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Full text of "Theologische Studien und Kritiken, in Verbindung mit D. Gieseler, D. Lücke ..."

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Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


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Das gejamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. &. Ullmann uns D. F. W. €. Umbreit 
und in Berbindung mit 
D. &. Saur, D. W. Beyſchlag mv D. 3. Wagenmann 


| herausgegeben 





von 


D. 3. Köſtlin um D. E. Riehm. 


Dahrgang 1885, erfles Heft. 


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Gotha. 
Friedrich Andreas Berthes. 


— * 


1885. 


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Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


— — —— 


Fine Zeifſchrift 
für 
das geſamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. C. Ullmann um D. F. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. G. Baur, D. W. Beyſchlag uw D. J. Wagenmann 


herausgegeben 


D. J. Köſtlin D. E. Riehm. 


— — — — 






< oREIC N 
Goouuan) 1885. 
—— chtundfünfzigſter Jahrgang. 
Erſter Band. 
Gotha. 


Sriedrih Andreas Perthes. 
1885. 


Cheologifche 
Studien und Kritiken. 


Fine Beitfhrift 
für 
das gejamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. C. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. ©. Baur, D. W. Beyſchlag um D. 3. Wagenmann 


herausgegeben 
von 


D. 3. Köſtlin um D. E. Riehm. 


Ddahrgang 1885, erfles Heft. 





Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 
1885. 


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Während wir das gegenwärtige Heft zum Drud 
vorbereiteten, ift D. Iſaak Auguſt Dorner, 
dem unjere Zeitfchrift ſeit 1838 längere Zeit Bin- 
durch fortgefette reichhaltige Mitarbeit verbankte, 
und den fie während der Tettverfloffenen jechs Fahre 
unter ihren nächftverbundenen Freunden nennen durfte, 
nach mehrjährigen ſchweren Leiden am 8. Juli zur 
ewigen Heimat abgerufen worden. Er war noch 
einer der Bahnbrecher in demjenigen Kreis lebendig 
gläubiger und zugleich nach wahrhaft wiffenjchaft- 
ficher Begründung und Geftaltung des Glaubens- 
inhaltes ftrebender Theologen, aus welchem unfere 
Zeitfchrift urfprünglich hervorgegangen und in ihrer 
Richtung auf die Dauer beftimmt worden ift. Bor 
anderen Hat er danad) gerungen, auf Grund ber 
biblifchen Offenbarung, in deren Würdigung und 
Verſtändnis er mit unſerer evangelifchen Kirche und 
ihren Reformatoren in felbftändiger Überzeugung 
freudig und pietätsvoll fich eins wußte, unter treuen, 
alffetigem und umfichtigem Gebrauch der verfchie- 
denen religiöfen und wiljenfchaftlichen, theologijchen 
und philofophifchen Anregungen der Neuzeit, aus 
der Tiefe chriftlichen Gefühls - mit Schleiermacher 
ſchöpfend und in theologifcher Spekulation den Ge- 
danfengehalt entfaltend und aufbauend, ein ebenſo 
Barmonifches mie umfafjendes Ganzes chriftlicher 
Lehrwiſſenſchaft herzuftellen, zugleich aber auch von 
der echt evangelifchen Idee der Kirche aus an einer 
Neugeftaltung des beutfchen Kirchentums mitzuar- 
beiten, in welcher die Anforderungen jener Idee nach 
Möglichkeit unter den Bedürfniffen und Notftänden 





ber Gegenwart zur Geltung kämen. Wie biefem 
2 feines wiffenfchaftlichen und kirchlichen Stre- 

bens und Wirkens das herzliche, ebenjo demütige 
als männliche perſönliche Chriſtentum des Dahine 
gegangenen und die reiche, edle Immere Harmonie 
feiner ganzen geiftigen Bildung und Haltung ent- 
ſprach, das hat keinem, der ihm: näher treten burfte, 
verborgen bleiben Türmen, und ift noch im befonderg 
rührender, ergreifender und erhebender Weiſe unter 
den Leiden und Arbeiten ſeiner letzten Lebensjahre 
offenbar geworden. Seit Dorner auf ben Höhe⸗ 
pundt feines Wirkens gelangt war, find die Strö- 
mungen der Theologie großenteils andere geworden; 
berechtigte nene Anforderungen haben für fie ſich 
erhoben und nene Winke und Weifungen find ihr 
für ihren weiteren Gang zuteil geworden. Aber 
die Stellung, weldie er mit jemen ihm nächftver- 
wandten Theologen in ihr emgenommen, unb bie 
Früchte, die er ihr Binterfaffen bat, werden ihre 
Bedeutung behalten, auch wenn manche ſtolze Welle 
jpäterer Entwidelung längſt wieder gefunfen fein 
und mancher neue Standpunkt längſt wieder ein 
überwundener heißen wird. 

Gerne Hätten wir ſtatt dieſer kurzen Worte 
des Andenkens ſchon ein eingehenderes Lebensbild 
des Vollendeten unferen Leſern dargeboten. Wir 
hoffen dies, während es uns hier nicht mehr mög⸗ 
lich war, bald nachholen zu können. 


D. J. Köftlin. B. Ed. Riehm. 





Abhandlungen. 











1 


Wiedertänfer im Venetianiſchen um die Mitte 
des 16. Anhrhundert3. 


Bon 
Brof. Dr. Karl Benraff. 





Unter Melanchthons Namen ift im Jahre 1539 in Nürnberg 
eine Heine Schrift gedrucdt worden in Form eines Briefes an 
den venetianifchen Senat, welche davon ausgeht, daß Servets „De 
Trinitatis Erroribus‘‘ im Gebiet der Republik Verbreitung finde 
und welde vor der Lehre des Spanier8 warnt und diefelbe be» 
fümpft. Diefes Schriftſtück ift dann in die meiften Sammlungen 
der Briefe Melanchthons, auch in die verfchiedenen Ausgaben feiner 
Declamationes Selectae (Straßburg 1541, 1543, 1546 u. f. w.) 
und zulegt in die große Sammlung feiner Werke, das Corpus 
Reformatorum (Bd. III, n. 1831) aufgenommen worden. Die 
demfelben hier wie in mehreren der oben erwähnten Ausgaben bei- 
gegebene Aufjchrift „Ad Senatum Venetum‘“ Hat freilich fehon 
da8 Bedenken des trefflihen Schelhorn hervorgerufen, der fie 
aus Gründen der Etikette beanftandet und ihr eine andere „Ad 
Venetos quosdam Evangelii studiosos“‘ vorzieht. Heutzutage 
dürfen wir nicht einmal bei der Beanftandung der bloßen Adreſſe 
ftehen bleiben. Der italienische Hiſtoriker Giufeppe de Leva Hat 
nämlich neuerdings, worauf ic) bereitS im erften Band der „Zeit⸗ 
ſchrift für Kicchengefchichte*, S. 469 ff. aufmerffam gemacht habe, 
die Echtheit des ganzen Schreibens in Trage geftellt, indem er 


10 Benrath 


eine Äußerung Melanchthons aus dem Jahre 1541 an den vene- 
ttanifchen Drator beim Kaifer, Francesco Contarini, mitteilt, wo⸗ 
nah der NReformator die ihm zugefchriebene Verfaſſerſchaft der 
Schrift abgelehnt Habe. Bei de Leva (Storia docum. di Carlo V. 
II, ©. 327, 4. 2) heißt ed aus einem offiziellen Berichte des 
Drators von Regensburg, 29. März, an den Senat: „Melanch⸗ 
thon hat fich mir gegenüber betreffs eines Schriftchens oder viel- 
mehr eines im Drud erjchienenen Schreibens, welches ‚an den 
venetianifchen Senat‘ gerichtet ift, entjchuldigt; er fagte, es ſei 
nicht von ihm, ſondern andere hätten es verfaßt und unter feinent 
Namen veröffentlicht, wie das auch fonft vielfadg geſchehe. Möchte 
auch die Sache an fich ihren guten Grund haben, fo habe er doch 
das Schriftſtück nicht verfaßt umd würde es auch ohne beftimmte 
Veranlaſſung nicht an den Hohen Senat gerichtet haben.” Wenn 
aber auch dadurd die Autorfchaft Melanchthons ausgefchloffen ift, 
jo bleibt dem Schriftſtück doch nad zwei Seiten Bin ein gewiſſes 
Intereſſe: einerfeits enthält es eine der früheften Beſtreitungen 
der fervetifchen Aufftellungen, und anderfeitS mag es al8 Zeugnis 
gelten für das Vorhandenfein reformfreundlicher Beftrebungen im 
Gebiete der venetianifchen Republik gegen Ende der dreißiger Jahre 
des 16. Jahrhunderts. Was das Iektere anlangt, jo hatte es 
freilich ſchon früher nicht an desfallfigen Anzeichen gefehlt. Abge- 
ſehen davon, daß Luthers und anderer Reformatoren Schriften in 
Venedig und von Hier aus bald Verbreitung fanden, treten auch 
beitimmtere Anhaltspunkte für die Annahme einer günftigen Auf⸗ 
nahme feiner Lehren frühe hervor), As Melanchthon 1530 
in Augsburg fi) dem päpftlichen Legaten gegenüber allzu nach⸗ 
giebig zeigte, da war es ein evangelifch gefinnter Mann in Des 
nedig, Lucio Paolo Roſelli, der ihm ernftlihe Vorhaltungen 
darüber machte. Ja fchon 1528 äußerte Luther jeine Freude 
über die Ausbreitung der enangelifchen Lehre in diefer Stadt und 
wiederhofte dies 1529 in einem Briefe an den der Neformation 


1) Unter den fehr intereffanten Excerpten, welche Prof. Thomas aus 
Sanutos Diarien pubfiziert hat (Ansbach 1888) befinden fich einige belang- 
reiche Notizen. 





Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderte. 18 


zugeneigten in Venedig lebenden Gelehrten Jakob Ziegler. Anch 
von der gegnerifchen Seite wird das Borbandenfein „Legeriicher“ 
Bewegungen um 1530 bezeugt. Die nad der Kaiferfrönung von 
Bolsgun aus nach Denedig abgeordueten Gefandten follten vom 
Senat bie Unterdrückung bderfelben fordere. Der Rat aber ent- 
gegueie ausweichend: ihr Staat ſei ein freier und könne nicht ein⸗ 
fchreiten 1). Eine im Jahre 1532 von Giob. Pietro Earaffe aus 
Benedig an Clemens VII. geſchickte, Juformation“ (abgedrudt in 
Riv. Crist. 1878, ©. 281-292) giebt beachtenswerte Einzel⸗ 
beiten betreff6 des Überhandnehmens der Kegerei in Venedig unb 
jenem Dominium. 

Reichen ſomit ſichere Nachrichten über bie erſten Spuren nen 
dem Vorhandenfein evangelifcher Regungen in Benedig bis in das 
erfte Jahrzehnt der refosmaterifchen Bewegung zurüd, fo handelte 
ed ſich doch hierbei offenbar um religidfe Anſichten, welche fich 
innerhalb ded Programmes der lutheriſch⸗orthodoxen Lehre hielten. 
Die Träger der Bewegung, welche hier in Betracht kommen: ein 
Girolamo Galateo, ber feine enangelifchen Anfchauungen mit lang» 
ſamem Dahinfterhen in elfjührigem Kerker (feit 1530) blifte; 
ein Bartolomeo Yonzio, ber 1530 dem Späherauge Earaffad ent 
wid, nad Deutfchland floh und dert Luthers Schrift „Un den 
Adel“ ins Italieniſche Üüberfegte; ein Antonio Bruccioli, ber 1532 
feine Bibelüberfegung in Venedig herausgab — fie und ihre Ge 
finnungsgenoffen ftehen in ihren Anfchauungen durchaus auf dem 
Boden der lutheriſchen Reformation. Dagegen enthält jener au⸗ 
gebfiche Brief Melanchthons bie erfte Andeutung davon, daß auch 
joihe Anfchauungen in Venedig verbreitet worden feien, welche an 
wichtigen Punkten diefen Boden verlaffen haben. Und nad dieſer 
Seite hin wirb der Brief, da er doch wohl von unterrichteter 
Seite ſtammt und da ihn Melanchthon auch dem Drator gegen. 
über inhaltlich gebilligt hat, immerhin zu beachten fein. Leider giebt 
er nur ganz vage Andentungen: der Schreiber bat gehört, daß 
man dert Servets Schrift verbreitet; er ermahnt deöhalb die 
Frommen, „auf die Hinterliftigen Anfchläge des Satans ihre Auf- 





1) Bi Thomas a. a. O. ©. 155 (72. März 1530). 


12 Benrath 


merffamfeit zu richten, und gerüftet zu fein, um einen folchen 
Feind abzuwehren“ ; endlich, ſich zu hüten, „daß fie nicht den Trug⸗ 
chlüffen beiftimmen, welche gemacht werden, um die echte Lehre 
der Schrift zunichte zu machen“. Das Eine alfo, und nicht mehr, 
fäßt ſich aus unſerem Briefe erhärten; daß gegen 1538 jener 
Schrift Servets, wie jo vielen anderen, Eingang in Venedig ver- 
fhafft war, — daß fie ſich bedentender Verbreitung und bemer- 
tenswerten Einflufjes erfreut oder längere Zeit zirkuliert bat, ift 
daraus nicht zu entnehmen; im Gegenteil, dagegen fällt ins Ges 
wicht, daß ihr Titel weder bei den Verhören, wie die Inquifition 
fie jpäter mit den des Glaubens wegen Angeklagten oder Ver⸗ 
dächtigen anftellte, noch auf den Liſten der bei ſolchen Tonfiszierten 
Bücher, wie fie den Alten beiliegen, irgendwo, foweit mir belannt 
ift, begegnet. Daß Servet felbft nie in Venedig gewefen, hat 
er im Verhör vom 28. Auguft 1553 ausdrüdlich erklärt. 

Auch der Briefwechjel der Evangelifchgefinnten in Italien mit 
Buster und Luther in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts 
beobachtet über unfere Trage vollftändiges Schweigen. Butzer hat 
an die in Bologna und Modena im Lauf des Jahres 1541 
dreimal gejchrieben, im Auguft, September und Dezember (f. 
Scripta anglicana, ©. 687—691). Seine Briefe betreffen, ab» 
gefehen von der allgemeinen Lage des Proteftantismus in Deutſch⸗ 
land und Stalien, nur die auch jenfeitS der Alpen zu Tage getre- 
tenen Saframentsftreitigleiten: diefe beklagt er auf das tieffte und 
ermahnt zum friedlichen Ausgleihd — von anderen „VBerftörungen 
dur) den Satan“ weiß er nichts. Luther bat etwas fpäter direkt 
mit den „Brüdern” im PVenetianifchen Torrefpondiert.. Dort war 
es wahrſcheinlich Baldaſſare Altieri, der Sekretär des englifchen 
Geſandten Harvel, welcher den Briefwechfel einleitete. Ein Schrei⸗ 
ben vom 26. Novbr. 1542, im Namen der Brüder von Venedig, 
Vicenza und Treviſo abgefaßt, klagt über die auch dorthin über: 
tragenen Zwiftigleiten in der Sakramentslehre, bittet um Fürs 
ſprache bei den proteftantifchen Fürften, damit biefe fi) veranlaßt 
jehen möchten, Träftiger zugunften der bedrängten Glaubensgenoſſen 
beim Senate einzutreten — enthält aber betreffs des Vorhanden⸗ 
ſeins proteftantifchradilaler Richtungen oder Meinungen im Bene 





MWiedertäufer im Venetianiſchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 18 


tianifchen nicht die geringfte Andeutung. Auch das von Altiert 
verfaßte DBegleitfchreiben, mit welchem biefer Brief unter dem 
29. Novbr. 1542 an Veit Dietridy) behufs Beforgung an Luther 
gefandt wurde, giebt, foweit fein Wortlaut und Anhalt (ſ. Neu⸗ 
deder, Merkw. Altenft., S. 697ff., A.) bekannt ift, auch nicht 
den geringften Anhalt, woburd die Behauptung in dem angeblichen 
Briefe Melanchthons beftätigt würde. Ebenfo wenig enthält die 
etwas fpät, am 13. Juni 1543, ergangene Antwort Luthers nad 
diefer Seite hin eine Andeutung. Denn die „falihen Propheten“, 
von denen der Neformator fchreibt, daß fie „auch uns plagen 
mehr denn der Antichrift (Nom) felbjt, und noch nicht ruhen, ob» 
wohl ihre Kräfte gebrochen find" — das find, wie aus dem Zu⸗ 
ſammenhange deutlih hervorgeht, die „Saframentierer“, d. h. die 
Anhänger der Zwinglifchen Abendmahlslehre. Auf diefen Brief 
Zuthers erfolgte eine Antwort der „Brüder“, unter dem 30. Augujt 
1543. Das umfangreiche Schreiben (mitgeteilt in der „Zeitſchr. 
f. Kirchengeſch.“ 1877, ©. 150—157) enthält ebenfo wenig wie 
das frühere eine Andeutung betreff8 der obigen Trage. Ya, die 
Antwort Luthers darauf vom 12. November 1544, welche fich 
auh auf Mitteilungen des Flacius Illyricus über die religiöfen 
Zuftände dortzulande bezieht und dabei doch nur auf die „giftigen 
Lehrer, welche fich einfchleichen, nämlich die Sakramentierer“ hin⸗ 
weift, von anderen „giftigen Lehrern“ aber ganz ſchweigt, läßt 
mit Sicherheit darauf ſchließen, daß gegen die Mitte der vierziger 
Jahre wenigftens in Deutjchland nicht davon befannt war, daß 
eine bogmatifch-radilale Nichtung Anhänger unter den der Nefor- 
mation BZugeneigten in Venedig gefunden habe. Hat doch auch 
damals Melanchthon felbft, unter dem 31. Mai 1545, wie er an 
Camerarius ſchreibt (Corp. Ref. V, n. 3195), „den Stalienern“ 
auf eine nicht näher bezeichnete theologische Trage, welche ihm Veit 
Dietrich im Winter 1544 übermittelt hatte, geantwortet, ohne, 
wie fich dies aus der Andeutung Über den Anhalt feines verloren 
gegangenen Briefes fchließen läßt, auf die in der Schrift von 
1539 verhandelten Punkte einzugehen ?). 


1) Heri respondi Italis de Theologica quaestione, quam Vitus misit 


14 Benrath 


In der That fprechen alle Anzeichen dafür, daß ein Heraus 
treten aus den dogmatiſchen Grenzen wie die ortboder - [utheriiche 
und die ſchweizeriſche Reformation fie zog, wenigftens in bemerkens⸗ 
werterem Umfange in Venedig und feinem Gebiete vor dem Ende 
der vierziger Jahre wicht ftattgehabt Bat. 

Das war überhaupt die Zeit, in welcher die religiöfe Bewegung 
dortzulande febhafter zu werden begann. Man erleımt dies an 
den Vorkehrungen, welche zu gleicher Zeit behufs Unterdrücung 
derjelben getroffen wurden. In Rem war befanntlih fchon 1542 
bas Sant’ Uffizio eingerichtet worden. Alsbald verfuchte bie 
Rurie, na deſſen Muſter auch in den übrigen itaftenifihen 
Staaten die Inquiſttion neu zu onganifieren und fp das ganze 
Land mit einem Ne derartiger Auftalten zu überziehen. Wo ber 
päpftlihe Einfluß den Ausichlag gab, nder wo, wie in Bologus, 
pupftliche Herrſchuft beftand, gelaug dies leicht; aber um ärßerſten 
Süden wie im Norden ber Halbinſel fiteßen biefe Bemühangen 
anf Weberftand. In Neapel fcheiterte trog ber Kannivenz des 
Bizelönigs der Verſuch, die Inquiſttion nach dem jpanifchen im 
Rom nboptierten Muſter zu reorganifieren, nm dem bis zum Auf- 
ruhr gehenden Widerftande der Bevölkernng (1546), und in Ber 
nedig wiberfeßte firh die Staatsräſon dem Verlangen der Kurie, 
ihr rein geiftlihes Tribunal auch im Gebiete ber Mepublif eta⸗ 
blieren zu dürfen. Der Senat genehmigte die Reubildung des 
Tribunale® nur unter der Bedingung, daß neben den drei geiſt⸗ 
lichen Mitgliedern, dem päpftlichen Legaten, dem Patriarchen refp. 
defien Vikar, und dem Pater Inquiſitor, auch drei weltliche nom 
Seat felbft zu beftimmende als „Aififtenten“ fungieren ſollten, 
wie das ſchon gegen Ende des 13. Jahrhunderts eingerichtet wor⸗ 
den war. Dieje drei „Savj“ find von 1547 an wieder regel⸗ 
mäßig beftellt worden und hatten das ftantläche Intereſſe bei allen 
Brozefjen und Verhören und fonftigem Vorgehen der Inquiſition 
zu wahren, auch darauf zu achten, daß das Tribunal nicht feine 


proxima hyeme. Multum est Platonicarum Hewo:&v in Italica Theo- 
logia.. Nec parvi negotii est traducere mentes ab illa xouroloyf« ad 
res veras et simplicem explicationem (C. R. V, &p. 767). 


Wiedertäufer im Benetianifchen ımm die Mitte des 16. Jahrhunderts. 15 


Kompetenz überjchritte und etwa Fälle, die vor eine anbere Be⸗ 
hörde gehörten, vor fein Forum zöge. Was aber die Art der 
Unterfuchung oder die Feſtſetzung des Strafmaßes gegen bie Ketzer 
onging, jo hatten die „Savj“ ſich dabei jedes Eingriffes zu ent 
halten und mur für die Ausführung der vom ihnen nicht einmal 
mit unterzeichneten Urteile einzutreten. 

Das war man zwar nicht fo viel wie die Karie wünſchte, 
aber es lag doc für ſie in dieſer Organiſation eine Garantie, 
daß die von ihren Vertretern gegen bie angeflagten und progeifierten 
Ketzer verhängten Strafen auch wirklich in Anwendung gebracht 
würden. Kurz vor der Wahl ber erften drei „Savj“, unter dem 
21. Mai 1547, Hatte fi der damalige Nuntins Giov. della 
Caſa darüber bejchwert, daß er nicht in der Bage ſei, einem der 
Ketzerei überwieſenen Mönde, Fra Ungelioo, welcher Abſchwörung 
geleiftet, weben der geiftlichen Strafe nach eine andere aufzuerlegen, 
- da der Senat deren Ausführung nicht geitatten würde !). Später: 
Hin dagegen, nad) der Nenordnung des Sant’ Uffizio, hat ber 
Senet den Vollzug ber Strafen ohne weiteres übernommen, bei 
Zodeßurteilen freilich Hat er ab und zu die Ausführung hintan- 
gehalten, vielleicht auch in einzelnen Fällen eine Umwandlung in 
ein anderes Strafmaß durchgeſetzt. Daß man in Rom mit ber 
neuen Einrichtung tro& aller Vorteile, welche fie gewährte, nicht 
zufrieden war, iſt erlärlich: fie erfehten dort amter dem Gefichts⸗ 
winkel seiner unberechtigten und unbegründeten Einmifchung welt⸗ 
ficher Gewalt in die kirchliche Jurisdiktion, der ein abſolutes Necht 
in allen Fällen, wo es fih um Glaubensfragen handelte, zuge⸗ 
Ihrieben wurde. Schon der Umftand, daß man fi in Venedig . 
entſchieden weigerte, Angehörige des Dominiums, auch Kleriker 
oder Mönche, ſelbſt im Falle erwieſener Ketzerei, nach Rom zur 
Aburteilung zu ſenden, veranlaßte immer wieder die lebhafteſten 
Vorſtellungen teils in Rom an den venetianiſchen Geſandten, teils 
ſeitens des Muntius an den Senat. 


N S. Lettere d’uomini illustri, Parma 1853 I, 168. Übrigens ſoll 
nad einer andermweitigen Nachricht (vgl. Cantü, Gli Eretici d’Italia III, 
133) die Strafe lebenslänglichen Kerkers doch an jenem vollzogen worden fein. 





16 Benrath 


Daher denn in den folgenden Jahren ftetd nee Forderungen 
feitens der Kurie dahingehend, daB das geiftlihe Zribunal ganz 
freigeftellt werde. Während aus dem Dftober 1548 ein Beſchluß 
des Senates vorliegt, welcher die Einrichtung vom vorhergehenden 
Jahre beftätigt und hervorhebt, daß diefelbe ihrem Zweck vollftäns 
dig entjpredhe (sono cessate le conventicole che prima si face- 
vano in diversi luoghi publici et privati di questa cittä) und 
der num ben bewährten Grundfag, daß die Staatsbehörbe ftets in 
den Snquifitionstribunale mit vertreten fein fol, aud auf die 
übrigen Städte des Dominiums ausdehnt — jo erhob im Syahre 
1550 abermals die Kurie energiſch Einfprache gegen eben dieſes 
Prinzip: Unter dem 14. Juni 1550 fchreibt der Orator Matteo 
Dandolo aus Rom, daß der frühere Legat Mignanelli im Auftrage 
des Papftes fich bei ihm über angebliche® UÜberhandnehmen der 
Ketzer im Gebiet der Republit befchwert habe: man betreibe dort 
die Derfolgung derfelben allzu lau und ber Papſt wolle einen jpes 
ziellen Legaten Hinfenden, um die Peft auszurotten. Er habe, fo 
berichtet Dandolo weiter, den Erlegaten zu beruhigen gefucht: dem 


Senate fei e8 ernft mit der Ausrottung der Ketzerei, das Tribunal 


in Benedig und die übrigen unter Affiftenz der Latenmitglieder 
thäten ihre Schuldigkeit. Aber Mignanelli habe auf neuerdings 


bekannt gewordene Fälle Hingewiefen: wie in Brescia und Ber 
gamo, bejonder8 aber an der Univerfität Padua die Ketzerei fih 
verbreite, bier durch einen Fürzlich dorthin berufenen Brofeflor 
ber Rechte aus Piemont), Am 27. Zuni 1550 hatte Dandole 


eine Aubienz beim Papfte, wo derſelbe Gegenftand wieder zur 
Sprade kam. Der Bapft Hatte Berichte über die Ausbreitung der 
Ketzereien im VBenetianifchen, die dem Gefandten als fo übertrieben 
vorfommen, daß er fich erlaubte, ihnen die Zunerläffigfeit abzu⸗ 


ſprechen. Unter dem 28. November d. J. berichtet Dandolo über 
eine abermalige Audienz in berfelben Angelegenheit: eine heftige 


Scene ſei zwifchen dem Bapfte und ihm erfolgt — der Papft 
babe ihm fchließlich ein ſchon fertige® Dekret gezeigt, durch welches 
alle diejenigen, welche ſich in die geiftliche Gerichtsbarkeit ein. 


1) Es war Matteo Gribaldi. 








Wiedertäufer im Venetianiſchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 17 


mifchen, exfommuniziert werden follen — natürlich der Senat 
in erfter Linie. Es half nichts, daß der Senat mittlerweile 
(Beihluß v. 3. November 1550) die Snquifition im Dominium 
noch verjhärft Hatte und daB er unter dem 22. November zu 
weiteren Meldungen an ben Papft dem Orator fihrieb, jener 
Hauptleger in Brescia jei ſchon progeffiert und feine Hinrichtung 
befchloffen — noch zehn Monate lang ſchwebte das Damofles- 
fchwert der Exkommunikation über Venedig, und erft im September 
1551 ward eine Übereinkunft gefchlojfen: Der Senat giebt zu, 
dag ein bejonderer päpftlicher Legat (der erwählte Bifhof von 
Montefiascone) die Inquiſition im Gebiete der Republik in die 
Hand nehme, freilich unter „Aſſiſtenz“ der zu beftimmenben Laien. 

In alt diefen Verhandlungen ift, wie aud) in den Berichten 
des Nuntius Della Caſa von 1546—1547 nur von „Lutherifchen“ 
Ketzern und „lutheriſcher“ SKegerei die Rede. Vielleicht, daß man 
die beiden Richtungen der reformatorischen Bewegung, die ortho= 
dore und die anabaptiftifhe — um ben etwas fpäter aud in 
Italien dafür üblichen Ausdrud vorweg zu nehmen — gegnerifcher- 
feitö noch nicht unterſchied — vielleicht auch, daß die lettere noch 
vorjichtig ihre DVerfchiedenheit von jener oder überhaupt ihre 
Eriftenz zu verbergen wußte. Denn daß die täuferifche Bewegung 
im Jahre 1550 in dem venetianifchen Gebiete bereits zu weiter 
Perbreitung gelangt war, daß fie zahlreiche Konventikel zählte und 
fi einer fürmlichen Organtfation erfreute — das wird fih uns 
aus einem Aktenſtücke ergeben, welches gegen Ende 1551 in bie 
Hände der römischen Inquiſition gelangt und von dieſer zur 
Kenntnisnahme und behufs weiteren Vorgehens der Inquiſition 
und dem Rate der Zehn in Venedig vorgelegt worden tft. 

Unfere fonftigen gleichzeitigen Quellen freilich berichten nichts 
Zupverläffigee. Es findet fich da nur, und zwar zuerft in Wiszo⸗ 
watys Narratio compendiosa, quomodo in Polonia a Trinitariis 
Reformatis separati sint Christiani Unitarii (zuerft 1678 ge⸗ 
drucdt) die befannte Nachricht über die „Collegia Vicentina“, 
d. 5. angeblihe Zufammenfünfte von antitrinitarifh Gefinnten, 
welche ſchon fo viele Erörterungen und Vermutungen hervorgerufen 
dat, und welche zulegt eingehend von Trechſel (die N: 

Theol. Stud. Jahrg. 1885. 





18 Benrath 


Antitrinitarier vor Fauſtus Sozin (Bd. II, S. 391 — 408) im 
Aufammenhange behandelt worden iſt. Xrechfel kommt zu dem 
zweifellos richtigen Mejultate, daß hier zwar ein biftorifcher Kern, 
etwa eine Familientradition oder fonftige Überlieferung, zum Grunde 
Ttege, welche Wiszowaty als dem Enkel des Fauſtus Sozin zuge: 
fommen ſei, daB aber ſchon die Darjtellung bei ihm, noch mehr 
aber bei den beiden an ihn fich anlehnenden Sand und Lubieniecky, 
mit ungehörigen Zuthaten ausgeftattet und jedenfall® die vorliegen: 
den Nachrichten höchſt unbeſtimmter Natur geweſen feien. Ja, was 
die angeblich in Vicenza verhandelten bogmatifchen Einzelfragen 
betrifft, welche Lubieniecky kennen will und aufzählt, fo weiſt 
Trechſel darauf Hin, daß wir darin vielmehr eine Zurüddatierung 
fpüterer, zur Zeit bed Autors zwar gangbarer, aber um 1546 in 
diefer Form no nirgendwo verörterter Fragen des fozinianifchen 
Lehrgebietes vor uns haben. 

Wie ſich übrigens die Tradition von den „Collegia Vicen- 
tina‘ gebildet Habe, ift nicht fchmer zu ergründen und ift and 
für unfere Frage von Intereſſe. Das angegebene Yahr 1546 
bietet einen beachtenswerten Fingerzeig: es ift dies nämlich dasſelbe 
Jahr, in welchem der junge Lelio Sozini aus Siena nah Ober⸗ 
italien fam, zwar wohl nicht nad) Vicenza, aber ficher nad) Venedig, 
um dort eine Zeit lang feinen Aufenthalt zu nehmen. Es ift auch 
das nämlide Jahr, in welchen Papſt Paul IV. auf einen Be 
richt des Kardinals Ridolfi Hin ein Breve an den venetianifchen . 
Senat richtete und im erregten Ausdrücken deffen Mitwirkung zur 
Austilgung dee umter den Augen des Konzils von Trient ſich breit 
machenden Ketzerei — freilich der „lutheriſchen“ — forderte (vgl. 
Raynaldus, Annal. ad a. 1546). Diefe Thatjache, in Verbin«- 
dung mit der ferneren, daß in ben fünfziger Jahren gerade in 
Bicenza eine größere Anzahl von ſolchen Evangelifchgefinnten fich 
vorfand, welche in ihren religiöfen Anfehauungen die Grenzen 
ber orthodoren Reformation überſchritten, reicht vollſtändig zur 
Erfiärung der Entftehung des Mythus von den „Collegia Vicen- 
tina“ aus. Leider laffen uns die Quellen über den Aufenthalt 
Socinis in Venedig ganz im Dunkeln. Wir erfahren nicht, mit 
wen und in welchen Kreifen er verfehtte; wir willen nit, ob 





Miedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 19 


und in welder Form er dort Nahrung fand, um „die fubjeltive 
und ſkeptiſche Richtung feines Geiftes zu verftürken“ — wie bies 
Trechſel a. a. DO. S. 142 einfach vorausjegt; wir haben noch 
weniger das Recht mit demjelben Trechſel anzunehmen, daß Sozini 
gerade diefe Richtung „unter einem großen Zeile der Evangeliſch⸗ 
gefinnten in Venedig“ vorfand. Das iſt aus der Luft gegriffen 
und hat feine einzige doch ſehr hinfällige Stüge in dem angeblichen 
Briefe Melanchthons. Daß aber etwa Lelio Sozini felber bie 
„jubjektive und ſkeptiſche Richtung” feines Geiftes bei feinem Auf- 
enthalte 1546 in Venedig eingepflanzt habe, läßt fich deshalb nicht 
annehmen, weil diefer ohnehin kaum 21ljährige Jüngling thatſäch⸗ 
(ich erft nachdem er Venedig verlaffen im folgenden Jahre 1547, 
tait dem Manne in Berührung gelommen ift, welcher den ent» 
S:heidenden Einfluß auf fein und vieler anderen religidfes Denken 
gehabt Hat — Camillo Renato, welcher damals in Chiavenna ale 
Flüchtling lebte. 

Diefer Sicilianer, 1542 ins Veltlin gekommen, zunächft in 
Caspano als Haunslehrer bei Rafaello de Paravicini thätig, dann feit 
1545 in Zraona, Chiavenna und Vicofoprano, ift einer der erften 
italtenifhen Bertreter derjenigen evangelifchereligiöfen Richtung, weiche 
man in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung Heute noch bie 
„anabaptiftifche“ zu nennen pflegt, obwohl die Ablehnung der 
Kindertaufe nur ein äußerliches, bei vielen nebenſächliches Moment 
bildet. Nicht übel Hat Alerander Gordon (Theol. Review 1879, 
S. 305) Camillo mit George For in Parallele geſtellt umd ihn 
einen „Lalviniftiihen Quäker“ des 16. Jahrhunderts genannt. 
Denn das Zentrum feiner Theologie bildet die Prädeſtinations⸗ 
lehre: wer erwäßlt ift, und nur diefer, hat den „Geift“ (christia- 
num illum spiritum). Diejenige Seele, welche der heilige Geiſt 
nicht zum Leben erwedt, ftirbt; aber die Kinder des „Geiftes“ 
Ihlummern nur im Tode, um damm eine erneuerte, rein geijtige 
Form des Dafeins zu erhalten. Wer des „Geiftes“ Kind ift, 
bebarf feines äußeren Geſetzes: das Geſetz ift nur für diejenigen, 
welche das innere Licht entbehren. Die Salramente find nichts 
als Symbole von Wahrheiten, welche den Erben des Reiches ſchon 
verliehen find. So ift das Abendmahl ein Gedächtnismahl, fein 

98% 


20 Benrath 


Zwei die Erinnerung an Ehrifti Tod; es ift das äußere Zeichen 
davon, daß bie gläubige Seele Ehrifti Leib und Blut genießt. 
Und die Zaufe ift aud nichts anderes als eine äußere Darftellung 
davon, daß der alte Menſch abgelegt wird, bezw. abgelegt ift. 
Ob fi bei Camillo damit eine direkt antitrinitarifche Richtung 
verband, ift zweifelhaft. Dagegen bat er feine Berwerfung der 
Rindertaufe offen ausgefprochen, freifih nur unter Bezugnahme 
auf die mit ihr bei der römiſch⸗katholiſchen Zaufhaudlung verbun- 
denen wiberbiblifhen und abergläubifchen Zuthaten, und wenn er 
nicht felbft auf Wiedertaufe drang, fo „kam es Lediglich daher, 
weil er der Taufe überhaupt feinen wefentlichen Nuten und ebenjo 
wenig eine Notwendigkeit weder für ben Einzelnen noch für die | 
Kirche beilegte“ (Trechſel a. a. O., ©. 94f.). 

Diefe und ähnliche Lehren, wie fie feit der Mitte der vierziger 
Jahre in den Gemeinden im PBeltlin verbreitet wurden, zugleich 
‚aber auch die Züricher und andere Theologen in Bewegung fetten, 
fanden bald weiteren Anklang in Stalin. Um 1547 oder 1548 
zeigt fich zuerft ein gewilfer Ziziano, auch ein um feines Glau⸗ 
bens willen flüchtiger Italiener, bald biesfeits, bald jenjeits der 
Alpen, ohne einen feiten Aufenthalt zu haben. Er ftellte die uns 
mittelbare Erleuchtung durch den „Geift“ über die Unterweiſung 
dur die Schrift und griff eine Reihe von dogmatifchen Lehren 
an — um dann freilih in Chur, durch Todesandrohung ge 
zwungen, alles zu widerrufen. Für ihn und feine Anhänger ſetzte 
ih, in Erinnerung an das Vorgehen der Wiebertäufer in den 
zwanziger Jahren, der Kollektivname „Anabaptijten” feft, der nun 
zur Bezeichnung jeglichen Gegenjaßes zu ben beiden Hauptformen 
der orthodoxen reformatorijchen Kirchenbildung angewendet wurde. 

Jener Tiziano fcheint einer der erften gewefen zu fein, welche 
die anabaptiftiiche Lehre in Italien verbreiteten. Ich entnehme 
das dem oben erwähnten Altenjtüde, einem im Oftober 1551 in 
Bologna abgelegten, dann durch Vermittelung der römiſchen In⸗ 
quifitton in Abſchrift nach Venedig gelangten und dort (Archivio 
di Stato, Sant’ Uffizio, Busta 9) von mir anfgefundenen höchſt 
bedeutfamen und inbaltreichen Geftändnis bes Expriefters Don 
Pietro Manelfi aus San Vito. Diefer mag felbft berichten. 











Wiedertäufer im Benetianifhen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 21 


Por etwa zehn oder elf Jahren, fagt er, fei er infolge von 
FTaftenpredigten eines Kapuziners, Fra Hieronimo Spinazola, zu 
der Überzeugung gelommen, daß die römifche Kirche der h. Schrift 
entgegen, daß fie etwas Xeuflifches und von Menſchen erfunden 
fi. In Ancona fei er darauf durch jenen Kapuziner zu Bernar⸗ 
dino Ochino geführt worden, der ihm das bekräftigt und mit 
Sähriftitellen belegt Habe, der Bapft fei der Antichriſt. Ochino 
habe ihm auch Häretifche Bücher gegeben, wie Luthers Auslegung 
des Briefes an die Galater, Melanchthons Erklärung zu Mat⸗ 
thäus. Manelfi läßt nun feine Stelle — er war Briefter in ber 
Didcefe Bologna — im Stich und beginnt ein längere Wander- 
leben, welches ihn in perjfönliche Beziehung zu den Evangelifch- 
gefinnten in Vicenza, Benedig, Trevifo, Iſtrien, dann Novigo, 
Ferrara, Florenz, Pifa und Lucca bringt. Zwei Jahre lang fei 
er durch diefe Orte gezogen, überall die „Iutherifche” Lehre verfün« 
digend. Da’ gejchah es in Florenz; — bie Zeit wird nicht genauer 
angegeben, aber alles fpricht dafür, daß der Aufenthalt dort in 
1548 oder 1549 fiel —, daß drei Männer mit ihm. zufammen- 
famen, jener Ziziano, fowie Sfeppo von Ajola aus Treviſo 
und der Schulmeifter Lorenzo aus Mobiano, die ihn mit den 
anabaptiftiichen Lehren befannt machten und zwar zunächft mit den 
folgenden: 1) Die Taufe fei von Wert nur für die Gläubigen 
und auch nur bei folden in Anwendung zu bringen, 2) bie 
Obrigkeit jei nicht Kriftlih (li magistrati non posser essere 
cristiani); 3) die Saframente feien nur Zeichen, übertrügen 
jelbft Teinerlei Gnadengabe; A) bie h. Schrift ſei die alleinige 
Richtſchnur des Glaubens; 5) die römifche Kirche fei teuflifch, 
ganz und gar widerchriftlih — daher, wer von ihr getauft, müſſe, 
um Chrift zu werden, wieder getauft werden. Diejen Lehren hat 
Manelfi fih angefchloffen. „Nach einigen Monaten“, als er ſich 
in Terrara befand, traf er dort einen früheren Regularkleriker, 
Iſeppo von Bicenza, welcher denfelben Anfchauungen Huldigte und 
ihn überredete, fih aufs neue taufen zu laſſen. Jener Tiziano 
vollzieht die Taufe an ihm und noch an vier anderen — darunter 
ein Ermönd Namens Francesco aus Lugo —, und alle mit 
einander gehen nach Vicenza. Dort haben nun wirklich im Jahre 


2 Beurath 


1549 oder Anfangs 1550 Beſprechungen ſtattgehabt, welche zwar, 
wenn man will, „Collegia Vicentina“ genannt werben können, 
an benen aber weder Lelio Sozini, noch irgendeiner der von ben 
Geſchichtſchreibern der MUntitrinitarier genannten hervorragenden 
Berfönlichkeiten teilgenommen bat. Als man bie chriftologifche 
Frage beſprich — se Cristo fusse Dio o huomo —, entftebt 
Streit: da beſchließt man, alle Geiftlihden (ministri) aller Ge⸗ 
meinden zu einer gemeinfamen Beratung zuſammenzuberufen. 
Man erwählt zwei Männer, bie umberreifen und die Aufforderung 
überbringen follen: je zwei Abgeordnete foll jede Gemeinde ſchicken 
zu tem im September 1550 in Venedig zu baltenden anabap- 
tiftifhen Konzil. 

Wir ftehen damit vor einer höchſt merkwürdigen und befang- 
reihen, bisher durchaus unbekannten Thatſache. Wer hätte ge 
dacht, daf die Nachricht des Wiszowaty ſich als eine folche heraus⸗ 
ftellen würde, die nur Ort und Zeit ungenau angiebt, der aber 
ein Ereignis zum Grunde Tiegt, welches noch weit wichtiger und 
eingreifender für die ganze radikale Reformbewegung geweſen ift, 
al8 jener ahnte und wir bisher mit ihm ahnen konnten? 

Zunächft ift fchon die große Zahl der Teilnehmer an diefem 
Anabaptiftentonzil überrajchend: obwohl jede Gemeinde nur zwei 
Vertreter zu ſenden hatte und nicht alle in der Lage gewejen find, 
zwei zu fenden, fo belief fich die Zahl der Teilnehmer doch auf 
ungefähr fehzig. Die Einladungen waren, wie beftimmt, münd⸗ 
fih durch zwei in der Verfammlung zu Vicenza gewählte Männer 
überbradt worden: durch Oberitalien waren diefe umbergezogen, 
dann nad Graubünden, unb in der Nord⸗Schweiz auf der einen 
Seite bis Bafel, auf der anderen bis St. Gallen. Aus der 
Schweiz waren 20 bis 30 erfchienen. Don den Teilnehmern 
werben im einzelnen durch Manelfi namhaft gemacht: Tiziano und 
Iſeppo, die ihn felbft zuerft in die anabaptiftifchen Lehren einge- 
fügrt Hatten; ein Nicolao und ein Giacometto von Treviſo; der 
frühere Abt Hieronimo Buzano, auch Buzzalle genannt, aus 
Neapel; Benedetto da Afola aus Treviſo; ein gewiſſer Ginfio 
und Hier. Speranza aus PVicenza; einer je aus Verona und aus 
Padua, deren Namen Manelfi nicht mehr weiß; dann Celio ©e- 


Wiedertäufer im Benetianifchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts. 2B 


condo Eurione aus Bajel und „il Nero" (Francesco Negri) aug 
Shiavenna. Diefe beiden legteren find in der Geſchichte der Mer 
formatton in Sytalien befannt. Francesco Negri aus Baſſano, 
Berfaffer der ,‚Tragedia del Libero Arbitrio“ und ber ergrei» 
fenden Schilderung des Märtyrertodes des Tyanino von Faenza 
(1550), welche auch in zwei deutfchen Ausgaben erjchienen ift, 
lebte damals in Chiavenna und beteiligte fih an ben Lehrftreitig 
teiten zwijchen dem orthodoxen Mainardo und Camillo Renato. 
Daß er, der ſchon 1547 bei den Streitigkeiten im Veltlin feine 
anabaptiftifche Nichtung nicht verhehlt hatte, bier erjcheint, ift nicht 
zu verwundern. Anders verhält es fih mit Curione, der zwar 
auch gewilfen orthodoxen Lehren gegenüber ſtets größere Freiheit 
bewahrt bat, von dem aber bisher nicht befannt war, daß er 
direfte Beziehungen zu den Anabaptiſten unterhalten hat (vgl. 
C. Schmidt, C. ©. Gurioni, Zeitſchr. f. Hift. Theol. 1860, 
Hft. IV). Von den Übrigen ift fonft noch befannt der Erabt 
Buzzale; er war Borfteher der Gemeinde in Padua; er hatte 
feine auf 1000 Dukaten jährlich fich belaufende Pfründe der Ges 
meinde zumeifen wollen, aber dieje wollte „von dem Blut der 
Beitie" nichts nehmen. Buzzalle fcheint befonderd großen Einfluß 
auf die Beichlüffe des „Konzils“ gehabt zu Haben. Als nicht 
ganz bedentungslos nah dieſer Seite Hin mag es gelten, daß 
Wiszowaty ihn unter den von ihm Aufgezählten an erfter Stelle 
bringt. | 

Die Teilnehmer wurden in verfchiebenen Häufern und Miet 
wohnungen in Venedig untergebracht, höchſtens 3 oder 4 zuſam⸗ 
men. Manelfi ſelbſt hatte die Obliegenheit, für die Fremden die 
Quartiere zu bezahlen und giebt an, daß er die gefamte Lifte in 
Padua niedergelegt habe. Die „Brüder“ in Vicenza, Padua, 
Treviſo und Eittadella brachten die Koften für den Unterhalt auf, 
die bei der mäßigen und befcheidenen Lebensweife verhältnismäßig 
gering waren. Die Neifeloften aber wurden je feitens ber Ge⸗ 
meinden für ihre Abgeordneten beftritten. Faſt täglich verfammelte 
man ſich: die heilige Schrift Alten und Neuen Zeftamentes warb 
allen Beiprechungen zum Grunde gelegt. Mit gemeinfamen Ge- 
beten wurden bie Verhandlungen jedesmal eröffnet. Dann forderte 


24 


Benrath 


der Borfigende auf: Wer die Gabe ded Wortes Hat, möge auf 
treten und, was er für richtig hält, vortragen zur Erbauung und ' 
zur Erledigung der Fragen, die uns Bier verfammelt haben. Über 
alfe einzelnen Punkte erfolgte dann gemeinfame Beſprechung. Drei 
mal feierte die Verfammlung das Heilige Abendmahl. Vierzig 
Tage lang dauerten die Verhandlungen. Enblih war bie ge 
wünfchte Einigung betreffd der beregten Fragen erzielt, die num in 
en Sätzen feitgeftellt wurden: 


10. 


1. Ehriftus ift nicht Gott, fondern Menſch, gezeugt von Joſeph 


und Maria, aber voll aller göttlichen Kräfte. 


. Maria hat nachher noch andere Tüchter und Söhne geboren, 


wie dies aus mehreren Stellen der Evangelien hervorgeht. 


. &8 giebt feine Engel als bejondere Klaſſe von Wefen; wo 


die h. Schrift von „Engeln“ redet, meint fie „Diener“, d. h. 
Menſchen, welche von Gott zu beftimmten Zwecken gefandt 
werden. 


. &8 giebt nur einen Xeufel, nämlich die fleifchliche Klugheit 


(prudentia humana). Unter der Schlange, welche nad 
Mofes’ Bericht Eva verführte, iſt nichts anderes als dieſe 
zu verjtehen. Beweis: Wir finden in der Schrift nicht, daß 
irgendein von Gott geſchaffenes Wejen Gott feindlich tft, mit 
Ausnahme der fleifchlichen Kiugheit, wie Paulus im Römer⸗ 
brief fagt. 


. Die Gottlofen werden nicht auferwedt am jüngften Tage, 


jondern nur die Erwählten, deren Haupt Chriftus geweſen ift. 


. &8 giebt feine andere Hölle als das Grab. 
. Wenn die Erwählten fterben, fo jchlummern fie bis zum 


Tage des Gerichtes, wo alle auferweckt werden follen. 


. Die Seelen der Gottlofen gehen mit dem Leibe zugrunde, wie 


dies auch bei den Tieren der Fall ift. 


. Der menfhlihe Same hat von Gott die Fähigkeit, Fleiſch 


und Geift hervorzubringen. 

Die Ermählten werden durch Gottes ewige Barmherzigkeit 
und Liebe gerechtfertigt, ohne irgendein Außeres Werk, d. h. 
ohne die DVerdienfte, da8 Blut und den Tod Chriſti. Chriſtus 
ift gefterben, um die Gerechtigkeit Gottes zu erweifen: unter 








Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderte. 25 


Gerechtigkeit Gottes verftehen wir den Gipfel aller Güte und 

Barmherzigkeit Gottes und feiner Verheißung. 

Ob Manelft in diefer Aufftellung der zehn Punkte die genaue 
Formulierung der anabaptiftifchen Lehren gegeben Hat, wie fie 
in DBenedig feftgefegt worden, bleibt dahingeftellt. Aber in der 
Hauptſache Haben wir hier zweifellos den Niederſchlag der DVer- 
Handlungen vor und. Daß dabei von der Bedeutung und Ans 
wendung der Taufe ſowie von anderen wichtigen Lehrpunkten nicht 
die Rebe ift, wird darans zu erflären fein, daß über dieſe eine 
Berfchiedenheit in den Anfichten nicht vorhanden war. Übrigens 
wurde auch betreffs der zehn Punkte eine abfolute Einigung nicht 
erzielt: der Vertreter von Cittadella, Mefjer Ugoftino, erklärte 
feinen Diffens, weigerte ji, die Artikel anzunehmen und fchied 
dadurch nebft der von ihm vertretenen Gemeinde aus dem Ver⸗ 
bande der dogmatifch-radilalen Richtung aus. Denn das war aus⸗ 
drücklich zum Schluffe feitgefegt worden: allen beteiligten Gemein- 
den foll die Lehrnormierung mitgeteilt werden — wer fie nicht 
annimmt, wird ausgefchloffen. 

Der Einfluß, der von Camillo Renato, Tiziano, Negri u. a. 
in Beltlin und in Chiavenna vertretenen Anfichten läßt fih an 
mehreren der zehn Punkte nachweilen: Da kommt z. B. Punkt 7 
in Betracht, die Lehre vom Seelenſchlummer enthaltend, über reſp. 
gegen welchen fi) die Synode zu Chur 1549 und dann Gallicius 
al8 deren beauftragter Vertreter noch im nämlichen Jahre in 
Chiavenna dem Camillo gegenüber gewandt Hatte (vgl. a Porta, 
Hist. Ref. Eccl. Rhaet. I, 2). Es war da8 eine der Lieblings- 
ideen Camillos, und da er ſich nicht fügte, fo ward am 6. Juli 
1550 der Bann über ihn ausgeſprochen. Negri hatte treu auf 
feiner Seite gejtanden — was dort in Chiavenna verworfen 
wurde, das mag er felbit jest in Venedig zur Annahme empfohlen 
haben. Liegt e8 aljo Hier nahe, einen bireften und beabjichtigten 
Gegenfag zu anderweitigen Aufjtellungen in den Beſchlüſſen des 
venetianifchen Konzils zu ftatuieren, fo fehlt es auch anderfeits 
nicht an Winken darüber, dag die Beichlüffe felbjt, einmal befannt 
geworden, der Zenfurierung verfallen find. So ſchreibt 3. 3. der 
eben genannte Gallicius am legten Februar 1552 an Bullinger: 


2 Benrath 


„Ex Italia auditur esse qui non vereantur dicere, Christum 
ex Josephi semine natum esse, quae vero Matthaeus et | 
Lucas tradant de conceptione Christi de Spiritu Sancto, 
aliunde infulta esse Evangelio“ (a Porta, a. a. O. J, ©. 167). 
Dffenbar wird damit ber Inhalt des erften der zehn Säge vom 
Jahre 1550 bezeichnet und verworfen. 

Somit ergiebt fih, daß wir in dem „Benetianifchen Konzil 
von 1550 einen wichtigen Wendepunft in ber Eutwidelung ber 
anabaptiftifchen Bemegung in Stalien kennen gelernt haben. Hier 
ift e8, wo bie beiden bisher neben einander laufenden Strömungen, 
bie des dogmatifch-radilalen und die ded gemäßigten Anabaptis- 
mus, der nur in der Tauflehre von der orthodox - reformatorifchen 
Lehre abweicht, ſich fcheiden. Don jegt ab laufen drei ver 
fchiedene Strömungen evangelifcher Reformbeitrebungen unter ber 
Oberfläche Hin, vielfach fich berührend und kreuzend, aber doch 
mehr und mehr ji) von einander entfernend und ſich gegenfeitig 
dur) ihre Propaganda das Gebiet ftreitig machend: die „Iuthe 
riſche“, d. h. orthodoxe, die gemäßigt-anabaptiftifche und die radi- 
talsanabaptiftiiche. — Vertreter von jeder diefer drei Nichtungen 
finden wir in großer Zahl unter den von der venetianifchen In⸗ 
quifition im Laufe der folgenden zwanzig Jahre angeflagten, pro- 
zeffierten und beftraften Ketzern. 

Auch über die damalige Organijation der Annbaptiften geben 
uns die Mitteilungen Manelfis erwünfcten Aufſchluß. An der 
Spite ber einzelnen Gemeinden ftehen „Diener“ (ministri); fi 
werben eingejett oder eingeführt durch „Biſchöfe“ (episcopi oder 
vescovi apostolici), denen es außerdem obliegt, das Wort Gottes 
zu verkünden und die Gemeinden zu bejuchen (l’offizio de’ quali 
& predicar la parola e constituir ministri). Daß zur Zeit bed 
„Konzils“ eine Verbindung zwifchen den einzelnen anabaptiftifchen 
Gemeinden beftand, wird einerjeit® durch die Thatfache der Br 
rufung des „Konzils“ ſelbſt, anderſeits aber auch dadurch über 
alfen Zweifel erhoben, daß diejenige Gemeinde, welche fich den 
Beichlüffen der Verfammlung nit unterwirft, aus dem Verbande 
ausgefchloffen wird. Die Verbindung zwifchen den Gemeinden 
nun wurde, natürlich im geheimen aber wirkſam, durch fleißige 





Wiedertäufer im Venetianiſchen um die Witte des 16. Iahrhunderts. 27 


Beſuche der damit Beauftragten gepflegt; Manelfi felbft hat diejes 
Amt längere Zeit verjehen und verdankt ihm eine große Berfonen- 
fenntnis innerhalb des Beftandes der Gemeinſchaft. So hat Ma⸗ 
nelfi in Begleitung de3 Marcantonio von Ajolo die Gemeinden zu 
Bicenza, Padua, Treviſo und die in Yftrien, im Begleitung des 
„Biſchofs“ Lorenzo Nicoluzzo aus Modiana im Winter 1550 auf 
1551 bie in der Romagna, in Ferrara und bie in Toscana be- 
fucht, während er im vorhergehenden Sommer mit Mefjer Pas» 
aualino von Ajolo, einem Gerber aus Treviſo, die Gemeinden in 
Terrara, Padua und Bicenza befucht hatte. Solche ftets fich wies 
berholende perfönfiche Berührungen erhielten das Gemeinfchafts- 
leben trog aller äußeren Schwierigfeiten lebhaft wah. In bem 
Verhör vom 18. November 1551 gab Manelfi Auskunft od 
über weitere Organifation: die „Brüder“ benadhrichtigen einander, 
fobald Gefahr da ift, durch befondere Boten; er felbft ift dadurch 
einmal in Bagnacavallo der auf Befehl des Herzogs von Ferrara 
vorzunehmenden Berhaftung entgangen und nad) Ravenna umd 
Benedig entflohen. Manelfi bringt Beiſpiele dafür bei, daß die 
„Brüder“ von dem Grgehen geheimer Haftbefehle feitens des 
Rates der Zehn in Venedig, der Signoria in Florenz und ge⸗ 
wiſſer Reltoren und Biſchöfe im Venetianifchen rechtzeitig unter« 
richtet geweien find — aud in die Gefängniffe willen fie einzu- 
bringen, nm gefangene „Brüder" zu ftärfen: er felber jet vor 
zwei Jahren mit dem nun in Rovigo hingerichteten Benedetto in 
Denedig in ein Gefängnis gedrungen, habe einen „Rutheraner“ aus 
Cittadella dort zum Anabaptiften gemacht und ihn getauft, nachdem 
fie den Wärter beftochen hatten. Auch zu dem DBenebetto feien 
„Brüder“ in ben Kerker gedrungen. Hauptzwed der gebachten 
Reiſen blieb natürlich die Kräftigung des Gemeinfchaftsbewußtjeins 
auf Grund der täuferifchen Lehren, Bifitation des Zuftandes der 
Gemeinden und gelegentlicher weiterer Betrieb der Propaganda. 
So jtieg Manelfi im September 1551 bei Bartolomeo della 
Barba in Berona ab, der von Sacometto dem Seiljpinner in 
Bicenza getauft, ihn im Namen der anabaptiftiih Gefinnten ger 
beten hatte, dorthin zu kommen. &8 waren ihrer ungefähr 25; 
fie trafen fih vor dem Shore der Stadt an einer Stelle in den 


En ae a a 


28 Benrath 


Bergen, und als er ihnen die Zanflehre der Gemeinfchaft darge: 
legt hatte, ftimmten alle bei. Als Manelfi nun aber die chrifte 
logische Frage und zwar in der radilalen Weife wie die Beſchlüſſe 
des „Konzils“ dies feitgefeßt Hatten, behandelte, da erhob fih 
Einſprache, da wollten fie nicht beiftimmen — fo ift e8 ihm denn 
nicht gelungen, eine wirkliche Gemeinde in Verona zu ftiften. 

Mochte die Uueigennügigkeit aufjeiten ber Leiter diefes weit 
ausgedehnten Gemeinmwefens nod fo groß fein, fo mußte doc) die 
Art der Organifation die Verwaltung desfelben zu einer verhält 
nismäßig Eoftjpieligen machen. Um fo fchwerer Iaftete dies auf 
den ‚Gemeinden, da ihre Angehörigen, wie fich dies fchon aus 
Manelfis Aufzählung ergiebt und durch die venetianifchen Akten be 
ftätigt wird, zum großen Zeil den untern Ständen, befonders bem 
der Kleinen Handwerker angehörten. Doc gab es auch begüterte 
Mitglieder: einen Nicola von Aleffandria in Treviſo nennt Ma— 
nelfi, der in der ausgiebigiten Weife für die Bedürfniffe der Ge 
meinjchaft beifteuerte, der ihm felber 14 Scubi, der Gemeinde 
bon Terrara AO Dufaten und ebenfo viel dem oben genannten 
Tiziano gegeben hat. 

Kehren wir zu Manelfi, dem wir dieſe Nachrichten verdanten, 
zurüd. Auf einer der vielen Reifen, die er — ftetS in Begleitung 
eines „Bruders“ — machte, um die Gemeinden im Lande zu be 
juhen, und zwar im Oftober 1551, als er fich gerade in Ra— 
venna und auf dem Wege nad) Toscana befand, ward ihm fein 
Abfall von der römischen Kirche bedenklich — „es gefiel Gott, 
mich meinen ganzen Irrtum erkennen zu laffen“ jo drückt er es 
in dem „Geftändnis" aus —, er mußte ſich von feinem Begleiter 
loszumaden, ging nad) Bologna, warf fih dem Inquiſitor zu 
Füßen und erbat Wiederaufnahme. Diefer ſchickte ihn nach Rom 
vor den Maeftro del Sagro Palazzo, wo er am 10. November 


1551 anlangte, um dann am 12. zuerft vor dem Sant’ Uffizio 


verhört zu werden. In Nom richtete man, wie immer in folden 
Fällen, das Hauptaugenmert darauf, möglichjt viele Namen von 
Mitſchuldigen zu erfahren. Zunächſt drang man in ihn, die Lifte 
ber Zeilnehmer an dem „Konzil" zu vervollftändigen; es gelang 
Manelfi au, fih auf nod einige Namen zu befinnen. Dann 








Wiedertäufer im Venetianiſchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 29 


verlangt man von ihm Aufzeichnung der ihm befannten „Quthes 
raner“ und „Anabaptiften“ an allen Orten, die er befucht Habe. 
An Benedig, fagt er, feien ihm von Anabaptiften erinnerlich ein 
Meſſer Bartolo, Holzſchuhmacher im Ghetto vechio; ein Mefjer 
Sion. Maria, Degenfchmied, in der Frezzaria, nebft feiner Frau; 
ein Teppichweber im Ghetto vechio; mehrere Sammetweber und 
eine Frau. Zwei habe er felbjt getauft und im legten September 
das Abendmahl mit ihnen gefeiert. In Vicenza betrage die Zahl 
der Anabaptiften ſechzig. Er nennt von ihnen: den Schneider 
Guifeppe mit dem Beinamen il zingaro (dev Zigeuner); den 
Schuſter Meffer Giovanni aus Poſchiavo und deſſen Gehilfen; 
den Erpriefter Meſſer Antonio, der jet ebenfall® das Schuſter⸗ 
handwerf betreibt und verheiratet ift; Giovanni Maria Bagozzo; 
Meſſer Deatteo della Maddalena, Wollfchläger, mit Frau und 
Schwägerin; den in Venedig beim Konzil gewefenen Hieronimo 
Speranza nebjt drei Schweitern; Meſſer Jacometto, Seilfpinner, 
Biſchof und Vorſteher der Gemeinde, welcher viele in Vicenza 
wieder getauft hat; dann einen Schneider Aloifetto, einen Färber 
Matteo, einen Schufter GIudio, einen Knopfmacher Yacopo, einen 
Brotverfäufer, einen Lumpenſammler und viele andere. Ein bes 
ftimmtes Lokal haben fie nicht, fondern verfammeln ſich bald hier, 
bald dort. Die venetianishen Befchlüffe Haben fie angenommen und 
hangen daran. Auch in Padua fennt Manelft eine Anzahl Anas 
baptiften mit Namen: Vorfteher der Gemeinde ift — nad) dem 
Weggange des Erabtes Buzzale, den wir unter den Teilnehmern 
am „Konzil" fanden — ein Bartolomeo aus Padua. Zu den 
Mitgliedern gehört der Bruder des Buzzale aus Neapel, Benes 
betto, Student an der Univerfität. Ferner gehören zu ihnen: ein 
Meffer Francesco, Degenſchmied; ein Krämer Salvatore aus 
Venedig; ein Schuhmadher Bingio; ein Schneider Bernardino 
nebft Frau u. a. Und fo fährt Manelfi fort, die ihm in vers 
fchiedenen Städten, auch in und bei Treviſo, in Afolo, Cologne, 
vAbbazia bei Verona, in Rovigo, Eittadella, Capo d’Iftria, Pie 
tano, Conegliano, Momarano und Cherſo, bekannt gewordenen 
Anabaptiften namentlich aufzuzählen, — fo ein willlommenes Re⸗ 
gifter für weitere Nachforfchungen ſeitens der venetianifchen In⸗ 


30 Benrath 


guifition liefernrd. Auch „Lutheraner” kennt und nennt er in 
großer Zahl in den meilten diefer Orte, — auf dieſe näher ein- 
zugehen, läge außerhalb der unferer gegenwärtigen Unterſuchung 
geſteckten Grenzen. Es fei nur erwähnt, daß unter den von ihm 
für Venedig Verzeichneten der Bibelüberfeger Bruccioli und zwei 
„magnifici“, d. h. Edle, fich befinden, deren Namen nachträglich 
unfeferlich gemacht find. 

Eine beträchtliche Anzahl der von Manelfi namhaft Gemachten 
begegnet nun in der folgenden Zeit in den Akten der venetianifchen 
Amauifition wieder. Man kann genau verfolgen, wie diefe ſyſte⸗ 
matiſch vorgegangen ift, um die ganze Bewegung, deren Teil⸗ 
nehmer ihr auf diefem Wege in jo großer Zahl befaunt wurden, 
zu unterdrüden. Schon im Dezember 1551 ergmg an den Po⸗ 
defta von Padua Befehl, die von Manelfi Bezeichneten ſämtlich 
gefangen zu nehmen und nach Venedig überzuführen. Einen ſchickt 
diefer fchon am 20., dann zwei fernere am 22. und fchreibt 
dazu: ein Dritter — es war der Bruder des Vorſtehers Buzzale, 
der Student Benedetto — ſei nicht mehr da, und zwei, der 
Krämer Salvatore fowie Giangiogia Batricio, habe er noch nicht 
fafjen können. Später hat er auch fie eingeliefert. Zur jelben 
Zeit erging gleicher Befehl au den Rettore in Vicenza: der ſchickt 
am 22. Dezember den von Manelft als Hauptleger bezeichneten 
Bartolomeo dalla Barba — von ihm und drei anderen Vicen⸗ 
tiner Auabaptiften liegen die Prozeßakten und darin die fchließliche 
Abjchwörungsformel vor (S. Uffizio, B. 9). Auch nad) Trevifo 
und Afolo erging gleicher Befehl mit ähnlichem Erfolge. So war 
der erſte Hauptichlag fchon im Dezember 1551 als gelungen zu 
betrachten, und im Laufe der nüchftfolgenden Jahre fpielten jich 
nun teil8 vor dem venetianifchen Tribunale, teil$ vor den Bezirks⸗ 
tribunalen im Xerritorium eine große Menge von Prozeſſen ab, 
deren Alten heute noch in dem Staatsarchiv zu Venedig aufbe⸗ 
wahrt find. Einige Beifpiele lafje ich folgen: ‘Der von Manelfi 
genannte Schuhmacher Pietro von Aſolo ift eingezogen und durch 
Drohungen zum Abſchwören gebracht worden. Er jagt aus, daß 
er verführt worden fei durch den inzwifchen in Rovigo als Kleber 
verbrannten Benetto di Borgo; daß er Sonntage mit anderen. 





Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 31 


gegangen fet, dem Conventifel beizumohnen, wo ein „ministro‘ 
eine Stelle aus dem Neuen Teſtament italienisch vorlas und er» 
Härte; daß er fih dann nad vier Monaten von dem und bes 
fannten Nicolao von Alefjandria habe wiedertaufen laffen (B. 25). 

Ein Priefter aud Buongiorno bella Cava, Don Giovanni 
Laureto, klagt ſich in einer nicht datierten Demmclation jelbft an 
(B. 25), daß er fi den Anabaptiften angefchloffen, an der Wirk⸗ 
kamkeit der römischen Taufe gezweifelt, Überhaupt die Taufe nur 
als ein Zeichen angefehen habe, das zum Heile nicht beitrage. 
„Während ich diefer Sekte angehörte, bezweifelte ich, daß Chriftus 
wahrer Gott ſei und dab er von einer Jungfrau geboren fei, und 
ich glaubte, dag die Evangelien verderbt feien. Und da unter dem 
Wiedergetauften über diefe ragen gehandelt wurde und einige fie 
bejabten, andere fie verneinten, wir aber dem Abte Buzzale, dem 
man das Amt der Schrifterflärung übertragen hatte, nad einigen 
Beſprechungen und Vorträgen darüber Folge leifteten: jo fing auch 
ih an, fie wie die Übrigen zu befennen und fie anderen vorzu⸗ 
tragen“ ... Es ift Mar, dag dies in die Zeit vor dem „Konzil“ 
von 1550 fällt, als über die chriftologische Trage noch nicht ent» 
fchieden worden war, und es weiſt auch darauf hin, daß der Er» 
abt Buzzale eine Hervorragende Stellung in der anabaptijtifchen 
Gemeinſchaft befaß und ihm and) wohl bejonderer Einfluß auf die 
Beſchlüſſe des Konzils zugelchrieben werden darf. 

Gleichfalls in die Zeit vor dem „Konzil" fällt die Irrfahrt 
und ber Prozeß des Girolamo Allegretti aus Spalatro (B. 22) 
— ein Prozeß, der von befonderem Belange deshalb ift, weil er 
und einen Blick in die damaligen Beziehungen zwiſchen den Ans 
Hängern der orthodoren und denen der anabaptiitiichen Reformation 
thun Läßt und eine Anzahl von Männern vorführt, welche für 
beide Richtungen von Bedeutung gewejen find. Allegretti, ober, 
wie er feit dem Eintritt in den Dominifanerorden hieß, Fraͤ 
Marco, war Lektor im Kloſter zu Spalatro, lernte dort hüre⸗ 
tische Bücher Tennen, verlieh den Orden 1549, ging über Venedig 
nad) Poſchiavo, wohin er eine Empfehlung an ben vor kurzem 
dorthin geflüchteten Erzbifchof von Capo d’Yftria, Vergerio, mit⸗ 
brachte, denn nad Chiavenna, mo er Zeuge von der dogmatijchen 


32 Benrath 


Entzweiung zwifchen Mainardo, Renato und Negri war. Er geit 
dann auf Baldaffare Altieris Rat nach Baſel, wo ihn Curione 
und andere freundlih aufnehmen, bis er mit Eurione in Streit 
gerät, „meil diefer die Gottheit Chrifti leugnete“, und nach Chia⸗ 
venna zurückkehrte. Die „Lutheraner" in Cremona berufen ihn 
als Prediger: er folgt ihrem Rufe, bleibt aber nicht lange, fon 
dern geht nah Gardone am Gardafee, von wo aus er fi im 
Auguft reumütig dem Vorſteher feines Kloſters in Spalatro zu 
Füßen wirft. Seine Abſchwörung datiert vom 18. November 
1550. Unter ben bei ihm mit Beſchlag belegten Papieren be 
finden fi vier Briefe aus dem Jahre 1550, welche von nidt 
gewöhnlichen Intereſſe find, drei davon im Original, einer in 
Abſchrift. Der erfte der drei Originalbriefe ift von Giulio di 
Milano, der zu Anfang der vierziger Fahre in Venedig als Ketzer 
ins Gefängnis geworfen — es ift der nämliche, für ben Odin 
1542 dort feine Stimme erhob *), — fich durch die Flucht rettete 
und eine gefegnete Wirkſamkeit als Pfarrer in Poſchiavo geübt 
hat. Zu Giulio find Gerüchte gedrungen des Inhaltes, daß de 
Adreffat von dem orthodoren Glauben abgefallen fei zu den An 
baptiften: auf der Durchreife in Chiavenna habe er fich verbädtig 
gemacht und durch jein fpäteres Auftreten in Cremona diefen Vers 
dacht befeftigt: Giulio befhwört ihn um Chriftt und der Ge 
meinde willen, fih von dem Verdachte zu reinigen, — könne er 
das nicht, verwerfe er wirklich die Sindertaufe, fo müſſe der 
Schreiber fih freilich von ihm fjcheiden und erfläre vor Gottes 
Angeficht, daß er nichts mehr mit ihm zu thun haben wolle. De 
Brief bildet troß dieſer entfchiedenen Wendung ein herrliches 
Zeugnis für die Milde und Frömmigkeit, ebenfo wie für dem fitt 
lichen Ernſt und den Eifer feines Verfaſſers. Er datiert vom 
14, Juni 1550. Die beiden folgenden find von je einem hervor 
ragenden Mitgliede der evangelifchen Gemeinde in Cremona, wo 
Allegretti fi trog der Kürze feiner Wirkſamkeit die Liebe al 
erworben zu haben ſcheint. Nicolao Fogliato fchreibt unter dem 


1) Bgl. meine Biographie Ochinos, S. 109, wo derſelbe übrigens ir 
tümlich Terenziano zubenannt ifl. 





Miedertäufer im Venetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 38 


20. und Thomas Pueraro unter dem 29. Zuni — Briefe, welche 
beachtenswerte Zeugniffe für ein hohes Maß chriftlicher Ein- 
ficht und warmer Liebe zur evangelifhen Wahrheit auffeiten ber 
Schreiber darftellen. Der vierte Brief endlich ift ein fehr merk⸗ 
würdiges, nur in Abſchrift erhaltenes, Aktenſtück: ein Kollektiv 
fchreiben der Vertreter der Gemeinde in Eremona vom 3. Juli 
1550 als Antwort auf eine Zufchrift Allegrettis, in welcher er die 
verheißungsvolle Lage feiner neuen Gemeinde in Gardone geſchil⸗ 
dert hatte. Gegen die Verleumbungen, welche er erfahren habe, 
— Giulio von Milano Hatte fid auf Nachrichten aus Eremona 
Bezogen — Stellen fie fich auf feine Seite; er hat ihnen offenbar 
feine wahren Anfichten über die Kindertanufe nicht enthüllt. ‘Drei 
Brüder follen das Gemeindefchreiben überbringen und find beaufr 
tragt, we nötig, jelbft Zeugnis für Allegretti abzulegen; mit ber 
Bitte, der eigenen Gemeinde den brüderlichen Gruß der Gemeinde 
von Eremona zu jagen, fchließt der Brief. Diefer Brief ſollte 
— ach! — das legte Lebenszeichen einer blühenden evangelischen 
Gemeinde fein. Was fhon Pueraro furz vorher an Allegretti 
gemeldet hatte, nämlich, daß foeben die Verfolgung der „Ketzer“ 
dort ins Werk gejeßt werde, das nahm fchon bald jo erfchredenden 
Umfang an, daß die Evangelifchgefinnten fich gezwungen jahen, 
die Stadt zu verlaffen. Nicht weniger al8 achtzig von ihnen find 
im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Genf 
entflohen ) — darunter ſchon 1551 Fogliato und Pueraro felbft, 
fowie die meiften der Übrigen, welche als Vertreter der Gemeinde 
das Schreiben an Allegretti unterzeichnet haben. Ja, e8 liegt am 
nädften, anzunehmen, daß gerade durch diefes Schreiben die In⸗ 
quifition die Häupter ber Gemeinde in Cremona kennen ges 
lernt Bat. 

Aus den Verhören Allegrettis und anderer, wie fie den Alten 
beiliegen, erfahren wir auch einiges Aber bie Art, wie der Ana⸗ 
baptismus nad) Gardone gebracht worden ift: ein Arzt aus Ere- 
mona, Mefjer Stefano de’ Giufti, Hat zuerft das Unkraut eingefäet ; 


1) Bol. das Verzeichnis bei Galiffe, Le Refuge italien & Geneve, 
©. 129 ff. (Genf 1881). | | 
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 3 





34 Benrath 


dann bat fih in dem Haufe eines Gio. Marco Rampino ein 
Mittelpunft für diefe Anfchauungen gebildet: außer dreien, welde 
diefen Namen tragen, werden noch Meſſer Settembrino, Meſſer 
Zani = Giovanni, fein Bruder, und Meier Joſaphat Eipriano ale 
Hauptvertreter der anabaptiftiihen Richtung namhaft gemadit. 
Die Inquiſition Hat diefe Bewegung erftidt. Außer Allegrettis 
Abſchwörung, die aus Rückſicht auf den Orden im geheimen ge- 
leiftet wurde, liegt noch die deö Arztes de Giuſti (vom 20. Des 
zember 1550) bei den Akten: öffentlich nach der Meſſe und vor 
allem Volk hat er fie leiften müſſen. Seit diefer Zeit verlautet 
nichts mehr von anabaptiftifchen oder auch evangelifchsorthodoren 
Bewegungen am Ufer des Gardafes, — nur daß unter dem 
14. Oftober 1563 der Rat der Zehn dem Gejandten in Rom 
mitteilt, es fei ſchon Auftrag gegeben, daß „jene ſchändlichen Ketzer 
zu Gardone eingezogen und mit dem Tode beftraft werden foll- 
ten“ ?). 

Mittlerweile hatte die Verfolgung des Anabaptismus an ben 
von Manelfi bezeichneten Orten begonnen. ‘Da er ſelbſt der radi- 
falen Richtung angehört und zumeift deren Anhänger namhaft 
gemacht Hatte, jo wandte ſich die Verfolgung natürlich zunächſt 
gegen dieſe. Das von der venetianifchen Inquiſition gefammelte 
darauf bezügliche Material ift noch in ziemlicher Vollftändigkeit in 
den Aktenfascikeln des Sant’ Uifizio im Staatsardiv erhalten. 
Das Vorgehen ift in allen einzelnen Fällen das nämliche: auf 
Antrag des Inquiſitors refp. des päpftlihen Legaten erteilt der 
Nat der Zehn Befehl zur Verhaftung des Ketzers; die Vorunter⸗ 
fuhung wird entweder an Ort und Stelle durch die bijchöfliche 
Kurie geführt, oder der Angellagte refp. Verdächtige wird nad) 
Venedig geſchickt, um dort unter Ajfiftenz der drei „Savj“ ver 
hört und abgeurteilt zu werden. Da man nun in Übereinftim- 
mung mit der Praxis des römischen Tribunales jeden Angeklagten 
auf das genauefte nad) dem Namen etwaiger „Mitjchuldigen“ 
fragte, um dann auch gegen dieje vorzugehen, und da außerdem in 


1) Cecchetti, La Rep. di Venezia e la Corte di Roma [1874], 
vol. I, p. 25. 








Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Sahrhunderte. 85 


Venedig mehr als anderöwo dad Syftem der geheimen Denunzia» 
tionen ſchon inbezug auf politifche, beſonders aber auch religiöfe 
Anfichten und Abweichungen im Echwange war, fo ift e8 nicht zu 
verwundern, daß durchweg reichliches Material vorlag und daß im 
Anſchluß an einen Prozeß und infolge der bier gegebenen Finger⸗ 
zeige oft zahlreiche neue von mehr ober weniger Umfang geführt 
wurden. 

An dem nämlihen Tage, an welchem infolge der Denunziation 
ManelfiS der Podefta von Padua einige von den Leitern der 
dortigen Anabaptiftengemeinde nad) Venedig abjandte, ließ der Nat 
der Zehn aud Befehl nad) Verona ergehen, dort einen befonders 
eifrigen Anabaptiften, den oben genannten Bartolomeo della Barba, 
gefangen nach Venedig zu ſchicken. Bereits im Juli 1550 hatte 
in Verona eine Unterfuchung gegen dieſen vor dem bifchöffichen 
Zribunale gefchwebt; fie war zwar ohne definitive Reſultat für 
den Angeklagten geblieben, hatte aber eine Reihe von intereſſanten 
Einzelheiten ans Licht gebracht. Nach feinen und anderer Aus⸗ 
jagen war Bartolomeo zwifchen 1542 und 1549 in Deutfchland 
gewefen, wo er mit der neuen Lehre befannt geworden war. Ale 
Gefinnungsgenoffen in Verona hatte er fiebzehn, meilt Handwerker, 
bezeichnet, die dann auch unter dem 21. Juli 1550 ſämtlich citiert 
wurden. Aus ihren Geftändniffen geht hervor, bag man fih im 
Haufe eines Tiberio da Dlive verfammelte, daß diefer in dogma⸗ 
tischen Fragen den Ausſchlag gab, dag eine Anzahl von häretifchen 
Büchern von ihnen gelefen wurden, 3. B. das „Benefizio“ und 
das „Sommario della Sacra Scrittura“; auch die „ Tragedia 
del libero arbitrio“ von Negri und „Pasquino in Estasi“, 
diefe bekannte beißende und glänzende Satire von Celio Secondo 
Burione; endlich Schriften von Ochino und von Bullinger, Brenz, 
Bodius u. a. find in ihren Händen geweſen. Das Tribunal 
in Verona fcheint den angellagten Bartolomeo wieder freigelaffen 
zu haben — wenigftens giebt Manelfi an, im Jahre 1551 wieder 
in deffen Haufe gewohnt zu haben —, als aber gegen Ende 1551 
plötzlich das Vorgehen auf der ganzen Linie erfolgte, ward er 
von neuem gefänglich eingezogen. In Venedig nun erhielt der 
Brozeß feinen definitiven Abſchluß in Geftalt eines Urteile, 

3 * 


3% Benrath 


welches bem Angeflagten — da er „freiwillig“ Abfhwörung ges 
feiftet — nur eine Anzahl von kanoniſchen Pönitenzen auferlegt. 
Die ihm beigefügte von Bartolomeo unterzeichnete und in Berona 
öffentlich verlefene Abſchwörungsformel bezeichnet genauer, als das 
fonft wohl gefchieht, die einzelnen Tegerifchen Lehren, denen er fid) 
Bingegeben hatte: daß nicht die römiſche Kirche die wahre chriftliche 
Kirche fei, fondern die der Anabaptiften; daß er fich Habe von 
neuem taufen laſſen, in der Meinung, daß die Heilswirkung der 
Taufe durch den eigenen Glauben bedingt fei; daß man ihn über» 
redet habe, Jeſus Chriſtus fet wie jeder Menſch geboren worden; 
daß Jeſus Chriftus nur ein gottgefandter Bote fei, nicht der Er- 
Löfer, und daß er nur deshalb in die Welt gekommen ſei, um 
Gottes Erlöfungsratihluß (la buona volontä di Dio) offenbar 
zu machen; daß Gott kein Tyrann fei, dem erft das Blut feines 
Sohnes gemugthun müfje; daß es für die Gottlofen keine Aufer- 
ftegung gebe: ftürben fe, jo fei das, als ob ein Tier ftürbe; daß 
es Teine Hölle gebe, ausgenommen das Grab. „Des hat mir“, 
fegte Bartolomeo Hinzu, „fo viel zu fchaffen gemacht, daß ich 
weder Tag noch Naht Ruhe finden konnte und mein Gewiſſen 
immerfort bejchwert war. Auch babe ich über diefe Anfichten noch 
mit andern geredet umd mic mit ihnen verfammelt, um darüber 
zu verhandeln. . .*. 

Diefes letztere weift vielleicht auf die Teilnahme Bartolomeos 
am „Konzil" von 1550 bin — er wäre dann der in Manelfis 
Geftändnis nicht mit Namen genannte Vertreter der Gemeinschaft 
aus Verona. Die beiden leiten in der Abſchwörung widerrufenen 
Säge decken fih wit den Beichlüffen 6 und 8 des „Konzild“, und 
die Anficht von der Perfon Ehrifti, wie fie hier aufgeftellt wird, 
ftimmt mit der des 1. Konzilsbefhluffes überein, während feine 
Anficht von der Erlöfung ebenſo wie der 10. Beſchluß die Gel- 
tung des Todes Chrifti als Sühnopfer ausschließt. 

Die mit dem reichlichen feit Manelfis Verrat zugebote ftehen- 
den Materiale eingeleitete Verfolgung, wie fte faft gleichzeitig im 
ganzen Dominium losbrach, konnte nicht umhin, auf den Fortgang 
der Bewegung lähmend zu wirken, ja ihren Beſtand ernftlih in 
Frage zu ftellen. In Venedig mochte man an ber leitenden Stelle 


Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte bes 16. Jahrhunderts. 87 


mit Überraſchung von der ungeahnt weiten Verbreitung ber Ketzerei 
Kenntnis nehmen: fo viel wenigftens war Kar geftellt, daß Nom 
nicht übertrieb, mer es Hagte, daß das ganze Dominium infiziert 
fei und daß es nit ohne Grund außergewöhnliche Maßregeln da» 
gegen forderte. Freilich veranlaßte die Berfchärfung, in welche der 
Senat einwilligte, auch die Anabaptiften und ihre Gemeinden zu 
um fo größerer Vorfiht. Nachdem der erfte Sturm vorüberge- 
gangen, hören wir — etwa feit 1552 — wenig mehr von bes 
fonder& bemerkenswerten und inftrultiven Fällen auf längere Zeit 
Bin, je bis zum Ende ber fünfziger Jahre. So laffen uns bie 
Alten auch im Stich, wenn wir fie um das Schickſal der ana» 
Beptiftifchen Gemeinde in Bicenza befragen — von anderer Seite 
fommt uns ein Wint, daß fie 1553 noch beftand, und zwar durch 
die Nachricht, daß Gribaldi den „Brüdern zu Vicenza“ bie Hin« 
richtung Servets mitgeteilt hat. 

Selbftwerftändfich hatte die Berfolgimg im venetianifchen Gebiet 
ebenja wohl die Dogmatifch-gemäßigten wie die Radikalen unter ber 
Anabaptiſten getroffen. Während aber nad) Ausweis der Zahlen- 
verhäftniffe bei dem „Konzil“ von 1550 zu diefer Zeit die Mehr- 
zahl der letzteren Richtung angehörte, jcheint fich diefed Verhältnis 
im Laufe des folgenden Jahrzehnts geändert zu Haben, wenigitend 
iſt zweifellos die Zahl der Dogmatifchgemäßigten, die zwar bie 
Kindertaufe verwarfen, aber die Artikel des Apoftolifchen Bekennt⸗ 
niffes annehmen, am meiften — auch mehr al& die der Orthe⸗ 
deren — gewachſen und ziwar fo, bafß.die Bewegung gleihmäßtg 
an den verfchiedenften Punkten des Dominiums zutage tritt. Wie 
uns das Geftändnis des Manelfi fehr branchbares Material ges 
geben hat, um eine Art von ftatiftifcher Überſicht fiir die Zeit bis 
1551 zu gewinnen, fo mag eine 1559 ober 1560 aufgeftellte umd 
untere den feinerzeit befchlegnahmten Papieren eines gefangenen 
Arabaptiften von der gemäßigten Richtung von mir aufgefundene 
Lite der „Brüber“ im ähnlicher Weiſe für dieſe fpätere Zeit 
verwertet werden. 

Die Berfönlichkeit, der wir dieſe Lifte verdanken, iſt eime in 
hohem Grade intereffante. Sie ſtellt in fich eine ganz neue Phafe 
des italienifchen Wiedertäufertums dar; nämlich wie es ſich ges 


88 Benrath 


ftaltet hat durch eine in den fünfziger Jahren hergeftellte enge 
Verbindung mit den Huterfchen „Brüdern“ in Mähren, alfo der 
dort jeit Jahrzehnten Lonfolidierten gemäßigten Richtung der Täu⸗ 
fer. Bet unferem Gherlandi ift zugleich der nicht übermäßig 
häufig begegnende Fall eingetreten, daß das evangelifche Bekennt⸗ 
nis einen wirklich treuen, tief religiöfen, bi8 zum äußerften ſtand⸗ 
haft bleibenden Jünger aus dem Stande der römiſchen Kleriker 
heraus an ihm gewonnen bat. 

Giulio Gherlandi — auch Guirlanda genannt — aus Spre- 
fiano bei Treviſo, bei dem erften Verhör vom 14. Oktober 1561 
anfcheinend „etwa 4O Jahre alt“, war, wie er in dem unter dem 
21. Oftober 1561 im Kerker aufgejegten -„Belenntniffe” (ſ. u.) er- 
wähnt, von feinem fatholifhen Vater zum geiftlihen Stande beftimmt 
worden und Hatte auch die Subdiafonatsweihe erhalten. Während 
ihn der Gegenfag, wie Amt und Leben ber vielfach Lafterhaften 
Priefter ihn bildeten, lebhaft befchäftigte, fiel ihm eines Tages beim 
Lefen des Brevierd das Wort Matth. 7 ins Auge: „Hütet euch 
vor den falfchen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, 
inwendig aber reißende Wölfe find? — an ihren Früdten follt 
ihr fie erkennen!" Das brachte ihn zu ernfter Selbfiprüfung — 
endlich entichieb er fich. „Ich verlieg Nom; denn wer Sklave ift, 
kann nicht die Freiheit predigen, und wer die Sünde thut, ift ihr 
Knecht. Ich fuchte nah einem Volke, welches durch das Evans 
gelium der Wahrheit von der Knechtſchaft der Sünde frei wäre 
und in einem neuen Leben. wandelte — einem Volke, ba8 Seine 
heilige unbefleckte Kirche ift, gefchieden von ben Sündern, ohne 
Runzel und ohne Fehl. . .”. 

Aus feinen Verhören gehen nun die folgenden Einzelheiten 
hervor: Um da8 Jahr 1549 Hatte der uns belannte Nicolao 
d’Aleffandria ihn auf Villa Lancenigo bei Trevifo wiedergetauft. 
Später hat er jelbft einige andere getauft, darunter einen gewiffen 
Filippo aus Sieilien und einen Leonardo aus Verona. Kein 
Zweifel, daß er zunächſt der nämlichen Richtung fi anfchloß, 
welcher jener Nicolao bereits angehörte, nämlich der radilalen. Das 
tritt auch noch bei einzelnen der dogmatifchen Punkte hervor, welche 
das am 13. Dftober 1562 gefällte Lirteil als Anklage gegen ihn, 


MWiedertäufer im Venetianifchen um die Mitte des 16. Iahrhunderts. 89 


der diefe Lehren gehegt habe, verwendete, obwohl er mit Beftimmt- 
Heit erklärt hatte, daß er jet die Zwölf Artikel annehme. Wann 
er die radilalen Anabaptiften verließ, um fich den Huterjchen 
Brüdern anzufchließen, ift aus feinen Papieren nicht genau erfidht- 
ih. Da wir aber erfahren, daß er fchon 1557 einmal von 
Mähren aus nad) Italien zurücdgefandt worden ift, fo iſt e8 Kar, 
dag Gherlandi fpäteftens in diefem Jahre Mitglied der „Gemain“ 
geworden fein muß. Übergeführt zu den mährifchen Wiedertäufern 
hatte ihn Francesco della Saga aus Rovigo, der auch, gleih ihm 
der Gewalt der venetianifchen Inquifition verfallen, jeine Stand⸗ 
Haftigkeit im Glauben mit gewaltfamem Tode büßen follte. 

Die Nachrichten, welche uns über diefe beiden die Alten der 
Inquiſition geben, werben ergänzt durch Notizen in den „Denk⸗ 
büchlen“ oder „Chroniklen“ der mährifchen Wiedertäufer, welche 
den verehrten treuen „wälſchen Brüdern” dankbare Erinnerung 
weihen !), von denen der eine, Saga, 1561 zum „Diener am 
Evangelium" erwählt worden war. 

Es mag in den erften Märztagen 1559 gewefen fein, ale 
Sherlandi von neuem Nikolsburg in Mähren verließ, um bie 
„Brüder“ in Stalien zu befuchen. Zwei Gleichgefinnte, Matteo 
und Bernardo, begleiteten ihn. Saga gab ihnen einen Brief an 
einen Gefinnungsgenoffen in PVicenza, die „Gemain“ aber ein 
Empfehlungsjchreiben allgemeinerer Art mit, deſſen Eingang folgen- 
dermaßen lautete: „Wir, die durch Chriftum geheiligte und in bie 
Gemeinfchaft Gottes des Vaters und feines Sohnes Jeſu Chrifti 
aufgenommene Gemeinde, zufammen mit den Älteſten und Dienern 
(— Predigern), wünſchen allen denen, die in Stalien find und 
vollfommen in der Wahrheit leben wollen, die Einficht in den 
göttlichen Willen: damit fie mit aufrichtigem Gemüte Ehriftum in 


1) Nachdem im Sabre 1850 eins diefer „Denkbüchlen“, welches auf der 
Samburger Stadtbibliothef aufbewahrt wird, in nur zu knappen Auszügen 
veröffentlicht worden ift (Archiv f. d. Kunde öflerreich. Gejch.-Duellen, Bd. V), 
bat 1883 Herr Hofrat Dr. Bed in Wien eine Synopſe der ſämtlichen erhal- 
tenen geliefert (Fontes Rerum Austriacarum, Bd. XLIII) und dadurd) ſo⸗ 
wie durch feine veichlichen Yitterarifchen Nachweife erft den Grund zu genauerer 
Kenntnis der anabaptiftifchen Bewegung in Ofterreich- Ungarn gelegt. Über 
Sagas Wahl vgl. hier ©. 212. 


4 Benvath 


feiner Kraft erkennen, ihn umfalfen, ihm ſich Hingeben und dadırd 
feiner Semeinfchaft und des ewigen Lebens teilhaftig werden. All 
fei es!“ Das Schreiben geht davon aus, dag einige aus Stalin 
fih der Gemeinſchaft angefchlojfen Haben und nun wünſchen, da 
Frieden, den fle felbft gefunden haben, auch ihren Volksgenoſſe 
zu bringen. Die Gemeinde fei gern darauf eingegangen, hit 
ihnen die Erlaubnis dazu erteilt, halte aber für nötig, einiges kr 
vorzuheben, worauf bejonderd zu achten ſei. Zunächſt betrefil 
der Lehre von der Menſchwerdung Chrifti, die viel Verwirrun 
und Streit angerichet habe, fofern die Anfichten ſchwankten zwiſche 
den beiden Extremen: daß Chriftus fein Fleiſch vom Himmel mit 
gebracht habe — oder aber daß er von Joſephs Samen gem 
jei: beide Anfichten feien falſch —, die allein richtige Meitte finde 
fie in der Erzählung der biblischen Vorgeſchichte. „Wenn num 
— ſo ſchließt das Schreiben unter deutlicher Anfpielung auf di 
im venetianifchen Konzil 1550 feftgeftellten Lehrpunkte — „au 
noch andere Srrtümer fi) unter euch finden, betreffs der Ay 
erftehung der Toten oder in der Lehre von den Engeln und Tu: 
fein, oder in anderen Dingen, fo denken wir doch, daß wenn g9Jh 
an diefen Artifel glaubt, Ihr auch bald bezüglich der andern 
Euern Sinn ändern und Euch von Gottes Geift in ber Kirk 
leiten laffen werdet ...“. 

Um nun die Propaganda wirkfam in die Hand nehmen ı 
fünnen, brachte Gherlandi ein Verzeichnis von folchen mit, wel 
int den verfchiedenften Orten, vornehmlich des Dominiums, der an 
baptiftifchen Lehre ergeben waren und von denen man voransjet, 
daß fie zur Förderung bes gemäßigten Anabaptismus bereit ji 
würden. Diefes Verzeichnis, übrigens von Gherlandi felbft al 
undoliftändig bezeichnet, liegt den Akten bei. Es iſt nachträgli 
noch durch eine Lifte von „Mitſchuldigen“ ergänzt worden, welk 
der Notar der Inquiſition aus Angaben in den Verhören al 
geftellt Hat. Wir werden bier wieder mit einer großen Anh 
von Anabaptiften befannt gemadt: für Venedig hat Gherlan 
jech® verzeichnet, darunter einen Handſchuhmacher, einen Zimmer 
vermieter und einen, der enftervorhänge macht; für Papdıra ein 
Bäcker und eine Frau; für Vicenza fünf, von denen einer, M 





Wiedertäufer im Benetianifchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts. 41 


Bechermacher Giov. Pietro in ber Pfarrei San Rocco, noch den 
unter dem 5. März 1559 von Francesco della Saga aus Mähren 
gejchriebenen befonderen Empfehlungsbrief zugunften der „Brüder*, 
nämlich Gberlandis und feiner Begleiter, erhalten ſollte. Die 
übrigen Orte, für welche Adreſſen vorliegen, find die folgenden: 
Malborghetto, Gemona, Riva Rotla, Thifana di San Michele, 
Billa nova, San Maure, Cinto, Noventa, Sprefiano, Trevifo, 
Billorba, Arcade, La Mira, Mezzaftrada, Villa Verla (?), Iſola 
im Val Lugana, Piove, Valdagno, Verona, Caftel S. Felice, 
Bergamo, Maderno, Feltre, Fonzas (?), Görz, Caſuol (?), Citta⸗ 
della, San Baſtian, Trieſte, Lugo, Gorgo (Borgo?), Mantua, 
Viadana, Guaſtalla, Doſe (?), Lucera e Rezuol (?), Meſtre, 
Gazo, Scandolara, Gefalte (?), Rivaſecca, Formegan (tra Feltre 
e Cividal), Cao del Ponte, Primer, Pel (?) und zwei nicht näher 
bezeichnete Orte bei Poſchiavo und bei S. Maurizio; endlich Fer⸗ 
rara und Udine. Wenn man nun dazu noch die Mitſchuldigen“ 
aus der Lifte des Notars rechnet, die fi) in Capo d'gſtria, 
Oderzo, Bafjano, le Tezze, Mufolente, Maroftega, Serravalle bei 
Gividale, Aſolo, S. Zenone und Mufaftretta befinden, fo erhellt 
eine erftaunlic) weite Verbreitung der Bewegung fchon aus den 
Alten diefes einen Prozefies. Aber es fcheint, daß Gherlandi nicht 
in die Lage gekommen ift, von feinen Adreffen und Empfehlungen 
viel Nutzen zu ziehen. Wenigftend bören wir von feiner Wirk« 
ſamkeit nichts, wiffen allerdings auch nicht, wie lange er innerhalb 
ber Grenzen Staliens frei feinem Zwecke Hat nachgehen Tünnen. 
Im BVenetianifchen ift er fett Weihnachten 1560 mit einem Ita⸗ 
fiener thätig geweien. Wenn er — was nicht zu bezweifeln — 
der Brief de8 Saga an den Bechermacher in Bicenza ſelbſt aus 
Nikolsburg mitgebracht, alfo die Reiſe von dort nicht vor dem 
5. März 1559 angetreten hat, fo mag er etwa im April 1559 
die venetianifche Grenze Überjchritten haben. Wielleicht aber Liegt 
ein abermaliger Aufenthalt in Mähren dazwilchen, denn vor uns 
taucht fein Name erft bei dem eriten Verhör am 14. Oltober 
1561 auf, und wir hören durd ein von ihm an die „Gemain“ 
gerichtetes Schreiben vom 4. Dftober 1561 nur, daß ihn ein 
„Bandito" aufgegriffen und nad) Venedig geliefert bat. Als er 


42 Beurath 


dieſes Schreiben, welches übrigens nicht an ſeine Adreſſe gelangt 
iſt und noch jetzt den Akten beiliegt, verfaßte — es war das erſte 
Mal, daß ſich ſeit feiner Abreiſe aus Mähren die freilich trüge- 
rifche Ausficht bot, einen Brief an jene beforgen laſſen zu kön⸗ 
nen! — da befand er fich gefangen in einem dem Grafen Gio- 
vanni San Bolo zugehörigen bei San Giovanni in Bragora ge⸗ 
legenen Haufe. Das Schreiben Sherlandis atmet die feite Zuver⸗ 
ficht, daß Gott alles zu Seiner Ehre Ienfen werde und erbittet die 
Fürſprache der Brüder, auf daß er felbft feit bleibe in dem Be⸗ 
fenntnis der Wahrheit. 

Bon befonderem Belange tft nun anßer diefem Briefe und 
dem Schlußurteil des Xribunales jenes dritte ſchon erwähnte 
Schriftſtück, in welchem Gherlandi ein umfafjendes Bekenntnis 
ſeines Glaubens ablegt „in Furcht und Zittern angeſichts der 
Wichtigkeit des Werkes“, aber auch im Vertrauen auf Gott und 
in Einfalt und Aufrichtigkeit. Nachdem Gherlandi berichtet hat, 
wie er durch das oben erwähnte Schriftwort zur Umkehr getrieben 
worden ſei und endlich das dem Herrn heilige Volk in Geſtalt der 
Gemeinſchaft der „Brüder“ gefunden habe, giebt er über die 
grundlegenden Wahrheiten des Glaubens die folgende Auskunft: 
„In der (wahren) Kirche glaubt man — und alſo bekenne auch 
ich — an einen Gott, der ohne die Grenzen von Anfang oder 
Ende in und durch ſich ſelbſt beſteht. Deshalb kommt der hehre 
Name ‚Gott‘ ihm allein zu; er iſt es, der Himmel und Erbe 
und alles, was darauf tft, gefchaffen hat und der alles durch den 
Rat feines Willens wirkt. Ihn darf man nicht fragen: warum 
haft du dies oder das gethan? Dieſer Gott Hat den Menſchen 
nach feinem Bilde und Gleichnis gefchaffen; aber durch die Miß- 
gunft des Zeufeld ward Adam verführt, und nachdem er zum 
Übertreter des göttlichen Gebotes geworden, erfannte er, daß er 
nadt fe. Und er war dies aud in der That — ermangelte er 
do der Gnade und Gabe Gottes, und war doch fein Fall fo 
tief und derart, daß nicht nur er, fondern auch alle jeine Nach⸗ 
fommen ohne irgendeine Hoffnung auf Heil geblieben fein würden, 
wenn nicht Chriftus, der verheißene Same, dagewefen wäre.” 
Und fo legt Gherlandi die Heilslehre ganz in orthodorsevangelifcher 





Wiedertäufer im DBenetianifchen um die Mitte tes 16. Jahrhunderte. 43 


Form dar, um dann, auf fein Leben zurückblickend, folgendermaßen 
fortzufahren: „AS ich zuerft die Kirche der Brüder in Mähren 
kennen Ternte, achtete ich auf ihr Leben, ihre Einrichtungen und ihr 
Verfahren und fand nichts, was mir Anftoß gegeben hätte, ons 
dern erbaute mich vielmehr an ihrem guten Beifpiele. Denn ich 
fah nur riede, Ruhe und Liebe unter ihnen. Nach zehn ober 
vierzehn Tagen Hatte ich foweit Vertrauen gewonnen, daß ich mit 
ihnen meinen Glauben beſprach; indem ich denfelben mit dem 
ihrigen verglich, gefiel mir diefr. Da ich aber fand, daß fie 
nicht mit dem üibereinftimmten, was damals einige in Stalien über 
die Menfchwerdung Chrifti Iehrten, fo erbat ich von der Gemeinde 
die Erlaubnis, nach Italien zu reifen und meine Fremde zu Wars» 
nen, damit nicht jene peftbringende Lehre noch mehr Unheil ans 
ftiften möchte. - Das geftattete mir die Gemeinde und gab mir 
ein Schreiben mit, welches in Abjchrift vorliegt. AS ih nun 
nad Stalien kam, befchloffen diejenigen, welche ſich der Gemeinde 
unterwerfen wollten, nah Mähren zu ziehen, weil fein Diener am 
Wort in Stalten war. — Die Gemeinde beobachtet nun bei der 
Aufnahme neuer Mitglieder die folgende Ordnung: Man läßt fie 
erft 8 oder 14 Tage oder auch einen Monat warten, damit fie 
nad Einficht in das Leben und Wefen der Gemeinde zu feiten 
Entfchluffe fommen. Wenn fie dann nad mehrmaliger Ermah⸗ 
nung erklären, daß fie biß zum Ende beharren und getauft werden 
wollen, fo giebt ihnen der dazu erwählte Diener am Wort die 
Taufe im Namen des Vaters u. f. w.“ Außer der Zaufe be 
Schreibt Gherlandi noch zwei religiöfe Funktionen: den Gottesdienft 
am Sonntag und bie Ausftoßung reſp. die im alle der Reue 
erfolgende Wiederaufnahme von Gliedern der Gemeinde. Zum 
Schluß bemerkt er den Herren vom Inquiſitionstribunal gegen- 
über, die ihm das Bekenntnis abgefordert haben: „Nehmt es nicht 
übel, daß ich fo einfach fchreibe; ich bin ja in der kunſtmäßigen 
Darftellung nicht erfahren, fondern ein armer Laternenmaher — 
arm bin ich freilich nicht, da ich mit meinem Scidfal zufries 
den bin." !) 

Diefes Zufriedenfein Gherlandis follte ſchon bald auf die härs 


1) ©. da8 ganze Schreiben im Anhang. 


44 Benrath 


tefte Probe geftelit werden. Nachdem das „DBelenntnis* im bie 
Hände der Richter gelangt und als hinreichender Beleg feiner 
Keberei erfannt worden war, ſchickte das Tribunal den Minoriten 
P. Giov. Maria aus Cremona, um deu Gefangenen aud) münd⸗ 
ih über die betreffenden Glaubensfäge zu veruehmen. Unter dem 
27. November 1561 berichtet biefer, daß er ihn als Keger bes 
funden babe. Zwei Tage nachher ſchickt man ihm zwei andere 
Dinoriten zu, P. Elifeo und P. Pietro, die ihm mit Korzils⸗ 
beſchlüſſen, Bernunftgründen und Bibelftellen ohne Erfolg zufeßen. 
Dann läßt man Zeugen kommen, die ihn nur oberflächlich kennen 
und nichts Beſtimmtes über ihn ausfagen. Kin viertes Verhör 
findet am 26. April 1562 ftatt — Gherlandi bleibt „verſtockt“. 
Da beitellt man ihn wieder auf den nächften Dienftag, „um das 
definitive Urteil zu hören“. Allein das Urteil ift doch nicht an 
dem bezeichneten Zermine gefällt worden — was die Erledigung 
der Sache hintan gehalten Hat, willen wir nit —, am 17. Sep⸗ 
tember 1562 fand ein abermaliges Verhör ded Angeklagten ftatt. 

Die Runde von Gherlandis Verhaftung unb von dem boraus« 
fichtfichen Ausgange feines Prozeffes war, obwohl er direlte Nach⸗ 
richt an die Gemeinde nicht hatte gelangen Taffen fünnen, doch zu 
den Brüdern gedrungn. Auch Hatte man ihm im geheimen 
Unterftügungen zugehen laſſen können. Da wollte es das Ges 
fhid, daß am 1. September 1562 in bdasfelbe Gefängnis, in 
welchem Gherlandi fchmachtete, ein zweiter Vertreter der anabap⸗ 
tiftiichen Lehren gebracht wurde: jener Francesco della Saga, wel- 
cher ihm unter dem 5. Mürz 1559 einen Empfehluugsbrief an 
den anabaptiftifch gefinnten Bechermacher Giob. Pietro in Vicenza 
mitgegeben hatte und. der num, als er nad) einer Vifitationsreife 
im Benetianifchen eben im Begriff war wit 22 Gefährten nad 
Mähren binüberzugehen, in Capo d'Iftria gefangen genommen und 
nah Venedig abgeliefert worden war. Über diefen Saga ımb. 
zwei andere mit ihm gefangen genommene Anabaptiſten, Antonia 
Rizzetto ans Bicenza und Nicolao Buceella aus Padua, haben 
wir ausführliche Nachrichten teils in den gerichtlichen Materialien 
(Arch. di Stato, S. Uff. B. 19), teils in ben „Denlbücheln“ 
der mährifchen Wiedertäufer, teild in verfchiedenen von Saga ver⸗ 


Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 45 


faßten Schreiben, befonders einem eingehenden Bericht aus bem 
Lerker an die Gemeinde (1563), welcher zwar im Original nicht 
mehr erhalten, von dem aber eine deutfche Überfegung in der 
Graner Metropolitan⸗Bibliothek und der des Preßburger Dom- 
kapitels vorhanden iſt. 

Francesco della Saga aus Rovigo, geboren 1532, war als 
Student m Padua nad einer ſchweren Krankheit durch ein ernites 
Wort eines dortigen Handwerkers zum Nachdenken über fein bis 
dahin loſes Leben und zur Einfehr veranlagt worden. Gegen 
Ende ‚der fünfziger Jahre finden wir ihn als Mitglied der Brü- 
dergemeinde in Mähren, wo er das befcheidene Handwerk eines 
Schneiders betrieb, ſich aber der allgemeinften Achtung und Liebe 
erfreute. Mittlerweile war fein Vater in Rovigo geftorben und 
die Erbfchaftsangelegenheiten riefen ihn mehrmals nad Italien zu⸗ 
rück — Reifen, die er ſtets auch im Intereſſe der Propaganda 
nutzbar zu machen fuchte, wie denn ein Fra Cornelio von ihm im 
Berhöre ausfagt, daß er oft in das Polefine gefommen jei, um 
dort „Brüder“ zu beſuchen und folche nach Mähren zu führen, 
3. B. Donna Lucia, Schwiegertochter eines Yuan Beato aus der 
Billa Eonca di Rama, Donna Catarina, deffen Frau und ein 
Mädchen von zehn Fahren. So ging er auh 1562 über die 
Alpen. Mit ihm war Antonio Rizzetto aus Vicenza. Ihre Be⸗ 
mühungen waren von gutem Erfolge begleitet: Der Herr babe 
ifnen eine offene Thür gezeigt, ihrer viele auch in Welfchland 
groß zu machen und zur Gemain zu bringen, fchreibt er. Die 
Urfache aber ihrer Gefangennahme fei bdiefe: Der Schweizer 
Alexius von Belnig (Aleffio Todescht ans Bellinzona), der eins 
mal bei der Gemeinde in Mähren gewefen, um fich ein Modell 
einer Ochfenmühle zu Holen, fei zu Ihnen geftoßen und habe erft 
freundfchaftlichen Umgang mit ihnen gepflogen, dann aber plötzlich 
an fie die Forderung geftellt, ihm 50 Kronen (Scudi) zu zahlen, 
die ihm angeblich der Bruder des anabaptiftifchen Arztes Buccella 
in Padua fchuldete. Mit feiner Forderung abgewieſen, habe er 
fie verfolgt und verklagt und es zumege gebracht, daß, als ihrer 
zwanzig und einige gerade in einem Schifflein von Capo d’Yjtria 
abftogen wollten, um über Trieft nach Mähren zu reifen, die drei 


"46 Benrath 


Führer, nämlich Saga jelbft, Rizzetto und der Arzt Nicolao Buc- 
cella, gefänglich eingezogen und dem Rate der Zehn in Venedig 
zugefandt worden jeien. Die Gefangennahme erfolgte am 27. Aus 
guft 1562, und der bei den Alten liegende Bericht des Pobeitä 
von Capo d’Yitria, Hier. Landi, an den Rat in Venedig beftätigt 
die Angaben Saga und giebt noch einige Einzelheiten an bie 
Hand, 3. B. daß die zwanzig, welche mit Saga in Capo b’Sftria 
waren, aus Gittadella — aljo aus ber Gemeinde, die fich den 
radikalen Anabaptiften nicht angefchloffen hatte — ftammten und 
ruhig weiter gezogen find. Als nun die Gefangenen — außer 
den breien war es noch der Sohn des Rizzetto nebjt einem andern 
jungen Manne und der Verräter Aleffio felbft, welcher fich durch 
unbedachtes Reden gegen die römifche Kirche auch verdächtig ge- 
macht hatte — in das Gefängnis bei San Giovanni in Bragora 
eingeführt wurden, erfannte Sherlandi aus feiner Zelle den Freund 
und rief ihm erft in deutfcher, dann im italienifcher Sprache zu. 
Seitdem haben fie viel mit einander geredet, und Saga Bat viel 
Troſt und auch Belehrung, wie er fich dem Tribunale gegenüber 
zu verhalten habe, empfangen. Nach Monatsfriſt (am 26. Sep- 
tember) führte man ihn zum erftenmale vor da8 Gericht; nachdem 
die Perfonalfragen erledigt, verlangte man von ihm ein Bekenntnis, 
welches er in vorfichtiger Weife gab. Am 20. Dftober fand das 
zweite, am 5. November das dritte Verhör jtatt, denen dann nod 
mehrere mit durchſchnittlich vierwöchentlicher Pauſe folgten. Che 
Saga zum zweitenmale vorgefordert wurde, erging in dem Prozefie 
Gherlandis die Entfceheidung. Es war, wie erwähnt, am 23. Ok⸗ 
tober 1562, al8 man ihm da8 Xodesurteil ſprach. Noch am 
3. Oftober Hatte er auf die Ermahnung der Richter, feine relis 
giöfen Meinungen fahren zu lafjen, geantwortet: das feien feine 
„Meinungen”" fondern die Wahrheit, für die zu fterben er 
bereit fei; und das Iette Wort, welches er dem Pfarrer von 
San Giovanni Decollato, der den letzten Bekehrungsverſuch an 
ihm machen follte, zurief, war nach deffen Bericht: „Vor Gott 
allein fol man fich beugen und nicht vor Menfchen!" Das Ur» 
teil, wie alle derartige, „in Chrifti Namen und Gott allein vor 
Augen“ von den Richtern erlafjen, geht davon aus, daß Gherlandi 





Wiedertänfer im Benetiantfhen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 47 


durch die Verhöre, die Ausfagen anderer und fein eigenes fchrift- 
liches Bekenntnis der anabaptiftifchen und anderer Ketereien hin⸗ 
länglich überführt fei, die dann einzeln aufgezählt werden; es er- 
wähnt, daß alle Verjuche, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen, 
gejcheitert feien, und ordnet darauf hin an, daß die ‘Degradation 
von dem durd die Subdinfonatsweihe ihm erteilten kirchlichen 
Grade an ihm vollzogen und er dann fofort „ben Dienern dieſes 
heiligen Tribunales übergeben und durch fie hinausgebracht und 
ertränft werde”. So geſchah es. In ſolchem Falle war es 
üblich, den Verurteilten zur Nachtzeit in einer Barke hinauszu- 
fahren; an beftimmter Stelle wartete eine zweite: man legte ein 
Brett quer über beide, befchwerte e8 mit Steinen und band den 
Berurteilten darauf feit, ließ dann die Barken auseinanderfahren 
— das Brett verfant, und „nur die Lagune erfuhr da8 Geheimnis 
diefer Todesart“. Gherlandis letztes Wort war ein Gruß an 
die Gemeinde. Auf einen Papierfegen hatte er ihn gejchrieben 
und durh den Wärter an Saga gelangen lafjen; der hat ihn 
weiter beforg. „Und ob fie ihn wohl nächtlicherweil“, führt 
Saga in feinem Berichte fort, „haimlich ertrenfgt haben, fo ‚wird 
doch folchen fein Tod nicht defto weniger zur Verderbnis ber 
Lügen und zur Offenbarung der Wahrheit bei allen zum Leben 
Erwählten nicht verhalten bleiben, fondern kundt und offenbar wer» 
den. Welcher und Allen ein großer Troſt und Spiegel der Kraft, 
zu thun ein gutes Belenntnid bis in den Tod, gewefen it.“ 

Die „Brüder“ haben Gherlandis Andenken in Ehren gehalten, 
wie das ihre Chroniken darthun, welche den Märtyrertod dieſes 
„Klempners” (Rlampferers) preifen (f. Bed, Wiedertäufer, ©. 
239f). In da8 große proteftantifche Märtyrerbuch ift wenigftens 
fein Name übergegangen, freilich etwas entjtellt, als Guirlanda 
(Hist. des Martyrs, ed. Crespin, p. 680); Wifzowaty hat auch 
ihn willfürlich unter denjenigen aufgeführt, welche den „Collegia 
Vicentina‘ angehört haben follen und mit ihm den damals doch 
erit 16> bis 18jährigen Saga! 

