeltung für das irdifche Leben lehrten, ©. 133. 165.
Mit welcher Konfequenz wird im letten Abfchnitte der für die
Erziehung in jeber Beziehung maßgebende Charakter der geoffen-
barten Religion Israels betont und aufgezeigt.
Aber auch der gelungenfte Beweis in diefer Richtung kann
nicht Schon und allen gegenüber ein Beweis für die objeltive Re⸗
alität der Religion fein. Ich betone dies, weil das vorliegende
Werk eine entfchiedene apologetifhe Tendenz bat, und weil in feiner
Einleitung da, wo es ſich um die Bedeutung des Gegenftandes
handelt, die Behauptung fteht, daß die Neligion, welche auf das
gefamte menfchliche Leben, wie auch auf die Bildungsidenle den
wejentlichiten beftimmenden Einfluß ausübe und ſich dadurd) als
eine umfafjende und gewaltig wirkende Macht bewähre, eben des⸗
halb feine bloße Einbildung fein fünne, ©. 9. Diefe Behauptung
muß die Apologetit beanftanden. “Denn daß die Religion eine um⸗
faffende und gewaltig wirkende Macht im Menfchen- und Völker⸗
leben fei, leugnen auch viele von ‘denen nicht, welche alles Reli-
giöfe nur als ein Subjektives auffallen und gelten laſſen wollen.
Ihnen kann man auf dem Wege des praftifchen Beweiſes oder
durch gefchichtliches Material nicht beitommen, fondern nur durch
metaphufifche Erörterung. Ich bemängele jene Behauptung als
eine ütbertreibende befonders auch deshalb, weil ich fonft in dem
Buche eine große und anerfennenswerte Vorſicht gerade in ber
apologetifchen Verwertung des Materials der allgemeinen Religions
geihichte geübt finde. Wohl ift an einem urfprünglichen Mono⸗
theismus feftgehalten, aber auch betont, daß berfelbe nur in der
urfprünglihen Ahnung der unfichtbaren Gottheit als einer einheit-
lihen Macht beftanden haben, nur ein monotheiftifcher Zug ges
Geſchichte der Erziehung ıc. 59%
weien fein könne, und mehrmals davor gewarnt, Neligionsformen,
welche nur auf der erften Stufe der Entwidelung ftehen geblieben
find, als der urfprünglichen reinen Gottesoffenbarung näher ftehend
anzufehen, bejonders vor einer Überfchägung der chinefifchen Re—
ligion gegenüber der mythologiſchen Religion nad) diefer Richtung
Bin gewarnt, ©. 10, 63. 66. 164. Nicht aber wollte ich durch
obige Einſchränkung den apologetifchen Wert des Werkes überhaupt
bemängeln. Diejen erfenne ich vielmehr bereitwilligft und in weitem
Umfange an. Das Werk ift durch die innige Verbindung, in
welche e8 Erziehung und Religion jet, durch den gefchichtlichen
Nachweis diefer Verbindung vorzüglich geeignet, die Achtung vor der
Religion bei vielen zu heben, bei denen, welche die Bedeutung der
Religion für das nationale und foziale Leben eines Volles zu ver-
kennen und zu unterfchägen geneigt find, den qualitativen Unterfchied
zwifchen der natürlichen und geoffenbarten Religion deutlich ertennen
zu laffen, ben Vorzug der geoffenbarten Religion vor aller natürlichen
Religion und den entjcheidenden Wert des Chriftentums für die
Erziehung, feine umgejtaltende Macht auf einem fo weiten und wich⸗
tigen, wir dürfen auch fagen, neutralen Gebiete in Klarfter und
eindringlichfter Weife aufzuzeigen. Hierin liegt die große apologe-
tifche Bedeutung des Werkes, die ihm nicht wird beftritten werden
fönnen, um deren willen e8 .die volle Beachtung und Anerlennung
der Chriften und Theologen verdient.
Wenn ich fchließlich noch einige Bemerkungen zu den einzelnen
Abſchnitten diefes erften Bandes machen foll, fo finde ich, daß im
ersten Abfchnitte „Die Naturvölker“ zu wenig Gewicht gelegt ift
auf die erzieherifche Bedeutung der Stammesfitte und der Stammes»
fagen der fogenannten Naturvölfer. in mit dem Religionsweſen
der Naturvölfer fo vertrauter Mann wie Roskoff, auf den ja.
auh Baur Bezug nimmt, fagt in feiner Schrift „Das Religiond-
wesen der roheften Naturvölfer“, Leipzig 1880, S. 146f.: „Fragt
man den Wilden, warum er biefe oder jene Sitte zu beobachten
fich verpflichtet Halte, fo ift die gewöhnliche Antwort: weil fie von
den Vätern herftammt. Die Sitte fteht auch dem Wilden als
traditionelles Geſetz gegenüber, dem er fich fügt. Die, Wilden ges
nießen daher nicht einer ſchrankenloſen Freiheit, wie häufig geglaubt
598 Schmid
wird, fie unterliegen „einem tyranniſchen Codex”, find Sklaven des
traditionellen Gefeges. Gegenüber dem Stammesbewußtfein, das
fih in der Sitte ausdrüdt, fühlt fi das Einzelbemußtfein uns
mädtig und muß fich felbftverleugnend jenem fügen“. Dieſer
Faktor in der Erziehung der Naturpölfer ift zu wenig betont.
Nicht minder wichtig für die Darftellung und Beurteilung diefer
Erziehung ift das nachgewiefene Vorhandenfein von Stammesſagen
bei den Naturvölfern und die Art, wie diefe Sagen religiöfen und
nationalen Inhalts von Geſchlecht zu Gefchlecht überliefert wur-
den. Auf diefe Überlieferungen ift zwar au von Baur, ©. 47,
al8 auf ein befonders wirkſames Erziehungsmittel hingewieſen;
aber diejelben werden meines Erachtens zu kurz abgethan und nicht
genug geihägt. Wenn wir hören, daß es bei den BPolynefiern
einiger beftimmter Samilien Pflicht und Lebensberuf war, die ihnen
anvertrauten Legenden und Gefänge unverfehrt von Geichlecht zu
Geſchlecht zu überliefern, daß es Erbpflicht der älteften Söhne in
diejen Familien war, biefelben mit wörtliher Treue zu lernen, zu
üben und zu lehren, daß fih auf manden Inſeln alle bedeutenderen
Sagen in Profa und Poefie fanden und die poetifche Bearbeitung
als Kontrolle der dem Wechſel leichter ausgeſetzten Projaerzählung
galt ?), dann müfjen wir wohl fagen: Es gab auch bei den Natur:
pölfern eine bewußte Einwirkung „der älteren auf die jlingere
Generation aud in geiftiger Hinfidht, ja fogar eine Erziehung im
engeren Sinne, einen nicht einmal unmethodifchen Unterridt. Zu
gleich ergiebt fich hier deutlicherweife das günzliche Verwachſenſein
der Erziehung mit den religiöjen Anfchauungen bei diefen Völkern.
In dem zweiten Abjchnitte „Die Chineſen“ ift mit Recht her»
vorgehoben das Eigentümliche der chinefiichen Erziehung, daß als
das einzige Ziel des Unterrichtes gilt, das beftimmte überfommene
Maß von Kenntniffen und Wilfenfchaften dem jüngern Gefchlechte
zu übermitteln, fo daß aud das Willen der Gebildetften nicht über
den Bereich ihres Landes und Volkes hinausgeht; aber es konnte
vielleicht auch darauf hingewiefen werden, da e& ſich um Die ge-
1) M. Müller, Borlefungen über den Urfprung und bie Entwidelung
der Religion. Straßburg 1880. ©. 82 ff.
Geſchichte der Erziehung x. 599
ſchichtliche Entwickelung der Erziehung auch bei den einzelnen Völ⸗
fern handelt, daß die Chinefen in neuerer Zeit Verfuche über jene
enge Schranfe hinaus gemacht Haben, daß die Regierung Anftalten
gegründet hat, in welchen Chinefen eine Ausbildung erhalten, welche
die Ausländer mit ihrer überragenden .und vielfeitigen Bildung er»
fegen fol. Gerade in diefem fcheinbaren Fortfchritte zeigt fich die
ganze Beſchränktheit des chinefifchen Weſens.
Im Anichluffe an die Naturvölker ſpricht Baur auch von den
Merilanern und Peruanern und weift auf deren entwidelte Kultur
hin, die um fo bewundernswerter ift, al8 fie gewiß für eine autoch⸗
thone zu gelten bat. Hier ift aber nicht genug hervorgehoben, daß
bei diefen Völkern neben der Höher entwicelten Kultur und beifer
organifierten Erziehung aud höhere religiöfe Anſchanungen ſich
finden. Ihre Gottheiten repräfentieren die höheren Naturmüchte
und Naturerfheinungen; der Sonnengeift, bei deſſen Erfcheinen alle
Geifter fterben, wird auch der Geiſt fchlechthin genannt. Nicht
minder bedeutfam tft, daß mehrere Fürften jener Völker verfucht
haben, eine neue höchfte Gottheit einzuführen, welche feine Bilder
hatte noch Meenfchenopfer forderte. Und es ift nicht abzufehen,
wohin dieſe felbftändige Entwidelung geführt haben würde, wenn
fie nicht durch die fpanifche Invafton unterbrocden worden wäre
(ogl. Tiele, Peruaner und Mexikaner).
In dem Abjchnitte „Die Inder“ würde ein genaueres Ein-
gehen auf die Entwidelung des nachbuddhiſtiſchen Brahmanismus
und auf feinen Verfall in der neueren Zeit, ein Hinweis darauf,
daß derfelbe nur noch den Eindrud eines großen Trümmerhaufens
macht, und daß die Brahmanen, denen die Erziehung bauptfächlich
obliegt, in fittlicher Beziehung tief gefunfen find, während das Volt
immer mehr in groben Gößendienft verfällt, ein wirkfamer Beleg für
die in der Einleitung mit Necht gemachte Behauptung gemefen fein,
dag die natürlichen Religionen und mit ihnen die Völker dem
Naturprozefie des Werdend, Blühens und Vergehens unterworfen
find. Berner vermiffe ich bier bei der Beurteilung des Buddhis⸗
mus, S. 101, den Hinweis darauf, daß derfelbe infolge feines
innerften Wefens, weil er das Dafein nur al8 Duelle von
Schmerzen und Qualen auffaßt und auffaffen Iehrt, außer Stande
600 Schmid
it und auch thatſächlich nicht vermocht hat, jeine Anhänger einer
fo volllommenen Zivilifation zuzuführen, wie fie das Chriftentum
bewirkt hat. Diefe Erfenntnis dürfte in der Zeit der Zivilisation
beſonders geeignet fein, die modernen Schwärmer für den Bud
dhismus zu ernüchtern, jener Hinweis dem Charakter des ganzen
Buches befonders entiprechen.
An dem Abfchnitte „Die Perſer“ muß ich die Art beanftan-
den, in welder Zoroafter die Ausbildung des parfifchen Dualis-
mus zugefchrieben und reformatoriſche Bedeutung abgefprochen
wird. Das läßt ſich mit Sicherheit nicht behaupten; vielmehr
liegen beacdhtenswerte Gründe vor, welche befonders von Bunfen,
Gott in der Gefchichte, II, 1. Abfchnitt, und von Tiele, Roms
pendium der Religionsgeſchichte, S. 191, und vor allem ©. 204,
hervorgehoben worben find, und welche es wahrjcheinlicher machen,
daß der parſiſche Dualismus bereits beftand, als Zorsafter wie
ein Reformator auftrat und im Gegenfage zur beftehenden Re⸗
figion den höchſten und einigen Gott Ahura mazdao verkündigte,
daß aber jpäter diefer geiftige Gott mit dem guten Geifte der alt
perfiichen dualiftiichen Religion identifiziert wurde. — Auch in
dieſem Abfchnitte wäre eine Schilderung der jegigen PBarfis, etwa
in der Art, wie fie uns M. Müller in feinen Eſſays gegeben
bat, nicht ohne Wert geweſen.
Ebenſo vermiffe ich bei der Beſprechung der Ägypter eine
Schilderung des DVerfalles der ägpptifchen Religion (Unterdrückung
durch fremde Eroberer, Eindringen griechifcher und perfifcher Ele⸗
mente) und mit ihr des ganzen nationalen und fozielen Lebens.
In den beiden Abjchnitten, welche die Erziehung bei den klaſſi⸗
ſchen Völkern darftellen, fommt, wie bereits bemerft wurde, das
Moment der gefchichtlichen Entwidelung zu wenig zur Geltung.
Und doch ließ ſich gerade Bier Leichter als bei den übrigen vordhrift«
lichen Völkern eine Gejchichte der Erziehung fchreiben. Wir fennen,
um zunächſt von den Griechen zu reden, die Gründe des Auf⸗
Ihwunges des geſamten griechifchen Lebens; wir wiflen, dag mit
der Gefeßgebung des Lykurg eine neue, reformierende Epoche in
der griechiſchen Erziebung begann, fofern diefelbe auf das eugfte
mit dem öffentlichen Leben verfnüpft wurde, und daß aud der
Gefchichte der Erziehung ꝛc. 601
Geſetzgeber Athens der Erziehung ein von allen gleichmäßig zu er»
ftrebende8 Ziel körperlicher und geiftiger Ausbildung gegeben hat.
Ebenſo erfichtlich find die Gründe des Berfalls, der mit dem pelo⸗
ponnefischen Kriege begann. Die alte Zucht erhielt durch diejen
Krieg den empfindlichften Stoß; fremde Bildungselemente drangen
ein; der wiſſenſchaftliche Unterricht ward erweitert und gefteigert,
aber die Erziehung wurde jchlaffer. Bei den Römern ferner
find ©. 260 die drei Perioden der Entwidelung der Erziehung
wohl genannt und charakteriefiert; aber es ift das nicht, wie es nad)
vielen eingeitreuten Bemerkungen vortrefflich hätte gejchehen fünnen,
durchgeführt. Ich verweife auf ſolche bezeichnende Wandelungen
der römiſchen Erziehung, wie fie ©. 272. 278. 281 und 286 ff.
hervorgehoben find.
Diefe Bemerkungen follen Ergänzungen und Berichtigungen fein,
ber Berücdfichtigung der Verfaſſer anheimgeftellt, nicht ein Tadel
über das Buch. Vielmehr miederhole ih: Es ift ein bedeutendes
Unternehmen in Angriff genommen. Möchte es fo fortgefegt wer-
den, wie es begonnen worden ift! Möchte das Werk viele auf⸗
merkſame Lefer unter den Gebildeten finden, auch unter den Theo⸗
Togen, welche fi für die apologetifche Bedeutung der Kulturgefchichte .
und der allgemeinen Religionsgeſchichte intereffieren !
Reichenau bei Zittau.
Lic. Hteude.
Drud von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.
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Schüler der oberen Klafjen höherer Lehranftalten zu⸗
fammengeftellt und herausgeg. von Dr. Guſt. —
und Dr. Johannes Delius . . ö
Bit, CH. U: Ulrih Zwingli. Vorträge
4
2
We 05 00
»
Zur gefäligen Beachtung!
Die für die Theol. Studien und Kritiken bejtimmten Einfendungen
find an Profeſſor D, Riehm oder Konfiitorialrath D. Köſtlin in
Halle a / S. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Xitel
genannten, aber bei dem Nedaktionsgefchäft nicht beteiligten Herren
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re--
daftion bittet ergebenjt, alle an fie zu fendenden Briefe und Pakete
zu franfieren. Innerhalb des Poftbezirfs des Deutfchen Reiches, ſowie
aus Oſterreich Ungarn, werden Manuftripte, falls fie nicht allzu
umfangreich find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht
überfteigen, am beften als Doppelbrief verjendet.
. Friedrich Andreas Perthes.
t
Inhalt.
—
Abhandlungen.
. Dorner, Dem Andenken von D. 3. A. Dorner
2. Weiß, Über das Wefen des perfönlichen ae Gm Ar⸗
tifel) .
. Klöpper, Der — Flicken rin das "alte Kleid, "Der n nene
Wein und die alten Schläuche.
Gedanken und Bemerkungen.
Hering, Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes
.Buchwald, Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers mit dei
Wittenberger Stiftäherren, 12324 2 2 2 nenn
Rezenſionen.
.Franke, Das alte Teſtament bei Johannes; rez. von Riehm .
. Schmid, Geſchichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unfere
Zeitz re3. von Stende
Drud von Friedr. Audr. Verthes in Gotha.
SEASTIERTT SERIIELTL
2
—
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Fer 22,
= Theologiſche
Studien und Kritiken.
Fine Zeitſchriſt
für
das geſamte Gebiet der —
begründet von
D. C. Ullmann und D. F. W. €. Umbreit
und in Verbindung mit
D. 6. Baur, D. W. Beyſchlag mo D. J. Wagenmann
herausgegeben
von
D. 3. Köftlin un D. €. Niehm.
Dahrgang 1885, vierfes Heft.
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Gotha.
Briedrid Andreas Perthes.
1885.
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Fine Beitfhrift
für
das gefamte Gebiet der Theologie,
begründet von |
D. C. Ullmann un D. F. W. C. Umbreit
und in Verbindung mit |
D. 6. Saur, D. W. Beyſchlag und D. 3. Wagenmann
herausgegeben
D. J. Köſtlin un D. €. Richm, < z
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Gotha.
Friedrich Andreas Perthes.
1885.
Abhandlungen.
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| Initia Zwinglii
Beiträge zur Geſchichte Der Studien und der
Geiftesentwidelung Zwinglis in Der Zeit vor
Beginn der reformatoriichen Thätigleit.
(Nach bisher zum Zeil unbelannten Quellen.)
Bon
Joh. Aartin Aller,
Pfarrer in Affoltern bei Höngg (Kanton Zürich).
Vorbericht.
Eduard Zeller Hat feinen Artikel „über den Urjprung und
Charakter des Zwingliſchen Lehrbegriffs“ in den Theol. Jahr⸗
büchern 1857, ©. 59 mit der Bemerkung gefchlojjen: „ES wäre
ber Mühe wert, das Verhältnis des Neformatord zu den an⸗
deren Bildungselementen feiner Zeit mit Benugung der Spuren,
die in feinen Schriften zerftreut Liegen, in ähnlicher Weiſe zu ver⸗
folgen (nämlih wie Sigwart das mit Bezug auf oh. Picns
von Mirandula gethan), und wenn ſich jemand diefer Aufgabe unter-
ziehen wollte, würde er fi um die Gefchichte der Reformation
ein entjchiedenes DVerdienft erwerben.” In gegenwärtigem Aufjage
liegt ein diesbezüglicher Verſuch den Sachverftändigen zur Prüfung
por. Daß fich bisher niemand an die Aufgabe gemacht, erklärt.
608 Ufteri
fih wohl aus der eigenartigen Schwierigkeit derfelben und aus
der Dürftigfeit der von Zeller angedeuteten Quellen. Das Arbeitss
material bat fi nun zwar für den Verfaffer diefer Abhandlung
durch Hervorziehung bisher vergrabener Denkmäler aus Zwinglis
Lehrjahren einigermaßen vermehrt; doc, ift es noch immer derart,
daß feine Verwertung nur ein fragmentarifches Reſultat erhoffen
läßt, und daß die Schwierigkeit der in Rede ftehenden Unterfuchung
eine wenig verminderte ift. Der Verfaffer muß daher für fein
Unternehmen auf befondere Nachficht Anſpruch machen. Ein Seiten-
ſtück zu Köſtlins Theologie Luthers in ihrer gefchichtlichen Ent
widelung mit Bezug auf die Initia Zwinglii, wie es ihm aller-
dings als Ideal vorſchwebte, ift, wie jedermann zugeben wird,
wegen pagenügender Quellen unmuglich.
Die bei Anlaß der Zwinglifeier in Zürich veranſtaltete, Zwingli⸗
Austellung“ förderte nebft anderen Zwinglireliquien auch eine Aus⸗
wahl von Büchern aus den Überreften feiner einft der Stifte
bibliothet Täuflich abgetretenen und nun der Kantonsbibliothek ein-
verleibten Bibliothet zufgge. Es finden fh darunter verfchiebene
Werke, die der Reformator fchon in den Fahren des Suchens,
Sammelns und allmählichen Reifens in Glarus, in Einfiedeln und
in der Zeit der Züricher Anfänge beſeſſen und ftubiert bat, wie
fi) aus gelegentlichen Äußerungen in feiner Korrefpondenz ergiebt.
Daraus läßt fig nun ein wenn auch noch fe fragmentarifcher
Üherblick gewinnen über bie Bildungsftoffe, mit denen Zwinglis
Geift in jenen dehrjahren fich Beichäftigte und nährte, was hei der
-Dürftigfeit dev Rachrichten über jeine Entwickelung, deren man je
übschoupt nur qus zweiter, ob quch ihm naheftshender Hand melde
Befit, bei der geringen Zahl feiner aus jeuer früheften Peniobe
auf. uns, gelommenen Briefe und bei dem gänzlichen Fehlen ſchrift⸗
ſtelleriſcher, dns veligiössethlichs. oder theologifche Gebiet beſchlagen⸗
der Erzeugniſſe unftzeitig willlommen fein mus. Es mögen zwar
gerade ſolche Schriften, die am wreiften befruchtend auf ihn ein⸗
wirlfen, nicht in ſeinem Beßtze gemeim jan, da fie ihm ſorſt
irgendwie zugänglich waren, oder da ar ſie, nachdem er ſia geleſen,
Initia Zwinglii. 009
Freunden abtrat und nicht wieder erhielt; fo vermißt man z. B.
unter jenen Überreſten verjchiebene Schriften Luthers, deren Zus
fenbung ihm laut brieffichen Außerungen verſprochen worden; 06
mog auch manches im Privatbefig geblieben und im Lauf ber
Jahrhunderte verloren gegangen fein. So ift es mir 3. B. ned
nicht gelungen, das Neue Teitament von Erasmnd, das er do
fiherlich im erfter Ausgabe beſeſſen ?), von dem er feine Abſchrift
der pauliniſchen Briefe in Einfiedeln genommen und aus deflan Ab⸗
netationen er fi) Auszüge für diefelbe gemacht hat, wieder aufs
zufinden, und doch wäre gerade biefes Wert, au deſſen Hans
Zwingli wohl zum erftermial dns Raw Teftument im Grundtext
fernen lernte, von ganz befonderem Juterefſe 2). Nimmt man nun
aber das noch Borhandene mit allen fonft noch in feiner Korre⸗
fpondenz zerftreuten Andeutungen und Winken zufammten, fo evgiebt
ſich immerhin eine anfehnlihe Summe von Material, defjen Durch⸗
ſicht die Kenntnis von Zwinglis Studlen und Gelftesentwidelung
nicht unweſentlich bereichert.
Die Bereicherung beſchränkt ſich indeſſen nicht bloß auf eine
umfangreichere Bekaumtſchaft mit der Litteratur, die bes Reforma⸗
tors Geiſt durcharbeitete, und die alfo wohl auch auf die Bildung
feiner Überzeugungen irgendwelchen Einfluß ausübte; befombere Auf»
nrerkjansteit verdienen überdies die zahlreichen Marginalien von
feiner Haud umd die von ihm augeftrichenen oder unterfirichemen
Stellen im Text. Zwar verteilen ſich diefelben ganz ungleichmäßig
und find partieenweiſe fehr zahlreich vorhanden, während fie ander»
wärts, in ganzen und halben Bänden, trag ebenjo wichtigen,
Zwingli ſicherlich nicht unberührt Taffenden Inhaltes, wiederum ganz
fehlen. Ste find auch im großen uud gamzen nicht fo bedeutenden
und bezeichnenden Inhaltes, mie man bei einem angehenden Ne
formator erwarten könnte, indem fle nicht felten bloße Anhalts⸗
1) Opp. VII, p. 15 oben.
3) Erft nachträglich fand ich auf der Kantonsbibliothel die 2. Auflage de
1519 (März) mit wenigen Randgloffen, die aber ganz unverkennbar die Schrift-
züge Zwinglis aufmeien, fo daß — and) ohne Einzeichnung des Namens —
aller. Jweifel asgefhloflen if. Sogar außen anf den Einbaudvechen findet =
Hanbſchriftliches von Zroingli.
610 Ufteri
punkte für das Gedächtnis darbieten oder als kurze Summarien
fih darftellen, aljo fein individuelles Gepräge haben und fein per»
fönliches Urteil enthalten. Das gilt fogar von der Mehrzahl
der an den Rand gejchriebenen Bemerkungen. Intereſſanter ift im
allgemeinen die Durchſicht der angeftrichenen Stellen, da man in
der Regel über die Motive der Hervorhebung derfelben ſich Rechen⸗
Ichaft geben kann, und da bei Vergleihung und Zufammenftellung
diefer Dicta ſich ein ſachlicher Zuſammenhang ergiebt, der auf die
ethifch-religiöfe Gelftesrichtung des werdenden Reformators ein helles
Licht wirft. Dean könnte ja freilich fehr irre gehen, wenn man
diefe Hervorhebungen regelmäßig als Beifallsäußerungen auslegen
würde; doc liegt es immerhin an folchen Stellen nahe, dies zu
thun, wo eine unverkennbare Harmonie mit fpäteren Grund
anfhauungen des Reformators zutage tritt. Handelt es fich vor-
nebmlih um ethifch-religiöfe Gedanten und um eigentlide Ge
wifjenswahrheiten, jo wird man es in der Regel unbedenklich thun
dürfen, während allerdings bei dogmatiſchen oder überhaupt ber
Diskuffion unterliegenden Ideen größere Vorficht geboten ift. Auf
jeben Fall aber beweifen die in Rede ftehenden Marginalien und
Hervorhebungen eine aufmerkſame Lektüre, wie fi) namentlich auf
aus der unermüdeten Verbeſſerung der Drudfehler auch in Bar
tieen, wo fonft Randbemerkungen völlig fehlen, und aus häufigen,
ganz objektiv gehaltenen, die bloße Interpretation oder Emendation
des Textes beichlagenden Gloſſen ergiebt. Es Teuchtet freilich nad
dem Geſagten ein, wie fchwierig es ift, bandfchriftlichen Merk⸗
zeichen und Noten aller Art, die von dem mit der Feder leſenden
Zwingli al8 unwilllürlicher Ausdrud feiner Gedanken und Empfin-
dungen bei der Leltüre aufs Papier hingeworfen wurden — lediglich
für den Selbſtgebrauch und als Anhaltspunkt für die Erinnerung —
etwas Gewiſſes mit Bezug auf den Gang feiner Studien, auf bie
Bildungsgefchichte feiner Überzeugungen und auf die geiftigen Ein-
flüffe, die auf feine Entwidelung beftimmend eingewirkt haben, ab-
zulaujchen ?).
1) Eine ähnliche, wiewohl enger begrenzte Aufgabe hat fich der in den „Stud. u.
Krit.” 1884 erfchienene Artikel von Hofftede de Groot: „Luther in der Studierſtube“
Initia Zwinglii. 611
Was indeifen der Verwertung diefer Marginalien erft ihren
eigentlichen Wert giebt, das ift die Möglichkeit wenigitens annähern-
ber Zeitbeſtimmung. Es Hat fi mir dur Vergleichung ber
Handſchrift in den noch erhaltenen Autographen der Zwinglifchen
Briefe ein ficheres Kennzeichen des Schriftcharakters der vorzüriche⸗
rifhen Periode ergeben. Während nämlich Zwingli, ehe er nad)
Zürih kam, den Balken des Kleinen Lateinifchen d regelmäßig
ziemlich tief unter die Zeile herabzog, that er dies nachher nie
mehr. Diefe Abweihung in der Schreibweife ift fo charakteriſtiſch,
daß ich fie durch fümtliche Briefe, die ich verglich, ohne eine ein-
zige Ausnahme durchweg beftätigt fand. Sie ift daher für mid)
ein ganz unzweifelhaftes Kriterium, das auch durch gewille Wahr-
nehmungen bezüglich des Inhaltes gewiffer Randbemerkungen nur
beftätigt wurde. Einen Grund diefer Änderung in der Handſchrift
findet man wohl am einfachſten in der Annahme, daß es in Zürich
nicht Sitte war, das d unter die Zeile herabzuziehen, und daß
Zwingli fi) der dortigen Schreibart accomodierte 1). Die gemachte
geftellt. Es ift von Intereffe, die im ganzen viel weniger objeltiv gehaltene
Art, wie Luther zu gloffteren pflegte, zu vergleichen. Es wäre mir daher auch
bet Zwingli als Spielerei erfdjienen, aus der graphifchen Beſchaffenheit der
Anftreihungen irgendweldhe Schlüffe zu ziehen, trotzdem daß fich ebenfalls
die bei Luther bemerkten Nitancen vorfinden.
1) Diefe letzte Vermutung, die übrigens von wenig Belang if, wurde mir
nachträglich wieder zweifelhaft. Da nämlich von ben Ietten Briefen aus Ein-
fiedeln (1518) bis zu demjenigen an Mykonius vom 26. November 1519
(Opp. VI, 97 sq.) fein Driginal in Zürich vorhanden ift, erfundigte ich mid),
um meiner Sache ganz gewiß zu fein, nad) den in Schlettftadt aufbewahrten,
im Supplement zu Zwinglis Werken abgedrudten Originafbriefen an Rhenan
aus dem Frühling und Sommer 1519. Here Pfarrer Nied in Straßburg,
der die Güte hatte, diejelben für mich zu vergleichen, fand, daß noch im Juni
1519 bHeruntergegogene d, und zwar mit fehr fcharfer Ausprägung, vorkommen,
daß diejelben Hingegen im Juli verſchwunden feieu und weicheren, mit auf der
Zeile abgerundeten Ballen Pla gemacht Haben. (Der früher unter die Zeile
heruntergezogene Ballen war nämlich oft ein ftarker, langer, grabliniger Strich,
nicht felten aud) war er etwas nad) links eingebogen, in welchem Ball dann
der Buchſtabe eine weniger fteife, zierlichere Form befam.) Mit dem Brief
vom 2. Yuli 1519 (Suppl. p. 28) jet die Umwandlung vollzogen. Indem
durch diefe Wahrnehmung die fragliche Änderung der Handfchrift etwas fpäter
612 Ußeri
Entdeckung ift aber darum nicht ohne Bedeutung für die unternom-
mene Unterfuhung, weil in Werken, die allerdings Zmingli ſchon
in Einfiedeln befaß und ftudierte, fich doc auch Randgloffen erft aus
der Züricher Periode ftellenweife (laut angedeutetem Merkmal) vor-
finden, deren Inhalt dann zuweilen von demjenigen älterer Margina⸗
lien bebeutfam abweicht, refp. einen ſehr bezeichnenden Kortfchritt
in der hriftlichen Erkenntnis bekundet. Am anffallendften tritt dies
bei jener eigenhändigen Abſchrift der paulinifchen Briefe zutage, die
Zwingli allerdings ſchon in Einfiedeln mit Randglofjen verfehen,
die er aber offenbar al& bequeme Taſchenausgabe auch fpäter noch
benugt und gloffiert hat. Durch Sichtung der Randbemerkungen
nach dem obengenannten Kriterium, auf das ich zur Zeit der Ab⸗
faffung meiner Feftfchrift: „Ulrich Zwingli, ein Martin Luther eben
bürtiger Zeuge des evangelifchen Glaubens“ noch nicht gefomman
war, ergab fich mir eine unten näher auszuführende, wichtige Modi⸗
flation meiner früheren, in die Teftfchrift aufgenommenen Dar-
ftellung, foweit fie auf der Prüfung jenes Einftebler-Mtanuftriptes
beruht. Habe ich es dort allerdings bloß als wahrſcheinlich
bezeichnet, daß nicht nur der Text, fondern aud die Randbemer⸗
tungen aus jener früheren Zeit herrühren mödgten, fo ift mir num
dieſes mit Bezug auf die einen derjelben zur Gewißheit geworben,
während e8 mir mit Bezug auf die andern ebenfo feftficht, daß
dies nicht der Fall ift, und es wird durch eine forgfältige Berück
fihtigung des Inhalts der einen und der andern das Wefultat
ber nach dem handfchriftlihen Kriterlum angeftellten Unterfuchung
beftätigt, freilich nicht zugunften einer fa frühzeitigen Erlenmtnis
reife, wie fie in der Feſtſchrift ift machgewiefen worden. Rad
diefen Vorbemerkungen über die Quellen und Materialien, die
der vorliegenden Studie zugrunde liegen, gehe ich zur Meitteilung
der zu gewinnenden Aufjchlüffe über Zwinglis Geiftesentwidelung
über.
hinabgerückt wird, als oben im Tert angegeben iſt, wurde es mir erllarlich,
daß in der in einem November 1518 erſt erſchienenen Sammelbändchen Lutheriſcher
Schriften ſich vorſindenden handſchriftlichen Dedikation Zwinglis an Vadian ned
die früheren d zu bemerken find.
Initia Zwinglii. 618
Die noch vorhandenen Bücher aus Zwinglis Bibliothek mögen
zwar zum Teil bis in feine Stubienzeit zurückweiſen, doch ift
darüber jedenfalls nichts Sicheres mehr auszumitteln; aud hat man
fi) natürlich den Studiengang als in den damals vorgejchriebenen
Geleiſen fich bewegend vorzuftellen, und was Mykonius in feiner
Lebensbeſchreibung Zwinglis !) (de H. Zw. vita et obitu $ 5—-9)
darüber jagt, wird durchaus zutreffend fein. Für die humaniſtiſche
Richtung, die in feiner Bildung vorberrichte, gab jedenfalls die
Schule des Wölflin in Bern, die erfte von der Kirche unabhängige
in der Schweiz, wa Haffifche Studien und ſchöne Künfte getrieben
wurden ?), einen erften Anſtoß. Weitere Nahrung fand diefe
Richtung in Wien; denn daß er um berjelben millen fpäter, mn
namentlih auc fein Freund Badian mit Geift und Erfolg fie
vertrat, verfchiebene, zuerft von ihm unterrichtete SYünglinge dorthin
empfahl, ergiebt ſich aus feiner Korrefpondenz, und daB er für die
Wiener Studien ein bleibendes Intereſſe bemahrte, beweift auch hie
Dedilation zweier Neben des vielugriprechenden, frühvollendeten
Glarners Strub, mit der Vadian, ber Herausgeber derjelben, ihn
beehrte ). Es kann allerdings auffallen, daß ſich nicht die leiſeſte
Äußerung Zminglis über feine Wiener Eindrücke anffinden läßt,
da dach während feines dortigen Aufenthaltes gerade die huma⸗
1) Nachträge zu Zwinglis Lebensbeichreibung, herausgegeben aus Stäudlins
und Tihirners Archiv für Kicchengefchichte von Leonhard Ufteri, Leipzig 1813,
1. Hft. ©. 4ff.
2) Mörikofer, Zwingli, ©. 6f. Huldreich Zwingli ꝛc. won Rud.
Stähelin (Rr. 3 der Schriften des Vereins für Reform.⸗Geſch., ©. 10.
3) Die Zueignungsepiftel (Opp. VII, p. 8) begiunt: Ein tibi Udalzice,
yirorum optime et bonarum literarum amantissime, orationes duas,
quas Arbogastus noster Glaronesius dum vita fungeretur, tumultuario
labore scriptas, ritu scholastico Viennae jussus habuit, alteram in Ur-
sulae et Virginum reliquarum, quae fuerunt comites, tandem
alteram in D. Catharinae, quae a professoribus arttum li-
heralium tutelaris passim Dea decernitur, honorem et com-
mendationem. Die Art, wie fi) Vadian weiter üben diefe Meden ausſpricht,
Befamdet fein fomohl auf den eruften Juhalt als quch auf bie nicht ordinäre
Form fich beziehendes humaniſtiſches Intereffe, und auch Zwingli vebet in feinem:
Antwortichreiben (p. 7) von „suaves nostri Arbogasti musular‘“.
614 Ufteri
niftifhen Studien an der Univerfität unter Leitung des Conrad
Celtes einen fo lebendigen Auffchwung nahmen. Cine dem Scho⸗
laſticismus oppofitionell entgegentretende Regierungsverordnnung von
1499 hatte die humantiftifchen Vorlefungen obligatorisch erklärt, für
die lateinifche Grammatit das Lehrbuch von Nicolaus Perottus
Sipontinus eingeführt, ferner Stilübungen und genaucd Studium
der römischen Dichter, befonders des Virgil, auch befondere Berück⸗
fihtigung der Realwiſſenſchaften verlangt. Und in der artiftifchen,
db. h. philofophifchen Fakultät, auf welche jene Verordnung fid) bes
309, wurde Zwingli für da8 Sommerfemefter 1500 immatrifuliert !).
Was er da in ſich aufnahm, trug ficherlich feine Früchte. Jenem Lehr»
buch, das er eigentümlich zu befigen wünfchte, und das ihm Glarean
beforgte, begegnen wir fpäter in feiner Korrefpondenzs (Opp. VL,
15 u. 16 o., au 17; Cornu copiae od. Copia Cornu). Seine
erften litterarifhen Erzeugniffe, die uns erhalten find, die zwei
politiich « patriotifchen Sinngedidhte, verraten eine genaue Bekannt⸗
[haft mit der antifen Hiftorie, Poefte und Mythologie. Und wenn
eben namentlich bei Celtes der Humanismus nit in einem for»
maliftifch-philologifchen, auch nicht bloß im äfthetifchen, fondern in
einem vealiftifchen Intereſſe feine Pflege fand, fo ftimmt dazu
vollflommen die dem Realen auf allen Wiffensgebieten zugewandte
Geiftesrihtung Zwinglid. So wenig ihm die Form gleichgültig
ift, wichtiger ift ihm doch die Sache; für alles Wiffenswürdige hat
er Intereſſe; eine Menge von Randbemerfungen in feinen Büchern
beweifen e8, wie er fi alles Mögliche aus Länder und Völker⸗
funde, Naturwiffenfchaft, Phyfiologie, Heilkunde, Geſchichte ꝛc. ein-
zuprägen ſuchte, und wie er emfig fammelte, was er von Wiffens-
ftoffen der Heterogenften Art in feiner Lektüre antraf. Man bekommt
wirklich, wenn man jene in der Glarner: Periode gelefenen Bücher
durchgeht, den Eindrud von einer polyhiftorifchen Neigung 2). Zu
1) S. Aſchbach, Gefchichte der Wiener Univerfität und Wiener Huma⸗
niften; ferner E. Egli in der Theol. Zeitichrift aus der Schweiz, ale
von Meili, 1884, 1. Hft., ©. 92.
2) Auch fpäter noch gewähren zahlreiche Randbemerfungen einen Einblid
in Zwinglis Belefenheit befonders in der Haffifchen Literatur. Im Neuen
Zeftament des Erasmus 3.B. Kol. 237 hat er betreffend die Sitte des Krem-
Inisia Zwinglii. 615
formeller Vollendung brachte es Zwingli in feinen eigenen Bro
dukten niemals; man fieht, daß das ftoffliche Intereſſe ſtets weit
überwog !). Auch in jenen fchan erwähnten Erftlingspoefieen ift
der Gedankengehalt die Hauptfadhe, während die Afthetiiche Form
ganz auf dem Niveau der Mittelmäßigkeit zurückbleibt?). Davon,
daß die realen Wiffenfchaften Zwingli ſehr anzogen, finden fich
übrigens auch in feiner Korrefpondenz früher und fpäter Spuren
genug; feine humaniftiichen Freunde überjandten ihm wiederholt ihre
Ausgaben geographifcher und hiftorifcher Schriften, fo 3. B. Vadian
1518 feinen PBomponius Mela 3), und gerade in Glarus jcheinen
ſolche Studien ihn lebhaft befchäftigt zu Haben, denn in dem erften
an ihn gerichteten Briefe, der uns noch erhalten ift, fpricht Glarean
ihm fein Bedauern aus, daß er ihm feinen Ptolemäus habe ver»
ſchaffen können und nimmt dabei zugleich Anlaß, fich über den Um⸗
fang der neueren geographiichen Entdedungen mit ſichtlichem Intereſſe
zu äußern. Gehen wir den Keimen diejer Teilnahme an den Fort⸗
fchritten der Länder» und Völkerkunde nach, fo fehen wir uns wieder
auf Conrad Celtes zurückgeführt, der in Wien vaterländifche Geo⸗
graphie und Geſchichte mit beftändiger Beziehung auf die Gegen-
wart lehrte, dur Anwendung einer neuen Methode mit ‘Demon
ftrationen einen pädagogischen Fortichritt erzielte und überhaupt das
Leben und feine praktischen Bedürfniſſe bei feinem Unterrichten ſtets
im Auge hatte). Durch diefe praftifche Richtung ſuchte er das
tragens ber Malefilanten auf Plutarch verwiefen, im Psalterium quincuplex
bei Pſ. 104, 14 auf, das homeriſche: &Ayıra uveAor Kydowv.
1) Bol. Zwingfis eigene merfwürdige Auferung anläßlich des „Ar-
cheteles‘“, Opp. VII, p. 218 unten und 219 oben.
3) Beſſer find die fpäteren Igriichen Verſuche. Vgl. über Zwinglis Poefteen:
9. Weber in der Theol. Zeitichrift ans der Schweiz, 1. Hft., 1884, ©. 53 ff.
3) Opp. VII, 76 und Supplem. p. 22. Auch Glareans „Descriptio de
situ Helvetise et vicinis gentibus (1514) befand fich ſicherlich in Zwinglis
Bibliothel. Mörikofer teilt (S. 24) mit, daß der Berfafler in der Zueignung
an den Züricher Ehorherrn Heinrich Utinger unter den ausgezeichneten Köpfen
und ben Gelehrten der Schweiz voraus Zwingli, Vadian und Lupulus nenne.
4) Zwingli fand alfo wohl bei Eeltes gerade das, was Luther .in feinem
Bildungsgang vermißte, und was überhaupt bei den mehr nur mit formalem
und äfthetifchem Intereſſe betriebenen, zu Stilübungen begradierten oder im
616 Ufert
wfruchtbare, formaliftiiche umd fopbiftifche Schulgezätt zu über
winden und 309 ſich bamit allerdings Anfeinbungen vonfeite anderer
Brofefforen vom alten Schlag zu. Denn wenn aud die Sophiftit
in Wien nicht fo üppige Blüten damals mag getrieben Haben wie
3. 8. in Parts !), vertreten wer fie gleichwohl. Celtes ließ ſich
ferner die rhetoriſche Ausbildung der Studierenden fehr angelegen
fein, and nie ift Zwingli nad dem Zeugnis des Mykonius müde
geworden, eben darauf Deühe und Fleiß zu verwenden, und zwar
fo, daß er da8 Hauptaugenmerk aud bier nicht auf die kunſtvolle
Form, fondern auf den Gedanken und auf deifen populären, draftiſchen
und fruchtbringenden Ausdruck richtete 2). Wie ihn in diefer Be
ziehung der Trieb, fich felbft zu vervollkommnen und die Ergebniffe
feines Nachdenkens und feiner Beobachtungen auch ſchriftftelleriſch
zu verwerten, durchs ganze Leben begleitete, Ichren folgende wenig
beachtete Mitteilungen des genannten Gewährsmannes ®): „Hisce
studiis tanta diligenta incubuit, quanta neminem scio a multis
annig ineubuisse, oratorias namdue vires ac nervos hao
tempestate nemo, vel eorum qui id maxime profitentur, sic
habuit perspeeta. Nec Ciceronis vim vel ad hujus exemplum
vel ad veterum praescripta conatus est exprimere, sed es
modo quo illam et tempora et ingenia nostra requirebant.
Atque id omnmo est hic adsecutus apud nos, quod Tullius
olim apud suos. Instituerat, imo jam coeperat ea de re
nostris hominibus scribere, si fieri posset, ut ita docti, ju-
dicando, deliberando, consultando, nonnisi tempus perderent,
in comitiis et foederatorum cenventionibus statim viderent
phantaſtiſchem Schweigen in einer Idealwelt ihte Befriedigung ſuchenden Waffi-
fen Studer des gewöhnlichen. Humanismus fehlte, praktiſch verweribart
Biffenſchaft, Welt⸗ uns Lebensanſchacung. S. Köftlin, Luthers Leben J, 50.
1) Opp. VII, p 45: „Leonge hie (Lutetine) alii sunt quam tu aut
Viennae aut Basilese unquam videris.‘“
2) Mykoninus a. a. O. 89. Bgl. auch den Brief Hagens Zw. Opp. VIE,
p. 127.
8) In dem unvollendeten Dialog, abgebruckt ebenfalls in Uſteris Nad-
rögen, 1. Hft., S. 40. Auf diefe Stelle iſt meines Willens noch ſelten auf⸗
merflarm gemacht worben.
Initie Zwinglii. 617
rerum capita, tum vero breviter et apte dicerent quae
forent ad rem, intelligerent item, quae ab aliis extra
causam ad fallendum adsumerentur, et caverent: sed fato
praeventus non perduxit ad finem. Haec res quidem
ex his non minima, quae mortem ejus magis reddunt
invisam. Gustum nos ejus instituti sensimus et admodum
doluimus, tantum damnum oratoriam artem et nos in morte
viri ejus accepisse.‘ Zum PVollsredner hat fi aber Zwingfi nad)
des Mykonius in diefem Punkt befonbers eingehendem
und nahdrüdlihdem Zeugnis vornehmlich in Glarus ausgebildet,
dazu Hat er die Alten ftudiert, dazu feinen Geift mit vielem Wiſſen
befruchtet und feinen Gefichtöfreis bereichert, dazu aus den Klafſikern
praktische Lebensweisheit geſchöpft, dazu feinen, jegt noch vorhanu⸗
denen Valerius Maximus auswendig gelernt, um die hier ihm ge»
botene Beiſpielſammlung dann praltifch« paränetifch verwerten zu
fönzen, dazu Plutarch, Lucien, Cicero de officiis, dazu Hiftorifer,
Boeten und Philoſophen mit Nuten grlefen und ans der Kenntnis
der Vergangenheit ſich Tüchtigkeit für die Gegenwart erworben ?).
Und in alledem mögen die in Wien empfangenen Ansegungen noch
forigewirkt und ihre Früchte getragen haben. Wenn man endlich
hört, daß Conrad Celtes auch ein großer Freund und Beförderer
der Muſik geweien, fo fann man ohne weiteres vorausjegen, bag
nicht am wenigiten um beffentwillen der junge, mufitalifch. beam-
Ingte und gebildete Zmingli ſich zu ihm Hingezogen fühlte; umb wie
eifrig er diefe Kunſt noch in Bafel und Glarus, ja fein Leben lang
forttrieb, ohne die üblen Nachreden zu achten, welche ihm feine
Liebhaberei zuzog, tft uns ebenfalls durch Mykonius und Bullinger
bezeugt, und Dignauer adreffterte 1514 einen Brief an ihn jehr bes
zeichnend folgendermaßen 2): Apollineaelyrae moderatori
nostraeque tempestatis Ciceroni indubitato, Domino Huldrico
Zwinglio, Glareanorum plebane S. D.
1) Über Zwingfis auch noch im bewegten Amsöleben fortgefetste Haffiiche
Stubien ſ. beſ. den interefjanten Brief Opp. VII, p. 305.
2) Opp. VII, p. 9. Glarean fandte Zwingli auf feinen Wunſch 1510
im Muſik geſetzte Lieder, Später gab er biefe ober andere Efegieen mit Dedi⸗
tstion au Zwingli hercus (Opp. VIE 2. 19).
618 Uſteri
Weniger leicht iſt zu erkennen, welche Stellung Zwingli zu der
philoſophiſch⸗theologiſchen Richtung der Schulen feiner Zeit ein⸗
genommen hat. Mit philofophiichen Studien begann er nad) dee
Mykonius Zeugnis ſchon in Wien, doch traten dort diejelben ficher-
fih gegenüber den humaniftifchen noch ganz in den Hintergrund,
wie denn auch Deyfonius mehr von einer Bereicherung und weiteren
Ausbildung ſchon erworbener SKenntniffe redet und als Zweck,
der ihn nach Wien geführt, ganz allgemein: nihil non quod
philosophia complectitur bezeichnet. Ob da fchon geflügelte Worte,
wie fie von einem Celtes erzählt werden:
Omnia nummus habet, coelum venale, quid ultra?
ihm zu Ohren gelommen und auf ihn Eindruck gemacht, wer wollte
das entjcheiden? Ernftlicher und gründlicher kamen jedenfall® erft
in Bafel bei dem dem Mannesalter Entgegenreifenden die philo-
fophifchstheologifchen Stubien an die Reihe; wenn aber Mykonius
al8 einzigen Beweggrund zum Studium ber „nugae Sophis-
tarum “ angiebt: ut, si quando contra eas pugsandum foret,
hostem nosset, fo tft offenbar die fpätere Einſicht, wozu auch
diefe fonft fo unfruchtbare Beichäftigung mit einer Pſeudophilo⸗
ſophie Habe dienen müſſen, als Motiv ind Bewußtſein des Jüng⸗
lings hineingetragen, und nur fo viel werden wir der Ausjage des
Mykonius entnehmen dürfen, daß Zwingli einen ftarfen Eindruck
von der Spitfindigfeit, vom Ernft echter Wilfenfchaft weit entfernten
Leichtfertigleit und Haltlofigkeit folder Sophiftit davontrug, und
daß in ihm micht felten der Widerfpruch gegen dieſes inhaftlofe
dialektifhe Spiel fi regte. Allerdings mochte er darin je mehr
und mehr einen Feind ahnen, den zu befämpfen er dereinft nicht
werde unterlaffen können. Und ähnlich mochte es ihm ſpeziell mit
der fcholaftiihen Theologie ergehen, welcher er ſich nad) erworbener
Magifterwürde mit allem Fleiß zumendete, doch, wie es nad My⸗
fonius (a. a. O. $ 9) jcheint, mehr „quia res ita postulavit et
ordo‘* als aus innerer Neigung, und bei der er bald erfannte,
„quaenam inesset hic boni temporis amissio, quod omnia
confusa, sapientia mundi, philosophia, Deus, inanis loquacitas,
barbaries, vana gloria et quidquid hujus generis, nihil inde
sanae doctrinae posset sperari*. Indes bezog ſich diefer Ein-
Initia Zwinglii. 619
druck ſchwerlich auf die fcholaftiiche Theologie an fi, vor der wohl
Zwingli ebenfo wie Luther damald und noch jpäter gleich feinen
humaniftifchen Freunden alle Achtung Hatte, er galt nur der Art,
wie fie in ihrem Auflöfungsftadium getrieben wurde, der Herab-
würdigung ernfter, dem Wefen der Dinge nacdjforjchender und auf
ein reales Erkennen gerichteter Wiffenfchaft zu fpielender Sophiſtik,
zu einem dem Sfeptizismus nahverwandten Nominaliemus, der
dann doch wieder den blindeften Auftoritätsglauben und die hoch»
mütige Verachtung und Verfegerung der philofophifchen Arbeit zur
Kehrjeite Hatte. Einen ähnlichen, abftoßenden Eindrud befamen da»
mals von biefem geiftlofen Formalismus aud) Männer, die fpäter
die Scholaftit geradezu repriftinierten, 3. B. Johann Ed, der ur-
fprünglich nicht wenige Freunde unter den Humaniſten hatte, und
dem auch wir nod begegnen werden !). Alfo nur auf biefe ent⸗
artete Scholaftit ift es wohl zu beziehen, wenn Mykonius im Sinn
bes oben fchon Angeführten fortfährt: Perrexit tamen in castris
veluti speculator alienis, denn für die Annahme einer fleptifchen,
gegen Chriftentum und Sirchenlehre überhaupt fich ablehnend ver«
haltenden Dentweife im Sinne der dem Glauben entfremdeten
Humaniften fehlen wenigftens die Beweife vollftändig, man begegnet
auch einer folhen Dentweife bei Zwinglis bumaniftifchen Freunden
nicht. Die Art, wie nun Mykonius die Berufung zum Pfarrer
von Glarus erzählt (a. a. DO. $ 9), zeigt, wie ſehr Zwingli da⸗
von überrafcht und in feinen Plänen vielleicht auch geftört wurde.
Man gewinnt den Eindrud, die theologijchen Studien ſeien ihm
noch nicht in dem Grad zur Herzensfadhe geworden, daß er ein
tirchliches Predigtamt gewünſcht — wie konnten fie es bei der rt,
wie fie nach Herkommen getrieben wurden? — und läßt fi auch
wie gefagt, eine ffeptifche Richtung nicht beweifen, fo ift doch ein
gewiſſer theologifcher und kirchlicher Indifferentismus um fo wahr»
fcheinliher, und es treten fo die Worte des Mykonius: „Tum
vero, quod coeptum erat per alios, cogebatur perficere: Fit
sacerdos, devovet se studüs divinis potissimum‘‘ woßl in die
1) In einem Briefe vom 18. März 1517 an Badian madıt fi Ed luſtig
über „Scholasticorum theologorum nugas et sophismata“.
Tbeol. Stud. Sahrg. 1885. 40
6% Uferi
richtige Beleuchtung. Don jett an feheint Zwingli feine Studien,
fomeit fie nicht durch eigene wiſſenſchaftliche Tiebhabereien und durch
die ihm anvertraute Bildung von Knaben aus edlen Glarner:
Geichlechtern beftimmt wurden, mehr und mehr in den Dienft feines
Predigtamtes geftellt und auch die antike Litteratur weniger mehr
um ihrer felbft willen denn als Hilfsmittel gefchätt und verwertet
zu haben !). Alles Erkannte, Erlernte, Beobachtete aber brachte er
in praftiiche Anwendung.
Nun trug aud eine in Baſel empfangene Anregung, wohl die
fegensreichite feiner ganzen Studienzeit, ihre Früchte, die Anregung
nämlich zum Schriftftudium, die er, mit Leo Judä zu Thomas
Wyttenbachs Füßen figend, einft belommen, und von der wir nidt
ans unjerer Hauptquelle, Mykonius, fondern, was noch wertvoller
ift, aus feinem eigenen und aus feines damaligen Studiengenoffen
Zeugniß wiſſen. Zwingli verdankte Wyttenbach nod ein Zweites,
nämlich die Erkenntnis von der Haltloſigkeit des Ablaſſes, allein
für die frühere Zeit wird wohl hauptſächlich das Erſtgenannte in
Betracht kommen. Neben der Schrift machte jener Lehrer auch
die rechtgläubigen Väter namhaft als diejenigen Ausleger
derſelben, aus welchen die alte Kirchenlehre in ihrer reineren Ge-
ftalt könnte erfannt werden. In Beiden, im Studium der Schrift
und der Kirchenväter, wurde Zwingli in Glarus, Einfiedeln und
Zürich Wyttenbachs getreuer Schüler, bis er endlich die Schrift _
durch den in ihr waltenden Geift befjer verſtehen lernte, als felbft
die Väter es ihm lehren konnten. Anfänglich beſchränkte ſich freifid
dies Bibelftubium auf die Lektüre der Yulgata, wobei ihm dann
immer mehr die Unerläßlichkeit der Kenntnis des Grundtertes zum
Bewußtfein kam. Indeſſen rühmt Mykonius fchon von feiner Ver:
trautheit mit der lateinifchen Bibel: Progressus erat jam eo, ut
doctis et probatis viris judicaretur scripturam divinam habere
in numerato.
Die erfte Spur fodann, dag Zwingli mit Erlernung der gries
hifchen Sprache umgegangen, findet fi ſchon in Glareans Brief
1) Ethnica (studia) deinceps non ita magnifecit, nisi ubi sacris illis
adminicularentur et concionibus. Mykonius a. a. 0. $ 9.
Initia Zwinglii. 621
vom Jahre 1510 ?), woraus erhellt, daß er fich nach einer „Sfagoge“
erkundigt. Doch fegte er ſelbſt a. 1523 den Anfang feiner grie-
hifchen Exerzitien ins Jahr 1513, und aus einem Briefe diefes
jelben Jahres erhellt fein damaliger Feuereifer für diefe Sprache:
Ita enim Graecis studere destinavi, ut qui me praeter Deum
amoveat nesciam, non gloriae (quam nullis in rebus quaerere
honeste possem) sed sacratissimarum literarum ergo. Und
da er Schon bald über die mittlerweile in Angriff genommene Ifagoge
des Chryfolora® Hinaus ift, frägt er feinen Vadian: Post eam
quid sumendum ? %a er hat mit den griechiſchen Studien der⸗
geitalt einen Bund auf Lebenszeit gemacht, daR er in fein griechifches
Lexikon, das des Suidas, hineinfchreibt: Eiui Tod ZuyyAlov, xai
10V xugiov undenos xurallaEtn, ei un Farsoov dnodavov-
vos 2). Er hielt fein Gelübde auch treulich, denn beigefügt ift von
1) Opp. VII, 2.
2) Ähnlich in „Aldus Manutius, grammaticae institutiones Graecae,
Venet. 1515“: Est Uldrici Zwinglii nec mutat dominum. (Einen andern
Lehrer ale Grammatif und Lerilon Hatte Zwingli nit. Als Hilfsmittel
dienten ihm Überjegungen (Mykonius $ 10). Mykonius bat ihn brieflich
21. Oktober 1515: rationem edoceas, qua tu es usus in iis literis perdis-
cendis absque duce (Opp. VI, BLsq.). Zwingli meinte dann in feiner
Antwort, Myfonius jet darin fchon genug bewandert und feine Bitte mache
ihm den Eindrud a pumice aquam! oder Alcinoo poma! Nach dem Brief
des Balentin Tſchudi an Zwingli vom 27, April 1518 (Opp. VII, 42) hätte
Ieisterer übrigens dod) vorübergehend einen Lehrer gehabt, wenn aud nicht für
die Anfangsgründe. Die griechiſche Litteratur blieb zeitlebens Zwinglis Lieb⸗
haberei (Bullinger, Reformationsgeihichte I, 30). Er Hatte in den erflen
Zuricher Jahren ein griechiſches Kränzchen mit Freunden, eine Kleine Aademie,
mit Bezug auf welche Glareau von Paris fchrieb: Futurum anguror, ut
Tigurum multis Universitatibus non cedat (Opp. Zw. VII, p. 140). Auf
gemeinſame Plato⸗Lektüre bezieht ſich wohl die von Lic. E. Egli mir mitgeteilte
briefliche Äußerung Grebels an Mylonius vom 4. November 1521: De Zinlio
et quog tu amas bene agitur. Platonisamus Zinglius, Scudus, Ammannus
et ego. Ein ſehr anfchauliches Bild von jenem „sodalitium literarium Ti-
gurense“, worin Zwingli griechiſche Literatur dozierte, hat Albert Bürer von
Brugg, ein Schüler Rhenans, der im Frühjahr 1520, von Simon Stumpf,
dem Pfarrer von Höngg, eingeführt, zweimal dabei hofpitierte, uns Hinterlafien;
es wurbe von Dr. Fechter unter den Papieren Rhenans aufgefunden und ift
im Supplement zu Zwinglis Werken, ©. 25 Anm. abgedrudt. Vgl. auch das
40*
682 Uferi
fpäterer Hand: Collegii majoris Tiguri post obitum clarissimi
illius prioris possessoris ab anno Domini 1534. — Nad des
Diykonius Darftellung könnte es nun fcheinen, wie wenn ſchon in
Glarus jenes Denkmal feiner fiebenden und begeifterten Hingebung an
den Grundtert des Neuen Teftamentes, jene jogar dem Gedächtnis
eingeprägte Abjchrift der pauliniſchen Briefe, wenigftens teilweie
entftanden wäre, und Leo Judä berichtet dies foger ausdrücdlicd ?),
weshalb es denn auch in viele LebenSbefchreibungen übergegangen
ift 2). Mlein abgejehen davon, daß die griechifch gefchriebene Schluß.
bemerfung, die beiläuflg gefagt orthographiich und grammatifch nicht
ganz fehlerfrei ift, in den Mat des Jahres 1517 vermeift, muß
diefe Arbeit und überhaupt die Beichäftigung mit dem griechiichen
Neuen Teftament ſchon darımm erft in die im Sommer oder Herdft
1516 beginnende Einfiedlers Periode verlegt werden, weil die erfte
Ausgabe desjelben von Erasmus, die ihr zugrunde lag, im Jahr 1516
Anfangs März erfchienen if. Ohne in Abrede zu ftellen, was
Mykonius über die in Glarus fchon erworbene ausgedehnte Bibel-
fenntnis fagt, glaube ih doc aus dem Ton der Glarner⸗Korre⸗
ſpondenz fließen zu können, daß erft, als Zwingli den Grumdtert
und als Ausleger die Kirchenväter zu ftudieren anfing, was frühe
ftens fchon ganz am Ende des Aufenthaltes in Glarus, recht ein
dringlich aber erſt in Einftedeln gejchehen konnte, das ungeteiltefte
Intereſſe mit ernftefter innerlicher Beteiligung den biblifchen Stu
dien fich zumendete. In Glarus nahmen ihn Politit und Welt
Zeugnis von Hagen Zw. Opp. VII, p. 128. Neben biefer Societät, am de
auch ältere Männer teilnahmen, beftand noch feit dem Sommer 1519 eine dei
Mytonins Elementarunterricht fortfeßende griechiſche Fortbildungsſchule, worin
Zwingli uud Andere mit den Kandidaten Klaſſiker laſen. (Suppl. ©. 22)
So fehr iſt der angehende Neformator noch Humanift, daß er nicht bloß pri
vatim zu feiner Erholung die Klaſſiker lieſt, ſondern auch ohne amtlide Rö⸗
tigung Jungen nnd Alten Titterarifche Vorleſungen bäft. Wie anders Tuther!
1) Mykonius a. a. DO. $ 10. Leo Judae ebenfalls in Uſteris Nachträgen,
1. Hft. S. 80.
2) Der Irrtum findet ſich fogar bei Hundeshagen, Beiträge zur Kirchen
verfaffungegeih. und Kirchenpol., &. 157. Schon bei Schuler, Bildungsgeſch
Zwinglis, legt der Text S. 22 das Mifverfländnis nahe, während hinten
Aum. 84 das Richtige enthält.
Initia Zwinglii. 63
händel offenbar noch fehr in Anſpruch. Es herrfchte dort damals
ein reges politifches Treiben, indem die verjchiebenften Mächte fich
um glarnerifche Soldtruppen bewarben. „Täglich werden Gefandte
des römischen Pontifer oder des Kaiferd, der Mailänder, der Be-
netianer, der Savoyer, der Franken gehört und zu eben denfelben
folche geſchickt“, ſchreibt Zwingli 1513 feinem Freunde Vadian !).
Ob er fich bei diefen Umtrieben ganz neutral verhalten hat? Es
Scheint nicht der Fall gewefen zu fein. Mit welcher Begeifterung
z0g er als Feldprediger no im den Pavierzug! Wie erjchien es
ihm anfänglic) noch als eine da8 Schweizervolf ehrende Aufgabe,
dem Oberhaupt der Kirche, „den Hirten“ 2) Heerfolge zu leiften |
Und erft die ernfte Lehre der Erfahrung brachte ihn dazu, von allem
Söldnerdienft abzumahnen. Wenn ihn die franzöfifche Partei hate
und ihn endlich von Glarus vertrieb ®), fo mochte jene frühere
1) Opp. VII, 9.
3) So nennt Zwingli ja ben Papft in dem „Fabelgedicht von einem Ochſen
und etlichen Tieren“. Bol. Heer, Ulrich Zwingli ale Pfarrer in Glarus,
Zürid) 1884 bei F. Schultheß, S. 10 ff.
3) Es dürfte angezeigt fein, diefe eigentliche Urjache des Wegzuges von
Glarus bier mit Rüdficht auf ſolche, die den Quellen ferner fliehen, nachdrück⸗
lichſt in Erinnerung zu bringen, weil dee Berfofler des pſeudonymen Büch⸗
leins: Die wahre Union und die Zwinglifeier (Antwort auf die Feſtſchrift von
Pfarrer 3. M. Ufteri, von ©. Karmann von Toggenburg, St. Gallen uıb
Leipzig, bei Moriell 1884), S. 48 neuerdings die Lüge des Chromiften Salat
aufwärmt, Zwingfi habe wegen fittlichen Ärgernifſes von Glarus und nachher
von Einfiedeln weichen müffen. Über fein Scheiden von erflerem Orte ſchrieb
er felber ein Jahr fpäter an Vadian (Zw. Opp. VII, 24): Locum mutavi-
mus, non cupidinis aut cupiditatis moti stimulis, verum Gallorum -
technis et nunc Eremi sumus. — Quid cladis nobis attulerit tandem
factio illa Gallica, dudum jam ventus ad vos perflavit. Omnia tamen,
»nisi dudum scisse te non dubitarem, percenserem; fuimus enim pars
" quoque rerum gestarum: [calamitates enim multas vel tuli-
mus vel ferre didicimus. Ein Beweis auch dafür, daß Zwingli mit Ehren
von Glarus jchied, iſt das von Schuler (a. a. DO. &..852, Anm. 132) mite
geteilte Zeugnis des katholiſchen Glarners Bäldi: Im 1516. Jahr nahın
Mſtr. Ulrich Zwingli und Mftr. Hans Franz (Zinf?) von Einfiedeln auf
St. Peters Tag Urlaub. Da gaben ihm die Kilcher (Kirchgenofjen) die Aut-
wort: Sie batend Mir. Ulrich faft bei ihnen zu bleiben; fie wollten das beft
thun, mit dem Haus zu bauen. Zwingli behielt auch wirklich die Pfrlinde
624 Ufteri
Parteinahme fir den Bapft und die vielleicht damit verbundene
aktive Förderung feiner Intereſſen mit daran ſchuld fein. Abgeſehen
von den 50 Gulden päpftlicher Penſion, die er bezog, muß es aufs
fallen, daß der Freiburger Beter Ball, ein Haupt der päpftlichen
Partei in der Schweiz, ein ihm zur Verfügung ftehendes Landgut
bei Bavia mit einträglichen Ländereien Zwingli gleichfam als Leib-
geding verfprodden; und daß er ihm noch zu Anfang des Jahres
1515 fchreibt ?) er wolle binmen zwei Jahren dies Verſprechen er-
Glarus noch und Tieß fie durch einen Vikar verjehen, bis er dann, nach Zürich
berufen, am Sonntag vor St. Thomas Tag 1518 auf dem Rathaus zu Glarus fie
niederlegte. Sein Andenken blieb im Segen, und auch ihm blieb die Erinnerung au
fein dortiges 10jähriges Wirken Lieb und keineswegs befhämend (Opp. VII, 164;
J, 172 oben). — Mit Bezug auf den Wegzug von Einfiedeln genügt es, auf
da8 denfelben bedanernde und Zwingli ebrende Schreiben des Landrats von Schwyz
(Opp. VII, 60) Hinzumeifen, ſowie auch auf die fortbauernden Beziehungen
zwifchen Zwingli und Einftedeln und auf das Anfehen, das er bort fletsfort
genoß. (Siehe den Brief an Leo Judae Opp. VII, 59.) — Die Stelle aus
dem Schreiben an bie Brüder vom Jahr 1522, die Toggenburg, um Zwingli
zu fompromittieren, anführt (a. a. DO. ©. 48), und die er — ein Beweis, wie
leichtfertig er mit der Chronologie umgeht, — in Einfiedeln geichrieben jein
Laßt, ift uebſt andern ſchon im meiner Feftfchrift (S. AL ff.) in die richtige Be
leuchtung geftellt worden. — Ein weiteres fauberes Muſterchen Biftorifcher Ge⸗
wifienhaftigkeit iſt S. 58 die Verſchiebung des Geburtsdatums von Zwinglis
ältefter Tochter um mehr denn ein halbes Jahr (vom 31. Juli auf den 6. Ja⸗
mar 1524, offenbar damit fogar die Geburt vor die kirchliche Trauung
(5. April 1524) falle. (Mörikofer a. a. O. J, 212 ff. verſchweigt nichts und
giebt die richtigen Daten.)
3) Opp. VII, 11: Circa locum Papiae habendum scis quae dixerim
Tibi: ea ad unguem observabo.. — Haec omnia si tempora maneant
tranquilla, ad binos annos Dommationi Tuae pro contracta mutua ami-
citia dimissurus sum, ex quibus commodissime vivere poteris. Über
die fonftigen meitgehenden und bis ins Jahr 1522 fortgefeten Anftrengungen
der Kurie, Zwingli duch Verſprechungen zu gewinnen, und über die groß-
artige Unabhängigkeit, bie er dem gegenüber je mehr und mehr bemährte,
ſ. Heer a. a. O., S. Sf, m. Feſtſchrift S. 50f., bei. aber Mörikofer
I, 185 ff. wo auch das ſchöne Wort mitgeteilt iſt: Ich habe in kurzen Tagen
einen päpftfichen Brief und große mündliche Berheißungen empfangen, worauf
ich jedoch ob Gott will unentwegt und chriftlich geantwortet habe; obgleich ich
feinen Zweifel trage, ich hätte fo groß werden mögen, wie micht ein jeber,
wenn mir die Armut Ehrifti nicht Tieber wäre als die Pracht der Päpfller.
Initia Zwinglii. 6
füllen: „pro contracta mutua amicitia“. Ob dies nicht un»
gefähr fo viel Heißt wie: „für geleiftete gute Dienfte". Aus dem
Blan wurde natürlich nichts, nicht nur weil das Kriegsglüd in
Italien fi wendete, fondern gewiß auch, weil Zwingli in Zukunft
gegen alle ausländiſchen Werbungen entfchieden Front machte. Die
bitteren Erfahrungen, die ihm feine politische Thätigkeit zuzog,
mochten dem Erwachen ernfterer religiöfer Bebürfnifie und dem
Suchen eines inneren Haltes in ber heiligen Schrift nur förder⸗
lich fein.