Kehren wir zu diefem zurüd. In dem zweiten Verhöre 
(20. Oftober 1562) fragten die Richter nad) der Zauflehre der 
„Brüder“, und ob er felbft wiebergetauft habe? Seine Ants 


48 Benrath 


worten fchienen fo gefünftelt und unwahrfcheinlih, daß einer ihm 
anfuhr: „Willft du Gherlandi nachfolgen?" Worauf Saga er» 
widerte: „Meine Abficht ift wohl nicht, Hinzugehen und mid zu 
ertränfen, wenn ich aber gewaltfam ertränft werde, jo muß ich 
mir’s fchon gefallen laſſen.“ Da befchlofien fie, er folle fein Be⸗ 
fenntnis schriftlich aufjegen — basjelbe Tiegt den Akten bei und 
befteht aus einer Darlegung der Hauptlehrpimkte mit beigefügter 
fehr eingehender biblifcher Begründung; inhaltlich ftimmt e8 mit dem 
überein, was Saga in einem unten zu erwähnenden Briefe an 
feine Mutter und feine Brüder dargelegt bat. Im dritten Ver⸗ 
hör (5. November) fam man nicht um einen Schritt weiter; aber 
Saga gewann den Eindrud, daß er fein Gefängnis nicht mehr 
verlaffen werde, es fei denn, um zu Tode geführt zu werden. 
Bon diefem Augenblide an — fo fthreibt er den „Brüdern — 
erfüllte ihn nur ein Wunfh und ein Gedanke da8 Gemüt: mit 
aller Gewalt durch Gottes Kraft dem Teufel entgegenzuftehen und 
ein lauteres Bekenntnis der Wahrbeit zu thun! 

Mehrfach verfuchte man Saga durch Disputation über die 
ftreitigen Punkte zu überwinden. Was er von diefen Wortge- 
fechten mit katholifchen Theologen in dem Schreiben an die „Ges 
main" berichtet, ift von nicht geringem Intereſſe — eine Wieder 
gabe würde jedoch bier zu viel Raum in Anfprud nehmen. Im 
vierten Verhör fragte man nad einigen italienifchen Anabaptiften, 
welche zum Teil nah Mähren gezogen waren; dann forderte man 
ihn wieder auf, feine Irrtümer zu widerrufen. Da dies feinen 
Eindrud auf ihn machte, fondern er ftets die Einwürfe widerlegte, 
fo äußerte einer der Richter zu dem andern: „Er ift gleich wie 
der Fontius“ — jener Bartolomeo Fonzio, der nad feiner Rück⸗ 
kehr aus Deutfchland doc den Häfchern der Inquiſition verfallen . 
und am 4. Auguft 1562 erträntt worden war. 

Damit war deutlich genug anf dasjenige Hingewiefen, was auch 
ihm drohte, wenn er fich nicht bereit erklärte, die erkannte Wahr⸗ 
beit zu verleugnen. Aber mutig und zum üußerften bereit, kehrte 
er in fein Gefängnis zurück. In diefe Zeit, ins Frühjahr 1563, 
fat offenbar fein Bericht an die Gemeinde, der er mit treuer 
Liebe zugethan bleibt. „Ich will's nicht unterlaffen”, heißt es ba 





Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 49 


gegen Ende, „Euch gut Heil von Gott dem Ullmächtigen zu 
wünfchen, dieweil ich noch in dieſer Hütte bin. Denn ich Habe 
Euch alle von Herzen geliebt; jet aber Liebe ih Euch noch viel 
mehr, nachdem ich Eurer Teiblichen Gegenwart beraubt fein muß 
— welches mir ein mächtiger Kummer iſt. Und will Euch noch 
lieben bis in meinen Tod, als Chriftum felbft — Euch, die ihr 
Seines Fleifches, ja Bein und Glieder Chrifti fed. Denn Ihr 
habt mich erftlich geliebt, und ich habe von Gott durh Euch ım- 
zählbare Wohltbaten empfangen, die ich Euch weder vergelten, noch 
Euch darum — mögt Ihr mich audh als einen Schuldner an» 
jehen — genugjam lieben mag. Ach will e8 mit Geduld tragen, 
um euretwillen gefchmäht zu werden — wie Ihr denn oben ver» 
nommen habt, wie fie mich fchänden —, und will als ein Ber- 
worfener und Verfluchter um Euretwillen geachtet, ja fogar um 
Euretwillen Hingerichtet werden.“ 

Daran jchließt Saga nun herzliche und eindringlice Ermah- 
nungen an alle, daß fie gutes Zeugnis ablegen müchten: an die 
Alten, vornehmlich die Vorfteher, Leonhart Sailer und Peter Scherer, 
daß fie die Herde weiden follen im Geiſte Ehrifti, daß fie die 
Eintraht erhalten follen im Frieden des Herrn, zur Erbauung 
des Leibes Chriſti — an die Gemeindeglieder, daß fie unterthänig 
und gehorjam fein follen denen, die ihnen mit Treue im Herrn 
dienen — an die (Jungen, daß fie mit Gottes Hilfe durch Chriſtum 
die Fleifchlichen Begierden und ©elüfte töten und den Alten ale 
erfahrenen Männern folgen follen. Insbeſondere wendet Saga 
ſich noch an feine in Mähren angefiedelten Landsleute: „Sc fage 
Euh, meinen Lieben infonderheit, liebet und fürchtet den Herrn 
und ſehet zu, dag Ihr feine Gemeinde und Kirche nimmermehr 
verlafjet, fondern haltet Euch ſtets das Gleichnis Chrifti vor 
Augen, welches er vom Weinſtock geredet hat... . Bor allen 
Dingen bedenket, welch' große Gnade und Heil Euch durch Chriſtus 
widerfahren ift, der Euch durch fein Volt aus der tiefiten Finfter- 
nie herausgeführt und zu feinem wunderbaren Lichte gebracht hat. 
Liebet Euch unter einander mit reinem Herzen, in ne Zauterkeit 
and Volllonsmenheit des Gemütes ohne Gteißnerei . 


Zum Schluß fügt Saga noch Grüße an nzelne bei: an feine 
Theol. Etub. Jahrg. 1885. 


50 Benrath 


Freunde und an fein Weib: an Bärtel Schlefinger, Kafpar 
Behem, Matthes Gaffer; an „feine liebe Mutter (Schwieger: 
mutter ?) Florentina“; an die Engadinerin Urfula, „die mir treu 
ift geweit, welche ich auch in Schwachheit ſehr geliebt und ihr 
auch gewifjenhaft nach meinen Kräften alle geiftliche Gutwilligkeit 
erzeigt habe“..... Mit ihm grüßen die übrigen gefangenen 
Brüder „von neuem, mit dem Frieden unjeres Herrn des Vaters. 
Der wolle nad feiner Gnade die Schäge feiner Gaben eröffnen 
und fie denen nad ihrer Notdurft austeilen, die ihn lieben, uns 
aber nach feinem heiligen Willen von allem Übel erretten und er- 
löſen und fein Werk an uns, wider den Ratjchlag feiner Zeinde, 
binausführen — feinem Namen zum Preis und uns zu ewigem 
Heil, duch Jeſum Chriftum unfern Herrn und Heiland. Amen.“ 

Etwa ein Bahr lang Hören wir nichts mehr über Sagas 
Schickſal. Da bot fih ihm befondere Veranlafjung, ein Schreiben 
an die drei „Savj“ zu richten, welches unter den Akten feines Pro- 
zeffes erhalten ift (ſ. u.). Er hatte Nadricht erhalten, daß der 
Rat befohlen habe, alle Ketzer“ follten binnen einer beftimmten Friſt 
da8 Gebiet der Republik verlaffen. Dieſes Edikt (vgl. Cantü, 
Er. d’It. II, ©. 139) begrüßte Saga al8 ein Zeichen, daß ber 
Nat hinfort feine Hände nicht mehr mit dem Blute der Anders- 
glänbigen, bloß wegen ihrer Verſchiedenheit im Glauben, befleden 
wolle, und fo richtete er denn unter dem 18. Juli 1564 einen 
beredten Appell ,„alli illustrissimi Signori sopra l'Inquisi- 
zione“; man möge auch ihn und alle, die um de8 Glaubens 
willen jest gefangen feien, frei geben, bamit fie das Land verlafjen 
tönnten. Er weiß das Edikt des Rates nicht genug zu preifen: 
„Diefer weile Beſchluß ift nicht ohne Gottes Eingebung und 
Willen in Euer Herz gelommen — fo hat noch nie in der ganzen 
Welt eine Obrigkeit gehandelt! Und fo bitten denn wir armen 
Gefangenen, daß uns gleiche Behandlung mit den übrigen foge- 
nannten Ketzern zuteil werde, auf daß jener Name, der uns fo 
viel Leid gebracht Hat, nun auch Urfache gebe, daß wir an ber 
verheißenen Wohlthat teilnehmen dürfen... .“. 

Aber diefer Appell blieb ohne Erfolg, Der nächſte Schritt, 
welcher nachweislich in Sagas Angelegenheit geſchehen ift, beftand 





MWiedertäufer im Venetianiſchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 51 


darin, daß man ihm den Inquiſitor Fra Adriano, ber ſchon im 
Februar 1564 einen Bekehrungsverſuch gemacht Hatte, wiederum zu 
diefem Zwede zuſchickte. Vielleicht fteht die Wiederaufnahme des 
Prozefjes, die damit bezeichnet ift, in Beziehung zu der Klage über 
Lauheit gegen die Keter, wie Pins IV. ſie 1564 gegenüber dem 
Drator Marco Soranzo erhoben Hatte !). Der Bericht über den 
neuen Bekehrungsverſuch Tiegt vor. Da Adriano erwähnt, baf 
ber Brozeß fchon feit ungefähr 27 Monaten fchwebe, fo wird ber 
Bericht gegen den Anfang November 1564 gefchrieben fein. Als 
Hauptlegereien, welde Saga und mit ihm Rizzetto fich Hätten zu« 
Schulden kommen Taffen, wird aufgezählt: die Bezeichnung der 
mährifchen Kirche als der wahren chriftlichen im Gegenſatz zur 
römifchen; die Verwerfung der Kindertaufe und der Obrenbeichte 
vor dem Priefter; der vollzogene Anſchluß an die Gemeinde ber 
„Brüder“. Da nun beide ſich wiederhoft als hartnädige Keger 
erwiefen hätten, die fich der bewiefenen Langmut des Tribunales 
nicht bedienen wollten — fo ftellt Adriano den Antrag, die Sache 
zum Ende zu führen. 

Aber nochmals traten die „Savj“ retarbierend ein. Den 
dritten der Gefangenen, jenen Aleifio, Hatte man ſchon im No» 
vember 1562 zum Widerruf gebracht; bei dem vierten, Buccella, 
gelang das nach langen Verhandlungen aud: unter dem 5. Des 
zember 1564 ift er dann zu den üblichen Eanonifchen Poni⸗ 
tenzen und zur Relegation aus dem Dominium verurteilt worden. 
Jetzt ging auch der Prozeß der beiden ihrem Glauben treu bleiben 
den mit raſchen Schritten feinem Ende zu. Vielleicht in dieſe 
letzte Zeit fällt ein bemerlenswertes Schreiben, von Saga als „fein 
Teftament” an feine Mutter und feine Brüder in Rovigo ges 
richtet, welches aber nicht am feine Adreffe fondern unter die Alten 
gelangt ift — ein Schreiben, das für die Erkenntnis feiner pers 
ſönlichen Stellung zu jenen und nicht minder feiner dogmatifchen 
Anfchauungen von Wichtigkeit iſt. Sagas leibliche Brüder Hatten 
feinen Anjchlug an die „&emeinde" verdammt; fie hatten fich, 
fo weit nicht die Erbfchaftsangelegenheiten nad dem Tode bes 


1) Vgl. Cantü a. a. ©. III, 139. 
4 * 


62 Benrath 


Vaters ſie zwangen, mit Francesco zu verkehren, gänzlich von ihm 
abgewandt, und ſelbſt als ſie hörten, daß er in Venedig im Kerker 
ſei, hatten fie ſich nicht um ihm bekümmert und ihm keine Unter- 
ſtützung zukommen laſſen, ſei es aus Gleichgültigkeit oder aus 
Furcht ſich ſelbſt zu kompromittieren. Um ſo rührender iſt die 
herzliche Liebe, welche aus Francescos „Xeftament“ redet, eine 
fuchende Liebe, die noch im letzten Augenblick, ja im Angeficht des 
Todes, das Ihre mit Ernft und Freundlichkeit thut, um die Seelen 
der ihm Nächftftehenden zu retten. Was Saga zu Anfang feines 
Briefes über feine eigene Belehrung und ihre Folgen fagt, die zwar 
in den Augen der Welt uur als Thorheit erjcheinen möge, in 
Gottes Augen aber die wahre Weisheit fei, ift meifterhaft in der 
Form und Entwidelung des Gedankens; was er dann Hinzufitgt 
über die herzliche Liebe, die ihn auch jetzt noch treibe, das Heil 
der Seinigen zu ſuchen, obwohl eine Ausfiht anf Erfolg kaum 
vorhanden fei, ift in hohem Grade ergreifend ımd tönt aus in das 
Wort: „Unter Thränen bitte ih Euch) — nehmt die mein Tefta- 
ment Euch zu Herzen!” Und wo er dann die Grundzüge feiner 
reltgiöfen Anfchauung vor ihnen entwidelt, thut er das wiederum 
in einer nad Form und Inhalt fo vorzüglichen Weife, daß mir, 
auch rein theologifch betrachtet, wohl behaupten dürfen, in feinem 
Briefe Lege eins ber bemerfenswerteften Schriftftüde aus dem 
Bereiche der anabaptiftifchen Bewegung überhaupt vor uns, 

Mit dem Winter 1564 ging für Saga und Nizzetto bie ver- 
ftattete Zrift zu Ende. Nochmals, im Februar 1565, verfuchte 
man, fie theologifch zu überreden — Alfonfo Salmeron, ber auf 
dem Trienter Konzil eine hervorragende Rolle gefpielt Hatte und 
nun als Kontroverfift Europa bdurchwanderte, verfuchte fich, wie 
fein Bericht an das Sant’ Uffizto darthut, an ben beiden „Brü⸗ 
dern“ vergebens. Noch andere ſchickte man zu ihnen. Es Half 
nicht. Unter dem 8. Februar ward das Urteil gefprodden — ge⸗ 
meinfam für beide, wie fie alles gemeinfam getragen hatten. Nach 
dem üblichen fromm - phrafenhaften Eingange heißt e8: „Sie find 
ſchuldig und geftändig vielfacher häretiſcher und anabaptiftifcher 
Irrlehren und Schlechtigkeiten; fie find verſtockt geblieben und 
wollen Leib und Seele ind Verderben ftünzen. ... Zur Strafe, 








Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 58 


und damit fie nicht andern diefe anftedende Seuche bringen, ver» 
nrteilen wir fie, daß fie den Händen der Diener diefes heiligen 
Gerichtes überliefert werden. Bon diefen follen fie dann, nachdem 
mündlich Tag und Stunde dazu beftimmt worden, in ein Boot 
gefegt und ins Meer geftürzt werden, fo daß fie ertrinfen und 
ſterben. Diefe Todesart und nicht die gewöhnliche durch Teuer 
fegen wir feit aus beftimmten Gründen und in Kraft der dieſem 
Zribunale durch den Heiligen Stuhl fpeziell verliehenen Vollmach⸗ 
ten.“ Unterzeichnet haben: 


Guido, epus Vercellensis, Legatus 
Joannes, Patriarcha Venetiarum 
Mr. Adrianus, Inquisitor generalis. 


As man ben BVerurteilten die verhängnisvolle Kunde gab, 
Ichwantte Saga einen Augenblid: „Ich will nicht ertränft werden, 
ih will als guter Chriſt fterben“, fol er nach dem Berichte des 
Capitano, der ihm die Mitteilung machte, gefagt haben. Riz⸗ 
zetto dagegen erflärte: „Ich wiberrufe nicht!" An einem der 
folgenden Tage, ‘Donnerstag, um zehn Uhr abends, ward das 
Urteil an beiden vollftredt „... vnd find allda zu Venedig im 
mer ertrendht und verjendht worden, im 65. ar“, berichten 
die Denkbüchlein der Wiedertäufer; „aber das mer wird feine 
Zodten widergeben am Gerichtötag Gottes“. — 

Das Schidjal eines Gherlandi, Saga und Rizzetto mochte 
denjenigen Anabaptiften, melde bisher noch nicht den Befehl des 
Rates befolgt und das Land verlaflen Hatten, eine dringende Mab- 
nung fein. In welchem Umfange freilih von dem damit ge⸗ 
währten freien Abzuge Gebraud gemacht worden ift, läßt fich nicht 
feitjtellen, da die Dentbüchlein fchweigen. Nur bie ferneren venetia« 
nischen Prozeſſe geben einiges Material an die Hand, welches Schlüffe 
möglid) macht. Die anabaptiftifche Gemeinde von Eittadella mag 
in dem bei Capo d’Yftria uns begegnenden Zuge vollzählig aus⸗ 
gewandert fein: wenigftens ift im der Folgezeit kein Prozeß und 
feine Anklage wegen Anabaptisuns mehr gegen einen Dortigen ans 
geftrengt worden, während deren nicht weniger als adıt für bie 
Jahre 1552 und 1553 in dem Alten verzeichnet find. Noch wäh⸗ 


54 Benrath 


rend Sagas Prozeß ſchwebte, wurden drei andere gegen Anabap⸗ 
tiften aus Cinto in der Didcefe Concordia geführt: die Angeklagten 
find in Mähren gewefen nach gejchehener Wiedertaufe, fie leilten 
Widerruf und werden (Juni und Juli 1563) zu den üblichen 
fanonifchen Strafen verurteilt. Für Trevifo kommt noch einmal 
ein Prozeß vor im Jahre 1565 gegen einen Antonio Colombani 
aus Ereipano; in Padua, Chioggia, Konegliano, Udine zwar in 
den folgenden Jahrzehnten noch manche wegen „luteranismo‘“, 
aber feiner wegen „anabattismo““. Gegen einen Einwohner von 
Vicenza, Bernardino Barbano, wurde 1573 eine Anflage auf 
anabaptiftifche Irrlehren angeftrengt. 
In Verona, Mantua, Bergamo, Rovigo, Eremona und Crema 
fommt fernerhin kein folcher Prozeß mehr vor, während die Zahl 
der wegen „luteranismo ‘‘ erhobenen und verfolgten Anflagen eine 
verhältnismäßig bedeutende iſt. Gegen Rinaldo Fabris aus Fer⸗ 
tara ift 1564 wegen Anabaptismus Anklage erhoben worden, und 
der gegen Giovanni Sambeni ebendeshalb angeftrengte Prozeß Hat 
mit deſſen Ertränfung 1567 geendet (Arch. di Stato, S. Uff., 
B. 22). Aus der Wiedertäuferchronit geht noch hervor, daß im 
Jahre 1566 ein „wälfcher Bruder” von gräflichem Gejchlechte, 
welcher einige Jahre Mitglied der „Gemain“ war „und ſich gar 
nieberträchtigklich (Leutjelig) und wohl geſchickt im Chriſtenthumb“ 
bewiejen, hinunter 309, um fein Weib aus Wälſchland zu holen. 
„Da iſt er verraten und angeben worden, vnd fein gefante Leut 
von Venedig fomen, die haben ihn gefenkhlich angenommen vnd 
ins mer verfenft ond ertrenkht, vnd ihn alfo vertufcht, auf daß es 
in der Still Hingehe vnd nit vil hendel geb, fo fie ihn gen Bes 
nedig brüchten, weil er aines hoben ftames gewefen.“ !) Das 
letztere iſt charakteriftifch: dasſelbe Beſtreben, die Mitglieder der 
Ariftolratie und ihre Familien um jeden Preis von dem Vor⸗ 
wurfe der Ketzerei frei zu halten, Hat ja auch, wie mir oben fahen, 
in einem Altenftüde die Rafur von zwei Namen von Edelleuten, 
die fich der Ketzerei verdächtig gemacht Hatten, veranlaßt. 

Diejer „Graf von großem Stam“, deffen Vornamen „Hand 


1) ©. die Beckſche Publikation, S. 249. 





MWiedertäufer im VBenetianifchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts, 55 


Jörg“ allein angegeben werden, fcheint der einzige italienische 
Edelmann gewejen zu fein, welcher fich der anabaptiftifchen Be⸗ 
wegung hingab und unter den mährifchen Wiedertäufern Wohnung 
nahm. Ein Mann von befanntem Namen, der dasjelbe that, ift 
Nicolao Baruta, der von Wifzowaty unter die Teilnahme der 
„Collegia Vicentina‘“ gerechnet wird. Paruta begegnet u. a. in 
einem Aftenftüd vom Sabre 1567, mit dem ich meine ardhiva- 
liſchen Mitteilungen befchließe, weil e8 in fehr Lebendiger Weife 
ein Beifpiel davon giebt, wie fih im 16. Jahrhundert die neuen 
Ideen durch Vermittelung von Neifenden, die fie an den Haupt- 
zentren der Bewegung Fennen lernten, verbreiteten und weil e8 zus 
glei) auf die Art, wie die Propaganda in Genf betrieben wurde, 
ein Streiflicht wirft. 

Unter dem 21. Januar 1568 reichte ein gewiſſer Marcantonio 
Varotto aus Venedig dem Vikar des Patriarchen den folgenden 
Beriht !) ein: Er fei feines Handwerkes Fahnenmaler und Tep- 
pichweber, fei im Mai 1564 nad) Lyon, dann mit einem Mais 
länder nach Genf gegangen, um einmal zu fehen, was denn die 
Lutheraner wären, über die er fich bisher immer luſtig gemacht. 
In der Herberge kamen einige Staliener aus der dortigen fchon 
fehr zahlreichen Flüchtlingstolonie zu ihm; Andrea da Ponte, ein 
Edelmann aus Venedig, Senior der italienischen Gemeinde; Gia⸗ 
como Campagnola aus Verona; Hieronimo Grotto, ein Edelmann 
aus Cremona; ein Goldſchmied Meſſer Pietro aus Venedig und 
fogar der eben zurückgekehrte Marcheſe Galeazzo Caraccioli. Man 
führt die Fremden zu Nicolao Balbani aus Yucca, der fie freunde 
(ih) aufnimmt und Herzlich darüber lacht, daß man die „luterani “ 
in Stalien für Atheiften halte, fich übrigens gegen den Namen 
Qutheraner verwahrt — siamo Cristiani, non Luterani! 
Grotto beherbergt die Neuangelommenen und führt fie zur Kontro⸗ 
verspredigt in St. Germain. Bei Zifche fpricht derfelbe gegen 
Bilderdienft und Plärren und ftellt als Leuchtendes Beiſpiel ber 
Opferfähigleit in Glaubensfahen „den Herrn Marchefe“ und eine 
Anzahl von DBlutzeugen der evangelifhen Bewegung Hin. Dann 


1) Arch. di Stato, S. Uff., B. 22. 


56 - Benrath 


führen zwei Staliener fie durch die Stadt — «8 ift leicht, mit 
Hilfe von Galiffes Verzeichnis 1) die meiften der hier begeguenden 
Perſönlichkeiten zu identifizieren — und das Abendbrot genieken 
fie bei Caraccioli felbft, der bis an fein Ende Borfteher der Ge 
meinde gemefen if. Am Sonntag fand wieder vormittags Kontro⸗ 
verspredigt, abends Katechismuspredigt ftatt durch einen Neapo⸗ 
fttaner, Deeffer Pietro, der auch in Venedig als Schulmeifter ge 
wefen war. An allen Gottesdienften nahm Varotto teil; die Haupt 
fragen befprah) man mit ihm, und da er wünſchte, in die Ge 
meinde aufgenommen zu werden, jo geichah dies nad) 8 oder 10 
Tagen im Konfiftorium — fein Name wird in das Buch einge 
tragen, er entſagt allen früheren Irrtümern, Inieend beten die 
Anweſenden, daß er ftandhaft im Glauben bleiben möge. Am 
nächften Tage erfolgte die Aufnahme in den Bürgerverband, wobei 
man ihm ein Diplom auf groß Pergament ausftelt. Etwas 
über ein Fahr blieb Barotto in Genf, ging dann nach Turin, wo 
er fünf Monate „katholiſch“ Tebte, darauf nah Mailand und 
Mantua, wo er befonders unter den Vornehmen viele Keger fand, 
endlih noch in 1566 nach Venedig zurüd. Es dauerte nicht 
fange, fo. entdedite der Meiſter, bei dem er arbeitete, daß Varotto 
ein Reger fei, und da ihm nun ein Belchrungsverfuch durch einen 
Mönch angekündigt wurde, entwid er und ging zur Garnevalszeit 
1567 nach Mailand, Rom und Siena, wo man ihn an zwei 
feerifche Ehdelleute wies. Venedig auf der Rückreiſe nur flüchtig 
berührend,, eilte er über Udine und Trieſt nah Wien, von dort 
nach Mähren (Auguft 1567). 

In Aufterlig traf Varotto den ihm in Genf genannten Be» 
netianer Nicolao Paruta. Diefer, ein wohlhabender Dann, nahm 
ihn freundlih auf, — „er ift Anabaptift und Samofatener“ fett 
Barotto Hinzu; er gehörte alſo der radifalen Richtung an. Sr 
bezug auf die Zauflehre, fährt Varotto fort, fei es dieſem ge 
(ungen, ihn auf feine Seite zu ziehen, freilih auch nur vorüber 
gehend, da er fpäter in der Apoftelgefchichte gelefen, daß ganze 


1) „Le Refuge italien de Gendve‘‘, Genf 1881. Auch Varottos Name 
begeguet dort. 





Wiedertäufer im DBenetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 57 


Samilien — aljo au Kinder — von den Apofteln getauft wor» 
den feien. Die Menge der Selten in Mähren habe ihn erfchredt, 
und nad) zwei Monaten habe er, von Parnta durch Neifegefd im 
Betrage von zwei Thalern unterftügt, fich wieder nach Italien 
zurückbegeben. Auf dem Wege fei er elend geworben, in ber 
höchften Not fei ihm die „Inſpiration“ gelommen, alles zu ber 
fernen und zu beichten und fo Verzeihung zu erlangen. Nach» 
träglich giebt er noch einige Zufäge, die von Intereſſe auch für 
unferen Gegenftaud find: einerfeits eine ÜÜberficht der verfchiedenen 
Abzweigungen der Wiedertäufer und fonftiger Sekten in Mähren; 
anderjeitd die Namen von Landslenten in Mähren, mit denen er 
während feines Aufenthaltes zufammen getroffen if. Da hat er 
denn kennen gelernt: zwei „Haushaben“ von Bicentinern, unter 
denen der und belannte Seilfpinner Antonio und der andere ein 
Knopfmacher Meffer Antonio ift — beide der radikalen Richtung 
angehörend —; ferner einen Barettmacher Tommaſo aus Verona, 
ebenfalls „Samofatener”; dann einen Venetianer Dom. Mala» 
veglio; den Mantuaner Meifer Vincenzo, der Sekte der „Joſephi⸗ 
ner“ angehörig; einen Exmönch Yuan aus dem Königreich Neapel; 
endlich einen vierzehnjährigen Kuaben aus Udine. 


Damit find unjere Nachrichten über das Auftreten von Wie: 
bertäufern in oder aus dem Gebiete der Venetianiſchen Republik 
im 16. Sahrhundert, jofern das Archiv des Sant’ Uffizio darüber 
Auskunft giebt, zum Abfchluß gelangt. Der Gefchichtfchreiber der 
Reformation in Graubünden, Roſius & Porta, bemerkt über das 
Verſchwinden ber radikalen Richtung dortzulande: „Die Anfichten, 
welche Camillo (Renato) und feine Anhänger vertraten, ſcheinen 
mit ihren Urhebern langſam abgeftorben und begraben worden zu 
fein. Als dann im Jahre 1579 noch einmal zwei Führer der 
Bewegung erjchienen, um die „Brüder” zu ftärfen, bat man fie 
unter Todesandrohung gezwungen, Rhätien zu verlaffen, und nur 
ein Fall ift noch 1596 bei einem Manne, ber nad) 17 jähriger 
Abwesenheit ins Land zurückehrte, vorgefommen. So find mit 








58 Benrath 


dem Ablauf des Jahrhunderts auch die arianifhen Meinungen aus 
Rhätien verjchwunden.“ 1) 

Geradefo ift e8 mit den anabaptiftifchen Negungen im Vene⸗ 
tianifchen ergangen. Nachdem die Führer entweder das Land ges 
räumt oder den Tod gefunden Hatten, war e8 mit der Bewegung 
auf dortigem Boden zu Ende. Auch fie war noch vor Ablauf 
des Jahrhunderts vollftändig befeitigt und Hat für den an ber 
Oberfläche haftenden Blick Keine fihtbare Spur Hinterlaffen. Und 
doch ift ihre Entwidelung, wie wir fie hier notdürftig in den 
Hauptlonturen, auf Grund nur zu Tüdenhafter Altenftüde, haben 
vorführen können, nicht ohne perſönlich und theologiſch belangreiche 
Momente, und insbefondere die gemäßigt-anabaptiftifche Richtung 
haben wir in Männern vertreten gefehen, deren Frömmigkeit und 
Glaubenstreue jeder kirchlichen Gemeinſchaft zur Zierde gereicht 
haben würde. 


Gherlandis Bekenntnis. 
(21. Oftober 1561.) 


„Obwohl ih nur mit Furcht die Feder zur Hand nehmen 
fann, um einen fo wichtigen Schritt wie die Ablegung eines Des 
fenntnijfes von dem Evangelium Jeſu Chrifti ift, zu thun, fo will 
und darf ich e8 doch nicht unterlaffen, da ic) ja eben deshalb in 
den Kerker geworfen worden bin und da ich auch die Zufage ges 
geben Habe, dies jchriftlih zu thun. Freilich, wenn ich meine 
eigene Unfähigkeit in Betracht ziehe, fo gerate ich in Verwirrung 
— aber es Hilft mir doch auch wieder der Geift Gottes felbft, 
welcher durch Chrifti Mund gefagt hat: Ich danke dir, Vater und 
Herr des Himmels und der Erde, daß du es den Klugen und 
Weifen verborgen und den Geringen geoffenbart Haft; denn alfo 
war dein guter Wille Nicht daß ich vor dir den Mut verlüre: 
denn ich weiß, daß die Weisheit diefer Welt vor Gott Thorheit 
iſt. So will ih denn die Wahrheit in der Einfalt meines Her- 


1) Rof. a Borta, Hist. Ref. Eccl. Rhaet. I, 2, ©. 632. 





Wiedertäufer im Venetianiſchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts. 59 


zens niederfchreiben, aufrichtig, der geringen Gabe gemäß, bie 
Gott mir ſchenken wird. 

„Zunächft gebe ich einige Nachrichten über mein Leben. Mein 
Vater wünfchte, daß ich Priefter nach der Ordnung ber römischen 
Kirche würde; er ließ mich alle Zage die kanoniſchen Leſeſtücke 
üben und hielt mich zu nichts anderem an. So fam ich, der es 
nicht befjer wußte, auf den Gedanken, daß wenn ich des Morgens 
in diefer Weife angefangen und die üblichen Worte hergeſagt hätte, 
ih dann ein guter Chrift wäre, auch wenn ich ein böfes Leben 
darauf folgen ließe. Aber es blieb mir ein Stachel im Gewiffen: 
ih kam doch zu der Einfiht, daß das chriftliche Leben nicht in 
bloßen Worten beftehen dürfe, und fo blieb ein Verlangen in mir, 
in der That chrijtlich zu wandeln. Da hat der allmächtige und 
gnädige Herr und Gott, welcher feinen verläßt, der vom Herzen 
ihn fucht, eines Tages in feiner grenzenlofen Güte und Gnade, 
als ih da8 Brevier — fo heißt das Buch — las, meine Aufs 
merffamteit auf ein Wort gerichtet, von dem er zeigen wollte, daß 
es wahr und unfehlbar und nicht umfonft geredet fe. Das war 
die Stelle im fiebenten Kapitel des Evangeliften Matthäus, wo es 
beißt: Hütet euch vor den faljchen Propheten, die in Schafs⸗ 
fleidern zu euch kommen, innerlich aber reißende Wölfe find; an 
ihren Früchten ſollt ihr fie erkennen. Und fo habe ich denn treu⸗ 
(ich geglaubt, daß man fie an ihren Früchten erfennt, und babe 
mich gebütet, hüte mich und werde mich ferner hüten, da ih 
glaube und weiß, daß der Baum fein guter ift, der fchlechte 
Früchte bringt. Infolge davon, da Chriftus fagt: Ihr Ottern⸗ 
gezüchte, wie könnt ihr Gutes reden, da ihr doch böfe feid und 
voller Schlechtigkeit, und der Mund von dem fpricht, des das Herz 
voll iſt — habe ih Rom verlafien, feines Lebens und feiner 
Lehren ſatt. Kann doch, der Sklave ift, die Freiheit nicht pre= 
digen, und wer die Sünde begeht, der ift der Sünde Knecht. Ich 
babe nach einem Volle gefucht, welches durch das Evangelium der 
Wahrheit frei wäre von der Knechtſchaft der Sünde, das da wan⸗ 
delte in einem neuen Leben und in himmlifcher Wiedergeburt; das 
die Kraft von Gott hätte, durch den Einfluß des heiligen Geiſtes 
der Sünde zu wiberftehen und bei dem jener Keim der Sünde, 


60 Benrath 


welcher durd) unfere Abkunft von Adam in uns ift, feine Wir- 
fungen nicht hervorbringen, nicht Frucht tragen könnte zum Tode, 
fondern dur Ehriftum vergeben wäre. Iſt doch dazu die heil⸗ 
fame Gnade Gottes allen Menjchen erfchienen und bat uns ver» 
fündet, dag wir der Sünde und den Lüften bes Fleiſches entjagen, 
nüchtern und fromm in der gegenwärtigen Welt leben und jene 
jelige Hoffnung und Erſcheinung des Ruhmes unſeres großen 
Gottes und unjeres Heilandes Jeſu Chrifti erwarten follen, ber 
fich felbft für uns dahin gegeben bat, auf daß er und von allem 
Böfen erlöjen und ſich fein eigenes Voll, dem die guten Werke 
folgen, reinigen möchte. Diejes Volt ift feine heilige, unbefledte 
Kirche, geichieden von den Sündern, ohne Nunzel und Makel. 
Wie fie einft zur Zeit der Apoftel Petrus und Paulus zu Jeru⸗ 
falem war, fo ift fie jegt im Lande Mähren. Sie ift die , Säule 
und Stüge der Wahrheit. Mit ihr Habe ich mich vereinigt in 
der feiten Hoffnung, mein Leben in ihr heilig zu führen bis ang 
Ende. Und ich bin gewiß, daß weder Hunger noch Durft, weder 
Troft noch Hite, weder Tod noc Leben, weder Fürſtentümer noch 
Gewalten, weber Gegenwärtiges noch Zufünftiges, noch irgendein 
Geſchaffenes mid) von der Liebe Gottes zu ſcheiden vermag, welche 
in der Gemeinde wohnt in Chriſto Jeſu unferem Herrn. 

„In der Gemeinde nun glaubt man — und das ift auch mein 
Glaube — an Einen einzigen Gott, ber ohne Anfang oder Ende 
in fich jelbft und durch fich ſelbſt beſteht. Ihm allein kommt der 
große Name ‚Gott‘ zu. Er it e8, ber Himmel und Erde umd 
alles auf ihr gefchaffen hat, der alles wirket durch den Ratſchluß 
feines Willens. Ihm darf man nicht die. Trage entgegenhalten: 
warum haft du das fo oder jo gemacht? Er hat ben Menfchen 
nad feinem Bilde und Gleichnis geſchaffen; aber durch des Teu⸗ 
feld Neid wurde Adam verführt und, zum Übertreter von Gottes 
Gebot geworden, erfaunte er fi ale nadt. In der That, er war 
nadt, d. 5. der Gnade und Gabe Gottes entbehrend, und fo groß 
und tief war fein Fall, daß nicht er allein, jondern alle, die von 
ihm berfamen, jede Hoffnung auf Heil verloren hätten, wenn nicht 
ber verheißene Same Ehriftus dagewejen wäre. Als nun die Zeit 
der Gnade erfüllet war, zu welcher Gott felbft das, was Adam 


Wiedertäufer im Benetionifchen um bie Mitte des 16. Jahrhunderts. 61 


verborben hatte, wieder erföfen wollte, da fandte er feinen einge 
borenen Sohn in die Welt, damit alle, die an ihn glaubten, nicht 
verloren gingen, fondbern ewige® Leben hätten. Und fo ift er denn 
Mittler geweſen zwifchen Gott und bem Menſchen, einen neuen 
Bund und ein neues Teſtament zu begründen; denn Gott war in 
ihm ımb verfähnte die Welt mit fih durch das Kreuz feines 
Todes. So ift er für diefenigen, welche ihm gehorfam find, Ur⸗ 
fache des ewigen Lebens geworben und fitt jett, nachdem er aufs 
erweckt und gen Himmel geftiegen, zur Rechten Gottes immerfort, 
um für ums einzutreten; und es giebt Teinen anderen Namen unter 
den Himmel, durch ben wir felig werden follen, außer dem Namen 
Jeſu Ehrifti von Nazareth. Wie ich alſo an einen einzigen Gott 
glaube, jo auch an einen einzigen Mittler zwifchen Gott und den 
Menſchen, nämlich den Menſchen Jeſus Chriftus. Die aber an- 
dere Mittel neben dieſem oder einen anderen Weg ober eine andere 
Thür ſuchen, um zu Gott zu gelangen, das find Diebe und Räu- 
ber an Gottes Ehre. So achte denn ein jeder darauf, wie er 
baue. Denn das Werk eines jeden wird offenbar werden, und 
einen anderen Grund kann niemand legen, als der gelegt ift: 
Zeus Chriftus. Und wenn auch audere auftreten, die fich Gott 
nennen, fei e8 im Himmel, fei e8 auf Erden, wie es denn viel 
Götter und viel Herren giebt: fo Haben wir michtödeftoweniger 
einen ©ott und einen Herrn Jeſus Chriftus allein, und wir 
taffen fein Gleichnis gelten, weder von Dingen im Himmel noch 
auf Erden, weder als Statue, noch als gejchnittenes Bild, weder 
in Gips, noch in Gold, Silber, Holz, Stein oder Brot oder was 
es fei, daß man die Kniee davor beugen, oder es grüßen, verehren 
oder anbeten ſollte. 

„Ich gehe nun zu der Erzählung deſſen über, was nach meiner 
Reife nad) Mähren geichehen iſt. Bei der Gemeinde angelangt, 
begann ich zumächft ihr Leben, die Einrichtimgen und Bräuche, zu 
beobachten, und da ich nichts gewahrte, was mir hätte zum Ans 
ftoß gereichen können, ih mid) im Gegenteil an dem guten Bei⸗ 
fpiele, da8 fie gaben, erbaute, da ich nur Frieden, Ruhe und gegen. 
feitige Liebe herrſchen ſah, fo entschloß ich mich nach zehn oder 
vierzehn Tagen, meinen Glauben mit dem ihrigen zu vergleichen. 


62 Benrath 


Der Vergleich fiel zu ihren Gunften aus. Da ich fie aber nicht 
in Übereinftimmung mit demjenigen fand, was damals nenerbings 
in Stalien gelehrt wurde bezüglich der Menfchwerdung Chrifti, fo 
erbat ich mir von ber Gemeinde ben Auftrag, nach Stalien zu 
reifen, um meine Freunde zu warnen, damit jene peftilenzialifche 
Lehre keinen größeren Schaden thue. Die Gemeinde geftattete 
die8 und gab mir ein Schreiben mit, welches in Abjchrift vorliegt. 
Als ih nun nah Italien kam, befchloffen diejenigen, welche ſich 
der Ordnung der Gemeinde unterwerfen wollten, nah Mähren 
auszuwandern, weil ſich fein Diener der Kirche in Italien befand. 
„Bei der Aufnahme neuer Mitglieder beobachtet die Gemeinde 
die folgende Ordnung. Zunächſt läßt man fie warten, gewöhnlich 
wenigftens acht oder vierzehn Tage, unter Umftänden auch einen 
Monat, damit jeder Leben und Art der Gemeinde genau kennen 
lerne und einen feiten Entfchluß faffen könne Wenn er dann nad 
- mehrmaliger Ermahnung, daß es ihm Ernft mit der Sade fein 
müffe, bei dem Verlangen nach der Taufe beharret, fo erteilt man 
ihm diefe im Namen des Vaters, des Sohnes und bes Heiligen 
Geiſtes. Das thun nur die dazu erwählten Diener in Gegen- 
wart. der Ortsgemeinde. Nach erfolgter Handauflegung begrüßt 
die Gemeinde fie mit dem Kuß. Zum Taufen gebraudt man 
ungeweihtes Waffer, wie ja auch Bhilippus den Eunuchen mit dem 
gewöhnlichen Waffer, das er am Wege fand, getauft Hat und wie 
Chriſtus Felbft fich mit dem gewöhnlichen Wafjer aus dem Jordan 
taufen ließ. Da aber ich und die anderen Staliener, welche mit 
mir kamen, fchon in Stalien getauft worden, jo brauchten wir 
nicht neu getauft zu werden: wie e8 nur einen Gott und einen 
Glauben giebt, fo hat die Gemeinde auch nur eine Zaufe. 
„Wenn aljo jemand in die Gemeinde aufgenommen ift, fo gilt 
er al8 Bruder. Wollen die Diener die Leute ermahnen, fo ruft 
man fie zufammen, um das Wort Gottes zu hören und läßt aud 
folche teilnehmen, welche noch nicht Brüder find, aber zuzuhören 
wünjchen. Sonntags findet regelmäßig Predigt ftatt, häufig auch 
noch im Laufe der Woche. Das dient dazu, das Volt wach und 
lebendig zu erhalten, damit fie in der Gnade Gottes bleiben; auch 
ermahnt man fie, einander mit reinem Herzen zu lieben, wie 


Wiedertäufer im Venetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 68 


Chriſtus uns gelehrt hat. Wenn aber einer als unverbefferlich an- 
geflagt wird, fo teilt der Diener am Wort (nach gefchehener erfter 
und zweiter Ermahnung) dies der Gemeinde mit. Nachdem er 
eine Ermahnung vorausgeſchickt und den Fall erzählt hat, fordert 
er auf, jeder möge feine Anficht fagen; je nachdem nun die Ge- 
meinde ihm Zeugnis giebt, ob er ausgefchloffen oder ob es ihm 
verziehen werden foll, verfündigt es ihm der Diener. Wird er 
aber auögefchlojfen, fo it ihm unterfagt, am gemeinfamen Gebet 
oder Efjen teilzunehmen; man bält ihn als einen Heiden und 
Zöllner. Wird e8 ihm überhaupt noch geftattet, bei uns zu blei⸗ 
ben, fo giebt man ihm zu efjen getrennt von den Übrigen, damit 
er Scham empfinde: wir halten ihn dann nicht für einen Feind, 
fondern ermahnen ihn wie einen Bruder, daß er umkehre zur 
Buße. Wenn er dann Reue fühlt und von neuem in die Ges 
meinde einzutreten wünſcht, fo muß ihm erft in der nämlichen 
Weife, wie die Gemeinde ihn ausgefchloffen hat, von diefer num 
das Zeugnis, daß er Buße gethan hat, erteilt werden. Kann er 
das nicht erlangen, fo läßt man ihn warten. Hat man es ihm 
aber erteilt, fo fallen wir alle auf die Kniee nieder, und der Dies 
ner fpricht mit erhobener Stimme — fo daß die Übrigen mitbeten 
fönnen — ein Gebet, in welchem er den befonderen Fall berührt 
und Gott anfleht, er möge es jenem um Chrifti willen nicht an⸗ 
rechnen, ihm den Frieden wiedergeben und ihn in fein Reich auf: 
nehmen, oder anderes der Art, mie gerade der Geift es dem 
Diener eingiebt. Auf diefe Weife nimmt man die Neuigen auf 
und fchließt die Übelthäter aus; denn in der Gemeinde duldet man 
feinen, ber unorbdentliches Leben führt. Geſchieht es aber, daß 
jemand in irgendeine offenbare große Sünde verfällt, von ber 
Art, daß die h. Schrift den mit ihnen Behafteten, wie Hurern, 
Ehebrechern, Säufern, Dieben, Geizhälfen oder Gottesläfterern, die 
Teilnahme am Himmelreich abjpricht, — fo wird der, ohne weiters 
hin Befjerung von ihm zu erwarten, vor bie Gemeinde gejtellt 
und ausgefchloffen: fo reinigt man die Gemeinde Gottes. 


„Das ift mein einfaches Bekenntnis. Ich bitte, dasjelbe mit 
Nachficht entgegenzunehmen, da ich ja nicht Redner, Schriftiteller 


6 Benrath 


oder Gefchichtfchreiber bin, fondern nur ein armer Laternenmacher 
— arm bin ich eigentlich auch nicht, da ich ja mit meinem Schick⸗ 
fale zufrieden bin. 

„Am 21. Oftober 1561 habe ich eigenhändig in Gegenwart der 
Herren Beifiger unterzeichnet.” 


(Staatsarchiv in Venedig, S. Uffizio B. 18.) 


Eingabe des Francesco della Saga an die Ingnifitoren. 
(18. Juli 1564.) 


„Hohe und edle Herren! 


„Die Seelengröße, das Wohlwollen und die Barmherzigkeit, 
welche in Euch herrfchend ift, giebt mir armen Gefangenen, Eurem 
unterthänigen Diener, den Mut, vor Euch mit der gegenwärtigen 
Zufchrift zu treten und Euch die eigentliche Urſache unferer Ge⸗ 
fangenhaltung ins Gedächtnis zurückzurufen. Diejelbe wurde ver⸗ 
anlaßt durch einen fchlechten Menfchen, der von uns eine Sunme 
Geldes erpreſſen wollte und, da er fah, daß wir nicht geneigt 
waren, feiner Ihmählichen Abficht zu entfprechen, uns ins Gefäng- 
nis werfen ließ und und nun um der Religion willen verflagte. 
Jenen haben dann Eure Amtsporgänger entlafjen, ohne ihm irgend» 
etwas zuzumweifen; wir aber, in einen efelhaften Kerker geworfen, 
baben fchon fo lange Luft und Sonnenlicht entbehrt. Da wir 
nun um mit Unrecht verlangten Geldes willen feftgenommen wor 
den find und um Ketzerei willen gefangen gehalten werden, jo kann 
ich nicht umhin, Hohe Herren, auf diefen Fall das Gebot unferes 
Herrn Jeſu Ehrifti anzumenden, der in der Fabel vom Unkraut 
lehrt, man folle die Keger bis zum Ende der Tage leben laſſen; 
und anderswo: Hütet euch vor den falfchen Propheten und ihrer 
Lehre, d. 5. Laßt fie gehen, meine Schafe hören doc nicht ihre 
Stimme, fondern fliehen; und anderswo: Wenn fie nicht auf die 
Gemeinde Hören, fo Haltet fie als Heiden und Zöllner. Sant 
Paul fagt ar: den fegerifchen Deenfchen ermahne einmal und nod) 
einmal und dann fliehe ihn. Noch viele andere Stellen ließen ſich 


Wiedertäufer im Benetianifchen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. 65 


dafür beibringen, daß der Herr unſer Gott nicht will, daß man 
einen Häretifer am Leibe ftrafe, viel weniger ihn töte, und wo 
von folchen die Rede ift, die ihm nicht aufnehmen, aber nicht von 
folhen, die ihn verfolgen follen, die Rede ift — iſt doch fein 
Reich durch Chriftum frei und ein Kindesreih, wenn auch von 
allen gehaßt und verfolgt —, fondern Gott will, daß man bie 
Keger durch eigene gute Werke und mufterhaftes Leben überzeuge 
und befehre. Diejenigen, welche dem Worte nicht glauben oder 
fih der gefunden Lehre nicht unterwerfen, fol man nad den er» 
forderlichen chriftlichen Zurechtweifungen von der Gemeinschaft aus⸗ 
Schließen und ihren Umgang fliehen, aber nicht fie ald Feinde an- 
fehen, fondern brüderlich fie ermahnen zu ihrer Erbauung, ob 
fie etwa mit der Zeit hören wollen und ob der gnädige Gott 
ihnen Neue gebe und den Geift, die Wahrheit zu erfennen, — er» 
ſtreckt ſich doch feine Liebe auf alle und will, dag alle felig 
werden. 

„In gleicher Weife Habet auch Ihr, barmherzige Herren, indem 
Ihr aus den obigen und ähnlihen Sprüchen Gottes Willen recht 
erfanntet, wie Ihr denn ihm vor allem gehorfam feid, und 
indem Ihr die große und unermeßliche Zahl von Menfchen ver- 
fchtebener Herkunft und Spraden in Stadt und Dominium ins 
Auge faßtet, die ja auch von verjchiedenen Anfichten in der Reli⸗ 
gion find, in der Abfiht, Eure Hände nicht mit deren Blut zu 
verunreinigen, aber auch durch fie Eure Bevölkerung nicht befleden 
zu laſſen: Habet Ihr einen Befehl ausgehen laſſen, daß ſolche 
binnen fo und foviel Zeit fich entfernen und das Dominium ganz 
verlafien follen. D der weifen Würforge, der unausfprechlichen 
Freundlichkeit und Milde Eurer Herrlichleiten, die fo dem Willen 
des großen Gottes entiprechen, Menjchenblut nicht zu vergießen! 
Möget Yhr, wie e8 Euch gut ſcheint, Eure Stadt fäubern, damit 
Eure Bevölkerung ruhig bleibe, anderjeitS aber auch denjenigen 
nah Wunſch gefchehe, welche ſchon als Ketzer bekannt und geftraft 
find, — daß fie fih nämlih ein anderes Land und eine andere 
Wohnftätte für den Reſt ihres Lebens fuchen können. 

„Möchten Ew. Herrlichkeiten biefe Freiheit aus Gnade und 
Barmherzigkeit auch auf uns, ihre armen unterthänigen Gefangenen, 

Theol. Stud. Jahrg. 1888. 5 


66 Benrath 


ausdchnen, die wir alle danach verlangen: um jo mehr, da wir 
in anderen Rändern Wohnung, Weib und Kind Haben — wie dies 
zweifellod bezeugt und durch ein von unſerem Fürſten ausgeftelltes 
und im Beſitz Ew. Herrlichleiten befindliches Schriftſtück —, und 
da wir nidht in Ländern und Ortfchaften gewefen, die von Em. 
Herrlichleiten verboten find, auch nicht gekommen find, um irgend» 
jemand ein Leid zu thun, fondern wie die andern Leute, die frei 
in der Welt umbergehen, um unfere notwendigen Gefchäfte zu be- 
treiben. 

„Das will ih zum Schluß nicht verſchweigen, daß die weiſe 
Maßregel Eurer mächtigen Regierung, welche vorgeht ohne Schä⸗ 
digung der fogenannten Häretiler und ohne Blutvergießen, aber 
auch ohne der römifchen Kirche zu nahe zu treten, nicht ohne 
Gottes Eingebung und Willen erfolgt und in die Herzen Em. 
Herrlichkeit eingefößt worden iſt, wie denn der Drud und bie 
Veröffentlichung des gedachten Befehles zur Ausrottung und Ent⸗ 
fernung ber Ketzer bisher unerhört und mie erfaffen ift von irgend- 
einem Fürften in der Welt. Und da darf fi denn niemand wun—⸗ 
dern, daß dieſer wohlgeleitete Staat die einftige Herrjchaft der 
Römer übertroffen hat mit Hilfe feiner durd Gottes Guade jo 
weifen, ehrenfeſten und mildgefinnten Regierungen. Das giebt 
mir armen, unterthönigen Gefangenen ben But, in aller Demut, 
aber aus tiefftem Herzensgrunde Euch, milde und erbarmungs- 
veide Herren anzuflehen, daß fie nicht ums zu Baſtarden neben 
den berechtigten Kindern machen wollen, da wir alle einen Namen 
tragen, ſondern daß fie und wie jene unter dem Befehl begreifen 
wollen, damit uns, wie wie um des faljchen Namens willen Ver⸗ 
fofgung ertragen (freifih in Geduld und ſchuldlos in Gottesfurcht 
und mit gutem Gewiffen), fo auch Belohnung zuteil werde durch 
den Genuß der göttlichen Barmherzigkeit und des auf den Namen 
bezüglichen Befehles. Dies um fo mehr, da unſere Gefangen» 
haltung einen ganz anderen Anlaß gehabt als Ketzerei, Lingehor- 
fam oder irgendeine Übelthat. So möge uns denn nach bem 
Willen de8 barmherzigen Gottes und Ew. Hocedeln die reine 
und auferchtige Freiheit verftattet werben. 

„Damit ſchließe ih, beuge mi in aller Demut vor Em. 


Meyer, Die Wablfreiheit des Willens ꝛc. 67 


Herrlichkeiten und bin, indem ih unferer Freilaffung entgegen« 
ſehe, 
Dero unterthänigfter 
Francesco aus Mevige. 


(Staatsarchiv in Venedig, S. Uffizio, B. 18.) 


2. 


Die Wahlfreiheit des Willens und die ſittliche 
Berantiwwartlichleit des Menichen *). 


Ein Keitrag zur Bekämpfung der Theorie von der Wahlfreiheit 
von 


». Weyer, 


Paſtor in Niebergebra. 





Die Wahffreiheit des Willens, d. h. die Fähigkeit desſelben, 
füh unter gegebenen Umftäuden und Bedingungen auch anbers zu 
entſcheiden, als es wirklich gefchieht, ift ein Begriff, deffen Schwie⸗ 
rigleiten heutzutage, da er von fo vielen Stanbpunften ans bes 


*) Die vorliegende Abhandlung ift aus einer Arbeit entnommen, welche 
vor berfelben zuerft die Bedeutung der Wahlfreiheit unter dem pfychologiichen, 
ſodann unter dem vefigiöfen, drittens unter dem fittlichen Gefichtspunkte im 
alfgemeinen, d. b, im Berhältnis zur fittlichen Beichaffenheit überhaupt, ber 
urteilt. Es durfte daher in ber vorfiegenden Abhandlung von allen diefen Be⸗ 
ziehuungen abgefehen werden, um auf der gemonnenen Grundlage ausſchließlich 
die Stellung der Wahlfreiheit zur fittlihen Bexantwortlichleit ins Ange zu 
faffen. Die Lefer werben gebeten, dieſen Sachverhalt berüdfichtigen und bei der 
Lektüre der folgenden Blätter wicht etwas vermiffen zu wollen, was unter eins 
der oben genaunten Themata gehört. An. des verf. 

5» 


68 Meyer 


feuchtet worden ift, keinem denkenden Menfchen mehr ganz ver- 
borgen fein können; und ich bin der Überzeugung, daß er um 
diefer Schwierigkeiten willen, die er dem Anthropologen auf dem 
pſychologiſchen Gebiete, dem Theologen auf dem religiöfen Gebiete 
und beiden auf dem fittlichen Gebiete der Betrachtung bereitet, 
längft allgemein gefallen wäre, wenn er nicht anderfeitS gerade 
unter dem fittlichen Geſichtspunkt doch wieder als ein Poſtulat 
aufträte, welches fich unferem fittlihen Bewußtſein mit unabweis- 
barer Gewalt aufzudrängen fcheint. Ich meine das Bewußtſein 
der eigenen fittlichen Verantwortlichkeit, welches zu allererft durch 
die Idee der Sünde in uns erwedt wird. 

Die Entwidelung unferes fittlihen Lebens ift nicht normal 
verlaufen, fie ift nicht in durchgehenden Einklange mit ihrem von 
Bott gewollten und dargebotenen fttlichen Ideal geblieben; vielmehr 
fteht die Wirklichkeit unferes fittlihen Zuftandes zu dem idealen 
Soll desfelben in einem jchneidenden Gegenſatz. 

Die fittliche Abnormität, die fich bei uns im Widerſpruch gegen 
das fittliche Ideal, alfo auch im Gegenſatz zu Gott felbft heraus⸗ 
gebildet Hat, können wir aber auch nicht von einer anderen, aufer 
ung liegenden Macht wejentlich Herleiten, fondern, mögen wir aud 
noch fo viele und mannigfaltige Umftände, Einflüffe und Gewalten 
dabei mit in Rechnung ziehen, das Wejentliche derſelben müſſen 
wir auf uns felbft zurüdführen, müſſen wir uns felbft zufchreiben. 
Wir fühlen die fittlihe Abnormität, wo wir uns überhaupt ihrer 
bewußt werden, al& unfere eigene Schuld, wir find uns bewußt, 
dag wir felbft im Unterſchied von Gott, ja im Gegenfag zu ihm 
für diejelbe verantwortlih find, und erft dieſes Bewußtſein der 
eigenen Berantwortlichleit läßt uns die Sünde als eigene Schuld 
empfinden. 

Da und nun die Sünde da8 Schuldbewußtfein auferlegt, wel- 
ches feinerfeit8 wieder die eigene Verantwortlichkeit für die Sünde 
jo fiher bezeugt, fo zwingt und die Thatſächlichkeit derfelben zu 
der Anerkennung, daß wir imftande fein müffen, auch unabhängig 
von dem allen, womit Gott und ausgeftattet hat, unabhängig von 
dem allen, wozu Gott uns beftimmt bat, unabhängig von der 
ganzen urjprünglichen Subftanz unferer individuellen Perjönlichkeit 





Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 69 


zu wollen und zu handeln; denn wenn wir dazu nicht imſtande 
wären, fo würde ung auch der Widerfpruch gegen das Urfprüng- 
fihe, gegen das von Gott gejeste Ideal unferes Lebens, d. h. 
aber die Sünde unmöglich fein. 

Diefe Fähigkeit nun, die urjprünglich gegebenen Grundlagen 
unferer Willensentjcheibungen zu verlaffen, unfer Wollen von ihnen 
zu emanzipieren und uns für das zu entjcheiden, was ihrem Sinn, 
Weſen und Charakter entgegengefett ift, feheint in nichts anderem 
zu liegen als in der Wahlfreiheit, im welcher der Wille eben biefe 
Selbftändigkeit und abjolute Unabhängigkeit befit von allem dem, 
was er nicht jelber ift. 

Sp fordert unfer fittlihes Bewußtſein, gleichfam zu feiner 
eigenen Befriedigung, d. 5. um unfere fittliche Verantwortlichkeit 
für die Sünde aufreht erhalten zu können, die Annahme einer 
Wahlfreiheit unferes Willens, und das ift der Sinn, in welchem 
diefe Wahlfreiheit ein fittliches Poftulat genannt wird. 

Obwohl nun diefe Forderung von den meiften derjenigen, Die 
es ſich zur Aufgabe machen, für die fittlide Beftimmung des 
Menſchen einzutreten, wirfli für fo dringend gehalten wird, daß 
fie ihren Gegenftand, die Wahlfreiheit des Willens, ohne weiteres 
für Wahrheit Hinnehmen; obwohl bei ihnen die Leugnung der 
Wahlfreiheit des menfchlihen Willens ohne weiteres fir identifch 
gilt mit der Leugnung und alſo Vernichtung der fittlihen Verant⸗ 
wortlichkeit des Menſchen; obwohl e8 unter denen, welche gegen 
die fittlich gefährlichen Beftrebungen einer determiniftifch gerichteten 
Philofophie anzufämpfen trachten, faft als Parteizeichen gilt, zu 
behaupten, daß der Menih im Beige einer Wahlfreiheit des 
Willens fei, oder zum mindeften gewefen fei, wenn er fie etwa 
jest verloren hat, und daß er die jegige Snechtfchaft des Willens 
eben nur durch den verkehrten, widergöttlichen Gebrauch besfelben 
herbeigeführt habe, der ihm eben kraft jener Wahlfreiheit möglich 
gewefen fei; obwohl es demnach, ein Grundſatz diefer moralifchen 
Richtung ift, welche befonders in der neueren theiftiihen Theologie 
vertreten ift, daß die fittliche Verantwortlichkeit des Menfchen für 
feine Sünde ftehe und falle mit der Wahlfreiheit feines Willens, 
jo ftehe ih dennoch nicht an, das genannte fittliche Poftulat zus 





70 Meyer 


rückzuweiſen, da es nur ſchrinbar ein ſolches ift und in Wirklich⸗ 
keit dem, was es leiſten ſoll, nicht nur nicht entſpricht, ſondern 
fogar durchans widerſpricht. 

Die nachfolgende Darlegung hat die Aufgabe, dies Kai 
weiſen und dadurch dad, was uns aus fo vielen anderen, teils 
allgemein fittliden, teils religidien, teils pfychvlogiſchen Gründen 
plaufibel, ja notwendig erfcheint, zur entſcheidenden Geltung zu 
bringen, indem fie der Wuhlfreiheit des Willens bie Grundlage, 
auf die allein ſie fi allen dieſen Widerſprüchen gegenüber ftüßen 
könnte, entzieht. 

Zuvörderft müffen wir aber, wenn wir das Verhältnis zwiſchen 
der fittlichen Berantwortlichleit und ber Wahlfreiheit des Willens 
Hor durchſchauen wollen, den Begriff der Iegteren nach den oben 
angegebenen Geſichtspuntten in feiner Bedeutung noch genauer feft- 
Stellen. 

Die Wahlfreieit des Willens fol die fittliche Berantwortlich⸗ 
feit begründen. Fragen wir nun, welche Stellung demtad die 
Wahlfreiheit des Willens mitten bed vor feiner diefe DBerant- 
wortlichbeit Yerbeiführenden Entfcheldung ſchon vorhandenen Geiſtes⸗ 
lebens der Perfönlichkeit einnehmen muß. 

Durch die Überlegung biefer Lage finden wir, daß wir für 
unfere Frage aller der Schwierigkeiten überhoben find, weiche ſonſt 
bie genauere Beitimmung des vor dem erjten bewußten Willene- 
alt vorhandenen Zuftandes den Anthropologen zu bereiten pflegt. 
Numlich einerjeits wird man zugeftehen müſſen, baß der Menſch, 
wie er feiner Natut nach eine fittlihe Beſtimmung hat, feiner 
Natur nah auch fchon eine fittliche Anlage befigen muß; under: 
feits ift es doch ſchwer, ben fittlichen Umfang und Inhalt dieſer 
urfpränglihen Unlage genauer zu beftimmen. Iſt es eine gewifſe 
Neigung zum Guten, welde der Menfchenfeele wefentlich einge- 
pflanzt ift und fid zur klar bewußten Liebe des Enten allmählich 
entwickein fol? Iſt es nur das Sollbewußtfein an aund file fich, 
welches der Menſch in fetter prafßtifchen Vernunftanſchaumg dor⸗ 
findet nnd aus welchen er die Neigung zu den Gegenſtünden des⸗ 
‚felben in fich ſelbſt gebären fol? Iſt es gar nur das Wert- 
gefügl, weiches ihm alle Anfhaunngsobjehe in Beziethung zur eige⸗ 


Die Wahlfreiheit bes - Willens ꝛc. 1 


sen Indididunalität feen läßt und füch erft auf der höchften Stufe 
der geiftigen Entwidelung . zum Sollbewußtfein fteigern foll? 
Ebenfo auf der anderen Seite: Iſt es ein ſelbſtiſcher Trieb, wel- 
cher in dem eigenen Zentrum das Maß aller Dinge fehen will 
and nach ihm das Weſen des Guten und des Böſen bemißt ? 
Iſt es ein unbewußt eubämoniftifcher Trieb, welcher dem Sell» 
bewußtfein das Intereſſe des eigenen Wohlſeins entgegenfegt und 
008 erjtere nach diefer Seite hin abzubiegen ſucht? Iſt es ein 
rein fleifchlichee Trieb, welcher das MWertgefühl in der Sphäre der 
Sinnlichkeit feithalten und es in ihr ganz allein möchte aufgehen 
laſſen? We diefe Fragen, mit deren Beantwortung man fich 
fonft die größte Mühe geben muß, fallen hier weg, denn fie find 
für die Stellung der Wahlfreiheit des Willens panglich gleichgültig. 
Denken wir uns den ungünftigiten von allen den genannten 
Sällen, den, daß das Geiftesieben des Menfchen vor jeder Willens» 
entiheidung aus den beiden einander entgegengejeßten Polen ber 
Hände, auf der einen Seite eine möglichft ansgebilbete Meinung 
gum Guten, auf ber anderen Seite ein möglichſt ausgebildeter 
Trieb der Selbſtſucht; fo wäre dies alles etwas, wofür der Menſch 
jelbft in Teiner Weife verantwortlich gemacht werden könnte, denn 
einerjeits wäre es ihm alles fchon von Natur eigen, anderfeits ift 
es ja ausdrädlich ausgemacht, daß die eigene Verautwortlichkeit 
erft durch die Wahlfreiheit des Willens herbeigeführt werden foll. 
Es folgt daraus weiter mit Rotwendigkeit, daß alle dief? fitt- 
lichen Elemente des eigenen Seins, ſo entwidelt und ftark fie auch 
an und Für fi fein mögen, doch Hinfichtlih der Wuhlfreiheit 
jedes Eindruces entbehren müffen; denn wenn fie an und für ſich 
Schon auf diefelbe auch nur irgendeinen Eindrud machten umd die 
Wahlfreigeit fi) unter dieſem umgewollten Eindrude entfchiebe, 
dann würde fie etwas gethan haben, für das wicht fie felbft ver⸗ 
antwortlich gemacht werden könnte, fondern der Eindrud, den fie 
ohne ihre Wahl erlitten Hat. Sie Hätte fi) dann wilht aus fich 
felbft heraus entfchieden. Sollte fie unter ſolchein Eimdrud den- 
noch mit eigener Verantwortlichleit Handela, fo müßte es min- 
deſtens von ihr felbft allein abhängen, ob derſelbe ſtattfindet oder 
nicht; mit anderen Worten: fie felbft müßte erft die Stärke jener 


72 Meyer 


Momente zu einem Eindrud auf fih, oder zu einem Motiv für 
fih machen. Alfo an und für fih, vor ihrer eigenen Wahl, müßte 
ihr jeder Eindrud fern fein. 

Vielleicht weniger markant, aber ebenfo notwendig ift dies Ver⸗ 
hältnis, wenn die entgegengefete Bedeutung der in uns bereits 
vorhandenen fittlihen Elemente in ihrer Kraft, beiderjeitig ober 
einfeitig, geringer gedacht wird; auch da muß man die Wahlfteis 
heit, wenn fie eine fittlihe Verantwortung herbeiführen foll, durch⸗ 
aus freihalten von jedem unwillkürlichen Einfluffe deffen, was fie 
nicht felber ift. 


Die Wahlfreigeit muß inmitten aller jener jittlichen Elemente 
unferes Geifteslebens eine fonveräne Unabhängigkeit befigen, fri | 


von jeder Beftimmtheit jowohl für die eine Seite, als auch für 
die andere, denn jonft würde es unbegreiflich fein, wie ein fo be 
ftimmter Wille das Gegenteil feiner Beitimmtheit follte ergreifen 
fönnen; und wenn er feiner Beftimmtheit gemäß entjcheidet, fo 
würde biefe Entfcheidung nicht feine fein, fondern deffen, der ihm 
die Beitimmtheit gegeben Hat. Die Wahlfreiheit muß von bem 
fo oder jo gearteten fittlihen Anfangszuftande des Subjektes ifo 
fiert fein, und diefe ihre Iſolierung muß um fo vollfommener 
und ftrenger fein, je vollfommener und ftrenger die fittliche Ber: 
antwortlichkeit gemeint ift, die fie begründen fol, und je mehr von 
berfelben für unfer ganzes folgendes Leben und Geſchick abhängt. 

Der Wille, der durch den Gebrauch feiner Wahlfreiheit fittlicd 
verantwortlich werden foll, muß fi aljo in einem Verhältnis be 
finden, als eriftiere das gar nicht für ihn, was fi) außer feinem 
bloßen Vermögen in uns an fittlihen Elementen vorfindet, keines⸗ 
falls darf es exiftieren in einer weſentlichen Beziehung zu ihm, 
es darf nicht die geringfte motivierende Kraft für ihm befigen, um 
darum muß diefem Willen jelbft alles das fehlen, wodurch das 
andere ohne feine Wahl auch nur die geringfte Bedeutung für in 
gewinnen könnte; denn wenn eine foldhe gewonnen würde, dann 


würde ja der Wille, obwohl er und eine unbedingte Verantwor 


tung aufladen fol, unter Bedingungen ftehen und handeln, welde 
außerhalb der Sphäre feiner Verantwortlichkeit Tiegen; und da die 
Bedingungen, unter denen gehandelt wird, fo weit fie wirklich Der 





Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 78 


dingungen find, eben aud) von Einfluß auf da8 Handeln find, fo 
würde dadurh die DVerantwortlichkeit des Handelnden wejentlich 
alteriert, ja im Grunde von ihm ab zurüdgefchoben auf das, was 
jenjeits feiner Selbftthätigkeit Liegt. 

Diefes Verhältnis des wahlfreien Willens zu den in unferem 
Geiftesleben etwa ſchon vorhandenen fittlichen Elementen läßt uns 
num fchließen auf das fittlihe Wefen desfelben an und für fidh. 
Er Tann ja den in feiner Umgebung befindlichen fittlihen Ele⸗ 
menten nur dann völlig unabhängig, unbeteiligt, ifoliert gegenüber- 
ftehen, wenn er auch an und für fich gegen das Sittliche, d. h. 
gegen den Gegenſatz von Gut und Böſe gleichgültig ift; denn es 
ift nicht abzufehen, wie er ohne diefe abjolute Gleichgültigkeit ge⸗ 
rade in dem ihm vorliegenden Verhältnis gleichgültig bleiben könnte 
und nicht vielmehr ohne weiteres Partei ergreifen follte für die 
Seite, auf welder er das feiner eigenen Neigung Entfprechende 
vorfindet. 

Ja auch ohne jede Rüdfiht auf das Verhältnis zu dem vor» 
liegenden Geifteszuftande des Subjeftes ergiebt fih’s für den 
wahlfreien Willen, daß er überhaupt gegen den fittlihen Gegenfat 
von Gut und Böſe gleichgültig fein muß; daß er weder eine 
Neigung nad) rechts noch nach links haben darf, dag ihm an und 
für fih das Gute ebenfo Teicht wie das Böſe, und das Böſe 
ebenjo leicht wie da® Gute fein muß; denn würde ihm das eine 
feichter al8 das andere, hätte er eine Neigung. nad) der einen oder 
nach der anderen Seite, fo würde er damit fhon daB Vorhanden⸗ 
fein eines fittlihen Charakters offenbaren, den er fich nicht jelbft 
gegeben hat, für den er darum auch nicht ſelbſt verantwortlich ges 
‚macht werden kann; er würde, falls ihm das Gute leichter würde 
als das Böſe, ein guter Wille, falls ihm das Böſe leichter würde 
als das Gute, ein böfer Wille fein; und das leugnet wohl nie- 
mand, daB ein guter Wille nur gut und ein böjer Wille nur böfe 
wollen kann, und daß man einen böfen Willen nicht dafür ver- 
antwortlich machen kann, daß er böfe will, wenn man ihn nicht 
zugleich auch dafür verantwortlich machen Tann, daß er böje ift; 
das kann man aber nicht, wenn er fchon von Natur, vor eigener 
Wahl böſe ift, oder auch nur eine Neigung zum Böſen bat. 


74 Meyer 


Es ift ja leicht einzufehen, wie auch die Leifefte Spur von 
pofitiv fittlicder Neigung, fei ed zum Guten, ſei es zum Böfen, 
die man dem wahlfreien Willen etwa belaffen möchte, doch wieder 
von dem eigentlichen Vermögen zu wollen, zu wählen getremt | 
werben muß, denn wenn dies nicht geichieht, wenn man diejee 
DBermögen in einen weientlichen Zufommenhaug mit der wenn au 
noch fo leifen Spur von Neigung bringt, derart alfo, daß dieſes 
Bermögen fi felbft von derfelben bei feiner Wahl nicht los⸗ 
machen kann, fo hört diefe Spur von Neigung eben auf, fo leiſe 
zu fein, und wird zu einer beftimmenden, welche ben Erfolg der 
zu treffenden Entjcheidimg und darum aud die Berantwortlichkett 
für diefelbe auf ſich felber, aljo dem Willensvermögen abnehmen 
muß. Und wie follte ſich das Willensvermögen von folcher Nei⸗ 
gung loomachen Türmen, weun jie ihm weientlich iſt? Iſt fie ihm 
ober nicht wejentlih, fo dag fich das Willmsvermögen bei feiner 
Wahl von ihr losmachen kann, dann haben wir eben mwieber bad 
Willensvermögen, das ich bisher gefihilbert Habe, das Willens: 
vermögen, weiches dem Gegenſatz von Gut und Boſe an umd für 
id) gleichgültig gegenüberfteht. 

Sonach muß der Wille, der fich durch feine Wahl ſelbſt erft 
feine fittlicde Beftimmtheit geben foll, um für diefelbe verantwort- 
{ich fein zu Lönnen, bevor er fich diefe Beſtimmtheit gegeben hat, 
gänzlih unverwidelt fein in den Gegenfat von Gut und Bolt; 
er ift ja dazu berufen, erft felbft in dieſem Gegenſatze Stellung 
zu nehmen, er ſoll fich felbit erft zu dem machen, was er an und 
für fich noch nicht ift, er darf felbft noch gar keine ſittliche Be⸗ 
ftimmtheit Gaben fjondern nur die Beltimmung, erſt fittlich be 
ſtimmt zu werben, und zwar lediglich durch Selbfibeftimmung. 
Alſo die- fittliche Unbeftimmtheit, oder nehmen wir den gäng um 
güben Ausdruck, die fittliche Indifferenz, das muß der Zuſtand jein, 
in welchem fich ber wahlfreie Wille urfpränglich befindet; die fitt- 
Tiche Indifferenz oder genauer die Sindifferenz bezüglich des Sittlichen 
muß die Natur fein, welche ihm von beim Schöpfer gegeben ift, de 
mit er nun ſich felbit differenziere umd für das, was er aus feiner 
Indifferenz heraus erwäßlt, verantwortlich gemacht werben Tbnne. 

Wir fehen Hier, wie die Bedeutung der Wahlfreigeit des Wil- 








Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. "3) 


tens über die Grenzen des Boftulates hinausgreift. Bojtuliert war 
fie anfünglih nur gegenüber der fittlihen Abnormität, welche uns 
eine eigene Verantwortung anferlegtee Da wir aber die Wahl- 
freiheit de8 Willens, um der ſittlichen Verantwortlichleit willen, 
die fie herbeiführen fol, als ſittliche Fmdifferenz charakterifieren 
mußten, fo erftredt fie nunmehr ihre Bedeutung nicht bloß über 
da8 Gebiet des ſittlich Abnormen, fondern ebenſo auch über das 
des Fittlih Normalen, 

Die Wahffreigett muß ja, um fi völlig frei für dad Böſe 
entſcheiden zu können, auch die Fähigkeit defigen, fith ebenjo wohl 
für das Gute zu entfcheiben; und das ift nicht zu leugnen, daß, 
wenn diefe leßtere Entfcheidung des wahlfreien Willens erfolgte, 
auch das fittlich Normale, mag es auch hen vorher in unſerem 
Seiftedleben irgendeinen Play innegehabt haben, in eine weſentlich 
andere Stelle gerückt würde. 

So gewinnt denn bie Wahlfreiheit im ihrer fittlichen Indiffe⸗ 
venz einen unmittelbaren Einfluß auf das gefamte Gebiet des jitt- 
lichen Lebens; und während auf der einen Seite vielleicht dieſer 
Umftand ſchon genügt, bisherige Vertreter der Wahlfreiheit von 
derjelben abzafchreden, fo tft er auf der anderen Seite gerade ge- 
eignet, ihr noch mehr Anhänger zuzuführen, Ihre Poſition noch 
entichiedener zu behaupten, vonfeiten dee Anficht nämlich, daß über- 
haupt die Möglichkeit jeglicher Sittlichkeit, le fei gut ober böſe, 
erft gegeben ift mit ber Wahlfreikeit des Willens, kraft welcher 
der Menſch fih in dem Gegenfug von Gut und Böfe entfcheiden 
mäfje, und daß, wenn man überhaupt von einer fittlichen Anlage 
des Menſchen reden wolle, diefe eben nichts anderes fein könne 
als der wahlfreie Wille, der dazu beftimmt ift, exrft im ımb mit 
feine Selbftenticheidung ein poſitiv fittlicher gu werben, da es 
auch betreffs des Guten von viel höheren Werte fei, wenn 28 
‚nicht etwas blog Anerfchaffenes ift, fondern wenn ber Menſch 
felbjt es ans völlig freier Initiative ergreift, fo daß ed nun erft 
fein Eigentum ift, jo daß er's nım erft beflgt, nachdem er es 
felbft erwerben dat. Und man kann es ſich ja allenfalls vor- 
ftellen, daß Gott in den Menſchen folde Weſen haben wollte, die 
nicht durch irgendeine, ſei es auch nur innetliche Notwendigkeit zu 


76 Meyer 


ihm bingetrieben würden, jondern in freier Wahl eines völlig un 
gebundenen, unabhängigen Willens fich felbft ihm und damit dem 
Guten zuwenbeten; daß Gott die Menfchen darum in der Weile 
geichaffen hätte, daß fie den beftimmenden Trieb zum Guten nicht 
ſchon kraft ihres gefchaffenen Weſens fühlten, fondern fich den 
felben erſt jelbft geben follten, damit er bann, als ein völlig frei⸗ 
williger, jelbftändiger vor Gott einen um fo höheren Wert hätte. 

Hm Zufammenhange diefer Anfchauung jcheint die abjolute 
Wahlfreiheit des Willens, oder die abfolute Indifferenz, aus wel 
cher der Wille zu fittliher Beitimmtheit fortfchreiten foll, die 
allein mögliche Grundlage zu fein für die Entfaltung der fittlichen 
Beftimmung bes Menjchen überhaupt. 

Wie nun diefe erweiterte Bedeutung des wahlfreien Willen 
ganz in der Natur des Begriffes liegt, den wir für denjelben ge 
funden haben, nämlich fittliche Indifferenz zu fein, fo entſpricht fie 
auch ganz und gar der Kritik, die ich nunmehr an diefem Begriffe 
üben will. Indem ich nämlich nachzumeifen ſuche, daß die fittlice 
Derantwortlichkeit mit der Wahlfreiheit des Willens nicht nur nidt 
fteht und füllt, fondern gerade im Gegenteil mit derjelben in feine 
Weile vereinigt werben fann, Löfe ich nicht bloß die Bedeutung 
des aufgeitellten Poftulates auf, fondern zerftöre auch die Beben 
tung der Wahlfreiheit für das gefamte Gebiet des fittlichen Lebens. 

Die Unverträglichkeit de8 wahlfreien Willens mit unferer fill: 
lihen Berantwortlichleit aber werden wir erfennen, wenn wir nut 
einmal daran gehen, uns den Prozeß, in welchem der wahlfreie Wille 
dasjenige herbeiführt, wofür wir jittlih verantwortlich fein follen, 
etwas Har zu machen und in feinen einzelnen Stadien zu verfolgen. 

Dergegenmwärtigen wir und alfo, wie der mwahlfreie, d. h. ſitt⸗ 
lich unbeftimmte, indifferente Wille es anfängt, fich fittfich zu be 
ftimmen und feine Entfcheibung zwiſchen Gut und Böfe zu treffen! 

Zunächſt gehört dazu, dag ihm das Gute und das Böſe zum 
Bemwußtfein kommt und zwar in ihrem Gegenfage zu einander, 
denn es ift ja da8 Gute als ſolches, aljo in feinem Gegenjatt 
gegen das Böſe, und es ift das Böſe als folches, alfo im jeinem 
Gegenſatze gegen das Gute, um das ſich's hier Handelt; und wenn 
der Wille eine fittliche Entfcheidung herbeiführen foll, welche dit 


Die Wahlfreiheit des Willens zc. 77 


ganze Wucht der vollen Entfcheidung auf ihn Legt, eine Entſchei⸗ 
dung, durch welche er fich felbft entweder den Charakter des fitt- 
lich Guten, oder den des fittlih Böſen in feiner vollen und 
fhweren Bedeutung auch für die Zufunft aneignet, dann muß man 
notwendigermweife vorausfegen, daß diefer Wille auch eine voll- 
tommen klare, unzweifelbafte Erfenntnis von dem Weſen bes 
Guten als foldhen und von dem bes Böſen als folchen bat, wenn 
man auch abjehen will von der Notwendigkeit einer Erkenntnis 
auch der beiderfeitigen Konfequenzen des Guten und des Böſen. 

Wenn der Wille, welcher eine fo folgenfchwere,. wirklich ent» 
fcheidende Entfcheidung treffen foll, nicht genau und beftimmt weiß, 
welches von dem ihm gleichermweife zur Wahl Geitellten das Böfe, 
welches dagegen das Gute ift, fo kann er auch keine Wahl treffen, 
in der für ihm felbft eine fittliche Entfcheidung läge, denn wenn er 
fi etwa für das Gute entjcheidet, fo wußte er doch nicht genau, 
ob es da8 Gute war, und wenn er fich für das Böſe entſcheidet, 
fo wußte er nicht, ob es das Böſe war, er hat aljo weder das 
eine noch das andere gerade als ſolches erwählt. In beiden Fäl⸗ 
fen war es daher feine fittlihe Entjcheidung, die er getroffen bat; 
diefe Entſcheidung kann aljo für ihn auch Feine fittlichen Folgen 
Haben, insbejondere Tann fie feine fittlihe Verantwortung bes 
gründen. 

Jedenfalls alfo muß der Entfcheidung des Willens die Er- 
kenntnis des Guten und des Böfen vorangehen, fonft würde fie 
gerade hinfichtlich des fittlichen Charakters deifen, was zur Wahl 
fteht, und darum auch defien, was aus der Wahl erfolgt, unmwills 
kürlich oder zufällig fein. 

Der Wille kann aber diefe Erkenntnis aus fi felbft nicht 
gewinnen und in fich felbft nicht finden, denn er ift ja als wahl⸗ 
freier Wille indifferent gegen das Gute und das Böſe, er fteht 
dem einen genau fo gegenüber wie dem anderen, er bat in ſich 
felbft nicht das Geringfte, was ihm das eine als gut und das 
andere als böfe erjcheinen Tieße, denn damit würde er in der That 
die fittlihe Indifferenz feiner Stellung bereits verloren haben, in» 
fofern ja jedenfalls darin, daß ihm felber das eine an fich fchon 
als gut, das andere als böfe erjcheint, ein fittliche8 Urteil, eine 


78 Meyer 


fittfiche Wertſchätzung enthalten wäre, welde mit Notwendigkeit 
auf eine ſchon vorhandene pofitiv fittliche Beſchaffenheit zurück⸗ 
ichließen Tieße. 

Wenn aber der wahlfreie Wille an und für fich feiner ſittlich 

indifferenten Natur wegen noch feine Erkenntnis haben kann von 
dem, was gut und was böfe tft, jo mag fie ihm immerhin von 
außen ber durch irgendeiue Offenbarung zugeführt werden. Das 
würde fih mit feiner Natur wohl vertragen, insofern er verbun- 
den oder begleitet ijt von dem Bewußtſein deu Ichs, dem er an 
gehört. 
Wie ich einem Menſchen fagen kann, dies fei gut, Dies je 
böfe; dies müffe gethan und dies unterkaffen werden, ohne daß er 
das Gute oder das Böſe, weiches ihm auf diefe Weife bezeichnet 
ift, nun auch gleich in feinem Innern, im feinem Gewiſſen als 
ſolches bezeugt fühlt, jo daß er es alfo zunüchſt als eime wein ob- 
jeltive Thatfache Hinnimmt und gelten läßt, daß bie& get und jenes 
böfe ift; fo Haben wir uns auch zu denken, daß dem wahffrtien 
Willen von außen her dur; ummittelbare oder mittelbare Offen⸗ 
barung irgendwelcher Art eine rein objektive Erfeuntuis von dem, 
was gut, und won dem, was höfe ift, beigebracht wird, noch ohne 
daß ſich diefe Erfeuntmis ſchon im ihm ſelbſt fuhleltio bezeugt und 
beftätigt. 

Wir müſſen dies leytere unbedingt feftgalten, um den Begriff 
der Wahlfreiheit in feiner Reinheit zu ſchützen; denn wenn fich bie 
dem Willen von außen her beigebracdhte ohjeftive Erkeuntuis des 
Guten und des Böſen nisch gleich fubjeftto als Wahrheit innerlich 
bezeugte, d. h. wenn fi in dem Willen ſelbſt gleich das Gefühl 
für das Gute als folches und. für, ober eigentlich. gegen, das Böſe 
als folches regte, jo müßten wir darans wiederum jchliegen, daß 
dieſer Wille bereits irgendwie fittlich beftimmt, ich möchte jagen, 
wenigftens fittlich angehaudht ift, daß er mit dem ſittlich Guten 
reip. Böſen in einer wefentlichen Korreſpondenz fteht, welche ihm 
vorher nur eben unbewußt war, nun aber, ba ihm ber Gegenſatz 
vor Gut und Böſe in volllommener Klarheit und Deutlichkeit 
gegenüber getvetew ijt, zu einer bewußten emporgeftiegen ift. 

Ja das innere Gefühl uud Veritändnis fir das Qute läßt 





Die Wahlfreigeit des Willens ꝛc. 319 


ſchon auf eine ganz bedeutende fittliche Beftimmtheit des Willens. 
ſchließen. Denlen wir uur an bie Parallele auf dem religiöſen 
Gebiete, ich meine da8 innere Zeugnis des heiligen Geiftes, das 
jogew. testimonium spiritus saneti, welches der von anfen an 
uns herautretenden göttfichen Wahrheit yon uns ans entgegen- 
fommt und fie in unſerem eigenen Herzen ala folche beftätigt! 
Hier Tiegt es ſchon in dem gewählten Ausdrud test. sp. sancti, 
wie fehr das, was ſich in unferem eigemen Innern regt, bem vers 
wandt ift, was ung von aufen her gegeben wird. 

Ebenfo verhält es fi) der von augen ber kommenden Offen» 
barung der fittlihen Wahrheit gegenüber. Auch hier müffen wir 
fagen, daß, wenn ſich dem Willen ſelbſt das Gute als ſolches 
innerlich bezeugt, daS Weſen des Willens mit dem ihm geoffen« 
barten Guten eine weientlihe Verwandtfchaft haben muß. Weit 
diefem Zugeſtändnis aber Hätten wir die fittliche Indifferenz des 
Willens, von der wir dech ausgehen mußten, bereits aufgegeben, 
benor ber Wille auch nur irgemdeine eigene Wahl getroffen hat. 
Wollen wir das nicht, und wir dürfen es fa nicht, wem bie fitt« 
liche Indifferenz erft dur die Wahl des Willens befeitigt werden 
fol, dann mäfjen wir's ung jo bdenfen, daß tem Willen bie Er⸗ 
fenntnis des Guten in feinem Gegenſatze zum Böſen, fofern fie 
ihm von Gott nahe gebradgt wird, etwa unter der Form des gött⸗ 
lichen Willens fich darbietet; es wird ihm gejagt: „Dies ift gut, 
dies will Gott, dies dagegen ift böfe, dies will Gott nicht.“ 

Schon hier nun erhebt ſich eine bedeutende Schwierigkeit. Wir 
fagten, wenn der Wille eine Entſcheidung ven ſolchem Gewichte 
fällen foll, daß feine ganze fittliche Verantwortlichkeit, fein ganzer 
fittlicher Charakter, je im mefenklichen auch fein ganzes zufünftiges 
Geſchick davon abhängt, fo müſſe feiner Entſcheidung eine genaue 
Erkenutnis bes Guten und bed Böſen in ihrer wejentlichen Gegen⸗ 
ſatzlichkeit vorangehen. Diefe Erkenntnis braucht freilich keines⸗ 
wegs eine genaue Vollſtandigkeit hinſichtlich des Umfanges dieſer 
beider Begriffe zu haben, aber doch, wenn ich mich jo ausdrücken 
darf, Hinfichtlich ihres intenfiven Wertes, nur jo, behauptete ich 
wohl mit umBeftreitbarem echte, Sinne eine vollgüftige ſittliche 
Berantwortlichleit herbeigeführt werden; im anderen Falle dagegen 


80 Meyer 


würde das Veranlaſſen der Willensentſcheidung, ſofern ſie dem 
Menſchen eine fo ſchwere ſittliche Verantwortlichleit einträgt, als 
Überrumpelung bezeichnet werden müſſen. 


Demnach dürfen das Gute und das Böſe dem bewußten Willen 


keineswegs bloß als objektive Formbegriffe gegeben werden, etwa 
wie man dies wohl einem Kinde gegenüber thut, weil dasſelbe mit 
feiner Urteilskraft noch nicht fo weit gediehen iſt, am wefentlide 
Beitimmungen der Art aufnehmen und verftehen zu können. 

Wenn e8 fih um eine fittlih verantwortliche Entfcheidung dei 
Subjektes handelt, ift ein ſolches Verfahren nicht zuläffig, dem 
durch bdasfelbe würde ja den Begriffen „Gut“ und „Böſe“ ihre 
fittlihe Bedeutung genommen, oder fie würde wenigftens für die 
Augen des zu belehrenden verdedt werden. Alſo es kann dem 
Willen doch nicht bloß gejagt werden: „dies ift gut und dies if 
böſe“, fondern die Erkenntnis des Guten und des Böſen muß ihm 
in der Weiſe vermittelt werben, daß er auch einfehen könne, warum 
und wiefern dies gerade gut und jenes gerade böfe ift. Wenn ihm 
gefagt wird: „dies will Gott, und jenes will er nicht", jo muß 
ihm zugleich dee Gedanke beigebracht werden, daß eben alles, mad 
Gott will, gut und alles, was er nicht will, böfe ift, weil Gott 
feldft gut und nicht böfe ift, und weiter muß ihm in diefem Zu 
fammenhange die Erkenntnis eröffnet werden, inwiefern denn Gott 
gut und nicht böfe ift, damit das Wefen des Guten reſp. Böſen 
feinem Bewußtjein nahe gebracht wird. 

So werben wir alfo, um den Willen in den Stand zu ſetzen, 
eine fittlihe, bie Selbftverantwortlichkeit begründende Entjcheidung 
zwifchen gut und böfe zu treffen, niemals ausfommen mit blof 
formalen Begriffebeftimmungen über gut und böfe, fondern mit 
werden ihm einen Haren Einbli! gewähren müffen in das Weſer 
des Guten und bamit zugleich in das feines böjen Gegenſatzes. 

Nun fragt fih aber: ift dem Willen diefe wefentlice Er 
kenntnis des Guten mit feinem fittlich böfen Gegenteile möglid, 
unbefchadet feiner fittlichen Indifferenz, die doch unter keinen Um 
ftänden vor der eigenen grundlegenden, entfcheidenden Wahl di 


Willens gefährdet werden darf? Seht eine folde Erkenntnis 
nicht Schon einen beftimmten fittlichen Charakter voraus, eine ſelbſt 





Die Wahlfreigeit des Willens zc. & 


ſchon fittlih harakteriierte Kapacität für das Gute oder das 
Böſe? 

Es giebt in unſerem Geiſtesleben gewiſſe Gebiete, auf denen 
das rechte, weſentliche Erlennen das Lieben am unmittelbaren, un⸗ 
willfürlichen Folge hat, ja auf denen Sehen und Lieben eins iſt. 
Man kann da ſowohl fegen, men müſſe erfemen, um zu Eichen, 
ala auch: umgelehrt, man mülfe lieben, um zu enfamen. Das 
Erkennen und daß Lieben: ftehen da in einen vecipualen Verhältnis 
zu einander. 

Habe ich das Weſen des Schönen erkannt, jo ewpfinde ich es 
eben audy als folches, alfo der Eindrud auf mein Erkennen ent- 
fpeicht dem Eindruck auf mein Gefühl; und umgelehrt, ih muß 
das Schöne als ſolches empfinden, wenn ich es wahrhaft in feinem 
Weſer ertennen will. Empfinde ih es nicht zugleich als das 
Schöne, fo merde ih vielleicht zwar eiue formell richtige Defi- 
nition des Schösen angeben können, aber falls fie wirklich richtig 
ft, wird es wur eine omgeleente, ih möchte fagen ſeelenloſe, 
wenigftens für mich feelemlofe Formel fein, die ich noch nicht einmal 
in ihrer Richtigkeit Tontrollieren kann, da. ich keine eigene Erfahrung, 
Leine felbfigemenuene Gewißheit darüber habe, ob fie wohl aud) 
808 Weſen des Schönen wirklich zum Ausdrud bringt; das Heißt 
aber mit anderen Worten, ich babe Feine wirkliche Erkenntnis bes 
Schönen feinem Weſen nad, da ich es nicht als folches empfinde. 

Ähnlich iſt es auf dem Gebiete des Sittlichen. 

Ich will zunächft das bemerken, was uns die Erfahrung des . 
Lebens darüber zeigt. 

Devjenige Menſch, welcher das Gute nicht liebt, noch thut, der 
ehrt auch einer wahrhaften, weſentlichen Erkenntnis des Guten 
fern. Cr weiß vielleicht, was gut iſt, aber er hat dad, nur eime 
rein formale Erkenntnis davon, das: Gute ift ihm etwa ber Gegen- 
ſtand irgendeines Geſetzes, deffen Weſen er nicht verftanden hat; 
er meiß es, der Vater. hat bir dies befohlen; der Staat, bie 
Kicche ober ſonſt eine Gemeinſchaft, auch wohl der Bett im 
Himmel Hat dies und das Gebot ausgeiprocden; er weiß es, Dies 
tft. dir von dem oder jenem angeraten, weil es die fegensceich fein 
und Nuten bringen foll für Zeit und Ewigkeit; er meiß es, dies 

Theol. Gtub. Jahrg. 1885. 6 





32 Meyer 


und das ift dir als Unrecht, als Sünde bezeichnet worden, und «6 
fann fih das alles ſowohl auf einzelne Thaten als auch auf 
Herzenszuftände beziehen. 

So könnte ein folder Menſch eine voflftänbig umfafjende Er- 
fenntnis haben von dem, was gut ift, aber fie ift eben doch nur 
eine rein formale, fie geht nicht auf das Weſen des Guten felbft, 
er würde fonft micht bei feiner Zuneigung zu dem Gegenteil des 
Guten, oder auch nur bei feiner Gleichgültigkeit gegen dasſelbe 
ftehen bleiben können. Daß er dies thut, ift ein Beweis dafür, 
daß er zu einer wahrhaft wejentlichen Erkenntnis des Guten nod 
nicht durchgedrungen ift; und zum Zeichen dafür behauptet er wohl 
auch offen und umnverholen, daß die formale Beſtimmung des 
Guten, wie fie feiner Erfenntuis äußerlich zugeführt worden iſt, 
eine Lüge fei, und ift dagegen überzeugt, daß dasjenige, was er 
verfolgt, dem wahren Wefen des Guten entſpreche. Diefe Nee 
fann man ja unter den Menfchen oft genug hören, und dahin 
kommt ſchließlich auch ein jeder, der fich in feiner Liebe zum Böſen 
über fih felbft Har wird, d. h. fih auf den Standpunkt eine 
bewußten Erfenntnis bringt. 

Auf der andern Seite jehen wir, daß derjenige Menfch, welder 
von einer wahrbaften Erkenntnis des Guten feinem Wefen nad 
erfüllt ift, auch unmittelbar damit ein Anhänger, ich möchte jagen 
ein Liebhaber des Guten ift. 

Eine Thatfache jedoch könnte gegen die Notwendigkeit dieſer 
- Berbindung |prechen. 

Wir fehen nämlich vielfah Menfchen, und es find mahrlid 
nicht die fchlechteften, welche troß einer wirklichen befjeren Erkennt⸗ 
nis dennoch das Böſe thun. Denken wir nur am die fchmerzlichen 
Seufzer des Apofteld Paulus: „Das Gute, das ih will, das 
thue ich nicht, ſondern das Böſe, das ich nicht will, das thue ich.” 
Hier fcheint alfo doch, und fo unzähligmal! der Fall vorzuliegen, 
in welchem das Thun, alfo das praftiiche Anhangen am Böſen 
vereinigt ift mit der wejentlichen Erfenntnis des Guten, ein Be 
weis, daB aus einer folchen Erkenntnis doch nicht folgt, man 
müſſe dem jo Erfannten nun auch unmittelbar und unmwillfürlih 
fein Herz, d. 5. fein praftifches Anhangen zuwenden. 





Die Wahlfreiheit des Willens 2c. 83 


Doch bei näherer Betrachtung beftätigt gerade diefe unleugbare 
Thatſache meine Behauptung, anftatt fie widerlegen zu können. 
Wo nämlih in einem Menjchen, welcher bisher das Böſe geliebt 
und gethan bat, die wahrhafte, wejentliche, innere Erkenntnis des 
Guten durch irgendwelche, ſei e8 göttliche, ſei es menfchliche Mittel 
erwedt wird, da zeigt fi immer auch eine unmittelbare Einwir- 
tung bderfelben auf fein praftifches Verhalten, auf fein Willens- 
feben, nur daß diefe Einwirkung fehr oft nicht ftark genug ift, um 
fi in dem Willensleben und dem praftifchen Verhalten vollfommen 
durchzufegen. So fommt es denn zu ber unter den Feſſeln des 
Böfen feufzenden, fehnfüchtigen Liebe des Guten, welche nur darum 
nicht zum Ziele fommt, weil die feindliche Macht, die bisher das 
Herz beherricht und das Wollen regiert hat, noch zu groß ift, um 
fhon überwunden zu werden. Aus folhem Zuftande ergiebt fich 
dann die Sehnſucht nad ‚Erlöfung. 

Wo diefe ſehnſüchtige Liebe des Guten in feinem Grade und 
in feiner Weife fich zeigt, da zweifeln wir auh an dem Vorhan⸗ 
benfein der rechten Erkenntnis des Guten, und wir haben ein volles 
Recht, fo zu zweifeln. 

So ift denn gerade diefe fehnfüchtige Liebe des Guten in denen, 
deren Wollen noch unter der fremden Macht des Böſen gefnechtet 
ift, der ſtärkſte Erfahrungsbemweis dafür, daß eine wahrhafte Er» 
fenntnis des Guten nicht möglich ift, ohne mit einer praftifchen 
Tendenz und mit einer unwillfürlichen Alteration des fittlichen 
Standpunktes verbunden zu fein. 

Hier fehen wir, daß fogar der Wille, welcher bereits von einer 
feindlichen Macht beherricht ift, alſo nicht mehr wahlfret genannt 
werben kann, die Einwirkungen einer folchen fittlichen Erkenntnis 
erfährt, indem er nicht imftande ift, die ſehnſüchtige Liebe des 
Guten in dem Herzen des Wollenden zu unterdrüden, wie viel 
mehr wird der Wille die Macht diefer umwillfürlichen Einwirkung 
verfpüren, welcher einer folchen entgegengefegten Gewalt noch nicht 
unterworfen ift, bei welchem aljo dieſe Einwirkung noch nicht auf 
einen folchen Widerftand ftößt! und wenn man mit Recht fagt, 
dag nur ein reines Herz bie fittlihde Wahrheit in ihrem Weſen 


ganz vollkommen erfennen und fchauen könne, jo wird man aud 
6* 


3 Meyer 


das jagen müſſen, daß der Eintritt folcher Erkenntnis und ihr 
Zunehmen mit einer fortfägreitenden fittligen Reinigung oder Ber: 
fittfichung des Herzens verbunden fein muß. | 

Es ift in der That auch rein theoretifch betrachtet unmöglich, 
dep her Meunſch, nicht bleß zu einer formalen, fonbern zu einer 
wesentlichen Erkenntnis des Guten gelangen follte, ohne daß er 
dadurch zugleich in feinem eigenen fittlichen Standpunkte weſenilich 
afteriert würde. Das Weſen ded Guten kann ich ja nur dadurd 
erlennen, daß ich es zugleich in mir felbit erfahre, daß es in mir 
felbſt gleichfam eine Stätte findet. Das Gute ift eben eine praf- 
tifche Vernunftanſchauung, deren Weſen durch ein rein theoretiſches 
Erkermen in feiner Abfonderung nimmer erichäpft werben Tann. 

Danach kam ich jagen, daß der wahlfreie Wille nicht zu der 

wefentlihen Erkenntnis des Guten gelangen fan, ohne daß er 
zugleich durch diefen Prozeß, welcher nicht durch ihn ſelbft br 
ſtimmt, affo unwillkürlich ift, eime ſttiliche Beftimmtheit anuäühme, 
für die er felbft, eben ums ihrer Entfichung willen, nicht verant⸗ 
mortlich gemacht werben kaun, fondern natürlich nur derjenige, der 
ihm diefe Erfenntnis beigebracht hat. 
- Schon bier alſo mürde gerade dadurch, daß dem wahlfreen 
Willen bes Meunſchen eine die fittliche Selbſtverantwortlichkeit be 
gründende Emtjcheibung ober Wahl möglich gemacht werden fall, 
nämlich durch die fie eime ſolche Entfcgeidung unumgänglich not 
wendige Zuflührumg einer weſentlichen Erkenntnis des ſittlich Guten 
und feines böſen Gegenteiles, dieſer Selbftentſcheidung auf ein 
nicht von der Wahl des Willens ſelbſt abhängige Weiſe vor⸗ 
gegriffen, das heißt aber in dieſem Falle die eigentliche Selbitent- 
fheibung und damit natürlich auch die Verantwortlichkeit dei 
Willens für feine Entſcheidung unmöglich gemacht. 

Jedoch die Verteidiger des mahlfreien Willens und der durch 
ihn zu treffenden verantwortlichen Entſcheidung können ermidern: 
mag immerhin diefe weſentliche Erkenntnis des Guten von einigem 
Einfluß fein auf die ſittliche Stellung des wollenden Subjektts 
das verfchlägt doch für dem wahlfreien Willen felbft gar nichtt. 
Es war ja ſchon vorher für möglich erklärt, daB der geiftige Zu 
ftand des Mienfchen, wie er urfprünglich vor jeder bewußten 








Die Wahlfreiheit des Willens ıc. — 


Willensentſcheidung ſchon vorliegt, in irgendeinem Grabe fittlichen 
Charakter tragen könne, zugleich aber war geſagt worden, daß 
dieſer ſittliche Zuſtand bes Subjeltes für den wahlfteien Willen 
zunächſt noch gleichgüftig fe, ba der Wille erſt Stellung zu dem⸗ 
felben nehmen und darch feine Entfcheidung bierüber die fittliche 
Selbſwerantwortlichkeit herbeiführen müſſe. Cbenfo gut num, mie 
wir dies annehmen konnten, daß der wahlfreie Wille Traft feiner 
Wahlfreiheit diefem ſchon vorhandenen objektiv fittlichen Zuftanbe 
des Subjeftes vorerft noch gleichgültig ‚gegenüber ſtehe, ebenfo gut 
können wir auch weiter daran fefthalten, daß der Wille Traft der⸗ 
felben Wahlfreibeit dem durch jene wejentliche Erkenntnis bes 
Guten fo und fo beftimmten fittlihen Zuftande gleichgültig gegen- 
überftehe. 

Ich Habe allerdings jenes Verhältmis zwifchen der Wahlfreiheit 
des Willens und dem fittlichen Charakter des urfprüngligen Zu⸗ 
ftandes im Gegenfage zu meiner eigenen Anſchauung hypothetiſch 
zugeftanden und will mid) nicht bedenken, diefes felbe Zugeſtündnis 
auch für alle gleichartigen Verhältniffe zu machen. Ya ich will 
noch nit einmal hervorheben, daß das PVerbältnis, um das es 
fich hier handelt, doch dem früheren eigentlich nicht mehr gleich⸗ 
artig tft; daß der fittliche Zuſtand des Subjeltes nach dem Eim- 
tritt jener wefentlichen Erfenntnis de8 Guten doch nicht mehr bio 
ein objektiver, fondern ein ſubjektiv vermittelter ift; daB ja mm 
der wahlfreie Wille felbft diefe Erkenntnis gewonnen Haben foll; 
daß diefe Erkenntnis alfo, wenn man ihr überhaupt einen fitte 
then Einfluß zugeftehen muß, doc, netwendigerweife auch auf dem 
Willen felbft einwirken und dadurch die Wahlfreiheit desſelben zer⸗ 
ftören wird. 

Dies alles will ich, wie gejagt, nicht mehr betonen, fondern 
auch allen diejen großen Schwierigleiten gegenüber einmal annehmen, 
daß auch durch die wefentliche Erkenntnis des Sittlichen der Wille 
im Belize feiner Indifferenten Wahlfreiheit gar nicht geftört und 
gefchädigt wird. Wir werben ſehen, daß auch damit nicht im 
mindeſten geholfen ift, fondern dag wir alsbald an einer noch viel 
größeren, weil viel offentundigeren Schwierigkeit anlommen, welche 
jeglihe Bedeutung der Wahlfreiheit unferes Willens für die Be⸗ 


86 Meyer 


gründung einer ſittlichen Verantwortlichkeit des Menſchen gänzlich 
aufhebt. 

Nehmen wir alſo an, daß der Wille trotz ſeiner weſentlichen 
Erkenntnis des Sittlichen ſeine eigene ſittliche Indifferenz noch be⸗ 
wahre und daß er nun erſt dem erkannten Gegenſatze von gut und 
böſe gegenüber ſich aus ſeiner ſittlichen Indifferenz heraus kraft 
feiner Wahlfreiheit zur ſittlichen Beſtimmtheit entſcheide, um für 
dieſelbe die volle ſittliche Verantwortung auf ſich nehmen zu können. 
Wir haben uns demnach zu denken, daß der wahlfreie Wille vor 
dieſem Gegenſatze ſteht, um ſeine Wahl zu treffen. 

Wie geht nun dieſe Wahl vor ſich? 

Ich will nicht etwa unterſuchen, für welche Seite des Gegen- 
Tages fi der Wille entjcheiden wird; denn dafür kann e8 ja gar 
feine Unterfuchung geben, vielmehr muß fich die Beobachtung bes 
treffs deifen, was der wahlfreie Wille thun wird, Tediglich abwar⸗ 
tend verhalten; wohl aber kann e8 genauer unterfucht werden, wie 
es denn der wahlfreie Wille überhaupt zu irgendeiner Entfcheidung 
bringt; wie er das wählt, was er wählt. 

Wirklich entjcheiden kann er fih ja feinem Weſen nach fowohl 
für das Gute ald auch für das Böſe, ganz nad feinem freien 
Belieben, ganz nach feiner unbedingten Willkür. Wie kommen wir 
nun aber dem Prozeß diejer Entjcheidung, fie mag nun ausfallen, 
wie fie will, mit unferem Erkennen näher? 

Wir wollen e8 verjuchen mit dem allbefannten und bei gewiſſen⸗ 
hafter Anwendung unfehlbaren Mittel, daß wir auf die Art, wie 
die Entſcheidung des wahlfreien Willens zuftande kommt, zwei ein- 
ander Eontrabiktorifch entgegengefette Beitimmungen anwenden, von 
denen ja eine beſtimmt das Wichtige treffen muß, da es zwifchen 
und außer ihnen fein drittes giebt. Diejes Verfahren ſoll zunächft 
angewendet werden auf einen der beiden für die Entjcheidung des 
wahlfreien Willens gleich möglichen Fälle. 

Geſetzt den Fall, der Wille entjcheibet fich für das Gute. Wie 
ift diefe Entfcheldung zuftande gelommen? | 

Es find für die Entftehung diefer Entſcheidung folgende zwei 
Arten möglih. Entweder hat der Wille fih fir das Gute ent 
schieden mit Nüdficht darauf, daß es gut ift, ober er hat es ges 





Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 8 


than ohne Rüdficht darauf, daß es gut if. Man wird zugeben 
müffen, daß dieje beiden Beitimmungen auf ihrem Gebiete einander 
Lontradiktorifch entgegengefegt find und fomit jede Möglichkeit einer 
dritten Art der Entjcheidung anschließen. 

Wir wollen zunäcft die erfte Seite ber aufgeftellten Alter» 
native etwas näher ind Auge faſſen. 

Alfo der Wille Hat fi für das Gute entfchieden mit Rückficht 
darauf, daß es gut if. Das Heißt mit anderen Worten, er hat 
das Gute gewählt, weil es gut ift, denn bie Rückſicht darauf, 
daß es gut ift, hat ja eben feine Wahl beftimmt, und wenn dies 
legtere nicht der Ball wäre, jo hätte der Wille eben jene Rückſicht 
bei feiner Wahl wenigftens gar nicht gehabt. “Da er fie aber ge- 
babt Hat, fo Hat er unftreitig da8 Gute gewählt als folches, oder 
um bes Guten willen. 

Aber ift denn das noch ein wahlfreier, d. h. ein fittlich un⸗ 
beftimmter, indifferenter Wille, welcher das Gute thut um bes 
Guten willen, d. 5. welcher fi in feiner Wahl durch bie Rück⸗ 
fiht auf das Gute als folches beftimmen läßt? Verrät nicht der 
Wille dur eine Entfcheidung, welche durch ſolche Rückſichten bes 
ftimmt tft, ganz unverkennbar, baß er bereits fehr wejentlich fitt» 
Lich beftimmt ift; dag er bereits gut ift; daß er alfo nicht erft 
durch diefe Entfcheidung eine fittliche Beftimmtheit erhält und gut 
wird? 

Was verftehen wir denn unter einem jittlich guten Willen, alfo 
unter einem Willen, welcher im Unterfchied von dem wahlfreien 
Willen das Gute hervorbringt nicht aus freier, unbeftimmter Wahl, 
fondern aus einem inneren Drang, aus einer inneren Notwendig» 
feit ſeines Weſens? Iſt es nicht eben ber Wille, welcher das 
Gute thut um des Guten willen; welcher fih für das Gute ent- 
ſcheidet allein in Rüdficht darauf, dag es gut ift? Ja was 
können wir von einem guten Willen auch nur mehr erwarten als 
diefes? Das ift ja das höchſte Ziel der Vollkommenheit eines 
Willens; das ift das Ziel, auf welches alle Erziehung bes Willens 
fchließlich Hinarbeitet, daß der Wille das Gute thut lediglich um 
feiner ſelbſt willen, daß die Rückſicht auf das Gute als folches ihn 
ganz und gar beitimmt und alle feine Entfchließungen regelt. 


= Meyer 


In der Ruckficht auf das Gurte als Holches ſpricht fich eben 
die eigene, ſchon vorhandene, weſentliche Güte des Willens ums, 
und je velllommener dieſe ift, deſto durchſchlagender wird auch jene 
fein. Die Güte des Willens kann firh ja in gar nichts amderem 
mıbfprechen als in jener Rüdiiht, mag Fe auch noch fo ſehr zu- 
nehmen, und wiederum jene Ruckſicht kann in gar nichte anderem 
ihren Grund haben als ta der wejentliden Güte des Willens 
ſelbſt, mag Fe auch noch fo gering fein; fie Läßt mit derfelben 
Sicherheit auf die Güte des Willens zurkaffchlichen wie jede Wir 
tung anf ihre Urfache; und bie Juferiorität des Willens, der ſich 
int ber oben befhriebenen Weile für das Bute enticheibet, gegen- 
über dem velltenemen guten Willen, Ubunte höchftens darin He 
fteben, daß fi mit der Rückſicht darauf, daß das zu Erwählense 
gut ift, noch andere beftimmende, aber weniger fittlige Rückſichten 
verbinden, was ia bei dem volllommen guten Willen nicht Der Fall 
ift. Wie weit aber gerade durch dieſen Unterſchied der Wille fich 
von ber für ihn geforderten Wahlfreiheit feiner Entſcheidung ent» 
fernen würde, das legt Har zutage. 

Durh de een befchriebene Art Ser Willensentſcheidung für 
das Gute um bes Guten willen ift alfo erwieſen, daß ber Wille 
bereits ein guter if. Kr Tann alfo nicht erſt durch dieſe Ent- 
Scheidung fich felbft eime fittliche Beftimmtheit gepeben haben, ba 
er bereits vorher fittlich beftimmt war, wie es eben in der Akt 
feimer Entfcheibung zutage getreten if. Wenn bermoh feine fitt- 
liche Beſtimmtheit, auch die, welche ſich in jener Entſcheidung zeigt, 
von ihm felbft herrühren fell, jo muß febenfalle diejenige Ent 
ſcheidung, dur welche er ſich feiwe ſittliche Beſtimmtheit urfprüng- 
lich gegeben bat, ſchon wor der eben beſchriebenen und ywar auf 
andere Weiſe gefchehen fein. 

Hierdurch ift dargethan, daB der wahlfreie, d. 9. noch nicht 
fittlich Beftimmte Wille fi für daB Gute nicht in der Weiſe ent- 
fgeiden kann, daß er das Gute wählt mit Müdficht darauf, daß 
e8 gut tft, Sa’ eben dieſe Art der Entſcheidung nur Sache eines 
bereits im irgendeinem Grade füttlich gut beftimmten, d. 6. wicht 
mehr wahlfreien Willens ift. 

Alſo der erfte Fall der von uns aufgeitellten Alternative baun 


Die Wahlfreiheit des Willens ıc. 3 


für die Entſcheidung des wahlfeeien Willens nicht ftatutert werben, 
weil er bem Wehen eimes ſoichen Willens widerfpridt. Es bleibt 
demnach nur ber andere Tal übrig, wenn wm die fittliche Be⸗ 
ftinumtheit des Willens wirklich durch eine Entſcheidung biejes jelben 
Willens herbeigefüßet fein laffen will. Dieſer andere Ball aber 
war der, daß der Wille das Gute erwählt ohne Ruückficht darauf, 
daß es gut iſt. 

Wir wmüſſen diefe Aunahme nun auch noch etwas genauer 
prüfen, ob wirklich auf diefem Wege eine fittliche Entſcheidung and 
mit ihr eine fittliche Werantwortlikeit für was entſtehen kam, 
oder nid. | 

Wenn fich der Wille für das Gute entfcheidet ohne Rädkficht 
bavawf, daß es gut ift, wenn er aljo im ber That bei feiner Ent» 
Icheidung im einer Weite durch die Ruckſicht auf das Gute als 
focches beftiaemt wird, je bemweift er Fig damit allerdings als ein 
wahlfreͤer Wille, denn wir haben ja darunter einen Willen u 
verftehen, der formel dan Guten als auch dem Böſen gegenüber 
zunäcdft gleichgiiitig it, der durch FKeinerlei weſentliche Bezichung 
mit bem einen ober wit dem anderen verbunden ift, darum and) 
feinem näger fteht, ats dem anberen, darum jedes von beiden 
ebenfo gut und ebenfo leicht thun als Lafjen fann, der alfo, wenn 
er das eine thut und das andere Ihft, keinenfalls von dem einen 
oder von dem anderen im feiner Eutſcheidung beeinflußt iſt, ſon⸗ 
dern Tebiglid) unter dem Einfluß feiner eigenen unbebingten Wahl⸗ 
freiheit ſteht, fo daß er jedenfalls auch das, mas er gerade thut, 
laſſen, und das, was er gerade läßt, thun Bönnte, wem es ihm 
beliebte. 

Es ift daher anzuertenuen, daB dieſe letztere Art der Entichei 
dimg fir das Gute, nämlich ohne KRückſicht darauf, daß es gut 
ft, dem wahlfreien Willen feiner Natur nach wohl möglich ift, 
ja daß fle gerade die einzige ift, welche ihm feine Natur bem fitt⸗ 
ih Guten gegenüber erlaubt. Aber wie fteht «6 dem nun mit 
dem fittlien Charakter der fo geartiten Entſcheidung? Hat fie 
einen? Kann man ihr überhaupt einen ſolchen zueriennen ? 

Diefe Trage kann garız furz beantwortet werben durch den ein- 
fachen Hinweis darauf, daß ja nuf dem. füttlichen Gebiete das Gute 


90 Meyer 


und das Böſe nur als ſolches gilt. Wo es ſich nicht handelt um 
das Gute als ſolches und um das Böſe als ſolches, da kann man 
auch nicht von ſittlichen Verhältniſſen reden. Alſo eine einzelne 
That kann nur dann unter eine fittliche Betrachtung fallen, wenn 
fih in ihr irgendwie da8 Gute oder das Böſe als ſolches mani- 
feftiert. Zum Beifpiel ein Geldgefchent an jemanden ift natürlich 
nur dann eine fittlihe Handlung, wenn ich mit demjelben etwas 
Gutes thun will, d. 5. wenn ich's thue um des Guten willen, 
was ſich in diefer That manifeftiert; iſt dies nicht der Tall, thue 
ih’s etwa nur aus Gewohnheit, oder anderen äußerlichen Gründen, 
fo Tiegt in folder Handlung an und für ſich nichts Sittliches. 

In unjerem ale nun handelt es ſich um eine einzelne That, 
nämlich um eine Entfcheidung, durch welche in einem beftimmten 
Zeitmoment meiner Entwicelung in meinen Charalter eine neue 
Beftimmung eingeführt werden fol. Tritt nun in diefer Entfchei- 
dung das Gute nicht als ſolches auf, fo manifeftiert es ſich eben 
gar nicht in derjelben, fo ift fie eben überhaupt Teine Handlung, 
welche unter eine fittlihe Betrachtung geftellt werden könnte, fo 
ift fie eine Handlung, die überhaupt keinen fittlichen Charakter 
hat, die überhaupt gar nicht in das Gebiet bes Sittlichen hinein⸗ 
gehört. 

Nun war aber vorausgefett, daß ber Wille fi für das Gute 
entfcheidet ohne Rückſicht darauf, daß es gut ift, alfo nicht um 
des Guten willen, fo daß da8 Gute als folches mit diefer Ent- 
fcheidung abfolut nichts zu thun Hat, vielmehr es nur als eine 
Zufälligleit würde gelten fünnen, daß das, was der Wille erwählt 
bat, gerade das Gute ift, nämlich in objeftivem Sinne, wenn man 
überhaupt da nod von gut ſprechen Kann, wo es nicht als folches, 
als fubjeltiv Gutes aufgefaßt und gethan wird. Wir hätten alfo 
bier eine Entſcheidung, die gar feine fittlihe That ift, die gar 
feinen fittlichen Charakter bat, die gar nicht in das Gebiet des 
Sittlichen hineingehört. 

Aber durch eine Entjcheidung, welche felber mit dem Sittlichen 
abſolut nichts zu thun Hat, kann doch unmöglich eine fittliche Be⸗ 
ftimmtheit für den fo ſich Entſcheidenden herbeigeführt werden, und 
das Gute, welches ich durch eine folche Entfcheidung ermwähle, kann 





Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 91 


mir unmöglih als Gutes zugerechnet werden, da es ja gerade, 
fomweit e8 von mir erwählt worben ift, nichts Gutes ift, infofern 
ich es erwählt babe ohne NRücdjicht darauf, daß es gut if. Es 
geichieht alſo durch diefe Art der Entjcheidung, obwohl wir fahen, 
daß fie für den wahlfreien Willen bem Guten gegenüber die einzig 
mögliche ift, auch nicht das Geringfte, wofür wir ſittlich verant» 
wortlic gemacht werden könnten, da fie überhaupt nichts Sittliches 
in ihrem Wefen hat. 

Wollten wir nun im Unterfchied von ber bisherigen Erörte⸗ 
zung annehmen, daß der wahlfreie Wille fih für das Böſe ent- 
jcheidet, fo ift Leicht erfichtlich, daß wir genau zu denjelben SKonfes 
quenzen kommen. 

Ich brauche nicht die ganze Auseinanderjegung zu wiederholen. 
Es ift Har, wenn der Wille das Böſe wählt mit Rüdficht darauf, 
daß es böje iſt, d. H. wenn er es ermwählt als ſolches, oder weil 
e8 böſe ift, jo befundet er damit ſchon einen beftimmten fittlichen 
Charafter und zwar einen böfen, welcher demnach fchon vor dieſer 
Entiheidung vorhanden war, berfelben zugrunde Liegt, alſo doch 
wohl nicht erft duch fie kann herbeigeführt werden. Die Ent- 
Scheidung alſo, dur welche der Wille fo geworben ift, daß er 
nun das Böſe um bed Böſen willen erwählt, muß ſchon früher 
geſchehen fein, Thon in einer früheren und zwar anders artigen 
Entſcheidung muß der Wille feine Wahlfreiheit, wenn er fie jemals 
bejefjen hat, verloren haben; in der jeigen zeigt er, daß er nicht 
mehr wahlfrei, fondern böfe ift. 

Ich bin hier auf den Einwand gefaßt, daß mit diefer Aus- 
legung der Gedanfe der Erwählung des Böfen mit Rückſicht darauf, 
daß es böfe ift, bei weitem nicht erfchöpft worden ift, ja dag gerabe 
diejenige Auslegung besfelben überjehen ift, welche der Wahlfreiheit 
des Willens günftig ift. Nämlich „ic wähle das Böſe mit Rück⸗ 
fiht darauf, daß es böje ift“, das kann nicht bloß heißen, „id 
wähle das Böfe, weil e8 böfe ift“, fonbern es kann auch heißen 
„ich wähle es, obgleich es böfe ift“. 

Diefe letztere Auslegung, welche fih ja im wirklichen Leben 
außerordentlich Häufig beftätigt findet, fcheint in der That der 
Wahlfreiheit des Willens fehr günftig zu fein, fie feheint Die 


2 Meyer 


Herbeiführung einer folgen ſittlichen Entſcheidung zu verbäirgen, 
für welche der Wille ſelbſt verantwortlich gemacht werben muß, 
für welche daher ein wahlfreier Wille verausgefegt werben muß; 
denn wären hier das Böſe als folches von den Willm erwühlt 
wird, alfo in einer fittlicden Entfcheibung, da er ja in feiner Ent⸗ 
fgeibung darauf Bezug nimmt, dag es böfe iſt; drüdt beach zu⸗ 
gleich bie Art des Bezuges, wie fie in dem „obgleih Höfe“ ent⸗ 
halten ift, den unabhängigen Gegenfat des Willens zu dem Böſen 
ans, fo daß er als in feiner Wahl vollkommen frei erfcheint. 

Doch eine genauere Prüfang diefes Falles wird dartbun, daß 
er ebenjo wenig hierher gehört, mie der zuerſt angenemmene Fall, 
da er für einen wahlfreien Willen ebenfo unmöglih ift wie 
jener. 

Es it Schon ein übles Prognoftiton, daß ee uns, ald wir eine 
Entiheidbung des wahlfreien Willens für das Bute angenommen 
Hatten, nicht in ben Stun gelommen iſt, dieſe zweite Auslegung 
bes „mit Rüdficht auf” anzuwenden, dem wen würde es über⸗ 
haupt einfallen zu fagen: „Sch wähle das Gute, obgleich es gut 
ift*, um fi damit von dem eben Erwählten fofort wieder loe⸗ 
zufagen! Aber fo abitrus dieſer Gedanke betveffs des Guten ift, 
fo gewöhnlich ift er betreffs des Böfen, denn Leider kommt es gar 
zu häufig vor, daß wir das Voſe wählen, obgleich es böfe ift. 
Hier alfo, wo wir ber Eutſcheidung des Willens für das Böſe 
gegenüber ftehen, ift diefe Auslegung an fi wohl beredtigt, aber 
fie kann troß des günjtigen Scheines doc feine Stüge für die 
Annahme einer wahlfreien und doch fittliden Entſcheidung des 
Willens abgeben. 

Eine Bergleihung diefer zweiten Auslegung mit der erfteren 
ergiebt, daß fie nicht bloß vom derfelben verfchieden, fondern ihr in 
gewifjiem Sinne entgegengefeßt iſt. Vorher überfehten wir ben 
Ausdrud „ich wähle das Boöſe mit Aücficht darauf, dag es böfe 
ift” in den anderen „ih wühle das Böſe, weil es böfe ift“, fo 
daß alfo der böfe Charafter des Gewählten als ber beftimmende 
Grund des Wählens erjcheint. Wenn wir jenen erften Ausdrud 
nun umfegen in biefen: „ich wähle das Böſe, obgleich es böfe 
ift“, fo Haben wir damit der Rückſicht auf den böfen Charakter 


Die Wahlfreifeit des Willens zc. i 98 


des zur Wahl Geftelkten die gerade enigegengeſezte SBehentang. ge- 
geben, denn während bie Konjunktion „weil* dasjenige emgiebt, 
was mic Geftimmt, dab Böfe zu wählen, fo gicht bagegen bie 
Konjunktiow „obgleicg* dasjenige an, mas mic hindert, das Böſe 
zu wählen. 

So ift es im alten Fallen, im denen ich mit der Entſcheidung 
meines Willens einen ObgleicheBebanten nerkinde, immer will ih 
damit anbeuten, daß ich auf dem Wege zu meiner Emticheibung 
erſt noch ein. Hindernis, und zwar dasjenige, was ich im dem 
Dbgkeid- Safe ausdrüde, überwinden mußte. 

Alſo ven Sat „ich müßte des Böſe, obgleich es böfe ift“ 
tinmen md maüfjen wir folgendermaßen interpretieren: „Ich wühle 
das DBöfe, während ich durch die Rüdficht darauf, daß ea böfe 
We, eigentlich behindert bin, mich wenigſtens ist einem gewiſſen 
Grade behindert fühle, dasſelbe zu wählen. 

Betrachten wir diefen &Gebanden näher, jo fehen wir in dem⸗ 
feiben foger von zwei Seiten ber Juſtanzen bagegen auftreten, daß 
ein wahlfreier Witte ſich in einem ſolchen Werkältnis unbeichadet 
feiner Wahlfreiheit ſollte befinden können. 

Heben mir nämlich die eine Seite des Gebaufens hervor, daß 
ich wich durch die Rückſicht darauf, daß das, was ich wähle, böſe 
iſt, eigentlich Kehindert fühle, dasſelbe zu wählen, aljo betonen wir 
die Bebentung des „obgleich“, fo tritt uns da ein Wille entgegen, 
welcher eine je nah dem Grabe der Behinderung mehr oder we⸗ 
niger fharfe Neigung zum Guten hat, dem wie Tünnte er fonft 
ia der Rüdficht darauf, daB das zu Erwühlenbe böfe tft, einen 
VBehinderungsgrund für feine Entieidung fühlen? Der Wille 
ſteht dann dem Gegenſatze von gut und böfe nicht mehr gleich 
güftig und indigferent gegenüber, um felbft erft in diefem Gegen⸗ 
ſatze Stellung zu nehmen, er kann nicht ebenjo leicht das Böfe 
wühlen wie das Gute, uud das Gute wie das Böſe, er hat viel⸗ 
mehr fchon vor feiner eigenen Entfcheidung fo zu fagen eine Gra⸗ 
vitation zum Guten ımd eine Abneigung gegen das Böſe, er hat 
alfo Shen einen wejentli und pofitiv ſittlichen Charalter, für 
welchen. er felbft doch nicht verantwortfich gemacht werden Tann. 
Damit iſt aber die Wahlfreigeit des Willens, wie fie nah un« 





94 Meyer 


jeren obigen Erörterungen Gegenftanb bes fittlichen Poftulates ift, 
aufgehoben und zu Enbe. 

Noch entjchtedener fehen wir diefe Aufhebung der Wahlfreiheit 
des Willens gefchehen, wenn wir nun die andere Seite des uns 
vorliegenden Gedankens in Betracht ziehen, nämlich daß ich das 
Böfe dennod) wirklich wähle, alfo mit Überwindung des Hinder⸗ 
nifjes, welches in dem „obgleich“ feinen Ausdrud findet. 

Wir wollen noch nicht einmal fagen, was für ein böfer Wille 
daß fein muß, welcher trog der natürlichen Abneigung gegen das 
Böfe, welche fih in dem „obgleih“ ausfpricht dennoch das Böſe 
wählt, denn in Wirklichkeit kommt es meift auf eine ganz andere 
MWeife, ohne jede Wahlfreiheit zu dieſer Entſcheidung. Das aber 
ift unbedingt zuzugeben, daß, wenn der Wille einmal eine natürs 
Tiche Abneigung gegen das Böſe fühlt, wenn eimmal bie Rückficht 
darauf, daß das zu Wählende böfe ift, ein Hinderungsgrund feiner 
Entſcheidung für das Böſe tft, nicht die eigene freie Wahl biefes 
Willens, fondern nur etwas außerhalb derfelben Liegendes imftande 
fein kann, den Willen dennod über das Hindernis hinweg zu 
bringen und auf die Seite des Böſen zu neigen. Denn wenn bie 
Wahl des dem Böſen abgeneigten Willens von nichts anderem 
beeinflußt würde, jo würde fie natürlicherweife der vorhandenen 
Abneigung gegen das Böſe nachgeben und fi für das Gute ent. 
Scheiden, da fi ja durch diefe Abneigung gegen da8 Böſe ber 
Wille als in irgendeinem Grabe guter erweift. 

Die Überwindung des Motivs, welches in biefer Abneigung 
des Willens felbjt für das Wollen Liegt, ift nur möglich durd 
andere ben Willen beftimmende Einflüffe, welche die Kraft jenes 
guten Motivs für den Willen überwiegen. Mit andern Worten, 
das Hindernis für die Erwählung des Böſen, welches ih in dem 
Sage „obgleich es böſe iſt“ ausſpreche, kann nur durch eine ander 
weitige Verfuchung befeitigt werden, welcher der Wille in jeiner 
Entſcheidung unterliegt. 

Dean wird nun aud immer finden, daß dies die Situationen 
jind, welche man in folchen Süßen mit „obgleich” zu bezeichnen 
pflegt, nämlich) das Unterliegen einer befjeren Erkenntnis, eine 
beiferen Strebens unter der Macht einer entgegengejehten Ver⸗ 





Die Wahlfreiheit des Willens zc. 8 


ſuchung. Solche Verſuchung pflegt anzuknüpfen an die vorhandenen 
Schwächen unſeres Zuſtandes in ſeinen Eigentümlichkeiten und 
Verhältniſſen, um ſie zu Motiven werden zu laſſen, welche den 
Willen in ſeinen Entſchließungen nach der Seite hindrängen, die 
ihm eigentlich urſprünglich ferner lag als die entgegengeſetzte, 
wenigſtens dem Anſcheine nach. 

Wenn wir nun aber ſehen, daß hier die Entſcheidung des 
Willens für das Böſe unter einem Druck von Motiven geſchieht, 
der ſo mächtig iſt, daß er ſogar die eigentlich und urſprünglich 
entgegengeſetzte Neigung des Willens zu überwinden vermag, dann 
werden wir nicht mehr ſagen können, daß eine ſolche Entſcheidung 
die Sache eines wahlfreien Willens ſein könnte, denn der ſoll ja 
ſeinem Weſen nach gerade über alles, was Motiv heißt, frei und 
unbedingt gebieten, und über alles, was einer Neigung, ſei es zum 
Guten, ſei es zum Böſen, auch nur ähnelt, frei und unbedingt 
erhaben ſein. 

Noch weit ſchlimmer aber wird es für den Beſtand des wahl⸗ 
freien Willens gegenüber dieſem „obgleich“, wenn ſich das Hinder⸗ 
nis, welches durch dieſes Konzeſſivum gekennzeichnet wird, nicht 
wie bisher innerhalb des wollenden Subjektes, ſondern außerhalb 
desſelben vorfindet, jo daß es nicht mehr. in einer eigenen Willens⸗ 
oder Gemütsabneigung gegen das Böſe befteht, welche darum aud; 
im eigenen inneren erft überwunden werden müßte, fondern nur 
in der Autorität, mit welcher das Gute Geſetze gebend und Gehor- 
fam fordernd dem Wollenden von außen her gegemübertritt. In 
joldher Lage würde man nicht mehr in Betrübnis über die eigene 
Schwäche, fondern vielmehr im Trotzen auf die eigene Autonomie 
ipredien: „ich wähle das Böſe, obgleich es böfe iſt.“ So aber 
tun dei fein mwahlfreier Wille reden, im Gegenteil, ein jeder 
Tahlt es, daß diefe Worte, in folhem Sinne ausgeſprochen, nur 
aus einer geradezu teuflifchen Bosheit bes Willens hervorgehen 
konnen, welcher in feiner Entfcheidung für das Böſe zugleich trium⸗ 
phiert über die verachtete Autorität des Guten. 

Wie wir vorher erkannten, daß e8 dem Wefen des wahlfreien 
Willens widerſpricht, das Böfe zu wählen, weil es böfe ift, fo 
haben wir num gefehen, daß es dem Wefen des wahlfreien Willens 


Meyer 


ebenſo ſehr widerſpricht, des Böſe zu wählen, obgleich es böſe tft, 
denn man mag dieſen Gedanken drehen um wenden, wie man 
will, entweder mürde ſich der Wille ſchon ale ein böſer, ja foger 
aba vollendet temflifcher erweiſen, oder als eim foldker, weicher feine 
eigene Neigung zum Guten. gegen den Drang. feindlider Motive 
nicht durchzufegen vermag. 

Demnach würde bei eimen Entſcheidung des Willens für das 
Böfe de Art von Ruͤckſicht darauf, daß es böfe ift, bem Weſen 
der Wahlfreiheit daraus widerſprechen, fie würde die Exiftenz 
derjelben einfach uegieren und unmöglich machen. 

Hat der Wille dagegen das Böſe gewählt ohne. Rückſicht dar ⸗ 
af, daß es böfe if, alle das Böſe wicht als ſolches, jo muß 
man wiederum zugefichen, baß er allerdings mit einer jo geawteten 
Entfcheidung feinem eigenen Weſen gemäß verfahren if, ja daß er 
als wahlfreier, d. 5. fittäich indifferenten Wille fach auf gar keine 
andere Weiſe für das Böſe entfcheiden kann; aber freilich Tann 
man daun auch wieder nicht leugnen, daß eine foldhe Entſcheidung 
feine ſtitliche That ift, denn anf dem fittlichen Gebiete handelt es 
fih nur, wie um das Gute als: ſolches, fo auch um das Böſe 
als: fofches, und wenn das Böſe nicht als Böſes geikan wird, fo 
daß es eigentlich nur ein Zufall ifk, daß es gerade das Böſe tft, 
was gethan wird, fo iſt es eben eigentlich, wenigitens für den 
Handelnden, fein Bäfes mehr. 

Mag alſo immerhin der Wille des Menschen das Böſe er⸗ 
wählen, thut er das ohne jede Rückſicht darauf, daß es böfe if, 
fo iſt es eben für ihm nichts Böſes, da es nicht böfe ift, jo weit 
er es erwählt bat. Er thut alfo mit einer folgen Entſcheidung 
überhaupt nichts, was fittlich beurteilt werben, wofür er ſittlich 
verantwortlich gemacht werden könnte, er lann ſich aljo mit einer 
folchen Entſcheidung auch, keine ſittliche Beſtimmtheit geben. 

Man könnte bier einwenden, daß aber doch ber Meuſch er⸗ 
fohrungsmäßig viel Böſes thut, ohne zu willen, daß es böfe ift, 
oder doch wenigſtens ohne im Augenblid der That daran zu 
denken, und deunod wird es ihm als etwas Böſes zugerenbnet. 
Ja es gefchieht, dab der Thäter ſelbſt erſt nachträglich non dem 
ſchrecklichſten Gewiſſensbiſſen gepeinigt wird, nachdem es ihm ſelber 











Die Wahlfreiheit des Willens ac. 9 


erft recht klar geworden ift, was er fo unbedacht gethan Kat. 


Könnte man nicht fo auch über die erſte grundlegende Enticheidung 
Jagen, daß fich der verwerfliche Charakter derfelben nicht während 
ihrer felbjt, aber deſto deutlicher unchtrüglich dem SEELEN deo 
fich entſcheidenden Subjektes eingeprägt habe? 

Nein, man kann das van der erſten ſittlich grandlegenden 
Entſcheidung nicht ſagen, denn der aufgeſtellte Vergleich iſt nicht 
ſtichhaltig. 

Gewiß tragen wir kein Bedenken, auch dem in Sünde umd 
Laſter verſunkenen Verbrecher, welcher ſich vielleicht noch nicht ein⸗ 
mal bei den roheſten und ruchloſeſten Thaten, die er verübt, ber 
Sündhaftigleit und Berwerflichteit derjelben bewußt ift, der fir 
alfe niht als Sünde, nicht ale Böfes thut, dennoch feine Hand⸗ 
lungen voll und ganz zuzurechnen, ihn für diefelben verantwortlich 
zu machen; aber was iſt es denn, was allein uns berechtigt, dies 
zu thun? Wir Ünnten es ſicherlich nicht thum, wenn wir diefen 
Menfchen nit auch für den Zuſtand fittlich verantwortlich machen 
dürften, is welchen er nun unbewaßt Böjes thut; und was ift 
«8, was den Verbrecher nach der Unthat, die er ohne befonderes 
Bewußtſein von ihrer Sündhaftigfeit begangen hat, dennoch von 
Gewifjensbiffen gepeinigt werden läßt? Er wiirde biefe Bein 
ficherlich nicht empfinden, wenn er nicht zugleid; auch bie Verant⸗ 
wortlihleit für den Zuſtand fühlte, in welchem «er fo unbewußt 
fündigen konnte. 

Giebt es Feine Verantwortlichkeit fiir den Zuftand, welcher uns 
fündigen läßt, ohne es zu wiſſen, daß wir fündigen, fo giebt «8 
natürlich auch keine Verantwortlichkeit für das, was wir in biefer 
Weife jündigen. Alſo die füttliche Werantwortlichleit, in welcher 
uns dasjenige Böſe zugerechnet wird, was wir thun ohne bewußte 
Ruckficht darauf, dag es böfe ift, fan niemals bie erfte, urſprüng⸗ 
liche fein, fondern ihre notwendige Vorausſetzung wird gebildet 
dar eine andere Verantwortlichkeit, nämlich durch bie für den 
Zuftend, aus welchem das Böſe in diefer Weile hervorgehen 
dann. 
Fa dem alle aber, um deſſen Beurteilung «8 fich Bier hau⸗ 
delt, giebt es diefe notwendige Vorausſetzung nicht, ei wenn ich 

Theol. Etub. Jahrg. 1886. 


98 Meyer 


annahm, daß ber wahlfreie Wille ſich für das Böſe entfcheidet 
ohne bewußte Rüdficht darauf, daß es böfe tft, fo geht diefer Ent- 
Scheidung doc) fein Zuftand vorher, aus welchem biefelbe als fitt- 
lich verwerflich erklärt werden könnte, kein Zuftand, für welchen 
der ſich Entfcheibende fittlich verantwortlich gemacht werben könnte, 
weil es überhaupt Fein fittlicher Zuftand ift, welcher ja erft durch 
diefe grundlegende Entfcheidung herbeigeführt werden fol. Es geht 
der Entfcheidung, die wir bier auf ihren fittlichen Charakter unter- 
Suchen, gar nichts weiter vorher, als die fittlich indifferente Wahl: 
freiheit des Willens, und wir mußten ja ganz ausdrücklich voraus 
fegen, daß vor ber Entjcheibung diejes wahlfreien Willens felbft 
von einer fittlichen Werantwortlichfeit des Menſchen keine Rede fein 
fonnte und dürfte, da fie ganz und gar erft durch diefe Entfchei- 
dung begründet werden ſoll. 

Findet fih nun aber vor der Entfcheidung des wahlfreien Wil- 
lens fein fittlicher Zuftand vor, welcher mit einer eigenen Ver⸗ 
antwortlichleit des Subjeftes verbunden wäre, fo verlieren wir 
dem oben Gefagten zufolge natürlich jedes Recht, dem Willen 
dasjenige als Böſes, als Sünde zuzurechnen, was er gar nicht 
als ſolches gethan Hat. 

Die Richtigkeit diefer Anſchauung zeigt fich relativerweife auch 
darin, daß wir einen Verbrecher ganz felbjtverftändlid um fo 
milder beurteilen, je weniger wir ihn meinen verantwortlich machen 
zu fönnen für den Zuftand, in weldem er jein- Verbrechen be= 
gangen; ja wir entjchuldigen ihm ganz und gar, fobald er für 
jenen Zuftand gar nicht verantwortlid ift, 3. B. ein Menſch, 
welcher im Wahnfinn einen Mord verübt Hat, gilt uns noch nicht 
einmal al8 Verbrecher, obwohl es an und für fih ein Verbrechen 
ift, was er gethan hat. 

Noch deutlicher zeigt fich dies in folgendem Beifpiele. Denken 
wir uns eine Handlung, welche nicht an fi jchon vor dem all 
gemeinen Sittengefege, ſondern lediglich darum eine Sünde ift, 
weil fie mein Vorgejetter verboten hat. Denken wir und weiter, 
daß ich von dieſem Verbote meines Vorgeſetzten zufälligerweife 
feine Kenntnis habe. Wenn ich unter diefen Umftänden num die 
betreffende Handlung begehe, fo wird fie mir auch nicht im ges 


Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 9% 


ringften als ein Unrecht zugerechnet werden künnen; im Gegenteil 
mein Vorgefegter würde ein Unrecht begehen, wenn er mir dieſe 
Handlung als ein Unrecht anrechnen wollte, da ich fie ja gethan 
habe, ohne zu wiſſen, daß fie ein Unrecht ift, und da fie auch 
nicht aus einem Zuftande hervorgegangen ift, für ben ich verant- 
wortlich zu machen bin, injofern e& nicht meine Schuld, fondern 
nur ein Zufall war, daß ich von dem Verbote meines Vorgefehten 
feine Kenntnis Hatte. 

Das Verhältnis wird aber fofort ganz andere, wenn meine 
Unfenntnis des Verbotes eine von mir felbft irgendwie verfehuldete 
ft; dann ift e8 natürlich mit der vollflommenen Unfchuld meiner 
Handlung vorbei, ich kann, ja ih muß nun für diefelbe verant- 
wortlich gemacht werden, da fie aus einem Zuftande hervorgegangen 
ift, für den ich verantwortlich zu machen bin. Die Handlung ift 
nun meine Schuld, da ich an dem Zuſtande fchuld bin, aus dem 
fie hervorgegangen: ift. 

Wir fehen bier wiederum, wenn nicht eine Verfchuldung voran» 
gegangen ift in irgendeiner Weiſe, in irgendeinem Grade, jo kann 
ih für das Böſe, was ich. gethan habe, nicht verantwortlich ge« 
macht werden, fobald ich es gethan Habe ohne Rüdficht darauf, 
daß es böfe ift, db. h. fobald ich e8 nur als objeftio Böſes, wenn 
man davon Überhaupt reden darf, aber nicht als fubjeltiv Böſes 
gethan Habe. 

Wenn es nun der Wahlfreiheit des Willens einzig und allein 
möglich ift, fi) auf diefe Welfe für das Böſe zu entjcheiden, näm⸗ 
lich ohne Rückſicht darauf, daß es böfe ift, fo kann dem Menſchen 
eine wahlfreie Entjcheibung für das Böſe unmöglih als Sünde 
angerechnet werden, e8 Tann ihm unmöglich für das, was er in 
diejer Weife thut, eine fittliche Verantwortlichkeit aufgebürdet wer» 
den, da das, was er in diefer Weife thut, gar nichts Sittliches 
ft. Kurz eine ſolche Art der Selbftentfcheidung hat weder fitt- 
lichen Charakter noch fittliche Folgen. 

Wenn wir nun dies alles in Rechnung ziehen, fo jehen wir 
in ber That feine Möglichkeit, vermitteld der Wahlfreiheit des 
Willens den Übergang aus der fittlichen Unbeftimmtheit des Men⸗ 
ſchen in feine fittliche Beſtimmtheit Herzuftellen; wir fehen feine 

7% 








10 Meyer 


Möglichkeit, durch bie Wahlfreiheit des Willens für den Mienfchen 
eime fittlihe Verautwortlichleit für das, was er erfahrmgemäßig 
ift uud thut, zu begründen, denn fobald man eine wirkliche fittliche 
Beftimmtheit von dem wahlfreien Willen Herzufeiten unternimmt, 
fo findet man, daß derfelbe bereite fittlich beftimmt fein mußte, 
am wirklich fo handeln zu können, fobald man dagegen den wirk⸗ 
lich wahlfreien Willen gemäß feiner fittlich indifferenten Wahl⸗ 
freiheit handeln laſſen will, jo findet man, daß auch feine Hand- 
Inngsweije jaurt ihrem Ergebnis ſittlich nnbeftinmt fein muß, um 
wirklich von der Wahlfreiheit gelibt werden zu fünnen. 

Aus diefem Dilemma können wir nicht beraus fommen, fo 
daß wir baran verzweifeln müflen, die fittliche Verantwortlichkeit 
des Menſchen ans ber Wahlfreiheit feines Willens berzuleiten,, ja 
fogar geftehen müjjen, daß mit der Wahlfreigeit des Willens, 
gerade wenn man mit berfelben vollen Eruft macht, eine füttliche 
Berantwortlichkeit für das, was er thut und infolge deſſen ift, und 
für das, was er ift und infolge deſſen thut, nicht vereinigt werden 
kaun, ba ja bieß alles durch feine Herleitung aus der Wahlfreiheit 
des Willens auf ein Prinzip geftellt wird, welches fittlich indiffe⸗ 
rent ift und bleibt unb daher mit dem Gebiete des Sittlichen 
weber felbft, noch im ſeinen Folgen etwa® zu thun Hat; und ſchon 
die Anwendung einer fittlihen Betrachtung auf derartig begründete 
Handlungen und Zuftände würde ebenfo unmöglich, ebenfo unfinmig 
fein, als wollte man den Raum mit der Elle des Gebanfens, oder 
ten Gebanln mit der Elle des Raumes mefſſen. 

So muß denn merkwürdigerweife auch dasjenige, was fonft 
die Bofttion der Wahlfreigeit des menjchlichen Willens gegen alle 
piycholegifchen, veligiöfen und anderweitig fittlichen Inſtanzen ftügen 
fol, nümlich bie fittliche Verautwortlichkeit des Menjchen, zu einer 
weiteren Inſtanz gegen biefe Wahlfreiheit umſchlagen. 

Will man bie Wahlfreigeit des menſchlichen Willens fefthalten, 
fo muß man überhaupt verzichten auf eben fittlichen Chamfier 
besienigen im Menfchen, welchem viele den Höchiten, ja einen ab- 
fohıten Wert beilegen, nümdich des Willens. Gerabe basfenigt, 
wobarch ber Menſch feinen ſittlichen Charakter am meiften umb am 


bentlichiten,, ja wodurch er ihn erft ald feinen Charakter erweiſen 


Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 101 


und bewähren foll, nämlich der Wille, wird durch die Behauptung 
jeiner Wablfreiheit dem fittlichen Gebiete des Lebens unwiederbring⸗ 
(ich entzogen. 

Durch die obige Entwidelung wird es zur Gewißheit, daß bie 
pure Wahlfreiheit mit ihrer fittlichen Indifferenz nicht bie Oe⸗ 
burtsftätte irgendeiner fittlichen Beftimmtheit fein kann. Es ift 
iehr ſchön, zu fagen, der Wille folle fi ſelbſt beftimmen, der 
Menih müſſe frei fein, er jei auch frei, um eine freie Sittlichkeit 
baben und üben zu können, nur in der freiheit könne die Sittlich« 
feit gedeihen, ja könne es Sittfichleit geben. Und das ift nicht 
bloß jehr ſchön, fondern auch fehr richtig, zu jagen, jo lange man 
mit dem Worte Freiheit und Selbftbeftimmung den gehörigen Bes 
griff verbindet und am ben Gegenſatz von Zwang und Snechte 
ſchaft denft. 

Gewiß, eine erzwungene Sittlichkeit ift keine Sittlichleit unb 
kann feine fein, weil die Sittlichfeit in jebem Kalle etwas Weſent⸗ 
fihes ift, während der Zwang fi dem Weſen defien, was ibm 
unterliegt, entgegenfeßt. Zwang und Sittlichkeit ſchließen ſich ein⸗ 
ander aus, denn wo das zwangsmäßige Muß regiert, da mürde 
das Soll, welches ja nuf alle Berhältniffe des fittlihen Seins 
und Lebens anzuwenden tit, höchſtens eine Ironie auf die Wirk» 
lichkeit fein. 

Sobald man aber unter der Freiheit, aus welcher die Blüte 
der Sittlichkeit hervorfproffen fol, das Frei⸗ſein von’ jeder eigenen 
wejentlichen Beſtimmtheit verfteht, fo werben jene Äußerungen 
falſch. Diefe Freiheit ift ja gar nichts amderes, als ein farbe 
loſer Mangel, aus dem wahrhaftig feine Fülle, fein Reichtum 
erwachſen kann. Ein Füllhorn, welches nichts enthält, mag 
ih noch fo viel wenden und jchütteln, es kommt doch nichts 
heraus; fo wird auh ein Wille, welcher fittlih unbeftimmt 
und gehaltlos ift, auf Feine Weiſe durch fi felbft und aus 
ſich felbft zu fittlicher Beſtimmtheit umd fittlichem Gehalte ger 
langen können. 

Ich muß hier einen Punkt berühren, der wichtig genug ift, 
am auch in diefer Erörterung feine Berädfichtigung zu finden. 

Man eifert feit langer Zeit auf dem Gebiete der Philoſophie, 





102 Meyer 


in Sonderheit der Metaphufit gegen ben fogenannten Spinozis 
mus; man beftreitet mit Entjchiedenheit, daß die beſtimmte indivi- 
duelle Realität aus der unbeftimmten Allgemeinheit hervorgehen 
könne, und daß das unbeftimmte Allgemeine fich allein aus fid 
jelbft heraus differenzieren fünne, man Hält das Syſtem, welches 
den Übergang aus der Unendlichkeit des Allgemeinen zu der End: 
lichkeit des Befonderen, Einzelnen, über welchen Spinoza felbft nod 
feine Auskunft geben zu können geftand, entdeckt zu haben be- 
hauptet und ihn in fo glänzender, oder fagen wir beſſer blenden- 
der Weife dargethan hat, für einen überwundenen Standpunft, 
deſſen kühne Phantafieen vor dem nüchternen Verſtande und Urs» 
teile der Kritiker nicht ftandgehalten Haben; und man thut dies 
alles mit Recht, denn wir werden es nie und nimmer begreifen 
fünnen, wie aus einem abftraften, farb- und gehaltlofen Allge⸗ 
meinen durch einen eigenen inneren Prozeß, nenne man ihn nun 
bialektifch, oder fonft wie, das einzelne, nah Form und Inhalt 
individuelle Konkrete hervorgehen künne; und mag uns auch unfer 
Denken no fo fehr nötigen, das Abjolute. um feiner Abfolutheit 
willen zugleich als inhaltslofe Allgemeinheit aufzufafjen, diejes ſelbe 
Denken macht es uns auch unmöglich, nachdem wir durch Abftra- 
hierung von aller Beftimmtheit, d. H. Endlichkeit das Abjolute ge- 
funden haben, von dieſem Abfoluten jelbft wieder zurüdzulommen 
zu der endlichen Beftimmtheit der realen Gegenftände. Zwifchen 
beiden iſt eine Kluft befeftigt, über welche keine Brüde zurückführt, 
und fo oft man gemeint hat, eine folche gefunden zu haben, hat 
fie fi bei näherer Befichtigung als ein Trugbild herausgeſtellt, 
gefchweige daß fie auch nur einen feiten Schritt ansgehalten Hätte. 
Sie hat eben nur fo lange gehalten, al8 man mit der durch die 
eigenen Wünſche und Bebürfniffe beflügelten Phantafie über ihr 
hinſchwebte. 

Das ſeines Inhalts entleerte Allgemeine hat kein Entwicke⸗ 
lungsvermögen, unſer Denken verbietet es uns, demſelben ein 
ſolches beizulegen. Das ſchlechthin Einfache, ſo lange es für ſich 
allein bleibt, wird ewig ein ſchlechthin Einfaches, wird ewig ſich 
ſelber gleich bleiben. Entwickelung können wir uns nur da denken, 

wo eine Kombination von Entwicdelungs » Elementen eintritt, nur 


Die Wahlfreiheit des Willens zc. 108 


aus folcher Kombination von wenigftens zwei Elementen wird etwas 
Neues entitehen Tönnen. 

Wir werden daher jeglihe Entwidelung als eine Teimartige 
aufzufaffen Haben, d. 5. als eine folche, welche das Latente patent 
macht, welche entfaltet, welche das objektiv Mögliche beftändig zur 
Wirklichkeit bringt. Im ſchlechthin Einfachen ift aber nichts la⸗ 
tent, was erft noch patent werden fünnte, denn in ihm ift ja 
alles fchon patent, in actu vorhanden, da e8 eben nur ein fchlecht- 
bin Einfaches tft. 

Auch die mathematische Entwicelung, die man vielleicht nod) 
mit einigem Scheine dagegen anführen könnte, daß alle Entwide- 
lung feimartig, d. h. durch Kombination von Entwickelungs⸗Ele⸗ 
menten ſich aus dem latenten Zuftande zu dem patenten entfalten 
muß, auch die mathematiihe Entwickelung, die ja der fogenannten 
dialeftiichen zum Vorbilde gedient hat, weift in Wirklichkeit feinen 
anderen Charakter auf, als diefen. 

Wenn id) nämlid die mathematifche Entwidelung als eine 
teale, wirklich ſich vollziehende auffaffe, jo muß ich fagen, dag fie 
nicht zuftande kommt ohne einen Mathematiker, der fie vollzieht, 
indem er zur mathematifchen Einheit, die am fich felbjt allerdings 
völlig Teer ift, Hinzu tritt, ihr neue Einheiten beifügt, fie ergänzt 
und fortführt zu allen den verwidelten Berhältniffen, welche in der 
mathematifhen Einheit ihr Grundelement haben. Die mathema- 
tifche Einheit an und für fich würde e8 zu dieſer real gedachten 
Entwidelung nicht bringen, fie würde immer und ewig allein bleiben 
in der abfoluten Einfachheit, in welcher fie urfprünglich beſteht, 
ebenfo, wie auch aus dem fich felbft überlafjenen Punkte an und 
für fih nie und nimmer Linie, Fläche und Körper entftehen 
würden. 

Wil man dagegen fagen, da8 Syſtem der mathematischen 
Wahrheit beſtehe doch auch unabhängig von der Thätigkeit des 
Mathematikers, diefer fei es doch nicht, der fie durch feine ent» 
widelnde Thätigkeit erft zur Wahrheit machte, vielmehr entwidele 
fie fi doch eigentlich aus fich felbjt, und der Mathematiker habe 
im Grunde feine andere Aufgabe als die, daß er diefer ſelbſtän⸗ 
digen Entwidelung zuſchaut und ihr nachforſcht, wo fie fih dem 





104 Meyer 


oberflächlichen Blicke zu verbergen beginnt; will man die mathe 
matifche Entwidelung in diefer Weife verftehen, md man kam 
biefe Auffafjung derfelben fogar als die adäquatere bezeichnen, fo 
bat man doch kein Recht mehr, fle als eine real verlaufende Ent» 
widelung anzufehen, fie iſt dann überhaupt keine wirkliche eigent- 
liche Entwickelung mehr, fondern ein von Anfang an fertiges 
Syſtem von Wahrheiten, in welchem jedes Glied, auch das aller- 
fegte, nach welchem bie Mathematiker vielleicht noch viele Jahre 
juchen müfjen, genau ebenfo ewig wahr, genau ebenfe ewig wirk⸗ 
ſich ift, wie das erfte Glied; fie ift dann ein Syſtem von Wahr: 
beiten, in welchem zugleih in und mit dem erften Sliede alle an- 
deren Glieder und fomit das Ganze gegeben ift und zwar das 
Ganze in feiner vollen Wirklichkeit, nur daß dieſe volle Wirklich 
feit bis zu ihrem legten Abſchluß, wern fie überhaupt einen Bat, 
vielleicht von den Mathematikern der Zeit noch nicht erfannt und 
überfehen wird. 

Einem ſolchen Syſtem gegenüber ijt allerdings die ſubjektive 
Forſchung am Plage, welche den Schein einer Entwidelung Hat, | 
doch von einer wirklichen objektiven Entwidelung kann da nicht die 
Rede fein, denn es Handelt fich ja in dieſem Syftem von Wahr: 
beiten eigentlih nur um die Beziehungen der mathematifchen Größe 
zu den mehr ober minder verwidelten Berhältnifjen, welche ſich 
keineswegs aus derjelben von felbft ergeben. 

Wo immer wir eine wirklich fich vollziehende Entwickelung 
anerfennen müſſen, finden wir aud eine Kombination von Ent⸗ 
widelungselementen, aus denen die Entwidelung hervorgeht und 
fih fortipinnt, welche alfo um der in ihr enthaltenen Elemente 
willen eine gewiſſe konkrete DBeftimmtheit an ſich trägt. Aus der 
Unbeftimmtheit an und für ſich kann das Beſtimmte nimmermehr 
hervorgehen, das Unbeitimmte an und für fi kann nimmermehr 
die reale Grundlage für das Beftimmte fein. 

Wenn man nun diefe Wahrheit gegen den Spinoziemus und 
feinen #ortjeger, welcher die Löfung des Welträtſels gefunden 
zu haben glaubte, fo emergifch vertritt, will man ſich nicht be 
denken, einen ſolchen Spinozismus für das ethiſche Gebiet dennoch 
feftzubalten? Ja es fcheint, als wollten gerabe diejenigen, welche 


Die Wahlfreibeit des Willens zc. 196 


auf dem Gebiete der theoretiſchen Vernunft am entſchiedenſten 
gegen den Spinozismus Front machen, anf dem Gebiete der praf- 
tifhen Vernunft eine Theorie vertreten, in welcher ih nur eine 
andere Art des von ihnen bekämpften Spinoziemus erbliden Tan, 
denn auch Hier joll ja aus dem Allgemeinen das Befondere, auß 
dem Smdifferenten das Differente, aus der Linbeftisamtheit das 
Beitimmte fich ergeben. 

Der wahlfreie Wille fol fih, obwohl er eimerfeits fittlichen 
Weſens, anderfeits dach auch weder gut noch böfe ift, aus dieſer 
füttlichen Unbeftimmatheit heraus einen pofitiv fittlihen Charakter 
geben, fei ed nun, daß man annimmt, dieſer fittlihe Charakter ſei 
gleich nach der, oder vielmehr durch die erſte Entſcheidung des 
wahlfreien Willens vollendet, fei e® auch, daß man dagegen an⸗ 
nimmt, er begiune mit diefer erjten Entjcheibung nur, um dasn 
dur die folgenden Enticheidungen der nun nicht mehr abjoluten, 
fondern dur die Wirkung der erften Enticheidung in etwas be= 
dingten und eingefchränften Freiheit des Willens immer mehr aus⸗ 
gebildet und vollendet zu werden. Es bleibt ji das für unjere 
Frage ganz gleich, denn das ift eben das Undenkbare, was in 
beiden Annahmen wiederfehrt, daB aus der fittlichen Unbeftimmt- 
heit die jittlihe Beſtimmtheit entitehen fol. Aus nichts kann 
nicht9 werden, und wo etwas werden foll, da muß ſchon etwas 
vorhanden fein, in melchem dasjenige, was da werden foll, leim- 
artig enthalten ift, um ſich zu entfalten. 

Aber müffen wir nicht vielmehr jagen, daß in diefem Stücke 
gerade ein, wenn nicht der wefentliche Unterjchied Liegt zwiſchen 
dem natürlichen Leben und dem fittlichen Leben? Das wird und 
tann ja uiemand leugnen, daß das matürliche Leben in feinem 
Werden und Wachfen dasjenige entfaltet und entwidelt, was es 
an Keimen enthält, jo weit fie nicht unter anderen Einflüſſen ver- 
fümmern, mögen ihm nun diefe Keime urfprünglich eigen fein, 
oder mögen fie ihm nachträglich, gelegentlich irgend woher gegeben 
werden; und das natürliche Leben, es fei des Steines, der Pflanze, 
des Tiers, des Menfchen, des Weltalls, ift nichts anderes als 
diefe Entwidelung,, und e8 ift um fo volllommener zu nennen, je 
weniger dieſe natürliche Entwidelung geftört, gehemmt und unter» 


106 Meyer 


brochen wird. Aber im fittlichen Leben ift es doch eben ganz 
anders, das fittliche Leben hat etwas Scöpferifches, es ſoll nicht 
bloß naturgemäße Entwidelung fein, fondern um fittli heißen zu 
fönnen, muß es eben aus der Unbeftimmtheit erft jelbft zu einem 
pofitiv fittlihen Charakter fortfchreiten. 

Die Verteidiger der Wahlfreiheit des menfchlihen Willens 
werden nicht aufhören, dies zu behaupten; aber wenn fie dann 
doch auch das zugeben wollen, daß fie mit diefer Behauptung den 
ganzen Umfang unferes fittlihen Weſens und Lebens außerhalb 
der Grenzen verjegen, die unferm Begreifen zugänglich find, denn, 
wie wir oben gejehen haben, tft nach unferen Begriffen die 
ſchöpferiſche Entftehung der pofitiven Sittlichkeit, welche trot ihrer 
fhöpferifhen Art dennoch zu einer höheren Norm, nämlich zu 
Gott nnd feiner Heiligkeit, ober fagen wir auch zum Sittengeſetze 
in einem beftimmten Verhältnis ftehen fol, und erit um dieſes 
Verhältniſſes willen einen fittlichen Charakter hat, aus der fitt- 
lichen Indifferenz des Willens heraus als unmöglich zu bezeichnen, 
und wenn wir bei genauerer Unterfuchung fanden, daß eine jede 
fittliche Entſcheidung des Willens fchon einen entfprechend fittlichen 
Charakter desfelben Willens vorausfegt, jo nötigt und das eben 
zu der Behauptung, daß das GSittlihe nur aus dem Sittlichen 
felbft hervorgehen kann als eine Entfaltung deſſen, was keimartig 
ſchon vorhanden tft, oder als eine aktuelle Äußerung deffen, was 
dem Vermögen nad jchon da ift. 

Wollen wir aber die fogenannte fittlihe Indifferenz, aus 
welcher heraus der wahlfreie Wille fich fittlich beftimmen foll, auf 
ihren fittlichen Charakter anfehen, fo bleibt uns nichts übrig als 
das Geſtändnis, daß fie Feine fittliche Wefenheit befigt, ebenſo 
wenig als das Abfolute der theoretiichen Vernunft eine Realität 
befitt. Beide, das unbeftunmte Allgemeine der theoretifchen Ver⸗ 
nunft, oder das Abfolute, und das unbeftimmte Allgemeine der 
praftifchen Vernunft, oder die fittliche Indifferenz, find nichts als 
Abftraktionen unferer Verftandesthätigleit, fie haben feine wirkliche 
Eriftenz und können feine haben. 

Das ift für die fittliche Indifferenz, auf die es uns hier an 
fommt, leicht nachzumeifen. 











Die Wahlfreiheit des Willens zc. 107 


Das Sittlihe bewegt ſich zwifchen den Gegenfägen von gut 
und böfe, oder e8 befteht in ihnen, etwas Mittlere oder Drittes 
giebt es nicht, fofern es wenigitens fittlich fein fol. Ein Willens- 
entfchluß oder ein Zuftand, wenn er überhaupt unter eine fittliche 
Betrachtung füllt, ift entweder gut oder böfe; und wenn man das 
von redet, daß man auf einen Zuftand ober auf eine That weder 
die Bezeichnung „gut“ noch die Bezeichnung „böſe“ anwenden Tann, 
fo Handelt e8 fi immer nur um Zuftände und Thaten, deren 
Charakter nicht etwa zwifchen den Gegenfägen von gut und böfe 
liegt, fondern gänzlich außerhalb des Bereiches diefer Beftimmungen, 
fo daß dann auch die dem Guten und dem Böfen gemeinfame Be- 
zeichnung des Sittlichen gar keine Anwendung mehr finden kann; 
es hanbelt fi dann immer um etwas, was, unferer Erkenntnis 
nach wenigftens, überhaupt gar nicht in das Gebiet des GSittlichen 
bineingehört. 

Iſt dies dennoch der all, fo fann die Unmöglichkeit einer 
zwifchen gut und böfe entjcheidenden Beurteilung nur daher rühren, 
dag man das zu Beurteilende felbjt nicht genau und volljtändig 
dis in den unterften Grund hinein kennt und durchſchaut; oder es 
liegt daran, daß der zu beurteilende Fall fo verwidelt ift, und daß 
in demfelben das fittlih Gute und das fittlih Böfe in einer fo 
fomplizierten Weife zufammen, reſp. gegen einander gewirkt haben, 
daß man in ber einen Hinfiht das Prädifat „gut“, in der anderen 
Hinfiht das Prädikat „böje“ ausfprechen möchte. Nie aber wird 
man bie Beurteilung irgendeined alles, welcher überhaupt dem 
Gebiete der Sittlichleit angehört, für abgefchloffen und endgültig 
erachten können, fo lange man noch nicht alles an demjelben, was 
fittlichen Charakters ift, untergebracht hat unter die Beftimmungen 
entweder des fittlich Guten oder des fittlih Böfen; und das „non 
liquet‘, das man in folchen Fällen oftmals genötigt ift auszu- 
Sprechen, ift ein Beweis dafür, daß man auf dem fittlichen Ge⸗ 
biete zwifchen dem Guten und dem Böſen nichts “Drittes anzu⸗ 
erfennen vermag, fondern lieber auf jede Entfcheibung verzichtet, 
wenn man fich nicht für eins diefer beiden entjcheiden Tann. 

Sole Fälle nun, in denen eine fichere und vollftündige 
fittliche Beurteilung ſehr fchwierig ift, finden fi im gewöhnlichen 


106 Meyer 


Leben ungemein Häufig, weil das Gute und das Böſe hier auf 
Erden in beftändigem Kampfe mit wechjelndem Erfolge begriffen 
find.‘ Ya wir können une fogar einen fittlichen Charakter denken, 
ob er im Wirklichkeit eriftiert, ift eine andere Frage, im welchem 
bie Diacht des Guten und die des Böſen bergeftalt vertreten find, 
daß fie fich gegenfeitig genau die Wage halten. 

Daß ein folder Charakter fittlich fein würde, kann nicht ge 
feugnet werden, aber feine Sittlichleit wäre eben gleihmäßig ge- 
fpalten zwifchen den Gegenfägen von gut und böfe. Will man 
nun etwa einen jo gearteten Charakter fittlich inbifferent nennen, 
infofern er darum, weil er ſowohl gut, als auch böfe ift, zugleich 
auch als weder gut noch böfe bezeichnet werben kann, fo mag 
man immerhin da8 Recht der eigenen Begriffsbezeihnung üben, 
welches ja jeder wiflenfchaftlich arbeitende Menſch in einer gewifjen 
Grenze für fih in Anfpruch nehmen kann, aber man wird doch 
nicht fagen können, daß das diejenige fittliche Indifferenz ift, aus 
welcher Heraus fich der wahlfreie Wille ſelbſt fittlih beftimmen 
fol, denn wenn wir uns vor der Enticheidung unferer Wahlfrei- 
beit in einem folchen Zuftande befünden, dann wäre erftens in 
dem fittlihen Charakter des wollenden Subjeftes ſchon eine Macht 
8:8 Guten fowie eine Macht des Böſen vorhanden, für welde 
der Wille des Menſchen nicht verantwortlich gemadht werben 
könnte, fondern die beide, man denfel auch die Macht des Böfen, 
welche der des Guten die Wage hält, ohne weiteres auf ben 
Schöpfer zurücgeführt werden müßten; und zweitens würde man 
gemäß den früheren Erörterungen wiederum nicht verftehen fünnen, 
auf welche Weiſe jich der mwahlfreie Wille zwifchen den beiden eins 
ander entgegengejegten, mit ganz gleicher Stärke treibenden Mächten 
enticheiden follte, und wie biefe Entfcheidung eine fittliche und fitt⸗ 
ih verantwortliche fein könnte. 

Wir würden dadurch alfo zu der ſchon vorhandenen Schwie- 
rigkeit nur noch eine neue hinzufügen und zwar ohne jeden Nutzen, 
denn wir würden nur unter etwas anderen Umftänden vor dem 
bereitö als unlösbar erfannten Rätſel ftehen: wie bringt der wahl 
freie Wille eine fittliche Entſcheidung zwiſchen gut und böfe zu⸗ 
ftande? Der wahlfreie Wille würde eben aud) in diejer Rage gar 











— — — — — 


Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 109 


nichts Begreiflihes thun können, um den fittlihen Charakter, in 
diefem Falle ein Doppelcharatter, welcher jchon ohne und vor dem 
Willen vorhanden ift, zu ündern oder auch nur zu entwideln. 
Wir jehen, wenn der fittlihe Charakter des Subjelted wirklich 
erft durch die Enticheidung des Willens joll herbeigeführt werden, 
fo muüſſen wir aud die eben beiprochene Art ber fittlichen In⸗ 
differenz als ungeeignet dazu abmweifen, ba in ihr bie Eriftenz des 
fittlich Guten und des fittlih Böſen bereits vorausgejeßt ift. 

Da wir nun das Weſen bes Sittlichen nur da finden können, 

wo fich entweder das Gute oder bas Boſe, fei es in actu, fei es 
in potentie, zeigt, jo zerrinnt bie fogenannte fittliche Indifferenz 
des Willens, aus welcher das Gute reſp. das Böſe erft noch here 
vorgeben foll, in nichts. Das Weſen des GSittlichen findet in 
einem folden Zuftande Teine Stätte mehr, fo daß bieje Indifferenz 
zu dem Weſen und Gebiete des Sitrlichen genau in demſelben 
Berhältniffe fteht wie 3. B. der Juſtinkt des Tiers oder auch bie 
Schwerkraft des Steimes; ımd man begreift e8 nicht, wie fih aus 
der Thätigleit dieſes Inſtinktes oder aus ber Wirkung biejer 
Schwerkraft nicht mit demfelben Rechte ein fittlicher Charakter er» 
geben joll, wie aus den Entfcheidungen jener Indifferenz, denn alle 
drei haben fte gleicherweife mit dem Weſen des Sittlichen nichts 
zu thun. 

Kurz zufammengefaßt Heißt das: eine fittliche Indifferenz giebt 
«8 nicht, denn fo weit fie Indifferenz iſt, ift fie nicht fittlih, und 
fo weit fie fittlich tft, ift fie nicht Indifferenz. Der Begriff ber 
fittliden Indifferenz fteht aljo mit dem der farbigen Farblofigkeit 
ober mit dem der farblojen Farbe in gleichem Range. 

&o jehen wir uns denn von allen Seiten mit ber Behauptung 
der Wahlfreiheit des menſchlichen Willens als ber Quelle feines 
fütlihen Charaktere und darum feiner fittlichen Berantwortlichleit 
zurücgemorfen. Die Wahlfreiheit des Willens hat mit dem fitt⸗ 
lichen Weſen und mit ber fittlichen Würde des Menſchen durchaus 
teine Gemeinschaft und Verbindung; weber das Bute noch das 
Boſe in unferem fittlichen Charakter Lönnen wir auf fie zurück⸗ 
führen oder von ihr Herleiten; fie genügt nicht, um fir den 
Menihen, welcher fich vermöge ihrer enticheibet, irgendwelche fitt- 


110 Meyer 


liche Verantwortlichfeit für das, was er thut und ift, zu begrün⸗ 
den; fie würde überhaupt, auch wenn wir fie ftatuieren wollten, 
für das fittliche Sein des Menſchen aud nicht die geringfte Be⸗ 
deutung haben, ja da fie jelbft nichts Sittliches ift und mit dem 
Sittlihen auch feinen Zufammenhang hat noch gewinnen kann, fo 
würde fie mit fich felber auch den Willen, deſſen Thätigkeit durch 
fie geregelt wird, der Sphäre des Sittlichen entziehen und fo ben 
fittlihen Charakter desfelben unmöglich machen. 

Demnach hat aber die Wahlfreiheit des Willens auch fein Hecht 
mehr, als ein fittliches Poftulat aufzutreten, da fie den Bedingungen 
dieſes Poftulates nicht bloß durchaus nicht genügt, fondern fogar 
vollftändig widerfpricht. " 

Wie ih num glaube, dur die vorftehende Darlegung nach⸗ 
gewiejen zu haben, daß die Annahme einer Wahlfreiheit des menfch- 
lichen Willens für die Begründung einer fittlihen Verantwortlich⸗ 
feit de8 Menſchen und injonderheit für die Erklärung der Sünde 
als des Menſchen felbfteigener im Gegenſatz zu Gott oder zu der 
eigenen anerfchaffenen Natur vollbrachter That nichts zu Leiften 
vermag, vielmehr unüberwindlihe Schwierigfeiten bereitet, fo finde 
ih in dem allen die unabweisbare Aufforderung, nunmehr dieſes 
Theorem, welches nichts für fich Hat als einen vielleicht nicht ganz 
oberflächlichen Schein, endgültig fahren zu laſſen. Nur dadurch 
können wir zu einer in fi klaren und zufammenhängenden Theorie 
wenigftens vom Willen an und für ſich gelangen, während jenes 
Theorem überall Unklarheiten bringt und Verwirrung anrichtet. 

Freilich ift durch diefe Befeitigung der Wahlfreiheit des menſch⸗ 
lichen Willens keineswegs auch die Schwierigkeit bejeitigt, welche 
in dem Begriffe der fittlichen Werantwortlichkeit und infonderheit 
in dem der Sünde für unfer Begreifen Liegt; ja ich möchte fagen, 
daß diefe Schwierigkeit nach der Beſeitigung jener Unflarbeiten 
und Verwirrung nur noch grellee hervortritt. Wie aber alle 
wiſſenſchaftliche Forſchung zunächſft darauf ausgehen muß, bie 
Fragen, die etwa zu beantworten find, möglichit zu prücifieren, 
und die Schwierigkeiten, die zu löfen find, in möglichft fcharfen 
Umriffen vor die Augen zu ftellen, jo kann e8 uns nur lieb fein, 
auch auf dem Gebiete des fittlichen Lebens erft einmal recht deut» 





Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 111 


lich zu erfennen, wo denn das Rätſel eigentlich liegt und worin e8 
beſteht. Wir werden uns durch ſolche Klarlegung der Schwierig- 
feit defto mehr getrieben fühlen und durch fie auch defto fähiger 
werden, in der Beurteilung unferes fittlichen Lebens diejenige 
Stellung einzunehmen, welche dem Wefen und dem fo oder fo ge⸗ 
arteten Charakter desfelben am genaueften entſpricht. 


Welches iſt aber diefe Stellung? 

Diefe Frage wird ſich jedem aufdrängen, welcher der obigen 
Darlegung bis hierher gefolgt ift; und obwohl die Beantwortung 
derfelben außerhalb des durch bie ÜÜberfchrift bezeichneten Themas 
ttegt, fo will ich doch, wenn auch nur mit möglichft wenig Wor« 
ten, mich über das außjprechen, was mir als Konfequenz der bis⸗ 
herigen Erörterung erfcheint. 

Das wird jedem aufmerkfamen Lejer von vornherein feſt⸗ 
ftehen, daß aus dem Vorhergehenden diejenige Konfequenz nicht 
gezogen werden kann, die man gewöhnlich mit der Leugnung der 
Wahlfreiheit betreffs der fittlihen Berantwortlichleit und nament« 
fih der Sünde verbunden findet, denn die ganze Unterlage, auf 
welcher bier die Beurteilung der Wahlfreiheit vorgenommen ift, 
verbietet e8, aus dem Grunde, weil die Wahlfreiheit des Willens 
nicht imstande ift, eine fittlihe VBerantwortlichkeit zu begründen 
und die Sünde zu erklären, diefe Thatfachen unſeres fttlichen Be⸗ 
wußtfeins überhaupt zu leugnen oder auch nur in ihrer Beden- 
tung abzuſchwächen. Es war ja gerade die Unfähigkeit ber Wahl- 
freiheit, irgendeine fittliche Verantwortlichkeit herbeizuführen, was 
dazu zwang, die Theorie der Wahlfreiheit aufzugeben. Die fitt« 
fiche Verantwortlichkeit jelbft fteht alfo über jeden Zweifel erhaben, 
fie beruht eben auf dem unerjchütterlichen Zeugnis des Gewiſſens, 
welches durch die gefamte Offenbarung Gottes beftätigt wird. 

Aber wie follen wir uns mit unferem wiſſenſchaftlichen Denken 
zu ihr ftellen? 

Ich will gleich bier den Kreis meiner Erörterung befchränten 
auf das Verhältnis der fittlichen WVerantwortlichleit zu der Sünde, 
weil die Darlegung ihres Verhältniffes zu dem fittlich Guten in 


112 Meyer 


ans, nämlih, daß fie anf biefes nicht bezogen werden kann, andere 
Gedanken vorausfett, die in dem VBorhergehenden nicht mit ıieber- 
gelegt werden konnten. Auch wird das Verhältnis ber fittlichen 
Berantwortlichleit zur Sünde und die Art, wie wir uns bazu zu 
ftellen haben, das größere Intereſſe haben. 

Meine Stellung gipfelt in folgender Behauptung: bie fitt- 
liche Berantwortlichleit, welde die Sünde ung felbft 
obne allen Zweifel auferlegt, zwingt uns zu dem 
Zugeftändnis, dag die Sünde felbfi etwas durchaus 
Unbegreiflihes und Unerklärliches tft. 

Daß diefes Augeftändnis nicht etwa eine denkfaule Ausflucht 
ift, fondern eine unabwendbare Notwendigkeit, das werden wir fo 
gleich erfenmen, wenn wir's uns Mar machen, was es heißt, etwas 
begreifen und erflären. 

Eine Sadje erklären, heißt darthun, warum fie fo ift; dar. 
tun, warum fie fo ift, das Heißt aber ihren nriächlichen Zufam- 
menbang, d. H. ihre eigene Rotwendigleit darthun, denn wenn in 
ihr noch etwas AZufälliges vorkommt, fo Tann ih an biefem 
Punkte nur fagen, daß, aber nicht, warum fie jo ift, d. 5. id 
habe an diefem Punkte die Sade nit erllärt. So ift ein Ratur- 
phänomen erklärt, wenn bie zufammenhängende Weihe oder Summe 
der Urſachen dargelegt ift, deren naturgemäße, d. h. notwendige 
Wirkung jenes Phänomen ift; jo tft eine fittlige Handlung er⸗ 
Härt, wenn die Neihe oder Summe ber Motive an Zuſtünden 
und Einwirkungen dargelegt tft, aus welchen fich jene Handlung 
naturgemäß, d. 5. mit innerer Notwendigleit ergeben bat. Be⸗ 
greifen aber heißt, eine Elnficht in biefe Notwendigkeit gewinnen. 

Ein Erklären und Begreifen ift aljo immer num da möglich, 
wo ein foldyer lückenloſer Zuſammenhang von Urfache und Wir 
fung vorhanden iſt. Alfo ber Verſuch des DBegreifens und Er- 
klärens tft au nur da vernlinftig, wo man das Borhandenfein 
eines folden Zufammenhanges vommusfegen fan. Iſt man da- 
gegen zu der Überzeugung gefommen, daß folder Zuſammenhaug 
nicht da ift, noch da Fein kaun, jo erfordert es die Vernunft, bie 
Unbegreiflichkeit und Unerklärlichkeit zuzugeftehen, denn fo lange 
man dies wicht thut, liefert man bamit den Thatbeweis, daß man 


Die Wahlfreigeit des Willens ꝛc. 113 


immer noch der Meinung ift, es müfle doch ein natürlicher, not⸗ 
wenbiger Zuſammenhang exiftieren, man habe tm bloß noch nicht 
erkannt. 

Wenn man alfo verfucht, die Sünde zu erilären, fo muß man 
vorausjeten, daß fie etwas Natärliches, d. 5. Notwendiges ift, 
und man muß darauf ausgehen, den matiiwlichen, wotwendigen Zu⸗ 
fanmenhang ver Sünde mit dem vor ihr vorhandenen, urſprüng⸗ 
chen Weſen de8 Menſchen darzuthun; denn man Int bie Sünde 
nicht erflärt, wenn man diejen Lücdenlojen Zuſammenhang nicht 
nachgewieſen unb Die Sünde nicht gänzlich unter der Kategorie ber 
Urfache und Wirkung untergebracht hat. 

Kann das aber gefchehen, wenn die Sünde etwas ift, wofür 
der Sünder felbft die Berantwortung trägt? Nein! denn die 
eigene Werantwortlichleit jagt es deutlih, daß bie Stube im 
Sünder ihren Anfang bat, daß fie eimen urſächlichen Zuſammen⸗ 
hang wohl in igrem Gefolge, aber nicht über ſich ſelbſt nad rück⸗ 
wärts hinans haben kann, fonft würde fie eben im Sünder ſelbſt 
nicht anfangen. Die eigene Berantwortlichkeit ſchließt, wenn und 
fo weit fie wirklich gilt, jeden Recurs aus. Es kann feine aufer 
dem Sünder felbit liegende Urfache für das gebeu, wofür er jelbft 
verantwortlich ift. 

Wohl mag man die Sünde, die irgendwie aus dem Sünder 
berausgetveten ift, begreifen und erflären, indem man fie bis zu 
ihrem Quellpunkt in dem Sünder zurückverfolgt. Dies Ber 
greifen und Erklären ber Sinbe ift ja im Leben ſehr gewöhnlich. 
Man fagt wohl: „Es iſt begreiflich, daß dieſer Menſch geftohlen 
bat, denn feine Net war ja fo groß, und daß er nicht genug fitt- 
lichen Salt hat, um folder Verſuchung zu widerftehen, das Hat er 
bei anderen Gelegenheiten ſchon gezeigt.“ So weilt man bei der 
Erklärung eimer fündigen That etwa anf einen Tündigen Zuftend 
zurück. Oder man fagt wohl: „Es tft begreiflich, daß biefer 
Menſch fittlih ganz verlommen Hit, denn er Hat fein Reben Lang 
nichts als Schlecktigkeiten verübt.” So weift man bei ber Er⸗ 
rung eines Tünbigen Zuftandes etwa auf fändige Thaten zurück; 
eine richtige, aber nicht voilſtündige, ganze, prinzipielle Erfiärung, 
denn mau erflärt die Sünde eben wieder aus ber — So 

Theol. Stud. Jahrg. 1886. 





114 Meyer 


fann man in der That, wie es in der Lehre von der Erbjünde 
geichieht, die Erklärung der Sünde weit zurüd verfolgen, felbit 
bis zur erften Sünde des eriten Menſchen, fchließlih wird man 
doch an einem Punkte anfommen, wo es mit der Erflärung zu 
Ende ift, weil man nun die Sünde nicht mehr auf eine andere 
Sünde zurüdführen kann; fchließlih wird man doc immer vor 
einer unbegreiflihden Thatfache ftehen, nämlich jedesmal, wenn man 
bei der Verfolgung feiner Erklärung vor einer urfprünglichen 
Sünde angelommen if. Wil man auch dann noch die Erklärung 
fortfegen, aljo die Sünde über ſich felbft zurüdführen auf etwas 
anderes, was nicht mehr fündig ift, woraus aber die Sünde ent- 
ftanden ift, dann hebt man die Verantwortung des Sünders für 
feine Sünde, d. h. im Grunde die Sünde felbft, auf, denn die 
Zurüdführung der Sünde auf eine That oder einen Zuftand, in 
welhem gar nichts mehr von Sünde zu fpüren ift, wird not 
wendig zu einer Entjchuldigung der Sünde, welche Weſen und 
Begriff derfelben aufhebt.. Damit aber Hört aud die Erflärung 
jelbft auf, eine ſolche zu fein, denn fie bejeitigt vielmehr durd 
diefes Verfahren dasjenige, was zu erklären war, um etwas an⸗ 
deres, wejentlich Verſchiedenes an feine Stelle zu ſetzen. 

Ich mug mid hier auf einige, ganz kurze Bemerkungen be 
ſchränken über die verjchiedenen Erklärungen, welche der Sünde 
gegenüber verjucht find, und von denen es nunmehr eigentlich im 
einzelnen nachzumweifen wäre, daß fie allefamt entweder feine Er» 
klärungen der Sünde oder feine Erflärungen der Sünde find, 
vielleicht aud) weder das eine noch das andere. 

Diefes letttere doppelte Manko finde ich nämlich in der popu⸗ 
lären Auffaffung der Sache, mit ber fich die meiften Menſchen 
zu begnügen pflegen, indem fie alles einfach auf die Rechnung der 
Berfuchung und Verführung ftellen. Die Erklärung der Sünde 
fehlt hier, weil diefe Auffaffung einen Verſucher oder Verführer 
und mit ihm die Sünde, bie erklärt werben ſoll, ſelbſt wieder 
vorausſetzt. Die Erklärung der Sünde fehlt hier, weil es gar 
nit einzufehen tft, wie ber fünbdenfreie Menſch auf eine Ber- 
führung zur Sünde follte eingehen können. 

Es iſt freitich nicht ſchwer, für die einzelnen Fälle in dem 


Die Wahlfreiheit des Willens 2c. 115 


Zuftande des Menfchen eine Maffe von Antnüpfungspunften aufs 
zufinden, welche der zuftande gelommenen Sünde einige Vermitte⸗ 
fung und Erklärung geben; aber jo lange man an dem Zeugnis 
des Gewiſſens fefthält, daß die Sünde das Wibdergöttliche ift, wird 
man immer an einem Punkte anfommen müffen, an dem biefes 
Gotte und darum dem urjprünglicden Wefen und Zuftande des 
Menſchen widerftreitende Wejen der Sünde irgendwie zum Vor⸗ 
fchein fommt; und wir können e8 nicht einfehen, wie unfer aus 
Gottes Hand fündenfrei Hervorgegangener Zuftand an ſich irgend- 
einem böfen Motiv Einfluß auf unjere Willensentfheidungen und 
durch fie auf unferen fittlihen Charakter hätte gejtatten können. 
Auch wenn wir noch fo viele und feine Abftufungen innerhalb des 
Gegenfages von Gut und Böſe aufftellen wollten, wir könnten es 
nicht einfehen, wie die an fich fündenfreie Natur des urſprüng⸗ 
lichen Zuftandes nicht gleichjam inftinktiv hätte Halt machen jollen 
vor der erften und leifeften Spur der Sünde, in welder doc 
weſentlich ber ganze und volle Gegenfat gegen das Göttliche ent. 
halten jein mußte; und wir würden das noch viel weniger ein- 
jehen können, wenn wir uns in dieſen anfänglichen Zuftand völliger 
Intaktheit gehörig hineinzudenken vermöchten. 

Das fittlihe Zartgefühl, welches felbft jet noch bei einzelnen 
Menſchen fo bewunderungsmwürdig ift, muß damals, vor jeder 
Sünde, geradezu unfehlbar geweſen fein, jo daß ein etwaiges Hin- 
wegipielen und stäufhen über die auch noch jo ſehr verhüllte 
Kluft zwiſchen Gut und Böſe eine völlige Unmöglichkeit war. 

Die wiffenfchaftlicher gehaltenen Erklärungsverſuche der Sünde 
fallen alle wenigftens unter da8 oben aufgeftellte „entweder — oder“. 

Da giebt e8 zunächſt eine Neihe von Auffafjungen, die feine 
Erflärung der Sünde bieten. Sie können alle unter zwei Rub⸗ 
rifen gebracht werden. Etliche Erflärer nämlich betrachten die 
Sünde mehr unter dem Gefichtspunft des objektiv Böſen und 
juchen fie daher als Beftanbteil der objektiven Welt einzureihen in 
den kosmologiſchen Zufammenhang; etliche Erklärer betrachten die 
Sünde mehr unter dem Gefihtspunft des ſubjektiv Böſen, der 
Schuld, ſuchen fie daher als Beſtandteil der fubjeftiven Welt ein- 
zureihen in den piychologifchen Zufammenhang. 

8 * 





116 Meyer 


Ich muß hier auch auf die bünbdigfte Beurteilung diejer Ber 
fuche gänzlich verzichten, und ich thue da® um fo bereitwilliger, 
als es heutzutage kaum noch befonder® gefagt zu werden braucht, 
baß durch diefe Art von Erklärung gerade darum, weil fie fo 
wiſſenſchaftlich ftringent fein ſoll, das Weien der Sünde gänzlid 
aufgehoben wird. ‘Dem philofophiichen Intereſſe, weldyes die ganze 
Welt mit allen ihren Erfcheinungen in einem großen ununterbrochenen 


Zufammenhaug anjchauen möchte, Liegt ja natürlich daran, folde 


Erflärungsverfuche der Sünde anfzuftellen, durch welche auch fie 
in dieſen allumfafjenden Zuſammenhang aufgenommen wird; aber 
das fittlihe Bewußtſein von der Sünde, das Gewiſſen bes 
Menſchen ſtemmt fi) dagegen unb läßt es nicht zu, die Sünde 
des Charakters zu entlleiden, durch ben allein fie Sünde ift, nüm⸗ 
lich des unvereinbaren Gegenfages, in welchen fie zu dem Gött- 
lichen d. 5. zu dem wahrhaften Weſen und der eigentlichen Be⸗ 
ſtimmung des Menſchen ſteht, und der auf diefem unvereinbaren 
Gegenſatze Laftenden Schuld des Sünbers. 

Diefer Gegenfas zwifchen dem Böſen und dem Guten ift es, 
was von andern Erflärungsverfuchen gewahrt werden foll. Aber 
eben weil fie die Sünde zu diefem ihrem Rechte, Gegenfat gegen 
das Gute zu fein, kommen laſſen, können fie nicht wirkliche Er- 
Härungen der Sünde fein. 

Bierher gehört zunächſt die dualiftifche Erklärungsmeife des 
Böſen. Sie Hat infofern recht, als fie auf dem Gedaufen berußt, 
dag das Böſe, wenn man es einmal ableiten will, nur wieder 
aus dem Böſen abgeleitet werden kann. Darin aber Liegt eben 
ſchon das DBelenntnis, daß man mit den Böjen zu keinem wirk⸗ 
lichen Schluß kommen ann, denn ber Schluß desfelben ift felbft 
wieder etwas Böſes, und jo wird das Böfe zu einem mit dem 
Guten gleich urfprünglichen Prinzip erhoben. 

Daß mit biefer Erklürung, bie feine wirkliche Erklärung il, 
eben weil fie im Dnalismus ſtecken bleibt, die ganze Welt in eim 
unlösbares KHätjel verwandelt würde, kann Hier nur erwähnt wer- 
den. Wichtiger noch für unfere Stage ift biefes. 

Anh wenn wir abjehen wollten von ber Abfurbität, daß mir 
um diejer Erklärung der Sünde willen verziägten müßten auf bie 


Die Wahlfreiheit des Willens zc. 117 


Erflärung des gefamten Kosmos und uns fo wegen ber Löfung 
eines Rätſels in ein ganzes Meer von Rätſeln Hineinftürzten; 
auh wenn wir ums begnügen wollten mit diefem Dualismus von 
Ormusd und Ahriman, gerade die Hauptſache an der Sünde, an 
diefem Gegenſatze gegen das Gute, würde auch bei ihm nicht er- 
klärt, nämlich die Schuld. 

Ich will gar nicht davon reden, daß wir, die einzelnen Sün⸗ 
der, wenn wir mit unferer Sünde unter der Herrſchaft eines 
folhen Prinzipes ftünden, von jegliher Schuld frei zu jprechen 
wären; vielmehr fünnte der Begriff der Schuld überhanpt bei 
diefer dualiftifchen Auffafjung in dem Böfen, auch in feinem aller 
erften Prinzipe gar keine Stelle finden, denn, wenn ſowohl das 
Gute ald auch das Böſe ein Prinzip ift, eins neben dem andern 
— anders könnten fie ja als Prinzipien nicht gedacht werden —, 
wer wollte denn darüber entfcheiden, welches von beiden denn 
eigentlich da8 Gute und welches das Böſe ift, fofern in diefen 
beiden Namen Werturteile liegen? Wer wollte entjcheiden, welches 
von beiden Prinzipien im Rechte und welches im Unrechte ift? 
Welches gegen das andere fchuldig iſt? Sie find ja beide Prin⸗ 
zipien, über denen es feine höhere Inſtanz giebt; vielmehr jedes 
Prinzip würde dem andern gegenüber als fchuldbeladen erfcheinen, 
aber auch nur erfcheinen, da fie in Wirklichkeit als Prinzipien 
einander völlig gleichberechtigt wären und beftändig bleiben würden, 
jo daß fi die Schuldfrage gänzlich auflöfte in eine bloße Macht⸗ 
frage. 

Alfo mag immerhin in der dualiftiihen und darum an fidh 
ihon bloß halben Erklärung der Sünde der Gegenfag derjelben 
gegen da8 Gute in feiner ganzen Schärfe gewahrt fein, das 
innerfte , eigentlichfte Wefen der Sünde, Schuld zu fein, findet 
au in ihr nicht die geringfte Erklärung. 

31 der legt befprochenen Klaſſe der Sünbdenerflärungen, denen 
8 eben an ber wirklichen Erflärung fehlt, weil fie die Gegen⸗ 
fätlichkeit des Böſen nicht antaften wollen, gehört ſchließlich auch 
der Verſuch, deifen Beurteilung der Gegenftand der obigen Ab- 
handlung ift, der DVerfuch, mit der Annahme der Wahlfreiheit des 
Willens der Sünde in ihrem ſchuldvollen Gegenjage gegen das 


er a - ner. 


118 Meyer 


Gute gerecht zu werden. Daß diefer Verſuch, der legte, der über⸗ 
haupt noch gemacht werden kann, troß alles gegenteiligen Anfcheins 
ebenfalls mißglüden muß, das ift oben eingehend nachgemieien. 

Sp ift denn bie Unbegreiflichleit der Sünde mit der PVerant- 
wortfichkeit de8 Sünders für diefelbe aufs engfte verbunden, fo 
daß diefe nicht ohne jene fein fann, und wir müfjen fagen, gerade 
darum, weil der Menſch für feine Sünde felbft verantmwort- 
lich ift, muß e8 unbegreiflidh fein, wie er fie begehen Fonnte. 

Das ift mein Standpunkt, und ih muß Hier nur noch das 
eine hervorheben, daß diefer Standpunkt keineswegs identiſch ift 
mit demjenigen, den man oft in der Formel ausgedrückt findet, 
daß die Sünde ihrer Wirklichkeit nach allerdings unbegreiflich fei, 
begreiflich aber doch ihrer Möglichkeit nah. Vielmehr richtet ſich 
der oben bejchriebene Standpunkt mit aller Schärfe gerade gegen 
diefe Auffaffung. 

Man hat vielleicht bei diefer vermeintlichen Begreiflichkeit der 
Möglichkeit der Sünde das Vermögen der Wahlfreiheit des Willens 
im Sinne und verfteht ſonach unter der Möglichkeit der Sünde 
eigentlich das Vermögen des Menſchen, zu fündigen, welches Ber: 
mögen eben in der Wahlfreiheit des Willens enthalten fein foll, 
fraft deren es dem Menſchen ebenjowohl möglich fein foll, fi 
für das Böfe wie für das Gute zu enticheiden. Daß aber in 
dem Vermögen der Wahlfreiheit des menjchlihen Willens dieſe 
doppelte Möglichkeit nicht liegt, daß vielmehr dieſes wahlfreie Ver⸗ 
mögen wegen feiner fittlihen Indifferenz gänzlich ungeeignet ift, 
überhaupt auch nur irgendeine fittlihe Entjcheidung herbeizuführen, 
fei es nun für das Gute, fei es für das Böſe, das ift es ja, 
was in der diefen Bemerkungen vorhergehenden Abhandlung, id 
glaube, zur Genüge nachgewielen ift, und es würde überflüffig fein, 
bier noch einmal darauf zurüdzufommen. 

Faßt man dagegen, wenn man davon ſpricht, die Möglichkeit 
der Sünde begreifen zu können, die Möglichkeit im eigentlichen 
Sinne des Wortes auf, alfo als das PVorhandenfein der Bedin⸗ 
gungen, unter denen etwas wirklich wird, fo muß ich mich hier 
erklären gegen die Auffaſſung des Verhältniffes der Möglichkeit zur 
Wirklichkeit, welche fich in jener Behauptung zu erfennen giebt. 


Die Wahlfreibeit des Willens zc. 119 


Man fagt, die Wirklichkeit der Sünde fei nicht begreiflich, 
wohl aber die Möglichkeit derjelben. Das Hindernis für das 
Begreifen der Wirklichkeit muß aljo in dem Verhältnis der Mög⸗ 
lichkeit zur Wirklichfeit begründet fein. Wie verhält ſich denn nun 
die Meöglichkeit zur Wirklichkeit binfichtlich des Begreifens? 

Wir fahen ſchon oben, daß der eigentlihe Gegenftand des Be⸗ 
greifens der Zuſammenhang von Urſache und Wirkung if. Wo 
ein folder Zufammenhang nicht exiftiert, da hat auch das Be⸗ 
greifen eine Stelle. Eine Einzeleriftenz fann ich nur wahrnehmen, 
nicht aber begreifen, denn an einer folchen iſt nichts zu begreifen; 
und felbft wenn die wahrgenommene Einzeleriftenz eine zufammen« 
gejegte ift, kann ih an fich noch nicht von DBegreifen derjelben 
reden, fondern erft dann, wenn es fich um die Beziehungen der 
einzelnen Zeile des Ganzen zu einander, d. h. um ihr Kauſalver⸗ 
hältnis Handelt. Eine Maſchine Habe ich noch nicht begriffen, 
wenn ich auch alle einzelnen Zeile derfelben kennen gelernt, wahr» 
genommen habe; begriffen habe ich fie erit dann, wenn ich einge 
ſehen habe, wie die einzelnen Zeile in einander greifen und auf 
einander wirken, aljo wenn ich ihr Kauſalverhältnis durchſchaut 
babe. 

Ba einer inzeleriftenz fpriht man wohl aud dann von 
Begreifen, wenn man ihren Urfprung oder ihren Endzwed, mit 
andern Worten, wenn man fie felbft als Wirkung oder al8 Urs» 
ſache erfannt hat. 

Was folgt daraus für das Verhältnis des Begreifend zur 
Wirklichkeit und zur Möglichleit? Wir werden das fogleich jehen, 
wenn wir uns über das Verhältnis zwiſchen Möglichkeit und 
Wirklichkeit felbft Elar werden. Der Begriff der Wirklichkeit bedarf 
feiner weiteren Definierung, die Wirklichkeit eines Gegenftandes ift 
eben feine Exiftenz, welche für geiftige Gegenftände eine geiftige, 
für ftoffliche Gegenftände eine ftofflihe if. Um fo genauer 
müfjen wir hier den Begriff der Möglichkeit erwägen. 

Wir gingen davon aus, daß man unter der Möglichkeit eines 
Geſchehens das Vorhandenſein der Bedingungen verfteht, unter 
denen es wirklich wird. Ich muß hier, um Mißverftändnifjen 
vorzubeugen, bemerken, dag man im gewöhnlichen Leben das Wort 





1% Meyer 


Dröglicgkeit vielfach nur in relativer, abgeſchwächter Bedeutung ger 
braudt. Man verfteht da nämlich unter Möglichkeit oft das Vor⸗ 
handenſein nur einiger von den Bebingungen, unter denen etwas 
wirklich wird; man denkt wenigfiens bet dem Gebrauch des Wortes 
oft nur an das Borhandenfein einiger Bedingungen. 

Wenn ich fage: „es ift möglich, daß der Künig biefen Ver⸗ 
brecher begnabigt“, jo denke ich etwa dabei: „der König hat fchon 
fo manchen Verbrecher begnadigt, bei dem Milderungsgründe ins 
Gewicht fielen; bei diefem Verbrecher iſt das der Fall, aljo —“. 
Erfahre ich nım fpäter, daß der Verbrecher doch nicht begnadigt 
ift, fo fage ih mir, es müſſen doch gewiſſe Gründe vorhanden 
geweſen fein, ober gewifle Bebingungen gefehlt haben, daß das 
wicht wirklich geworden ift, was ich für möglich hielt. Hätte id 
nun das Fehlen diefer Bedingungen beftimmt vorher gewußt, fo 
hätte ich auch nicht gejagt, es jei möglich, daß diefer Verbrecher 
begnadigt wirb, denn ich Hätte dann eben gewußt, daß es nicht 
möglich war, weil e8 an gewilfen Bedingungen, und wäre es aud) 
mm eine einzige, fehlte, welche zur Verwirklichung der Beguadigung 
erforderlih find. Genau genommen hätte id) alfo von vorn 
herein jagen müfjen: „Die Begnadigung ift, fo viel ich weiß, 
möglid.“ 

Diefe Reſtriktion in der Beziehung auf unjer Willen müßten 
wir eigentlich bei fait allen unferen gewöhnlichen Äußerungen über 
die Möglichkeit eines Gefchehens Hinzufügen, da man bie Möglid- 
feit in ihrer firengen Bedentung nur dann ausfprechen kann, wenn 
man beftimmt weiß, daß Leine von den Bedingungen unerfüllt if, 
unter denen die Wirklichkeit eintritt; fobald auch nur eine von 
ihnen fehlt, ift auch die Möglichkeit nicht mehr vorhanden. 

Man mag nun immerhin im gewöhnlichen Leben den Begriff 
der Möglichkeit in jenem uneigentlichen, jchlafferen Sinne anwen⸗ 
den; man mag immerhin fortfahren zu fagen: „Es iſt möglid, 
baß es heute regnet“, „es iſt möglich, dag es übers Jahr Krieg 
giebt”, „es ift möglich, daß dieſer Menſch ftiehlt“, ohne jedesmal 
Binzuzufügen: „joviel ich von der Sache weiß und verſtehe, fo weit 
ih eme Emfidht habe in die Bedingungen, unter denen es allein 
eintritt” ; in dem willenfchaftlicden Sprachgebrauch aber wird mar, 


Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 121 


wie alte anderen Begriffe, jo auch deu ber Möglichkeit nur im 
feiner eigentlidyen, ftrengen Bedentung ammenden dürfen, nach wel⸗ 
her er das Borkaudenfein wicht bie einiger, fondern aller Be 
dingungen bebeutet, welche für den wirklichen Eintritt eines Ge⸗ 
ſchehens erforderlich find. 

Rad) diefem Begriff umſchließt nun aber die Möglichkeit eines 
Geſchehens den gejamten Kaufalzufausmenhang, welcher dem Ein- 
tritt der betreffensen Wirklichkeit voraugeht und ihn bebingt; nach 
dieſem Begriff reicht die Möglichkeit unmittelbar hinan bis an bie 
Wirklichkeit, und es ift ein Mißverſtändnis dieſes Verhältniſſes, 
wenn man fagt, ed müffe doch noch etwas ba fein, was die Mög- 
fichleit, wenn fte vorhanden ift, nun eben zur Wirklichkeit macht. 

Man pflegt hier, un dieſe meißverftändliche Auffafiung zu 
rechtfertigen, die Unterſcheidung zwilchen Bedingung unb Urfache 
einzuführen und zu fagen, die Berhältniffe und Ruͤckſichten, unter 
denen etwas gejchieht, feien die Bedingungen des Gefchehens, bar 
gegen bie Urfache beöfelben jei der Wille. Nämlich bet rein na- 
türlihens Geſchehen leuchtet die völlige Unmöglichkeit diefer Unter- 
ſcheidung zwifchen Bedingung und Urſache von vornherein eim. 
Oder foll etwa. die Sonnenwärme die Urfache dazu fein, daß eine 
Srucht reift, während der Regen, der Wind, das Pflanzen bes 
Baumes u. ſ. w. nur DBebingungen find? Hier liegt die völlige 
Fentität von Bedingung und Urſache Elar auf ber Hand, und 
die verſchiedenen Namen rühren nur ber von den verfchiedenen 
Betrachtungsweifen einer und derfelben Sache. 

Auch die negative Bedingung, durch weiche bezeichnet wird, 
daß etwas nicht fein darf, wenn etwas anderes eintreten foll, ja 
jelbft die fegenannte conditio sine qua non, weiche am weiteften 
von der Urſächlichkeit entfernt zu fein fcheint, fie fallen alte unter 
den Begriff der Urſache, denn fie finds nur dadurch wirflih Be⸗ 
dingungen, daß fie entweder negativ oder poſitiv, emimeder un⸗ 
mittelbar oder mittelbar eine urfächlihe Wirkung ausüben. 

„Wem die Steine mit von dem Wurzeln des Banmes ent» 
fernt werden, jo wächſt der Baum nicht." Mit diefer negativen 
Bedingung fage ich zunächft, dag das Vorkendenfein der Steine 
die Urſache dafür tft, daß der Banm nicht wächſt; ich fage weiter 





u EEK 


L) Mi ma 
- Zaun 





122 Meyer 


damit, daß die Entfernung der Steine die Wirkung haben wird, 
dag der Baum wächft, alfo ift die Entfernung der Steine gerade 
als Bedingung die Urfache für des Baumes Wachstum, denn was 
die Wirkung bervorbringt, das ift die Urſache. Ober: „Wenn 
das Kind nicht fleißig ift, fo befommt es Feine Uhr.“ Die Uhr 
felbft ift hier allerdings nicht die Wirkung des Tleißes, aber da- 
mit, dag ich den Fleiß zur conditio sine qua non gemacht Habe, 
fage ich, daß der Fleiß des Kindes auf das Herz des Vaters fo 
einwirkt, daß er ſich entfchließt, dem Kinde eine Uhr zu fchenken. 
Alfo der Fleiß ift gerade al8 conditio sine qua non wenigftens 
die mittelbare Urſache für den Befig der Uhr, und die Mittel: 
barkeit einer Urfache kann doch ihren Charakter als folcher nicht 
im mindeften abſchwächen. Einen wejentlichen Unterſchied zwifchen 
Bedingung und Urfache giebt es bier nicht. 

Haben wir aber nicht bezüglich des Willens einen folcden 
anzuerfennen? Ebenſo wenig! fondern wie id) eben gezeigt 
habe, dag alle Bedingungen jeglicher Art auch Urſachen find, 
fo ift die Urfache, welche in dem Willen enthalten ift, auch Be 
dingung. 

Der Wille foll dasjenige fein, was bie vermeintlich fchon vor» 
handene Möglichkeit zur Wirklichleit macht. Gerade das aber, 
was die vermeintliche Möglichkeit erft zur Wirklichkeit werden läßt, 
ift doch am allernotwendigiten dazu, daß die Wirklichkeit eintrete; 
und dasjenige, ohme welches die Wirklichkeit eines Gegenftandes, 
oder eines Geſchehens nicht eintreten würde, das tft es eben, mas 
die Bedingung desjelben genannt wird. Dieſes überführende 
Mittelglied gehört alfo ganz beftimmt mit zu den Bedingungen, 
non denen da8 wirkliche Gefchehen abhängt, und es galt doch, daß 
das Vorhandenfein aller bdiefer Bedingungen erft die Möglichkeit 
bilde, wie wir ja auch in der That fagen würden, daß ohne das 
Eintreten des vermeintlichen Mittelfaktors, welcher die Möglichkeit 
zur Wirklichfeit machen fol, das Eintreten der Wirklichkeit, aljo 
da8 Geſchehen, um das ſich's gerade handelt, nicht möglich wäre. 
Da gebrauchen wir aljo dad Wort felbft, über das wir hier vers 
handeln, zum deutlichen Beweife dafür, daß eben auch biefer ver- 
meintliche Mittelfaltor zur Möglichkeit gehört, daß es aljo wirklid 


Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 123 


zwifchen der Möglichkeit und der Wirklichleit durchaus fein kau⸗ 
fierendes Mittelglied geben kann. 

Wenn e8 demnach ftehen bleiben muß, daß die Möglichkeit den 
gefamten Raufalzufammenhang umfaßt, aus welchem fi unmittel« 
bar und ganz von felbit die Wirklichkeit ergiebt, jo muß id) weiter 
behaupten, daß die Wirklichkeit an und für fih, d. h. abgejehen 
von dem SKaufalzufammenhange, aus welchem fie hervorgeht, aljo 
abgefehen von ihrer Möglichkeit, gar nichts zu thun hat mit dem 
Begreifen, gar nicht Gegenftand des Begreifens, fondern Lediglich 
des Anfchauens und des Wahrnehmens fein fann, und daß der 
einzige Gegenftand des Begreifens eben die Möglichkeit ift, d. h. 
der Raufalzufammenhang der Bedingungen, welder als fein un- 
mittelbares Nefultat die Wirflichleit ergiebt. 

Schon in Rüdjiht darauf muß die Formel „die Möglichkeit 
der Sünde ift begreiflih, aber ihre Wirklichkeit ift unbegreiflich“ 
als unzutreffend bezeichnet werden, da fie den Schein ermwedt, ja 
da fie von der Vorausfegung ausgeht, als könnte fonjt wohl die 
Wirklichkeit an und für fi im Unterfchied von ihrer Möglichkeit 
Gegenstand des Begreifens fein. 

Doch ift noch die weitere Frage zu beantworten, wie ſich denn 
nun die begriffene Weöglichkeit zue Wirklichkeit verhalte. 

Das Begreifen eines Verhältniffes berechtigt an ſich nod) 
feineswegs zu der Schlußfolgerung auf reale Exiſtenz. “Die ideale 
Eriftenz, d. h. die innere Wahrheit ift allerdings mit dem wirk⸗ 
Iihen Begreifen verbürgt, aber nicht die Wirklichkeit de8 Begriffe 
nen, denn das ganze Verhältnis kann ja ein hypothetiſches fein, 
ein bloß gedachte. Nur dann, wenn ich bei meinem Begreifen 
jelbft die Vorausfegung machen muß, daß das erfte lied des 
Zufammenhanges, alfo die Urfache, Wirklichkeit befitt, nur dann 
kann und muß ich auch annehmen, daß auch alle folgenden Glieder 
des Zuſammenhanges, alfo die Wirkungen, Wirklichkeit befigen. 

Ob aber das erfte Glied des Zufammenhanges Wirklichkeit 
befigt oder nicht, das kann ich nicht durch mein Begreifen, fondern 
lediglich dur) meine Wahrnehmung erfahren. So ift denn aud) 
notürlich die Erkenntnis davon, ob die folgenden Glieder des Zu⸗ 
ſammenhanges bis auf das legte Wirklichkeit befigen oder nicht, 





121 Meyer 


nicht auf mein Begreifen,, fondern auf mein Wahrnehmen zurüd- 
zuführen. 

Da alfo in allen diefen Berhäftniffen die Wirklichkeit an und 
für fi niemald Gegenftand des Begreifens, jondern immer nur 
des Wahrnehmens iſt, fo kann id aud) von dem DBegreifen der 
Wirklichkeit nur reden, fofern ich eigentlih damit das Begreifen 
ihrer Möglichkeit meine, aljo den Raufalzufammenhang der Be 
dingungen, unter denen die betreffende Wirklichkeit eintritt. Ich 
kann die Wirklichkeit nur begreifen, indem ich ihre Möglichkeit zu 
begreifen fuche. 

Aus dem Berhältnie, welches bier zwiſchen Möglichkeit umd 
Wirflichkeit, zwifchen Begreifen und Wahrnehmen nachgewiefen ift, 
folgt anderfeits, daß, wenn ih den Kauſalzuſammenhang und das 
Sfneinandergreifen der Bedingungen eines Geſchehens, alfo bie 
Möglichkeit desfelben begriffen Habe, ich damit unmittelbar aud 
deſſen Wirffichleit begriffen habe, fofern ſich jener ganze Zujam- 
menbang felbft in der Sphäre der Wirklichkeit bewegt und es fih 
demnach überhaupt um Wirklichkeit handelt. Mit kurzen Worten 
heißt das: habe ih die Möglichkeit eines Gefchehens begriffen, jo 
habe ich auch deifen Wirklichkeit begriffen, denn in der Wirklichkeit 
an und für fich Tiegt nichts mehr, was ein befonderer Gegenftand 
des Begreifens fein könnte. 

Tür unfer Begreifen giebt es aljo feinen Unterjchied zwiſchen 
der Möglichkeit eines Gefchehens und der Wirklichkeit desfelben, 
denn die leßtere unterfcheidet fich von der erfteren nur hinſichtlich 
der Eriftenzweife und die Eriftenz an und für fich iſt nicht 
Gegenftand des DBegreifens, fondern des Wahrnehmens. 

Nachdem ich die gefchichtliche Möglichkeit eingefehen Habe, daß 
e8 in Jahresfrift Krieg giebt, würde es feltfam von mir fein, 
wenn ich mich bei dem wirklichen Eintritt des Krieges noch wun⸗ 
dern wollte als über etwas Unbegreifliches; nachdem ich die na 
türliche Deöglichkeit eingefehen habe, daß gegen Abend ein Gewitter 
tosbricht, würde es feltfam von mir fein, wenn ich mich bei dem 
wirflihen Eintritt des Gewitters noch wundern wollte, als über 
etwas Unbegreifliches; nachdem ich die fittliche Meöglichkeit ein 
gejehen habe, daß diefer Menſch einen Diebftahl ausführt, fo 


Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 125 


würde es genau ebenjo ſeltſam von mir fein, wenn ich mich über 
den wirklich gefchehenen Diebftahl noch wundern wollte, als über 
etwas Unbegreiflihes. Ich kann ja überhaupt die Wirklichkeit eines 
Geſchehens nur begreifen, fofern fie da8 Ergebnis eines Kauſal⸗ 
zufammenhanges ift, d. h. fofern fie gedacht wird als eingetreten 
unter gewiljen Bedingungen, d. h. fofern fie gedacht wird als 
Möglichkeit. 

Aus diefen Gründen Halte ich die obige Formel, welche für 
die Begreiflichkeit reſp. Uubegreiflichleit der Sünde zwiſchen der 
Möglichkeit und der Wirklichkeit derjelben unterjcheibet, für un- 
haltbar. 

Oder will man fi, um diefe Formel dennody aufrecht zu er 
halten, dazu verftehen, die Möglichkeit der Sünde aufzufaffen in 
dem Sinne, in welchem dieſes Wort, wie wir fahen, im gewöhn⸗ 
lichen Leben angewendet zu werden pflegt, jo daB es nur das 
Borhandenfein einiger vom den Bedingungen bedeutete, welche nötig 
find, damit die Sünbe wirklich werden fünne? Das ift doch kaum 
anganehmen,, weil dann die Behauptung, daß die Möglichkeit der 
Sünde begreiflich jei, doch gar zu nichtsjfagend wäre. Das ift 
freilich allenfalls noch zu begreifen, daß, wenn Sünde gejchehen 
fol, Menſchen da fein müſſen, welche fie thun, oder daß es gei⸗ 
ftige Weſen fein müſſen, oder daß fie zu einer höheren, unbedingten 
Norm is einem fittlichen Verhältniſſe ftehen müffen. Das wären 
jo etliche Bedingungen, deren notwendiged Vorhandenjein man 
allesding® begreifen kann. Wollte man hier in biefem vagen 
Sinne von Möglichkeit der Sünde fprechen, jo würde man doch 
wenigftend, um den Vorwurf der Zrivialität zu vermeiden, ans 
geben müflen, weldye Bedingungen man zu dem aufgeftellten Be⸗ 
griff der Möglichkeit, die man zu begreifen glaubt, zufammen- 
fofien wii. Dadurch würde es dann aber auch Far werden, wie 
unbedeutend und nichtsfagend die Erleuntnis diefer Art von Mög- 
lichkeit ift, dan man nun erft recht deutlich Sehen würde, wieviel 
der begriffenen Möglichkeit noch fehlt, um eine wirkliche, voll⸗ 
tomımene Möglichkeit zu fein, und man wärbe doch ſchließlich 
wieder aufommmen vor der Unbegreiflichleit der außerhalb des auf- 
geſtellten Begriffes von Möglichkeit Legenden Bedingungen, welche 





on ta. 5. 


126 Meyer 


doch, man kann e8 nicht leugnen, zu der eigentlichen Möglichkeit 
der Sünde ebenfo fehr gehören, als die begriffenen Bedingungen. 

Die umnbegreiflihen Bedingungen der Sünde find allerdings 
weſentlich nur eine, nämlich der böfe Wille, welcher uns nötigt, 
zu befennen, daß wir auf die Frage „wie war es denn nur eigent« 
lich möglich), daß der Menſch fündigte, d. h. daß er mit einem 
böfen Willen handelte?“ feine Antwort geben können. 

Glaubt man alfo die Linbegreiflichkeit der wirklichen Sünde 
zugeftehen zu müfjen, fo muß man notwendigerweife auch bie Mög- 
fichfeit der Sünde, ja gerade fie als unbegreiflich anerfennen, weil 
eben nicht die Wirklichkeit der Sünde, fondern ihre Möglichkeit 
das eigentliche Gebiet ift, auf welchem allein es ſich um die Frage 
der Begreiffichkeit oder der Unbegreiflichkeit Handeln kann. Wenn 
wir alfo fagen: „Die Sünde ift etwas Linbegreifliches“, fo heißt 
das ohne weiteres: „es ift unbegreiflih, wie e8 dem Menſchen 
möglich gewefen ift, zu fündigen‘. Daß diefe Möglichkeit vor- 
handen gemwefen ift, lehrt die Thatfache, daß der Menſch wirklich 
gefündigt Hat und noch fündigt; daß uns aber diefe Möglichkeit 
unbegreiflich ift, und daß wir nicht erflären können, worin fie ber 
ftanden hat, das ift e8, was wir auf Grund unferer Unterſuchungen 
fefthalten müffen, und wir werden da8 um fo entjchiedener thun, 
je Harer und deutlicher wir es eingefehen haben, dag nur mitteljt 
diefer Anerkennung das Weſen der Sünde als ſolcher gewahrt 
werden Tann, und daß es nur bei diefer Anerkennung möglich ift, 
die Behauptung einer vollen Selbftverantwortlichkeit des Menſchen 


für feine Sünde aufrecht zu erhalten. 


So ftehen wir denn vor der Sünde ald vor einer unbegreif- 
lichen und unerflärlichen Thatſache auf dem Gebiete des fittlichen 
Lebens. Eine ſolche Thatfache in dem Syſtem unfere® Lebens 
anerkennen zu müffen, hat freilich für jeden denkenden Menſchen 
etwas Unbehagliches, wie ja auch die Sünde felbft für jeden nicht 
bloß denkenden, fondern dabei auch gewiſſenhaften, fittlich ftrebenden 
Menfchen etwas außerordentlich Unbehagliches, Peinliches ift. Aber 
unerträglich kann diefe Anerkennung doch nur für denjenigen fein, 
der feft entichloffen ift, einem volllommen Lüdenlofen Zujammen- 


Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 127 


hange feiner Weltanfchauung alles, auch bie fittliche Wahrheit, auch 
da8 Zeugnis des eigenen Gewiſſens zum Opfer zu bringen. 

Da aber der Zufammenhang einer jeden Weltanfchauung nod) 
jo manche andere Lücken zeigt, und da fich bisher noch jedesmal 
auch die vermeintlich beftgefügte, ſyſtematiſchſte Weltanfchauung 
ſchließlich als lückenhaft, oft als fehr lückenhaft herausgeftellt Hat, 
jo haben wir in der That feinen Grund, in dem wifjenfchaftlichen 
Stolz auf unſer fyftematifches Bedürfnis entgegen den Thatfachen, 
für welche das göttlich beglaubigte Zeugnis unferes Gewifjens ein» 
tritt, die Unbegreiflichkeit der Sünde, welche allerdings in jedes 
Syſtem eine Lücke bringen würde, zurückzuweiſen. 

Thun wir e8 dennoch, es Hilft uns nichts, unſer titanifches 
Trachten wird trotzdem, fo lange wir Menfchen find, nie zum 
Ziele fommen, denn die Schwierigfeiten, welche überwunden werben 
müßten, find höher als Oſſa und Pelion, ja höher als alle Berge, 
welhe Meenfchen auf einander zu türmen vermögen, und es wird 
für uns immer Dinge in der Welt geben, denen gegenüber unjer 
Begreifen darauf beſchränkt ift, zu begreifen, daß fie unbegreiflich 
ind; und es ift alles, was wir in foldhen Fällen thun können, 
daß wir die Grenzen feftitellen, an denen die Unbegreiflichkeit bes 
ginnt. 

Wenn ſich aber der Stolz unferes Denkens doch einmal un- 
vermeidlih vor manchen Unbegreiflichkeiten beugen muß, falls fie 
nicht oberflächlich überfehen oder mutwillig ignoriert werben follen, 
jo, meine ich, widerspricht e8 unferer Würde noch am allerwenig- 
tn, daß wir uns beugen vor ber Unbegreiflichkeit einer fittlichen 
Wahrheit. 


Gedanken nnd Bemerfnngen. 


Theol. Stud. Jahrg. 1885. 9 


124 Meyer 


nicht auf mein Begreifen, fondern auf mein Wahrnehmen zurüd: 
zuführen. 

Da alfo in allen diefen Verhältniſſen die Wirklichkeit am und 
für fih niemal® Gegenftand des Begreifens, fondern immer nur 
des Wahrnehmens ift, fo Tann ich aud) von dem DBegreifen ver 
Wirklichkeit nur reden, fofern ich eigentlih damit das Begreifen 
ihrer Möglichkeit meine, aljo den Kaufalzufammenhang der Be 
dingungen, unter benen die betreffende Wirklichkeit eintritt. Ich 
fann die Wirklichkeit nur Porn, indem ich ihre Möglichkeit zu 
begreifen ſuche. 

Aus dem Berhältnis, welches hier zwiſchen Möglichkeit und 
Wirklichkeit, zwiſchen Begreifen und Wahrnehmen nachgewieſen iſt, 
folgt anderſeits, daß, wenn ich den Kauſalzuſammenhang und das 
Ineinandergreifen der Bedingungen eines Geſchehens, alfo bie 
Möglichkeit desfelben begriffen Habe, ich damit unmittelbar aud 
deſſen Wirklichkeit begriffen habe, jofern fich jener ganze Zufam- 
menbang felbft in der Sphäre der Wirklichkeit bewegt und es fid 
demnach überhaupt um Wirklichkeit handelt. Mit kurzen Worten 
beißt das: habe ich die Möglichkeit eines Geſchehens begriffen , fo 
habe ich auch deſſen Wirklichkeit begriffen, denn in der Wirklichkeit 
an und für fih Tiegt nichts mehr, was ein befonderer Gegenftand 
des DBegreifens fein könnte. 

Für unfer Begreifen giebt es alfo feinen Unterſchied zwifchen 
der Möglichkeit eines Gefchehens und der Wirklichkeit desfelben, 
denn die letztere unterfcheidet fich von der erjteren nur hinſichtlich 
der Eriftenzweife und die Eriften; an und für fi ift nicht 
Gegenftand des DBegreifens, fondern des Wahrnehmens. 