Die noch vorhandenen Ueberrefte aus Zwinglis Bibliothek bieten
einige Anhaltspunkte und einen fragmentarifchen Einblid in Zwinglis
humaniftifche und philofophifch»theologifche Studien während der
Ölarner Zeit. Es müßte namentlih von Intereſſe fein, wenn
unter denfelben derjenige Schriftfteller fich vorfände, mit dem ſich
nah Sigwart der Reformator damals bauptfächlich beichäftigt und
der einen fo entjcheidenden Einfluß auf fein theologifches Denten
ausgeübt Haben foll: der italienische Philofoph Joh. Picus von
Mirandula. Allein es find nur zwei Schriften des Neffen,
Joh. Franz Picus, der in Abfiht auf Originalität weit Hinter
dem Oheim zurüditeht, aus Zwinglis Befig anf uns gelommen,
und es wird unten von denfelben ausführlicher die Rede fein. Nach
Mykonius hatte der Name Picus allerdings ſchon in Baſel bei
Zwingli einen guten Klang und es zog ihm dies früh — barım
hebt es der wohl unterrichtete Freund gefliffentlich hervor — Ver:
dächtigungen und Anfeindungen vonjeite des Klerus zu; ja Mykonius
leitet daher den erjten Urfprung aller Schmähungen her. Zwingli
muß einige von den Theſen, zu deren Berfehtung Joh. Picus in
Rom nicht war zugelaffen worden, weil der angeblich büretifche
Anhalt von dreizehn derſelben bei den Vertretern der Kirche Feine
Gnade fand, in Schuß genommen haben; welche, wird uns nicht
gefagt; wir müſſen uns alſo mit Vermutungen begnügen, und ich
erlaube mir, auf da® in meiner Feftfchrift darüber Befagte zu ver»
Alle diefe Schritte der Kurie erflären fich am beften, wenn es eine Zeit gab,
wo Zwingli die päpftlichen Intereſſen aud aktiv förderte. Vgl. Finsler,
Zwingli, S. 11.
63 Uferi
weifen und nur noch beizufügen, daß auch die Säge: Gott habe
bloß in Geftalt eines vernünftigen Gefchöpfes erjcheinen können
(während Duns Scotus belanntlidy behauptete, Gott hätte ebenio
mit einem Steine wie mit einem Menfchen zum Heil der Welt fih
vereinigen Eöunen), und: Gott fei die Fülle des ganzen Seins !),
allerdings jehr an die Denkweiſe Zwinglis erinnern. Sigwart läft
fih auf diefe Thefen gar nicht näher ein, was doch, weil wir mit
Bezug auf fie ein glaubmwürdiges Zeugnis haben, zunächſt Hätte ge
fchehen follen, begreiflich übrigens! ihm bat die Billigung ſolchet
Einzelheiten wenig Bedeutung gegenüber der von ihm behaupteten
weitgehenden Abhängigkeit des Zwingliſchen Syftems von
oh. Picus. Namentlich beruft er fih auf die genaue Anlehnung in
Gedanken und Wortlaut an verfchiedene Hauptjchriften des Ftafieners,
wie er fie befonders in der Schrift de Providentia Dei und in
den Kommentaren zu Matthäus und Lukas, weniger beftimmt auf
im Commentarius de vera et falsa religione, gefunden hat.
Diefe Entdeckung teilweife wörtlicher Übereinftimmung würde im
deſſen nur beweifen, daß Zwingli in der fpäten Zeit, da er jem
Schriften abfaßte, fich gerade mit Joh. Picus bejchäftigt, und dab
er dabei auf congeniale Gedanken in einem ihm anſprechenden Ge⸗
wande geftoßen 2). Biel weiter geht watürlich die Behauptung, daf
fein theofogifches Denken feine Grundiden aus jener Quelle ge |
fchöpft Habe. Dafür feheint mir Sigwart den genügenden Beweis
nod) nicht erbracht zu haben. Für Alles, was er anführt, finden
fi) auch andere Vorgänger, mit denen Zwingli vertraut war, um
von denen er Anregungen kann empfangen, Ideen aufgenommen
haben. Ich denke namentlich an die griechifchen Väter und über
haupt an den Platonismus, der Zwingli durch andere Vermittlung
noch, durch Auguftin und ſogar durch die ältere Scholaftik, ſodam
ferner in einzelnen Punkten durch die ftoifche PHilojophie, nament
1) ©. Zeller in den Theol. Jahrbüchern, Bd. XVI, ©. 46.
3), Diefe Erklärung fcheint mir einfacher und natürlicher als diejenige Sig-
warts: „Gerade daß Zwingli in feiner legten Hauptichrift de providentia am
volſſtãndigſten auf die Ideen Picos zurfidtommt, beweift, daß fie in der That
die Grundlage feiner Spekulation geweien find.” (Sigwart bei Herzog,
Renlencyli. 1. Aufl. IX, 547.)
Initie Zwingli. 07
ih) durch Seneca !) von früh ber kann beeinflußt haben. Um. bie
Neigung zur allegoriichen Schriftauslegung zu erflären, braucht man
vollends nicht, wie Sigwart thut ?), vornehmlich auf Picus zurück⸗
zugehen. — Es wird nun freilih zugeftanden, dag Zwingli aud)
gar Manches, was er bei Picus fand, liegen gelafjen, u. a. bie
1) Diefen Schriftfteller hat Zwingli jedenfalls jehr früh gelefen, und wie
ſtark derjelbe ihn beeinflußt hat, geht daraus hervor, daß manche Ideen floifcher
Philoſophie fpäter in fein theologifches Syſtem übergegangen find, und daf er
fh mit Vorliebe auf Seneca berufen (vorzüglich in de provid. an vielen
Stellen). Er nennt bieien Opp. V, p. 40 in Berbindung mit Bafılius:
„imagnus et sanctissimus vir, ethnicus, sed ferme magis theologus.“
Bullinger bezeugt (Reformationsgeſch. I, 30), daß Zwingli „fürus den Sene-
cam” unter den lateiniſchen Schriftftelleen gebraucht habe: „nampt den all-
wägen animorum agricolam“. Und in des Hieronymus Schrift de viris
illustribus seu de scriptoribus ecclesiastieis (wovon unten nod) wird bie
Rede fein), faud Zwingli den ſtoiſchen Philoſophen continentissimae vitae in
den catalogus sanctorum aufgenommen und in der Weihe der chriftlichen
Schriftftellee aufgeführt (Kap. 12). Abgeſehen von dem ethijch-praktiichen Aus-
führungen, in denen Senecas Stärke berubte, mußten auch gewifſe dogmatifche
und theoretiiche Gedanken Zwingli ſympathiſch berühren, denn wir begegnen
ihnen in anffallender Weile in feinem Syſtem. Ein Punkt nun, in welchem
fpeziell platonifche Ideen ihn durch bie Mittelglieb beeinflußten, ift die anthro-
pologifche Anſchauung von Geift und Fleiſch, von der in der leiblichen Natur
wurzelnden Sünde (vgl. Baur, Seneca und Paulus in Hilgenfelds Zeitichr.
für wiſſenſchaftl. Theol. 1858, ©. 193, und Zeller, Theol. Jahrb. 1853,
S. 262). Was fi) bei Zwingli Ähnliches findet, erinnert wenigftens mindeftens
ebenfo jehr an Seneca als an Picus, ift eben. der von Plato ausgegangenen Ge-
dankenſtrömung gemeinfam. Hingegen das ift gegenüber der bei Zeller fidh
fiabenden eimfeitigen Betonung bed platoniſch⸗ ſtoiſchen Elemented aus dem von
Sigwart (a. a.D. ©. 77) Betonten mittelbar zu lernen, daß auch in der Anthro-
pologie die Bibel und ſpeziell Paulus auf Zwingli ftärker eingewirkt haben als
tegendein anderes geifliges Bildungselement. Die unbefriedigende platonijche
Anſchauung findet fi) and vorzugsweiſe in derjenigen Schrift, wo dm meiften
auf Philoſophen Rückficht genommen ift und philofophiiche Autoritäten nament-
Gh aufgeführt find, in de providentia. (Bgl. Aler. Schweizer, Central
dogmen I, 112. 129.) — Ein meiterer Punkt, darin fi Zwingli ausdrädlich
auf Senera⸗Plato bezieht, ift die Ideenlehre, wie er fie ebenfalls in de pro-
videntia zubilfe nimmt. Opp. IV, 93 ff. und 138 aufammenfaffend. Ideas
omnium rerum Deus in se habet.
3) Ulrich Zwingli, ©. 51.
638 Ufteri
Spekulationen über die Engel *), indeffen gerade was dieſen letzt⸗
genannten Punkt anlangt, fo wäre dann doch zu erwarten, daß er
3. B. in dem langen Brief an Miyfonius ?), wo er ſich über bie
Engellehre etwas weitläufiger ausläßt, auch des Picus gedacht hätte;
allein dort beruft er fih auf ganz andere Gewährsmänner, auf
Hieronymus, Auguftin und Origenes, die offenbar auf fein theo⸗
logiſches Denken einen tiefer greifenden Einfluß ausgeübt Haben.
Zwingli felbft redet nur an Einer Stelle von dem Staliener, von
Joh. Picus fiher in der VBorrede zu Jeſaja aus dem Jahr 1529 3)
(in welchem auch de providentia erſchien) und zwar allerdings mit
großer Achtuug: acuto vir ingenio, et si Dominus ad maturi-
tateım pervenire dignatus fuisset, divino futuro. Die andere
Stelle, auf die man fh gewöhnlich beruft, aus Glareaus Brief
vom Jahre 1510 %, handelt nur allgemein von Picus Mirandu-
lanus und könnte fich ebenjo gut auf jenen jüngeren Joh. Franz
Picus beziehen, der damals, aus feinen Beſitzungen vertrieben, in
den verfchiedenften Ländern, auch in Deutfchland herumirrte und
fchriftftellerte, den Zwingli ficher in Glarus gelefen, bei dem wir
manche von den Ideen, auf die Sigwart fi) beruft, aud finden
werden 5).
Wenn wir nun zu einem Weberblid über die noch vorhandenen
Bücher, mit denen Zwingli während der in Rede ftehenden Periode
ſich bejchäftigte, übergehen, jo nimmt unfere Aufmerkſamkeit zuerft
1) Sigmwart, Ulrich Zwingli, S. 69 oben...
2) Opp. VII, 123 sqg.
8) Opp. V, 556. Eine ganz beiläufige Erwähnung neben Scotus in einer
Schrift des Jahres 1528 fand ich noch Opp. II 2, 166.
4) Opp. VO, 2.
5) Auch in den noch erhaltenen Werken, die Zwingli bejeffen und in feiner
früheren Zeit ſtudiert, finden fich zwar fehr viele Berweiiungen auf gleichzeitig ger
leſene Schriftfteller, Kirchenväter und Klaifiler, aber nicht eine einzige auf irgend⸗
eine Schrift des Joh. Picus; ein argumentum ex silentio, das Beachtung
verdient. Ich kann daher nur der Reduktion der Sigwartichen Darlegung auf
ihr richtiges Maß mich anfchliegen, wie fie ſchon Zeller in den Theol. Jahrb.,
Bd. XVI, ©. 45 ff. durchgeführt hat. Es jcheint mir überdies wahrjcheinfid,
daß die eingebendere Lektüre des Joh. Picus nicht einmal in die frühere
Zeit fällt.
Initia Zwinglii. 629
eine Eleine von Glarean Zwingli dedizirte, wohl auch von ihm
herausgegebene Schrift des Lambertus de Monte in Anfprud.
Quaestio magistralis a venerando magistro Lamberto de
Monte — ostendens per autoritates scripturae divinae, quid
juxta saniorem doctorum sententiam probabilius dici possit
de salvatione Aristotelis. In der Vorbemerkung wird von dem
Verfaſſer gefagt, er Habe die Lehre des Ariftoteles juxta fidelissi-
mam interpretationem scti et angelici doctoris Thomae Aqui-
natis Coloniae in gymnico monte quadraginta circiter annos
propagavisse !). Das Jahr der Herausgabe ift nicht angegeben,
es Tiegt aber nahe, an die Jahre vor 1510 und 1512 zu denken,
weil damals Glarean fih in Köln aufbielt und dort magiftrirte.
Die Schrift intereffiert nicht wegen irgend welcher Randgloffen von
Zwinglis Hand; denn es finden fich feine, fondern wegen des
Themas, das dem Humaniften und künftigen Vertreter der dee,
daß auch edle Heiden der vordriftlichen Zeit felig geworden, zu⸗
fagen mußte. Die Schrift ift übrigens keineswegs etwa von einem
für das ſpefiziſch Chriftliche gleichgältigen Geift infpirirt, fondern
gut kirchlich und gut ſcholaftiſch. Und auch Glarean, der fie em⸗
pfiehlt und herausgiebt, ift zwar Humanift, aber, wie ſicherlich auch
Zwingli ?), gar fein Feind der Scholaftif; nur die damals in Köln
herrjchende, illiberale, bornirte Richtung, berüchtigt genug durch den
Reuchlinfchen Handel, ift ihm zumider, und er träumt daher immer
von einer Verſetzung nad Baſel, wo nicht nur befjeres Trinkwaſſer
und feinem Magen zuträglichere Speife, fondern wo er ſich auch
eine Lehrjtelle „in via seu secta Scoti“ wiünfdt®). Cujus
1) Größere von ihm beramsgegebene Schriften: Compilatio commentaria
in octo libros Aristotelis de physico s. de naturali auditu intitulatos.
Coloniae 1506. — Expositio saluberrima circa tres libros de anima Aristo-
telis etc. Coloniae 1508.
2) Bol. 3. B. Zwinglis Bemerkung über fein einfliges Stundium des
Thomas von Aquino. Opp. IV, p. 118, unten ©. 645 angeführt.
$) Opp. VII, 2: ea lege ut lectio mihi philosophica in via seu sect&
Scoti daretur, mas Füßli im Schweizer Mufeum, 6. Jahrg., S. 602 ab-
weichend überfet: Wie er feine künftigen Studien Tieber zu Baſel fortjegen
möchte, um dort bie philofophiichen Vorlefungen über Scotus zu hören. Möri-
630 Ufer
doctrina luculentior et verior Neotericorum de Termino fig-
mentis atque nugaculis. — Die handſchriftliche Dedilation Gla⸗
reans an Zwingli ift nicht ohne Intereſſe. !). Ul. Zwingli, eru-
ditissimo bonarum artium M. Henr. Glar. Loriti S(alut.)
d(ieit) p(lurimam). Habes libellum, vir clementissime, de
Aristotelis servatione inscriptum, quem rogo hilari fronte
accipias: credidi enim rem tibi fecisse gratissimam, tum quod
Aristotelicus es, tum etiam quoniam multos pertinaciter
hunc condemnare videmus. Quorum ut insaniem rabiemque
sedare possemus: solus ille Lambertus hujus libelli auctor
quocunque me verterem occurrere visus est, qui ex sacrae
scripturae testimoniis rem hanc profunde speculatus
est, probavitque luculenter. Nec obstat, quoniam parum
eleganti stylo usus sit. Nam oratores non sumus omnes.
Forsitan enim plus veritati quam elegantiae studuit, quod
quidem te ipso teste longe melius est. Quo fit ut labia
comprimant, qui hactenus Aristotelem damnarunt, quum nec
hoc nec oppositum probare possunt. Vale et me ame. Be
merkenswert ift diefe Dedilation namentlich al8 Zeugnis der Ger
finnung, in weldjer Glarean eine Unterfuchung der Frage wünfcht:
aus Zeugniffen der 5. Schrift ſoll fie entjchieden werden, und für
eine Prüfung derjelben in diefem Geifte fcheint ihm allein Lambertus
de Monte etwas DBefriedigendes geleiftet zu haben. Nicht um eine
rationaliftifche Seligfprechung ift e8 ihm zu thun, etwa nad) dem
Geſchmack freidenkerifher Humaniften; eine folche hätte ja auch
jene fanatijchen Eiferer niemals belehrt. Wenn Ariftoteles in der
Tofer Hingegen (S. 24) wie oben. — Das folgende de Termino bat Füßli gar
nicht überſetzt. Bezieht es fi auf die Streitfragen über die Dauer der Gnaden⸗
zeit, deu terminus gratiae, der ſich nach der mittelaterlichen Theologie abjolnt
anf dieſes Leben beſchränkte, alſo daß ungetauft fterbende Kinder ber Ver⸗
dbammmis anheimfielen? Es ift allerdings nicht gejagt, daß jene „Neueren“
mit ein Grund waren, weshalb Glarean fi von Köln wegiehnte, allein es
läßt fih) aus dem Zuſammenhang vermuten, und. dann liegt e8 nahe, an bie
oben im Text angebeutete Richtung zu denken.
1) Aus der höflichen Anrede „vir clementissime‘ ift auf eine frühe Zeit
zu fchließen; denn fpäter (cf. Opp. VH, 5) wird in freundſchaftlichem Tone
Torrefpondiert.
Initia Zwinglii. 631
Schrift des Lambertus fo ziemlich zu einem chriftlichen Theologen
oder Philoſophen zugejhnitten wird, fo fcheint diefer Mangel
an Unbefangenheit den Glarean nicht geftoßen zu haben. Die ans
tife Philofophie war ihm, einem Anhänger der älteren Scholaftif,
noch nicht in ihrer Differenz von der chriftlichen Theologie zum
Bewußtfein gelommen. Er kannte fie fchwerlich fchon aus ven
Quellen. Zwingli nennt er wohl nicht in einem andern Sinn
einen Ariftotelifer !), al8 wie er fich felber als einen folchen bes
trachtet. Der Schluß der Dedilation endlich zeigt, wie bei diefen
Humaniften edelften Schlages das ernfte Streben nad) Wahrheit
das ſprachliche Geſchmacksintereſſe weit überwog, und wie nicht die
Barbarei des Stils, fondern die Barbarei der Gefinnung von ihnen
als der größte Feind angefehen wurde.
Nah der von Glarean unterftrihenen Vorbemerkung, daß
„Autoritäten, d. 5. Zeugniffe der Schrift und der Beil. Lehrer hier
mehr beweifen als Vernunftgründe”, wird von Lambertus an einer
Menge allerdings ausschließlich biblifcher Beiſpiele von vorchriſt⸗
lichen Perfönlichkeiten außerhalb des Bundesvolkes der Gnadenftand
nachgewiefen oder wenigftend glaubhaft gemacht, zunächſt an Beis
fpielen aus den Vätern vor Abraham, dann an foldhen aus ben
unbefchnittenen Frommen. So bütten zur Zeit des Geſetzesbundes
auch Heiden den wahren Gott gefunden und ihm gedient, und diefen
jei nun Ariftotele8 anzureihen. Es finde fi Hier überall implicite
die fides in Christum venturum. Man fieht, Lambertus will
nicht etwa eine natürliche Religion der geoffenbarten in Abjicht auf
beifbringende Kraft an die Seite ftellen. 2). Es ift vielmehr feine
unzweibeutige Weberzeugung, bag nur der Glaube an Chriftum
ventum oder venturum, al8 explicite oder auch implicite vor»
1) Schuler teilt mit (a. a. O. Anm. 42, &. 306), Glarean babe Zwingli
die Schrift des Ariftoteles von den Tieren geſchenkt und in einem freundfchaft-
lichen Begleitichreiben ihn ebenfalls einen „Arifotelifer” genannt und gegen bie
Feinde des Ariftoteles geeifert. Die Bezeichnung ift alfo in ſehr allgemeinem
Sinn zu nehmen.
2) Eher anerkennt er (tm Berlauf feiner Schrift) eine außerbibliſche Wahr-
heitsoffenbarung und Propfetie in vereinzelten, allerdings unglücklich gewählten
Beifpielen (Sybille xc.).
682 Ufteri
bandener felig made. Und ganz biejelbe Meinung hatte es auch
jpäter bei Zwingli mit der vielangefochtenen Idee von der Selig»
feit edler Heiden. Y). Lamıbertus redet freilich weder von einem
Herkules, noch von einem Thefeus, noch von einem Sofrates, noch
von einem Cato oder Scipio, er befchränft fi auf den Ariftoteles,
und da muß man fich ja allerdings an bie guten Dienfte erinnern,
die derjelbe der mittelalterlihen Theologie geleiftet und durch die
er ſich wirklih eine Ausnahmsftellung, eine gewiſſe Infallibilität
erworben; man kann aljo fagen: Zwingli geht in den Konfequenzen
viel weiter, fo weit, daß ohne Zweifel felbft ein Lambertus den
Kopf geichüttelt hätte; aber auch wirklich nur in den Konfequenzen,
nicht eigentlich im Prinzip; diefes hat er fchon bei Lambertus ge⸗
funden.
Der nämliche Sammelband, in welchem die eben befprochene
Schrift fih findet, enthält noch Verſchiedenes, das Zwingli wohl
durch einen andern feiner humaniftifchen Freunde, durch Beatus
Rhenanus, zugelommen ift, denn es find vermifchte, von dieſem teils
herausgegebene, teil8 empfohlene Schriften. Derfelbe hatte in Paris
1) Bgl. dazu das von Sigwart, Ulrich Zwingli, ©. 120 und 146 Ge-
fagte; und Hundeshagen, Beiträge zur SKirchenverfaffungsgeichichte und
Kirchenpolitit, S. 339 f. Anm. Hundeshagen weicht zwar darin von Sigwart
ab, daß er vom einer Bermittelung durch den Aoyos anepuarızös redet, mas
nad Sigwart eine Zwingli durchaus fremde Idee einmengen heißt. Bgl. endlich
wie Bullinger Zwingli interpretiert und gegen Luther in Schug nimmt bei Befta-
lozzi, Bullinger, ©. 231. Darin herrfcht mithin allgemeine Übereinftunmung,
daß Zwingli ein Seligwerden nur durch Ehriftum kennt; Hundeshagen führt
aus der Exegesis hist. resurrect. die Stelle an: Quicunque servantur,
per Christum servantur, h.e. per misericordiam Dei, quam mundo
in Christo obtulit. Diefer Gelehrte fagt daher aud mit Recht: Die Anficht
Zwinglis ift Teinesmegs eine etwa lediglich aus der humaniſtiſchen Bildungs»
weife abzuleitende oder gefchöpfte, fondern ein ähnliches Intereffe, den ohne feine
Schuld außer Zufammenhang mit ber chriftlichen Heilsölonomie gebliebenen
Teil der Menfchheit von dem dur Ehriftum erworbenen und verfündigten
Gnadenheil nicht abſolut ausgeichloffen zu denken, läßt fi als gefunde Reaktion
ber fittlichen Weltanficht entgegen einer einfeitig religiöjen, befanntermaßen durch
faft alle Jahrhunderte der Kirche hindurch bei folgen nahweifen, welche
damit keineswegs die Kardinallehre, daß niemand zu Gott
komme, ale dur Ehriftum, etwa befeitigen wollen.
8V
Initia Zwinglü. 683
unter dem berühmten Ariftotelifer, Jakob aber Stapulenfis, ftudiert
und aljo wohl auch die von diefem verfaßte „in Politica Ari-
stotelis introductio‘“* Zwingli zur Lektüre zugefandt, zugleich noch
den economicus Xenophontis, der gleichzeitig (Paris 1508) er.
fhienen war. Mit den Kirchenvätern bejchäftigte fi Rhenan früh
fon, wir haben von ihm fehr geſchätzte Ausgaben von foldhen, er
unterftüste den Erasmus bei feinen Bemühungen um die Väter
und wurde von demfelben fehr hoch gehalten. Sein Lehrer Cono
förderte ihn zu Bajel in der griechifchen Sprache, überjeßte ſelbſt
griechifche Kirchenlehrer, 3. B. Schriften des Gregorius von Nyſſa,
bie auch wieder (wohl durch Rhenan) in Zwinglis Hände kamen,
und regte feinen Schüler zu ähnlicher Beichäftigung an. So gab
diefer denn 1512 die oratio des Gregor von Nazianz heraus, die dere
felbe auf den Nyſſener gehalten, als diefer gefommen war, ihn
zum Biſchof zu weihen, und gleichzeitig des Baſilius Rede de
differentia usiae et hypostasis an Gregor von Nyffa, Beides in
lateiniſcher Sprache. Es findet fi died alles in dem nämlichen
Sammelband. Eine beftimmte Einwirkung dieſer meift Kleinen
Schriften auf Zwingli läßt fi natürlich nicht nachweilen. Wo
Marginalien am interefjanteften wären, bei den Traktaten des Gregor
von Nyffa de anima, de homine, de resurrectione, de pro-
videntia etc. finden fi feine. Doch muß diejes Kirchenlehrers
Auffaffung vom Menſchen, dag er da8 Band zweier Welten fei,
an ber Spige der irdiichen, fie als Mikrokosmus zufammen-
faffend, und als Aoyıxov wo» Hineinragend in die unfichtbare
Welt, bei Zwingli einen empfänglicden Boden gefunden Haben,
denn wir begegnen bei ihm fpäter einer ganz verwandten Ans
ſchauung; und auch Gedanken wie diefer: das Ebenbild Gottes ift
nichts Körperliches, fondern das Gottverwandte im Menfchen als
Potenz aktueller Verähnlichung, alles, wodurch derfelbe imftande
ift, Gott zu erfaffen und mit ihm in Gemeinſchaft zu treten,
fingen ja unverkennbar an die Zwingliichen Ideen an !), ſodaß
wir die analogen bei Picus durchaus nicht in einfeitiger Weife
zu betonen berechtigt find. Allein von einer Kopie tft freilich
1) Vgl. Sigmwart a. a. DO. ©, 765f.
634 uſteri
auch hier nicht die Rdde. Die Spekulation des Gregor von Nyſſa
ſchlug verſchiedene Wege ein, auf die Zwingli ihr nicht folgte; fie
ſuchte namentlich den Dualismus zwiſchen Geiſt und Körper, von
dem fie ausging ), zu überwinden, während derſelbe ja bei Zwingli
ſchroff und unvermittelt entgegentritt.
Die von Rhenan ſelbſt herausgegebenen Stücke fodann füllen
nur wenige Seiten; aber gerade jene Rede des Bafilius ?) Hat
Zwingli fehr aufmerkjam gelefen und feine Randbemerkungen dazu
gemadt; und wenn Sigwart fagt), er habe für den wahren
Sinn der traditionellen trinitarifchen Zormeln gar fein Organ ge⸗
habt und in die das Trinitätsdogma bedingende Denkweife fich
nicht zu finden gewußt, jo entjpricht died zwar dem @indrud, den
man aus feinen Schriften gewinnt, wenn man ihm gleich nicht
abfprechen kann, daß er fich in feinen Lehrjahren eifrig aud mit
diefem Problem befaßt; noch in den weiter unten zu berüdfich-
tigenden Kommentaren, die er ftudiert, find Spuren in Menge
vorhanden, wie Lebhaft ihn bie trinitarifche und die chriftologifche
Frage befchäftigt Haben. Beſonders bedeutfam erjchien ihm bei
Bafilius der nun auch beftimmt auf den h. Geift ausgedehnte Ge⸗
fichtspunkt der Wefenseinheit in der Gottheit, und zwar in dem
religiöfen Intereife, jofern dadurch der-abfolute Wert des Chriftentums
und die Solidarität der 3 trinitarifchen Perfonen in ihrer Heils⸗
wirffamfeit und in der Heildaneignung ins Licht geftellt werden 4).
Wohlgefallen fand er auch an dem zur Veranſchaulichung herbei-
gezogenen, jchönen Bild der Strahlenbrehung, indem er zugleich bie
Bemerkung des Baſilins über die der Glaubensanſchauung zu
vergleichende Lnvoflfommenheit der Verfinnlihung des fchlechthin
1) Auch nad) ihr giebt die Sinnlichkeit den Anlaß zum Fall.
3) Auch als aslketiſchen Schriftftellee ſchätzte Zwingli diefen Kirchenvater
fehr hoch. Opp. V, 40.
8) Ulrich Zwingli, ©. 72.
4) Die Chnrakteriftil der zweiten Hypoſtaſe: filius solus unice ex ingenito
lumine elucens bat Zwingli allerdings mißverftanden, indem er das „in“ in
„ingenito“ nicht privativ faßte; allein es leitete ihn Hier der Haffiiche Sprach⸗
gebrauch irre und bie Verwiſchung des Wortipiels in der ihm vorliegenden
lateiniſchen Überfegung des griechifchen Movoyers &x ou aysrııjzou paros.
Initia Zwingli. 635
Überfinnfichen unterftrih. Man begegnet auch fonft oft bei ihm
einer großen Vorliebe für Gleichniſſe zur Veranſchaulichung gött-
licher Geheimniffe. — Die Trinität felbft anlangend blieb auch
Zwingli die Einheit des göttlichen Weſens ftetd die Hauptſache;
fie betont er mit Vorliebe 3. B. Opp. IH, 1795. Es iſt daher
begreiflih, daß er Über das immanente trinitarifche Verhältnis
furz hinmwegging (,„servato notionum ut vocant discrimine ‘“),
indem er nur etwa (wie aud Luther, ſ. Köſtlin a. a. D.],
102) an die Auguftinfhe Parallele von memoria, intellectus .
und voluntas erinnerte oder ein anderes Gleichnis vorfchlug, doch
ohne darauf großen Wert zu legen (Ufteri und Bögelin,
Zwinglis W. im Auszug I, 145f.). Es jcheint ihm auch der
Geift der Auguftinfhen ZTrinitätslehre, wie er fie in dem aus
feinem Befig noch vorhandenen Buche de Trinitate entwidelt
fand, nicht eigentlich Mar geworden zu fein, da er Opp. IV, 83
mit Berufung auf die Schrift die 3 Perfonen mit den 3 Haupt:
eigenfchaften dee summum bonum (potentia, bonitas, veritas)
Yarallelifiert. Eine folche Parallelifierung kommt zwar fchon bei
den Scholaftifern, befonders Abalard und Hugo von St. Victor vor,
lehnt fi) aber dort an die pfychologifche Dreiheit der Auguftin«
ſchen Zrinitätslehre an und bezieht fich zunächft auf das inner«
trinitarifche Verhältnis, weshalb auch die Eigenfchaften in anderer
Reihenfolge ftehen: Macht, Weisheit, Liebe. Bei Zwingli hin⸗
gegen ift es durchaus die Offenbarungstrinität, die ihn intereffiert,
und mit Rückficht auf diefe ergiebt fi ihm aus der Schrift fehr
einfach obige Verteilung; er ift aber im Irrtum, wenn er meint,
damit den eigentlihen Quellen der kirchlichen Trinitätslehre auf
die Spur gelommen zu fein !). Die von Sigwart behauptete An»
lehnung an Picus 2) ift mithin auch nur ſcheinbar, indem bei letz⸗
terem die 3 Momente ebenfall® anders verteilt find (ens, verum,
bonum, a. a. O. ©. 19f.).
Die in dem genannten Sammelband ferner enthaltene Rede
des Gregor von Nazianz verbreitet fih mit Rüdfiht auf einen
1) So urteilt auch Fin sler, Zwingli (3 Borträge), ©. 47.
2) A. a. O., S. 72.
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 41
6356 Uſteri
bevorſiehenden Märtyrertag über die rechte Art ſolcher Feſtfeiern,
und Zwingli unterließ es nicht, feinem ſchon bier vorgefundenen
fpäteren Lieblingogedanken, die wahre Feier ſei nicht weltlich, noch
fleiſchlich, ſondern beftehe in Aufmunterung zur Nachahmung des
Wandels und der Kümpfe der Märtyrer, Beifall zu geben.
Weitaus das Wichtigfte aber in diefem Sammelband find die
Schriften des Zah. Franz Picus v. Mirandula: 1) Hymni he-
roici tres ad Trinitatem, Christum et Virginem cum com-
mentarüs lucalentissimis ad Joannem Thomam filium, 2. Auft.
Argentorati 1511 (die 1. Auflage war 1507 zu Meiland er»
Schienen), mit einigen MHeineren Gedichten. 2) Liber de provi-
dentia Dei contra Philosophastros, in duas partes divisus,
Argentinae 1509 (die 1. Auflage war 1508 erſchienen), eben-
falls mit einigen Heineven Zugaben 1).
oh. Franz Picus, Graf von Mirandula und Concordia, war
trog der widrigen Schidjale, die ihn zeitlebens verfolgten, von
einem unermüdlichen Eifer für die Wiſſenſchaften beſeelt. Er ge⸗
noß bei allen, einer newen, befjeren Zeit freudig entgegenfehenden
Gelehrten, die nicht geradezu vom engherzigiten, lichtfeindlichſten
Geift befeſſen waren, gleich feinem herühmteren Oheim Joh. Bicus
ein großes Anſehen ?), wiewohl er legterem an Originalität, Frei⸗
1) Den Hymnen ift ein empfehlendes Vorwort von Ahenan beigedrudt.
Da beide Schriften in der vorliegenden Ausgabe zu Straßburg erjchienen find,
die zweite auf Beranlaffung des Joh. Grüninger unter jorgfältiger Zugrunde⸗
legung des Autographon des Verfaffers, if anzıniehmen, daß Zwingli fie von
dorther durch Ahenan erhalten bat. Gedachtes Borwort wünjcht, daß über der
antiken Litteratur folde echt chriſtlichen Schriften bei den humaniftiichen
und philoſophiſchen Studien die ihmen gebührende Beachtung finden möchten:
der Inhalt diefer Hymnen und der beigegebenen interpretamenta fei em un»
gemem reicher und ummfaflender: universa pene et divina et naturalia et
moralia praecepta — fabularum mysterig. Letzteres bezieht fi) anf bie
religrons· philefophiiche Deutung der Mythen, au denen dev Berfafler wirklich
nicht nur ein äſthetiſches Phantafie- Iutereffe nimmt, und die er nicht bloß
vhetorijch-poetifch verwendet, fondern deren mysteria er in chriſtlichem Geift zu
deuten fucht.
2) Es if von Juterefſe, das in der von Zwingti mit großem Beifall ge-
Iefenen Verteidigung gegen die Theologen von Löwen und Köln noch wenig be⸗
Initia Zwingli. 687
heit und Beweglichkeit des Geiftes und wohl auch au Gelehrſam⸗
feit nicht ebenbürtig mar. Dieſen ſcheint er ſich, ohne ihn gu er⸗
reihen, zum Vorbild für feine Studienricdjiung genommen zu
haben. „I cultiva les sciences & lexemple de son oncle,
mais son trop grand attachement & la Scholastique hu fit
negliger la belle Latinité“ 9. Während du Pin die Werte
v5 Joh. Picus folgendermaßen dharafteriftert: Is sont ecrits
avec beaucoup d’elegance, de facilitE et de nettete, et il y.
fait paraitre autant de pénétration d’esprit que d’etendue
de conmaissancen, lautet das Urteil ber diejenigen des Franz
Picus: I n’y a pas tant d’esprit, de vivacite, de subtilite,
d’elögance, ni m&@me tant d’erudition dans les siens que
dans ceux de son onele, mais il y a plus d’egalit£ et de
splidite. So war denn wohl der Neffe auch in lirchlichen Krei⸗
jen genehmer, wie er ſich denn der beſonderen Gunft des Papftes
zu erfreuen batte, indem Julius IL ihm. wieber zu feinen Be
figungen verhalf. Ein Dann wie Joh. Eck, der freilich anfäng-
lich auch zu den aufftrebenden, einer neuen Zeit bahnbrechenden
Geiftern zu gehören ſchien, erhob die Ikaliener, Oheim und Neffen,
in den Himmel und war von legterem befonders entzückt, feit er
bei einem Beſuch ie Mirandula die gafffreundlichfte Aufnahme
gefunden. In einer Rede, die er anno: 1515 zu Ingolftadt ger
halten, findet ſich der Pafſus: Quis quaeso hodie in Italia in
omni philosophia doctior exstat Alberto, prineipe Carpi —
quis. Joanne Franzisco Pico, doctissimo comite, aut elegan-
tior vel copiosior sive philosophiam veolueris sive theole-
giam? qui licet dis: extorris, castris suis et oppidis priva-
tus, inter arma tamen absolutissima scripta in lucem edi-
dit, et jam Caesaris Maximiliani beneficio ad Mirandulae
kannte Urteil Luthers über ben älteren (Joh.) Pieus zu vergleichen. „Wie
hat man des Roh. Pici Schlüfe mit fo grenlichem Lärmen verdammt, nur,
daß die treffligen Magistri nostri ihre Irrtümer für Recht behaupteten! Ber
aber bewundert fie wicht heutiges Tages außer irgend einigen alten Sophiften,
die. irgend in einem Winkel fchmeigen müffen, ob fie wohl vor Grimm berſten
möchten.” (Walch, Luthers Werle XV, 1608.)
1) M&moires des Hommes Illustres par Niceron, vol. 34, p. 147.
41 *
638 uſteri
dominium postliminio reversus !), licet nondum ab armis
quietus, adhuc quotidie magna et praeclara opera sub in-
cude literatoria habet ?).
So viel zur allgemeinen Charakteriftil diefes Joh. Franz Pi⸗
cus, deſſen Schriften Zwingli in Glarus gelefen, in dejjen Nähe
er vielleicht fih au, als er in Italien war, perfönlich befunden,
gerade als denfelben abermals das Schickſal fo frhwer traf. Am
[ehrreichften ift aber ein Blick in diefe Schriften ſelbſt. Der
Neffe ift ein philofophifher Effektiter wie der Oheim. Der Au-
toritäten, die in der zweiten Schrift de providentia Dei ange
rufen werden, ift Legion: Griechifche und Iateinifche Kirchenväter,
Neuplatoniker, Klaſſiker, Stoifer, Epikuräer, Gymnofophen, Druis
den, Brahmanen, dann natürlich die Scholaftifer, aber auch die arabischen
Ariftotelifer, fogar mehr oder weniger mythiſche Figuren: Pythago⸗
ras, Orpheus, Hermes Trismegiftus x. ꝛc. Allein diefes phan⸗
taftifch klingende Aufgebot von Wahrheitszeugniffen aus allen Völ⸗
fern und Religionen, Ländern und Zeiten Bat einen ernften Hinter
grund — die dee, daß das Göttliche fi am menſchlichen Geift
nirgends unbezeugt gelaffen °). Selbft bei einem Epilur fehle das
1) Nach einer zweiten Vertreibung, bie auf die Niederlage des Papſtes in
der Schladht von Ravenna 1512 gefolgt war.
3) Anno 1522 freilih, als er eine Verteidigung bes Dionysius Areo-
pagita gegen Luther in Deutfchland wollte druden laffen, Hatte er damit fein
Glüd. Zw. Opp. VII, p. 220 oben. Sehr bezeichnend iſt es für ihn, daß
er fi zum Advokaten jener neuplatoniſch-chriſtlichen Myſtik aufwarf, vor der
Luther zufolge genauerer Beſchäftigung mit ihr nichts wiffen wollte, trotzdem
daß er fie bei Tauler benützt fand. Daß wohl auch Zwingli einige Anregungen
von diefer Seite her empfing, wird ſich unten noch zeigen. Betr. Luther f.
Köftlin, Theol. Luther I, 109 f.
3) Bol. dazu Uferi und Bögelin, Auszug aus Zmingfis Werfen
IL, 273 ff. Auch de providentia Opp. IV, 93. Aus allen diefen AÄußerungen
Zwinglis ergiebt fid feine Beeinfluffung durch platonifche Ideen, wie fie ihm
eben dur die mannigfaltigften Vermittelungen und auch unmittelbar nahe
traten. Ob er don Picus fi) auf das durch die verjchiedenften außerchriftfichen
Autoritäten bezeugte angeborne Gottesbewußtfein hingewieſen ſah oder bei dem,
wie fich noch zeigen wird, vom ihm hochverehrten Origenes und ähnlich wieder
bei Erasmus von den in der Seele verborgenen Brunnen las, die aber erft
vom ‚Schutt gereinigt werden müſſen, immer Tagen platoniſche Einflüffe zu⸗
Initia Zwinglii. 689
Gottesbewußtfein nicht, es fei mithin etwas unmittelbar Gegebenes,
Unveräußerfiches, nicht erft a posteriori, fondern a priori von
Gott gewirktes. Zwingli hat fi aus dem Text heraus bie
Worte an den Rand gefchrieben: tactus divinitatis in no-
bis notitia melior, und das Citat aus Thales unterftrichen:
omnia deorum plena indeque castitatem et religionem elici.
Picus bezeichnet es als einen Hauptzwed feines Buches, zu zeigen,
daß dem Lichte der überwältigend fich bezeugenden göttlichen Wahr-
heit niemand ſich ganz habe entziehen können: in hoc opere cum
alia multa tum haec maxime nova et in nostrae christia-
nae religionis laudem spectabuntur, quod, qui patroni pu-
tabantur impietatis, si non pietatis patroni jurati ve testes,
at saltem stare adversus impios (tanta est vis veri: biefe
Worte bemerkt fit) Zwingli am Rand) deprehendentur, et
edicto cavere, ne, qui se tanquam hostes providentiae se-
quebantur, aut Lyceum amplius intrent, aut *peripatetica
nomenclatura digni censeantur. Die ganze Stelle ift von
Zwingli unterftrihen, und kein Kenner feiner Anfchauung von der
göttlichen Offenbarung wird fid) defjen wundern.
Schon das Thema mußte unfern Reformator ungemein ans
grunde, und anf ſolche ift dann auch die Art zurüdguführen, wie
Zwingli die Wechſelbeziehung zwifhen der Seele und dem
Worte Gottes darftellt, indem er dielelbe aus dem Schöpfungsverhältnie
bes Menjchen zu Gott Herleitet, während, wie Stähelin (Bollsblatt für bie
reform. Kirche, 1884, Nr. 1, S. 5) bemerkt, Luther das Gnabenverhältnis zu
Ehrifto zugrunde legt (j. auch Köftlin, Theologie Luthers II, 288f. und
868 f.). Bol. betr. die Anſchanung Zwinglis die Predigt von der Klarheit
und Gewißheit des Wortes Gottes (3.8. Opp. I, 58) und dazu Stähelins
Inbiläumsſchrift, S. 38. Vgl. auch die, verglichen mit Luther, jehr verſchiedene
Stellung, die in Zwinglis Syftem ber erleuchtungsfähigen Vernunft zu-
kommt. (&. Sigmwart a. a. O., ©. 45f.) Köſtlin bat ja gezeigt, wie bei
dem beutjchen Reformator Äußerungen gleich der a. a. ©. II, 289 unten mit-
geteilten ganz vereinzelt und nicht weiter zur Geltung gelommen find, während
Hingegen Zwingli höchſt charakteriftifcher Weiſe fih im Abendmahlöftreit zu
einer eigentlichen Theorie über das Verhältnis von Glauben und Vernunft ver-
anlaßt ſah. S. das Subsidium de eucharist., bef. Opp. III, p. 248g.
845 sqq. 491 sq. 493 sq. Bol. auch endlich Zwinglis Anſchaunngen vom
„ianeren Wort“. — Bol. bazu Finsler a. a. O. ©. 39f. 9. 36.
0 | uſteri
ziehen. Wem Picus im Eingang fagt: das Problem von der
Vorfehung liegen laifen, Heiße otio negotium permutare, fo bat
ſich das Zwingli nicht nur flüchtig durch Unterftreihen gemerkt,
fondern e8 Hat ihn ja wirflich die Befchäftigung wit diefem Gegen⸗
ftand bis in die legten Jahre maufhörlich begleitet, von wie früh
an, wird fih noch aus mandem Symptom im Verlauf uriever
Unterfudung zeigen. Dem Picws ift «6 nun, ehe er feine eigenen
Gedanken entwidelt, wie ſchon angedeutet, namentlich daran ger
legen, einen großartigen Consensus ber verjchiedenften Geifter zu⸗
gunfien der von ihm verteidigten Wahrheit nachzumeilen. Er ift
Synlretift wie fein Ogeim; wicht nur Plato uub Xriftoteles, fon«
ern auch Averrhoes und uch viele andere Philchophen mufſen
bongr& malgr& unter einen Hut gebracht werden, was natürlid
ohne manche erziummgene Deutmg und erſchlichene Behauptung
nicht gelingt. Bedeutfam ift, daß bei Joh. und Joh. Branz Pie
cus der Platonismus Zwingli nehetsat; alderding® nicht etwa weit
Hervorhebung des Gegenjages zum Ariſtoteliomus, ſodaß Zwingli
fehr wohl ven dieſem Ideenkreis fih angezogen fühlen und dad
daneben als einen „Aristotelicus‘ fich Betrachten formie. Freilich
mochte er dem Unfeblbarkeitsfultus, der mit Ariſtoteles getrieben
wurde, zu allen Zeiten abhold fein, er hat menigftens eine Stelte
unterſtrichen, da Picus von dieſer Vergätterung redet und es ta⸗
delt, dag man die chriftlichen Dogmen fogar durch die Autorität
des alten Philoſophen ftügen wolle, weil deſſen Lehren "dem
Ehriftentum am nächſten ftänden, während dor nach Auguſtin
dies eher nan Plato und nad Hieronymus von den Stoifern zu
fagen wäre. Dane nimmt aber Picus doch den: Ariftoteles
gegen ben Vorwurf, feine „suprema mens“ und fein „pri-
mus motor“, wie er die Gottheit auffajfe, befümmere fich
nicht um die menfchlichen Dinge, in Schuß, Habe dad ſogar
das unmiffende Voll vermöge. jenes tactus divinitatis da® “Das
fein und die Vorſehung Gottes geadnt; ben Gfauben an Lohn
und Vergeltung babe Orpheus aus dem. alten Ägypten gebracht.
Und wie tief Ariftoteles über das göttliche Walten nachgedacht,
thut Picus in folgendem, von AZwingfi unterftrichenen @itat dar;
quod multis non ex. benevalentia Deus ingentes prae-
Initia Zwinglii. Sat
staret successus, sed ut ipsorum calamitates inde fierent
insigniores.
Natürlich, ift and davon die Rede, wie Gottes Vorfehung ſich
anf das Kleinſte und Einzelnſte erftrede, anf dasjenige, was man
„vie“ nenne, was aber für ihn das micht fei, um der Art willen,
mie er's erfenne, er Teite nämlich feine Erkenntnis nicht ab vom
Ding, fondern erfenne es in sua causa Zwiſchen dem Er»
fennen und dem Erfantten (intelligere und. quod intelligitur)
ft in Gott feine Zweiheit, alfo daB das Objelt des Etbennens
etwas außer ihm Beſtehendes, Selbftändiges wäre (vgl. Hierzu
Zwingli de provideatia Dei (Opp. IV, p. 189): Esse rerum
universarum esse numinis est. Ut non sit frivola ea Phi-
losophorum sententi&, qui dixerunt, omnid unum usse; si
recte modo ihos capiamus, videlicet ita ut omnium esse
Auminis sit esse, ut ab illo cunctis tribustur et sustine&-
tur), auch die Vielheit des Erfannten bringt in fein Wefen
feine Bielheit oder Zufammengefetheit (compositio.. (F. 15.)
In ſich ertennt Gott alles, auch das Kleinfte, was aber die Er⸗
fenntnis des Größten und feiner felbft nicht hindert. Denn alles
it in Gott „ut in causa“. Nichte empfängt er von einem
andern, Alles ift zuesft in ihm). Picus beruft fi auf das
„alten Phildſophen einleuchtende* johammeifhe: quod factum est
in ipso vita erat (eine ſchon von alten Kirchenlehrern angenom»
mene Konſtruktion). Quamgquam intellectio divina a re, quae
intelligitur, denominari solet, tribuendum est id tamen re-
lationi respectuive, cujus natura est ad aliud dici. — Ipsa
1) Bgl. hierzu Zw. Opp. III, 160. Neque rursum sic est vita motus-
que omnium rerum, ut aut ipse temere inspiret aut moveat, aut quae
spirant vel moventur temere ex ipso petant, quo vivant et moveantur.
Quomodo ex ipso peterent quae ne esse quidem possent, nisi ex eo
essent, aut quomodo peterent, antequam essent? Constat ergo Deum
#on modo tanquam materiam aliquam id esse, a quo omnie sunt, mo-
ventur et vivunt, sed simul esse sapientiam, scientiam, prudentiam ta-
lem, cui nihil sit absconditum, nihil ignotum, nihil nimis remotum, nihil
inobediens. Und das wird dann auf den Stachel einer Müde (alſo gewiß
auf ein „vile‘) appliziert.
642 Uferi
quoque omnia, quae in eo, antequam fierent, vixisse dici-
mus, etiam si facta non fuissent, nihil tamen divinae per-
fectionis imminutum esset, quamvis respectus illi rationis
ad res creatas cessavissent, — Unico actu simplicissimo et
infinito se intelligens omnia intelligit; nulla ibi successio
(Aufeinanderfolge der Eindrüde) nulla diversitas, nulla fati-
gatio; nihil extrinsecus haurit; omnia quae sunt, quae
fuerunt, quae futura sunt, in simplicissima illa et aeterna
prorsus essentia Conspiciuntur, qua de re cecinimus in
hymno ad Trinitatem:
Excelsa semper tu conspicis omnia mente,
Nam si quae exstiterunt et si quae lapsa futuris
Junguntur, solo te noscens diceris actu _
Noscere: quis !) pariter, quod sint, Deus optime praebes.
Diefe ganze Ausführung ift unterftrihen. Man begreift, daß
Zwingli an ſolchen fpelulativen Erörterungen Intereſſe fand, aber
es ift bemerkenswert, wie felten ähnliche, abjtrafte Unterfuchungen
in feinen eigenen Schriften vorfommen, wie er das biblifh Ein-
fache fpäter vorzog, und auch da, wo er den Weg pbilofophifcher
Gedankenkonfſtruktion einfchlug, doch ftets das Konkrete und Prak⸗
tiihe im Auge behielt. Man vergleiche 3. B. den Epilogus zu
feiner Schrift de providentia (Opp. IV, 138ff.), wo er dod
verwandte fragen erörtert. Mir ift wenigftens in feinen Schriften
feine Stelle bekannt, in der er in philofophijcher Weife die Viel⸗
heit der Welt in ihrem zeitlichen Berlauf aus der Ewigkeit, Un⸗
veränderlichfeit, Einheit und Abjolutheit ihres. Urhebers herzuleiten
verfucht hätte. Es ergiebt ſich mithin bei aller Verjchiedenheit in
der Auffaffung des religiös DBedeutfamen und des bibliih Zen⸗
tralen bei Luther und Zwingli doch aud wiederum im Prinzip
eine Verwandtſchaft der Geiftesrichtung; ift jene Verfchiedenheit in
Luthers kritifcher Bemerkung über Zwinglis in Marburg gehaltene
Predigt de providentia Dei hervorgetreten, fo zeigt doch noch die
chriftliche Umarbeitung und Erweiterung ber leßteren deutlich, daß
auh bei dem Züricher Neformator nicht philoſophiſche, fondern
1) (quis = quibus, Zwinglis Randbemerfung.
Initia Zwinglii. 645
religiöje Intereſſen die Ausschlag gebenden waren, und daß die
Bibel als abfolute Autorität allen Ernftes aufrecht gehalten wurde.
Wenn Picus im Verlauf feiner Schrift die göttliche Kaufalität
auch da, wo ihrer Annahme Schwierigkeiten entgegenzuftehen
ſcheinen, feithält und rechtfertigt, wenn er zeigt, wie auch das
Schädliche in anderer Hinficht feinen Nuten habe, wie gerade in
der ungeheueren Mannigfaltigleit des Gefchehens (durch Notwen⸗
digfeit und durch Freiheit, durch NRegelmäßigfeit und durch Un
regelmäßigfeit) Gottes Güte und Weisheit ſich offenbare, wie des
einen Untergang für das andere Entftehungsurfache fei, wie die
Bosheit Anlaß gebe zur Übung der „patientia justorum * und
zur Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit in Lohn und Strafe,
wie überhaupt Gott Böſes nicht geſchehen laſſe, ohne ein größeres
Gutes daraus hervorzubringen ?), wie aljo diejenigen, welche den
Schöpfer anflagen möchten, daß er dem Menſchen Erkenntnis des
Böſen gewährt, beachten follten: cognitionem hominis ex boni
pariterque mali cognitione perfectiorem evadere, wie ferner
Gott für jedes Geſchöpf nad) feiner Art forge, in der mannig»
faltigften Weife die inftinktiven Xriebe zur Selbfterhaltung den
febendigen Weſen einpflanze und dem Menfchen, deſſen leibliche
Natur allerdings im Verhältnis zu feiner Würde ſchwach und ge-
brechlich fei, in der Intelligenz und der Kunftfertigleit der Hände
um fo größere und wertvollere Vorzüge verliehen habe, wie end⸗
lich die fcheinbare Ungerechtigkeit des Schickſals der Gerechten fich
im Jenſeits als gnädige Läuterung oder Prüfung zur Erlangung
einer hohen Seligfeit enthüllen werde ?), fo dag man mit Plotin
1) Wie das gemeint ift, erhellt deutlih aus einer aus Plotin citierten,
von Zwingli unterftrichenen Stelle: artificem rationem malis, 'postquam
facta sunt, uti opportune, maximaeque esse potestatis bene malis
uti (fol. 32).
2) Illos, qui bene agunt et patiuntur adversa, vel, ut eorum minima
delicta purgentur, Deus affligit in hac vita, ut nihil restet impuri, quin
statim admittantur ad eam patriam, in qua nihil coinquinatum in-
troibit, aut, si purgatione non egent, majore certe praemio non egere non
possunt, quo potiuntur, qui sanctissime viventes aequo animo adversa
pertulerint. Die Stelle ift unterftrichen; man beachte auch das „statim“.
644 Ufer
fagen fünne: nec malo bonum accidere nec bono contingere
malum, und mit Yuguftin: multa Deus denegat propitius
quae concedat iratus, — fo begreift man das Intereſſe, mit
dem Zwingli folchen Ausführungen folgte. Ja man begegnet auch
fon feiner jpäteren Lieblingslehre in dem von ihm ebenfalls
unterftrihenen Sag: Nec vas testaceum figuli artem culpare
merito potest. Aber diefe Wahrheit, daß der Menfh nur wie
der Thon in bes Töpfers Hand, ift nun bier nit im ftreng
prädeftinatianifhen Sinn gemeint, und es find auch feine
Anzeichen vorhanden, daß Zwingli fie jo früh fchen in diefem
Sinne ursierte. Zwar erklärt Picus alles Stehenbleiben bei den
causae seeundse als ungenügend, und als eine Mittelurfache gift
ihm natürlich auch die menjchliche Freiheit. Dennoch behauptet er,
die Willensfreiheit fei nicht genug zu loben, fie beftehe vermöge
der Providenz und mache den Menſchen dem freien Gott ähnlich.
Und er bemüht fi} (Fol. 30), fie zu beweiſen. Zwingli hat fich
den Ort dur die Randbemerkung markiert: libertas arbitrü
probatur. „Quare si erit, quod Deus praevidet, quod
Deus absolute voluit, nostra voluntas erit libera, et nostra
pariter opera, quae de illa procedunt, libera judicabuntur,
quoniam ita esse et praevidit Deus et voluit“. Die prae-
destinatio wird genannt causa gratiae, nicht aber gleicherweiſe
auch die reprobatio causa culpae, fondern nur causa poenae
quae culpae ei respondet quam rationalis natura libere6
incurrit arbitrio. ‘Die reprobatio ift die permissio, ut
aliqua decidant ab ipso fine ipsaque salute (Fol. 27). Picus
ſucht alfo das Problem durch Unterfcheidung von praevidere und
praedestinare zu löjen; ein praedestinare als göttlihe Urs
willenslaujalität findet nur für das Gnadenleben ſtatt; und es ift
wenigſtens feine Spur vorhanden, daß Zwingli an diefem Löfunge»
verfuh Kritik geübt. Es find im Gegenteil bis in die eriten
Zürther Jahre hinein, wie ſich noch zeigen wird, vwerfchtedene Ans
zeichen vorhanden, daB unfer Neformator zwar mit fteigendem In⸗
tereffe mit dem Problem ſich befaßt, daß er aber die fpätere Leug⸗
nung der Willensfreiheit noch längere Zeit nicht als die. unner-
meidliche Konfequenz angefehen hat. Diefer Eindruck, der ich aus
Initfa Zwinglii. 045
meinen Quellen erhalten habe, wird übrigend durch Zwinglis
eigenes jpäteres Geftänbnis in de providentia Dei (Opp. IV,
pag. 113) beftätigt: Thomae Aquinatis (modo recte memine-
rim ejus philesophiae) de praedestinatione sententia talis
fuit: Deum, quum universa videat, antequam fiant, hominem
praedestinare tum scilicet, quum per sapientiam viderit,
qualis futerus sit. Quae mihi sententia, ut olim scholas
colenti placuit, ita illas deserenti et divinorum oratulorum
puritati adhaerenti (vgl. m. Feſtſchrift ©. 82 Anm.) maxime
displicuit.
Wohl auh Im Sinne des Vorausſehens ımd eines daranfhin
gefaßten Natfchluffes ift es zu verfiehen, wenn Picus der Mei«
nung Gregors zuftimmt: obtineri nequaquam posse, quae prae-
destinata non sunt, sed quae sancti viri orando efficiunt,
ita esse praedestmata, ut eorum precibus impetrentur; und
wie wenig fataliftifch, wie durchans religiös vielmehr fein Deter«
minismus ift, wie er den göttlichen Natfchluß als in der orga⸗
niſchen Einheit und Ganzheit der religiöfen Lebensäußerungen, nicht
ober: als durch eine anßerhalb des Menfchen Tiegende Schickſals⸗
macht ſich vollziehend denkt, zeigt das aus Salluſt beigezogene
Dictum des Cato: Agendo bene consulendo prospere omnia
eedunt; ubi secordiae te atque ignaviae tradideris, nequid-
quam deos impiores: irati infestique sunt; und man vers
wundert ſich allerdings nicht, daß Zwingli gerade auch dieſe Stelle
unterftrihen, wenn man an ben religiöfen Charakter denkt, den
fein Determinismus ftet8 beibehalten.
Eine der fihönften, ebenfalls von Zwingli unterftrichenen Aus»
Führungen des Picus ift die, wie au an foldden, welche fih in
die göttliche Vorfehung nicht finden können und ihren Gefegen und
Lebensordnungen widerftreben, die ewige Gerechtigkeit gleichwohl,
zu ihrem Gericht, fich vollziehe, indem fie nicht zum Frieden ge
fangen können, fondern fich jelbft quälen, wie Auguftin gefagt:
Jussisti Domine et ita est, ut omnis inordinatus animus
git poena sibi, quo item autore didicimus, eum, qui est na-
turae creator optimus, justissimum esse ordinatorem mala-
rum voluntatum, quae cum bonis naturis utantur male,
646 Ufteri
ipsis ille, quamquam malis, utitur bene. Und endlich zeugt es
ebenfalls von dem Wert, den der Schreibende und der Unter⸗
ftreichende auf den religiöfen Glauben legen, wenn auch von fol
hen die Rede ift, die, ohne imftande zu fein, zugleich durch edle
Geſinnung und duch wiſſenſchaftliche Cinfiht (probitate simul
et doctrina) zu den Rathſchlüſſen Gottes hindurchzudringen, den⸗
noch glauben und befennen: omnia caste ab eo fieri, juste
mundum regi gubernarique.
Aus allem geht hervor, mit wie viel Intereſſe Zwingli der
Gedankenentwickelung in der um ihrer Eigentümlichfeit und großen
Seltenheit willen etwas genauer charakterifierten Schrift des Picus
minor gefolgt if. Das Studium derfelben füllt jedenfalls noch in
die Olarnerperiode; denn während Zwingli jpäter e8 liebte, griechifche
Worte an den Rand zu fohreiben, finden fi ſolche Hier nod
ganz vereinzelt, wiemwohl bei den mancherlei griechifchen, aber
regelmäßig überfjegten Citaten im Text der Schrift felber Ber-
anlafjung dazu vorhanden gewejen wäre. Verweiſungen auf das
griehifhe Neue Teitament vollends fehlen gänzlich. Der Cha-
vafter der Handfchrift ftimmt volllommen zu der frühen Zeit;
allerdings bat Zwingli nicht, wie bei andern von ihm beſeſſenen
Schriften e8 mandhmal der Fall ift, auf das Titelblatt feinen
Namen geichrieben, und in feiner SKorrefpondenz ift da8 Buch
auh nit erwähnt; allein es ift demjelben Sammelband einver-
feibt, der jene ihm dedicierte Heine Schrift des Lambertus de
Monte enthält, jo dag aljo die Authentie der Gloſſen gut beglau-
bigt ift.
Dosfelbe gilt aud) von den „Hymnen“, nur daB diefe, was
die Randbemerkungen betrifft, weniger Intereſſe bieten. Fol. 8
frappierte Zwingli eine Auseinanderjegung über verfchiedenen
Schriftſinn; man dürfe an dem buchftäblichen nicht jo fehr han-
gen, daß man ihn, auch wenn er offenbar faljch fei, doch nicht
preißzugeben fich entjchliegen könne, damit nicht die Ungläubigen
mit den göttlichen Ausfprüchen ihre Gefpött treiben und fich felbft
den Weg zum Glauben verfchließen. Das war offenbar, wie fid
noch aus vielem zeigen wird, auch in Zwinglis Augen ein rich—⸗
tiger hermeneutiſcher Grundfag; noch in feinen gedrudten Schriften
Initia Zwinglii. Sr
ift das Allegorifieren zwar mit Maß gehandhabt, aber nidht aufs
gegeben. — Anläßlich des Namens ‚‚divi‘“ bemerkt Picus Fol.
22: nec vulgus abhorret literatorum ab hac nuncupatione
vivis nostri temporis principibus et divitibus attribuenda,
quod sane recte factum minime videri debet. Wenn Zwingli
fi) bewogen fühlte, diefe Stelle anzuftreichen, follte nicht ſchon
etwas von jenem Eifern für Gottes ungefchmälerte Ehre, das der
eigentliche Hebel feiner Reformation war, jchon etwas von jenem
erniten Widerfprud gegen den Paganismns, als Motiv zugrunde
gelegen haben? Und ift es nicht ebenfalls bemerkenswert, daß er
eine andere Stelle, wo davon die Rede, wie Apollos Orakel den
jeine Unwiſſenheit erfennenden Sofrate® als weife erklärt habe,
auch durch Anftreichen hervorhob ?
Unter den PVerehrern des Picus ift uns ſchon Joh. Ed von
Ingolftadt begegnet. Und aud ein Buch diefes fpäteren Antago»
niften der Neformatoren findet ſich noch vor unter den Überreften
der Zwingliſchen Bibliothekt. Man möchte beinahe fragen: Iſt
Saul aud unter den Propheten? Allein wenn man hört, wie
Badian auf ganz gutem Fuß mit Ed ftand, jo daß diefer ſich ihm
für die bei feinem Aufenthalt in Wien im Sommer 1515 ihm
erwiejene Freundſchaft dadurd dankbar zu beweiſen ſuchte, daß er
ihm nebit zwei anderen Gönnern, von Ingolſtadt aus, im November
folgenden Jahres die Ausgabe feiner 1509 in Freiburg gehaltenen
oratio adversus priscam et ethnicam Philosophiam widmete ?),
wenn man aus diefer Rede erfieht, wie Ed urfprünglich den Män⸗
nern des Fortjchrittes zu huldigen Miene machte, heißt es doch am
Schluß: Ex Italia, item Germania, Hispania, Anglia in dies
plures prodeunt, qui antiquis philosophis in scientia doctio-
res, in fide veriores, in vita meliores conspiciuntur, ut
verum sit illud Pici Mirandulani: Nunc non minores Ari-
stotele reperiri; hos ergo fidei christianae philosophos dili-
gamus, amplectamur, observemus atque veneremur, ut cum
eis, D. O. M. adjuvante gratia, in aeterna beatitatis sede
olim collocati, aeternis felicitatibus philosophando perfrua-
1) Wiedemanıu, Joh. Ed, ©. 481.
Uſteri
w
⸗
x vernimmt, daß a. 1517 Vadian fegar den
.aftrag, des Herzogs Wilhelms von Bayern er»
a Somuueutars zur Logik des Asiftoteles mit
ſchmeichelhaften Gedichte zierte !), wenn men endluh
de noch a. 1517 der Nüraherger Chriſtoph Scheurl hrief⸗
se Beziehungen zwifchen Luther und Ed auf freundfchaftlichem
Fuß vermittelte, und wie ſchmerzlich befremdend es für den Re
formator war, die frifhen und ſchönen Breundihaftsbande ein
Jahr nachher von Ed fo fchroff und leidenſchaftlich zerriffen zu
jehen, was ihn indes nicht Hinderte, auch jet noch in demfelben
einen Mann von großer Gelehrſamkeit, Geiſt und Scharffinn un
befangen anzuerfennen ?), dann begreift man, namentlich mit Nüd-
ficht auf die Beziehungen zu Vadian, dag defjen Freund Zwingli
in Glarus ein Wert von Ed mit Amterefie las, wenn es fich auch
nicht beftätigt, daß die drei, wie Füßli a. a. D, ©. 492 er
zählt, mit einander in Wien fäudiert. Auch von ben Heraus
gebern von Zwinglis Werfen iſt dieſe unerwiefene Nadriegt in einer
Anmerkung aufgenommen (Opp. VII, p. 94). PMerfwürdigermweife
behandelt Ecls Buch wieder dasjelbe Thema, das Zwingli wie kaum
ein anderes von fräh an beichäftigte: die Prübeftination. Das
Wert, betitelt Chrysopassus oder VI Centuriae de praedesti-
natione, Augsburg 1514 °), findet fig in einem Sammelband
fehr Disparaten Inhalts; denn der Band beginnt mit dem ins
Lateinifche überfegten Kommentar des Cyrill von Alerandria zum
Evangelium Johannes, und auf dem Titelblatt des legteren hat
Zwingli fi als Eigentümer verzeichnet. Diefen Kommentar be
faß er nach Opp. VIL, p. 14 fon: zu Anfang des Jahres 1516,
und damals ungefähr muß er auch das Werk von. Ed ftubiert
ı) Eckius ut reliquos superat doctrina animoque
Scriptorumgae legit pervigil onmo gewus, -
Sic nemo officium sinceri. infarpretis illi.
Eripit, haud faciles scit reserare locos,
Scit media immersum caligine prendere verum,
Et claram obscuris reddere mce diem.
3) Köftlin, Luthers Leben I, 142. 185. (1. Aufl.)
8) Über das Bibliographie f. Wiedemann a. a. O., ©. 453 ff.
Initia Zwinglii. 68
haben, früher jedenfall nicht, da fi) irgendwo am Rand ei,
Citat aus dem griechiichen Neuen Teſtament von feiner Hand
findet.
Ein Verzeihnis nennt ung nach der Vorrede die Namen all
der Theologen, deren Meinungen über die Prädeftination unterfucht
werden. Eck ſelbſt vertritt den jenripelagianifchen Standpunft der
Scholaſtik und. zeigt fich im übrigen als einen treuen und gehor-
famen Sohn der römiſchen Kirche: In his omnibus subjicio me
sanctae matri eeclesiae et ejus praesuli maximo !). Abge⸗
fehen von der Hauptfrage find in dem Buch nocd, verfchiedene
Probleme berührt, die Zwingli interejfieren mußten, 3. B. ber
Streit, welde Strafe ungetauft verftorbene Kinder treffe. Cd
nahm hiex eine vermittelnde Stellung ein, er behauptete, daß fie
weber mit ber poema damni, nod) poena semaus beftsaft würden,
fondern eine mittlere Gattung von Pein zu leiden hätten. Mean
kann ſich's nicht anders denken, als daß jede Milderung des augufti-
nischen Dogmas auf Zwingli Eindrud machen mußte, da der
MWideripruc gegen dasjelbe, wiewohl in einer die Frage noch offen
lafjenden, zurücdhaltenden Form, nad) gegnerifhem und nach feinem
eigenen Zeugnis zu ben fräheften Angriffspuntten feiner angehen-
den reformatorischen Predigt zu Zürich gehörte ?). Auch fein In⸗
terefje an einer von Ed erwähnten Bemerlung des Scotus über
die Möglichkeit einer redemptio in inferno hat er burch eine
Notiz am Rande beyeugt.
Was nun aber den Geſamteindruck betrifft, dem. das Buch auf
unfern Zwingli machte ®), jo fcheint derfelbe, nach den allerdings:
nicht zahlreichen Randgloffen zu fchließen, wenigitens: fein durchweg
1) Cent. I, No. LXXXVIII.
3) Eine Stelle des Anguflin, die deſſen Lehre ſehr beſtimmt zum Ausdruck
bringt, und die er in der Hieronymus-Ausgabe des Erasmus (Tom. II, p. 142)
and, hat er fich angeftrichen, jedenfalls doch ein Zeichen, daß bie Frage ihm zu
denken gab; es finden fich fonft dort durch viele Seiten hindurch Ieine Notizen
von feiner Hanb.
8) Es foheint fich auch bei Luther eine iconifche Anfpielung darauf vorzu⸗
finden: Walch, Luthers Werte XV, 1603. Jedenfalls berief ſich Ed in. der
Leipziger Disputation daramf, S. 1309.
(48 Uferi
mur, wenn man veruimmt, daß a. 1517 Vadian fegar den
Schuß des im Auftrag des Herzogs Wilhelm von Bayern er⸗
fchienenen Eck'ſchen Sommentars zur Logik des Ariſtoteles mit
einem ſehr fchmeichelhaften Gedichte zierte !), wenn mas endlich
weiß, wie noch a. 1517 der Nüraherger Chriftoph Scheurl brief-
liche Beziehungen zwiſchen Luther und Ed auf freundjchaftlichen
Tuß vermittelte, und wie ſchmerzlich befremdend es für den Ye
formator war, die frifchen und fchönen Freundſchaftsbande ein
Jahr nachher von Ed fo fchroff und leidenschaftlich zerrifien zu
fehen, was ihm indes nicht hinderte, auch jest noch in demfelben
einen Mann von großer Gelehrſamkeit, Geift und Scharffinn un
befangen anzuerfennen ?), dann begreift man, namentlich mit Rück⸗
ficht auf die Beziehungen zu Vadian, dag defjen Freund Zwingli
in Glarus ein Wert von Ed mit Ipmtereife las, wenn es fich auch
nicht beftätigt, daß die drei, wie Füßli a. a. DO, ©. 492 er
zählt, mit einander in Wien fäubdiert. Auch von ben Heraus⸗
gebern. von Zwinglis Werken ift dieſe umerwiefene Nachricht in, einer
Anmerkung aufgenommen (Opp. VII, p. 94). Merkwürdigerweife
behandelt Eds Buch wieber dasjelbe Thema, das Zwingli wie kaum.
ein anderes von früh an beichäftigte: die Prädeſtination. Das
Werk, betitelt Chrysopassus oder VI Centuriae de praedesti-
natione, Augsburg 1514 °), findet fig in einem Sammelband
ſehr disparaten Inhalts; denn der Band beginnt mit dem ins
Lateinifche überjegten Sommmentar des Cyrill, von Alexandria zum
Evangelium Johannes, und auf dem Titelblatt des letzteren hat
Zwingli fi als Eigentümer verzeichnet. Diefen Kommentar bes
faß er nach Opp. VIL, p. 14 fon: zu Anfang des (Jahres 1516,
und damals ungefähr muß er. auch das Werk von. Eck ftubient-
ı) Eckius ut reliquos superat doctrina animoque
Scriptorumgae legit. pervigil onmo gemwas, :
Sic nemo officium sinceri. inferpretis illi
Eripit, haud faciles scit reserare locos,
Scit media immersum caligine prendere verum,
Et claram obscuris reddere- lace diem.
3) Köftlin, Luthers Leben I, 142. 185. (1. Aufl.)
s) Über das Bibliographie |. Wiedemann a. a. DO, ©. 458 ff.
Initia Zwinglii. 649
haben, früher jedenfall nicht, da fi) irgendwo am Rand ein
Citat aus dem griechiſchen Neuen Teftament von feiner Hand
findet.
Ein Verzeichnis neunt uns nad) der Vorrede die Namen all
der Theologen, deren Meinungen über die Prädeftination unterjucht
werden. Ed felbjt vertritt den fenzipelagianiihen Standpunkt der
Scholaſtik und zeigt fich im übrigen als einen treuen und gehor-
famen Sohn ber römiſchen Fire: In his ommibus subjicio me
sanctae matri eetlesiae et ejus praesuli maximo ?!). Abge⸗
fehen von der Hauptfrage find in dem Buch noch verjchiedene
Brobleme berüßrt, die Zwingli interejfieren mußten, z. B. ber
Streit, melde Strafe ungetauft verftorbene Kinder treffe. Cd
nahm hier eine vermittelnde Stellung ein, er behauptete, daß fie
weder mit ber poema damni, noch poena semaus beftsaft würden,
fondern eine mittlere Gattung von Pein zu leiden hätten. Man
ann fich’s nicht anders denken, als daß jede Milderung des auguſti⸗
nischen Dogmas auf Zwingli Eindrud machen mußte, da der
Miderjpruch gegen dasfelbe, wiewohl in einer die Frage noch offen
Taffenden, zurüdhaltenden Form, nach gegnerifhem und nach feinem
eigenen Zeugnis zu den fräheften Angriffspuntten feiner angehen»
den reformatorischen Predigt zu Zürich gehörte 2). Auch fein In⸗
terefje an einer von Ed erwähnten Bemerlung des Scotus über
die Mögfichkeit einer redemptio in inferno hat er durd eine
Notiz am Rande bezeugt.
Was nun aber deu Geſamteindruck betrifft, dem. das Buch auf
unfern Zwingli machte ®), fo jcheint derfelbe, nach den allerdings:
nicht zahlreichen Randgloſſen zu fchließen, wenigftens- fein durchweg,
1) Cent. I, No. LXXXVII. |
a) Eine Stelle des Anguftin, die deſſen Lehre ſehr beftiimmt zum Ausdruck
dringt, und die er in der Hieronymus-Ausgabe des Erasmus (Tom. II, p. 142)
and, hat er fich angeftrichen, jedenfalls doch ein Zeichen, daß bie Frage ihm zu
denken gab; es finden fich fonft dort durch viele Seiten hindurch keine Notizen
vqun feiner Hand.
8) Es foheint ſich auch bei Luther eine ironiſche Anfpielung darauf vorzu⸗
finden: Walch, Luthers Werke XV, 1603. Jedenfalls berief ſich Ed in der
Leipziger Disputation baramf, S. 1309.
650 Ufteri
günftiger geweſen zu fein. Nicht zwar, daß der ſemipelagianiſche
Geift im Prinzip ihm widerſtrebt Hätte, davon findet fih auch
hier feine deutliche Spur, wenn ſchon, wie fih noch zeigen wird,
eine Mißbilligung des lohnſüchtigen, auf Verdienfterwerbung ſpe⸗
fulierenden Weſens an verfchiedenen Stellen durchzublicken fcheint.
Hingegen forrigiert er Verftöße gegen die Logik, fchreibt zu einer
eigentlich unnötigen, weil tautologifchen Widerlegung: utinam hic
cartae igitur pepercisses! Der gute Gefhmad des Huma⸗
niften empört fich gegen die Mißhandlung der Schriftftelle: Adam
ift geworden wie unjer einer! es wird nämlich daraus gefolgert;
(Cent. V, LXVD: Gott könne in wumneigentlihem Sinne auch
Falſches ausfagen! nun iſt am Rand die launige Bemerkung zu
leſen: Eho bone Erasme aures obtunde ne quod in sacris
literis amoenissimum dictum suspicimus tam sophistice trac-
tari audias!
Die Löfung des Problems verfuht auch Ed durch Unterjcheis
dung zwijchen praescientia und praedestinatio, feßtere als das
posterius betradhtend, und in dem „prae‘ erblidt er eine bie
Überzeitlichleit und Freiheit der göttlichen Ratſchlüſſe beeinträch⸗
tigende Inadäquatheit der Vorftellung ). Beltimmt behauptet er
mit Bezug auf die guten Werke einen Synergismus, und. ber
Grad der Verdienftlichkeit hängt ihm ab von der größeren oder
geringeren Anjtrengung des freien Willens; er beruft fih u. a.
auf Ambrofius, der da fage: & liberis voluntatibus, quas uti-
que fuit bonum liberas fieri, spontanea est orta trans-
gressio, und der auch die verdienftlichen Werfe, nad) denen die
Frommen gekrönt werden, auf einen durch die unverdiente Ermwäh-
[ung begründeten Concursus göttliher und menfhlider Thä—⸗
tigfeit zurückführe, implendae voluntatis Dei ita praeordinatus
effectus, ut per operum laborem, per instantiam supplica-
1) Daß dies prae auch für Zwinglis noch nicht zum abfofuten Determinis-
mus ausgebildete Denkweiſe gleichwohl kein Anftoß war, beweiſt eine Randglofſe
von feiner Sand im Psalterium quincuplex des Faber Stabulcucis (ed. 1508):
futura enim vel contingenter vel necessario deo tum sunt certa et prae-
sentia quam nobis praeterita qua mutari non possunt. — Ein „contingens“
anerfannte Zwingli fpäter nicht mehr Opp. IV, p. 98.
Initia Zeinglii. | Mi
tionum, por exereitium virtutum fiant incrementa merite-
zum ?)). Hat Zwingli ſich dieſe Ausſagen angeſtrichen, letztere
mit einem hamiſchen, wohl eben auf jenen lohnſüchtigen Geiſt ger
müngten Seitenhieb gegen Eck: en ſolle nicht auch ante Ohren mit
ſo frivolem Zeug übertäuben2), fo perfehlte anf her anderen Seite
doch auch ain Eitat aus Auguftin nicht, auf ihn Eindruck au
machen), wo den, bay Feiner Verdieuſte ſich rühmen Saum, dar
Relurs zur nahe offen geloſſen wich, und wo her Marnung mar
Verzweiflung und der Aufmunterung zu gegenfeitiger Ermahrung
und Furbitte und zu nemltiger Beugung unter Gottes Pillen
der Traft ſich beijgeſellt; Apsins arit potostatis, judieinm in nor
bis debitum wufare damnationis et gratiam praadestine-
tionis indehitam prorogere, Much an einem anderen Dr,
wo Ed ſchulmeiſtext, a gebe ein zwiefaches Merhaften Gaottas mit
Hezug auf ben Menſchen: velle gloriam „der mibäl velle d, i,
am velle gloriam (mie Ed jelbft es interpretiert), da kann ſich
wor Zwinglis Randhemerkung; „anad ber win Bar“ auf den
Tan der Grörterung beziehen, fie Tann aber auch unter Anſpie⸗
ſlung anf Mia. 3, 23, 24 und Math, 18, 26f. dem Inhalt
gelten und beiagen wollen, es gebe doch nach ein dritten, nämlich
Gnade!
Fin ſchines Zeugnis endlich für die Gefinnung, mit welcher
Zwingli ſolche tiefen Prohleme unterſucht willen wollte, iſt das
Auſtreichen einer den Schreiber ſelbſt ehrenden Stelle am Anfang,
I) Ambrogius de roqationoa geatinm, Lab. III. Juf Ambrofins be⸗
rieſen ſich freilich in der Leipziger Diepptalien (Wald XV, 1939 ff.) fawohl
Gt als Kariſtadt, wie dann im der That hei ihm verſchiedene dogmatiſche gr
ſichtapuntte nicht zur Haren Einheit durchgearheitet find, Vgl. guch Myſq⸗
nins bei Zw. Opp. VII, 177. Bon Verxdienſt ſprach allerdings rin Zwingli
ſpater nicht wich, aber hie ethiſche Willensberhätigung ließ ex, Io wenig glß eig
Abrous, hei Dar Gnadenlehre zu Kurz Kommen.
3) Diefe gerade jehr intereffierende Glofſe ift leider durd; den Buchbinder,
des has Buch ſtaxk am Rande heſchnitten, verſtümmelt morbex, mb es find
nr Sofguabe Horte uud Bucflahen deuflich lashaz; de his uns am... -
werbis arbitr, ,.. Ucki docte ai (ober ti)... et honas aures tam frivolis
4% 8.
A) Kant. IV.
Theol. Stud. Yabrg. 1885. 42
652 Uferi
beren Eindrud leider nur durd den ſonſt genugjam bekannten
Charafter Ecks einigermaßen abgefhwädt wird; denn wirklich
Ihöne Worte find «8, wie er da für folche Unterfuchungen eine
demütige, betende Haltung als das Haupterfordernis erffärt,
diefe vorausgefegt aber nichts Gott Mißfälliges darin erblicken
kann, fondern fagt: Nec quicquam formidandum est, si
non superbe, sed devote, si non curiose, sed studiose, si
non per ambitionem, sed cum affect usapientiam petamus
a Deo etc.)
ft die vorläufige Belanntichaft Zwinglis mit Ed, dem fiho-
faftifchen Theologen, mehr im Hinblid auf die fpäteren polemifchen
Beziehungen als wegen eines doc kaum denkbaren, tiefergehenden
Einfluffes von Intereſſe, und verdient es vollends nur flüchtige
Erwähnung, daß Zwingli auch einen Kommentar zu den Sen-
tenzen bes Petrus Lombardus bejeffen und gegen das Ende der
- Ölarnerperiode gelefen, deijen Verfaffer, einem gewifien Paulus
Cortesius, protonotarias apostolicus, Rhenan in dem von ihm
gefchriebenen Vorwort das Lob erteilt, daß er durch Eleganz des
Stils, Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit in der Mitteilung der
verfchiedenften theologifhen Anfichten, verbunden mit Kürze und
Bündigkeit der Darftellung, das Intereſſe der Studierenden aufs
beite gefördert und fih um die Befreiung der Theologie von der
Barbarei und um die Läuterung der thbeologifchen Litteratur vor⸗
züglich verdient gemacht Habe 2), — fo fcheint hingegen die Be-
1) In diefee Geſinnung Hat Zwingli in feiner Abfchrift der paulinifchen
Briefe zu Röm. 9, 20 ſich eine Stelle aus Origenes an den Hand notiert,
wo diefer fagt: Als Daniel fich geiehnt, den Willen Gottes zu erkennen, wes⸗
halb er auch ein vir desideriorum Heißt, da ſei nicht zu ihm gejagt wor⸗
den: Wer bift du, der du mit Gott rechteft? fondern ein Engel ſei zu
ihm gefandt worden, der ihn über alles belehrie: nos ergo si desiderio-
rum, non contentionum viri sumus, fideliter et humiliter judicia Dei
requiramus.
2) Conrad Geßner urteilt in feiner Bibliotheca Universalis (ed. 1545)
von diefem Werl: Eloquentiam cum theologia conjunxit. Diefer Vorzug
mag denn auch in Zwinglis Augen e8 empfohlen haben. Es erichten zu Baſel
bei Joh. Sroben 1513. — Unterftrichen ift wenig, u. a. in der Einleitung eine
Berherrlihung der Scolaftit und eine Abfertigung der antifen Philoſophen,
Initia Zwingli. 668
fhäftigung mit dem im gleichen Sammelband befindlichen, von
Zwingli, wie aus der Nichtberüdfichtigung des neuteftamentlichen
Grundtertes zu erfchließen, wohl in Glarus fchon ftudierten Kom⸗
mentar des Eyrill von Alerandria zum Evangelium Johannes,
dee großen Zahl und dem intereffanten Inhalt der Marginalien
nach, eine fehr eingehende geweien zu fein. Doch führt uns diefe
nun Schon in den Bereich der- jet immer mehr in den Vorder⸗
grund tretenden, an Hand verfchiedener Kommentare gründlichft
betriebenen Bibelftudien, deren Schwerpunkt in die ftillen Jahre
de8 Sammelns in Einfiedeln fällt, und deren Vertiefung bei nie
wieder erkaltendem Eifer und bei emfiger Wortfegung in Zürich
immer erfreulichere Refultate zutage förderte. Für eine zufammens
faffende Darftellung und Würdigung ber in diefen Kommentaren
zerfireuten Spuren zwinglifcher Geiftesarbeit und Meinungs⸗
äußerung empfiehlt fich aber eine von der bisherigen verfchiedene
Behandlungsweife des Stoffes. Eine Beiprehung der Eindrüde,
die Zwingli beim Studium folder Auslegungsjchriften empfangen
und in Nandgloffen oder anderen handſchriftlichen Merkzeichen
niedergelegt, mit einem Durchgehen diefer Schriften felber der
Reihe nad) zu verbinden, hätte nämlich nur dam Wert, wenn
eine Verfolgung diefer Studien nad ihrer cdhronologifchen Auf⸗
einanderfolge und eine Kontrollierung der allmählichen Ausbildung
von Zwinglis Anſichten und Einfichten innerhalb der in Frage
ftehenden Lehrjahre im einzelnen möglich wäre. Allein unfer Res
jultat wird mehr auf eine Charakteriftit feiner in dieſem Zeit
raum zuftande gelommenen Geiftes» und Gedankenrichtung als
auf einen Einzelnachweis der Tortjchritte im theologifhen Er⸗
fennen und in der Entfaltung der religiöfen Gefinnung hinaus⸗
laufen, wobei immerhin da, wo deutliche Spuren vorhanden find,
auf Wandlungen und Wendepunfte aufmerfjam gemacht werben
kann.
Doch ehe auf den Ertrag der die Einſiedlerjahre ausfüllenden
von denen nur Plato und Ariſtoteles einigermaßen Guade finden, während
Empebofles und Demokrit als aureae philosophorum pecudes bezeichnet
werden.
423 ®R
Bi Uferi
Bibelitudien im Zuſammenhang eingetreten werden kann, muß der
Kinfluß eines Mannes, zu dem Zwingli wie zu feinem anderen
in dieſer frühen Zeit als zu feinem Lehrer und Meiſter empor-
ſchaute, amd defſen Arbeiten er mit der größten Bewunderung und
dem Iebhafteften Intereſſe werfolgte, einkähliher, als es man den
bisherigen Biographen geſchah, ins Licht geftellt werden, um jo
mehr a dieſer Einfluß ſicher in Die Blaruer«- Periode zurückgeht ?).
Ein ausdräckliches Zeugnis, was für Eindrücke und Erlen
niſſe Zwingli dem Krasums ſchon in dieſer frühen Zeit verdanlte,
haben wir änbeffen nur — und zwar aus jeiner eigenen Teber ?) —
für ein kleines epaungeliſches Gedicht des au der erbaulichen
Sprache mächtigen Gelehrten, nämlich für die Expostalatio Jesu
ad hominem suapte culpa pereuntem. Welch gute Stätte ber
gemütstiefe Ton und bie herzbewegliche chriftliche Einfalt dieſer
dem Heiland in den Mund gelsgtem, erujten Ringe ia Der jugend»
lichen Seele des Reformators gefunden, ift von den bifherigen
Biographen und auch bas wir in weinen Fefſſchrift) hinreichend
ns Licht gefiel Beben dieſen Kindrlicken kiefengeender Bint
mochte Freilich zur Zeit mod Die feine Satire und die Eleganz bes
Wusbruds in amberen Prebulten des Humesiften mindeſtens ehenſo
großes Wohlgefalen bei Zwingli ermgen; deun er ſichreibt nach
feiner Rücklehr om Baſtel dem wencheten Freund: „Mir war's,
ba ih Deine Schritten Ins, als ob ad) Dich zeden hörte und
1) Schon Zäger, der Regenjent der Sigwartſchen Schrift über Zwinglis
Eigftem in ben Eins. und Rıit. 1856, ©. 708, hat die Wuſchbarkeit einer
eingehenden Untexſuchung bes. Berhältuifges Zwinglis zu Eracanus betant. Gise
forgfältige Darftellung der in mancher Hinſicht bahnbrechenden Bedeutung dieſes
Iegteren für die Reformation mit fpezieller und durchgängiger Berüdfichtiguung
ber Beziehungen zu Zwingli habe I in meiner Schrift: „BZwingli und Eras-
mus", eine eiormatiragefähichticche Studie. (Ergämzende Beigabe zu meiner
Feſtſchrift über Zwingli). Züri, Höhe 1885 — zu geben verfucht, wechulb
ich mir erlaube, mich hier unter Veglafſung des iorziell dan Mragmmıs und
feine Dentweife Charakterifierenden auf das unmittelbar zum Thema diefer Ab-
handlung Gehörige zu beichränken.
2) Onp- I, p. 298. f
3) ©. 96.94. "Bin Mustang dieſes Gedichtes im ıbex Überſetzuug Læo
Judae’s ift in der Schrift: „Zwingli und Erasmus“, S. 8 mitgeteilt.
Initia Zwinglü. ws
Deine feine, aber zierlihe Gefialt aufe gefälligſte fich bewegen
ſaͤhe. Denn ohne Schmeidelei, Du bift mein Geliebter, mit wel⸗
hen ih mic unterhaften muß, che ich einfchlafe.“ Es begegnet
ans eben bier wieder die mehrfach zu machende Wahrnefmung,
daß Zwingli die Samentörmer, die für feine religiäfe Entwickelung,
wie er erſt fpüter erfannte, beſonders fruchtbringend wurden, fo
rachdrücklich gelegentlich hervorhebt, daß ihr langes Schlummern
in der Tiefe feiner Seele und ihr zeitweiliges Zurücktreten hinter
anderweitigen geiftigen Einflüſſen leicht überfehen werden kann. Es
Mt ja mit jener in die frühefte Studienzeit fallenden Wyttendach⸗
fihen Anregung im Grunde nicht anders, und ähnlich verhält es
fi auch mit feinem Entſchluß, fich ausſchließlich an die h. Schrift
zu halten und nur diefe zu predigen, wie er im nad feiner
eigenen Ausſage im Jahre 1516 gefaßt, und worauf er ben An»
fang feiner Verfiindigung des Evangeliums fehr beftimmt und au
mehr a8 einer Stelle feiner Schriften zurückſührt )). Zwingli
war damit an die rechte Quelle gelommen, und jede aus der
Schrift gefhöpfte Erkenntnis war ein Samenlorn, das nicht wieder
verloren ging, ſondern weiter Frucht trug, ihn Immer tiefer ins
Berftandnis unb ins Erleben des eigentlichen Evangeliums, wie er
es übereinftimmernd mit Luther fpäter erfaßte, hineinführte und altes
Heterogene, was anfänglic die Wahrheit in feiner Seele noch ver
dumkelte, nad) und nach ausfhid. Denn daß er in Einfie-
dein bie evangelifche Heilslehre auch theoretiſch no
nicht in ihrer Reinheit erfaßt hat, fondern dort nur
die Quelle entbedte, aus weldher ſchöpfend er nun
niht mehr irren konnte, fondbern von Licht zu Licht
vorwärts fchreiten mußte, das wird fih im Verlauf
diefer Befprehung noch ergeben?)
Die Queilen, aus denen weine Darſtellung vornehmlich jchöpft,
ſind nım leider gende mit Bezug auf Erasmms nicht fo ergiebig,
9 S. meine Feſtfchrift ©. 331.
2) Zum gleichen Refuftat kommt auch ohne Eenntnis anderer als der ge⸗
druckten Quellen, aber mit richttgem divinatoriſchen Blick urkekkend Dr. Meol.
N m Bien In: Urich Zwingli, Bortröge, Gotha fbei Perthes)
1884.
656 uſteri
wie man wünſchen würde. Das griechiſche Neue Teſtament mit
Anmerkungen ift aus Zwinglis Beſitz zwar in zweiter Auflage auf
und gelommen, ebenfo mehrere feiner Paraphrafen, ſodann aus
dem Jahr 1515 das Encomion moriae, bie Verteidigungsfchrift
an Martin Dorpe und die Sprichwörterſammlung (Proverbio-
rum chiliades).. Es iſt auch mit Sicherheit anzunehmen, daß
Zwingli damals ſchon das noch früher erfchienene- Enchiridion
militis christiani gelefen, um fo mehr, ba neben der aus dem
Jahre 1519 ftammenden Ausgabe mit dem vorgebruckten, interef-
fanten Schreiben an ben Abt Volz noch eine frübere aus dem
Fahr 1515 aus feinem Befig vorhanden tft. Dies erbauliche
Handbuch voll tiefen religiöfen Ernftes !), daraus man den Ver⸗
faffer von einer überrafchenden Seite, nämlich als begabten aske⸗
tischen Schriftfteller kennen lernt, konnte nicht - verfehlen, unferen
Zwingli in chriftlich-biblifcher, ob auch nicht über die reinere alte
Theologie binausfchreitender Erkenntnis, fowie in geiftlichem Leben
und Heiligungsftreben wesentlich zn fördern. — Diefe ſämtlichen
Schriften de8 Erasmus nun, zu denen, abgefehen von einigen klei⸗
neren und unbebeutenderen aus dem erften Züricher Jahr nur noch
die Paraclesis, id est: adhortatio ad sanctissimum et salu-
berrimum Christianae philosophise studium und die Ratio
seu compendium verae theologiae?) — Hinzulommen, ent-
halten mit Ausnahme der Sprihwörterfammlung beinahe teine
handfchriftlichen Einträge. Deffenungeachtet ift ihr tief greifender
Einfluß auf unjeren Reformator gar nicht in Zweifel zu ziehen,
und wir können uns der Aufgabe nicht überheben, denfelben zu
ſtizzieren.
1) Heß, Erasmus J, 79 ff.
2) Für die hohe Wertſchätzung dieſer Schrift durch Zwingli findet ſich ein
ſehr prägnantes Zeugnis in: Supplement zu Zw. Opp. p. 16: Caeterum
Lutherus doctis omnibus Tiguri probatur et Erasmi compendium,
hoc vero mihi ita, ut non meminerim tam parvo libello
tantam alicubi frugem invenisse Dies Büchlein enthält eine
förmlihe Hermeneutik, und es wird darin der allegoriichen, nach den alten
DMuftern, befonder® Origenes, zu treibenden Auslegung mit Begeifterung das
Wort geredet.
Initia Zwinglii. 657
Eine fehr freimiütige und weitgehende Kritik der Bapftficche
und ihrer Theologe wurde von Erasmus namentlich in feinen
frügeren Schriften geübt, und fie konnte an Zwingli nicht ſpurlos
verübergehen.. In der Ausgabe des Hieronymus 3. B., von der
nachher noch ausführlicher wird die Rede fein, erlaubte fi) Eras⸗
mus in den Scholien fehr freimütige Äußerungen über römifches
Kirchenregiment, römifche Kirchengebräuche, Aberglauben, falfch bes
rühmte Autoritäten; von der Ohrenbeichte fagte er !), fie fet zu
des Hieronymus Zeit noch nicht üblich gewejen; an einer Stelle,
da der lettere vom „episcopus Romanus‘‘ redet ?), verfehlte
Erasmus nicht, anzumerken, es fei zu des Kirchenvaters Zeiten
noch diejer Titel und nicht der andere: „summus episcopus‘“
gebräuchlich gewejen; ferner findet fih Tom. I, fol. 6 von ihm
die Notiz: Apud veteres sacerdotes non -vocabantur nisi
episcopi et iidem presbyteri, tametsi postea presbyteri coe-
perunt a sacerdote distingui, wozu Zwingli allerdings an den
Rand fchreibt: sacerdos olim. Allein im allgemeinen findet man
bei ſolchen Stellen, die dem kritiſchen Schreiber kirchlicherfeits nicht
wenig übel genommen wurden, wenig oder gar Feine Anzeichen,
daß Zwingli bdiefelben begierig aufgegriffen; felten gewährt uns
eine feiner Gloſſen einen Einblic in die bei ihm beginnende refor⸗
matorifche Gedankenbewegung. Defjenungeachtet wird man voraus⸗
fegen dürfen, daß jene, feinem fpäteren Ideenkreis jo nahe ftehen-
den, freimmätigen Äußerungen ſchon damals, als jie ihm zuerft be-
gegneten, ihres Eindruckes nicht verfehlt; nur wird die Wirkung
weniger eine zlndende und Hinreißende als vielmehr eine in der
Stille arbeitende geweſen fein.
Hingegen Tiegt e8 außer allem Zweifel, daß jeder Hinweis auf
das Sittenverderben in der Kirche und auf die Verweltlichung des
Klerus, auf bie Verkehrung der Religion in ein äußerliches Zere⸗
monieenwejen, wie auf diejenige der Theologie in ſpitzfindige So⸗
1) Ep. ad Ocean. Schol. Hier. Opp. ed. Erasm. I, fol. 89. Rand⸗
bemerkung Zwinglis: confessio.
2) Ep. ad Innocentium de muliere septies iota, Schol. des Erasm.,
Opp. I, fol. 107.
8 Uferi
prtt, bei Zwingli Lebpaftefte Symputhie fund, Es zeugen hier⸗
für ſo viele hanbſchriftliche Merkzeichen und Noten, daß mich in
Suchern, wu ſolche überhaupt fehlen, nichtsroweniger bis unbe⸗
dingteſte Zuftinimung Meere da voruuszuſetzen tft, we um ſolche
Schäden Ins Meſſer angelegt wird !).
Mit dem Hrößten Nuchdruck macht Eraemus de Schrift als
die alleinige, lautere Quelle der chriftlichen Wahrheit geltend. Er
etipfiehlt es, Aus den „allerlauterften Brummen der Evangrliſtern
und Wpoftel und den bewähtteſten Autlegern rien kurzen In⸗
begriff der Lehre TERM: zuſcuumenzuftellen. Wir Abraham
Brumen grad und Pant bie von den Wiliſtern verfchüätteten
wieder anfgrub, Tb Mäffen auch wir nad dein lebendigen Wafſer
graben, deſſen Adern in dem Wellen Chriſtus zu finden ſind.
Dieſer iſt auch der Stein, und dem die Funfen chriftlicher ches»
indrunſt gefchlaten werden kunen. Heutzutage wocdh giebt es
Philifter, welche die Waſſeradern vbrſtbpfen, die Grabenden vers
treiden, daB Waſſer mit Kot ttübe mädken” . Su: dem Lebens⸗
(auf deß Hieronhmus, mit dem Erasmus ſeine Ausgabe der
Werte bieſes Krcheuvaters eiultitet, rihmt er bieſim nach: Ex.
evangelieis et Apustölleis Vtaris welut ex purigsimis fontibus
Christi philosopham hauriebat, wozu Zwingli in Ginſiedeln
am Rand bemetkie: Theologiu unde purissime capiatır. —
Eraßmus war auch ein lebhufter Apologet des Sprathftudiums
als des wertvollften Hilfsmittels ber Schriftföorſchum, denn ohne
Kennrnis der Sprache ſei es nicht nur thoöbicht, ſondern gerudezu
1) Das Rähere Über des Erasmus Keitil Ber kirchlichen Zuſtände ſowie
übex Zwinglis erſte Beriuche, diefelbe in Thaten umzuſetzen, in meiner Schrift:
„Zwingli und Erasmus“, wozu id; bier nur noch betreffend die Zehntenfrage
Zw. Opp. VII, 120. 121 und fir Zwinglis enbgliltige Stellung zu verfelben'
Ale Schweizer, Zwinglis Bedenrung neben Lucher, ofad. Feſteede 1884
S. 18ff., endlich berreffend die dem Reformator anfänglich gemachten Vor⸗
würfe, Hottinger⸗-Wirz, Helvet. Kirchengeſchichte IV, 176 ff., aber auch
daB Opp: I. 386 nen. über Busttplis zkonsuiſche Lage Gdapte zu ver⸗
gleichen bitte.
2) In dem MEWortebe dem Euchtribion beitgegebenen Beirf anBelz. Vyl. die
faſt wörtlich übereinflimmende Ausführung in Zw. Opp. V. 120 54.
Initia Zwinglü. 688
„impium, theulogine mysteria tractasda suscipere“ !). Mas
fine Auttegimgsprinziplen betrifft, fo haldigte er mit ber arten
Ktrde migemein dem Wllegorifieren 2), und anch darin ſchloß fich
Zwingli anfing ganz an ih und an feine Vorbilder, Origenes,
Serönymus x. er Gr Hat folgense Stelle in ber Sprich⸗
wörterfammÄnig [p. 408) angeftrichen: Qui guaerit animi pa-
bulum in arcanis hteris, serutetur sub allegerise involuero
eonditaurm mystermm. Und es blieb von ihm keineswegs unbe»
Berzigt, wus er tms Euchtridion bei. Erusmus las: Es ſeien unter
ben Schriftauslegern vornehmlich diejenigen auszuwählen, „qui &
litera tam inaxime revedmt., Cujusmodi swnt in primig
post Paulum Origenes, Ambrosius, Hieronymus, Augnstinus.
Die möndkide Fronmigkeit ſteche darum dahin, weil fie nar den
Budyfiaben treibe und Chriftum nicht höre, der de rufe: Der
@aft iſt's, der lebendig‘ macht 2c., nad) Paulum mit feinem: Das
Grſetz iſt geiftlih. Der Buchſtabt tötet). Es iſt dies ein
Sichkingsgebante des Erasmıs, auf ben er sit: zuriällomumt, und
in ihm war Zwingli das Brogramm für feine Schrift»
forſchung bentlih vorgezeichnet.
Auch eine kritiſche Haltang erlaubte ſich Eratımıs, nicht aur
gegenüber der ſogen. Traditien, indem er, was die h. Schrift
nicht entfcheidet, der frei Prüfung und Distuffion ankeintgiebt,
wicht. aur, darin: dem Hierpnymus folgend, gegenüber der Vulguta,
fonderw ebenfo gegewäber ber lirchlich ftrengen Auffafjung der In⸗
fpiratien. Gleiefulid fahr frei äußerte eu fi Über bie Authen⸗
1) Proverb. chiliades, Bas 1515, p. 225, ven Awingli angeſtrichen.
Bemerkung zu den Sprichwort: illotis manibus,
2) Das Enchiridion leiftet darin das Unglaubliche; faft der ganze ge-
ſchichtliche Stoff, namentlid des Alten Teſtamentd, wird in Megorie auf
gelöſt, Befonvers and alles ſittlich Anftößige, 3. B. Vavids Ehebruch und
Darts Inch
8) Auch Zwingli verwendete da8 Panluswort gelegentlich in ſolcher Weiſe
(Opp. VI 1, 680), obgleich ihm fein eigentlicher Sinn mwohlbelannt war (Opp.
VI 2, 194). Nicht weniger bat Luther am gleichen Bine wie Erasitus an⸗
fänglid; von dem tötenden Buchſtuben und den lebendigmachenden Weift geredet,
bis er dann fpäter entſchieden für bie vichiige — tintrut. Köflin,
Luthers Theologie I, 70.. 88 ff. 604 ff.
660 Ufteri
tizitätöfrage: Non statim dubius est in fide, qui de auctore
libri dubitat. Die Hauptjade fei, daß der 5. Geiſt vebe, nicht
durch welches Drgan er rede. Offen Bezweifelte Erasmus die
apoftolifhe Abfafjung des Hebräerbriefes, der Apolalypſe, des
zweiten Petrusbriefes, auch des Symbolum apostolicum (Opp.
IX, 8635q.). Zwingli hat num allerdings diefe Frage, in wel-
chem Umfang die Inſpiration der Schrift zu behaupten und die
kirchliche Tradition als maßgebend zu betrachten fei, niemals ex
professo erörtert; daß aber auch er. darüber nicht allzu ängſtlich
und engherzig dachte, gebt aus einer von Sigmwart a. a. OD,
©. 46 angeführten, gelegentlichen Bemerkung zu Matth. 17, 1
(Opp. VI 1, 327) und auch aus feiner freimütigen kritiſchen
Äußerung über die Apolafypfe Hervor !). Wenn er freilich mit
nicht zu wünfchen übrig laſſender Tiefe und Wahrheit von der
Beglaubigung bes Wortes Gottes fprach ?), jo kamen ihm da-
bei Abweichungen, Irrtümer und Widerfprüde in Äußerlich⸗
feiten und Nebenſachen als kleinlich und ar gar nicht in
Betracht.
Übte Erasmus eine fo weit gehende Kritik an der hergebrachten
kirchlich⸗theologiſchen Auffaffung fogar der Schrift, fo iſt e8 frei.
lich kein Wunder, daß die Scholaftit wit ihren der heibnifchen
Philofophie entnommenen Elementen, infonderheit mit ihrem Ari⸗
ftoteles, noch weniger Gnade fand. Tandem huc progressum
est, klagt er in ber Sprichwörterfammiung, und Zwingli bat. die
Stelle angeftrihen — ut in mediam theologiam totus sit re-
ceptus Aristoteles. — Sapiebant mortales et priusquam
deus istorum Aristoteles nasceretur.
Das Chriftentum jodann ift dem Erasmus weſentlich Leben
in der Nachfolge Chriſti. Die Grundlage dieſer „wahren
Philoſophie“ iſt Selbſterkenntnis °). Chriſtus ift nicht ein leeres
Wort, heißt's im Enchiridion, ſondern die Liebe, die Einfalt, die
1) Bekanntlich urteilte Luther darüber ebenſo ungünſtig, ol Köſtlin,
Theologie Luthers II, 274 ff. mit Zw. Opp. U 1,1699.
2) Zwinglis Werte im Auszug von Ufteri zc., IL, 216 ff.
5) Prov. chil., p. 168, von Zwingli angeftrichen.
Initia Zwinglii. 661
Geduld, die Reinheit, kurz alles, was er gelehrt Hat. Der Teufel
ift nichts anderes, als alles, was davon abzieht. Ganz ähnlich
Hingt die von Zwingli im Kommentar des Hieronymus zu Jeſ. 61
an ben Rand gefchriebene Definition von evangelium Dei: quod
nihil aliud est quam justitia, veritas, lux, aequitas; fehr ab»
weichend Hingegen die fpätere Begriffsbeftimmung im Commen-
tarius de vera et falsa religione *): Est evangelium, quod
in nomine Christi remittuntur peccata nad Luk. 24, 45;
und eine wefentlich andere Stelle befommt nun auch das Ethiſche,
wenn a. a. DO. p. 194 beigefügt wird: verum hac lege, ut
nova creatura simus, ut Christum induti ambulemus. Est
ergo tota christiani hominis vita poenitentia. So hat
denn Zwingli fpäter unverkennbar feine Anfchauung vom Evans
geltum im Sinn des großen Apoftels vertieft, fo gewiß er auch
anfänglich die Betrachtungsweife bes Erasmus teilte.
Wie nun Chriftus vornehmlich nad feiner zentralen Be⸗
deutung fürs chriftliche Leben von Erasmus gewürdigt wird, fo
firebt derjelbe nicht minder auch eine ethifche Vertiefung und Be:
feuchtung der von ihm im ihrer abergläubifchen Entartung ſcharf
gegeißelten Heiligen- und Neliquienverehrung an. Die beiten Re⸗
liquien der Heiligen, da8 find ihre und zur Nachahmung gegebenen
Borbilder. Es ift befannt, welch warme Sympathie diefe Ber
trachtungsweife gerade bei Zmwingli fand, und wie er früh ſchon
in Zürih die Bekämpfung des heidnifchen Heiligendienftes ſich
Bauptjächlich angelegen fein Ließ ?).
Ein Borläufer der Reformation war Erasmus auch in ber
Rehabilitation des durch das fpezififh Kirchliche
ganz in den Schatten geftellten Ehriftlih- Sozialen.
Die fpeziftih mönchiſche Frömmigkeit, bemerkt er, tft nicht echter
als die fchlichte ChHriftfichkeit, wie fie die Laien unter Fleiß und
Arbeitſamleit und allerlei bürgerlichen und häuslichen Tugenden
bethätign. Non adeo, heißt's in dem Briefe an Volz, in eo
1) Zw. Opp. IIL, 191 sq.
3) S. das Nähere in meiner. Feſtſchrift, © 98 ff, — in „Zwingli und
Erasmus“, S. 20f.
6“ uſteri
desiderabimus tria illa vota ab hominibus reperta, qui pri-
mum illud et unicum votum, quod in baptismo non homini
ged Christo nuncupavimus, sincere et pure servaverit. Und
ganz ähnlich Mint die Stelle im Zwiuglis Erſtlingsſchrift: Vom
Erkiefen der Spyien (W. I, 26 u.): Sind wir mit Chriſto ges
ftorben den Elementen, d. i. wie Chriſtus wit ſynem Tod uns
fin gemacht von allen Sünden und Weichwerben, alfo find wit
auch im Touf, d. t. im Olvuben, vom allen jUdiſchen und menſch⸗
lich erdachten Zeremonien umd erfiesten Werten erlöft, die Paulus
Elementa nennt. Nach dem Zufammenhang bat Zwingli befon⸗
ders auch die Ordensgelübde im Auge ). — In der Belämpfang
deu Edlibats, im der Windimung des humanen und biirgeriichen
Charalters der Ehe, in der Verteidigung der Eheſcheidung {ft
Erasmus ebenfalls mit Entfchiebenheit in feinen früheren und fru⸗
heiten Schriften vorangegangen.
Es zeugt ferner von ber humanen Geiftesriätung deöfelben,
daß er als Triebensapoftel bei jeder Gelegenheit den Krieg als
eine der Chriftenheit ummürbige Barbaret befämpfte ımd verur⸗
teilte. — Rein Erkurs in der Sprichwörterſanmlung enthält fo
viele von Zwingli mterftrichene Steffen wie derjenige Aber „, Duloe
dellum inexpertis“ ®). Der Krieg — bemerft er weiter — nükt
hörhftens einigen Wenigen, für das allgemeine Wohl ift er das
größte Berderben! Und ift er durch eine Beleidigung provoziert,
fo foflte man Tieber eine Wunde ungeheilt laſſen, bie nur zum
1) Wenig fpäter überiehte Leo Juadae Luthers Schrift von den
Möncdsgelübden ins Deutſche und beteiligte ſich bei jener Bittſchriſe
Zwinglis an den Biſchof von Konſtänz und an die Tagfagung um Geſtattung
ber Prieſterehe. Zw. Opp. II, 16-25. S. meine „Feſtſchrift“ ©. 39 ff.
2) Sol. 577 ff. Das Nähere f. in „Zwingli und Erasmus“ ©. 22f.
woſelbſt die bezüglichen Expeftorationen des Humaniften im Auszug mitgeteilt
find. Eraſsmus ging in feiner Abnelgang gegen jegkiche Krkiegftihrung ſoweit,
daß er Prow. Chil. p. 7%, von. ſihlechter Lelture redend, gewiffe Hiſtotien ned
verberblicher nennt als Liebesgeichichten: Ex his animus nullo praemunitus
antidoto imbibit admirationem et zelum, ut Graeci vocant, alicujus
pestilentissimi ducis, puta Julii Caesaris aut Nersis aut Alexandri
magni (1). Atgne in his ipsis quae pessima sumt (Impetus dementes)
maxime placent. Hier jchrieb Zwingli an den Rand: Audif Andi!
Initia Zwinglii. 66
Verderben des ganzen Leibes kunnte geheilt werden. Verxijührte
Rechtsgründe ſind wehllfeil (z. B. Berufung auf einſt beſeſſenes
Brbiei),. Ein gutlicher Vergleich, ab auch ‚wait Einbuße, iſt wie
bei einem Prozeß immer vorzuziehen. Manche ſchützen — heit
es da — die Verteidigung der Kirche vor, als ob nicht das
Boltk die Kirche wäre, aut quasi tota erclesiae dignitas
in sacerdotum opibus sita sit, aut quasi bellis ac stra-
gibus orta, proveeta, constabilita sis ecclesia ac non poting
aanguine tolerantiae vitaeque contemptu. — Und wenu der
Krieg nicht ganz zu permeiden, dann fallen wir Chriſten wenig⸗
tens dafür ſorgen, daß die böje Sache durch die Böſen und mi
mögüirhft wenig Blutvergießen verrichtet werde, And wir Bingegen
auch chriftliche Richeaiibung uns bewähren. Die Fürſten follen
das Beil von der Kriegsluft suridlhalten, und chun's biefe nicht,
deun ift es Pflicht der Prieiter, berupigend zu wirken. Auch
diefe Säte hat Zwingli unterftniden; und es gewinnt die Teil:
nahme, die ex ſolchen Ideen widmete, ein eigentümliches Intereſſe,
wenu man einerſeits an feine dumftlich » patzintifchen Erſtlings⸗
beftrehungen,, anderſeits dann aber auch an feinen tragiſchen Aus»
gang deut.
In den dogmatiichen Anſchauungen ift der Einfluß bes
Erasmus auf manchem Punkte ganz unverfenuber. Die Heils⸗
lehre des Paulus Hat Zwingli wohl anfäünglich nicht anders auf⸗
gefaßt als Erasmus, hei den Geſttzeswerlen dachte er au das Ze
teanoninigeleg und ſchrieb z3. B. in jeinem Paulus⸗Manuſkript zu
Gal. 2, 19: „uh bin durchs Belek dem Geſetze geitorben“, bie
Erluuterung: Per jogem »vangelieam legi literae, während er
fpäter dann in der „chriftlichen Einleitung“ (Opp. I, 555) eine
ganz andere, dem wahren Sinn des Paulus entfprechende Erflä-
rung bot 7). Auch wenn Zwingli „nach bem Weifte wandeln“
imerpretiert: „Daß Belek nach dem Geiſte halten“, jo liegt nah
jene frikhere, erasmianiſche Auffaffung zugrunde; chenſo wenn
a) Charakteiftiieh iR auch, nexglihen mit der fpäkenen Auslegung Opp.
VE 2, 12 oben, das gu Nö. 19, 4 von Zwinglis früherer Hand ange
führte Citat Joh. 17, 3.
664 Uferi
zu Röm. 9, 31 von zweierlei Geſetz redet: literae et spiritus
(vgl. die ganz andere fpätere Auslegung Opp. VI2, p. 111 oben,
wo vonuos dixasoodvng durch legis justitia wiedergegeben wird).
Dur die Darftellung in meiner Feſtſchrift ift num freilich diefer
Zeitunterfchieb und bie daran hangende Fortentwidelung der theolo-
giſchen und hriftlichen Erkenntnis verwiſcht. Es hat fich mir nämlich
erft nachträglich ergeben, daß alle jene ein tieferes Ber-
ftändnts des Baulus befundenden Noten fpäteren Da—
tums und jedenfalls niht vor dem Sommer 1519
gejhrieben find. Es ift charalteriftiih, wie Zwingli an
Stelle des bdoftrinären Gegenfates zwijchen lex literae und lex
spiritus ber viel tiefere Lebensgegenſatz zwiſchen Geſetzes⸗
gerechtigfeitöftreben, deſſen Endergebnis die abjolute Inſolvenz, und
Gnadengerechtigkeit ohne VBerdienft getreten if. Der Zeitpunkt, in
welchen dies gefchah, muß, mag derfelbe immerhin nicht mehr
genau nachgewiefen werden können, in feinem religiöfen Leben eine
Epoche gewefen fein. Denn ber Fortſchritt iſt wirklich nicht nur
ein theoretiſcher, ſondern involviert einen weſentlichen Umſchwung
im chriſtlichefrommen Bewußtſein. Ob nicht damit zu⸗
gleich auch die Abkehr von Erasmus noch in einem anderen innig
verwandten Lehrpunkt, nämlich in dem vom freien Willen,
und die entſchiedene Hinwendung zur ſtreng prädeſtinatianiſchen
Anſchauung zuſammenfiel?)
Ein Einfluß des Erasmus macht ſich ferner in der Lehre von
der Erbfünde bemerfih. Wie Zwingli diefer anfänglih an
und für fich feine verdammliche Wirkung zufchrieb, jo hatte fchon
Erasmus den ohne bie Taufe fterbenden Kindern das Heil nicht rund
1) Ich bitte zur Ergänzung das in meiner Feſtſchrift S.80 Anm. und in
„Zwingli und Erasmus“ ©. 25f. Über diefen Lehrpunkt Gefagte zu vergleichen. —
Hter fehlen chronologiſche Anhaltspunkte nicht ganz. Die Wendung kann nicht
vor Ende 1519 eingetreten fein, das zeigen Die Gloffen, aber auch jedenfalls
nicht nach 1521, das erhellt aus einer brieflichen Äußerung des Mykonius
(Opp. VH, 177). Zur Erklärung ift vor allem die Lebenserfahrung des mit
der Peſtkrankheit beginnenden und dann immer. ernfter fich geftaltenden Zeit⸗
vaumes, ferner aber auch fpäter zu beiprechender lutheriſcher Einfluß In Be⸗
tracht zu ziehen.
Initia Zwinglii. 665
abgefprochen 1). Und in der Deutung des dp’ & oder in quo
Röm. 5, 12 im neutralen Sinne fteht Zwingli ebenfall® auf
den Schultern des Erasmus, während er hingegen das Nuapzor
nicht fo beftimmt wie diefer von der altualen Sünde, fondern Lieber
noch von der allerdings ererbten und, wie er fpäter dann doch betonte,
auch verdammenden Sündenkrankheit deutete, wobei er fich freie
lich in die größten Schwierigkeiten verwidelte, indem er einerjeits
die Schuld Teugnete, anderfeits die Verdammlichkeit behauptete.
Über die Gnade und das Zurüctreten, wenn nicht gänzliche Vers
ſchwinden des Verdienftes finden fid) bei Erasmus ganz ſchöne und
erbauliche Ausſprüche, die Zwingli wenigftens in der früheren Zeit
auch religiös befriedigen fonnten. Den Scharf» und Ziefblid eines
Luther freilich vermochten fie nicht zu bienden, denn fchon 1517
ſchrieb er, die innerfte Sinnesrichtung des Mannes durchichauend:
Ich fürdte, daß er EChriftum und die Gnade Gottes nicht genug
treibe, worin er viel unmiffender ijt als Faber Stapulensis, und
ein Jahr früher noch ſprach er ſich brieflich Spalatin gegenüber
ſehr unbefriedigt über die oberflächliche Auffaffung der Geſetzes⸗
gerechtigfeit und über die Auslegung von NRöm. 5, 12 aus 9).
Luthers Urteil könnte freilich zu hart erfcheinen, wenn man damit
etwa den fchönen, von Zwingli unterftrichenen Schluß des Schreis
bens an Volz zufammenhielte: Und wenn einer gethban, was er
fonnte, fo gleiche er nicht dem Pharifüer im Gleichniß, fondern
ſage nad Ehrifti Weifung und fage e8 von Herzen, fage es fi
und nicht andern nur: Ich bin ein unnüßer Knecht, denn ich habe
1) Erasm. Opp. IX, 903, Zwinglis Werte im Auszug I, 257 ff., Sig⸗
wart a. a. O., ©. Yöff. und meine Abhandlung über Zwinglis Tauflehre,
Stud. und Krit. 1882, 2. Hft., ©. 247 ff. Im diefem Lehrftid tritt nament«
lich der Gegenſatz gegen den Auguftinismus zutage.
2) Luthers Äußerungen über Erasmus bei Köftlin, Luthers Leben I,
137, 284, 327. Theologie Luthers I, 178. Kür den tiefliegenden Gegenſatz
hatten übrigens nur wenige ein Berfländnis. Mykonius Tonnte deshalb
(Opp. Zw. VII, 194) im Frühjahr 1522 an das Gerücht von einem keimen⸗
den Diffens zwifchen Luther und Erasmus nicht glauben: quod ferme libris
illorum adeo inter se convenit, ut Lutherus dicatur ausam omnium, quae
hactenus fecit, ex Erasmi seriptis cepisse. Siehe Glareans Urteil Zw.
Opp. VII, 268.
666 ufer;
geihan, was ich zu thun ſchuldig war; ober menn man die Stelle
in einer fpäteren Schrift vergliche: ‘Der Menſch st in fh ſelbit
fleiſchlich. Der Zugang zur Sirche iſt her Hauke, ohne melden
die Zanfe nichts nugt. Den Slauben giebt niemand ſich ſelbſt,
er iſt ein Geſchenk Gottes, wodurch Gott benen, welcher es will,
zusortommt und fie zu Ehrifte zieht‘), Es verbimt bier auch
bervargehoben zu merben, daß Zwingli ſchen in Minfiebeln bei
Erasmus in den Admptatipneu zum Neuen Teſtament Die richtige
Audlegung des Glauhens“ in Sehr. 11 gefunden und ſich die
ſelhe, die dort nur ganz nebenbei fteht, wit Weglaſſung des ührigen
Zugalıs der Aumerlung in fein Manuſſfript notiert Kat: Fides
hie pro fiducda, qua incçconcusso sparammp. Zusilih nahe
diefe Betrachtungsweiſe in der Bolge in feinem refigiäfen Se⸗
wußtſein eine ganz aubere Stelle ein, als fie in dem des Era
mus hatte, und fo wurde ber Glaube für ihn der refigiäie Zar
tralbegriff, wie er es für den Humaniſten leineswegs Wer,
Die porhin angeführte Stelle über ben Zugeng zur Kirche hat
auch durch das über Die Taufe Bemerkte ihr Jutereſſe. Gi
weiſt dem Sakrament einen untergeordneten Platz an, Geben wir
3, ob vielleicht überhaupt iu Der Seframentelahre, die hei Zwingli
eine jo eigentümliche und verhängnispolle Geſtaltung erhielt, ſich
Beroͤhrungspunlte mit Erasmus nachpeiſen laſſen. Die Frage
wird zur beſtimmten Krwartung, dei dem jo dei, wean man bis
hen von Jäger?) in der Rezenſion der Gigwertärhen ‚Schrift ar⸗
wähnte, aber feither, ſo wiel mir belannt, wenig beachtete, hrief⸗
liche Äußerung MelanchtHons °) vernimmt: Cinglius mihi
confesasug est, se ex Erasmi scriptis primum
hausisse opinionem suam de ooena Domini, womit
noch das Ahnfiche Urteil in einem früheren Brief aus dem Som:
mer 1529 zu vergleichen: in Erasmus’ Schriften ſeien enthalten:
semina multorum dogmatum und: teta illa tragödia sep)
4) Behlottmann, Frasmus radiwirus I, 340,
2) A. A. O., ®. 708,
. 9) Mebef mom 32. Oktober 1529, alſo kurz nach dep Marburger Ge⸗
prä an Aquila (Corp. Ref. IV, 970).
Initia Zwingli. 667
deAmvon zvpraxod ab ipso nata videri potest. Wir find alſo
in erfter Linie nicht auf die Niederländer, an die man Thon,
zafobge bBiner Bemerkung in Zwinglis Schriften 7), gedacht, fondern
faeziell auf Erasmns gewieſen. Schon den in den Taufftreitig⸗
feiten konkrete Geftalt gewinnenden Zwingliſchen Sakraments⸗
begriff finden wir bei Erasmus, der die in den asketiſchen
Schriften des Hieronymus vorkommende Parallele mit dem sa-
cramentum militare der Nömer in feinen Scholien weiter aus⸗
führte. Hierher gehört auch die Stelle im erjten Abſchnitt des
Enchiridion: Neseis o Christiane, jam tum, cum vivifici la-
wacri mysteriis initiabaris, namen dedisse te duci Christo,
verbis conceptis in tam 'benigni Imperatoris jurasse sen-
tentiam, ejus sacramentis veluti donariis anthoratum.?
bisher ferner die ‚ganz frappant an Zwingli erinnernde Aus»
führang in den Baraphrafen zu Röm. 4 über die Beſchneidung
„Ron quae justitiam .conferret, sed quae symbolum ‚quod-
dam ae nota foret apud homines, non apud Deum — nen
ut justitiae parens, quae jam contigerat, sed partim ut ty-
pıs qnidam verae circumcisionis, h. e. innocentiae secuturae
in is, qyi ereditari essent, — partim ut signaculum quod-
dam ze pignus, quo certa esset Abrahae hujus promissi fi-
des, non comtinuo praestandi im Isaac, qui Christum adum-
brebat ete. — und ebenſo das zu Rom. 6 Bemerlte, wo neben
ber ganz an Zwingli ewinnernden Grundanfchauung befonders auch
das ſchwantende quid baptismus vel efficiat vel designet
ya beachten if. Und wenn man die eriten Anfüge zu Kon⸗
firmandenunterriht und Konfirmation ſchon in bem dat finden
wollen, was Zwingli in ber Auslegung der 18. Schlußrede (Opp.
I, 239) üßer eine Moorganifation ber Firmung jagt ?), jo Tann
man auch bier noch um einen Schritt weiter zurückgehen und die
Vermutung ausfprechen, Zwingli fei zu jenem Bemerkungen eben»
a) Sigwart a. a. O, ©. 209 unter Berufung auf Zw. Opp. III, 658,
womit indefien DI 2, 62 zu vergleichen.
nr C. Peſtalozzi, Die Konſirmation, In den Verhandlungen der Züricher
asletiſchen Gefellichaft 1882, S. 64 ff. |
Theol. Gtub. Sahrg. 1885. 43
668 Ufer
falls durch Erasmus angeregt worden, der in der Epistola prae-
posita paraphrasi in Matthaeum ganz ähnliche Gedanken äußert,
nur in noch modernerem Sinne, indem er nit nur Unterricht
der herangewachjenen, getauften Jugend, fondern anch Anfrage an
diefelbe empftehlt, ob fie das durch Stellvertreter einft
für fie Verſprochene ratifizieren wolle, und im Wei⸗
gerungsfall von Strafmaßregeln abrät, was allerdings der Sor-
bonne dann auch Veranlaffung gab, Proteft zu erheben !). —
Was nun das Abendmahl beirifft, fo Täßt fi fchon darum,
weil den Erasmus vorgeworfen wurde, er habe die gleiche An⸗
fchauung davon wie Karlitadt und fein Anhang, vermuten, daß an
der Anklage etwas war. Wirklich findet fi) auch im Enchiridion
im 5. Kanon die bezeichnende Stelle, die wenigftens zeigt, worauf
Erasmus den Hauptaccent legte: Christus contempsit et car-
nis suae manducationem et sanguinis potum, nisi et spiri-
taliter edatur atque bibatur. — Tu forte quotidie sacrifi-
cas et tibi vivis neque ad te pertinent incommoda proximi
tui. Adhuc in carne es sacramenti. Verum si sacrificans
das operam, id esse, quod illa sumptio significat,
puta: idem spiritus cum spiritu Christi, idem corpus cum
corpore Christi, vivum membrum ecclesiae — ita demum
magno fructu sacrificas, nempe quia spiritaliter 2). Auch
die Bemerkungen bes Erasmus zu 1Kor. 10 und 11 in den Ba,
taphrafen wurden beanftandet, als hätte er Hier Brot und Wein
zu bloßen Symbolen gemadht. Es iſt dies nicht richtig, die reale
Präfenz von Leib und Blut Chrifti wirb nicht geleugnet ®), ebenfo
wenig aber hervorgehoben. Das Abendmahl wird wefentlich als
Erinnerungs-, Bundes- und Gemeinfchaftsfeier gewürdigt. Wir
haben aljo in der That bier die rudimenta ber Zwinglifchen
ı) Erasm. Opp. IX, 819,
2) Leo Judae hat fpäter in einer pfendonymen Schrift diefe und andere
Stellen dem Erasmus vorgehalten. Heß, Erasm. I, 272 ff. Sie find, wie
fi; unten noch zeigen wird, ganz auguſtiniſch, befonders auch das sacrificare
im geift. Sinn.
9) In den Parapbrafen zu Matthäus warnte Erasmus nur vor Grübe⸗
leien darüber, wie ber Leib Chriſti im Nachtmahl fei,
Initia Zwinglii. 669
Lehre 2). „Ehriftus hat gewollt, daB die Mahl das Gedächtnis
feines Todes und das Symbol eines ewigen Bundes fein Toll“,
fo leſen wir zu 1Kor. 11, und bei 1Kor. 10 noch bezeichnender:
Nonne poculum illud sacrum, quod nos in memoriam
mortis Christi cum actione gratiarum sumimus et
consecramus, consortium arguit, quod pariter sanguine
Christi sumus redempti? Rursus sacer ille panis, quem
exemplo jussuque Christi partimur inter nos, arguit foe-
dus ac societatem summam inter nos velut iis-
dem sacramentis initiatos? Panis ex innumeris gra-
nis sic conflatus est, ut discerni non possint. Corpus sic
ex diversis membris constat, ut inter omnia sit societas in-
separabilis etc. ?)
Faft in allen Lehrpunften begegnen wir fomit bei Erasmus
den Anſätzen und Keimen proteftantiiher Anſchauung. Beſonders
freimütig lauten manche Ausſprüche über Kirche und Hierarchie.
Die Kirche ift das Chriſtenvolk, heißt’s in der Sprichwörterſamm⸗
lung, die Geiftlichen bis hinauf zu den Kirchenfürften find Die»
ner?) Um fo mehr mußte es Zwingli befremden, daß Erasmus
im Neuen XTeftament (Fol. 318) anläßlih des Wpofteltonzile
(Apg. 15) die Mitwirkung der Gemeinde bei jenem Beſchluß zu
ignorieren jchien und benjelben als allein durch die Autorität des
Petrus und Jakobus zuftande gekommen barftellte, daher feine
Randgloffe zu der Selle: totiusque ecclesiae autoritate dicen-
dum esse non vidisti doctissime Erasme. In Matth. 16 wird
von letterem fjogar nach dem Vorgang des Drigenes der „Fels“
auf die glänbigen Ehriften, die Petrus ähnlichen, oder genauer auf
1) Die Ausgabe ber Paraphrafen zu den Korintherbriefen, bie Zwingli be⸗
ſaß, iſt vom Jahr 1518.
2) Es wird fi) unten noch zeigen, daß die urſprüngliche Duelle diefer
Anfhaunng wohl für beide, für Erasmus und für Zwingli, bei Auguftin
zu fuchen if.
3) Zu Joh. 20, 23 bemerkt Erasmus: Wer ſich wegen ber Schlüffel-
gewwalt eine Tyraunis anmaße, bedenke nicht das vorausgehende: Friede ſei mit
eu: Toti turgemus mundano spiritu et tamen placemus nobis autorl-
tate commissa remittendi aut retinendi peccata (Adnot. im N. T.),
48 *
6 uuſter
die solida ista Christi professio gedentet und in den Adnota⸗
tionen jelbit die freimütige Bemerkung nicht unterdrückt: Proinde
miror, esse, qui hunc locum detorqueant ad Romanum pon-
tiicem. Verum supt, quibus nihil safis est, nisi quod sit
immodienm, und in Joh. 21 iſt das: „Weide meine Schafel“
als Auftrag am jedweden episcopus gefaßt. Melde Bebeutung
diefe von Erasmus gegebenen Anfklärungen als Grundlage für
eine unbefaugene hiſtoriſche Auffaſſung für Luther gewannen, hat
Schlottmann aq. a. O. S. 204 gezeigt. Die Frucht der dadurch
beftimmten Studien war feine Stellungnahme bei ‚der Leipziger
Disputation. Ebenſo wenig fönsnen fie auf Bwingfi ihres ‚Ein
drucks perfehlt haben. Über feine Stellung zum Papfttum (vere
glichen mit derjenigen Luthers) ſ. meine Feſtſchrift S. 139. Mn
der weltlichen Herrſchaft des Papſtes wird als an etwas Über⸗
flüffigem ſchon von Erasmus gerüttelt, jeine geiftliche Qberhoheit
aber nicht angetaftet, auch nicht in der früher Zwingli zugefchrie-
benen, anonymen Schrift aus dem Fahr 1520: Consilium cujus-
dam ex animo cupientis esse consultum et pontificis digni-
tati et christianae religionis tranquillitati. (Üper pie Autar-
ſchaft des Erasmus ſiehe „Zmingli und Erasmus“, ©. 32.)
Gleichwohl Hat Erasmus ynftreifig viel dazu beigetragen, daß
das Anjehen des römischen Biſchofs and feine Machtitelung je
mehr und mehr unterwühlt wurde. Wenn er trotzdem immer
wieder um feine Gunſt buhlte, und menn er überhaupt, jo wenig
er's über fi brachte, feinem Hang, üherall Kritik zu üben umd
durch Verbreitung neuer Ideen zum Widerſpruch zu xeizen, Ein⸗
halt zu thun, dennoch hinterher nicht mühe wurde, zu verſichexn,
er unterwerfe fich rüchhaltlos dem Urteil der Kirche, wenn infolge
deſſen die jchriftftellerifche Thätigkeit des Erasmus ein trauriges
Schauſpiel von Schwankungen und Schwenkungen, Schlangen
windungen, Zweideutigkeiten, Halbheiten, Retraftgtipuen uud Cha⸗
roßterfofigleiten aller Axt darhietet, ſo legt fich eben dabei ‚ale
innerſtes Motiv feines Denkens und Handelns ſtarke Empfindlich⸗
keit für die Ehre bei den Menſchen und feige Sorge für zeitliche
Rufe, Annehmlichkeit und Bequemlichkeit bloß — Gharofterfehler,
die allerdiuge trag der hexvorxagendſten geiftigen Begehung und
Initiw Zwikkelii, 6
eines emineriken kritiſchen Scharfblicks verhüngnisvoll genug wuren,
um eine reformatoriſche Wirkſamkeit bei ihrem Inhaber unmöglich
zu mache.
Deſſen ungeachtet leiftete Erasmus Her Reformation die wich-
tĩgſten Handlangerdienſte in ſeinen bibliſchen Arbeiten, und nicht
nur das: er erwarb fich um die religiöſe Aufklärung ein großes
Berdienft; feine Schriften find voll von anregenden, befruchtenden
Ideen, die bei Männern von Charakter und Überzeugungstreue
fortarbeiteten und zu reformatorifchen Thaten ausreiften. Und
wenn die Angeregten auch über Erasmus und überhaupt über die
humaniſtiſche Richtung hinaus zu größerer Vertiefung ihres evan-
gefifch-chriftlichen Beinußtfeins vorwärtsfchritten, fo blieb ihnen: doch
zeitlebens als Erbe jetier Vorſchule eine Weite des Blicks, eine
alfgemeine Bildung auf Maffifcher Grundlage, eine weltbürgerliche
Lebenoweisheit und ein offener Sinn für jegliche Wahrheit, eine
Meitherzigfeit und Zoleranz, wie man fie bei anderen, die nicht
duch jene Vorschule gegangen, weniger antrifft. — Es dürfte hier
noch der Ort fen, zu zeigen, wie auch die Empfänglichkeit unferes
Zwingli fir Wahrbeitselemente und Qugendleiftungen außerhalb
ber Sphäre der pofitio-biblifchen Offenbarung aus der Schule des
Erasmus ftammt. Im Enchiridion fieft mun: Christi esse
puta, quidquid usquam veri offenderis. Ebeidafelbft wird dem
Plato göttliche Eingebung zugefchrieben ?). Unter allen Bhilofophen
Sollen die Platonifer die beten fein und mit dem Evangelium am
meiften Verwandtſchaft haben. Hierin ftehen mit ihnen auf einer
Linie die Poeten, denn bei beiden: fei neben dem simplex sensus
der myfteriöfe wohl zu beachten. Homerica et Vergiliana poesis
tota allegorica. Wer Bierfür Verftändnis Habe, könne aus heids
nifhen Mythen und Gedichten fo viel lernen als aus der Bibel;
wen dies geiftliche Verftändnis abgehe, für den fomme es unge-
fähr auf dasjelbe Hinaus, ob er Livius oder die Gejchichtsbücher
des Alten Teſtamentes leſe. Er habe von dieſen letzteren doc
1) Bol. Zwingli de providentia Opp. IV, 98, und die ſchöne Zufammen-
ftellung der von Zwingli wegen ihrer Wahrheits- und DOffenbarungselemente
hochgeſchätzten Klaſſiker bi Schuler a. a. DO. ©. 26 ff.
072 Dorner
nichts anderes als die Schale. Daß bei ben neueren Theologen
fowenig Verſtändnis für die allegoriiche Auslegung vorhanden ſei,
rühre daher, daß fie, mit dem einen Ariftoteles zufrieden,
die Blatoniler und Pythagoräer vernadhläffigen —
Man bat fih fchon oft daran geftoßen, dag Zwingli in feiner
Expositio religionis Christianae unter ben edlen Heiden, von
denen man hoffen dürfe, baß fie felig geworben, auch den mythi⸗
chen Herkules nnd Theſeus nennt. Es dürften aber diefe Figuren
na der durch Erasmus eingeführten Behandlung der Mythen
nicht in ihrer rohen Natürlichkeit, fondern als Idealgeſtalten auf-
zufaffen fein; vgl. die Stelle im Enchiridion: Si Herculis la-
bores admonent, honestis studiis et industria infatigata pa-
rari coelum, nonne hoc discis in fabula, quod praecipiunt
philosophi et theologi vitae magistri? Einer folden Ber:
wertung der Mythologie Liegt Freilich als notwendige Vorausfegung
die Annahme einer Uroffenbarung zugrunde, die, ähnlich wie die
altteftamentliche, die Müfterien der wahren Religion in alfegorifcher
Verkleidung zum Ausdrucd gebracht. Ein beliebtes Beiſpiel für
das in ber Urzeit neben Mofes noch vorhandene und auch von
diefem keineswegs veradhtete Offenbarungslicht ift Jethro mL 18,
wozu Zwingli Opp. V, 265 zu vergleichen.
(Kortiegung folgt im nächften Heft.)
5 2.
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam.
Bon
Prof. D. Ung. Dorner.
Es iſt eine Erfcheinung, die wohl eingehenderes Studium ver-
dient, dag in dem fpäteren Mittelalter die transcendente, dem jen-
jeitigen Leben zugewandte Richtung, welche das Weltliche gegenüber
Das Verhältnis von Kirche und Staat nach Occam. 618
dem Seljtlichen verachtete, daß die Lebensanfchauung, welche in dem
möunchiſchen Ideal gipfelt, felbft bei den Lehrern der Kirche, fo
fehr diefes Ideal anerkannt wird, doch nicht mehr die Alleinherr-
fchaft behauptet. Wir haben hier das intereffante Schaufpiel, daß
während das Gemüt von jenen Idealen noch feitgehalten ift, doc)
die Erkenntnis über diefelben hinausftrebt.- Der der mittelalter-
fihen Anfchauung zugrunde Tiegende Dualismus im Gegenfaß des
Natürlichen und Übernatürlichen, bes Weltlihen und Geiftlichen,
konnte nur fo lange einigermaßen verborgen bleiben, als die Selb-
ftändigleit des Individuums von der kirchlichen Gemeinfchaft ab-
forbiert wurde, — kirchliche Wiſſenſchaft nnd die kirchliche Sitt⸗
lichkeit in ihrer nierenden Stellung ſich behaupten konnte, als
unbedingt anerkannt wurde, daß alle Intereſſen des Menſchen den
kirchlichen ſchlechthin unterzuordnen ſeien. Sobald dagegen das
Bewußtſein rege wurde, daß die weltlichen Wiſſenſchaften, daß
die weltliche Sittlichleit eine, wenn auch noch fo geringe Selbftän.
digkeit gegenüber der firchlichen behaupten könne, fo trat der “Dug-
lismus klar zutage, führte zu einer zwiefpältigen Weltanſchauung
in der Lehre von der doppelten Wahrheit, und gerade durch diejen
Zwiefpalt erwies fich die Notwendigkeit, die Fundamente der Welt:
anfhauung und Sittlichleit aufs neue zu prüfen. In diefem Sinne,
glaube ich, ift e8 wohl berechtigt zu fagen, daß die Münner, welche
dieſen Zwiefpalt zum Bewußtfein brachten, die Reformation vorbe-
reiteten.. Sie geben ihre aber nicht bloß fozufagen einen negativen
Unterbau, fondern, indem fie eben die Selbftänbigkeit der fittlichen
Freiheit, der weltlichen Wiffenfchaft, der weltlichen Sittlichkeit,
wenn auch zum Teil nur in befchränfter Weife und nicht ohne am
alten ererbten Ideal zugleich. haften zu bleiben, geltend machten,
haben fie auch eine der wichtigſten Pofitionen der Reformation zus
gleich pofitiv vorbereitet.