Nachdem ich die geichichtliche Möglichkeit eingefehen habe, daß 
es in Jahresfrift Krieg giebt, würde es feltfam von mir fein, 
wenn ih mich bei dem wirklichen Eintritt des Krieges noch wun⸗ 
dern wollte als über etwas Linbegreifliches; nachdem ich die na 
türliche Möglichkeit eingefehen habe, daß gegen Abend ein Gewitter 
losbricht, würde es feltfam von mir fein, wenn ich mich bei dem 
wirklichen Eintritt des Gewitters noch wundern wollte, als über 
etwas Unbegreiflihes; nachdem ich die fittlihe Möglichkeit ein- 
gejehen babe, daß dieſer Menſch einen Diebitahl ausführt, fo 


Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 125 


würde es genau ebenjo jeltfam von mir fein, wenn ich mich über 
den wirklich gejchehenen Diebftahl noch wundern wollte, als über 
etwas Unbegreiflihes. Ich kann ja überhaupt die Wirklichkeit eines 
Geſchehens nur begreifen, fofern fie das Ergebnis eines Kauſal⸗ 
zufammenbanges ift, d. 5. fofern fie gedacht wird als eingetreten 
unter gewillen Bedingungen, d. h. fofern fie gedacht wird als 
Möglichkeit. 

Aus dieſen Gründen halte ich die obige Formel, welche für 
die Begreiflichkeit reſp. Uubegreiflichleit der Sünde zwiſchen ber 
Möglichkeit und der Wirklichteit derfelben unterfcheibet, für un⸗ 
haltbar. 

Oder will man fich, um diefe Formel dennoch aufrecht zu er- 
halten, dazu verftehen, die Möglichkeit der Sünde aufzufaflen in 
dem Sinne, in welchem diefes Wort, wie wir ſahen, im gewöhn⸗ 
lichen Leben angewendet zu werden pflegt, jo daß es nur das 
Vorhandenfein einiger von den Bedingungen bedeutete, welche nötig 
find, damit die Stinde wirklich werden lünne? Das ift doch kaum 
anzunehmen, meil dann die Behauptung, daß die Möglichkeit ber 
Sünde begreiflich fei, doch gar zu nichtsfagend wäre. Das ift 
freilich allenfalls noch zu begreifen, daß, wenn Sünde gejchehen 
fol, Menſchen da fein müfjen, welche fie thun, oder daß es gei⸗ 
ftige Weſen fein müſſen, oder daß fie zu einer höheren, unbedingten 
Norm isn einem fittlichen Verhältniffe ftehen müfjen. Das wären 
fo etlihe Bedingungen, deren notwendige® Vorhandenfein man 
allerdings begreifen kann. Wollte man Hier in dieſem vagen 
Sinne von Möglichkeit der Sünde fprechen, fo würde man doch 
wenigftens, um den Vorwurf der Zrivialität zu vermeiden, ans 
geben müflen, welche Bedingungen man zu bem aufgejtellten Be⸗ 
griff der Möglichkeit, die man zu begreifen glaubt, zufammen- 
faffen will. Dadurd würde e8 dann aber auch Flar werden, wie 
unbedeutend und nichtsfagend Die Erlemntnis diefer Art von Mög⸗ 
lichkeit iſt, da man nun erft recht deutlich ſehen würde, wieniel 
der begriffenen Meöglichleit noch fehlt, um eine wirkliche, voll» 
tommene Möglichkeit zu fein, und man würde doch ſchließlich 
wieder nufommen vor ber Inbegreiflichleit der außerhalb bes auf- 
geftellten Begriffes von Möglichkeit Tiegenden Bedingungen, melde 


126 Meyer 


doch, man kann e8 nicht leugnen, zu der eigentlichen Möglichkeit 
der Sünde ebenfo fehr gehören, al& die begriffenen Bedingungen. 

Die unbegreiflihen Bedingungen der Sünde find allerdings 
wejentlich nur eine, nämlich der böje Wille, welcher uns nötigt, 
zu befennen, daß wir auf die Srage „wie war es denn nur eigent- 
lich möglid), daß der Menſch fündigte, d. h. daß er mit einem 
böfen Willen handelte?“ Feine Antwort geben können. 

Glaubt man alfo die Lnbegreiflichkeit der wirklichen Sünde 
zugeftehen zu müfjen, fo muß man notwendigerweife auch die Mög⸗ 
fichfeit der Sünde, ja gerade fie als unbegreiflich anerkennen, weil 
eben nicht die Wirklichkeit der Sünde, fondern ihre Möglichkeit 
da8 eigentliche Gebiet ift, auf welchem allein e& ſich um die Trage 
der Begreiflichkeit oder der Linbegreiflichkeit handeln fann. Went 
wir alfo fagen: „Die Sünde ift etwas Unbegreifliches“, fo heißt 
das ohne weiteres: „es iſt unbegreiflih, wie e8 dem Meenfchen 
möglich gewefen ift, zu fündigen‘. Daß biefe Möglichkeit vor- 
handen geweſen ift, lehrt die Thatſache, daR der Menfc wirklich 
gefündigt hat und noch fündigt; daß uns aber diefe Möglichkeit 
unbegreiflich ift, und dag wir nicht erklären können, worin fie bes 
ftanden hat, das ift e8, was wir auf Grund unferer Unterfuchungen 
fefthalten müffen, und wir werden da8 um fo entjchiedener thun, 
je klarer und deutlicher wir es eingejehen haben, dag nur mittelft 
diefer Anerkennung das Wefen der Sünde als folder gewahrt 
werden Tann, und daß es nur bei diefer Anerkennung möglich ift, 
die Behauptung einer vollen Selbftverantwortlichkeit des Menfchen 


für feine Sünde aufrecht zu erhalten. 


So ftehen wir denn vor der Sünde ald vor einer unbegreif- 
lichen und unerflärlichen Thatfache auf dem Gebiete des fittlichen 
Lebens. Eine ſolche Thatſache in dem Syſtem unferes Lebens 
anerkennen zu müſſen, Hat freilich für jeden dentenden Menſchen 
etwas Unbehagliches, wie ja auch die Sünde felbjt für jeden nicht 
bloß denkenden, fondern dabei auch gewifjenhaften, fittlich ftrebenden 
Menschen etwas außerordentlich Unbehagliches, Peinliches if. Aber 
unerträglich Tann diefe Anerkennung doch nur für denjenigen fein, 
der feſt entfchloffen ift, einem volllommen Tücenlofen Zuſammen⸗ 








Die Wahlfreiheit des Willens ꝛc. 127 


bange feiner Weltanfchauung alles, auch die fittliche Wahrheit, auch) 
das Zeugnis des eigenen Gewiffens zum Opfer zu bringen. 

Da aber der Zufammenhang einer jeden Weltanfchauung noch 
fo manche andere Lücken zeigt, und ba fich bisher noch jedesmal 
auch die vermeintlich beftgefügte, ſyſtematiſchſte Weltanfchauung 
ſchließlich als Tücenhaft, oft als ſehr lückenhaft herausgeftellt hat, 
fo haben wir in der That feinen Grund, in dem wiffenjchaftlichen 
Stolz auf unfer ſyſtematiſches Bedürfnis entgegen den Thatjachen, 
für welche das göttlich beglaubigte Zeugnis unſeres Gewiſſens ein» 
tritt, die Unbegreiflichkeit der Sünde, welche allerdings in jedes 
Syſtem eine Lücke bringen würde, zurückzuweiſen. 

Thun wir es dennoch, e8 Hilft uns michts, unfer titanisches 
Trachten wird trogdem, fo lange wir Menſchen find, nie zum 
Ziele fommen, denn die Schwierigfeiten, weldye überwunden werden 
müßten, find höher als Oſſa und Pelion, ja höher als alle Berge, 
welche Menfchen auf einander zu türmen vermögen, und es wird 
für uns immer Dinge in der Welt geben, denen gegenüber unjer 
Begreifen darauf bejchränkt ift, zu begreifen, daß fie unbegreiflich 
find; und es ift alles, was wir in folden Fällen thun fünnen, 
daß wir die Grenzen feftftellen, an denen die Unbegreiflichfeit be- 
ginnt. 

Wenn fi) aber der Stolz unferes Denkens doch einmal uns 
vermeidlich vor manchen Unbegreiflichkeiten beugen muß, falls fie 
nicht oberflächlich überfehen oder mutwillig ignoriert werben jollen, 
fo, meine ich, widerfpricht e8 unjerer Würde noch am allermwenig- 
ften, daß wir und beugen vor der Unbegreiflichkeit einer fittlichen 
Wahrheit. 


Gedanken nnd Bemerfnngen. 


Theol. Stud. Jahrg. 1886. 9 


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1. 
Zu Luthers Briefen und Tifchreden. 


Bon 


G. Koffmane. 





Die methodifche Durchforſchung der Bibliotheken wird ficherlich 
noch manche Lutherana ans Licht bringen. Die neue Ausgabe der 
Werke Luthers mahnt dazu, dieſes Suchen nicht aufzufchieben. Im 
folgenden will ich den Beitrag von Breslau entrichten. 


J. 


Prof. Köſtlin hat in ſeiner Biographie des Joh. Heß (Zeit⸗ 
ſchrift d. ſchleſ. Geſchichtsver. VI, 124) und in „M. Luther“ 
I, 504 und Kolde in „Auguftiner-Rongreg.”, ©. 369 ein Schrei⸗ 
ben befprochen, welches fi) in der Rehdigerſchen Brieffammlung, 
vol. VU, nr. 5 findet. Der Brief verdient es, volllommen 
ediert zu werden. 

Intereſſant ift ſchon die Berjönlichkeit des Briefſchreibers. Er 
nennt fich felbft Sebaftianus Helman, doch wollte er den Fami⸗ 
liennamen anders fepreiben, da vor dem | eine Korrektur ift, wahr- 
Icheinlih Henmann. 

Schneider (Geſchichtl. Verlauf d. Ref. in Liegnitz. Prog. 
1860, ©. 26, nr. 9) fieht in dem Briefſchreiber jenen Sebaftiau, 
der |päter Krautwalds Famulus wurde und Köftlin ift (a. a. O.) 
geneigt, beizuſtimmen. Indes heißt es in der vita des Kraut- 

9% 


132 Roffmane 


wald (cod. latin. Monacens. nr. 718, fol. 549): „Sodalem 
ceu famulum habuit fidelem Sebastianum Eisenmann, qui 
fuit promus condus et cocus, cum quo solus habitavit annis 
plusquam XX“. Nach Krautwalds Tode (1543) finde ich den 
Eifenmann als Pfarrer in Glas, wohin Schwendfeld (Epiftolar 
II, 1, fol. 53) an ihn fchreibt im Oktober 1557. 

Unfer Sebaftian hat feinen Yamiliennamen falſch gefchrieben! 
Bei feinen Zeitgenofjen finden wir diefelbe Unficherheit: in dem 
Ratsherrnverzeichniffe (Breslauer Stadtbuh — cod. diplomat. 
Silesiae XI, ©. 45ff.) fteht von 1528 —49 als Ratsherr oder 
als Schöffe ein Sebaftian Reiſig, Raiſig, Raiſig tabernator. 
Zum Jahre 1529 bemerkt dann eine ſpätere Hand, daß dieſer 
Mann auch Heinemann hieß. Als ſolcher figuriert er nun in dem 
Ratsverzeichnis z. B. 1530; andere Jahre nennen ihn Sebaſt. 
Henmann, Hennmann, Hennemann, Heynemann u. ſ. w. immer 
mit dem Zuſatze tabernator. Daß nun ein Erbe einer Brauerei 
(hierzulande: Kretſchmerei), der ſeine Gewerbegerechtigkeit durch 
andere ausüben ließ, 1521 in Wittenberg ftudiert und dann Rats⸗ 
mitglied wird, ift nicht unwahrſcheinlich. Unſer Brieffchreiber ift 
ja aud) mit vielen Breslauer Familien ſehr befannt. Die Stolcz 
oder Stolczer find hier Häufig geweſen, der Melchior ift wahr: 
Icheinlich Melchior Seidel, und Antonius gehörte wohl zur Yamilie 
Band, Banke, Bandau. Beide finden wir dann auch als Rats⸗ 
herren. 

Die Identität des Natsheren, defien Nachkommen fich beide 
Namen meift als Reifing- Heinemann beilegen, mit unferm Sebaft. 
Helmann leidet aber aus zwei Gründen feinen Zweifel. Als auf 
Betreiben des oh. Heß die Breslauer ihr großes Alferheiligen- 
Hofpital bauten, meldet Heß (in einem jüngjt auf dem Nathaus- 
boden aufgefundenen Schreiben, cfr. Korrefpondenzblatt d. Vereins 
f. Geſch. der evangel. Kirche Schlefiens II, 16) die Fortfchritte: 
„Meinem grofgunftigen Lieben hern gefattern hern Sebaftiani 
Henneman, Reyſigk genanth 3. f. aigen handth“. Unſer Brief 
wird nun in einem Vermerke (j. u.) ebenfall® dem Reiſigk zus 
gefchrieben. 

Heß war fomit wohl der Empfänger des DBriefes, der uns 


Zu Luthers Briefen und Tifchveden. 133 


über die Stimmung in Wittenberg während der Abwejenheit Luthers 
fo manchen Auffchluß giebt. Der jugendliche Breslauer Hat Luther 
nicht perfönlich Tennen gelernt: Zwilling ift der zweite Quther. 
Selbſt Karljtadt tritt zurüd. Melanchthon, der Feine Predigt des 
Möndes verfäume, Habe mit feinen Schülern am Michaelistage 
in der Stadtpfarrficche das Abendmahl unter beiderlei Geftalt 
empfangen. Henmann fieht voraus, daß diefe Neuigkeiten in Bres⸗ 
lau großen Anftoß geben würden. Adreſſat fol fih um die El⸗ 
tern Henmanns, die dem Luther fehr zugethan ſeien, feelforgerlich 
fümmern und ſie über die Sakramentslehre aufllären. Der Brief 
beweift, wie die Anhänger der Reformation in Breslau fchon einen 
ftillen Freundesfreis bilden, ohne daß man bei dem Worte syna- 
goga gerade an ein Konventifel zu denken braucht. Ihnen allen 
jendet Henmann Grüße (der dabei erwähnte Melchior war, wie 
aus anderen Briefen der Rehdigerſchen Sammlung hervorgeht, be» 
fonder8 thätig im Vertreiben Lutherfcher Bücher). Überaus er» 
wünfcht find die Notizen unferes Briefes über eben erfchienene 
Bücher von Luther, Karljtadt und Melanchthon. 


Ich gebe nun den Text nad) dem auf der hiefigen Stadtbiblio- 
thek befindlichen Original; 

Antequam has literas scriberem, accessi D. Philippum, 
si quid literarum ad te dare vellet. fore enim ut iam 
certo nunccio (!) ad te deportarentur. is respondit se tibi 
scripsisse per quendam, quem tibi commendasset, tamen si 
vacaret, promisit iterum scripturum ad te. itaque expec- 
tabis has quoque. ego enim non desinam esse vel impor- 
tunus in extorquendis literis, ut si ipse parum te afficiam 
meis aridis literis vel pocius obtundem, saltem aliorum 
literis doctis meas indoctas mitigem. Scripsisti mihi de 
quattuor libellis Martinianis, quos libenter videres. miror, 
si nullos receperis, scripsit enim tibi noster Apelles. Lu- 
cas autem dono misit duos psalmos 36 et 67. Jam mitto 
tibi reliqua que edita sunt. sunt autem psal. 118 de 
confessione, item racionem Latomianam pro incendiariis 
Louaniensis scole, Sophystis redditam, contra Emserum par- 


184 Koffmane 


vum libellum, quasdam posiciones Martini, ultimo unicum 
libellum Andree Carolstadii supra hoc dietum: Regnum ce- 
lorum vim patitur a nullis adhuc recte intellectum. hos 
lege, quid boni senciunt, ego enim omnes per occupaciones 
legere non quivi. Stolcerum meum audio ad Chrum 
conversum. Quam laetum attulistis nunccium. Sed quam 
vereor, ne ista mea (ut vocant) nova sibi offendiculum fu- 
tura sint, est enim homo qui ad motum aure facillime se 
transmutet. Vis autem scire quid sit. Ecee Deus susci- 
tavit nobis alium prophetam Monachum eiusdem ordinis 
qui adeo syncere adeo candide Evangelium predicat, ut ab 
omnibus Alter Martinus Nominetur. Philippus nullam con- 
cionem negligit, et est tantus, ut, nisi me aliquorum affır- 
macio retraheret, non crederem Martinum ipsum superare. 
is per literas ut audivi Martini admonitus a) concionatus 
est Nullum hominem nullam debere missam au- 
dire nec se [durdjftrihen] ipse velle ineternum ul- 
lam legere ob id solum quod tam atrociter in 
divinam maiestatem peccaretur, ut nulla re pos- 
set eque comoveri deus atqueabusu misse. Pri- 
mum enim facerent ex missa sacrificium. De- 
mum sacramentum seu signum, quod nobis da- 
tum esset ad confirmandam fidem adoraremus 
atque faceremus nobisidolum. Nichil enim pre- 
stare hoc signum 8signis in vetere testamento. 
Non enim licuisse Judeis Adorare Arcam, Nec 
Arcum b) non item prepucium Verum per hec 
signa certos fuisse quod eos deus non esset de- 
serturus Ita hoc signum Novi testamenti, ubi 
panem et vinum carnem et sanguinem Christi 
sumimus nihil aliud nobis prestare quam certi- 
tudinem nostre salutis, carnem scil. sumere nos 
quod nos admoneathancoblatam in holocaustum 
pro peccatis omnium hominum, sanguinem au- 
tem ut certi simus hunc effusum esse pro pecca- 
tis nostris atque hec esse signa, que nostras 


Zu Luthers Briefen und Tifchreden. 135 


eonscientias ec) redderent certas de bona volun- 
tate dei, Velle nos salvare modo crederemusin 
eum. Demum impium esse si adoraremus et 
plane idolatriam. non enim apostolos nec cho- 
rinthios adorasse sacramentum hoc. Et ibi multa 
egregie dicebat, que non angustia epistole capit. Proinde 
nos Wittembergenses non audimus missas, Verbum dei fide- 
liter audimus demum sub una specie non communi- 
camus sed utramque capimus et id sepe nobis con- 
tinget. Philippus Melanchton cum omnibus suis discipulis 
in parrochia in die Michaelis sub utraque spe- 
cie communicavit et iam fiet in omnibus. Ob id, 
mi domine, quam vellem ut te conformares secundum hanc 
nostram ecclesiam presertim in legendis missis.. Omnes hic 
docti qui sunt sacerdotes hoc agunt ne legant missas, sed 
tu ages pro tua prudeneia. Scripsi et Thome Stolcer ut a 
se relegaret missas utrum placebit ei meum admonitum in- 
certus Mira me tenet sollicitudo d) parentum meorum hac 
in re omnino securi et periculosissime qui cum sacramen- 
tum adorant putant se deo officium exequi cum tam pes- 
sime labantur, ignari quod mysterium sub signis continea- 
tur ad quid valet in quem usum. O exerce fidem tuam 
mi domine quae sola charitate cernitur atque doceas eos 
tamen quid sit sperandum nobis in signis in quibus nostra 
salus pendeat forsan non frustra collocaturus operam ego 
id agam eciam litteris meis quamquam forsan nihil plus ef- 
ficio quam si nihil scriberem, adeo omnia se scire presu- 
munt dum Martino bene volunt quasi Martinum 
confiteri oporteat. Demum quasi fides non alia res 
sit quam que putatur hystorica et non pocius viscera per- 
stringat et nostram vitam dirigat. Libenter audivi te divini 
verbi concionatorem factum et ob id non parum odii inter 
tuos inequales coequales forsan tibi conflatum. Sed age 
die audacter que pro gloria dei faciunt Nam oportet ut 
confiteamur Christum in vita; alioquin si id coram homini- 
bus formidaverimus multo minus füber durchftrichenem magis] 





136 Koffmane 


in agone mortis coram sathane id valebimus. Confortabit 
te enim libellus Andree Carolstadii Oportet enim nos qui 
regnum dei sumus per tribulaciones intrare in 
regnum celorum. Mitto tibi illas duas sesterniones 
scriptas [in psalterium am Rande] nam non potui habere 
eas impressas, mitto item epistolam Philippi quam scripsit 
ad episcopum Moguntinensem. Demum epistolam Capitonis 
qui eciam apud nos Wittenberge fuit, nescitur tamen ob 
quam causam nescio an [adhuc durdjftrichen] variarum par- 
cium, ceterum homo liberali faie. Philippi Methodus 
nondum imprimitur. Commentaria mihi fere ex- 
scripsi si usque adeo teneris desyderio ego ea tum tibi 
mittam, modo significes. Scribit et commentarium in epi- 


stolam I. ad Chorinth., quem brevi finiet. Ne cures de 


mea diligencia ego uberrimam suppellectilem mecum feram 
si deus voluerit. Audio et 32. capud Genesis ab And. 
Carol: brevi incipiet Deuteronomium. Nibil aliud ago quam 
quod sacras literas scrutor et in hoc hic sum. grecas simul 
amplector. Scripsi nugas quasdam tuo fratri Marco Mi- 
rum immodum placuerunt sue littere, proinde hortandus est 
ut procedat. 


Valete in Christo. Datum Wittenberge. 8. Octobris 1.5.2.1. 


Salutat te Anthonius, non potuit 
per occupaciones tibi scribere. Saluto ego totam 
synagogam ecclesie vestre. Scripsi et ſdurchſtrichen] tuus 


Sebastianus Helmanus 


Saluto Dnm Melchiorem Saluto Anthonium cum tota fami- 
lia, Dnam Apoloniam Saluto Hydraulem Joannem Flaszner. 


Auf der vierten Seite fteht nur von der Hand des Brief⸗ 
ſchreibers noch: Wratislavie, da8 andere ift weggefchnitten. Eine 
viel fpätere Hand bezeichnete al Inhalt Reysigk De Gabriele 
Monacho. 

Mit roter Tinte risna O insania vorher und hinter Mo- 
nacho wieder De non adoranda Eucharistia, Insania, aber 
diefe 5 Worte find mit fehwarzer Tinte ducchftrihen. In roter 
Tinte ift auch bemerlt a) Eventus rei indicat non ita esse, 


Zu Luthers Biefen und Tifchreden. 137 


b) Iridem, c) contra: cur ait Thomas Apostolus: Dnus 
meus et Deus meus. d) Ideo etiam in patriam venit. 
Diefe Bemerkungen erinnern in nichts an die Hand von Johann 
He. Am Schwarzer Tinte find am Rande furze Inhaltsangaben 
gemadt. Zum Eingang des Briefes vgl. C. Ref. I, p. 453. 


1. 


Luther an Franz vd. Rheva. 


Bisher kannte man nur das Schreiben Luthers an Franz 
dv. Rheva vom 7. Auguft 1539 (de W. V, 199). Diefer Brief 
jegt aber eine vorhergehende Korrefpondenz voraus. ‘Die nad) 
Wittenberg ziehenden ungarifchen Studenten waren wohl die Über» 
bringer. Ja wir jehen aus den Tiſchreden, daß diefe jungen Uns 
garn ebenfalls über das Abendmahl ihre Skrupel hatten, wie jener 
Magnat, cfr. für 1538 da8 Tagebuch Lauterbahs zum 5. Auguft, 
zum 12. und 22. September. 

Ich Hoffe noch mehr über den Adrefjaten zu erfahren, der in 
der ungarifchen Reformationsgefchichte eine Rolle fpielt. Vor der 
Hand gebe ich einen bisher unbelannten Brief Luthers an ihn 
vom 1. Oktober 1538, welcher die Korrefpondenz eröffnet Hat. 
Das Original lag einft in Eperies. Joh. Heidenreich (Hederi- 
cus), der am Ende des 16. Jahrhunderts in Mähren und Uns 
garn jehr bekannt war und mit der Saframentsfrage ſich beſchäf⸗ 
tigte, nahm eine Abſchrift. Sein Nachlaß kam teilweife nad) 
Breslau (fein Bruder Eſaias H. war hier Paftor), und fo kann 
der Diafonus David Rheniſch Hierfelbit fich feine Abjchrift vers 
Schafft Haben. Der von Rheniſch gefchriebene Coder (Rehdig., nr. 
1627) enthält ſonſt wertlofe Kollektaneen und Biographieen der 
Theologen saec. XVI. 

Der Brief ift mir befonder8 wegen der ruhigen und doch 
Iharfen Erörterung Luthers, die Sakramentslehre betreffend, in» 
tereffant. Der Ausdrucd transelementatio substantiae im vier» 
ten Punkte der Widerlegung fcheint von Luther fonft nicht mehr 
beliebt worden zu fein. 


138 Koffmane 


Epistola 
D. Lutheri de sacramento, scripta ad Ungaricum quendam 
Dominum, cuius originale in curia Epperiensi habetur. 


Magnifico Domino Francisco de Rhewa personalis prae- 
sentiae Regiae etc. locumtenenti ac Comiti de Thuroz in 
Sclabina, Domino suspiciendo. 


Gratiam et pacem in Christo. Venit ad nos clarissi- 
mus vir, Magnifice Domine, Jacobus a Zeghedino a T. M. 
huc missus, ut hic disceret, ut asserit, veram theologiam. 
Quem ut cognovi privato colloquio fuisse ex illo genere ho- 
minum, magis aflectus sum et diligenter audivi ea, quae 
nomine T. M. proponere debuit. Ac primo quaesivit, quid 
sit sciendum de sacramento altaris in tanta seculi huius 
perversitate, deinde argumentum primum protulit istud: 


1. Memoria est absentis, sed sacramentum est memoria 
Christi, ergo Christus est absens. Hic respondetur: Nos 
oportere non sequi rationem neque dialecticam sed verbis 
Christi simplieiter fide pura adhaerere, qui dicit de pane 
porrecto: hoc est corpus meum. Quare in sacramento 
vere est corpus Christi, ipsum scilicet quod pro nobis tra- 
ditum est. Deus enim infra et supra facit et facere po- 
test, quam nos intelligere possumus. Et Paulus dicit: cap- 
tivantes in obsequium Christi omnem intellectum. 


2. Idem respondetur ad secundum, scilicet corpus Christi 
tam magnum non posse contineri sub specie panis et vini 
tam modica. Nam verbum Dei et virtus Dei est supra 
captum nostrum, quem captivare debemus. Nam aeque 
fortiter et fortius sic argui posset: Divinitas Christi est in- 
finita, immensa, aeterna, ergo non potest includi persona- 
liter in corpore finito, dimenso, temporali, cum sit finiti 
et infiniti nulla proportio. -Et tamen fides in verbum Dei 
statuit Christum esse unum Deum et hominem in una 
persona. 











Zu Luthers Briefen und Tifchreden. 189 


3. Ad tertium similiter dicendum, quod anima virtute 
potest id corpus esse in diversis locis ut Christi corpus in 
coelo et in sacramento, quia in his loquitur fides verbi: 
hoc est corpus meum, et: sedet ad dextram Dei. Ratio 
nostra est caeca et stulta, imo impia in rebus Dei. Ideo 
est conquiescendum. Veritas igitur corporis non hic nega- 
tur, quod in diversis locis esse credunt sed in uno loco 
existens in coelo simul est in sacramento non in loco (alio- 
quin videretur et palparetur) sed tamen vere realiter, in- 
visibiliter et nobis incomprehensibiliter. Nec per hoc nega- 
tur veritas corporis Christi sive in coelo sive in sacramento. 
Nam nec angelus nec diabolus nec anima est in loco- 
etiamsi sint in corpore vel in terra, aqua, aöre etc. Dei 
opera sunt incomprehensibilia et verbum Dei vult non 
comprehendi ratione. 


4. De transelementatione substantiae panis non est lis, 
quia non est periculum salutis si teneas panem et vinum 
manere sicut nos tenemus sic tamen ut simul teneamus 
panem esse vere corpus Christi, quod invisibiliter in sacra- 
mento accipimus, ita et vinum vere esse sanguinem Christi 
pro nobis fusum. Videntur autem homines illi ideo trans- 
substantiationem excogitasse ut crasse et plane pro rudi- 
bus docere possent, verum Christi corpus in sacramento 
esse et nihil aliud substantiale. Nam substantia panis forte 
eos impediit, ne possent corpus Christi verum ibi esse do- 
cere. Sed non fuit opus panem tollere sicut in ferro ignito, 
ut doceas ignem adesse vere et substantialiter, non est 
opus transsubstantiare ferrum in ignem sed bene manet 
substantia ferri cum substantia ignis, quemadmodum et 
substantia panis cum substantia corporis Christi. 


5. De quinto quod ex Augustino: sacramentum est rei 
sacrae signum, ergo non potest signum esse ipsa res si- 
gnata seu corpus Christi. Hic oportet dicere quod corpus 
Christi in sacramento non est res signata scilicet ipsum 
sacramentum seu signum cum pane. Signata autem res 


140 Koffmane 


est ipsa manducatio scil. cibus spiritualis, ut sicut in sa- 
cramento comeditur realiter panis corpusque Christi tam 
ab impiis quam a piis, ita comeditur a püs solis spiritua- 
liter. Haec comestio seu cibus spiritualis est res sacra 
signata. Hanc impii non habent, etiamsi sacramentum scil. 
signum h. e. panem corpusque Christi realiter accipiant. 
Panis enim solus non est sacramentum sed corpus Christi 
cum pane simul comestum ab impis et pis. Sic Manna 
fuit etiam sacramentum, etiam sine corpore Christi: res 
signata fuit etiam comestio spiritualis h. e. fides in Christum 
futurum. 


6. Sexto, an sacramentum confirmat fidem? Respon- 
detur: maxime! Si omne verbum Dei et omne opus Dei 
alit et firmat fidem, maxime facit hoc ipsum, ut fidem ro- 
boret. Nam audiens has voces: hoc est corpus meum tra- 
ditum pro vobis tenetur et corpus domini pro se esse tra- 
ditum non dubitare. At hoc credere est fidem roborare. 
Sic dari a Deo corpus tibi est opus Dei ostendentis tibi 
suam gratiam. At hanc gratiam oblatam teneris credere et 


r 
accipere ut vere oblatum et acceptum datumque }). 


7. Ultimo, de adoratione Christi in sacramento, quam- 
vis non sit institutum sacramentum pro cultu et adoratione 
sicut Papistae fecerunt, qui hostiam reservatam in ciborio 
et monstrantia populo proponebant, sed tantum ad usum 
comedendi et bibendi, tamen est cum reverentia sumendum 
et ubi credideris esse ibi verum corpus Christi, hac ipsa 
fide tam adorasti et ipsa te cogit eum adorare. Unde vi- 
tandi sunt privati missatores, qui in secreto consecrant. 
Nescitis enim, an consecrent, an solus panis ibi sit vel non; 
et manendum cum his, qui publice audiente tota ecclesia 
consecrant. Hic non possunt fall. Sic etiam vitandos di- 


1) Ein Zintenfled hindert die Entſcheidung, ob ratumque oder datumque 
zu leſen jei. 


Zu Luthers Briefen und Tifchreden. 141 


cimus, qui solum panem in sacramento esse docent et non 
corpus Christi. Hi qui institutionem Christi mutant, re- 
vera solum panem habent, contra quos iam aliquot annos 
pugnamus. 

Haec mihi hactenus vester Jacobus proposuit et rogo 
quia brevi tempore mox omnia potest proponere, velitis 
eum hic aliquanto tempore alere, donec perfecte institutus 
ad vos redeat et ecclesias docere possit. Interim tamen 
si placet poteritis per literas prolixiores quaestiones vos 
moventes illius ministerio dirigere et ego pro officio meo 
libenter reddam rationem fidei meae. In Domino valete et 
gratias ago pro misso munusculo. 1. die Octobris 1538. 


Martinus Lutherus. 


[Hanc epistolam quae nunquam antehac est edita trans- 
scripsi ex libris D. Joh. Hederici Cal. May. 1596.] 


II. 


Zu Luthers Tifhreden. 


In der von mir nunmehr aufgegebenen Abficht, die Wrampel- 
meyerſche Ausgabe de8 Tagebuchs von Cordatus ausführlid zu 
rezenfieren, nahm ich einen codex Rehdigeranus der hiefigen 
Stadtbibliothek wieder vor, den ich früher nur flüchtig angefehen 
hatte. Er giebt gar manches Rätſel auf; die mir Inapp zuge» 
meffene Zeit geftattete mir nicht, "fie alle zu löſen. Jedenfalls 
werden bie dürftigen Notizen Über den Inhalt die Fachmänner zu 
weiteren Nachforfchungen reizen. Für die Melanchthoniana ift 
bier weiterer Zumwadj8 gegeben, die neue Qutherausgabe wird zu 
der Rezenſion der Briefe und Tifchreden unfere Handfchrift her» 
beiziehen müffen. Von dem unten unter Nr. 1—2 befchriebenen 
Material gebe ich felbft vielleicht fpäter einmal einzelne Stücke 
befannt. 

Die eben erwähnte Handfehrift ift cod. Rehdiger. nr. 295 
in folio der Breslauer Stadtbibliothef gehörig. Eine faubere 
Hand saec. XVII Hat vorn und Hinten ein forgfältiges alphabe- 





142 Koffmane 


tifches Regiſter Hinzugefügt und einige von den deutſchen Tiſch⸗ 
reden wie den Colloquiis abweichende Notizen eingetragen, 3. 2. 
über Luthers Srankheitsanfall am 8. Sehr. 1533, wie Hier richtig 
datiert wird. 

Die Schriftzüge des oder find durch die 254fol. von einer 
Hand. Über der Inhalt ift von verfchiedenen Seiten: herbeige⸗ 
tragen. Fol. 78 heißt es nad) Wiedergabe von Disputations- 
thefen: A. B (oder V. B?) excepit Wittebergae a. 1555. 
5 May, db. 5. am jelben Tage hat er es niedergefchrieben. Fol. 
250: Hanc alteram chartam scripsit M. Paulus Eberus — — 
Septemb. die XV. anno 1556. Über dies Jahr herab führen 
feine Notizen mehr; ber Sammler muß um 1560 fein Buch ab- 
geſchloſſen Haben. Die Handfchrift enthält nämlich in wiüfter 
Ordnung: 1) Thejen zu Wittenberger Promotionen wie Tilmann 
Heſſhus, d. 5. Mai 1553 (fol. 37), Heinrich Stenius a. 1554 
(f. 48), Georg Aemilins, Simon Muſaeus und Peter PBraetorius 
5. Mai 1554 (fol. 58), Paul v. Eiten (f. 78). 

2) Kleinere Aufjäge 3. 8. fol. 10: Vitus Theodorus de 
- effectu Interim; fol. 23sq.: die Wittenberger Fakultät über die 
controversia Norimbergensium (de Wette IV, 480); fol. 30 ff.: 
Acta Pomeranica a. 1555 und Urteil vom Buh D. Joannis 
Knipftro „Von Ordination der SKirchendiener“ ; fol. 114: über 
ein Buch des Otho Corberus; fol. 121: Vocation der Witten- 
berger an Caſpar Eberhart vom 10. November 1558, quo ante 
annos 74 natus est rever. vir, M. Luther etc.!!; fol. 122: 
Univerf. Wittenberg an Chriſt. v. Dänemark a. 1559. 

3) Briefe Melanchthons Y): fol. 101b: Xroftbrief an die 
Schweſter des Hieronymus Weller v. 30. Aprif 1523; f. 111b 
an Caſp. Erengiger (fehlt im Corp. Ref.), fol, 113 an Milich 
== Corp. Ref. VII, 1157 und an Niderfteter = C. R. VII, 
187; fol. 115b = Corp. Ref. VI, 140 (der Schluß wie in 
cod. Mehn.); fol. 117b: Joanni, eccl. Goltbergensis con- 
cionatori; fol. 118 = C.R. 1, 198; fol. 118: Pastori eccles. 


1) 3m cod. Rehdig., nr. 258 der Breslauer Stabtbibliothel Yiegt ein 
Driginalbrief Mel. an Ehilian Goltflein, ber im Corp. Ref. fehlt. 





Zu Luthers Briefen und Tiſchreden. 143 
N 
Gottensis vom 18. Januar 1548; fol. 118b an Oflander = 
C. R. IH, 405. Die Varianten vom gedrudten Texte bes Corp. 
Ref. find höchſt bedeutend; ich mag fie nicht alle einzeln vor- 
führen. 

4) Briefe Luthers, wie fol. 1b ad Genesium — be Weite 
IV, 81; fol. 103 an Stodhaufen — be Wette IV, 417 mit 
wichtigen Barignten; fol. 104 an einen Ungenannten == be Wette 
IV, 449; fol. 109: Luther an Melanchthon den 27. uni 1530 
de Wette IV, 48, wichtig ſchon wegen bes Attributs Chriftophoro, 
melde Mel. in der Auffchrift erhält; fol. 112b an Hieron. 
Weller — de Wette V, 305; fol. 116b ein Stüd aus bem 
Zroftfchreiben an Spalatin bei de Wette V, 678; fol. 120 an 
Rühel — de Wette IV, 545 mit vielen Varianten; fol. 120b 
der befannte Brief an Hänfichen Luther; fol. 12 = de Wette 
V, 145 (ohne Auffchrift); fol. 129 an Phil. v. Heſſen — 
de Wette VI, 239; fol. 131b an Joach. v. Weißbach vigilia 
Bartholom. 1527. Obwohl diefe Briefe nım Abfchriften find, 
fo werden die Hier und da erheblichen Varianten doch nüslich fein, 
befonders da, wo bie Originale fehlen. Von einer Kollation habe 
ih Abftand genommen. Hin und wieder find auch die Briefe 
nit in extenso mitgeteilt, e8 kam dem Sammler wohl mehr 
anf die troftreihen Stellen an. 

5) Dicta Melanchthonis ähnlid denen, die in Briegers 
Zeitfehrift IV, 326ff. aufgeführt find, auf fol. 253, fol. 4 
(a. 1547); ferner fol. 165 eine Vergleichung Luthers und Mies 
lanchthons. Ein Diktum, welches man jonft Luther beilegt, wird 
bier auf fol. 184b dem Bhilippus zugeſchrieben. 

6) Den bei weitem größten Raum aber nehmen Lutherſche 
Zifreden ein. Der Grundftod zu denjelben Tann bislang von 
mir nicht ermittelt werden. Aurifaber wie Rebenſtock weichen ab, 
Cordatus und Lauterbach) haben anderen Wortlaut in ihren Auf- 
zeichnungen. Soviel fteht mir negativ feft: der Sammler ift 
weber Obrenzeuge, noch bat er die Mufzeichuungen eines folchen 
zuſammengeftellt. Er nahm vielmehr Notizen, woher er fie nur 
erhalten konnte, und dabei mag er wohl auch Bezugsquellen Haben, 
von denen wir — wenigſtens nach der gegenwärtig möglichen 


144 Roffmane 


Kenntnis — nichts wiſſen. Hänfiger als bei Rebenftod und 
Aurifaber und Cordatus wird das Datum einzelner Kolloquien 
und die Namen der nterlocutoren angegeben. Häufiger ale in 
anderen Nezenfionen erjcheint Severus (Schiefer), 3. 3. fol. 166. 
167. 173. 126b, zweimal auch Cordatus. In der Anficht, daß 
noch andere Gewährsmänner unjerm Sammler geholfen haben, 
beftärkt mich die Wahrnehmung, daß einige Geſpräche fonft un- 
befannte Anhänge erhalten, ja mande Stoffe ganz unbelannt find. 
Einen Berichterftatter glaubte ich ſchon entdedt zu Haben, doch 
hege ich felbft wieder Zweifel. Der in den Colloqu. ed. Bind- 
seil I, p. 426 gegebene Abfchnitt hat nämlich in unferem oder 
fol. 186b folgende Faffung: 


Waren auch Klein da? 

D. Jonas recensuit de Rudolpho Bunaw quod de ni- 
hilo :sollicitus est, quam colligendi thesauros adeoque ex- 
caecatus verbum Dei et quinque libros Moisi nihil ex- 
istimat. Quia aliquando electori serum de causa verbi et 
evangelü conferenti resp. K. G. das gehet euch nichts 
ahn. — Resp. D. Waren auch klein da, recitans fabulam 
Aesopi, ubi leo alia animalia invitans ad lautissima convivia 
et cum etiam suem invitasset multa prompsit egregia fer- 
cula potusque etc. Tunc sus ait Sein auch kleyen da. 
Also sind unsere Epicuri auch. Nos in ecclesüs hic pro- 
ponimus lautissima fercula nostrae salutis, remissionis pec- 
catorum et gratiae Dei. So werfen wir den Russel auf 
Und schauen nach Jochems thalern dicentes: seyn auch klein 
da. In ein sau gehort treber. Sic mihi Ambrosio contin- 
git saepius a meis parochianis dicentibus cum ad verbum 
Dei monebantur: Ja lieber Herr Pfarherr, wen ihr ein faß 
bier ihn die Firchen ſchrutet vnnd uns darzu ruft, da wolten wir 
gerne kohmen. 


In der Aurifaberfchen Rezenfion ift der klagende Pfarherr nur 
Ambrofius R. abgelürzt. Ich rate auf Ambroſius Rudtfeld, den 
fetten praeceptor in Luthers Haufe Geitſchr. f. hiſtor. Theol. 
1860, ©. 546). Er würde alſo an die Äußerungen Luthers eine 





Zu Luthers Briefen und Tiſchreden. 145 


Grfahrung feines eigenen Lebens anknüpfen. Freilich ift von Auf⸗ 
zeichnungen des Rudtfeld fonft wenig befannt. Oder verdanfen 
wir feiner Hand das folgende in ziemlich fonfufer Form über- 
lieferte vaticinium Luthers, welches fi) auf fol. 142b findet? 


De morte sua. 

Anno 1545 in die Natali 22 Novemb. dixit, Ich wiel 
nit Oftern erfeben, wen ich auf dem bete fturbe, fo wehre es 
den Bapiften eine große ſchande. Ich halt, das ihn taufent Jaren 
fein mensch fey auf der welt gewejen, dem die welt fo feind ge- 
weien ſey als mihr und ich bin ihr auch nicht gutt vnd weis 
nichtes den den todt in vita, da ich luſt zu bett, vnſer Berrgot 
theme vnd nehme mich hinweg. 


Als Beiſpiel, wie unjere Rezenſion von den belanuten ab⸗ 
weicht, vergleiche man das von Walk (Zeitihr. f. Kirchengefch. 
I, 631) beliebte mit der Erzählung auf fol. 193: 

De incantationibus | 

Ein jcheffer hat D. Bruckenß fchaffen das fett geftolen. Ich 
halt das all die teufel die EhHriftus zu SFerufalem und Judea auß⸗ 
getriben in porcos, bie fein in diefe limosa fomen Et fortasse 
occassio est, cur evangelium hic praedicandum sit, scil. illos 
expellendos esse. Iſt doch fol ftelen, zeubern und ſchiſſen das 
der Teufel leibhaftig da if. D. praepositus Kemburgensis 
conquerebatur se toto biennio nihil potuisse mulgere vor 
den pleymweiffen. Der Teufel kam dem Pomerano auch ihns 
Haus, das die magd vnd meid ſich mit putter plagten, nihil inde 
lucrantes. Da fur der Pommer zu hohnet des Teufels ſchis 
ihns putterfa® tunc desiit sathan Nam ipse est superbissimus 
non vult contemni et aiunt: illos butijrum comedentes nihil 
nisi stercus edere Ita mulier apprehendes murem crastino 
die venit incantatrix laesa manibus et pedibus petens Deum. 


Zu dem folgenden finde ich Leine Parallele (fol. 243): 
Bon den korröden In der kirchen D. M. L. 
Joannes princeps ab Anhalt dixit ad D. Lutherum ale 


er gefatter zu Deſſaw zu bes furften kind geftanden: Mein Lieber 
Theol. Stud. Jahrg. 1886, 10 


146 Koffmane 


Her Doctor, warumb habt Jr doch abbracht, das die priefter fein 
forrod in der firchen in der predigt anhaben? Mich deucht, «8 
wär ihnen ehrlicher denn alſo. Respondet Dns Doctor: Ich 
habe es nicht abbradt und wolt e8 wär noch ihm brauch und 
fonderlih in den Kleinen ftetlin ond Dorfern, do die armen pfar: 
bern Rod anbaben, die do gar zuriffen find do niemand fchier 
weis, welcher pfarher, burger oder pauer ſey Do wolt ich viel 
lieber der pfarher het ein korrock ahn, damit er für ein andere 
ond hohere perjon gehalten wurde Denn wen einer ein Markt: 
meijter oder ftadtfnecht ift, damit man ihn kend fo tregt er ein 
meſſer an der ſeyten ein felle ihn der Handt vnd farbe ahn dem 
Ermel Sit einer ein burgermeifter und hatt auf dem Ratthaus 
etwas zuthun, fo ift er anders gefleydet den ihm haus So wolt 
ich das es ihn der kirchen mit den Kleydern auch ging. 

Tune episcopus Brandenburgensis Mathias dixit: Her 
Doctor warumb Habt ihr nicht einen forrod getragen? Respon- 
dit D. Doctor: Gnediger Her, das ift derhalben gefchehen, denn 
E. ©. wiſſen wohl, das die fappen fo heilig waren, das bie 
Monche kein korrod bedurften Do ich nicht ihm korrock predigte, 
wie e8 den ihm Hofter gewohnheyt war und das etliche von mir 
fahen, folgten fie mihr und trugen auch Fein forröde, fahen aber 
nicht die Vrſach, warumb ichs that. Alſo iſts herkohmen, Haben 
mihr feinen band daran gethan, konde es noch woll leiden, das 
folhe ftud ihm der firchen gebraucht wurden, wen nur abusus 
dauon bleibt Vnd das vortrauen herein nicht gejegt wird ober 
einem noth zur feligleyt, das gewiljen damit zuuorbinden darauf 
machen Sp bin ich ſehr woll zu friede. Haec ille. 


Befondere Aufmerkſamkeit hat der Sammler auf die Schlefien 
betreffenden Stüde verwendet, wohl aus Xofalpatriotismus. So 
findet fi fol. 143 die Gefchichte von dem Warnungsbriefe aus 
Breslau: ein Pole mit 400 fl. beftochen werde nah Wittenberg 
fommen, um Luther zu töten. Ferner eine Notiz, die den Brief 
Luthers an Joh. Heß in Breslau vom 10. Dezember 1543 
(de Wette V, 606) illuſtriert. Heß Hatte, wie feine Korrefpondenz 
beweiit, viel mit Eheſachen zu tun. . Diesmal betraf es einen 


Zu Luthers Briefen und Tijchreden. 147 


angefehenen Patrizier Jakob Boner, bei welchem einft König Fer- 
binand abſtieg. Er ftand mit Heß im Derfehr, wie wir aus 
einem Billet (Rehdiger. Brieff. V, nr. 89) fehen, wo er dem 
Heß eine feltene Münze endet, da er ihn nicht perfünlich auffuchen 
dürfe. Der Fall ift auch in den Kolloquien (Bindfeil I, 443) 
behandelt. Luther wurde wohl von einem Breslauer Studierenden, 
dem es Heß aufgetragen, interpelliert und ſchrieb dann noch an 
Heß jelbft, wenn anders de Wette V, 606 ein Brief it. Ich 
gebe nun den Tert des Kolloquiums (auf fol. 135 unferer Höfchr.), 
obwohl die Ausführungen Luthers nicht geradezu neu find. 


Casus matrimonialis. 

Interrogatus de easu Boneri, qui duxerat in uxorem 
germanae sororis filiam dixit nequaquam hoc ei conceden- 
dum esse ac si ita scripserit tamen esse consilium confes- 
soris dietum perturbatae conscientiae, non esse legem. Nam 
se non esse eum qui posset leges ponere ecclesiae aut rei- 
pub. Ideo Bonerum hoc consilium non posse accipere pro 
lege. et si seivit priusquam feeit et contra dixit, male imo 
pessime fecit ac sententiae meae iniuriam facit. Nam ego 
pavidis conscientiis contra papam dedi consilium. papa ita 
dispensaverat; postea boni homines agnita veritate evangelii, 
qui contraxerunt eiusmodi matrimonia voluerunt desperare, 
aliqui etiam sibi mortem consciscerent; ibi ut consulerem 
conscientiis et servarem animas precibus pastorum edidi 
conslium non legem. Warumb heit Jakob Bener [fies: Bo- 
ner] nit was ich fonft geichrieben Habe si legisset saltem ista 
perfecte seiret sibi non esse hoc eoncessum. Ich Habe wol 
in casibus pertinentibus ad confessionem et ad erigendas 
conscientias andere consilia geben, habe mich auch drinne vor: 
griffen, das ich die habe laſſen publiciren. Nue es ift gejchehen 
fondeen es foll ihn die beicht gehören. Ich habe Gott Lob das 
meifte wieerumb zu mihr bracht. vnd Babe nichts gethan ut fa- 
cerem licentiam aliis sed ut consulerem eonscientiis in hora 
mortis contra papam. Sonde der papa dispensiren, fo fonde 


ich dispensiren auch. Darumb damnire e8 D. Heß getroft, las 
10* 


148 Koffmane, Zu Luthers Briefen und Tifchreben. 


fih nichts anfechten. Ich wil ihn auch meine meinung fchreiben 
Summa %d bin fein legislator und habe das gethan wie ein 
beichtvater, der ſchwache gewiljen tröftet. — 


Ebenſo findet fih die befannte Äußerung über Schwenckfeld 
fol. 163 mit Zufäßen: 


Stendfeldtt. 

Stendfelt miserat D. librum suum Von der Natürlicleyt 
Chriſti Titulus est Von der Heyligleyt vel heimlifeytt. Tunc 
Doctor in mensa dicebat Es ift ein armer menfh, qui nec 
habet ingenium nec spiritum, ehr ift attonitus wie die ſchwer⸗ 
mer Alle, ehr weis nicht was er plaudelt, fondern das ift fein 
meynung vnd fein principium Creatura non est adoranda Quia 
scriptum est Dominum Deum tuum adorabis etc. Darnach 
gedendt ehr Chriſtus est creatura, Ergo joll ih Chriftum als 
einen menſchen nicht ahnbetten Vnd fingirt zweene Chriftos, dieit 
creaturam post resurrectionem resumi, Deitatem transfor- 
matam et ideo esse adorandam. Vnnd betreugt die leut mitt 
dem herrlichen nahmen Christi wie ehr fchreybt zum (preus) 
preuß Chrift, die finder gehen fchlecht Hindurh. Credo in J. C. 
jo wielt mir der Quare zweene Chriftus machen, einen der ahm 
Creug hengt vnd einen andern qui ad patrem ascendit, Ich 
jollt den Christum nicht anbetten der ahm Creutz hengt und auf 
erden gehet, ehr ließ ſich traum felber ahnbetten, do ehr für ihm 
nieder fiel et dieit Qui credit in me credit in eum qui misit 
me. Der fantaft zeucht etliche vocabula de ultimis verbis Da- 
vidis geftolen, damit wiel fich der tropf auch fchon machen, als 
communicationem Idiomatum et in deitatem persone, miſcht 
alſo mitt under vnnd will fagen darnach, Ich Habe es auch alfo 
gemeinet, ehr wil mich lernen, was Chriftus ift und wie ich ihn 
ſoll ahnbeten, ich habe es Gott fey gelobt viel bejfer als ehr. Ich 
fenne meinen Chriftum woll, darumb las ehr mid vnvorworren 
[Correktur führt fort: vngeheit. Kete d. ei mein liber h. ir 
seit auch gar zu grob. Resp. di buben machen mich selbst 
so grob.]. 








Rezenſionen. 


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1. 


Wright, Ch. Henry Hamilton DD., The book of Ko- 
heleth considered in relation to modern criticism, 
and to the doctrines of modern pessimism, with & 
critical and grammatical commentary and a revised 
translation. London: Hodder and Stoughton 1883, 
pp. XXVI u. 516. 12 ß. 


Wenn ich fpäter, al8 mir lieb ift und ich beabfichtigt Hatte, 
die Lefer diefer Zeitfchrift auf das oben bezeichnete reichhaltige und 
gelehrte Buch eines Belfafter Geiftlichen aufinerfjam made und es 
zum Gebrauche empfehle, fo muß ich fürchten, den einen zu fpät, 
den anderen zu früh zu kommen: zu fpät für diejenigen, welche 
Ichon aus eigener Prüfung die Arbeit Wrigbts fchägen gelernt 
Gaben ?), zu früh für diejenigen, welche nach feiner eigenen Ankün⸗ 
digung in der „Augsburger Allgem. Zeitung“ (1884, Nr. 28, 
©. 402 u. 3) von dem katholifchen Theologen Bickell erwarten, daß 
er erit durch Berfchiebung der Blätter uns den echten Koheleth zu 
fefen geben werde 2). Um nach beiden Seiten den Schein des Über- 
flüffigen zu vermeiden, werde ich mich thunlichſt auf ſolche Be⸗ 
merkungen befchränfen, welche den Kreis der bisherigen Erkenntnis 
eventuell zu erweitern und diejenigen behutfam zu machen geeignet 
find, weldye durd) bloße Umordnung der Sentenzenreihen das Bud) 
Koheleth zu feiner urfprünglichen Klarheit und Volllommenheit mei- 
nen herftellen zu fünnen. — 

Zunächſt aber möchte ich Fonftatieren, daß wir Deutfche allen 
Grund haben, dem Verfaſſer unjere® Buches zu danken; denn 


152 Wright 


erftens bat er auf Grund einer ausgebreiteten Kenntnis der ein- 
ſchlaägigen deutfchen Litteratur den englifchen Bibellefern die ‘Mög 
lichkeit des Einblickes und des Eintrittes in die wiffenfchaftlice 
Forſchung der deutfchen Theologen über den Koheleth verjchafft, 
und zweitens hat er uns Deutichen den Kampf der Meinungen in 
England urfundlih und ausführlicher vergegenwärtigt, als ein 
deutfcher Forfcher es können würde. Auch die eigentiimlich eng 
liſche Beranlaffung, die zu feinem Buche geführt hat, rüdt « 
uns nur um fo näher. Der DBerfaffer Hatte nämlich im Jahre 
1880/81 die Donellan lectures am Trinity⸗College in Dublin 
zu halten, und zum Thema für diefelben die Würdigung bes Pre 
digers als eines Beftandteiles der heiligen Schrift und die Red: 
fertigung feines Peſſimismus gegenüber dem ganz anders begrüns 
deten der allermoderniten Philofophie gemacht, deren Maffifche Der 
treter die Deutihen Schopenhauer und v. Hartmann fin. 
Zu diefem Behufe hat er gerade die Lehren diefer beidem deutſchen 
Philofophen ausführlich dargelegt und mit der Tendenz des Pre 
digers Tonfrontiert; der letztere erfcheint danach hier in einer Be 
leuchtung, welche jo gründlich in Deutfchland, das doch am meiften 
Intereſſe daran hat, wohl noch nicht vollzogen worden ift. Aber 
der Derfafjer Hat fich nicht damit begnügt, diefe mehr allgemeinen 
Betrachtungen anzuftellen, fondern die ganze zweite Hälfte feine 
Buches der genaueften Unterfuhung des Textes in feinen Details 
gewidmet. Diefelbe giebt eine genaue (da S. 283 in 1, 2 va 
nity of vanities einmal ausgefallen, oder in 1, 10 >> mit al 
ready anftatt mit long ago wie 2, 12 gegeben ift, u. Ähnlichet, 
bedeutet nichts), in Seltionen mit Überfchriften eingeteilte Über 
fegung, einen biefelbe rechtfertigenden grammatifchen und keitiſchen 
Kommentar und endlich eine Neihe von gelehrten Exkurſen, meld: 
teil die talımmdiichen Angaben über die Kanonbildung gründlich er 
örtern, teild die grammatiſchen und lexikaliſchen Eigentümlichkeiten 
des Predigers zufammenorönen. Der erfte Teil aber mag dm 
Leſer die Fülle feines intereffanten Inhaltes aus den Überfchriften 
erichließen laſſen: das erfte Kapitel behandelt die Aufnahme des 
Koheleth in den altteftamentlichen Kanon; das zweite fucht (dei 
Natur der Sache nad) nicht mit zweifellofer Evidenz) zu erweiſen, 


The book of Koheleth. 158 


daß das Buch Jeſus Sirach den Koheleth vorausfeße und ge⸗ 
braudje; das dritte (mit befjerem Erfolge) das Gleiche inbezug 
auf die Weisheit; das vierte und fünfte behandeln die Frage nach 
dem Berfafjer des Koheleth in ausführlicher Polemik gegen die 
traditionelle und die revolutionären modernen Anfichten (für 
Wright ift der Verfaſſer ein Paläftinenfer der perfifchen Zeit); 
das fechfte und fiebente Kapitel belenchten in der fchon gefennzeich- 
neten Weife den Peffimismus des Buches, und das achte behandelt 
fehr ausführlih die Schlußpartie der Betrachtungen Koheleths. 
Was aus diefer Überficht erwartet werden mag, das kann ich aus 
meiner Lektüre als wirklichen Vorzug des Buches beftätigen, daß 
dem Leſer des Prediger nicht leicht eine Frage aufftoßen wird, 
möge fie nun aus der Weflerion über den inhalt oder über den 
Wortlaut oder über Ausfprache und Accentuation des Textes here 
vorgeben, über die er bei Wright nicht zuverläjfige Auskunft oder 
anregende Gedanken erhielte. Mit diefer Anerkennung verträgt es 
fich jehr wohl, wenn ich nunmehr einige Punkte nambaft mache, 
in denen ber Verfaſſer mir nicht weit genug oder irre gegangen 
zu jein fcheint. 

Der erfte ift die Würdigung der in unferen LXX ftehenden 
griehifchen Überfegung des Predigers. Der Behauptung 
Grätzs gegenüber, daß fie die des Aquila fei, glaubt Wright 
mit der Annahme auszulommen, daß die bier vorliegende Über 
ſetzung eine ältere, aber freilich durch manche Änderungen und 
Interpolationen aus Aquila verbefjerte fe. Ich Habe den umge 
fehrten Eindrud. 

Die ganze Überfegung zeigt dasfelbe pedantifche Streben, jedes 
hebräifhe Wort nach jeiner Etymologie und in derfelben Weiſe 
wiederzugeben, dieſelbe ftlavifche Gebundenheit an die hebrätiche 
Wortfolge, diefelbe Gfleichgürltigkeit gegen das griechifche Ohr, 
welche für Aquila charakteriftifch ift; fo iſt z. B. boy) = 
aosßoös dyooodvnv (7, 27); das Nomen byd mit Suffig ftets 
in > und by zerlegt und mit 6 reg” auzod wiedergegeben; by 
233 = nregi Aoyov, nA77 53 dagegen rregl Anlıks (8, 2; 3, 18; 
7, 15), und owyB = xadodovs (6, 6; 7, 23). Wenn ih 
aljo an ber legten Stelle zwifchen oz und xasodovs rroilag xa- 


154 Wright 


008 (yr) zapdiav wov eingefchäben finde rAsıozaxıs owm- 
gevostai oe xal, fo ift diefes und nicht jenes für eingetragen zu 
erachten, zumal auch ſonſt teil8 dur Schreibfehler, teils durd 
Mißverftändnis, teil® durch die Abficht, einen ſprachlich und fad- 
lich unanftögigen Text herzuftellen, die Überfegung um ihren ur: 
ſprünglichen Wortlaut und den darin erfichtlichen genanen Anſchluß 
an die hebräifche Vorlage gebracht worden iſt. Diefes alles hat 
namentlich bei der Behandlung des dem Aquila eigenen avv für 
acenfativifches na zuſammengewirkt. Etwa 14 Male ift e8 unver: 
ündert und unverfennbar ftehen geblieben. Werner überall da, wo 
nach der Hebräifchen Vorlage bany oder arms mit adv um 
as oder 6 nnas oder was 0 überfeßt war. Der Abfchreiber 
hat hier meift aus dem barbarifhen ovv und as das gut 
griechifcge avunas gemacht. Daß diefes nämlich dem urfprüng- 
lichen Texte fremd war, geht daraus hervor, daß, ſoweit ich fehe, 
hebräifches 57 nie mit ovuneg, fondern immer nur mit was 
wiedergegeben ift, und ovunas nur da ſich findet, wo nn (= 
ovv) davorſteht. Hat aber bier der Abfchreiber oder Heraus: 
geber fo oft den verzeihlichen Tsehler gemacht, daß er die Ac- 
eufativbedeutung des ovv verfannte und das Wort mit 7zas, 
feine Bedeutung verändernd, zufammenlas, fo dürfen wir anneh- 
men, daß ihm diejes auch fonft widerfuht. Wenn alfo 5, 6: 
N Dynbam mx Übertragen ift mit: od) zov Heov Yoßad, jo 
muß dafür ouv wiederhergeftellt und die Vermutung abgemiefen 
werden, als ob nx = Ax ausgefprochen worden ſei. Ebenfo ift 
die Überjegung in 5, 3: aA WER = od) oiv dom dar 
evEn, deren ovv nichts Entfprechendes hat, eine Umleſung des 
barbarifchen adv do in das griechifhe od 00» doa. De 
gleichen muß in 7,.15: 0Uv Tovro ovupovws ToüTo Erroinoev 
verändert werben in das dem hebräifchen genau entfpredhende av 
roõro Uvupwvws Tovsm Erroinosv, es ift das eine Verwech— 
felung von Dativ und Xccufativ, wie die Vertaufhung von «v- 
Jodno ös mit Avdgwros @ in 2, 21.°) Unter diefen Um- 
jtänden verliert e& fein Gewicht, daR ungefähr ebenjo viel oder 
noch etwas mehr Fälle gezählt werden, in denen hebräiſches nn 
nicht mit ou» wiedergegeben iſt. Ein Zeil derfelben kann daran 











The book of Koheleth. | 155 


erflärt werden, daß die hebräifche Vorlage den Accufativ abwei⸗ 
chend von unjerem Zerte nicht durch min eigends Fennzeichnete, ein 
anderer aber ficherlic) daraus, daß das im griechiſchen Text ftehende 
ovv unterbrüdt oder mit anderen Wörtern, 3. B. dem Accufativ 
des Artikels, verwechjelt wurde. Dies ift gefchehen in I, 13, wo 
inv xapdiav mov dem hebräiſchen »>5 nx entfpricht, während der 
Accufativ 3b und der Nominativ in 1, 16. 17 mit xeodiar 
und xagdia mov ohne Artitel wiedergegeben find. Offenbar ftand 
an eifter Stelle av» (77V) xapdlav mov und muß biefed auch 
3. B. 8, 9. 16 wiederhergeftellt werden. 

Man wird um jo mehr geneigt fein, mir hierin beizuftunmen, 
wenn man beachtet, daß der griechifche Text mit einer Nachläffig- 
keit und Achtungslofigkeit gegen feine Eigenart behandelt worden 
ift, welche grell gegen den Reſpekt abfticht, mit welchem der Über: 
feger felbft dem Buchftaben feiner hebräifchen Vorlage gegenüber: 
geftanden hat. So iſt 2, 5 aus £UAov nnayxagrıov — 55 yy 
398 das unverftändliche &. u@v xuprsod geworden; in 10, 10 
aus zei nsoloosın Tod avdosiov ovoplz, was genau dem 
hebräifchen am Aa ann ("an als nom. concret. gefaßt) 
entfpricht, durch Zertrennung von avdgeiov in zwei Wörter <o 
avögi od voyle. Desgleichen in 6, 1 erst (j. 2, 17) in Uno 
verlefen; in 5, 9 zig nyanınoev Ev nAndeı oV To yayınua, was 
dem hebräifchen (sc. yawı) mean n5 NOR2 me ımı verdreht in 
das finnlofe aüzoy yayınuaz ferner in 7, 8, wo hebrüiſchem 
and 25 ne Tamm jeßt entfprechen foll sad anmoilvor znv xup- 
diav siysvsiag adrov, ftand urfprünglid. zei aroAdvoı 
odv zapdiav eüdnviag (oder sddvnias) aurov. Der Über 
fetger Ins -upo (ef. 20, 6), während fein hebräifcher Text nupn 
gelefen und überſetzt werden follte: „und Sorglofigkeit tötet die 
Einficht”. Weniger auffällig ift e&, wenn pyw on 2, 21 
wiedergegeben fcheint mit Ev9ownos Orı uoxXsos adrod; 88 
muß dafür nach 4, 9; 5, 18; 6, 2 gelefen werden od u. av- 
zod, oder wenn 2, 22 Örs gefchrieben fteht für richtiges oͤre vi. 
Hier ift = in der Endfilbe des vorhergehenden Wortes unter 
gegangen, wie das ys von dem lonftanten xuiye vor yıydaxw in 
3, 12, wo es jegt heißt zei yıraazw, aber xaiys yıyadaza 





156 Wright 


beißen muß. Ähnlich ift es, wenn ftatt des regelmäßigen &Cr/enoer 
für Wp> (vgl. 3, 15; 7, 26. 30; 12,10; &xlnzeiw ift — vn) 
in 7, 29 69 EnmsLnenosv fteht; hier ift das Err aus dem durd 
den hebräifchen Tert garantierten Zrs entftanden, und in 12, 9 ift 
das urfprüngliche &rs — hebr. 1y geradezu in or umgefchrieben. 
An die Grenze der fahlichen Verbefferungen führt der Fall 
7, 18 (19), wo wir ftatt des hebräifchen: „und auch von diefem 
v ran bu“, das im Zufammenhange völlig unbrauchbare ur 
Bıavns Tv xeipd vov leſen. Hier ift aus der umferem 
Überfeger nach 10, 4; 11, 6 üblichen Wiedergabe von man bx 
duch un ayns erft an avnjs, dann durch itaciftifche Aus 
ſprache us vns geworden und das eliminierte bu duch Neuein- 
tragung von un wieder zu feinem Rechte gebraht. Schon von 
früheren Forſchern ift in 11, 9 dumuog xai ur) als freie Zuthat 
angejehen worden, weldye den anftößigen Sinn verbeffern follte. 
Aber aus dem von mir Angeführten erhellt, daß diefelbe nicht dem 
Überfeger zur Laft gelegt werden darf. Sie ift ebenfo einge 
tragen wie in 7, 22 das Subjelt aosßeis oder in 7, 3 das Ob: 
jekt ayaIdv, oder in 2, 15 die exegetiſche Gloſſe deors 0 yon. 
&x negiocevuarvog Arlst. Der Urheber derfelben bezog nämlich 
gegen die Wbficht des Überfegers rzegsood» ftatt in den Fragefat: 
„warum bin ich dein übermäßig weife geworden?“ vielmehr, wahr: 
“ fcheinlich nachdem xad vor eAainoa verloren gegangen, zu Awleir 
und meinte, der Redner verurteile fich als einen, der fich zu 
„maßlojen Reden“ Habe verleiten lafjen. Daß fein Weifewerder 
ein vergebliches geweſen, ließ fi) dann aus dem Urteil des Neben 
den über fein rzsosa0or Anksiv entnehmen, wenn man den Ober 
la Binzudachte, daß es eben des Unvernünftigen Weife ſei, je 
Kennzeichen, dx nepsoosvuarog Andsiv. Iſt ja doch jene falſche 
Ronftruftion von zzegıvcov als Anfang eines neuen Ausſageſatzel 
ftatt als Ende der Frage noch heute, wenigſtens in der römiſche 
Ausgabe, welche allein ich bier zugrunde legte, üblich. Ebenſ 
falfch exegetifch ift auch die Gloſſe auz)v xai som in 7, 27 
Die urfprüngliche Geftalt der Überfegung, wie fie durch die An 
[ogie des ganzen Werfes fichergeftellt wird, ift hier dem hebräiſch 
Texte genau entfpredhend: xcà Eevgloxw Eyo TIIxEOTEEOV un 
















The book of Koheleth. | 157 


Yavarov 0UV Tv yuvalsa Nris zul. Der Urheber der Gloſſe 
hat gewiß ebenfo wenig wie der urfprüngliche Überfeger aus dem 
hebräifchen 9 neben rrıxgorsgov auch noch da8 Ego (nm) 
herausgellügelt; fondern da der Redner gejagt Hatte, er habe 
Weisheit gefucht, fo konnte er nicht glauben, daß berjelbe fage, 
er babe Bittereres als den Tod gefunden: nämlich jenes verderb- 
[iche Weib. Er legte fih die Sache vielmehr jo zurecht: der 
Redner habe die gefuchte Weisheit gefunden und vermöge der 
fo erlangten Einficht bezeichne und nenne er nun das Weib als 
ein fchlimmeres Übel denn den Tod. Denn nad) V. 26 wollte 
er ja mit der Weisheit zugleih die Erklärung für die Unvernunft 
der frevelhaft gewordenen Menſchen finden, und das hinterliftige 
Weib konnte in vielen Fällen als Urſache der verderblichen Be⸗ 
thörung der Menfchen gelten. Er verftand alfo svgloxw Eyo, 
welches fein zweifellofes Objelt in av» 779 yuvaiza hat, durch 
Ergänzung von avenv als auf die gefuchte vopl« bezüglih und 
ließ die folgenden abrupten Worte als Ausdrud der damit gewon⸗ 
nenen Einfiht in den Grund der Bethörung erfcheinen, indem er 
hinter averv ergänzte: zu dom. 

Nach diefem allen habe ich auch Bedenken gegen die unbegreif- 
liche Wiedergabe von um na nyı ob in 12, 9 durch Edidake 
yyaocıy oUv ov üvdowrov. Da dvdowros immer hebräiſchem 
Dan entfpricht und dy fonft Ads ift, feheint mir avSomrov 
eine Deutung von aiov zu fein, und nach der Konftruftion von 
Jıddaxeım mit boppeltem Accufativ lag dem Lefer für urjprüng- 
liche8 our Tod aiwvos (Gen. obj. abhängig von yyaocıy mit 
covOv = nn, wie 9, 15 &urjodn oVV Tod ardoos) nüher zu 
fehen avv Tov aiova (ANOUN —= AIQNA) und biefes zu 
deuten in quy 709 avdgwrrov. Geſtützt wird diefe Vermutung 
erftens durch die Wahrnehmung, daß nah 3, 11 u. 14 vom Bre- 
diger paffend gejagt werden konnte, er habe den aidv und zo 
aiovıov inmitten der Eitelfeiten zu erfennen und feine Erfenntnis 
zu lehren gejucht, und zweitend durch die Erwägung, daß aus he- 
bräifchem obyr nn ny7 wohl dyn ns ny7 und anderſeits durd) 
Bermittelung von aiwvos wohl avIewrsov werden konnte, aber 
nicht fo leicht oym zu DIN = 709 &vdgwrrov, ober umgekehrt, 


158 Wright 


Endlich auch gegen die jegige Lejung von 10, 10. Hier ent- 
fpriht zwar: mrodsmnov Erdgaks xal dvvausıs dvvanwoeı 
ganz genau dem hebräifchen Yan om 5pbp DnD, aber um fo 
befremdlicher fticht gegen den vorhergehenden Sat bin mp Dn, 
xD im, welcher allerdings finnlos iſt, die griechifche Überfegung 
ab: dav &xrrson To osdnoiov xal adroc. Wenn hier darzeon 
nicht in &xAirn (= 19 = mp) zu korrigieren ift, fo muß &x- 
reinrew in dem Sinne von „außer Kraft, außer Gebrauch, Gel- 
tung, außer Wert fommen“ gedeutet werden, und xai avzos jagt 
die Folge aus, ebenfo wie zat—Ivvaudası bie Kolge von 7zo0c- 
wrrov Eragafev bezeichnet. Dann ift aber Mar, daß für zei 
evsds urſprünglich daftand: zei Toüraı == „fo wird «8 
roftig*, und dag ber Überfeger ftatt der unverftändfichen Buch⸗ 
ftaben nd, die nah Sir. 12, 11 und Ezech. 24, 6. 11. 12 
in einer Ausfage über das Eifen verftändlicheren Idebn im hebräi⸗ 
ſchen Texte zu fehen glaubte. Der des Hebräifchen unkundige 
Schreiber fing mit xai duvansıs dvvandosı einen neuen Sat 
an, ber daS folgende oople zum Subjefte hatte. Dann mußte 
rrg050709 Erapafe der Nachſatz zu dem Bedingungsfage ddv— 
to osdnoıov fein und in loves — aurög fand er das Sub- 
jet. In Wirklichkeit lautete aber der Hebrätfche Text, aus wel: 
chem der unfrige wie dis griechiſche Überfegung ſich nach verjchie- 
denen Seiten entwidelt haben: „Wenn ſtumpf ift das Beil (np, 
Dittelbildung der Gebrechen), fo wird er ſelbſt (nämlich der Holz⸗ 
bauer, B. 9) müde (myb nm); die Schneide gefchärft, fo fteigert 
er die Kräfte, und noch befjer (nümlich als die Schueide des 
Beiles) iſt es, Weisheit bereit zu halten.“ 

Indeſſen lege ich fein Gewicht darauf, daß mir der Lefer an 
diefen beiden Stellen zuftimme; das zuvor Beigebracdhte genügt 
völlig, um die Behauptung zu rechtfertigen, daß unfere griechifche 
Überfegung, wenn philologifch zu ihrer urjprünglichen Reinheit her⸗ 
geftellt, eine außerordentlich treue ift, fofern fie Wort für Wert 
den ihr vorliegenden hebräifchen Text wiederzugeben bemüht war; 
daß fie deshalb als ein zuverläffiges Kontrofimittel für den majo- 
retiſchen Text angejehen werden muß, zu welchem ihre hebräifche 
Vorlage ein fo enges Verwandtſchaftsverhältnis Hat, wie es ſouft 


The book of Koheleth. | 159 


zwijchen zwei Abjchriften eines und desjelben Archetypus ftatt- 
findet. 

Unter folchen Umftänden Halte ich es für erlaubt und geboten, 
überall da den Text der Überfegung vorzuziehen, wo er verftän- 
digen Sinn giebt und der maforethifche nur durch Künfte zu Ver⸗ 
ftande gebracht werden kann. Wenn ich aljo z. B. 8, 12 ni 
D Jam nun 7 lefe, was weder mit commits evil a hundred 
times and prolongeth his days, noch ſonſtwie erklärt werden 
fann, dagegen bei dem Griechen: Emoinse To rseunoov ano 
TOTE za ATRO Maxgdınvos adıwrv, fo zeigt mir biefe unnatür- 
liche Auflöfung von 7I89 in 7jnp, daB ihm durch feinen hebräi⸗ 
ſchen Text das TH = «ro aufgenötigt gewefen fein muß, alſo 
arso rors einem hebräifchen Worte entſprach, deifen Anlaut nur 
d = 19 gedeutet werden konnte; unzweifelhaft las er alfo ftatt 
de8 unmöglichen Idp das lautlih und graphiſch fo überaus ver- 
wandte ideh. Segen wir dieſes wieder ein, fo erhalten wir im 
Hebräifchen die fo belannte Rede des angefochtenen Frommen: 
„der Sünder hat ſchon feit lange (mm) böfe gehandelt und 
treibt fein Wefen in einem imgeftört fort* (vgl. Pi. 73, 12). 

Ich verzichte einftweilen darauf, weitere Beifpiele zu bringen, 
und erkläre von vornherein, daß auch der Archetypus, dem unfer 
majorethifcher und der Text des Griechen entfprungen find, wie es 
bei einem fo fchwierigen Buche nicht anders zu erwarten ift, fchon 
eine ganze Neihe von Korruptionen erlitten bat, welche wir des- 
halb nicht mit Hilfe der: griechiſchen Überfegung und bei unferen 
heutigen Mitteln, wo überhaupt, nur dur Divination heben 
können. In diefer Überzeugung habe ich große Bedenken gegen 
die Zuperläffigkeit der ſonſt fo verdienftlihden und fleifigen Zus 
lammenftellung von Idiotismen des Prediger, wie fie in unbe⸗ 
dingten Anflug an Delitzſch nun auh Wright (S. 488 bie 
500) gegeben Hat. Diefelbe beruht auf der zwar wicht eingeftan« 
denen, aber doc vorhandenen Vorausfetzung, daß die maforethifchen 
Konfonanten vom urjpränglichen Berfaffer herrühren, und daß bie 
maſorethiſchen Vokale und Sagteifungen den Sinn ausdrüden, den 
der Verfaffer mit feinen Konfonanten verband; fie bezeichnet alfo 
oft ale Eigentümlichkeit der Sprache des Berfaffers, was nicht 


160 Wright 


nach dem Zwange der natürlichen Art der Rede in grammatifcher 
und logischer Hinficht umd der Übereinftimmung aller Zeugen, fon- 
dern bloß nach zufälliger Anficht und ungellärter Empirie ale 
ſolche erfcheint.. Mir gelten deshalb eine ganze Reihe von Ab- 
ſonderlichkeiten des Ausdrudes nicht als das definitiv gültige Re⸗ 
ſultat der Forſchung, ſondern vielmehr nur als ein von ber künf⸗ 
tigen Unterfuchung zu löjendes Problem. Wer darf denn irgend- 
ein Gewicht legen auf Formen wie nun, nyio neben nun? Oder 
worauf gründet fih die Behauptung, Koheleth bilde das Feminin 
des Partizips von ny>, nit may oder nayt, fondern nyı in 
10, 5?°° Warum behauptet man nicht, das wirklich daftehende 
Wort nuw fei nah Esra 6, 15 die bekannte Schafelbildung 
now? In Wirklichkeit foll aber nach der griechiſchen Überfegung 
(EE7A9sv) ausgeſprochen werden nyıy und der Sinn ift: „Wie 
in einem Verſehen gejchieht e8 (oder gejchah e8), daß ausging vom 
Herrfcher (ein Edikt, Dekret), da wurde die Thorheit in hohe 
Stellungen eingefet“. Auf diefe Weife verwandelt fich die ein- 
feitig empirifch angenommene Spracheigentümlichleit des Predigers 
in die Analogie des gemeinen Hebräifch zurüd. 

Es fei mir geftattet, dieſes auch an einigen Beiſpielen für 
den aparten Wortvorrat unjere® Buches nachzumeifen! Wright 
verzeichnet nach Delisfh auf S. 490 das Wort oz als bezeich⸗ 
nend „Mann“ im Gegenjag zu myın auf Grund der Stelle 7, 28. 
Indeſſen nach der gemeinen biblifhen Anſchauung, welche den 
oyx, ber das Bild Gottes unter den lebendigen Wejen der Erde 
repräfentiert, Männlein und Fräulein umfafjen läßt, ift es ſehr 
unwahrſcheinlich, dag Koheleth, welcher doch ſonſt whx (6, 2. 3; 
9, 15), os (9, 14) und we (12, 3) kennt, von der myın 
nicht den win als die andere Hälfte des Geſamtbegriffes oıx ha⸗ 
ben unterfcheiden wollen, fondern vielmehr den on, al8 gehöre 
das Weib nicht dazu. Die Behauptung wird aber geradezu un⸗ 
verjtändlich, wenn man die angebliche Fundftätte derjelben anfieht. 
Wenn es hier heißt: ınnso nbad rn bin = „Menfchen habe 
ich einen auf taufend gefunden“, fo ift ſowohl mx, als auch bin, 
da Zahlendifferenzen nur bei Individuen derfelben Gattung eine 
faßbare Broportion ausdrüden, durch DIx zu vervollitändigen (vgl. 








The book of Koheleth. 161 


Hiob 33, 23); und daß der Redende unter den Begriff on aud 
die Weiber fubfumiert, giebt er zu erfennen, wenn er fortfährt 
„aber ein Weib babe ich unter diefen allen nicht gefunden“. Wenn 
unter den DIy aud Weiber zu erwarten waren, nur dann War 
ed ein wichtiges Urteil, zu jagen, daß dieſer Erwartung entgegen 
unter allen den Einern, welche der Redende „fand“, nicht ein 
einziged® Weib war. Voöllig finnlos wird aber diefes felbe Urteil, 
wenn wir die voraudgegangene Sentenz fo formulieren: „Männer 
babe ich auf taujend einen gefunden.” Denn wie follte er unter 
den Männern auch Weiber fnchen wollen? In Wirklichkeit denken 
aber die Ausleger, Koheleth wolle jagen: „Auf taufend Men— 
chen babe ih wohl einen Mann gefunden, der dem Namen 
Menſch Ehre machte, aber nicht ein Weib." Aber dann ergänzen 
fie zu nn das nicht daftehende Wort whn und das vor nn ftes 
hende Wort on konſtruieren fie ausſchließlich zu mb. Koheleth 
ſelbſt aber fagt das Vernünftige, daß unter den wenigen Men— 
Then, die wie Einer auf Zaufende der Nedende gefunden oder für 
ſich gewonnen bat, fein einziges Weib war. Wenn der Ausleger 
diefen Sat nicht brauchen Tann, fo ändere er diejenigen Punfte 
feiner Auffafjung des Zufammenhanges, die ihm die Annahme des- 
felben unmöglich) machen; aber er darf nicht als Sinn des Autors 
etwas feßen, was dem Wortlaute widerfpriht, um es dann als 
eine Eigentümlichkeit des Autors zu verzeichnen, daß er hier mit 
dem Wortlaute einen geiftigen Inhalt verbinde, der fonft auch bei 
ihm nicht darin enthalten ift. 

Auf derfelben Seite begegnet jan) (12, 9) = to weigh als 
Singularität. Hier hätte follen fhon der von Wright felbft an- 
erkannte Umftand hindern, daß das Wort und diefe Bedeutung 
auch nicht im Talmudiſchen fich findet. Noch mehr aber, daß der 
griechifche Überfeger (æcà ovs dkigviaoesaı xoauıov nragaßo- 
Aov) vielmehr in feinem Texte las: wrbum pm pm fm. Da 
aber nad der Anlage des Sates zwei verfchiedene Thätigkeiten als 
neben einander hergehend in demfelben Subjekte gejchildert werden 
ſollen, ſo iſt das Wam vor pr richtiger als das Yod des Grie- 
hen, nur muß es zu zı gezogen und Yayy) ausgeſprochen wer⸗ 
den. Dann lautet der Sag: „Und fein Ohr ergründete, fpürte 

Theol. Stud. Jahrg. 1885. 11 


IR Wright 


ang die Einrichtung (die Kompafition oder Architektonik) van 
Spricgwörtern (der Sentenzen) in großer Anzahl.“ 

Auf ©. 401 begegnet ebenio 32 ala sin finguläres Wort 
für te search ont, quf Grund vpp 9, 1; na mindj; wäre dieſer 
Text fiher, fo müßte er mit Hilfe des dem Koheleth bekannten 
Berbs 2 erffärt werden. Da aber, wie ©. 405 vom Ber- 
ſaſſer ſelbſt gugemerkt ift, der Grieche dafür Hat nv my) — wie 
1, 16, und ohne Zweifel 69 ein einfacher und notwendiger Fort⸗ 
Ichritt ift, hinter dem erften Sage: „dieſes alles Iegte ich meinem 
Herzen zur Betrachtung por“, den anderen folgen zu laſſen: „und 
mein Herz betrarhtete (oder fah ein) dieſes alles“, wie nad dem 
Briergen quch in 1, 16. 17, fo foflte nicht daran gezweifelt wer⸗ 
den, daß der hebräifche Schreiber das ms van horliegenbem msn 
in nn umgplefen und infolge befjen daß verhfeibende 7 mit 15% 
zuſgmmen dann dag MRätfel map ergeben Kat. 

Auf ©. 492 nehme ich zugleih in Anſpruch hie Augebe 9 ya 
== pxcept of und van = to enjoy, heide begründet anf bie 
Stel 2, 25: ao pın wım on Dam w. Ich laſſe es auf fih 
beruhen, ab im Talmudiſchen win fatt „angeben, leiten, zu er⸗ 
fahren bekommen“, jo allgemein empfinden hedeutet, daß es 
au gleich „geniehen" gedacht werden kann, und ob 79 yım wirklich 
== 0 9 borfpmme. Ich Kalte «8 auch für gleishgültig, ob mon 
mit dem hehraiſcheng Texte up oder mit dem griechiſchen Ann 
leſen wi; im erſteren Falle hat man uur anzunehmen, daB Der 
Berfafjer ein pointiertes Gotteswort eitiert, welches als Sprich⸗ 
ort im alfgemeinen Gebrauche war, wie 3. 8. Ser. 80, 2] ober 
Deut. 32, 39 ſohche werden mochten. Aber bedenklich macht wich, 
daB aa yım natürlicherweiſe nur bedeuten Fünnte: „ich Gott Pin 
(oder „er, Gott it“) allein der wahrhaft Genießende, der ſich auf 
Eijen und Benjeßen verſteht“; wie deun Hicronymuß ben Gag auch 
mwiedergiept: quis ifa delieiis affluet ut ego? Und wenn ber 
Grieche nach V. 24 fir ann on 7% lszag, ober, was ala die 
Überfegung Aquilas überliefert wird, T6s Yslaszpı gelefen hat, fo 
deutete ex jeng® hebräiſche Wort, das er night verftand, als Reſidumm 
van my, oder er Ig8 om, welches glei dvrn bie ſparſame 
Verſagung der Mahlzeit gegeniiber dem Harı guabrüden fonmie. 


The bopk af Koheleth. 163 


Unter diefen Umftänden wird aber win anferorhentlich unficer, 
und ich fchlage vor, daß man unter Annahme einer ſehr häufigen 
Berwechlefung von 7 und ı leje yan whmı ya (oder flatt win 
meinefmegen win nad Jeſ. 28, 28 und Jeſ. 10, 22), Dann 
lautet der Sag: „Denn wer (von zweien) eſſen fell und wer 
pflügen (oder drefchen) fol, das ift von mir (refp. von ihm) 
aus beſtimmt.“ Dieſes ift eing allgemeine Sentenz, welche durch 
daßs Vorhergehende porbereitet und durch das Folgende (B. 26 
3) erläntert wird. Die Arbeit und Anſtrengung fichert nit von 
ſelbſt den Genuß ihres Ertrages; welches das Subjelt jener und 
weiches dag Subjekt dieſes fein ſoll, wird von Gott in ſouveräner 
Macht und Freiheit befyetiert. 

Auf S. 495 heanſtande ich die Angabe, daß 225 = study 
als gigentümficher terminus zu geften habe, und ich halte es für 
einen Umpeg, duch das Arabifche erſt die allgemeine Bedeutung 
„lerhzen, gitren“, welde ber Pautgruppe mb auch im Hebräiſchen 
innewohnt, ſich haſcheinigen zu laſſen. Nach der griechiſchen Über- 
ſetzung ift aber wor mimy ein > herzuftellen (Tad arjems); dies 
ſem nerhnuft Das 5 in dem hehräifchen and erft feine Entſtehung: 
urſprünglich ftand hier dem Griechen zufolge (x. usAszn pAAn): 
nen dam d. i. „und viel grübeltz iſt eine Ermlbung für das 
Fleiſch“. Desgleichen: yao * Sansciousneg ayf Gruyd von 
10, 20; ich halte es für numöglich, daß der Redner die Gedan⸗ 
kenmelt des Menſchen, innerhalb deren er fih ohms hürbare 
Worte mit ſich fekbft unterhält, und das Schlafgemach, in imel- 
chem gr mit feinem Weihe hörbgre Worte wechſelt, als Orte 
zuſammenftellen folf, van denen "tz leicht in weitere Sreife drin« 
gear bnne. Gr ſagte ohne Zweifel: zuTon, d. 1. „im Kreeiſe deiner 
Verwandten und Freunde“, hei den vertrqulichen Familiengeſprachen, 
au welchen hama das Geipräf mit dem Weibe in ber traulichen 
Ahgeſchiedenheit des Schlafgemaches eine natügliche Steigerung bildet. 
Dekan Griechen iſt das ſeſtſame aurrıdnjass wahrſcheinlich wie 
189%. 8, T qus ovrndsas entitanden. 

- Gubfich die Angabe, daß 5, 5 yubma = Inessenger of the 
priests ſei. Diefelbe herupt auf einer fallen Auslegung und 


einer unpaſſenden Beiziehung von Mal, 2, 7. Wie in der Der 
11* 


164 Wright 


kannten Äfopifchen Zabel der alte Mann den Tod herbeiruft und 
dem Erfchienenen dann, feine Übereilung bereuend, erflärt, das ſei 
nicht fo gemeint gewejen, und wie in Volkserzählungen der Teufel 
eitiert wird und der Eitierende feine Haftigen Worte zurücknehmen 
möchte, fo fett der Redner den nad der Volksvorſtellung mög 
lichen Fall, daß ein Menſch, fei es nun feinen eigenen Leib, fei 
es feinen Mitmenfchen (Mi3) durch ein Fluchwort feines Mundes 
zum Sünder ftempelt und ibm das Geſchick eines überwiefenen 
Sünders anwünfcht, daß dann auf das gar nicht definitiv’ gemeinte 
Wort der Strafengel erfcheint, um das gemwünfchte Verderben zu 
vollziehen, und daß der Menſch dann feine Hände in Unſchuld 
waschen will und fagt: „Du Haft dich umfonft bemüht, es war 
ein Verſehen von meiner Seite.” Die bier mögliche Meißdentung, 
als ob der Redner ſolchen Fluchworten der Übereilung mit Unter: 
drüdung des Gedankens an den gerechten Gott entfprechende reale 
Wirkungen auf das eigene oder das Befinden des Mitmenſchen 
beilege, während er doch fofort in demfelben Sage Gott als den 
Beleidigten und als den Nächer fett, Hat den griechifchen Über- 
feger oder vielmehr feine hebräiſche Vorlage bewogen, für zxdnn 
fofort ob einzufegen. 

Zu der Form yyy, und nyy, welche S. 497 aus Kap. 4, 
2. 3 verzeichnet wird, bemerfe ih, daß diefelbe Form auch in 
Thren. 4, 17 anzuerkennen ift. Die urjprüngliche Schreibung 
war dort 379% — 37 79) zu überfegen: „Bis hierher verzehrt 
fih unfer Auge im Ausbliden nad unferer Hilfe“, noch immer 
blicken wir nad der Macht, von der wir vergeblih Hilfe erwar- 
teten. Die jegige Schreibung army beruht auf der falfchen Deu⸗ 
tung uyi1y, welche die Volalifation ausdrückt, oder auf der Poſtu⸗ 
lierung einer auf pꝛyy bezüglichen Suffizform n3(n) Iiy. 

Wenn endlich S. 500 my in 10, 17 = drinking gefeft 
wird, jo bemerke ich, daß fich zwar ein pafjender Sinn gewinnen 
läßt, wenn man dad > in ma und ınwa al® das des Tauſches 
foßt: „um Sraft zu erlangen, nicht um des Trinfens willen“, 
da8 ja allerdings mit den Mahlzeiten verbunden tft. Aber da 
ny> nicht „zur vechten Zeit“ bedeutet und namentlich nicht im 
Gegenfage zu Ap22 V. 16, wofür man ja Ban ny2 fagen fann, 





The book of Koheleth. 165 


fo müßte man ftatt nya vielmehr ayy7 leſen. Den unnügen 
Großen, bie de8 Morgens eſſen vor der Arbeit, ftehen dann die 
gegenüber, welche des Abends nad derjelben ejjen; der angehängte 
Sag würde dann ausdrüden, daß diefe legteren efjen, um die 
Kräfte zu erneuern, und das Saufen nicht der eigentlihe Zweck 
ihres Eſſens fei. Aber die dabei vorausgeſetzte Form ınwa = 
na iſt lediglich durch die Vokaliſation geftügt. Der Text kann 
ga ausgeſprochen und als Anrede an das Land gefaßt werden, 
zu dem der Redende ja bier überhaupt fpricht. Dürfte man das 
Borhergehende fo deuten: „deilen Fürſten zu rechter Zeit eſſen“, 
jo könnte man fortfahren: „zu einer Zeit der Kraftentwicelung 
und wenn Du, Land, durch fie nicht mit Schanden, fondern mit 
Ehren beftanden bift“. Da aber nyp nicht „zur rechten Zeit‘ 
heißt und nur duch konkrete Näherbeftimmung einen paffenden 
Gegenfag zu p22 in B. 16 gewinnen kann, fo ift Ian ale 
Sag, der den Genitiv vertritt, zu ny> zu konſtruieren, mm220 
aber als DVertreter des Prädifates; und da ber Grieche mit xas 
ovx alayuysnoovsas hebräifches ia nd) ausdrüdt, fo ift dieſes 
in den Text wiedereinzufegen. Derſelbe lautet nun: „und deſſen 
Fürſten zu der Zeit, da fie ſchmauſen, in Heldenruhm, 
im Ruhm großer Thaten ftehen (Bj. 90, 10) und nit zu 
Schanden geworden find" (ogl. zu dem DBeieinander von 
12 und wıa Bf. 127, 4. 5). 

Andere Bedenken unterdrüde ih, um mich nicht zu fehr in 
Einzelheiten zu verlieren. Biel wichtiger für die Gejamtauffaffung 
des Predigerd wird es fein, wenn ich die Zuftimmung des Leſers 
in der Beleuchtung zweier Punkte finde, welche ich nocd nicht er⸗ 
wähnt babe, und welche mir auch Wright ebenfo wenig wie feine 
Vorgänger befriedigend aufgellärt Hat. 

Der erſte betrifft den fogenannten Epilog 12, 9—14. Nach⸗ 
dem die mit den Worten ban bon orban ban angefangene Betrach⸗ 
tung (1, 2) mit demjelben Worte ihr Ende erreicht hat (12, 8) 
und in diefer Betrachtung der Redende in erfter Berfon überall 
feine eigenen Erfahrungen als ſolche dargelegt hat, redet der Ab» 
ſchnitt V. I— 14 erflärende Worte in dritter Perfon über 
jenen Redenden, den er abweichend von dem Sprachgebraude des⸗ 


1% Wright 


ſelben Abt kennt. Dis allernatürlichſte Annahme ift, daß wir 
bier die Schlußbemerkung eines Mannes Haben, ber das vorftehende 
Buch zu Nutzen eines Lefers, dert er feihen Sohn (B. 12) nennt, 
herausgab, ober eines Abſchreibers, der, am Ende diefed fonbders 
Büren Buches angelangt; Ben Leſer nicht ohtle einige Aufflätende, 
für beti rechten Gebrauch orietitierende Bemerkungen init dem Buche 
allein laſſen wollte. Wright behauptet zwar, geftlitt auf Be⸗ 
litzſch, der Epildg zeige dieſelbe Sprache wie dad Buch, und des 
rum jet der Verfaffer Hier und dort derfelbe. Aber Berfaffer urb 
Nenherausgeber pflegen immer einander irgend geiflig verwandt zu 
fein; daß bloß jener dieſen Jargon gefprochen, folgt duch nicht 
daraus, daß wir in demfelben bloß biefes eine Buch Haben; end⸗ 
lic daß ein Herausgeber fi der Hinweiſung auf beit Autor und 
feine Schrift deſſen Stichworte gebraucht, iſt natürlich und unver⸗ 
meidbut. Jene vernieintliche Identitäͤt der Sprache, die fich mit 
ebenfö viel Differenzen aufechten Täßt, als die Übereinftimmunger 
find, mit denen fie erhärtet wurde, kann jener alfernaturlichffeit 
Annahme den Weg nicht verſperten; fie vetliert aber alles Ge⸗ 
wicht, wenn der Verfaffer des Epiloges felber fih m 
Segenfag zum Autor des Buches ſtellt. Und das will ich Be 
weiſen. 

Es Würde bem Verfafſer getade dieſes Buches fehr übel ftehen, 
wenn er nach Abſchluß desſelben ſich in die Zeit näch feinem 
Tode verfetzte und in bie Studierſtube eines Leſers feiner Schrift, 
um zu beldufchen, welche Gedanken der ſich Aber feine Berfon 
mathett werde, und mit dieſem Schlußworte ihm datin zu rechter 
Bewunderung zu verhelfen. So lauten aber bie Worte, mit denen 
det Epilog beginnt; vom Vetfaſſer ſelbſt gefprochen michen fie 
den Eindruck modern jüdiſcher Prahlerei mit der eigenen Bikbang, 
des Aufdrüngens der eigetien Perſon und Ware mit allen ihren 
glänzenden Eigenſchafteꝛ. Dägegen find fie begreiflich und ver⸗ 
nünftig in dem Munde eines Herausgebers, der über den hinter 
der Maske Koheleth ſich verbergenden Denker und Menſchen vrien⸗ 
tieren will. „m ausgezeichnetem Maße (mar es daß) mar Kohe⸗ 
leth ein Weiſer.“ Mit dieſen allgemeinen Worten beginnt er. 
Die Konſtruktion mw Am == Megieoor Or ift wie 6, 3; 


The boök vf Koheleth. W 


een se I or re u 10, 5 nach der oben 
Bemerkung über new; Äfn iſt Gradbeſtiinmung ju om. Offen⸗ 
bar jellen die unverbunden folgender Worte, wilde inch befunnter ' 
Koriftruftion (&. 14, 19; 3y zu Anfatig des erften und Wurm zu 
Anfarig bed zweiten Sabes) die zeitliche Koinzideng zwelet 
verſchiedener Thatigkeiten ausdrucken, das Unterſcheidende, das Mo, 
die dusgezelchnete Eigentümlichkeit ſeiner Kunſt bezeichnen. Sie 
beſteht eben darin, daß er dieſes beides verband: „während er 
gunz und gar noch daran arbetitete, das Volk Erkenntnis zu lehten 
(fo nach gewöhnlicher Teptauffaſſung), odet (was id oben wahr⸗ 
ſcheinlich zu machen ſuchte) vielmehr: Erkenntnis des Ewigen zu 
lehren, erfotſchte fein Ohr zugleich die (kunſt⸗- und planmäßige) 
Arditeftonit von Sprüchen in großer Anzahl“. Im der That 
berührt diefe Kigentümlichteit des Buches fofort jeder Lefer, daß 
in demſelben allgemeine, weit und tiefgehende Reflexionen gemiſcht, 
unterbrochen, aufgehalten find durch in ſich geſchloſſene Sentenzen, 
welche für ſich Siun Haben und mit der zuſammenhaäntenden Be 
trachtung keine notwendige Verbindung einzugehen ſcheinen. Dieſes 
erklärt ſich uns durch die mi B. 9 konſtatierte Eigentümlichkeit bes 
Verfaſſers und feiner Thatigkeit, welche feiner Schrift vorauszu⸗ 
denken ift. Mit dert Eifer, die eigene Erkenntnis, deren fein Herz 
voll war, zur Belehrung anderer auszugeſtulten, verband ſich bei 
ihm ein empfünglicher Sinn, ein feites Gefühl, Aufmerkſamkeit 
und Neigung für ale im Publikum umgehenden, kunſtvoll ges 
münzten Sentenzen und Weisheitöregein. Diefes hing aufs engfte 
zufaimme mit der weiteren Eigentümlichkeit, welche V. 10 bes 
ſchreibt. „Das Streben Koheleths ding dahin, gefällige Worte zu 
finden”, d. h. der von ihm vorzutragenden Lehre einen pilanten, 
poisıtierien,, witzigen Ausdruck zu geben, welcher geeignet war, dei 
Leſer oder Zuhörer zu reizen, zu locken und feitzuhalten. Er ver» 
mied den ttockenen Ton des Moraliſten. Nac ber Analögie vor 
V. 9 erwarten wir im folgenden die Ausſage either anderweitigen 
Thätigkeit, welche bdiefer die Wage hielt. Denn plante Rede 
fügt auch der Frivole, und unterhaltendes, wigiges Geſchwätz 
kann mit einem tückifchen Sinn zufammenbefteßen, beim es gleich» 
gültdig ober erwünſcht ft, wenn der Zuhörer ohne Erkentitnie ber 


168 Wright 


Wahrheit davongeht. Aber die Deutung des Griechen, wonach 
an und nos 137 ein zweites und drittes Objekt neben 
porn 937 für nuob bilden follen, entfpricht diefer Erwartung nicht 
und ergiebt auch Leinen wohlllingenden und verftändlichen Satz. 
Die mafjorethifche Faſſung: „und gefchrieben ift Redlichkeit, Wahr⸗ 
heitsworte“ läßt unklar, ob bier dasjelbe oder ein anderes Subs 
jekt gedacht fei und ob das Ganze die vorliegende Schrift in Gegen- 
fag oder in das Verhältnis von consequens und antecedens 
zum erften Sage ftellen wolle. Der richtige Text iſt aber nicht 
an, fondern A 30 (2 zu 1 verftämmelt), und ber 
Satz will fagen: „er war darauf aus, [uftige, unterhaltende Worte 
zu finden, aber gejchrieben bat er in Redlichkeit (Zuverläffiges) 
Wahrheitsworte'. Die Abficht, der Zweck feines auf den Reiz 
des Ohres bebachten Schreibens war zuletzt doch nicht, zu neden, 
faunig zu unterhalten, fondern dem Leſer zuverläffige Wahrheiten 
einzufchärfen; hinter den yon 37 birgt fi ein ernfter, auf das 
Wohl des Leſers, darauf, dag er die Wahrheit erkenne, bedachter 
Sinn. 

Diefer Kennzeichnung des Verfaſſers und feiner Schrift, welche 
den Lejer anweiſen will, fie vedat zu würdigen, wird num in ®. 11 
eine Ausfage angelnüpft, welche fih nicht mehr auf die yon ma 
des oarı Koheleth bezieht, fondern über naar 337 ausjagt, daß 
fie Is Ayo 1an) MEDN ya. Wenn man vorläufig die unter 
> Ttehenden Nebenbeftimmungen wegläßt, fo wird die Struktur 
dieſes Satzes deutlich: zum Subjete 'm 927 tritt um}, um zu 
fagen, daß es zu etwas gemacht worden fei, ferner MEDN »by2, 
um zu jagen, wozu es gemacht worden, und endlih mn mymD, 
um zu fagen, von wem aus, von weilen Seite her es zu diefem 
gemacht worden ſei. Am leichteften Täßt ſich der Prädikatsaus⸗ 
drud erklären: „fie find gemacht worden, eingefetst worden (9, 6) 
zu (mitberechtigten) Gliedern, zu Gefellen der Sammlungen, ber 
ovAkoyai oder Kolleltaneen“. Der dieſes fchrieb, unterjchied alfo 
in dem vorliegenden Bude erftens Sammlungen, d. h. 
Gruppen zufammenbängender Betrachtungen, oder Gruppen von 
Sentenzen, welche durch den Gefichtspunft, unter dem fie jedesmal 
aufgereiht waren, fih von einander unterfchieden., Zweitens 


The book of Koheleth. 169 


Worte von Weifen, welche erft nachträglich und gegen bie 
Umgebung abftehend diefen einzelnen Sammlungen zuge 
ſellt worden find. Bon jenen galt offenbar die Ausjage über 
Koheleths Streben und Schreiben in V. 9. 10; fie hatten «8 
nötig, gegen den Schein geſchützt zu werden, als fehle ihrem Ver⸗ 
faffer der ehrliche und ernfte Wahrheitsfinn; fie konnten in ihrem 
paradoren Wortlaut leicht mißdeutet werden. Dagegen bezeichnet 
der Schreiber dieje andermeitigen Worte von Weifen, welche 
in jene Sammlungen eingefeßt worden find, im Unterſchiede von 
deren ſonſtigem Inhalte als Klare, deutliche, die richtige Auffafjung 
duch fich jelbft garantierende Sprüche, wenn er V. 12 fortfährt: 
„und vorzugsweife aus (oder von) ihnen laß Di weijen“. 
Wenn der Leer, der ihm gegenüber als ein unerfahrener, dem 
Irrtum leicht verfallender Jünger gedacht wird (mein Sohn!), 
diefe Sprüche zum Leitftern nimmt, zum regulierenden Kanon, fo 
wird er ohne Gefahr der Verwirrung und Verzweiflung und mit 
Nuten das Buch lefen. Wären diefe Sprüche aber nicht hinein» 
gethan, jo Hält er die Sammlungen an fi) troß der Redlichkeit, 
Weisheit und wohlmeinenden Lehrabficht ihres Verfafjers für folche, 
welche gemißdeutet und zum Anlaſſe einer fittlihen Gedanken⸗ 
bewegung werden könnten, die der Abſicht des Verfaſſers ſelbſt 
widersprechen würde. 

Daraus geht aber aufs deutlichfte hervor, daß nicht Kohe- 
leth jelber ſchon dieſe die Auffaffung normativ re- 
gulierenden Sprüde in fein Buch gethan Hat. Bon 
ihm rühren nur die Sammlungen felbft her, die er in ausgezeich⸗ 
netem Geſchmacke für yon 27 und in der ehrlichen Abficht, eine 
ernfte fittliche Lebensauffaffung zu begründen, veranftaltet Bat. 
Ein anderer, jpäterer bat diefelben in pädagogijcher Abficht und 
Weisheit durch Einfegung jener Worte weiſer Männer verändert 
und jo dem Lejer übergeben. Dieſes fagt nun aber der Schreiber 
des Epiloges ausdrücklich, fobald man fich durch die Unmöglichkeit 
oder Unbraudbarkeit aller bisherigen Deutungen ber Worte yo 
rs zu der Überzeugung bringen läßt, daß bier wie fo Häufig im 
Alten Zeftament und 3. B. auch in unferem Buche, wenn man 
das hebräifche und griechifche vergleicht, 7, 23; 8, 6 (9 m und 


110 Wright 


yon, nya and Ay) 3 mt 3 Vermerhfelt worden tft, und daß es 
bier ebenfo urſprünzlich mn rıyao hieß, wie &. 11, 19 nuch 
dem Paraliellsmus und I,KX Ersour: “rn 25. Die Ausdrücke 
an Ay und IN 29, welche fonft bei &zechiel vorkommen, ſchei⸗ 
nen auf die faliche Lefung Einflaß gehabt zu Haben, „Von emein 
anderen Hirten”, db. 5. von Einem anderen Lehrer uffo find 
jene Sprüche eingefeßt worden, bamit jene Sammlungen für bie 
feiner Hut befoßlenen Schafe eine rede Weide werden köonnten. 
Wenn aber in V. 12 gefordert wird, daß der Lefer fonderlich fie 
ſich gelägt fein Laffe, jo müffen fle eine Stellung erhalten haben, 
in welcher fle die behertſchende Regeln der Anffaffung und der 
Anwendung hervorſtachen, und das fagt der bisher ansgelafiene 
Sagteil mit 5. Denn didfe Partikel druckt ans, in was für einer 
Funktion, in was für einet Geltung diefe Säge zu Geſellen bet 
Sammlungen gemacht worden jind. 

Ich gehe davon aus, dag mmawo, wie überall von row 
und nicht von Bon herkomme; daß «8 Dinge and nicht Perfonen 
begeichtie (wegen ber Gleichſtellung mit man), daß deshalb 
ey nicht Attribut, ſondern Genitiv und nmsgp ale stat. 
constr. zu Sprechen fe. „Sthugwehren für (Berte und ber Scho⸗ 
nung bedürftige) Pflanzungen“ werden überall mit fpiten Stäben 
zufammen angebradht fein, ſeien diefes nun Stacheln oder Palli- 
faden. Mt dieſer Beſuimmung nun und in dieſer Funktion, gleich 
ſam wie Spitzen und Schutzwehren für Pflanzungen find den ur⸗ 
ſprünglichen Gliedern det Sammlung anderweitige weiſe Sprüche 
zugeſellt und eitverleibt Worben. Die Zacken und Wände des Ge⸗ 
heges Hüten die Pflanzungen vor mutwilligen und abſichtsloſen 
Mißhandlungen und Zerftörungen. Go ſollen auch dieft an Ber: 
vortagenden Stellen und wo Warnung nötig erſchien, neu einge» 
ſetzten Spruche dem Leſer als Leitſtern dienen und Ihn an un⸗ 
berechtigter und gefährlicher Mißdeutung der Ausführungen in die⸗ 
fent Buche Kindern; und fle werden is, went er fih von ihnen 
vorzugsmweife (Anm) leiten läßt. Ich brauche nicht Auszu- 
füren, mie dieſe littetar⸗hiſtoeiſche Notig über die Entftehung des 
gegenmärtigen Predlgers bie verwunderliche und oft rätjelgaft ge⸗ 
fünderre Erſcheinung dufflärt, daß bier ab und am in einem Xexte, 


The bobk of Koheleth. 171 


ber in vblligem Skeptielsmus und Peſſimisſsmus fcheint endigen zit 
wollen, plötzlich eine allgemeitie Sentenz und Regel auftaucht, welche 
im Widerfpruche damit bekundet, daß es doch fefte und gemilfe 
Srundfähe giebt, tweldje den Menfchen ficher führen. Ich mende 
mi vielmehr der Frage zu, wer ift der andere Hirt, der 
Koheleths Sammlungen fo verbeifert Hat? 

Entweder natürlich der Schreiber diefes Epiloged oder ein 
dritter, der zwischen ihm und Koheleth mitten inniefteht. Das erfte 
ift von vornherein das Wahrfjcheinlichere, weil die Forderung des 
Epilbges, diefe Sprüche als Regeln befonderd zu beobachten, ja 
mit der Abficht deifen anf einer Linte licht, der fie in der Eigen- 
(Haft vom ſchitzenden Marken und Wehten den Sammlungen ein- 
verleißt hat. Es wird aber auch durch das Folgende an die Hand 
gegeben. Ich fordere Hier nur dem Obigen zufolge Bie Lefung 
ndyb nnd Am, erörtere über als irrelevant für meinen med 
die Frage nicht, ob Arwys zu Am die Beftimmung de Gebietes, 
nämlich des fittlichen Handelns, der Lebensführung, auf dem die 
Wellung angenommen werdet foll, Binzuflige, oder aͤls Subjekt 
umfchreibung oder Als Zweckangabe den Anfang des folgenden 
Satzes bilde. Die gewöhnliche Annahme Taffe ich gelten und über⸗ 
feße: Bücher zu verfaſſen, giebt es veichlichen Stoff ohne Ende, 
aber viel Grübeln iſt eirie Erſchöpfung des Fleiſches“, des gebrech⸗ 
fihen Sterblichen. Natürlich iſt dieſer allgemeine Satz nur ale 
Begründung des Vorhergehenden. Darüm find jene wichtigen 
Denkſprüche und Maximen dein Buche eingefügt, und darum foll 
der AHhitger ſeine Aufmerkſankeit überwiegend ihnen widien, weil 
in ihnen in Leicht zu bewältigender Kürze gewiffermaßen din Ex» 
traft der Wahrheit gegeben ift, welches ganze Bücher Betällkierter 
Bettachtung aufwiegt. Det DVerfaffer Hätte können in feier 
Weife die Welt der Dinge und des Geſchehens ahnlich wie Kohe⸗ 
leth vor dem getftigen Auge des Leſers vorüberfühten, Koheleths 
Beirachiungen nach allen Seiten in feiner nit paradoren 
Weiſe fortfetzen und dervollſtändigen und jo als Lehrer das Wohl 
ſeines Leſers und Jungers wahrnehmen; Stoff genug giebt es 
dazu, Aber ihr in Gedanken zu erſchöpfen, auch nur zu ſuchen, 
inbem tan induktiv eins zum andern fügt, wäre für Schriftſteller 


172 Wright 


und Lefer eine überflüffige Kafteiung der Natur. Darum war es 
genug, es bei Koheleths Sammlungen und bei den regulierenden 
normativen Zufägen, welde deren richtiges Berftändnis fichern, 
bewenden zu lafien. So konnte nur der Herausgeber und Be⸗ 
arbeiter, der andere Hirt, fprechen, welchem vor allem daran Liegt, 
da8 alles umfafjende, einige Prinzip fittlicher Wahrheit einzu- 
Ihärfen, zu deſſen Findung Koheleths Gedankenreihen auf dem 
Wege gewiljermaßen apagogifcher Induktion den Leſer hinleiten 
wollten. 

Welches diefes Prinzip aber fei, ſpricht er zum Schluſſe in 
direktem Worte V. 13. 14 aus. Ich bemerke ausdrüdfih, daß 
es für die Geltung meiner Deutung von ®B. 9—12 ganz einerlei 
ift, ob der Lefer meinem Verſuche, diefe dunkelen Worte zu ent» 
rätjeln, zuſtimmt oder ob er lieber bei der traditionellen Faſſung 
bleibt, welche das Rätſel lediglich als folches Tonferviert. Die 
Worte yowı ba 737 iD find weder einer hebräiſchen, noch über- 
haupt einer vernünftigen Konftruftion fähig, und ebenſo wenig 
DIN 99 71 79. Syene find der Reſt eines Textes, welcher lautete 
aa 532 293 mio, d. 5. das Ende (cf. 7, 1), bei dem die Rede 
(Kohelethe) ankommt, das feine Betrachtungen bezielen, ift (der 
Sat): „das Ganze ift Eitelkeit“. Die Berjtiimmelung des 
Tertes entitand dadurch, daß ebenjo wie im Anfange von 9, 2 
das Wort 537 (uarasoeng des Griechen dafelbft) fid), unter dem 
Einfluffe von onmpb dan in 9, 1, in 537 verwandelte und da⸗ 
durch der Mare Sinn der Stelle („der Menfch weiß nicht, ob 
alles [5] vor ihnen Eitelfeit [bar] fei, dieweil [Awino] alle 
einem und demfelben Zufalle unterliegen“) verloren ging, fo auch 
hier 537 dem vorhergehenden bar gleichgefehen, gelefen, gefchrieben 
war und dann als unerträglihe Tautologie fortgelaffen wurde. 
Die Berechtigung zur Wiederberftellung erwächſt uns aber aus der 
Thatjache, daß das Bud, Koheleth, über welches der Epilog re» 
flektiert, offenfichtlich al® zu erhärtendes Thema den Sag ban In 
an die Spitze jtellt, und am Ende feiner Betrachtungen bei eben 
ihm wieder als ihrem Beichluffe anlommt 12, 8. Das Augen- 
fcheinliche, mit Händen zu Greifende, was jeder von uns im Hin⸗ 
blid auf diefen Anfang und diefes Ende des Buches auch jagen 


The book of Koheleth. 173 


würde, drück demnach der Epilog aus, wenn er als Endziel 
und Summe ber Darlegung in diefem Buche den Sat bezeich- 
net: „das Ganze ift Eitelkeit“. 

Diefes ift aber nur ein negatives Reſultat, welches für 
einen Weisheitölehrer und feinen Schüler nur in dem Maße Wert 
bat, al8 e8 dazu dient, in exfiuftver Energie zu demjenigen hinzu- 
drängen, was Realität und bleibenden Wert im Menſchenleben, in 
der Welt bat. Keiner meiner Leſer wird darüber im Zweifel jein, 
daß nad den folgenden Worten der Verfaſſer des Epiloges und 
bag nach feinen eigenen Worten (3, 14: „ich erfannte, daß alles, 
was Gott macht, daß das in Ewigkeit bejteht — Gott felbft aber 
hat das gemacht, dag man fid) vor ihm fürdte“, d. b. die Per 
ligion ift, weil eine Gottesgründnng, etwas ewiges) auch Koheleth 
felber jenes negative Reſultat als Begründung des pofitiven 
Satzes gewertet wiffen wollte: die Religion, als von Gott ges 
gründet, ift das bleibende Reale und die Gottesfurcht das unbe⸗ 
dingt gültige und wertvolle Prinzip für eine rechte, weife Lebens⸗ 
führung. Denn zu dem negativen Sage, der da Tonftatiert, daß 
da8 Ganze Eitelkeit jei, tritt die pofitive Heifchung: „die Gottheit 
fürchte und ihre Befehle nimm inacht!“ Das Verhältnis aber 
diefe® Satzes zu dem vorhergehenden, welcher den 77 mp bezeich⸗ 
net, ift ausgedrüdt durh yows. WI man den Begriff „pw feſt⸗ 
halten, jo fchreibt man am beften mit dem riechen yo und 
überfegt (yuw == entendre, intelligere): der Schluß der 
Rede: „das Ganze ift Eitelkeit“ ; deute, verftehe (diefes jo:) „bie 
Sottheit fürchte u. ſ. w.“ Denn in der That iſt der geheime 
Sinn, der für Kobeleth in der Erhärtung jened Sates liegt, daß 
man ſich dadurd aufgefordert fühlen foll, Gott und feine Gebote 
als das unbedingt Wertvolle beftändig vor Augen zu haben. Jener 
Sat ift ein Nätfel, das am Schluſſe des Buches für den Lefer 
formuliert wird, damit er es durch eigenes Nachdenken auflöfe und 
deute. Diefem Sachverhalte, der Deutlichleit der Rede und dem 
Sprachgebrauche des Buches, welcher 8, 1 den 33 und feinen 
Wyy unterjcheidet und den Weifen daran erfennt, daß er die Deu: 
tung und Anflöfung der rätfelhaften Rede zu finden weiß, entfpricht 
e8 aber noch befjer, wenn man, wie ich für richtig halte, yowy 





474 Wright 


als Entftellung von wi anfieht. Das Eupe der Rede jſt; 
„das Ganze ift Eitelkeit" und ihre Deutung iſt: „die Gottheit 
fürdte und ihre Befehle nimm inacht!“ Soll diefes aber zu- 
jammenftimmen, fp muß in dem ewigen Gatt die Burgſchaft dafür 
gelegen ſein, daB dag ihm mohlgefällige Verhalten des Menſchen 
zu ihm, vermöge deſſen er den ewigen Bott in fein perfünlichen 
Leben Hineinträgt, aus der Welt der KEitelfeit hergusfällt, daß es 
durch eine Tünftige Reaktion Gottes zu einem ppfitiven Ziele ge- 
- füget wird, welches heweiſt, daß die Frömmigkeit eine vergebliche 
Anftrengung und Spin eitleg Mühen um ein doch bald zerrinnendes 
Gut geweſen ſei. Eben dieles ſagt der angeſchloſſene Begrün⸗ 
dungsſatz mit »7 B. 14. 

Um die Ansage au perſtehen, muß man bie nur angeblich, 
aber in Wirklichkeit nie für fich felbft perſtändlichen Worte >> mı 
am am Schluffe von B. 13 beſeitigen. Sie find eine herme⸗ 
nentifche Stoffe vom Rande, welche (wie hie Jeſ. 9, 14) fagt: 
„bag iſt, diefer Ausdruck bedeutet, meint ayazy?. Der Gtpffe- 
tor intendierte ihn zu dem fonderharen Ayshruge fir den Gegen⸗ 
jtand bes künftig von Gott zu haltenden Berichtes: dhyn bo by. 
Von bem allgemeinen Gerichte Botteg, welches das definitive Ge⸗ 
ſchick jedes Menſchen feitiegt, ſall man ihn nerfishen. Diele 
verſtändige Erllärung geriet aber in den Text, und zwar hinter 
das auf ni folgende den V. 14 einfeitenhe D. Unz den ur⸗ 
iprünglichen Ipgiihen Zuſgmwenhaug nik zu verligren, wußte 
jenes 17 dann hinter der Gloſſe noch einmal wiedezholt werben. 

Oh man Bott fürdtet und feine Befehle inacht nimmt oder 
nicht, daB giebt dem fittlichen Verhalten des Menirhen, ſeiner 
Lebensführung, feinem Lebenswerfe das unterſcheidende Gepräüge; 
und fo iſt es entweder Sin ober yJ. Kommt glies Darauf an, 
dag man die eine Geftalt realifiere, die andere vermeide, fo muß 
es feftitehen, daß Gott duch einen Alt vichterlier Vergeltung 
das ganze Verhalten des Menfchen als befinitioss Geſchick auf fein 
Haupt zurückkehren, ihm heimkommen läßt, wie dieſes guch im 
Huche ſchon 11, 9 quegeſprochen ift. Aber man muß ſich durch 
dieſe Stelle nicht gerſeiten laffen, nun in V. 14 sbeufp au fon 
ſtruieren. Die Worte oaya 52 dy find nicht Ergänzung des ganz 


The baok of Koheleth. 176 


altgemein gemünzten Ausdruckes „Dur vichterlichen Alt“, Sondern 
gehören mit mn zufammen: Perfonen werben in daR Gericht ge- 
hrasst (jo 11, 9); Verhaltungameifen werden nit in das Gericht 
gebracht, Sondern durch Gerichtsentſcheidung in ihren Falgen über 
die Berfonen gebracht, auf deren Namen fie in den Alten gebucht 
find (ugl. Pf. 94, 23; &. 9, 10 und Hiab 2, Al u.a). Iſt 
nun y9 om ma am Die qualitative Alternative, weiche der Begriff 
moyoan ba in fi befaßt, fo lautet der Satz: „denn das ganze 
Berbalten (eines Menſchen), #8 mag nun gut oder böſe fein, wird 
hie Gottheit nermöge vichterlihen Spruches (oder „im Berisht" 
vgl. 3, 17) kommen laſſen (oder bringen) üher alle Inhaber 
degsfeihen“ (ober über jeden an ihın Beteiligten, Über die durch 
feinen Hefitz qualifizierten Subjekte). So glaube ich nad der 
Analagie der Sprache des Buchen, welche den Meilen, den Thoren 
zu den byd entweder der Weisheit oder her Thorheit rechnet 
(7, 12; 8, 8), umd die Angehörigen einer Rategorie deren mıhya 
nennt (12, 11), ben jedenfalls auf ein perſönliches Subielt und 
nicht sin neutraleß Ding zu deutenden bunklen AJusdruck goyn 5a by 
erffüren au dürfen; er ift aus mbya 32 hy, deſſen Guffiz auf 
mes ba zurückweiſt, orrumpiert. Der alte Nefer aler, weicher 
zu hiefem zweideutigen Ausdrucke (denn das Suffir Ionnte jo auch 
auf pw bezogen werhen), an den Rand ſchrieb: „dieſes ift jeder 
Menſch“ ader „d. h. alle Menſchen“, Kat noch by ba dy ger 
leßen und riehtig gedeutet; fo daB durch feine Glaſſe meiner Ver⸗ 
mutung sine wunſchenswerte Deitikigung ermächt. . 
Habe ih im Voxſtehenden im glägemeinen den Sinn der Au⸗ 
Berungen dieſes Epiloges über das Buch und deu Mann Kphrleih 
richtig getroffen, In wird der Lejer in Zukunft nicht mehr erwarten 
hürfen, nur ſolches ig dieſem Buche und alles das und fa ge 
ihrieben zu finden, was und wie a9 der Verfqaſſer Der Samm⸗ 
lungen urſprünglich entmarien hatte. Er wird Yuan harnberein 
darauf gefaßt fein müſſen, daß ſich die Meihen der uripringlicken 
Betrachtung unterbrochen zeigen ppn freiaden Elementen, melde 
der andere Hirte als Palligtip und Gegengift zus Verhütung jgf- 
ſcher Auffaſſung der Meinung des Loheleth eingefügt hat. Dieſe 
Disparatheit wird ihn dann nicht zur Annahme herechtigen, daB 





176 Wright 


hier eine zufällige Verſchiebung der Tertichichten ftattgefunden 
babe, die durch mechanifche Neuordnung wieder aufzuheben ſei. 
Weiter wird er bedenken, daß ſchon Koheleth felber die eigenartige 
Neigung beigelegt wird, bei der Darlegung feiner Gedanken Sprich» 
wörter zu verwenden und ihnen durch die Art der Cinflechtung 
neuen Sinn abzugewinnen. Solche Tiegen 3. B. in 1, 15. 18 
u. a. deutlich vor und find fchon von anderen Auslegern als folche 
erfannt worden. Er wird alfo nicht um des ſich hier offenbaren- 
den Abftandes des Tones allein willen ein kritiſches Fragezeichen 
fegen dürfen. Endlich fagt zwar der Herausgeber im Epilog nicht, 
daß er ausgelaſſen und umgeordnet habe, als er die Sammlungen 
Koheleths herausgab. Aber er Teugnet e8 aud nicht, und da er 
folchen Widerwillen gegen lange litterarifche Ausführungen und 
nachdenfliche theoretiiche Grübeleien an den Tag legt und fich fo 
beforgt zeigt, den eigentlichen pofitiven Endzwec der Betrachtungen 
bervorzufehren, fo iſt e8 möglich und ſogar wahrjcheinlih, daß er 
die Betrachtungsreihen, die ihm vorlagen, bei der Wiedergabe 
fürzte, daß er einige ganz ausließ, ja auch, daß er nicht überall 
die Reihenfolge beobachtete, welche Kobeleth felber intendiert Batte. 
Unter diefen Umftänden Tann es in abstracto möglich erjcheinen, 
daß wir durch die eine oder andere Umorbnung einen Zuſammen⸗ 
bang erhalten, der der urfprünglichen Intention des Koheleth näher 
fommt; aber da8 Buch diefes letteren ſelbſt wieberherzuftellen, er⸗ 
Häre ih von vornherein für eim vergebliche8 Unterfangen. Es 
fehlt das objektive Kontrolfmittel, durch deſſen Anwendung allein 
wir und vor Illuſionen hüten fünnen, das ift bier die un» 
mittelbare Berührung mit dem erften Autor, die are Einficht 
in feine Abfiht und feinen Plan, und die Gewißheit, daß aller 
Inhalt des Buches nach einer in jenem Plane gelegenen Ordnung 
dem litterarifchen Zwecke dienen fol. Denn Koheleth redet nicht 
unmittelbar zu uns, fondern der Verfaſſer des Epiloges fteht als 
Dolmetfh zwiihen ihm und uns; nicht das Buch Koheleths 
haben wir vor und, fondern ein Buch, in welchem ein fpäterer 
Lehrer uns nad beftimmten püdagogifchen Grundſätzen die Ge⸗ 
dantenreihen des Koheleth dolmetſcht. Die nächfte Aufgabe wird 
es alſo bleiben, unter dieſem Gefidhtspunfte das vorliegende Buch 


The book of Koheleth. 177 


in feiner Eigenart zu begreifen. Wollten wir aber in der Mei- 
nung, den Koheleth „an fich“ (um mit Kant zu reden) erfaßt zu 
haben, anfangen, das vorliegende Buch auseinanderzuncehmen und 
es im Geiſte Koheleths anders wieder zufammenzufegen, fo fönnte 
e8 uns gefchehen, daß wir nach dem Schatten, nach einem non 
existens haſchten und darüber das uns wirklich gegebene, reelle 
existens zerftörten und verlören. 

Daß der Herausgeber übrigens nicht bloß ariomatifche Weis- 
heitsſprüche eingefegt Hat, fondern auch fonft ändernd thätig ge- 
weien ift, hoffe ih an dem zweiten Punkte zeigen zu können, 
ben ich oben noch zu behandeln verſprach; das ift der Name nbrip. 
Bei der Beleuchtung desfelben laſſe ich die jeit alten Zeiten übliche 
Deutung desfelben als eines um feines appellativifchen Sinnes 
willen erfundenen Mannesnamens = concionator einftweilen außer- 
at. Denn wenn appellativifch gedeutet, ift nbrıp fein Mannes- 
name 5); wäre er das aber, fo fünnte mbap nicht denjenigen bezeich⸗ 
nen, der eine Gemeindeverfammlung veranftaltet, das Heißt bynpn 
als verb. denom. von 5m. Das Dal kann nur bedeuten 
„jammeln, zufammenführen, vereinigen“. Hieße es aber auch 
Beranftalter einer Gemeindeverfammlung, jo bebeutete diefes doch 
nit darum ſchon einen Volksredner, weil im Tateinifchen con- 
cionator diefer Übergang zu finden iſt. Hieße es aber „Volks⸗ 
redner“, jo wäre dieſes, ftrikt genommen, ein unpaſſender Aus- 
drud für den Verfaſſer, der offenbar nicht vor einem großen 
Haufen redet; nehmen wir den Ausdrud aber fo allgemein, daß 
er überhaupt jeden bezeichnet, der feine Betrachtungen, geiftigen 
Beſitztümer dem Publikum durd Schrift mitteilt, fo wäre nicht 
zu verftehen, daß dieſer finguläte Mann und fein finguläres Bud 
mit einem fo gar nicht fingulären und fignifilanten Ausdrude bes 
zeichnet worden fein follen. 

Diefe nach allen Seiten Hin fchlechtfundierte Erklärung kann 
nichts weiter für fich anführen, als die Thatſache, daß der Ver- 
faffer des Eptloges ben weiſen Mann und Lehrer, deifen Buch er 
herausgiebt, ſchlechtweg wie mit einem Eigennamen nbnp ohne 
Artikel nennt. Aber er drückt auch nirgends aus, daß die et- 

Theol. Stud. Jahrg. 1885. 12 


178 Wright 


waige appellativifche Deutung, die man dem Namen geben könnte, 
für ihn irgendweldde Beziehung auf diefes Buch babe. Denn er 
redet von Koheleths Lehrthätigfeit nit mehr, als von feinem 
Forſchen, feinen ftiliftifchen Neigungen, feinen redlichen 
Abfichten, feiner ungewöhnlichen Weisheit. Kurz, der 
Maun heißt ihm Koheleth, und der Name tft nur eine zufällige 
Nummer, die gerade auf ihn gefallen if. Ihn fo zu nemen, 
fonnte aber nicht wohl ausbleiben, wenn die vorliegenden Samm- 
(ungen den Titel nbamo 127 trugen, und nachher der in erfter 
Berfon vedende Verfaſſer ſich als ehemaligen König bezeichnet. Er 
ſchien alfo fich felber Koheleth zu nennen. 

Aber diefe Behandlung ded Namens widerfpricht dennoch den⸗ 
ienigen, welche da8 Buch jelber zeigt. Sehen wir von der einen 
Stelle 1, 12 vorläufig ab, jo redet der Verfaſſer ftets nur im 
der erften Perſon von dem, was er erlebt, erforjcht, gedacht, 
gefhlefien habe; feine Rede ift ein Monolog, oder beſſer eine 
Selbftihilderung vor einem Zuhörer, dem er das zugute kommen 
laſſen will, was er auf Grund einer weite Gebiete dominierenden 
Stellung, in einem langen, ber Beobachtung gewidmeten Leben mit 
feinem eigenen Herzen ausgemadt bat. Wenn nun in einer fo 
gearteten Rede bloß dreimal und in dritter Perſon von 
Koheleth geredet wird, fo exjcheint von vornherein Koheleth als 
eine dritte Größe neben dem Redner (ich) und dem Zuhörer (du). 
Wenn wir ferner fehen, daß an allen drei Stellen dieſem Sub- 
iekte Lediglich das Prädikat „Hat gejagt” beigelegt wird, jo haben 
wir den unweigerlichen Eindrud, daß der Redende Koheleth nur 
nennt, um einen bebeutfamen Spruch auf ihn zurüdzuführen, d. h. 
weil er an dieſen Stellen nicht eigene Worte bringt, fondern ci- 
tiert. Endlich beachten wir, daß es der Anfang (1, 2) und der 
Schluß der Rede (12, 8) tft, der als ein Ausſpruch des Koheleth 
bezeichnet wird; und daß es derjelbe Satz ift, der als zu erwei⸗ 
fendes Thema dort und als erwiejened bier fi aus der mitten 
inne liegenden Betrachtung ausfcheidet und ausdrüdlih auf ein 
drittes Subjeft zurücdgeführt wird. Natürlich ift dieſes doch nur, 
mern jener Lehrjag von diefem Subjekte formuliert ift, und ber 
Medende ein Intereſſe daran Hat, daß der Zuhörer ihn ſelber (das 


The book of Kpheleth. 179 


redende Ich) und das dritte Subjekt, deſſen Ausſpruch er eitiert, 
unterfcheibe. 

Daraus ergiebt fi aber, daB der Verfaſſer des Epiloges 
gegen dieſe klare Abficht des von ihm herausgegebenen Buches 
gehandelt Hat, indem er deu Nedenden mit dem citierten Subjekte 
taentifizierte und den Women bes letzteren als Eigennamen auf 
jenen übertrug. Tür ihn bedeutet nönp etwas anderes als für 
das Buch; darum gebraucht er dns Wort auch grammatiſch an⸗ 
ders und fagt nicht bloß in 12, 10, fondern jchon in 12, 9 
nbrip, obwohl dach das Muh Selber in V. 8 mit Aymam Son 
ſchloß. Diefer Unterſchied ift fehr charafteriftifh. Freilich ſcheint 
dos Buch Selber nerishiehene Behandlung des Namens zu zeigen, 
wenn wie zwar 12, 8 nonpn wa, dagegen in bemfelben Safe 
1, 2 nömo nen und an der dritten Stelle 7, 27: Abap mmms 
leſen, atfo die ganze Muſterlarte der Möglichkeiten, bald als ap» 
peſllativiſchen Nominnlausprud mit Aptikeldetermination, bald ale 
Eigennamen, und dann wieder dns eine Mal als Namen eines 
Mannes und das andere Mal als Namen eines Weibes. Aber 
das iſt vur ein böſer Schein im maſoxethiſchen Texte. Der grier 
chiſche Überſetzer, welcher in 1, 1. 12; 12, 9 u. JO regelmäßig 
nonp mit Aninaeozıis wiedergiebt, hat, da er in 1, 2 und 
7, 27 (28) und 12, 8 tvog der zweimaligen Nähe dee artikel⸗ 
(ofen Wartes oͤ xxa. ſchreibt, in feiner hebräiſchen Vorlage an 
allen drei Stellen mbmpmn vorgefunden. Dieſes iſt in ber That 
unhedingt richtig, da 13, 8 und I, 2 nach der Abſicht des Des 
dendan ühereinftimmer ſollen nnd deshalb auch übereinftimmen 
uürfjen. Derſelbe Medner, der fo lebhaftes Intereſſe daran Hat, 
diefen identiichen Satz auf ein benanntes und beitimmtes Subjelt 
zurückzuführen, kann nicht die Nachlähfigkeit oder den Mutwillen 
haben, durch Variation des Namens die beitimmate Morftellung des 
Subjektes fo im Lefer zu verſchieben, daß fie ſich nicht gleichhleihen 
faun. Am offenbarften ift die Unerträglichleit ſolcher Vaxigtion 
in 7, 27, wo der maforethiiche Text eben denſelben als Weib zu 
denen befichlt, der am den heiden Übrigen Steffen trotz feines 
weiblichen Namens ala Monn fungiert. Selbſt die konſervativſten 
Berehrer bes taxtus reseptus Haben ſich deßhalb Hier erlaubt, 

12* 


180 Wright 


ftatt nbap amon vielmehr nad 12, 8 nbapn "om herzuſtellen, 
und müffen Tonfequenterweife und in Gehorfam gegen den befjeren 
Text des Griechen es auch in 1, 2 als notwendig anerkennen. 
Aber in dieſem Falle Tiegt es als zweifellos auf der Hand, 
daß der vermeintlich mit dem Autor des Buches identifche, weil 
diefelbe Sprache fprechende Verfaffer des Epiloges das Wort ndmp 
anders aufgefaßt und gebraucht bat, al® der, welder die Ans⸗ 
ſprüche von ndapa citiert. Für den Epilog ift nönpn zum 
Eigennamen geworden und Hat deshalb den Artikel verloren, 
für den Redner des Buches ift es die Bezeichnung eines Subjeltes 
nah dem Merkmal feiner Thätigfeit und um dieſes ap- 
pellativifchen Sinnes willen des Artifels fühig und benötigt. Man 
wende dagegen nicht 1, 1 u. 12 ein, wo das Wort als artikel⸗ 
loſer Eigenname erjcheint. Denn im erfteren Falle wäre ja immer 
die Möglichkeit, daß 7 72 als Genitiv das Wort mbmp deter- 
miniere und deshalb der Artikel habe fortbleiben müffen. And 
was 1, 12 anlangt, fo ift es auf alle Fälle unnatürlih und un⸗ 
erträglih, daß der Redner, der überall von fich in der erften 
Perfon redet, von nbapm aber immer als von einer dritten Per 
fon, deren Ausſprüche er citiert, fich felbft auf einmal nbmp 
nennen und feine erſte Perfon mit feiner dritten unterjchiedslos 
tonfundieren und den Zuhörer duch Unterfcheidung zweier nbp 
verwirren follte. Denn die Identifizierung würde ja für alle bie 
nicht erreicht, welche zwifchen nbmp und nbapn bie große Kluft 
befeftigt fehen, die zwifchen der einfeitigen Benennung eines Hauſes 
nach feiner Nummer und der ebenjo einfeitigen Benennung 
desjelben nach feiner Bauart mittenimme liegt, und welche das 
Haus mit der Zahl aht darum nicht für das mit acht Fen- 
ftern balten, weil in beiden Bezeichnungen dasfelbe Wort acht 
vorfommt. Und welche Thorheit hätte der Redner doch begangen, 
wenn er mit der Ausjage, er fei einft König nicht Über das noch 
ungeteilte, unter David und Salomo zufammengehaltene Reich 
Israel, jondern über dasjenige Israel geweien, welches nicht 
deportiert und zerftreut, fondern in der berühmten und be— 
fannten Stadt PBaläftinas, in Jeruſalem anfäffig war, 
die für feine Abficht ganz gleichgültige Notiz Hinzugefügt hätte, er 


The book of Koheleth. 181 


babe als folder den Namen Koheleth geführt! Wollte er die den 
Eindrud feiner Säge und induktiven Ausführungen verftärtende 
litterariſche Illuſion erzeugen, er habe feine Beobachtungen als 
König über das durch feine Religion und Weisheit feit Salomos 
Tagen in der Welt berühmte Jeruſalem, dieſe ferne Stadt, an⸗ 
gefangen, fo mußte er fich ungenannt laffen. Dann fonnte man 
ihn für einen alten IJoahas oder Jojakhin, für einen belehrten 
Manaſſe in Babel, oder für einen in Verwandlung aus dem Tode 
wiebergefehrten Salomo halten. Nannte er ſich aber nbap, fo 
war die Illuſion von felbft zerftört; denn man Tonnte ihm nach⸗ 
rechnen, daß es nie einen König in Jeruſalem aus Davidiſchem 
Gefchlechte mit diefem Namen gegeben hat. Ya ich Halte e8 auch 
für unwahrfcheinlich, daß er bei feiner Abficht fih nur m7 72 ges 
nannt babe. 

Iſt demnach die Selbftbezeichnung des Autors als nbnp an 
ih unwahrjcheinlich, gegen die fonftige Weife der Rede, und neben 
dem überall fonft in feinem Buche gebraudten nbapın geradezu 
unmöglich), jo brauchen wir bloß die feftftehende Thatjache hinzu⸗ 
zunehmen, daß ein Späterer dieſes Buch herausgegeben bat, wel» 
er mono ohne Artilel für den Eigennamen des Autors Bielt 
(12, 9. 10), um zu erfennen, daß diefer es auch war, welcher 
erſtens, um die von ihm vorausgejegte Identität des citierten 
Redners nbapn mit dem citierenden Redner a (1, 2 und 
1, 12) feitzuftellen, Hinter ax in 1, 12 den vermeintlichen Eigen» 
namen nbap einfegte, und zweitens auf Grund von 1, 12, da 
nur Davidsſöhne Über das jerufalemifche Israel Könige gewefen 
find in 1, 1, damit der Leſer Hinter 1, 2 nicht durh 1, 12 
überraſcht und verwirrt werde, die für ihn felbftverftändliche Appo⸗ 
fition obunasa bo 7 72 einfchob. 

Durch diefe Unterfcheidung zweierlei Sprachgebraudhes in Be⸗ 
ziehung auf den Ausdrud nbap, welche genau dem Unterfchiede 
zwijchen dem urſprünglichen Werke und dem überarbeitenden ſpü⸗ 
teren Herausgeber desjelben entjpricht, löft fich die Verwirrung 
auf, welche jener Ausdrud durch feine mannigfaltige und disparate 
Gebrauchsweife dem Lefer bisher bereiten mußte. Das Buch felbft 
hieß in der Überfhrift nbap 137 und citierte im Sontegte drei⸗ 








182 Wright 


mal Ausſprüche von Aympn, ein Unterföhteb, wie wenn bir ein 
Buch überſchrieben dächten myim 32 und der in bdemfelben in 
erfier Berfon redende Verfaſſer an entfcheidenden Punkten citierend 
fagte: jo und fo mImI myow. Da würde der Titel fagen, nicht, 
dag Im Wolgenden das befannte Geſetz ganz vorgelegt werben, 
fonbern daß Elemente des Gefeges darin zur Sprache kom⸗ 
men follen, im Unterjchiede von anderen Gegenftänden litterariſcher 
Mitteilung. Und die Eitierformel würde fagen, „was bu jekt 
hörft, ift ein eigener Ausſpruch des Hiftorifch befannten und als be⸗ 
ftimmte Einheit vorausgeſetzten Geſetzes“. 

Aber nun erhebt ſich eine letzte Schwierigkeit. Iſt nämlich 
nbap in 1, 1 eine qualitative Bezeichnung und nit Eigenname 
des Autors, iſt ferner nbmpm, was jeder anerkennen muß, der du 
weiß, bag Eigennamen feinen Artikel tragen künnen, die appella- 
tiviſche Bezeichnung eines beſtimmten Gegenftandes nach feinem 
Weſenbmerkmale bder feiner harakteriftifchen Thätigkeit, fo Lebt mit 
der appellatisifähen Bedentung auch unvermeidlich die Funktion des 
auslautenden I wteber aufz denn der das Wort fehuf, hat zugleich 
auch den agens nit in der zunächft gelegenen Form eines 
Mannes (bp), fondern diefe verfhmähend, in der Geftalt eines 
Weibes erichaffen. Und dann ſcheint er dieſe abſichtlich vorge 
zogene weibliche Form wieder vergeſſen zu haben und zu der ver⸗ 
ſchmähten männlichen zurückgekehrt zu ſein, wenn er im Sprechen 
ſein Gebilde nicht Weib, fordern vielmehr Mann fein läßt und 
ftatt nbapm mron fagt: nsmpm Nor, was ungefäht fo klingt 
wie im Deutfchen: „o über das eitelfte Weſen“, fagte er, bie 
cöllectrice nämlich, „das Ganze ift Eitelkeit“. Kurz in dem⸗ 
felben Maße als nbp durch ben Artikel feine appellativifche Be⸗ 
deutung wiedergewinnt, hört die Möglichkeit auf, dieſes femininiſche 
Nomen mit maskuliniſchem Prädilat zu konſtruieren, wie ed an 
allen drei Stellen gejchehen zu müſſen fcheint. 

Indeſſen beruht. diefer Schein ja nur auf der oben bewiefenen 
Notivendigkeit zwiſchen on und nomp ein m al8 gegebenes Texts 
element anzuerkennen und auf der nicht notwendigen, fondern wills 
kürlichen Deutung diefes m als Artikels des zweiten, anftatt als 
determinntiven Affixes für das erfte Wort, welche die heutigen 


The beok öf Koheleth. 188 


Erflärer fir jelbftveritändlich Halten, und welche ich der Teichteren 
Argumentation halber bisher habe gelten laſſen. Yet wage ich 
mit berfelben Freiheit, welche ſich die Ausleger erlaubten, indem 
fie nach 12, 8 die Stelle 7, 27 in m non umformten und mit 
befferem Rechtsgrunde, umgekehrt die Formen 7 on in 1, 2 und 
12, 8 nad) Maßgabe von 7, 27 in mon zurädzuverwandeln. 
Mit befjerem Rechte: denn es ift Leicht zu erklären, daß ein 
Schreiber, der bier überall denfelben Autor zu Hören meinte und 
deshalb nbro für feinen Eigennamen Hielt, an ben Stellen mit 
fonfurrierendem  maskuliniiches Prädikat las; aber nicht, daß er 
an einer einzigen Stelle verfehentlich ben Mann zum Weibe machte 
und diefes Verſehen fi ohne Korreltur verewigte.. Wollte man 
fagen, dag die unwillkürlich nach überwiegender Analogie Tefenden 
Schreiber gerade in 7, 27 einmal nbmp> als Weib gedacht und 
deshalb auch femininifches mon gelefen Haben, fo muß diefe Stelie 
doch wohl ihrem ganzen Konterte nach dieſes Gefühl für die ap⸗ 
pellativiſche Bedeutung des Namens und darum für feine weibs 
liche Natur geweckt Haben; und echte Überlieferung kann bewirkt 
haben, dag man in ber nbnp des 27. Berfes die geſuchte 
Weisheit von V. 22—25 und V. 28a und damit ein Weib 
erfannte, welche dem verderblichen Weibe B. 26 gegenüberſteht, 
„das giftiger als der Tod, fehlimmer als Yüger, an Stelle bes 
Herzens und der Hände, mit dem ſonſt Weiber lieben und um⸗ 
armen, Ne und Schlingen trägt”. Aber aud) abgefehen hiervon, 
ift diejenige Methode entſchieden richtiger, welche bei ber Erklärung 
eines funftvoll gemünzten Ausdruckes nicht von den Stellen aus⸗ 
geht, wo er als fertige Minze ausgegeben wird, wie 1, 2 und 
12, 8, fondern von derjenigen, wo wir ihn in feinem Werden, in 
dem Metalifiuffe noch beobachten können, aus dem außgejchieden 
er erft zur firierten Münze wurde. Und das ift die Stelle 7, 27; 
bier ift die Fundftätte für die Elemente, welche zu nomp ergünzt 
werden müſſen, um feine Herkunft zu begreifen umd die Objekte 
zu erfennen, auf welche die in non» ausgebrüdte charafteriftifche 
Thätigkeit bezogen werden fol. Die frühere Erklärung ergänzt ja 
auch, aber ans der Phantafie und, was fich nicht von felbft ver- 
ſteht, als Objekt „Iernbegierige Menſchen“. Dean rbnp foll ein 





184 Wright 


Redner fein, der eine Gemeinde Ternbegieriger Menſchen um fich 
und feinen Vortrag gefammelt hat. In 7, 27 haben wir aber 
den vom Verfaſſer jelbft gewollten vollen Gedanken, da heißt das 
Subjelt yranin xun5 nmsb no nbrp, das ift — es giebt feine 
andere richtige Auslegung — eine „fie, welche eine zum ans 
deren hinzubringt, eine Thatſache mit der anderen, einen erften 
Sat mit einem zweiten fombiniert, um auf diefe Weife ein Rech⸗ 
nungefazit oder einen Schluß von Gültigkeit zu gewinnen“. 
Die, Auffpärer von Gräcismen werden, wenn ſie dieſes griechifch 
denen: 7 avAdoysorıx) i. e. 7 ovAdoyılousyn (oder colligens) 
Ev 1005 Eregov ToV sügeiv (avA)Aoysouov, jagen müſſen, daß 
die griechiiche Definition 6) des ſyllogiſtiſchen Verfahrens 
bei der Induktion nicht wohl anders in hebräifchen Worten 
habe ausgedrückt werden können als bier. Ohne Bild ift das Sub- 
jet nbr> alfo offenbar eine Methode des Denkens, ber 
MWeltbetrahtung, durch welche der Weife zu einem Syſtem von 
gültigen Wahrheiten und von ber dee der Welt und des Menſchen 
entfprechenden fittlichen Regeln zu gelangen ſucht. Ich erinnere 
nur daran, wie charafteriftiich e8 für die Betrachtungen des Autors 
ift, zu der einen Seite der Sache nachher die andere Seite Hinzu- 
zunehmen und den Unwert der einfeitigen Betrachtung barzuthun 7). 
Diefer Methode fteht die andere gegenüber, welde den 
Thoren harakterifiert, und welche darin befteht, daß ber 
Menſch unbefinnlic) dem jedesmaligen Impulſe folgt, daß er jede 
momentane Vorſtellung und Geftalt für die Wahrheit und das 
Weſen nimmt, jeden Zrieb für eine zu realifierende Luft, jeden 
lockenden Gegenftand für ein zu gewinnendes Gut, ohne zu bes 
denen, daß diefe Eindrüde mit den Dingen beftändig wechſeln. 
Da wandeln fih ihm dann beftändig die Wahrheiten in Lügen, 
die Güter in Übel, er verftrict fih, verwirrt und betrogen durch 
lauter Eitelfeiten, in verderblihe Naferei. Denn die Wahrheit 
und das Gute Tiegen in unerreichbarer Ferne und unergründlicher 
Tiefe für den, der nur dem erjten beften finnlichen Reize und 
Augenschein folgt; nichts der erjcheinenden Dinge ift in ſich felber 
und an fi) wertvollen Weſens für den nach dem Ewigen hun⸗ 
gernden Menjchen. 


The book of Koheleth. 185 


Im Bilde gedadt ift die Methode der Thorheit jenes ver» 
derbliche Weib 7, 26, das darauf begierig, jeden Menſchen zu 
fangen, Herz und Hand einem jeden PBaffanten zumirft, und fi) 
verderblicher al8 der Tod zu erfahren giebt, indem der Angelodte 
ftatt geliebt und gehegt, fich alsbald gefangen und gefnebelt findet. 
Die Methode der alles zufammenfafjenden (na) Weisheit aber 
(nawrm man), welche weiß, daß das Gute und Wahre nicht 
in der Oberflähe und in dem Stücwerle der Erfcheinungen 
unmittelbar ergriffen werden Tann, fondern als das Ferne und 
tief Wohnende (V. 24) nur durch umfafjende, andauernd fort- 
gefegte Betrachtung der Welt mittelbar erſchloſſen und 
gefunden werden Tann (nun asob), ift im Bilde jenes 
andere Weib, welches fich ferne und verborgen hält, welches 
auh der Redner troß alles Suchens und des Verlangens ſei⸗ 
ner Seele lange nicht fand (V. 28a) und in demfelben Maße, 
als er fie zu erreichen Hoffte, wieder ferngerüdt fah (V. 23); 
fo wenig ift fie begehrt, fo wenig find ihre Wohnung und ihre 
Wege befannt und einladend, fo vornehm hält: fie fi zurüd, 
jo mühevoll ift der Zutritt zu ihr. Was Wunder, daB fie 
ibm, als er fie endlich gefunden, erklärte: unter taufend Men⸗ 
chen gelinge dies kaum einem, und unter denen, welchen es ge 
lungen, gebe es kein einziges Weib! Iſt es doch nicht de 
Weibes Natur und Aufgabe, felbitändig das Rätſel der Welt durd 
geduldige und Fühle Sammlung aller Inftanzen mit dem fchließen- 
den DVerftande zu ergründen. Darum ift fie dem Gejee des 
Mannes unterworfen. Aber eben dieſes felbe göttliche Weib, das 
fich endlich finden ließ, um ihn zu lehren, flärte den Weifen auch 
dahin auf, daß diefe verderbliche Herrichaft der Thorheit unter den 
Menfchen und diefe geringe Bemühung um die das Geficht des 
Menſchen erhellende und die Löſung des Welträtſels gewährende 
Weisheit (8, 1) nicht ein von Gott der menſchlichen Natur in 
tückiſcher Abficht oder Nachläffigleit eingegründeter Defekt fei, ſon⸗ 
dern daher komme, daß die Menfchen die Schlüffe und Ges 
danken ihres eigenen Herzens und Willens gefucht haben 
(7, 29, Ties ftatt a9 man, was ja nicht = on = 
Syllogismen der Prozejfierenden, der Advokaten fein fol, viels 








186 Wright 


mehr nad) Gen. 6, 5 oyyb’n, entftellt durch Verluſt des oberen 
Hakens am 5). 

ft diefe Auslegung von 7,23 — 8,1 die natürliche und 
richtige, fo entjpricht diefer erzählende Abjchnitt genau dem anderen 
1, 12ff. Der Redner erzählte von ſich, wie er im Beſitze aller 
lernbaren Weisheit doch zu Schanden geworden in bem Bemühen, 
einen bleibenden Gewinn, ein reelles Gut, einen pofitiven Fort 
ſchritt als das Unterjcheidende der verfchiedenen Lebend- und Ver⸗ 
haltungsweifen zu erkennen, bis er fich auf die beſchwerliche Fahrt 
und den vielfach abjchreddenden und täujchenden Weg nach der 
weifen Frau nbrp gemacht und in raftlofem Eifer und geduf- 
digem Ausharren endlich ihr begegnet und von ihr, wie Numa 
von der Egeria, in Unterricht genommen die befriedigende Löſung 
de8 Menſchenrätſels erkundet habe. So nannte er diejenige 
Denkweiſe, welde Anfang und Ende einer Sathe, Vorder- und 
Rüdfeite eines Dinges, Licht und Schatten, Thefe und Antithefe 
in den Dingen und Erſcheinungen in ınnfaflender Betrachtung zu: 
fammenbringt, zufammenhält, um dann erit den mittel: 
baren Schluß des Urteils über den Wert und das Wejen des 
Gegenftandes zu wagen. Denn genau jo wie das grierhifche av4- 
Agysıv, colligere und svAloyileiv und ovAdoyilscoder tft das 
Berb bp zu verftehen, von welchem nbmp ald 7; ovAloyiLovoa 
(sc. goplae) ober avAdoyıkousen oder ovAloysorıxı) gebildet ift; 
und biefes an einer Stelle, welche der nbp als charakteriſtiſchen 
Anhalt ihrer Thätigleit eben das beilegt, was die Methode des 
Induktionsſchluſſes charakteriſtier. Als ein Schüler diefer Me⸗ 
thode der Betrachtung ift er zu feinem Frieden und zu entjchie- 
dener Oppofition gegen die weitverbreitete Weltbetrachtung gekom⸗ 
men, welche in den Tag Bimeinlebt und in dem Wahne, zu er- 
werben, zu gewinnen, zu bleibendem Genuß und Glück zu gelangen, 
leerem Scheine nachjagt umd das unbewußt aufbraudgt oder unerkannt 
fahren läßt, was Gott an reellem Wejen und Glück in des Men⸗ 
fchen Bereich gelegt hat.2) Und wenn er nun diefe Miethode der 
Weltbetrachtung perfonifigieren wollte, wie das Bud der Prover⸗ 
bien (c. 5. 8. 9) Weisheit und Thorheit ale zwei Weiber denkt, 
welche in verfchiedener Weife und mit entgegengeſetztem Effekte die 


The book of Koheleth. 187 


Menfchen zu fich einladen, fo durfte er jener Lehrerin den nad 
feiner appellativiihen Bedeutung für ſie charakteriftifchen Namen 
norp geben, feine Betrachtungen np ırı nennen (1, 1), weil 
fie nach den Grundfägen angeftellt find, welche er von jener ge» 
lernt, und Entfaltung von Ausfagen find, welche er von jener ges 
hört hat, wie denn gleih 1, 2 == 12, 8 und 7, 28b. 29 fid 
ausdrädtich als folche jelbft bezeichnen. Redet doch hier ein Sub- 
jett, welches Gott und Menſchen zufehend, auch von beiden, ebenfo 
gut wie von dem Weiſen, der fie citiert, und von feinem Zuhörer 
unterfchieben werden will. in jolches, über der Meenjchheit 
ftehend und ihr ganzes Treiben überblicend, kann über den Men⸗ 
chen, wie er empirifch iſt, das Urteil füllen (1, 2): „o des eitel- 
ften Weſens, da8 Ganze iſt Eitelleit*. Denn nicht irgendein un- 
faßbares, unbeftimmbares Ding ift e8, über welches diefer Ausruf 
ergeht, Tondern das Menſchenkind, das feine Mutter, den das erfte 
Weib dam nannte, ohne zu ahnen, daß diefes Präbilat der ganzen 
Gattung gelte, das ift in feiner ganzen Gattung dan, und ihm 
gegenüber find alle anderen mbar noch Realitäten, gleichwie dem 
servus servorum gegenüber alle jonftigen servi al® liberi und 
domini gelten müffen und dem ob bp gegenüber alle Könige 
fonft als Unterthanen. 

So Hat denn der Weife, der diefes Buch, diefe Sammlungen 
(mpox 12, 11) entworfen und komponiert Bat, die Weisheit, von 
weicher er Methode und Prinzip der Betrachtung lernte, hypo⸗ 
ftafiert und ale Weib perfonifiziert und ihr einen Namen gegeben, 
welcher feiner Etymologie nach ihre Weſen als fo zu jagen das 
principium colligendi et computum efficiendi ober concludendi 
durchſichtig bezeichnet. In durchgängiger Übereinftimmung mit 
feiner Litterarifchen Filtion behandelt er an allen drei Stellen, wo 
er fie namentlich citiert, den Namen als femininum, indem er 
ſagt nbrp row. Dagegen der Herausgeber des gegenwärtig vor⸗ 
Tiegenden Buches Hat zu einer Zeit, wo der gemeine Gebraud) 
längft in ungenauer Kürze, aber zur Orientierung ausreichend, den 
Berfafjer nach feinem Buche ohne weiteres felbft Koheleth nannte, 
den Namen Koheleth als wirklichen und deshalb gefchlechtlofen 
Eigennamen des weiten Mannes behandelt in 12, 9. 10 und 





188 Wright 


darum, um bie Shentifizierung der nbmp 1, 2 mit dem Ich des 
Verfaſſers in 1, 12 zu erzwingen, wahrfcheinlich jelbft fchon in 
das Buch 1, 1 die Appofition „Sohnes Davids, Königs in er 
rufalem“, und 1, 12 die Appofition „Koheleth“ zu 38 einge 
ſchoben. 

Dieſes Mißverſtändnis beruht aber auf einer ſolchen relativen 
Gleichgültigkeit gegen die Kunſt und Feinheit des litterariſchen 
Rahmens, in welchen der erfte Verfaſſer fein Gedankengebilde ge⸗ 
faßt hat, daß jede Bürgfchaft dafür abhanden fommt, dieſer Heraus» 
geber habe in ſachverſtändiger Schonung die ganzen Betrachtungs⸗ 
reihen und ihre Okonomie unverletzt und unverändert wiederge⸗ 
geben. Wer alſo, wie Bickell, in der ungerechtfertigten Mei⸗ 
nung, wir befäßen in dieſem Buche alles, was der erſte Autor 
zulammengeftellt und ansgeführt habe, nur hier und da durch einen 
Fehler in der mechanischen Buchbinderarbeit in verlehrte Ordnung 
geraten, die urfpräingliche Ordnung bloß durch ebenfo mechanifche 
Umbindung wiedergewinnen zu können gemeint, wird, ich wieder: 
hole e8 nun auc von dem Nefultate diefer letzten Erörterung aus, 
Gefahr Laufen, an die Stelle einer wirklich exiftierenden, wenn auch 
mangelhaften und die urſprüngliche Intention vielfach, verdedenden 
Drödnung, eine bloß hypothetiſche zu fegen, welche, je klarer fie 
ift, um fo gewiffer nicht das wirklich eriftiert habende urſprüng⸗ 
liche Buch Koheleth wiederfpiegeln wird, fondern nur die Vorſtel⸗ 
lung des Heutigen Gelehrten über die Ordnung, die e8 haben 
müßte, wenn er fich nach jeiner Weife zu denken darin leicht follte 
zurechtfinden fünnen. 

Möchten die weſentlichen Aefultate diefer Unterfuchung neben 
den Buche Wrights, an das fie anknüpfen, vom Leſer als ein 
Beitrag zum Berftändnis des ebenfo bedeutenden als fchwierigen 
ecclesiastes und von Herrn Wright jelber als ein Zeichen der 
herzlichen Dankbarkeit für fein fchönes Geſchenk angefehen werden! 
Dazu ift e8 freilich nötig, daß fie nicht zu der Zahl derjenigen 
meiner Freunde und Fachgenoſſen gehören, welche jede neue Ans 
ficht, ob auch noch fo ſehr mit negativen und pofitiven Gründen 
gejtügt, von vornherein ohne Verſuch der Widerlegung ablehnen, 
fo lange nicht wenigſtens eine ältere Autorität dafür angeführt 


The book of Koheleth. ns 


werden Tann, als ob der Glaubentartifel (Augustan. VII) von 
der vera eccleia in perpetuum mansura aud) auf die für die 
Gemeinde des Heiles und den Glauben an ſich gleichyültige Be⸗ 
wegung der philologifhen Ergründung bibliſcher Tertphänomene 
angewandt werden müßte. Es ift aber auch unbillig gegen mid) 
und meinesgleihen. Denn erften®, feit welcher Zeit werden die 
biblifchen Texte nicht mehr von dem Standpunlte aus angefehen, 
da alle Varianten der codices und Berfionen lediglich als zu⸗ 
fällige oder abfictlihe Änderungen des textus receptus zu ber 
greifen fein? Seit wann von meiner Überzeugung aus, daf die 
Zertüberlieferung zwar im ganzen und großen eine au@gezeichnete, 
aber im einzelnen vielfach teil® durch injuria temporum, teile 
durch die rein praftifchen Geſichtspunkte oder das öftere traditions⸗ 
lofe Raten der Konftitutoren des textus receptus korrumpiert 
worden fei und vielfady durch methodifche und vorfidhtige Benutzung 
der ungedrudten Handjchriften und der Verſionen, ſowie durch 
genaue Logifche und rhetoriihe Ergründung des Zufammenhanges 
gebeffert werben lünne? Wo follen wir denn die Autoritäten noch 
fuchen, welche mit ihrem gewiß oder doc vielleicht größeren Ver⸗ 
mögen ebenfo anhaltend und mit derfelben objektiv wifjenfchaftlichen 
Tendenz, wie wir diefe Texte betrachtet haben, aus denen wir neben 
Alten auch Neues fchöpfen, fo dag wir unter ihren Schild flüchten 
fönnten? Zweitens aber, warum foll von den alten Gelehr⸗ 
ten es jest anerfannt werden, wenn fie eine zu ihrer Seit neue 
Anficht aufgeftellt haben, wir aber follen nie „Nagelnenes“ vorzu⸗ 
tragen das Recht haben, wenn nicht mindeften® ein Vorgänger da 
ft? Wer fchütt und deckt denn diefen Vorgänger? Es ſcheint 
alfo erft ein gewiſſer Schimmel bes Alters nötig zu fein, menn 
eine neugeprägte Münze als echt angenommen werden fol. Und 
da heute den alten Gelehrten erlaubt wird, baß fie finguläre Weir 
nungen gewagt haben, fo dürfen wir, die wir die Forſchung durch 
neue Erfenntniffe zu fördern fuchen, Hoffen, biefelben in einer 
künftigen Generation, wenn fie erft angefhimmelt find, aud von 
ben ängftlichen Gemütern anerkannt zu jehen, welchen fie Heute zu 
neu find. 





190 Wright, The book of Koheleth. 


Aumerinungen. 


1) Wie z. B. Kleinert in feiner anregenden und geiftreichen Abhand- 
ung in diefer Zeitfchrift 1883, 9. 4, S. 766. 

2) Die betreffende Schrift Bidells foll nad einer buchhändleriſchen An⸗ 
zeige inzwiſchen erſchienen fein. 

3) Danach ift auch 10, 19 unter Tilgung ber zweiten Überfegung von 
MY) des Wortes dnaxovseras, flatt roũ dpyvoiov ransındası herzuftellen: 
To doyvowy zanewoi av (Ta ndvra). 

4) Es ift diefes ebenfo bloß eine orthographiſche Verſchiedenheit wie in 
&. 4, 2: 139 gegenüber fonftigem 1] 119- 

5) Luther (E. A. opp. lat. v. 21, p. 11): titulus referendus — ad 
ipsius libri nomen. Tüchtige Männer haben Tifchreden Salomos aufgezeich- 
net, und nad) folder concio ift das Buch von ihnen genannt worden non 
quod Salomon ipse concionator fuerit, sed quod hic liber concionetur, 
tanquam publicus sermo. 

6) Bol. Aristoteles (top. 1, 12): dnaywyn * no 109 za9” — 
eni To xayoAov Epodos und (anal. pr. 2, 23): 6 6E Enaywyüs guvälo- 
yıouos To die Tod Eregov daregor 6x00v 7% den ovAkoylaaadum. Fer 
ner Platons Definition des eidos als hervorgehend &x moAlcy alayijaswr 
eig Ev Aoyıou@ Euvvasgovusvwr (Phaedr. 249 B). 

7) Bgl. Luther (a a. DO, p. 7 u. p. 21): colligit S. induc- 
tione quadam perpetua singularium — studia — vana esse, ut ex 
singularibus universalem conclusionem efficiat. — — incipit 
enumerare particularia dislectica inductione universalem ae 
collecturus. 


8) Bol. Luther a. a. DO. p. 7. 8. 


Kiel, Mei 1884. Dr. Kloſtermann. 





Sry wı 3. ©. B. Bogel ia Yripyie. 


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Schüler der oberen Kiaffen höherer Lehranftalten zu« 

fammengeftellt und herausgeg. von Dr. Guſt. — 

und Dr. Johannes Delius . . ; 1 — 
Bir, Eh. A.: Ulrih Zwingli. Vorträge 2.240 


> 02 09 a 


Drnd von Triebe. Andre. Perthes in Gotha, 


Zur gefäligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen 
find an Brofeffor D. Riehm oder Konfiitorialrath D. Köftlin in 
Halle a/S. zu richten; dagegen jind die übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem NRedaktionsgefchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re⸗ 
daftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Palkete 
zu franfieren. Innerhalb des Poftbezirts des Deutjchen Reiches, ſowie 
aus Oſterreich Ungarn, werden Manuffripte, falls fie nicht allzu 
umfangreich find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nidt 
überfteigen, am beiten al8 Doppelbrief verfenbet. 


Friedrich Andreas Perthes. 





; Sn h alt. 


— 


SR Eeite 
Abhandinngen. 
1. Benrath, Wiedertäufer im Seelen den um bie Mitte des 16. Jahr⸗ 
hunderts. . . . 9 
2. Meyer, Die Wahfreiheit des "Willens und die fi cliche — ———— 
lichkeit des Menſchen. ... Be .. 67 


Gedanken und Bemerkungen. 
1. Koffmane, Zu Luthers Botfen und Tiſchreden be an et nee Ze 


Rezenfionen. 
1. Wright, The book 0° Kohelet; rez. von Korea: se 151 





Drud von Friedr. Audr. Pertber in Gotha. 


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Studien und Kritiken. 


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Studien und Kritiken. 


Fine Beitfhrift 
für 
das geſamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. &. Ullmann un D. F. W. €. Umbreit 
und in Berbindung mit 
D. ©. Sanur, D. W. Beyſchlag um D. 3. Wagenmann 


herausgegeben 


D. 3. Köflin um D, E. Riehm. 


Dahrgang 1885, zweites Seft. 





Gotha, 
Friedrich Andreas Perthes. 
1885. 


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Abhandlungen. 


— — — 


Digitized by Google 


1. 
Die Riebesthätigleit der Dentfchen Reformation. *) 


Bon 
Brofeffor H. Hering 
in Halk. 





nl. 
Kampf und Arbeit vom Sanernkrieg bis zum Wotjahr 1529. 


1 


Bon Anfang hatte Luthers Scharfblid die Gefahr erkannt, mit 
welcher die foziale Bewegung, erfüllt wie fie war mit religiöſem 
Pathos und dem Geiſt der Auflehnung, das Evangelium bedrohte. 
Seine Befürchtungen gingen in Erfüllung. Auch die Fähigkeit der 
Reformation, die Forderungen evangeliiher Bruder- und Nächiten- 
liebe heilend, ernenernd, erwärmend in das Vollsleben, in die for 
zialen Verhäftniffe, in die Ordnungen des Öffentlichen Lebens ein- 
greifen zu laſſen, iſt durch das Eine Jahr des Unheils, 1525, 
abgefhwächt und tief gejchädigt worden. Diefe Forderungen konnten 
doch nur in Kraft treten, wenn fie ihrem evangelifchen Weſen ge- 
treu zuerft auf die Perfünlichkeit wirkten, Gefinnung, Liebe aus 
Glauben wedten. Nur fo konnte die veränderte fittliche Tempe⸗ 
ratur entftehen, die eine Ausftrahlung aus dem Perjonleben, gleich⸗ 


*) Bgl. Stud. u. Krit,, Jahrg. 1884, 9. 2. 


1% Hering 


fam ſchichtweiſe das Volksleben durchziehen, die Stände einander 
annähern, in den herrſchenden Klafjen den Sinn fir chriftliche 
Billigkeit weden, neue Ordnungen mit Geift und Leben erfüllen 
und eine durchgreifende, erneuernde Macht werden mag. Ein fitt- 
fiher Prozeß, welcher, je mehr zarte Keime zu pflegen und zu 
Ihonen waren, Zeit brauchte. Vielleicht Hat Feiner der Männer, 
die ihn einleiteten, gleich damals erkannt, wie viel Zeit! 

So war es verhängnispoll, daß die foziale Frage fich gleichſam 
der chriſtlichen Nächftenliebe bemächtigte, noch ehe dieſe Zeit ge 
wann, von fi) aus auf die Verhältniffe des armen Bauernftandes 
eifizunwirken. Die zwölf Artikel der Bauern waren zwar gemäßigt 
nach Inhalt und Form, aber in ihnen vollzog fich doch der Übergang 
von einer fachlichen, konkreten Behandlung zur falſch prinzipiellen, 
welche aus dem Worte Gottes den Anſpruch auf Jagd⸗ und Fild- 
gerechtigfeit beurteilt fehen und aus ber Erlöfung aller durch das 
töftliche Blutvergießen Chrifti die Forderung perfönlicher Zreiheit 
im fozialen Sinn, die Abfchaffung der Leibeigenfchaft BHerleiten 
wollte. Wie berechtigt einzelne Forderungen waren, dieſe ihre 
Begründung war falih. In ihre wiederholte fih von anderen 
Borausfegungen und in verfchiedener Tendenz der Fehler des mittel» 
alterlichen Geiftes, ſittliche Forderungen in juribiiche Formen zu 
verbilden. Diefe Verbildung hatte ſich freilich nicht in Bauern 
köpfen vollzogen. Sie hing mit religiöfen Beftrebungen zufammen, 
welche älter waren, al8 die foziale Bewegung im deutfchen Bauern: 
ftande, ſich in bdiefelbe eindrängten, fie dann überdauerten. ine 
Zeit lang Haben fie faft nur verderblich anf diefelbe eingewirkt; zus 
legt, in einer bintigen Kataftrophe von ihr gelöft, doch noch eine 
Frucht des Vriedend getragen. So wurde, um ihr Weſen rein zu 
behaupten, die Borberung der Nächftenliebe gleihfam in die Defen- 
five gedrängt; eine Stellung, die nie für fie günftig ift, wenn fie 
zugleich Großes Teiften folf. 

Schon an dem Gutachten Luthers, feiner Ermahnung zum 
Frieden auf die zwölf Artifel der Bauerfhaft in Schwaben tritt 
dies hervor !). Er ftraft die Fürften und Herren aufs freimätigfte; 


1) E A. 2. Aufl, ©. 269 ff. Köfllin, M. Luther L; 786. 





Die Liebesthätigkeit der beutichen Reformation. 197 


ihnen, ſowie den „blinden Bifchöfen und tollen Pfaffen“ giebt er 
diefen Aufruhr fchuld, ihrem Wüten gegen das heilige Evangelium, 
dem Schinden und Schaten, ber Pracht und dem Hodmut; er 
jelbft hätte mohl mehr Artikel gegen fie zu ftellen, welche Deutſch⸗ 
fand und das Regiment betreffen, wie er e8 in feinem Bud an 
den Adel gethan, das fie in Wind gefchlagen; er billigt auch einige 
der Artifel der Bauern: man möge ihnen nicht abjchlagen, ihren 
Pfarrer zu wählen; auch die Bejchwerden über den Leibfall, der zu 
geben war, wenn der Hauswirt ftarb, und über andere Aufjäge 
oder Abgaben feien billig und recht; wohin folle e8 führen, wenn 
die Obrigfeit da8 Gut der Bauern für Üppigfeit und Pracht ver- 
ſchleudere? Anderfeits will Quther den Bauern freundlich ins Ge- 
wiſſen reden, und er befennt, daß die Fürſten und Herren, welche 
das Evangelium zu predigen verbieten und die Leute unerträglich 
beichweren, e8 wohl verdient hätten, daß Gott fie vom Stuhl ftürze. 
Aber doch ift feine Schrift weniger ein fachlicher Beitrag zur Lö» 
fung der konkreten Fragen, zur Beurteilung der einzelnen Ansprüche, 
als eine Verwahrung bed Evangeliums Die Herren 
warnt er vor der Läfterung, die ſchon verlautet: das Evangelium 
fei Schuld, indem er auch von ihnen das Zeugnis beanfprucht, mit 
aller Stille gelehrt, gegen den Aufuhr geitritten, die Unterthanen 
zum Gehorfam vermahnt zu haben, und auf die „Morbpropheten“, 
die ihm eben fo feind feien al8 den Herren — er meint Münzer 
und feine Geiftesgenofjen — als die Urheber des Aufruhrs Hin» 
weift. An den Bauern aber tadelt er, daß fie fich eine „chriftliche 
Sammlung“ nennen, während doch ihr Berhalten durchaus uns 
Hriftlich fei. Auflehnung gegen die Obrigkeit fei ja ſchon gegen 
das natürfiche Recht, da8 auch Heiden und Türken haben, wie viel 
mehr gegen das göttliche, in dem Gott fpricht: Die Rache ift 
mein, ich will vergelten! gegen das chriftliche und evangelifche 
Recht, welches nad) dem Wort des oberften Herrn, Chriſti, lautet: 
Ihr ſollt dem Übel nicht widerftehen; wer dic) auf den einen 
Baden fchlägt, dem Halte den andern aud bar. So fei «8 
Schmähung des Evangeliums, wenn fie fih für Leib und Gut 
und weltliche Dinge auf dasjelbe berufen. Eins nur fei ihnen 
underwehrt, wenn ſie's mit ihrem Begehren ernſt meinten, das 


198 Hering 


Evangelium. Stätte, Ort und Raum, da es gepredigt wird, möch⸗ 
ten die Herren dafelbft ihmen wehren: „Das aber ift unleidfich, 
dag man jemand den Himmel zufchließe und mit Gewalt in bie 
Hölle jage; folch's foll ja niemand leiden, und ehe hundert Hälfe 
drüber laſſen. Es ift and) keine Gewalt im Himmel und auf 
Erden, bie folches vermöge. Denn es ift eine öffenliche Lehre, die 
unter dem Himmel frei bahergeht, an keinen Drt gebunden, wie 
der Stern, der Chrifti Geburt den Weifen aus dem Morgenlande 
anzeigte.“ 

So wies er mit Worten voller Macht auf das eine wefentliche 
Gut Hin, Hinter welchem aber andere Güter- und Rechtsfragen 
zurücktreten follten und fügte die fchneidigften Warnungen vor den 
neuen Geiftern Binzu, die er längft als Mordpropheten erfannt, 
vor denen er wiederholt ſchon vorher gewarnt hatte. In dem aufs 
rührerifchen Wefen fah er ihre Saat aufgehen. Auch mit dem, 
was er ben Bauern vorhielt, blieb er dem getreu, was er im 
Traftat „von der Freiheit eines Chriftenmenfchen“ gelehrt, in feinen 
Sozialen Schriften wiederholt ausgeführt Hatte. Dulden zu können, 
gehört dem Chriften zu; zeigt fich darin feine Freiheit, fo darf er 
ſich auf diefe nicht berufen, weil er nicht dulden will. So blieb 
fih Luther glei; und doch fanden die Forderungen Teidentlichen 
Sinnes jegt durch die Verhältniffe eine andere Anwendung, als in 
feiner Schrift gegen den Wucher. Damals richtete er fich gegen 
eine Tiebloje Geſchäftspraxis: jegt war er genötigt, Trotz, Begehr⸗ 
Tichfeit und Eigenwilligkeit des niederen Volkes in bie gleichen 
Schranken zu verweifen. Ging er damals zu weit, erfchien er ra⸗ 
difal, fo fcheint er jegt zu wenig zu thun, fich allzu fpröde zurück⸗ 
zuhalten. Und dod) Tag der Verſchiedenheit die gleiche Urfache zu⸗ 
grunde. Ohne volle Kenntnis der in fozialen Reformen Tiegenden 
Schwierigkeiten, ohne volle Würdigung auch der natürlichen und 
rechtlichen Bedingtheiten fozialer Verhältniſſe, des gefchäftlichen Be⸗ 
trieb8, der natürlich= zeitlichen Intereſſen macht er die religiöfen 
Forderungen unvermittelt geltend. Das Kritiſche des Moments, 
der das Losbrechen des Aufruhrs fürchten ließ, das Bedürfnis, 
da8 Evangelium gegen zubringliche Bundesgenoffen zu fehlen, 
feine Sache nicht in Welthändel verſtrickt zu fehen, machte ſich zu- 


Die Liebesthätigkeit der deutfchen Reformation. 199 


gleich geltend und gab feinem Gutachten den Charakter einer bloßen 
Bermahnung zum Frieden. Fand fie Gehör, fo war unfägliches 
Elend abgewendet; aber als Orientierung über die Löſung der 
fchwebenden Fragen bedeutete fie zu wenig. 

Die Ohbrigfeiten waren eben damals durch die allgemeinften 
Beihwerden der Bauerichaft vor die Aufgabe geftellt, das Rechts⸗ 
verhältnis der Xeibeigenen zu modifizieren; eine Aufgabe, die eine 
wirtfchaftliche, aber doch auch eine ethiiche Seite Hatte. Eben dieſe 
war, nur falfch formuliert, von den Bauern hernorgehoben. Er⸗ 
innerte nun. Zuther, ein Leibeigener könne fo gut wie ein Ge: 
fangener und Kranker hriftliche Freiheit haben, jo hatte er recht. 
Gleiches hatte er im Eingang feines Sermons von der Freiheit 
gefagt: und doch traf der Einwurf nicht den Kern der Sache, nur 
die irrende Formel. Diefe Bauern, welche die chriftliche Freiheit 
im Munde führten, waren in Wirklichkeit noch nicht fo freie, durch 
die Gemeinfhaft de8 Wortes zur inneren geiftlichen Herrfchaft 
über alle Dinge erhobene Chriften. Kaum berührt vom Licht 
des Evangeliumd und in bdemfelben Augenblick ſchon trregeführt 
durh Schwarmgeifter bedurften fie einer Erziehung zum Evange⸗ 
fium; und für diefe religiös-fittliche Vollserziehung machte es einen 
Unterfied, ob man ein Hecht beftehen Tieß, aufbob oder doch 
milderte, welches der zügellojeften Willfür, der unbarmherzigften 
Ausbeutung als Schirm gedient Hatte. Anderfeits erhob fih auch 
für die Herrfchenden, Befitenden die ethifche Frage, ob fie Leib- 
eigene behalten, die harten Forderungen, in denen fittliches Unrecht 
gefhichtliches Recht war, ferner gegen ihre Unterthanen geltend 
machen, kraft ihres Rechts ferner „Ichinden und ſchaben“ dürften. 
Wir fahen, wie Urbanus Rhegius ſich auf die chriſtliche Bruder» 
Tiebe berief, die mehr Teiften müſſe, als das Geſetz, das doch ein 
Freigeben der Sklaven nad gewilfen Zeitraum gebot, um ben 
Herren die Freigebung ihrer Leibeigenen and Herz zu lenen. Er 
mochte dabei überfehen, auf welche Schwierigfeiten die Änderung 
eines Rechts ftoßen mußte, das doch die Grundlage für die wirt« 
ſchaftliche Exiftenz vieler Herrfchaften, ja, aud) für die der Hörigen 
bildete. Die Bewältigung diefer Schwierigkeiten blieb freilich den 
Staatsmännern und ihren Räten befohlen. Aber der Geiftesmacht 


20 Hering 


der Reformation wäre bie Aufgabe zugefalfen, ben ſittlichen Wert 
einer größeren perfönlichen Freiheit auch für die äußeren Verhält⸗ 
niffe geltend zu machen, die Geifter für eine befreiende That zu 
gewinnen und zu erziehen. Die Revolution hat bie Reformation 
bieran gehindert, und zwei Jahrhunderte find noch vergangen, bis 
diefe foziale Frage durch Schaffung eines freien Bauernſtandes ges 
löft worden tft !). 

Trotz diefer durch die Lage ihr aufgedrängten Zurüdhaltung 
blieb Luthers Vermahnung noh ein wohlmwollendes 
Fürwort für die Abjtellung mandher Beſchwerden. 
Au erteilt er einen treuen Nat, der, als der Aufftand gedämpft 
war, vielfach befolgt worden ift: aus dem Adel etliche Grafen und 
Herren, aus ben Städten etliche Ratsherren zu ermählen und durch 
fie diefe Sachen handeln zu laſſen. Er hatte freilich gemeint, durch 
folche gütliche VBerhandlung dem Blutvergießen zuborzulommen, 
während doch „ſchreckliche Zeichen und Wunder, die diefe Zeit Her 
gefchehen waren, ihm einen fchweren Mut machten“. 


2. 


Er mußte nicht, daß feine trüben Vorahnungen eben durch die 
Ereigniffe überboten waren. Der Aufruhr war in Süddeutſchland 
mit Ungeftüm entbrannt, und unmittelbar vor der Abfaffung feiner 
Bermahnung zum Frieden hatten die Bauern fi) mit der grau⸗ 
famen Ermordung einer Anzahl Adeliger befledt. ALS Luther von 
dem Ausbrud) der Empörung Börte, hielt er e8 für Pflicht, der 
Obrigkeit da8 Gewiffen zum Kampf zu ftärfen. So entftand 
feine Schrift „Wider die mördifhen und räubifchen Rotten der 
Bauern“ 2). 

Ihre Schärfe ift Luther oft zum Vorwurf gemadit. Es ift 
wahr, in ihr lodert das Teuer eines gewaltigen Zorns; aber derjelbe 
ftammt nicht nur aus der Erregung eines Moments; das Schluß- 
wort fpricht vielmehr den Grund jener Heftigfeit aus: „Dünft 


1) Hierbei denke ich an die Aufhebung der Leibeigenjchaft in Oftpreußen durch 
König Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1719. Stadelmann, Friedrich Wil⸗ 
heim I. Leipzig 1878. ©. 73. 76. 

3) €. A. 24, 300. , 


Die Liebesthätigkeit deu bemtichen Reformation. 9 


das jemand zu hart, ber denke, daß unträglich iſt Aufruhr, 
und alle Stunde der Welt Verftörang zu erwarten je.“ Ja, 
wie Luther es fpüter noch mehr zufpiget !), als rechte Barm- 
herzigfeit erſchien ihm das Dreinfhlagen mit dem Schwert, da 
Gefahr drohte, daß bei unzeitiger Milde und zögerndem Hinhalten 
nnermefliches Blutvergießen entftände und fo viele Witwen und 
Waiſen würben. Und umgekehrt fet die Barmherzigkeit, welche bie 
Gegner feiner Schärfe meinten, Graufamteit, ein rechtes Kenn 
zeichen dieſes unfeligen Prophetengeiftes, ver Geiftliches und Welt 
liches vermengte, Rechte im Namen des Evangeliums forderte, und, 
wenn nach dem Recht geftraft werden follte, Barmherzigkeit. ver- 
langte. 

Dennoch überſah Luther in ſolchem Eifer nicht, daß der Auf⸗ 
ruhr auch ein Gottesgericht war. Als ein ſolches hatte er es ſchon 
in ſeiner Vermahnung zum Frieden den Herren vorgehalten. Auch 
jetzt, da er ſich ihres Strafamts aus dem Worte Gottes annahm, 
wollte er zwar der Obrigkeit nicht wehren, ohne vorhergehendes 
Erbieten zu Recht und Billigkeit die Bauern zu ſchlagen; es ſei 
ihr Recht, und jene ſeien treulos, meineidig, ungehorſam geworden. 
Eines anderen aber verſah er ſich von einer chriſt— 
lichen Obrigkeit, die das Evangelium leiden wolle. 
Sie ſolle mit Furcht und demütigem Gebet zu Gott handeln und 
ſich gegen die tollen Bauern zum Überfluß, ob ſie es gleich nicht 
wert ſeien, zu Recht und Gleichem erbieten, um dann, wenn das 
nicht helfe, zum Schwert zu greifen. Um Erbarmen bat er be- 
ſonders für die, melde ſich ans Schwachheit, mochte diefe auch 
eines Chriften unmwürdig fein, fi zu der DVerbrüderung mit den 


1) Seubbrief vom harten Büchlein wider die Bauern, €. A. 24, 317. 
321f. Bol. Köftlin, M. Luther 7, 752. Selbſt in der Zeit der Abfoffung 
des Sendbriefs kann Luther von der Weinsberger Blutthat, die am 16. April 
ftattfand, noch nichts gehört haben. Das zeigt die Antwort, die er E. 9. 24, 
3522 anf den Einwurf erteilt: Die Bauern Haben ja noch niemand erwürget. 
Hierdurch verftärkt fich od) der Beweis Köftlins in feiner Streitichrift „Wider 
Sanffen”. Der Ietere möchte, wie vor ihm ſchon Jörg, Luther die Ermah- 
nung zum Frieden fchreiben laffen, nachdem er von jener That der Bauern 
gehört! 





202 Hering 


Aufftändifchen Hatten drängen Laffen, ſowie für die, welche fich zu 
Gnaden ergeben würden, nicht nur für die Unfchuldigen, fondern 
auch für die Schuldigen !). Wenn man die Verſchiedenheit zweier 
Zeitalter außeradht Taffen will, wird man dem Reformator feinen 
Aufruf zum Strafen und Dreinfchlagen zum Vorwurf machen 
können. Aber er ift doch mitten im Zorneseifer auch Fürbitter 
für das arme verbfenbete Voll. Nie, auch im Ausbruch der Hef- 
tigkeit nicht verlöfcht der Zug der Milde, des Tiebreichen Mitleids mit 
den Sündern, der gerade zu feiner evangelifchen Sinnesart gehörte, 
wie ex feinem Zeugnis vom Glauben an das göttliche Erbarmen 
in Chrifto entfprad). 

Und deutlich läßt fih der Einfluß beachten, der von feiner 
Haltung, feinem Worte ausging. Für bemerfenswerte Verfuche, die 
Empörten gütlich zu beruhigen, ift feine Ermahnung zum Frieden 
gleihfam die Grundlage, die orientierende Linie. Kurfürft Ludwig 
von der Pfalz überfandte in der Mitte des Mai 1525 Luthers 
Ermahnung zum Frieden an Melanchthon und Brenz, um von 
ihnen ein Gutachten zu erbitten. Von einem wohlwollenden Fürften 
aufgefordert, nicht wie Luther von Vollsführern am Vorabend des 
Aufruhre um Nat erfucht, befanden fich diefe Theologen in gün- 
ftigerer Lage als Luther. Sie durften auf Friedensliebe, landes⸗ 
väterliche Weisheit rechnen und waren ber Gefahr, Mißverſtänd⸗ 
nifje zu erregen und Ansprüche zu fteigern nicht ausgeſetzt. Ander⸗ 
ſeits ftand man noch mitten im helfen Aufruhr. So entſprach e8 den 
Berhältniffen, wenn die Gutachten im ganzen den Stand— 
punkt der Verwahrung des Evangeliums, der Nächſten— 
liebe gegen die Bermifhung mit NRedhtsfragen inne 
hielten. Auch fo Tießen fie auf die Teßteren bier und da Licht 
ftrablen aus dem Evangelium fallen. 

Melanchthon riet dem Kurfürften, gütig mit den verführten 
Unterthanen umzugehen, in der Beltrafung Maß zu halten und 
den Unſchuldigen zurechtzuhelfen, indem er erinnerte, daß ein folches 
Verhalten auch recht fürftlich fei. Tritt hier die Milde des Be⸗ 
rater8 hervor, fo war fein Urteil über die einzelnen Beſchwerden 


1) €. 9. 24, 317. 338. 


Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 203 


ber Bauern, gleich dem Luthers durch das Beſtreben beeinflußt, 
vor allem den Gehorfam gegen die Obrigkeit ficher zu ftellen. 
So gelangte er dazu, auch folde Dinge zu rechtfertigen, welche 
den Bauern unerträglich geworden waren und teil& mit verfehlten 
juriftifchen Gründen, teils mit der Forderung leidentlichen Gehorſams 
fich mit einer Aufgabe abzufinden, welche mehr Kenntnis des Volle» 
febens erforderte, als er befeifen haben wird. In dem, was die Pre- 
digt des Evangeliums, die Zehntenfrage und bie Leibeigenfchaft bes 
traf, folgte er Luthers Ausfprüchen in der Vermahnung zum 
Trieden; an anderen Punkten überbot er Luther an Herbigkeit. 
Er, der Theolog, berief ſich auf das römiſche Recht, nad) dem 
jeder Eigentümer da8 Betreten feines Grundſtücks unterfagen 
könne, um die Forderung freier Jagdnutzung, in der doch wohl 
no Erinnerungen bes älteren deutſchen Rechtes nachllangen, abzu- 
weifen. Zu der Beſchwerde über die erdrüdende Belaftung der 
Süter mit Zinfen und Gülten bemerfte er, daß dies eine weit 
läufige Sache fei, erinnerte aber doch an das apoftolifche Wort, 
daß niemand zu weit greife, noch feinen Bruder überporteile im 
Handel, denn der Herr ſei der Rächer Über das alles (1 Theſſ. 
4,6). Am fchroffiten aber kommt das durch jo arge Erfahrungen 
beftimmte Urteil über da8 Volt in der Art zum Ausdrud, in 
welcher er fich zu den Beſchwerden über parteiifche Rechtſprechung 
und ungerechte Beftrafung äußert. Gewiß trafen diefe Befchwerben 
einen der wundeſten Punkte der damaligen Strafjuftiz; aber Me⸗ 
lanchthon erwidert, die Deutjchen feien immer ein jo ungezogenes, 
mutwilliges, biutgieriges Volt geweſen, daß man fie billig viel 
bürter halten follte. Anregung auf Reformen zugunften des Volkes - 
zu finnen gab dagegen das, was er über den Wildfchaden, über die 
Herausgabe von Almendwäldern, melde die Herren an fich ge- 
zogen, über Frondienfte und die harte Abgabe des Todfalls fagte. 
Hier riet er nachzugeben, es fei gegen Gottes Gebot, arme Waifen 
zu berauben. Außerdem fügte er in einem befonderen Anhang 
Ermahnungen zum Maphalten und zur Milde für die Fürſten 


hinzu '). ' 


3) Corp. Ref. XX, 641. Schmidt, Phil. Melanchthon ©. 124. Hart- 


24 | Hering 


Tiefer als Melanchthon war Brenz in das Verftändnis der 
fozialen Frage eingedrungen. Er war ſtets in Fühlung mit der 
Entwickelung der Dinge in Süddeutſchland geblieben, hatte, während 
es im Landvolk gährte, den Gehorfam gegen die Obrigkeit gepre- 
digt, die chriftliche Freiheit eifrig gegen Mißverſtand verwahrt und 
ſcharf das fleifchliche Evangelium gezüchtigt, deffen Summa lau⸗ 
tete: Schlag tot, gieb niemand nichts! Auch da, als in der erften 
Hälfte des März die zwölf Artifel durch das Volk flogen, Hatte 
er auf Erſuchen des Rats von Hall einer anfragenden Dorf» 
‚gemeinde evangelische Belehrung über das Recht der Obrigleit er- 
teilt). Selbft ein Götz von Berlichingen hatte ihn als eine 
Autorität citiert, al er die Bauern ermahnte, von ihrem Vor⸗ 
haben abzuftehen ). Und jet berief ihn Pfalzgraf Ludwig zu 
einer Beratung nad Heidelberg. Da Brenz verhindert war, zu 
tommen, reichte er wie Melanchthon ein fchriftliches Gutachten ein. 

Dasfelbe ift gleich ausgezeichnet durch Weisheit, Sachkenntnis 
und Freimut. Es ſchärft den Herren das Gewiſſen, und während 
es das Hecht der Obrigkeit verwahrt und von den Unterthanen 
fordert, auch Unrecht zu dulden und darin ihre Treue zu bewähren, 
wendet es fich zugleich an die Weisheit und an die chriftliche Billig⸗ 
teit der Herren. So macht Brenz gleich Luther zwar den geift- 
lichen Charakter der chriftlichen Freiheit gegen das Verlangen nad 
‚Aufhebung der Leibeigenjchaft geltend, doch betont er das Chrift- 
liche auch für die Herren: Ein driftlider Herr wird allerdings 
feine Leibeigenen gern entlafjen; Hat doch der Herr gejagt: was 
ihr wollt, daß euch die Leute thun follen, das thut ihr ihnen; 
macht doc) das Geſetz Moſis den Sklaven nad jechsjühriger Dienft- 
barfeit frei. So lenkt die Berufung auf die Schrift immer wie⸗ 
der auf das Wort de8 Herrn zurüd, auf weldhem die veformatp- 
riſche Lehre von der Nächſtenliebe fich aufbaute, und zugleich nimmt 


felder, Zur Geichichte des Bauernfriegs in Südweſtdeutſchland. Stuttg. 1884. 
©. 184 ff. Melanchthon ſchreibt Anfang Juni, daß er die Schrift abgeſchickt 
habe. Corp. Ref. I, 748, 

I) Hartmann, I. Brenz, ©. 17, 

2) Vgl. die intereffante Nechtfertigung des Götz von Zöpfel in der Ge⸗ 
ſchichte des Ritters, 1861, ©. 749. 


BDie Lichesthätigfeit der -deutjchen Reformation. 206 


fie diejenigen altteftamentlichen Geſetzesbeſtimmungen für die Frage 
der Leibeigenschaft als Hilfsfäge Hinzu, die, wenn auch an fi 
nicht beweifend, doc eine Analogie für die chriftliche Bittlichkeit 
einfchloffen, und auf die wir Urbanus Rhegius ſchon im Februar 
1525 zurüdgreifen ſahen ). Brenz nimmt fi) ferner der Unter» 
thanen wegen der Überbürdung mit Srondienften und Gülten an; 
vor allem fei der Zodfall hart, durch den Witwen und Waiſen 
nicht nur den Vater fjondern auch ihr Gut verlieren. Die Des 
ſchwerde über die oft willfürlic verhängten Herten Strafen giebt 
ihm Anlaß zu der Warnung, die Obrigkeit ſolle die Perfon nicht 
anfehen; aud möge fie nach dem gejchriebenen Recht und nicht 
willkürlich ftrafen. Zur Billigfeit redet er auch inbezug auf dies 
jenigen Fülle, welche mit den Forderungen ‚ber Liebe nicht :in fo 
engem Zuſammenhang ftanden; er, ber Theologe, hbertrat den 
Stanäpunft ftantsmännifcher und landegväterlicher Weisheit, die 
durch das Wohlbefinden der Armeren Untertbanen das Wohl des 
Gauzen mitverbürgt ſieht. So möchte er 3. B. die Frage nach 
ben Hecht auf Wild- und auf Waldnutzung, auf Anteil an der 
:Almende, den Gemeindeädern uud »wiefen, durch ſolche Weigheit 
löſen: die Unterthanen ſollen zwar dem Wildſchaden nicht mit Ge⸗ 
walt miderftreben, aber der Fürſt fol durch eine Opbunng dem 
Schaden ſteuern; ts fei hoch eine größere Luft, wenn sin Feld mit 
ſchönem Korn daherlache, als wenn ein Hirſch mit ſchönem Ge 
weih daherlaufe und das ‚Korn verderbe. Auch möchte :er der Ge⸗ 
meinde die Waldungen ‚überlaffen jehen, um aus denſelben dem 
Einzelnen feinen Holzbeberf zu gewähren; die Verteilung ber All- 
mende befürwortet er, damit ben Unterthanen auf einen grünen 
Zweig geholfen werbe ?). 

Sp dringt der damals! fünfundzwanzigjährige mit einer Weite 
des Blicks, einer Überlegſamkeit und die proftiichen Merhältnifie 
im Ange behaltenden Weisheit von chriftlich »ethifchen Grumdforde- 
rungen aus in die Frage ein. Sein Ratſchlag “ft eine Probe 
deſſen, was evangelifcher Sinn im Bunde mit Einficht für die 


1 Stud. u. Krit. 1884, 9. 2., ©. 274. 
2) Hartmann, Brenz ©. 20 ff. 


206 | Hering 


ürmeren Klaſſen unjeres Vaterlandes in einer Epoche hatte leisten 
fönnen, der es eben wegen der Fülle fchöpferifcher Gedanken und 
kraftvoller Impulſe, wegen ihrer Sättigung mit religiöfen Antrieben 
beichieden fchien, auf mehr als einem Gebiet für alte Mißftände 
Abhilfe zu bringen und neue Anfänge zu jegen. 

In dem Zeitpunkte, in welchem fie erjtattet wurden, konnten 
indes die Gutachten der Theologen den Gang der Ereigniffe nicht 
mehr hemmen. Der friedliebende Fürſt, der fie fich erbeten Hatte, 
war doch fünf Tage, nachdem er feinen Brief gefchrieben, aus 
Heidelberg mit einem Heer ausgezogen ?). 


Denn die Leidenfchaft und der Taumel der Revolution trug 
es über alle Abfichten des Wohlwollens, alle Verfuche der Ver⸗ 
mittelung davon. Dort, wo der Aufftand fich ausgebreitet Hatte, 
nahm er auch denjenigen Landfchaften und Gemeinden, die noch 
zurücdhielten, die Fähigkeit der Selbftentfcheidung. Die Obrigkeit 
war betrogen, wenn fie vertraute. Man Inüpfte Verhandlungen 
an, traf Vereinbarungen, erhielt Verficherungen der Ergebenbheit: 
dann erwies fich alles als unfiher. Das Gefühl der Solidarität 
der Intereſſen war zu ftark, die Macht der Anftedung zu unwider⸗ 
ſtehlich, und eine werbende Agitation, welche den Zurüdhaltenden 
mit Zufprache und Drohwort die Pflicht des Beitritts einzufchärfen 
wußte, zog auch ſolche Bauerjchaften und Städte in die Bewer 
gung, die feinen Grund zur Beſchwerde, oder doch Ausfiht auf 
gütliche Beilegung Hatten 2). So brachten auch die vom Wohl⸗ 


1) Hartfelder, S. 190. 

2) Bol. die Briefe, welche die Führer der Bauernbaufen. an bie Gemeinden 
fchrieben, um fie zum Beitritt zu bemegen. Gleich apoftoliichen Schreiben 
fingen fie an, und als rechte Brand- und Drohbriefe hörten fie gewöhnlich auf. 
Baumann, Quellen zur Gefchichte des Bauernkriegs in Oberſchwaben. (Bibl. 
des lit. Vereins in Stuttgart CXXIX.) Tübingen 1876. ©. 71. Desfelben 
Duellen zur Geſchichte des Bauernkriegs aus Rotenburg a. d. T. (In der- 
jelben Bibl. CXXXIX.) Tübingen 1878. ©. 298. Die erftere biefer wich⸗ 
tigen BVeröffentlichungen ift in der Folge mit; Baumann A, die zweite mit; 
Baumann B citiert. 


Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 297 


wollen eingegebenen Vermittelungsverſuche Enttäufhung, und ftatt 
der Verſöhnung Erbitterung. An den Erfahrungen von Unzuver⸗ 
läffigleit, Wortbruh und Untreue lernten auch wohlmeinende 
Männer unter den Fürften und Herren den Pöobel verachten und 
das Wort fi zu Herzen nehmen, daß der Ejel Schläge haben 
wolle. 

Wie waren vollends die der Reformation feindlich gefinnten 
Herrſchaften entſchloſſen, es den aufrührerifchen, meineidigen, treu⸗ 
loſen Bauern heimzuzahlen! Sie hätte Luther nicht nötig gehabt 
zum Dreinfchlagen aufzufordern; fie waren ohnehin zur fchärfften 
Vergeltung entfchlofien. In die Seele des Kanzler Leonhard Ed, 
der die Maßnahmen bes ſchwäbiſchen Bundes gegen die Bauern 
leitete, fcheint nie eine Erwägung gelommen zu fein, ob nicht 
Pflicht oder doch Klugheit gebiete, Milde und Gnade zu üben, 
Er haßte die Bauern durchaus, für ihre Forderungen hatte er nur 
Abwehr, Verachtung, Spott. 

Bei ihn und anderen katholiſchen Herren hing diefe Zeindfelig« 
feit des Urteils, der faft völlige Mangel an BVerftändnis dafür, 
daß es eine foziale Frage des Bauernjtandes gebe, und daß der 
Aufruhr aus diefer einen großen Zeil feiner Kraft entnehme, mit 
der Teindjchaft gegen die Sache des Evangeliums zufammen. Hatte 
man ſchon in der Gährung vor dem Ausbruch eine Folge der 
lutheriſchen Ketzerei erblidt, war ſchon 1524 ben Kenzingern er» 
klärt, Luthers Opinion verführe zum Aufruhr und Bundſchuh ?), 
waren die evangeliich Gefinnten in Baiern jchon 1522 als poli⸗ 
tifch gefährlich verfolgt worden, fo ftand nun, als der Aufruhr 
losgebrochen war, das Urteil trog aller Verwahrungen Luthers 
und der reformatorifchen Männer feit, daß alles Unheil eine Folge 
bes Iutherifchen ketzeriſchen Glaubens fei. Man erlannte wohl das 
religiöfe Moment der Bewegung, aber man bejaß nicht die Fähig- 
feit, oft auch nicht den Willen, zwifchen Luther und den „Mord⸗ 
propheten“ zu unterfcheiden. Bald wurde Luthers Traftat von der 
riftlichen Freiheit, bald fein Buch von der babylonifchen Gefangen» 


1) Hartfelder, Zur Geſchichte des Bauernkriegs in Sübweftdeutfchland. 
1884. ©. 271. 


Theol. Stud. Jahrg. 1886. 14 





208 . Hering. 


ſchaft bejchuldigt 1), bald auf Luthers Anhang und die „Luthe- 
rischen Pfaffen“ hingewieſen ?). Unter die „abtrünnigen Verführer“ 
wurden Luther und Thomas Munzer in einem Zuge gezählt °). 
Die Donaumörther Chronik läßt Lutger gar die zwölf Artikel „den 
Bauern fürftellen” 4%). Nannte doch damals felbft der humaniſtiſch 
gebildete Juriſt Zaflus in Belimmernis und Zorn über die ſo⸗ 
zialen Wirren Luther das nichtswärdigfte unter allen zweibeinigen 
Geſchöpfen 6). Da dieſe Feindſeligkeit fih auch in den Staats» 
männern zu einer fanatiichen Verurteilung der Reformation als 
der Wurzel alles Übels verfeftigte, fo war ihr Verhalten, als es 
zur Beitrafung kam, dadurch beftimmt: fie gedachten, durch blutige 
Strenge das Evangelium ind Herz zu treffen. 

So empfing ber Kampf fein Gepräge; die Verlufte ber 
Bauern wurden fo groß nicht durch den Widerftand, den fie ent- 
gegenfetten, fondern weil die Fliehenden ohne Gnade niedergemeßelt 
wurden. Da war e8 wieder Luther, der nach ber Schlacht bei 
Frankenhauſen, in der 8000 Bauern umlamen, durch fein Wort 


1) Baumann, A. ©. 57. 85. 250. 279. 806 f. 

2) Ebend. S. 181. 377. 879. 419. 

5) Ebend. S. 3085. 

4) Ebend. S. 250f. Der Pfarrer Heinrich von Pflummern betitelt fein 
Werk ſchlechthin: „Etwas ein Wenig von ber allergraufamlichften, unerhörtefteu, 
unevangeliſchſten, gottlojeften, ketzeriſchſten und verführeriichften Luthery, die fich 
verlaufen hat ungefähr vom 1523. Jahr bis jet in das 1544. Jahr.” Bau⸗ 
mann, A. S. 806, Anm. Auch die Urteilsloftgfeit Volleyrs iſt für die Chro⸗ 
niſten der Zeit kennzeichnend. Hartfelder ©. 132, Anm. 1. Überhaupt 
find die Urteile in den Chroniken nur für ihre Verfaffer, nicht aber für die 
Einfiht in die Dinge von Wert, unb an biefer Beichränftheit des Wertes 
nimmt and) die Darftellung, fofern fie durch das falſche Urteil beeinflußt ift, 
teil. Was will 3. B. die Erzählung der Anfänge des Aufruhrs im Stift 
Kempten bei dem Ehroniften bedeuten Baumann, A. ©. 379 f.), wenn man 
aus den Alten felbft, aus den Beſchwerden der Gotteshausleute und der Aut- 
wort bes Fürſtabt Sebaftian herauslieft, um welche konkreten Dinge es fi 
handelte! Baumann, Alten S. 851ff. 

6) Hartfelder, ©. 328, nad Zasii ep. p. 97. Zu beachten ift, daß 
Zaftus, der anfänglich Luther warm zugeſtimmt, dann fich ihm, feit der Kampf 
prinzipieller geivorden war, entfremdet Hatte, unter dem verſtinmenden Druck 
längerer Krankheit fland. 


Die Liebesthätigfeit dee demtichen Reformation. 29 


eingriff, indem er die Herren vor Überbebung warnte und fie bat, 
den Gefangenen und denen, bie fidh ergäben, gnüdig zu fein, wie 
Gott jedermann gnädig fei, der fich ergebe und vor ihm demü⸗ 
tige 1). Ähnlich erinnerte Brenz, indem er die zu große Härte 
tadelte, daran, daß die Obrigfeiten nit Wölfe, jondern Hirten in 
der heiligen Schrift genannt würden. Jubel und Freude dagegen 
wurde nach den bfutigen Niederlagen der Bauern ba laut, wo 
man von Niederwerfung der Iutherifchen Ketzerei träumte. Einen 
Leonhard Ed erfüllten nur Zriumpbgefühle, al8 er von dem 
Bluttag von Zabern hörte, wo der Herzog von Lothringen die 
Bauern aufs Haupt gefchlagen Hatte, und die Knechte nad dem 
Sieg Taufende wehrlefer Befangener abgefchlachtet hatten ). Mit 
furchtbarer Befriedigung fehrieb er damals, der Herzog von Lo⸗ 
thringen Habe am Rhein „eine große Stille gemadt“ ®). Und 
derfelbe Talte Fanatismus des Haſſes tritt uns in dem Aufzeich- 
nungen der meiften Chroniſten entgegen, fofern fie Gegner der 
Reformation find %). Der Weißenhorner Nikolaus Thoman rechnet 
mit erfennbarer Genugthuung die Erfolge des Lothringer Herzogs 
zufammen: „Summa Summarum 26000 erſtochen, ob 300 bie 
Köpfe abgefchlagen“, um den Sieger von Zabern mit Gottfried 
von Bonillon zu vergleihen: immer Hätten fich bie Lothringer 
Herzöge chriftlich gehalten und der chriftlichen Kirche viel Gutes 
erwiejen 5). Ein in jenen Tagen entftandenes Gedicht feiert den 
Lothringer als „vil frumen her“ mit dem Segenswunſch: 
„Das geb Dir got den rechten lon 

well dir fin gnad zujenden, 

daß mügjt allzit gar wol befton 

und din fürfag vollenden, 


1) E. A. 65, 22. Köftlin, Martin Luther I, 750. 

2) Hartfelder, ©. 130f. Nach Angabe des katholiſchen Berichterſtatters 
Bollcyr waren 16242 Bauern in und um Zabern getötet, dazu auf der Flucht 
ned) 1500. SHartfelder urteilt, daß die Zahl der Umgelommenen noch größer 
geweien jei. 

8) Eine Ausnahme macht die Gebweiler Chronik. Um fo ſchwerer wiegt 
fr Urteil über die Edlen von Enfisheim. Hartfelber, ©. 57. 

4) Baumann, A. ©. 117. 

6) Hartfelder, ©. 133. 

14* 


210 Hering 


die lutheri ganz dilgen ab, 
die buren bringen an bettelftab 
die ſich dorin fint geben *). 

Dieſe Anfchauungen find tief in das katholiſche Volk einge 
drungen. Bis auf diefen Tag heißt im Volksmunde die Stelle, 
an ber bie fiebzehntaufend Opfer von Zabern beftattet wurden, bie 
Keßergrube?). 


4. 


Noch ſchneidender tritt diefe unbarmherzige Härte in den Straf: 
prozeſſen hervor, melde auf die Niederwerfung bes Aufftandes 
folgten. Die Teindfeligleit gegen die Reformation Tieß die Sieger 
zum großen Zeil ihre Urteile mit Blut fchreiben. Ihre Juſtiz 
kannte nur Vergeltung und zehnfältige Rache. 

Das geltende Strafrecht bot diefer Feindfeligkeit nur zu viel 
Handhaben. In der Tegtverfloffenen Epoche, im fünfzehnten Jahr⸗ 
hundert, Hatte die rücfichtslofe Energie, mit welcher ſich die Ord⸗ 
nungen und Gemeinfchaften im verfallenden Reich gegen Zügel: 
Lofigkeit, Entartung und Frevel zu wehren hatten, auf die Strafr - 
methode zurüdgemirft. Diefelbe Hatte ſtets ihre Härten gehabt; 
jest wurde fie mit der Zunahme der Berbrechen noch rückfichts⸗ 
loſer, fchroffer. Der Humanismus Hat hieran nichts geändert. 
Nirgends im Reich ftrafte man vielleicht härter als in Nürnberg, 
diefer Pflegeftätte feiner Bildung, deren Patrizier zum Zeil Ges 
(ehrte und Dichter waren. Aufruhr wurde hier mit dem Schwert, 
Verrat an der Stadt mit BVierteilung beftraft. Für den Diebftahl 
war eine Abftufung vorgefehen, deren erfter Grad im Aushauen, 
deren legter im Lebendigbegraben beftand, denn fo war es für 
Weibsperfonen beftimmt, die an ben Galgen zu henken die Scham 
verbot. Gnade war es, wenn man ben Münzfälfcher, welcher des 
Fenertobes frhuldig war, enthauptete, Gnade, wenn man dem bes 
rühmten Bildſchnitzer Veit Stoß, der einen Schulöbrief gefäljcht, 
duch die Baden brannte, denn anfänglic wollte man ihm bie 
Augen ausftechen, aber — «8 baten jo viele für ihn; Gnade, 


1) Hartfelder, ©. 135. 


Die Liebesthätigkeit der dentſchen Reformation. 211 


wenn auf Fürbitte des Erzbifhofs von Magdeburg ein Mordver⸗ 
ſuch mit Augenausftehen geahndet wurde !), denn fonft pflegte 
man Mörder mit dem Rab Hinzurichten, eventuell vorher öffentlich 
auszufchleifen, und, wenn fie des Giftmordes ſchuldig waren, mit 
glühenden Zangen zu zwiden ?). 

So war e8 auch hier die vergangene Periode, welche auf biefe 
feßte traurigfte Behandlung der fozialen Frage einwirkte. Aber 
viele Obrigfeiten belnftet die Schuld, daß fie ihre Unterthanen, bie 
großenteil8 irre geleitet und vom Taumel des Aufruhrs fortgeriffen 
waren, gleich DVerbrecherrotten behandelten, und daß ihren Ge⸗ 
richtstogen nichts von Selbftgericht beigefellt war, nichts von der 
Erkenntnis, daß eine fo fchwere gemeinfame, zum großen Teil 
auf die Schultern der Herrfchaften verteilte Schuld andere Mittel 
der Sühne als das Abfchlagen vieler Bauernköpfe verlangte. “Die 
Öfterreichifche Negierung erwarb ſich damals den Auf, an unerbitt« 
licher Strenge e8 ben anderen zuvorzuthun. Ihre Vertreter fällten 
in Enfisheim ein Bluturteil nad dem anderen bei einem oft allzu 
eilfertigen, formlofen Verfahren; bald ging die Rede um, an Enfis- 
heim fei fein Name nicht verloren. Ein den Bauern feindlich ger 
finnter Chronift giebt doch, indem er dieſe Vorgänge erzählt, feinem 
Unwillen Ausdrud und ruft Gottes Barmherzigkeit auf dies „elende 
betrübte Weſen“ herab 3). Aber basjelbe dauerte 1526 nod fort. 
Vielleicht war es eine Bolge diefer Maſſenhinrichtungen, daß in 
eben diefem Fahre die Belt in der Stadt ausbrach *). 

Der Geift der alten Blutrache fchien vollends wieder aufzu- 
(eben, als man zur Beitrafung der Unthat fchritt, welche die 


1) Der Fürbitte war auch in der Zeit der barbariſchen Strafjuftiz eine 
weitgehende Berückſichtigung eingeräumt. 

2) Brunnenmeifter, Die Quellen der Bambergenfis S. 69 ff. Ana⸗ 
Ioge Beftimmmungen and in der Bamberger Halsgerichtsorduung von 1507 und 
der brandenburgifchen Halsgerichtsordunng von 1516. Bol. Zöpft, Die 
peinliche Gerichtsorbnung Kaifer Karl V. 1876 (ſynopt. Abdrud der beiden ge- 
nannten Halsger.-D. und der Karolina nebft den Entwürfen. S. 106. 140. 
146. 160. 164. 

3) Die eben erwähnte Gebweiler Chronik. Hartfelder, ©. 57. 

4) So vermutet Hartfelder ebendaf. 


212 Hering 


Bauern am 16 April 1525 vor Weinsberg verübt Hatten. Ver⸗ 
gegenwärtigen wir uns dieſe Vorgänge; für eine fittliche Schägung 
bes Geſchlechts jener Zeit find auch diefe furchtbaren Bilder lehr⸗ 
reich. 

Bei der Erftürmung der Stadt Weindberg hatten die Bauern 
den Grafen Helfenftein und fünfzehn Adelige zu Gefangenen ge 
macht. Ste Hatten über die Männer, bie fich tapfer verteidigt 
hatten, die Strafe verhängt, welche die Landsknechte bei ehrlos Ge⸗ 
worbenen anmendeten *): fie durch die Spieße gejagt. Ein Pfeifer, 
der oft an des Grafen Tiſch geſeſſen hatte, fpielte, mit des Herrn 
Federhut geſchmückt, dazu auf: Du bift lange genug Graf geweſen, 
und ich habe dir oft zum Tanze aufgepfiffen; jet will id aud 
Graf fein und erft den rechten Tanz pfeifen. Die Gräfin ward 
gezwungen, ihr dreijähriges Knäblein auf dem Arm, dem Todes» 
gang ihres Gemahls zuzuſchauen. Die rohen Gefellen behandelten 
fie fo, daß ein Chronift jagt, e8 würde kein Wunder fein, wenn 
ihr adelig Gemüt verfhwunden wäre. Sie nahmen ihre Klein⸗ 
odien und die Kleider bis auf den Rock; ein Wirt aus Teckingen, 
der dem Grafen ben erften Stich gegeben, ſchmückte ſich mit feiner 
damaftenen Schaube und fragte die Gräfin, wie er ihr fo gefalle. 
Ein anderer flah nah dem Rinde und verwundete es, obſchon 
feicht; andere ſchmierten ihre Spieße mit dem Fett der Erftochenen ?). 
Alles, was das Volksleben an Haß, Leibenfchaft, Gemeinbeit, Un⸗ 
treue in fi barg, war mit bdiefer Einen That ans Licht ge- 
treten. 

Aber ebenfo zügellos war bie Reidenfchaft und Roheit, welche 
den Verwandten, den Stanbesgenoffen rächte. Truchſeß Georg, 
der Vetter des erjchlagenen Grafen Ludwig von Helfenftein, Tieß 
den Pfeifer Nunenmacher, der bamals aufgespielt, an einen Baum 
binden, fo daß er um den Stamm in ber Entfernung von zwei 
Schritten laufen mochte. Dann ward anderthalb Klafter vom 
Stamm Holz ringsumher aufgefhichtet und der Unglückliche durch 


1) Baumann, A. ©. 89. 
2) Dbige Darftellung aus den Quellen bi Baumann A. Die Stellen 
im Regifter unter „Weinsberg, Mord des Adels“. 


Die Liebesthätigkeit ber deutſchen Reformation. 248 


langſames Roften getötet: Der Truchfeß Hatte mit anderen Grafen 
und Herren jelbft ein jeglicher ein größe® Scheit an das Feuer 
getragen. Auch Weinsberg traf graufame Vergeltung. Der Ort 
wurbe famt den Dörfern im Thal, achtzehn an der Zahl, bis auf 
wenige Häufer zu Pulver verbrannt, nachdem die SKriegsleute des 
Yundes genng „gewürgt, gehenkt, geköpft, geftochen“ ; man beließ 
abſichtlich, als wollte man den Bann des Alten Zeftaments in 
feiner ganzen Strenge verhängen und von dem verfluchten Orte 
nichts verfihonen, das Vieh in den Ställen; weithin börte man 
die Ziere in ihrer Todesangſt bdrüllen. Aber nicht genug dies 
alles. Noch 1526 feierte die Rache ein furchtbares Gedächtnis 
bes Mordes der Edelen, indem man eine Anzahl Bauern — ber 
Chronift fagt „etwan viel" — im Beifein ihrer Weiber und 
Kinder durch die Spieße jagte. Es war am heiligen Dftertag ?). 

Der Verſuch, eine Geſchichte der chriſtlichen Nächſtenliebe zu 
fchreiben, darf an folhen Vorgängen nicht vorübergehen. Einzelnen 
Wirkungen gegenüber bat fie auch die tiefen Schäden aufzubeden, 
welche fragen Lafien: Gab es noch Barmherzigkeit auf Erben? 
Und auch die wirklichen Leiftungen werden die Spur der Erfrans- 
tungen ber Volksſeele, der Trübungen der Volksfittlichkeit irgend⸗ 
wie an fih tragen. Denn in einzelnen Perjönlichleiten wird ſich 
Nächftenliebe Hoc über den Durchfchnittscharakter der Gefinnung 
der Zeitgenoſſen erheben, und fo ragt Luther mit einer Schar 
evangeliiher Mitzeugen und folder BVerjönlichkeiten, welche bie 
evangelifche Wahrheit tief in fich aufgenommen Hatten, weit hinaus 
über die Mitlebenden. Aber für die Miffion im Vollsganzen ift 
der Einfluß der Nächſtenliebe von dem fittlihen Zuftande der Ge⸗ 
jamtbeit abhängig, durch das Banze ber ſittlichen Geſinnung, durch 
die Fähigkeit zu Lieben bedingt; und für die Frage, warum die 
Reformation für gewifje Gebiete, beſonders aud) die Beſſerung ber 
Lage des armen Mannes, nicht fo viel geleiftet, wie ihr Prinzip 
in fi) fchloß, gewinnen wir nur durch den Blick auf bie fittlichen 
Zuftände ein billiges Urteil. Sie hob ihre Arbeit am Vollsleben 
an, als dasfelbe Im Niedergang begriffen war; und gleichzeitig mit 


1) Baumann, A. ©. 585. 627. 677. 208. 





214 Hering 


ihren Anfängen entfeffelte die foziale Revolution die Leidenfchaften 
und befchwor einen Rampf, der den für die zarte Pflanze der 
Nächftenliebe wenig bereiteten Boden noch härter trat und fo allen 
Beftrebungen, auf Soziales vom Geift des Evangeliums aus ein- 
zumwirfen, eine lange währende Hemmung bereitete. 

Dennoch ift der Einfluß desfelben nicht zu verkennen. Mehr 
Milde Hatten die UÜberwundenen doch in den evangelifchen Gebieten 
und vonfeiten der Herren, die dem Evangelium geneigt waren, zu 
erwarten. In Kurſachſen und Hefjen blieben doch die Hinrich« 
tungen auf wenige Nädelsführer beſchränkt; Kurfürft Johann und 
der Teidenfchaftliche Landgraf Philipp von Heſſen entließen ihre Ge⸗ 
fangenen zu Taufenden 9), und in den beutfchen Reichsſtädten wurde 
im Strafen ebenfall® Maß gehalten, auch in Nürnberg, troß feines 
harten Strafrechts ?). 


5. 


Zugleich mit der inneren, ethiſchen Schädigung fallen die herb⸗ 
ften äußeren Verlufte, bie tiefften Einbußen der Volkswohlfahrt 
und des Nationalvermögend als eine Yolge des unfeligen Krieges - 
ins Gewicht. Das Verderbliche einer fozialen Revolution läßt 
fi an ihnen gleihfam mit Ziffern meſſen. Wieviel Arbeit war 
nötig‘, um über foviel Trümmern des Wohlftandes einen neuen 
Bau aufzuführen, da, wo um das Nötigfte gelämpft und hart ge- 
arbeitet ward, die aus dem Evangelium ftammende, ethifch ver- 
edelte und verfeinerte Betrachtung fozialer Verhältniffe aus der 
Welt der Gedanken in die Wirklichkeit überzuführen ! 

Auf dem Bauernſtand beruht ein fo erhebliches Zeil der alfs 
gemeinen Wohlfahrt, und in diefe waren eben durch den Srieg 
fühlbare Lücken gerifien. Dean fchägte die Zahl der Erfchlagenen 
‚auf hunderttauſend °) ; die Donaumörther Chronik ſpricht ſogar von 
120000 getöteten und 50000 Tandflüchtigen Bauern, beren viele 


1) Köftlin, M. Luther I, 749. 758. 

2) Ramann, Nürnberg im Bauernfrieg. Jahresbericht der Kreisreal- 
ichule in Nürnberg 1877/78. ©. 10. 12. 14. 39. Anders ging es in Banı- 
berg zu! ©. 27. 

3) Baumann, A. ©. 307. 408, 


Die Fiebesthätigfeit ber deutfchen Reformation. 215 


„groß Hab und Gut befefien“ 1); denn der Aufftand Hatte im 
feinem Verlauf auch bie Befigenden mit fortgeriffen. Das waren 
fämtlich arbeitsfähige Männer, welche der Feldbau nicht entbehrt 
haben kann ohne einen fühlbaren Ruckgang. Man darf fragen, 
ob nicht die folgenden Notjahre durch diefe Einbuße an Arbeits⸗ 
fräften zum Zeil mit verurfacht worden find. 

Und viel Jammer und! Elend blickt, nur teilweife von Chro⸗ 
niken gemeldet, durch diefe großen Verluftziffern Hindurh! Die 
Mehrzahl der Getöteten mochte aus Bamilienvätern beftehen. Noch 
heute ergreift e8 uns, wenn über das Los ihrer Weiber und Kin» 
der beiläufig eine Nachricht erhalten if. Im Würzburg und in 
der Umgegend, wo das Racheſchwert des Bifchofs unter den Bauern 
anfgeräumt hatte 2), kam es vor, daß Frauen und Kinder Hungers 
ftarben ober erfroren, und daß an etlichen Orten viele Meilen 
weit fein Haus mehr ftand, weil alles verbrannt und verderbt 
worden war 9). Die einzige Zuflucht, an ber es Erbarmen für 
die vom Schrecknis der Nahe Geſcheuchten, Speife und Trank für 
die Verfchmachtenden gab, bildeten die fürs Evangelinm gewonnenen 
Neichsftädte 4). 

Nach diefen fchwerften Schlägen, die bis ins Mark ber Volks⸗ 
kraft drangen, folgen dann die Einbußen am Nationalvermögen. 
Ungeheuere Werte waren vernichtet. Anfangs beſchränkt auf bie 
furze Strede längs der Schweizergrenze und dem Bodenſee, hatte 
der Aufftand ſchon zu Anfang des Jahres 1525 das ganze Ge⸗ 
biet zwifchen Donau, Lech und Bobdenfee ergriffen, um dann Ober» 
und Unterfranten wie aud Thüringen und angrenzende Gebiets» 
teile Heffens und Sachſens zu überfluten und noch weiter vor⸗ 
wärts bis nad) Pommern und Oftpreußen ſich fühlbar zu machen. 
Auf diefem weiten Landftrih war wie von Barbarenhorden ges 
wütet. Die Bauern Hatten zahlreiche Schlöffer der Adeligen zer- 


1) Baumann, A. ©. 270. Über die jammervolle Lage biefer „Ausge⸗ 
tretenen” vgl. Dobel, Memmingen im Reformationszeitalter II, 8 f. 

2) Köftlin, M. Luther I, 749. 

8) So erzählt die Weißenhorner Hiftorie, Baumann, A. ©. 112. 

4) Röhrich, Geſchichte der Reformation im Elſaß L, 267. Medicus, 
Geſchichte der evangel. Kirche in Baiern, S. 17. Kamann, ©. 28. 


26 Hering 


fkört, Klöſter gepfüindert und ausgebramnt, ald Opfer des Kampfes 
und der Rache waren ganze Dörfer in Flammen aufgegangen. Ein 
Tell des Nationalvermögens lag in Afche !). 

Und ein großer Zeit dieſer Verlufte fiel auf die Urheber, die 
Bauern und ihre Familien, aufs empfindfichfte zurüd. ‘Denn 
die Obrigfeiten fchufen fi in Strafgeldern, die auf die eingelnen 
Venerftätten verteilt mwurben und meift 4—6 Gulden (60-90 
Mark) betrugen, durch Einziehungen des Vermögens Singerichteter 
und Ausgetretener, d. i. flüchtig Gewordener einen Erſatz des er» 
littenen Schadens. Die der Teilnahme am Aufruhr überführten 
Städte wurden ebenfalls hart betroffen, mochten fie auch leiſtungs⸗ 
fähiger und reich genug an betriebfamen Kräften fein, um ben 
Schlag zu überwinden. Für bie Schwere besfelben mag Mühl⸗ 
baufen in Thüringen als Beifptel bienen, welches 120000 Gulden 
(ungefähr 1800000 Mark nad heutigem Gelbwert) gu entrichten 
hatte und fich genötigt fah, die in feinem Beſitz befindlichen Dörfer 
zu verpfünden, während der Stabt zupleich auferlegt ward, dem 
Klerus und den Nonnen ihre fämtlichen Einkünfte zu erftatten, die 
Türme und Mauern abzubrechen und alle Wehr heranszugeben ®). 
Ähnlich erging es Mleineren Städten in Süddeutſchland, wie Leip- 
heim. 