Ich finde, daß in diefer Beziehung der Orben der Franziskaner
in hervorragenden Mitgliedern eine bedeutende Thätigkeit ausgeübt
hat. Schon Duns Scotus, wie ich in meinem Artikel in der
Herzogſchen Realenchklopädie) zu zeigen geſucht habe, Hat eine
1) Bol. Aufl. 2,
74 Dorner
were Bahn gegenüber Thomas eingeſchlagen, ſo ſehr es durch ferne
Verehrung der unbefleckten Empfängnis Mariä, und ſeine md
chiſche Askeſe, die ſich bis zu: Ekftaſen fteigerte, endlich uch dutch
feine ſtreng kirchliche Sittenlehre, welche dem mönchiſchen dent
huldigt, ausgeſchloſſen zu fein ſcheint. Es tritt: indes bei ihm das
Streben deutlich zutage, den weltlichen Wiſſenſchaften eine ſelbſtäu⸗
dige Stellung zu geben, und ſpricht fi 3. B. in dem Satze aus,
daß bie mathematischen Gefee, per impossibite vorausgefetzt, duß
fein Gott wäre, ihre Geltung doch behalten müßten, wie er best
auch in der Erfahrung und den allgemeinen Begriffen: die Yundar
mente für eime felbftändige weltliche Wiffenfchaft anerfamte!). Wenn
er ferner zu dem Sate fommt, daß für die Philoſophie ein Gag
gelten könne, der fie die Theologie nicht wahr jet, ſo zeigt ſich
doch darin neben Anderem auch das, daß en der Philofophie die
Selbitändigfeit gönnte, foldie Säge, ausfpredden zu: Tönnen. Indem
er ferner die Selbftändigfeit des Willens betont, auf das eingelne,
vor allem den Einzelwillen ein großes Gewicht legt, die Selbbſtän⸗
digfeit der Mättelurfachen in der Welt gegenüber der göttlichen
Aktion hervorhebt und Gott und Welt fo unterjcheidet, daß er auch
der Welt eine größere Freiheit der Entwidehung zuerkennt als
Thomas (wie er auch Gott vor allem al® ſich felbit behauptendes
Subjekt auffajfen will), bahnt er auch für die Ethik eine nene
Richtung. an. Denn, wenn auch insbeſondere diefe Hervorhebung des
Einzelwillens zu einfamer mönchiſcher Beichaulichkeit führen konnte,
fo lagen in. berfelben doch zugleich; Tendengen verborgen, melthe die
Abhängigkeit des Einzelnen von der Autorität deu Kirche lockern
konnten, mochte Duns immerhin zunächſt die Freiheit: als Freiheit
zum Gehorfam gegen die Kirche verwenden und das Prinzip , das
in feiner Betonung der Selbftändigkeit des Einzelmillend liegt, nad)
nicht durdführen. Nimmt man die ganze Tendenz. feines‘ Denkens
zufammen, fo war es fehr natürlich, daß ihm Mänmner folgten,
welche dies Prinzip entfchiedener durchführten und gleichmäßig auf
Zeile des fittlichen wie des intellektuellen. Gebietes anwmandten.
Zu diefen gehört vor allem jem Schüler und Drdensgenoffe
1) Bol. a. a. D., ©. 737f. 739.
Das Verhältnis von Kirche und Staat nach Occam. 678
Wikhekm Occam. Denn einerfeits Begürftigte biefer die Selb⸗
ftändigkeit weltlicher Wiffenfchuft durd den Sat des Scotus, daß
in der Philoſophie wahr fein könne, was in der Theologie falſch,
ſuchte natürliche und theologiſche Wiffenfchaft zu trennen und fand
erftere weſentlich in der Logik, Sprachwiffenfchaft!) und Jurisprudenz,
wenn ee matärlih auch der Autorität der Theologie den Vorzug
geben zu müffen meinte, ohne freilich bie Erfennbarfeit ihrer Objekte
zu behaupten, fteigerte die Vorliebe des Scotus für das einzelne zum
Nominalismus, kam eben damit aber auch dazu, ald das Sicherſte
der Erkenntnis die Erfahrungen der inneren Zuftände der Seele an⸗
zuerfennen 3), und anderſeits inbezug auf das fittlihe Gebiet
kämpfte er für die Selbftändigkeit de8 Staates neben ber Kirche ®)
nnd ging überall auch hier auf die Einzelwillen zurück. In all diefem:
aber thut ſich ein gemeinfamer Zug fund, der der Alleinherrichaft
der Theologie und Kirche entgegentritt, ber das Natüurlich⸗Sittliche
wenigften® in einzelnen Gebieten beffer würdigt und zur Anerken⸗
mung zu bringen fucht 4). Wir fehen gerade bei Dccam bie höchft
charakteriftifche Verbindung feiner Gedanken, daß er einerfeits
firenger mönchiſcher Beſchaulichkeit des Einzelnen, wie ſich zeigen
wird, das Wort redet und anderfeits doch im Leben der Kirche
und des Staates auf bie einzelnen als die Begründer der Gemein
Schaft zurückgeht. Beides weiſt, wenn auch in verfchlebener Rich
tung, anf die Betonung des einzelnen bin; bies tft der in Beidem
herbortretende gemeinfame Gedanke. |
Uns fommt es hier darauf an, zu zeigen, in welcher Weife Occam
in dem Kampf zwifchen Katfer und Papſt das Verhältnis von Staat
und Kirche beftimmt, wie er an diefem Punfte die Tendenz zur
Derjelbftändigung der weltlichen Sphäre des Staates zu wahren
1) gl. Opus nonaginta dierum c. 6, wo er dem Papſt Vernachläſſigung
der Philologie vorwirft.
2) Bol. hierüber Ritter, Geſchichte der Philoſophie, 8.TL., S. 597. 683.
3) Bol. Ritter a. a. O. ©. 687. 575.
4) Bol. 3.8. die Äußerung, man könne nieht jagen, daß alles; was außer
der Kirche geichehe, „aedificant ad gehennam“. Die Ungläubigen fündigen
nit in omni actu mortaliter. Hierin ift ein Anfat zur justitia civilis.
Dial, P. IT, Tr. I, L. I, c. 27,
66 Dorner
fucht und fo einem neuen fittliden Ideal vorarbeitet. Oecam ift
nicht der einzige in feiner Zeit, der in bem Kampf auffeiten bes
Kaiſers ſteht. Vor allem find es Männer wie Marſilius von
Badua und Johann von Janduno, die Verfaſſer des Defensor
Pacis, erfterer ferner in feiner Schrift De jurisdictione im-
peratoris in causis matrimonialibus !) und im Tractatus de
translatione imperii; Johannes von Janduno hat ebenfalls über
die potestas ecclesiastica gejchrieben. Die ihm zugefchriebene
Schrift: informatio de nullitate processuum Papae Joh. XXII
contra Ludovicum imperatorem fihreibt Goldaftus dem Franzie-
kaner Henricus de Chalhem (von Thalheim) zu ?), dem Cancellarius
Ludwig des Bayern. Auch der Franzistaner Bonagratia hat aufs
feiten des Kaifers Lebhaft mitgewirtt. Des Franzisfaner Ordens⸗
generald Michael von Caeſena, der ebenfalls aufjeiten des Kaifers
ftand, drei Traktate gegen die Irrtümer Johann XXI. beziehen
fih mehr auf den Streit der Franzisfaner über das Eigentum,
den er im Sinne ftrengfter Enthaltfamkeit von Eigentum führte 3).
Wir werden auf diefen Punkt zurücdtommen. Unter den Deut⸗
ihen war es befonders Lupold von Bebenburg, der mit feinem
tractatus de juribus regni et imperii fic) auffeiten des Kaifers
ftellte *).
Bon den Schriften von Occam fommen für unfere Trage
folgende in Betracht. Die disputatio super potestate praelatis
ecclesiae atque principibus terrarum commissa, noch zur Zeit
1) Die fi) auf die Ehe des Sohnes des Kaifers, Ludwig von Branden-
burg und der Margareta von Kärnten und Tirol bezieht, wie die unten zu
erwähnende Schrift von Decam über bdenfelben Gegenftand. Sie wurde dem
Marfilius von Riezler abgeſprochen (Riezler, Die litterariſchen Widerſacher
der Päpfte zur Zeit Ludwig des Baiern, S. 234f.), ift aber von ihm fpäter
als echt anerkannt. Vgl. Müller, Die Kämpfe Ludwig des Baiern IL, 160,
Anm. 4.
: 3) ®gl. Goldastus Monarchia. Tom. I. Dissertatio de Auctoribus.
3) Über Michael von Eaefena vgl. übrigens noch Preger, Der kirchen⸗
politifche Kampf rc. Abhandlungen der bayer. Alademie hiſtor. Klaſſe. 14. Bd.
©. 10f. 63f.
4) Bgl. über die damalige Titteratur die ausführliche Arbeit von Riezler,
Die litterariſchen Widerfacher der Päpfte zur Zeit Ludwigs des Bahern.
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad; Oceam. en
Bonifac VIII. gefehrieben in der Form eines Dialogs zwifchen einem
Clericus und miles; fie fcheint indes Fragment zu fein 1). Berner
werden die Octo Quaestiones super. potestate ac dignitate
papali. Occam zugefchrieben ?); fe ie ie ‚aus bem
1) Goldastus. Tom. I, p. 13 sg. Kiezler a. a. O., S. 145, erkennt
die Echtheit dieſer Schrift nicht an. Seine Gründe find im weſentlichen die
Form und der Ton des Dialogs. Der Inhalt macht and, ihm Fein Bedenken.
Allein daß einem Laien die Vertretung des Rechts in den Mund gelegt wird,
ift doch fein Grund gegen die Echtheit, da Occam aud) fpäter oft genug dem
Clerus ala ſolchem gegenüber die Kirche als Gemeinfchaft der Gläubigen betont
und das Recht der Laien hervorhebt, ſelbſt einen häretiſchen Papſt anzugreifen.
Die franzöftfch-nationale Gefinnung ließe ſich wohl erfläven. daraus, daß Ooeam
Mitglied der PBarifer Univerfität if. Seine Auffaffung des Kalfertums kanu
fpäter fi) geändert haben, und es ift nicht zu Überfehen, daß Occam auch fpäter
die Rechte der Könige durd) den Kaiſer nicht verlett wiffen will, |. u. Die
vielen Anfführungen aus dem Gerichtsieben können ebenfalls kein genügenber
Grund gegen die Echtheit fein, da Dccam es auch ſonſt Tiebt, ſich in juriſtiſchen
Sineffen zu ergeben und feinem Stantsbegriff nach, ber daB Recht zum Mittel-
punkt bat, hierauf von jelbft fommen muß. Wenn Niezler die Stelle citiert,
welche dem miles in den Mund gelegt ift: „Wenn meine Frau eine Erbſchaft
gemacht bat, und ich gehe nad Paris, um fie zu erheben 2c.” um Hieraus
zu fchließen, der Verfaſſer „Iebe nicht in Paris”, fo geht das doch zu weit;
er könnte gerade fo gut fchließen, der Verfafier ſei verheiratet. Dazu kommt
aber, daß ich wenigftiens bei Goldast P. 15 Iefe: ego vado Parisius pro
quadam haereditate etc. Wenn der entichievene Ton der Schrift Bedenken
erweden könnte, während Occam ſich fonft eine Hinterthür „casualiter‘ nicht
jelten offen hält, fo fehlt doc auch das nicht völlig, da er doc auch bier zu⸗
giebt: „quamquam possint aliqua temporalia per ipsos pontifices dispen-
sari“, p. 14. Daß in biefer Schrift fi) der Schulgelehrte jo wenig zeigt,
was in den anderen Schriften Occams der all ift, dürfte das gewichtigſte Be⸗
denken fein. Allein da8 Compendium errorum Johannis XXII. bat wenigftens
was die Entſchiedenheit der Oppofition angeht einen verwandten Charakter, und
feine Arbeit über die jurisdictio des Kaifers in Eheſachen, die Niezler als
echt anerkennt (a. a. O., ©. 254 f.), ift ebenfo „frei von fcholaftiicher Schwer-
fälfigkeit und entichieden im Zone”. Ich vermag daher nicht von der Unecht-
heit des Traktates mich zu überzengen, den Stoeckl, Schwab, Lechler, Fried⸗
berg als echt anerkennen. Wenn übrigens Riezler Peter Dubois für den Ver⸗
fafjer hält, jo find in deffen Schrift de recuperatione terrae Sanctae aller-
dings verwandte Gedanken. Nur tritt in biefer Schrift Frankreich noch ganz
anders in den Vordergrund als in unferm Dialog.
2) Goldastus Tom. II, p. 3745q. Das Werk wird anch unter dem
ic Dorner
FJahre 1339. RUGE mir iſt ber Tod Johann XXI. vdrausgefekt,
fondern es wird audh gegen Lupold von Bebenburg polenfiftert ?).
Sudan da® Compendium errorum: Papae Johannis XXI. )
duch nach dem Tobe des Phpftes gefchrieber®), Däas ui
faffendfte Wert, das hier in Betracht kommt, tft fein Dialogus de
Potestate' Papali et imperiali €), bem übrigens auch nicht boll-
tndig erhulten iſt, da nach dem’ Plane, welchen er für den dritten
Tat aufſtellt 5, die Fonfrete Anwendung der Grunbfäge auf die
Verhäftniffe der Zeit, befonders den Streit Ludwig des Bayern:
mit dem Papfitum fehlt 6). Stückweiſe iſt diefer Mangel durd)
da6 opus nonaginta dierum 7) ergänzt, obgleich dasfelbe feinem
größter Teil nach ſich auf den Minoritenftreit bezieht und den
Michael vor Caefena verteidigt. Endlich ift noch ein Heiner Traktat
von Occam erhalten: De jurisdietione imperatoris in causis
matrimonielibus ®),. der aus dem Jahr 1342 ftammen foll.
Im allgemeinen müfſen wir die Bemerkung vorausſchicken, daß es
bet ber Art von Orcam, welche in feinen Hauptwerken hervortritt, bie
Titel: Tractates de potestate evtlegiastica cifiert, vgl. die Einleitung Bei
Goldäst. Tom. I.
1). Bgl. Riezlern. a. O., S. 250.
2) Goldastus Tom: II, p: 987 sg.
9) Bol. c. 8.
4) Goldastus Tom; HI, p. 396 sy.
5) Bl: a. a. O. &. 771,
6.8 die Ahfaffungszeit angeht, fo giebt Goldastus zwar das Jahr
1828 an, Tom: II, p. 392. Alfett da Oecam in’ den Plan des dritten Teiles
Beneditt XII. erwihnt; ©. 771, muß offenbar die Schrift Später abgefaßt fein
(nach 1834 und vor 1342, dem Tode Benediie). Nach Müller iſt die Ab-
faffung erſt na 1339, mid früher anzuſetzen. Bgl. der Kampf Ludwig des
Buhern IT, 88.
7) Goldastas Tom. II, p. 998. Riezlet Hält diefe Schrift für die erſte
Oecams, &. 243 |! Sie iſt nach dent Schluß II, S. 1236 bei Lebzeiten Johanns
verfußt, aber dem Dinloy einverleibt. Vgl. Goldastus TI, p. 77T.
8) Goldastus Tom. I, p. 21. Bgl. Müller a. a: DO. II, 161. Riezler
0. aD, &. 2540|. Außer ben genannten Schriften iſt noch ein ungebrudter
Trallat Oecams zu: etwähnen, ber gegen Benedikt XII. gerichtet iſt, vgl.
Müller a. a. O. LI, 88, und ein anderer wohl erſt nach Ludwigs Tode „über
diß Wahl! Karl IV”. Müller a. a. O. U, 281,
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. us
nerſchiedenen Anfichten ohne eine eigene Aintfeheabung nehensingnäer-
zustellen oft ſchwer ift, feine eigene Anficht herauszufinden, Je⸗
doch wird man gewöhnlich bemerken, auf welcher Seite feine Sym⸗
pathie Liegt; auch hemüht er ſich ſehr oft, die aͤhm zuſagende An⸗
fit ausführlich darzulegen, zu begründen, ‚gegen Kinmänhe zu ver⸗
teidigen, während er die entgegenſetzte kürzer abfertigt. Ofter
tritt auch jelbjt in den am meilten fcholaftiich gehaltenen Schriften
das Gefühl des Schriftiteflerd an den Tag, und man merkt daran,
wie er ſich zu der vorgetragenen Anficht verhält. Dazu kommt aber,
daß feine ganze Stellung am Hofe des Kaiſers feine Denkweiſe
berbürgt, nicht minder unzweideutige Schriften wie das opus no-
naginta dierum, Compendium errorum etc,, De jurisdietione
imperatoris in causis matrimanjalibus (auf die Schrift Die
logus inter .militem et Olericym),
Der Gang unſerer Unterfuchung ſoll der fein, dag wir zuexft
feinen Staatsbegriff, dann feinen Kirchenbegriff, faweit er Hier in
Betracht kommt, erörtern, ferner das Verhältnis beider zu ein⸗
ander nach feiner Auffafjung zu beftimmen ſuchen und endlich dar
mit abjehließen, bie leitenden Prinzipien feiner Anjichten herauszu⸗
kehren und ihre Bedeutung für die Folgezeit zu würdigen ?).
I. Oecams Staatsbegriff.
Wir veben bier zuerſt vom ber Selbſtändigkeit des Staates.
Die Sclbftänbigleit des Staates zeigt fih fir Docam im Recht,
bie Begründung des Rechts iin der Vernunft; enbiich iſt noch won
1) Es fei hbemerkt, Daß Decam feine ausführfiden Schriften gegen das
Papſttum exſt am Hofe Ludwigs des Bayern geichrieben bat. Richtig ift 09
aber doch wohl nit, wenn man haram annimmt, ex babe bie unten dar⸗
gelegten Anfichten erft zu bigger Zeit gehabt, jelhß wenn ber ‚Dialogus inter
militem et clericum unedt fein fpllte, was mir nicht von Riezler erwieſen zu
fein ſcheint. Denn Clemens VL, ber do wohl in dieſer Hinſicht Glauhen
verdient, hat darauf hingewieſen, daß Dream auf die Anfichten bes Marſilius
von Padua befonderen Einfluß ausgeübt habe. Das ſcheint Miller nicht genug
zu beachten, da feine Darfteflung eher den Grein erwech, ale fi Docayı bem
Marßilius gefolgt, a. a. D- I Ab. — Bol, Riezler, Die Titterauiichen
Widerſacher der Paͤpſte. ©. 85. 241.
63% Horner
der Ausdehnung des Nechts zu reden. Sodann betrachten wir das
fittliede Ideal, das nicht zu dem bisherigen ſtimmt, da biefes den
Staat eigentlih überflüfſig machen müßte.
Es ift bemerfenswert, daß Occam dem Staate kaum eine erzieh⸗
liche Aufgabe zumelft, wie es Thomas noch gethan hatte, der aber
dafür dann auch den Staat der Kirche unterordnete, welche allein
die Erziehung vollenden kan 2). So bleibt die andere Seite des
Staatsbegriffe von Thomas Decam im wejentlihen übrig, die
Sorge für das Recht und die temporalia, d. h. die zeitliche
Wohlfahrt; der Staat Hätte es hiernah mehr mit leiblihen als
mit geiftigen Gütern zu thun. Er bat die Aufgabe, das Eigen
tum gegen willkürliche Eingriffe zu ſchützen, hat den Außeren Frie⸗
den aufrecht zu erhalten und für da8 bonum commune auf dieje
Weile Sorge zu tragen. An den Mittelpunkt der Betrachtung
aber tritt bei Decam dies, daB der Staat das Recht?) inbezug
auf die temporalia zu verwalten hat, bejonder8 auch durch coër⸗
cere malos ®), alfo durch Strafret mit vis coactiva verbun-
den, und er hat ein fehr deutliches Bewußtſein davon, daß, um
diefer Aufgabe gerecht zu werden, der Staat feine volle Souverä-
nität haben müfje, daß lediglich Verwirrung und Krieg entftehen
müffe, wenn die geiftliche Macht fich in die ftaatlichen Aufgaben
eindrängen wollte. Occam fpricht das fo aus: das Urteil über
Gerechtes und Ungerechtes ftehe dem zu, der Geſetze zu geben habe.
Denn der allein könne nach dieſen Gefegen urteilen, die Gefebe
exponere Custodire gravare mollire 4), Wollte ſich da ein
Fremder einmifchen, jo würde Rechtlofigkeit entftehen, das hieße
-1) Die Stantelehre des Thomas von Aquin iſt im Anszuge aus den
Duellen dargeſtellt worden von Baumann, die Stantslehre des Thomas von
Aquino. Zwar fpricht and Dccam an einzelnen Stellen davon, daß der Staat
die Aufgabe Habe, für die Jugend zu forgen, 3.8. Octo Quaest. Qu. II, c. 6.
De jurisdictione imp. Goldastus I, p. 23. — Allein das tritt doch fehr be
deutend zurück und wird nicht weiter verfolgt; wird auch an der letzten Stelle
nur als Aufgabe eines gläubigen Kaiſers hypothetiſch Kingeftellt.
3) Dal. Octo Quaest. Qu. IH, c. 6.
8) ®gl. Dialogus P. III, Tr. ,L.L c.1.
6) Bol. inbezug auf den Stantebegriff auch die Heine erwähnte Schrift
gegen Bonifae VIII.: Dielogus inter Clericum et militem etc,
Das Berhältnis von Kirche und Stant nad) Oeccam. 681
justitiam dilacerare in terra. Beſonders aber zeigt fich, wie
er auf die Souveränität des Staates in dem Sinne Gewicht legt,
daß der Staat feine fremde Einmifchung dulden könne, daran, daß
er oft ) bemerkt, es würden ja die Könige und alle Bürger Sklaven
fein, wenn ihr Recht ihnen nicht felbftändig und von der geiſt⸗
lichen Macht unabhängig garantiert fein würde. Er läßt den Be⸗
ftand bes Staates und feines echtes durchaus nicht vom Glauben
abhängig fein; vielmehr beitand das römifche Reich fchon vor dem
Glauben, und ausdrücklich bemerkt er mehr als einmal, daß das
Necht über einen Staat zu herrſchen, nicht vom Glauben könne
abhängig gemacht werden. Vielmehr kann auch ein Kaifer mög⸗
ftcherweife ungläubig fein, was vor Konftantin die Megel war; und
doch haben die Chriften ihm Folge gelelftet 2), Das Recht des
Staates ruht alfo Teineswegs auf der chriftlichen Offenbarung.
Er giebt feiner Anficht von diefer Selbjtändigkeit die höchſte Form,
wenn er vielfach darauf Hinmeift, daB die Obrigkeit nicht vom
Papſt fondern von Gott ftamme, freilich mit der Einjchränfung,
die aber in letter Inſtanz auch dem Bapfttum gilt, daß ihre
Vollmacht vom Vollke übertragen jei, wovon unten noch näher zu
reden ift.
Wenn jo darin, daß der Staat der Vertreter des weltlichen Rechts
ift, feine Selbftändigfeit begründet ift, fo fragt fich zweitens, worauf
er denn das Recht felbft in letter Hinficht gründe. Hier geht Dccam
auf die alte Einteilung in das jus naturale, da® jus gentium und
das pofitive Recht der leges eiviles zurüd und erkennt an, daß alle
1) Bgl. 3. 8. Dialogus P. II, Tr. J, L. I, c. 12.138; Tr. ILL. I,
c. 28, die Meinung, daß der Papft unbebingte Macht habe, nennt er Häretifch.
De jurisdictione imp. in causis matr. ‚Diel. III, U, I, c. 25.
2) Vgl. Octo Quaestiones Quaest. I, c. 10. Ebenfo bemerkt er c. 11,
daß die Nechte und Freiheiten Gläubiger wie Unglänbiger zu fehüten feien.
Das Gericht des Kaiſers in temporalibus kann nicht dadurd) aufgehoben wer⸗
den, daß er Häretiker iſt, c. 17. Er fagt, es ſei häretiſch, zu behaupten, ein
wahres imperium fomme nur vom Papſt. Dialogus P. II, Tr. U, L. I,
c. 25 vera jurisdictio temporalis, vera potestas gladii materialis fann
auch bei Ungläubigen fein. Der Mißbrauch Hebe nicht fofort das Hecht auf.
Pilatus hatte legitima potestau, wenn ev fie auch nicht legitime brauchte,
Julianus Apostata war ein wahrer Kaiſer.
1227 Dorner
drei Formen des Rechtes unabhängig von ber kirchlichen Bewalt
feien, daß die jurisdictio nad) ihnen völlig dem Staate zufomme ).
Indem er mit allem Nachdruck darauf befteht, daß bie tempo-
ralia Sache des Staates feien, beftimmt er die temporalia 2) näher
dahin, daß fie das umfaſſen, was in solis naturalibus ohne
Offenbarung beftimmt werden kann nad natürlichem und pofitiv
mesifchlichem Gefege. Das natürliche Recht ruht zwar nad ihm
in letzter Inſtanz auf Gottes Willen; aber es wird abgeleitet aus
ber menſchlichen Vernunft. Er unterfcheidet ein dreifaches natür⸗
liches Recht, zunächft ein folches, das mit der Vernunft ſchlechthin zu⸗
fammenftiummt, 3. B. nicht Ehebrechen, dann ein ſolches, das nur auf
einen idealen Zuftand der Menschen Anwendung finden könnte, 3.8.
die Gütergemeinfchaft, endlich ein ſolches, das unter gegebenen Um⸗
ftänden vernunftgemäß erfchlofjen werden kann. Zu der dritten Form
gehört 3. B. das Recht der Verteidigung, wenn man angegriffen ift,
oder das Recht auf Eigentum, wenn einmal Eigentum da iſt ?).
Offenbar aber ift feine Meinung, dag aud) das jus gentium auf dem
jus naturale rufe. Denn wenn es aud) ein pofttives jus gentium
giebt, fo ruht dns mac ihm ebenfalls Darauf, daß die universitas
mortalium von Natur das Recht bat, ihre gemeinfamen Ange
legenheiten gemeinfam rerhtli zu ordnen. Ebenſo zuht das Dicht,
yofitive Geſetze zu geben, im einzelsen Stante auf dem natikzlichen
Rechte. Es ift natürliches Recht, dag an dem, was alle angeht,
alle ſich beteiligen; fie Lünen aber biefes Recht auch anf beftäammte
Perfonen übertragen. Nach natürlichem Rechte haben aljo alle au
der Geſetzgebung teil, weil fie das Wohl aller betrifft, können aber
ebenfo wach natürlichem Rechte Einen gu ihrem Geſetzgeber mischen,
bee dann Geſetze zu ſchaffen hat, welche nicht die muverkußerlichen
natürlichen Rechte und Freiheiten verlegen dürfen. Auch der In⸗
halt pofitiver Geſetzgebung ruht auf dem allgemeinen naturrxecht⸗
lien Grundfage, daß nur daß, was dem bonum sommune dien
.. 3) Bel. de jurisdictione imperateris in causis matrimonialibus. Gel-
dastaıs Tom. I, p. 255q. Octo Quaestiones Quaest, III, c. 4. Dialogus
P. IL Tr. U, LL 17.
%) Dialogus P. IH, Er. U, L. II, c. @.
8) Dial, P. II, Tr. I, L. IH, c. 6,
Das Verhältnis von Kirche und Staat nah Dccam. 685
Gh fei, durch die Geſetzgebung feitgeftellt werben müſſe ‘), In
letzter Inſtanz alfo wird das Recht auf die Vernunft gegründet,
und der Staat, der ed mit dem Recht zu thun bat, hat eben des⸗
Halb ein von der Offenbarung völlig unabhängiges Fundament.
Fragt man aber, wie das Naturrecht von der natürlichen Sitt⸗
lichkeit ſich unterfcheidet, fo wird man bei Decam auf mehr ger
Tegentliche Äußerungen gewiefen. Wenn er auch nicht fich deutlich
bewußt wird über das innere Verhältnis von Sittlichkeit und
Recht und, wie fchon angedeutet, fi daher auc) gelegentlich ſchwan⸗
kend ausſpricht, fo ift doc das deutlich, daß er das Recht mit
einer vis coactiva ?) ausgeftattet wiſſen will, daß es ſich aber
inhaltlich auf die Ordnung ber zeitlihen Dinge und Verhält⸗
niſſe bezieht, d. 5. der auf den Leib und das äußere Wohl
bezüglichen Dinge und Berhältniffe und zwar weſentlich ſoweit
808 äußere Verhalten der. Menſchen zu einander in Betracht
tommt. In diefem Sinne redet er von unveräußerlichen echten
und Vreiheiten, welche dem Menfchen. von Natur zukommen und
welche der Staat zu. ſchützen bat, damit das bonum commune,
ons allgemeine Wohl aller möglich fei. Daß hierdurch das auf die
Vernunft gegründete Recht einen eudämoniſtiſchen Beigeſchmack ers
Hält, dürfte nicht zu leugnen fein. Iſt biernad das Fundament des
Staats das Recht, das Fundament ded Rechts in letter Beziehung
die natürliche Vernunft, jo müffen wir num die einzelnen Rechte
etwas genauer betrachten, welhe Occam als weltliche anerkennt.
Das erfte, was er häufig betont, tft das Recht der freien
Verfügung über die eigene Perſon. Der Staat hat die Pflicht,
dieſe Freiheit zu erhalten; niemand foll invitus zum Sklaven ge-
‚macht : werden. Denn der Staat diene dem bonum eommune
subditorum 8); in dem, was nicht da8 gemeinfame Intereſſe an«
geht, foll dem einzelnen Freiheit gelaffen werden *).
1) Ibidem 1. c. Das geht auch daraus hervor, daß er ſtets als Testen
Maßſtab für die Haltbarkeit eines ſtaatlichen Zuſtandes das bonum commune
anfieht.
2) Dial. P, III, Tr. IL, L. IH, c. 22.
3) Octo Qaaestiones Quaest. III, c. 5.
4) Octo Quaestiones Quaest. VIII, c. 4. Se mehr fgreiheit die Unter⸗
Theol. Etub. Jahrg. 1886. 44
684 Dorner
Das zweite, was der Staat zu ſchützen hat, ift das Eigentum.
Denn nachdem es nun einmal da ift, muß da8 Recht eines jeden
auf fein Eigentum gefhügt werden. Über Nechtsftreitigkeiten, die
das Eigentum angehen, bat der Staat die Entjcheidung !). Er
erkennt den ausfchlieglichen Charakter de8 Eigentums nad dem
Sündenfalle an, und man fieht aus ber ganzen Art, wie er jus
riftifch die Eigentumsfofigkeit der Minoriten zu erweiſen fucht ?),
daß er das weltliche Eigentum für die weltliche Sphäre anerkennt.
Ja er geht fo weit zu behaupten, daß der Staat auch ein Auf
fichtörecht über das Eigentum der Kirche habe, ob es dem ur
iprünglihen Willen der Geber entiprecdhend verwaltet werbe °).
Sreilih ift da® Eigentum durch jus humanum eingeführt, ift nit
juris divini *); doch ift es berechtigt, wenn auch nicht dem voll.
fommenften Stande entjprechend, vor der weltlichen Obrigkeit fein
Recht zu ſuchen 5). Denn das Eigentum wird erſt Cigentum
dur den Staat und feine pofitive Gefeßgebung ®). ben daher
bat aud der Kaifer das Recht, über das Eigentum anderer zu
verfügen, Steuern zu erheben, jo weit e8 dem bonum commune
dienlich ift, auch herrenlojes Gut kann er im Intereſſe des öffent
lichen Wohles fi aneignen, wenn es aber nicht notwendig. ift,
dem Dccupierenden überlafjen 7).
Terner gehört vor das ftaatliche Zribunal das Eherecht. Die
Ehe als natürliche Inſtitution gehört nach ihm vor den weltlichen
Richter, fie gehört aber allerdings zugleich vor dem geiftlichen
Richter, fofern fie durch die lex divina, d. 5. die Schrift be»
tbanen haben, um fo beffer ift der principatus, foweit die freiheit nicht ber
pax und dem bonum commune wiberftreitet. Dial. P. II, Tr. II. LI,
c. 2.
1) ®gl. Goldast. Tom. I. Super potest. Praelatis etc. comisss.
a) |. u
3) Goldast. Tom. I, P. 15. Bgl. Octo Quaest. I, c. 15.
4) Opus nonaginta Dier. c. 88. 89.
5) Opus non. Dier. c. 108. Dial. P. IH, Tr. OD, L. DI, c. 19; vgl.
auch c. 2.
6) Nur wer den Staat anerkennt, kann Eigentum haben, da es ja durch
jus humanum eingeführt if. Dial. P. III, Tr. I, L.D, c. 6.
?) Dial. P. DI, Tr. U, L. II, c, 23—25.
Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 685
ftimmt it. Der Staat 3. B. Tann für fich die Vielweiberei nicht
ftrafen, weil fie nicht dem Naturgefe zumiber ift!). Am aus
führlichften hat er fi in der Schrift de jurisdictione impera-
toris in causis matrimonialibus hierüber ausgefprodhen. Dem
Stante zugehörig feten alle Ehen, die Nichtgläubige fchließen, ober
Ständige und Nichtglänbige. Selbft ein ungläubiger Kaifer habe
zu richten über folche Ehen auch in dem falle, wenn der Ungläu⸗
bige während des Prozeſſes gläubig geworden ſei. Ja er geht
bier bis zu dem etwas unbeftimmten Sage fort, daß der Kaiſer
das Recht habe, von den kanoniſchen Gefegen der Kirche abzu⸗
weichen, wenn es zum Nuten ded Staates diene oder bei drin»
gender Notwendigkeit: denn menſchliche Geſetze, befonders aber
firhliche feien nur um des allgemeinen Nutzens willen gegeben
und follen nulli onerosae vel captiosae fein. Wenn nicht die
divina lex widerjpricht, jo muß den Kirchengefegen gegenüber die
ersisixeie zugezogen werden, was der Kaiſer thun kanu irrequi-
sito summo Pontifice.e. Denn wenn die Kirchengefege in de-
trimentum reipublicae redundant, braucht fi} der Fürft nicht
an fie zu Halten. Der Gedanke, der ihn hier leitet, ift der, daß
der Kaifer in Ehefachen, foweit die Schrift nicht beftimmend ein-
greife, felbftändig entſcheiden könne. Hieran Hindert auch nicht,
daß die Ehe Sakrament ift. Er ftrebt vielmehr danach, zwiſchen
dem, was durch jus naturale gentium, durch leges civiles und
dem, was in der Schrift geboten und verboten ift, zu unterfchetden,
um über das erftere dem Kaiſer die Eutfcheidung zu laſſen.
Bor allem wichtig erjcheint ihm aber das Strafrecht des
Staates; e8 ſei principalissime Aufgabe des Staates, ut corri-
gat et puniat delinquentes. ‘Denn ohne dies bedlrfe es feines
Fürften, fondern nur eine® doctor und monitor ad bonum ?).
Hier find es freilih nur die crimina saecularia, welche ber
Kaiſer zunächft beftrafen kann. Offenbar verfteht er darunter bie
Nechtöverlegungen. Sofern diefe nun aber zugleih Sünden find,
fheinen fie als Sünden auch vor den geiftlichen Nichter zu ge»
1) Dial. P. III, Tr. U, Lib. II, c. 16.
3) Octo Quaestiones, Quaest. III, 6.
44*
686 Dorner
hören. Indes meint Decam, vielmehr umgelehrt ſeien die Geiſt⸗
lichen, welche weltliche Verbrechen begehen, felbft der Bapft !) nicht
ausgenommen, ber jurisdictio des Kaiſers unterworfen. Wirklich
ftrafen Tann nur der, ber Macht Hat; die jurisdietio coactiva
gehört dem Kaifer, überhaupt dem Staate. Die Kirche hat Feine
Zwangsgewalt 2). Ste kann daher nur Poenitenz auferlegen, aber
fie kann nicht trafen. Ste Hat das Net corrigendi, aber nicht
puniendi. Das gilt auch von ſolchen Zodjünden, die Verbrechen
find. Allein der Staat hat das Recht zu ftrafen. Und er braucht
ſich in diefer Hinficht nichts vorfchreiben zu Laffen ®). Occam geht
alfo in diefer Beziehung energiſch auf das Ziel los, die Gerichts»
barkeit dem Staate zurüdizuerobern und ber Kirche nur foldhe
Poenitenzen zu überlaffen, welche mit der bürgerlichen Strafe nichts
zu thun haben.
Endlich aber iſt es das Recht des Staates, ſich felbſt die
Verfaſſung zu geben, ſeine Geſetzgebung zu beſtimmen, das Ver⸗
mögen der einzelnen, ſo weit es erforderlich, in ſeine Dienſte zu
nehmen. Und hierüber iſt noch etwas genauer zu reden. Hier
tritt der Nominalismus von Occam in feiner praftifchen Kon⸗
fequenz wenigftens infofern zutage, als er den Staat auf das
bonum commune, d. 5. auf die gemeinfamen Intereſſen aller,
und eben daher auch die Staatsvollmacht urfprünglich in der Ge-
meinfchaft aller gegründet ſieht und geneigt ift, den Staat auf
den Vertrag aller zu bafteren. Er bezeichnet es als das gene-
rale pactum societatis humanae, dem Könige zu gehorchen 4) in
Bezug auf das, was Gemeinwohl fe. Der Fürft ift nicht um
feiner feldft willen da, fondern tft nur von der Gemeinſchaft aller
zur Geſetzgebung und Leitung 5) bevollmächtigt. Eben daher bes
fteht auch die Pflicht des Gchorfams nur inbezug auf das, was
1) Dial. P. III, Tr. II, L. IH, c. 21. 22. ‘Octo Quaest. I, 17:
8) Dial. I, L. VI, c. 2-4. Chriſtus war auch ber jurisdietio des Pi⸗
latus unterworfen.
8) Dial. P. II, Tr. 1, L. DU, c. 11. 12; vgl. aud) Super potestate
etc. Dialogus inter militem et Clericum.
4) Bgl. Dial. P. II, Tr. II, L. II, c. 28.
6) Dial. P. I, Tr. H, L. I, c. 27.28. P. IH, Tr. ILL. I, c. 6.
Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 687
dem Gemeinwohl dient. Der Kaifer Hat nicht mehr Vollmacht
über die einzelnen als das Volk, das fie ihm gegeben Hat, und das
bat nur Macht gegen den einzelnen, wo es das gemeinfame In⸗
tereife aller fordert. Nur um der communis utilitas willen ift
ein Fürft da; wenn er über diefe Kinausgeht, jo ift das inordi-
natum illicitum ?). Demgemäß kann auch das nur Gefegestraft und
fönnen nur die Maßregeln Geltung haben, welche dem Gemein⸗
wohl nützen 2). Das ift nun freilich ein gefährlicher Grundjag,
welcher gegen die Auflöjung des Staates Teine Garantieen bietet,
da hiernach das Recht beftlünde gegen alles Widerftand zu leiften,
wos der eigenen Anſicht gemäß dem Gemeinwohl oder dem Naturs
geſetz widerſpricht. Das macht er denn auch in der That geltend
und fordert nur, daß man dann gehorchen müſſe, wenn man nicht
ficher einſehe, daß ein Befehl gegen jus divinum, naturale oder
das Gemeinwohl fei. Dagegen ift es nicht Pflicht in ſolchem zu
gehorchen, was zweifellos nicht dem Gemeinwohl dient. Er er.
kennt deshalb auch ein Recht der Revolution an; in folhem Falle
kann fi) ein rusticus gegen den Kaifer auflehnen, ja casualiter
darf einer fogar den Kaifer töten). Im Falle der Not kann
die Gemeinfchaft den Fürften abfegen; denn das natürliche Recht
geitatte vim vi repellere %). Aus diefen Beftimmungen, welde
feineswegs etwa ein Firchliches Intereſſe der Herrjchaft über den
Staat im Hinterhalt haben, ift zu erjehen, wie ftark die Intereſſen
der einzelnen gegenüber dem Ganzen bervortreten. Wenn der
Vertreter de8 Staates — der Fürft — nicht die Intereſſen auf
rechtliche Weife vertritt, fo kann das Volk fich feiner entledigen,
fo ift man nicht zu Gehorfam verpflichtet, und es muß in der
That auffallen, daß Occam, der fonft fih in den feinften juriſti⸗
ſchen Unterfuchungen gefällt, bier fo wenig Gewicht darauf legt,
ber gejeglichen Ordnung des Staates bie notwendigen formellen
Garantieen zu geben. Um das Recht aufrecht zu erhalten, wo es
1) Dial. P. II, Tr. U, L. DI, c. 27.
3) Dial. P. II, Tr. U, L. DI, co. 28.
8) Octo Quaestiones, Quaest. VIIL 5.
4) Octo Quaestiones, Quaest. II, 7. Dial. P. IL, Tr. U, L. I, c. 1.
688 Dorner
verlegt wird, will er den Staat; wenn aber der Vertreter des
Staates felbjt das echt verlegt, fo ift er eben nicht mehr der
legitime Vertreter der gemeinfanen Nechtöintereffen. Es würde
weniger auffallen, wenn er hieraus den Gedanken ableiten würde,
daß das Volk einen folchen Fürften in aller Form’ Nechtens ab»
legen Tünne. Daß aber jeder einzelne Beliebige foll Widerftand
leiften können, geht offenbar auf feine nominaliftifche Anfchauung
von dem einzelnen zurüd. Doc ſcheint er ein Gefühl von der
Gefährlichkeit folder Beftimmungen zu haben, wenn er bie umd
da bemerkt, daß mit dem abusus noch nicht ohne weiteres das
Net des Negimentes verloren gehe‘). Und mehr als einmal
weiſt er darauf Bin, daß, wenn der Unterthan auch den König
mit machen könne, fo habe er doch feine Superiorität über ihn 2).
Auch will er offenbar von der Oppofition nur im wirklichen Rechts»
falle Gebrauch gemadıt wilfen, ba ja biefelbe eben nur um des
Rechtes willen berechtigt ift, und fo weift er auch wieder darauf
bin, daß, da der Fürſt von der Gemeinfchaft fein Negiment habe,
wer gegen den Fürften ſich vergehe, fich gegen alle feine Unter-
thanen vergehe ?).
Wenn jo der Staat wefentlih auf das pactum der Gefell-
haft gegründet ift 4), fo läßt er fih nun im einzelnen auf die
Frage näher ein, ob denn das Volk feine Rechte auf einen über-
tragen foll, ob Monarchie, jelbftverftändfih Wahlmonarcie, befjer
jet als Vielherrichaft, und ob viele Meonarchieen oder ein Welt»
monard) wünſchenswert fei; und diefe konkreten Unterfuchungen
zeigen denn do, daß er für die Stetigkeit der Verfaſſung ſich
nicht völlig das Auge verjchließt. In beiden Fragen leitet ihn
der Gedanke, daß im allgemeinen betrachtet, die Einheit befjer fei
als die Vielheit, weil dadurch Streit vermieden werde: und daß
daher die Monarchie der Ariftofratie vorzuziehen ſei ®), felbitver-
1) Bgl. Octo Quaestiones, Quaest. I, c. 10.
2) Octo Quaestiones, Quaest. I, c. 12.
8) Dial. P. III, Tr. I, L. II, c. 25.
4) Dial. P. IH, Tr. U, L. II, c. 28.
5) Octo Quaestiones, Quaest. HI, 5.
Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 689
ftändlih eine Monarchie, die auf der Wahl des Volkes in letter
Inſtanz bafiert, — e8 müßte denn fein, daß der Monarch zu ver⸗
dorben ift und die Umſtände e8 erfordern, ftatt der Willfür des
einen eine Ariftofratie einzuführen, was aber nicht ohne brins
gende Not gefchehen fol). Denn die Monarcie ift auch darum
am beften, weil fie fi an die Familie anfchließt und fo das Nas
türlichfte 9) if. Im übrigen aber legt er anf die Stetigfeit der
monardifchen Succeſſion ein großes Gewicht, wenn auch feine
Meinung dahin geht, daß wenn ein Fürſt feinen Nachfolger (felbft
feinen Sohn) ernenne, er dies nur thun könne, weil er ſich vom
Volke dazu beauftragt anjehen müffe ®), die Succeffion alfo in
letzter Inſtanz auf der Volkswahl bafiert. Was aber die Einheit
des Kaifertums gegenüber den Königen angeht, fo bat er in feiner
früheren Schrift *), deren Echtheit, wie bemerkt, Niezler freilich an«
zweifelt, zwar die Anficht ausgefprochen, daß der König von Frank⸗
reich und der Kaifer gleich jouverän feien, und hierin zeigt fich der
Anfag zu der Auffafjung des Staates als eines nationalen.
Allein nachdem er in bie Dienfte des Kaifers getreten ift, betont
er mehr die univerfelle Monarchie, ohne daß er freilich deshalb
die Refervatrechte der Fürſten aufgeben wollte 5). Die Gritnde,
1) ®gl. Octo Quaestiones, Quaest. III, c. 7.
3) Dial. P. UI, Tr. RL. I, c. 10.
8) Octo Quaestiones Quaest. IV, 5; vgl. andy VIII, 3 wo er bemerkt,
daß, wo feine Kaiferwahl fei ausgeübt worden, man anzunehmen babe, der
Kaifer habe felbft feinen Nachfolger gewählt, jo daß die Kontinuität nicht unter-
Brocken fei. Das Bolt habe dem Kaifer das echt Übertragen, feinen Nach⸗
folger zu wählen.
4) Super potestate etc. gegen den Schluß.
5) Dies ift gegen Nitter infofern geltend zu machen, als dieſer die fpätere
Wendung der Occamfchen Gedanken nicht berüdfichtigt, vgl. a. a. DO. ©. 576,
Anm. 1. Gegen Müller, Der Kampf Ludwigs des Bayern I, 215; II, 88
ift dagegen Hervorzuheben, daß Occam feine Auffaffung der Selbftändigleit des
Staates und zwar in nationaler Form fchon unter Bonifac VIII. in dem er-
wähnten Traktat geltend gemacht hat. Daß diefer Traltat älter ift, geht
daraus fchon hervor, daß Goldast. I, p. 13 Bonifac VIIL erwähnt wird, der
„nuper noviter“ ftatuiert babe, er fiehe über allen Fürſten. In biefer
Schrift wird das Papfttum fchon von ganz anderen Seiten angefochten als bloß
von der Seite des „Karbinalbogmas der Minoriten“. Gegen Müller II,
6% Dorner
die er hierfür geltend macht, beziehen fich teils auf einen Hiftorifchen
Nachweis, bei dem ihn bejonders dte Kontinuität des Kaiſertums
feit der Römerzeit interefftert, die er Hiftorifch zu erweiſen fucht 7),
teil8 auf den Gedanken, daß ein Univerfalftant um feiner Einheit
millen feine Aufgabe, Frieden zu erhalten und rechtliche Zuſtünde
zu fördern, beffer erfüllen könne, weil fo die Kriege der Fürften
unter einander leichter vermieden werden, und das Unrecht ber
Höheren ebenfo wie das der Niederen fi verhindern Lafje ?).
Daher er auch bemerkt, daß mit feinem Könige einen Krieg gegen
den Saifer zu führen, ein Majeftätsverbrechen fei, und wenn einer
nicht beftimmt wiſſe, ob der Krieg ungerecht fei, fo müfje er es
fiher annehmen, daß er ungerecht fei, da er für den Kaiſer ftets
ein günftiges Vorurteil haben müſſe d). Auch inbezug auf das
Raifertum ift feine Meinung, daß dasfelbe vom Volle ftamme
und zwar von der universitas mortalium übertragen ſei *).
Das römische Reich, das alle Völker vereinigt habe, habe hiermit
nicht eine Ufurpation begangen, da vielmehr die Völker alle diefer
Vereinigung zugeftimmt haben. Der Kaiſer ift principalissime
von der universitas mortalium 5) gewählt. Die Wahl des
Raifers ftehe urfprünglicd nad) dem jus gentium allen Völkern
zu, in Bertretung aller den Römern, und diefe können wieder
andere beauftragen, fo jet die Kurfürften, durch deren Wahl
(quasi vice omnium eligendo) fofort der Gewählte römiſcher
Kaiſer ©) ſei. Er betont es als die Pflicht des Kaiſers, feine
262. Sollte man aber die Echtheit dieſer Schrift nicht anerkennen, fo fieht
burch die oben erwähnte Ausfage Elemens VI. jedenfalls feft, daß Occam ſchon
bei feinem Aufenthalt in Paris ſolche Aufichten Hatte. Daß er inbezug auf
das Kaiſertum andere dachte, als er in die Dienfte bes Kaifers trat, anders zu
ber Zeit, da er in Frankreich lebte, ift ſehr begreiflich.
1) Dial. P.IH, Tr. II, L.I, c. 2629. Octo Quaestiones, Quaest. IV.
c. 8.
3) Dial. P. IL, Tr. II, L. I, c. 13; LUD, c. 5.
8) Dial. P. II, Tr. U, L. D, c. 20.
4) Dial. P. IN, Tr. U, L. I, c. 27. 29.
6) Dial. P. IH, Tr. DH, L. I, c. 29,
6) Man erinnere ſich daran, daß diefe Anficht mit der Enticheibung des
Kurvereins zu Renfe zufammenftimmt 1388. Octo Quaestiones, Quaest. IV,
Das Berhältnis von Kirche und Staat nad Occam. 691
Souveränität über alle Fürſten feftzuhalten Y); ihm liegt fo fehr
an der Einheit des den Erbdfreis umfaffenden römifchen Reiches,
daß er den Kaifer, der Länder preisgeben wollte, als einen Zer⸗
ftürer des Reiches anjähe, der feine Bollmacht überfchritte.e Das
römifche Reich kann nicht vermindert werden, da dies gegen das
bonum commune aller Bölfer wäre, da e8 alle Völker umfaßt;
ohne die Zuftimmung aller Menſchen Tann es daher auch nicht
verringert und geteilt werben 2). Dagegen macht er einen wefents
lichen Unterfchted zwiſchen den Ländern, welche der Kaiſer in feine
eigene Verwaltung nimmt, und denen, welche er unter Wahrung
feiner Oberhobeit Königen überläßt. Auf diefe Weife wird die
Tendenz des Univerjalftaates, durch den allein das Recht nad)
feiner Meinung wirklich gehandhabt werden kann, mit der Idee
der nationalen Staaten einigermaßen verföhnt, der er früher hul⸗
digte. Das Gefagte mag zeigen, wie Occam das Recht des
Staates ?) auf eine von der Kirche unabhängige Verfaſſung zu
wahren fucht, aber feinem Nominalismus entfprechend diefe Ten⸗
denz jo durchführt, daß er auf die natürlichen Rechte des Volkes
zurückgeht.
Wenn ſo Occam vor allem das Recht dem Staate zuſchreibt und
ihm eine ſelbſtändige Stellung zu geben bemüht iſt, ſo wird dieſe
ganze Auffaffung doch wieder abgeſchwächt, wenn wir das
ſittliche Ideal von Decam ins Auge faffen, das im Möuch⸗
c.9; c. 7; vgl. Quaest. VIII, c.3. gr. Dial. P. IH, Tr. I, L. I. c. 26—29.
Bol. Riegler a. a. O. ©. 252.
1) Dial. P.IM, Tr. U, L. U, c. 7. Der Kaiſer Tann nicht feine Herr⸗
ſchaft über Frankreich aufgeben, ohne da8 Reich zu zerflören. Das ift wohl
gegen die Bulle Johanu XXIL gerichtet, welche Frankreich und Italien vom
Reiche loszureißen beabfichtigte. Vgl. Müller a. a. ©. I, 336f. Ähnliches
Hatte Schon Nikolaus III. beabfihtigt. Bol. Höfler, Die romanifche Welt zc.
Situngsberichte der philofophifch-hiftsrifchen Klaffe der Wiener Alademie 1878.
©. 307 f. |
3) Dial P. III, Tr. U, L. I, c. 31.
3) Es ift in diefer Hinficht bemerkenswert, daß DOccam von dem Kaifer
vor allem Kunde der weltlichen Geichäfte fordert, während ex Kunde von Glau⸗
bensfachen nicht zn haben braucht Dial. P. II, Tr. DI, L.I, c.15, wenn auch
manche die entgegengefettte Meinung haben.
692 Dorner
tum gipfelt und das im Grunde die meiften Güter, zu deren Schuß
der Staat ba ift, geringihätt. Daß Occam den ehelojen Stand
für vollkommen Hält, verfteht ſich von felbft !).: Was das Eigen-
tum angeht, jo gehört er in dem Streite der Minoriten mit dem
Bapfte zu den Hauptverfechtern der ftrengen Anſicht. igentum
ift in dem ursprünglichen Naturzuftande gar nicht vorhanden ges
weien. Urfprünglich war alles gemeinfam zu gemeinfamen Ge⸗
brauch 2). Seine Wurzel ift der Egoismus, und ganz auf das⸗
felbe zu verzichten, ift die Forderung der volllommenen Heilig»
keit )). Um zu zeigen, daß die Minoriten diefem Ideale völlig
entſprechen können, läßt er fih auf feine juriftifche Tragen über
das Verhältnis von Gebrauchsrecht, Gebrauch einer Sache, Eigen»
tum, und ebenjo auf biftorifche Unterfuchungen ein, ob Chriftus
und die Apoftel Eigentum gehabt haben. Inbezug auf die juri«
ftifchen Fragen fucht er nachzumeifen, daß wer den Gebraud einer
Sache habe, noch nit im Beſitz derjelben fei*), und wer ben
Gebrauch faktiſch habe, damit noch feinen Rechtsanſpruch zu machen
brauche; er künne das, was er brauche, doch fo brauchen, daß er
jederzeit bereit fei, darauf zu verzichten, wenn es ber Geber for⸗
dere. In diefer Weile ſtehe es mit den Gütern, welche die Mi⸗
noriten im Gebrauch haben; erjt fo fei die vollfommene Entfagung
erreicht. Ste haben den usus facti, aber nicht den usus juris),
Sie fünnen die licentia, Dinge zu gebrauchen, haben, aber nicht
als rechtlich, jondern als concessa ®). Inbezug auf das Eigen»
tum der Mönchsorden hebt er den doppelten modus hervor, daß
einmal zwar der einzelne fein Eigentum babe, aber die Gemein»
ihaft, oder daß zweitens auch die Gemeinfchaft fein Eigentum
habe. Das erfte fei bei den Auguftinern der Ball; das legte fei
1) Opus non. Dier. c. 115, P. 1216.
2) Opus non. Dier. c. 4, c. 27: „communissimum “.
3) Opus non. Dier. c. 76. Durch Beſitz wird Liebe zum Irdiſchen
genährt.
4) Compendium errorum etc. c. 2. Opus non. Dier. c. 87.
5) Comp. c. 3. 4. Opus non. Dier. c. 58. 60.
6) Opus non. Dier. c. 64. 61.
Das Berhältnis von Kiche und Stant nach Occam. 698
erſt der volllommene Zuftand, status perfectissimus !). Wenn
er daher auch zugiebt, daß nach dem Naturreht im alle der Not
das Recht beftehe, fich das Notwendige anzueignen ?), fo fordert
er doch vollen Verzicht auf jede rechtlihe Form des Eigentums
und feined Gebrauchs von den Minoriten, da es, wie er gegen
Sohann XXI. des Öfteren betont, um bie Liebe zum Weltlichen
gänzlich fallen zu laffen, nicht bloß der Unabhängigkeit vom Eigen-
tum und der Entfagung in der Gefinnung bedürfe, fondern aud)
in den Thaten ?). Was aber das Hiftorifche angeht, fo fucht er
verſchiedentlich darzuthun, Chriftus und die Apoftel haben fein
Eigentum gehabt, auch feine leider habe er nicht als Eigentum
befeffen ). Durd freiwillige Armut fei auch der rechtliche Beſitz
der res consumptibiles ausgefchloffen und bei Chriſto thatjächlich
ausgeichloffen gemein. Wir haben hier das wunderliche Schau⸗
fpiel, dag der PBapit, welcher von den Rechten des Staates und
der Selbjtändigfeit des Weltlichen nichts willen will, gefunbere
Anfichten über das Eigentum ausfpricht ale der Mönch, ber aufs
feiten des weltlichen Regimentes fteht, der aber den denkbar Höch-
ften Grad der Entäußerung des Eigentums fordert. Aber man
darf nicht vergefjen, daß der Papſt im Zufammenhang mit feiner
Forderung über die Staaten zu herrichen auch weltlichen Beſitz
forderte und daß das damit zufammenhängende kirchliche Vers
derben überall Grund zu den lauteften Klagen gab). So er-
Härt es fich, daß von der Geiftlichkeit Verzicht auf weltlichen Be⸗
fig oder wenigftens Maß in diefer Beziehung gefordert wurde,
wovon unten noch näher zu reden ift, und daß der aufſeiten des
Raifers jtehende Mönch völlige Entäußerung von allen rechtlichen
Formen des Eigentums von ben Volltommenen verlangte. Chriſtus
habe fo wenig weltlichen Beſitz als weltliche Herrichaft gehabt,
und die Kirche, befonders in ihren vollfommmenen Gliedern habe
1) Opus non. Dier. c. 8. 10. 17; vgl. c. 108. 109.
2) c. 61.
3) Opus non. Dier. c. 42.
4) Comp. c. 3. 4. 6. Opus non. Dier. c. 60.
6) Bol. 3. B. die Schrift Petri Cassiodori de Tyrannide Pontificis Ro-
694 Dorner
ihm hierin zu folgen !). Wenn es alſo einerſeits allerdings eine Ab⸗
ſchwächung der Weriſchätzung des Staates iſt, wenn die Güter, die
er ſchützt, wie Ehe, Eigentum, als nur für unvolllonmene Menſchen
wertvolle Gßter anzuſehen find, — zumal ja audy die nom Stante zu
ſchützende Freiheit bei München durch den Gehorfam gegen die Oberen
gebannt ift und die ftaatliche Strafgewalt nur unter Borausfeung der
Unvollkommenheit der Welt da ift —, fo darf man anderſeits dach
nicht verfennen, daß die Nichtung auf Entfagung vom Eigeutum bei
Dccam aufs engfte damit zufammenhängt, daß er die Einmiſchung
der Kirche in weltliche Angelegenheiten, die Verweltlichung der Kirche
überhaupt befeitigt wiſſen will, was doch wieder dazu führen muß,
daß dem Staat das weltliche Regiment zugeichrieben wird. Er⸗
wägt man ferner, daß er, wie unten erhellen wird, fiir die Kirche
doch nicht fo weit geht, ihr alles Recht auf Vermögen abzu⸗
Sprechen, daß er aber Doch in den DVermögensangelegenheiterusigh
Staat als oberſte Autorität betrachtet, daß er ferner fürause,
die nicht zum volllommenften Stande gehören, ebenfoldk detdfinn®
lichen Schuß ihrer Freiheiten und Eigentumsrechncrergiſch nr
tritt, daß er alſo bloß für die vollkommenſten Chriften oahige Ally
forderungen ftellt, die niemals auch nur die Mehraehl drh iVBqelles
bilden, fo wird man zwar zugeftehen müffen, daß Ieinnſttibche
Ideal ſich nicht mit feiner Wertihägung des Stantes’in Eirtkbavß
befindet und die leßtere hierdurch noch an ihrer vollen Entieituug
gehemmt ift, daß aber doch im wefentlichen feine Hochſchätzung deß
Staates ihn eher zu einem fittlichen Dualismus führt, ale daß zer
fih bemühte, den Dualismus zu ungunften des Staates zu bes
jeitigen.. Und Hierzu mag vor allem die ſtchon oben erwähnte
Nithtung feines Geiſtes beitragen, welche in ihrem fittfichen Ideal
auf die mönchiſche Vollkommenheit des einzelnen gerichtet if. Gr
fühlt ſich nicht berufen, für bie Kirche gegen den Staat einzu.
treten; weit eher ift er geneigt, bei dem Staat den Rechtsſchutz
mani, ſchon um 1250 bei Goldast. Tom. I. Ebenfo ſchon Berrhard von
Clairvaur, auf deſſen Schrift De consideratione Occam ſich mehrfach be⸗
zieht. |
1) Comp. c. 6. Opus non. Dier. .c. 93.
Das Berhältnis von Kicche und Staat nad) Occam. 695
gegen die Kirche zu fuchen, falls biefe ald organifiertes Ganze dem
Heilsbedürfnis des einzelmen und der Art, wie er es befriedigen
wit, in den Weg tritt. Handelt es fih alfo um Kirche und
Start, fo trifft fein ſittliches Ideal noch weniger mit ben Ans
ſprüchen eimer verwehtlichten Kirche zufammen, als mit der An⸗
erkennung des Staates auf dem weltlichen Gebiet, das man nun
doch einmal nicht für alle aus der Welt fchaffen kann und das
doc einer ſtreng rehtlichen Ordnung bedarf, während die Kirche
die Mimpriten ftrenger Obfervanz verfolgte.
Daß DOceam die befchriebene Auffaffung vom Staat im weſent⸗
fichen vetreten Tonnte, war nur unter ber Vorausfegung möglich,
bag er einen anderen als den tm Wiittelniter üblichen Kirchen⸗
begriff geltend machte. Hütte er die Anſchanung völlig geteilt, ‚daß
die Kirche ein fefter in fü adgefchloffener Organismus fei, ber
um feiner göttlichen Befchaffenheit willen, über alles bie. letzte
Entſcheidung haben müfle, was irgendwie mit der Religion zu⸗
ſammenhüngt — und was hängt .nicht mit ihr zufammen! — hälte
er ber Kirche als organifierter Gemeinschaft und ben Vertretern
derſelben, den Prieflern unbebingt Autorität zugeftanden, fo wäre
es kaum möglich geweien, dem Staate eine jelbftändige. Stellung
zu geben. Denn in der That Sam es gegenüber der dominie⸗
senden Üirchlichen Strömmg bdaranf an, daß ber Kirchenbegriff
umgewandelt werde, da diefer eine Unterdrüdung der Selbftän-
digkeit des Staates notwendig zur Folge hatte. Wir behandeln
daher nun:
N. Occams Kirchenbegriff.
Es find fir den Kirchenbegriff beſonders drei Punkte von
Wichtigkeit, die Occam geltend macht. Zu erſt dies, daß als bie
Aufgabe der Kirche Hingeftellt wird, die spiritualia zu be»
handeln, d. 5. das regimen fidelium, in quantum revelatione
divina instruantur !), daß den Kirchenmännern die Kunde des
Weltlichen abgefprochen wird, daß er als Aufgabe der Geiftlichen
1) Dial. P. III, Tr. I, L. DI, °c. 4.
696 Dorner
anfieht verbo praedicationis, lectioni, orationi vacare !); bie
Kirche hat es mit dem GBöttlihen zu thun, mit dem, was ben
Glauben betrifft. Hiermit hängt nun aber zweitens dies zufammen,
daß die Kirche weſentlich als Glaubensgemeinſchaft, congre-
gatio fidelium erfaßt wird. Da er überall das Intereſſe der Ber-
fönlichkeit im Auge hat, fo legt er eim geringeres Gewicht auf die
anftaltliche Seite der Kirche. Bei ihm tritt die ſakramentale Auf⸗
faſſung der Kirche zurüd, eben damit auch die autoritative Auf»
faffung. Die Kirche ift ihm nicht in dem Sinne organifierte
Gnadenanftalt, daß der Gehorfam gegen fie das erfte wäre. Sie
ift ihm vielmehr eine gemeinfame Angelegenheit aller, an der alle
fih nicht bloß paſſiv, fondern aktiv beteiligen fönnen. Der Glaube
muß jebermann intereifieren und inbezug auf Glaubensjachen kann
auf Grund der Schrift der einzelne fich ein felbftändiges Urteil
bilden, und unter Umftänben hat er nicht nur das Necht, fondern
auch die Pflicht, diefes Urteil geltend zu machen. Er unterfcheidet
fehr Scharf zwifchen den Dekreten der Konzilien, der Päpfte, der
Lehre der Väter und zwiſchen der Offenbarung in der Schrift und
der durch die Geſamtheit der Apaſtel feftgeftellten Canones der
Apoftel 2). Lestere und die Schrift gründen fich allein auf gött«
fihen Urfprung. Die Kirde ift ihm mit einem Worte congre-
gatio fidelium; fie ift nicht im Klerus gegeben, fondern in dem
ganzen chriftlihen Volt, und wie er im Staate bie Negierenden
nur im Sintereffe de8 bonum commune regieren läßt, fo auch im
der Kirche; die Organifation ift bloß Mittel für das kirchliche
Wohl aller einzelnen. Das Papfttum wird nicht als eine not»
wenbdige göttliche Inſtitution betrachtet, ſondern als eine Einrich-
tung ex ordinatione humana ?). Die Organijation wird dem
entfprechend fo eingerichtet werden, wie es dem Wohle der con-
1) Dial. P. UI, Tr. U, L. II, c. 19, p. 917.
3) Dial. P. II, Tr. I, L. UI, c. 25, p. 842 sg. De jurisdictione:
imperatoris Tom. I, p. 28, wo er tadelnd fagt, daß nad einer beflimmten
Anficht die Kleriker die Kirche feien: quos (die Klerifer) per ecclesiam intel-
ligunt superaddicti. Dial. P. I, L. V, c. 29.
8) Dial. P. UI, Tr. U, L. I, c. 8.
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 697
gregatio fidelium am meiften entſpricht ). Hiermit ift alfo ale
dritter Punkt feine veränderte Auffaffung der Verfaſſung ges
geben. War gerade die Verfaffung in der römifchen Kirche von
zentraler Bedeutung geworden, war in der organifierten Kirche das
Heil und in ihr auf unfehlbare Weife, wobei man freilich noch
über die bejte Form der Organifation. ftritt, ob der Papſt bem
Konzil übergeordnet fein ?) follte, oder umgelehrt, jo geht Occam
vielmehr von dem Intereſſe des Firchlichen Volkes aus und bes
merkt, daß ſowohl Wahl als Abjegung der Biſchöfe und bejonders
des Papſtes in letzter Inſtanz dem Vollswillen zukomme. Daß
hierdurch das feſte Gefüge der kirchlichen Organiſation weſentlich
erſchüttert wird, verſteht ſich von ſelbſt. Er führt in dieſer Hin⸗
ſicht aus, daß nach dem jus naturale dem römischen Volke zuſtehe,
den PBapft als römischen Biſchof zu wählen. Denn es jei natürliches
Necht, daß bei dem, was alle angehe, alle fich beteiligen, was ebenfo
von Tirchlichen wie von weltlichen Angelegenheiten gelte. Es ſei das
ſogar nach göttlihem Rechte, fofern ein Biſchof nach göttlichen echte
jein foll und der Wahlmodus nad) dem jus naturale auch der Schrift
entipreche. Sofern aber der Bapft zugleich der ganzen Ehriftenheit
borfteht, wählen die Römer in Stellvertretung der ganzen Chriften«
heit, e8 jei denn, daß fie häretiſch wären, in welchem alle bie
anderen Katholiten zu wählen hätten ®). Ebeuſo aber können bie
Römer ihre Wahlrecht auf die Kardinäle übertragen, wenn bieje
nicht ketzeriſch ſind. Was hierdurch verhindert werden fol, ift
die Tyrannei Über die Gewiffen. Oft genug jagt er: wenn der
Bapft ftets, auch wenn er irrt, unbedingten Gehorfam fordern
fönnte, fo jeien die übrigen nicht Freie, fondern Sklaven; dann
fei das Evangelium nicht mehr Evangelium der Freiheit fondern
eine neue Sklaverei“). Der Gehorfam gegen die Autorität ift
1) Dial. P. UI, Tr. I, L.IV, 24; P. III, Tr. I, L. U, c. 20—26. 28.
3) Occam ſcheint wenigſtens für den zweifelhaften Fall in einer Glaubens-
frage das Konzil über den Papft zu ſtellen. Man könne vom Papfi an das
Concilium generale appellieren Comp. error. c. 8.
2) Dial. P. II, Tr. U, L. IH, c. 5. 6. 18.
4) Dial. P. IH, Tr. , L. I, c. 6. 12. 18.
68 Dorner
alfo kein unbedingter; zur Prüfung und, auf Grund ber Offen-
barung der Schrift, zum Widerſpruch gegen ſolches, da8 der Schrift
widerftreitet, ift jeber berechtigt, ja verpflichtet. Iſt der Papft
Häretiter,, fo ift er eben damit feines Amtes verluftig, und ein
jeder kann ſich gegen ihn wenden !). Um biefen Sa zu erhärten,
unterſucht er dem Begriff des Häretikers und macht bier ben
Unterichieb, ob jemand bloß irre und ſich Eorrigieren laſſe, ober
ob er incorrigibilis ji. Am leßteren Falle ift er im vollen
Sinne des Wortes Häretifer, fo der PBapft insbefondere, wenn er
3. DB. die Berufung eines Konzils verhindert, um feine Sache
nicht unterjuchen zu laffen, oder wenn er trog allee Mahnungen
bei feinem Irrtum beharrt ?). Übrigens -giebt er verfchiedene Male
den Inſtanzengang an, der bei einem häretifchen Bapit eingehalten
werden muß. Zunächft hat als Vertreter der ecclesia universalis
das Konzil, oder wenn dies nicht, das Kardinallollegium, wenn
dns verfagt, die Prälaten und Kleriter, oder wenn fie verſagen,
die Laien, befonders die Vertreter des Volkes, die Fürften ®), ſchließ⸗
lich jeder einzelne zu handeln, da Glaubensſachen alle angehen *).