Hart und erdrücdend für Witwen und Waiſen wie fit bie 
Familien der Flüchtigen wurbe vollends bie Einziehung der Güter. 
Lange Regifter diefer Kategorie nebſt Inventar und Taxe ihres 
Befitzes find aus den Archiven wieber hervorgezogen unb geben 
uns einen deutlichen Einblid in die öfonomifchen Berhäftniffe der 
ſüddeutſchen Bauern und im bie Bedeutung ber über fie verhängten 


1) Die Aufzählung der durch die Bauern im Allgäu zerflörten Klöſter und 
Sclöffer bi Baumann, A. ©. 253. Die Klöfler der Grafſchaft Mansfeld 
ebend. S. 269. Die Donaumörther Chronik berechnet die Zahl ber zerflörten 
Klöfter und Schlöffer auf mehr ale 200. Ebend. ©. 270. Der Schaden, 
welcher durch den Brand eines reichen Kifterzienfer Kloſters verurſacht war, 
warb auf 30000 Gulden (450000 Markt nad heutigem Geldwert etwa) ge- 
ſchätzt. Hartfelder, S. 286. Charakteriſtiſche Zerflörungsfeenen Bau- 
mann, A. ©. 388. 382f. 385. Hartfelder, ©. 86. 88. 98, 166. ꝑ14 ff. 

3) Baumann, A. &. 114. 


Die Teheschätigkit ber bentichen Sefermerioe. 27 


Strafe. Da gab es Richtsgäbige, bie nur ein Weib und ein Häufs 
lein Kinder Sinterließen; von einem andern, bem das Haupt abge- 
ſchlagen, wird vermerft: „Hat nichts, ift mehr ſchuldig, denn fein 
Bermögen it"; Beſchlag ift auf das Bermögen eines Dritten ge- 
Iegt, das wicht mehr als 3 Gulden (etwa 60 Mark) Wert bat; 
und dann konmen aud, ftattliche Bauerngüter zur Einziehung, denn 
der Schultheiß des Abts von Schönthal befaß Ländereien im Wert 
von 500 Gulden (Heute ungefähr 7500 Marf), und der Schultheiß 
von Schwabadh wurde mit feinen 110 Morgen Ader- und Garten« 
land Wiefen und Weinbergen auf 1400 Gulden (etwa 21000 
Mark) abgefhätt. Innerhalb dieſer Unterſchiede völliger Armut 
und behäbiger Wohlhabenheit find alle Zwiſchenſtufen vertreten; 
doch erreiäht der Beſitzſtand der Mehrzahl nicht die Höhe von 
100 Gulden (nngefähr 1500 Mark). Alle diefe Güter, der Kalbe 
Morgen Weingarten des Armen wie die Hufen des Reichen ver» 
fielen al8 Bußen !). Den Weibern und Kindern verblieb das Los 
völliger Armut. 

Leider war mit folden Strafen auch der Habgier eine Thür 
geöffnet. Bon einem Beamten bes Würftabte don Kempten er» 
zählen bie Alten, wie er einem gefangenen Bauern, den er für 
wohlhabend hielt, zuſetzte. Rappenſchech, rief er ihm zu, du mußt 
fterben, das Urteil ift gefällt. Da fteht der Nachrichter; möchteſt 
du nicht 200 Gulden für deinen Kopf geben? Der Bauer ver» 
fiherte, er befige nicht fo viel. Man ging im Angebot auf 100 
Gulden, dann auf eine beliebige Summe Geld herunter. Über ber 
Unglüdliche Hatte nur einen Malter Hafer. Sein Dränger warf 
ihn wieder in ben Turm; der Bauer fchrie zu Gott um Recht, 
aber jener rief höhnend: „Unb wenn dir Gott auf dem Rucken 
füße, du möchtet aus dem Turm nicht kommen, denn allein durch 
Gnaden meine® gnäbigen Herrn bon Kempten!“ 2) Go wiberlich 
chnifche Geldgier, fo brutale gottlofe Grauſamkeit an derfelben 


1) Die Liften bei Baumann, Alten zur Gefchichte bes Bauernkriege aus 
Oberſchwaben. Freiburg 1877. 5. BEL ff. 

3) Baumann, Alten S. 394. Auch in Bamberg mifchte ſich Geldgier 
und Haß gegen die Evangelifchen in bie vom Biſchof veranlaßte Beftrafung. 
Die Nürnberger meinten, baß dies türkiicher Brauch fl. Kamann, ©. 27, 





218 Hering 


Stätte, an der fich feit Jahrzehnten bie Unterthanen über Drud, 
Vergewaltigung, Ausbeutung befchwerten, war doch ein Symptom, 
das auf die Borgefchichte des Aufruhrs zurüdichließen läßt. 

Aber auch abgefehen von folchen Ausartungen trug die Beſtra⸗ 
fung der Bauern den Charakter graufamer Vergeltung und einer 
unweifen Reaktion. Es ging aus ihr nicht hervor, daß die Re⸗ 
gierungen eine Lehre aus dem Aufruhr genommen hätten. Biel 
mehr war zu fürchten, dag die fo fchonungslos ausgenugte Gunft 
de8 Sieges auch der Befinnung auf Reform der Lage des Bauern- 
ftandes im Wege ftehen werde. 


Schon die Berfuche einer Vereinbarung ftteßen auf Hemmniſſe. 
Baſel hat fih damals bemüht, eine folche zuftande zu bringen; 
aber die öfterreichifche Megierung wußte hinzuzögern, indem Ferdi⸗ 
nand feine Zuftimmung fo lange zurüdhielt, bis ber Waffenftill- 
ftand abgelaufen war. Aufs neue brad ber Aufftand los, um 
abermals niedergetvorfen zu werben. Die Bauern hatten e8 nur 
der Vermittelung Baſels und des Markgrafen Philipp zu danken, 
daß, während das Schwerjte fie bedrofte, ein Vertrag zu Offen⸗ 
burg zuftande kam. Derfelbe gewährte den Bauern außer dem 
Verſprechen, Beſchwerden gegen die Amtleute zu unterfuchen und 
nach Befinden abzuftellen, nur die Meilderung einiger Strafbeitim- 
mungen. Er fette feft, daß Witwen vom Strafgelde frei fein, 
Reiche für den Armen bei Abtragung diefes Geldes mit eintreten, 
die Güter Hingerichteter nur für die Hinrichtungsloften in An⸗ 
ſpruch genommen, im übrigen ben Erben zufallen follten. Dagegen 
behielt fi) die Obrigkeit harte Beſtrafung der Nädelsführer vor; 
in den Firchlichen Dingen machte fie nicht das mindefte Zuge- 
ftändnis, auch ber fozialen Fragen und Beſchwerden wurde nicht 
ferner gedacht. Die Aufgabe, welcher allein die Regierung mit 
Eifer bis ins Jahr 1526 oblag, beftand im Fällen und Voll⸗ 
ftreden von Todesurteilen *). 

Auch die Angelegenheit der Hörigen bes Fürftabts von Kempten 


1) Hartfelder, ©. 359 ff. 


Die Liebesthätigkeit der deutfchen Reformation. 219 


wollte nicht vorwärts rüden. Wie alt waren doch ihre Beſchwerden! 
Schon im letzten Jahrzehnt des fünfzehnten Jahrhundert war über 
fie verhandelt, waren Unruhen entitanden. Dann hatten die Unter- 
tbanen die alten Klagen in neunzehn Artikel verfaßt dem Fürſtabt 
Sebaftian im Januar 1525 wieder vorgetragen 1). Ihre „demü⸗ 
tige und unterthänige Bitte“ war erfolglos geblieben. Nun hatten 
fie durch ihren Anteil am Aufftand fich ins Unrecht gejekt. 

Der Fürftabt Tonnte jet vor dem bündifchen Schiedsgericht in 
Memmingen gegen fie ald Kläger mit einer langen Neihe ſchwerer 
und ohne Zweifel begründeter Befchuldigungen auftreten; er konnte 
den Antrag ftellen, ihnen die Güter, welche fie vom Gotteshaufe 
zu Lehn Hatten, wieder zu nehmen, da fie diefelben verwirkt, und 
fie zur Zahlung der Strafen und Bußen, zur Reftitution der ge 
raubten Güter, fofern fie noch vorhanden, und zu doppeltem Er- 
fat des Wertes der verbrannten und verwüſteten anzuhalten 2). 
Die Verantwortung der verflagten Kemptner Gotteshausleute vor 
demjelben Schiedsgericht läßt dagegen erkennen, daß der Sinn ber 
Bauern nicht gedemütigt war. Sie feßten Anfchuldigung gegen 
Anfchuldigung. Sie erinnerten daran, daß feine fürftlichen Gnaden 
mit aufgehobenen Fingern bei feiner fürftlihen Würde, Ehrbarkeit 
und Frömmigkeit zugefagt, alle ungebührlichen Beſchwerden abzu« 
thun und hierzu die ganze Landfchaft bis Lichtmeß, 2. Februar 
1524, zu berufen. Während fie nun auf folche tröftlichen und 
gnädigen Zufageu Huldigung gethan, jeien doch alle Verhandlungen 
mit ihrem Herrn vergeblich geweſen, und fo hätten fie gehandelt nad 
dem gemeinen Spruch: Brichſt du Glauben gegen mir, bin ich nit 
Ihuldig, Glauben zu halten gegen dir. Vor vielen Jahren fet 
ihnen und ihren Vorfahren von Gott und allem gemeinen, päpfte 
lichen und Taiferlihen Recht Freiheit ihrer Perfon wie ihrer Güter 
verliehen; an diefer ihrer Freiheit habe der Herr von Kempten fie 
geſchwächt umd vergewaltigt, fie in Eifen gejchlagen, mit Geld⸗ 
ftrafen, Salramentsentziehung bedrüdt, mit Steuern und Schaungen 
bejhwert und ihren Stand härter und ärger gemacht, denn den 


1) Baumann, Alten ©. 81ff. 


220 z Hering 


von Kuechten und Hunden. Und obwohl ſchon vor dreißig Jahren 
die löblichen Bundesſtände durch ihre Verordneten einen Verſuch 
zum Ausgleich gemacht, mit der Verabredung, daß ein freier Zins» 
mann ein foldher bleiben folle, jo fei von dem gmädigen Herrn 
dem nie nachgelebt, ſondern es ſeien niele Hundert Berjonen mit 
Berbaftung und Einferferung mit „Stöden und Plöcken“ gezwungen 
und gedrungen, ihren Stand zu verlaffen und fi in einen ärgeren, 
nämlich den ber Unfreiheit zu begeben. So ſolche Beichwer je 
länger je mehr eingeriffen, hätten fie, als der jeige gmädige Herr 
zum Prälaten erwählt fei, ſolche in aller Unterthänigleit uud De⸗ 
mütigkeit zum erkennen gegeben, und anf gejchehene gnädige Zufage 
hätten fie gehufdigt in Anfehung, daß einem jeden Menfchen, zuvor 
einem geiftlihen Prälgten nichts beſſer anftehe, deum feine Zufage 
zu halten. Enttäuſcht und bedroht feien fie dann zum Bündnis 
gefchritten. Seine Gnaden möchten ſich den Schaden an Schlöffern 
und dem Gotteshaus felbft beimeſſen. Zum Schluß bitten fie 
„unterthänigft und demütigſt“, ihnen zu einem rechtlichen oder 
gätlihen Austrag zu verhelfen 1). Derſelhe ift denn aud) 1526 
durch den ſchwäbiſchen Bund zu Memmingen und von einigen 
Eden zu Martinzell vermittelt worden, „in welchem Bertrag 
dem Gotteshaus einige Gerechtigkeiten gemindert find, dach nicht 
viel“ 2). 

Dem Einfluß mächtiger, dem Evangelium gewonnener Städte, 
wie Bafel und Straßburg, waren die jpärlichen Fortſchritte zu 
danken, welche dennoch bier und da die foziale Reform gewann. 
Zum Teil fielen ökonomiſche Intereſſen für ihr vermittelndes 
Wirken ins Gewicht; es mußte ihnen daran Tiegen, für Bauer» 
ſchaften, die auch ihnen zu irgendwelchen Leiftungen pflichtig waren, 
fo viel Freiheit und Vermögen zu retten, daß bdiefelben nicht zu⸗ 
grunde gingen. Aber auch die fittlichen Geftchtspunkte wirkten mit, 
die unter dem Einfluß des Evangeliums Hervorgetreten waren. 
Man erjieht dies befonderd aus einem Vertrag, der durch die Ber- 
mittelung der genannten Städte zwifchen dem Markgrafen Ernit 


2) Bauman, Alten ©. 335. 
2) Baumann, A. ©, 388. 


Die Liebesthätigkeit ber deutfchen Reformation. 221 


von Baden und feinen Bauern im September 1525 zu Baſel zu⸗ 
ftande kam. ‘Derfelbe war doch für die Banern nicht zu ungünſtig. 
Man gewährte ihnen vor allem bie Predigt ded Evangeliums nach 
der heiligen Schrift, damit fie von Lafter, Aufruhr, Sünde 
umd Üppigkeit abgewandt und zu gutem Gehorfam erzogen wür- 
den. Die Anfpebung ber Leibeigenfchaft murde in Ausficht ge- 
fteit, wenn das Haus Oſterreich feine Unterthanen frei geben 
wurde. Bon drüdenden Abgaben wurde der Sterbefall und das 
Strafgeld, welches für Ehen zwifchen Freien und Hörigen gezahlt 
wurde, abgefchafft. Auch inbezug anf die Jagd und bie Holgnugung 
erfolgten einige weſentliche Zugeftändniffe. Für Fronbienfte fagte 
man wenigftens Berföftigung oder ein Aquivalent zu. Wen nad) 
größerer Bedentung war es, daß überfchuldete Güter an ben 
Lehusheren zurückgegeben werden durften, nur daß die ſchon ver» 
fallenen Zinſen abzutragen waren; ferner, daß die Herrichaften die 
Abgaben erlaffen ſollten, wenn Kriege oder Natnrereigniffe großen 
Schaden verurfacht hätten, und endlich, daß für Zinfen und Gülte 
ein billiger Ablöjungsmobus gefchaffen wurde. Im Gerichtswefen 
wurde Abftellung der drüdendften Befchwerben zugefichert: bie Güter 
eines wegen Todſchlags Berurteilten follten z. B. hinfort nicht 
mehr eingezngen, die Gerichte nicht parteiifch befetst werden; dem 
dürften legte may ans Herz, dem leichtfertigen Gebrauch bes 
Bunnes enigegenzuwirken ). An mehr al3 einem Punkbkte fpüren 
wir in diefen Beſtimmungen den Einfluß der Vorſchläge und Re⸗ 
formgedanten der Reformation. 

Immerhin war folche Milde und Billigkeit vereinzelt, die Qage 
der Bauern im ganzen nicht gebeifert. Kin Ehrmift fagt, es fei 
ein harter Austrag, daß die, welche fich des Karrens gemeigert, 
in den Wagen eingefperrt worden feien ?). 


7. 


Der Aufſtand ward niedergeſchlagen, aber ber religibs⸗kommu⸗ 
miftifche Gedanle überdauerte ihn. Er behielt feine Träger in 


1) Sartfelder, S. 349. | 
2). Bal. Anchelm, Berner Chronik VI, 301; bei Hartfelder, ©, 499, 





222 Hering 


Anabaptismus. Vorher Ferment der fozialen Revolution, ging die 
Schwarmgeifterei nur in ein neues Stadium über, indem fie Ger 
meinden um gewilfe Grundforderungen fammelte und die Bildung 
einer abgefchloffenen Sekte mit lebendigem Miſſionstrieb anftrebte. 
Was am Widerftand der ungläubigen Welt gejcheitert war, follte 
nun im Schoß der Gemeinde durchgefeßt werden, eine Güter- 
gemeinfchaft um der Gemeinjchaft der Brüder in Chrifto dem Erft- 
geborenen willen, Kommunismus aus Liebe. 

Nicht als ob alle Wiedertäufer im ftrengen Sinn Kommuntften 
gewefen wären, oder als ob allen die hriftlich-foziale Ausgeftaltung 
des wirtichaftlichen Lebens das Erjte und Wichtigfte geweſen wäre. 
In fchöpferifchen Anfängen giebt e8 immer eine Mannigfaltigkeit 
indivibueller Anfäge, die doc den Grundtypus fefthält. In der 
neuen Gemeinfchaft fahen die einen die Abfchaffung der Kinder- 
taufe als das Hauptftücd eines rechten fchriftgemäßen Chriftentums 
an, und die fogenannten Gartenbrüder fammelten fich in den Vor⸗ 
ftädten, wo ber nahe Fluß Gelegenheit zu der ſchriftmäßigen Tauf⸗ 
praxis bot und machten durch aufgehängte Badehofen die Stätten 
der rechten Geifteswirkung den Brüdern kenntlich. Mehr als die 
rechte Taufe lagen anderen Ideale am Herzen, weldde in apola= 
(pptifchen und eschatologiichen Farben jpielend ihrem Kern nach 
doch auf Glückſeligkeit im Diesfeits hinausliefen. Alle diefe und 
andere Unterfchiede der Gemeinde hingen mit der Verfchiedenheit 
der Führer zufammen: welch ein Abftand zwifchen einem ernft« 
haften philofophifchen Kopf wie Hans Denk und dem im Geift 
anfangenden, im Fleiſch vollendenden Ludwig Häger; zwifchen bem 
überzeugten Eiferer wider die Kindertaufe Hübmaier, der fich gegen 
den religiöfen Sozialismus fpröde verhielt, und tilgen einem 
fanatifchen Wortführer des Kommunismus, wie Hut! Wo fo viel 
Spielraum für verfchiedene Geifter war, blieb auch die Unklarheit, 
das Undurkhfichtige und Unberechenbare, das der Bewegung gleich 
einer trüben Gährung von Anfang anbaftete. Denn auch ferner- 
hin, wie in Münzer, Carljtadt und den Zwidauer Propheten be- 
bauptete fich altteftamentliche Gefetlichleit neben Betonung der 
evangelifchen Freiheit, Buchftäbelei neben der Geiftesrede, Wider⸗ 
willen, der Obrigkeit zu gehorchen neben der Willigleit, von ihr 


Die Kiebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 228 


auch das Äußerfte zu erdulden, fozialer Anſpruch für das irdiſche 
Leben neben der Sehnſucht nad den legten Tagen und der Zu- 
funft des Herrn. 

Und eben diefe Unklarheit übertrug fi) auch auf die Forde⸗ 
rung der Gütergemeinfchaft. Bald erfchien diefelbe als rechtlich 
geartet, nur daß fie innerhalb der Gemeinde geordnet ward, bald 
als eine in Unterftügung und Hilfsleiftung beftehende Übung brü- 
derficher Liebe: Und während man eben bier mit dem Evange⸗ 
lium der Liebespfficht zu genügen vermeinte, waren dann doch 
wieder mittelalterliche Vorſtellungen in der näheren Feſtſtellung 
und Begründung wirffam. Denn der Sag, daß alle Dinge nad 
einem aus Gottes Schöpfung ftammenden Naturrecht gemein feien, 
ift auch bei den Wiedertäufern in Geltung; und glei den Bes 
gründern des evangelifchen Rates volllommener Armut beziehen jie 
fich auf das Vorbild der Gemeinde in Jeruſalem und auf das 
Wort ChHrifti: Willft du vollfommen fein, fo gebe Hin und ver- 
faufe alles, was du Haft, und gieb e8 ben Armen). Nahmen 
wir wahr, wie die mönchiſch⸗asketiſche Betrachtung für den evan⸗ 
gelifchen Nat volllommener Armut einen Stützpunkt in dem Ges 
danken eines urſprünglichen Paradiefes-Rommunismus erfann, wie 
fie das Eigentumsreht nur aus dem Notftand, der mit der Sünde 
eingetreten, zu rechtfertigen mußte, wie fie den Vollkommenen die 
Wiederherftellung jenes urfprünglichen Zuftandes zur Pflicht machte, 
fo fehen wir die Wiedertäufer diefes Ideal des Mönchtums, an 
dem die ganze Liebesthätigfeit des Mittelalters krankte, zum Statut 
erheben. Sie pfropfen gleihjam die Anfchauungen der Mönchs⸗ 
orden auf ihre Gemeinden, fie machen mit dem Kommunismus, 
der dort nur als Hilfslinie im Syftem Bedeutung gehabt Hatte, 
vollen Exrnft und bilden, auch in diefem juribifchen Zuge Kinder 
des mittelalterlichen Geiftes, bie Forderungen, die über das Gebot 
hinausgingen, zu folchen um, welche innerhalb der Gemeinde gleich 


1) Baumann, A. ©. 646 ff. Der Ehronift Jakob Holgwart geht als 
einziger unter allen der Sammlung auf die Argumente der Wiebertäufer ein. 
Sein Berfuch, fie zu widerlegen, ift interefiant. Beilänfig ift ©. 648, 3. 11 
v. u. mentitus zu leſen ftatt mentibus. 


Theol. Stud. Jahrg. 1886. 15 





224 Hering 


einem Statut gelten und auf ben Zeitpunkt warten, an bem fie 
überall in der Welt als göttliches Recht in Kraft treten werden. 
Das war nicht eine von den zufälligen Paradoxieen ber Ges 
Ihichte, daß eine Richtung, die man wohl die entartete Schwefter 
der Reformation nennen könnte, doch dem Mönchtum geiftesver- 
wandt blieb. Denn fie hat den Fehler, an dem dies litt, nicht 
überwunden; fie Hat nur ein Verhältnis der Abftogung zu einem 
Kreis fittliher Ordnungen, auf welche das Ebriftentum eingehen 
jol. Die Obrigkeit, das Recht ift ihr etwas Fremdes, ein Stück 
„Welt. Die fittlihe Bedeutung des Eigentums für den ein« 
zelnen wie für den fozialen Organismus entgeht ihr. Es wäre 
eine ungeſchichtliche Betrachtung, den Anabaptismus unter einfeis 
tiger Hervorhebung diefer Berührungspunkte gleihfam zurückzu⸗ 
biegen auf die Entwicelungsftufe, deren Einfeitigleiten ihm an⸗ 
baften, zu überfehen, welch ein lebendiger regſamer Fleiß in den 
Gemeinen Mährens die Hände zur Arbeit in Bewegung feßte, 
nicht anzuerkennen, wie auch das religiöfe Leben in den Beſſeren 
zur Einfalt, Reinheit und Liebe apoftolifcher Sinnesart Hinftrebte ; 
aber für die fozialen Verfehlungen des Anabaptismus iſt gerade 
das Erbe mittelalterlicher Vorftellungen, die er aus dem Asletiſchen 
ins Revolutionäre überfegt Bat, fchwer ins Gewicht gefallen. 

Und eben diefer fein Anſpruch, das rechte chriftliche Verhältnis 
zu den zeitlichen Gütern herzuftellen, machte ihm Bahn ins niedere 
Bolt. Ähnlich wie drei Jahrhunderte zuvor die Bettelorden durch 
ihre Armut einen Zauber auf die Gemüter ausübten, verbreitete 
fich wie durch Anfteung der täuferifche Geiſt. Er beſaß diefe 
Macht gewiß nicht bloß durch feine Lehren von der Taufe, fondern 
durch das, was an ihm Weltflüchtiges, mit den beftehenden Ver⸗ 
hältniffen, den geltenden Gewalten Überworfenes war, zugleich durch 
feine Predigt von der Nächftenliebe und der Gemeinjchaft der Güter 
unter den Wiedergeborenen. Wie viele Arme im Volt horchten auf 
diefe Rede! Sole, die fich von der Reformation in ihren Hoff- 
nungen getäufcht glaubten, durften meinen, diefelben hier doch noch 
erfüllt zu jehen. So wuchs die Zahl der Täufer nad) der Nieder» 
werfung der Bauern, und es war befonders der Handwerkerftand, 
in welchem er Boden gewann. Dem Miffionsbefehl Chriſti ges 


Die Liebesthätigfeit der dentfchen Reformation. 25 


horſam beeiferten fich jchlächte, ungelehrte Männer, das rechte Evans 
gelium im Geift den Armen zu predigen. Mit größter Heimlich⸗ 
keit gingen fie zu Werfe, indem jie zufällige Zuſammenkünfte be 
nußten oder auch durch die Häufer ſchlichen. Bald waren fie in 
allen größeren Städten Süddeutſchlands ausgebreitet; ihre Ger 
meinden erftredten fih, eine lange Kette, von Salzburg bis an 
den Rhein, und befonders Augsburg, deifen zerrüttete foziale Ver⸗ 
bältnifje einen empfänglihen Boden bildeten, ward ein Vorort des 
Auabaptismus, in dem es 1527 nicht weniger ald 1100 Gemeinde- 
glieder gab !). 

Über der Ausbreitung folgte allenthalben die fchärffte Verfol⸗ 
gung mit unnachſichtlicher Strafe ?). Anfänglich, als die Schwär⸗ 
merei in den Zwidauern ihr Haupt erhob, hatte Luther eine Be⸗ 
fampfung durch das Wort befürwortet und von äußeren Strafen 
abgeraten. Aber der Gebanfe der Zoleranz mußte mit einer ges 
wiffen Notwendigkeit der Rückſicht auf die öffentliche Wohlfahrt 
und Sicherheit weichen. Der Anteil der Schwarmgeifterei und 
des neuen Prophetentums am Bauernkrieg war in zu frijchem 
Gedächtnis, als daß man in ‚feiner regfamen Propaganda nicht 
ein Nachzuden der Revolution hätte fehen follen; und überdies 
ließen die Erfahrungen, welche man in diejer gemacht, auch evan⸗ 
gelifche Obrigfeiten, ja die Reformatoren ſelbſt äußere Strafmittel 
und Repreffiomaßregeln nicht mehr verfchmähen, um die evanges 
liche Predigt gegen das Gift fchleuhender Winfelprediger zu ver 
wahren. Vollends den fatholiichen Herren lag nad) der Art, wie 
fie den Bauernaufftand beurteilten, der Gedanke an Milde gegen 
die Wiedertäufer fern. Sie galten ihnen als die gefährlichite Frucht 
ber Iutherifchen Keterei und zwiefach der Austilgung wert. Luther 
und Brenz dagegen haben abgemahnt, dieje „falſchen Propheten“ 
an Leib und Leben zu ftrafen*; fie dachten daran, wie die Juden 
die heiligen Propheten und die PBapiften die Unjchuldigen getötet 
hatten °). 


1) Baumann, A. ©. 138f. 140. 145. 157. 
3) Der ganze Vorrat graufamfter Leibesftrafen jdien an ihnen erſchöpft 
werden zu follen. Baumanı, A. ©. 139. 
3) Das Dekret des Kurfürften Johann und das Faiferlidde Mandat vom 
15* 


226 Hering 


Viele der Verurteilten fah man gleich, Märtyrern fterben. Sie 
gingen freudig in den Tod, umarmten ihre Henker und befahlen 
ihre Seelen wie rechte fromme Chriften dem Bimmlifchen Vater. 
Die fittlihen Verkehrungen und Zrübungen, die den Anfängen ber 
Schwärmerei anhafteten, waren dennoch nicht überwunden. Wie 
viel ernfte innige Gemüter in dem neuen Evangelium eine reine 
Befriedigung gefunden haben mögen, in dem Ganzen der Bewegung 
wie auch in einigen hervorragenden Führern treten je und je uns 
heimliche Symptome einer widerwärtigen fleifchlichleit hervor. Wie 
ihimpflih fam Hätzer zu Yall Und im Jahre 1529 ging bie 
Sage, daß Wiedertäufer, die gefangen genommen waren, „ein ſelt⸗ 
ſames Spiel mit einander getrieben, die Weiber verwechjelt und 
umgehn Laffen“ !). Eben in diefem Jahr fchien die Sekte in 
Siüddeutfchland gedämpft, fie war faft aller hervorragenden Führer 
beraubt, und doch Hatte fie ſchon Heimliche Wurzeln nach Weft- 
falen getrieben, wo fte einige Jahre fpäter eine furchtbare Kata⸗ 
ſtrophe herbeiführen ſollte. 


8 


Bei fo kritiſchen Zuftänden des deutſchen Volkslebens wurde 
das Werk bedeutungsvoll, das man in Kurſachſen unter den er⸗ 
regten Zeiten vor dem Aufſtand angefangen hatte und nach demſelben 
ſofort wieder aufnahm, die Viſitation. Denn dieſelbe be— 
deutete eine „innere Miſſion“ im tiefſten Sinn, und 
auch die, welche fragen, warum die äußere oder Heidenmiffion 
nit von den Reformatoren in Angriff genommen jet, müfjen 
deſſen eingedenk fein, daß unſer Volt zum Teil aus heidnifchen Zur 
ftänden dem Evangelium zurüdzugewinnen war. So war es nad 


Reichstag zu Speyer 1529 bei Haft, Gedichte der Wiebertäufer, 1836, 
©. 159 ff. Luthers Äußerungen €. U. 26, 264 ff. De Wette 3, 347. 
Köſtlin II, 154. Über Brenz vgl. Herzogs Real⸗Encykl. 2. Aufl. 2, 610. 

1) Baumann, A. ©. 158. Die Arbeiten über bie Wiedertäufer von 
Cornelius, Geichichte des Münfterifchen Aufruhre, Leipz. 1855, und Keller, 
Geſchichte der Wiebertäufer und ihres Neiches zu Münfter, 1880, lafſen nicht 
genug ertennen, daß der unethiſche Zug in der wiebertäuferiichen Bewegung fich 
ſchon in der Epoche, von der wir reden, wiederholt regt. 


Die Liebesthättigkeit der deutſchen Reformation 227 


Luthers Worten „ber Liebe Amt”, welches der ſächſiſche Kurfürft 
nach dem Vorbilde des frommen Yofaphat !) übernahm, dem Evans 
gelium in das tief zerrüttete Volksleben Bahn machen zu helfen. 
Schon feit Yahrhunderten hatten feine Ahnherren kraft ber landes⸗ 
herrlichen Gewalt bei den PVifitationen zerrütteter Klöſter mitge- 
wirft 2); aber doch ging jetzt das Eingreifen in die kirchlichen Zu- 
ftände weit über die früheren Bemühungen hinaus. Diefe hatten einer 
Reform gegolten: jene wollte Reformation durch das Evangelium. 

Man weit gewöhnlich auf die Anomalie Hin, die in biejer 
kirchlichen Initiative eines weltlichen Fürften lag, und römiſche 
Gefchichtsfchreiber pflegen anzubeuten, wie profane Mittel die Re⸗ 
formation brauchte, um durchzubringen. Es ift wahr, daß dieſe 
Anomalie viel Bedentliches in der Folge gezeitigt hat. Aber damals 
war fie, al8 die Biſchöfe ich dem Evangelium verfagten, ein Akt 
der Not, wie landespäterliher Gefinnung. Und es muß erinnert 
werden, daß fie au mit Glaubensmut unternommen ward. “Dies 
Evangelium, das man dem armen Volk bringen wollte, hatte nod) 
nicht eine Geſchichte proteftantifcher Sittlichleit zum Zeugnis feiner 
ernenernden Kraft; gerade jett wurde es von vielen als Urſache aller 
fozialen und religiöfen Irrungen beſchuldigt. Es fragte fi, ob 
es eine Wiedergeburt dur Einpflanzung rechter Gottesfurdt in 
einem durch Jahrhunderte verwahrloften und nun Teidenfchaftlich 
aufgeregten Volkstum herbeiführen werde. Als in Kurſachſen diefe 
Frage bejaht wurde, war eben damit Grund zu einer Volks— 
erziehung durch das Evangelium gelegt. 

Als man and Werk ging, öffnete fi) ber Blick in alle die 
Schäden, die zum Teil eine Folge des Bauernkrieges, aber ebenfo 


2) Auf diefen hatte Hausmann in einer Denfichrift vom 2. Mai 1525 
veriielen, die er auf Aufforderung Friedrichs des Weifen ausgearbeitet batte. 
Burkhardt, Gefchichte der ſächſ. Kirchen- und Schulvifitation. Leipz. 1879. 
©. 7. Bol. E. Riehm, Handmwörterbuch des bibl. Altertume. Art. Jo⸗ 
fapbat. 

2) Reinhardt, Meditationes de jure principum etc. S. 127fj. Auch 
Herzog Georg Hat in die BVifitationen als Landesherr mit eingegriffen, da er, 
wie Reinhardt a. a. D. berichtet, fehr ungänftig über die von der Kirche allein 
vorgenommenen Bifttationen dachte. 


228 Hering 


eine Frucht der ganzen letzten Epoche bes Verfalls bes kirchlichen 
Lebens waren. Vieles wies auf ein Jahrhundert der VBerwahr- 
loſung zurück). Wie mancherlei Abftufungen auf dem ausge 
dehnten Gebiet bis Franken Hervortraten, fo gab es doch nicht 
einen intakten Bezirk, überall unhaltbare veformbedürftige Zu⸗ 
ſtände. 

Und zugleich mit den fittlichen Schäden wurde ein ökonomiſcher 
Notftand offenbar, ohne deffen Bewältigung jene nicht geheilt wer- 
den fonnten. Die Frage nah einem genügenden Unter: 
halt der Bfarrer mußte gelöft werden, follte „Gottes 
Wort und Dienft nicht zu Boden gehn“. Niemals vielleicht hat 
fich in der evangelifchen Kirche, die Bedingtheit der höchſten Auf: 
gaben durch fcheinbar niedere fo drückend geltend gemacht. 

Schon im Jahre 1525 Hatte Luther mit dem Kurfürften So» 
hann darüber Briefe gewechfelt, ob der Bejoldung der Bfarrer 
aus Kloftergut oder Gemeindemitteln nachzuhelfen ſei ); dann fchärf- 
ten die Erfahrungen, die ſchon in den erften Bifitationen' 1526 ger 
macht wurden, die Dringlichkeit einer Hilfe ein). Die kurſäch— 
fifche. Inſtruktion für die Viſitatoren vom Jahre 1528 erteilte 
genauere Anweilungen. Zuerſt folten die liegenden und fahrenden 
Güter fowie die bisherigen Bezüge der Pfarrer, auch die Einkünfte 
der Bettelfföfter und Domiftifter feftgeftellt werben; reichten Dies 
jelben nicht zu, fo möchte. die Gemeinde eintreten; wäre bie Ge 
meinde unvermögend, jo ftellte der Kurfürſt eine Beihilfe aus 
feinen Lehnen, Klöftern und Stiftern in Ausficht. Auch die Bau⸗ 
laft wurde den Gemeinen auferlegt. Für den Wall, dag Zinfen 
und Decem fäumig gegeben würden, erhielten die Amtleute An⸗ 


— 


1) Gegen Janſſen. Es verſteht ſich, daß dieſer dem römiſchen Recht, der 
Reformation und dem Vauernkrieg alles das zuſchreibt, was durch die Viſitation 
ans Licht trat. Hatten die Bauern in Zinna das Baterunfer durch den: Bauern⸗ 
frieg fo verlernt, daß es ihnen zu lang däuchte? Burkhardt, Viſitationen 
S. 38. 

2) De Wette III, 39. 51. Burkhardt, Luth. Briefwechſel S. 92. 

3) Burthardt, Gedichte der ſächſ. Kirchen- und Schulviſitationen 1879. 
©. 14. 


Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 229 


weifung, mit Strenge vorzugehen ). Auf die Gemeinden alfo 
follte bei ungenügendem Einkommen zunächft zurücgegriffen werden. 
Die Verfaſſer der Inſtruktion hatten eine Anzahl von Möglich⸗ 
feiten fehr überlegſam berüdfichtigt; eine Borftellung von den Zu» 
ftänden, die fie finden follten, bat ihmen indes ſicherlich noch ge- 
fehlt. 

Auch an das Armenwelen wurde in der Inſtrnktion 
gebadht. Wären die kirchlichen Bedürfniſſe befriedigt, fo möchten 
die Überfehüffe in den gemeinen Kaften fließen und der Armut zus 
gute fommen. Die Bifitatoren follten darauf fehen, daR es bei 
der Austeilung nicht, wie aus einigen Orten Slage geführt war, 
parteitfch oder eigennügig zugehe, auch die Beamten vermahnen, 
der Armut guten Schuß zu halten. Zugleich wurde den Pfarrerm 
das arme Volk befohlen. Die trüben Erfahrungen, welche vor 
zwei Jahren gemacht waren, kommen wohl in der dringlichen Art 
zum Ausdrud, in welder ben BPredigern eingefchärft wird, die 
Lehre vom Gehorfam gegen die Obrigkeit recht zu treiben, bie 
Selbftändigfeit und Gültigkeit des kaiſerlichen Rechts gegen bie 
Schreier zu verwahren, welche die Forderungen und die Schärfe des⸗ 
felben, namentlich aud) die des Strafredhts unter Berufung auf 
Moſes als unrecht bezeichneten. Aber die Prediger follen auch die 
Obrigkeit erinnern, daß fie die Armut nicht wie das Vieh behan- 
dele, ihren Unterthanen Schu und Treue halte und Witwen und 
Waifen verteidige 2). Wir erkennen auch hier den Geiſt chriftlicher 
Gerechtigkeit, de8 Wohlwollens, das troß der legten Jahre fich be⸗ 
hauptet hatte, zugleich aber au, wie andere dringlide Auf— 
gaben für jegt denen der Zürforge für die Armen 
voranſtanden. 

Und noch mehr mußten dieſelben in die erſte Stelle einrücken 
durch die Ergebniſſe der Viſitation ſelbſt. Denn man fand faſt 
überall eine Dürftigkeit der Pfarrer, welche Abhilfe 
heiſchte. Zum Zeil war diefelbe eine Frucht früherer Meißftände 
und Nöte, wie fie die Mißwirtjchaft der Kurie im Gefolge hatte; 


1) Richter, Die evang. Kirchen⸗OO. I, 79ff. 
2) Ebend. 88. 





230 Hering 


zum Teil war fie durch ben Bauernaufruhr herbeigeführt; denn 
berfelbe hatte feine Spuren auch am Kirchen- und Pfarrgut hinter- 
laſſen. In Thüringen hatten die Landleute oft das bare Kirchen- 
vermögen unter fich geteilt und Kelche und Monſtranzen zur Be⸗ 
zahlung von Strafgeldern ober gar zu Zechpfennigen verfilbert %). 
Ganze Gemeinden hatten ſich der jchuldigen Leiftung gegen ben 
Pfarrer entwöhnt. Und wenn mun die Bifttatoren wirklich dieſe 
Heinen Bezüge, Decem, Opfer-, Meß⸗, Sprengpfennige und vieles 
andere wieder in Gang brachten, wie mißlich war biefe Wieber- 
herftellung in vielen Zällen! Der Widerwille der Bauern blieb, 
für die Seelmeffe zu bezahlen, die Hinfort wegfiel, Sprengpfennige 
zu geben, da der Pfarrer nicht mehr mit Weihwaffer fprengte. 
Und vollends, wenn der „Todfall“ dem Pfarrer zuftand, dieje ein- 
trägliche aber graufame Einnahme, gegen welche fich die Beſchwer⸗ 
den der aufftändifchen Bauernfchaft gerichtet, deren Abftellung bie 
Gutachten der Aeformatoren befürwortet hatten, durften die Vifi⸗ 
tatoren darauf drängen, daß nad dem Tode des Hauswirts der 
armen Witwe die befte Kuh aus dem Stall geführt würde? Es 
war ein Fortihritt von Bedeutung, wenn es in Franken gelang, 
diefe Bezüge durch Ablöfung zu befeitigen 2). Aber auch um bie 
liegenden BPfarrgüter war es oft ſchlimm beftellt. Hier und da 
waren fie entfremdet, und es hatten nicht bloß Bauernfäuſte zus 
gegriffen, fondern auch adelige Patrone °). 

In den Heinen Stäbten fanden bie Bifitatoren manche Schwie- 
rigfeit, welche mit ölonomifchen und finanziellen Notftänden zu⸗ 
ſammenhing und nicht durch den guten Willen der ftädtifchen 
Behörden fofort zu bewältigen war. Der Altenburger Nat hatte 
vergeblich die Bildung eines gemeinen Kaſtens angeftrebt %); Jena, 
Pösneck, Orlamünde, Saalfeld waren fo arm, daß fie ihre Geiſt⸗ 
lichen und Schulen zu unterhalten außer Stande waren, und der 
Kurfürft mußte e8 nachträglich genehmigen, daß Jena Kirchenfilber 


1) Burkhardt, ©. 90. Ähnliches in anderen Bezirken. ©. 51. 77. 
2) Ebend. ©. 77. 

3) Ebend. ©. 40. 49. 77. 

4) Ebend. ©. 44. 


Die Liebesthätigfeit ber dentſchen Reformation. 231 


für 2007 Gulden verlauft und das Gelb für Kommunalzwede 
verwendet hatte !). In Leisnig, defien Kaftenorönung Luther für 
würdig erflärt hatte, ein gemein Exempel zu werden, ftand man 
noch nicht einmal in den Anfängen 2). Alle Erfahrungen beftä- 
tigten Luthers Gutachten, welches eben jener Orbnung beigefügt 
war: man bedurfte der vorhandenen Kloſter⸗ und Stiftsgüter, um 
Mittel für die Firchlichen Bedürfniffe zu gewinnen. 

In der That war da, wo die Klöſter teilweiſe aufgehoben 
waren, wie in Franken und vereinzelt im Kurkreis, 3. B. in dem 
Städtchen Herzberg, eine Beitragsquelle eröffnet). Im ganzen 
indes leifteten die religiöfen Genoffenfchaften mehr Widerftand als 
‘in den großen Städten, in denen der Rat und die Stimmung ber 
Bürger auf fie eindrängte. Sie lehnten daher die Zumutung, zu 
den gemeinen Kaften beizuftenern, ab, oder fie kauften fi) von 
derfelben durch einen geringen Beitrag gleichſam los, wie der reiche 
Konvent auf dem Frauenberg bei Altenburg, der jährlich taufend 
Schod einnahm und fih nur zu einer Abgabe von 12 Gulden 
verftand 4). So konnte der Kontraft reicher Klöfter und barbender 
Pfarrer noch fortbeftehen. Das reiche Jungfrauenkloſter in Weida 
bezog aus 44 Ortfchaften reiche Zinfen und Naturalien, und dieje 
Einkünfte kamen 22 Perfonen zugute, während viele Pfarrer in der 
Nähe am täglichen Brot Mangel Titten 5). 

Berhältniffe, die fofort abzuändern nicht in eines Fürften Macht 
lag, drängten fo dahin, daß oft die gemeinen Kaften, welche jchon 
begründet waren oder durch die Anregung der Vifitatoren eben jet 
entftanden, nur den Tirchlichen Notftänden dienten. Sie wurden 
bloße Kaffen für die Befoldbung der Pfarrer oder für 
die Einrihtung von Schulen, und doch follten fie, wenn 
möglich, auch Deittel für die Armenpflege gewähren. Die ftiftungs- 
mäßigen Bezüge der Pfarrer wurden ihnen ebenſo einverleibt, wie 
die kirchlichen Sammlungen für die Armen, Ablöfungsgelder für 


1) Burkhardt, ©. 91. 
3) Ebend. ©. 95. 

8) Ebend. ©. 59. 42, 

4), Ebend. ©. 44f. 

5) Ebend. ©. 78f. 


282 Sering 


kirchliche Handlungen fowehl wie freie Gaben. Eine Fuflon, in 
welcher die Verforgung des kirchlihen Amts ſich der Fürforge für 
die Armen um fo leichter verordnete, als die Not es erheifchte, 
jene erfte Aufgabe zuerft zu bewältigen. &8 wer ſchon ein Ge⸗ 
winn, mern hiermit an einigen Orten ein Anfang gemacht war. 


9. 


Um fo Höher find die Anfänge der Armenpflege in einigen 
Städten des Kurfürftentums zu veranfchlagen. Seine derfelben 
war mwohlhabend, und doc ging man nicht bloß auf die ererbten 
Anftalten und Stiftungen, fondern auf den Quell der immer thä- 
tigen Geſinnung zurüd. 

Zwidau, wo eme Fülle älterer Stiftungen den Gemeinden 
zufiel, Hatte jchon vor dem Bauernkrieg troß der Unruhen der 
Schwarmgeifterei einen bemerkenswerten Anfang gemacht. Dann 
geriet in den Jahren 1527 und 1528 auch diefe Stadt in finan- 
zielle Bedrängnis, gewann indes durch Verkauf von Kirchenfilber 
und da8 bedeutende Vermächtnis der Witwe des Dr. Stüler (400 
Gulden, ungefähr fo viel wie heute 6000 Marf) neue Mittel '). 
Auch Wittenberg ging 1527 mit der Einrichtung eines 
gemeinen Kaftens voran, deffen Ordnung fpäter für 
Rurfahfen noch weitere Bedeutung gewonnen hat ?). 


1) Herzog, Chronik v. 3m. I, 892ff. 191. 229; I, 157f.; TI, 212. 
214. 231. Bgl. den Auffat von Fabian, M. Petrns PBlateanıs. Gymn.-Progr. 
1878. S. 6. Rawerau, Kafp. Güttel, 1882. ©. 53. Burkhardt, Ge 
{dichte der Viſit. ©. 66f. 

2) Dieſelbe ift bisher noch nicht gedruckt. Sch gebe fie im Folgenden, doch 
nicht in diplomatifcher Wiedergabe aus Spalatins Handichrift wieder Cod. 
chart. Altenburg XIV. 10. No. 27 (4), die mir Herr Prof. Köftlin freund⸗ 
lich mitgeteilt Bat. 

Herr Johann Pommern, Pfarrers zu Wittenberg, Bericht, wie der gemeine 
Kaften zu Wittenberg beftellt ifl. 1527. . 

1) Alle geiftfichen Lehen, die erledigt find, werden zum gemeinen Kaften 
geichlagen. 

2) St. Alle geiftliche Lehen, fo noch unerledigt, ſollen nach der Veſitzer 
Abfterben auch zum gemeinen Kaften kommen. 


Die Liebesthätigleit der dentichen Reformation. 25 


Im ganzen begegnen wir befannten Methoden. Die Pfarr 
und die Spitalgüter werben in der eben bemerften Fuſion, beide 


3) FH. Beide Spitäler gehören auch zum gemeinen Kaften und werden 
von den Borftehern des gemeinen Kaftens verfehen. 

4) Ft. Alles, das um Gottes willen gegeben wird, dasfelbe wird auch 
zum gemeinen Kaften georbnet. 

5) Die Borfteher des gemeinen Kaftens gehen jährlich zu drei Malen 
in der Bürger Häufer, Almofen im ben gemeinen Kaften zu fammeln. 

6) Alle Sonntage und Feſte gehen die Borfteher des gemeinen Kaſtens 
mit Sädeln in der Kirche um. Die Vorſteher des gemeinen Kaſtens 
find die Diakonen, wie man in der Apoftel Geſchichten am fechften lieft. 

7) Bon unſerm Rat werben jährlich die veblichften Bürger gewählt, 
die nicht verbädtig find mit untreuem Geiz, und zu denen man 
Bermutung bat, daß fie der Armut geneigt, wie fie denn in Ge- 
ſchichten der Apofteln am ſechſten und in der erſten Epiftel St. Pauli 
zu Timotheo am vierten beichrieben werben. 

8) Diefelben verforgen die zwei Spitäler unb ihre Armen, bie nad) 
Gelegenheit der Notdurft ihrer Liebe in bie Spitäler angenommen 
werden. 

9) Sie haben auch fonft viel armer Leute fehriftlich verzeichnet, die bei 
uns in der Stadt in Armut, Krankheit zc. gefallen find. BDenfelben 
geben fie wöchentlich einen Groſchen, dem andern zwei, dem britten 
drei ober mehr, nach eines jeden Rotburft. 

10) Wenn fie durch den Pfarrer oder Kaplan berichtet werben, daß in 
irgendeinem Haus Not ift, eine Zeit oder ewig (?) als von alten, 
von Franken, von ſchwangeren Weibern, fo fchidlen die Vorfteher des 
gemeinen Kaſtens bald zwei von ihren Gefellen zu ihnen, die Not 
daſelbſt zu Befichtigen und erfahren. 

11) Die Fremden nimmt man im Spital eine Nacht ober zwei an, 
welche aber ans ihnen bei uns krank werben, die läßt man heilen 
oder hilft ihnen, wo fte e8 bebürftig, wie den andern. Denn Gott 
hat fie uns zugefügt, daß wir ihnen Gutes thun follen. 

Sonft aber nehmen wir feinen Fremdling an, bamit wir unferen 
gemeinen Kaften oder die Gemeine nicht befchmeren. 

12) Wenn der Vorſteher des gemeinen Kaſtens Jahr um ift, fo thım fie 
ihre Rechnung in Gegenwart aller Bürger, die dabei fein wollen, 
darauf andere Vorſteher ermählt werden. Doch alfo, daß allermwegen 
zween unſerer des vergangenen Jahres des folgenden Jahres bei den 
Borftehern bleiben, damit der gemeine Kaften nicht denen befohlen 
werde, die desfelben Rechnung, Weife und Gelegenheit des erften 
Jahres nicht wiſſen noch verftehen. 


2834 Hering 


in den gemeinen Saften gefchlagen, ebenfo läuft der Kirchliche Ges 
fihtspunft unbefangen in eine bürgerliche Praxis aus: Der biblifche 
Diakonat ſchwebt als Vorbild vor, aber der Rat wählt bie ges 
eigneten Bürger. Die Mittel werden aus ber Sammlung mit 
dem Säckel während des Gottesbienftes und eine dreimal im Jahr 
fi wiederholende Hauskollefte gewonnen. Die Fürforge ſoll fid 
auf die Armen in den Spitälern und ebenfo auf die Hausarmen, 
auf die Kranken in der Stadt erftreden, und indem auf einen Ver⸗ 
kehr zwifchen den Pfarrern und Raplänen und den Almofenpflegern 
gerechnet wird, erhalten die letzteren Nachricht, um fich durch ihre 
Gehilfen weiter zu erkundigen. Die Höhe der wöchentlichen Unter: 
ftügungen wurde in der Heinen Stadt natürlich niedriger bemeffen 
(1—3 Groſchen), als in dem reihen Nürnberg, wo fie 75 Pfennig 
bis 1/s Gulden betrug. Tür die Behandlung Fremder lieg man 
eine milde Weitherzigfeit walten, deren Abfichten notwendig fcheitern 
mußten, wenn fich der Bettel anfing ihrer zu getröften. Aber 
auch undurchführbare Beftimmungen bleiben ein Zeichen der Sinnes- 
art ber Reformatoren. Ihr Herz war über den fchweren Ent- 
täufchungen, die ihmen der Aufftand eben bereitet Hatte, nicht ver- 
bittert worden. 

Als DVerfaffer diefer Ordnung möchte man Bugenhagen ver- 
muten, ber auch den fozialen Reformfragen als Ratgeber der Stadt 
Hamburg, wie wir fehen werden, ſchon mäher getreten war !). 
Aber auch Luther felbft nahm fih der Sache an, indem er das 
ganze Barfüßerklofter am 6. Mai 1527 vom Kurfürften Johann 
unverkürzt zu einer Herberge für die armen Glieder Chrifti erbat. 
Hierzu fei e8 als ein altes fürftliches Begräbnis recht angewendet; 
zugleich Hielt er dem Kurfürften das Wort des Herrn vor: Was 
ihr meinen Geringften thut, das thut ihre mir ?). 


1) Ich ſchließe es nicht fo aus der Überfchrift, die bloß von einem Bericht 
redet, wie aus ben herzlichen Worten in Punkt 11. So fchrieb Bugenhagen 
Kirchenordnungen. 

2) De Wette III, 176. Über das Barfüßer⸗ oder Franzisfaner-Klofter 
in Wittenberg vgl. Meyner, Gefcdichte der Stabt W. 1845. ©. 109. 
Nach Stier, Wittenberg im Mittelalter, 1855, ©. 75, wurde das Klofter 
1544 in ein Hofpital umgewandelt. 


Die Liebesthätigfeit der dentichen Reformation. 235 


Eben gegründet follten diefe Ordnungen und Anftalten aud) 
eine Probe beftehen; eine größere war über Luther felbft verhängt. 
Am Auguft brach die Peſt in Wittenberg aus. Die Krankheit er- 
ſchien Luther gutartig Y); immerhin waren do am 19. Auguſt 
feit ihrem Auftreten im ganzen 88 Perfonen geftorben, befonders 
in der Fifchervorftadt; die erfte Perſon, welche in der Mitte der 
Stadt erlag, war die Frau des DBürgermeifters Tilo Dene; fie 
verfchted fast in Luthers Armen. Denn während die Univerfität 
auseinanderftob und viele von einer Furcht ergriffen wurden, wie 
er fie noch nie gejehen, blieb Luther mit Bugenhagen und den 
Kaplänen. Er hielt es für eine Pflicht, der Furcht zu fteuern, 
wußte auch, dag Chriftus bei ihnen fei, damit fie nicht allein 
blieben, und daß er in ihnen über die alte Schlange triumphieren 
werde. So empfahl er fi, jelbft furdtlos, den Gebeten der 
Freunde. Gteichzeitig aber wurde er von der Schwermut befallen, 
die mit feinen Törperlichen Leiden zufammenbing. Er aber erjchien 
fih ſchwach am Geift, mit Wunden im Herzen, ein anderer Hiob. 
Wieberholt bat er die Freunde um ihre Fürbitte. Und in eben 
diefer Zeit behauptete doch fein ftarker Mut die Thatkraft der 
Nächftenliebe. Sein Haus wurde faft zu einem SHofpital, in 
welchem eine Kranke nad) langem Darniederliegen von der gefähr⸗ 
lihen Seuche genas, während an einer anderen fi die Symptome 
einftellten, Luthers Söhnlein felbft von ihr befallen zu fein fehlen, 
und feine Frau ihrer Entbindung entgegenfah. Xief erjchütterte es 
ihn gerade damals, daß die Frau eines Geiftlichen nach einer Fehl⸗ 
geburt der Krankheit erlag, und er nahm nun aud) noch den Witwer 
und die Kinder zu fi. Erft gegen das Ende des November war 
die Seuche erlofchen ?). 

Und ebenfo viel wie dies Vorbild folder Hingebung an bie 
Brüder und an die Pflichten der Gemeinſchaft bedeutete für die 
ſich Bildenden evangelifch » fittlichen Anfchauungen von Liebe und 
Selbftverleugnung eine Heine Schrift, die Luther auf Bitten des 


1) „Pestis hic coepit quidem, sed satis propitia est“, fchrieb ev am 
10. Aug. De Wette III, 191. 
2) De Wette III, 189 bis 225, 


286 Hering 


Breslauer Predigerd Heß bald nad, jener Heimjuchung über die 
Frage veranlaßte, ob man vor dem Sterben fliehen möge. 
Diejelbe ift ein Seelforgewort voller Weisheit. Der Mam, 
welcher eben fein und der Seinen Leben daran gewagt, fordert ein 
gleiches Verhalten doc nicht von allen. Bon dem Grundjag aus, 
daß aller Werke vom Glauben aus erft gut feien, kann er zwar 
die, welche den Vorſatz faſſen, nicht zu fliehen, wegen ihres ftarfen 
Glaubens Ioben, aber zugleich die, welche fliehen, gegen Verurtei⸗ 
[ung der Starfgläubigen in Schu nehmen. Denn unter Ehriften 
find wenig Starte und viel Schwache; jene mögen Gift trinfen 
ohne Schaden, dieje aber trinken fich den Tod. Nun ift der natür⸗ 
liche Trieb, der uns den Tod fliehen ließ, von Gott eingepflanzt; 
fo mag fliehen, wer ſchwach und fürdtig if. Wer dagegen durch 
bejonderen Befehl des Amts und Berufs gebunden ift, muß blei- 
ben, die Prediger und Seelforger zuerft, dem Vorbild 
des guten Hirten getreu, dann aber au die Amt- 
leute der bürgerliden Gemeinde. Aber auch dieſe Forde⸗ 
rung läßt eben um bes Berufs willen auch eine Ausnahme zu; 
denn wäre die Verforgung des Amts durd) genügende Kräfte ge- 
fihert, jo möchten die Prediger ſich unter einander vereinen, Die 
ziehen zu lafjen, welche entbehrt werden können. Und gleich ihnen 
find auch die anderen Ehriften duch Dienft- wie Herrfchaftspflichten 
gegen einander zu treuem Beiftand in folden Nöten verbunden, 
Knechte gegen ihre Herren, und dieje gegen ihr Gefinde; ja, wenn 
es an folchen gebricht, welche die Kranken berufsmäßig ‚pflegen, jo 
joll ein Nachbar dem anderen beiftehen und helfen, wie er wollte 
ihm felbft geholfen Haben; es möchte fonft Chriſtus einft jagen: 
Sch war frank und ihr befuchtet mich nicht! Es wäre wohl fein, 
wenn wir jo viel Spitäler hätten, wie fie die Voreltern mit ihren 
Stiftungen herzuftellen geftrebt, jo daß nicht jeder in feinem Haufe 
ein Spital zu haben brauchte, aber da, wo das nicht fei, wie es 
denn an wenig Drten fei, müfje einer des anderen Spital- 
meifter und Pfleger fein bei Verluſt der Seligfeit. 
Wer dann vollends Gottes Verheißungen anjehe, dürfe fich nicht 
bloß defjen getröjten, daß er von Gott behütet bleiben werde, jon- 
dern daß Gott fein Wärter jein wolle, „Lieber, was find alle 


Die Kchesihätigleit der demtkhen Reformation. 1 
Ärzte, Apotheken und Wärter gegen Gott? Sollte einem das 
nicht Mut machen, zu den Sranfen zu geben und ihnen zu dienen, 
wenngleich fo viel Drüfen und Peſtilenz an ihnen wären, wie Haare 
am ganzen Leibe, und ob er gleid; müßte hundert Peftilenz; an feinem 
Halfe heraustragen?” ') 

Mit fo voller Zwerficht des Glaubens und fo bedachtſamer 
Rüdfiht auf die Schwachen erhebt fich in dieſen erften Notzeiten 
das reformatorische Zeugnis zugunften der Liebe und Treue gegen 
den Nächften. Der große Einfing dieſes Zengniſſes in Anſchlag 
gebracht, fo blieb e8 gewiß fein bloßes Wort. Ale eine Kraft der 
Anregung und Stärkung gehört es der Geſchichte der enaugelifchen 
Liebesthätigleit an. Auch in ber enangelifch-religiöfen Schriftftelierei 
war hierdurch ein Anſatz gegeben, der befonder® in den nächſten 
Jahren ſich weiter entwidelt bat. 


10. 


Wie viel Hemmungen aud) der Bauernaufitand bereitet bat, 
wie fehr fich die Folgen Hiervon fonft zeigen, jo fam ber Reforma⸗ 
tion doch auch ein Moment zuftetten. Der Aufftand war bemältigt 
nicht durch das Reich, fondern durch die Regierungen der einzelnen 
Gebiete. Ihr Anjehen und Einfluß wuchs hierdurch und konızte, 
wo die Obrigfeit dem Evangelium zuneigte, zugunsten besfelben 
geltend gemacht werden. So fehen wir in verfehiedenen Gebieten 
die deutfchen Städte die Neform noch im Jahr 1525 wieder an» 
greifen und mit Nachdruck auf der Bahn berfelben fortichreiten. 
Allerdings Taffen die erneuten Bemühungen auch erkennen, wie jehr 
die 1522 unternommenen Anfänge derjelben bedurften. 

Beginnen wir unſeren Überblit mit Breslau, deſſen Refor- 
mator Heß fh von Luther über das rechte Verhalten in Sterbens- 
fäuften Hatte belehren Tafjen. Hier waren ſchon 1523 gemeine 
Kaſten an ben beiden ftädtifchen Hauptlirchen begründet worden. 
Dann wurde, nachdem Heß eine Zeit lang die Obrigkeit vergeb- 
Eich ermahnt und dan ſich geweigert Hatte, meiter zu prödigen, fo 
fange er über feinen lieben Herren Ehriſtus, der vor den Thüren 


1) E. A. 22, 817 ff. 





238 Hering 


liege, hinwegſchreiten müuſſe, das Armenweien im Mai 1525 neu 
geordnet. Faule und unmwürdige fremde Bettler wies man aus ber 
Stadt, während man die wirklich Bedürftigen den ftäbtifchen Spi- 
tälern zuteilte. An der Spige des „gemeinen Almofens“ zur Unter⸗ 
ftügung Hausarmer, defjen Leitung in bie Hände von fünf Vor⸗ 
ftehern gelegt wurde, ftand Heß ſelbſt. Schon 1526 Hatte er es 
dahin gebracht, daß eine neue Anftalt, das Allerheiligen - Hojpital, 
gebaut wurde; er blieb durch feine Anregungen zu Gaben und 
Leiftungen, fein förderndes Eingreifen die Seele biefer Gründung; 
am 27. Juli legte er mit dem Ratsherrn Hörnig den Grundftein. 
Die Ratsherren konnten in einer Verantwortung gegen den König 
von Polen darauf hinweiſen, daß 500 Arme in den Spitälern ver- 
pflegt, die Hausarmen verjorgt feien ?). 

An Nürnberg batte die Neuordnung ſchon 1523 unter denen 
Gegner erhalten, welche anfangs fich dem Evangelium zuneigten. 
Wilibald Pirkheimer, einer von den Öumaniften, die eine Reform 
wollten ohne Brud mit Rom, war früh mit Ofiander und La⸗ 
zarus Spengler zerfallen und hatte Bittere Schmähreime auf die 
beiden geſchmiedet?). Der erftere war ber Mann einer Tühnen, 
auch unbedachtfamen Offenfive, er hatte während des Reichstags 
1524 über den Antichrift in Rom gepredigt, die Hierarchie mit 
den Juden verglihen, die Chriftus gekreuzigt und eine Parallele 
zwijchen den Südelmeiftern unter den Schriftgelehrten der Gegen- 
wart und Judas Iſchariot gezogen. Der andere, Spengler, war 
wohl der Leiter der Mugen Ratspolitik, welche trog der Anklagen 


1) Köftlin, Joh. Heß, der Breslauer Heformator in ber Zeitichrift bes 
Bereins für die Geſchichte Schleftens. 1864. ©. 211. 219f. 242. Koff- 
mane, Korrefpondenzblatt des Vereins für Geſchichte d. ev. Kirche Schlefiens. 
1888. 2. Bd., ©. 16. 

2) Ei, daß ihr den hoffärtigen Pfaffen nicht an feine güldene Kette henkt, 
Und ben Lafterredenden ehrabfchneidenden Schreiber nicht ertränkt! Waldau, 
Beiträge I, 251. Wie fehr die Nürnberger Ordnungen ale Vorbild dienten, 
zeigt außer dem Beifpiel Magdeburgs auch bie von Brenz 1526 verfaßte „Re- 
formation der Kirchen in Hall und im Hallifchen Land”, von der indes Richter 
nur vermutet, daß ſie geſetzliche Kraft erlangt habe. Richter I, 40. 46. 
Dies ift gegenüber der geichilderten Anfeindung zu beachten, 


Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 239 


der Legaten und unter den Augen derſelben der Reformation bes 
dachtſam zufteuerte und den Kreis der kirchlichen Befugniffe für 
den Stadtrat jtetig erweiterte. PVielleicht Hatte auch Perfünliches 
den berühmten Humaniften den beiden zum Feinde gemacht; gewiß 
mißbilligte er aber aud ihr Verfahren gegenüber den Inſtituten 
der alten Kirche, und bejonders die Einziehung der Kloſter⸗ 
güter vertiefte den ſchon herben Gegenfat zu Teidenfchaftlicher 
Schroffheit. 

Schon 1524 hatte der Rat die Kapläne angewieſen, die Ger 
fälfe von Tirdlichen Handlungen in die gemeine Büchſe zu legen. 
Dann ftellten am 13. Dezember desfelben Jahres die Auguftiner, 
deren Drden Luthers Freund W. Lind angehörte, zuerjt den An» 
trag, alle Kloftergüter dem Gotteskaften einzuverleiben, während fie 
für fih nur Verköſtigung begehrten und ſich bereit erflärten, dem 
Evangelium zu dienen. So fand Luthers Ratſchlag, wie mit den 
Kloſtergütern zu handeln fei, bier ſchon nah einem Jahre feine 
Ausführung dur Glieder feines Ordens. Schon ftand man am 
Vorabend des Bauernkrieges. ALS derjelbe ausgebrochen war unb 
die mächtige Stadt in demfelben fi mit Klugheit und Mäßigung 
behauptete, kam ein SKonvent nad dem andern ein, feine Güter 
an das Almofenamt abzutreten. Die letzten, die Karthäufer, legten 
fogar das Bekenntnis in den Üüberreichten Artikeln ab: ‘Der vechte 
Gottesdienft ift Glaube und Liebe, damit man dem dürftigen 
Nächſten dient und ihn nicht verjchmachten läßt, wie Ehriftus am 
jüngften Tage befennen wird. Unter den Urfachen ihres Austritte 
nannten fie auch diefe, daß die müßiggehenden Kloſterleute von den 
arbeitenden Chriften unterhalten und die armen Leute von ihnen 
ausgefogen würden ?). 

Dem Biſchof von Bamberg gegenüber fuchte fi) der Nat 
unter anderem damit zu rechtfertigen, daß dem gemeinen Mann die 


1) Die Auguftiner traten die Güter ab Mittwoch nad) Dculi, die Karme⸗ 
fiter Freitag nad) Cantate, der Konvent zu St. Egidien am 12. Juli, die 
Karthäufer im November. Müllner, Reform.⸗Geſch. von Nürnberg. 1770. 
©. 60. 65. 69. v. Soden, Beiträge zur Geſchichte der Reformation. 1855, 
©. 210. 233. 

Theol. Stud. Jahrg. 1886. 16 





240 Hering 


Augen über die päpftlichen Mißbräuche durch die Schrift geöffnet 
fein. Er machte feine Pflicht, Unruhen abzuwehren, geltend; ebenfo 
berief er fich gegen die Karthäufer, die ſich eine Weile fträubten, 
auf fein Schußherrenredit ?). 

Es Tennzeichnet weiter die Macht des Rates, daß er das Kon- 
fubinen » inwefen, gegen welches die bifchöfliche Macht nichts aus- 
gerichtet Hatte, abthat und den Kaplanen gebot zu heiraten; endlich, 
daß er den BPrieftern auferlegen konnte, falls fie nit Bürger 
werden wollten, ihre Pfründen dem Armenlaften zu übergeben, doc 
jo, daß die Hälfte der Nutzung ihnen verblicbe ?). 

Nur an zwei Frauenflöftern jcheiterten feine Bemühungen. Als 
er die Nonnen des Ordens der St. Klara und St. Katharina zum 
Austritt aufforderte, Leifteten nur drei Folge?). An der Spike 
des erfteren ftanden Charitas und Klara Pirkheimer; überhaupt 
ftammte die Mehrzahl der Nonnen aus den Patrizierfamilien der 
Stadt. Pirkheimer nahm fich der bedrohten an; er verfaßte eine 
Schutzſchrift, in welcher fich diefelben leidenschaftlich über die Härte 
beſchwerten, mit welcher man gegen fie vorgegangen, gegen die 
Perſon des BPredigers, gegen die Slofterleute, welche die Güter 
herausgegeben, arge Verdächtigungen fchleuderten, die Lage der aus⸗ 
getretenen Nonnen fo darftellten, als feien diefelben gezwungen, ſich 
der Schanbe preiszugeben und den Evangelifchen die Schuld am Efend 
des Bauernkriegs aufbüirdeten: fo fet die ſchöne chriftliche Liebe der 
Evangelifchen, welche in ber heiligen Schrift gegründet fei, beichaffen. 
Bon fich jelbft bezeugten fie, daß fie bisher den Armen täglich nad) 
Vermögen Hilfreich gedient ). Das Klofter bat denn auch noch 
ein halbes Jahrhundert feiner Auflöfung widerftanben. 

Steichzeitig mit der Einziehung des Klofterguts wurde ein 
Almojenamt eingeridhtet. Es bleibt noch aufzuflären, wie fid 
dasſelbe zu den im Jahre 1522 getroffenen Veranftaltungen ver- 


ı) Müllner, ©. 61. 

2) v. Soden, S. 231. Medicus, Geſch. d. evangel. Kirche in Baiern. 
1868. ©. 18f. 

8) v. Soden, ©. 287. 

4) Abdruck in Waldan, Beitr. III, 495ff.; IV, 48ff. 


Die Kiebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 241 


halten bat, welhe Summen ihm durch die Kloftergüter zugefloffen 
find, endlich, wie viel es in den folgenden Notjahren geleiftet haben 
mag. Die Mitteilungen eines fpäten Berichterftatters laſſen nur 
erfennen, mit welchem Nahdrud man dem Bettel entgegentrat. 
Man gab niemand Almofen, der noch Loſung ſchuldig war; damit 
fih nicht fo viele in das Almofen würfen, mußten die Männer 
auf den Hüten, die Frauen auf ihren Hauben Meffingzeihen tra- 
gen; unterliegen fie es, fo folgte nach zweimaliger Verwarnung 
Sefängnisftrafe und Entziehung des Almoſens. Diele, fagt unfer 
Gewährsmann, wurden hierdurch abgefchredt und fingen an, ſpar⸗ 
ſamer zu leben und ihrer Arbeit fleißiger obzuliegen *). 

Auch in Straßburg wurden die Klöfter in diefem Zeitraum 
großenteils fäkularifiert. Durch Ratsbeſchluß vom 19. Oftober 
1529 famen die Einkünfte derfelben den milden An- 
ftalten zugute; die des Dominifaner-Nonnenklofters St. Marx 
wurden dem gemeinen Almofen überwiefen, um Korn und eine 
Bäderei für die Armenfpeifung zu gewinnen; die Güter des Klo⸗ 
ſters der heiligen Klara fielen an das Spital, die bes Kloſters auf 
dem Wört an dad Waiſenhaus. Dem Spital für Pockenkranke 
floffen die Einkünfte des Katharinenklofters und der Martinskirche 
zu. Das Auguftinerflofter wurde 1530 in eine Elendenherberge 
verwandelt. Eben diefe Gütereinziehungen fallen in eine Zeit, in 
welcher bejondere Nöte, wie wir jehen werden, die höchften Leiftungen 
von der Gemeindepflege verlangten. 

Und dod blieben nötige Bedürfniffe auch in diefen 
großen Städten unbefriedigt. Die Prediger waren zu kärg⸗ 
lich befoldet. Die Mittel, welche das eingezogene Kloftergut ge- 
währte, wurden durch die Verforgung der Ausgetretenen neben ben 
Aufgaben der Armenpflege in Anſpruch genommen; doch trifft 
aud die ftädtifchen Behörden ein Vorwurf. Als Erasmus den 
Straßburger Predigern Eigennug aufrüdte, erwiderte Butzer: Drei 
Gulden wöchentlich (= 2340 Mark jührlih), wovon wir nebit 


1) So berichtet 1699 der Markthelfer Ingolflätter bei Sie benkees, 
Materialien zur Nürnberger Gefchichte TIL, 146. Bgl. Waldau, Rene Beitr. 


I, 264. 
16* 


242 Hering 


Weib und Kindern leben müſſen, das find unfere Reichtümer!!) 
Auch in Nürnberg mußten die Geiftlihen 1530 Hagen und bitten, 
bis man ihnen ihr Einlommen von 60 Gulden (900 Marf) um 
20 Gulden erhöhte 2). In Niederdeutfchlaud begegnet uns diejelbe 
traurige Erjcheinung. Die evangeliichen Geiftlichen wollten fid 
von den Bapiften nicht nachjagen laffen, daß ſich durch ihre Fa⸗ 
milie die Gemeinden befchwerten, jo duldeten fie lieber Mangel. 
Knipftrow erzählte oft, wie er im Anfang bei einer Jahresbeſol⸗ 
dung von 20 Mark Hunger und Kummer gelitten; Hätte fein 
Weib nicht durch Nähen etwas verdient, jo hätte er das evange⸗ 
(ifche Predigtamt verlaffen oder betteln müffen ®). Der Vorwurf, 
welcher die Gemeinden und ftädtichen Behörden trifft, mildert fid 
allerdings, wenn man bedenlt, wie neu die Aufgabe war, 
da8 evangelifhe Pfarrhaus zu verjorgen. Hat dod 
ein Bugenhagen jelbjt, um die8 hier vorweg zu bemerken, in 
Braunſchweig die Gehälter zu niedrig bemeffen und ift barliber in 
Wittenberg „bel angeredet worden“. Nicht nur, daß er diefelben 
„bei allem Fleiß nicht höher bringen Eonnte“, es hatten ihn aud 
einige Prediger felbft verhindert, mehr zu verlangen, indem fie des 
Haushaltens unkundig meinten, nicht viel zu bedürfen. So blieb 
denn auch in den Städten die beſſere Verforgung der Geiftlichen 
noch eine Aufgabe der Zukunft. „Es wäre”, fagt Bugenhagen, 
„nicht riftlih, wenn es an dem Gelde follte fehlen, nun uns 
Gott mit dem Heiligen Evangelio feine Gnade jo reichlich Hat zu- 
gewendet.” Er dachte, als er fo jchrieb, nit nur an auskömm⸗ 
tihe Befoldung, fondern auch an eine Verjorgung fürs Alter *). 


11.. 


In eben diefen Zeitraum fallen die erften kirchlichen und evan⸗ 
gelifch »fozialen Drganifationen in Niederdeutichland. Einige der 
jelben haben für ganz Deutſchland und über feine Grenzen hinaus 


1) Röhrich I, 194f. 

2) v. Soden, Betr. ©. 348, bei. 357. Waldau, Beitr. IV, M4 ff. 
3) Eramer, Pommerjche Kirchen-Ehronit. 1608. 3. Bud, Kap. 17. 
%) Bugenhagen, von mennigerleie hriftliten falten 1581. BI. 270. 








Die Liebesthätigfeit der deutfchen Reformation. 243 


den Rang von Vorbildern erlangt. An ihnen zeigt fi) die Macht, 
welche der evangelifche Geift im Zuſammenwirken der Bürger- 
fchaften mächtiger Stäbte mit einer bedeutenden Perfönlichkeit ent- 
faltete; ebenfo tritt an ihnen auch die Gefahr der Unflarheit her- 
vor, welche diefe ‘Doppelfeitigleit der Zukunft des entftehenden 
evangeliichen Kirchentums bereitete. 

Zunächſt find auch Hier einige Anfänge von geringerer Bedeu⸗ 
tung zu verzeichnen. In Magdeburg Hatte der Konflikt geift- 
licher Gerechtſame und bürgerlichen Gewerbfleißes der Reformation 
vorgearbeitet; dann als die evangeliſche Predigt mit Erfolg in die 
Bürgerfchaft eindrang, wurde 1524 nad) Oſtern auch die erfte 
Almofenordnung entworfen. Diefelbe ift wohl der Nürnberger 
nachgebildet ?), nur daß fie die Aufgabe mehr als diefe auf die 
Armenpflege im engeren Sinne befchränft 2). Im Auguft fchon 
war das Vermögen der fehr bedeutenden Annenbrüderjchaft dem 
gemeinen Kaften überwiefen 9). Nachdem das Recht der Parocieen 
in der Wahl von Kirchenvorftänden wieder gefichert, in Amsdorf 
ein Superintendent gewonnen, und eine Rirchenordnung in 10 Ar- 
tifeln entworfen war 4), brachte das ftürmifche Jahr 1525 viel 
Streit und Tumult. Dennoch machte die Angelegenheit der Armen⸗ 
verforgung dadurd einen Fortfchritt, daß die Auguftiner ihr Kloſter 
famt ihren Gütern an den Nat Übergaben 5). Da auch ein ans» 
ſehnliches Kapital (3000 Gulden = 45000 Mark) für milde 
Zwede ausgefegt war, jo konnte das Klofter in ein leiftungsfähiges 
Hospital umgewandelt werben und zugleih Schulzweden dienen. 
Am Sabre 1527 betrugen die Einnahmen 692 Gulden, über 
10000 Mark nad) heutigem Geldwert. Die Kranken, von denen 


1) Die Magdeburger hatten 1524 fich bei den Nürnbergern wegen ber Re⸗ 
formation Rats erholt. v. Soden, Beitr. ©. 208. 

2) Abdruck bei Hoffmann, Geſchichte der Stadt Magdeburg. 1856. 
Bd. I, ©. 40. Richter, Die evangel. K.OO. I, 17f. mit Auslaffung ber 
Beftimmungen gegen fremde Bettler. 

35) Hoffmann DI, 68. 

4) Abdrud bei Hoffmann I, 45. 

5) Hoffmann II, 68. Bock, Das Armenweſen zu Magdeburg, ©. 155, 
bei. 184. 


244 Hering 


der erjte 1526 aufgenommen wurde, waren allerdings meift 
Pfründner !). Außer dieſem neugegründeten gab es eine Anzahl 
äfterer Hofpitäler 2). Ein ruhiger Ausbau des Gemeindelebens 
war indes in biefen Jahren aud) in der erzbiichöflichen Metropolis 
nicht möglid. Das Domkapitel wußte kaiſerliche Strafmandate 
zu erwirken, und wenn auch Kurfürft Albrecht es nicht zum Außerften 
fommen ließ, fo blieb die Zeit bis zum Augsburger Reichstag eine 
Zeit des Kampfes. 

Steichzeitig Hatte das Evangelium in Bommern Fuß gefaft, 
aber ebenfalls unter Kampf und Tumult, in welchem ein lang 
verhaltener Haß des Volkes gegen die Mönde ausbrach. In 
Stralfund wurden am 10, April die Klöſter geftürmt und ber 
Rat nahm die Güter derfelben und bie Kleinodien der Kirchen in 
Verwahrung. Eine Kirchenordnung, von dem Schulrektor Apin 
verfaßt, handelte ausführli auch von der Gründung eines ge 
meinen Kaftens. Es waren doch wohl Bugenhageniche Gedanken, 
welche dem in Wittenberg gebildeten Verfaſſer bei feiner Arbeit 
vorſchwebten. Aber diejelbe blieb zunächft ein Entwurf. Eine 
Spätere Dellaration, wohl aus dem Jahre 1528, bedeutete info- 
fern eine Verbeſſerung derfelben, als fie den Gedanken einer Zentral: 
verwaltung aufgab und den Vorftänden der einzelnen Kirchen ihre 
Befugniffe beließ. Dagegen blieb dem gemeinen Kaften der Cha- 
rakter einer gemifchten Rafje, welche ebenfo Pfarrbefoldungs- wie 
Armenverforgungsfonds fein ſollte; ja auch zu dem gemeinen Gut, 
alſo für kommunale Bebürfniffe durfte bderfelbe in Anfpruch ge 
nommen werden, eine Ablenkung vom firchlichen Gefichtspuntte, 
deren Spur fi jchon in der Leisniger Ordnung findet ®). Die 
Gegenpartei wehrte fich indes, indem fie die Stadt beim Reichs— 
kammergericht verflagte, während die vertriebenen Brüderschaften 


2) Bod, ©. 157. 160. 

23) Dal. Hoffmann I, 452. 465, bei. 497 fi. 

3) Die Stralfunder Vorgänge behandelt fehr eingehend Fabricius in dem 
Auffa „Der geiftliche Kaland zu Stralſund“. Baltifche Studien, 26. Jahrg. 
2. Heft. Abdruck der Straliunder Ordnung bet Richter I, 22, Im übrigen 
vgl. Kantzows Chronil. Ausg. von 1835. ©. 161. Cramer, Bomm. 
Kirchen⸗Chronik. 3. Bud. 11. Kap. 











Die Liebesthätigkeit ber deutfchen Reformation. 245 


die Herausgabe der Güter verweigerten. Im Jahre 1530 erfolgte 
die Reftauration der alten Zuftände: „do quemen“, jagt ein Ehronift, 
„de papen wedder in und nemant jede en wat.“ Schien jo an 
einem Vorort der evangeliichen Bewegung die foziale Reform zu 
ſcheitrn, fo war Pommern überhaupt noch zu fehr erfüllt vom 
Gährung, Kampf, Irrungen zwifchen bem Herzog und ber Lands 
Ihaft, Fehden raubluſtiger Edelleute und heimlichem Trotz des 
Landvolks, als daß für jegt eine Förderung der enangelifchen Sache 
und der evangelifchen Liebesthätigleit möglich gewejen wäre. 

Auh im Orbensland Preußen, das durch den Hochmeiſter 
Abreht von Brandenburg in ein weltliches Herzogtum umgewan⸗ 
delt war, kam die Armenpflege für jet nicht über die erſten An⸗ 
ordnuungen hinaus. Eine Landesorbnung vom 6. Dezember 1526 
weift ihr Zinfen von Gütern der Brüderfchaften, Gelder aus geift- 
lihen Lehen zu und fucht den Pfarrern ihren Unterhalt zu fichern. 
Seit der Bifitation des Jahres 1528 verfuchte man, in jedem 
Kirhfpiel einen gemeinen Kaften zu gründen; man darf zweifeln, 
ob mit Erfolg. Das Landvolk war überaus unwiflend, vom 
Adel furchtbar bedrückt; feine chriftliche Erkenntnis gering; die 
Schwertbrüder hatten das Heidentum nicht einmal in Brauch und 
Sitte ausgerottet. Das Voll war der Zauberei und dem „Bock⸗ 
heiligen“ noch fehr anhängig, befonders in Samland; fo wer aud) 
bier vor allem Miffionsarbeit unter Mithilfe ftraffer äußerer Zucht 
zu thun !), 

Von größerer Bedeutung als die geſchilderten Anſätze ſind die 
Organiſationen, welche mit dem Namen Bugenhagens 
verknüpft ſind. Wie großen Anteil die Bürgerfchaften der be⸗ 
treffenden Städte an ihnen haben mögen, er iſt doch als die Seele 
derfelben anzujehen. Ganz Nieberdeutfchlend öffnete fi) ihm als 
Miſſions⸗ und Arbeitsfeld, als er 1525 von den Kirchgefchwworenen 
an St. Nikolai zu Hamburg und von Bürgern der Stadt zum 
Pfarrer der genannten Kirche gewählt wurde. Gerade er war für 
dasjelbe Hervorragend geeignet. Pommer von Geburt wie nad) 


— — 


1) Richter J, 33. Art. 2.6 u. 32. Haſe, Herzog Albrecht und fein 
Hofprediger 59 ff. 





246 Hering 


feiner geiftigen und ſittlichen Eigenart, treu, ftandhaft und tapfer, 
gutherzig von Grund feines biederen Gemüts, auch in der be- 
häbigen Breite feines Worts ein echtes Rind feiner Heimat, ein 
Kämpe, dem pommerjche Grobheit, wo es not war, nicht gebrach, 
dabei praftiih, ein Drdner und Leiter der kirchlichen Dinge von 
Gottes Gnaden, vor allem ganz eins mit Luthers Lehre und 
Geiftesart, fo ift er der Evangelift feiner Landsleute geworben. 
Zunächſt Hatte feine Wahl einen Sturm unter den Gegnern, Bes 
denflichfeiten im Rate erregt; man bat ihn, nicht nad) Hamburg 
zu fommen. Aber ebenjo zeigte fich Hier wieder das Unwiderfteh- 
lihe der Macht, welche die Geifter ergriffen Hatte. Es war ein 
jchwerer Kampf, den die dem Evangelium geneigten Bürger Ham- 
burgs zu beftehen hatten, und fie fochten ihn mit niederdeutfcher 
Zähigkeit durch. 

Bugenhagen ſelbſt hielt gegen die Zurückweiſung durch den 
Rat die Berufung durch die evangeliſchen Bürger im gewiſſen 
Sinne aufrecht, er lehrte nach der Weiſe der Apoſtel die Evange⸗ 
liſchen durch ein Schreiben an die ehrenreiche Stadt Hamburg ?). 
Dasjelbe war ein Hirtenbrief im vollften Sinn. Es gab ein um: 
faffendes Zeugnis „vom chriſtlichen Glauben und rechten 
guten Werten gegen den falfhen Ölauben und erdid: 
tete gute Werte“. Ganz aus Luthers Geiftesart gefloffen, tief, 
klar, herzlich, vollstümfich, auch etwas breit, trägt e8 die Grund: 
läge evangelifcher Sittlichfeit vor. Das Recht der Arbeit wird 
gegen den Firchlichen Vettel vertreten, die Forderung der Nächften- 
[iebe warm und dringlich geltend gemacht. Mit Troft, Lehre, 
Strafe, aber auch mit Dienft in Krankheit wie in Sünde, mit 
Hilfe in Armut und Hunger foll fi) der Chrift gegen den Nächſten 
üben; er kommt dann nicht in bes Franziskus oder Dominikus, 
fondern in Chrifti Orden. Überhaupt find alle Werke gut, melde 
unter göttlichem Gebot ftehen und daher mit der Zuverſicht gethan 
werden, daß fie Gott mohlgefallen. Im lebten Teil wird dann 
die Schrift aus einer Lehr- und Ermahnungsrede zu einer Anwei⸗ 
jung wie die Dotierung der Prediger, die Verforgung der Armen 


1) Abdruck bei Bogt, Joh. Bugenhagen ©. 101, 


Die Mebesthätigkeit der beutfchen Reformation. ai 


einzurichten fei. Sind fo lange überreihe Gaben in die Klöſter 
gefloffen,, große Summen bis zu 40 Gulden für Meſſen, Ablaß- 
briefe und Wallfahrten geopfert, der großen Teſtamente zu ſchwei⸗ 
gen, fo wird e8, wenn das Evangelium erft in Schwang kommt, 
niht an Mitteln für Aufgaben der Gemeinde fehlen. Unter den 
üblichen Abgaben möchte Bugenhagen das WVierzeitengeld als ein 
Opfer an den großen Hauptfeften erhalten wiffen; für Hausarme, 
arme Mägde oder gemeine Nöte möchte er redlihe Teftamente ge 
macht fehen, und endlich follen alle Güter und Lehen, welche mit 
dem Abfterben ihrer Inhaber frei werden, zufanımen mit den freien 
Gaben frommer Leute in einen gemeinen Kaften geichlagen 
werden. Witwen, Waifen, Arme, Kranke könnten aus demjeiben 
mit Gaben oder mit Darlehen unterftügt werden. Um deffen zu 
warten, empfiehlt Bugenhagen die Erwählung von Vorſtehern oder 
Armendiafonen nah dem Vorbilde von Act. 6; zu folchen fol 
man die allerverftändigften und gottesfürdhtigften Bürger nehmen, 
die nicht ihren Vorteil fuchen, nicht jedem faulen Schelm glauben, 
aber fih auch nicht zu fehr davor fürchten, einmal betrogen zu 
werden, und die nicht unbarmberzig die Schuld derjenigen Armen, 
die nicht bezahlen können, beitreiben. Von diefen Diakonen der 
armen Leute unterfcheidet Bugenbagen die Kirchendiafonen, denen 
er die Seelforge an den Kranken übertragen wiffen will. Dies 
jelben follen nicht nur einmal mit dem Sakrament zu den Kranken 
gehen, fondern ohne Saframent alle Tage, fo lange fie krank lie⸗ 
gen oder über den andern Tag, um fle zu tröften und zu ftärfen 
mit dem heiligen Evangelium nad ihrer Anfechtung, fonderli in 
Todesnöten. So tritt Schon in diefem erften Entwurf die Auf- 
gabe des Seelforgers, das Zroftamt der Liebe hervor. Wir wers 
den diefem Zuge auch in den Kirchenordnungen Bugenhagens wieder 
begegnen; er zeichnet fie vor allen anderen auß. 

Die Einwirkung diefer Gedanken erkennen wir in den wirf- 
lichen Anfängen einer Gemeinde - Armenpflege, mit welcher die 
Nikolaigemeinde, diefelbe, welche Bugenhagen gewählt Hatte, am 
16. Auguft 1527 voranging 1). Die Bürger Sprechen es in der 


I) Staphorft, Hamb. Kirchengeih. V, 112, 








248 | Hering 


Vorrede aus, daß fie aus rechter Berichtung des göttlichen Worte 
gelernt, wie fie verpflichtet feten, die Bürden des Nächften durch 
hriftliche Liebe mitzutragen. Und in weitem Umfange wollten fie 
diefe Pflicht erfüllen: Waifen, die von Breunden feine Hilfe haben 
könnten, unterhalten und in die Lehre geben, troftlofe Witwen mit 
Notdurft verjorgen, arme, mit anftedlenden Seuchen beladene an 
gejonderten Orten verpflegen. Gerade diefe Aufgabe erfannten die 
Bürger bei der Überfüllung der älteren Hofpitäfer als dringlic, 
jo dag ſchon damals der Bau eines neuen Hofpital® ins Auge 
gefaßt wurde, Aber man dachte in derfelben Weitherzigfeit, von 
der fchon die Nürnberger Ordnung von 1522 zeugte!), den fo- 
zialen Nöten der Zeit helfend näher zu treten. Und hier befundete 
fih der Bürgerfinn in dem auch von der Reformation in Schuß 
genommenen Intereſſe an der Arbeit, wenn man ſolchen Armen, 
denen Gott „etliche Glieder Trank gemacht und die ſich doch nod) 
die Koft verdienen könnten“, zu ſolchen Geſchäften, deren fie fähig 
wären, verhelfen, gebrechlichen und mit Kindern überladenen Hand⸗ 
werfsleuten unverzinsliche Vorſchüſſe darleihen, für die Ausftattung 
armer Jungfrauen und Dienftmägde, im Fall die Dienftherrjchaften 
nicht felbft, wie billig, Hierfür geforgt, die Mittel gewähren wollte. 
Bettler dagegen follten im Kirchfpiel nicht geherbergt und gehand- 
habt werden. 

Die Ausführung diefer Ordnung wollte man zwölf von der 
Gemeinde gewählten Männern übertragen. Sie foliten durd alle 
Straßen und „Twite“ umgeben, um fi) von der Notdurft der Armen 
und Kranken durch Augenfchein Kenntnis zu verfchaffen und diefelben 
aufzuzeichnen, den Umgang mit fleißigem Auffehen auf die Haus» 
armen monatlich wiederholen und jedem feinen Verhältniffen ent- 
fprechend helfen. Um die Kenntnis der Bedürftigen noch mehr zu 
fihern, follten die Vorfteher einen betagten Mann annehmen, der 
täglich auf die Armen und Kranken acht Habe, den Vorſtehern 
berichte und in der Ausführung ihres Amtes diene. 

Die Mittel dachte man auf verfchiedene Weife zu gewinnen. 


1) 2. Aufſatz. Stud. u. Krit. 1884. ©. 254. Die Ordnung bes Nikolai 
firchipiels bei Staphorft, des andern Zeile 2. Bd., S. 112 ff. 


Die Fiebesthätigfeit der beutichen Reformation. 49 


Güter der auf Lebenszeit Verforgten follten, wie es früher Hoſpital⸗ 
brauch geweien, der Armenpflege verfallen, Sammlungen beim 
Ausgang aus der Predigt an der Kirchthür ftattfinden; auch hoffte 
man auf ftattliche Gifte, Zuwendungen aus Zeftamenten, Bruder- 
ſchaften und Lehen. In folchen Erwartungen ſprach fich die chrift- 
liche Zuverfiht aus, daß „Gott vom Himmel beliebet, feinen gött« 
lihen Befehl und Wert in die Herzen derer, welchen er feine 
Gnade mitteile, zu geben, fo daß fie ihre eigenen Güter ohne allen 
Zwang zu dem göttlichen Almofen zu geben gutwillig gefunden 
werden” 2), aber fie laſſen auch erkennen, daß man auf eine jo 
weitreichende Fürſorge ökonomiſch noch nicht eingerichtet war. Die 
Freiwilligkeit Tonnte fo bedeutende Mittel nicht allein aufbringen; 
man bedurfte auch hier eines Zufluffes aus dem Kirchen⸗ umd 
Kloftergut. 

So fonnten auch diefe erften Anſätze erft durch die Reformation 
zum Ziel fommen. Wie vieles immer diefe den DBeftrebungen der 
Bürgerfchaften dankt, aus ſich Haben die Bürger nicht einmal 
auf dem Mittelgebiet des Sozialen etwas Neues, das fich be: 
haupten Konnte, hervorgebracht 2). 

Zunädjft war es ſchon ein Fortſchritt, daß das Vorgehen der 
Nitolaigemeinde nit ifoliert blieb. Als fih am 18. Dezember 
1527 die anderen Kirchfpiele der dort aufgejtellten Ordnung mit 
Gutheißen des Rats anfchlofjen, war die Angelegenheit zu einer 
allgemeinen der Hamburger Bürgerfchaft geworden. Aber die Ber: 
handlungen des folgenden Jahres lafjen erkennen, wie viel Drud 
von den Vertretern der Rirchfpiele, die zugleich Geforene der Bürger: 
{haft waren, auf die ftädtifche Obrigkeit ausgeübt werden mußte 
und wie zögernd und ausweichend diefe nachgab >). 


1) Staphorft, ©. 119. 

2) Ich bemerke dies gegen von Melle, der im feinem fonft verdienftlichen 
Buch: „Die Entwidelung des öffentlichen Armenwefens in Hamburg”, Hamb. 
1883, den Einfluß der Reformation auf diefen erften Verſuch einer Reform der 
Armenpflege nicht genügend hervorhebt. 

3) Bgl. bei. die VBollmadjt der Bürger 29. Juni 1528 bei Staphorft, 
&.156. Die Artikel an den Rat vom 26. Auguft 1528. ©. 157. Antwort des 
Mate 29. Ang, S. 159. Antwort der Bürger 31. Aug, S. 160. 


30 Hering 


Es ift das alte Parochialrecht, welches die in ihren Gelorenen 
vertretenen Bürger zurkcderfämpfen. Wir fahen, wie im Mittel: 
alter die wichtigften Befugniſſe desfelben, Pfarrwahl und Aufficht 
über die Vermögensverwaltung oft auf die Stadträte übergingen, wie 
die Kirchgefchworenen an Rechten einbüßten. Soziale und Wirt- 
Thaftsfragen hatten zu dieſer Nechtsänderung gedrängt !). Jetzt 
nun erhebt fi von eben diefer Baſis eine Bewegung aus der 
Dürgerfchaft felbft, welche, angefacht vom Geift der Reformation. 
fich gegen den allzu mächtig gewordenen, der Neformation feindblich 
gegenüberftehenden Stadtrat auf das alte Recht beruft. Da ift es 
nun merkwürdig, wie diefer Kampf um Parochialgerecht— 
fame der Bürger durchaus nicht etwa zu einer ſchär— 
feren Begrenzung bürgerlicher und kirchlicher Kom— 
petenzen führt. Die wirtfchaftlihen und fozialen Intereſſen 
drängen vielmehr, je mehr die Auseinanderfegung fich verfchärft, 
dahin, den Schwerpunft der Macht anderswohin, nämlich in bie 
Hände der von der Parodie Gewählten zu verlegen. Die kirch⸗ 
lichen Gemeindeorgane werben zugleich mit kommunalen Befugniffen 
ausgeftattet, fie follen mit dem Rat „das Auge der Stadt und 
des gemeinen Weſens“ fein. Und indem die neue Kirchenverfaffung 
fih fo durch Änderungen der bürgerlichen durchfett, wird auch hier 
die Vermifchung der beiden Gewalten auf länger als drei Jahr⸗ 
hunderte fantktioniert 2). Ye mehr in der Folge die kommunalen 
Geſichtspunkte vor den Eirchlichen ſich Hervordrängten, defto völliger 
konnte hier, wie anderswo, die Armenpflege den Charakter einer 
bürgerlichen annehmen. 


12. 


Zu derfelben Zeit gewann das Evangelium in Braunſchweig 
Raum. Der Reichstag von Speyer 1526 Hatte demfelben Luft 
gemacht, die Zahl der Belenner und Zeugen wuchs, in den Häu⸗ 
fern fangen die Bürger Luthers Lieder. Einen Anhalt, um weiter 


1) 1. Aufſatz. Stud. u. Krit. 1883, ©. 697. 
3) Die politifche Bedeutung der Hamburgifchen Kirchen: Kollegien bat bis 
1859 gewährt. Bon Melle, S. 11. 


Die Liebesthätigkeit der deutichen Reformation. 251 


vorwärts zu dringen, bot die ftädtifche Berfaffung vom Jahre 1513. 
Jährlich zweimal pflegte eine Verſammlung der Ratsperfonen und 
Gildenmeiſter ftattzufinden; feit 1528 kam man öfter zufammen, 
und zu ben Verfammelten erlangten „Berorbnete”, welche Die 
Bürgerfchaft gewählt, Zutritt. Diefe Verorbneten wurden bie 
Führer der reformatorifchen Partei. Sie fetten die Bernfung 
eines tüchtigen evangelifchen Predigers, des Dr. Winkel, und die 
freie Verkündigung des Evangeliums auf den Kanzeln dur. Die 
Meßaltäre wurden abgebrochen und zu Bauten an der Stabtmauer 
verwandt, die öfter, die unter dem Schirm des Rates ftanden, 
gefchloffen. Einige Prediger hatten in ihren Kirchen den evange⸗ 
tischen Ritus völlig eingeführt ?). 

Nun trat auch in Braunfchweig das Streben hervor, aus den 
fich befehdenden Gegenfägen zu einer Gleichheit gottesdienftlicher 
Formen und zur Sicherung der ölonomifchen Verhältniſſe zu ge- 
langen, Schulen zu gründen und aus einem gemeinen Kaften die 
Armen zu verforgen. In den Verhandlungen mit dem Rat läßt 
fi der Einfluß der Hamburger Vorgänge und der Ratfchläge 
Bugenhagens nicht verkennen, und bald Ienkten fich die Blicke ber 
Bürger auf ihn. Im Mai hatten fie die Erlaubnis erwirkt, daß 
er perfönlich zu ihnen komme, und am Himmelfahrtstage begann 
Dr. PBomeranus feine Wirkfamleit mit der erften Predigt 2). 

In einem Vierteljahre Hatte die Arbeitskraft des Unermüdlichen 
— er predigte wöchentlich) dreimal, las täglich über den Römer 
brief und wurde in Gewiffensfragen und Kirchenfachen viel ange- 
laufen — die Kirchenordnung vollendet, welche dann fo oft als 
Borbild für andere Ordnungen gedient bat?). Nachdem fle von 
Einrichtung des Kultus, Verforgung der Pfarrer, Fürſorge für die 
Schulen gehandelt Hat, geht fie im ihrem lebten Zeil auf das 
Armenweſen ein. Da ift für den Verfaffer und diefe Epoche der 
Reformation gleich charakteriftifch die Art, in welcher fie ihren 


1) Rehtmeyer, Der berühmten Stadt Braunfchweig Kirchenhiftorie. 
Braunihw. 1707. 3. Teil, ©. 25 ff. 

2) Rehtmeyer, ©. 25ff. 53fl. Bogt, Bugenhagen, ©. 269 ff. 

8) Richter I, 106 ff. giebt einen ausführlichen Auszug u. bibfiogr. Nach⸗ 
weife über die älteren Drude, 


252 Hering 


Gegenftand behandelt. Durch alle Beitimmungen und Anordnungen 
fühlt fih der Schlag eines Tiebreichen Herzens dur. „Wollen wir 
Epriften fein“, jo beginnt ber betreffende Abfchnitt von dem gemeinen 
Kaften der Armen, „jo müſſen wir das auch im der Frucht be⸗ 
weifen. Gehen wir nicht um mit Möndstand und erdichtetem 
Gottesdienft, davon uns Gott nichts befohlen Hat, darum wird 
uns Gott nicht verachten, fo müfjen wir umgehen mit dem rechten 
Sottesdienft, d. i. mit rechten guten Werken des Glaubens, uns 
mit Ernſt von Ehrifto befohlen, nümlich, daß wir uns annehmen 
der Notdurft unferes Nächften, wie er fagt: Dabei follen alle 
Leute erfennen, daß ihr meine Jünger feid, fo ihr euch unter ein- 
ander liebet.“ 

Doch will die Ordnung die Pflicht der Fürforge nicht einzelnen 
frommen Leuten überlafjen wifjen; fie macht vielmehr, als eine 
rechte Kirchenordnung, die Pflicht der gefamten Gemeinde geltend. 
Verweiſt fie dann auf das Borbild der rechten Chriſten zu der 
Apoſtel Zeiten, fo grenzt fie doch die Anfammlung eines Schates 
für die Armen ausdrücklich gegen die Gütergemeinfchaft der Ge⸗ 
meinde in Jeruſalem und bie Vollkommenheit mönchiſcher Beſitz⸗ 
lofigkeit an: der gemeine Schatz foll zujammengetragen werben 
nit für uns, wie bei jenen erjten Ehriften, die nichts Eigenes 
behalten wollten, welches nun nicht gefchehen Tann und auch nicht 
vonnöten ift, fondern für die Notdürftigen. Solch ein Schag 
fann pfennig- und grofchenmweife zujammengetragen, aus milden 
Gaben geſammelt werden, ohne unjeren Schaden mit Fröhlichkeit 
unferer Konfeienz. Einen fröhlichen Geber bat Gott lieb. Daher 
jolfen in diefe „gemeine Kaſte“, welche in allen Pfarren offenbar 
aufzuftellen ift, die Erträge des Klingelbeutels fallen, und die Dia- 
fonen follen fich nicht fchämen, denfelben vor und nach der Predigt 
umzutragen; bie Opfer, welche jo lange bei Totenmeſſen gegeben 
find und die Gebühr für das Grabgeläut werben ihm überwiefen. 
Und da man zuvor geopfert hat, wenn die Braut zur Kirche ging, 
wäre es nicht Hriftlih, daß man dann den Armen in den Kaften 
opferte? „Wir wollen dann zur Hochzeit wohl efjen und trinken 
und wohlleben, was Gott wohl Leiden kann, wenn da fonft nichts 
gejchieht, was verboten ift, denn Chriftus ift felbjt fröhlich geweſen 


Die Liebesthätigfeit der dentfchen Reformation. 8 


zur Hochzeit und bat den Bauern guten Wein dazu gefchenfet; 
wäre es ba nicht auch gut, daß wir den Hungrigen und Durftens 
den mit einem Seller oder Pfennig bedächten, daß wir nicht vor 
Gott würden verflaget wie der reihe Schlemmer, der den armen 
Lazarum vor der Thür nicht wollte anfehen!“ 7) 

Ebenſo treuherzig und herzlich werden die Diakonen ermahnt, 
ohne Platte und Diakonenrock dem Vorbild des heiligen Stephanus 
und Laurentius nachzukommen und bie Kranken, welchen fie mit 
Geld zuhilfe fommen, auch aus Gottes Wort zu tröften. 

Den Umfang, in welchem Hilfe an Arme gewährt werden ſoll, 
möchte Bugenhagen in weitherziger Geduld nicht zu eng umfchreis 
ben. Der Bettel foll zwar nicht geduldet werden, aber doch mögen 
die armen Leute, welche um Brot gehen, dies noch einige Wochen 
thun, bis der Kaften im Schwange ift. Auch foll es nichts aus⸗ 
machen, wenn einmal ein fremder Bettler eine Partele Geld er- 
haften follte. Reben ben Armen wird befonders der Kranken und 
einer geordneten Pflege derjelben gedadt. Frauen, die im 
Hofpital unterhalten werden oder wöchentliche Almofen empfangen, 
werden, falls fie nicht felbft Kleine Kinder oder Kranke zu verforgen 
haben, aufgezeichnet, um zur Kranfenpflege verwendet zu werben. 
Sie empfangen hierfür aus dem gemeinen Kaften oder von ben 
Verpflegten felbft, wenn dieſe wohlhabend find, einen Lohn. Armen 
Wöchnerinnen follen die Hebammen umfonft beiftehen und dafür 
aus dem Schatlaften eine Beihilfe empfangen. 

Ferner ſucht die Kirchenordnung den Kranken den Troſt des 
Wortes zu fichern und alle Hilfe mit Seeljorgergeift zu durch⸗ 
dringen. Schon den Diafonen war die Pflicht vorgehalten, die 
Armen aud aus dem göttlihen Worte zu tröften; ausführlicher 
wird dies den Predigern befohlen. Sie follen vom Predigerjtuhl 
das Voll unterrichten, daß fie nicht mit ihren Kranken bis zum 
legten Atemzuge warten; die Prediger aber follen die Kranken, zu 
denen fie gerufen find, nachdem fie Beichte gehört und das Sa» 
frament gefpendet haben, einen Tag um den andern oder alle drei 
Tage befuchen, es wäre denn, daß die Kranken verjtändige Leute 


1) Richter I, 117. 





254 Hering 


bei fih hätten und ſolcher Vifitation nicht bedürften. Die Hofpi- 
täler follen ebenfall® von den Prädifanten wöchentlich ein⸗ ober 
zweimal befucht, die Kranken mit Gottes Wort freundlich vermahnt 
oder unterrichtet werden. Aber auch auf die am tiefften Gefal- 
Ienen lenkt fi das Auge diefer feelforgerifchen Furſorge. Zu ben 
Miffethätern ſoll man die Briefter nicht erft gehen laſſen, wenn 
fie ausgeführt werden *), fondern fo lange fie gefangen fitgen, daß 
fie fommen mögen zu der Erkenntnis des Evangelii. „Das ift ja 
ein Werk der Barmherzigkeit, das Chriftus wird erfennen zum 
jüngften Tage.“ 

Und zugleich mit diefem ethifchen Zuge, dem chriftlichen Liebes⸗ 
geift, der diefe Kirchenordnung erfüllt, tritt in ihr ein Talent für 
die äußere Seite der Firchlichen Güterverwaltung hervor. ALS 
Gedanke, wenn auch in der That zunächſt nicht ausgeführt, ift 
die Beitimmung bedeutfam, daß neben dem Armenkaften in jeder 
Parodie ein Schatzkaſten, ein Kirchen» und Pfarrfondse aus den 
Gütern und Einkünften der Kirchen und Pfarren wie aus den 
Überfchüffen der Hofpitäler gegründet werden fol. Ein Verſuch, 
aus der Fufion der Armen- und Kirchengüter, die der Einrichtung 
der gemeinen Kaſten anhaftete, heraus zu einer Sonderung zu 
fommen, die fowohl im Intereſſe der Armenpflege wie ber kirch⸗ 
lichen Verwaltung lag. Ebenſo weile war die fernere Beftim- 
mung, die Überfchüffe der Parochial-Armentaften, wie der parodjiafen 
Schasgfaften zur Gründung eines fünften Kaftens, für Zeiten be 
fonderer Not, aljo eines Reſervefonds zu verwenden 2). Auch die 
Tragen der Aufficht, die beim Nat verblieb, und der Rechnungs: 
fegung wurden eingehend und überlegjam geordnet. — Bedenkt man, 
daß vor allem auch der evangelifche Sottesdienft begründet, das Schul- 
wefen organifiert war, fo war ein großes Werk mit diefer Kirchen- 
ordnung gefchaffen. ALS fie vollendet war, fangen die evangelischen 
Gemeinen das Tebeum. 


1) Wie wenig in früherer Zeit für Gefangene geſchah, zeigt Uhlhorn, 
Chriſtl. Liebesthätigkeit des Mittelalters. 1884. ©. 292. Bgl. auch meinen 
erften Aufſatz, Borgefhichte, Stud. u. Krit. 1888, ©. 727, und Herzog, 
Real⸗Encyklop. 8, 31 über die Hinrichtung Klarenbachs. 

a) Richter J, 118. 








Die Liebesthätigkeit ber deutfchen Reformation. 256 


Nach Vollendung feiner Braunſchweiger Miffion wurde Bugen- 
bagen nah Hamburg berufen. Er ging mit Einwilligung 
ſeines Landesheren und der Univerfilät und ward aufs ftattlichite 
empfaugen. Bald fah er fich einer Aufgabe gegenüber, für welche 
die ihm bewilligte Zeit nicht ausreichte, es gab nicht bloß zu 
ordnen, fondern auch zu fchlichten )y. In der That kam die Ne 
formation in der großen Stadt, deren Bürger ſich zu dem Handel 
„ungeſchickt“ befanden 2), erft durch Bugenhagen zur Durchführung. 
Am 8. März 1529 konnte er nach Wittenberg ſchreiben: Sudatum 
est, sed — Christo gratia — non frustra®), Am Sonntage 
nad Zrinitatis wurde in feierlicdem Dankgottesbienft die Annahme 
der epangelifcheu Kirchenordnung verkündet 4). 

Diefe Hamburger Kirchenordnung ſchließt fich fo- 
wohl an den von den Bürgern zuftande gebracdten 
Entwurf, wie an bie Braunſchweiger Kirdenord- 
nung an. Doc wird das Kaftenwefen mehrfach, anders organifiert: 
Jede Parochie bat einen Armenlaften als Sammelftelle für die 
fleinen laufenden Gaben, und aus ihr werden auch bie laufenden 
Austeilungen beftritten; dagegen follen die Güter der Hofpitäler 
und Brüderfchaften, die teftamentarifch vermachten Gaben und bie 
Leibgedinge in eine fünfte Zentralkaſſe fliegen, um ben größeren 
Bedbürfniffen der Armen-, Witwen, und Waifenverforgung zu dienen. 
Diefelbe Zentralifation wendet Bugenhagen auf die Kirchen» und 
Pfarrfonds an, indem er nur einen Schatzkaſten für die ganze 
Stadt einrihten möchte. Eben hierdurch unterfcheidet fich die 
Hamburger Ordnung von der Braunfchweiger; aber die Sons. 


1) „Hic mihi plus negotii futurum vereor inter senatum et cives, quam 
Brunswige fuit, licet et ibi plus satis fuerit“, ſchreibt Bugenhagen Ende 
Oktober 1523 an Luther. Burkhardt, Luth. Briefw. S. 147. Bol. Bogt, 
©. 310. 

2) Brief des Rats zu Hamburg an Luther vom 1. Nov. 1528. Burk⸗ 
hardt, S. 149. 

8) Brief Bugenhagens an Luther, Jonas u. Melanchtbon bei Kawerau, 
Der Briefw. des Juſtus Jonas. 1884. I. ©. 123. 

4) Bogt, ©. 319. 

Theol. Stud. Jahrg. 1886. 17 


26 Hering 


derung nach Parochieen Bat ſich gegen den Plan Bugenhagens be» 
Bauptet '). 

Die nähften Jahre bringen gelegentlich Nachrichten, daß mit 
der neuen Ordnung anch eine nene Anregung für das Armenwefen 
in Hamburg gegeben war. Wit nur, daß der Rat fofort dem 
Armentaften 1000 Mark fchenkte 2); daß das Klofter der Maria 
Magdalena 1531 zu einem Wohnfig für Witwen und arme Yung- 
frauen eingerichtet ward ®); aud von Privatvermächtniffen wird 
berichtet; Hinrick Gerdes vermacht fein ganzes Privatvermögen 1531 
dem großen Hofpital zum Heiligen Geift *); Dirik Koſter ftiftet 
1537 ein Haus mit 24 Armenwohnungen und fügt die Geldmittel 
zur Verforgung ber Bewohner hinzu ®). Noch immer gebrach es an 
einem Haufe für arme Witwen, deren es in der Geeftadt adıt- 
Hundert gab; da wurde and) das Troſthaus der Seefahrer ge- 
baut), Das find Leiftungen, die man keineswegs überſchätzen 
darf; fie beweifen nicht, daß alles gefchehen wäre, was die evan- 
geliſche Burgerſchaft einer fo großen und reichen Stadt vermodt, 
was Bugenhagen felbft erwartet Haben mag. Aber fie find noch 
eine Frucht der Reformation. 

Volle Frucht allerdings erwarteten bie führenden Männer felbft 
nicht vom Buchftaben ihrer Drdnungen fondern von dem Geift. 
Wir bemeriten, wie berfelbe die Ordnungen ducchdringt, und er 
mußte auch der tiefere Lebensgrund, die befeelende Macht bleiben, 
aus welcher die Ausführang fpäterer Zeit immer wieder Leben 


1) Abdrud der Hamburger 8.-O. bei Klefeler, Sammlung ber Ham⸗ 
burger Geſetze. Hamburg 1770. 8. Zeil. ©. 84 ff. Auszüge bei Richter 
I, 127 ff. Überſetzt durch Mönckeberg, Bugenhagens Hamburger 8.-D. Ham⸗ 
burg 1861, Der Klefekerſche Tert iſt ſehr inkorrekt. Eine Darftellung der 
Armenpflege in Hamburg im Mittelalter giebt Möndeberg in der „Monatsichrift 
für die evang.⸗ luth. Kirche”. 8. Jahrg. S. 288. Für die Reformationszeit 
nn. Melles Buch S. 7.ff. zu vergleichen. 