Die Laien haben fi) dabei nach der auctoritas scripturarum zu
richten 5). Dem entfprechend verfteht es fich von felbft, dag für
ben Bell, daß der Papft Häretiker ift, auch Appellation von ihm
möglich if. Wenn Occam auch nicht jo weit geht, die Häre⸗
tifer von einer Beftrafung dur ‚deu Staat auszuſchließen, fo
koönnen doch über die Härefe die kirchlichen Autoritäten durchaus
nicht unfehlbar entſcheiden, da ‚vielmehr felbit inbezug auf ben
Bopft gefagt wird, daß, wie man einen wahnfinnigen Papit hin⸗
dern möfle, mit Gewalt fich felbjt oder andern Leids zuzufügen,
1) Compendium error. c. 8. Nach Octo Quaest. III, 8 ift er als Häre-
tifee minor quolibet catholico.
2) Dial. P. J, L. DI, c. 3, c. 26, c. 29.
8) Dial. P. I, L. VI, c. 57, c. 73, 8lsg., c. 99; vgl..o. 15. 64.
4) Die Simplices ohne briomdere Stellung Comp. error. c. 8. Octo
Quasest. I, 16. Dial. P.L L. V, 29; vgl. P. III, Tr. J, L. II, 6. 7. 9.
5) Dial. P.I, L. VI, c.99. Er unterjcheidet c. 100 ſolches, was noch nicht
fiher als Härefe feftfteht, von ſolchem, was fich ſicher als Härefe erkennen läßt.
Erfleves gehört vor ein allgemeines Konzil. P. II, Tr. I, L.IIL, c. 4. 25.
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 8
man fo auch einen häretifchen Bapft eventuell gemaltfam daran
Hindern müffe, Seelen zu morben ). Das Gefüge ber Organi«
fation tft erfchlittert, und das kommt der Selbftändigkeit des Stuates
natürlich zuftatten.
Das zeigt ſich befonders daran, daB Occam durchaus nicht
geneigt iſt, die Vertreter der kirchlichen Gemeinſchaft ala die zu
betrachten, welche die Prudikate der Helligkeit und Unfehlbarkeit
für die Kirche garantieren. Er will nit, daß die Kirche einen
Papft fih gefallen Laffe, der in Verbrechen verwickelt ift, welche
öffentliches Argernis geben. Ihm geniigt keineswegs bie Bingliche
Heiligkeit, welche durch die Ordination dem Priefter zuteil werden
fol. Ebenfo aber Tann nicht nur der Papft Häretifer fein; auch ein
Konzil kann irren und zwar nicht bloß über Thatſachen, fordern
aud über Lehrinhalt. In dieſer Beziehung führt er aus, ein
Konzil pflege nicht durch Offenbarung, fondern durch Stubium und
Forſchung feine Anfichten zu Bilden, könne alſo nicht unfehlbar fein, es
müßte denn Bott miraculose et aperte eine Offenbarung geben 2).
Es ftüge fi vielmehr auf menfchlicde Weisheit und Schriftforfegung,
nicht auf unmittelbare Offenbarung ®). Die Irrtumslofigkeit will er
darum freilich für die Kirche nicht aufgeben, er fteht fie aber nicht in
der Organifation garantiert; nur die gefamte congregatio fidelium
kann nicht ieren *). In echt ſcholaſtiſcher Manier fragt er, ob alle
Geiſtlichen irren Können — ja; ob alle Männer ivren können; ja ob
alle Frauen irren können — ja; denn dann bleiben noch die Kinder,
und biefe Tönnten eventuell die Träger Tirchlicher Unfehlbarkeit
durch Offenbarung fein; denn den Ummiürdigen hat Gott es ger
ı) Dial. P. I, L. VI, 65.
3) Dial. P.I, L.V, c. 25.26. P. IH, Tr. I, L. DIL, e. 5. 8. Dasfelbe
Gehauptet er von allen Klerilern, es fei kein Grund, weshalb: nicht alle im
Berein follten irren können, ba ihre Funktionen fie nicht notwendig vor Irr⸗
tum behüten, weder die des Kinchenregiments, ned; ihre lehrende Funktion, wie
fie auch an fich wicht heilig ud. Dial. P. EL V,.c. 29. -
8) Reine vocatio humana kaun den BZufanmengerufenen Irrtumsloſtgkeit
garantieren. Dial. P. IL, Tr. I, L. III, c. 5. 8.
9 Dial. P.L, L. V,29—31, wenigſtens nicht mbezug auf Glaubensſachen,
wenn auch in dem, was facti ift, Dial. P. IE, Tr. I, L. EV,#e. 22,
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 45
700 Dorner
offenbart !). Hierdurch wird offenbar der Sag von ber Unfehl⸗
barkeit der Kirche praktiſch — und da allein hat er Bedeutung —
wefentlich erjchüttert, und es wird gegenüber dem BPrieftertum das
Recht der Laien prinzipiell anerfannt. Das um fo mehr, als er,
wie bemerkt, al& die einzige unfehlbare Autorität die Schrift und
die Canones der Apojtel gelten läßt, nicht die Defretalen der
Bäpfte, die Ausfprüche der Doktoren oder der Konzilien ?).
Und doc; kann man nicht fagen, daß Occam die thatfächliche Ver»
faffung aufgeben wild. Er behandelt gelegentlich die Frage, ob in
der Kirche eine monarchiſche Spige wünjchenswert fei und bejat Die»
jelbe, wenn er auch Fälle anerkennt, wo es mehrere Patriarchen
geben könnte, womit der Weg zu Nationallirchen betreten werden
fönnte 9). Auch daß man für gewöhnlich dem Papft in geiftlichen
Dingen Gehorſam jchulde, ftellt er nicht in Abrede. Da ein
Konzil nicht immer beifammen fein Tann, ift für die laufenden
Geſchäfte notwendig, daß einer an der Spike fteht und für ges
wöhnlich, wenn alles regelrecht zugeht, bat man dem Papft zu
gehorchen, ja jo lange, bi8 man duch pofitive Einficht darüber
Gewißheit Hat, dag er irrt 4). Dasfelbe gilt natürlich von einem
Konzil, wenn e8 nicht irrt. Daß er ferner, wie im Staate, auch
in der Kirche Sinn für bie Kontinuität der Entwideluug hat, geht
daraus hervor, daß er es mehrfach tadelt, wenn ein Bapft bie
diffhinitiones feiner Vorgänger aufpebt 5), was freilich damit nicht
ganz zufammenftimmt, daß er die Möglichkeit zugiebt, daß ein
Bapft Häretiter fei; ebenjo aber Hält er um der Kontinuität willen
bad Bapjttum für notwendig, wo nicht die Verhältniffe anderes
1) Dial. P. I, L.V,32—35. Auch Preger, Der firdhenpolitiiche Kampf
unter Ludwig dem Bayer, Abhandlung der Hiftgrifchen Klaſſe der Lönigl. baye-
rifchen Alademie, Bd. XIV, Abtl. I, S. 8, ficht in diefen Äußerungen die Anficht
Decams. Jedenfalls ift für Occamı die Unfehlbarkeit der Kirche nicht in ihrer
Organiſation garantiert.
2) Dial. P. IH, Tr. L, L. OJ, c. 4, c. 13. p. 842 sq.
3) Dial. P. IH, Tr. I, L. D,.c. 9. 10;. vgl. c. 20—26, c. 38. Der
leitende Gefihtspuntt iſt natürlich das, was dem — der Kirche entſpricht.
P. III, Tr. L, L. IV, c. 2..
4) Dial. P. IU, Tr. I, L. I, c. 19.
5) Bgl. Opus non. Dier. c. 122.
Das Berhältuis von Kirche und Staat nach Occam. 701:
fordern 1). Für unbejchränften Herren hält er den Papft aber in’
feiner Weife, auch vom Falle der Härefie abgejehen. Der Papſt
kann nichts thun, was gegen göttliches und natürliches Recht ift;
er kann auch nicht alles, was nicht gegen beides ift, auch nicht in’
spiritualibus, 3.9. kann er nicht Ungläubige zum Glauben zwingen,
kann nicht feinen Nachfolger beftellen, nicht zu dem zwingen, was
der Volllommenheit zugehört, zur virginitas etc., kann auch keinen’
Mönch von der Armut bispenfieren, nicht zwingen, eine Sünde zu
befennen, die man fchon dem confessor bekannt hat u. ſ. w. Ya
nad Dial. P. J, L. V, c. 15 ſcheint es, daßsdie Erfommunikation der’
Gemeinde und nicht dem Papft allein zukommt). Die Meinung,
der Papft fünne alles, fei eine Häreſe ’). Offenbar hat Occam
eine große Averfion gegen die päpftlicde Willfür, wenn er aud für:
gewöhnlich den Papſt, wenn er fi in den Schranfen hält, als
Autorität anerkennt; nur iſt dabei als bie letzte Maxime voraus⸗
gefeßt, daß die Verfaffung dem Eirchlichen Wohle dienen muß und
daß die Leiter fich deffen bewußt bleiben und dem entjprechend
handeln follen, alſo nicht duch Verbrechen Ärgernis geben und
nicht durch Irrtum und Häreje die Kirche in die Irre führen:
dürfen. In folhem Falle fteht das Gemeinwohl höher als bie
Autorität der Tirchlichen Oberen. Es läßt fi hier derjelbe Grund⸗
zug der Gedanken verfolgen, wie bei feiner Staatsauffeffung. Ohne.
an den gegebenen Formen etwas zu ändern, wird doch durch bie
Betonung bes Gemeinwohls, das der Autorität der verfafjungss
mäßigen Ämter übergeordnet wird, und das er in dem Wohl aller
einzelnen fieht, die thatſächliche Wertihägung der Verfaſſungsformen
unter einen anderen Gefichtspunft geftellt und dem einzelnen weit.
mehr Spielraum und Einfluß auf das ganze gewährt als es in
dem Sinne der vorhandenen Verfaſſung liegt). — Dan fieht im:
1) Dial. P. UL Tr. ,LD, c. 1.
2) Bol. Preger.a. a. D., S. 8.
8) Vgl. befonders Dial. P. II, Tr. HU, L. I, c. 28.
4) Sch flimme Müller volllommen zu, wenn er II, 266 bemerft, daß im!
Decams Schriften „mit dem mädtigen Rütteln an. bem alten Bau ber Hier-
archie, wenn auch unfcheinbar, die Vorbereitung . eines neuen -Tirchlichen —
faffungslebens verknüpft war“.
45*
702 Doruer
feinee Betrachtungsweiſe tft ein enger Zufannnenhang. Die Aufe
gabe der Kirche Find bie spiritualia, diefe find Angelegenheit eines
jeden, fie dürfen alfo aud nur fo verwaltet werben, daß das In⸗
texeife der Gläubigen gewahrt bleibt, das bie oberfte Norm ift;
hierans ergisbt fi, daß die Drganifation und die Autorität Ber
Briefterfchaft nicht uubedingten Wert haben kann und beferänft
fein muß ').
Hieraus ergiebt fich auch noch dies, daB, wie die Kirche im
Gebiete der spiritualia nicht else unbedingte Herrfchaft über die
Gläubigen haben fol, jo fie vollends nicht in das weltliche Gebiet
übergreifen kann, weder weltliche Herrſchaft noch weltliche Reichtümer
beanſpruchen darf, daß fie Vermögen nur in dem Maße haben folf,
als es für ihre geiftkichen Zwecke fürberlich ift, im derem Dienft
ihr Vermögen fein muß. Hierüber verbreitet fig Occam häufig.
Auch Hier macht er Gebraud von der Auſicht, daß bie chriſtliche
Gemeinschaft. urfprünglich im Befitze von Eigentum ſei, das chrift⸗
liche Voll, daß alfo diefes auch unter Umſtänden über die Ver⸗
wendung der Güter mit zu beftimmen babe ?). Daß bie Kleriker
gar kein Eigentum haben follen, furbert er nicht, aber Reichtümer
brauchen fie auch nicht, da fie keine äußere Macht anszıüben haben,
für die man Reichtümer brauchen würde). So viel als fie für
ihren Unterhalt brauchen, foll ihnen gewährt werden, aber mehr
ift vom Übel. Wenn die Kirche mehr befigt, fo foll fie es au
den geiftlicgen Zwecken verwenden, für bie es gegeben ift; aber
fein Papft ober Biſchof darf Kircdengut willlürlich behandeln, ofme
Urfache veräußern ) oder zu willlittlichen Zwecken verwenden. Die
Zwecke, zu welchen es verwendet werden fol, find einmal gottes⸗
bienftliche, fodann für Arme, für religiosi, für ecelesiastiei und
enbli für weltliche Arme). Wenn die Prälaten der Kirche es
fhleht verwalten, fo kann es nad) dem Grundſatz, dag es eigent-
1) Der Glaube fieht Höher ala der Papſt Dial. P. IL I. VE e. Yösq.”
2) Opus non. Dier. e. 76. 77. Die congregatio fidelium Sat urſprũng⸗
lich Rber Eigentum zu Beftimmen. Octo Quaest. I, 17.
8) Dial P. HL Fr. L L. IE c. 29.
4) DaL P. UL Tr H, L.L e 28.
5) Opus non. Dier. c. 76.
Das Verhältnis von Kirche nd Staat nad) Occam. 2103
üb der congregatio fidelium gehört, auch von Laien verwaltet
werben. Auch ift feine Meinung nicht, daß unter normalen Ber⸗
häftniffen der Papft die Verfügung Über alles kirchliche Eigentum
in letzter Inſtanz babe, da vielmehr auch einzelne Kircheneigentum
haben können; der Bapft Hat ur in dem Maß Vollmacht, als es
die Gläubigen beftimmt haben *). Der Bapft darf auch nicht mehr
von den Gläubigen in Aufpruch nehmen, als für feine Bedürfniſfſe
pro victu, vestitu et exercendo suo offieio nötig ift 2). Was
darüber Hinausgeht, hat er entweder als Geſchenk oder sibi usur-
pat tyrannice ?). Das Geſchenk aber hat er nur jo zu verwal-
ten, wie es der intentio dantium entfprict 9. Verfügt er am
ders, fo ift da8 ein Diebitahl, und er iſt zur Rückgabe verpflichtet.
Hierfür wird Bernard von Clairvaux als Zeuge aufgeführt in
feiner consideratio für den Papft Eugen). Man darf hierbei
nicht Überfehen, daB nah ihm Eigentum überhaupt nur nad
menfhlihen pofitivem Rechte entfteht, daß alfo auch die Kleriter
Eigentum nur jure kumano ®) haben fünnen. Bon bier aus if
es völlig konfequent, wenn Occam inbezug auf das Eigentum eine
völlige Selbftändigkeit der Kirche und ihrer Vertreter nicht an«
erlennt, fondern verjchiebentlich hernorhebt, die Kirchenbeamten Haben
an weltlihem Gut nur jo viel zu beanſpruchen, als ihnen nötig
jei; und dieſes Gut ftammt won ber congregatio fidelium, farm
aber ald Eigentum nur gelten durch geſetzliche Anerkennung Des
Staates. Und wenn fidh hier die Kirche auf ihr kanoniſches Recht
berufen wollte, jo jagt Decam oft genug, daß das kanoniſche Recht
nicht das weltliche Recht aufheben Lünne 7). Eben bager fchreibt er
inbezug auf das kirchliche Vermögen dem Staat eine ‚beauffidh-
tigende Stellung zu, wovon im nächſten Abfchnitt noch ein Wort
1) Opus nen. Dier. c. 77.
2) Octo Quaest. III, 4. Papſt und Bijchöfe feien zum Dienſte da, nicht
dazu, der Herde lac et lanea zu nehmen.
3) Octn Quasst. VI, &.
% Octo Quaest. VIII, 5; I, 16.
5) Octo Quest. VIII, 5, p. 385(®).
6) Opus non. Dier. cc. 88. 89.
) Octo Quaest. IH, 2.
704 Dorner
zu reden if. Daß Kirchenbeamte vor das weltliche Gericht gehen,
um zu prozejfieren, findet er daher, wenn auch nicht als dem voll«
kommenſten Stand entfpredhend, fo doch auch nicht unberedhtigt ?).
IU. Verhältnis von Kirche und Stant.
Wir haben bisher gefunden, daß Occam bemüht ift, dem Staat
für fich feine Aufgabe zuzuweifen, bie er felbftändig zu löfen bat,
wie die Kirche die ihrige. So ift das Ideal des DVerhältniffes
"beider zu einander dies, daß jeder für fich von dem andern nicht
geitört das Seine zum Wohl der Geſellſchaft volibringen möge.
Und wenn er auch die Religion für höher hält als da8 Intereſſe
für das Irdiſche, fo glaubt er deshalb doc nicht, da man von
der Religion aus die temporalia beftimmen fünne. Denn wenn
er ih auch das Bild von Sonne und Mond inbezug auf das
Verhältnis von Kirche und Staat, Papft und Kaifer aneignet ?),
fo legt er e& doch in dem Sinne aus, daß ein fatholifcher Kaifer
in spiritualibus (fofern er eben zugleich Chrift ift) die Direktion
vom Papft erhalte, auf die temporalia und ihr Negiment hat
das feinen Einfluß.
Obgleich jo beides auseinander gehalten wird, fo führt Occam
den Standpunft der Scheidung doch nicht völlig fonfequent durch.
Denn er fällt, wenn auch nicht für dem regelrechten Gang der
Dinge, jo doh für Ausnahmefälle in die Vermifchung geiftlicher
und weltlicher Angelegenheiten 'zurüd. Er kommt Häufig darauf
zu Sprechen, daß es im Grunde dasſelbe Volk ift, welches ber
Bapft und Kaifer beherrfcht, welches fich einen Papft und einen
Kaifer zu wählen von Haus aus berechtigt ift, ein geiftliches
und ein weltlihes Oberhaupt. Wenn er daher auch für ge-
wöhnlich (regulariter) die Anficht geltend macht, daß die Tei⸗
fung beifer fei, al8 wenn nur ein Oberhaupt wäre, das über
1) Opus non. Dier. c. 108. 115. 117. 119.
3) ®gl. Dial. P. III, Tr. I, L. I, 24. Octo Quaest. I, 14, wo Staat
und Kirche mit Leib und Seele verglichen find, aber dem Leib ausdrücklich feine
eigenen Funktionen zugefchrieben werden. Der Papft verhalte fich zum Kaifer
wie der Bater zum Sohn, was fi) aber nur auf die un beziehe: Octo
Quaest. I, 13.
Das Berhältnis von Kirche und Staat nach Occam. 708
spiritualia und temporalia zugleih verfügen könnte, fo ift für
ihn nicht regulariter, aber doch casualiter nicht ausgefchloffen,
daß der geiftliche Regent weltliche Angelegenheiten oder umgekehrt
der weltliche geiftliche Angelegenheiten beforge. Im Grund find
beide Vertreter des Volles und können alfo für außergewöhnliche
Fälle auch über ihre gewöhnliche Kompetenz hinausgreifen. Man
darf fich daher nicht wundern, wenn Occam das, was wir bisher
als feine Anſicht aufgeftellt haben, wieder durchkreuzt, nämlich ca-
sualiter, für bejtimmte Fälle, in denen das ausgeſprochene prin«
zipielle Verhältnis von Staat und Kirche fich nicht durchführen
läßt, weil entweder die Kirche oder der Staat feine Pflicht nicht
tut oder nicht thun kann. Eine Durchkreuzung des Prinzipes ift
Hierin deshalb zu finden, weil er nicht dabei bleibt, daß die Kirche
in folhem Falle, wie auch immer, fich felbft helfe oder der Staat,
wie auch immer, fich felbit helfe, fondern casualiter Kompetenz.
überfchreitungen von beiden Seiten duldet. Zu feiner Entſchul⸗
digung läßt fi anführen, daß er einmal inbezug auf deu Einfluß
des Staates auf die Kirche für feine Zeit den Kaifer als Ehriften
vorausfeßt, und von dem Grundfa aus, daß jeder Ehrift gegen
Berderbtheit und Ketzerei der Tirchlihen Dberen feine Stimme er»
Heben dürfe, die Fürften nicht davon ausſchließen kann, im In⸗
tereffe des chriftlichen Volles einzufchreiten. Freilich verkennt er
bier den Unterfchied zwiſchen dem Fürften als einer chriftlichen
Perſon und ald Staatsoberhaupt, der aber auch den Res
formatoren noch nicht deutlich geworden if. Was aber den Ein.
fluß der Vertreter der Kirche auf den Staat angeht, fo ift hier
derfelbe Grundfag, daß das Voll, ja jedes Mlitglied des Volles
gegen Fürften, die ihre Pflicht verfäumen, ihre Stimme erheben
fünne, fo verwendbar, dag auch der Papft im Auftrag des Volkes
casualiter bie Pflichten de8 Staatsoberhauptes verfehen kann,
wobei Occam freilih Amt und Perfon auch Hier nicht auseinander»
Hält und Überfieht, daß das firchliche Amt als folches eben hier ein
Hindernis bildet. Mit einem Wort: Gerade’ das, worin Occam
jeine Stärfe hat, daß er auf das Volk als die Gefamtheit der ein-
zelnen feinem Nominalismus gemäß zurüdgeht, wird für ihn eine
Klippe, an der die fonfequente Durchführung der Sonderung der
706 Dorner
Aufgaben der ftaatlichen und ber kirchlichen Gemeinſchaft ſchei⸗
tert. Der eingelne iſt Ehrift und Bürger zugleich, und jo kann
er, — und zwar je einflugreicher er Durch eine amtliche Stellung
ift, um fo mehr — im Notfalle für beibe Gebiete eintreten.
Daß Hier die in feiner Zeit noch herrſchende Theorie der Ver⸗
mifhung don jtaatlichem und kirchlichem Gebiete nachwirkt, wird
nicht zu leugnen fein. Im ganzen aber extennt man, welche hohe
Bedeutung er dem Staatsleben zufchreibt, darin, daB er auch ca
snaliter nicht bloß im theofratifchen Papismus zurückfällt, ſondern
ebenfo wenig byzautiniſche Abwege abjchneidet. Über intereſſant
bleibt es, gerade an feinem Beiſpiel zu fehen, wie theokratiſche
und buzantinifche Neigungen in einander übergehen können, wie
beide Syſteme Zwillingsgefchwilter find. Doch betrachten wir feine
Anficht noch etwas im einzelnen und zwar zuerſt die theokratiſchen,
ſodann die byzautiniſchen Abweichungen, bie freilih — das darf
Man nie vergeſſen — nur als Ausnahmen für den Notfall zu bes
traten find.
Um die Eingriffe des Papſtes als ertraordinäre zu bezeichnen
und auf außerprdentliche Fälle zu beſchränken, bemerkt er häufig,
der Bapft habe kein Hecht, die Kerhte und Freiheiten anderer sine
culpa et absque causa zu ſtören ). Dagegen Habe der Papft
in casu necessitatis in temporalibus quandam potestatem ?),
Und wenn auch der Papſt an ſich sicht das Recht Hat, Für⸗
ften einzufegen, was daraus, dag er fie falbt oder krönt, nicht
kann abgeleitet werden ®), jo kann er doch in casu ſelbſt den
Kaiſer abjegen, wenn diefer debita officia debite exercere nollet
1) Octo Quaest, I, 7.
2) Octo Quaest. I, 8.
8) Octo Quaest. I, 12. 13; II, 10; VI, 2. Die Krönung und Salbung
dient dazu, die magnificentia regalis zu zeigen, bie reverentia zu erhöhen
Octo Quaest. V, 8; IV, 7. Der Kaifer wird wicht erſt durch dieſe Bere
monieen zum Kaijer, ev it es eo ipso IV, 7; VIU, 8.5, Dial P. IU,
Tr. U, L. I, c. 21; P. UI, Tr. U, L. OD, c. 29. Die Salbung und Kr
nung ift menſchliche Inſtitution, nicht wie die Ordination eines Prieftere
göttlich. So müßte duch menſchliches Recht beſtimmt fein, daß fie erft
die fürfllihe Macht gebe, Octo Quaast. V, 8. 8 9; VI, 2, was nidjt be»
fimmt if.
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 70
vel non posset und um feiner iniquitas willen inutilis ift Y.
Übrigens bemerft er, daß der Papft wur dann eingreifen könne,
wenn die, denen es zulommt, es ihm übertragen ?), oder wenn fie
nicht tönen oder nicht wellen und talis immineret casus, der es
darchaus untwendig macht, daß eingegeiffen wird. Über einzelne
facta, wo fich Pupſte Abfegung von Fürſten geftnttet haben, in
England und Spanien urteilt er ungünftig; «8 fei da eine pupft⸗
fiche Ufurpation vorgelommen; und Ähnliches deutet ex inbezug auf
Innecenz IH. in jeinem Verhältnis zu Friedrich IL an). Finder
eine Vakanz in der kaiſerlichen Succeffien ftatt, fo bat der Papft
zwar nicht an fi das Net, in die Lücke einzutreten; aber doch
fann an ibn der recursus im Notfalle jtattfinden, wenn fein
Bicarins da iſt ). So behampten mande, daß durch die Ber-
mittlung des Bapftes das Saifertum an die Franken gekommen
jei, und Occam ſcheint der Meinung zu fein, daB fih das an»
nehmen laſſe, wenn man dabei nit den Papſt ale Papit fondern
als Römer amd Beauftragten des römiſchen Volkes anfehe °); in
fetter Juſtamz bleibt er doc dabei, Kaijer fei der Frankenkönig
duch die Römer geworden 9). Und wenn er auch von feinem
1) Octo Quaest. I, 12.
2) Octo Quasst. I, 8; VIII, 5. Der Papft übt damit nad) der letzten
Stelle kein anderes Necht aus, als jedem Bürger zufteht, f. o. ©. 687. Für.
gewöhnlich bat der Papft das Necht, den Kaifer abzujegen, nicht, weder jure
divino, noch humano; und wenn e8 ein Kaifer ihm verliehen hätte, wäre er
destructor imperii; alſo kann er dies wohl nur im Notfall, wenn fein anderer
einen ſchlechten Kaifer entfernte Dial P. IH, Tr. II, L. I, c. 8.
8) Octo Quaest. IL, 8. Die Theorie, daß der Papſt vom Unterthaneneid
entbinden Tönne, erkennt er kaum an. SHöchftens hat dee Papſt erflären
können, daß einem abgeſetzten Kaiſer die Unterthanen nicht mehr den Bid zu
halten braudgen, wenn fie ihn darum frugen. Octo Quaest. VII, b.
4) Octo Quaest. H, 14. Dial. P. UI, Tr. U, L. I, c. 22. „Supplet
defectum“, aber nad) ber letzten Stelle nicht als Papſt fondern im Auftrag
der Römer oder der Wähler. Den Auſpruch, daß dem Papſt eo ipso das Reichs⸗
vifariat zuftehe, erkennt er nicht an.
5) Octo Quaest. IV, 5.
6) Octo Quaest. IV, 8. Diele Erörterungen bieten auch inſofern Intereſſe,
als fie zeigen, wie Occamı und feine Zeitgenofien bie Geſchichtsforſchung durchaus
nur im Intereſſe einer beftimmten Theorie, nicht um ihrer felbft willen betreiben,
208 Dorner
Srundfag aus, daß das Volf die Rechte zu übertragen habe, anzu⸗
erkennen fcheint, daß die Römer zwar nicht das Imperium, aber das
Recht, bei der Kaiſerwahl beftinmend zu wirken, oder andern die
Wahl aufzutragen, dem Papfte Übertragen können, jo bemerkt er
doch zugleich, daß man über das Faktum, ob diefe Übertragung
ftattgefunden Habe, den päpftlihen Ausfagen nicht zu glauben
brauche, wenn fie nicht bewiefen feien; und wenn es einmal über.
tragen fei, fo fei es doch nicht für immer geſchehen; aud aus
einer consuetudo der Römer in diefer Beziehung laſſe fich ein
päpftliches Recht Teinesfalls ableiten ). Sieht man auf die ein-
zelnen Funktionen des Staates, fo ift Occam der Meinung,
daß in beftimmten Fällen das richterliche Urteil auf die geiftlichen
Richter übergehen könne, wenn nämlich die weltlichen ihr Amt ver-
nachläſſigen 2). Ebenfo wird bemerkt, daß in beftimmten Fällen,
die zweifelhaft find für den Richter, der Papft entjcheiden könne,
aber nur wenn ber Kaiſer nicht entfcheiden wolle, und aud in
diefem Falle nit richterlih, aber docendo et praecipiendo ®)
oder wie er es an einer anderen Stelle befchränft, wenn ber
Kaiſer es zuläßt 4). Eine consuetudo für den Papft kann hieraus
nur werden mit Zuftimmung des Kaiſers. Würde aber freilich
ber Kaiſer dulden, daß die Richter die justitia vernadjläffigen,
amd nicht dulden, daß der PBapft oder ein anderer bdiefen Fehler
ergänzt, fo wäre er ein destructor justitiae und als folcher ab»
zufegen 5). Hierin zeigt fich zugleich wieder, daß der Kaiſer nicht
um feiner felbft willen da ift, fo wenig wie der Papft, fondern
um bie Gerechtigkeit aufrecht zu .erhalten ®).
1) Dial. P. III, Tr. U, L. I, c. 80.
3) Dial. P. III, Tr. I, L. II, c. 7. Iſt kein weltlichen Nichter da, der
die saecularia ex officio possit vel velit judicare, fo fann fich der Papft
auch in das Richten über temporalia einmengen. Octo Su J, 11; aber
nad) II, 7 nur im Notfall.
$) Dial. P. II, Tr. I, L. DI, c. 16.
4) Dial. P. III, Tr. I, L. III, c. 21.
6) Dial. P. IIL, Tr. OU, L. III, c. 21.
6) Man wird aud) beachten müffen, daß Dccam nicht daran denkt, gegen
die Inftitution geiftficher Kurfürften anzugehen, welche zugleich weltliche Fürften
find. Dieſe Bermifchung beanſtandet er nicht, daher er die geiftliche Juris⸗
Das Berhältuis von Kirche und Staat nad) Occam. 709
Ebenfo aber kann auch in casu der Kaifer in das Kirchliche
Gebiet übergreifen. Es zeigt fi das fowohl bei der Frage nad)
der Einfegung als der Abjegung der Bäpfte. Der Kaiſer kan,
wenn die Kardinäle ketzeriſch find, als Late jedenfalls die Papft⸗
wahl mitvollziehen, deren Recht ja in letter Inſtanz im chriftlichen
Bolfe wurzeltl. Aber Decam geht weiter; der Kaifer könne bie
Wohl in folhem alle deshalb allein vollziehen, mie es auch bie
Geſchichte beweife, weil ihn die imperialis sublimitas magis
dignum hujus modi juris vel potestatis made !). Denn wenn
Laien au nicht folches thun follen, was Orbdinierte, fo können
fie doch das thun, was dem gemeinfamen Nuten dient, und mas
nicht zum ordo oder zu einem befonderen göttlichen Auftrag ges
Hört, umd letzteres ift bei der Bapftwahl nicht der Fall 2). Freilich
meint er, daB dies nur ein chriftlicher, katholiſcher Kaifer thun
könne, der nicht häretiſch ſei)). Was nun die Abfegung des
Bapftes durch den Kaifer angeht, fo ift dieſe natürlich auch nur
in casu benfbar. Daß der Kaifer inbezug auf bie vis coactiva
dem Papfte übergeordnet tft 4), daß der Kaiſer die jurisdictio
coactiva auch über den Papſt ausüben kann, wenn er weltliche
Berbrehen begeht, das ift noch keine Überjchreitung des Rechts⸗
ftandpunftes des Staates; dag aber der Kaiſer den Papft ab⸗
ſetzen kann), könnte ſchon eher bedenklich erſcheinen, vollends
aber, daß er einen Papft wegen Härefie foll abfegen können.
Hier Handelt er natürlich wieber im Intereſſe des bonum com-
mune und gegen einen bäretiihen PBapft, der als incorrigibilis
obendrein gar nicht mehr Papft fein kann, ja als Hüretifer eo
diktion inbezug auf Rechtsſtreit anzuerkennen fcheint, wenn einer unter der weltlichen
Jurisdiktion des geiftlichen Richters ſteht. Dial. P. IH, Tr. U, L. I, c. 18.
1) Dial. P. UI, Tr. V, L. III, c. 4, c. 18.
2) Dial. P. II, Tr. U, L. II, c. 4.
3) Dial. P. ILL Tr. OD, L. II, c. 5.
4) ſ. 0. ©. 686. Dial. P. IH, Tr. I, L. IU, c. 22.
5) Dial. P. IU, Tr. U, L. UI, c. 17; P. I, L.VI, c. 55. Wenn der
Bapft ſich weigert, falls er im Berbachte der Härefie fleht, eine inquisitio zu⸗
zulaffen, darf man den weltlichen Arm zubilfe rufen, wie nach c. 53. 54 bie
Fürften einen ſolchen, der gegen päpftliche — kämpft, zu ee haben,
eventuell felbft mit ben Waffen.
110 . Dorner
ipso aufgehört Yat, PBapft zu fein), kann er, wie gegen alle
Hüretiler, Gewalt anwenden; er kann ihn behandeln mie einen
Wahnfinnigen, der fich ſelbſt oder anderen Schaden zufägt. Das
kann vonfeiten des Staate®, der publicae potestates, geichehen
deficiente ecclesiastica potestate 2). Occam meint Octo Quast.
IH, 8, daß ein chriftlicher Fürſt das bonum commune spiri-
tuale fördern ſoll und zwar mit Bezug auf Glaubensſachen; ja
ein ungläubiger Färft kann fogar in eine causa fidei fi) miſchen,
zwar nicht fofern fie Offenbarungsfache ift, aber fofern fie rei
publicae mores angeht, im Intereſſe ded Gejamtwohles, weun
der Bapft als Häretifer incorrigibilis tft und der Kirche Ärgernis
giebt, oder wenn er Verbrecher ift, wobei auf das deutlichfte die
Borftellung mitwirkt, daß die Härefie wie ein anderes Verbrechen
anzufehen ſei. Ebenſo fteht auch den Fürften das Recht zu, an
dem Konzil teilzunehmen, zumal die Priefter doch auch nur ale
Vertreter des Volles an bemfelben beteiligt find ®).
Indem das Gefagte zeigt, daß der Papſt in casu über den Kaifer,
wie der Kaijer in casu über den Papft Gewalt Hat, ergiebt ſich zu⸗
glei doch, daß der leitende Grundgedanke, dat Staat und Kirche
als gleichberechtigte Größen anzujehen jeten, nicht prinzipiell verletzt
wird, wenn auch eine reinliche Sonderung der beiberfeitigen Auf⸗
gaben, die er anftrebt, am diefem Punkte nicht durchgeführt tft.
Es erübrigt, daß wir, au früher Erörtertes anfnüpfend, Occams
Anficht Über die Punkte noch zufammeniftellen, welche Stant und
Kirche gemeinfam find, über rechtliche Tragen, welche wach katho⸗
liſcher Anſchauung ſowohl vor den geiftlichen wie vor den weltlichen
Nichter gehören können, insbefondere die rechtliche Stellung und Bes
fugniffe der Kirchenbeamten, fodann das Tirchliche Vermögen, die Ehe,
um eine Überficht zu ermöglichen, welche zeigen mag, wie er, von
jenen beſprochenen casus abgejehen geneigt ift, dem Stante und der
Kirche auch in diefen beide gemeinfam angehenden Punkten das jedem
Zukommende zuzumeilen, aljo fein Grundprinzip zu wahren. Uns
1) Bal. ©. 698
3) Dial. P, I, L. VI, 99. 56
8) Dial. P. I, L. VI, 86
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad Occanı. a1
verhohlen tritt feine Auficht ſchon in dem Dialogus inter militem
et clericum hervor, ſowohl inbezug auf die Jurisdiktion, als das
Sirchenvermögen. Die Meinung, daß bie Kirche es mit der juris-
dietio der Verbrechen zu thun Habe, weil fie über Sünden zu ur⸗
testen habe, ja daß fie es überhaupt mit ben Gebiet des justum
zu thun habe, wird widerlegt; wer die Geſetze gegeben bat, ber
Hat zu urteilen, und das ift der Staat; will fich der Prieſter in
die Rechtſprechung einmiſchen, fo entfteht Verwirrung. Die Auf-
gabe des Priefters ſei zum Gehorfam zu ermahnen und Ver⸗
brechen zu tabein, aber nicht de justo et injusto cognoscere !);
&enfo wenig aber wie über Sittliches, das zugleich rechtlich if,
Gaben die Priefter über Hecztöftreitigleiten, die das Vermögen an⸗
gehen, zu entfcheiden. In diefer Beziehung blann das kanoniſche Recht
gegen das weliliche keine Geltung beanfpruuchen. Überhaupt hat der
Bapfı nicht das Recht, Geſetze des Kaiſers aufzuheben 2). Er geht
aber auch‘ dazu fort, die Ausnahmefteiung der Geiftlichleit inbezug
anf die ftaatliche Jurisdiktion zu mißbilligen. Die weltlichen Au⸗
gelsgenheiten auch der Geiſtlichen gehüren vor den weltlichen Rich⸗
ter ®), natürlich auch. die Streitigkeiten zwiſchen Laien und Gelft-
lichen ). Handelt es fih um Verbrechen, die vor den Strafe
richter gehören, fa giebt es Hein befonderes Recht ober ein geift-
Tiches Bericht für Priefter, Chriſtus Hat auch vor Piletns ge»
ftanden 2). Auch der Papſt hat hierin keine Ausnahmeſielluug,
wen er fidh gemeiner Werbrechen ſchuldig macht. Die vis cosc-
tiva kommt bem Staste u ©). Dem wenn Octam auch anerkennt,
1) Bgl. auch Octo Quaest. III, 4. Sollte, was mir nicht erwieſen zu
fein fcheint, der Dialogus inter militem et Clericum aud) nicht echt fein, fo
hleibt die Anſicht Occamıs tar weſentlichen biefelbe. Das erkennt auch Riezler
as, indem es zugiebt, es Imte Oecam der ausgeſprochenen Geſtunung nad
den. Dialog geſchrieben haben. A. a. DO. ©, 148.
% Disl. P. II, Tr. IL, L. N, & 29. 2gl. De jarindietione imper.
in causis matrimonialibus.
8) Dial. P. UI, Tr. H, L. II, e. 9.
4) Disl. P. II, Tr. ID, L. IH, e. 19.
8) Dial. P. I, L. VI, 4.
6) Diel. P. III, Tr. DO, L. III, c. 293. Der Papſt ma humanum
subire judieium, wenn er ein Verbrechen begangen bat Octo Quaest. E 17,
712 Dorner
daß in bem Gebiet der spiritualia die Kirche Gehorfam für ger
wöhnlich verlangen könne und dag in spiritualibus der Kaiſer als
gläubiger Ehrift auch von dem Papfte Weifungen erhalten fünne ),
fo ift das doc) nicht fo gemeint, daß dies fein weltliches Regiment
beträfe, in dem er felbjtändig zu entjcheiden Hat. Ya ein ungläus
biger Fürſt hört darum nicht nur nicht auf, Fürft zu fein, fondern
kann fogar einen verbrecherifchen Papſt trafen.
Was zweitens das Kirhenvermögen angeht, fo ift es feine
Rompetenzüberfchreitung, wie Occam meint, daß ein gläubiger
Fürft auch für das Wohl der Kirche forgen foll 2) durch Unter⸗
ftägung der Kirche mit Geldmitteln, die der Staat hat. Soviel
antemporalia, al® für den sumptus spiritualis ministeri und
vitae subsidium nötig fei, foll der Kirche geliefert werben. Auch
können Fürften der Kirche Schenkungen machen. Nur find diefe
nicht als unwiderruflich zu betrachten und nicht der ftaatlichen
Auffiht zu entziehen. Man wird es ferner anerkennen müfjen,
wenn er ausſpricht, daß das Kirchenvermögen überhaupt der An
erfennung des Staates bebürfe. Was das letzte betrifft, jo for»
dert er die Aufficht des Staates über Stiftungen, daß biefelben
der Intention der Geber gemäß verwendet werden. Der Fürft
hat hier feinen Rehteihug in vollem Sinne geltend zu machen.
Aber eben darum Hat er auch das Recht, im Notfalle das
Kirchengut zu befteuern. Nec est blandiendum ecclesiarum
superfluitati immo succurendum tantse gentis necessitati.
Wenn man einwende, daß man dba wieder nehme, was Gotte ger.
ſchenkt fei, fo fei zu erwidern: die rechte Anwendung des Geldes
ebenfo, wenn er Eigentum ober Rechte anderer angreift, und das and dann,
wenn ber Kaiſer Häretifer wäre. gl. Octo Quaest. H, 7. Dial. P. DIL,
Tr. H, L. OL, c. 21. Wäre der Papſt vom Gericht des Kaiſers ausge⸗
nommen, jo könnte das wegen der großen sequela des Papftcs für den Frieden
gefährlich werden.
1) Dial. P. HI, Tr. D, L. I, c. 19. 24 . .
3) Übrigens bemerkt Occam, daß der Kaiſer durchaus nicht. verpflichtet ſei,
dem Papſt einen Eid zu leiſten, daß er die Kirche ſchützen wolle, und hat es
ein Kaiſer gethan, fo find deshalb feine Nachfolger. nicht dazu verpflichtet. Octo
Quaest. II, 11.
Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occamı. 118
fei die für die salus populi christian. Wenn bie fire cen-
sualem agrum fauft, kann der Staat nicht den zu zahlenden
census verlieren; und wenn der Staat in Not ift, kann die
Kirche kein privilegium jo unbedingt erhalten haben, daß nicht
der Staat dasfelbe aufheben und um des öffentlichen Wohles.
willen Auflagen machen könnte. Sogar ber Bapft fchulde in tem-
poralibus dem Kaifer Zribut, wenn diefer ihm nicht immunitas
gewährte. Im großen und ganzen alſo nimmt er inbezug auf
das Kircheneigentum den Standpunkt ein, daß dasfelbe dem Rechts⸗
ſchutze des Staates und feiner Aufficht befonders im Intereſſe der
Beftenerung ?) und der rechten Verwendung unterftellt fei, wogegen
der Staat aber auch den Kirchen, wo es not thut, mit feinen
Mitteln zubilfe kommt.
Was endlih die Ehe angeht, fo hat hierüber, wie erwähnt,
Occam eine beſondere Schrift geſchrieben, und in welchem Maße
hier Occam das Recht des Staates geltend macht, ift oben ſchon
bemerkt worden. Die alten Kaifer haben, bevor e8 Kirchengefege
gab, über die Ehe beftimmt, und der Kaifer hat, joweit nicht aus⸗
drüdlich die lex divina in Betradht kommt, noch heute darüber zu
beftimmen. Wenn man die Ehe ald Sakrament bezeichne, und des⸗
halb die Ehefchließung der Kirche zufchreibe, fo ſei es fchon an ſich
nicht richtig, daß in jedem Falle nur die Cleriker Saframıente vers
walten fünnen. Jedenfalls aber habe der Kaijer über alles nicht
im göttlichen Geſetz Beſtimmte in Eheſachen die Entjcheidung; wenn
die Klerifer darüber beitimmen, fo beftimmen fie darüber nicht, ſo⸗
fern fie von Chriſto, fondern vom chriftlichen Volke den Auftrag
dazu haben oder vom Kaiſer oder virtute consuetudinis. Eben
daher kann ber Kaijer ftreitige causas ad se revocare, in quem
populus suam transtulit potestatem. Die firchlichen Konftitutionen
können bier fein Hindernis bilden, können nicht legibus civilibus
praejudicare.
Die Anfiht von Occam ift in biefer Schrift allerdings bes
ftimmt dur die Tendenz, die Heirat des Sohnes des Kaijers
1) Octo Quaest. III, 2. Dial. P. IH, Tr. H, L. I, c. 28; P. IH,
Tr. OD, L. I, c. 17.
714 Dorner
Lndwig des Bayern mit Margareta ven Tirol und Kärnthen dem
Wunſch des Kaifers entiprechend zu rechtfertigen. Eben daher ift
and) die Erörterung mehr auf bdiefen einzelnen Fall zugeſchnitten.
Aber fo viel ift doch deutlich, dag Dream glaubt, daß wenn fein
Hindernis aus dem göttlidden Gefeg, der Schrift im Wege fick,
ins ftreitigen alle der Kaifer in Eheſachen die Entfcheidung geben
tösme, daß bie Kirchengefetze Tein Hindernis bilden lönnen, bem
nicht der Kaifer ſein Recht gegenüber ftellen Könnte. Da die Che
Tofigleit fein Ideal ift, fo Tann die Ehe um fo cher dem Staat
von ihm überontwertet werden. Der Dualismus fommt and hier
wieder der Selbftänbigfeit bes Staates zuftatten. Seine Keuden
geht dahin, das, was an ber Ehe weltlich ift, ber Beſtimmung
des Staated zu unterwerfen. Daß freilich die Beſtimmung ſehr
ungenügend tft, daß wo bie lex divina in Betracht komme, bie
Kirche weitzubeftinnmen babe, leuchtet ein, einmal deshalb, weil cin
genaue Beitimmung im einzelnen über dad, was die Schrift be
fehle, alfo über die Fragen, deren Inhalt vor das geiftliche Fo-
rum gehöre, fehlt; ſodann aber auch deshalb, weil von feinem
Prinzip aus, daß die Laien, alfo auch der Kaiſer über die Mei⸗
nung der Schrift ein Urteil haben, es völlig überflüffig fcheint,
ſelbft das, was die Schrift lehrt, als vor das Forum der Fire
gehörig zu bezeichnen. Erwägt man. aber, daß er Ehen von Nicht⸗
gläubigen, und von Richtgläubigen und Gläubigen nur als dm
ftaatlihen Forum zugehörig betrachtet, dabei ebenfo alles, ws
nicht in der lex divina beftimmt ift, tw Eheangelegenheiten dem
Stante überweift und in biefer Anſicht ih nicht einmal durd de
Einwand, die Ehe fer ein Saframent, irre machen läßt, und bie
fnatliche Geſetzgebung gegen bie Birchfiche anerkennt, fo fickt man,
daß er auf dem Wege zu der Anſchanung ſich befindet, daß die
Ehe „ein meltliches Geſchäft fei”, worte ihn ſein Idesl mör
Hifcher Heiligkeit wie gejagt nur beftärken konnte. Daß er dabe
der Kirche das Ihre geben wollte, erhellt daraus, daß die Geſetze
der Schrift verbindfich fein follen und daß er nicht den fatramentele
Charakter der Ehe beftreitet, fondern nur dies, daß in jedem Zelt
ausichlieglich der Kleriker das. Sakrament verwalten müfſe; aber at
einer Maren Durchführung im einzelnen hat er es fehlen Lafiaı.
Das Berhältnis von Kirche und Staat nach Occam. 715
IV. Zufammenfaffende Überfidt.
Faſſen wir die Anfiht Occams kurz zufammen, fo ift fols
gendes zu jagen:
1. Occam gründet den Staat auf das Recht, das Recht als
natürliches auf die Vernunft, und fo fchreibt er dem Staat fein
eigenes Gebiet zu, in welchem er von ber Offenbarung unabhängig
it. Und doc iſt dabei zu beachten, daß er nicht in Vernunft⸗
abſtraktionen fteden bleibt, fondern die Tendenz verrät ſowohl in⸗
bezug auf den Staat wie aud die Kirche die konkreten Bedürf⸗
niſſe zu berüdfichtigen: daß er eine unter den gegebenen Umftänden
mögliche Verfaſſung will, deutet er mehr als einmal an, fo inbezug
auf die Trage, ob Monarchie, ob eine andere Verfaſſung im Staat
wie in der Kirche vorzuziehen jei.
2. Gegenüber der bisherigen Entwidelung ift dieſe Anerkennung
der Selbftändigkeit de8 Staates möglich, weil er zugleich die Auf>
gabe der Kirche auf die spiritualia einfchränft und ihr weſentlich
die Pflege der Frömmigkeit zufchreibt, diefem Intereſſe ihre Ver⸗
faffung dienftbar macht, alles Rechtliche daher mefentlich nur ale
Mittel für den geiftlichen Zweck betrachtet und eben daher die Juris⸗
diftion der Kirche in ber Weife befchneidet, daß SKollifionen mit bem
Staate vermieden werden können, weil die Kirche mit ihrer juris-
dictio nirgend mehr in das ftaatliche Gebiet, die temporalia und
die vis coactiva eingreift.
3. Diefe Trennung von Staat und Kirche will er aber doch
nicht zu einer vollen Scheidung werden laffen. In den Gebieten,
wo Staat und Kirche zufammentreffen, inbetreff der Jurisdiktion,
inbezug auf das Kirchenvermögen, ſucht er den Einfluß des Staates
auf die Kirche aufrecht zu erhalten, fo weit es ſich hier um das
Recht handelt, wie er anderfeitS aud) anerkennt, daß die Vertreter
des Staates in spiritualibus den Weifungen der Kirche, wenn fie
Släubige find, zu folgen haben, was freilich nicht das weltliche
Regiment betrifft. Ebenſo ſucht er in der Ehe dem Staat und
der Kirche, jedem das Seine zu Überweifen.
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 46
716 Dorner
Auf der anderen Seite hat er freilich nicht völlig die Ver»
mifhung beider Gebiete ferngehalten. Denn wenn er auch die
Selbftändigfeit des Staates infofern anerkennt, als er die Berech—⸗
tigung zur Staatslenkung durchaus nicht vom Glauben abhängig
macht, fo vergegenwärtigt er fi) auf der andern Seite doch, daß
es dasſelbe Volk fei, welches ſich ftaatlich und Firchlich organiftere.
Diefen Gedanken aber verwendet er unter dem Drud anderweitiger
BVorftellungen dazu, casualiter wieder in der bejchriebenen
Weiſe Firchliche und ftaatliche Angelegenheiten zu vermijchen. Dieſes
casualiter, das bei ihm fich geltend macht, droht alle Prinzipien
wieder in Frage zu ftellen, hängt aber damit zufammen, daß er
feine prinzipiell einheitliche Weltanfhauung hat und darum der
Cafuiftit Raum giebt.
4. Sein fittliches Ideal ift zwar im Mönchtum gegeben, alfo
in ber Zurüdftellung des Weltlichen gegen das Geiftliche, wie ſich
das ja auch im feiner Beftimmung des Verhältniſſes von Theo⸗
logie und PhHilofophie ausſpricht. So kann das Weltlihe an dem
ſittlichen Ideal gemeffen doc nur als etwas Lintergeordneted anges
fehen werden. Aber anderfeits geht Occam doch fomeit, die Selb»
ftändigfeit des Weltlichen völlig anzuerkennen. Aus diefer dop⸗
pelten Betrachtungsweife muß fih für die Ethik ein Gebiet auf-
thun, das der Kafuiftit ausgefegt ift, und man kann fich nicht
wundern, wenn das bei Decam in der befchriebenen Weife hervor»
tritt. Doc iſt bei ihm die Einfiht in die Selbftändigfeit der
weltlichen Gebiete foweit vorgejchritten, daß felbft da, wo er ca-
sualiter den Dualismus zwifchen Weltlihem und Geiftlichem
durh Vermiſchung beider Gebiete aufheben will, er doch nicht
völlig feine Anficht von dem höheren Wert des geiftlichen Lebens
durchführt, vielmehr auch hier ebenfo den Staat in die firchlichen
Verhältniffe eingreifen läßt, wie umgekehrt die Kirche in die ſtaat⸗
lihen. Das gefchieht aber zugleich deshalb, weil er das höhere
geistliche Leben auch nicht als ein fpezififch Kirchliches faßt, fondern
mehr als Sache des einzelnen anfieht, feinem Nommalismus ent⸗
fprechend, eben daher weniger das kirchliche Leben als Tirchliches
ale das höhere Leben auffaßt, als vielmehr das Leben in der
Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 117
Zurückgezogenheit von der Welt überhaupt, auch von ber größeren
organifierten kirchlichen Gemeinſchaft. So kann feine Höherfchägung
des geiftlichen Gebietes gegenüber dem Weltlichen inbezug auf das
Verhältnis von Kirche und Staat nur noch fo viel wirken, daß er
casualiter fomohl die Kirche dem Staat übergeordnet fein Täßt,
wie anderfeitS den Staat kirchliche Angelegenheiten beforgen läßt,
wodurch derfelbe doch auch felbjt in gewiſſem Sinne casualiter
einen geiftlichen Charakter gewinnt. Es ift das Verdienft der Ne»
formation, daß fie da8, was Dccam von feiner Kafuiftit abge-
fehen beabfichtigte, prinzipiell durchführen konnte, wenn fie freilich
in concreto aud wieder in byzantinifche Abwege teilweife geriet.
Diefe find aber bei ihr Inkonſequenzen und Nachwirkungen ber
vorhergegangenen Zeit, während bei Decam bie Unflarheit in ber
prinzipiellen Anſchauung eine konſequente Durchführung feiner Ten-
denz Weltliches und Geiftliches zu trennen unmöglich madte. Die
Neformation erfannte die Berechtigung der weltlichen Gebiete als
fittlficder Größen prinzipiell an. Sie kannte fein mönchiſches Ideal.
Ehen daher konnte fie rüchaltlos die Stellung des Staates ans»
ertennen, ja mußte es thun, dem Srundfage gemäß, daß die rechte
Frömmigkeit ihren fittlichen Einfluß darin zu zeigen babe, daß
man imftande fei, die weltlichen Berufe auf die rechte Weife, d. h.
fo zu erfüllen, daB diefelben als gottgewollte Aufgabe erfaßt,
und ihrer Eigentimlichkeit entprechend behandelt werden. Weil fie
ein einheitliches Prinzip hat, das nicht fittliche Thätigkeit in ber
Welt und Frömmigkeit auseinanderreißt, fondern die Frömmigkeit
zum Fundamente einer Sittlichfeit macht, welche die weltlichen Be⸗
rufe ihree Art nad erfüllt, ift hier prinzipiell die Kaſuiſtik aus⸗
geichloffen. Deshalb konnte auch die reformatorifche Anfchauung
eine volle Würdigung des Staates erjt möglich machen und feine
Selbftändigkeit rüchaltlos anerkennen ohne kaſuiſtiſche Klauſeln.
Und diefe Auffafjung hat fih in der weiteren Entwidelung mit
fteigender Konjequenz geltend gemacht und in der ftaatlichen Geſetz⸗
gebung wie in der proteftantifhen Ethik fi immer Harer heraus⸗
gearbeitet. Man könnte den Unterfchied von Occam aud) fo firieren:
Oeccam ertennt die Selbftändigfeit des Staates an, teild weil er
Das Weltliche vom Geiftlichen trennt, teils weil er die Kirche als
46*
718 Dorner
organijierte Hierarchie nicht hochſchaätzt, ſondern mehr auf dus
religidje Bedürfnis des einzelnen fiebt. Es fehlt ihm die poji-
tive Bereinigung von Frömmigkleit und weltlicher Ethik; hier iſt
vielmehr bei ihm noch das Möngsideal wirkſam. Die NRefor
mation behauptet prinzipiell bie Vereinigung der Frömmigkeit mit
der weltlichen Ethik und kann darum dem Staate feine felbftändige
Stellung geben, ohne daß die Frömmigkeit hindert, die vielmehr
gerade den Antrieb enthält, die meltlihen Berufe ihrer Eigen:
art entfprehend durchzuführen.
5. Bon befonderer Wichtigkeit ift für Occam der Grundſatz,
daß ſowohl der Staat wie bie Kirche Vollsgemeinfchaft fei, die
Verbindung von einzelnen zu einem Ganzen. Und wenn man
auch anerkennen muß, daß er inhaltlih für den Staat das Wohl
des Volles, d. H. aller einzelnen, für die Kirche die rechte Pflege
des Glaubens ale Aufgabe anfieht, fo verkündet er doch prinzipiell
angefehen dag Recht der Revolution in Staat und Kirche, falls
die Leitenden ihrer Pflicht nicht nadhlommmen. Gegenüber der ob.
jeftiven Autorität des Ganzen oder feiner Vertreter, gegenüber der
formellen Autorität des Amtes betont Occam das Recht der ein
zelnen an die Güter, welche der Staat und die Kirche pflegen
folen, fo ſehr, daß er gegen die Auflehnung wider die Autorität
im. Intereſſe der Sade nichts einzuwenden hat. Fragt man,
woran ber einzelne einen Maßſtab habe für das, was der Gemein
ſchaft ſchädlich oder nützlich fei, jo giebt er in kirchlichen Dingen den
Maßſtab der Schrift an, und es ijt nicht zu verfennen, daß er bie
in dem Angriffe auf die Unfehlbarkeit nicht nur des Papftes fon
bern auch der Konzilien und des ganzen Klerus als ein Vorläufer
Luthers zu betrachten ift, Allein auf dee andern Seite ift nidt
zu überfehen, daß ihm das Slaubensprinzip Luthers fehlt, von
dem aus innerlih der Willfür vorgeheugt wird; er bleibt doch
weientlih im autoritatinen. Gebiet ſtehen, indem er im bejten Fall
auf Berufung. auf die. Schriftautorität refurriert, jedoch ohne daß
das Subjekt fih den Glaubensinhalt prinzipiell zu eigen machte
und innere eigene Gewißheit und Glaubenserfahrung hätte. Da
ihm aber diejes inhaltliche Prinzip fehlt, fo kann er auch zu einer
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 9
vollen Gewißheit nicht kommen, und bie Erfchütterung ber kirch⸗
fichen Autorität at fein Gegengewicht an dem als wahr erfahrenen
Staubensinhalt. So fommt er über ein Schmanfen zwifchen Autos
rität, allerdings weniger der Kirche, als der Schrift, und Stepfts
prinzipiell kauum hinaus. Denn wenn ee auch für Laien für ben
Hall der Härefe ber kirchlichen Leiter in einzelnen Füllen den Rück
gang anf die Autorität der Schrift empfiehlt, fo Hat er doch
ſelbſt Inhaltlich von biefem Prinzip feinen Gebrauch gemacht, um
bie mittelalterliche Dogmatik zu erneuern. Und wenn man in beit
compendium errorum und dem opus nonaginta Dierum lieft,
was alles ihm als häretifhe Meinung gilt, fo wird deutlich,
wie wenig er in concreto einen primzipiellen inhaltlihen Maß»
ftab dafiir anzugeben weiß, was als Hörefe zu betrachten fei.
Daß aber da ſchließlich die Willkür Plag greift, wo die Autorität
nicht mehr beitimmt, ift kaum zu vermeiden; einen Standpımft
zu finden, wo Freiheit und Autorität zur Einheit verbunden find,
gelingt ihm micht, fo fehr er danach ftrebt, die Freiheit gegen
Tyrannei zu ſchützen und die Willkür durch Berufung auf die
Schriftautorität zu befeitigen. Wenn es daher gerade bei feinem
Ideal der Vollkommenheit, das eine nicht für Alle erreichbare, bevor.
zugte Heiligkeit enthält, eine tiefgehende Einſicht ift, dag er auf
den allen gemeinfamen Glauben, den jeder aus der Schrift er»
kennen könne, ein jo großes Gewicht legt, jo gelingt es ihm doch
nicht, der Willfür des Verſtündniſſes der Schrift vorzubeugen, weil
er nicht ein zentrales Prinzip findet, deſſen Wahrheit der einzelne
inne wird, an dem er auch einen prinzipiellen Maßitab für bie
Beurteilung der Härefe hat. Giebt es nicht eine folche zentrale
Slaubenserfahrung, fo kann die Schrift nur zu Leicht willkürlich
als Autorität verwendet werden, und es giebt dann für das Laien⸗
urteil, deffen Berechtigung er anerkennt, doch kaum ein anderes
Mittel Hiergegen als eine autoritative Auslegung der Schrift von»
feiten der Kirche. So kann man alfo nicht jagen, baß es ihm ges
tungen ſei, bei feiner Anerkennung des Rechts des einzelnen in
Olaubensfachen mitzuwirken, die Kirche vor Wuflöfung zu bes
wahren, bie von der Willkur der einzelnen und ihrer Verwendung
der Schrift droßt.
720 Dorner
Noch fataler aber, wie wir gefehen haben, fteht es mit der
Autorität des Staates, wenn prinzipiell jeder ſoll Widerftand
leiften tönnen, wenn er glaubt, daß das Gemeinwohl gefchädigt
wird. Das ift die Revolution in Permanenz, und es verdient
wiederholt darauf Hingewiefen zu werden, daß Occam, indem er
von den einzelnen ausgeht und den Staat auf ihren Vertrag ſtützt,
weit eher die Revolution begünftigt, als es die Neformation thut,
welche den Gehorſam gegen die Obrigkeit geltend gemacht hat. Und
wie in der Kirche im Slaubensinhalt, ber erfahren wird, allein
eine baltbare prinzipielle Schranfe gegen die Wilffür gefunden
werden kann, fo ift es auch ähnlih im Staat. Nah Occam
ftammt die Obrigkeit vom Volfe und Hat in deffen Auftrage für
das Gemeinwohl zu forgen. Nur mittelbar ftammt fie von Gott.
Die Reformation dagegen macht geltend, daß der Beruf der Obrig⸗
feit, daß ihre Aufgabe eine göttlich gewollte jet, und der Inhalt
biefer Aufgabe iſt fittlih notwendig und gottgewollt und infofern
über die Willkür erhaben. Bei Oecam dagegen ift in dem Be⸗
griff des Rechtes, der mit dem Gemeinwohl verbunden ift, nicht
genügend der Willfür des Subjekts vorgebeugt. Die Heiligkeit
bes Rechts ift nicht genug gewahrt, wenn dasfelbe jo wie bei
Occam mit dem Wohl in Beziehung gebracht wird; es ift bier
ein eudämoniftifcher Zug, der bie Willfür entbinden Tann; es wird
nicht energifch genug darauf bingewiefen, daB das Recht das uns
veräußerlihe Fundament alles Sittlichen ift; und diefe Unter»
ſchätzung des Rechtes hängt offenbar mit feinem Dualismus zwis
Shen dem Weltlichen und dem Geiftlihen, mit feinem mönchiſchen
Ideal zujammen. Es Klingt doch noch etwas von der alten An⸗
fiht bei ihm nach, daß die Rechtsordnung de8 Staats es nur
mit der terrena felicitas zu thun habe, die vom Ideal aus bes
trachtet nur geringen Wert hat. Kurz weil die Reformation, ohne
das Recht mit ber Sittlichfeit zu vermengen, die Notwendigkeit des
Staates energifcher darauf fundamentiert, daß feine Aufgabe eine
heilige, göttliche fei, darum Tann fie die Autorität ded Staates
energifcher betonen und ihn felbit energifcher gegen die Willkür
fügen, welche feine Aufgabe nicht würdigt, jo daß immer bie
Staatsaufgabe, die Staatsidee, welche durch die Obrigkeit vertreten
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Dccam. 721
ift, vefpektiert werden, und der Reſpekt vor diefer Idee irgendiwie
auch dann feinen Ausdrud finden muß, wenn man der Obrigfeit
nit zuzuftimmen vermag !), während bei Occam der Rechtsbegriff
durch den Begriff des Gefamtwohls eudämoniftifch tingiert und des»
halb auch nicht vor dem fehädlichen Einfluß der Willkür gentigend
geihügt tft und durch das mönchiſche deal immer wieder ges
führdet wird.
6. So fünnen wir wohl anerkennen, daß Occam, indem er
dem Staat eine felbftändige Stellung neben der Kirche geben
wollte, indem er dem Staate die Rechtspflege vor allem zufchrieb,
indem er die Aufgabe der Kirche auf die spiritualia zu bejchränfen
fudhte, indem er das Recht des einzelnen gegenüber den autorita-
tiven Organen der Gemeinfchaft in Kirche und Staat betonte, in-
dem er in feiner früheren Zeit die dee nationaler Staaten faßte,
und auch in feiner fpäteren die dee nationaler Staaten mit der
Idee des Kaifertums zu vereinen fuchte, ebenſo aber die Idee
nationaler Kirchen ftreifte, indem er den Blick auf das Gebiet
weltliher Sittlichkeit Tenfte, große Verdienfte um eine reifere Auf:
fafjung des Verhältniffes von Staat und Kirche ſich erworben hat.
Über wir dürfen darüber nicht vergeffen, daß ber prinzipielle Dua⸗
lismus feiner fittlichen Weltanfchauung zwifchen Geiftlihem und
Weltlichem ihn teils zu einer Kaſuiſtik verführte, welche feine ur»
fprünglihe Tendenz lähmte, teil8 ihm eine volle Schäßung des
Wertes des Staates, die volle Erkenntnis der Heiligkeit feiner
Aufgabe unmöglich machte, daß er ferner bei feiner Betonung des
Rechts ber einzelnen, weil er noch nicht den Inhalt gefunden
Hatte, der an Stelle der äußeren Autorität, innerlich die Wilffür
des Subjelts zügelt, nicht völlig die Gefahr vermieden hat, die
großen Gemeinfchaften von Staat und Kirche der Willfür der ein»
zelnen Individuen preiszugeben, was erft gelingen Tonnte, wenn
für die Kirche ein prinzipieller fittlich » veligiöfer Inhalt gefunden
1) Wie fchon oben angedeutet, vede ich Hier von ber der Reformation zu
grumde liegenden neuen prinzipiellen Auffaffung, nicht von der im einzelnen
undollfommenen Ausführung.
72 Dorner: Das Verhältnis von Kicche und Staat nach Occam.
war, der das in fich freie Subjelt innerlich band durch ben
Ernft eines wahrhaft proteftantiichen Gewiſſens, und wenn der
Anhalt, die Aufgabe de8 Staates, feine Idee in ihrem vollen
Werte, in ihrer ethifchen Notwendigkeit zum Bewußtſein gelommen
war.
Sedanfen una Bemerinngen.
l.
Über Heinrichs VIII. Eheicheidung.
Aus Bugenhagens Handſchriften.
Mitgeteilt von Lic. Vogt,
Baftor in Weitenhagen.
Die Bugenhagenmanujfripte der königlichen Bibliothek zu Ber⸗
lin (Manuscr. theoll. lat. Octav 40— 44) enthalten außer
eigenen Ausarbeitungen Bugenhagens auch zahlreiche Excerpte und
Abjchriften aus Büchern und Schriftftüden anderer Verfaffer über
allerlei ragen, über die Bugenhagen fein Urteil abzugeben hatte
oder ein folches fich felbft zu bilden für wichtig hielt. Da bie
auf die Ehefcheidung Heinrichs VIII. bezüglihen (in Bd. 41,
Blatt 89 bis 112 enthaltenen) bisher noch nicht benußt zu fein
ſcheinen, ſei mir geftattet, das Wejentlichjte daraus hier mitzu-
teilen. Wird auch die in den Biographieen der beteiligten Refor⸗
‚motoren, Melanchthon, Luther und Oflander von Schmidt, Köft-
lin und Möller gegebene Darftellung durch das von Bugenhagen
‚gebotene Material im wefentlichen nur beftätigt, jo mag letzteres
doc immerhin dazu dienen, uns einen noch genaueren Einblid in
‚die Stellung zu gewähren, welche die Reformatoren zu jener Frage
einnahmen, wie in die gewiffenhafte Mühe, welche fie auf Beant-
-wortung derjelben verwendeten.
Wir unterfcheiden in Bugenhagens Aufzeichnungen: 1. ine
Überficht der Belegftellen, mit welchen man englifcherfeits die Un⸗
126 Bogt
güftigkeit der Ehe mit Katharina, und damit auch aller Erban-
iprüche ihrer Tochter zu begründen fuchte (Bf. 103—106). 2. Das
Gutachten Melanchthons vom Auguft 1531 (Bl. 89— 95) und
Luthers vom 3. September (denn diefes Datum giebt Bugen-
bagen (Bf. 95—101). 3. Zwei Briefe Oftanders: an Luther
(31. 101. 102) und Melandthon (BL. 108—112) ohne Datum.
Ich ftelle die Überficht Nr. 1 voran, obwohl fie im Manu⸗
ftript erft nad Nr. 2 folgt, und daher die Möglichkeit naheliegt,
baß diejelbe erft zu den fpäteren Verhandlungen im Jahre 1535
angefertigt if. Die Mehrzahl der dort angeführten Gründe wirb
doch ſchon in den Gutachten Melanchthous und Lırflers von 1531
berücfichtigt.
Nr. 1 Hat die Überfchrift: Angli dicunt, hanc levitici pro-
hibitionem de fratria non ducenda esse indispensabilem,
testimonio octo universitatum, exaggeratione verborum legis,
alia interpretatione Deuteronomii.
Es wird zunähft aus dem einen Fall 1Kor. 5 gefolgert,
daß Paulus ſämtliche Eheverbote Lev. 18 als unwandelbar
fortbejtehend, und jede gegen diefelben geſchloſſene Ehe als Hureret
bezeichne. Auch Johannis des Zäuferd Zeugnis gegen Herodes
wird fo ausgelegt, als ob berfelbe jede Ehe mit der Gattin des
Bruders, auch wenn lebterer fchon verftorben, als fündlich be»
zeihne — mit Berufung auf Tertullion, welcher allerdings c.
Marc. c. 34 fagt: Herodem adulterum pronuntians, etiam
qui dimissam a viro duxerit, quo magis impietatem Hero-
dis oneraret, qui non minus morte quam repudio di-
missam a viro duxerit; et hoc, fratre habente ex illa filiam,
et vel eo nomine illicite ex libidinis, non ex legis m-
stinetu, — Ferner wird geltend gemacht, Gregor habe einem eng⸗
liſchen Biſchof aufgetragen, die Ehen zu trennen, welde, — wenn
auch erſt nad dem Tode des Bruders, mit deſſen Gattin ein»
gegangen feien, und gut geheißen, daß die Eheverbote des Leviticus
aufrecht erhalten, aber auch bie Engländer nicht über bdiejelben
hinaus befchwert würden. Es folgt Hinweis auf Konziliens-
beichlüffe, wie das Toletanum II can. V (bei Bruns I, 209),
welcher das Verbot ber DBerwandtenheirat Lev. 18, 6 mit aller
Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 727.
Strenge für die Chriften aufrecht erhält, bei Strafe mehrjähriger
Exkommunikation, welche um fo länger währen foll, je näher ber
VBermandtichaftsgrad geweien; das Agathense can. 61 (Bruns
U, 158), welches die Ehe mit der Witwe des Bruders wie mit
der Schweiter der Ehefrau ale Inceſt bezeichnet, und unbedingt
Trennung derjelben fordert; — und daß Neocaesar. can. 2
(Br. I, 71) Tuvn da yıuncar dvo adeAyois, EEudeiodn
use Jasaron. — Willeff fei verdammt, auch meil er biefe
Eheverbote nur als menfchliche Geſetze von Moſes bezeichnet babe,
und wird danach der. Schluß gezogen: Ex his omnibus videtur
publicus ab initio ecclesiae consensus et varius legis levi-
ticae intelleetus, quod nullus, ne papa quidem dispensare
potest contra hanc probibitionem juris divini et naturalis.
Es folgen Stellen aus Kirchenlehrern, welche die Deut. 25, 5
gebotene (oder geftattete) Leviratsehe als einen für die Chriften
nicht gültigen Ausnahmefall bezeichnen. Chryſoſtomus hom. 51
behaupte, der Fall mit den fieben Ehemännern einer Frau Matth. 22
fei nur von den Sadducäern erfunden. — Baſilins im Briefe an
Divdor verwerfe durchaus die Ehe mit der Schweiter der verftous
benen Frau. „Was das Gefeh geftatte, geftatte es nur denen,
die unter dem Geſetz feien, nicht uns.“ — Dann eine Stelle auß
Ambrofins 1. VIII ep. 60, melde fid) auch gegen foldhe Ders
wandtenheiraten wendet, die im mofaifchen Gefeß nicht verboten
fein. Dann namentli Augustinus: c. Faustum 32 c. 8 u. 20,
wonach, jenes. Geſetz von den Chriften nur geiftlich erfüllt werde,
indem unter dem verftorbenen Bruder Chriftus, unter dem ihm
erwecten Samen die durch Verfündigung des Evangelii hinzu⸗
gewonnenen Gläubigen verftanden wird; und eine ähnliche Stelle
aus. Anſelm in epistola ad quendam, welche nod) bejonders gel-
tend. madıt, daB die bei den Yuden — mie Abraham, Othniel,
Thamar — aus bejonderen Gründen, namentlih zur Verhütung
der Vermiſchung mit heidnifchen Völkern, geftattet geweienen Aus⸗
nahmen für die Chriften nicht maßgebend feien, denn Christian
pietas nihil vult honestum judicare, quod faciat contra ho-
nestatem naturae. Radulphus Flaviacensis zu Lev. 18 und
Hugo de Sto Bictore lib. II de sacramentis zeigen, wie die an»
728 Bogt
fangs weiter geftedten Grenzen fpäter von Gott, um die Tugend
der Enthaltjamkeit zu befördern nnd die maritalis licentia zu
zügeln, enger gezogen fein. Während aber erfterer ganz allgemein
binzufügt: Post divinum autem interdictum, quisquis hujus-
modi nuptias inire praesumpserit, praevaricator factus, cri-
men incestus incurrit, will feßterer doch zwifchen ſolchen Fällen
unterjcheiden, wo ſchon der horror naturae bie Ehe durchaus
habe verbieten müfjen, und folchen, in quibus ratio ignorantiae
excusationem admittit, und in leßteren ein matrimonium se-
cundum judiecium ecclesiae legitime factum nicht aufgelöft
wiffen. Hildebert Cenomanenſis endlich und Ivo dehnen das Ehe»
verbot von der Witwe auch auf die Verlobte des Bruders aus —
alſo auch auf ben Fall, wo gar fein ehelicher Umgang ftattge
funden, nnd wird in dem Valle, daß einer mit der Schweiter
feiner Braut durch außerehelichen Umgang ſich fleifchlich vergangen,
die Ehe mit beiden überhaupt, oder doch usque ad tempus per-
actae poenitentiae für unzuläffig erflärt. Es folgt ein Aus
ſpruch Gregors: Ex incestuoso concubitu proles legitima non
succrescit, und ein Sag aus Thomas summa p. Ill qu. 59
art. 3, wonach von Ungläubigen gefchloffene Ehen nach deren Bes
fehrung, wenn fie gegen das göttliche Geſetz Lev. 18 find, unbe»
dingt aufgelöft werden, wenn fie nur gegen weitergehende kirchliche
Verbote verjtoßen, beftehen bleiben follen.
Das Gutachten Melanchthons Hat bei Bugenhagen bie
Ueberfhrift: Determinatio Doctoris Philippi Melanchthonis in
caussa serenissimi regis Anglorum ad doctorem Angelum —
mense Augusto anni 1531, und den Schlußſatz: Haec scripsi
ego Philippus Melanchthon simplici animo, nihil spectans
nisi ut alienae conscientiae in hac causa dubitanti consu-
lerem, et offero me de tota re, si quis postulabit, copio-
sius dieturum esse. Der Text ftimmt nur bis zur Mitte der
Seite 522 mit dem im Corp. Ref. II, 520—27 gegebenen wört⸗
lich überein; von da ift wohl noch Übereinjtimmung in Gedanken»
gang und im Wortlaut mander Süße; die Berfchiedenheit in der
Faſſung ift aber eine fo überwiegende, daß der eine Text nur als
vom Berfaffer felbft vorgenommene Umarbeitung de8 andern an⸗
Über Heinrichs VIIL Chefcheidung. 729.
gefehen werden kann — wie ein gleiches auch wohl von den beiden
Formen des Quthergutachtens (bei deWette IV, ©. 295 und
- 300) anzunehmen if. Sachlich dürfte etwa nur der Unterfchied
zu bemerfen fein, daß im Bugenhagenſchen Text die Gleichſtellung
der bürgerlichen Geſetzgebung mit der mofaifchen durch angeführte
Beifpiele noch etwas fchärfer hervorgehoben, anberfeit8 das der
Katharina und ihrer Tochter durch die Scheidung gefchehende Un⸗
recht noch etwas ftärfer betont wird; allenfall8 möchte auch bei
Bugenhagen die Berechtigung der Polygamie um ein Geringes
weniger zuverfichtlich behauptet fein. Welcher von beiden Texten
etwa als früherer Entwurf, welcher als fpätere Ausarbeitung ans
zufehen fei, wage ich nicht zu entfcheiden. An fich Liegt freilich die-
Annahme nahe, daß die definitive Textgeſtaltung die befanntere ge⸗
worden, und mag allerdings die des C. R. als die abgejchliffenere,
durch Ausfcheidung des Entbehrlichen abgerundetere erfcheinen.
Einige offenbare Schreibfehler der vom C. R. benugten Quellen
dürften einfach nach Bugenhagen zu korrigieren fein. So jind-
©. 521 3. 9 nad viventis aus Bugenhagen einzufchalten die
Worte tamen contendunt alii loqui eam in genere de uxore-
fratris et terribiliter u. f. f. — Zelle 4. v. u. lies illos ftatt
alios. — ©. 523, 3. 1 talis ft. satis. — ©. 526, 3.5 v.u.
Gregorius ft. Georgio. — Als eine Probe ber Zertgeftalt bei
Bugenhagen will ich die den Zeilen 4—11 auf ©. 523 de8 C. R.
entfprechende Stelle bier folgen laſſen, welche am meilten Eigen-
tümliches bieten dürfte, während die übrigen Abweichungen, obwohl
an Umfang nicht gering, doch mehr nur die Anordnung des
Stoffes und die ftiliftiiche Faffung betreffen. Es heißt dort: Alia.
vero multa, quae sunt mutabilia, non sunt proprie juris
naturalis. Id enim est ipsa natura immutabilis. Et haec
sunt in potestate magistratus, qui tamen probabiles ratio--
nes ex natura sumptas sequi debet. Hujusmodi. sunt dissi-
milia instituta gentium in successionibus. Apud Hebraeos-
primogenitus habebat duas partes patrimonii apud nos se-
cus fit. Et hujusmodi politica infinita sunt. In his scien-
dum est, maximam potestatem magistratus esse, quia Deus
subjecit omnia talia potestati. Duodecim tabulae debitoris.
70 Bogt
Corpus, qui non esset solvendo, jubebant discerpi. Hoc füit
justum propter autoritatem magistratus, etiamsi videtur du-
rius esse. Apud Persas leve mendacium capitale fuit. Talia
multa justa fuerunt propter autoritatem magistratus, quae
debet fieri maxima. Et Deus approbat politicus ordina-
tiones etiam dissimiles. In hoc genere sunt prohibitiones
quorundam graduum longius distantium, ut prohibitio in
quarto, item in tertio gradu. Sunt et hae prohibitiones
mutabiles patrui et neptis, uxoris fratris et leviri. Hae
non sunt juris naturalis, sunt enim mutabils. Et quidem
exempla sanctorum ostendunt, mutari posse. Es folgen di
S. 523, 3. 11—34 angeführten Beifpiele in etwas ambderer
Yaffung und Reihenfolge. Lie vielleigt Melanchthon die obigen
Deifpiele des Bugenhagenſchen Textes in zweiter Ausarbeitung
fort, weil einige daran Anftoß geben fonnte? — Der Paſſus
betr. die Bolygamie lautet: Disputatur hic a nonnullis de
successione et de utilitate publica,. utrum propter succes
sionem et utilitatem publicam rex Angliae debeat facere
divortium. Satis constat, hanc causam non suffieere ad di
rimendum conjugium. Ac fortasse potest rex alio etiam
modo prospicere regno. Habet nobilissimam filiam nee
inusitatum est succedere generos; certe conscientiam suam
et famam pluris facere debet quam regnum. Sed sunt
fortasse causae privatae et publicae quare expediat novum
conjugium regi. Quod si ita est, potest consuli regi sine
infamia prioris conjugii. Polygamia, hoc est habere plures
uxores simul, nec divino, nec humano jure prohibitum est.
Habet enim exempla patrum, Abrahae, David et aliorum
sanctorum. Habet et recentia exempla. Extat enim historia
Valentiniaui imperatoris, cujus liberi ex duabus uxoribus in
regno successerunt. Est autem prohibita polygamia jure
humano. Neque ego fero novas leges, negue velim in ge
nere concedi polygamiam. (uare si quas graves Causa
habet rex, vel propter conscientiam vel propter regnum,
petat a Romano pontifice dispensationem, cui ut antea dixi
quodam hominum consensu permittantur negotia judicialis,
Über Heinrichs VIII. Ehefcheidung. 731
non jure divino. Et hic potest ea, quae sunt humani et
positivi juris his negotiis relaxare. Legimus interdum con-
cessisse quosdam pontifices polygamiam, ut concessit Gre-
gorius cuidam in Anglia. Existimo igitur Romae dispen-
sationem impetrari posse. Si autem reeusabit dispensare
papa, et rex habet causam necessitatis propter conscientiam,
steut aliarum rerum politiearum et legum in isto regno
moderatio penes regem est, quia habet summam autorita-
tem ferendarum et tollendarum et dispensandarum legum,
ita penes regem est hujus etiam legis moderatio, quia est
res polities et mere juris positivi humani, etsi papa ad
se revocat qua ex re imperitis fit opinio, quod jure divino
prohibeatur polygamia u. f. f. wie ©. R. 527.
Die Abſchrift des Lutherbriefes Hat bei Bugenhagen
dte Überfchrift: Venerabili in Christo fratri Domino Antonio
Anglo theologiae doctori Martinus Luther manu propria.
Vitebergae. Die Zeztgeftalt iſt diefelbe, wie die bei de Wette
IV, 300ff. unter B gegebene, giebt aber einige wefentliche Berich⸗
tigungen gegen die bort befolgten Lesarten. Die wichtigfte ift, daß
©. 306 3. 4 v. u. hinter eomsentiat der wichtige Sag fehlt:
Potius id permittat, ut rex et alteram reginam ducat
exemplo patrum, qui multas uxores habuerunt etiam ante
legem, sed se ipsam non probet a regio conjugio et nomine
Anglicae reginae exeludi. Sachlich dusfelbe findet fih in A
©. 296 3. 1-3 — doch fehlt die dort voramsgehende Erör⸗
terung über den geltend gemachten Wunſch nad männlicher Nad-
kommenſchaft. Die Stelle S. 301 3.10 v. u. hat bei de Wette
durch Verftümmelung ganz verfehrte Faffung erhalten. Nah Bu⸗
genhagen tft finnrichtig zu lefen qua eluderent legem Deuter.
AXV. Cur non etiam invenerunt glossam qua
eluderent legem Lev. XVII? An non potuit ulla
inveniri? Sed illic voluerunt hic noluerunt glossam
habere. — Es fei geftattet, bier auch die übrigen Tertabweichungen
folgen zu Laffen, mit Ausnahme einiger, für den Sinn bedeutunge-
loſer Umftellungen von Worten, mit welchen e8 Bugenhagen viel-
fercht nicht immer peinlic; genau nahm. Einige — an wel⸗
Theol. Stud. Jahrg. 1886.
132 Bogt
chen Walchs deutfcher Text (XXI 1386) mit Bugenhagen über-
einftimmt, werde ich mit WS bezeihnen. ©. 301, Anm. 7 Tieft
Bugenhagen si wie Budd. 3. 2 dv. u. vere moralem. —
S. 302 3. 2 läßt Bugenhagen aus adquaerenda bona.. —
3. 8 haereditatibus für heredibus. — 3. 19 hinter istae
leges hat Bugenhagen nody ex directo. — 3. 10 v. u. debe-
bant ft. debent. — 3. 7 v. u. autoritate ft. autoritatem. —
©. 303 3. 3 v. o. lied: urgere.. Dann, nad Abfag Ul-
terius. — So auch Wald. — 3. 12 ift nach Bugenhagen zu
fefen de novo (ut certe posset ex certis causis) aliquot ce-
remonias Mosi jam abrogatas et liberas constituere, tunc
vere ligarent istae ceremoniae non quidem autoritate M. —
3. 18 v. u. seu civilis (j. Wald) Röm. 13. — 3.16 v. u.
legi Deut. ft. legem. — 3. 15 v. u. Binter leges hat Bugen⸗
bagen nod) in speciem. — 3.7. u. explicat ft. exprimit, —
Anm. 1 non hat Bugenhagen. —
S. 304 3. 16 v. u. lies ita ut ubi opus fuerit cogat
eum cum suis legibus feriari vgl, Wald. — 3. 13 v. u.
agantur ft. regnentur. — 3. 10 v. u. Hinter voluntate fehlt
bei de ®. et lege. — 3.8 v. u. lies vel ft. aut. — 3.6
v. u. aliquo casu ft. in aliqua causa — 3. 4 v. u. fehlt bei
de Wette Chaleb, was auh Wald Hat. —
©. 305 3. 6 hinter mortuum Bugenhagen, Wald) nobis. —
3. 8 3.8. (ut legislatore) ftatt et legislatorem. — 3. 9
hinter probetur bHinzuzufügen prorsus. — 3. 10 I. servivit
ille sane politiae. — 3. 16 [. (prohibitam duci) repudiare
ftatt des finnlofen ducere et repudiare. — 3. 19 I. Primum
constat non esse neque jure divino neque naturali, sed
mere positivo prohibitam. — 3. 21 Hinter Moses fehlt ut
dixi. — 3. 22 etiam ft. enim. — 3. 16 v. u. sorores ft.
uxores.
Am 6. Februar 1536 läßt Melanchthon dur Veit Dietrich
an Oſiander die Bitte richten, er möge ihm die Auslegung der
jüdifchen Lehrer über die Frage jchreiben, ob der Leibliche Bruder
die Witwe feines Bruders habe zur Ehe nehmen müfjen, und
wiederholt den Auftrag am neunten. — Im erfteren Brief giebt
Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 133
er zugleich an, den Brief Ofianders an Luther über diefe Ange
(egenheit fchon gelejen zu Haben. Am 9. März trägt er Dietrich
auf, Ofiander für feine literae eruditionis et amoris plenae
Dank zu fagen C. R. II, 39 und 44. — Es ift wohl anzu⸗
nehmen, daß wir in Bugenhagens Abfchrift die in Rede ftehenden
Briefe vor uns haben. Doch muß Melanchthon feine Bitte gegen
Dfiander jelbft noch genauer formuliert haben. Denn leßterer
giebt feinen Brief als Antwort auf drei ganz beftimmte Fragen
Melanchthons. — Erftens habe Melanchthon gefragt, ob jüdifche
Rabbinen das Eheverbot Lev. 18 nur vom lebenden Bruder ver-
ftänden? — Oſiander antwortet: Kein Jude Habe je bezweifelt,
daß die Witwe des DVerftorbenen ebenfo ausgejchloffen fei, wie die
Trau des Lebenden. Die Auffaffung fei fo einhellig, daß es über-
flüffig ſei, Zeugniffe zu fammeln — doch wolle er zu befjerer
Vergewiſſerung die Worte des Maimonides berfegen, welcher im
2. Kapitel des 5. Buches feiner Auslegung des gefamten Mofai-
chen Geſetzes erkläre: uxor patris ejus (intellige uniuscujus-
que viri) et uxor filii ejus, et uxor fratris ejus, et uxor
fratris patris ejus: hae quatuor prohibitae sunt ei perpetuo
tam si sunt desponsatae tantum, quam si fuerint ductae,
tam repudiatae quam non repudiatae, tam in vita marito-
rum quam post mortem eorum, excepta uxore fratris qui
non reliquit semen. — Die zweite Trage: ob fie das Gefek
im Leviticus fo verftcehe, daß das Gefe im Deuteronomium eine
Ausnahme bedinge? beantwortet Dflander fo: Leviticus an ſich
enthalte ein ausnahmlofes Verbot, fo daß die bis dahin beftchende,
durch das DBeifpiel der Thamar erwiefene Erlaubnis und Sitte
der Leviratsehe dadurch ausgeſchloſſen wäre, wenn das Geſetz
Deut. 25 fie nicht geſtattete. Übrigens enthalte letzteres nicht ſo⸗
wohl ein Gebot, wie eine Erlaubnis — da ja auch die Wahl der
discalceatio gelaffen jet — und fei die Erlaubnis nur auf den
dort ausdrüdlih angeführten Fall zu befchränfen. — Die dritte
Trage: ob Deut. 25 vom leiblichen Bruder verftanden werde?
bejaht Ofiahder unummwunden, und macht zur Erklärung, weshalb
der Stiefbruber nicht auch genannt werde, darauf aufmerffam, daß
es fih um Erhaltung des Erbes handle, Söhne verfchiedener
47*
-
TA Bogt
Büter aber verfchiedene Erbgrundftücde zu Haben pflegten. Tim zu
verdeutlichen, wie eng die vom Deuteron. gegebene Erlaubnis bes
grenzt werde, führt er ſodaun Stellen aus dem talmudiſchen
Traktat de fratria an, wonach die Leviratsche nicht nur mit der
rechtmäßigen Witwe, fondern auch mit allen Kebsweibern des
Bruders ausgefchloffen fei, wenn eine derfelben in irgenbeinem
der angeführten Berwandtichaftsgrabe als Tochter, Stieftochter,
Schweftertochter, Mutterfchwefter u. dgl. mit dem Überlebenden ge-
ftanden habe; ferner werm der DBerftorbene nur irgendein lebendes
oder verftorbenes, eheliches oder ımeheliches, ja in Blutſchande er
zeugtes Kind gehabt habe; ferner dag immer nur einem Bruder,
mit einer Witwe eines Verftorbenen die Ehe geftettet fein. f. f. —
Dfiander fließt Bl. 110 mit folgenden eigenen Bemerkungen:
Haec omnia, mi Philippe, quae mode effudi, copiosissime
tractantur in commentarüs Thalmudiecis, ut ei, qui vel me-
diocriter in eis versetur, dubium esse nullo mode possit,
quin Judaei omnes in hac causa endem sentiant et dicant;
recte an secus, alia quaestio est. Neque vero id eo dieo,
quod putem eos errare, sed ut tester, me ad quaestiones
tuas tantum respondere. Ceterum quod Angli legem levi-
ticam indispensabilem putant, vos autem dispensabilem du-
citis, non miror. Et quanquam deo gratias ago, quod illas
duas leges sanis oculis inspicitis, etiamsi hanc ulkimam
quaestionem inexplicatam relinquatis; tamen velim, non tam
regis causa, cui certe propter insigne pietatis studium op-
time volo, quam totius ecclesiae, quae propius me angit,
ut eam quoque diligenter excuteretis, nec pateremini vobis
obstare illustrium personarum nebulas atque nubes. Nam
rustici nostri etiam didicerimt istam vestram rationem (post
factum), ut sponsalibus incestis addant stupra, praefractari (?)
sceleribus eas leges, quas ratione non possımt. Et esto,
sint dispensabiles istae leges, quis habet eam potestatem’
magistratus? quis, cum ille esset idolatra? — Episcopi?
quis postea transtulit? quamobrem habeant episcopi? om-
nesne? — et pro libidine? — in certis casibus? — in qui-
bus? — quas ob causas? quibus judicibus? quibus test-
Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 135
bus? quomodo concordabunt ecclesiae? habeat unus, quis? —
quo jure et quorsum valebit? an ut sit qui possit facere
ne sit peccatum quod est peccatum, ut imutilis fiat sanguis
Christi, an ut liceat carni, a quo abstracturus erat spiritus
sanetus, ut evacuetur regnum Christi? — Non haec «0
scribo quod reprehendam vestrum consilium, cujus autor
etiam fui, sed ut in caritate admoneam, etiam atque etiam
consideretis, quid agatis. Non obscurum erit hoc judiecium
vestrum sed erumpet, patieturque judices omnes homines
bonos, malos, pios, impios. Quo magis operam dare vos
opus ut incorrupte judicetis in theatro totius orbis publice
collocati. Bene vale et nostri boni consule.
Das Bruchſftück aus dem Brief an Luther, welches Bugen⸗
Hagen verzeichnet, beginnt mit dem Sat: Ego persuasissimus
sum, esse quandam legem divinam, contra quam quisquis
homo, quocumgue tempore et loco absque certo jussu aut
permissu dei faciat, peccet. Daß als ein ſolches göttliches
Geſetz das Eheverbot, au mit der Witwe des Bruders anzufehen
fei, findet Ofiander dadurch angezeigt, daß derartige Ehen Lev. 18
und 20 auch unter die Greuel gerechnet werden, um derentwillen
die heidnifchen Völler — welche nit unter dem moſaiſchen Geſetz
als ſolchem fanden — aus dem Lande getilgt werden. ‘Dem vers
ftorbenen Bruder Samen zu erweden, ſei Deut. 25, 5 nicht ale
ein Gebet, fondern nur als Erlaubnis für einen eng begrenzten
Ball dargegeben; wofür er zum Belege die an Melanchthon aus⸗
führlicher berichteten Beichränfungen bei den züdifchen Geſetzesaus⸗
legern kurz zuſammenfaßt. — Er ſchließt dann: Wie viel Gewicht
anbere diefer Auslegung ber Juden beimefjen wollen, mögen fie
ſelbſt ſehen. Er felbft wiſſe gegen die einmätige Auslegung der»
felben in diefer, auf Chriſtum nicht bezüglichen Sache nicht ein⸗
zuwenden. Wo fie den Sinn der Schrift verdrehten, pflegten fie
uuter einander in Zwieſpalt zu fein. Irre Ofiander hierin nicht,
fo entfſtehe feiner Meinung nach die Trage: ob jene Geftattung der
Zeviratsche auch für die Ehriften noch gelte? Gerade weil bie
ChHriften nicht dem Geſetze Mofis, fondern nur dem Naturgeſetz
unterworfen feien, ift er geneigt, die Frage zu vermeinen. Bei
736 Bogt
den Juden fei eine Ausnahme gemacht nur zur Erhaltung der
Sefchlechter, damit Chrifti Herkunft aus dem Stamme
Juda und dem Geſchlechte David fihererfannt werde.
Seit EChrifti Geburt falle diefer Grund fort; wie denn auch die
Juden von ber Erlaubnis keinen Gebrauch mehr madhten. Den
Ehriften gelten die Worte Jeſ. 56, 5 und Matth. 19, 12.
Schließlich weift er darauf bin, daß die Verwirklichung der Bes
ftiimmung Deut. 25, 5 zur Bigamie führen würde, da die über-
febenden verheirateten Brüder nicht ausgejchloffen feien.
Überblicken wir ba8 hiermit gewonnene Material, welches ſich
vervollftändigt einerjeitS durch da8 Gutachten im Corp. Ref. III,
528 und fonftige brieffiche Äußerungen Luthers und Melanchthons,
anderſeits durch weitere Erörterungen der Frage bei Oſiander, wie
fie Möller S. 190 ff. zufammenftellt, fo gewinnen wir furz fol-
gendes Bild: Luther und Melanchthon find fih in ihrem Gut-
achten einig darin, daß fie die Beitimmungen des mofaifchen Ges
feges für Chriften als nicht verbindlich bezeichnen, außer foweit fie
einem allgemein als ſolches erkennbaren Naturgefeß entjprechen,
oder zum Inhalt eines bejonderen Landesgeſetzes geworden feien,
welches die zuftändige Obrigkeit erlaffen habe. Erfteres Tönne
beim Verbot der Ehe mit der Schwägerin nicht der Fall fein,
denn dann würde die ebenfalls im geoffenbarten Geſetz enthaltene
Anordnung — refp. nad Oſianders Auffaffung: Geftattung —
der Leviratsehe einem unverbrüchlichen göttlichen Geſetz wider-
fprehen, was undenkbar. Daß aber auch die Ehe Heinrich® mit
Katharina nicht durch ein beftehendes pofitives Necht ungültig jet —
ergiebt ſich — abgefehen von Heinrich® eigener gefetgeberifcher Ge⸗
malt — aus dem Umftande, daß nach zur Zeit beftehenden menſch⸗
lihem Rechte der Papſt Dispenfationsgewalt gehabt und geübt
habe. — Oflander dagegen, entfprechend dem auch fonjt bei ihm
(in der Beichtfrage, in feiner ganzen Lehre von der Gerechtigkeit)
hervortretenden Gewichtlegen auf Heiligung und kirchliche Disziplin,
ift, bei prinzipielle Anerfennung der Aufhebung des mofaischen
Gefeges für die Chriften, gleichwohl bemüht, aus demfelben, im
Chriftentum eher nur nod zu verfchärfende Normen für das fitt-
(iche Verhalten zu gewinnen, und deshalb die Schwierigkeiten zu
Über Heinrichs VIII. Chefcheidung. 137
häufen, welche beim Aufgeben einer folchen ftrikten Norm fich er-
geben. Seine überwältigende rabbinifche Gelehrſamkeit fcheint denn
wirffih dazu gedient zu haben, den an fich fehr berechtigten Ge⸗
danken Luthers zu unterdrüden, daß fich Lev. 18, 16 nur auf das
Weib des lebenden Bruders beziehe, entfprechend dem ganz un⸗
zweideutigen V. 18 und dem Bigamie nicht ausschließenden Stand»
punkt des moſaiſchen echt Überhaupt. Wäre dieſe Auffaflung
Luthers damals zur Geltung gelommen, fo wäre damit dem Pros
teftantischen Eherecht die Weifung gegeben, nicht fomwohl in ber
Schwöägerfhaft, fondern vorzugsweife nur in der Blutsverwandt⸗
Schaft EHehindernis zu fuchen Y. Übrigens hatte in einem früheren
Tale Oſiander felbft eine folche Ehe in Schuß genommen (Möller,
©. 114). Anderfeits hatte Melanchthon im lateinischen Entwurf
der PVifitationsartifel von 1528 feinerfeitS die im mofaifchen Ges
feß verbotenen Grade, noch mit der kirchlich üblichen Erweiterung,
einfah für unzuläffig erflären wollen Corp. Ref. XXVI, 21.
Wir müffen wohl annehmen, daß auf Luthers Gegenbemerfungen
im offiziell angenommenen deutſchen Texte diefe Beſtimmung fort⸗
geblieben (ebenda S. 77), und vielmehr nur ganz allgemein, in
Rückſicht auf vorgefallenen Mißbrauch chriſtlicher Freiheit, die
Pfarrherren angewieſen werden, „was die Graden der Sippſchaft
und dergleichen anbetrifft, beſcheidentlich und vernünftiglich zu lehren
und zu handeln“. Nach einer Mitteilung Köſtlins (Luther,
2. Aufl. II, 35) wollte Luther ſchon damals ausdrücklich ausge⸗
ſprochen haben, daß das bezügliche päpftliche Recht keineswegs in
allen Punkten verbindlich fei, und wurde nur auf Verlangen des
Rurfürften die betreffende Bemerkung zurücgehalten, um nicht etwa
gleichzeitig in Konflitt mit dem Eaiferlichen Recht zu kommen, Das
gegen werben in den Zorgauer Artifeln vom Mär; 1530 (Corp.
Ref. XXVI 187, vgl. 179) die Ehefachen im allgemeinen ber
bürgerfihen Gefeßgebung überwieſen, die päpftlichen Verbote ber
1) Bol. Jörg und Tzihirner, Die Ehe. Leipzig 1819. ©. 189.
Wenn ein Witwer in die Lage kommt, feinen Kindern eine zweite Mutter zu
ſuchen, fo Tiegt e8 gewiß oft nahe, gerade in der Schwefter der verftorbenen
am beften eine folche zu finden. Und wenn diefe Ehe zuläffig, fo fcheint freilich
auch die analoge mit der Witwe des Bruders nicht auszuſchließen.
28 Bogt
Ehen zwiichen Gevattern, ber Wiederverehelihung auch des uns
fchuldigen Zeil geſchiedener Ehen, fowie anderſeits die kirchlicher⸗
ſeits begünftigte Anerkennung beimlicher Verlöbnifſe entfchieden ver-
worfen, und hinfichtlih ber Berwandtenehen einerfeits bemerkt, daß
der Bapft feine Macht Habe zu dispenfieren in Fällen, bie jure
divino verboten ſeien, anderfeits feine Geſetze getadelt, daß fie den
Leuten Gewiffen machen in Fällen, die nicht jure divino verboten
ſeien. In folgen Fällen feien die Gewiſſen nicht gebunden, außer
fomweit die Obrigkeit hindernd eintrete. Es iſt aber bier ſowie auch
vorher im dem unter Ofianders Mitwirkung emtftandenen Art. 6
des Schwabacher Bifitationsfonventes pon 1528 (Richter, Kirchen-
prdunugen I, 176) nicht gejagt, daß unter dem göttlichen Geſetz
das bei Moſe gefchriebene zu verftehen fe. Derſelbe Stanbpuntt
findet fich vertreten in Quthers kurz vorher veröffentlichter Schrift
von Eheſachen (bei Wald X, Yöaff. Erl. Ausg. 23, 148 ff.).
Luther weiſt bier die Eheſachen, fpeziell die Eutſcheidung über zu⸗
läſſige Verwandtſchaftograde, durdans der bürgerlichen Obrigkeit
zu, und polemifiert nachdrädlich gegen die Unterwerfung der bürger-
lichen Geſetzgebung umter die kanoniſche. Dabei läßt er die Trage
nach Verbindlichleit und Auslegung des moſaiſchen Rechts unbes
rührt, und fpricht feine perfönliche Meinung nur über ſolche Fälle
aus, welche in letzterem nit verboten waren. Entgegen ber er:
wähnten Auslegung Weelanchthons im Tateinifchen Entwurf der
Bifitotionsartilel erklärt er aber dabei ausdrücklich dee Ehe mit
ber Nichte für nur vom weltlichen, nicht vom göttlichen Rechte
unterſagt.
Ein ausdrückliches Aufgeben des in den Gutachten von 1531
eingenommenen Standpunkts finden wir aber, ſchoͤn vor Wieder⸗
aufnahme der Verhandlungen mit den Engländern,
in einem von Jonas, Luther und Melauchthon unterzeichnetsn, alſo
wohl von Jonas verfoßten Gutachten vom 18. Januar 1535 (bei
de Wette IV, 584) und zwar wirb bier auf das Geſetz Lev. 18
als auf ein göttliche rekurriert in einem Falle, der dort ausdrück⸗
fih nicht einbegriffen war. Es handelte ſich nämlid um die Ehe
mit der Schwefter der verftorbenen Frau, während dort nur bie
Ehe mit der Schweiter der lebenden unterfogt war. (Es handelte
Über Heinrichs VILI. Ehefcheibung. 789
fih wohl um den Zall, welcher nad) Corp. Ref, IH, 611 bamit
enbigte, daß der Nupturient des Kurfürften Lande verlieh.) Die
Reformatoren finden aber in jenem Kapitel das allgemeine gött⸗
fihe Gebot, „daß man in nahen Gradibus, als einer unnatürlichen
Vermiſchung, nicht heiraten ſolle“, umd betrachten, nad) der kirch⸗
(ih ühlich gewordenen Weile, das „fie werden ein Fleiſch fein”,
unnatürlich preſſend, die Schweiter der Frau als Verwandte erften
Brades. Daneben rekurrieren fie freilich noch auf das Faiferliche
Recht, weiches feit Theodoſius und Juſtinian derartige Ehen ver⸗
bot, und auf bie Erwägung, daß das rohe Wolf mit derartigen
Brücedenzfällen zweifelhofter Art, wenn fie gutgeheißen würden,
noch ärgere, wirklich bintichänderiiche Verbindungen werde entſchul⸗
digen wollen. — Wodurch nun dieſe prinzipielle Beränderung des
Standpunttes herbeigeführt wurde, TAßt fich nicht im einzelnen nach»
weifen. Auch wird eine Vermittelung zwilchen der früheren — uud
in theoretiichen Erörterungen wenigfiens von Luther ftets feſt⸗
gehaltenen Behauptung: „das mofaifche Geſetz als folches, aljo and;
gev. 18, iſt für den Chriſten nicht verbindlich" mit der nenen
„Sep. 18 ift nicht nur für die Juden, ſondern allgemein verbind-
lich“‘ nicht gegeben. Kine folche Vermittelung wäre etwa zu finden
geweſen auf dem von Oſiander (in der Schrift von verbotenen
Heiraten und Blutfhanden, bei Möller, S. 191 ff.) betretenen
Wege. Er macht bort geltend: da infolge der Sünde bie lex
naturae dem menschlirhen Bewußtſein vielfach verdunkelt jet, diene
dns Moſe geoffenbarte Geſetz dazu, fich darüber zu orientiegen und
nachzufinden, was dem Bedürfnis der menfchlihen Natur und Ge⸗
ſellſchaft nach Gottes Ordnung wirklich entſprechend fei. Übrigens
enthielt dieſe Veränderung des Standpunktes noch keineswegs ein
Hinübergehen auf den der Engländer, welche durch Levitieus nun
auch die Eheſcheidung Heinrichs gerechtfertigt fanden. Als ein Jahr
ſpäter bie Verhandlungen mit letzteren wieder beginnen, fchreibt
Buther — am 11. Januar 1586 — an den Aurfürften: „er werde
fich nicht ftärken laſſen in ſolchem Gewilfen, dag die Königin und
bie junge Königin famt dem ganzen Sönigreich incesti und incestae
(fo ift doch wohl zu leſen!) follten geurteilt werden. „Ich will -
mich in ihre Jurifterei nicht vertiefen, und Lünnte auch nicht mehr
7410 Bogt
wie eine Gans gag dazu fagen.” Aber ich halte, meine vorige Sen-
tenz ſoll bleiben, ohne daß ich mich fonft nicht will unfreundfich
gegen fte zeigen in dem oder anderen Stüden, auf daß fie nicht
dächten, wir Deutjche wären Stein und Holz (de Wette IV, 663).
Und Melanchthon ſchreibt am 6. Februar an Veit Dietrich — faft
mit denfelben Worten mie tags zuvor an Camerarius: Angli con-
tendunt, legem de non ducenda fratris uxore prorsus in-
dispensabilem esse. Nos contra disputamus esse Jispensa-
bilem. Vides autem quanto facilius sit ipsis de-
fendere zo axgıßodixasov (den ftreng gejeglichen Standpunft),
quam nobis inflectere Legem, ut efficiamus, divor-
tium non fuisse necessarium. Multa hic assumenda sunt ex
nostris thesibus, quod nobis liceat uti politicis exemplis ap-
probatis Mosaicis. Has theses in eruditi non satis aequo
animo accipiunt. Die legten beiden Sätze weiß ich nicht anders
zu beziehen als auf die angeführten Fälle von Bigamie — von
Balentinian und unter Gregor —, welde durch Beifpiele aus
Geneſis geftügt wurden, und auf das begreifliche Auffehen, welches
die Ausführungen der Neformatoren darüber erregen mußten. Der
hier gefperrt gedruckte mittlere Sag zeigt freilich, daß Melanchthon
Thon Schwierigkeiten empfand, feinen Standpunkt gegen die Argu⸗
mente ber Engländer zu behaupten. — Und obwohl das Corp.
Ref. 528 sq. abgedruckte Gutachten — welches ſchon Seckendorf
mit Recht in diefe Zeit verlegt — feine Namensunterjchrift trägt,
ift doch wohl anzunehmen, daß es aus dieſen Wittenberger Ver⸗
handlungen hervorgegangen. Daß zuerft das Verbot der Ehe mit
der Schwägerin Lev. 18, 16 als ein alle Ehriften verbindendeg,
göttliches Gefeg — von welchem die Verfaffer auch ihrerfeits feine
Dispenfation erteilen würden — bezeichnet wird, Tann und nad
dem obigen Gutachten vom Januar 1535 nicht mehr befremden.
Und die zweite Hälfte des deutfchen Textes Hält ja auch daran
feft, daß eine Dispenfation möglich gewejen und daher die Ehe
nicht Habe geſchieden werden follen, womit es freilich nicht ganz
ftimmt, daß die Verfaffer vorher jagen, fie feien in ihrem Urteil
nicht ganz entjchieden und um Erlaubnis bitten, dasjelbe noch
zurädzuhalten. Offenbar ift diefe Inkongruenz aus einer ſchwer
Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 141
zu fchlichtenden Meinungsverſchiedenheit zwifchen den Verfaffern felbft
herporgegangen. Eigentümlicherweife fehlen nun aber die Legterem
Sat folgenden, dem Berlangen Heinrich entſchieden ungünftigen
Worte in dem, aus englifchen Quellen mitgeteilten lateiniſchen Text.
Man möchte am liebften annehmen, daß fie nur von ben heraus⸗
gebenden Engländern zurücgehalten, nicht etwa gar von den Gefandten
jelbit ihrem König vorenthalten feien, obwohl Kor auf Melanchthon
feinen vertrauenerwedenden Eindrud machte. Doch — vergegenwär-
tigen wir und erft den Lauf der Verhandlungen. Am 19. Januar
weiß Luther ſchon vom Tod ber Katharina, wobei er bemerkt: fie
und ihre Tochter haben alfenthafben ihre Sache verloren, außer bei
den armen Bettlern, den Theologen zu Wittenberg, welche ihr gern
wollten zu Ehren helfen. Am 25. Januar find die Verhandlungen
joweit im Gange, daß Luther derfelben fchon ſtark überdrüffig ges
worden tft; und zwar ift auf den folgenden Sonnabend das Thema
der Privatmefje angejegt. De Wette IV, 669f. — Am 6. Fe
bruar fchreibt dagegen Melanchthon von Jena aus, es ſei bisher
nur über die Ehefrage disputiert: de doctrinae evangelicae con-
troversiis nondum contulimus, nisi obiter. Am 9. fehlt ihm
noch Oſianders Gutachten. Am 10. befucht ihm einer der Gefandten,
Nikolaus Heyth, mit einigen DBegleitern auf der Durchreife nad
Nürnberg. Am 13. trifft er in Wittenberg ein. Erſt jetzt, auf
der Durdreife in Leipzig, hat er vom Tode der Katharina gehört.
Am 25. Februar ift er, wie Luther und Bugenhagen, zum Hoch⸗
zeitfefte bei Hofe in Torgau. Am 9. März bedankt er fich für
Dfianders Gutachten und meldet gleichzeitig: Cum Anglis nunc
de doctrina Religionis disputamus; und eben darüber am näd)-
jten Tage an Georg von Anhalt; collocuti sumus de omnibus
articulis doctrinae Christianae, et videntur nobis legati non
abhorrere a studio purioris doctrinae (genau genommen durfte
Melanchthon dies nur von Heyth fagen, während er im vertraus
licheren Briefe an Dietrih von For faft das Gegenteil jagt).
Quorundam articulorum formae. singulari diligentia quam
explicatissime compositae sunt. Hiernach waren aljo über nicht
wenige Punkte damals die Verhandlungen durch Fixierung der
Reſultate abgefchloffen; darunter gewiß die Beurteilung der Eher
12 Vogt
frage. — Am 28. März fchreibt fodann Luther an die Surfürften,
er ſolle die Artikel verdentfeht erhalten, woraus er fehen werde,
„wie fern wir's mit ihnen alihier gebracht haben“. Die Gefandten
wüßten freilich noch nicht, wie Ahr König biefelben aufnehmen
werde. Sollte er fie aufnehmen, fo möchte das Bündnis feinen
Fortgang haben. „Denn folge Artikel ſich mit unferer Lehre wohl
reimen." Des Könige Sache mit der Ehe könne der Kurfürft
ans diefer Religionsfache fchliegen (ſoll doc wohl heißen: von ihr
ausſchließen, außer Betracht laſſen) — oder, wo e8 für gut an⸗
geſehen werde, fofern zu verantworten fich erbieten, als wir fie
gebilfigt haben.” Können diefe letzteren Worte auch kaum anders
verftanden werden, als daß eine relative Billigung — freilich nur
eine relative — allerdings aus der Erklärung der Wittenberger
zu entnehmen war, fo verwahrt fih doch noch am 30. März
Melanchthon ausdrüclich gegen die Anterfteilung, als hätten fie
den Engländern zugeſtimmt, und faßt die Differenz nach wie ver
in die Worte: Nos sentimus legem de nen ducenda fratris
uzore dispensabilem esse, etsi legem ipsam non aboleri vo-
lumus. Zugleich meldet er, daß über die meiſten Punkte zwar
eine Einigung erzielt, die disputiones de doctrina aber noch
feineswegs abgefchlofjen feten (Corp. Ref. II, 52 sq.).
Dazwiſchen nun fühlt das Besponsum legatorum regis
Angliae ad Articulos ipsis a Confoederstis d. 25. Dechr.
1535 Schmalcaldiae propositos, welches — mit fehlenden Ein⸗
gang — Corp. Bef. II, 46 mitgeteilt und vom 12. März be»
tiert ift. Dasselbe begieht ſich hauptſächlich auf bie im projeltierten
Schutzbundnis ansgubedingenden Hilfsleiſtungen mit Mannſchaft,
Schiffen und refp. Hilfsgeldern. Hinſichtlich der gewünſchten Einig⸗
keit im Glauben und in der Lehre wird bemerkt: dieſelbe ſei nur
zu erwarten, wenn die Augsburgiſche Konfeſſion und Apologie in
manchen Punkten gemildert werde — durch Verhandlungen mit
ben Theologen in England, zu welchen ein hervorragender Dent⸗
fcher abgefandt werben möchte. (Melnnntlich hatte man dabei Me⸗
lanchthon im Auge.) Der Tod Katharinas wird ermähnt als ein
Umftand, welcher für Heinrich bie Gefahr, Hüfe im Kriege zu
bedürfen, noch ferner rücke. Zum Schluß aber wird namens des
Über Heinrichs VIE. Eheſcheidung. 748
Königs da8 Verlangen ausgejprodhen: ut vestrae Celsitudines
velint suscipere in posterum in omnibus futuris consiliis et
alibi promovendam et defendendam eam sententiam, quam
Reverendi Patres et domini D. Martinus, Justus Jonas,
Cruciger, Pomeranus et Philippus in causa matrimonii Ser.
R. Majestatis jam pridem tulerant.*“ Wo iſt nun die bem
Könige fo ginftige Erklärung derfelben Theologen, mit welchen da⸗
mals zu Wittenberg werhandelt wurde, welche Schon vor einiger
Zeit ergangen fen ſoll? — Man kann nur an das ad) der ge
gebenen Überſicht nicht vor Mitte Februar adgefaßte judicium
theologorum Eutheranorum benfen, deſſen erfter Teil allerdings
den Schluß ergab, daß ber Papft mit Unrecht die Dispenfation
zur Ehe mit Arthurs Witwe erteilt habe. Dabei wird ja aber
der Schlußſatz des deutichen Textes ignoriert, welcher dennoch die
Scheidung entjchieden mißbilligt! Man könnte verfucht fein, zu
fragen, ob ſich etwa Luther und feine Genoſſen noch dazu berbeis
gelaften, den im Iateinifchen Text zu ftreihen, und fo nod mehr
ben Eindruck hervorzurufen, daß fie ihre Entfcheidung in suspenso
laſſen wollten? wenn bdiefer Gedanke nit ſchon durch den Um⸗
Stand, dag bie deutfche Abichrift von der Hand des Bizekanzlers
an ben Kurfürften gerichtet im kurfürſtlichen Archiv niedergelegt,
Anſpruch auf offizielle Geltung macht, noch mehr durch Meland-
thons beftimmte Verficherung vom 30. März ausgefchloffen würde.
Dan kann alfo kanm umhin, anzımehmen, daß die Engländer nur
das haben herausleſen wollen, was ihrem Könige erwünfcht war,
und das Ungänftige gefliffentlich überjehe und wenigftens vorläufig
ihrem Könige nur das erftere berichtet haben, um ihn der Fort»
fegung der Verhandlungen geneigt zu erhalten. Sie mochten dazu
noch ermutigt werden buch die Wahrnehmung, daß der letzte Say
wielleicht wirklih nur auf Luthers Andringen noch Binzugefügt war,
wührend die übrigen möglicherweife ſich noch mehr zu Nachgiebig-
keit geneigt zeigten. — Werfen wir mm zum Schluß noch einen
Blick auf die Behandlung, welche die vorliegende ehegefetliche Frage
in den reformatorifchen Kirchenordnungen gewonnen, fo ift zunächſt
auffällig, in dem wichtigen Gutachten Melanchthons an den Herzog
Ülbrecht von Preußen Corp. Ref. III, 610 zu lefn: „Es ift in
744 Bogt
der Bilitation fleißig disputiert worden, ob eine neue Form außer
den üblichen Nechten zu ftellen, und endlich bedacht, wie in ber
Bifitation fteht, daß fie die gewöhnlichen Verbote halten ſollten.
Doc follt bei den Viſitatoren ftehn, welche Fäll ein Dispenfation
[eiden möchten.“ Dabei wird die DVerbindlichleit von Lev. 18 un⸗
bedingt vorausgefegt, und nur noch erörtert, welche weiteren Grade
als verboten anzufehen fein, und in Wittenberg al8 verboten ans»
gefehen würden. Mag e8 auch bei den darüber gepflogenen Ber-
handlungen vorausgejeßt fein, daß die beftehenden Verwandtichafts-
verbote im allgemeinen gültig bleiben follten, fo ift doch in den
publizierten Vifitationsartifeln von 1528 und 1533 eine beftimmte
Erklärung in jenem Sinne nicht zu lefen, und fcheint es daher,
Melanchthon habe mehr feinen lateinifhen Entwurf in Erinnerung
gehabt. — Während übrigens 3. B. Billifans Nördlinger und
Zwinglis Züricher Ordnungen von 1525 (bei Richter I, 20. 21) ?)
im Unterfchiede von den bisherigen Verboten nur „Moſe“, refp.
„den in klarer göttlicher Schrift Lev. 18 ausgedrückten Verboten“
folgen zu wollen erflären — wahrt namentlich, des Urbanus Rhe⸗
gius Hannoverſche Kirchenordnung von 1536 den Iutherifchen Stand⸗
punkt injofern, als es dort Heißt (Richter I, 276): „Wo fi
nun in Eheſachen etwas zuträgt, da8 man im Faiferlichen Rechte
nicht wohl entjcheiden mag — wollen wir nad) Vermögen unferer
hriftlichen Freiheit, auch das göttliche Hecht Mofi zuhilfe nehmen —
denn obfchon uns Mofes in Judicialibus nicht geboten, und zum
Nechtfprecher gegeben ift, fo ift er uns dennocd nicht verboten.“
Moſes als großer Prophet, aus Eingaben des h. Geiftes redend,
werde ficherlich wohl gewußt haben, was im Ehejtand ehrbar, ehr-
lich oder unehrlich fei. — Bemerkenswert ift aber, daß in der von
den Predigern Joh. von Amfterdam in Bremen und Burfchoten
in Hoya entworfenen, danach von Luther, Melanchthon, Jonas
und Bugenhagen revidierten Lippefchen Ordnung von 1538 (Richter
II, 499) urſprünglich ganz ähnlich wie bei Rhegius es hieß: und
1) Man f. für das Folgende die Überficht in dem Programm von Goeschen
Doctrina de matrimonio ex ordinationibus ecclesiae evangelicae adum-
brata. Halis 1847. 4°.
Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 145
fo man nha feiferlichem rechte nicht gefcheiden konde, jo mag men
nach Chriftlicher frigheit godtliches rechten uth Moſe wall gebrufen,
wente wo wall uns de in juditialibus tho Holdende nicht gebhaden,
jo ijt fe uns doch nicht vorbadene.” Diefe Worte find aber ge⸗
fteichen, und dafür von Melandthon folgende eingefeßt: „Und
nachdem Gottes Wort, das natürlich Recht verkläret, und die Ehe
zwifchen gefippten Perfonen in etlichen Graden verboten Levi-
tici 18, fol in folchen Graden feine Ehe zugelaffen — niemand
alfo heiraten — ſoll ſolche Beiwohnung nicht geduldet und die Per-
fonen bejtraft werden, denn ſolche Beywohnung ift wider natür«
liches Recht, das Gottes Ordnung ift in menfchliher Natur, und
hat fein Menſch Gewalt, dawider zu ordnen und bispenfieren, wie
der Bapft freventlich gethan. — Weiter foll auch der andere Grad
verboten fein u. f. f. — Wir fehen alfo gerade Melanchthon auch
bier ausdrücklich zu der gejeglichen Auffaffung von Lev. 18 zurück⸗
fehren. Dagegen will e8 uns als eine Wahrung des Tutherifchen
Standpunftes erjcheinen, wenn Brenz in jeiner Eheordnung von
1553 das göttliche Gefeß zugleich als natürliches bezeichnet, ohne
dabei auf Moſes zu refurrieren. Auch Bugenhagen in der Pom-
merſchen Kirchenordnung von 1535 fordert, „daß man dem freien,
dem Bapfte ununterworfenen Taiferlichen Rechte folge“, ohne auf
Mojes Bezug zu nehmen, und fchließt ſich auch in feinen übrigen
Bemerkungen offenbar an Luthers Schrift von Ehefadhen an. Da⸗
gegen beginnt die, von Bugenhagen nur revidierte Pommerfche
Kirchenordnung von 1542 freilih damit, daß fie — fogar mit
Beifpielen aus Aristoteles historia animalium, den horror na-
turae gegen Ehen in naher Blutsverwandtſchaft erweift, geht dann
aber ohne weiteres zu dem „geichriebenen Rechte” zu dem „Was
Gott durch Moſes verboten Hat“ über, und in ganz gleicher Ver⸗
bindung redet dann die Brandenburger Slirchenordnung von 1573
vom „göttlichen, natürlichen und gefchriebenen Rechte". — Spätere
Zutherifhe Ordnungen refurrieren dann einfach auf Xen. 18. —
So die Preußifhe von 1584, welche jenes Kapitel ausdrücklich
al8 den Brunn bezeichnet, aus welchem alle anderen Ehegeſetze
fließen; weil dasfelbe niht nur ad leges Mosis forenses, fons
dern auch „meiftesteils“ ad legem moralem gehöre, feien
746 Vogt
daran alle Menſchen nicht weniger als an das ſechſte Gebot ge⸗
bunden. Demgemäß macht die Mecklenburgiſche Kirchenordnung
von 1570 den Unterſchied, daß die im moſaiſchen Geſetz verbo⸗
tenen Grade abſolut ausgeſchloſſen ſein ſollen, während bei den
anderen, als nur durch menſchliche Verbote ausgeſchloſſenen, die
Diepenfation in Trage kommen kann.
Sachlich ſcheint freilich der Hier bezeichnete Unterfchleb inſofern
bedeutungslos, als die Unzuläffigkeit fümtlicher Leo. 18 bezeichneter
Grade mit alleiniger Ausnahme der Schwagerehe auf chriftlichem
Boden kaum je in Frage kommen kann, und auch bie leßtere feit
1536 allgemein aufgegeben war, und Berfchiedenheit in concreto
fih nur zeigte in Fällen, welche über das mofaifche Geſetz hinaus⸗
gingen, wie: ob Ehen im zweiten Grad der Berwandtichaft
unter Umftänden gültig bleiben, ob beim britten Grade, auch in
abfteigender Linie, Dispenfation zuläffig und dergleichen. Immerhin
fpiegelt ſich auch hier der allgemeine Verlauf wieder, indem ſich
zeigt, wie der von Luther Tühn geltend gemadte Grundſatz evan⸗
gelifcher Freiheit eine gründliche Neuordnung fordert, wie derjelben
aber nicht nur die Schwerkraft der beftehenden Autoritäten entgegen«
trat, fondern auch das Bedürfnis namentlih der Evangelischen,
welche nicht in dem Maße wie Luther felbft vom Geiſte getragen
waren, jenen Autoritäten eine andere, gefchriebene Norm entgegen«
zuftellen, fo daß fchlieplich in weiterem Umfange, als fi anfangs
erwarten ließ, in die alten Geleife wieder eingelenft wurde, bis
dann die Zeit der Aufllärung — auch bei dem vorliegenden Gegen.
ftande vielleicht grümdlicher, als erforderlich mar — mit dem Über-
fommenen aufräumte. Zu diefem Verlaufe trug freilich auch der
Umftand bei, daß Luther — in feiner Beforgnis in altteftament-
lichen oder katholiſchen Geſetzesdienſt zurüdzufallen — feinerjeits es
nie recht zu voller Würdigung bes Geſetzes, fpeziell des Bebürf-
niſſes der kirchlichen Gemeinſchaft nad einer wirklich enangelifch
kirchlichen, d. h. nicht einfach auf einem gefchriebenen Worte, ſon⸗
dern auf dem im Geifte der gegenwärtigen Gemeinde reprodnzierten
Worte, injonderheit des Neuen Teftaments berubenden, vom Geifte
der Freiheit, Weisheit und Liebe biltierten und gehanbhabten Ge⸗
ſetzesordnung brachte. Denn fonft hätte er ſchwerlich alle Hand»
Über Heinrichs VIII. Ehefcheidung. 747
Habung des Geſetzes aljo nicht nur in Ehefachen, fondern felbft
3. B. die Anordnung von Faften — fo kurzweg ber bürgerlichen
Dbrigfeit überwiefen, wie er es oft thut.
2.
Uber Melanchthons loci.
Aus Bugenhagens Handſchriften.
Mitgeteilt von Lic. Vogt,
BPaftor in Weitenhagen.
Das Corpus Reformatorum von Bretfchneider und Bindſeil
druct in Bd. XXI, 251 ff. eine Nachfchrift der Vorlefungen Me⸗
lanchthons über die loci ab, welche in Bd. III der Bugenhagen⸗
manuffripte in der Töniglichen Bibliothek zu Berlin enthalten tft,
und (S. 332) mitten im Abfchnitt de praedestinatione mit Nec
moror abbricht. Den Herausgebern iſt es entgangen, daß ſich in
Bd. I, Bl. 209 — 212 und BL. 232 ff. jener Handſchriften noch
zwei Fortfegungen jener Nachſchrift befinden, welche, mit etiam si
quis unmittelbar an jenes Nec moror anfegend, den Text ber
Ausgabe von 1535 in jenem Bande des Corp. Ref. nod von
©. 452, 3.3 bis ©. 468, 3. 21 v. u. begleiten, dort mit
proprie nobis applicari divi abfchließend. Dieſe beiden Fort⸗
fegungen, offenbar auch der Bugenhagenfchen Nachſchrift von 1533
angehörig, ftimmen dennoch faft durchweg mit der im Corp.
Ref. folgenden Ausgabe von 1535 wörtlich überein. Wir no-
tieren aus den erjten Seiten nur, daß reoswnroindse mit
acceptatio personarum überjegt wird. Dagegen findet fich eine
erhebliche Abweichung gegenüber dem Abfchnitt S. 459, 3.5 v. o.
bi8 3. 14 v. u. Und da in diefer Zeitfchrift durch den Aufſatz
von Loofs in Jahrgang 1884 — f. befonders ©. > — gerade
Zheol. Stub. Yahrg. 1885.
148 Vogt
auf dieſen Paſſus aufs neue die Aufmerkſamkeit gelentt iſt, ſei
uns geftattet, den Text der Bugenhagenſchen Nachſchrift Hier wört⸗
lich folgen zu laſſen (die in Klammern [} geſchloſſene Stelle ſtimmt
wieder wörtlich überein): Et de his tenendum est hoc discri-
men: Tota lex abrogata est, quod ad justificationem at-
tinet, non quod attinet ad obedientiam. Hoc est, quod
legi nemo satisfacit. Alia res ad quaerendam justifica-
tionem proposita est, quam lex, videlicet quod propter
Christum donatur nobis remissio peccatorum et imputatio
justitiae, non propter derakagum aut ceremonias aut ullam
legis partem. Et tamen postquam scimus nos per miseri-
cordiam reconcikatos esse, subjieit nos Evangelium obe-
dientiae erga deum, et vult nos bonum operari quia novum
‘ testamentum aflert novam. vitam quae est obedientia quae-
dam ergo deum. Requirit igitur hanc obedientiam, vide-
licet timorem dei, fiduciam, invocationem, dilectionem,
gratiarum actionem, confessionem, dilectionem proximi, pa-
tientiam, castitatem etc. — Et haec opera docet et requirit
lex moralis. Quamquam igitur alia res proposita est ad
quaerendam justificationem, tamen. interim manet, lex mo-
ralis quod ad obedientiam attinet. [Et in hanc sersentiam
inquit Paulus: Non estis sub lege sed sub gratia. Hoc est
certo: jam placetis deo per gratiam Le. per misericordiam,
non propter legis impletionem. Item Gal. Christus nos
redemit de maledicto legis, factus pro nobis maledictio.
i. e. quia nemo legi satisfacit, ideo lex antea aocusabat et
condemngbat omnes, nunc nen atcusat nec condemnat novo
foedere postquam per Christum. reconciliati estis. Sig igityr
3 decalogo liberati sumus, ut a maledicto liherati simgus.
Hoc est, non condemnat ea lex creslentes, tametsi non
satisfaciant legi. Hoc igitur beneficium est libertas, qund
conscientise possunt habere firmam comsolationem, cum in-
telligant gretis dongri remissionem peccatorum. Ihem justos
placere per misericordiam etiamsi in iis adhuc haereant
reliquiae peccati nec legi satisfaciant.] Ex his intelligi po-
test quatenus abrogata sit lex: beneficium justißoatiouis
Über Melanchthons loci. 149
transfertur & lege ad Christum, ut sit certum et ratum.
Caeterum mänet lex quod ad obedientiam attinet, quia
certe Evangelium subjicit nos obedientiae erga deum. Et
quomodo placeat haec obedientia, saepe jam dietum est. —
Augustinus etc.
Im weiteren Verlauf find nur folgende Abweichungen gegen
den Text von 1535 im Corp. Ref. zu bemerfen:
Corp. Ref. ©. 460, 3. 7 fchreibt Bugenhagen legibus ft.
vinculis.
©. 461 letzte Zeile Hinter naturae nad) et totam civilem
disciplinam.
©. 462, 3. 16f. non servant leges conjugii, violant se-
pulchra etc. Deinde....
©. 463, 3. 7—8 nur: Ita permittitur secundum Paulum.
S. 463, 3. 23 ift nit ejusmodi, fondern humanos zu
leſen.
S. 463, 3. 9 v. u. Hinter vocationis noch qui est verus
cultus.
S. 464, 3. 7—5 v. u.: Sed illi peccant qui violant ideo,
quia contemnunt Evangelium, aut exemplo suo abducunt
caeteros ab audiendo Evangelio.
S. 465, 3. 1 hinter traditionibus fehlt immodicis.
©. 466, 3. 18f. quod ipsae ceremoniae non justificant:
sine fide fehlt.
S. 466 letzte Reihe bat Bugenhagen noch: etsi autores pro-
hibitionis non habent excusationem.
©. 467, 3. 5—7 quae commendata sunt oculorum spec-
taculis.
©. 467, 3. 22 consequi gratiam ftatt justos fieri.
S. 468, 3. 23 v. u. führt Hinter justitiae fidei Bugen⸗
bagen fort: Ita nos sentiamus sacramenta novi testamenti
esse sigilla fidei, hoc est testimonia quaedam addita pro-
missionibus, ad hoc ut nos certius credamus. Item ut pro-
prie nobis applicari divi.
Damit fchließt das Manuffript.
48*
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Rezenſionen.
Digitized by Google
l.
Die biblifche Mrgefchichte (Gen. 1—12, 5) unterfucht von
Lic. (jest D. theol.) Karl Budde, außerordentl. Profeſſor
der evangel. Theologie zu Bonn. Gießen (3. Rickerſche
Buchhandl.) 1883. IX und 539 ©. 8°.
Der Herausgeber der Zeitfchrift für die altteſtumentliche Wiſſeu⸗
ſchaft, H. D. Stade Hat gelegentlich (Yahrg. 1883 S. 2 Anm.)
de „de Wetter Ewalbſche Weiſe altteftamentliche Kritik zu treiben“
der heutzutage, „wo bie Unterſuchung längft andere Wege ein⸗
geſchlagen Hat“, befolgten jo gegenitbergeftellt, daß jene offenbar
als ein veraltetes, einem überwundenen Standpunkt angehöriges
Berfahren charakterifiert werden ſollte. Sollte damit gejagt wer⸗
den, daß’ die kritiſche Forſchung feit de Wette und Ewald fortges
fegritten ift und mandje neue Ergebuiffe vor großer Tragweite ges
women bat, fo würe dagegen nichts einzuwenden; am wenigften
gegtiiüber demen, welche ſo glücklich find, raſcher zu einem ab⸗
ſchließenden und zuftimmenden Urteit über die durch Wellhauſen
begründete Anfiht von dem Wftersverhältnis der Quellen bes
Herktenchs zu gelangen, ald der Referent: Bedenklich abet‘ wäre
jene Gegenäberftellitng, wenn mir bei den „anderet Wegen" an
die kritiſche Methode beiten ſollten. Ach wenigftens muß
offen geftchen, daß mir alle wirklichen Ergebniſfe der neueren kri⸗
tifgen Forſchung — nicht bloß die, welche ich für tichtig, ſondern
auch die, welche ih überhaupt für wiffenfhaftlid wert-
754 Budde
voll halte — nad) derſelben Methode gewonnen zu fein ſcheinen,
welche auch ſchon de Wette, Ewald und, um noch ein paar andere
Namen anzufügen, Hupfeld und Bleek befolgt haben; daß uns
dabei jetzt ein reicheres Material zugebote ſteht, und daß das ſchon
früher vorhandene (z. B. die alten Überfegungen für die Text-
fritit) audgiebiger verwertet wird, begründet ja feine Verſchieden⸗
heit der Fritifchen Methode. Wer die im legten Jahrzehnt erfchies
nene Fitteratur aus dem Gebiet der altteftamentlihen Wiſſenſchaft
durchmuftert hat, Tann freilich nicht verkennen, dag and bezüglich
der fritifchen Methode nicht wenige Forſcher zumeilen „andere
Wege“ eingefchlagen haben. Ob aber diefe anderen Wege beffere
find? Mich will bedünken, als ob fie in manchem den Wegen
bedenklih ähnlich wären, welche die Kritit vor der Zeit be Wettes
in ihrer Sugendperiode oder — wenn man das lieber hört —
in ihrer Sturm» und Drangperiode, zu gehen pflegte, nur daß
man jett einen größeren gelehrten Apparat verwendet und fich einer
eingehenderen Beweisführung befleißigt. — So langjem, fo bes
dächtig, fo maßvoll, mit fo viel Reſpekt vor dem urkundlich Über-
lieferten, mit fo viel vorfichtiger Zurücdhaltung gegenüber den mit
den vorhandenen Mitteln noch nicht lösbaren Problemen, wie ein
de Wette, ein Hupfeld oder ein Bleek, ſchreitet die neuefte kritiſche
Forſchung nicht mehr vorwärts; fie iſt kühner geworden, eilt in
großer Zuperfiht rafcheren Laufes ihren Zielen zu und meiß fo
detaillierte Einblicke in Titterärtfche und gefchichtliche Vorgänge der
älteften Zeiten zu gewinnen, daß man von jtaunender Verwun⸗
derung über ſolchen Scharfblic ergriffen wird. Bei näherem Zu⸗
fehen findet man freilich oft genug, daß das Verfahren, mittelft
deſſen die Ergebniffe gewonnen find, mehr blendenden Scharffinn
als nüchterne und umfichtige Abwägung der Tragweite der ge-
machten Beobachtungen, mehr kühne Kombinationen als fihere und
Mare Unterfcheidung zwiſchen thatſächlich vorliegendem Sachverhalt
und bloßen Vermutungen und Wahrſcheinlichkeiten, mehr jelbfte
bewußte Gewaltfamfeit, die das urkundlich Überlieferte nach eigenem
Ermefjen und eigenem Bedarf zurechtfchneidet, als forgfältige und
(ernbegierige Beachtung desfelben erkennen läßt. Man fteckt fi
Ziele, ohne vorher ordentlich zugejehen zu haben, ob der Boden,
Die biblische Urgefchichte. 155.
von dem man ausgeht, auch fchon Hinreichend gefichert ift; man
verfucht fih an neuen Aufgaben, ehe die alten, deren Löſung ſchon
die Srageftellung für jene bedingt, genügend gelöft find. — Yu
den überlieferten Zerten werden längſt bemerkte Unebenheiten zu-
jammengetragen und dazu mit großem Scarffinn viele neue auf-
gejpürt; etwaige frühere Erklärungen derfelben laſſen fich Leicht ale
in irgendeiner Beziehung nicht genügend darftellen; und fofort
fieht man fie als Anzeichen von Nähten oder Brüchen an und
greift zu dem kritiſchen Meſſer. — Bon den Beobadytungen des
objektiv vorliegenden Thatbeftandes nimmt man einen Zeil, im
beften Fall den größeren, zum Fundament, während man den an⸗
deren verſchmäht; auf dem willkürlich bejchränften Fundament wird
dann rüftig und frifch ein Bau nach dem dem Baumeiſter vor-
ſchwebenden Plan ausgeführt; al8 Material verwendet man That-
jachen, jo weit fie in den Plan paſſen; daneben auch Wahrjchein-
lichkeiten, Vermutungen und bloße Einfälle in buntem ‘Durdj>
einander; man denkt, was unficher ift, werde durch die Zuſammen⸗
fügung des Ganzen gehalten und getragen; aber man vergißt, daß
dies nur fo lange der Fall ift, als des unficheren Materiald nicht
zu viel und der Bau nicht zu fehr in die Höhe geführt if. Wo
die Eritische Forfchung unferer Tage folhe Wege geht, da mag fie
im einzelnen immerhin viele gute Beobachtungen von bleibendem
Wert machen, aber ihre Beweisführungen im ganzen tragen all-
zu fehr das Geprüge des Subjektivismus, als daß ihnen noch Über-
zeugungsfraft inne wohnen könnte, und ihre Hhpothejenbauten
müffen fih früher oder fpäter der ftreng methodiſchen Forſchung
als bloße Kartenhäufer erweifen.
Das oben verzeichnete Werk ift von einem werten Fachgenoſſen,
auf deffen befonnenes und maßvolles Urteil ich ſonſt großes Ges
wicht lege, von D. Kautzſch als „ein Mufter fcharffinniger und
methodifcher Unterfuchung“ gerühmt worden (Schürers Theol.
Litteraturzeitung 1884, Nr. 3). Den Scharffinn, die in das
Detail eingehende, die verfchiedenen Möglichkeiten in Betracht
ziehende, nur manchmal etwas zu umftändliche Gründlichleit, die
vielfeitige Belefenheit und Gelehrfamkeit und die Selbftändigkeit
und Genauigkeit in der hebräifchen Sprachforfchung, welche wie in,
[3 Bade
fraßeren Arbeiten jo auch in diefem Werke Bubbes au bear Tag
treten, erfenme and ich germe an; daß aber ein Mann, wie Kauizfch,
daſsſelbe für ein Minftee methodiſcher Lnterfudiamg erflüiren kormte,
das iſt mir denn doch ſchwer begreiflich und Beweift aufs newe,
wie ſehr die krittſche Forfchung unſerer Tage im Gefahr ik, die
oben angedeuteten Abwege zu gehen.