2) Bugenhagen felbft erwähnt dies in Art. 41 der 8.-D. 

3) Staphorft V, 158. 

4) Ebend. 154. 

6) Ebend. IV, 457. 

6) Ebend. 504. 509. 


Die Liebesthätigkeit der deutfchen Reformation. 257 


zu fchöpfen, durch welche die evangeliſche Sitte fi vor Eritar- 
rung und Trägheit zu fchügen hatte. Bewahrten die neugegründeten 
evangelifhen Gemeinden die Slaubensfrifhe und den Sinn der 
erften Liebe, fo konnte fich eine tüchtige, vielfeitige Tchätigleit zum 
Beiten ber Hilfsbebürftigen im Rahmen jener Ordnungen ent- 
wideln. 

Aber doch lag in den Ordnungen der Reformation, 
auch in denen eines fo tüdhtigen Organifators, wie 
Bugenhagen, manches Moment, weldes die Ablen-» 
tungen und Abfhwädhungen begünftigte. Diefer Armen» 
Diakonat, den er einrichten half, erinnert doch trog der Hinweifung 
auf Act. 6 ſehr an die Altermänner, Proviſoren oder Heiligen- 
meifter des Mittelalters. Er ift ebenfo eine Rückbildung auf das 
mittelalterlich - parochiale wie auf das biblifche Vorbild. Ya, der 
Zuſammenhang mit den bürgerlichen Yuftitutionen macht fie jenem 
ähnlicher als diefem. Die evangelifhe Gemeinde war in ihrem 
Werden fo verwachſen mit der Bürgerfchaft, dag fie rein kirchliche 
Drgane nicht aus fich hervorbringen konnte. Es blieb immer möglich, 
daß dieſe Diakonen von chriftlihem Eifer erfüllt tren ihres Amtes 
warteten; fie haben gewiß aus dem Wort der Predigt, fo lange 
dasfelbe feine Frische und Kraft bewahrte, Hierzu Anregungen er- 
halten: aber von dem Stadtrat beauffichtigt, oder der ftäbdtifchen 
Obrigkeit felbjt angehörend, trugen fie zugleich den Charakter einer 
bürgerlichen Behörde; und jo bildete diefer Diakonat felbft 
ein Anltnüpfungspuntt Für die VBerwandelung der 
Urmenpflege in eine bürgerliche, die von ber urfprünglich 
benbfichtigten nur den Schematismus der äußerlichen Formen und 
den Namen bewahrte.. Die Verbindung des Bürgerlihen und 
Kirchlichen war eine gefhichtlih notwendige, und die Reformation 
dankt ihr auch für ihre foziale Arbeit manche Stütze; aber die 
volle Kraft der aus dem Glauben kommenden Liebe fehen wir erft 
dann ans Licht treten, als diefe Stüge ihr entzogen ward. 

Schon bamald hätte diefer Mangel fich vielleicht etwas aus⸗ 
gleichen können, wenn bei der Organifation der Gemeinden eben 
jmer Kraft irgend ein Pla der Bethätigung angewiefen worden, 
wenn eine Syntheſe für amtliche und freie perjünliche Liebesthätig- 

17* 


258 Hering 


feit gefunden oder auf ein Mitwirken der letteren beim Neuordnen 
der Gemeinden bedacht genommen wäre. Die Reformation hat 
die Freiheit des Chriftenmenfchen in feinem Wirken, fein Wirken 
in der Sreiheit betont; aber eine Schranke der Erkenntnis und Ein- 
ficht zeigt fich doch darin, dag die Perjönlichkeit auf fich, auf den 
inneren Trieb des Glaubens und ber Liebe angewiejen bleibt, daß 
ihr der Segen einer beftimmten Anregung zum Wirken aus der 
Mitte der Gemeinde nicht zuteil, eine beftimmte Arbeit ihr nicht 
zugewiefen wird. Es war ein Mangel, welcher mit der Kinfeitig 
keit der ethifchen Anfchauung zufammenhing, da8 aus Gott ge 
borene Leben nur dem inneren Trieb des Geiftes folgend, einer 
Nötigung von außen nicht bebürftig zw denken. ben biefe Scheu 
vor Gefetlichkeit Tieß auch wohl den Gedanken, aus Mönchen und 
Nonnen, welche dem Evangelium gewonnen waren, Krantenpfleger 
zu erziehen, nicht auffommen !). Aber gewiß waren die Almofen- 
empfüngerinnen, an welche Bugenhagen dachte, für eine rechte, von 
der Liebe bejeelte Krankenpflege nicht geeignet. So blieb für jekt 
in der Liebesthätigleit der deutfchen Aeformation eine Aufgabe un 
gelöft: Sie ſchuf weder ein rein Firchliches Pflegeamt, noch eine 
Organifation freiwilliger Kräfte Die Anregung hierzu iſt fpäter 
von anderer Seite gefommen. Aber gerade jet traten Verhältniſſe 
ein, welche alle Aufgaben chriftlicher Fürſorge für Kranke und 
Arme fteigerten. 


13. 


Denn zu den Nöten, an welche die Evangelifchen Hand gelegt, 
gefellte fih im Jahre 1529 eine neue Krifis. Naturereiguifle, 
Krankheit und Teuerung, dazu Kriegsgefahr, die an Wiens Mauern 
klopfte, Tießen fchwere Zeiten entjtehen; faft ein Jahrzehnt ift von 
diefen Plagen befchattet. Die chriftliche Liebe ſah fich übergroßen 
Notftänden gegenüber. Die fittliden Schäden dagegen, bie Ver 
achtung des Wortes, der Geiz, fommuniftifche Gelüfte und Um⸗ 
triebe konnten an dem Elend einen mächtigen Bundesgenoffen finden. 


1) Bgl. aud die Bemerkungen Koffmanes in der fchönen Arbeit „Luther 
und die innere Milfion“. Berlin 1883. ©. 40f. 








Die Liebesthätigkeit der dentſchen Reformation. 29 


Die eine dieſer Plagen trat plöglih auf, eine neue, bisher In 
Deutfchland unerhörte Krankheit, der „englifde Schweiß“. 
Die Epidemie hatte England, wo fie 1486 entftanden war, dreis 
mal, zulegt 1518, beimgefucht. Im Mai des Jahres 1529 brach 
fie abermals in London aus, und bald darauf, am 25. Juli, 
erfchien fie in Hamburg, durchflog den Norden Deutjchlande mit 
Windeseile und kroch dann, wie Seb. Franck fi ausdrückt, durch 
das ganze Land !). Die Krankheit, ein hitziges Fieber, daß die 
Kräfte Schnell unter reichlichem Erguß übelriechendes Schweißes auf» 
rieb und, wenn Schlafjucht hinzutrat, tödtlich verlief ?), muß in fehr 
verfchiedenen Graben aufgetreten fein. Luther konnte fich gering- 
ſchätzig über fie äußern und vor Kleinmütigfeit warnen; er hatte 
gehört, daß in Magdeburg 800 bis 1000 Menſchen erkrankt und 
bis auf wenige wohl von Angft Erregte wieder genejen feien ®). Aber 
während einige Orte in der That mehr den Schreden erfuhren, 
wie Stettin und Danzig, Stuttgart und Straßburg, zeigte fie fich 
an anderen als eine verheerende Seuche. In Hamburg waren doch 
in wenig Wochen über taufend Perfonen geitorben; in Augsburg gleich 
zu Anfang 800 von 15000 Erkrankten %). Beſonders fchwer litt 
DOftpreußen. Hier erkrankten der Herzog Albrecht und feine Gemahlin 
Dorothea, um bald zu genefen, aber der Biſchof von Pomefanien 
wurde ein Opfer der Krankheit, im Landtag ftürzten einige Per⸗ 
fonen tot zur Erde, im ganzen wurden in Oft» und Weftpreußen 
mehr ald 30000 Dienfchen Hingerafft. Und eben im biefer ſchweren 


1) Oppidatim Euro citius grassatur. Chunradus Scipio Corbachius 
a. 1529 Bei Häfer, Geſchichte der Medizin III, 3. Bearbeitung ©. 340. 
Seb. Frand, Chronik Bl. 2792. Nachrichten über das Auftreten ber Krank⸗ 
heit, auch Bejchreibungen derſelben fehr zahlreich in den Chroniken und Städte 
geichichten. Ich nenne nur Cramer, Pomm. Kirchen» Chronilon IH, 87. 
Kankow, Chronik von Bommern, S. 175ffl. Hoffmann, Geſchichte von 
Magdeburg DI, 135. Herzog, Chronik von Zwidau I, 219. Aus Süd⸗ 
deutichland aufer Francks Zeugnis die Weißenhorner Hiftorie, Baumann 
A. 157. 159. Weitere Nachweiſe bei Häfer, S. 327 ff. 

3) Häfer IH, 326. Herzog a. a. O. 

3) De Wette III, 499. Die Schöppen-Chronit Magdeburgs fpricht da- 
gegen von vielen Opfern. Hoffmanı a. a. O. 

4) Häfer, S. 328 fl. 


0 Hering 


Heimſuchung zeigten fih Anſätze freiwilliger Kranken— 
pflege. Der Herzog verwandelte ein reiches Kloſter der Bene 
biktinerinnen in ein Hofpital, und die Nonnen warteten in dem⸗ 
felben zum Teil freiwillig der Kranken ). Im ganzen haben uns 
die Zeitgenoffen mehr von der Krankheit und ihrer Behandlung, 
als von der Hilfe und dem Beiftand der Nächftenliebe erzählt. 
Um fo mehr find folche Beispiele der Fürforge zu beachten; auch 
die der Seelforgertreue, wie von Kaſpar Gütiel berichtet wird, 
daß er in jener Heimfuchung, als eine Beftilenz auf die mild auf. 
tretende englifche Seuche folgte, feiner Gemeinde beiftand mit Troft 
aus dem Worte Gottes 2). 

Bei weitem furdtbarer als diefe Epidemie ward eme Teue⸗ 
rung, welche jett allgemein wurde. Schon bie Jahre nach dem 
Bauernkrieg hatten abnormes Wetter gebracht, die Winter warın, 
die Sommer kalt; die Frucht war unvollfommen ausgereift oder 
bagelichlächtig geworden. Dann aber wurde im Jahre 1529 nad 
der Ernte nit nur das Korn fondern jedes Lebensbebürfnis, 
„alles, was der Menſch genießen mag”, überaus teuer. Seb. 
Franck berichtet, daß das Korn von 7 Pfennig bald auf 38 und 
mehr als 40 Pfennige geftiegen, da8 Pfund Schmalz; in Nürn- 
berg mit 14 und 15 Pfennige bezahlt fei, und die Gerfte 6 Gulden 
gefoftet Babe 8). 

Nie war nad) dem Zeugnis desfelben Gemwährsinannes der⸗ 
gleichen vorher erhört worden. Denn wenn vor Zeiten keine Teuer 
rung über ein Jahr oder ein halbes währte, fonderlich in der letzten 
des Jahres 1517, in welcher Wein und Korn auf das Fünf 
oder Sechsfache des Preiſes ftiegen, fo Hielt diefe biß zum Jahre 
1536 an 9. Franck jagt, er habe nie dergleichen Not gefehen. 


1) Hafe, Herzog Albrecht von Preußen und fein Hofprediger. S. 56. 

2) Kawerau, Kafpar Güttel. Halle 1882. ©. 70f. Auch in Mar 
burg folgte 1530 anf den engl. Schweiß die Peſt. Häſer, S. 340f. 

3) Chronik BI. 279 ff. 

4) Zu Frands Angaben ftelle ic) aus der Weißenhorner Hiftorie des Ni⸗ 
kolaus Thoman eine Tabelle der Roggenpreiſe der Teuerungsjahre 1528—1535 
zufammen: 

a. 1528 das Im 323 Schilling, 











Die Lichesthatigkeit der beutichen Meformation, % 


Aber auch größere Leiftungen bürften kaum erhört fein als bie 
Straßburgs, das jegt wieder feinen Ruhm als Vorort ber dhrift« 
lichen Woplthätigleit bewährte. Die Verſchmachteten kamen oft aus 
großer Ferne, aus der Schweiz und aus Lothringen zu Hunderten; 
denn der Hunger hatte fie von Haus und Herd getrieben. So 
wurden den Winter hindurch, als der Sad Korn 5 Gulden koſtete, 
ungefähr 900 in der Stadt gefpeift.- Auf Anregung der Prediger 
wurden im fFranzisfanerflofter in einem Vierteljahr 2150 Arme 
aufgenommen; ja, in ber Elendenherberge find 1530 23545 Aus⸗ 
wärtige geſpeiſt und verpflegt worden ?). 

Neben diefen äußeren Hilfen will indes noch ein anderer Zug 
beachtet jein, denn die Wirkſamkeit der Liebe als eines Lebendigen 
Geiftes geht nie in bloßen Anftalten auf. An Nöten und Drang- 
ſalen fucht fie den Zugang zu den Herzen, um bie Beladenen mit 
dem Wort zu erquiden. In Bugenhagens Ordnungen, in Quthers 
Briefen, zuletzt in feiner Schrift, ob man vor dem Sterben fliehen 
möge, tritt diefer Seeljorgerfinn hervor. Jetzt nun, da unter fo 


a. 1529 das Im 2 Pfd. 2—5 Schilling, 
a. 1580 „ „ 4 Pf. 4 Schilling, 
a. 1581 feine Preisangabe, doch wird das Jahr allgemein mit 1530 
verglichen. 
3. 1538 das Im 4 Pb. 4 Schilling, 
& 1534 „ „ 2 Gulden 4 Pfd. weniger 5 Schilling bie 4 Pf. 
4 Schilling. 
Zu a. 1535 berichtet Thoman nur von dem ——— Einfluß des 
ſchlechten Herbſtwetters. 
a. 1536 das Im 1 pſfd. 2 Schilling bis 1 Pfd. 18 Schilling. 
Dennoch waren in der teuern Zeit die Preiſe auf das Drei- bis Vierfache 
im Verhältnis zu denen des Jahres 1536 geftiegen. Baumann, Ouellen A, 
147. 157. 160. 182. 191. 195. 206. Ebenſo hoch waren ungefähr die Roggen⸗ 
preife im Teuerungsjahre 1491, in dem 1 Im 4 Pfd. Loftete (Baumann, 
Quellen A, 29), a. 1501 betrug ber Preis am 26. Mai fogar 5 Pfd., während 
Ende Inli das neue Korn 1 Pfd. und 2—5 Schilling koſtete. Bon einer Teue- 
rung des Jahres 1517 dagegen erwähnt biefer Ehronift nichte. Daß ſich bie 
des Jahres 1529 auch in Mitteldentfchland fühlbar machte, bezeugt bie Zwickauer 
Chronik, Herzog HI, 219. Die Kornpreife liegen von 12 Groſchen auf 4 Gulden. 
1) Seb. Frauck, Chronik BI. 279. Röhrich, Geſchichte der Refor⸗ 
mation im Elſaß I, 268 f. 


2 Hering: Die Liebesiäätigfeit ber beutfchen Steformatic. 


viel Gefahe und Not bie Herzen ber Menfchen zagten, wird die 
evangelifche erbauliche Litteratur noch ftärker als vorher ven dem 
Geift des Troftes erfüllt. Manche Erzengniffe derfelben ſprechen 
dies ausdrädlidh ans: Sehaldus Heyden will aus fieben Sprüchen 
beiliger Schrift anzeigen, wie man in aflerlei Nöten, des Zürten, 
Beftilenz, Teuerung den Glauben ftärken und chriftliche Geduld er⸗ 
langen fol. Sem Motto ii: „So Gott für uns ift, wer mag 
wider uns fein” 1). Konrad Widner ermahnt zur Glaubenszuver- 
fit und Geduld; er fieht die Reiter der Offenbarung daher kom⸗ 
men, das Evangelium verfhmäht und verftodende Gotteögerichte 
verhängt; die Feinde dürfen das Evangelinm fchänden und fagen, 
daß nie größere Unbarmherzigleit geweſen; und dazu kommen bie 
äußeren Plagen, Teuerung, Krieg und Peſtilenz?). Mit dem 
Tröften der Sterbenden war 1527 ſchon Thomas Benatorius 
borangegangen; es ift für das evangeliſche Spitalwefen bebeutjan, 
dag er feinen „Eurzen Unterricht” für Hartung Görell, den Diener 
der Armen zu Nürnberg im neuen Spital gefchrieben hat ®). Die 
Feine, nur vier Blätter füllende Schrift ift einfach und einfältig, 
fehrhaft, doch kernig, glaubensvoll und treuberzig. Luther felbft, 
der damald den Kriegeleuten den Mut und das Gewiffen ftärkte, 
wider den Türken zu ftreiten, bat der Arbeit des Venatorius ein 
Borwort mitgegeben. 

Wuchs fo aus harter Not Troft der Liebe, fo ift eben durch 
die Not auch Lieblofigkeit, Härte, Verachtung des Wortes gefteigert. 
Immer gehen dieſe beiden Gegenſätze neben einander her. Die 
Klagen Luthers finden ihre Beftätigung an denen Sebaftian Francks, 
der gerade von biefen Jahren der Drangfal nicht ohne Bitterkeit 
ſpricht: Nie habe es eine ungelaffenere glaubenslofere Zeit ges 
geben. War nun das Ende der Heimſuchungen noch nicht abzu- 
fehen, da die Teuerung bis 1535 dauerte, fo mußte der evange⸗ 


1) Nach dem Titel. Druck vom Jahre 1531. Nürnberg bei Pehpus. 

3) Daß man fi) .vor dem zukünftigen Sterben oder Peſtilenz nicht ent⸗ 
feßen fol. Konrad Wiener 1530. Motto Deuteron. 32. 

3) Benutzt wurde der Drud vom Jahre 1527. Üüber bie erbanfiche Litte- 
ratur und die Troſtſchriften befonders iſt zu vergleichen Bed, Die Erbauung 
litteratur der evangelifchen Kirche Deutſchlands 1888. ©. 48 ff. 127. 131 ff. 











v. Soden: Der erſte Theffalonicherbrief. 268 


liſchen Kicche noch viel Kampf und Arbeit unter Hemmung für 
isre Einwirkung auf das Vollsleben beichieden fein, während fie 
um die Grundlagen ihrer Exiftenz zu ringen hatte. 


2. 
Der erite Theifalonicherbrief. 


Bon 
H. v. Hoden. 





Lange find die beiden Theſſalonicherbriefe als untrennbare Ge: 
Ihwifter in der Einleitungswiffenfchaft mit einander behandelt wor: 
den, wobei das Schickſal des einen an das des andern gekettet 
wurde, fo baß bald die Rettung der Echtheit des erften Briefes 
auch den zweiten halten mußte, bald die Verwerfung des zweiten 
auh dem erften verberblih wurde. Dabei wurde das Urteil 
darüber, welcher von beiden der ältere fei, ſchwankend; während die 
große Mehrzahl der Forſcher die Reihenfolge beider im Kanon als 
die ihrem Alter entiprechende vorausfegte oder verteidigte, teilte 
weft Grotius auf Grund einer ganz willfürlichen Adreffierung 
desfelben dem zweiten Brief das höhere Alter zu; und nad ihm 
vertrat diefe Ordnung Baur (Paulus, 2. Aufl. II, 364— 69), 
wodurch er das Necht erhielt, die von ihm gegen die Echtheit des 
zweiten vorgebrachten Bedenken auch auf den erften, als den fpäteren, 
zu übertragen. Außer den beiden angeführten Gelehrten jegen den 
zweiten Brief als den älteren Ewald (%. f. bibl. W. 1861, ©. 249. 
Sendichreiben des Apofteld Paulus, S. 19f.; Geſchichte der ap. 
Zeit, S. 4ödf.), Laurent (Th. St. u. Kr. 1864, ©. 497. Neut. 
Stud. S.49f.), van der Vies (De beiden Breeven van de 
Thess. 1865; er glaubt, je aus inneren Gründen, unfern zweiten Brief 
dor unfern erften Brief nach Jeruſalems Zerftörung anfegen zu 


aA v. Soden 


müfjen), Davidfon (An introd. to the study of the N.T. 1868, 


I, 30sgqgq.). Eine Widerlegung der von diefen Gelehrten angeführten 
Gründe haben gegeben Lünemann (1878, ©. 160f.; Hofmann 
I, 365 ff.), beſonders ausführlich van der Manen (Onderzoeknaar 
de Echtheid van Paulus’ tweeden Brief an de Thessaloniceneer 
1865, S. 11—25). 

Unfere Unterfuhung läßt das Verhältnis der beiden an die 
Theffalonicher überfchriebenen Briefe ganz beifeite und betrachtet 
den erften derfelben für fich allein al8 ein mit dem Namen des 
Paulus gezeichnetes Titterarifches Denkmal mit dem Abjehen zu er- 
fennen, ob diefer Name den faktifchen Verfaffer oder nur den pa- 
tronus bes Briefes bezeichne. Hierbei benugen wir nur die unbe: 
zweifelt echten Briefe des Apofteld als Ausgangspunkt und warten 
e8 ab, ob etwa der Gang unferer Unterfuhung uns zum Ge 
ftändnis führen follte, daß wir die Entftehung des erften ohne 
Boransfegung der Exiftenz des zweiten nicht zu erklären vermögen. 


1. Der formale Charalter des Briefes. 
a) Das ſprachliche Material. 

Hierfür verweifen wir auf die gründliche und abwägende Einzel- 
unterfuchung von van der Manen (a.a.D., ©. 122—138), deren 
Reſultat ift, daß der VBerfaffer des Briefes in freiefter Weiſe über 
den paufinifhen Sprachſchatz verfügt, ohne je eine längere paulis 
nische Phrafe der vier Homologumenen zu reproduzieren, daß aber 
nirgends ein widerpaulinischer Ausdrud oder eine widerpauliniſche 
Verwendung eines paulinifchen Ausdruds fi findet. Diefe höchſt 
danfenswerte Unterfuchung begründet unwiderfprechlich Holgmannd 
Urteil, daß fpeztell die vielen Anklänge an die Korintherbriefe „nur 
die Selbigfeit des Verfaſſers beweifen“, keineswegs aber einen un- 
jelbftändigen Nachahmer verraten. Wir ftellen das Einzelne furz 
in Rubrifen zufammen: «. A. für Paulus Hat der 1Theſſ. nur 
Yeog aAndwög 1, 9; avapsvaır 1,10; 6 rreigalwv 3, 5 (herbei- 
geführt durch das Zeitwort); aaltvsodaı 3, 3; avıoravas 4, 14.16 
von der Auferftehung ebenfo mit Beziehung auf Jeſus als anf 
die Menfchen; Aoyos xvolov 4, 15; der Pluralis Adyos von der 
apoftolifchen Belehrung 4, 18; dxeıßas 5, 2; Unspsxnepccor 








Der erfte Thefſalonicherbrief. 26 


3, 105 5, 13 (nur noch Eph. 3, 20; dagegen kennt Paulus 
ineonsgscoeveıv Röm. 5, 20. 2 Kor. 7, 4); nyeladas &v 
5, 13; außerdem noch in dem Abfchnitt von der Parnfie die Be⸗ 
jiehungen für die bei Paulus nirgends wiederholten Vorſtellungen: 
ayeıv von der Verffärung der Menfchen 4, 14; donalsıy, vepd- 
Jar, drsevenoss. Schwierigkeiten bei Annahme der Echtheit des 
Briefes macht keiner biefer einmaligen Aursbrüde ?). 

Hieran mögen fidh die Dienge der echtpanlinifchen Worte und Wen- 
dungen ſchließen, zunächſt diejenigen, welche in der neuteftamentlichen 
Üitteratur ih nur bei Paulus finden: zsarnje nur 3, 11 von 
Gott (in der brieflichen Litteratur weber Paftoralbriefe, noch latholiſche 
Briefe, noch Apofalypfe; Eph. nur in der panlinifchen Grußformel 
1,2); 6 Jeös wg eionvns 5, 23 (nur neh Hebr. 13, 20); 0 
svayyeAsov Fuav 1,5; Gott ale Zeuge angerufen 2, 5; ardysıv 
3,1%); vorsgnue 3, 10 (nur noch Luk. 21, 4); mAsovaleım 3, 12 
(nur noch 2 Petr. 1,8); aysmovvn 3, 13; reAsovexreiv 4, 6; Exdıxos 
4,6; xaleiv El 4,7; yilorıueiodeaı 4, 11; suoynudvos 4,12; 
eis 509 Eva 5, 11 (nur 1Ror. 4, 6); dökav Invew 2,6 (nur 
Rom. 2, 7); zonog aa udysos 2, 9 (nur 2 Kor. 11, 27), 
und zwar beidemal als Bezeichnung der apoftolifchen Miſſtons⸗ 
thätigfeit, was von unferee Stelle nur durch willfürliche Premie- 


1) Unter die unpanlinifchen Ausdrücke hat man auch dv Bagaı eivaı 2, 6 
tehnen wollen, nachdem man ihm den bei diefem Ausdruck allerdings unpau- 
liniſchen Sinn „zur Laft fallen” unterlegt Hatte. Aber unſer Verfaſſer Tennt 
Hierfür den echtpanliniichen Ausdruck Zdmıßapsiv wohl (2, 9) und hätte ihn 
darum auch bier zum Ausdruck feines Gebanfens gewählt. dr Bagsı aivmı 
aber ift (analog dem aduinıor Bapos Tüs dotns 2Ror. 4, 17, alfo in echt⸗ 
pauliniſcher Weife) in ethiihem Sinn zu nehmen: „von Gewicht fein” ale 
Chrifti Apoftel gegenüber den windigen Leuten, die dofa» Inrovary EE avdgw- 
noy dgl. 2Ror. 10, 10 (fo auch Koch, Belt, Schott, Olshaufen, De Wette, 
Bi). Die Erklärung von Lipfius (St. u. Mr. 1854, ©. 912) „in Laſt und 
Veſchwerde fein“, iſt trotz 2 Mor. 1, 8; 5, 4. Gal. 6, 2 bier unmöglich, weil 
man das Wichtigfte hinzudenken muß, wie Lipfins felbft anſchaulich macht: „wir 
And imſtande, in Laft und Beſchwerde zu fein, d.i. Verfolgungen und Drang- 
ſale allerlei Wet, die die Menfchen über uns verhängen, mit Gleihmut zu 
ertragen“. 

) ovycoyoc, wenn edit, 3, 2 (nur noch 8 Joh. 8). 


266 v. Soben 


tung des Partic. seyalousvos und Sgnorierung des verb. fin. 
Exmov&ausv To evayysisov mit Baur geleugnet werden kann, 
vgl. übrigens xorssav in dem von Baur an unferer Stelle allein 
zugegebenen Sinn 1 or. 4, 12; drraf xai dis 2, 18 (nur Phil. 4, 
16); zsiodaı eis 3, 3 (nur Phil. 4, 16); PIavsım sic 2,16; 
sis xevdv 3,5; wg day oder @v 2,7; 005 70 um 2,9 (mur 
2 Kor. 3, 13); &o@ ovv 5,6; xaddrısg 4, 5 (nur noch Hebr. 
4,5; 5,4); negsooas 2, 17 (Ymal bei Paulus und Hebr. 2,1; 
13, 19). — Edit paulinifh ift ferner od zer), alla 2,1 
(18or. 15, 10); siddsss mit Objekts⸗Accuſativ und epexegetiſchem 
örs 1, 4 (Röm. 13, 11); avayan und HAlyıs 3, T (2Kor. 
6, 4); der pleonaftifche Gebraud; von ua@ddoy 4, 1; aodenis im 
geiftigen Sinn 5, 14; xoros, xorıav von Miffionsthätigfeit 3, 5; 
5, 12; va ow9woıv 2, 16 (1 Kor. 10, 33); eis vo arnoika 
3, 2.13 (Röm. 1, 11. eis 70 ornaysnvar); olxodomesiv 5, 11, 
abſolut oder mit perfönlihdem Objekt ohne ausführliche Anlehnung 
an die BVorftellung des Bauens (1 Petr. 1, 5) nur bei Paulus 
(verwendet auf bie Kirche ald Organismus Apg. 9, 31 und Eph. 
Amal); Aoınov od» als Übergang 4, 1; ou Sslonuer vnäs 
ayvoeiv 4, 13; als Beginn eines neuen Abſchnitts 7asgs de 
ns etc. 4, 9 zum gleichen Zweck. «dros dd 0 Ysog mit einem 
Wunfh 3, 11; 5, 23 (2Ror. 10, 1); &yo ud» Daülos 2, 18 
(2Ror. 10, 1. Gal. 5, 2); zuuoros 0 Yeos, ds mit futurum 
5, 24 (1Ror. 10, 13). Echtpauliniſch ift die Trichotomie zusarıs, 
eyarın, Anis 1, 3; 5, 8; der Vergleich feiner Stellung zur 
Gemeinde mit der einer Mutter 2, 7; bie Charafterifierung der 
Helden ala un eidora Heov 4, 5 (Gal. 4, 8); der in einem 
furzen Sat angehängte effeltuolle Schluß einer Gedankenreihe 2, 16 
(Sat. 5, 12. 2Kor. 11, 15. 18or. 7, 40). Pauliniſch ift ferner 
die Gegenüberftellung von Aoyos und duvanıs 1,5 (1For. 2,4; 
4, 20). Daß dies hier nicht Nahahmung fein muß, wie Baur 
vermutet, zeigt der Zufammenhang: die Verhältniffe, unter denen 
die Theffalonicher da8 Evangelium annahmen (V. 6), ſetzen bei 
ihnen eben duvanıs (Ev IMs soAA7) und ravsüue d'ysov x0l 
rringogopla mroAin (usTa xXapüs rvevuarog) voraus; waren 
fie aber hierbei nur munzer des Apofteld (V. 5), fo muß auf 





Der erſte Theffalonicherbrief. 21 


feine Predigt 39 duvanıı zul dv mv. aylo xal dv nÄno0g. 
roAAn; gefchehen ſein; gerade baran müfjen fie alfo erinnert wer⸗ 
den, daß fie auch ferner feftbleiben in jener Nachahmung. Pauli» 
nisch ift die Bezeichnung der Gemeindeglieder al8 muunsai des 
Apofteld 1, 6 (1Ror. 4, 16; 11, 1). Endlich ift lehrreich der 
Gebrauch von Pacsisle Tod FIsov 2, 12. Bon ber Evangelien- 
litteratur abgefehen, hat diefer Ausdrud im Neuen Teftament eine 
rein eschatologifhe Bedeutung mit der allereinzigen Ausnahme der 
Briefe Bauft (eingerechnet die Stellen Kol. 1, 13; 4, 11), vgl. Eph. 
5, 5. 2XCHeff. 1, 5. 2Tim. 4, 1. 18. Jak. 2,5. 2 Betr. 1, 11. 
Nur Paulus Hat die Doppelbedeutung, die Jeſus mit dem Aus- 
druc verbunden hat, feftgehalten. Dies ift aber deutlich auch 1 Theſſ. 
2, 12 der Ball. 

Damit aber biefe Neihe von echtpaulinifchen Bezeichnungen den 
Berfaffer des Briefes nicht in den Verdacht eines Nahahmers 
bringe, können wir daneben eine Reihe von Beweiſen der vollen 
Selbftändigkeit des Verfaſſers aufzählen: den echtpaulinifchen Danf 
am Beginn bes Briefes, den er nah Baur bem erften Korinther- 
brief nachgebildet haben ſoll, faßt er, dem, wenn er ein Nachahmer 
war, troßg der drei Namen der Adreſſe, doch nur des Paulus 
Perfon vorfchweben fonnte, nit wie 1Kor. 1, 4: sugagıoro 
(auch dort ftehen zwei Namen in der Adreſſe), fondern zuxe- 
Quosoöüusv 1, 2. Er fchreibt Yyannusvo Und Ysod 1, 4 
gegenüber den Ausdrücken 1Kor. 19, 14; 15, 58 2c. einer-, Röm. 
1, 7 anderſeits; dxAoyrj 1, 4 gegenüber xAnoss 1Ror. 1, 26. 
(Dies ift keineswegs darum widerpaulinifch, wie Baur und Vies 
meinen; Paulus redet Nöm. 8, 28 von od xara mreoseoıw 
zAnror Ovssc, Röm. 9, 11 von 7 xar” dxAoynv nod9sors, 
Röm. 8, 33 von Exisxsos Fsod [vgl. au 16, 13], Röm. 1, 6 
von xAnsos Inoodö Xgsovov; 1Kor. 1, 27f. von dxAsyeodaı, 
1Ror. 1, 9 von xudeiv, wo es fid) jedesmal um die gleichen Per- 
fonen reſp. Begriffe handelt). Er verwendet den den Worten nad) 
paulinifchen Gegenſatz 2 Kor. 5, 12 neo0wro, od xagdie 2, 17 
im Sinn von cs odnarı — To nveinarı 1Ror. 5, 3. Der 
Titel des Timothens 3, 2 ift, auch wenn man ovvegyos im Texte 
lieft, Teineswegs nad) dem des Titus 2 Kor. 8, 23 gebildet, fon« 


8 7009 Soden 


dern felbftändig, und erinnert an den Schreiber won 1Kor. 3, 9. 
Die ndIn arınlas Röm. 1, 26 heißen hier nd EnıYunla; 
4, 5. Die nvevuarıxoi (wie Schrader von Paulns erwartet 
hätte) heißen Ysodidaxzos 4, 9 mit Anlehnung an Jeſ. 54, 13 
(nit an ob. 6, 45, wie Schrader meint), um das 0U xoslav 
Eyes yodgysıy Univ gut zu motivieren. Die Phrafe 4, 13 fteht 
außer 2 Kor. 1, 8 ſtets im Singularis bei Paulus; aber gerade 
2 Kor. 1, 8 folgt nit das jonft beliebte va; Röm. 11, 25, wo 
sve folgt, fteht Statt used der Objeltdaccujativ, ftatt Ieadoper 
Helm, adıalsiniws ngoosvgeode 5, 17 .ift felbftändige Faj- 
fung des ähnlichen Gedankens Röm. 12, 12, an den ein Pauliner 
ſich anlehnen konnte. Die paulinifche Phrafe rsozos © eos, 
ös ꝛc. ift 5, 24 völlig felbftändig gegenüber 1 Kor. 10, 13. Die 
Bergleihung des Apoftels mit einer Mutter 2, 7 ift ganz originell 
gegenüber Sal. 4, 19. 1Kor. 3, 2; 4, 15. 2Ror. 12, 14; 
anodavsiv resot 5, 10 findet ſich nigends bei Paulus; wohl 
aber gebraucht Paulus fonft regd zum Ausdrud der Stelivertretung 
Ehrifti. Statt vexgos 8$v Xgsoro 4, 16 fteht 1 Kor. 15, 16 zowr- 
Heyres Ev Xosoro. Statt rragovale (nur 1 Ror. 15, 23) 
Schreibt Paulus ſtets 7usox xvolov od. &.; warum hätte der Nach⸗ 
ahmer 3, 19 den paulinifchen Ausdrud von 2Kor. 1, 14 nicht 
beibehalten? svayysAileodaı 3, 6 braucht Paulus und die fpä- 
tere Litteratur nur in dem technifchen Sinn bes Miffionierens. 
Der profane Gebrauch des Wortes weift mit größter Wahrſchein⸗ 
Sichfeit in eine Zeit, da e8 noch nicht zu jenem Terminus technicus 
geworden war. 

Alle diefe Beobachtungen einer freien Verwendung der Sprade 
find bei einem Nachahmer jchwer zu erklären, bei dem originellen 
Schöpfer natürlich ?). 


1) Die Meinung Baurs, die Phrafe Andzanı zors EIvesw vo amdaır 
2, 16 verrate Bekanntſchaft mit der A. ©., Haben ion Grimm (Et. u. 
Kr. 1850, S. 767ff.), Manen (©. 127f.) widerlegt. Die Meinung von Bies 
(©. 98), der Brief enthalte „deutliche Anfpielungen auf die Evangelien Mat- 
thäus und Lukas, obſchon die Endredaktion diefer beiden Schriften deutlich fpäter 
fällt als unſer Brief”, der Verfafſer Habe alfo „eine oder mehrere Quellen der 
beiden Evangelien gelannt, aber in einer Zeit, in welcher die Parufieerwartung 








Der erſte Theffalonicherbrief. Pi) 


Holften (Brot. Jahrb. 1877) Hat auf die Ägnlichkeit von 1 Cheff. 
1, 3 mit Apok. 2, 2 Hingewiefen und Hieraus eine Abhängigteit 
des Briefes von ber legteren erfchliegen wollen. Kann diefe Hypo⸗ 
thefe auch nicht als unmöglich widerlegt werden, fo ift ihre Wahr» 
ſcheinlichkeit, wenn nicht viele andere Indicien fie unterftügen, doch 
auch nicht zu erweifen. Die vrzouorwm als Eigenſchaft der chriſt⸗ 
lichen &Arts tft paulinifch (Röm. 8, 25); ebenfo kennt er die 
Nebeneinanderfügung von Zoyov und xomos (1 Kor. 15, 58). 
Das Zoyoy Tod xvuglov (ebenda) mag aber unferm &eyov wis 
alesens als Parallele dienen. Die Uusdräde an fi find alfo 
gut panfinifch, wenn auch der erfte berfelben Zoyov wis seioseng 
etwas kühn, für einen Pauliner gewiß zu kühn ift, für Paulus 
jelbft aber, der nicht Sklave feiner dogmatiſchen Bormeln ift, fi 
bier durch die Schilderung defjen, was er darunter verfteht (1, 6), 
völlig erffärt. Nur die Aufeinanderfolge derfelben in der Ordnung 
wie Apol. 2, 2 kann alfo Mißtrauen erwecken. Nun iſt aber die 
Wahl der Beſſimmungswörter Spyov, xdrzos, vVrrouovn) gewiß ab» 
hängig von den Bezeichnungen: relorıs, aydrıın, EAnts; biefe Tri 
fogie iſt aber pauliniſch (1Kor. 13, 13), und unferem Verfaſſer 
jo wie fo geläufig (5, 8). ‚Überdies werden, wie Vies (©. 51) 
jeigt, gerade dieſe drei Eigenfchaften aud) an anderen Orten im aus⸗ 
führenden Teil des Briefes anerfannt, der Glaube 1, 4—10 und 
2,13—16, bie Liebe 4, 9f., die Hoffeung 5, 1—11, fo daß die 
Zufammenftellung in 1, 3 durch die Thatfachen geboten erfcheint 
und keineswegs ben Eindruck einer fremdartigen, dem Brief⸗ 
zuſammenhang äußerlich eingefügten Phrafe macht. 

Ganz beſonders geſtoßen hat man ſich an ber „trichotomifchen 
Piychologte* , die der Verfafler 5, 23 verrät. Aber diefe ift bei 
dem PBauliner fo unmöglich als bei Paulus, weil fie auf bebräi- 
Ihem Boden unerhört ift, und darf darum in 5, 23 edenfo wenig 
gejuht werden als. in Luk. 1, 46f. Wie das Bild bei Lulas, fo 
teilt Paulus dem Menfchen fowohl ein zevsuue als eine woxn zu 


noch nicht fo abgekühlt war als zur Zeit der Endredaktion des erſten und 
dritten Evangeliums“, wird bei der Behandlung der betreffenden Stellen — 
ſichtigt werden, 


270 dv. Soben 


(Bfleiderer, Paulinismus S. 64ff.). Überdies kann Hier yuyı 
mit oone das natürliche Weſen des Menfchen evsüne feine 
riftliche Ausftattung bezeichnen (vgl. 1Kor. 2, 14f.), wenn nit 
bie dreifache Bezeichnung nur dem rhetorischen Bedürfnis der Plero⸗ 
phorie dient, was uns dann jedes Recht einer fcharfen pfſycho⸗ 
fogifchen Ausdentung der Stelle nehmen würde. Dem Vorwurf 
des Widerpaulinifchen kann aljo die Stelle auf mehrfache Weiſe 
ausweichen. Bies (S. 93) meint aber auch, daß der Wunid 
einer Erhaltung des owue. bei der Parufie mit 1Kor. 15, 50 
im Widerfpruch fteht. Dies beruht auf Verwechielung von og: 
und von. Paulus lehrt: Eysigeraı ouue rrrevuasızdv or. 
15, 44, und zwar ift die®, wie der Zuſammenhaug zeigt, das gleiche 
coue, das als Wvxıxov gefüet wird. 


b) Der Stil des Briefes. 

Am Brief fehlt es an altteftamentlihen Citaten. 
Ebenſo fehlen Eitate in 2Ror. 1 und 2. 10—13. 1Kor, 5 und 7. 
Röm. 5, 1-6; 6 und im Philipperbrief. Übrigens verrät de 
Verfaſſer Bekanntſchaft mit dem Alten Teftament drroxrewarsuv 
zods neogites 2, 15 mit Röm. 19, 10; dvaninoucaı va; 
anopriag 2, 16 mit Gen. 15, 16; ZypIacev sic 2, 16 mit 
Dan. 11, 365 Ysodidaxzos 4, 9 mit Jeſ. 54, 13. Citate im 
ftrengen Sinn aber fehlen darum, weil e8 dem Brief an dogma⸗ 
tiichen Beweisführungen fehlt; ift diefer letztere Mangel als In⸗ 
ftanz gegen den paulinifchen Urſprung des Briefes zurückgewieſen, 
fo verliert auch das darin begründete Fehlen altteftamentlicher Ci⸗ 
tate alles Bedenkliche ?). 

Ebenſo wird dem Brief der Mangel beftimmter Farbe 
vorgeworfen. Wenn die Sarben nicht fo ſcharf find, wie in den 
Briefen an die Gnlater und an die Korinther, fo erklärt fich dies 
aus den verjchiedenen Berhältniffen ganz natürlich, ſei es, daB zur 
Zeit feiner Entftehung überhaupt, fei es, daB wenigftens in Theſſa⸗ 


1) Wenn Jowett, Ep. of St. Paul, p. 6sq. unter anderem von beiden 
Theffalonicherbriefen fagt: „they are not argumentative at all‘, fo Bat a 
wenigftens 1Thefſf. 4, 14 überjehen. 








Der erſte Theffalonicherbrief. 21 


loniſch die judaiſtiſche Oppoſitlon gegen Paulus es noch nicht zu feften 
ſcharfen Bofitionen ihrer Bolemit gebracht Hatte !). Angeſichts der 
Apologie des Apofteld 2, 3—6. 9, des Urteile über die Juden 2, 15f., 
der Beſprechung der Sendung des Timotheus 3, 1ff., der Mah—⸗ 
nungen 4, 4—6. 11, der eschatologifchen Belehrimg 4, 13 —18 wird 
aber überhaupt von Zarblofigkeit nicht mehr die Rede fein können, 
fobald man die angezogenen und andere Stellen grünblich würdigt, 
wie dies fpäter gezeigt werden fol. Findet man aber Kap. 1—3 
etwas ausführlich und breit, fo vergleiche man Abjchnitte, wie 1 Kor. 
2—4. 2 Kor. 8 u. 9: ımd viele kürzeren Abfchnitte in den Haupt⸗ 
briefen, wo Baulus auch ftatt des aus dem Galaterbrief vor allem 
befannten gebrängten Stils in gemütlicherer Breite fi) ergeht. Im 
übrigen kann niemand von dem Wpoftel mit irgend zwingendem Grund 
vorausſetzen, daß. er lauter Römer und Korintherbriefe ſchrieb 2). 

Wenn ferner ein überlegter, wohlbisponierter Ideengang vermißt 
wird, jo ſuche man doch einmal Röm. 6—8 oder 2Kor. 1—7 
oder 8—9 fcharf zu disponieren. Kennen wir nicht auch bet an« 
deren, in wichtigen Auseinanderfegungen Scharf Logifch fortfchreitenden 
Schriftftellern Schriftftücle, in denen ein „hingebendes Sich⸗gehen⸗ 
laſſen“ (Neuß, ©. 71) herrſcht? 

Nah Baur (S. 95) enthält der Brief „eine fehr gebehnte, 
die Thefjalonicher nur an das Ihnen ſchon Belannte erinnerude Aus» 
einanberfegung des aus der Apoſtelgeſchichte befannten gejchichtlichen 
Hergangs der Belehrung durch den Apoftel”. An gemeinfame Er- 
innerimgen anzufnüpfen, tft eine fich durch alle Briefe durchziehende 
Gewohnheit des Apoftels. Gal. 1, 9. 13; 4, 13f.; 5, 21. 
1Ror. 1, 14—16. 26; 2, 1—5; 3, 1; 6, 2ff. 2Kor. 1, 12; 
3, 2; 7, 2—4; 13, 2. In unferem Falle aber bat dies feine 
ganz befonderen Gründe: Die Belehrung war ſo raſch gejchehen, 
Paulus fo plöglid von den jungen Chriften getrennt worden, daß 
die Gedanken immer noch dort weilten und unwillkürlich die Er⸗ 
innerung fich beim Schreiben überall Bervorbrängte ?). Wenn aber 


ı) Sa batier, L’apötre St. Paul 1870, p. 95 sg. 

2) Holtzmann, Schenkels Lerilon ©. 503. 

8) Baur (S. 98) findet die Wiederholung des kaum Erlaubten vielmehr 
Theol. Stud. Yahrg. 1885. 18 





222 v. Soden 


gar, wie wir aus anderen Stellen fehen werden, bie junge Ge⸗ 
meinde dem Paulus abträinnig gemacht und der Apoftel vor ihr 
verdächtigt und befleckt werden follte, wa® Tag näher und was konnte 
beffer wirkten, als die Erinnerung an die Tage des perfünlicen 
Verkehrs und an bie Eindrücke, welche die Theſſalonicher damals 
erhalten hatten? ?) Und wenn der Apoftel nur Kurz unter ihnen 
hatte predigen dürfen, was verlangte da die päbegogijche Weisheit 
mehr, als zu wieberholen, was.er damals ihnen gefagt, was aber 
bei der geoßen Eile ſich ihnen noch nicht völlig unverwifchbar ein⸗ 
geprägt hatte. Und wenn fie Drangfalen ausgejegt: waren, ins 
founte fie unmittelbarer ftärken, als die Erinnerung an bie Drang 
fale, melde fie gleich zu Beginn überftanden hatten, und an den 
Ruhm, welchen ihnen ihre Blaubensfeftigfeit erworben hatte ?). 
Auch den „Mangel an allem fpeziellen pnterefje ?) und an 
einex beftimmt motivierten Veranlaffung“ erkennt Baur, ©. 94f., 
als „ein Kriterium, das gegen den paulinifehen Urfprung ſpricht'. 
Aber ift das namentlich Kap. 1-—3 hervorteetende Streben, bie 
Gemeinde durch Auffriſchung der Erinnerungen feſt an Paulus 
zu fetten und damit an feinem Evangelium feſtzuhallen, {ft die 
ſcharfe Verwerfung der Juden, iſt die Fülle fehr konkreter Ere 
mahnungen, tft die durch fo lebenswahre Bedenken hervorgerufen 
Beſprechung ber eschatologiſchen Hoffnung wicht Zeugnis ganz ſpe⸗ 
zieller Intereſſen? Sind dte verfchlebenen Eindrüde (4, 13 ff), 
Einflüffe (2, 13 ff.) und Einfläfterungen (2, 1ff.), welche die Neu⸗ 
gewonnenen dem Apofiel und dem Chriftentum wieder abwendig zu 
machen. drohen, ift- ber Mangel an ftttlicher Reinheit (4, 1ff.) und 
geiftiger Einheit (d, 12ff.), der in der Gemeinde gefährlich hervor⸗ 


doppelt unbegreiflih, wenn nur wenige Monate zwifchen dem Aufenthalt des 
Paulus in Thefſ. und der Zeit des Brieflchreibers Tiegen. 

1) &o Haben allerdings diefe Erinnerungen einen apologetifchen Zweck, ben 
Baur bei ihnen, vermißt. | 

2) Bol. hierzu Manen, ©. 52fl. j 

8) Jowett vermißt auch ein Hervortreten des warmen Gefühle, das dem 
Apoftel eigen ifl, „nor are they marked by any of the Apostle’s deepast 
and most inward feelings“. Man vergleiche aber 2, & 11. 15f. 1720; 
8, 6—10. 





Der erſte Theffalonicherbrief. iR 


trat, nicht Beranlaſſung, Beftimmt motivierte Beranlaſſung geung 
für den fo plöglih von feiner Thätigkeit abgerufenen Water der 
Bemeinde, fi; brieflich an fie zu menden? Und auch der nächſte 
äußere Anlaß Hierzu fir Paulus ift nach den Andentungen bes 
Vriefes Har gegeben, es ift die Rückunft des Timothens mit Rache 
rihten von Theſſalonich 3, 6. 

Sehen wir die Norm des Briefes als ſolchen an, fo bietet 
wenigſtens die Abreffe kbeinerlei Anlaß zu Verdacht. In fänstfichen 
ven der Kritik mit Grund in ihrer Echtheit angezweifelten Vriefen 
Epheſer⸗ und Paſtoralbriefe) wird nur des Apoſtels Name dem 
Brief vorgefegt; fie wollen auf des Apoſtels Autorität ruhen, 
Namen zweiten Ranges Haben fle dabei nicht nötig. Paulus fekbft 
dagegen hat, wern er Briefe an feine Gemeinden richtete, fteto 
ichendwelche Genoſſen ſich an die Seite geſetzt, wie zur Stärkung 
dee Bedeutung jener Schreiben, bald einzelne Frennde, bald, wie 
bi den Galatern, alle Brüder; nur als er an bie Nöser fchrieh, 
handelte es ſich nicht um ein autoritatives Schreiben, fonbern gleich⸗ 
jam um feine perſbnliche Bröfentation; da fchreibt er denn auch 
allein umb ftellt dem Amtstitel bed drsoesoAog, bie perfünliche 
Bezeichnung des dadlos Xesosev Inood woran. Sehen wir von 
dem Eingang des zweiten Briefes an die Theſſalonicher ab, der 
dem unfeigen völlig gleich ift, fo entfpricht bie Beifügung mehrerer 
Namen ber Sitte Pauli und widerfpricht den Typus der unechtem 
Briefe, wie ſich dem auch kin Grund benten liche, warum ber 
Paufiner jene Namen beigefligt haben ſollte. — Anderſeits gehört 
8 zum Typus ber oben genannten zweifelhaften Briefe, dem 
Namen des Apoftels feinen Titel beizufügen. Die Übergehung 
deöfelben bei einem Brief, der fich mit der apoftolifchen Autprität 
fügen und vielleicht zugleich diefelbe verteidigen will, wäre eine 
fonderbare Halbheit, um nicht zu fagen ein Selbſtwiderſpruch. 
Die Weglaffung desſelben fpricht daher Gier, wie beim Phi⸗ 
lipperbrief, entſchieden fir die Echtheit und beweift, daß der Brief 
in einer Zeit gefchrieben wurde, in welcher jener Titel jedenfalls 
noch nicht Gegenftand der Eiferfucht und des Streits mar”). 





1) Löwen, Manen. 
18* 





274 — v. Soden 


Ohne jeglichen Ehrentitel hätte ein Pauliner den Namen ſeines 
Patrous gewiß nicht an die Spitze des Briefes geftellt. 
Selhftändig iſt auch die Form der Benennung ber Adreſſaten: 
in allen anderen Briefen tritt die Ortsbezeichnung nicht als Genetiv 
des nomen gentilitium auf, fondern ald Ortsangabe durch &v mit 
dem Städtenamen, eine Abweichung, bie feinen Nachahmer, fondern 
eher die Plerophorie des Apoftels erkennen läßt, ber unter dem frifchen 
Eindruck feines Erfolgs ſich die Einwohner von Tcheffalonich fchon als 
Sefamtheit in Beziehung zur Gemeinde denkt, während bie Tpäter ge 
brauchte Form durch das Bewußtfein gefchaffen ift, daß die Gemeinden 
nur einen bejcheidenen Wohnfik in dem großen heidniſchen Städten 
baben, aber von ihnen völlig abgetrennt find. Die Verhältnisbeſtim⸗ 
mung zu Fsos rare xal xUgios ’Inooüs Xosoros fügt Paulus 
fonft durchgängig erft dem Gruß an; follte ein Nachahmer ſich hier- 
von eine Abweichung geftattet haben? Der Gruß ift infolge der 
Borwegnahme jener religiöfen Beftimmung kürzer ausgefallen als 
irgenidein paulinifher Gruß !). Ebenſo ift der Schluß pauliniſch. 
Paulus diktierte feine Briefe (Laurent, St.u. Kr. 1864, S. 639ff.) 
und fügte einen eigenhändigen Schluß bei: 1Kor. 16, 21ff. 2 Kor. 
13, 12f. Gal. 6, 11ff. Kol. 4, 18. Phil. 4, 21 ff. (vgl. 2Theſſ. 
3, 17). Diefem eigenhändigen Schluß geht ein fürmlicher Brief 
abſchluß voraus. Ebenſo ſchließt 1 Theſſ. 5, 23f. den Brief ab, 
und V. 25—28 folgt der eigenhändige Schluß. Er enthält vor 
allem die Grüße, aber in völlig originaler Form, wie ein Vergleich 
mit den anderen Briefichlüffen zeigt, und dann noch einen Wunfd, 
ganz in der ſolennen Form. — Die Einfchaltung eines kurzen 


1) Sehr inſtruktiv if es, daß der Berfaffer des zweiten Briefes, fo wört- 
fich er fich fonft am die Aufſchrift des erften anfchließt, wohl in dem Gebanten, 
den er 3, 17 verrät, es für nötig hielt, an Stelle diefes kurzen Grußes bie 
längere pauliniſche Korn zu ſetzen, ohne zu empfinden, wie fchwerfällig und 
umfändlich fein Eingang nun durch bie Wiederholung von Isos asıje zul 
xögios Inooüs Xxqurocç in Adrefſe und Gruß geworben if. Man kann fih 
nicht des Eindruds erwehren, daß der Apoftel noch feine feite Formel fich aus 
debildet Hatte‘, als er unjern Brief fchrieb, daß ein Nachahmer dagegen Feine 
jo Inappe, fondern eine der vollfiingenden formen ber fpäteren paulmiſchen 
Briefeingänge gewählt hätte (vygl. auch Mauen, ©, 128), 


| 
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Der erſte Theffalonicherbrief. 270 


Zwiſchengedankens, wie hier V. 27, erinnert lebhaft an die Ein⸗ 
haltung 1Kor. 16, 22. Über den Sinn von ®. 27 f. u. 


2. Der dogmatiſche Gehalt des Briefes. 


Zunächft fällt auf, daß der Brief wenig dogmatifche Auf⸗ 
ftellungen oder gar Auseinanderfegungen enthält. Da dies bei dem 
vier Homologumenen anders ift, ift man geneigt, an der pauli⸗ 
niſchen Urheberfchaft bes Briefe zu zweifeln. Aber bie vier 
Hauptbriefe können uns nicht mit Grund als normaler Typus 
aller paulinifchen Schriftftelleret erjcheinen, wenn wir bedenfen, 
daß fie ihren Charakter je durch die ganz fpeziellen Verhältniſſe 
erhalten haben, denen fie ihre Entftehung verdanken. Der Galater« 
brief und der zweite Korintherbrief find apologetiſche Schreiben, 
jener zur Verteidigung der Lehre, dieſer zur Verteidigung der Perſon 
des Apoftels gefchrieben. Beides war in Thefjalonich nicht nötig. 
Der erfte Korintherbrief ift ein Antwortfchreiben auf eine Reihe 
ganz konkreter, teilweiſe fpeziell dogmatifcher Anliegen der Gemeinde. 
Eine Parallele Hierzu bietet der eschatologifche Teil unferes Briefes, 
der auch durch Anliegen ber Theſſalonicher veranlagt ifl. Der 
Römerbrief endlich follte gar nicht als Kriterium herbeigezogen wer⸗ 
den; denn in ihm fendet Paulus eine folenne Apologie feines Evans. 
geliums gegenüber jubaifterenden Tendenzen an eine ihm unbelannte 
Gemeinde, nicht einen Gelegenheitsgruß an eine feiner eigenen Ges 
meinden. Unfer Brief hat alfo mit feinem der vier Briefe ana⸗ 
loge Entftehungsgründe, kann deswegen auch nicht mit ihrem Maß⸗ 
flab gemefjen werden. Denn man wird aus jenen vier Briefen 
niht den Schluß zu ziehen wagen, daß Paulus nur in ähnlichen 
Entfcheidung fordernden Fällen zum Briefichreiben fich. habe drängen 
faffen und wir darum auch nur ähnliche Briefe von ihm zu er- 
warten haben. Überdies ift der zweite Korintherbrief von Kap. 6 
an an dogmatischen Ausfprüchen gewiß nicht reicher als uufer 
Brief. Jowett (a. a. D.) vermißt die „große Frage” der Be 
ſchneidung, aber diefe Frage konnte doc) nur in judenchriftlichen oder 
gemifchten Gemeinden zur Befprehung kommen. ZZeesrour/ und 
vowog find auch dem zweiten Korintherbrief unbelannte Dinge; 
von den Iovdasos redet er nur genau im gleihen Zufammenhang. 





876 v. Goben 


wie unfer Brief (2 Kor. 11, 24. 1 Theil. 2, 14). Der Gegeniak 
von Glaube und Werken fehlt auch in den Koriutherbriefen völlig, 
setoris kommt dort nur vor im gewöhnlichen Sinn des Für-wahr: 
baltens, je 7mal, gerade fo oft als im erften Theſſalonicherbrief, 
wähtend «6 in Galater 19, in Römer 40mal flieht. Eine aus⸗ 
führlichere Rechtfertigungstheorie fehlt aud im erften Korintherbrief. 
Aızososv jelbft lommt in biefem Sinne nur einmal vor, im zweiten 
nie. Auch das „mystery of past ages““, das Jowett zu den 
„great themes of his other Epistles“ rechnet, fehlt in den 
Korintherbriefen ebenfo wie in unferem. 

Was die einzelnen bogmatifchen Aufftelfungen betrifft, die ver 
mißt werben, ſo wird hauptſüchlich von der Ehriftologie und von 
der Berföhnungslehte und mit Hecht geredet, denn diefe beiden 
Lehren erfcheinen in ben Hauptbriefen als der Mittelpunkt des 
dogmatifchen Deukens bes Apoftels. Beides ift auch der 1, 10 
fumtmarifch angegegebene Mittelpunkt des dogmatiichen Denkens bei 
dem Verfafſer unferes Schreibens: Jeſus, der Sohn Gottes im 
Himmel, ber von ben Toten Auferweckte, und Jeſus unfer Er⸗ 
retter aus dem Zorn. — Jeſus heißt außer bei Paulus viog Tov 
Feed sur Bei ben Synoptiketn (worauf and bie einzige Stelle 
in der Xpolalypfe 2, 18 zurüdzuführen fein dürfte), in den johan- 
neifchen Schriften und im Hebräerbrief; die übrige neuteftamentlide 
Litteratur, wozu ich auch ben zweiten Theſſalonicher⸗ und die Paftoral- 
briefe rechte, gebraucht die Bezeichnung nicht (auch im Epheferbrief 
findet fie fi) nur einmal 4, 13). Dies Verhältnis fcheint noch dem 
Verfafſer ber Apoſtelgeſchichte bewußt geweſen zu fein; denn auf 
er verwendet bie Bezeichnung nur 9, 20 als Charalterifierung der 
Predigt Pauli. Auch die Betonung der Auferftehung Jeſfu ift im 
Unterfchied von Apolalypje, Hebräer-, Johannis⸗, zweiten Theſſa⸗ 
lonicherbrief, Paſtoralbriefe, Yalobus eine Eigentümlichkeit der pauli⸗ 
niſchen Theologie, die nur in Epheſer und erſten Brief Petri bei⸗ 
behaften tft; in unferem Brief tritt fie 1, 10 und 4, 14 bedeutunge⸗ 
voll ala Mittelpunkt des chriftlichen Glaubens hervor, In ber Ber 
ſoͤhnungelehre dat nur Paulus ovscHas anf die im Tode vollbrachte 
Erlöfungsthat Jeſu angewandt (wieder mit Einſchluß von Kol. 1,18). 
Die dpyr; Gottes als infolge der Sünde auf dem natütlichen Menſchen 











Der erſte Theſſalonicherbrief. 877 


ruhend und ſich einft emtlabend tft ſpezifiſch pauliniich 2). Außer 
Paulus (au Kol, 3, 6) fteht fie mr Eph. 5, 6 als Wiedergabe 
von Kol. 3, 6 und in, wie mir feheint, unpauliniſcher Übertreibung 
Eph. 3, 3; endlich Joh. 3, 36. Unſere Faſſung aber ſtammt 
aus dem gleichen Geifte, wie Rom. 5, 9 (vgl. die ganze Fade 
lung Röm. 1, 18 ff.) 7, 24. Kol. 3, 6. 

Die Dogmatif fpielt in echt pauliniſcher Weife in bie Ethik hinein 
und hinüber 5, 10. Die unio mystita iſt vorausgeſetzt in 4, 16. 
Der Glaube ift als eine wirkſame Macht vorausgeſetzt in 2, 13, 
wo bem Er vuiv mit Nachtruck so miosesovosw beigefügt iſt. 

Gerabefo wie ber Verfaſſer bes erſten Korintherbrief3 bat num 
aber unfern Berfaffer in der Answahl feiner. Zehrmitteilungen ein⸗ 
fach das Bedürfnis der Gemeinde geleitet. Wie bei ben Korinthern, 
jo beichäftigt bei den Tcheffalonichern die lebhafte griechiiche Phantaſie 
vor allem die neue Lehre über das Ende der Dinge, fpeziell über 
die Auferftehung. Eingetretene Todesfälle Haben dazu mitgewirkt, ihre 
Gedanken ganz befonders nach diefer Seite hinzulenken. So muß ex 
hierauf zu reden kommen, nachdem er zuerſt die praktiſchen Folgen 
jmer Geiftesrichtung getabelt Bat (4, 11.) 2). 

Aber hat denn Paulus bei feiner Predigt die Zukunft bes Heren 
jo promirt, baß eine Geiftesrichtung, wie bie in unferent Brief 
angedeutete, in einer paulinischen Gemeinde entftehen konnte? 
Jowett meint, das Evangelium Pauli erſcheine nad) unferem 
Brief nicht ul Evangelium vom Kreuz Chrifti, fondern vielmeht 


1) Die Apokalypſe kennt die opy7 mir als ein Moment der Eschatologie! 
fe Fällt zuletzt auf die, welche fich nicht belehrt haben; die pauliniſche doyn 
deoõ ruht an ſich auf allen Menfchen unb wird nur durch Chriſtus von ben 
an ihn Glaubenden abpewenbet. 

3) Der großen Wahrſcheinlichkeit bes im Briefe angegebenen Anlafſes un. 
ſetes Abſchnittes fett Bies, ©. 117, die Polemif gegen die Apolalypfe als 
geheimen Zweck entgegen, ſofern nach ihrer Lehre an ber erſten Auferftehung nur 
die ınn des Beugniffes von Ehriftus willen Enthaupteten teil haben (20, 4), bie 
allgemeine Auferftehring aber erft nach bein tonfenbjäßrigen Rich erfolge (V. 12 f.). 
Aber eine Polemik gegen dieſe Aufſtellungen konnte boch nicht ganz allgemein von 
rexooL reden, fondern mußte bie dort bevorzugte Kategorie der Märtyrer ent« 
weder ausdrücklich oder wenigkens durch ein premiertes navrss ob vexool Ev 
Xoro beriifichtigen, ebenfo and mit dem bort grundweſentlichen Begriff des 
taufendjährigen Reiches ſich irgendwie auseinunberfeien. 





278 v. Soden 


als Evangelium vom Kommen Chrifti. Welcher bdiefer beiden Pole 
des urchriſtlichen Glaubens bei Paulus vorwog, ift eine offene 
Frage für diejenigen, welche die beftimmt motivierte Entftehung 
unferer vier Briefe recht überlegen. Daß jedenfalls der Gedanke 
an bie Parufie vorne anftand in Pauli Denken, beweifen die fchon 
von Lipfius (St. u. Kr. 54, ©. 923) gegen das genannte Be⸗ 
denken zufammengeftellten, die Barnfie berührenden Stellen, allein 
aus dem erften Korintherbrief: 1, 3. 85:14, 15. 22; 4,5; 5, 5; 
6, 3. 9; 7, 29; 11, 26; 13, 12; 15; 16, 22. Man-bes 
denke ferner, daß Panlus die korinthiſchen Chriſten rundweg nennt: 
ansxdeyöusvor vv anoxakvı)ım Tod xvolov juov "Inoov 
Xosoroö 1XRor. 1, 7; man vergleiche die Ausfprücde 1 Kor. 15, 
19. 32. 54; bie Sitte, Umdo vv vexparv zu taufen 15, 29; 
man erwäge, daß für ihn das gegenwärtige Chriftenleben nur ein 
aoaßav ift 2Ror. 5, 5; vgl. überhaupt die Gedanken 2 Kor. 5, 
2 ff.; 1Ror. 7, 29 ff.; Röm. 13, 11 ff. und fpeziell zu 1Theſſ. 
2, 12; 3, 18; 5, 23: 1Kor. 1, 8, 5, 5; 2Ror. 1, 14 
(Phil. 1, 6. 10; 2, 16)2). Da erfcheint es auch nad den 
wenigen auf uns gelommenen, fpeziellen Zwecken gewidmeten Dent- 
malen des paulinifchen Glaubens zum minbeften zweifelhaft, wohin 
der Schwerpunkt feiner Gedanken neigte. Wie follte es auch mög⸗ 
fich fein, an das perſönliche Erleben der Paruſie zu glauben, wie 
dies Paulus that (1 Kor. 15, 51 f.; 7, 29 ff.; vgl. 1Thefſ. 4, 
15), und nicht all fein Denken und Leben unter dieſen Haupt 
gedanken zu ftellen! Dennoch iſt auch in unferem Brief der Pa- 
ruſiegedanke nicht fo vorherrfchend, dag wir mit Baur in ber „bes 
ruhigenden Belehrung über die Paruſie“ den Hauptzweck des Briefes 
erfennen dürften. Denn wozu dann die ausführliche Einleitung 
1, 1—4, 8? wozu die in ihrer Kürze fo feharf betonten Mah⸗ 
nungen 5, 12—24° Und wenn der Brief über die Parufie „be 
ruhigen" follte, wie ungejchielt waren dann die häufigen Hin⸗ 
weifungen auf diefelbe 1, 10; 2, 19; 3, 13; 4, 2; 5, 20 
(dgl. Reuß S. 75). Wenn aber Baur (P. I, ©. 101) meint, 

1) Wenn Bies, S. 104, zu 1, 10 bemerkt, daß ſchon im Anfang ber 


unpaulinifche Hauptgedanke des Briefes, die Parufie, hervortrete, fo vergißt er, 
daß dies 1 Kor. 1, 7 in ganz analoger Weile geichiebt. 





Der erfte Theſſalonicherbrief. 279 


es fei „laum wahrjcheintih, daß ein Schriftfteller, welder feine 
Vorjtellung über die leiten Dinge fo genau zu.begrenzen wußte, 
wie dies 1Kor. 15 der Ball ift, in einem zuvor fchon gejchriebe- 
nen Briefe fich jo weit darauf eingelaffen haben fol in einer Weiſe, 
welche einen ganz in rabbinifchen Meinungen diefer Art befangenen 
Glauben vorausſetzt“, fo fragt fi, ob der von Baur für die Be» 
ſchränkung in 1Kor. 15 vorausgejeßte Grund der einzig mögliche 
und der wirkliche ifl. 1Kor. 15 redet der Apoftel von ber Auf» 
erftehung mit alleiniger Berückſichtigung der Lebenden, 1Theſſ. 5 
von dem Scidjal der fchon Geitorbenen gegenüber der Barufie; 
müſſen da nicht in beiden Stellen verfchiedene Dinge zur Sprache 
fommen? Die Ausfürlichkeit aber, mit der bier der Apoftel die 
Bedenken der Theifalonicher mit ausgeprägten Borftellungen zu 
überwinden ftrebt, ift vielmehr ganz analog der gewiß an frap⸗ 
panten, fonft bei Paulus nicht erwähnten Anfchauungen noch viel 
reiheren Ausführlichleit, mit der er die Zweifel in Korinth nicht 
nur widerlegt, fondern an ihre Stelle die anfchaulichften Vor⸗ 
ftellungen über die bezweifelte Thatſache ſetzt. Das „ſpezifiſch⸗jü⸗ 
difche Gepräge* ift aber nicht eine Eigentümlichleit „ber ſpüteren 
Zeit”, fondern eine weſentliche Seite des pauliniihen Glaubens, 
wie feine Briefe ja an überrajchenden Aufftellungen aus echt rab⸗ 
binifcher Schule reich genug find. Dem Apoftel konnte die Barufier 
lehre „ein noch unverjehrtes Stück feines Jugendglaubens“) fein, wie 
ja Baur (S. 351) felbft zugiebt, daß der Apoftel fich die jüdi⸗ 
fche Eschatologie ganz wohl aneignen konnte. Ya, der Vorwurf, den 
Baur. bem Berfafjer unferes Briefes im Vergleich zu dem Panlus 
von 1Kor. 15 macht, läßt fich gerade umlehren: Wie zurückhal⸗ 
tend lauten gegenüber den Ausführungen über die Dafeinsform der 
Anferftandenen, die wir 1Ror. 15, 35—53 finden, die Ausdrücke 
unferes Briefes: dvaaznoovras, apnaynoousda, dadusda vv 
zvoio, während er über die 1Kor. 15, 23—28 fo genau bejchrie- 
benen der Auferfiehung folgenden „Ießten Dinge“ völlig ſchweigt. 
Was nun den konkreten Anhalt unferes Abfchnitts betrifft, fo 
„erklärt ſich der Brief im ganzen über die Parufie auf diefelbe 


1) Renß, ©, 71. 


Wo v. Soden 


Weiſe, wie ſich der Apoftel ſelbft 1 Kor. 15, 51 hierüber erklärt 
hatte“ (Baur S. 103). Für etwa erfindliche Differenzen im klei⸗ 
nen aber merken wir Baurs Wort über ben von ihm fupponterten 
gemeinfamen Berfaffer der beiden Theffalonicherbriefe vor (&. 103), 
daß es leicht denkbar ſei, dag ein Berfaffer, „wenn er einmal im 
Gedanken an die Barufie fo Fehr Iebte, zu verſchiedenen Zeiten und 
von verjchiedenen Standpunkten aus über einen an ſich proßlema- 
tifchen Gegenftand auf verfchiebene Weite fich erklärte”. 
Widerpanliniſche Züge finden fi in dem Inappgehaltenen Ge⸗ 
mälde nicht ?), fondern nur Angaben, bie fi fonft bei Paulus 
nicht finden, ein Fall, in dem wir uns mit dem größten Teil von 
1Kor. 15 auch befinden. Greifen wir zuerft heraus, was über 
die Parufte Chriſti felbft gejagt wird, fo tft zu bemerken, daß 
Paulus nit ale prophetiich infpirierten Apofalyptifer auftritt, 
fondern ſich in aller Selbftbefcheidbung auf ein Herrenwort beruft. 
Dos ift an ſich ebenfo echt pauliniſch (1Kor. 7, 10. 12. 20; 
9, 14; 11, 23), als unwahrjcdeinlih vom Standbpunft eines Ver 
ehrers des Paulus, der von des Apoſtels Autorität fo Hoch denkt, 
dag er mit feinem Namen diefen Brief ausjtatten zu müſſen glaubt, 
damit er feinen Zwed erreiche. Man vgl. dafür z. B. 2 Theſſ. 2, 
befonder8 V. 5. Und es ift fehr bemerkenswert, daß der Ver⸗ 
faffer, wenn er diefe Berufung anf ein Herrenwort einmal für 
nötig hielt, nicht gleich feine ganze Lehre in dasfelbe kleidete, ſondern 
nur einen ben Herrn felbft betreffenden Ausſpruch. Das Herren 
wort im Sinne des DVerfaffers ift in indirefter Rede angeführt 
und befchränft fich auf die Worte (V. 16): ors aurds 0 xugos 
Ev xsisvouari,. 89 Yywyi) agxayyalov xal Ev oalnıyys Jsoü 
xeraßnosvaı an oveavod (vgl. hierzu Stähelin, J. f. d. Th. 
74, S. 191 ff). Der orı-Sag in V. 15 ift Epexegeſe zu voöro 
und drüdt nur bie ftrikte Negation der Furcht der Theſſalonicher 
aus. Diefe konkrete, fichtlih den ganz fpeziellen, vorliegenden 
Verhältniffen angepaßte Aufftellung für ein Herrenwort zu er 
klären, wäre eine etwas plumpe Kühnheit, die doch auch dem Pau- 


1) Für den Einwinf von Bies, S. 118, unfer Berfafier habe Paulus 
„nicht begriffen“, ſofern die Vorſtellung desſelben „mechaniſch“ jet, welchen er 
ſelbſt nicht näher begründet, können auch wir feinen Grund finden. 


Der erſte Zheffalomicherbrief. 21 


liner faum zuzutrauen fein dürfte. Der Gedanke ift alfo folgen- 
der: „daß wir Übergebliebenen den Entfchlafenen nicht zuvorfommen 
werden, das fage ich euch in einem Serrenwort, das dahin Lantet, 
daß er felbft — der Herr — vom Himmel kommen wird. Und 
bie Toten in Ehrifto werben zuerft aufftehen, dann werben wir ⁊c.“ 
Für folche Abteilung fpricht der Gedankengang: Obenan fteht die 
logifche Konklufton: wenn wir glauben, daß Jeſus geftorben und 
auferftauden ift, dann können wir auch an ber Auferftehung der 
Entjchlafenen nicht zweifeln. Der Oberfag dieſer Konkluſion, in 
der ſchon mitenthalten ift, daß dann die Geftorbenen aud nicht 
hinter den Lebenden zurückbleiben werden, wird mit einem Herren⸗ 
wort bewiefen, und dann der Schluß daraus in ausführlicherer Weife, 
diesmal zugleich mit Beziehung auf die Lebenden wie auf die Ges 
ftorbenen, eben zur Klarftellung der in V. 15 zwifcheneingefchalteten 
Behauptung wiederholt. Auch die Form der einzelnen Süße ent» 
jcheidet für die gegebene Abteilung: auros 0 xuVosos ſcheint un⸗ 
widerfprechlich das Wort einzuführen, das adrös 0 xugsos von 
ſich felbft geſprochen hat. Sollte diefer Sa dagegen mit dem fol⸗ 
genden: xwl 06 vexgot — rrouror, Erseısa Nusis zuſammen das 
Herrenwort darftellen, fo wäre ftatt adros 0 xuosos und. einem 
bei der zweiten Slategorie folgenden rrgeisov, daß rso@ros bei dem 
Say über Ehrifti Auferfichung zu erwarten, in der Art von 1Ror. 
15, 23; anaexgı) Xgidrös, Insıte—, sira —. Ferner: ift adros 
0 xvgsog in der indirelten Rede ganz natürlich, fo wäre die Eine 
fügung von npeis etwas kühn; jedenfalls Läge viel näher, daß auch 
V. 17 in dem objektiven Ton des Meferats bliebe: Zee oi 
Loveeg aonayıjoovras. Iſt aber der Sag mit Erreıva wegen 
des nmeis vom Herrenwort ausgejchloffen, fo kann der Satz mit 
rreeorov nicht von ihm getrennt werden; es bleibt aljo nur der 
Ausfprud über die Wiederfunft bes Herrn felbft als Inhalt des 
V. 15 angemeldeten Herrenwortes übrig !). ft fo, was von der 
Parufie Chriſti ſelbſt zu fagen ift, auf einen Ausſpruch von Chriſtus 
zurüdgeführt, fo kann man nicht verlangen, daß das Mitgeteilte 





1) Damit glauben wir auch die Gründe von Dofterzee und Vies, bie fie 
bazu beflimmen, V. 15—17, als das Herrenwort anzufehen, widerlegt zu haben. 


282 2 v. Soben 


als aus des Paulus Gedankenwelt ftammend, fi müſſe nachweiſen 
lafjen. Übrigens macht die Erwähnung der doxaın odinıyE in 
1Kor. 15, 52 und die paulinifche Engellehre, die ganz rabbiniſch 
erſcheint, (Sal. 3, 19; 1Kor. 11, 105; Gal. 1, 8; vgl. über 
eine ähnliche Verwendung ber Engel wie 1Theſſ. bei den Rabbinen 
Stäpelin, S. 197 f.), die Belanntfchaft des Apoſtels mit einem 
derartigen Ausspruch ſehr wahrſcheinlich. Adisvoue ift, wie das 
Behlen einer Genetivbeftimmung zeigt, bie den inhalt andeutende 
gemeinfame Bezeichnung für die zwei hörbaren Erſcheiunngen der 
gYwvn) apxayysAov und ber ooAnmıyE Iso. Warum ber Aus 
druck dem Paulus nicht follte vertrant fein können, obgleich er ihn 
fonft nie verwendet, ift nicht einzufehen; es ift der Befehlsruf an 
die Toten, wie wir ihn als Charakter des 1Kor. 15, 52 ans 
geführten Trompetenftoßes ja auch denen müſſen. Auch die Bor- 
ſtellung, dag Chriſtus xasaßrfosraı ar’ ovgavov, ift notwendige 
Bermittelung zwifchen feiner Vorftellung, daß Chriſtus im Himmel 
tft (1Ror. 15, 47 ff.) und der andern, baß er fi den Men⸗ 
hen offenbaren wird (1 Kor. 1, 8); und bat eine treffenbe Ana⸗ 
fogie in bem oixnzrgsov EE ovoavod, das ja eben mit ber Pa- 
rufie Ehrifti den Glaubenden zufällt, fo daß fich der Gedanke auf: 
drängt, wie das olxnzrjosov, fo kommt auch 0 Xoswrös herab 8 
ovoavod. Died xaraßaivew EE ovgavod Tann aber, fobald man 
es fich vorftellig machen will — und das hat Paulus doc gewiß 
gethan —, nicht anders als durch den Luftraum gegangen fein. 
Unterziehen wir nun auch die Aufftellungen über das Schidjal 
der Ehriften bet diefer Paruſie einer Unterfuchung, fo ift jedenfalls 
der Grundgedanke, daß nämlich die Auferftehung Ehrifti eine Ga⸗ 
vantie bilde für die Auferftehung der Chrifto Angehörigen (V. 14), 
echt paulinifch. Der Urheber der Auferftehung ift Gott, nicht etwa 
Chriftus; zugeteilt aber wird fie nur vermittelft Jeſu Chriſti 
(1Ror. 15, 57; Röm. 5, 17), genauer denen, bie in Chriſto find 
os vexgol dv Xosora (vgl. 1Kor. 15, 18. 22. 2Kor. 5, 17), 
und zwar in dem Augenblick der ebenfalls von Bott (dfes vv 
eve) gewirkten Parufte Chriſti; (vgl. 1Kor. 15, 24: od vov 
Xgsorod &v 57 nrapovole adrod). Daß hierbei, wie V. 15 vers 
fihert und dn6 rgwrov-Ensıra V. 16 und 17 näher ausführt, 


Der erfte Theflalonicherbrief. 288 


die Toten den Lebenden vorangehen, fteht auch 1Kor. 15, 52. 
Auch das Ende, za ovroßg navrore GUY xuglo Eoousda, ent 
fpriht ganz dem Wunfche Bauli dvdnungas rgoc Tov xUgior 
2Ror. 5, 8 (vgl. Phil. 1, 20). New iſt nur die BVorftellung 
darüber, wie ſich diefe Auferftehung und dies Sein bei Ehriftus 
verwirfficht, ebenfo bei den Toten als bei den Lebenden. Inbetreff 
der Toten heißt es nur a&ss adv avro. Gewiß ift der Ausdrud 
zurückhaltend genug, denn er läßt, wie die Gefchichte der Exegefe 
zeigt, unferen Konjelturen ben veichften Spielraum. Die glüttefte 
Zurechtlegung wirb aber immer diejenige fein, daß ber Verfaſſer 
fih die Toten bei Ehriftus oder wenigftens in der Nähe Chrifti 
gedacht hat, fo daR der vom Himmel zur Parnſie erjcheinende 
Chriſtus zuerft auf fie traf und fie dann zur Erde mitnahm. Im 
Aufammenhang hiermit erklärt ſich wenigften® die andere Vor⸗ 
ftellung am natürlichften, daß die Toten den Lebenden voran fein 
werden bei der Parufie. Darin aber irgendwie etwas Unpaulini⸗ 
fches zu erblicken, wird nicht zu rechtfertigen fein, wenn wir auch 
die panlinischen Vorftellungen über diefe Dinge nicht genau genug 
fennen, um die Übereinftimmung nachzuweiſen. Die ben Aus 
führungen (2Kor. 5 und Phil. 1) zu Grund liegenden Vorſtel⸗ 
lungen find immerhin als ganz ähnliche zu vermuten. 

Etwas ausführlicher fpricht ſich unſer Brief über die Art, in 
der die Lebenden an der Parufie teil Haben werden, aus in ®. 17; 
xonralsıv, das Wort, das Paulus 2 Kor. +;-2+ 2, 4 für ana 
foge Verhältniffe gebraucht, entjpricht der Zeitbeftimmung &v 
arönp, Ev ginn dydaluod 1 Ktor. 15, 52. Die Gleichzeitig- 
feit &ua oUv adrois (Tols vexpois)!) troß des nacheinander ent» 
fpricht ebenfo der Schilderung 1Kor. 15, 52. Nicht mit pauli⸗ 
nischen Ausſprüchen aus den vier Homologumenen zu belegen find 
nur die lokalen Beftimmungen unferer Stelle: Ev vaypsiaıs, sis 
enavımoıw Tod xvglov, eis aspa. Doß. bei vom Himmel 
wiedererwartete Herr nicht anders als aus der Luft kommend vor⸗ 
geſtellt werden kann, iſt vorhin ſchon angemerkt worden; daß aber 
dabei die an ſich leere Luft mit Wolken verdichtet gedacht wurde, 

1) au adv bezeichnet nicht notwendig auch die lokale Vereinigung, ſondern 
ſehr Häufig und urfprünglich nur die temporelle: Zum zänufog, ro gs, 75 co. 


284 v. Soben 


gebot die Erleichterung ber Vorſtellbarkeit. So finden wie denn 
auch im Anfchlug on Dan. 7, 13 in der urchriftfichen Eschatologie 
überall die Vorftellimg, daß der Herr in den Wollen des Him- 
mels wiederfomme: Matth. 24, 30; 26, 64 mit Parallelen; Apok. 
1, 7. Wer auch die Borftellung, daß Menjchen ins Quftreich, 
wiederum durch Bermittelung der Wollen, entrückt werben können, 
mußte der urchriftlichen Zeit ſchon durch Elias’ Himmelfahrt (2 Kön. 
2, 11) vertraut fen; vgl. die Berflärung und die Himmelfahrt 
Ehriftt Matth. 17, 5 und Bar.; Apg. 1, 9; ferner Apol. 11, 12. 
Paulus felbft aber erzählt uns eigene innere Erlebniffe, die ihn 
mit der Borftellung eines Erhobenwerdens in die Abteilungen bes 
Lufthimmelraums völlig vertraut erfcheinen laſſen (2 Kor. 12, 2 ff.). 
Unmöglih kann man nad) dem allem die in nuferer Stelle vor- 
getragenen Vorftellungen für widerpauliniich erflären. Se, vie 
mehr müſſen wir fagen, fie find unentbehrlig für die Vorftellbar⸗ 
feit anderer eächatologifcher Gedanken des Apoftels: Die vonara 
ersovgavıa wit ben Charalter der Edavaclı mb apdupola 
(1Ror. 15, 40. 48. 53 f.) lafſen fi unter ben gegenwärtigen 
Erbverhäftnifjen nicht vorftellen, von einer Umſchaffung der Ich 
teren bei der Parıfte redet aber Paulus nirgends; beum wenn 
er auc eine endliche Verklärung derfelben hofft (Röom. 8, 21), 
fo fann dach diefe noch nicht mit den Kreigniffen von 1Kor. 
15, 23), fondern erft nach ber Übermindumg aller Mädhte und 
Feinde, deren letzter erft ber Tod ift, (VB. 24—26) eintretend 
gedacht werden. Fordert fo chen der Begriff ber vwuara 
erovgavsa eine Lolalifierung berfelben über der Erde, mie auch 
die Wahl des Ausdrucks Erroupgense im Gegenfag gu driram und 
die Vergleihung V. 40 f. dadurch erft reiht zutreffend wirb, fo 
können wir auch die deu auferweckten Chriften von Paulus zuge 
fchriebenen Aufgaben: Gericht zu halten über den xdauos und die 
Engel (1 Kor. 6, 2. 4), zu herrſchen mit Chriſtus his zur Über⸗ 
windung aller feindlichen Mächte (1 Kor. 15, 24 mit Röm. 5, 17; 
1Kor. 4, 8; vgl. 1Theff. 2, 12) am leichteften erfüllt denken von 
einem Ort über der Erde aus; an eine Entrüdung der Gläubigen 
in den Himmel bei der Parufie zu denfen, verbietet aber bie 
Beſtimmung EE gave 2 Kor. 6, 2. So ift bie Borſtellung, 








Der erfte Theffalonifcherbrief. 288 


dab die Gläubigen, wenn fie beim Schalt der letzten Trompete, 
mit dem bie Ankunft des Herrn vom Himmel gemeldet wird, in 
course Enrovocvie verwandelt werben (1 Kor. 15, 52), ihm 
entgegengerücht werden in das Luftreih auf den Wollen (1 Thefi. 
5, 17), deren er fi felbft nad aligemeiner urchriftlicher Vor⸗ 
ftelung zum Kommen bedient, eine völlig einheitliche, und es Liegt 
teinerlei Grund vor, zu vermuten, daß beide Teile berfelben, des⸗ 
wegen weil fie nicht beide an der diefe Dinge befprechenden Korinther⸗ 
ftelle erwäßnt werden, auch nicht in einem @eifte vereinigt vor⸗ 
Banden gewefen fein. Da fie fich vielmehr, wie wir ſahen, gegen. 
feitig fo fehe ergänzen, daß der eine Teil erft durch den andern 
verftändfich und anſchaulich wird, fo ift es die allergrößefte Wahr- 
ſcheinlichkeit, daß fie beide echt paulinifch find *). 

In 5, 1-— 3 wird noch die Plöglichkeit, mit ber die Parufte 
eintreten wird, hervorgehoben. Vies (S. 118) benft wegen ber 
teifweife ähnlichen Ansdrüde an eine Abhängigkeit von den Sy⸗ 
noptifern (vgl. Matth. 24, 36. 43. 48. Lu. 21, 34). Strei⸗ 
hen wir die Ähnlichkeit von 1 Theſſ. 5, 1 und Matth. 24, 36, 
die nur in dem Anfangswort 7s&04 befteht, fo bleibt als gemein. 
fam erftens die Bezeichnung des xAsrweng zur Vergleihung (V. 2 


1) And Bies (S. 86) weiß nur folgende brei Punkte gegen bie Pau- 
linicitãt ber Stelle geltend zu machen: 1) Daß „wicht vom der Veränderung, 
welcher ſich bie Lebenden unterziehen follen, geſprochen“ ſei. Aber erſtlich if 
e8 eine offene Frage, ob Paulus fich die phnfiologiiche Konfequenz feiner escha⸗ 
tologifchen Hoffnungen damals ſchon gezogen habe, auf welche ihn der Zweifel 
der Korinther 1Nor. 15, 38 führte und die dann die Lehre von der Berwand- 
Inug der Lebenden hervorrief; fjobanı mill ja Hier Paulus Wer bie Teilnahme 
ber Geftorbenen an der Parufte bie Gemeinden belehren, die nur zur Ergän- 
zung beigefügte Teilnahme der Überlebenden Tomate darum ganz kurz in ihrer 
äußeren Erjcheinung angedeutet werden, und niemand follte an dieſe Beifügung 
die Forderung lebhafter Vollftändigleit machen. 2) Daß „bie VBeichreibung ber- 
fefben als eim Herrenwort vorgetragen“ werde. Bei ber von uns verteibigten Be⸗ 
ſchränkung bes Herremvorts auf die Darftellung feiner eigenen Erſcheinung fällt 
diefer auch an ſich nicht flichhaltige Einwand weg. 3) Daß „man jede Spur 
des Zufammenbangs mit der Lehre von der unio mystica vermiſſe.“ Diele 
aber ift mit ot vaxpol &v Kosoro genau ebenfo deutlich angezeigt als 1 Kor. 
15, 22 (dv TO Xgioro), 24 (od Tod Xgsaros), Der Vorwurf teäfe alſo mit 
gleichem Rechte 1 Kor. 15. 


256 v. Soben 


und V. 43); aber in unjerem Brief ift die Vergleihung ganz 
furz: der Tag des Heren fommt wie ein Dieb in ber Nacht; bei 
Matthäus ift died in. einer Parabel ausgeführt, in welcher un⸗ 
mittelbar nur das „Auf der Hut fein” ben Vergleichungspunkt bildet, 
während, daß das Kommen de8 Herrn dem des Diebes ähnlich 
fei, nicht ausgeführt, fondern vorausgeſetzt iſt. Wenn benn eine 
der beiden Stellen von der andern hervorgerufen ober beeinflußt 
fein fol, fo muß bie Titterarifche Kritik die Urfprünglichleit der 
Thefialonicherftelle zufchreiben. Vielleicht bildet dann Apok. 3, 3 
die Zmifchenftufe beider Stellen; jedenfalls beweift die letztere, daß 
jene Vergleichung den urchriftlichen Kreifen nicht fremd war, viel 
leicht vom Heren ftammte, wodurch das avroi yap axgsßas 
oiders fi treffend erläutert. Ein ähnliches Verhältnis beſteht 
zwifchen 1 Chefj. 5, 3 und Matth. 24, 48; hier haben wir eine 
Schilderung aus dem Gemeindeleben herans, vielleicht mit Ans 
Ichnung in der Form an Mia 3, 5. er. 8, 11; dort eine Pa⸗ 
rabel, in. die bdiefe in den Gemeinden fattifch vorhandenen Gedanken 
Bineinverwoben find. Wenn eine Abhängigkeit Lonftatiert werben 
müßte, hat da nicht die Thatfache aus dem Leben vor bem Spiegel- 
bild der Parabel die Wahrjcheinlichkeit der Urfprünglichkeit für fich? 
Übrigens findet fich, abgefehen von ber in beiden Fällen gefchilder- 
ten Stimmung des Leichtfinns, in den gebrauchten Ausdrücken fo 
gar keine Ähnlichkeit, daß es gefucht ift, Hier eine Titterarifche Be⸗ 
ziehung entdeden zu wollen. Wie natürlich ift das Eintreten fol 
her Stimmung in jeder Gemeinde; wie natürlich, daß die Pre 
biger des Paruſieglaubens darum überall dagegen anzulämpfen 
hatten. Eine Übereinftimmung in Worten findet fich endlich zwi⸗ 
fhen V. 3 und Luk. 21, 34; beibemal ift Eyıoravaı zur Ber 
zeichnung des Nahen, aiypvidıos zur Bezeichnung der Plöglichkeit 
gebraucht; beidemal folgt der Gedanke an ein eventuelles Exyvyeir 
(Luf. 21, 36); aipvidsos ift in Luk. und 1 Theſſ. «. A.; eyioravaı 
hat Paulus nie, Lukvs nie in diefem Sinn. Auf welcher Seite 
bie Urfprünglichkeit ift, ift fomit nicht zu entfcheiden; einfacher und 
fürzer ift der Gedanke in 1Theſſ. gefaßt; eine litterariſche Be⸗ 
ztehung bleibt aber überhaupt zweifelhaft, da das Verbum bei Luk. 
im Aktiv, bei Theſſ. im Medium gebraucht, bort mit Erst, hier 


Der erfte Theffalonicherbrief. 287 


mit bem Dativ fonftruiert ift, das Subjekt desfelben aber dort 
iuson Exsivn it, hier oAedoos, dort zur Vergleichung beigefügt 
ift os nrayls, hier @arrep 7) adv. Dieſe Unterfchiede überwiegen 
entjchieden die Bedeutung des gemeinfamen Gebrauchs zweier Wörter 
und Sprechen gegen jede Litterarijche Beziehung beider Stellen. Im 
allgemeinen aber ift eine Anlehnung des Apoftel® Paulus an Worte 
oder Gedanken der evangeliihen Tradition doch keineswegs cin be⸗ 
gründetes Verdachtszeichen; müfjen wir ihn uns doc mit derjelben 
mehr oder weniger vertraut denken. “Die folgende Ermahnung 5, 
4—11 ermweift eine Vergleihung mit Röm. 13, 11 ff. als echt 
paulinifch; die Ähnlichkeit verrät die Verwandtſchaft, die Verfchie- 
denheit fchließt eine Imitation aus. 

Bietet fo der dogmatifche Gehalt des DBriefes einen Anlaß, 
ihn dem Paulus abzuſprechen, jo ift weiter zu unterfuchen, ob 
die gefchichtlichen Vorausſetzungen und Angaben des Briefe ihn 
nicht einer [päteren Zeit zuweijen. 


3. Die geihichtlichen Daten des Briefes. 

Prüfen wir zuerft bie gejchichtlichen Daten, welche der Brief⸗ 
ſchreiber ſelbſt angiebt, auf ihre gejchichtliche Wahrheit und auf 
ihre Originalität, ebenfowohl gegenüber dem Bericht der Apoftel« 
geichichte, alS gegenüber verwandten Angaben in ben pauliniſchen 
Homologumenen. 

Die evangeliſche Predigt des Panlus geſchah in Theſſalonich 
nicht nur in Worten, ſondern auch in Kraft und in heiligem Geiſt 
und voller Zuverſicht (1, 5), wenn auch unter viel Kampf (2, 2). 
Die Theffalonicher ihrerfeit8 nahmen das Wort auf als Gottes 
Wort (2, 13), mit Freude heiligen Geiftes, wenn auch in großer 
Bedrängnis (1, 6). In diefer Gründungsgefchichte ift nichts an 
ſich unwahrſcheinlich, nichts einem uns befannten Original nach⸗ 
geahmt; denn wenn auch die einzelnen Ausdrüde alle gut paulinifch 
find, fo finden fie fich doch nirgends in ähnlicher Zufammenftellung; 
und wenn bie Apoftelgefchichte auch zu den Andeutungen von Kampf 
und Bedrängnis eine treffende Illuſtration bildet, fo hätte ein 
Verfaſſer, der den Bericht der Apoftelgefehichte vor fih urd die 
Absicht Hatte, fich als mit der Gründungsgefchichte der Gemeinde 

Theol. Stud. Jahrg 1886. 19 





238 b. Soden 


vertraut zu erweifen, gewiß konkrete Züge berjelben eingeflochten 
und fi) nicht mit jenen allgemeinen Ausdrücken begnügt. Über⸗ 
dies unterfcheidet fich der Brief und die Apoftefgefchichte in zwei wer 
fentlihen Punkten, die beidemal nichts find als Rollentaufch zwifchen 
Juden und Heiden. Nach dem Brief befteht die Gemeinde aus 
ehemaligen Heiden (1, 9; 2, 14), nad der Apoftelgefchichte wurde 
fie in der Judenſynagoge gefammelt (17, 1 f.) und beſtand aus 
Juden (adroi in zıveg &E adscv DB. 4 geht durch Vermittelung 
von adrodg und srgög adrois V. 2 auf s@v Iovdaiww V. 1) 
und Proſelyten (17, 4). Iſt e8 nun eher beufbar, dag ein bireft 
an bie betreffende Gemeinde gerichteter Brief ihre faktifch juden- 
Hriftlichen Glieder als geborene Heiden bezeichnet, oder daß eine 
geſchichtliche Schrift allgemeinerer Tendenz bei einer einzelnen Ge⸗ 
meinde fi inbezug auf ihre Nationalität irrt? Die gefchichtliche 
Angabe des Briefs wird man bei folder Stellung der Frage als 
unbedingt wahr und, bei Vergleihung mit der Apoftelgefchichte, als 
völlig felbftändig anerkennen müſſen. ALS Verfolger der Gemeinde 
find im Brief Heiden (2, 14), in der Apoſtelgeſchichte FJuden (17, 
5) angegeben. Iſt es, eine fpätere Entſtehung des Briefs einen 
Augenblid vorausgeſetzt, wahrjcheinlicher, daß der in heidniſche 
Kreife gefchriebene Brief in einer Zeit, im welcher bie Abwendung 
der Juden vom Chriftentum mehr oder weniger entfchieden war 
(Röm. 9—11), und die Aufgabe, bie Heiden zu gewinnen, immer 
mehr in den Vordergrund trat, den Juden der Vorwurf feind- 
feligen Auftretens widergefchichtlih abgenommen und ebenfo wider 
gefchichtlich den Heiden aufgebürdet hat !), ober daß in ber foeben 
harakterifierten Zeit folche Erinnerungen der Feindſeligkelt dem 
heidnifchen Gewifjen abgenommen und ben verhärteten, feindfeligen 
Juden auch alle früher den Chrijten zuteit gewordenen Feindſelig⸗ 
feiten zur Laft gelegt wurden? Auch Bier ift dem Brief Glaub⸗ 
würdigfeit wie Selbftänbigfeit nicht abzuerfennen. Außerdem wird 
wenigftens die letztere erhärtet durch andere Widerfprüche mit dem 


1) Die an ſich offenftehende Vermutung, der Verfaſſer könnte durch eine 
uns unbelannte lokale Rückſicht oder biplomatifche Tendenz dazu veranlaft wor- 
den fein, den Juden dies abzunehmen, iſt angeſichts des Ausfalle gegen biefelben 
2, 15. nicht möglich, 


Der erfte Theffalonicherbrief. 289 


Bericht der Apoftelgefchichtee Nach dem Brief waren die Inden 
weelduvres huäs rols &dveow Aciadur (A, 16); nad der Apoſtel⸗ 
geſchichte Hat Paulus unbehelligt in der Synagoge gelehrt und babei 
and Griechen gewonnen (17, 2. 4); ebenfo paßt ber Ausdrurk 
adımasıv (2, 15) nicht anf die Erlebniſſe Pauli im Theſſulonich 
wie fie Apg. 17, 6. 10 gefchiibert werden, wonach Paulus und 
Silas perſonlich nichts erfitten and nicht aus ber Stadt hinaus 
verfolgt wurden, fondern fid) vorher freiwillig entfernten Wem 
endlich nach dem Brief allerdings ein Hauptgewicht der Prebigt anf 
die Paruſielehre fiel (1, 10), jo kann die Apoftelgefihichte wit ihrer 
bogmatiicdyen Charakterifierung der Predigt des Upoftels (17, 3), 
hierfüt wicht die Quelle gewefen fein . 

Set dir Apoftel von der Gemeinde getrennt ift, bat fie noch 
ferner Bedrüngniffe zu erbulden gehabt (3, 3), an Paulus ift 
ihr verdächtigt worden (2, 8. 5. 14. 17); Züge, bie an Heiner 
geſchichtlichen Unwahrſcheinlichkeit in ben erften Zeiten nach ber 
Entſtehung ber Gemeinde leiden. Ihnen zum Troft imd ſich zur 
Beruhigung Hat datum Paulus ben Thimotheus zu ihnen gefandt 
(3, 1 ff.) Diefen Abſchnitt ut Baur (U, ©. 95 ff. 348 f.) 
mit 2 Kor. 2, 125 7,5 f. der Suche, den Umſtändtn und ben 
Worten nad fo ühnlith gefunden, daß er eine Nachbildung jener 
Korintherftellen darin vermutet. Die Stimmung bes Paulus, welche 
2 ſtor. 2, 18; 7,5 mit oda av Öbveoev, 1Theſſ. 3, 1 trotz 
diefer boppelten Vorlage Mit areysı, einem echt paulinifchen Aus» 
drud (1 Kor. 9, 125 18, 7) bezeichnet ft, tft 2Kor. 2, 13 damit 
motiviert, daß Paulus den Titus nicht fand, 2er. 7, 5 damit, 
daß ihn EmIer are Euudev oh quälen, 1Theſſ. 3 aber 
damit, daß er bie Theſſalonicher fehen möchte und dazu nicht Zeit 

1) Wir fliehen nit an, Manen (S. 37) beizuftiimmen, der auch die Be⸗ 
ſchränkung des Aufenthalts Pauli in Theffaldnich anf drei Wochen, wie fie bie 
Apoſtelgeſchtchte angiebt, auf Grund unferes Briefes als unwahrſchrinkich bezwei⸗ 
felt: „Der Eindruck, welchen der Brief macht auf Anen Leſer, der nichts von 
der Apoſtelgeſchichte weiß, kann wohl kein anderer fein, als der, daß Paulus 
längere Zeit mit dem beſten Erfolg unter den Thefſalonichern gearbeitet bat, 
Freud? und Leid mit ihnen teilte und darum fo begierig war, fie, feine Freunde, 
die er wie ein Water feine Kinder etrmahnt und getebſtet (2, 11), wieder zu 


Beben, . öbgleich vr noch nicht Tomte von ihnen gefthiebent war. 
19* 





2% v. Soben 


findet; in 28or. 2 treibt fie ihn zur Weiterreife, in 2 or. 7 
wird fie durch des Titus Ankunft, im 1 Chef. 3 aber durch des 
Zimotheus Abfendung gehoben, deren Zwedbeftimmung überdies B.2f. 
ohne jeden Anklang an 2 Kor. ift, dagegen in Röm. 1, 11 eine Parallele 
hat. Und während 2 Kor. 7, 6f. Baulus in erfter Linie durch die 
Rückkehr des Titus, erft in zweiter durch deifen Berichte beruhigt 
tft, jo freut er ſich 1 Theſſ. 3, 6 f. nur über die Nachrichten von 
jeiner Gemeinde. Und wie fchon hierin der feine pfychologifche 
Unterfchied zu Tage tritt, daB es fih 2Kor. 7 vielmehr um eine 
perfönliche Gemütsftimmung des Paulus, 1 Theſſ. 3 um eine amt: 
liche Sorge des Apoftel® handelt, jo bewahren die Referate über 
die Berichte diefe Färbung; dort betreffen fie nur die Beziehungen 
zur Berfon des Apoftels (7, 7), bier vor allem den religiöfen Zu: 
ftand der Gemeinde (3, 6, vgl. 7). Es bleibt nur übrig die 
Thatfache der Sendung eines Apoftelgehilfen, von der Baur jelbit 
fagt: „es verfteht fih von felbit, daß ein folcher Fall in bem 
Leben des Apofteld mehr als einmal ftattfinden konnte” (S. 348), 
und welche ein PBanliner doch unmöglich der Thefjalonichergemeinde 
aufzudichten wagen konnte. Iſt es nun überdies nicht gelungen, 
irgendeine Bedeutung diefer Epifode für den von Baur vermuteten 
Zweck de8 Briefes, werde er nun in eschatologiſcher Belehrung 
oder in Berteidigung reſp. Rehabilitierung des Apoftels gefucht, zu 
entdeden, fo füllt auch der letzte Grund zur ‚Vermutung einer 
Imitation der Korintherjtellen weg. — Aber au mit der Apoſtel⸗ 
gejchichte berührt fich unfer Abfchnitt, und Baur hat einerfeits aus 
der Ähnlichkeit der Angaben auf Titterarifche Abhängigfeit, anderſeits 
aus der Unvereinbarkeit derſelben auf geſchichtliche Unrichtigkeit un⸗ 
ſerer Briefſtelle geſchloſſen. In Wahrheit aber macht die Unver⸗ 
einbarkeit der erzählten Situationen eine litterariſche Abhängigkeit 
im höchſten Grade unwahrſcheinlich, wie ſie anderſeits unentſchieden 
läßt, welcher der beiden Berichte ungeſchichtlich ſei. Während dar⸗ 
um Vies, der mit Schrader (Ap. Paulus I, 69), Wurm (Tüb. 
3.f. Th. 33, ©. 76), Yowett (Ep. of St. Paul 2 ed. I, 216 ff.) 
beide Darftellungen für abfolut unvereinbar erklärt (S. 23 ff.), 
auf diefe Inſtanz gegen die Echtheit des Briefes verzichtet, weift 
Manen, ber zum gleichen Reſultat kommt (S. 25 ff.), Baurs 





Der erſte Theffalanicherbrief. 291 


Benutzung bed. Verhältnifjes für feine Kritit treffend ab. Dennoch) 
drängt fich die Frage auf, ob denn wirklich fich unverföhnlich wider⸗ 
Iprechende Angaben in Brief und Apoftelgefchichte vorliegen, weil 
dies, da folchen beiläufigen Angaben der Apoftelgefchichte doch ohne 
Zweifel gefchichtliche Thatfachen zugrunde liegen, doch nicht jo ganz 
leicht für unfern Bericht zu tragen wäre, wie Manen meint. In 
der Apoftelgefchichte taucht 17, 14 in Berda neben Paulus und 
Silas noch Timotheus auf, während 16, 19. 40, alfo auch 17, 
1, dann ebenfo 17, 4. 10 nur von Paulus und Silas die Rede 
ift, diefe ſyſtematiſche Ignorierung des Timotheus aber damit, daß 
dee Verfaſſer fchon vor 17, 14 fein Vorhandenſein vorausſetzt, 
unvereinbar ift. Er bat ſich alfo den Zimotheus in Beröa von 
irgendwoher zu Paulus und Silas ftoßend gedacht. Don Beröa 
geht Paufus voraus nad Athen (17, 14 f.), wo er fie erwartet 
(8. 16), entjprechend feiner Weifung an fie, fo bald als möglich 
wieber mit ihm zufommenzutreffen (V. 15). Über der Areopag⸗ 
rede wird aber dieſer Plan vergeſſen; 18, 1 zieht Paulus weiter 
nad Korinth, und hier erft wird die Ankunft des Silas und Ti⸗ 
motheus gemeldet (V. 5). Soll, was in biefem Bericht pofitiv 
behauptet ift, als geſchichtlich aufrecht erhalten bleiben, dann wird 
fi) die Vereinigung desfelben mit den Angaben bes Briefes fchwer- 
ih in ber von Hausrath amgegebenen Weife bewerkſtelligen 
laffen, daß Timotheus doc den Apoftel in Athen getroffen babe 
und von dort nach Theffalonich zurückgeſandt worden fei, da die 
Anmefenheit des Zimotheus in Athen nicht hätte verjchwiegen 
werden können, nachdem einmal angegeben war, daß Paulus 
feine Gefährten dort erwartet habe. Wahrfcheinliher und mit 
der Wahrheit beider Berichte vereinbar iſt die Annahme !), 
daß Paulus durch Vermittelung eines Briefes oder eines Reiſenden 
von Athen aus den in Berda zurüdgebliebenen Timotheus nad) 
Theffalonich zurückbeordert Habe. Diefe Anderung des Planes war 
dann die dem Verfaſſer der Apoftelgefchichte unbekannte Urfache von 
ber Thatſache, die er getren referiert, daß Paulus, troßdem er 
ursprünglich die beiden in Athen erwarten wollte (17, 16), doch 


1) Ähnlich Hug, Wiefeler, Renf u. a. 





292 u. Soben 


allein weiter reift (18, 1) und erft in Korinth wieder mit ihnen 
zufammentrifft (18, 5). Gegen dieſe Hypotheſe fpricht aber auch 
der Brief nicht: drceupauen (3, 2), fest nicht notwendig das 
Iolale Beifammenfein des Schickenden und bes Geſchickten voraus. 
Koralsissew (3, 1) bedeutet nicht nur „weggehen von einem Po⸗ 
ſten“, fonbern auch „ausbleiben auf einem Boften*; einer Perſon 
gegenüber nicht nur fie „verlaſſen“, fondeen auch fie „allein laffen* ; 
der Ausbrud ift aber gang befonders berechtigt, wenn Paulus vor: 
ber bie fefte Hoffnung gehegt Hatte, in Athen nicht allein zu fein; 
ben dann fommt die Nichterfüllung biefer fehlen Zuverſicht, den 
Timotheus bei fich zu haben, einem wirklichen „Werlaffenmwerben“, 
alfe dem allerdings Hänfigeren Sinn von xesalsizeoder, un 
gemein nahe. Silas wird dann inzwilchen in Berön geblieben fein, 
dort Timothens zurüdzuerwarten und erft mit ihm zu Paulus zurüd- 
zufehren. Auf diefe Weiſe laſſen fich beide Berichte wohl vereinigen, 
mobei die hiſtoriſche Wahrfcheinlichleit und zugleich volle Selbr 
fänbigkeit der Angabe unferes Briefes auch durch Vergleihuug mit 
dem Bericht der Kpoftelgefhichte von neuen erhärtet wird. 