Der Hauptzwed der ganzer Unterſuchung {ft die weitere Son⸗
derung der jehoviſtiſchen Beftanbteife der Urgefchichte: der Verſuch,
die üftefte jahviſtiſche Geſtalt derfelben (die im Anhung ©. 520
bis 531 hebräifch und dentſch mitgeteilt Hi) zu Celonfiruteren und
zu ermitteln, was in ben und vorliegenden Texte anf Nechuung
der von Wellgaufen. angenommenen. mit I? und J® bezeichneten
nenen Herandgeder und Bearbeiter jener älteften Schrift (I!) zu
jegen tft, und in welchem Verhältnis dieſe verſchiedenen Ausgaben
zu einander und zu ber Grunbiehrift ſtehen. Bezüglich anderer
Trage der Hexateuchkritik wird auch gelegentlich biefed und jeirts
Ergeimis gewonnen, und z. B. iubezug auf das Zeitalter ber
Grundſchrift de und dort eine ind Gewicht falleude Bemerkung
gemacht; aber alles Derartige fallt doch nur in die Kategorie der
nebenbei verfolgten Zwecke. — Schon hier könute man bie Frage
anfwerfen, ob ben wirklich die Bentatenchtritit fihon fo weit ift,
daß fie fi) jene Hauptaufgabe ftellen kann. Muß mar nit zu⸗
vor zu einem einigermaßen geficherten Ergebnis‘ Aber die ſchrift⸗
ſtelleriſche Thatigkeit des ſchließlichen Redaktors des Hexateuchs ger
kommen ſein? Und kann ein ſolches gewonnen werden, che feſt⸗
geſtellt iſt, ob wirklich — wie mit Wellhaufen die meiſten neneren
Hexateuchkritiker vorausſetzen — von jenem ſchlirßlichen Redaltor
ein älterer jehopiftifcher Medaftor (JE) zu unterſcheiden ift, welcher
die ihm vorliegende mehrfach Aberwebeitete jahriſtiſche Schrift mit
der (durch E bezeichneten) elohiftifcherr verbunden Hat? Ich weiß
die Gründe fee wohl zu wärbigen, welche Wellhaufen in feinen
grundlichen und an nemen Beobachtungen und Anregungen reichen
Mhandlungen über „die Kompofition des Hexateuche“ (Jahrbb.
f. deutſche Theol. XXI, &. 392450. 331- 602 und XXI,
S. 407479) für dieſe Annahnie geltend gemacht hat, und habe
in ſtiner wieder mehr auf Hupfeld zurückgehenden Auffnſfung des
Die bibliſche Urgeichichte. 797
Berhältwiffes von J und E immer eiten Portfihritt gegenüber ver
von Nöldete und Kayfer vertretenen erkannt. Einer neuen gränd»
lichen Unterſuchung bedarf aber jene Annahme eines älteren jeho⸗
piftiichen Redaktors, che man weiter daranf baum kann. Hat
doch Welkhauſen ſelbſt in der Unterſuchung über Ben. 27—36,
in weldyer ee „den ftriften Beweis“ Tür feine Annahme zu Kiefern
verfpriäht la. a. O. XXI, 420), ſchließtich (S. 440) eine „auf
fallende" Erſcheinum eingefteen müſſen, welche ganz geeignet
ift, den „ftriften® Charakter feiner Beweisführung wieder m
Trage zu ftellen. Auch dürften die treffenden Bemerkungen Dill⸗
arms (Benefits, Vorbemerkungen, Nr. 5) gegen das Haupfargu⸗
ment Wellhauſens davon überzeugen, daß man gut thäte, die
Exiftenz bes mit IE bezeichneten Mebaftord noch nicht wie eine
ausgemachte Sache zur behandeln. — Inbefſen kann ein von
hier ans gegen bie Unterſuchungsmethode Buddes erhobene Vor⸗
wurf darum zurückgewiefen werden, weil für die Hanplaufgabe,
welche er ſich geſtellt Hat, die kritiſche Frage nach dem mit JE
bezeichneten Redaktor in ber That nicht don grundlegender Weden«
tung iſt; denn er ift mit Wellhaufen (a. a. O. XXI, 419) der
Überzeugumg, duß in der ganzen Hrgefchichte Keine Spur der mit
E bezeichneten Quekllenſchrift nachweisbar ft (S. 508), nnd er
hat darim vollkommen recht. — Dagegen hat Budde in der Wahl
des Ausgangspunktes meines Erachtens von vornherein ges
zeigt, wie eine methodiſche Unterfuchung nicht geführt werben darf.
Er erklärt (S. IV), die Reihenfolge feiner einzelnen Untere
ſuchungen entfpreche im wefentlichen dem Weg), Yen er ſelbſt durch
feine Brobuchtungen geführt worden ſei. Run famı man ja woßl
unter Umftünden an einem beliebigen Punkt eine Beobachtung
marhen, von welcher aus fich neues Licht Aber weite Gebiete ver»
breitet; es ift dann aber ein rein zufälfiger, ganz indivibueller
Weg, anf welchem bie neuen Erfenntniffe gewonnen find; eine
methodifche Unterfuchung dagegen hat ihren Ausgang nicht will»
kürlich zu wählen, fondern muß von dem Boden ausgehen, welcher
ihr don ihrem Objekt felbft und der bisher gewonnenen Erkennt⸗
mis desfelben angewiefen wird; mer affo zufällig von- einem be
Liedtgen einzelnen Punkt aus eine neue Erkenntnis gewonnen: hat,
(58. Budde
hat, wenn er ſie von anderen anerkannt ſehen will, zunächſt die
Aufgabe, ſeine Unterſuchung von dem durch den jeweiligen Stand
der Forſchung gewieſenen Boden aus und auf dem ordentlichen
Weg, den er mit anderen gemein hat, noch einmal zu führen und
dabei gehörigen Orts die Einzelbeobachtung, die ihm weitere
Ausſichten eröffnet hat, geltend zu machen; dieſes methodiſche Ver⸗
fahren wird ihm dann ſelbſt eine Probe dafür fein, welchen wiſſen⸗
ſchaftlichen Wert feine auf ungewöhnlidem Wege gewonnene Er-
fenntnis hat.
Es ift die vielbeiprochene Stelle Gen. 6, 1—4, von mwelder
Budde ausgeht. Gründlich weift er zunächſt nach, daf V. 1 u. 2
jehoviftischen Urfprungs ift; die nähere Beſtimmung, daß das
Stüd der älteften jehoviſtiſchen Schrift (I) angehöre, ruht auf
Borausfegungen, die nur durch eine allgemeine Berufung auf
Wellhauſens Unterfuchungen geftügt find (S. 6). Es folgt eine
jehr eingehende exegetifche Unterfuchung über die crux interpre-
tum Gen. 6, 3, namentlid) über das nıWa. In der Prüfung
der Anfichten, welche in diefem Wort eine Zufammenfegung aus
3, W und oJ erfennen, ift die relativ bejte, welche im litterarifchen
Zentralblatt vom 5. Yuli 1862 (von Higig) veröffentlicht ift,
überſehen: 03 — fo wird dort bemerkt — drängt in den Anfang
des Sages (Spr. 20, 11; 19, 2), und zu weldhem Wort bie
Partikel gehöre, entjheidet der Zufammenhang (Gen. 32, 19);
auf Grund deſſen wird erffärt: „weil er (nicht nur Geift, fon-
dern) auch Fleiſch iſt“. Haltbar ift auch diefe Erklärung freilich
nit; e8 müßte un nach Aw ftehen. — Am meiften mutet
Budde die Erklärung an, welde in dzuz einen nf. findet, das
suff. auf die Engel bezieht und das Wort mit dem vorhergehen-
den Sag verbindet: „nicht foll gewaltig fein mein Geift in dem
Menſchen auf ewig durch ihre. (der Gottesfühne) DVerirrung; er
(dev Menſch) ift Fleiſch“. Budde führt Teinen Vertreter dieſer
Erflärung an; da ich fie fchon im Zimmermannjchen Theol. Litt.-
Blatt Yahrg. 1864, Nr. 9 gegeben habe, fo muß ich mich zu ihr
befennen; unabhängig davon hat H. Schultz (Altteftamentl, Theol.
I, 393; 2. Aufl., ©. 648) eine ähnliche aufgeftellt, wie ſchon
früher de Wette und Bunſen, nur mit einer anderen, meines Er-
Die biblifche Urgeſchichte. 159
achtens unmöglichen Erklärung de8 3. Bei näherem Zufehen
findet Budde aber auch diefe Erflärung nit haltbar; mit Dilf-
mann macht er zunächſt geltend, daß das nıwa ungeſchickt nach⸗
jchleppen würde. Nun ift allerdings diefer Einwand entjcheidend,
wenn man erklärt: „wegen ihrer Verirrung“ sc. foll mein Geift
nicht gewaltig fein u. ſ. w.; aber nicht entfcheidend ift er, wenn
erklärt wird: nicht joll gewaltig fein ... auf ewig durd
ihre Verirrung. Mit anderen Worten: er ift entfcheidend, wenn
owia den Grund für die Vorkehr gegen ein Gewaltigfein auf
ewig, nicht aber wenn e8 den Grund bes eventuellen Gewaltig-
jein® auf ewig angeben fol; in Iegterem Fall ift feine Stel-
(ung nad) obyb zwar immer ungewöhnlich, aber doch wohl moti«
viert umd nicht wefentlich anderer Art, als die Stellung des unb
nah odryb in 2 Sam. 7, 29. Weiter macht Budde allerlei fach-
liche Schwierigfeiten gegen meine Erklärung geltend, unter welchen
die gewichtigfte die ift: es könnten nicht die beiden unvereinbaren
Borftellungen, daß der Geift Gottes das Prinzip des Lebens im
Menschen fei, und daß die Vermifhung der himmlischen Wefen
mit dem Menfchengefchlechte diefem Kräfte ewigen Lebens zuführen
fönne, in einem Sat mit einander verbunden fein. Aber das ift
übel angebradhter Scharffinn; das Heißt nach modernem Maß-
ftab mefjen, was bei einem alten Schriftfteller möglih ift. Wenn
der Jahviſt zweifelloe aus der Überlieferung, und zwar Gen.
6, 1ff. „aus dem BVolfsglauben und dem Volksmunde“ ge
ihöpft hat (S. 504), follte dann wirflich eine ſolche uns unver»
einbar erjcheinende Verbindung von mythologiſchen Vorftellungen
mit den bei den Israeliten fonft Herrichenden reineren religiöfen
Anfhauungen bei ihm nicht vorfommen können? Wird von vorn-
herein vorausgejegt, daß der erfte Aufzeichner der Volksſage diefe
in dem Maße bearbeitet hat, daß die reineren religiöjen Ans
Ichauungen Israels in feiner Darftellung in Harer, einheitlicher,
in ſich widerfprudslojer Weife durchgeführt find (vgl.
©. 244), fo dreht fi) die Beweisführung im Zirkel. — Bei
alledem gebe ich meine Erflärung fofort auf, wenn mir eine beffere
geboten wird; als eine folche fann ich aber die Buddes nicht an-
erkennen: wa sin DI kann nimmermehr bedeuten: „durch ihre
760 Budde
Bexirrung iſt er Fleiſch (ſterblich, hinfüllig) geworden“; denn, von
anderem abgeſehen, das „geworden“ iſt eingetragen, und der Gegen⸗
fatz zwiſchen dem Pluralſuffix in vau und m, welcher die Voran⸗
ſtellung des nam vor Aw> allein rechtfertigt, kann nicht — wie
Budde (S. 44) annimmt — ber von Einzelwejen und der fie
umfafjenden Gattung fein — Durd feine Kriti£ aller bisherigen
Erklärungen von 6, 3 glaubt Budde bewiefen zu haben, daß eine
baltbare Beziehung, diefes Verſes auf B. 1 und 2 nicht herzu⸗
itellen fei, und wendet fi nun zu B.4. In feinen Erdrterungen
über dieſen Vers finden ſich viels zusteffende Bemerkungen; na⸗
mentlih. hat er ganz richtig erkannt, daß in dem norliegenden
Text nicht geiagt ift, daß aus den Mifchehen her Gottesſöhne mit
deu Menſchentöchtern die Nephilim bervangegaugen fein. Wenn
er aber nun water Berufung auf den „gefunden folgexichtigen
Menrſchenverſtand“ uorausfegt, der urſprüngliche Text müffe das
geſagt haben und hans frifchmeg den V. 4 jo korrigiert (ic) gebe
nur. die Überfegung): „Und als nun. hie. Gottesfühne deu Men-
ſchentöchtern uaheten, da geharen die ihnen, und fo kamen die Ne⸗
philim in die Welt zu jener Zeit“, jo bat er zwar. einen An⸗
Schluß des V. 4 an DB. 2 hergeftellt, melſcher V. 3 vollends zu
einem fremdartigen Einſchub macht; aber dem „gefunden folge-
richtigen Menſchenverſtand“ dürfte damit. denn doch gar zu viel
zugemutet fein. Bielleisht kaun ſich derſelbe doch leichter darein
finden, daß ein Jaraelit, in deſſen Gedankenwelt Leben und Lang»
(ebigfeit. eine fo. bebentfame Stelle einnimmt, dazu ein Schrift⸗
fteller, welcher Gott ſchon Gen. 3, 22ff. Vorforge treffen Täßt,
daß der Menſch fich. nicht. eigenmächtig. das Gut unfterblichen Le⸗
bens aueigne, bei den Eben der Gnttesfühne mit den Menſchen⸗
töchtern in der That für. die Art der aus diefen Ehen hervor-
gegangenen Sprößlinge weit weniger Intexeſſe Hatte als daran,
baß durch ſolche Vermiſchung der unfterblichen Himmelsbewohner
(mann auch nicht alle gemeint find, fo ift doch von der Kategorie,
der Gattung die Rede) mit dem Menfchengefchlecht diefem Krüfte
unfterhlichen Lebens, zuffießen konnten, und daß die Vorkehr, welche
Gott nah V. 3 dagegen: getroffen, einem ſolchen Schriftfteller die
Hauptſache war... In DB. 4 aber hat man. dann nur eine nad)
Die bibliſche Urgeichichte. "1
keögliche Bemerkung zu erkennen, welche 1) erlärt, daß jene Ver⸗
bindungen um fo. eher eingegangen werden konnten, weil es da⸗
wals auch ganz anferordenkätshe niefige Menſchen gab, und 2) in
ben Say: „und and hernach, als (oder: weil?) bie Gottes⸗
ſöhne zu den Dienichenböchtern famen und dieſe ihnen gebaren“
andeutet, daß Gott zu feinem. Einſchreiten dadarch mitkeftimmt
mwurbe, das das Deftehen jener Mifchehen und ihre Fruchtbar⸗
feit auch dem: Fortbeftand der Nephilim (vgl. Num. 13, 33)
fürderfih mar. —
Wos macht nun aber Budde mit dem gewaltſam aus dem
Zuſammenhang geriffenen Gottesfpruch Gar. 6, 8? Weil vor-
ber nur eime Verivrung van Einzelweſen berichtet ift, welche für
508 ganze Menſchengeſchlecht Folgen haben Tomte, nämlich der
Sündenfall, fo folgeut er, jener Bottesfpruch fei urſprünglich der
Abſchluß der Sündenfallsgeſchichte geweſen. Mehr als ein Ein-
fall ift vowerſt dieſe Folgerung nicht, und: ich zweifle, ob ſich em
ſolcher zum Ausgangspunkt einer methodiſchen kritiſchen Unter⸗
ſuchung eignet.
Die ung: vorliegende Sündenfallsgeſchichte hat nun aber ſchon
ihren mit diefem Einfall unvereinbaren Abfchluß. So fſchafft
benn die zweite Unterſuchung über den „Baum des Lebens“ (©.
46—88). in Gen. 3: Raum zur Unterbringung des verfprangsen
Gottesfpruche. Gen. 8,22 und 24 wird als ſpäterer Einſchub
anegefchieden und Gen. 6, 3 an bis Stelle von V. 22 gejekt;
folgerichtig werden dann auch bie übrigen Erwähnungen des Lebens⸗
Baumes andgeihieden: in Gen. 2, 9 Iautete der unfprüngliche
Zeit: ....„gut zum: Effen und mitten im Garten den Baum
der Erbanntuis des Guten. und Böfen“; in V. 17: „aber vom
dem Baume, ber mitten im Garten fteht, ſollſt du nicht effen”
u. ſ. wm. Die fonftigen, auch von andern vorgenommenen Aus⸗
fcheidungen (2, 10.15, 3, 20, das mb nad. mim und das
rn wer in V. 19) können wir hier außer Betracht fuflen. In
jenen Ausscheidungen aber begegnet uns ein alter Bekanuter; mein
Beber: Freund Böhmer Hat ſchon 1860 in feinem Liber Genesis
Pentateuchicus und 1862 in feiner Schrift „Das erfte Buch
der Thova“ (vgl. dazu meine Rezenſion in Zimmermanns theg-
162 Budde
fogifchen Litteraturblatt 1863 Nr. 3) diefelbe Operation an Gen.
2, 9 und 3, 22—24 vorgenommen, nur daß er 3, 23 mit aus⸗
fcheidet.. Budde Hat von diefem Vorgänger (nah S. 59) erft
hinterher Kenntnis gewonnen, täuſcht ſich aber, wenn er meint,
daß der Weg, auf welchem er zu feinem Ergebnis gelommen: ift,
von dem Böhmers „außerordentlich verſchieden“ ſei. Der ein
zige wirkliche Anhalt im Text für feine Eritifche Operation Tiegt
darin, daß Gen. 3, 3 der Baum der Erlenntnis durch das Attri⸗
but „welcher mitten im Garten ift" gekennzeichnet ift, während
doch nah Gen. 2, 9 aud der Lebensbaum feinen Standort dort
bat, wobei aber die Ortöbeftimmung, ftatt am Ende des Verſes zu
ftehen, auffalfenderweife zwifchen beide Bäume eingejchoben ift. Andre
haben diefe Unebenheiten der Darftellung, (deren Grund übrigens
von dem S. 71: nachdrütcklich betonten pfychologiſchen Geſichtspunkt
aus unfchwer zu finden ift) wohl auch fchon bemerkt, ohne aber
fo großes Gewicht darauf zu legen, daß fie weitreichende Fritifche
Folgerungen daraus gezogen hätten. Auch Budde würde das viel-
feicht nicht gethan haben, wenn er nicht — und darin lag aud)
das Hauptmotiv Böhmers nit nur für feine von Budde mit
Hecht abgelehnte Erflärung: „Baum der Beftimmung über gut und
böfe“, fondern auch für feinen Vorgang in Buddes kritiſcher Ope-
ration — den „zauberhaften“ Lebensbaum hätte los fein wollen, um
den Erfenntnisbaum felbft „freier und geiftiger* (S. 65) auffaffen
und gegen alle „magifchen und rein-mythifchen Auffaffungen“ ficher
ftelfen zu lönnen. Was er in diefer Abficht fachlich geltend macht,
das beruht wieder darauf, daß er die Erzählung nad; modernem
Mapitab mift, und neben andern Skrupeln, die wirklich „unnüß“
ericheinen (S. 53), namentfih die mythologiſche Vorftellung von
dem Lebensbaum mit der echt israelitifchen Anſchauung, dag Gottes
Lebensodbem den Menfchen belebt habe, unverträglich findet (vgl.
darüber oben). Mit Wellhaufen, dem gerade. „der frijche antike
Erdgeruch“ des Mythologiſchen ein Beweis dafür ift, daß J die
äftefte Quelle ift (vgl. Geſch. Israels I ©. 347. Prolegomena
S. 324. 331ff. und bezüglich des Lebensbaums insbefondere ©.
321), tritt Budde auf diefem Punkte allerdings ſtark in Wider»
Sprud. Aber auch wir fünnen fein Wohlgefallen an dem von ihm
Die biblifche Urgejchichte. 7163
vermeintlich wiederhergeftellten, von den mythologifhen Zuthaten
gereinigten urfprüngliden Text von Gen. 2 und 3 nicht teilen,
find vielmehr der Meinung, daB der Lebensbaum für das Para⸗
dies fo wefentlid und in der Sündenfallserzählung fo unentbehrlich
ift, daß mit der Ausfcheidung diefer mythologiſchen Vorftellung die
Erzählung übel verftümmelt wird und aud ein guter Zeil ihres
religiöfen Gehalts verloren geht.
Vielleicht genügt Schon die aufmerkfame Lektüre von Dillmanns
Bemerkungen über den Gedankenzufammenhang der Erzählung
(Gen. ©. 42ff.), um davon zu Überzeugen. Hier kann ich einen
eingehenden pofitiven Beweis dafür nicht geben, fondern muß mic
darauf befchränfen, zu zeigen, wie ungenügend Buddes angebliche
Wiederherftellung der urjprünglichen Geſtalt der Erzählung ift.
- Der Einfiht, daß die Vorftellung, dem Menſchen fei im Paradiefe
dte Möglichkeit dargeboten geweſen, unfterblichen Lebens teilhaftig
zu werden, für den Zwed und Zuſammenhang der Erzählung ganz
unentbehrlich ift, konnte fi auch Budde nicht entziehen. Um nun
den Lebensbaum befeitigen zu können, will er fchon in Gen. 2, 7
den Gedanken finden, daß der Menſch der Anlage nach unfterblich
. geihaffen jei (S. 62). Bisher hat man in diefem ſchon auf
3, 19 vorbereitenden Vers das gerade Gegenteil gefunden, und ic)
denke, jeder unbefangene LXefer wird fagen: mit Recht. Die Eins
hauchung bes Lebensodems (als Odem Gottes ift er hier nicht
einmal ausdrücklich bezeichnet) zeichnet den Menſchen ja aller»
dings vor den Tieren aus; aber wo fteht denn in dieſem Vers
etwas davon, daß Gott durch diejelbe „den Menfchen unfterblich
machen will“ oder gar der Unlage nah gemadht hat? Zur
an vo iſt der Menſch dadurch gemacht worden; das fagt der
Text, und weiter nichts! Und nun gar ber Gottesſpruch Gen. 6, 3
an ber Stelle von 3, 22 und 24] Hier hat auh Kautzſch (a. a.
O.) „ein ftarles Bedenken“ darin gefunden, daß an bie Stelle
des „Todesurteils“ (2, 17) eine folche Feitiegung der Maximal⸗
dauer des menfchlichen Lebens treten fol. Wer im Auge behält,
daß die ganze Erzählung darauf abzielt, neben dem fonftigen Übel
befonders das zu erflären, daß der Menfch der Todesnotwendig⸗
Theol. Stub. Yahrg. 1886. . 9°
764 Budde
keit verfallen iſt, wird den von Budde hergeſtellten Abſchluß der⸗
ſelben ebenſo unpaſſend finden, als der im überlieferten Text
ſtehende paſſend und zweckgemäß erſcheint. Iſt es überdies denk⸗
bar, daß von der mit dem Tod bedrohten Übertretung des gött⸗
fihen Gebots fchließlich der in diefem Falle milde Ausdrud gur
gebraucht fein ſoll? (Bleibt Gen. 6, 3 an feiner Stelle, fo recht⸗
fertigt er fi durch Prov. 5, 19f. und Br. Jud. B. 7). Bon
ber fonftigen Unbaltbarkeit der dabei vorausgefetten Erklärung des
Gottesfpruhs war ſchon oben die Rede. So jcheint mir das
zweifellos: der in der erjten Unterfuchung gewonnene Ausgangs:
punkt der kritiſchen Forſchung hat durd die zmeite einen größeren
Wert, als den oben bezeichneten, nicht gewonnen. — Um fo
lieber will ich hervorheben, daß dieſe Unterfudhung in den gegen
Wellhauſens kulturgeſchichtliche Mißdeutung )) de8 Baumes der
Erkenntnis gerichteten Bemerkungen (S. 65— 70) und in den
Ausführungen Über den original-israelitifhen Charakter diefer Vor⸗
ftelung (S. 74—81) aud) viel Gutes. enthäft.
Die dritte Abhandlung behandelt „die fethitifche Stammtafel
der Grundſchrift“ (S. 89—116). Ihre urjprüngliche Identität
mit der Rainitentafel durfte der Verfaſſer vorausfegen; auch will
1) Berwertbar für diefelbe wäre vielleicht eine mir aus Hupfelds Genefie-
vorlefung befannt gemordene und fonft noch nirgends aufgeftoßene Erklärung
von Gen. 8, 5, die ich hier gelegentlich mitteilen will: „Gutes und Böſes er-
fennen“, d. i. im Munde der Schlauge = alles; Gutes und Böſes ift
nämlich Umfchreibung des Begriffs „alles”, wie Gen. 24, 50; 81, 24 „weder
Gutes noch Böſes“ = nichts (mofür Num. 22, 18 vgl. 8.38: „Großes oder
Kleines”); ebenfo 2 Sam. 14, 17: „ber König ift wie ein Engel Gottes zu
wifjen das Gute und Böſe“ vgl. mit 8.20: „zu wiflen alles, was auf Erden
ift“; vgl. auch Homer, Od. XVII, 228 oida &eaora, &09Ac Te xul a
zeona. Diefelbe Borjpiegelung des Gewinns eines Wiffens (Wiſſens von
Geheimnifien, Befriedigung der Neugier) machen auch bei Homer, Od. XII,
188 die Sirenen: „wer uns gehört bat, geht davon zepwauesos .. . xai
nisiova eds‘ Iduev ydo ro ndvra. — Hupfelb felbft fügt aber bei:
„Dagegen im Namen des Baumes und in dem Bericht über die Erfüllung
der Zufage der Schlange (3, 7. 22) ift ‚Gutes und Böfes‘ im ſprachgebräuch⸗
lichen fittlihen Sinn genommen, und durch diefen Doppelfinn werden die
Menſchen betrogen.”
Die Biblifche Urgeichichte. 165
ich nicht mit ihm darüber rechten, daß er die Gründe Bertheaus
und Dillmanns für die Urfprünglichfeit der Zahlen des famari-
taniſchen Textes in Gen. 5 für entfcheidend hält, fo wenig id)
felbft denfelben das gleiche Gewicht beilegen Tann. Die neue Ent»
deckung aber, mittelft deren er diefe Anficht vollends außer Zmeifel
geftellt zu Haben meint, Halte ich wieder für ein Irrlicht. Weit
befanntlih nach dem famaritanifchen Text nicht bloß Methuſalah
(mie nach dem Hebr.), fondern auch Jered und Lamech im Jahr
des Eintritts der Flut fterben, fo folgert er: alfo ift fonnenflar,
daß fie durch die Sintflut Hingerafft worden fein ſollen; folglich
wollte der Berichterjtatter durch feine Angaben über die Gefamt-
Lebensalter dem auſmerkſamen Lefer deutlich genug jagen, daß die
erften 5 Urpäter Gott gehorfam und treu geblieben feien, daß da»
gegen vom 6. Gejchlecht an das fündfiche DVerderben eingeriffen ſei
und auch die erftgeborenen Urväter, mit Ausnahme des 7. und 10.
(Henodh und Noah), ergriffen habe, weshalb fie als Sünder mit
allen andern Sündern dem Gericht verfielen. Cine Stüge für
diefe Anficht fucht Budde unter der Vorausfegung, daß die Namen,
wie auc die Neihenfolge derfelben, in der Kainitentafel urfprüng-
licher find, in der Bedeutung der abgewandelten Namen in Gen. 5:
Herd — Niedergang, Methuſchelach — Mann des Gefchoffes,
der Gewalt, dagegen Mahalaleel — Gepriefener Gottes (?) oder
Preis Gottes, ſowie darin, dag Henoch und Mahalaleel ihre Stelle
vertanfcht haben, weil erfterer als leuchtende Ausnahme unter den
Sündern ftehen und die bevorzugte 7. Stelle einnehmen jollte. —
Aber alle diefe Scheinftügen fallen dahin, wenn man beachtet, in
welhen Widerſpruch Buddes Entdedung nicht nur mit dem von
allen bdiefen Urvätern, den guten und bem angeblich böfen, gleich⸗
mäßig ausgefagten rion, fondern — was noch gemwidtiger ift —
mit dem allen biefen Lebensaltersangaben zugrunde Tiegenden Ges
danken fteht. Die Langlebigkeit Toll ja das Glück veranfchanlichen,
welches die Urväter vor den Epigonen voraus hatten; und dies
Süd teilt auch der famaritanifche Tert den 3 angeblich gottlofen
Urvätern noch fo weit zu, als e8 irgend möglich iſt, ohne fie,
wie die LXX den Methuſalah, die Sintflut überleben zu laſſen.
Als eine für die Beurteilung des Verhältniſſes der Zahlreihen
49*
766 Budde
im hebräiſchen und im ſamaritaniſchen Text beachtenswerte Be⸗
obachtung Buddes (S. 106ff.) heben wir dagegen hervor, da
die Dauer der vorfintflutlichen Periode im hebräiſchen Text (1656
Sabre) bi8 auf ein Jahr zufanmentrifft mit der Summe ber
Jahre, die nad; dem Samaritaner bis zum Tod Noahs abgelaufen
find (1307 + 350); ob feine Folgerungen daraus zu ziehen find,
ift aber eine andere Frage.
In der 4. Unterfuchung behandelt Budde die Kainitentafel
(S. 117—152). Er nimmt zuvörderft an dem Ausdrud in
4, 17 und an der Stelle, welde diefe Notiz einnimmt, Anftoß
und korrigiert darum: „und Henoc wurde ‚zum Erbauer einer
Stadt und nannte die Stadt nah feinem Namen Henod‘;
beide Anftöße dürften fi) aber genügend daraus erklären, daß
der für feine Perſon unftäte Kain erſt, nachdem er einer Nah:
fommenfchaft gewiß ift, einen Stadtbau unternehmen kann. Not
forgfältiger Unterfuchung des DVerhältniffes der hebräischen Namend
formen zu denen der LXX ſucht Budde dann zu zeigen, daß
feiner der Namen eine üble Bedeutung habe; zwar giebt er zu
daß Mechujael „von Gott Geſchlagener“ oder ‚Vertilgter“ be
deute (?); aber das fei nur eine fpätere Umformung aus dem
urfprünglichen 5ymry oder Ian — Gott giebt (mir) Leben;
Methuſchael aber deutet er „Bittmann“ oder beſſer (?) „Er
betener“ sc. von Gott. Aus dem Lied Lamechs Gen. 4, 23f,
in welchem die letten Worte zu überfegen fein: „Wenn Rain
fiebenfah rächen konnte, jo Lameh 77 fach“, und welches die
Race ebenfo wenig mißbillige, ale V. 19 die Bigamie, wird
weiter gefolgert, daß urfprünglich nicht Tubal Kain, fondern
Lamech als Erfinder der gejchmiedeten Waffen genannt war, da
aljo der urſprüngliche Text in 4, 22 gelautet babe: „Und Zile
gebar auch, den Zubal. Lamech aber wurde ein Erz» und Eiſen⸗
ſchmied.“ Tubal Kains Schweiter Naema nämlich ift erft fpäte
Hinzugefügt, um „das Gleichgewicht" zwiſchen Aa und Zilla
herzuftellen, d. 5. damit letztere auch zwei Kinder habe (I). —
Als Anfang der Kainitentafel entnimmt er endlich vorläufig and
Gen. 4, 1.2 und 16 die Worte: „Und der Menſch erkannte fein
Weib, und fie ward ſchwanger und gebar einen Sohn. Da fprad
Die biblifche Urgeſchichte. 167
fie: ‚Einen Mann befam ich von Jahve', und nannte ihn Kain.
Und Kain ward ein Adersmann, und wohnte im Lande Nod, vor
Eden." Wir gehen auf diefe Einzelheiten nicht weiter ein, da
Budde ſelbſt eingefteht, Hier auf „ungewiffen Wegen“ zu wandeln,
wozu er freilich bet „jo alten, fo zerbrödelten, fo oft überarbeiteten,
fagenhaften Überlieferungen" ein Necht zu Haben meint (S. 145).
Wichtiger find die allgemeineren Folgerungen, melde er aus der
Rainitentafel zieht. ALS ein folides Fundament derfelben erfenne
aud) ich zweierlei an: einmal, dag — wie befondere Dillmann
überzeugend gezeigt hat — die urfprüngliche Bedeutung der über-
Tieferten Kainitentafel ebenfo wie die der ähnlichen phöniziichen
eine Eulturgefchichtliche war; und fodann, daß die Ableitung der in
4, 20—22 genannten Berufsarten von Nachkommen Kains mit der
In unferer Geneſis folgenden Sintflutserzählung im Widerſpruch fteht.
Mit letzterem ift aber noch keineswegs bewiefen, daß die beiden
unvereinbaren Überlieferungen aus verfchiedenen ſchriftlichen
Quellen ftammen müſſen. Oder ijt es undenfbar und unwahr⸗
Iheinlih, daß ein und derfelbe Schriftfteller bei der Aufzeichnung
der einzelnen im Mund des Volles Tebenden Sagen die Verbindung
derjelben zu einer Urgefchichte nur erft in der Weife durchgeführt
bat, daß feine Erzählungen öfters noch lofe nebeneinander ftehen (vgl.
Wellhaufen, Prolegomena S. 333), und auch manche Inkon⸗
einnitäten ftehen blieben? Wer im hohen Altertum nicht von vorn»
herein eine bedeutende Titterarifche Betriebſamkeit vorausfett, der
wird mit diefer Möglichkeit rechnen, fo fange nicht andre gewich-
tige Anzeichen das Vorhandenſein verfchiedener ſchriftlicher Vor-
lagen beftätigen 2). Von folchen Erwägungen ift Budde freilich
weit entfernt. Er fügt zu jenen zwei Baufteinen noch den dritten
hinzu, daß Jabal, der Vater der Zeltbewohner und Herdenbefiger,
al8 Erftgeborener aufgeführt wird, folgert daraus, daß das
1) Wellhauſen (Sahrbb. XXI, 898) Hat jene Möglichkeit anerkannt,
meint aber, fe reiche nicht aus, um die inneren Disharmonieen der jehoviftiichen
Erzählung zu erffären. Jedenfalls genügt aber der Umftand, daß in Kap. 11,
1—9 nod ein Stüd vorliegt, in welchem ebenfalls feine Rüdfiht auf die
Sintflut genommen ift, nod) lange nicht, um das Borhandenjein einer andern
ſchriftlichen Vorlage zu beweifen.
168 Budde
nomadifche Hirtenleben diefer Überlieferung „als die Blume der
Kulturentwidelung* (1) gelte, daß alfo das Volk, welches diefe
Überlieferung beſaß, felbft noch aus folchen Nomadenhirten beftand
und ſich von Jabal ableitete, und, ehe wir's uns verfehen, wird
der Bau mit den Süßen gefrönt: „Sicher“ Haben fich die Hebräer
einmal von Kain und wahrjcheinlih von Jabal abgeleitet; die
Rainitentafel ift die ältefte der erhaltenen, ja „das äftefte Stüd
echter und rein gehaltener Überlieferung der Hebräer“; und fo
wird es denn — dem Zufammenhang enthoben und damit aller
religiös » fittlichen Beleuchtung entzogen — für die ältefte Quelle
(I) eingeheimft. Eine Kritit diefer Beweisführung möge man
mir erlaffen. Nur darauf möchte ich den Verfaſſer aufmerkſam
machen, mie er im Verlauf derfelben ganz vergefjen hat, daß es
Th in der Kainitentafel niht um die Ableitung von Völkern,
fondern um die Entftehung von Ständen und Lebensweiſen handelt
(ogl. Wellhaufen, Prolegomena S. 333), fowie darauf, dad —
doch wohl abfihtlid — Jabal niht — wie er ©. 145 und
153 dem Text zuwider angiebt — als Dater aller Nomaden-
hirten bezeichnet ift.
Die fünfte Unterfuhung (S. 153 — 182) trägt die Aufjchrift
„Die jahviſtiſche Sethitentafel nad den erhaltenen Bruchſtücken“.
Das Vorhandenfein einer folchen in der jehoviſtiſchen Schrift
wird, weil Noahs Abftammung angegeben jein mußte, als not»
wendig anerfannt, und Gen. 4, 24 und 25 als Anfang, Gen.
5, 29 als ein Bruchſtück aus derfelben bezeichnet. Bin ich hier⸗
mit vollftändig einverftanden, fo muß ich dagegen die Vermutung,
auch die Mitteilung über Henod (5, 22— 24) habe urjprünglich
der jehoviftiichen Sethitentafel angehört, al8 eine ganz ungenügend
begründete und die Sonderung der Quellenfihriften wieder übel
verwirrende zurücdweifen. Was in der jehoviſtiſchen Sethitentafel
von Henoch gejagt war, wilfen wir ebenfo wenig, als ob diejelbe
nur 7 oder 10 Glieder hatte. Die Mitteilung über Henoch aber
ift da8 der Grundfchrift angehörige Analogon zu der jehoviltifchen
Borftelung vom Lebensbaum im Paradieſe. Jene jet zwar im
Unterfohied von dem Jehoviſten nicht bloß die in der Natur des
Menſchen begründete Möglichkeit, fondern auch die Wirklich-
Die bibliſche Urgeichichte. 169
keit der allgemeinen Sterblichkeit von Anfang an voraus; aber
auch fie weiß von einer Möglichkeit, daß der Menſch durch ein
befonder8 nahes Verhältnis zu Gott der Notwendigkeit fterben zu
müffen, überhoben wird, und bei Henoch ift nach ihr diefe Mög⸗
lichkeit zur Wirklichkeit geworden. — Für den Hauptzweck Buddes
bat indefjen jene üble Bereicherung der jehoviftifhen Sethitentafel
viel weniger Bedeutung als feine angebliche Wiederherftellung des
urfprünglichen Textes in Gen. 4, 25: „Und Adam erkannte fein
Weib, und fie gebar einen Sohn und nannte ihn Seth; denn
‚Gott Hat mir Samen gejegt‘." Es ift wahr, daß die Namens-
erklärung dadurch einfacher und ſprachlich annehmbarer wird; dabei
könnte fie aber doch nur eine Korrektur der von dem alten Schrift⸗
fteller beabfichtigten fein; und was fonft für die Ausfcheidung der
auf Kain und Abel zurücweifenden Worte geltend gemacht wird,
ift jedenfall® nicht von jo großem Gewicht, daß jene urjprüngliche
Tertgejtalt zum Fundament taugt für den fritifchen Hhpothefenbau:
alfo gab es eine jahoiftifche Sethitentafel, die nicht „neben der
Rainitentafel beftand, fondern felbftändig und allein in einer Er»
zählungsgeftalt Schöpfung und Sintflut vermittelte” (S. 161);
biefe ift in’4, 25 von einem Schriftiteller mit den auf Kain und
Abel Hinweifenden Zufägen vermehrt worden; der letzte Redaktor
des Hexateuchs hat den Vers ſchon im diefer überarbeiteten Form
vorgefunden (S. 165); folglich kann nur entweder der mit JE
bezeichnete Redaktor der Überarbeiter fein oder — und dafür ent«
ſcheidet fich Budde fpäter — ſchon vor diefem Redaktor waren
in der jehoviftiichen Schrift verfchiedene Schichten redaktionell mit-
einander verbunden (S. 167). Welche weitreichenden kritiſchen
Folgerungen aus der mindeſtens doch jehr zweifelhaften Operation
in 4, 25!
Indeſſen follen biefelben durch die ſechſte Unterfuhung über
Kains Brudermord (S. 183 — 209) feiter begründet werben,
Diefelbe ift großenteil8 nur eine nähere Ausführung deſſen, was
ſchon Wellhaufen (Jahrb. XXI, 398 ff.) darüber gejagt hat. Die
ganze Erzählung (Gen. 4, 2—16, a) ift ein unter geſchickter Be»
nügung von Elementen aus Gen. 2 und 3 und aus der Rainiten«
tafel (möglicherweife auch einer urfprünglichen fanaanitifhen Sage)
70 Budde
erfundener Zuſatz eines Redaktors, welcher — hier weicht Budde
von Wellhauſen ab — damit eine die Kainitentafel und die (jah⸗
viſtiſche) Sethitentafel verbindende Klammer herftellen wollte. Es
müſſen zwifchen der Entſtehung ber Überlieferung 4, 17—24 und
der Erzählung 4, 2—15 „Jahrhunderte“ Tiegen (S. 193), weil
dort das Nomadenleben noch als das fchönfte und edeljte, hier da⸗
gegen als ein gering geachtetes und bemitleidenswertes erfcheint;
dagegen die Aufzeichnung jener Überlieferung und die Erfindung
der Erzählung vom Brudermord brauchen nicht allzu weit aus-
einander gerüdt zu werden, ja könnten möglidhermweife dem—
felben Schriftftellee angehören, wenn nicht fonft ſchon feftftänbe,
daß 4, 2—15 und die Zufähe in 4, 25 von anderer Hand ge
fchrieben find (S. 194f.). Im diefer andern Hand erkennt man
„mit Sicherheit” die eines Redaktors, welcher älter ift als bie
Ichließliche Redaktion der Genefis (S. 209). — Belanntlicd Haben
auch andre Kritiker die Erzählung vom Brudermord Kains teils
von Gen. 2 und 3 (Ewald), teil8 von der Kainitentafel (Dill⸗
mann) losgelöft; und der richtige Ausgangspunkt für eine metho-
difche Unterfuchung darüber, ob in der jehoviftiichen Schrift ſchon
verfchtedene Schichten von einem Redaktor miteinander verbunden
waren, wäre ohne Trage eben Gen. 4 gewefen. Dann hätten
nicht Einfälle und gewaltſame Herftellungen eines angeblih ur⸗
fprünglichen Textes die Unterfuhung über diejes Kapitel beeinflußt.
Die Frage ift vor allem, ob jene Loslöfung der Erzählung vom
Vorhergehenden und Folgenden begründet if. Man kann darüber
verfchledener Meinung fein. Meinerfeits Halte ich fie für nicht
genügend begründet. Was madht man denn für die Loslöfung
bes Kap. A von Kap. 2 und 3 geltend? Man fagt, es fei „ge⸗
ſchmacklos“ anzunehmen, daß der Verfaſſer von 3, 16 fein eigenes
Wort in 4, 7 b in ganz anderem Sinne wieder gebrauche (Well⸗
haufen, Jahrbb. XXI, ©. 400, Budde S. 188). Aber was will
gegenüber dem unverfennbaren inneren Zufammenhang und den
zahlreichen fachlichen und ſprachlichen Berührungen zwiſchen Gen. 4
und Gen. 2 und 3 (es mag genügen, in biefer Beziehung auf
Hupfeld, Quellen der Genefld S. 126 ff., auf meine Bemerlungen
im Zimmermannfchen theologischen Litteraturblatt 1863 Nr. 3,
Die bibliſche Urgefchichte. 771
S. 15 und auf Dillmann, 2. Aufl. zu verweiſen) ein ſolches
Geſchmacksurteil beſagen! Außerdem wird geltend gemacht, 3, 20
ſolle offenbar 4, 1 ff. vorbereiten, und jener Vers ſei ein Einſchub.
Erfteres ift ganz richtig und Hat fein Analogon an der Vorbe⸗
reitung von Kap. 3 durch 2, 255; letzteres aber ift, jo lange 3, 21
noch als urfprünglicher Beitandteil der Erzählung gilt, fehr frag-
ih; und gejeßt, e8 wäre fo, wäre daraus mehr zu folgern, ale
daß der Name mın in 4, 1 als fpäterer Zuſatz auszufcheiden ift
(ogl. Gen. 4, 25 und Budde ©. 212)? Mehr läßt fich gegen
den urfprünglichen SZufammenhang der Erzählung vom Bruder-
mord mit der jehovijtiihen KRainiten- und Sethitentafel einmenden.
Hier finden fi in der That einige Inkoncinnitäten. Die Notiz
4, 26 über den Gebrauch des Jehovanamens fcheint mit 4, 1 und
noch mehr damit, dag fchon Kain und Abel Jehova Opfer dar-
gebracht haben (Budde, S. 228), unvereinbar. Indeſſen ift diefer
Widerſpruch nicht fo fchlimm, als er gemacht wird, dem 4, 26
rebet von dem der Sethitenlinie angehörigen Anfang der von den
Patriarchen fortgejegten (12, 8; 13,4; 21, 33; 26, 25) und in
Israel fortbeftehenden gottesdienftlichen Anrufung Jehovas;
ein wirklicher Widerfpruh mit 4, 1 ift alfo nicht vorhanden, und
die Opfer Kains und Abels konnten dabei außer Betracht bleiben,
weil man weder das mohlgefällige Opfer des Erjchlagenen, noch
das mißfällige des von Jehovas Angefiht Verbannten als den
Anfang des nachmaligen Jehovakultus der Patriarchen und der
Israeliten anfehen konnte. Gewichtiger erfcheint der Anftoß, daB
zu der Bertreibung Kains von dem Aderboden und feiner Ver⸗
urteilung zu einem unjtäten Leben weder der Stadtbau noch auch
Schon da8 die Niederlaffung bezeichnende Sun in 4, 16 paßt (vgl.
jedoch 21, 21), und daß überhaupt die deutlich erkennbare ur»
ſprünglich Eulturgefchichtliche Bedeutung der Kainitentafel nicht recht
dazız ftimmt. Indeſſen darf wan auch dieſe Inkoncinnität nicht
übertreiben. Nicht dag Kain ein Nomadenleben führen muß, ift
in 4, 11f. die Hauptfahe (wie Budde ©. 192 vorausſetzt),
fondern das ift nur die Folge davon, daß die im Altertum ge⸗
wöhnliche Strafe des Mords, die Verbannung. (vgl. 3. B. Feith,
Antiquitates Homericae II, cap. 8. Rojenmüller, Das alte und
772 Budde
neue Morgenland I, S. 18) über ihn verhängt ift (ogl. aud
Num. 35, 33f.). Hat das nun aud für feine Nachkommen
Folgen, fo bleibt doch die Verurteilnng zur Unftätheit eine perfün-
liche; und fo begreift fi auch die Andeutung, dag Kain feinen
Stadtbau erft für feinen Sohn unternimmt (j. oben). Im
übrigen aber wird zuzugeftehen fein, daß bie Tulturgefchichtliche
Überlieferung der Kainitentafel urjprünglic) zwar nicht außer allem
Zufammenhang mit der Überlieferung von Kains Brudermord
ftand — das darf man ſchon aus der phöniciſchen Analogie
ſchließen, in welcher auch vor der Fulturgefchichtlichen Genealogie
von den Zeindfeligfeiten des Niefenbrüderpaars Hypſuranios und
Uſoos die Rede tft (vgl. Sanchun. ed. Orelli ©. 16ff.) —
wohl aber nicht fo eng, wie in unfrer Genefis, damit verbunden
war. Nur fragt fih auch Hier wieder, ob man beredtigt ift,
daraus litterargeſchichtliche Sclüffe zu ziehen. So lange
man nitht nachgewiefen, dag fih in Inhalt, Darftellung und
Sprade in Gen. 4, 2—16 a eine andre fohriftftellerifche
Eigentümlichkeit fund giebt, als in 4, 17—26 — und diefer
Nachweis ift noch nicht geführt —, bleibt immer die Annahme
die nächftliegende, daß ein und berfelbe Schriftiteller bei der Auf⸗
zeichnung der mündlichen Überlieferungen die jene Inkoncinni⸗
täten mit fich bringende Verbindung hergejtellt Hat. Einer Ans
deutung Tuchs (Genefis, 2. Ausg, ©. 78) und dem Vorgang
Ewalds (Altert., 3. Ausg., S. 139 Anm., Yahrb. d. bibl. Wiffen-
fh. VI, ©. 8f.) folgend — was Budde S. 209 Anm. über»
jehen hat — Habe ih in dem Art. „Rain“ des Handwörterbuchs
f. d. bibl. Altert. es als wahrfcheinlich bezeichnet, daß die Er»
zählung von Kain und Abel urfprünglich dem Überlieferungsfreis
über das zweite, nachfintflutliche Weltalter angehört habe. Was
Budde (S. 182 Anm. 209 Anm.) dagegen einmwendet, trifft nicht
zu; denn einmal handelt e8 ſich in der Kainitentafel nicht um die
Entftehung von Völkern, ſodaß aljo von einer Kollifion derfelben
mit ber Völfertafel nicht die Rede jein kann; und fodann betrifft
meine Annahme die mündliche Überlieferung, nicht irgendeine
Quellenfhrift. Mag es fi) aber damit verhalten, wie es
will, fo wird ſich die gegenwärtige Geftaltung des ganzen Kapitels
Die biblische Urgefchichte. 713
Gen. 4 jamt der darauf folgenden (jehoviftiihen) Sethitentafel
als eine von dem Berfaffer von Gen. 2 und 3 herrührende ganz
befriedigend erklären Taffen, ohne daß man nötig bat, ihn eine
Schriftfiche Vorlage benüten oder eine andre Hand mitthätig fein
zu laffen. Dem Erzähler der Sündenfallsgefhichte mußte zunächft
eine Überlieferung, wie die vom Brudermord Kains willtommen
fein, um die rapide Steigerung des Böſen und des Fluchs in
einem Teil der Menfchheit zu veranfchaulihen. Nun war ihm
eine andre wahrſcheinlich mit jener nicht unmittelbar verbundene
Überfieferung befannt, in welcher die Entftehung des Städtebaus
und die von drei verfehiedenen Ständen und Xebensweifen nach⸗
gewiefen war. Die von diefer Überlieferung genannten Namen
waren zwar fchon in einer Sethitentafel verwendet worden, um
von Adam auf Noah überzuleiten; aber die fulturgefchichtliche Be⸗
deutung der Überfieferung (die, beiläufig bemerft, in den Namen
Methuſchelach und Mahalaleel noch deutlicher erhalten ift, als in dem
entjprechenden Namen der Rainitentafel) war dabei ganz abgeitreift.
Einem Scriftitellee nun, der ſchon in Gen. 2 und 3 den Urfprung
der Ehe, das Erwachen der Scham, die Stufenfolge in der Be⸗
feidung und Ernährung und namentlich die Entftehung des Acker⸗
baus nachgewieſen hatte, mußte jene Überlieferung auch bezüglich
ihres Eulturgefchichtlichen Inhalts willlommen fein, fofern fie ſich
als Fortfegung jener Nachweifungen verwerten lief. War er fih
nun deſſen wohl bewußt, daß andre Völker im Städtebau, in
Künften, im Handwerk, insbefondere auch in der Anfertigung von
Waffen den Israeliten zeitlich vorangegangen und immer überlegen
waren, und war ihm der Gefichtspuntt, von welchem aus die
Propheten die dereinjtige Vernichtung aller feften Städte und aller
Kriegswaffen ankündigen, nicht ganz fremd, jo begreift es fich, daß
er nicht der erwählten, fondern der ausgeftoßenen Linie, den Kainiten,
die von jener Überlieferung genannten Kulturfortfchritte beilegte.
Die Anknüpfung an Kains Brudermord ftellte dann diefe Kultur:
fortfchritte in die von dem Erzähler von Gen. 2 und 3 unbedingt
zu erwartende religiös -fittliche Beleuchtung (vgl. darüber die Art.
„Abel“ und „Rain* in meinem DBibelwörterbud), und in der
Gegenüberftellung ber Rainiten und der Sethiten war (wie fchon
774 Budde
in Kain neben Abel) ein Vorbild des Gegenſatzes zwifchen der
Bölferwelt und dem Volle Gotted gewonnen. — Mag man num
diefen Hergang annehmbar finden oder nicht, das wenigftend wird
jeder, der mit dem in Gen. 2 und 3 woaltenden Geift ſich ver:
traut gemacht hat, zugeben, daß der Verfafjer jener Erzählung
unmöglich auf diefelbe die zwei alles religiös⸗-ſittlichen
Inhalts baren Stüde hat folgen laſſen können, welde nad
Buddes Rekonftruftion der jahpiftiihen Schrift (S. 527.) ihr
gefolgt fein follen.
Aus der fiebenten, den „Abfchluß der Unterfuchung des Abſchnitts
Rap. 2, 4 b bis Rap. 6, 4* bildenden Abhandlung (S. 210 bis
247) hebe ih zunächſt als wertvoll die Zufammenftellung der
Eigentümlichfeiten der jehoviftifchen Genealogieen S. 220ff. hervor,
von der fich Übrigens ein guter Zeil fehon bei Hupfeld, Quellen
der Geneſis (bef. S. 56—63) findet. Sehr richtig wird mittelft
derfelben erwiejen, daß die Kainitentafel der jahviſtiſchen Schrift
angehört hat. Im übrigen wird e8 nach der bisherigen Beleuchtung
des Unterbaus genügen, über das Wefentlichfte des Hier weiter ge⸗
führten Hypotheſenbaus zu referieren. Es befteht in folgendem:
Die ültefte jahpiftifche Schrift (IT), in welcher auf die Paradieſes⸗
und Sündenfallsgefchichte (ohne den Lebensbaum) die Kainitentafel
und die Notiz über die Entftehung der Nephilim folgte, kann feine
Gintflutserzählung enthalten haben. Won einem, derfelben Schule
angehörigen priejterlichen Bearbeiter (J2) ift eine zweite verbefferte
und vermehrte Ausgabe jener Schrift veranftaltet worden, bie
namentlid) durch Aufnahme von Sagenftoffen aus Babylonien
„dem erweiterten, zu weltgefchichtlichem Überblick gediehenen Ge-
fichtsfreis des israelitiichen Volles Rechnung tragen” ſollte. Die-
felbe enthielt ebenfalls die Paradiejes- und Sündenfallsgefchichte,
aber mit dem Gottesnamen Clohim und den die Paradiefeeitröme
und den Lebensbaum betreffenden Einſchüben. So nad) S. 232
bi8 242; hinterher wird aber S. 496 ff. die dort offen gehaltene
Möglichkeit vorgezogen, daß J? ftatt der Paradiefes- und Sünden⸗
fallsgefchichte eine Schöpfungsgefchichte mit dem Gottesnamen
Elohim enthalten habe, und daß jene Einjchübe erft auf Rechnung
von J8 oder auch eines andern in der fynkretiftifchen Weiſe von
Die bibliſche Urgefchichte. 775
I? verfahrenden Bearbeiter zu feßen find. Auf das erfte Stüd
ließ der Bearbeiter fofort die zehngliedrige Sethitentafel folgen und
Teitete durch diefelbe zu feinem zweiten Hauptftüd der Sintfluts-
erzählung über. — Diefe beiden Ausgaben beftanden nebeneinander ;
ein ebenfalls diefer Schule angehöriger Redaktor (J®) Hat diejelben
ineinander gearbeitet und in&befondere um die Kainitentafel und bie
Sethitentafel nebeneinander aufnehmen zu können die Erzählung
vom Brudermord Kaind erfunden und eingefchaltet. Diefe dritte
Ausgabe der jahpiftifhen Schrift ift, unter Wegfall des größeren
Teils der Sethitentafel, in der uns vorliegenden Geneſis, verbunden
mit den Stüden der Grundſchrift, erhalten. — Ohne weitere Kritif
wollen wir diefen Hhpothefenbau feinem Schidfal überlaffen.
Die achte Unterfuhung über die Sintflutsgefhichte (S. 248
bis 289) betrifft wefentlich nur exegetifche und kritische Einzelheiten.
Ich bemerke dazu folgendes: Wichtig ift in einigen Stellen, wie
Gen. 6, 7; 7, 1-5. 8 und 9, das Eingreifen des Redaktors
nachgewiefen. Die trog 6, 11 und 12 äußerſt unwahrjcheinliche
Einfegumg von ennyo 877 vor yanımn in 6, 13 (©. 254)
hätte fi der Verfaſſer vielleicht erjpart, wenn er 9, 11 beachtet
hätte. — Dagegen macht er mit Recht (S. 255.) auf die an-
nehmbaren Emendationen de Lagardes zu Gen. 6, 14 und Well-
haufens zu Gen. 6, 16 aufmerfjam. Den Einfall, aus dem
a» Dıyaan in Gen. 7, 17 ein oıD zu gewinnen, um ®.17 a der
Grundſchrift zufchreiben zu können (S. 264), überlaffe ich den
Liebhabern folcher Proben des Scharfſinns. — Die ©. 269
Reuß allein zugefchriebene Anficht iiber Gen. 8, 4 gehört urfprüng-
ih Hupfeld (Quellen der Gen. S. 16f. Anm.) an und ift au
von Böhmer geteilt; in der Ablehnung derfelben bin ich mit Budde
einverftanden. — Inbezug auf Gen. 8, 13b ift ©. 274f. der
Vorgang Schraders (Studien zur Kritif und Erklärung der Ur⸗
gefhichte S. 145f.) überſehen. — Auf die S. 275 Anm. ges
machte gute Bemerkung feien die Exrforfcher des Sprachcharakters
der Grundfchrift aufmerkſam gemacht. — Die exregetifchen Be⸗
merkungen zu Gen. 9, 2 und 5 (S. 279—289) endlich ver-
dienen alle Beachtung; was ich in benfelben für richtig, und was
ih für unrichtig anfehe, mag bier unerörtert bleiben.
776 Budde
Seinen Hauptzweck verfolgt Budde erſt wieder im der neunten
Unterfuhung über „Noch als Winzer und die PVerfluhung 8a
naans” (S. 290 — 370). In der Erklärung von Gen. 9, %
bi8 27 begegnen wir zunächſt einem richtigen Verftändnis de
ins in V. 26 und 27. Unbegründeten Anftoß nimmt Budde
an dem onn DB. 26; folde Sonderung des Fluchs und de
Segens dur Wiederholung der Einführungsformel entfpricht ganz
bebräifcher Gewohnheit (vgl. 3. B. 16, 9—11; 17, 3. 9. 15;
19, 9; 20, 9. 10; 24, 24. 25 u. a). Ebenſo unbegründet ift
der Anſtoß an den Worten: „Geprieſen fei Jehova, der Gott
Sems“, bie Budde in „Jahves Gefegneter ift Sem“ forrigiert.
Schon Clericus Hat gezeigt, daß jene Worte eine gebräudlid:
Form der Beglückwünſchung find, in welcher fi die innerlihfe
Teilnahme an dem wahrgenommenen Heil und Segen kund gieit
(ogl. 14, 20. Er. 18, 10. 2 Sam. 18, 28. 1 Kön. 10, 9);
und wie nahe lag es einem israelitifhen Schriftiteller dem
Urpater im Hinblid auf den hohen Vorzug feiner von Sem ıb
ftammenden Nachkommen gerade diefe Ausdrudsweije in den Mund
zu legen. — olgenreicher ift, daß Budde von S. 298 an unten
nimmt, die von Wellhaufen (Yahıb. XXI, S. 403) Leicht hin
geworfenen Vermutungen über die urfprüngliche Geftalt und Br
deutung der Überlieferung Gen. 9, 20— 27 weiter zu verfolgen:
Da nicht Ham, fondern Kanaan verflucht wird, und da in V. 25
Sem und Japheth ausdrücdtich als feine Brüder bezeichnet werden,
jo ift offenbar, daß die Söhne Noahs urſprünglich Sem, Japheth
und Kangan hießen, und letzterer der Miſſethäter war. au on ü
V. 22 ift natürlich Einfchiebjel. Nun find die VV. 9, 18 und 19
jahviftifch, und zwar rühren fie, da fie die Sintflutserzählung vor-
ausfegen, von J? her; in diefer Schrift bildeten 9, 18a und 19
die Einleitung zur jahviſtiſchen Völkertafel, deren Bruchſtücde u
Gen. 10 erhalten find. Zwar könnte der Vers 5, 29, der vom
Böhmer mit Recht darauf bezogen worden ift, dag Noah durh
Erfindung des Weinbaus Zroft in der Mühjal des Lebens ge
Schafft hat, dafür geltend gemacht werden, daß auch in J? di
Erzählung 9, 20—27 geftanden habe. Da fie aber weber vor
nod nad) der Sintflut in diefe Schrift Hineinpaft — letter
Die bibliſche Urgefchichte. 777
nicht, weil die Söhne Noahs bei dem Vater im Zelte wohnen
und Kanaan (Ham) noch ein zudtlojer Knabe ift —, fo ift an-
zunehmen, daß ein Redaktor (J*) fomohl 5, 29 in die Gethiten-
tafel von I? als jenes infchiebfel in 9, 22 eingefügt hat, um
die aus der äfteften Schrift (I!) ftammende Erzählung 9, 20
bi8 27 mit den aus J? entnommenen Stüden zu verbinden. Syn
dieſer älteften Schrift, die von der Sintflut nichts wußte, kann
nun Noah nit Stammvater der Menfchheit gewejen fein, fo
wenig als Kanaan ein Drittel der Menfchheit repräfentieren kann;
vielmehr, da Kanaan die vorisraelitifche Bewohnerſchaft des jo
genannten Landes (abgefehen von den Bhiliftern) und Sem Jsrael
repräfentiert, fo muß auch Japheth im Sinn der urjprünglichen
Überlieferung ein brittes einzelnes, mit jenen beiden nahe ver
wandtes und auch in ober bei Kanaan zu fuchendes Volk fein.
Es ift freilich fchwer ein folches zu finden. Die Philifter, an
welche Wellhaufen dachte, können es nicht fein. So werben £8
alfo die Phönicier fein. Zwar nimmt man gewöhnlich an, daß
diefe zu den Kanaanitern gehören; aber ein Brudervolk Kanaans
repräfentiert ja Japheth auch bei jener Annahme, und das Alte
ZTeftament nennt die Phönicier nie Kanaan, fondern unterfcheidet
fie als Sidonim von den Kanaanitern; Stellen, die dem zu wider⸗
fprechen fcheinen, laſſen fich leicht exregetifch oder Fritifch aus dem
Weg räumen. Und wie ſchön "paßt der „Geheimname“ Japhet,
wenn man ihn (nad nr ſchön fein) „Schönheit“ beutet, auf
die glänzenden, reichen Städte der Phöniten! Wie gut paßt die
weite Ausbreitung Japheths, das Wohnen in den Hütten Sems,
die mit den Israeliten gemeinſame Herrſchaft über Kanaan zu
den Phönicieen! Und wenn fih jemand durch alles dies noch
nit darüber beruhigen laſſen will, daß er ſich bisher, durch die
Bölfertafel irre geleitet, fo ſehr über Japheth getäufcht Haben
fol, jo Tann ihm auh noch ber große Gewinn vorgehalten
werden (S. 329), daß bier die ältefte israelitifche Überlieferung
noch „unbefangen bdasjelbe ansfagt, was die wifjenfchaftliche
Forſchung unferer Tage behauptet *: Israel und Kanaan find
Brüder |
Auf eine Kritik dieſes ganzen Hypotheſenbaus gedenke ich mic)
718 Budde
nicht einzulaſſen; manches in demſelben lieſt ſich wie eine Satire
auf ſolche Kritiker, welche eine Vorausſetzung, die ſich als un⸗
durchführbar erwieſen bat, ſtatt fi an ihr irre machen zu lafſen,
nur um fo zäher fefthalten und, mag biegen oder brechen, was ba
will, mit allen Mitteln durchzuführen entfchloffen find. — Einige
etwas feitere Beftandteile des Gebäudes follen aber doch beleuchtet
werden: vor allem die Grundvorausfegung, daß die urfprüngliche
Überlieferung Kanaan als dritten Sohn Noahs genannt und ihn
als den Miſſethäter bezeichnet habe. Letteres hat fogar Dillmann
acceptiert, ohme aber die Schwierigkeiten, in welche er fich dadurch
oerwidelt, genügend löſen zu können (vgl. Budde S. 300). Bar
Wellhaufen glaubte man, zwar nit fchon daran, dag der Väter
Sünden auch an den Kindern Heimgejucht. werden, wohl aber an
der bdiefen Glauben zuhilfe nehmenden Tendenz der Überlieferung,
den Grund der Knechtſchaft der Kanaaniter nachzuweiſen, einen
ausreihenden Erflärungsgrund dafür gefunden zu haben, daß Ka⸗
naan ganz in die Stelle feines Vaters Ham einrüdt, Warum
fol nun diefe Erflärung fo unbefriedigend fein, daß man ihr eine
Aunahme vorzieht, welche in ihren Komfequenzen jo viel urkundlich
bezeugte Traditionen Israels über den Haufen wirft? Den Aus-
drud aaa in 9, 25 übermäßig zu urgieren, davon follte fchen
ber befannte weitere Gebrauch desjelben abhalten. Aber — jagt
Budde (S. 301 Anm.) — um jener Xendenz willen hätte bie
Sage ja leicht eine viel entjprechendere Erklärung dafür finden
tönnen, daß Kanaan den Fluch tragen mußte, den Brüdern
‚feines Vaters zu dienen. Gewiß, wenn ber Erzähler feiner
„Einbildungsfraft die Zügel ebenfo frei fchießen laſſen“ konnte,
ale es moderne Kritiker zu thun lieben (S. 405)! Wie aber,
wenn er etwas mehr mit gegebenem lüberlieferungsftoff zu rechnen
Hatte? Gehörte zu demfelben unter anderem auch, daß Noah
Stammpater der nachfintflutlihen Menſchheit war, daß feine Söhne
Sem, Ham und Yapheth, und daß Hama Sohn Kanaan war,
ift dann nicht die vorliegende Geftaltung der Erzählung vollkommen
begreiflih? Wenn die ſchamloſe Unzudt der Kanganiter (derem
Sittenlofigfeit ohne Zweifel auch gefchichtlich der tiefere Grund
ähres politifhen Elends war) der Überlieferung Israels die nähere
Die bibliſche Urgeſchichte. | 7179
Beſtimmung der Unthat darbot, deren Fluch auf den Kanaanitern
Aoftete, follte etwa Kandan die aus unzüchtigem Stan entſprungene,
alter Pietüt bare Ruchloſigkeit an "feinem Vater Ham begangen
haben? Wet ſieht nicht, daß dieſelbe viel fluchwürdiger erſchien,
wenn fie an dem begangen wit, ber felbft der erwählten Linie
angehörte, den auch die Fsraeliten als Ahnhertruſehrten,
an dem Stammvuler der Hadjfintflatlichen Menſchhett, dem ehr⸗
würdigen Noah? Dann über mnÄte «8 der Überlieferung Is—
raels, die zur Motwierung eines Fluchs der perfönligen Ver⸗
Ichubduhg nicht bedurfte, at nächiten liegen, als den Miſſethäter
nicht den Enkel (Kanaan), fondern deſſen Bater, den Sohn Roche
(Bam), zu nennen. Hierzu kam hun noch, daß eine andere afte,
urfprünglich kulturgeſchichtliche Überkteferuiig Noah als den Gr-
finder und Einführer des Weinbaus bezeichnete, und damit einen
paſſenden Auknupfungapunkt für eine der Pietät gegen den Stamm⸗
Vater der Menfchheit möglichſt Rechnung tragende Geſtaltung ber
Stzähling darbot. — Übrigens würden, ſelbſt wenn die vollstüm⸗
liche Überlieferung wirklich urſprünglich Katiaan als den Miſſe⸗
thätet, ja went: fie ihn als Sohn Noahs bezeichnet Hütte, Litterär«
gefhichtliche Folgerungen daraus immer no voreilig fein. —
Dies gilt auch vun einer in ber Stellung der Erzählung begrün⸗
deten, wirllich vorhandenen Jukoncinnität, welche Budde in ſeinem
Hypotheſenbau verwertet. Es iſt ganz richtig, daß nach der jeho⸗
viſtiſchen Vorſtellung — auch wenn man bie Altersangaben
der Grundſchrift wie billig ganz außer Bettacht lüßt — die
Söhne Noahs nur als verheiratete Munnet in die Atche gegangen
fein koͤnnen, nud ebenſo richtig iſt, daß dazu die Scenerie naſerer
Erzählung, die vordusfest, daß dieſelben noch im jugendlicherem
Alter mit ihrem Vater zuſammenwohnen, nicht paßt (Budde
S. 310). Gegen die Folgernng, daß die Überlieferung von ber
Sintftut und die in unſerer Erzählung vorliegende, wie überhaupt
die von Noch als erſtem Rebenpflanzer, von Haufe aus under
vunden ueben einander beftanden, wird tichts einzuwenden ſein;
wohl aber dugegen, daß man daraus auf verſchiedene Quellen⸗
ſchriften ſchließt. Oder war nicht jene Itkoncinnitüt für einen
Theol. Stad. Sahri. 1888. 50
780 Budde
Schriftſteller, welcher die einzelnen im Volksmund lebenden Er:
zählungen zu einer zufammenhängenden Geſchichte zu verbinden
unternam, faum vermeidbar? Schien die Scenerie unjerer Er-
zählung die vorfintfiutliche Zeit zu fordern, fo fand ihrer Ver⸗
fegung dahin, abgefehen von der Erwähnung Kanaans, die Angabe
über Noah als Einführer des Weinbaus und bie Beziehung des
ganzen Stüdes anf nachſintflutliche Berhältniffe im Wege. So
blieb nichts übrig, als dasſelbe troß jener Inkoncinnität nach der
Sintflut als letzte Erzählung aus dem Leben Noahs unterzubringen. —
Ganz verfehlt ift es, daß Budde die Annahme Böhmers, Lemechs
Hoffnung in 5, 29 beziehe fih auf Noahs Weinbau, wieder auf-
gegriffen, ja fogar behauptet Hat, daß jener Vers mit der Be⸗
ziehung auf 9, 20—27 ftehe und falle (S. 311). Das gerade
Gegenteil ift wahr: diefe Stellen können nichts mit einander zu
thun Gaben. Hat denn das oft fo feine Ohr Buddes aus der
Erzählung 9, 20-27 nicht einen Nachklang der befanders gegen
den Weinftor am zäheften fich richtenden Abneigung des Nomaden
gegen das jeßhafte Leben und feine Kultur herausgehört (vgl. in
meinem Bibelwörterbuch die Artikel „Nafirker“, „Rechabiter“ und
„Wein“ S. 17506)? Und hätte er nicht Anlaß gehabt, fiatt
der altteftamentlichen Stellen, in welchen der Wein als „Sorgen-
brecher“ gerühmt wird, die viel zahlreicheren Stellen berbeizuzichen,
in weldden vor ummäßigem Weingenuß und vor dem Wein über-
haupt gewarnt wird (vgl. d. A. „Wein“ S. 1753$.)? Und auf
diefe Erzählung ſoll Lemechs Hoffnung auf den Troft, den Noah
‚bringen werde, vorbereiten? Die wahre Beziehung von 5, 29
hat man bisher allerdings überjehen, weil man Gen. 8, 21 nur
den Vorſatz Jehovahs ausgeſprochen fand, Tein allgemeines Flut⸗
gericht mehr kommen zu laffen. Es blieb dabei umbeachtet, daß
von einer Verfluchung des Erdboden in der ganzen Sintfluts⸗
gefchichte nirgends, wohl aber Sen. 3, 17 die Rede iſt, und daß
da8 En Ar2yD gefliffentlich das Proyd diefer Stelle wieder auf-
nimmt. Zweierlei will Jehova alfo nah 8, 21 infolge des
Dpfers Noahs, welches der Mienfchheit zugute kommt, nicht wieder
thun: ex will den Erbboden nicht wieder um des Menfchen willen
verfluchen, wie er nah Kap. 3, 17 gethan Hatte, und er will
Die bibfifche Urgeſchichte. 781
nicht wieder alles, was da Tebt, jchlagen, wie er eben in der
Sintflut gethan Hatte Auf erftere fegenspolle Wirkung der
Dpferdarbringung des geredhten Noah weiſt nun fchon Gen.
5, 29 Hin. Diefe drei Stellen der jehoviſtiſchen Schrift 3, 17;
5, 29 und 8, 21 ftehen wirklich in unlöslihen Zufammen-
bang. — Auf das „Wohnen Japheths in den Zelten Sems“
fann ich für diesmal nicht näher eingehen, fondern will nur meiner
Überzeugung Ausdruck geben, daß fpezielle geſchichtliche Verhält-
niffe, aus welchen diefe Ankündigung erwachfen fein könnte, ſich nie
werden nachweiſen lafjen, und im übrigen auf den von den Aus-
fegern verkannten Geſichtspunkt hinweiſen, den ich ſchon im Art.
„Noah“ ©. 1099 b und Stud. u. Krit., Yahrg. 1883, ©. 815
zur Löſung bes Problems dargeboten habe.
Die 10. Unterfuhung (S. 371—408) über den Turmbau
zu Babel jest die (mir jehr zweifelhaften) Ergebniffe Wellhauſens
über die jahoiftifchen Beftandteile der Völfertafel, und baß die:
jelben J? angehören, voraus, weift bie (wirklich vorhandene) In⸗
foneinnität von Gen. 11, 1—9 ſowohl mit 10, 8—12 als mit
den übrigen jahpiftifchen Beſtandteilen der Völkertafel nach, folgert
daraus, daß die Zurmbaugefchichte in J? nicht geftanden Hat, viel-
mehr I! angehörte und erft von J° in den Zufammenhang von
J2 eingefügt wurde. Die von J® in 10, 25 eingefchaltete Na⸗
menserklärung Pelegs follte fie vorbereiten. In It fcloß fie fich
an die Erzählung von der Entitehung der Nephilim, deren Schluß
neiprünglich der abgefprengte Vers 10, 9 bildete, an. Der mit
I? bezeichnete Bearbeiter der jahviftifchen Urgeſchichte, welcher
— pie wir ©. 401 erfahren — unferer heutigen Kritik voran»
eilend, ſchon alle dieſe urgefchichtlicden Erzählungen „als fagenhaft,
als Geſchichte im Gewand der Sage” betrachtet hat (1), Hat die
beiden Stüde 6, 1. 2. 4; 10, 9 und 11, 1—9 ausgemerzt und
Nimrod zum Erbauer Babels und des Turmes gemacht, nur daß
er es doch nicht wagte, dies in 10, 8. 10-12 geradezu heraus⸗
zufagen. — Wenn nun in J! anf die Turmbaugeſchichte urjprüng-
fich noch das jet vor Kap. 10 ftehende Stüd 9, 20—27 folgte,
fo muß dazwifchen eime Notiz geftanden haben, welche uns von
Babel nah dem Schauplag der Erzählung von Noahs Weinbau
50*
182 Budde
und der Verfluchung Kangans führt. Welches dieſer Schauplatz
war, ſoll die 11. Unterfuchung über „Heimat und Einwarderung
Abrahams* (S. 409—454) ermitteln. Aus Gen. 11, 27—32
wird V. 29 und 30 und au DB. 28, aber ahne die Worte „in
Ur Kasdim“, für J1 in Anſpench genommen. Im Zuſammen⸗
hang der Beweisführung dafür macht Vudde unter anderem gel⸗
tend, daß bie Grundſchrift die Verwandiſchaft Neheflns, Labans
uud Bethuels mit Abraham, bezw. ihre Ablunft nen Naher nicht
anerkenne, fie vielmehr einfach zu Aramdern mache, and daß in
11, 32 wiederum ber ſamarunniſche Text die urſprunglache Zahl⸗
qugabe (145) enthalte. — Das „Mebumsland“ Harans umd
Abrams (11, 28), von welchem aus Abram nach Kanaan berulen
wird (12, 1ff.), iſt die Gegend von Cheran, Ans ſhriſche Meſo⸗
potamien. Dieſes (nicht, wie Wellhauſan angenommen: bat, ſchon
Kanaan) wird alſs der Schauplatz der Geſchichte 9, 20-—%7 fein,
und ſomit wird in I’ nad dee Kurmbeugeichichte bie Nachricht
geftauden haben: „ER zog aber upon Makel aus auch Noah, der
Sohn Jabals, er und fen Weib und feine drei Söhne, Sem,
FJapheth und Kanaan, und er ging nach dem ſhrifchen Meſopo⸗
tamien und blieb dort“, worauf fih 9, 2027 fo anſchloß:
„Und Noah wurde ein Ackersmann und fing an, einen Weinbeng
zu pflanzen“. — Ines „In UrKasdim“ (= Mugfeir) ia 14, 2B
bat nicht etwa ber fchliehliche Redabtor (vgl. 15, 7), fonhern der
Bearbeiter J2 Baigefjgk !), um für die Wanderung vom: Landımges
punkt der Arche aus, als weicher ihm mich das Gebirge rueibs,
fondern etwa die Kette des Puhchti⸗Ruh, im Qſten nen Babel und
dem Tigris, galt, nach. Charan eine paſſende Zwiſcheuftatien zu
gewinnen. —
Bir begnügen uns mit diefem Reſerat, um noch Diem fir
einige Bewerkungen über das im 12. Abſchnitt (S. 455520)
gezogene kritiſche Schlußergebnis zu behalten. Die genze Gar
derung von J! und J? als zwei ſelhſtändig ueben einander be
ftehenden und erft pon J® verbundenen Ausgaben einer jabuiftifchen
1). Wefevent Hält Gen. 15 nicht für jehopiftiih, fonbern file denterono⸗
miſtiſch.
Die bibliſche Urgeſchichte. 788
Schrift iſt — das wird teils aus unſerer Krikik, auch wenn man
einzelnem darin nicht zuftemmt, teils ſchon ans dem einfachen Re⸗
ferat erhellen — nur mittelft einer Reihe von voreiligen Fol⸗
gerungen, zweifelhafden Vermutungen und kritiſchen Gewaltſam⸗
beiten durchgeführt. Mag Wetllheuſens Annahme Grund haben,
daß in der jehoniftiicgen Schrift fchen vor ihrer Verbindung mit
ben: anderen Quellenſchriften Einſchube von Ülberarbeitern gemacht
werben find, worüber ich nicht abfprechen will, fo iſt doch Budbes
Auöfüheung diefer Annahme jo „brüchig“ und haltlos, daß milt
ihr eis wishicher Beweis für dirſelbe jedenfalls nicht erbracht iſt.
Wie unbefriedigend die Buddeſche Kompoſition der von J1 ber»
zührenden Urgeſchichte begliglich dos 2. und 3. Stüdes ift, darauf
ift ſchon oben Bingewisfen worden. Dafür daß Ja nicht por Sa-
Immo gefihrirben fein künne, wird (S. 506-515) neben der erft
son dieſem Koönige nuögeführten völligen Knechtung der Kanaa⸗
aiter !) amch bin Beziehung des Wohnens Japheths in den Zeiten
Semd (9, 27) auf die Abtretung: des Bezirks Kabul am Hiram
von Tyras geltend gemacht, was doch auch Kautzſch ftart bean⸗
ftanbet. — Der zweite Heraudgeber der jahviftiſchen Schrift (I?) fol
die ans Bubylonien ihm zugekommene Sintflutsgeſchichte zum
Mittelpunkt der ganzen Urgeichichte gemacht und ihr zu Liebe die
in feiner Vorlage verzeichwete älteſte Wberlieferung, fo viel als
mötig, ınngeformt, zugleith aber auch der Reiuheit der religiöfen
Aunjchauungen buch Ausmerzung des Mythologiſchen ans der ur⸗
würhfig volßstimlichen Überlieferung Rechnung gettagen haben.
Budde Finder es teils aus letzterem Grund, teils, weil dieſe zweite
Knsyabe in weit Höheren Anſehen ftand. (f. u.) als die erfte,
wohrtcheinlih, daß diefelbe eine aus den Prieſterkreiſen hervor»
gegangene gleichſam amtliche Mezenfion war. Anderſeits bemeift
ige fynlcetiftifcher Charakter, insbeſondere ber Einfluß der baby⸗
fonifchen Sagen, daß fie früdeftens dem 9. Jahrhundert, feit die
Affyrer ihre Eroberungszüge bis ans Mittelmeer hin ‚machten, am
wahrſcheinlichſſten aber erft der Zeit des Ahas (vgl. den Priefter
1) &. 507 ift übrigens überfehen, daß die Worte Any An pBTmon
in 3of. 9, 27 ein deuteronomiftiicder Zufat find.
784 Budde
Uria in 2Kun. 16!) angehört. — Hier liegt freilich der Ein⸗
wand nahe: wenn das fyrifche Mefopotamien „die Wiege ber Is⸗
raeliten“ und der ganzen femitijchen oder noachidiſchen Bevölkerung
Borderajiend war (S. 451), Liegt dann die Annahme nicht fehr
viel näher, daß die Israeliten fchon von dorther die Überlieferungen
mitgebracht Haben, welche fie mit bem „Zweiftromlanb“ gemein
haben? Das Heruntergehen bis in die Zeit des Ahas ſcheint doch
auch Budde jelbft bedenklich; und wie infolge der Eriegerifchen Ber
rührungen mit den Affyrern ein jmdälfcher Priefter „mit der My⸗
tbologie der Affyrer und Babylonier und mit der darauf gegrün⸗
beten Religionsübung vertrant” geworden ſein folf, tft doch ſchwer
abzufehen. Budde weiß auch jenen Einwand mit nichts anderem
abzumeifen als damit, daß die ülieſte Geftalt ber israelitiichen
Urgeſchiche — NB. nah ferner eigenen: Relonftruktion der⸗
jelben — Berührungen mit der Sage des Zweiftrontlands „nicht
oder doch nur hier und da in leifen, ganz ins Hebrätfche einge
lebten Zügen“ aufweife. — Jene beiden Ausgaben der jahvifti-
ſchen Schrift hat nun der teils als Redaktor, teils. ale Schrift⸗
ftelfer arbeitende JS möglichit unverkürzt und unbeſchüdigt in einer
dritten Ansgabe mit einander verbunden. Weit überwiegend Hält
er fi aber an die zweite Ausgabe (J®); und diefe gleichem
„amtliche* Ausgabe blieb auch neben der dritten erhalten und
genoß in den Priefterkreifen Hohes Anfehen; denn nur fie.ift von
dem DVerfaffer der Grundfchrift berüdjichtigt worden (S. 463 ff.) ;
ja derfelbe hat ben ganzen urgejchichtlichen Stoff, welchen er in
feiner Weife bearbeitet hat, aus J2 geſchöpft. Und nun werden
wir fchlieglih (S. 470— 495) unter viel Aufgebot von Gelehr-
famteit auch noch darüber belehrt, daR die von dem Redaktor
der Geneſis nach ber Bearbeitung der Grundſchrift in Gen. 1
mitgeteilte Schöpfungsgefchichte ihrem weſentlichen Inhalte wach
fhon in jener zweiten Ausgabe der jahpiftifhen Schrift (I®)
geftanden und den Anfang derfelben gebildet Babe. Damit find
denn glücklich alle von der bisherigen fritifchen Forſchung ges
fonderten Fäden wieder völlig ineinandergewirrt, und «8 fit
den Feinden aller Kritik Leicht gemacht, höhnend darauf hin⸗
zumeifen, wie wenig es doch mit der angeblich unwiderſprechlichen
Die biblische Urgefchichte. 185
urfprünglichen Verjchiedenheit der Beftandteile ber Genefis auf fich
haben fann.
Immerhin ift es von Intereſſe, zu fehen, wie die Verfechter
der nacherilifchen Abfaffung der Grundſchrift ſich dazu gedrängt
jehen, die jehoviftifche Schrift in immer weiterem Umfang mit
Beftandteilen und Charalterzügen auszuftaffieren, die von der
Grundſchrift entnommen find. Schon Wellhauſen hat die Zeugniffe
für die Benugung der Grundjchrift im Deuteronomium teilweife
nur dur die Annahme zu befeitigen gewußt, daß die betreffen-
den, uns nur in der Örundichrift enthaltenen Angaben auch in. ber
jeboviftifchen Schrift geftanden hätten (Jahrbb. XXII 466 ff. 472F.).
Dasfelbe vermutet er bezüglich des den Megenbogen betreffen«
den Zuges der Sintfintsgefchichte (Prolegomena ©. 328). Budde
fügt zu diefen hypothetiſchen Beitandteilen der jehoviftiichen Schrift
bie Mitteilung über Henoch (5, 21— 24) und die Schöpfungd-
erzählung Hinzu. Daneben aber nimmt er noch manche alige-
meine Charakterzüge ber Grundſchrift, welde von den einen für
ihre frühe, von ben anderen, namentlich von Wellfaufen für
ihre fpäte Abfaſſung geltend gemacht worden find, teils für feine
äftefte jahwiftifche Schrift (IN), teils für die zweite Ausgabe der⸗
jelben (I?) in Anſpruch: für jene den national befchränkten Ge⸗
ſichtskreis (S. 321) und teilweife bie tiefe und lautere israe⸗
Litifche Gotteserkenntnis (S. 244. 504); dem Verfaſſer dieſer
dagegen, welcher allerdings anfangs eine bedenkliche Neigung zum
Mythologifchen zu haben ſchien (S. 232 ff.), wird Binterher,
nach gewonnener befjerer Einfiht, in noch höherem Maße ein
reiner ethifcher Monotheismus zugejchrieben, vermöge deijen er
bei aller Verwertung nusländifher Sagenftoffe aus diejen, wie
aus der israelitifchen Vollsüberlieferung, die fein Vorgänger auf-
gezeichnet hatte, mit ficherer Hand alles Mythologiſche ausgejchieden
bat; ferner — freilich mit äußerft ungenligender Begründung —
die Zugehörigkeit zur Briefterfchaft, der Gebrauch des Gottesnamens
Elohim in der Schöpfungsgefchichte und die zehngliederige Sethiten-
tafel als einzige Überleitung von diefer zur Sintfintsgefchichte
(ohne Paradiefes- und Sündenfallägefchichte, ohne Brudermord und
ohne danebenftehende Kainitentafel). Gegenüber den wiederholten
3% Furſter
Hinweiſungen Buddes anf Anzeichen ſpüteſter Abfaffung ber Grunde
ſchrift, auf deren Beurteilung ich hier nicht eingehen fan, möge
won biefe intereſſanten Übertragungen. fchriftitellerifcher Ehangtter-
züge der Grundichrift auf bie beiden üfteften jahviſtiſchen Schriften
nicht usheachtet laſſen.
Eo thut mir aufrichtig leid, Aber ben wiſſenſchafilichen Oe⸗
ſamtcharalter und die Ergebniſſe eines: Werles, das im einzelnen
manche wertvolle Aneführnugen für bie Exegeſe und die Kritik
ber bibliſchen Urgeſchichte enthäͤlt, fo ungünftig haben urteilen zu
müſſen. Nur ungern babe ih mich entſchloſſen, öͤffentlich ein
Urteil darüber abzugeben. Aber wenn die theologiſche Wiſſen⸗
ſchaft ein gutes Recht Hat, die kirchliche Zenfurierung abzu⸗
lehuen, fa hat fie auch die Pflicht, ihre eigenen Berirrungsm rüd-
haltslos aufzudecken; und gerahe hiefed Werk ſchien mir befpnbers
geriguet, and: andere Fachgenoſſen daran zu erinnern, daß unfere
kritiſche Forichung, wenn fie ohne ftrenge- Methode, aber: mit. vief
Subiectiviomus und Gewaltſamleit übsrlieferte Texte in Stüde
fehfägt und die Bruchſtücke nad) eigenem Gutdünken wieder zu⸗
fammenfegt (S. 145), in großer Gefahr ift, zu einem vielleicht
fie manchen intereffanten, aber für die Wifſenſchaft unfruchtbaxen
Spiel zu werben. Ed. ieh.
2.
Hörfter, Th. D.: Ambrofins, Bifhof. von Mailand.
Eine Darftellung feines Lebens und Wirkens. Halle 1884.
334 ©. 8.
Nur mit Zögern hat Meferent, mit andersartigen Arbeiten ber
Schäftigt, der freundlichen Aufforderung der Redaktion der Theol.
Std. u. Krit. fih gefitgt, das Förfterfche Buch üher Ambrofius
Ambrofius, Biſchof von Mailand. IH
nachtraglich auch in biefen Blättern. zur Anzeige zu dringen. Mit
Freuden entledigt er fich bei eintretender Muße der übernommenen
Aufgabe, die ihm, ber zwar weder als Kirckenhiftarifer von Fach
noch als dem Autor ebeubürtiger Ambroſiuskenner urteilen Tann,
doch beſonders ſympathiſch ift, da fie ihm Gelegenheit giebt, auf
eigene. Erftlingsarheit zuruckzugreifen. — Zwingt ihn. dabei er»
nentes Prüfen ber früher gewonnenen Reſultate einigen Partieen
dea Förſterfchen Buches gegenüber ſich ablehuend oder ergänzend
zu verhalten, fo kann ex im übrigen gern in den Dauf einftimmen,
der dem Halleſchen Superintendensen. für bie ihn nit minder wie
ſeinen Helden ehrende Darftellung von verjchiedenen Seiten bereits
ausgeſprochen mprben ift,
Den geringften wiſſenſchaftlichen Ertrag liefert wohl unftreitig
daB. erſte ber drei „Bücher“, in melde nach Kurzer Cinleitung
(S.1—18:; Vorgeschichte des mailändiſchen Kirche, politiiche Zeit⸗
lage, Stellung der Kirche zu deu fittlichen und ſozialen Aufgaben
im 4. Jahrhundert), die Schrift verteilt tft, ©. 19-85; „her
Bischof." Wenn der Verfaſſer bier var. alles das kirchenpoli⸗
tiſche Wirken des Ambroſius darſtellt, ſo bat er allerdings van
vornherein dem Leſer gegenüber mit dem Umſtand zu kämpfen,
daß er ziemlich allgemein Bekanntes behandeln muß. Man er⸗
wartet in foldem Falle — ob mit Recht, fei dahingeſtellt —
neue Geſichtspunkte, neue Beziehungen dargelegt zu finden, und
baran fehlt es dieſem Abſchnitt einigermagen, wozu wohl mitge-
wirkt. hat, daß es für den, der nicht ex profenso Kirchengeſchichte
zu treiben Bat, ſchwer ift, firh ein nach allen Seiten vollitändiges
und. in allen Bezägen klares Bild von der kirchlichen und poli«
tischen Sefchichte des 4. Fahrhunderts zu machen. Immerhin wird
man die überfichtliche und forgfältige, vorwiegend auf des Ambro⸗
ſius eigene Zeugnifje refurrierende Darftellung gern leſen, und das
günftige Urteil über den Charakter des großen Kirchenfürſten und
Seelenhirten, weiches im legten Kapitel. ausgefprodhen wird, kann
als wohl fundiert gelten. — Nicht beiftimmen kann Neferent der
abfälligen Kritik, weiche an. dem DVerhalsen des mailändifchen Bi-
ſchofs in dem Streit um bie Rirchenauslieferung ©. 42 geübt wind.
Iſt in der Chat des Ambrofius Kirchenideal ein: falſches, un⸗
188 Förfter
evangeliiches, fo lag doch in diefem Speziellen Kalle nicht „Lirchliche
Allgewalt mit ftantliher Ommipotenz‘ (S. 79) in einem für
beide Teile gleich bebenklihen Streit, fondern es galt ein beredh-
tigted nom possumus gegenüber durchaus unberechtigter und uns
lauterer Forderung, wobet die Frage, ob Ambrofius ganz die rechte
Form des Wiberftandes gefunden, offen. bleiben mag. — Eine
fleine Enttäufchung bereitet übrigens das 1. Kapitel diefes Buches
infofern, als dasfelbe in der Überſchrift auch Mitteilungen über
des Ambrofius Bildungsgang anfändigt. Im Grunde erfährt man
davon bier eigentlid gar nichts. Do wird das an diefem Ort
Bermißte einigermaßen nachgeholt in dem 2. Kapitel des 2. Buches,
wo von ben Bildungselementen und litterarifchen Etufläffen in den
Schriften des Kirchenvaters gehandelt und dabei auch feiner allgemeinen
humaniftiſchen Bildung gedacht wird. Nur wäre ein größeres Ein-
gehen auf die vorchriftlichen insbeſondere philoſophiſchen Studien
des einftigen consularis wohl am Plate gewefen. Speziell würe
es von nicht geringem Intereſſe, wenn der mit Ambrofius jo durch«
gehend vertraute Verfaffer den Lefer darüber belchrt hätte, ob jener
feine philojophifchen Kenntuiffe vorwiegend den Quellen felbft,
oder ob er fie vorwiegend den fompendiarifchen Schriften Ciceros
verdanfte. Referent hat feiner Zeit das letztere annehmen zu
müffen geglaubt (Ewald, Der Einfluß der ftoifch-eiceronianifchen
Moral auf die Darftellung ber Ethik bei Ambrofius, Inaugural⸗
difjertation, Leipzig 1881, S. 17). Die Andeutungen Förſters
Sprechen wenigſtens nicht gegen diefe Annahme. Bewährt fie fi
aber, fo ift da8 zwar erklärlich, ja natürlich, doch zugleidy charakte⸗
riſtiſch Für die wiſſenſchaftliche und litterarifche Leiftungsfähigkeit
des Kirchenvaterd, welche Förfter wohl in etwas zu überjchäßen
geneigt ift. —
Neben das erite Buch ftellen wir hier glei) das dritte S. 200
bis 271: „Der Prediger und Dichter“. Bewirkte es mehr ber un.
gleich dankbarere Stoff oder mehr die größere Sicherheit, mit der
der Verfaſſer fich bier auf eigenftem Boden bewegt, jedenfalls ift
dieſer Teil der Förfterfchen Arbeit in hohem Grade mwohlgelungen.
Bon den einleitenden Bemerfungen über die Entwidelung der Pre⸗
digt vor Ambrofius würde Referent nur auf bie Ausführungen
Ambrofius, Biſchof von Mailand. 189
über die amtife und biblifche Rhetorik gern verzichten. Diefelben
find noch weiter ausholend als bie erften Seiten der ganzen
Schrift, wo über die Anfänge der Stadt Mailand gehandelt ward,
und laſſen wegen der notwendigen Kürze der Darftellung unbe⸗
friedigt. Dagegen beruft der Überblick über die Firchliche Predigt
vor Ambrofius anf forgfältigen Studien und bildet eine gute
Grundlage für die Darftellung der Prebigtweife des mailändifchen
Biſchofs. Überſichtlichkeit in der Gliederung, geſchickte Auswahl
der Belege und anfpreihende Form wird man der Teßteren Dar⸗
ftellung zweifellos nachrühmen dürfen. Vor allem aber ift zu
deffen, dag es Würfter gelungen ift, der beliebten Art, den Homi⸗
leten Ambrofius geringfhägig oder gar verwerfend abzuthun, einen
Damm entgegenzuftellen. Ambrofius war ein Redner von Gottes
Onaden, und vor allem, wo er — nur zum Teil in Abhängigkeit
von Bafilins — foziale Mißftände befpricht, dürften feine Worte
noch heute ihre einftige gemichtige Wirkung ausüben können. Selbft
die Draftit mander feiner Expeltorationen (vgl. bei Förfter,
S. 228 ff. u. 5.) fönnte unfern verwöhnten Ohren und Nerven
hie und da recht wohlthätig fein, wenn anders nur fie von einer
dem großen Vorbild verwandten Perfönlichkeit getragen wären.
Denn allerdings: das legte Geheimnis der homiletifchen wie Tirchen«
politifchen Bedeutung unferes Vaters liegt, wie Förfter mit Recht
mehrfach hervorhebt, in feiner das altrömifche honestum und de-
corum mit aftteftamentlichem Ernſt und neuteftamentlicher Demut
und Liebe einenden Perjönlichleit. — Aufgefallen ift dem Referen⸗
ten, daß bie gewiß aus Predigten entftandene Schrift de Isaac et
anima fo gar nicht zur Charafteriftit der ambroftanifchen Reden
herangezogen iſt. Es fcheint faft, als ob die Abneigung Forſters
gegen die bei Ambrofius überhaupt fehr beliebte Allegorifiermethode
ihn die große Schönheit dieſer Schrift, die allerdings das Hohelied
mit kühnfter, oft geſchmackloſer Allegorefe „zerquält“, verfennen
ließ 9. Doc vergleiche man einmal Kap. 5, 43; 8, 75. 79, bes
1) Zu den von Förfter mehrfach angeführten Beiſpielen willfürlichen Alle-
gorifierens fet hier noch eins gefügt, das Ambrofius gewiß nicht dem Philo
entlehnt hat: In de Jacob et vita beata (I, 4, 19 nach Migne) kommt er
28 Fürſter
ſonders die Schlaßworte, in denen zwar die platoniſch⸗philoniſche
Biychologie, die- in dem Buch finrl hervortritt, noch wachklingt,
die aber in ihrer einfacgen Schönheit: erguesfen müſſen: Mos
animae summs, nostra autem membra veatimente sunt; ser-
vanda. sunt quidem westiments, ne sandantur, ne inwete:
rescant: sed ille magis qwi his utktur, servare se debet et
custodire.
S. 253-—-71 handelt: der Verfafler in forgfültiger' Weife über
die postifchen Leiſtungen des Ambrofſus und deren Berangfägtingen,
Referent ift zu wenig. orientiert anf dieſem Gebiet, um ein anderes
Urteil zu füllen abe dies, daß: man bie Aupführungen Förſters
gewig mit vegftem und fruchtbare Intereſſe werde Infen Fünnen. —
In der Anm. S. 320 ff, wird eine. reimloſt wetrifche Überfeguung.
der vier allgemein anerlannten Hymnen (Deus creator ommium;
Aeterne rerum conditer, Jam surgit hora tertia; Intende
qui regis Israel == Veni redemptor gentium) verſucht, gamik
die richtige Form, um den Eindxuck der Ambrafianiſchen Lieder im
Deutſchen einigermaßen wiederzugeben. Die Überfeguug iſt ſehhr
anſprechend und wohlgelungen. Nur an der ſechſten Strophe des
Hymnus Jam surgit horn tertia ift der Verfaffer geſcheitert. Die
Verſe, welche an bie Erwahnnung des Heprenmortes im Jeohauues:
apostole en mater tua anknüpfen, find in der That daniel ?)
Referent belennt aher, daß ihm Forſters Überſetzung geradrgn- un⸗
verftändfich erſchienen iſt. Jedenfalls iſt ſie ſehr ungenau 2).
auf jene bedenkliche Manipulation zu ſprechen, durch welche Jalob ſich den
beſten Teil der Herden Labans zu verſchaffen weiß. Dabei findet er nun
in den dreierlei Stäben durch die wunderlichſten Kombinationen Trinitatis
praefigarata mysterin und lobt die bonae oves, welche infolge ber heilſamen
Perdigt dieſer Wyfterien bonorem purtus operum fidei sacrae non dege-
nenes ediderunt!
1) Praetenta nuptae foedera
Alto docens mysterium,
Ne virginis partus sacer
Matris pudorem laederet.
2) As ein Geheunnis kündet er
Vom Kreuz der heilgen Ehe Bund,
Daß die Geburt der Jungfrau nicht
Berleist: (indieat}?) ber Hutter Teufchen Simm..
Ambrofius, ff don Mailand. 91
Grid; das erfie Wort prastenta, aber auch) ‚der Gen. nuptae
fommt nit zu ſeinem echt, und pudor ift, wie Forfters eigene
Retiz ammeift, gewiß micht Für „Leufen Stan”, ſonbern fir den
af der Keufchheit zu nechenen. — Referent-weiß wicht, wie ambere
bie Worte überſetzt haben. Am beiten erſchten es ihm früher, daß
man das me der ‚zweiten Belle ſachlich von praetenta abhängen
laffe (eventuell mit Umſtellung dev erfien und zweiten Zeile) umd
überfege: dem vorgeſchützten Bund der Heimgefüihrten, der Gattin,
das if fo die Ehe Marias mit Joſeph, anzeigend als das, was
fie war: ein gottgewolites heiliges Myfterium, nicht eine Ehe nach
gmmähniihen Begriff; vorgeſchutzt, damit nicht ꝛc. — Doch läßt
fich jedenfalls die Schwistigkeit einfucher löſen, indem man überſetzt:
Kundmachend ihrer She Schein
Tom Arc ala Gottesheimlichkeit,
Auf dab der Suugfeau Mutterihaft
Nicht Ichänbe ihrem beuſchen Ruf.
Das zweite Buch, das uns noch zux Beſprechung übrig Bleibt,
giebt zunächft Ray. 1, ©. 86—99 einen gut orientierenden Über»
Kid über die ſchriftſtelleriſchen Leiftungen des Ambroſius. (Zu vgl.
auch der Zuſatz S. 336.) — S. 99—128 folgt fene® oben er
wähnte Kapttel über die Bildungselemente unb Eiterarifchen Ein⸗
füaffe in den Schriften bes Ambrofius. Sutereffante Streiflichter
fallen babei auf den Stand der Realwiſſenſchaften in den eriten
FJahrhunderten. Wichtiger aber ſind die drei Abfchnitte über das
Derhältuis bes Ambrofius zn Phile, Origens und Bafiline.
Forſter verrät auch hier fehr forgfältige Studien. Mit ganz ber
fonderem Intereſſe verfolgt man den Nachweis der oft ſllaviſchen
Anlehnung des Kirchenvaters an Säge des jüdiſchen PHilofephen.
Ob aber freilich, die Wieinung, daß diefe Anlehnung im Geumbe
mer. formaler Natur fei und in der Hauptſache ih auf „Behand-
Kung de8 Alten Teftomgentes und Interpretation geſchichtlicher Vor⸗
gänge” beſchruule (S. 112), Haktbar ift, erſcheiut dem Referenten
mehr als zweifelhaft. Ambrofſius war wohl kaum imftande, die
chriftlichen und phileniſchen Gebanken iiber den Logos beſſer aus⸗
einander zu halten als ihm vorgüngige Väter, und hierin, wie In
feinen pfychotogiſchen Thedremen, feiner Degradierung des leiblichen
792 Förfter
Seins an zahllofen Stellen, feiner Beſchreibung fittlider Borgänge
und Zuftände (vgl. ded Referenten obengenannte Schrift, S. 23.
36. 47. 50ff., auch Förfter, S. 139) zeigt er fich immer wieder
material von Philo abhängig, ohne daß man dieſe Abhängigkeit
als bewußte und gemollte, oder auch nur als fanftante. vorzuftellen
hätte. Soviel Referent beobachtet hat, machen ſich je nachdem diefe
oder jene Vorlage dem Ambroſius zur. Stäge. feiner Ausführungen
bient, durhaus heterogene. Einflüffe geltend. (Bgl. die
eben citierten Stellen aus des Referenten Schrift; auch Sörfter ;
©. 126).
Die Anlehnung an Origenes wird von Förſter wohl mit. m.
auf ein ziemlich geringes Maß beichränft: Immerhin bat, wie
nachgewiefen wird, Origene® dem abendländiſchen Kirchenvater nicht
nur naturwiſſenſchaftliche und andere reafiftifche Kenntmiffe, ſondern
auch gewiſſe eschntologiiche Anfchauungen vermittelt, obgleich nicht
einmal ganz feft fteht, ob Ambrofius überall direkt von Drigenes
entlehnt. Enger wieder ift der Anſchluß an Baftlins (beſonders
im Hexaömeron, einer dem griechiſchen Original nachgebildeten
Schrift); Förfter giebt auch Hierfür gut gewählte Belege und zieht
mit Necht die geiltige Verwandtfchaft und gleichartige Stellung
beider Väter zur Erklärung herbei. — Ähnliche Erwägungen Hat
Referent betreffs des BVerhältnifies des Ambrofius zu Cicero an
gefielit (vgl. des Referenten Schrift, ©. 14 ff.). Daß Fürfter
hierauf an diefer Stelle nicht eingeht, Kat feine Berechtigung, da
diefer Gegenftand fpäter bei Beiprehung der Ethik zur Verhand⸗
fung fommt. Doc fcheint Förfter überhaupt zu wenig auf die
Beziehung zwifchen den beiden Genannten zu geben.
Es folgt nun auf diefe vorbereitenden Erörterungen eine forg-
fültige Unterfuchung über die Theologie und theologische Bedeutung
des Kirchenlehrers Ambrofius. Vortrefflich ift die allgemeine Cha⸗
rakteriſtik S. 125 ff. Aber aud der Nachweis des Hier ausges
ſprochenen zeigt den Verfaſſer als durchaus gediegenen Kenner des
Ambrofius und feharfen, nüchternen Beurteiler der einfchlagenden
Tragen. Die Unterfuchung verläuft, nbgejehen von einem einlei-
tenden allgemeinen und einem die Ethik behandelnden Abfchnitt, in
6 Kapiteln: Theologie, Chriftologie und Soteriologie, Anthropologie,
Ambrofius, Biſchof von Mailand. 795
Heilsaneignung, Kirche und Gnadenmittel, Eschatologie. Bon befon-
derem Jutereſſe find der dritte und der vierte diefer Abfchnitte (Kap.
6 und 7) an und für fi umd weil dem Lefer dabei ber Gedanke
an des großen Lehrers größeren Schüler begleitet. Aufgefallen ift
dem Referenten auch bier wieder die Vernachläſſigung der Schrift
de Isaac et anima, die doch manches enthält, was bejonders für
bie Faffung des Blanbensbegriffs von Belang ift. ebenfalls hat
aber Förfter es verftanden, durch feine Unterjuchungen dem Am⸗
brofius einen felbftändigen Pla innerhalb der theologifchen Ent»
widelung zu wahren.
S.175—199 wird endli die Ethik des Ambrofius behandelt
und zwar in zwei Abjchnitten: 1) die ethifchen Grundgebanfen ber
Schrift de off. ministrorum im befonderen; 2) die ethifchen Grund»
gedanken des Ambrofius im allgemeinen,
Im erſten Abſchnitt fett ſich Förſter mehrfach mit des Refe⸗
renten ſchon einige Male citierter Schrift auseinander. Doch muß
Referent ſich da gegen ein verhängnisvolles Mißverſtändnis ver⸗
wahren. Er hat — wie mehrfach ausdrücklich betont ward —
nicht die ethiſchen Grundgedanken, ſondern die Darſtellung
der Ethik bei Ambrofius behandelt. Förſter bemerkt dies zwar
(S. 184), hat e8 aber fonft nicht berüdfichtigt, und doch hätte er
fih nicht bloß verfchiedene Exklamationen „auch Ewald giebt zu”,
„felbft diefer beredte Anwalt des ſtoiſch⸗ cicerontanifchen Einfluffes
kann nicht umhin“ 2c., jondern auch einen Zeil feiner Polemik
erfparen können, wenn er mehr darauf geachtet hätte !). Die
1) Überhaupt muß Referent fich in aller Freundlichkeit beflagen, daß ihm
von feinem Gegenpart nicht durchgängig die erwünſchte Achtfamleit zugebracht
worden if. So hat Referent die Echtheit des Genitiv ministrorum im Titel
ber Schrift nicht geleugnet (Förfter S. 176), fondern nur feinem Urteil über
ben Inhalt der Schrift dadurch einen Ausdrud gegeben, daß er die Weg-
Yaffung „jedenfalls für eine fachgemäße Korrektur” erklärte. Diefes Urteil wird
vom Referenten auch gegen Förfter aufrecht erhalten. — Was bie wohlmwollende
Anerkennung ©. 807. Anm. 181 betrifft, daß „Ewald wenigftens einige Male
andy andere Stellen zurate zieht”, fo muß Referent auch biergegen remon⸗
firieren. Die vor allem neben ben Officien in Frage kommenden Schriften find-
nicht nur eingehend berüdfichtigt, fondern auch mindeſtens fo häufig wie bei
Hörfter citiert, mit Ausnahme ber für des Referenten Aufgabe ganz im Hinter
79% Förfter
ſachſiche Differenz zwifchen ums ift in Wahrheit nicht allzu groß.
Bor allem, was Yörfter unter Rr. 2 über die etäffchen Grund»
gedanten bes Ambrofius fagt, wird kaum amzıffechten fein. Ins⸗
befonbere eignet ſich Referettt die Eike S. 184 voll an. Biels
leicht önnte man im weiteren eimmenden, daß teog der Aneifennumg
des antik⸗ariftokratiſchen Zuges im der ſittlicher Anſchnuung der
alten Kirche and befonbers bei Ambroſtus (S. 186) der Monchs⸗
BHrofoph zu fehe in den Borbergrund geſchoben wird (dgl. da⸗
gegen des NRefeventen Schrift, ©. 86 f.). — Vetteffend den Ab⸗
Schnitt 1 bei Förſter muß Referent aber jedenfalls Dabei ſtehen
bieiben, daß es dem Ambroſtus keineswegs gelungen ft, die von
ihm unwillſkürlich oefgmommenen föiflhreicerumamfthen und plato⸗
niſch⸗philoniſchen Gedanken wirklich zu afftımilteren. Anh die Hinzu⸗
bringung „des transcendenten Hintergrundes und des religibs⸗
chriſtlichen Elementes des ewigen Lebens“ (S. 178) beifert daran
nichts. Im Gegenteil, es zeigt fiih eben an dem nnvermitteften
Nebeneinander der zwei heterogenen Gedankenteihen, dab Aubtoſius
feine ifofierten „ethifchen Grundgedanken“ überhaupt nicht zu einer
gefchloffenen Anfhauung, einem Syftem, zufammenzuarbelten im»
ftande war !). Referent will fogaur noch weiter gehen, als er es
grund Flehenden Kommentare. ber allerdings mußte Referent es für feine
Abſicht wicht uur als ratſam, ſondern geradezu als notwendig anfehen, daß
von den Dfficien ausgegangen würde" (gegen Förfter, S. 176f.).
Die Darftellung einer Disziplin hat man da zu fuchen, wo fie zuſammen⸗
hängend gegeben if. Und die Erörterung ethiſcher Prinzipien ift über-
haupt nur im den Offizien gegeben. Anch iſt zu berikdfiäättgen, daß
eben dies Buch als Buch, als Darſtellung der Ethik, eine weit Tider die Wire⸗
kung dee gelegentlich geäußerten Anſchauungen hinausgreifende Bedenkung ger
wonnen hat.
1) Es iſt nicht „die diplottratiſche Vergleichnng einzelner Stellen“ (Foͤr ſte r
GS. 181), die der Referenten antike Einflüſſe erkennen ließ, ſondetn die ge⸗
famte Anſchaunng der don ihm daflir angefüihrten Schtiften de Abrah.,
de Isaac, de parad., de Jao. ete. — Mögen aber andy inmmerhin „endere
Enflufſe“ auf die mönchiſch asfefifähe Richtung der Lirchenwäter hiugewirkk
haben, ſo wird doch Fotſter das nicht im Abrede ſtellen, daß eben dieſe Ein⸗
fſufſe doch die Aufnahme ber antiker Gedanken, die ſich als die gerignet ſchei⸗
nenden Formen darboden, veraulaßten und daß ſomit diefe Gebanken faltiſch in
Ambrofins, Bifchof don Mailand. 1%
feiner Zeit getfan: Die rein transcendente „chriftliche“
Taffung des höchſten Gutes geftattete in alle Wege
weder eine Verſchmelzung mit den antiten Elemen-
ten, noch überhaupt eine wirklich Kriftlihe, d.h. evan⸗
gelifhe Darftellung der Ethik.
Doch damit fei es genug. — Nochmals will Referent feine
Freude ausſprechen über das Bud, daß ihm reiche Anregung ger
geben bat, und den Wunfch beifügen, daß es Herrn D. Förfter
vergönnt fei, anf dem von ihm ſchon mehrfach bearbeiteten Ge⸗
biete noch weiter zu arbeiten, anderen und fich felbft zur Freude.
Nur wolle es ihm gefallen künftig die Anmerkungen möglichit unter
den Text und nicht an den Schluß zu verweien!
Reipzig. Lic. Dr, Yaul swald.
der alten Kirche vorhanden find und bei den verichiedenen Männern verjchie-
denen, bei feinem wohl bloß formalen Einfluß gewannen.
Theol. Stub. Jahrg. 1886. 61
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Inhalf des Jahrganges 1884.
Erftes Heft.
————
Abhandlungen. Geite
1. Benrath, Wiedertäufer im Benetianifchen um bie Mitte bes 16. Jahr⸗
DUNDELIG = u. 35. 2. 18 ac: ee en Maas an 9
2. Meyer, Die Wahlfreiheit des Willens und die fittliche Verantwort⸗
lichkeit des Menſchennn. 67
Gedanken und Bemerkungen.
1. Koffmane, Zu Luthers Briefen und Tiſchreen. 0... 131
Rezenſionen.
. Wright, The book of Kohelet; rez. von Klofermann. . . 151
Zweites Heft.
VVVx
Abhandlungen.
1. Hering, Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation II... 195
2. v. Soden, Der erſte Thefſalonicherbrieeee 268
ur
Gedanken und Bemerkungen.
. Bertbeau, Im welchem Jahre wurde YBugenhagen geboren? . . 813
.Röſch, Die Begegnung Abrahams mit Meldiiebel . . - . . -» 321
198 Inhalt.
Geite
Rezenſionen.
1. Warneck, Proteſtantiſche Beleuchtung der römiſchen Angriffe auf die
evangelifche Heidenmiſſion, 1. Hälfte; vez. von Jacobi . . . 359
2. Wangemann, Die Iutherifhe Kirche der Gegenwart in ihrem Ber
bältnis zur Una Sancta; res. von Rietfhel . . 2 2 20. 971
Miscellen.
1. Programm der Haager Gejellichaft zur en ber —
Religion für das Jahr 1884 . . . 401
2. Programm der ne Zietaien Sera su Sorten L
das Jahr 1885 . . 407
Drittes Heft.
Abhandlungen.
1. Dorner, Dem Andenken von D. 3. A. Dorner . . 417
2. Weiß, Über das Weſen des perjönlichen Chriſtenſtandes Once Ar⸗
tikel)... 453
3. Klöpper, Der ungewaltte &liden und das "alte Kleid. Der ı neue
Wein und bie alten Schläuhe. - . » » . ee... 505
Gedanken und Bemerkungen.
. Hering, Der Streit über bie Echtheit eines Lutherfunde® . . . 587
. Buchwald, Nod eine Bemerkung zu dem Streite a mit den
Wittenberger Stiftsherren, 1523—24 . . .. .» .... 555
DD ⸗
Rezenſionen.
1. Franke, Das alte Teſtament bei Johannes; rez. von Riehm . . 563
2. Schmid, Gedichte der u, vom ae an bis — unſere
Zeit; re. von Steude . . . 00. 588
Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.
Inhalt. 799
Seite
Viertes Heft.
Abhandlungen.
1. Uſteri, Initia Zwinglü. Beiträge zur Geſchichte der Studien und
der Geiſtesentwickelung Zwinglis in der Zeit vor Beginn der —
matoriſchen Thätigkeit . 607
2. Dorner, Das Verhältnis von Kirche er Stont nad Dam. . 672
Gedanken und Bemerkungen.
1. Bogt, Über Heinrichs VIIL. Ehefcheibung 725
2. Bogt, Über Melanchthons loci . 747
NRezenjionen.
1. Budde, Die bibliſche Urgeihichte; reg. von Riehm. : 753
2. Förfter, Ambrofius, Bifchof von Mailand; rez. von Ewald. 786
Berlag von F. C. W. Vogel in Leipzig.
Soeben erfihten:
Wilhelm Gesenius’
Hebräiſche Grammatik.
Bölig umgearbeitet und Herausgegeben
Bon
Prof. Dr. E. Kautzſch in Tübingen.
[126]
24. vielfach verbefjerte und vermehrte Auflage
Mit einer Schrifttafel und einem Facſimile der Siloah-Infchrift von 3. Enting.
gr. 8°. 1885. Preis 4 A.
Berlag von Zriedr. Andr. Verthes in Gotha.
Soeben erſchien:
Barry, Wired: Die natürliche Theologie. Eine
Darftellung der den vereinigten Zeugniffen von Gott
innewohnenden Beweiskraft.
Bauer, Wilh.: Die Gewißheit unferes Shriften-
glaubens .
Beder, W.: Reitfaden für den Religionsunter-
richt. 3. Aufl...
‚Brieger, Th.: Ouellen und Forſchungen zur Ge⸗
ICh der Reformation I. Aleander und Luther
Fr Herm.: Bibliſch- theologiſches Wörter—
buch der neuteſtamentlichen Gräcität. 4. vers
mehrte und verbeſſerte Auflage. Lfg. 1Iu. 2 à ..
Vollſtändig in ca. 14 Lieferungen.
——: Reformation und Wiſſenſchaft. Akad. Rede
Dentice Geſchichte. Bon Wilhelm Arnold. 1. Bd.:
Dentfche Urzeit. 3. Aufl. we. -
——: Dasjelbe geb. . En
—: 2.8.1.2. Hälfte: Sränkifhe dei geh.
— : Dasfelbe geb. . Ein
Dentiche Seihichte.. In 8 Bänden.
1. Bd.: Gefchichte der dentfchen Are von Felix
Dahn. Erfte Hälfte (bi8 anno 476) .
: 6. Bd.: Das Beitalter Fiedrichs des Großen
und Aoſephs II. von Alfred Dove. ar Hälfte
(1740—1745) . .
Dorner, A.: Kirche und Reich Gottes.
4
34
2
Die drei großen Reformationsichriften Luthers vom
Jahre 1520. Herausgeg. von Prof. Dr. 8. Lemme
Fiſcher, &: Der Glaube an die Unſterblichkeit
nach feinem Einfluß auf das fittliche Leben . :
Fletichhaner, O.: Kalender-Compendium d. chriſtl.
Zeitrechnungsweiſe auf d. Jahre 1— 2000 vor u. nach
Chriſti Geburt. Ein Taſchenbuch für jedermann. geb.
Gebhardt, Herm.: Thüringiſche Kirchengeſchichte.
Seinen Landsleuten erzählt. 3 Bände . . .
Sloat, B.: Spetulative Theologie in Berbin:
dung mit der Religionsgeſchichte. 1. Band,
1. und 2. Hälfte .
ermens: Unfer religiöfes Rationalgut.
acoby, H.: Chriſtliche Tugenden . .
— : Allgemeine ——— ut Grund der
hriftlicen Eerthit .
: Analecta Lutherana .
2. &fg. a. ;
Kingsiey, Charles: Dorfpredigten
Kloftermann, A.: Probleme im Apofteltezte.
Kolde, Th.: Luther und der —— zu Worms
1521 . . i
— Martin Luther. i..
Krank, Alfr.: Lehrbuch der Homiletit. a
Martin Luthers Schriften in Auswahl herausgegeben
von Dr. %oh. Delius. In Kaliko gebunden
: I. Troftfchriften. In Kaliko gebunden ;
Beterien, H.: Henrit Steffens. Ein Lebensbild .
Breilenie, E. v.: Der Erlöfer. Vorträge
Niehm, Ed.: Luther als Bibelüberfeßer.. .
Ayfel, J.: Ein Brief Georgs, Sie der
Araber an den Presbyter Yefus. .
Schiller, Geſchichte der EaniGen Raiferzeit I. Band,
1. u. 2. Abtlg. ;
Stende, E. ©.: Beiträge zur Apologetit. an
Vademecum ans Luthers Schriften, für die evang.
Schüler der oberen Klaffen höherer Lehranftalten zu-
jammengeftellt und herausgeg. von Dr. al Aloe
und Dr. Johannes Delius . .
—— Agyptiſche Geſchichte, 1. Abil.
Bit, Ch. A.: Ulrich Zwingli. Vorträge
Separatabdrud
aus dem „Börfenblatt für den Deutichen Buchhandel‘, 1885, Nr. 109.
Deutſche Drude alterer Zeit, in Nachbildungen herausgegeben
von Dr. Wilhelm Scherer, o. ö. Profeſſor der deutjchen
Sprache und Litteratur an der Univerfität Berlin.
I. Die September= Bibel. Das Neue Tejtament von Martin
Luther. Nachbildung der zu Wittenberg 1522 erjchienenen
eriten Ausgabe zum vierhundertjährigen Geburtstage Luthers.
Mit einer Einleitung von Julius KRöftlin. Berlin 1883,
z Grote'ſche Verlagshandlung. Fol. AM 50, geb. in Leder
60.
II. Das ältefte Fauſt-Buch. Historia von D. Johann Fauften,
dem weitbeſchreiten Zauberer und Schwarzkünitler. Nachbil-
dung der zu Sranffurt am Main 1587 dur Johann Spies
gedrudten erften Ausgabe. Mit einer Einleitung von Wil:
heim Scherer. Berlin1884, ebenda. kl. 80. „M20, geb. M 24.
In Nr. 26 des Börjenblattes v. d. J. haben wir ein inter:
eſſantes typographifches Unternehmen dem Lefer näher zu bringen
gefucht: die »Drudjchriften des 15. bis 18. Jahrhunderts, in ge:
treuen Nachbildungen herausgegeben von der Direktion der Reich3-
druderei 2c., erites Heft (Berlin 1884)«.
Heute haben wir es mit den Anfängen eines nicht minder
intereffanten Werkes zu thun, das ebenjomwohl nach der typogra=
phifchen wie nach der Litterarifchen Seite Hin Aufmerffamfeit ver:
dient, und welches der Initiative eines bedeutenden Litterarhifto:
rikers jeine Entitehung verdankt, dem die Hilfe eines einſichts—
vollen und opferfähigen Verlegers zu teil geworben ift.
Es Handelt ſich bei dem neuen Werfe um die Nachbildungen
deutjcher Drude aus älterer Zeit, aljo ftreng genommen nur um
Kopieen von allerdings hochachtungswerten Originalien, wenn wir
die Höchit felten gewordenen alten Drude überhaupt mit dem leb-
teren Worte bezeichnen dürfen. Das eigenartige Unternehmen darf
den Anfpruch erheben, nad) Form und Weſen mit Aufmerkſamkeit
aufgenommen zu werden, und deshalb wollen wir e3 hier verjuchen,
*
u
das Intereſſe der Leſer des Börjenblattes für dasfelbe zu eriweden,
indem wir e3 vornehmlich von der typographiichen Seite betrachten
und die Würdigung feiner — übrigens längſt anerfannten — Be:
deutung nad der Litterargejchichtlichen und Fulturhiftorischen Seite
der berufenen Fachkritik anheimgeben.
Die Grote’fche Verlagshandlung in Berlin, feit Fahren vor:
teilhaft befannt durch die gediegene Art ihrer litterarifchen Unter:
nehmungen und den bei der Herjtellung derjelben bewieſenen guten
Geſchmack, hat bei der vierhundertften Wiederkehr des Geburtstages
des deutichen Reformators Dr. Martin Luther den Entiehluß ge:
faßt, deutiche Drude älterer Zeit in Nachbildungen herauszugeben,
und als Nr.1 diejes periodiichen Werkes die September-Bibel beziv.
das Neue Teitament Luthers im Herbit 1883 erjcheinen laffen.
Ein Exemplar diefer im Sahre 1522 — alfo ein Jahr nad
Luthers Aufenthalt auf der Wartburg, wo er die Bibel überjegte —
zu Wittenberg herausgelommenen erften Ausgabe der Zutherbibel be:
findet fih im Bejite der Grote'ſchen Verlagshandlung, welche da3-
jelbe Schon vor Jahren durch einen glüdtichen Zufall zu erwerben
in die Zage fam, jedoch ist dasſelbe nicht ganz vollitändig: es fehlen
demjelben ſowohl das Titelblatt, wie auch ein Blatt aus der Offen:
barung Johannis. Beide Blätter konnten jedoch durch dag Exem—
plar der Königlichen Bibliothek in Berlin ergänzt werden und find
durch befondere Güte des inzwiſchen verjtorbenen Direktors dieſer
Bibliothek, des Profeſſor Dr. Karl Rihard Lepfius, dem Her-
ausgeber für jeine Zwecke zur Verfügung geitellt worden. Der letz⸗
tere, Profeſſor Wilhelm Scherer, hat daher nur eine einfache
Pflicht erfüllt, wenn er in der Einleitung der »Deutſchen Drucke«
Nr. 11 folgendes erflärt: „Das ganze Unternehmen diejer »Deutichen
Drude« wäre nicht oder wenigſtens nicht unter meiner Leitung ing
Leben getreten, wenn nicht Zepfius die Schäge der Königlichen
Bibliothek dafür zur Verfügung geftellt und gewillermaßen nur mir
perſönlich anvertraut hätte. Leider ift bei der Herausgabe des
1. Bandes ein Heines Verjehen injofern vorgefommen, daß eine Anz
gabe über die Originale, nach denen die Nachbildung der September:
bibel ausgeführt wurde, nicht in demjelben mitgeteilt worden ift,
welches Verſehen im 2. Bande wieder gut gemadt wird, wie das
auch dem Profefjor Lepfius noch zu jeinen Lebzeiten verfprochen
worden war.
Die Wittenberger Septemberbibel enthält befanntlich ven
großen Anfang der Lutherſchen Bibelüberfegung, das Neue
Zeitanent. Zur Würdigung des Werkes ift demjelben von Bro:
———
feſſor Julius Köſtlin eine ſachgemäße Einleitung vorangeſtellt
worden, welche auf etwa neun Drudfeiten ſehr ſchätzenswerte Er:
fäuterungen für Gelehrte und Laien giebt. Wir entnehmen der:
jelben bier einige Notizen, wie fie für Gutenbergs Jünger von
Intereſſe fein mögen.
Den Drud der Bibel beforgte Melchior Lotther in Witten:
berg. Derjelbe hatte ji) einige Jahre vorher von Leipzig nad) der
alten Univerfitätsjtadt*) Wittenberg gewandt und dort die am
reichiten ausgeftattete Druderei errichtet. Auf dem Zitel der Bibel
blieb Luther als Überfeger ungenannt; fagt er doch felbft in der
Borrede: „Es wäre wohl recht und billig, daß dies Wort ohne alle
Borrede und fremden Namen ausginge und nur fein felbjt eigen
Namen und Rede führete.”
Der Drud der Bibel wurde fehr befchleunigt. Die Evangelien
und die Apoftelgefchichte wurden zuerjt gejebt, dann twurden bald
auch neben jenen die Briefe in die Preſſe gegeben und ſpäter außer
den zwei hierzu verwandten Breflen noch eine dritte für die Offen:
barung Johannis in Thätigfeit gefeßt. So hat denn auch jeder
diejer Beftandteile eine befondere Zählung der Bogen, beziehungs:
weiſe Blätter; nur in der Offenbarung find diefe nicht gezählt. Die
allgemeine Vorrede und die zum Römerbrief find wohl erit während
des Drudes der Stüde, denen fie vorangehen, unter die Preſſe ge:
fommen; auch fie haben ihre bejondere Bogenzählung. Aus Briefen
Luthers ift zu erjehen, daß am 4. Juli 1522 das Lufasevangelium
und die beiden Korintherbriefe beinahe fertig, fowie daß am
20. Auguft die erjte Abteilung bis zum Bogen O und die zweite
bis zum Bogen F in den Händen des Geheimfchreibers Johanns des
Weifen, Spalatin, und des Kurfürſten fich befanden, denen Luther
das Werk bruchſtückweiſe zufandte. Noch am 26. Juli erivartete
Luther die Vollendung desfelben nicht vor Michaeliß, wenngleich,
wie er fagte, täglich 10 000 Bogen (zu je zwei Blättern) unter drei
Preſſen mit gewaltiger Anftrengung gedrudt würden. Die Bogen
find bier ohne Zweifel, indem fie auf beiden Seiten zu druden
waren, doppelt gezählt, alſo eigentlich 5000 Bogen täglich; die
Leiſtung iſt auch fo noch eine außerordentliche für jene Zeiten. Auch
auf eine ungemein flarfe Auflage läßt jene Zahlangabe fchließen.
Bei dem Drud erhielten die einzelnen Bücher Initialen mit
Holafehnitten nad) damaliger Weife, die Offenbarung Johannis
*) In Wittenberg beftand die Univerfität befanntlich ſchon im
Sabre 1502. Gie blieb dort bis zum Jahre 1817.
**
und
21 große Bilder (Holzfchnitte). Lebtere find ohne Zweifel aus
Lucas Cranachs Werfitatt hervorgegangen, zweifelhaft ift nur,
wie weit aus feiner eigenen Hand. Wie Cranach mit Luther im
Papfttum das Antichriftentum erfannte und ein Jahr vorher fein
»Paſſional Christi und Antichrifti« herausgegeben hatte, fo be:
merken wir in dieſen Bildern 3. B. auf einem Haupte des Draden
diefelbe dreifache päpftliche Krone wie in jenem Paſſional. (In der
wenige Donate fpäter erichienenen 2. Auflage ist aus ihr eine ein:
fache Krone getvorden, da Luther es unpafjend finden mochte, eine
ſolche polemifche Beziehung in die Ausgabe des Neuen Teitaments
aufzunehmen.)
Die Wittenberger Seber haben nicht allein ſehr angeftrengt,
fondern auch fehr forgfältig gearbeitet. E83 waren nur wenige
Drudfehler zu berichtigen: am Schluffe find unter der Überschrift
»Correctur« nur acht Fehler verzeichnet. Der Drud ging über Er:
warten jchnell von ftatten. Zu Anfang September durfte Luther
die Vollendung des Ganzen ſchon auf den Matthiasfeiertag — den
21. September — Hoffen, und da erfolgte wohl auch wirklich der
Abſchluß und die Herausgabe. Am 25. ſchickte Luther ein Exemplar
für feinen Wartburgswirt, den Schloßhauptmann von Berlepſch,
an Spalatin ab, während diefer die Ausgabe bereit vollitändig
in Händen hatte.
Das Wert wurde — wie Köftlin aus dem Brief eines
lutheriſch geſinnten Nürnberger erjehen — für den Preis von
1% Gulden verkauft, ein für jene Zeit hoher Preis, der etwa der
Summe von 25 Mark nah dem heutigen Geldwert entipridht.
Die Bibel war aber jo raſch vergriffen, daß Lotther ſchon Mitte
Dezember (alfo nad faum 3 Monaten) eine neue Auflage ver:
Öffentlichen konnte, während zu gleicher Zeit ein Nachdruck in Bafel
erichien.
Luther nahm für diefe — wie für alle feine fchriftitelle-
riſchen Arbeiten — keinerlei Honorar. Er fagt fpäter jelbit von
feiner Bibelüberfegung: „Sch habe keinen Heller dafür genommen,
noch gefucht, noch damit gewonnen; — ich habs zu Dienft gethan
den lieben Chriften und zu Ehren einem, der droben fihet, der
mir alle Stunde jo viel Guts thut, daß, wenn ich taufendmal
fo viel und fleißig gedolmetſcht, dennoch nicht eine Stunde ver-
dient hätte zu leben, oder ein gejund Auge zu haben.”
Schon jene zweite Ausgabe zeigt in einer Reihe von Stellen
Luthers ferneres Bemühen, die Überfegung und namentlich ihren
deutſchen Ausdrud noch zu verbeſſern. Er blieb Hierin uner-
{a 35,
müdlih. Eine durchgreifende Neubearbeitung feines Neuen Tefta:
ment3 erjchien 1530. Sie ging in feine erſte Gefamtausgabe der
deutſchen Bibel über, welche 1534 erfhien, nachdem bis dahin
allmählich und mit manchen Unterbrechungen auch die altteftament-
fihen Bücher von ihm verdeutfcht worden waren. Diefe ganze
Bibel gab Luther wiederum mit Freundeshilfe „aufs neue zus:
gericht" 1541 heraus und endlich zum legten Mal, auch jetzt noch
in einzelnem verbefjert, ein Sahr vor feinem Tode, 1545. Als
immer denfwürdige Grundlage feines ganzen großen Bibelwerts
ift aber die von der. Wartburg herftammende erfte Überfegung oder
September-Ausgabe des Neuen Teſtaments anzufehen und fie wird
uns im vorliegenden Werke durch die Pietät der Herren Köſtlin
und Müller-Grote in einer forgfältig hergeftellten Nachbildung
dargeboten.
Über die letztere felbft noch ein paar Worte. Schon der erfte Blick
auf das Werf läßt Kar die außerordentliche Fürſorge erfennen,
welche man der Nachbildung des älteren Mujterd hat angedeihen
laſſen. Die phototypiſche Reproduktion ift der Firma H. ©. Her:
mann in Berlin, der Drud der Firma W. Drugulin in Leipzig
zu verdanken, welche beide fich längſt eines hohen Rufes erfreuen.
Wir hätten es gern gefehen — und mit uns gewiß noch mancher
andere —, wenn auch der Lieferer des alten Büttenpapierd und
der Berfertiger des Einbandes in dem Buche felbjt genannt worden
wären, da fie durch ihre geſchickte Arbeit eine folche Ehre wohl
beanfpruchen durften. Das Werk ift in 500 numerierten Exem—
plaren hergeſtellt worden, jedes Exemplar Toftet im Subjfriptiong:
preife geheftet 50 Mar, gebunden in ganz Leder 60 Marf.
Wir wenden und nun zu Nr. IL der »Deutſchen Drudec.
Das ältefte Fauſtbuch ift es, welches uns durch die gejchidte Hand
des Profeſſors Wilhelm Scherer mit einer Einleitung von
diefem felbft dargeboten wird: das fogenannte »Spies'ſche Fauit-
bud« aus dem Jahre 1587. Auch bier überlafien wir die
Würdigung des eigentlichen Inhalts den litterariſchen Fachmännern,
um wieder jene Seite mehr ind Auge zu fallen, welche für den
Leſerkreis des Börfenblatt3 von Intereſſe fein könnte.
Das der Nachbildung zu Grunde gelegte Exemplar be:
findet fih im Befite des Herrn Heinrih Hirzel in Leipzig
und ftammt aus der durch erlefene Werfe ausgezeichneten
Bibliothek feines Vaters, des im Jahre 1877 verftorbenen Herrn
Salomon Hirzel. Die VBerdienfte dieſes gelehrten Buchhändlers
befonders um die wiſſenſchaftliche Erforſchung Goethes find,
en —
wie Profeſſor Scherer in der Einleitung mit vollem Rechte ſagt,
„allen an unſerer Nationallitteratur ernſthaft Anteil nehmenden
Deutſchen bekannt“ und unlängſt wieder durch die Herausgabe
feines vortrefflichen Kataloges von Goethes Schriften*) klar vor
das Auge geſtellt werden.
Herr Heinrich Hirzel hat die Güte gehabt, das in
ſeinem Beſitz befindliche (überhaupt ſehr ſelten gewordene) Spies:
ſche Fauſtbuch den Herren Scherer und Müller-Grote auf ziem—
ih Lange Zeit zu überlaffen, damit dasfelbe zum Zwecke der
Herausgabe ald Nr. IL der »Deutfchen Drude« möglichſt genau
nad dem Mufter hergeitellt werden könnte, was übrigens recht
ſchwierig geweſen fein muß. Herr Profeſſor Scherer jagt darüber
folgendes: Leider ſtellten ſich der genauen photographiſchen Nach:
bildung ſo ſchwere phyſiſche Hinderniſſe entgegen, daß dieſelben nicht
durchweg völlig überwunden werden konnten. Das Exemplar iſt
ſtark vergilbt und ſtellenweiſe fleckig; bei dem eigentümlichen Ver—
halten des photographiſchen Negativs zur gelben Farbe liefen daher
die Buchſtaben Gefahr, in ihrer Umgebung zu verſchwinden; dieſe
Gefahr iſt durch die Aufmerkſamkeit des Lithographen und durch
die Wachſamkeit der Korrektoren hoffentlich überall vermieden
worden. Dagegen wird man zuweilen an der inneren Seite der
Kolumne die Buchſtaben etwas zuſammengedrängt, etwas ſchmaler
als im Original finden: das Original iſt gebunden und zwar ſo
gebunden, daß von dem inneren Rande nicht viel übrig blieb; der
Photograph konnte, wenn er den Einband nicht zerſtören wollte,
auf der betreffenden Seite keine vollkommen ebene Fläche herſtellen,
ſondern die Fläche war nach der Seite des inneren Randes hin
etwas gekrümmt und gab ſomit ein verkürztes Bild.“
Auch ſonſt bot das Originalmuſter noch manche Schwierig—
keiten. Sp waren auf zwei Seiten die Randnotizen durch Beſchnei—
den beichädigt worden, ſodaß ihre Wiedergabe fait unmöglich war.
Stücklicherweife fonnte die Ergänzung aus einem Exemplar ver
Sräflih Stolbergjchen Bibliothek zu Wernigerode, welches Herr
Bibliothefar Dr. Jacobs bereitwilligit zur Verfügung gejtellt
hatte, entnommen werden. Dagjelbe Eremplar leiftete ferner durch
Bergleihung mit dem Leipziger Muſter die beiten Dienjte, nament:
lich find aus demjelben die zu ſtark vergilbten Seiten des Hirzel:
ſchen Exemplares geradezu ergänzt worden.
55 *) Salomon Hirzel, Verzeihniß einer Goethe-Bibliothek, mit Nach:
a und Yortjegung herausgegeben von %. Hirzel. Leipzig 1884,
©. Hirzel.
—
Auch die Photolithographie dieſes Buches iſt der Firma H. S.
Hermann in Berlin zu verdanken. Dieſelbe iſt ebenſo wie der
Druck, der aus der gleichen Offizin hervorgegangen, mit bewährter
Sorgfalt ausgeführt worden und ſtellt der Leiſtungsfähigkeit der
heutigen Berliner Buchdruckerkunſt das beſte Zeugnis aus.
Das Fauſtbuch iſt nur in 300 numerierten Exemplaren herge—⸗
ftellt worden ; jedes Exemplar koſtet im Subjkriptionspreife geheftet
20 Mt., gebunden (in Ganzleder oder Pergament) 24 ME., ein
Preis, welcher uns bei den bedeutenden Herjtellungsfoften und
der verhältnismäßig Heinen Auflage als recht mäßig erfcheint.
Wir empfehlen das ſchöne Werk der bejonderen Aufmerkſam—
feit des deutfchen Buchhandels. Es ift mit demfelben auf das engite
verwachfen und jtelt geradezu ein Stüd von deutihem Sein
dar, indem es das Fühlen und Denken aus früherer Zeit der Gegen:
wart wieder vor das geiftige Auge führt. Herausgeber und Ver—⸗
feger der neuen Sammlung, welche ficher fein materielles Intereſſe
dazu veranlagt hat, Hand an die Veranftaltung des eigenartigen
Unternehmens zu legen, verdienen, daß man ihre achtungswerte
Arbeit mit Wohlmwollen aufnimmt; ihre Namen find ung
Bürgen dafür, daß die Fortſetzung des Werkes nur gediegenes
bringen wird.
Darmitadt.
Eduard Bernin.
Zur gefälligen Beachtung!
Die für die Theol. Studien und Kritifen beftimmten Einfendungen
find an Profeſſor D. Riehm oder Konſiſtorialrath D. Köjtlin in
Halle a/S. zu richten; dagegen jind die übrigen auf dem Titel
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. “Die Re—
daftion bittet ergebenjt, alle an jie zu fendenden Briefe und Pakete
zu franfieren. Innerhalb des Poſtbezirks de8 Deutſchen Reiches, ſowie
aus Dfterreich - Ungarır, werden Manujfripte, falls jie nicht allzu
umfangreid find, d. h. das Gewicht von 250 Gramm nicht
iüberfteigen, am beiten als Doppelbrief verjendet.
Friedrich Andreas Perthes.
Inhalt.
Abhandlungen.
1. Uſteri, Initia Zwinglü. Beiträge zur Geſchichte der Studien und
der Geiſtesentwickelung Zminglis in der Zeit vor Beginn der refor-
matoriſchen Thätigft . . . . .. 607
2. Dorner, Das Berhältnis von Kirche und. Staat ia Dccam . .. 672
Seite
Gedanfen und Bemerkungen.
1. Bogt, Über Heinrichs VIII. nn EP IEe 7 795
2. Bogt, Über Melanchthons loci . . - ET a
gesspaazgeng:
NRezenfionen.
1, Budde, Die biblische Urgefchichte; vez. von Riehm i
2. Förster, Ambrofins, Bischof von Mailand; vez. von Ewald . „ 786
%
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Drud von Frichr. Andr. Verthes in Gotha.
RT, LRFIESTLERS TIERE HETLA TEA TEA FZenS,
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