Reben den bisher beſprochenen pofitinen Angaben, bie ber Ver⸗ 
faffer felbft macht, Haben num den Brief noch eine Reihe anberer 
Behauptungen, bie in ber vom Brief markierten Zeit gefchichtlich 
zu begreifen fchwierig feien und Zuftänbe einer fpäteren Entwicke⸗ 
lungszeit der Gemeinde verraten follen, in Verbacht gebracht. Beim 
Außerlicheren anzufangen — „wie kann benn von Chriften einer 
kaum erft geftifteien Gemeinde gefagt werben, dag fie Vorbilder 
gewefen fein allen Glaubenden in Macedonien und Achaja, daß 
ber Auf von Ihrer Aunahme bes Wortes des Herrn nicht bloß in 
Macehonien und Achaja fi) verbreitet Habe, fondern aud ihr Glaube 
&v wavvi vba EEehhludev, daß bie Leute allerorten davon er⸗ 
zübfen, wie fie ſich befehrt und von den Götzen zu Gott gewenbet 
haben?" (Baur ©. 98; ebenſo Vies ©. 51 ff.) Aber waren 
benn nicht Paulus ſelbſt und feine Gefährten von Theſſalonich 
buch Macedonien und Achaja gewandert? wird er da gejchiwiegen 
baben von feinen Erfolgen in Theſſalonich? Und wenn bies nicht 
genügte, fo that die Verfolgung, welche die junge Gemeinde zu er 
tragen hatte, das ihre; denn non felchen Exeigniſſen nerbreitet ſich 


Der erſte Theffalonicherhrief. 298 


allüberall das Gerede raſch. Endlich war Theffalonich eine berühmte, 
überalihin handeltreibende Weltftabt, die mitten im lebhafteften Verkehr 
ftand; können nicht Matroſen, können nicht Zandboten den Kreifen 
angehört haben; in denen das Ebriftentum angenommen tefp. an⸗ 
gefeindet wurde, unb bie Nachricht von ber Gründung einer 
Ehriftengemeinhe in Theſſalonich auf ihren Meifen, lobend oder ta- 
deind, verbreitet Haben? Daß Paulus überall die fchon gegrün. 
deten Gemeinden bei Neugründungen als Barbilder aufftellte, in⸗ 
dem er fir) einfach darauf berief, Vorbilder aljo nicht in fittlicher 
Bolllommenpeit, fondern in der opferwilligen Aunahme des Evan⸗ 
geliums (B. 6) — und dies find fie, ob es kurz ober lange ber ift, 
baß fie es annahmen — Äft nicht nur möglid, fondern höchſt 
naheliegend; war doch, die einen Gemeinden den anderen als Vor⸗ 
bilder barzuftellen, nah 2Kor. 8, 1; 9, 2 paulinifche Praxis. 
Daß Paulus jelbft einen großen Wert darauf legte, daB die Exi⸗ 
ftenz von Gemeinden möglichit belannt werde, zeigt Röm. 1, 8, 
wo er als Gegenftand feines befonberen Dankes gegen Gott hervor» 
bebt, daß man überall von dem Glauben ber römiſchen Gemeinde 
erzähle. Zu der Übertreibung dv suavst sorrp (B. 8) endlich, 
deren Bedeutung felbft übertrieben wurde, vgl. Röm. 1, 8. 1or. 
4, 17%, Kol. 1, 6. — Auch was 4, 9 f. über den religiöfen 
Stand der Gemeinde noch beftimmter gefagt wird, foll nah Baur 
in fo kurzer Zeit nach Gründung der Gemeinde nicht denkbar ſein. 
Als „eine ſchon allgemein erprobte Tugend“ wird die Bruderliebe 
ber Theffalonicher aber nicht „gerühmt“, wie Baur fagt; fondern 
diefe werben nur Feodidanros genannt in Beziehung nuf die Nächſten⸗ 
liebe, was eine lückenloſe, praltiiche Übung der göttlichen Lehre 
feineswegs einſchließt, und bann fpeziell ob ihrer Liebeserweife gegen 
die macedoniſchen Gemeinden belobt; daneben hat nod viel Mangel 
an Liebe im Einzelverlehr, namentlich innerhalb des eigenen Ger 
meindelebens Raum; und daß folder Mangel vorhanden ift, zeigt 
die angeſchloſſene Mahnung zuegiovedesr udldov. Begeiſterte Er⸗ 
kenntnis der Liebespflicht, fleißige Ubung derſelben in äußeren Wer 
ken (vermutlich Geldbeiträgen oder Gaſtfreundſchaft gegen die Brüder 
in Macedonien), aber Unvollkommenheit der Liebe im täglichen 
Leben und Verkehr — ift das nicht ein ſehr wahricheinliches Bild 


294 v. Soden 


einer jungen Chriftengemeinde? Überdies gehört es zur pädagogi⸗ 
ſchen Weisheit bes Paulus, mit voller Anerlennung des vorhande⸗ 
nen Lobenswerten eine Mahnung zu beginnen, wobei infolge ber 
pleropborifchen Faſſung ber erfteren leicht der Eindrud eines Wider 
ſpruchs entfteht; vgl. 1 Kor. 1, A—9 und den folgenden Inhalt; 
1Ror. 8, 1umd 7; 11,1 und das Folgende; 2 Kor. 8, 7 und den 
übrigen Briefinhalt; Sal. 4, 14 f. und das Folgende; 5, 7 und bas 
Folgende; ebenjo Phil. 1, 5 und 9, und in unferem Brief das Rob 
1,7 und die Mahnungen 4, 1—8. Auch in dem 4, 11 f. gerügten 
Verhalten einzelner Gemeinbeglieder findet Baur Züge der fpäteren 
mit Baruftehoffnung und apofalyptifchen Ideen lebhaft befchäftigten 
Zeit. Aber follte nicht gerade unter dem erften Eindrud der 
Barufieprebigt, unter Neben, wie wir fie 1Ror. 7, 29 f. bi 
Paulus felbft finden, die Erregung ber Gemüter befonders ftarl 
gewefen, follte nicht gerade in der erften Begeifterung für dieſe 
Hoffnung Recht und Pflicht der Arbeit am Teichteften vergeſſen 
worden fein? Auch dag nad 4, 13 ſchon Todesfälle vorgekom⸗ 
men find, findet Baur auffallend. Aber genügte nicht ein einziger 
Fall, um die Frage zepi av norıuwuswov wachzurufen? gewiß 
mußten bies gerade die erften Todesfälle thun, während bei einer 
zweiten Generation, die fi) ans Sterben ber Ehriften gewöhnt Hatte, 
das nachträglihe Auftauchen folder Bedenken doch viel Schwerer zu 
begreifen wäre. Aber auch dem Paulus felbft foll der Verfaſſer 
Anachroniftiiches aufgedichtet haben, nämlih die Sehnſucht nad 
dem Wiederjehen der Gemeinde (2, 17 f.; 3, 10). Baur finde 
auffallend, daß der Apoftel nad fo kurzer Zeit der Trennung nidt 
bloß den wiederholten Wunſch, fondern den ein» und zweimal ge 
faßten, nur durch den Satan hintertriebenen Vorſatz gehabt haben 
fol, wieder nach Thefjalonich zu kommen, und daß er fchon in der 
erften Zeit feines Aufenthaltes in Korinth unter den Sorgen und 
Bemühungen, mit welchen ihn die Gründung einer neuen Gemeinde 
in Anſpruch nahm und fefthielt, ſich fo leicht dazu hätte entfchlichen 
können (347 f.). An fich ift die Sehnfucht die entfernten Brüder 
wieberzufehen, wie überhaupt der Wunfch nach perſönlichem Verkehr 
dem lebhaften Fühlen Bault freilich fo natürlich, und fo oft hat er 
mit Vorliebe ſolchen Gefühlen Ausdruck gegeben, dag Baur eine 








Der erſte Theſſalonicherbrief. 290 


Nachahmung vonfeiten unferes Verfaffers vermutet (vgl. Sal. 4, 20. 
18or. 16, 7. 8. 2Kor. 1, 15 f.. Röm. 1, 10. 13; 15, 23. 
Phil. 8, 25). Aber auch fein einziges Wörtlein haben die Stellen 
unfere® Briefes mit den angeführten gemein, jo daß die Vergleichung 
nur den Eindruck Hinterläßt, daß unfer Brief und jene Stellen über» 
einftimmend von einem und demſelben lebhaften Naturell Zeugnis ab» 
legen. In dem im Theſſalonicherbrief vorausgejegten Fall mußte 
diefe Sehnfucht fi ganz beſonders dringend äußern, da der Apoſtel 
vor der Zeit und plötzlich die Gemeinde hatte verlaffen müſſen, noch 
ehe feine Arbeit an ihr zu einem befriedigenden Abſchluß gekommen 
war. Und gerade wenn er in Korinth jett erfahren durfte, wie 
notwendig und wie fegensreich feine längere Anwefenheit und dauernde 
Wirkſamkeit für die griechifchen Gemeinden war (denn was Apg. 
18, 1—4 erzählt, kann ja lange Zeit hindurch gedauert haben), 
mußte er doppelt bedauern, fo bald von feinen Theffalonichern ger 
trennt worden zu fein, und doppelt lebhaft wünfchen, auch ihnen 
zuteil werden zu laffen, was er jetzt der korinthifchen Gemeinde Teiften 
konnte xaragriocı va dorepiuara rg iorews (3, 10). Nir⸗ 
gends aber ift angedentet, was Baur ohne weiteres vorausjegt und 
worin er eine nene Schwierigkeit fieht, daß es die erfte Zeit des korin⸗ 
thifchen Aufenthaltes des Paulus, da die Gründung ber Gemeinde 
den poftel noch in Anſpruch nahm und fefthielt, war, in der er 
Schreibt, auch Liegt in dem Ausdrud vurzög nal Tusoag deduevo 
eis vo Ideiv Öudv TO cooo@rcov nicht, daß der Apoftel alsbald 
hätte reifen wollen, wenn ihm Gott Gelegenheit geboten hätte, Sondern 
daß er wänfchte, noch einmal Gelegenheit zu befommen, die Theſſa⸗ 
lonicher zu ſehen; dabei fann er bei fich als felbftverftändlich voraus» 
gefegt Haben, daß dies nicht möglich fei, fo lange ihn die korinthiſche 
Gemeinde fo fehr befchäftige. Der zweimalige fefte Plan, fie zu ſehen 
(2, 17), fällt dagegen vor die Sendung des Timothens, alfo vor 
die Reife nad) Korinth (3, 1), fomit in die Zeit des Aufenthaltes 
in Derda und Athen; warum der .Apoftel damals, da er ohnedies 
im Reifen war, jenen Plan nicht wiederholt ſollte gefaßt haben können, 
im Gedanten, dag jet die Stürme in Theffalonich fich gelegt haben 
werden und er ungeftört fein Wert an den Thefjalonichern fort⸗ 
fegen und vollenden könne, tft nicht einzufehen. 


a8 v. Soben 


Nun follen aber gar zwei ganz deutliche Beweiſe für bie Ent- 
ftehung des Briefes in einer fpäteren Zeit im Briefe enthalten 
fein, nämlih 5, 27 und 2, 16. Vies nimmt geradezu 5, 27 
zum entfcheidenden Anlaß, bie Hhpothefe einer fpäteren Entftehung 
durch den ganzen Brief durchzuführen, indem er ſich in der Er⸗ 
Härung an Baur anſchließt; er erkennt in der fo nachdrücklich ges 
gebenen Erinnerung 5, 27 „die Anfiht einer Zeit, welche in den 
Briefen der Apoftel nicht mehr die natürlichen Mittel der geiftigen 
Mitteilung, fonbern ein Heiligtum fehen, welchem man bie fchul- 
dige Verehrung dadurch erwies, daß man fih mit Ihrem Inhalt 
fo genau als möglich, beſonders durch öffentliches Vorlefen, bekannt 
machte, woraus dann die Sitte entftand, folche und andere für 
wichtig gehaltene Briefe in ber Gemeinde wiederholt öffentlich vorzu⸗ 
Iefen“ (&. 106f.). Schrader (B. 36) bat in dem Vers eine Zeit 
vorausgeſetzt gefunden, „in. der fchon ein abgefonderter Klerus die 
firchlichen Angelegenheiten leitete”. Gegen Schrader entfcheidet ber 
Brief felbft, der nirgends die Exiſtenz eines Klerus anbentet, und 
auch die Aufforderung 5, 27 nicht an Kleriker, fordern an die 
Brüder richtet. Aber auch von einem Bffentlichen, feierlichen Vor⸗ 
lefen des Briefes fagt unfer Vers nichts; gar die Sitte ber wieber- 
holten Lektionen darin zu erfennen, verbietet der Aoriſtus dva- 
yoacIMvaı; abgejehen davon, daß dann der Brief kaum vor bie 
Mitte des 2. Yahrhunderts geſetzt werden könnte und daB das 
zvopuibev zur Unterftäßung einer ſchon herrfchend werdenden Sitte 
ein unnötiger Aufwand wäre. Man braucht nit mit Olshauſen 
anzunehmen, daß die Unannehmlichkeiten, bie etwa nach ben An⸗ 
beutungen 5, 12 f. zwiſchen der Gemeinde und ihren Leitern vor- 
gefallen waren, ben Apoftel zu diefee Mahnung genötigt hätten 
(fonft müßte fie eben an die Leiter gerichtet fein), oder mit Manen 
(S. 89), dag der Verfafſer hier nicht zu allen, fondern zu einigen 
Gliedern der Gemeinde fpreche, oder mit Flatt, daß unter ben 
zrögıy vois Adelpoig alle Brijder Macebonjens verftanden feien; 
fondern man laffe der Mahnung ihre Adreffe an alle Brüder in 
Theſſalonich, ftelle fi) aber diefe Brüder in verfchtedenen Woh- 
nungen verteilt por, ohne eine geordnete, regelmäßige, von allen 
befuchte gottesdienftlicde Bereinigung, vielleicht unter fi nicht ganz 


Der erfte Theſfſalonicherbrief. 291 


einig, wie 5, 14; 4, 9. 10 durchſchimmern läßt, vielleicht einem 
Teile nach in ihrer vertrauensvollen Liebe zu Paulus erjchüttert 
und darum ohne reges Intereſſe (2, 3 ff.), fo ericheint die Mah⸗ 
nung auch in ber Zeit und aus dem Munde des Paulus wohl« 
begründet. Überdies Haben wir kein Recht, zu bezweifeln, daß 
Paulus, als er begann, Gemeindebriefe zu fehreiben, alsbald ſich 
überlegt habe, daß diefe Briefe als Einigungs-, ja als Miſſions⸗ 
mittel dienen können, und daß er in ſolchem Gedanken bier die 
Aufforderung zur alfgemeinen Mitteilung des Schreibens ausdrüd- 
fi beigefügt habe. Daß dem Apoftel feine Briefe von allgemei- 
nerer Bedeutung fchienen, zeigt bie Adreſſe 1 Kor. 1, 2 in ihrer 
Allgemeinheit (vgl. auch 2 Kor. 1, 1, wo menigftens alle Gläu⸗ 
bigen Achajas eingefchloffen werden, und Kol. 4, 16 die Mah- 
nung zum Anstaufch der Briefe mit Lapdicen). 

Die andere Stelle 2, 16 foll Mar und deutlich auf die Zer⸗ 
ftörung Jeruſalems als eine vergangene Thatjache zurückweiſen und 
jo ben Brief in die Zeit nad 70 verfegen. Dort ift nämlich) von 
den Juden gefagt: EpIacev Erı’ abrods 7 deyn eis velog. Die 
Bertreter ber Beziehung diefer Worte auf Jeruſalems Zerftörung 
ſetzen bei dem Verfaſſer die Anficht voraus, daß mit der Zerftörung 
Yerufalems das Zorngericht über bie Juden zur Endvollendung ge⸗ 
langt ſei; aber wie kann er dann zugleich von den ſchon vernich⸗ 
teten Juden noch in dem gegenüber dem Aorift dreoussıdvrov bop» 
pelt prägnanten Präfens ſchreiben: In um dosondvrwv zei 
nögıv dvggsros Erarriay, mohlvdrray Tuds Toig Edveoı 
kalter; vote vollends kann er erft von der Zukunft das dva- 
aimodoeı aurdw Tüs duaprias redvsore erwarten, wenn das 
endgiftige Zorngericht ſchon Über fie ergangen tft? ‘Diefer unlös⸗ 
bare Widerfpruch bes Verfaſſers mit fich felbft bei jener Auffafjung 
macht biefelbe unmöglich. Es kann fich angefichts diefer praesentia 
und gar des futurifchen eis vo x. v. A. Überhaupt nicht um ein ab» 
ſchließendes, in einer einmaligen gefchichtlichen Thatfache manifeftiertes 
Zorngericht Handeln in unferem Ausspruch. Dies verlangen aber die 
dabei gebrauchten Worte auch gar nicht; deyr iſt zunächft nur Aus⸗ 
druck für eine Stimmung und frhließt wicht ſchon in fich ſelbſt auch 
den Begriff einer dem Zorn entjprechenden That ein. Von biefer 


298 v. Soben 


Stimmung heißt es EpIaoev dr arods eis rekoc; eig reine 
aber ift fehr häufig Adverbium des Grades im Sinn von fun- 
ditus, ohne jede Zeitbedeutung (vgl. Joh. 13, 1. Luk. 8, 5; bei 
den LXX 2 Chron. 12, 12; 31, 1; Joſ. 8, 24. 4 Mof. 17, 
13; ebenfo bei Profanfchriftftelleen der neuteftamentlichen Zeit vgl. 
Bretſchneider, Lexikon; Vies, S. 64). Sollte der Ausdruck 
feine Entftefung dem ovvrelsodn h̊ öoyz Dan. 11, 36 verbanten, 
jo würde auch dies beweifen, daß er keineswegs ein terminus für 
die Zerftörung Jeruſalems ift, wie Vies vorauszufelen ſcheint, 
der eine Anfpielung auf Luk. 3, 21.23 vermutet (S. 107). Von 
einer Vollendung des göttlichen Zornes gegen die Juden !), der auf 
ihnen laftet al8 Teilhabern der menfchlihen Sündhaftigkeit (Röm. 
1, 18—3, 20; vgl. bei. 2, 5), ber fich in der altteftamentlichen 
Zeit ſchon entwidelt hat (Röm. 10, 19), Tann Paulus gar wohl 
reden mit Beziehung auf die gegenwärtig fich vollziehenbe endgiltige 
Verftocdung des Volkes; es ift Gottes Zorngericht, das fih in 
der definitiven Verwerfung des Volkes, welche fich eben im dejien 
Verſtocktheit beweift, vollendet nach dem Grundſatz Röm. 9, 15. 
18. 22. In dem Ausbrechen der Zweige ohne jede Schonung 
(11, 17. 21) und der Einfegung ber Heiden an die Stelle ber 
Juden manifeftiert fi der Zorn Gottes 2). Damit ift das Boll 
endgiltig verworfen, die Zerftörung Jeruſalems ift nur die äußere 
Folge biefer Verwerfung. Iſt es nicht der echte Paulus, der die 
Geſchicke feines Volkes fo tief, fo fittlich auffaßt und beurteilt, 

1) Ähnlich, wenn auch nicht ganz zutreffend, Manen, &.69. Der Zar, 
den die Juden fich allmählich fammelten (Röm.2, 5), ift auf fie gefommen bis 
zum Ende, al® ein Zorn, ber, obwohl ſchon vorhanden, aber gedacht als rim 
Meaffe, die Losbrechen fol, erft fpäter feine Folgen zeigen wird. 

3) Man braucht alfo weder den Aoriſt futurifch zur deuten (fo frühe 
Hilgenfeld), noh mit Grimm (Stud. u. Krit. 1850, ©. 774) eine Reihe 
verhältnismäßig unbedeutender Einzelereignifie des Jahres 45 zufammen 
fuchen, noch mit De Wette den Aoriſt von dem ſchon Beginnenden zu verſtehen, 
indem der Apoſtel in der damaligen politiichen Lage der Juden fchon ihren 
fünftigen Untergang ſchaute, noch endlich mit Hilgenfeld (Einl. ©. 249) 
an ben Verluſt der flaatlichen Unabhängigkeit, das Joch der heidnifchen Herr⸗ 
ſchaft zu denken. Das erfte ift ſprachlich unmöglich, das zweite des großen ge 
ſchichtlichen Blickes des Apoftels nicht würdig, das britte geziwungen, das vierte 
war damals nichts Neues. 





Der erſte Theffalonicherbrief. 399 


während die Zeitgenoffen nur die herwortretenden äußeren Ereigniffe 
fohen und notierten, wie die Zerftörung der heiligen Stadt? 

Aber nicht nur das beiprochene Schlußwort eines zuſammen⸗ 
hängenden Abfchnitts, fondern dieſer jelbft, die Worte und Gedanken 
von 2, 14—16 follen nah Baur (S. 96) „ein ganz unpaulini⸗ 
ſches Gepräge“ tragen und „nad der Apoftelgefchichte gebildet“ 
fein. Unpauliniſch follen dabei die über die Juden in V. 15f. 
gebrauchten Ausdrüde fein. Zuerft werden drei geſchichtliche That⸗ 
ſachen, welche die Juden charakterifieren follen, ohne Urteilebeifügung - 
referiert. Daß die Juden den Herrn und die Propheten getötet, 
erwähnt Paulus auch fonft; das erftere 1Kor. 2, 8, das letztere 
Kom. 11, 3; darin eine Nahahmung von Matth. 23, 31. 34 
zu finden (Vies, S. 108), ift alfo unbegründet. Huds &xrdıw- 
Sorıwv erinnert an Sal. 5, 11. 1Kor. 4, 12. 2Kor. 4, 9; 
1l, 24; die Herbeiziehung von Matth. 23, 34 ift aljo gefucht; 
wenn wir zugeben, daß den Apg. 17 erzählten Ereigniſſen in 
Teſſalonich und Berda ein entfprechender biftorifcher Untergrund 
nicht fehlen könne, jo ift der Ausdrud Exduwnsıv für die Art des 
Vorgehens der Juden ganz beſonders treffend und genügte bie kurze 
Charakterifierung, um in den Zefjalonichern die felbfterlebten draftis 
hen Belege dafür in die Erinnerung zu rufen. Neben diefe in 
feiner Weife unpaulinifche gefchichtlihe Charakteriftit der Juden 
tritt eine zweite, welche ein Urteil einfchließt. Enge zufammen 
wegen der gleichen Sagbildung und wegen der gegenfeitigen fach» 
lihen Ergänzung gehören 300 un) dosonövswov und do dv- 
Ionrros vavsiov. Hier ift niht nur Iew docoxeu eine pauli- 
nifhe Phrafe (Röm. 8, 8. 1Kor. 7, 32) und die Nebeneinander- 
ftellung des Verhältniſſes zu Gott einere und zu den Menfchen 
anderſeits eine beliebte Gedanfenwendung des Apofteld (Gal. 1, 1. 
10, 12. 1Kor. 14, 2. Röm. 2, 29 u. ö.), fondern in dem 
ftarfen Ausdrud muß, wer des Apoſtels fcharfe, kaum abgemogene 
Ausfälle gegen feine Gegner (vgl. Sal. 4, 30; 5,10. 12. 2Kor. 
11, 3. 13. Röm. 2, 24. 25. Phil. 2, 3) kennt, des Apojtels 
raſches Blut erkennen. Wenn Bies (S. 107) unglaublich findet, 
dag gerade Paulus die Juden in fo ftarfen Ausdrüden wegen ber 
Verfolgung der Chriſten, woran er doch felbft einft teilgenommen, 


800 v. Soden 


anfalle, fo vergißt er zu vergleichen, daß er imit derfelben Schärfe 
über biefe feine eigene Vergangenheit redet 1Kor. 15, Sf. Dem 
Urteil fügt aber Paulus felbft in dent epexegetiſch angehlingten 
Particip eine Rechtfertigung bei, als ob er felbft fühlte, daß es 
allerdings ohne biefen Beleg Hart und umbillig etſcheinen Lönnte: 
Sie hindern bie Heidenpredigt, denn da biefe ben Heiden zur Nettung 
dienen fol, beweifen die Juden fi damit als srdcım drdownox 
&vavrior; und ba fie Gottes Wille ift (Gal. 1, 16. 10), al 
ge un aokonovres. Der Ausbrud eis vo dvarıimodseı aörin 
ros duagriag reivrors kann dann für fich allein keinen Verdachts⸗ 
grund mehr bilden; ihn aus Matth. 23, 32 abzuleiten umb fo dem 
Berfaffer jenes Wortes eine Originalität zuzutrauen, die Ian dem 
Schreiber unferer Stelle abfpricht, während beidemal nur alttefte- 
mentliche Anfchauungen benust ſind (vgl. z. B. 1Moſ. 185, 16), 
ift kritiſche Willkuüt. — Iſt fo der auf B. 15 ff. ruhende, ſchein⸗ 
bar fachlich begrämbete Verdacht widerlegt, fo wird der nur üſthetiſch 
begränbett Einwurf gegen V. 14, daß nämlich die Vergleichung 
der Schickſale bes Theſſalonicher mit den Chriftenverfolgimgen in 
Judäa gefuht und für Paulus unangeineffen ſei (Baur, S. 96), 
feine Hauptſtütze verlieren. Bon einer Abhängigkeit von der Apoſtel⸗ 
geichiete, die Baur vermutet, kann nicht die Rede fein, weil dort 
Guben, bier Heiben die Widerfacher der Gemeinde find. Das 
Schmerzlichſte und Untatürlichfte in ber Verfolgung, welche bie 
Teffalonicher leiden mußten, war, baß biejelbe von ihren Volle⸗ 
genoffen, vielleicht von ihren WBlutsverwanbten ausging. Gerade 
hierfür Zroft zu fchaffen durch Hinweifung auf ſolche, die in der⸗ 
jelben fchmerzlichen Weile Verfolgung leiden mußten, war nicht 
„geſucht“, fondern im höchſten Grade zartfühlend. Und Hierfür 
wählt der Apoftel die jübiſche Gemeinde, erſtens, weil vielleicht nod 
feine heidniſche Gemeinde bamals eine befänntgetvordene Verfolgung 
vonfeiten der Heiden erfahren Hatte, jedenfalls bie jeruſalemiſchen 
Greigniffe, die Trennuttg vom Tempel, die Verfolgung und Ber- 
fprengung der Gemeinden, der Märtyrertod des Stephanus und 
Jacobus viel Leuchtendere Parallele bildeten, zweitens, weil dieſe 
Stammgenofjenverfolgung ganz bejonders widerfprechend fegeinen 
mußte, fofern das Ehriftentum doch ans den Schoß bes Juden⸗ 





Der erſte Theffälomicherbrief. 501 


tums hervorgegangen war, alfo die jüdiſchen Chriften den Juden 
noch viel tiger verwandt ſchienen als die der fremden Lehre an» 
hängenden Heidendriften den Heiden, und drittens endlich, weil 
Baulus ftets jede Gelegenheit wahrnahm, feine Gemeinden für die 
urhriftlichen in Baläftina zu intereffteren (Gal. 2, 10. 2Xor. 
8, 1f. vgl. Gal. 1, 22—2, 2). Eine vergleichende Zufammenftellung 
beidnifcher und jüdiſcher Chriften ift aber dem Paulus überhaupt 
nicht fernliegend (Röm. 15, 27. Bgl. 2Kor. 8, 13f.). So er- 
färt fi denn die Zufanmenftellung völlig aus der Zeit, den Ge- 
danken und Zwecken des gefchichtlichen Paulus heraus. Daß aber 
Paulus die paläftinenfifchen Chriftenverfolgungen nicht hätte er- 
wähnen können, ohne nuch feiner Beteiligung daran zu gedenken, 
ft eine unbegreifliche Behäuptung. Sollten denn mit Pauli Bes 
thrung die Berfolgungen aufgehört haben? oder follten wenigftens 
nr jene Anfänge derjelben der Gemeinde und dem Baulus vor 
der Erinnerung geftanden, ihre weitere Entwickelung aber, wie bei 
ms infölge der uns fehlenden Berichte, ignoriert worden fein? 
Und follte Paulus bei jeder Gelegenheit den einftigen Fehltritt ges 
beihtet und feine Neue durüber zur Schau geftellt haben? gar, 
wenn ſolche Erwähnung nur die Pointe hätte verwiſchen können, 
wie bier, wo er die Juden als bleibende, verſtockte Feinde des 
Epriftentums, fi aber als den von ihnen Berfolgten im Sinne 
bat und eine Erwähnung der früheren Verſchiebung der Rollen 
weiterer Auseinanderjegungen bedurft und der Stelle ihre kurze, 
Ihlagenbe Klarheit geraubt hätte? 

Mehr noch als alles bisher Beiprochene Kat aber ſtets den 
Kritikern Anftoß zur Verſetzung des Briefs in fpätere nachpauli⸗ 
nische Zeiten gegeben die Selbitapologte des Apoftels 2, 3—13, 
Die Vorwürfe, gegen die bier Baulus verteidigt wird, follen nicht 
die lebhafte Farbe der paulinifchen Kampfesbilder tragen, fondern 
„eine Abftraftion aus dem Konkreten der gejchichtlichen Verhält⸗ 
niffe“ 2), wie fie 3. B. aus den Korintherbriefen hervorgehen, fein. 
Und darum follen die darin berührten Verleumbungen, troßbehi 


1) Baur, ©. 344. 





802 v. Soden 


„es ſich von felbft verfteht, daß ein folcher Fall in dem Leben des 
Apofteld mehr als einmal vorkommen konnte“, eine Nachahmung 
der Korintherbriefe fein !). Diefe Vermutung nun mindeftens ift 
eine völlig in der Luft ftehende, da ebenfo wenig die in der ganzen 
Apologie gebrauchten Ausdrücke, als der Inhalt der Vorwürfe jelbft 
irgendwie lebhaft an die Korintherbriefe erinnern 2). Dagegen ift 
der erfte Einwand infoweit begründet, als allerdings den Vorwürfen, 
um bie e8 fih 1Theſſ. 2 Handelt, jedes Eingehen auf den eigen 
tümlichen Inhalt des Pauliniſchen Evangeliums und die paulinifchen 
Grundfäge der Heldenmiffion fehlt. Eine theologiſche und, fagen 
wir, firchenparteiliche Farbe fehlt ihnen allerdings; um fo Tebhafter 
aber find die dem perfünlichen Charakter Bauli aufgetragenen Farben, 
mit denen diefer farikiert wird. Als Quelle feines Evangeliums 
(daher „Er“) ftellten die Berleumder zuAaoy oder dnadapoia auf, 
theoretifchen Irrtum oder ethifche Unreinigfeit, dies einer mehr 
objektive Wendung der Angriffe; oder fie ftellten, in fubjektiver 
Drehung derfelben, den Apoftel als einen Betrüger hin (ev dsAw) ?). 
Mit andern Worten: Die einen glaubten, was er predige, ſei Thor- 
heit, die andern hielten ihn für einen Verführer zur Sittenlofigfeit, 
bie dritten vermuteten in ihm einen Schwindler. Gegen alle dra 
Borwürfe beruft fi der Paulus unferes Brief, ganz wie ber 
Paulus der Galater⸗ und Korintherbriefe, darauf, daß ihm fein 
Evangelium von Gott vertraut worden fei und dag er fich im feiner 
Predigt genau daran halte, zugleich ſucht er bie Entftehung jener 
Verleumdungen feiner Gemeinde dadurch erflärlich zu machen, daß 
er bei feinem Predigen danach trachte, nicht den Menſchen zu ge 
fallen, fordern Gott (vgl. hierzu Gal. 1,1.12.15; 2,7; 1, 10) 
Nach diefer prinzipiellen Abweifung der Angriffe folgt nun aber 
DB. 5 ff. noch die Widerlegung ihres konkreten Details gegen die 


1) Bel. 1Kor. 2, 4; 4, 8f.; 9, 15. 2Ror. 2, 17; 5, 11. 

2) Bol. dagegen allerdings die echtpaufinifchen Ausdrüde 2, 4 mıorevsede: 
10 &vayysisov (Bol. 2, 7); oux ds avdpdsnos apeaxovrss (Bal. 1, 10). 

3) Diefe klare logiſche Folge der drei Begriffe, in denen fich die Verdäch 
tigungen zufammenfafjen, rechtfertigt die paffive Faflung von dan (= Irr- 
tum); im Sinn von Betrug (aktiv) würde 8x nicht paffen und müßte es mit 
doAos zufammengeftellt jein. 





Der erſte Theffalonicherbrief. | 303 


Unterftellung, Paulus wolle fich einfchmeicheln, beruft er fi auf 
bie Gemeinde felbft (naIms ordare), offenbar mit Erinnerung an 
manche ftrenge Rede, die fie von ihm hatte hören müſſen; gegen 
den Verdacht, er wolle fich bereichern, ruft er Gott zum Zeugen 
auf (Feög udorvs); die Nichtigkeit beider Verdächtigungen aber 
weift er durch Berufung auf die damit unvereinbare Thatſache 
zurüd, gegen bie man wohl auch Zweifel wachgerufen hatte, daß 
er nicht Ehre gejucht babe bei Menſchen, jo wenig bei ihnen als 
anderwärts, obgleich) er als Apoſtel Chrifti ſchon das Recht ge- 
habt hätte, gewichtig aufzutreten, aber ftatt deffen Habe er nur 
dienende, opferwillige Liebe bei ihnen geübt 1). Wie in nachträg⸗ 
Iiher Ausführung werden nun noch die beiden Vorwürfe von 3. 5 
durch den Hinweis auf gefchichtliche Thatfachen widerlegt, V. 9f., 
zuerst der Vorwurf der zAeovedia, dann V. 11f. der der olaxie. 
Es ift, als ob der Apoftel fich nach diefer Apologie nun ficher 
fühlte; er fchliegt fie ab mit einem ‘Dank dafür, daß bie Teſſa⸗ 
Ionider damals fein Wort aufgenommen haben als Gottes Wort, 
da8 ſeitdem fi) mächtig erweife in den Glaubenden; und läßt 
darin die Zuverficht durchſchimmern, dag jene Verleumdungen feiner 
Berfon ſie darin nicht irre machen werden. Ohne jeden vermitteln- 
den Übergang knüpft er daran mit einem begrünbenden ydeo bie 
Beiprechung der Bebrängniffe, welche die Gemeinde jelbft von ihren 
heidniſchen Stammesgenoffen zu erdulden hatte (V. 14ff.). 

Wie fchon bemerkt, treffen die Angriffe, gegen die hier Paulus 
verteidigt wird, im feiner Weife fein Evangelium; fie tragen keinerlei 
theologischen Parteicharafter. Hatten aber einmal die Yeindfelig- 
keiten diefen Charakter angenommen, wie dies in der Zeit der 
Salater- und Korintherbriefe der Fall ift, dann verfchwand er gewiß 
nimmer und in feinem Stadium und auf einem Punkte des großen 
Kampfes. Unfer Brief muß alſo in eine Zeit fallen, da diefe 


1) Das ara ſcheint mir darauf zu weiſen, daß duwausvor mit obgleich 
aufzulöſen ift, alfo die Negation in fi) birgt, an die «AA« anknüpft. ’Er 
Bapes eivaı hätte ihm als Apoftel Ehrifti jedermann als ein Recht zugeftchen 
müflen; aber fogar darauf, als auf einen Schein des dofav Inreiv (und viel- 
licht der rAsovstie) verzichtete er, um ja keinen Anlaß zu Vorwürfen zu 
geben, und hielt fich vielmehr wie ein Amos unter ihnen. 

Theol. Stud. Jahrg. 1885. 20 


304 v. Soden 


theologifch-firchlichen Kämpfe entweder noch nicht begonnen Hatten 
oder fchon zur Ruhe gekommen waren. Lebteres ift aber nicht 
denfbar, weil ja, fobald der Prinziptenlampf ausgefochten war, An- 
griffe auf die Perfon des Paulus, wie wir fie hier finden, die nur 
dem Kampf gegen fein Evangelium zue Stüße dienen follten (vgl. 
2Ror. 10—13), feinen Sinn mehr hatten, alfo auch eine Ber- 
teidigung des Apoftels zwecklos war. Weift uns fo die perfönlice 
Art ber Feindfeligkeiten gegen den Apoftel in unferem Brief auf 
eine Zeit vor dem Ausbruch des großen Brinzipienlampfes, von 
dem fich darin keine Spur findet, fo ift der Abfchnitt 2, 3—13 
ein zwingender Beweis für die Echtheit unferes Briefe. 

Aber es entfteht nun die Trage, wen wir uns benn unter da 
Gegnern, gegen die Paulus verteidigt wird, zu denken haben; ob 
man fich wirkfich keine Mare Vorftellung von benfelben machen Tann 
oder ob fie fich doch als Judaiſten einer fpäteren Zeitentwickelung 
entpuppen. Diefe Frage hat Lipfins (St. u. Kr. 1854, S. 905 ff.) 
ausführlich erörtert und folgendermaßen beantwortet; „Der erflt 
Theflalonicherbrief bat gerade darum fo viel Intereſſe, weil bier 
bie Oppoſition gegen den Apoftel nicht den beftimmt ausgeprägten 
Charakter trägt wie in den Korintherbriefen.“ „Paulus fürchtet 
die Bildung einer gegnerifchen, jubaifttfch-gefinnten Partei in Theſſa⸗ 
lonich.“ „Die Parteibildung gegen ihn ift noch nicht erfolgt; aber 
die Elemente derſelben find ſchon dba, und der Apoſtel ſieht ben 
Sturm gegen ſich heranziehen“ (914 ff.). Daß diefe entftehenden 
Gegner aber zur Zeit jedenfalls feine Sendlinge der paläftinenfijchen 
Ehriftengemeinden, aljo Leine Judaiſten fein können, fchließt Lipfius 
mit Recht daraus, daß jene Gemeinden gleich darauf (2, 14) ald 
Erempel für die Theffalonicher anufgeftellt werden. Er denkt fid 
die Gegner darum noch als einfache Juden, bie aber auf dem 
Punkt find, einen Zeil ber Ehriften zu einer judaiftifchen Partei 
unter Berufung auf die jubenchriftlichen Paläftinagemeinden zu ver 
einigen. Die Taktik des Apoftels ſei dem entfprechend die, erftlih 
feinen eigenen Zufammenhang mit ben judiſchen Chriften darzulegen, 
zweitens die jüdifchen Chriften von ben Juden zu trennen durch 
Erinnerung an bie Berfolgung, welche in Baläftina bie” Juden⸗ 
riften von den Juden zu erfahren haben (2, 14). Zu diejer 














Der erfte Theffalomicherbrief. 506 


Enreihung der in unferem Brief angedeuteten Kämpfe in die Aus⸗ 
einanderfegung Pauli mit dem Indaismus glaubt ſich Lipfius ber 
rehtigt, auf Grund des Ansfalls gegen die Yuden 2, 16f. Diefer 
jei dadurch veranlaßt, daß Paulus „perfönlich angegriffen worden 
fi um ded Evangeliums willen, gerade um des willen, weil er 
ala Heidennpoftel auftrat” (S. I14f.). Uber die Heidenpredigt des 
Paulus war doch gewiß für; bie Juden Teiln Anlaß, gegen den 
Apoftel vorzugehen, fonderh daß ex überhaupt Ehriftum verkündigte 
und gar fein Kreuz, nur das kann Gegenftand ihres Ärgerniſſes 
geweſen fein; und nur als sine Folge diefer antihriftlichen, nicht 
bloß antipaufinifchen Stimmung der Yuden (70v «ai vor uigıov 
Ioodv dreonreivdvsov u. 5. M. B. 15) hebt Paulus, weil dies 
für die Heiden, an die er fchreibt, von befonderer Wichtigkeit ift, 
hervor, daß die Juden auf diefe Weife, indem fie jene antichrift- 
liche Feindſeligkeit auch gegen den Heidenapoftel Paulus üben, die 


Heiden verhindern, zum Hell zu gelangen. Die Juden aber hätten 


Überhaupt ganz andere Vorwürfe gegen ben Abtrlinnigen erhoben, 
als die oben aus unferem Brief zufammengeftellten. „Wie läßt 


fih denken, Haß die Juden als Gegner des Apoſtels fich mit dem 
Vorwurf der rAsovekie u. |. w. begnügten? Sie vermwerfen ent» 
weder ſchlechthin das Evangelium als andvdaiov oder hakten den 
Apoftel vor allem als Mpoftaten amd Gejegesfeind“ (Baur ©. 346), 
Reiner der Vorwürfe ift Bezeichnend für jüdiſche Gegner; wenn 
kipſius (S. 910) die vorgeworfene srAden, fie aktte faſſend, dahin 
deutet, daß „Paulus, obwohl Nationaljude, dennoch unter den Leiden 
das Evangelium lehrte, one diefen das moſaiſche Geſetz, insbeſondere 
die Beſchneidung aufzuerlegen“, fo iſt dns erft hineingedentet; führt 
überdied nur Judaiſten und nicht Juden als die Verläumder auf. 
Die treffend eignet ſich dagegen ber Vorwurf der eidg, allerdings 
im paffiven, oben verteibdigten Sinn des Wortes, für den geiſtes⸗ 
ſtolzen Griechen, dent das Kreuz und die ganze Predigt Panft eine 
Thorheit ift (1Kor. 1, 23; 2, 1214). Daß aber die Gegumr 
des Apoftels in Tcheffalonich wirklich Heiden geweſen fein, darauf 
führt mit großer Wahrfcheinlichkeit die enge Verbindung, in die der 
Apoſtel feine Apologie mit der Erwähnung der von den Heiden 
ausgehenden Bedrängniſſe der Gemeinde bringt 2, I—13. 14ff. 
20 * 


806 v. Soben 


Daß jene Bedrängnifje nur die thatkräftige Begleitung der Angriffe 
gegen den Apoftel waren, mit dem gemeinfamen Zweck, die ge- 
wonnenen Chriften von dem neuen Glauben wieder abzubringen, 
jcheint 3, 1ff. zu zeigen. Die IAwyes bringen die Gemeinde 
in die Gefahr des oalverdaı mit beftimmter Beziehung auf den 
Slauben; der Apoftel fürchtet, unewg Erreigaoev öuds 6 na- 
edlww nal eis nevöv yErmsaı 6 abrcos huav; er ſendet den 
Zimotheus eig To ormoläaı Öuägs nal saganaltoaı Örcep Tig 
zciorews ducv und freut fi) des Timotheus evayyslısausvov 
quũv viv niorıw nal ν Aydrıw bußv nal Örı Exere uveiay 
humv dyasıy ndvrors, ErrınoJodvres huds ideiv, nasüs 
nei Tueig Önäs, und Örı orıjmers Ev nvoip. Diefe Verbindung 
des Objektiven und des Berfönlichen in ber Befürchtung des Paulus 
inbetreff des Einfluffes der HArwers und in ber Meldung des 
Zimotheus fcheint darauf zu deuten, daß gerade mit den SAdıyars, 
bie zunächſt nur die Gefahr des Abfalls vom Chriftentum brachten, 
jene perfünlichen Angriffe gegen Baulus, die den Abfall vom Apoftel 
bezwedten, Hand in Hand gingen. Auch Lipfins fühlt, daß die 
Drangfale in einer folchen Beziehung zu den Angriffen gegen den 
Apoftel ftehen: „Verharrten aber die Teffalonicher beim paulinifchen 
Epriftentum, fo warteten ihrer natürlich neue Angriffe, neue Drang. 
fale, neue Verſuche, ihren Glauben zu erfchüttern. Daher denn 
die Ermahnung V. 3f.“ Aber die Beitimmung der Gegner des 
Paulus in Theſſalonich als Juden offenbart fi gerade bei biefer 
gewiß begründeten Zufammenftellung der Polemik gegen Baulus 
und der Drangfale der Gemeinde als unmöglich, fofern dann ja 
auch. die Drangfale ald von ben Juden ausgehend voransgefegt 
werden müßten, wie die Angriffe gegen Paulus, dies aber ber 
Haren Angabe 2, 14 widerfpricht, wonach bie Helden die Verfolger 
der Gemeinde waren. 

Iſt es fomit das Wahrfcheinlichfte, daß die Verleumbungen des 
Apoftels in Theſſalonich von Heiden ansgingen und daß fie darum 
eben jebes theologische Gepräge entbehren, fo find die Gründe, bie 
Dies ©. 53—61 aus der Art, wie Baulus hier „gegen bie An⸗ 
griffe der Juden“ fich verteldige, gegen die Echtheit des Briefes 
geltend macht, ebenfo hinfällig, als der Einwurf Baurs, daB bie 





Der erſte Theffalonicherhrief. 7 


„mdatftifchen“ Beſchuldigungen gegen Paulus in. unferem Briefe 
im Vergleich zu 2Kox. 10— 13 farblos fein. Unſer Brief ift 
donn vielmehr ein neben 1Kor. 1, 23; 2, 14 hergehendes inter- 
eſſantes Zeugnis aus der Zeit der erften Berührung von Heiden» 
tum und Chriftentum, darüber, was für einen Eindrud das Chriftens 
tum auf die Heiden gemacht und auf welche Weiſe fie fich des⸗ 
jelben zunächft zu erwehren gefucht haben. Wie Hug aber waren 
ihre Angriffe, die dem neuen Glauben galten, auf die Perfon des Ver⸗ 
treter8 desfelben zugefpigt, um auf eine Gemeinde einzumirken, deren 
Belehrung fo fehr auf perfänlichen Eindrücken berubte, wie dies 
nah 1, 5. 9; 2, 7. 8. 11; 3, 6 (hier ift es daraus zu fchließen, 
daß Paulus fchon wejentlich beruhigt ift, feit er der Gefühle der 
Gemeinde gegen ihn perfönlich ſicher ift) in Theffalonich der Fall 
gewefen fein muß. Während Lipfins von den Übrigen Stellen, die 
er noch im Sinne feiner Auffaffung der Gegner deutet, ſelbſt zus 
gefteht, Daß fie auch eine andere Deutung zulaffen, glaubt er noch 
die Stelle 5, 19— 22 nur aus feinen Vorausfegungen der Ges 
meindeverhältniffe heraus befriedigend erflären zu können. Er be= 
sieht V. 21 und 22 auf die vorher zur vollen Achtung empfohlene 
Prophette, und fieht darin eine „Mahnung zur Vorficht gegen folche 
Lehrer, welche (um fich ungeftörten Eingang zu verfchaffen, unter 
dem Vorwand bes freien chriftlichen Charisma, ber Prophetie) auf 
Untergrabung bes von Paulus gepflanzten Glaubens Hinzielen 
mochten” (S. 931). Aber wenn die Prophetie in folcher Weiſe 
mißbraucht worden wäre, jo hätte Paulus gewiß nicht obenan die ganz 
vorbehaltslofe Ermahnung geſetzt: zo ruvsdun un aßevvuss, vv 
noophseiav un &5ovFeveise; fondern er hätte zuerft gewarnt, und 
dann Timitierend beigefügt: doch fage ich damit nicht, daß ihr dem 
Beift däͤmpfen, die Prophetie für nichts achten ſollt. Waren bie 
falfchen Propheten fo weit durchgedrungen, daß Paulus zu der Apo« 
logetit von Kap. 2 fich genötigt fah, dann Tag Überdies darin ein 
Beweis, daß bie Theffalonicher die Propheten keineswegs für nichts 
achten, ben Geift keineswegs dämpfen; die Mahnımg V. 19f. wäre 
aljo eigentlich ganz Überflüffig und nur mißverftändlich gewefen. Bei 
B. 21f. aber ift gar kein Grund vorhanden, ben Mahnungen ihren 
ganz allgemeinen ethischen Charakter zu nehmen; cd KuAdv narag-. 


808 — v. Goben 


yabeodat, seorsiv iſt ein pauliniſcher Ausdruck, allgemein ethiſchen 
Charakters (Röm. 7, 18. 2Kor. 13, 7. Gal. 6, 9), alſs wohl auch 
sd nardv narsdysıv, und 70» eldog swovnodr ift ebenfo ein ganz 
allgemeiner Begriff; vielleicht kann mit Hilgenfeld (Einl. S. 246) 
eldog beſtimmter im Sinn von , Aublick“ gefaßt und die Warnung 
auf die fchäbfichen und verführerifchen Schauftellungen des Heiben- 
tum® bezogen werden. So erklärt fih die ganze Stelle gut ohne 
bie Beziehungen, welche Lipfins darin gefucht Hat. 


Faſſen wir das Reſultat unferer Sinzelunterfuchungen zufam- 
men: Reine Stelle im erften Theſſalonicherbrief trägt das Ge 
präge des Unpaulinifchen, keine verurfacht bei der Annahme feines 
pauliniſchen Urfprumgs Schwierigkeiten in bogmatifcher ober hiſto⸗ 
rifcher Beziehung; viele tragen bei aller Originalität der ſprach⸗ 
Then Yorm den umverwiſchbaren Stempel paulinifchen Gemitthes, 
paufinifchen Geiftes, paulinifcher Ideen. 

Iſt fo Fein Grund vorhanden, den Brief dem Paulus abzu- 
fprechen und in eine fpätere Zeit zu verlegen, fo mag ſchließlich 
als Kritil der Kritit demjenigen, was ſchon im Lauf der Unter⸗ 
ſuchung beiläufig Über die Schwierigkeit gefagt worben ift, welde 
auf der Hypotheſe einer fpäteren Entftehung des Briefes Laften, 
noch einiges beigefügt werden. Baur jagt (S. 94 f.): „ Die 
Bedeutungslofigkeit des Inhaltes, der Mangel an allem ſpeziellen 
Intereſſe und an einer beftimmt motivierten Beranlaffung ift an 
fich ſchon ein Kriterium, das gegen den paulinifchen Urſprung 
ſpricht.“ Soweit die Hierin gegebene Charakteriftik zutrifft, macht 
fie vielmehr gerade die fpätere Entfiehung des Briefes zu einem 
Kätjel: Hier Handelt es ſich nit um apolafyptifche Enthülfungen, 
wie Im zweiten Theffalonicherbrief, nicht um gnoſtiſche Dogmatik, wie 
in den von mir als SInterpolationen angefehenen Stelfen des Ko⸗ 
fofferbriefes *), nicht um Tatholifterende kirchliche Zwecke, wie im 
Epheferbrief, nicht um Befeſtigung hierarchiſcher Inſtitutionen, wie 
in den Baftoralbriefen, nicht um Troft in unerhörter Verfolgung, 

1) Bol. Hierzu meine 3. 3. unter ber Prefje befindlichen Unterfuchungen 
in den Jahrbh. f. prot. Theologie, im welchen ich die Stellen Kol. 1, 15-—20; 
2, 10. 15. 18 als ſolche nachzuweiſen verfuche. 


Der erfte Theffalontcherbrief. 808 


wie im erften Petrusbrief, nicht um nachdrückliche Hervorkehrung der 
Moral des Ehriftentums, wie im Jakobusbrief. Dem Brief fehlt 
jede beftiimmte Einzeltendenz; er bient weder der Zurechtlegung einer 
neuen Zeiterfcheinung noch der Vorbereitung einer neuen Zeitidee. 
Die alter theologifchsreligiöfen Momente bare Apologie des Apoftels, 
wie fle Kap. 2 geführt wird, hat in einer Zeit, da es ſich nicht 
mehr um die Perfon des Apoftels, fondern um fein Prinzip hans 
beit, keinen Stun und keine Kraft mehr; die Beruhigung über bie 
Geſtorbenen kommt bei einer zweiten Generation zu fpät, und über⸗ 
dies teitt weder das eine noch das andere als der Anlaß und Zwed 
des Briefes in beherrfchender Weife in demſelben hervor. Die 
Farben einer fpäteren Zeit: Streit oder Vermittelungsverſuch zwi⸗ 
: hen Judaiften und Helleniften, Ausbildung des Tirchlichen Amtes 
(mt einmal goiordusror wird 5, 12 als ein gewohnter Titel, 
ſondern wie der Beiſatz &v xvoip zeigt, als eine perfünfiche Be⸗ 
zeihmung gebraucht; die Anfforberungen 5, 14 wäre in der Zeit 
nach Paulus gewiß nimmer an die Gemeinde, fondern an deren 
Vorſteher gerichtet), Eindringen einer entwidelteren, guoftifierenden 
Dogmatik, Spuren einer zeitlichen Entwidelung in der Gemeinde 
jelbft, einer Unterfcheidung von alten und jungen, von früheren Er⸗ 
inmerungen und neueren Erlebniſſen — alles das fehlt voliftändig. 
Dagegen zeigt das Vorhandenfein charismatifcher Gaben (5, 19f.) 
: Baurs Meinung, and dies ſei nur Nachahmung von 18er. 
14, 39 f. widerlegt fi fon dadurch, daß dort vor Überfchläigung, 
bier vor Unterfchägung der Gaben gewarnt wird; daß er, um bie 
Beiftesgaben zum richtigen Unfehen zu bringen, gerade bie Pro⸗ 
phette namentlich heraushebt, entjpricht ganz dem Sinn des Apoftels, 
der in der Prophetie die wichtigfte derfelben erfannte (1 Kor. 14)), 
die ben Paulus zugefchriebene Hoffnung, die Paruſie zu erleben 
(4, 15), die für nötig erachtete Mahnung, den Brief allen Brü⸗ 
dern mitzuteilen (fpäter, ba bie Briefe als Heilige Vermächtnifſe 
des Apoftels in Anjchen kamen, wäre bies gewiß überflüffig ge- 
weſen), beutlich bie Farben der apoftoliichen Zeit. Die Vergleichung 
berfolgter Heidengemeinden mit ben paläftinenfifchen Chriftenverfol- 
gungen wäre in fpäterer Zeit, da ähnliche Erfahrungen im heid- 
niſchen Miſſionsgebiet reichlich vorhanden waren, Serufalem aber 





810 v. Soden 


ben Mittelpunft des Ehriftentums zu bilden aufgehört hatte, gejudt; 
die ausführliche Erwähnung des Details der Belehrung der Theſſa⸗ 
lonicher (1, 4—10) wäre finnlos; die Behauptung, daß die Juden 
die Heibenpredigt an ſich zu verhindern fuchen (2, 16), in einer 
Zeit, wo biefe Heidenpredigt nicht mehr ausfchlieglich in den Hän⸗ 
den des von den Juden gehaßten Paulus war, wo alfo ber Hak 
der Juden fih ohne Wahl auf alle Chriſtuspredigt ergoß, während 
in den heidnifchen Ehriftengemeinden gewöhnlich ihr Streben richt 
dahinging, die Wirkungen ber Predigt rückgängig zu machen, ſon⸗ 
dern als eine Brüde zum Proſelhtenmachen zu benußen, wäre zum 
mindeften unverftändlid. 

Erklärt fih fo der erfte Theffaloniherbrief ohne Schwierigfeit 
nur bei Annahme feines paulinifchen Urfprunges, fo Hat er einen 
Anspruch in viel reicherem Maße als bisher, Bet der Erforfhung 
des Weſens des Paulinismns benügt zur werden. Waren die vier 
großen Briefe GSelegenheitsbriefe, die ihren Charakter ganz augen 
Scheinlich ihrer beftimmten Veranlaffung verdanken, fo haben wit 
bier einen harmloferen Erguß panlinifchen Geiftes. Die Dogmatil, 
die im Galater- und Römerbrief in ſchwerer Nüftung vor uns 
tritt, bleibt völlig im Hintergrund; das Leben in Glauben um 
Liebe und Hoffnung, das felige Vertrauen in die Erföfung und 
einftige Verherrlichung tritt als das Weſen des paulinifchen Chriften- 
tums hervor; und im Vordergrund feines Denkens und feiner 
Predigt, im Mittelpunkt des Gemeindeglaubens fteht die Parufir- 
hoffnung. Chriftus als der viög Ieod und der adoros iſt das 
Bild, das feinem Glauben vorfchwebt. Chriftus, den verklärten, 
hat er ja bei feiner Belehrung gefchaut; nicht der Hiftorifche (2 Kor. 
5, 16), nicht der gefreuzigte (davon redet nur ber Galaterbrief, 
weil das Kreuz da8 oxdvdadov für feine Gegner, bie Juden, iſt, 
3, 1; 5, 11; 6, 12. 14, und im gleichen Zufammenhan 
1Kor. 1; fiehe dagegen 2 Kor. 13, 4), fonbern ber verherrlichte 
Chriftus ift Mittelpunkt feines Glaubens; nicht auf der Vergangen⸗ 
heit, nicht auf der Gegenwart, ſondern auf ber Zukunft ruht fein 
Blick, und diefe Zukunft birgt ihm die Wieberkunft des im Himmel 
geſchauten Herrn, 











Gedanken und Bemerknngen. 





1. 
In welchem Jahre wurde Bugenhagen gebaren? 


Von 
D. Garl Rerthean. 





Nach der allgemein verbreiteten Annahme ift Johannes Bugen⸗ 
hagen am 24. Juni 1485 geboren; vgl. Bogt, Johannes Bugen⸗ 
hagen Bomeranus, Elberfeld 1867, S. 3. Diefe Annahme ftüßt 
fi auf die Angaben Melanchthons in der fogen. „Vita Bugenh.“ 
Corp. Reff. XII, Sp. 297, und Eberts im „Calendarium histo- 
ricum*, vgl. Bogt a. a. O. So viel und bekannt, findet fich in 
älterer Zeit nur eine Abweichung von biefer Angabe. Chrifitan 
Eberhard Weismann giebt in feiner „Introductio in memo- 
rabilia ecelesiastica, pars posterior", Stuttgardiae 1719, p.102, 
an, Bugenhagen fei im Jahre 1486 geboren; aber dieſe vereinzelte 
Notiz wird nicht wertvoller fein als die auf der folgenden Seite 
fih findende, daß er im Jahre 1658 geftorben fer, obſchon nur 
diefe Testere, nicht auch die das Geburtsjahr betreffende, im Druck⸗ 
fehlerverzeichnts berichtigt wird. Dagegen lefen wir bei Mori 
Meurer in feinem „Leben Bugenhagens“ (Leben der Altwäter der 
ntherifchen Kirche, 2, Band, 4. Abtl., Leipzig und Dresden 1862), 
©. 1, 2. Anm., die Angabe: ...... Nach einer Bemerkung 
Bugenhagens aber in einem Briefe an den König von Dänemarf 
(Shumader I, 194) muß er bereit® 1484 geboren fein.“ 


814 Bertbeau 


Meurer fcheint biefe Sache nicht weiter verfolgt zu Haben; er Bat 
biefer eigenen Angabe Bugenhagens nicht recht getraut, wie es 
Scheint; wenigftens giebt er hernach in der 3. Auflage feiner größeren 
Lutherbiographie (Leipzig 1870), S. 341, Anm. 19, nur das 
Jahr 1485 als Bugenhagens Geburtsjahr an, ohne einen Zweifel 
an der Nichtigkeit diefer Zeitbeftimmung merfen zu laſſen. Doch 
find andere feiner Notiz in jener Anmerkung gefolgt. So giebt 
z. B. Yulius Köftlin in der „Allg. deutfchen Biographie", 3. Bd., 
©. 504, das Jahr 1484, allerdings mit einem Fragezeichen, als 
das Geburtsjahr Bugenhagens an; in ber vierten Zeile dieſes Ars 
tifels fteht durch einen Druckfehler 7. Juli ftatt 7. Yumi; wenn 
diefes Verſehen berichtigt ift, wird das Citat aus jenem ſchon von 
Meurer angeführten Briefe allerdings, wie es zumächft fcheint, für 
das Jahr 1484 als Geburtsjahr bemeifend. Bogt a. a. O. und 
Blitt in der „Theol. Realencyllopäbie”, 2. Aufl., 2. Bd., ©. 775, 
bleiben bei dem Jahre 1485; fo auch Bouterwet in ber „Feſt⸗ 
Schrift des Gymnafiums zu Treptow a. R.“, Kolberg 1881, S.1; 
Bellermann im „Leben Bugenhagens“ u.a. Man kann jedoch 
Meurers Schluß nicht, wie Bogt a. a. O. will, mit der Bemer⸗ 
fung abweifen, daß die betreffende Angabe Bugenhagens „wohl 
nicht hronologifch genau, fondern nur eine ungefähre” fei. Bugen⸗ 
hagen jchreibt: „Auff Johannis ſchyrft Tommend, bin ih LXX 
Jar vol.alt, David warb nicht elter”; vgl. Andreas Schu» 
mader, Gelehrter Männer Briefe an bie Könige in Dännemarf, 
1. Zeil, Kopenhagen und Leipzig 1758, S.195. Iſt biefer Brief 
an den König Ehriftien III. von’ Dänemark, wie Schumader an- 
giebt, am 7. Juni 1554 gefchrieben, fo wird man nicht umhin 
fünnen zu fagen, Bugenbagen fei nach feinem eigenen Zeugnis am 
24. uni 1484 geboren. Am „Ichyrft kommenden“, d. h. nächft 
fommenden (vgl. Schiller und Lübben, Mittelniederdeutſches 
Wörterbuch, 4. Bd. Bremen 1878, S. 103) Johannistage werde 
er voll 70 Fahre: das ift Feine ungefähre Angabe, ſondern eine ganz 
genaue, wie auch bie Berufung auf David (vgl. 2Sam. 5, 4) 
zeigt. Bugenhagens eigene Angabe würde in diefem Falle mit 
derjenigen von Melanchthon und Ebert nicht ftimmen, und dieſer 
feiner eigenen Angabe würbe dann ohne Zweifel der Vorzug zu 


In welchem Jahre wurde Bugenhagen geboren ? 815 


geben fein, wenn er nicht felbft an einer andern Stelle fich fo 
äußerte, daß man doch wieder auf das Jahr 1485 als fein Ge- 
burtsjahr geführt wird. Es finden fih nämlich in feinem Kom⸗ 
mentar zum Jeremias (In Jeremiam prophetam Commentarium 
Johannis Bugenhagii Pomerani.. . nunc primum editum anno 
1546 Witebergae, auf der Univerfitätsbibliothet in Halle a. d. ©. 
und auf ber Dearienbibliothef ebenda) zwei Angaben von ihm über 
fein Alter. Blatt 565* Tefen wir; „Haec scripsi Anno Dom. 
MDXLVI. Undecima. Januarii. Anno aetatis meae sexagesimo 
primo.“ Und Bogen A IV, am Schluß der Widmung an ben 
Markgrafen Albert von Brandenburg fchreibt Bugenhagen: „Scripsi 
ex Witemberga, Anno domini MDXLVI. XVI. Januarii. 
Anno aetatis meae sexagesimo primo.* Die leßtere diefer 
beiden Stellen citiert fhon Vogt a. a. O., S. 404, Anm. 2, 
ohne fie für bie Seftftellung bes Geburtsjahres Bugenhagens zu 
verwerten. Nach diefen beiden mit einander Üübereinftimmenden An⸗ 
gaben ftand Bugenhagen im Januar 1546 in feinem 61. Lebens⸗ 
jahre; ift num, wie nicht bezweifelt wirb, der 24. Juni fein Ge⸗ 
burtstag, fo muß er im Jahre 1485 geboren ſein. 

Und Hierzu ftimmt nun jene Angabe in Bugenhagens Brief 
an Chriftian II. auch, wenn diefer Brief nur richtig datiert wird. 
Schumacher läßt ihn am 7. Yuni 1554 gefchrieben fein, was bei 
ihm kein Druckfehler ift, wie man aus der Einordnung dieſes 
Briefes in die ganze Reihe der Briefe Bugenhagens an den König 
Ehriftion III. ſieht. Aber fchon der Anhalt des Briefes ſelbſt 
zeigt, daß er nicht im Sabre 1554 gefchrieben fein kann. Bugen⸗ 
bagen ſchreibt S. 195: „Wir wiſſen hie nichts newes, das wir 
€. M. konten fchreiben; vom Neichstage höret man noch nichts; 
vnſer Bifitation Eccleſiarum ift angegangen.” Mit dem Reichs⸗ 
tage muß ber Reichdtag zu Augsburg gemeint fein, der erjt am 
5. Februar 1555 wirklich zufammentrat, von dem man im Juni 
1554 aud). noch nicht erwarten konnte, etwas zu hören; auch ale 
der Reichstag begonnen hatte, waren noch mehrere Monate hin- 
durch Feine Refultate der Verhandlungen zu melden; Bugenhapen 
fonnte im Juni 1555 fchreiben, daß man vom Reichstage, nüm⸗ 
ih von einem Erfolge der Friedensverhandlungen, noc nichts 


816 Bertheau 


böre; fchrieb er doch noch am 22. Yuli 1555: „im Keichttage 
ift nichts befchloffen, hoffen doc) einen guten Abſchied für Deutzſche 
lande“, Schumader ibid. ©. 205. — Die Visitatio Eccle- 
siarum aber, von welcher auch im Briefe Bugenhngens an ben 
König vom 30. Oktober 1554, aber ald von einer erft ſpä⸗ 
ter beginnenden, die Rede ift, vgl. ©. 202f., tft bie in- 
spectio ecclesiarum, von welder auch in Briefen Melanchthons 
vom 10. und 14. April 1555 (Corp. Reff. VII, Sp. 458 
u. 460) bie Rede ift, die um Ende März 1555 begonnene ſeitchen⸗ 
vifitatton in Sachſen. Werner fchreibt Bugenhagen dem Könige, 
daß er ſchon in einem früheren Briefe fi für Die Fuchsfelle be 
dankt babe, welche der König ihm gefchenkt Habe, &. 194 mıten; 
aber erft in dem Briefe vom 30. Oftober 1554 bittet er dem 
König um „gute Schwedische Füchffe zum Futter unter einen fangen 
Rod, vnd unter einem Leip Rod, bamit ich müge diefen alten Bugen⸗ 
hagen warm halten Im Dienft Ehrifti, fo lange als Got wil*, 
©. 203 f.; der Dank fir den Empfang diefer Felle kann ale 
nicht in einem Briefe, der einem vom Juni 1554 noch voran 
ging, abgeftattet fein. Endlih, um nur noch eins zu ermähnen, 
bittet Bugenbagen im Narhtrage zu unferm Briefe den König, er 
möge Melanchthon und ihm ihr Gnadengeld von diefem Jahre 
1555 duch den Boten Brefins Scherff, ber diefen Brief dem 
Könige überbrachte, zukommen lafien, eine Stelle bes Briefes, von 
welcher jeder Herausgeber hätte merken müfjen, daß fie mit der 
Dotierung des Briefe aus dem Jahre 1554 unverträglich ifl, 
wenn aus ihr allein auch nicht zu erfennen if, in welcher Jahres⸗ 
zahl ein Verfehen ftattfindet. Dürfen wir aber nad) allen biejen, 
dem Briefe felbft entnommenen Anzeichen jagen, daß ber Brief 
aus dem Jahre 1555 fein muß, fo gewinnt es große Wahr 
Scheinlichleit, daB er am 7. Juni 1555 gejchrieben fei, ba wir 
von diefem Tage (außerdem auch vom 6.) einen Brief Meland- 
tbons an den König haben, vgl. Corp. Reff. VIII, Sp. 501 
u. 497; benn die Neformatoren in Wittenberg pflegten ihre Vriefe 
an den König durch denfelben Boten zu ſchicken und fchrieben we 
möglih dann an ihn, wenn gerade ein ihnen ſchon bekannter Bote 
abging; fo haben wir 3. B. vom 22. Yult 1555 einen Brief 





In welchem Jahre wurde Bugenhagen geboren ? 817 


Bugenhagens und einen Melanchthons an ben König, vom 30. April 
1556 einen Brief Bugenhagens mit Zufag vom 1. Mai und vom 
1. Mai 1556 ein Schreiben Melanchthons an ihn u. |. f. Es 
Ideint, al8 wenn Bugenhagen die Briefe dann fammelte und dem 
Boten übergab. 

Iſt es nach dem bisher Angeführten fchon nicht mehr zu ber 
zweifeln, daß der betreffende Brief Bugenhagens, in welchem er 
angiebt, dag er am "zunächft eintreffenden Johannistage voll 70 
Jahre alt werde, am 7. Juni des Jahres 1555 gejchrieben ſei, 
fo wird dieſe Überzeugung zu voller Gewißheit, wenn wir die Ants 
worten des Königs Ehriftian III. auf die Briefe Bugenhagens an 
ihn vergleichen. Diefe Briefe des Königs und weitere biefen Brief» 
wechſel betreffende Angaben find mit einer großen Anzahl Briefen 
an andere Neformatoren u. |. f. veröffentlicht in C. F. Wegener, 
Asrsberetninger fra det kongelige Geheimearchiv inholdende 
Bidrag til Dansk Historie af utrykte Kilder, 1. Band, Kopen- 
bagen 1852-1854, 4°, ©. 215 ff. (Bpl. bierzu die Abhandlung 
von Gymnaſiallehrer Dr. Friedr. Bertheau, „Über die Beziehungen 
Ehriftions IL. von Schleswig. Holftein und Dänemark zu den 
Wittenberger NReformatoren“, im Programm bes Ratzeburger Gym⸗ 
naſiums auf Oftern 1884.) Es wird uns ſchon von nicht ge- 
tinger Bedentung fein, dag wir aus den Augaben, die Wegener 
aus dem Löniglichen Archiv in Kopenhagen mitteilt, erfehen, daß 
es in der That einen Brief Bugenhagens an ben König vom 
7. Juni 1555 gegeben hat, vgl. S. 270; denn die Vermutung, 
daß unſer Brief diefer fei, gewinnt dadurd einen ftarlen Halt. 
Ganz befonders wichtig aber ift es, daß eine Vergleichung ber 
Briefe Bugenhagens bei Schumacher und des Königs bei Wegener 
deutlich zeigt, daß feinem Inhalte nach unfer Brief der am 7. Juni 
1555 gefchriebene fein muß. Am leichteften einleuchtend wird das 
aus den das Gnadengehalt und die Fuchsfelle betreffenden Mit 
teilungen im Briefwechfel, die wir deshalb noch überfichtlich zu⸗ 
ſammenftellen wollen, ohne bier auf den weitern Inhalt ber Briefe, 
der das gewonnene Reſultat nur beftätigt, weiter einzugehen. Was 
das Guadengehalt angeht, jo fel zuvor nod daran erinnert, daß 
Chriſtian III. an Luther, Melanchthon uud Bugenhagen zuerft 


818 Bertheau 


jährlich „Küchenjpeife* fandte (Butter und Heringe, vgl. Bugen⸗ 
bagens Brief an .den König vom 17. Januar 1542 bei Schn- 
mader I, 29; und Kolde, Analecta, ©. 396, Anm.); her⸗ 
nach, als ſich Herausfiellte, daß diefe Sachen nicht richtig abge- 
liefert wurden, verwandelte der König diefe Gabe in ein Geld- 
geſchenk; jährlih auf Jakobi (25. Juli) ſollte jeder der drei Ge⸗ 
nannten 50 Gulden erhalten, die fie durch einen eigenen Boten auf 
des Königs Koften follten einkaffieren laffen (vgl. die Briefe 
Ehriftians IH. an Bugenhagen vom 25. Juni 1544 und an 
Luther vom 5. Yannar 1545, Däniſche Bibliothek IX, 180; 
Kolde, Analecta, ©. 409 Text u. Anm.); das Geldgefchent 
wurde dann fchon im Jahre 1545 auf 50 Thaler erhöht (vgl. 
Burkhardt, Luthers Briefwechiel, S. 463 Anm.) und biefer 
Gehalt nad Belieben der Empfänger auf Margarethä, Jakobi oder 
Bartholomäi, d. h. 12. Yuli, 25. Juli oder 24. Auguft fällig 
geftelit (vgl. bef. in Bugenhagens Schreiben an den König vom 
12. April 1545 bi Schumader I, 39). Am 2. November 
1545 fendet der König dann die 150 Thaler für das Jahr 1545 
und erſucht abermals, die jährliche Einlaffterung durch einen be 
fonderen Boten auf feine Koften vornehmen zu laſſen; vgl. Dä⸗ 
nifche Bibliothek IX, 197 ff. Diefe Angaben, die fich Leicht ver 
mehren Tießen, werden genügen, um die etwa 10 Jahre [päter fal⸗ 
(enden Erwähnungen diefes jährlichen Geldgeſchenkes, die für die 
Fixierung des Datums des und intereffierenden Briefes in Be⸗ 
tracht kommen, zu verftehen. Wir teilen fie und die die Fuchs⸗ 
felle betreffenden möglichft kurz in chronologifcher Folge mit. 


1553. November 30: Brief Chriftians an Bugenhagen bei 
Wegener, S. 267. Der König meldet, daß er die Penfion 
von je 50 Thalern von diefem Jahre für Bugenhagen und 
Melanchthon durch den Boten Scherff fende. 


1554 Oktober 30: Brief Bugenhagens an Chriftian III. bei 
Shumader, S. 197—204. Bugenhagen bittet für ſich und 
Melanchthon um das Gnadengeld, das der König „dieſem 
Brofe Scherff“ ihnen zu bringen gnädiglich befehlen wolle; 
er Tann alfo doch nicht wohl im Juni 1554 fchon einen Brief 











In welchen Jahre wurde Bugenhagen geboren? 819 


durch Scherff an den König gefandt haben, ba ber König in 
diefem Falle das Gelb Schon im Juli würde haben auszahlen 
laffen. Mit diefem Briefe vom 30. Oktober kam Scherff am 
2. Dezember beim Könige an (Schumacher, ©. 304, Wegener, 
©. 268); mit dem Briefe Melanchthons vom 7. Juni 1555 
war Scherf vor dem 1. Zuli beim Könige (Wegener, S. 270); 
er würde alfo mit einem Briefe Bugenhagens vom 7. Juni 
1554 auch ficher Anfangs oder fpäteftens Mitte Juli beim Könige 
eingetroffen fein. — Bugenhagen bittet um gute ſchwediſche 
Füchſe, vgl. oben S. 317. 


1554. Dezember 8: Chriftian LI. ſchreibt an Gertt Neutter 
in Lübe um „etliche gute Fuchſe zw einem langen vnd weitten 
Rode, mie die Geiftlichen pflegen zu tragen“. Wegener, ©. 268. 


1554. Dezember 9: Chriftian III, ſchreibt an Bugenhagen, 
er babe den Brief desfelben vom 30. Ditober am 2. Dezember 
erhalten; es feien leider Leine Fuchsbälge vorhanden geweſen, er 
(Greibe aber an „Gertt Reuter zu Lübeck“, daß der welche 
ſchice. Ferner meldet der König, daß er die 100 Thaler 
Penfion (alfo für das Jahr 1554) durch Scherff mit diefem 
Driefe fende. 


1555 in den Faften fandte Bugenhagen durch Scerff einen 
Brief an den König, in welchem er fich für die ihm überfandten 
30 Fuchsbälge und das Gnadengehalt vom Jahre 1554 be- 
dankt, Shumader, S. 194. Scherff, der damals einen 
Ratsherrn aus Schweinfurt, der ihn zum Geleitsmann gemietet 
hatte, auf deſſen Reife begleiten mußte, fam damals nicht felbft 
nad Dänemark zum Könige, fondern gab den Brief einem an- 
dern Boten; Shumadher, ©. 205. (Der Brief ift nicht an- 
gefommen.) 


555 nad Oftern: Brief Chriftions III. an Bugenhagen durch 
den Boten Sturglopff gefandt. Diefen Brief erhielt Bugenhagen 
etwa Mitte Juli, vgl. Shumader, S. 204; wir kennen 
ihn nicht. ALS der König diefen Brief fchrieb, konnte er den 
zuleßt ermäßnten Brief Bugenhagens an ihn _ un haben. 
Theol. Stud. Jahrg 1886. 


320 Bertheaun 


1555. Juni 7: Sagenhagen an, Chriftian III., — eben unfer, 
von Schumqgcher ins Jahr 1554 geſetzter Brief, Schumader, 
S. 194 - 197. Bugeyhagen meldet, daß er in den Faſten durch 
Scherff dem Könige einen Brief geſandt Habe, im welchem er 
fih für da8 Gnadengeld vom Jahre 1554 und für die Füchſe 
bedankt habe; aber Scherff fei au ber Vollendung der Reife ge: 
hindert worden und fei ohne Briefe vom Könige zurüchgelommen, 
und nun wife er, Bugenhagen, nicht, ob der König den: Brief 
erhakten habe, „Bud bitien Dominus Philippus vnd ich, E.M. 
wolte dieſen Brofio Scherff vertrawen vnſer gnaden &elt 
von diefem Jahre MDly, das wir fo wedder ay di 
rechte Zeit kommen“, ©. 196 f. 





1555. Juli ı: Chriftion IEL an Bugenhagen, — Brief nidt 


vorhanden; eben an demjelben Tag fchrieb der König an Me 
lanchthon (vgl. Wegener, ©. 270) als Antwort auf deſſen 
beiden Schreiben vom 6. und 7. Juni (ngl. oben &. 318), jo 
daß der König den gleichzeitig abgefandten Brief Bugenhagens 
auh am 1. Juli ſchon in Händen gehabt hat und, der Brief 
vom 1. Juli an Bugenhagen eine Antwort. auf den Brid 
Bugenhagens vom 7. Yuni enthielt. 


1555. Yuli 22: Bugenhagen an Chriftion II., der Schu 
mader I, ©. 204 ff., abgedrudte Brief. Bugenhagen hat den 


ihm durch den Boten Sturtzkopff gefandten Brief erhalten, aber | 


noch nicht den am 1. Juli durch Scherff geſchickten. Bugenhagen 
weiß daher noch nicht, ob der König feinen in den Faſten gejchrie 
benen Brief erhalten Hat, da Scherff, der ihm Antwort bringen 
Soll, noch nicht nad) Wittenberg zurüdgelommen ift. Da Scerfi, 
wie oben angegeben, den Brief vom 7. Juni überbracht hat und 
den Brief des Königs vom 1. Juli zurückbringt, aber am 22. Juli 
noch nicht in Wittenberg ift, fo paßt Bier wenigftens wieber alles 
aufs fchönfte, wenn, min annehmen, baßı.ber-unds vorliegende Brief 
vom 7. Juni im Jahre 1556x geichriehen Tri. Obfihon: ber Bro 
ſius Scherff, fo viek wir: wißien,. auch im Junj 4554 non Witten 
berg nach Dänemark: gegangen: fein könute, fo widerſprechen die 
ihn betreffenden Angaben dod auch unferer Annahme nicht 


In welchen Jahre wurde Bugenhagen geboren ? Hi 


Es ift nicht nötig, den Briefwechſel weiter zu verfolgen. Auch 
auf die Geſchichte der Fuchspelze, bei denen Bugenhagen durch den 
Lübecker Kaufmann wiedet hintergangen war, wie früher bei Butter 
und Hering, weiter einzugehen, gehört nicht zu unſerer Aufgabe. 
Daß aber Bugenhagen in der That am 7. Juni 1855 geſchrieben 
hat, ex werbe am demnüchſt kommenben Yohanmistdge 70 Jahre 
oft, das fcheint uns! aus der Zuſammenſtellung der Angaben dieſer 
Briefe nnumſtoößlich feſtgeſtellt zir fein. Es ftͤmmen derinch die 
Angaben: Bugenhagens, aus denen ſein Geburtsjahr berechnet werden 
kann, völlig zu eiitander, und wir werben nicht fehlgehen, wenn 
wir am 24. Juni 1885 feinen 400jührigen Geburtstag feiert. 


2. 
Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedel. 
Eine Studie 


Guſtavy Röoſch. 





Die Erzahlung von der Begegnung Abrahums niit Meilhiſedek 
in Ger 14 wäre eine Utkunde über den Sufammenhang: ber 
hebrtiifthere Religionsheſchichte mit der anberweitigen‘ Temtttifchen;- 
welcher an Alter und Werk Feine gleichläme, wenn ihre hiſtoriſche 
Zuperfäfftgkeit' außer ZIweifel wire, Neueſtend wird jedoch diefe‘ 
Erzählung ſchon dadurch verdächtig, daß fie einem Wberlieferungs- 
reis und «Stoff angehört, dem die von de Wette begonnene, von 
Ed. Reuß, Vatke und Graf weitergebildefe und endlich von 
Wellhaufen bis zu den letzten Konfequenzen durchgeführte. Kom⸗ 
poſttionskritik des: Hexatenchs die ihm bisher von'den theologiſchen und 
profanen Geſchichtswiſſenſchaft gleich bereitwillig als jelbftierftänd-" 

21* 


822 | Röſch 


Lich zugeſtandene Bedeutung für bie Rekonſtruktion des hebräiſchen 
Altertums aus einer poſitiven in eine negative verkehrt hat. Die⸗ 
ſem aprioriſchen Mißtrauensvotum der Kritik leiſtet ſie ſodann 
ſelbft noch durch die Konfiguration ihrer Schale wie ihres Kerns 
einen leidigen Vorſchub. 

Betraditen wir zumädft ihre Schale, die pentapolitanifce 
Kriegsgefchichte, fo hat diefe Schon v. Bohlen !) zu einer Dichtung 
ohne Wahrheit degradiert, indem er in den Invaſionskönigen Nad- 
bilder der kteſianiſchen Zeitgenofjen des Untergangs des aſſyriſchen 
Reiches, nämlih in Amraphel von Sinear den Sardanapal, in 
Arioh von Elafjar den Arbaces und in Kedorlaomer von Elam 
den Beleſys, entdedit zu haben glaubte. An diefen Schatten heißt 
und die Affyriologte mit einem Seufzer für ihre ewige Ruhe vor- 
übergehen. Gebieterifcher verlangt dagegen Hitig ?) unjere Auf 
merkſamkeit, wenn er in dem, wie wohl allgemein anerkannt ift, 
augenscheinlich ſymboliſchen und alſo ungeſchichtlichen Charakter der 
vier Nebellennamen: „Frevler, Schurke, Schlangenzahn und Skor⸗ 
piongift“, wie er fie überfegt, in der Unzulänglichkeit der Streit. 
fräfte Abrahams gegen das ftegreiche Invafionsheer und endlich in 
der Gleichförmigkeit des elamitifchen Einfallsdatums mit dem affy 
rifhen in 2 Kön. 18, 13, welche den Kedorlaomer als einen Refler 
Sanheribs erfcheinen laͤſſe, zu ärgerlihe Verftöße gegen die ge 
ſchichtliche Wahrfcheinlichkeit findet, als daß fie nicht dem Geſchichts⸗ 
fundigen imponieren müßten. Die Vorwürfe Hitigs hat Nöldeke?) 
in verfhärfter und vermehrter Faſſung wiederholt. Er premiert 
nicht allein den fymbolifchen Charakter der Rebellennamen, deren 
zwei erfte er nad den alten Rabbinen mit jedermann auf ya und 
y zurüdführt, während er über die zwei legten ein Non liquet 
abgiebt, wenn man nicht etwa bei "arpy mit dem Samaritaner 
das Reſch in ein Daleth Torrigieren wolle, um dann das Wort 


1) P. v. Bohlen, Die Genefis, Hiftorifchekritifch erläutert. 1885. 

2) Ferd. Hitzig, Die Pfalmen. 2 Bde. Erſte Ausgabe 1835 u. 1836. 
Zweite Ausgabe 1863 u. 1865. Ferner: Geſchichte des Volles Israel. 1869. 

3) Th. Nöldeke, Unterſuchungen zur Kritik des Alten Teftamentes. 1869. 
Abſchnitt 8: Die Ungeichichtlichkeit der Erzählung Gen. 14, ©. 156-172, 


Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 923 


zu ber Überjeung: „der Name ift verloren“, zu vofalifieren, fons 
dern er bemängelt auch, und zwar hauptſächlich wegen des an⸗ 
geblih unauffindbaren Elaffar und ber fatalen pri, die wie ein 
Mißverftändnis der air an in Gen. 10, 5 ausfehen, die Namen 
der Invaſionskönige als ein Gemengfel von atomiftifcher Überlieferung 
und zweddienlicher Erfindung. Ya, er argwöhnt fogar in dem 
Blachfeld des Zufammenftoßes der vier Könige mit den fünfen, 
dem vormaligen Thal Siddbim an der Stelle des Toten Meeres, 
einen geologifchen Anachronismus, wobei er erft noch durch die 
Beſchränkung des Schlahhtfeldes auf den füdlichen, feichten Teil des 
Sees, deſſen Entftehung in einer relativ gefchichtlichen Zeit wenig. 
ftens möglich fein könnte, der Glaubwürdigkeit der Angabe mit« 
leidig zuhilfe kommt. Nicht weniger unwahrſcheinlich erfcheint ihm 
die Strategie der Fremden. Er betont hierbei zuerft ihren Zug 
duch lauter, zum Zeil mythiſche, Urvölker, von denen er, wie 
don &efenius und Tuch, die fonft unbefannten dom in om mit 
beim der Ammoniter in Deut. 2, 20 unter der Borausjegung 
einer alten Verderbnis an einer der beiden Stellen identifizieren 
möchte, um dem Lejer den Verdacht eines fünftlihen Archaismus 
nabezulegen. Bon den Völkern, durch die der Zug geht, wendet 
er fi zu der Nichtung desselben durh Ammon und Moab auf 
da8 Gebirge Seir und diefem entlang nach El⸗Pharan oder Aila 
an der Nordfpige des Mlanitifchen Meerbufens und von da wieder 
nördlich nach Hazezon Thamar oder Engeddi mit dem fchließlichen 
Angriff auf das Mebellengebiet und verurteilt fie wegen der Un⸗ 
zugänglichkeit der genannten Gegenden für ein Kriegäheer und wegen 
der Zweckloſigkeit des Umwegs zu der Züchtigung ber Pentapolis 
bei der befannten Scheu ber altaftatifchen Eroberer vor ftarten und 
nachhaltigen Anftrengungen als gefchichtewidrig. Die von Tu!) 
verfuchte Rechtfertigung der Zugrichtung mit der Hypotheſe der 
Sicherung der Handelsftraße von Damaskus nah Aila findet er 


1) Frieder. Tuchs Kommentar Über die Genefis. Zweite Auflage beforgt 
von Arnold und Merx. S. 257— 283: Bemerkungen zu Geneſis Kap. 14, 
aus: „Zeitichrift der Deutihen Morgenländifchen Gejellichaft”, Bd. I, S. 161 
bis 194. 





BA | Röſch 


im Kontexte nirgends angedeutet, und wenn er auch ihre Möglich⸗ 
keit zugeben wollte, jo könnte er doch die Hinausſchiebung des An- 
griffs auf die Bentapolis in keines Weife fich zurechtlegen, de die 
Handelsftraße durch deren blühende Niederung und nicht über das 
anpabitifche Gebirge hätte führen müſſen. Ebenſo befremdlich ift 
ihm bie Verfchanung des eigentlichen Kanaan ua der Nieder⸗ 
mwerfung der Amalekiter weitlih von Seix. Weiter legt er mit 
Hitig ein Haupfgewicht auf die Unzulänglichkeit des Aufgebots 
Abrahams zum Siege, Die Rüdfihtnahme auf das Kontingent 
feiner drei Bundesgenoſſen erſpart ey fih duch deren Sublimation 
zu Horgeg eponymi ber Umgegenb yon Hebron. Der erſte ber 
drei amoritiſchen Brüder ſoll bie Berfanifilation des nach der 
Grundſchrift alten Namens Mamre für Hebron, ber zweite bie 
deq Yachrs Eskol und der dritte die bes Dſchebel Neir, beide in der 
Nachbarſchaft Hebrons, fein. Den chronologiſchen Verdachtsgrund 
endlich, mit weldem Hitzig fchließt, hat Röldelt ſchon am Ein⸗ 
gang in den Vorwurf einge willkürlichen Filtion zur Simulgtion 
hiſtoriſcher Genguigkeit gelleidet, mag vor ihm ſchon Tuch!) ge⸗ 
than Bat. | 

Zeigt bie Schale eing künſtliche Bildung flatt der naturwüchſigen, 
fa gehärt freilich die pentopolitaniiche Kriegsgeſchichte unter die Apg« 
kryphen ber Geſchichte. Iſt dem aber guch wirklih To? muß ber 
Schraeiber dieies trotz ber prophetiſchen Porausſicht Nöldekes, daß 
er mit feiner Beweigführung den unglücklichen Kombinationen keines⸗ 
wegß rin Ende gemacht hahen merde, auf ben Grund der Pflicht 
bin: Tdvrq 8 dauudlere, 70 ehr yarixare, fragen. 

Beginnen wir alfo die Prüfung ber Einwürfe, fo heweiſt zu 
nüächſt die allgemein anerlannte Symbolik in den Rebellennamen 
an und für ſich nichts gegen die Gejrkichtlichkeit ihrer Träger, de 
fig lediglich nur das den Hebräern mit den Griechen unb Mömern 
aemeinfgme Webärfnis und Verfahren darthut, harbariſchen Namen 
wo möglich einen heimifchen Bau, Laut und Sinn zu geben. Daß 
es ſich aber in&befondere bei diefen Namen nur um Umänderung 
und nicht um Erfindung handle, macht ber ammonitifche Parallel: 


1) Tuchs Kommentar, S. 247. 





Die Begegnung Abruhams mit Melchiſedek. 80% 


meint Sanibn ?) Für Stmeab, den König von Adama, wenigſtens 
wahrſcheinlich. Was fodann die Namen der Invafionskönige an⸗ 
delangt, jo bat in ben letzten Jahren das Glück und Geſchick ber 
Affyrielogen, wenn auch noch feine Inſchriften von ihren Trägern 
oder über fie fo doch in den Kamen eines Amar⸗Sin von Ur und 
eines Eriſm)⸗Aku von Lurſam (v), ſowie zweier Kudur von Elam 
im dritten Yahrtaufend und eines Königs KudurrisBel ?) vor Babel 
im elften Jahrhundert vor unferer Zeitrechnung neben dem eines 
Gottes Lagamurn Korrelate zu den Königenamen Amtapbel 
von Sinear, Arloh von Elaffar und Kedorlaomer von Elfam ®) 
aufgefunden und ums für das bisherige Mißlingen der Befchaffung 
rind Begenbildes zu Thideal, dem König ber „Heiden“, mit der 
Korrektur der Iekteren fatnlen Nationalität burch de, wie es ſcheint, 
babyionifgen Volkenamen Gutium ober Butt *) entſchübigt. Doc 
niht allein zu den Namen, fondern auch zu dem Feldzug der In⸗ 
vbaſionskönige nach Kanaun haben uns die Aſſyriologen ein Biftori« 
ſches Korrelat in dem einſtigen Herrſchafisbereich eines uralten 
Kuduriden über Sudchaldäa und das „Weftland“ verſchafft. ind 
nicht bloß die Namen laſſen ſich in den Keilſchriften rekognoszieren, 
ſondern man fühlt fi) durch die aſſyriologiſchen Erhebungen ber 
neneften Zeit fogar verfucht, mit Fritz Hommel ®) eine Wahrfiheins 
lichleltsrechnung über dad Datum der Invaſion vom Enphrat her an⸗ 
zuftellen. Iſt namlich Arioch von Elaffar mit Eriakı von Larſam 
identiſch, ſo ift ev ein Zeitgenofſe des babylonifchen Könige Cham⸗ 
muragas (uder — rabi), da er an diefen nach Keilurfunden Thron 
und Neid) verlören bat. Chammuragas kommt Hurt als ſechſter König 
auf der don Pinches verdffentlichten Keiltafel vor, welde anf ber 


1) Frieder. Delitzſch, Wo lag das Paradise? ©. 294 u. d. W. 
Anmön. Eb. Schrader, Die Heilinfchriften und das Alte Teftament. Zweite 
Ausgabe. 

2) Eine Notiz aus dem württ. „Staatsanzeiger“. 

8) Delitzſch a. a. O., S:224 md Schrader a. a. O., ©. 185—137. 

) Schrader ae O., © 137. Delitzſch a. a. D., ©. 233 — 234. 
Mürdter, Kurzgefaßte Seidicäte Babyloniens und Afriene nad) ben Keil⸗ 
ſchriftdenkmälern. S. 8I—82. Fritz Hommel, Die ſemitiſchen Völker und 
Sprachen I, 2, Abſchnitt: Das Hohe Alter der babyloniſchen Kultur, 

d) Fr. Soniniek a. a. O., S. 328845. 


324 Rh 


Vorderſeite 11 Könige einer Dynaftie von Tintir oder Babylon 
je mit der Zabl ihrer Negierungsjahre und auf der Rückſeite eben, 
jo viele jedoch von dem Schreiber der Tafel feltfamermeife zu 10 
zufammengezäßlte Könige einer Dynaftie von Shisku (— Tip nad 
Lauth) ohne ihre Regierungsjahre aufführt. Die beiden Königsliften 
biefer Tafel waren aber auch auf der ſechskolumnigen fragmentierten 
Königstafel eingetragen, welche G. Smith für das Original der 
Dpnaftieen des Berofus gehalten hat, und zwar ftanden fie in ber 
gleichen Aufeinanderfolge, d. h. die Zintirfönige zuerft, oben auf 
der vierten Kolumne, wie die wenigen noch erhaltenen Namen be 
weifen. Da nun von ber fünften Kolumne noch 15 Zeilen übrig 
find, die mit einem König Nambar-fhigu anfangen, der ungefähr 
der achte der fechften (afiyriichen) Dynaftie bes Beroſus ift, welde 
1273 v. Chr. beginnt, fo läßt der fragmentierte Raum zwiſchen 
der vierten und fünften Kolumme, wenn man 75 Zeilen auf bie 
Kolumne rechnet, nah Hommel auf den Berluft von ungefähr 66 
(65) Königsnamen fchließen, welche die 49 der vierten, die 9 der 
fünften und die 8 (7) erften der jechften Dynaſtie des Beroſus ge⸗ 
wefen fein werden, fo daß alfo die Zintir« und Shisku⸗Könige feiner 
dritten und zweiten Dynaftie entfprecden müffen, wie Lauth und Hommel 
annehmen. So wahrjcheinlich das nun auch ift, jo hat die Sache doch ihre 
Bedenken, da die Aufeinanderfolge der beiden Dynaſtieen auf den 
Reiltafeln bei Beroſus gerade umgekehrt ift, infofern er „bie medi⸗ 
[chen Tyrannen“ den (chaldäifchen) Königen vorangehen läßt, währen) 
die Shiskulönige den Tintirkönigen nachfolgen, und da man ferner 
die Zahl acht der mediſchen Tyrannen bei Beroſus in bie Zahl 
elf der Shiskulönige, ſowie die 248 Negierungsjahre der dritten 
Dynaſtie in die 304 der Tintirkönige korrigieren muß. Lauth nimmt 
die erftere Korrektur wegen der Einführung der Könige der britten 
Dynaſtie mit „rursus“ nicht fchwer. ‘Der Schreiber dieſes aber 
bält fie wegen der Unficherheit des Keiltafeljchreibers in der Summe 
der Shisfulönige überhaupt für unnötig. Nimmt man nun das 
Wagnis der Verkehrung ber keilfehriftlichen Aufeinanderfolge der 
Tintir⸗ und Shiskudynaſtie in die berofifche der zweiten und dritten 
Dynaſtie und die Korrektur der Jahrſumme der dritten Dynaftie 
auf fih, und rechnet man dann von 747 v. Chr. um bie berofiſchen 








Die Begegnung Abrahams mit Melchiiebel. 827 


Opneftieenjahrfummen 526 -+ 245 + 458 — 1229 bis zum Ende 
der dritten Dynaſtie und von hier aus wieder um die keilſchrift⸗ 
lihen Hegierungsjahre der ſechs letzten Könige von Tintir mit 
31 +21 +25 +25 + 35 + 55 = 192 bid zu Chammuragas 1 
zurüd, jo erhätt man hierfür 747 -- 1229 + 192 = 2168 v. Ehr,, 
wofür Hommel ?) rund 2150 v. Chr. fett. Nehmen wir nun an, 
daß Chammuragas' Eroberung von Larfam in bie Mitte feiner 5öjäh- 
rigen Regierang, aljo auf 2168 — 27 — 2141 v. Chr. gefallen fei, 
jo muß Eriaku's Poläftinazug felbftverftändlich vorher, aber nicht 
etwa gar 30 Fahre vorher, wie Hommel will, ftattgefunden haben. 
2145 v. Chr, aber ift das bibfiihe Jahr der Berufung Abrahams 
nad den älteren Ehronologen ?). Ein ähnliches Refultat erhält man, 
wenn man von den 1903 Jahren der aftronomifchen Beobachtungen, 
welhe Kallifthenes nad) der Einnahme von Babylon durch Alerander 
den Großen an Ariftoteles fanbte, auf Sargen von Agade ober 
Agane, den großen litterarifchen und namentlich auch aftronomtfchen 
Sammler, zurückrechnet, denn 330 v. Chr. 4 1903 — 2233 v. Chr. 
ımd zwifchen Sargon I. und Chammuragas wiffen wir bis jegt nur 
bon Sargond Nachfolger Raramfin und einer Königin Ba’u-Mit ®). 
Zu demfelben Ergebnis führt die Gründung Babylons, von dem 
wir in der That vor der Tintirdynaftie Teine Spur Haben, bei 
Philo von Byblus und Diedor 1002 Yahre vor dem trojanifchen 
Krieg, deffen Datum nach der Marmordronit von Paros 1218 
v. Chr. ift, denn 2220 v. Chr. tft eben die rumde Anfangszahl 
der dritten Dynaſtie des Beroſus. Wenden wir uns von ben 
Kriegsherren zu dem Kriegsfchauplat, fo wird man gegen den be 
haupteten geologifchen Anachronismus in der Umwandlung bes 
Thale Siddim zum Toten Meer immer noch mit Tuch an „bie 
ſchwarzen Waffer“ appelfieren dürfen, welche die Stelle der 1138 
n. Chr. durch ein Erdbeben verfunkenen perfifchen Stadt Dfhenzeh, 
ausgefüllt Haben. Der Zug dahin burch Lauter zum Zeil fogar 
möthifche Urvölker wird durch das Zeitalter begreiflich, in welchem 





A. a. O., S. 342. 
2) G. Röſch, Zeitrechnung, bibliſche, in Herzog, Realene. 1. Ausg. ©, 437. 
I)A a. O. ©. 388, 


88 I 17 


diefe Völker noch bem Leben, und nicht ſchon der Sage angehärten. 
Die Richtung des Zugs wird durch bie Hppothefe Tuchs vottreff⸗ 
Ti verteidigt, und dieſe ſelbft wird durch die Eiawendung, baf ihre 
Andeutung im Texte fehle, infofern nicht befeitigt, als ihre An 
deutung in ber Ausdehnmg des Zugs Bis Mila lit. Die für 
Nöldele unverantwortliche Verzögerung bed Angriffe auf die Beute 
yolis lann wohl mit der Rotwendigkeit der vorherigen Unterwerfung 
der umwohnenden Berg⸗ und Wüftennöller zur Sicherheit vor ihnen 
während der Kämpfe und Genüffe um bas und in dem Capua det 
Ghor entfchuldigt werden. Die Verſchonung bes eigentlichen Rananne 
von dem Imvaſionsheer wird das Refultat ber von unbekannten Mo⸗ 
tiven beftimmten Erwägungen feiner Führer gewefen fein. Die 318 
Knechte Abrahams muſſen mit dem Kontingent feiner amoritiſchen 
Bundesgenoffen verftärft werben. Das Tann freilich nur dam 
geſchehen, wenn man bie Bundesgenoſſenſchaft ſelbſt durch die Not: 
wendigfeit und Thatſache mehrfacher Bimdniffe der hebräifchen Ein- 
wanberer in Kanam mit den eimheimifchen Clans, wie fie von 
Gen 21, 22ff. 23 und 26, 28ff. bezeugt find, für verbürgt er 
achtet und infolge beifen die Bundesgenoſſen für Biftorifche Per: 
fonen *), wenn auch mit unbiftorifchen ber Lolalitäit ihrer Wohn 


1) Hiſtoriſch unanfechtbar tft wenigftens bie nationale Charnfterifierung be 
Bundesgenofien Abrahamıs als Amoriter, wenngleich der Vrieftercodeg bie Hethiter 
zu Eimvohneru Hebrous in der Zeit Abrahams macht, da wicht bloß Amos 2,9. 10, 
fondern auch die ägyptifchen Denkmäler aus der Rameffidenzeit die einzelnen Gebiete 
und Vollsftämme Paläſtinas umter dieſem Generalnanten zufammenfaffen, vol. 
Brugſch, Geſchichte Ägyptens unter ben Pharaonen, an ben im Regiſter zu 
ben Ramen „Amori“ angeführten Stellen, und: Ed. Meyer, Kritik der Br 
richte Über die Sroberung Paläſtinas, in B. Stabe, Zeitichrift file alttehe 
mentliche Wiffenfchaft, Jahrg. 1881, ©. 127. Übrigens beruht auch die Ber 
fegung von Hethitern nad Hebron nicht bloß auf ber Willkür des Prieſter⸗ 
coder, wie Ed. Meyer a. a. O. ©. 125, Anm. 3 meint, fordern auf ber 
Hiftorifchen Thatfache der hethitiſchen Hegemonie in Weftaften vor dem Auflommen 
der affyriſchen Macht, welche die Anlegung hethitiſcher Waffenplätze tief im 
Süden zum Shut gegen Agypten involviert. Solche Waffenpläge mögen nad 
Num. 13, 22 Hebron und fogar Zoan⸗Tanis im Delta gemweien fein. Die 
hethitiſchen Garnifonen Hinterließen felbftverftändlich einen Nieberichlag it der 
Bevölferung, ber im Lauf dev Zeit dieſer fogar den Ramen der Frenchlinge 
neben dem eigenen urjprünglichen aufbrängen konnte, 


Die Begegnung Wrahams mit Melchiſedek. 229 


fitze, ſei es pon der Tradition felbft ober erſt vom dem Redaktor 
derſelben, für fie entnemmenen Namen nimmt. Den Sieg Abra⸗ 
hams endlich beleuchten die Griechenſiege ber die Berferheere. Das 
Kriegedatum aber wird ſchließlich entmeher als ein chronologiſches 
Trümmerſtück aus den allmählich verwirsten und erblagten Erinne- 
tungen an die Geſchicke der Väter in der Uxzeit der elomitifchen 
Hegemonie im ben. Euphratländern, ober als pine in Babylon ge 
machte Anleihe aus den bortigen Aufzeichnungen gleich ber Eponhmen⸗ 
und Verwaltungslifte zu bᷣehandeln fein... - 

Genügen biefe Schutzmintel gegen die Hitzig⸗Nöldeke'ſchen Ans 
griffe nicht, jo find ‚nach drei weitere Hauptwaffen zur Verteidigung 
de8 fraglichen. Kriegsberichts in Gereitſchaft. Diefe find die völlige 
Annlogie dep politischen Verhältniſſe Kananns im Buch Joſua mit 
den in Gen. 14 zu Tage tretenden und bie unwilllürliche Über 
einſimmung des friegerifchen Eingreifens Abrahams mit bem älte⸗ 
ſten Traditigus⸗ und Relationobild in Gen, 34, 25; 48, 22 und 
49, 5 von dem Gebaren ber Hebräer in Kanaan mährend der 
borägpptiichen . Zeit, zwei Umftände, auf welche ber eine ber beiden 
Redaktenxe dieſer Zeitſchrift, Herr Profeffor D. Ed. Riehm, den 
Schreiher dieſes qufmerkſam gu machen die Güte gehabt hat, ſowie 
endlich die ohne den Rückhalt der geſchichtlichen Thatſächlichkeit rein 
unmogliche Schilderung Abrahams als eines Kriegshelden gegenüber 
von der auch von Nüldeke anerkannten: ſchlechthinigen Friedfertigkeit 
leiner Grfcheinnng in ber gefomten anderipeitigen Tradition. 

Dei einer folden eminent günftigen. Sachlage für bie hiftorifche 
Wahrſcheinlichkeit des elamitifch- pentapolitanifchen Krieges ift es 
nicht zu perwundern, -baß-er. in ſämtlichen mobernen Anfriffen der 
Geſchichte des moxgenlandiſchen Altertums unter die gefchichtlichen 
Vorgänge aufgenommen worden ift. 

Iſt die Schale in Sen, 14 trag des gegenteiligen Anfcheins 
biftorifch - geſund, ſo wird es auch der Kern, die Gefchichte der 
Degeguung Abrahams mit Melchifedet dem König von Salem, fein, 
denn Schale und Kern find mit einander organiſch verbunden. 
Nur der Steg Abrahams giebt ja der Begegnung Motiv und In⸗ 


1) A. a. O. G. 165, 


850 Ruh 


halt. Diefer trieb den Priefterfönig von Salem zur dankbaren 
Segnung des Retters aus der and feinem Gebiet und Stamm 
drohenden Invafionsgefahr, wie den König von Sobom zur be 
forgten Fürbitte für die durch das Kriegsglüd nunmehr dem Rächer 
zugefallenen Sriegsgefangenen feine® Volles und ben Helden von Dan 
einerjeitö zur frommen Zehentabgabe an den Priefter Gottes bes 
Höchſten, der fich ihm eben als der rechte Kriegsmann bewährt Hatte, 
und anderfeits zum edelmütigen Verzicht auf die Beute zugunften 
der Sobomiter nnd feiner- YBundesgenoffen. Gleichwohl ift man 
verfucht, diejen organifchen Zufammenhang zu verfennen oder wenig⸗ 
ften® doch dem Urteil Nöldekes )) und Dillmanns?) beizupflicd- 
ten, daß fih das Stüd von Melchiſedek zur Not aus der übrigen 
Erzählung heranslöfen Tiefe. Dean kann dafür den Anfchluß von 
8. 21 an V. 17 und den fcheinbaren Widerſpruch zwiſchen der 
Zehentabgabe Abrahams von der Kriegsbente umd deſſen Verzicht 
anf diefelbe geltend machen, welch leßterer Anftand auh Eduard 
Böhmer?) zu der Ansfheibung wenigftens der Worte von ber 
Zehentabgabe als eines Zuſatzes des Schlußredaktors bewogen Bat, 
wiewohl er ſich Löft, fobald man den Verzicht Abrahams als Über- 
laſſung des Nefts der Beute nach Abzug des Zehenten für Del 
hifedek auffaßt. Was einen aber am mächtigjten zu ber Aueſchei⸗ 
dung der ganzen Melchifedet- Epifode verfucht, das ift der Zwie⸗ 
Spalt zwifchen dem übermwältigenden &indrud der Gefchichtlichkeit 
des pentapolitanifchen Kriege und dem unvermeidlichen Argwohn 
der fritifchen Neflerion gegen die Hiftoricität der VBegegunng im 
Königsthaf. 

Das Hauptärgernis giebt Melchiſedek ber Kritit. Die jüdifche 
und hriftlihe Schriftauslegung hat aus dem, was die Erzählung 
über ihn berichtet und verfchweigt, von jeher den Schluß auf feine 
Idealität gezogen, und das lange Zeit, ohne ſich der aus diefem 
Schluß folgenden Konfequenz feiner Lngefchichtlichkeit bewußt zu 


1) A. a. O. ©. 170. 

3) Dillmann, Kommentar zur Geneſis. Ausgabe von 1882, ©. 219; 
vgl. auch ſchon Geiger, Urfchrift und Überfegung der Bibel, ©. 74 ff. und 
©. 33 f. 

3) Ed. Böhmer, Das erfie Buch der Thora, ©. 198 f. 


Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 881 


werden. So hat man ihm bald die Berfon des Patriarchen Sem, 
bald den Typus des Reformators Hiskia, bald eine Vorgeſtalt des 
Meſſias, bald die Erfcheinung eines Engels, bald ſogar das Sche⸗ 
men einer trinitarifchen Hypoſtaſe, fubftituiert. Jedes biblische 
Realwörterbuch, vor allem aber der Bleekſche Kommentar zum 
Hebräerbrief, Liefert hierzu bie Belege. Die das allegorifche Spiel 
der Vergangenheit bewegenden Hebel find die Angaben über feinen 
Namen, feine Titel und feine Handlungsweife einer- und das Still 
ſchweigen über feine Abkunft, feine Geburt und feinen Tod ander» 
ſeits geweſen 1). Die pofitiven unter ihnen wirken noch heute nach, 
nur nicht mehr auf die Phantafie, um Melchiſedek über die Gren⸗ 
zen der Menfchkichleit emporzubeben, fondern auf die Kritit, um 
ihn aus den Grenzen der Wirklichkeit zu: verbannen. „König ber 
Gerechtigkeit“, „ König aus der Friedensſtadt“, das find Namen, 
welche unwillkürlich als ſymboliſch und alſo geichichtlih verdächtig 
imponieren, zumal wenn fie, wie bier, vereinigt find. Erwehrt 
man fich dieſes inftinktiven Eindrndes, um einer wifjenfchaftlich 
anziemlichen Voreingenommenheit vorzubeugen, fo tft nad dem Ur⸗ 
teil Noldeles 2) ſchon die Übereinftimmung der zwei Königsnamen 
Melchiſedek von Salem umd Adoniſedek von Serufolem (of. 10, 
1 ff.) Hiftorifch bedenklich. Noch bedenklicher find jedoch die beiden 
Reiidenznamen Salem und Jeruſalem. Beide gehören jedenfalls 
der Zeit nah David an, denn vorher hieß die Stadt Jebus, eine 
Notiz, welche immerhin die relative Neuheit ded Namens Jeru⸗ 
ſalem beweift und dur das Schalama im Verzeichnis der kana⸗ 
nitiſchen Eroberungen Ramſes' I. im Ramſestempel zu Theben 
nicht umgeſtoßen wird. Da zwar Brugſchs Deutung ?) auf Salem 
oder Saleim bei Scythopolis wegen des erjt fehr fpäten Vorkom⸗ 
mens dieſes Namens unannehmbar ift, darum aber die Identität 
mit Salem» Serufalem noch keineswegs wahrfcheinfich wird, weil 
nd auch an Saalim in 1Sam. 9, 4, Saelabin in Inf. 19, 42 
and Saalbim in Richt. 1, 35 und 1Kön. 4, 9 denfen läßt. Wenn 


2) Sehr. 7, 1—8. 
2) Nöldele a. a. O., ©. 169. 
2) Brugſch, Geſchichte Ägyptens unter den Pharaonen, ©. 515, 


332 Röfch 


nun auch der Name Salem vielleicht nicht, wie Nöldeke meint, 
aus der Abſicht der Vermeidung- eines Anachronismus mit dem 
nachdavidifchen Namen Jeruſalem und einer Beehertlichung-ber Je⸗ 
Bufiter mit dem alter Namen Jebus gemählerft, To verrät er doch 
auch mad; dem Gefühl des Schreibers diefes die fiäte Seit der 
Formulierung der Erzählung, wie ſie uns Beute vorliegt. Diefe 
Inſtanz kann man: nidgt mehr mit der von Tui?) protegierten 
Trennung Salem von Jeruſalenm oder mit feiner von H. Gray?) 
vorgefchlagenen Verwandlimg im Sildh im Falk der hiſtoriſchen Aırf- 
faffung umgeben, da, wenn: mar: auch dem kühnen Bräy für 
Bi. 76, 3 das Recht zu jeinen Emendatisw: „ſelne Hütte (die 
Stitshirte> war in SHoh, aber feine Wohnung (dert Tempel) ift 
in Zion“ zugeſtehen wolfte, Melchiſedek als Parallelgefiult zu dem 
in Jeruſalem refidierenden judäiſchen König in Pſ. 110- unmöglich 
je einmal Inhaber irgenbeines im Alten Teſtament ſonſt nie ge 
naunten- Dynaftenſitzes oder im: Reich: Idruel gelegenen Kullus⸗ 
ortes! geweſen ſein kann. Nächſt dem erſcheint die Doppelbürde 
eines Königs und Prieſters im hohen Altertum Nöldekt darum 
als: zweifelhaft, dag ſie zwar mit dem levitiſchen Geſetze ber Grund⸗ 
ſchrift im Wiberſpruch, aber! nach Pf. 110 mit den thatfächlichen 
Berhältniſſen eines judätfchen Königs im Einkkang ſtehe: Endüch 
mutet einen: andy die Form des Segensfprenches! Melchiſedeks mit 
ihrer Vermeidung des im Munde eines Nicht⸗Israeltten unmöh⸗ 
lichen⸗ Jahvenamens und- doch- ſofortigen Umſchreibung desſelben 
mit: einer ihn erfetzenden Redensart: nach der Anficht Nöolbekes ald 
apokryphiſch an: Allerdings fragt'man: fiegibelitem Sprach: „Gr 
fegnet fei Abram: Gott dem Höcften, dem Schöpfer Himmels 
und der Erde; und gefeguet' fei Gott‘ der Höchſte, welcher deine 
Dränger in beine Hand beſchloſſen hat“ mmilflürlich: ift’ das emt 
aus- der älteſten Gottes»: und Wellanfchauung des Skemitismnt 
außerhalb. Jsraels gefloffene, Sprade? - Klingt: ſie doch’. ganz: wie 
die Pfalmene und Ptophetenfpradhe: üben die Schspferherrlichkeit 
Gottes; gerade als ob fie den diametralen Gegenſatz zwiſchen der 


1) Tuch a. a. O., ©. 254. 
3) 9: Grätzz, Geſchichte der Juden. BL; S. 70, Anm: 1. 





Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedel. AR 


pagasiftifchen Weltzeugung. mit ihrem elelhaften Zufammenſpiel der 
Hemente in Wolluſt und Granfamkeit und der bihliishen Welt⸗ 
Ihöpfung mit ihrer Yenfchen Redultion alles Werdens auf, ben fitte 
lichen Willensalt ber Gottesmonade repväfentieren meallte! Weckt 
nicht insbeſondero, möchte man weitere fragen., das. einzige noch» 
malige Vorkommen des yivay In in Pi. 78 den: Verdacht eines 
religiöfen Yunchronismus. in unferer: Erzählung. da. dieſer Pſalm 
jedenfalls nicht vor dem Untergang des Reiches Epkmim verfaßt 
fein faun? Beachten wir schließlich auch noch die Spende Melchi⸗ 
ſedels, fo iſt diefelhe im Vergleich mit feinem Segenoſpruch von 
leichtem, ja. fo leichtem Gewicht in der Wagschale der Kritik, dag 
te Rüuldeke gar nicht. erwähnt, unb doch ift auch. fie nem. hiſtori⸗ 
ſchen Stanbemmft aus: betrachtet, auffallend, Er brachte Brot uud 
Bein. heraus,, wie es einem im erſten Augenblick werkommt,. zu 
der gewiß hochnötigen Erquicheng der: zurückkehrenden Sieger, allein. 
das Alte Teſtament nennt mu als alfgemeine: und genügende Nah— 
rungdr und Erquickungsmittel nur Brot: und. Wafſer, lüßt es doch 
foger; den Meſſins mit: einem Trunk aus dem Bache.)), fich zum 
Kamnmfe: ſtänken, daneben rühmt es Brot: und Wein. als die zur, 
Lehensfreude gehürigen und überall: verwendeten Gottesgaben. Doch 
ehen an Wein: konnte der: Häuptling von Salem nicht wohl. reich 
fein,. menigften® Teimesfalla.jo-veich, dag en Abrahama ganze Kriegs⸗ 
dar fat. dem Kontingent: feiner drei Bundesgeneſſen damit zu: 
bewirten vermocht hätte,. derm die Umgebung: Jeruſalems: wird 
unter den meisreichen: Bezirken bed; Landen im Alten Teſtament 
nicht genannt. Das: drängt: einem die Vermutung auf, bar Ber 
faffer. Habe der; Spende. Melchiſedeks nicht: ſowohl den Zweck einer: 
Erquicknng, alo vielmehr den: einer, fumbekifchen: Oblation, etwa, 
wie Fm. W. Schul ?): meint,. des Gutes des ganzen: Landes, unter⸗ 
legen; wolen. Iſt dach ber Weinſtock ober: Weinberg: iu: ber: Wibel 
das Gleichmis des iornelitijchen Wollek, wodurch ein: goldeuer Wein⸗ 
ſtock das Emblem des herodianiſchen Tempels und eine Weintraube 


V P. 110; 7. 
) Fr. W. Schultz, Melchiſedek, Artikel, in der Nealeneyklopädie file pror 
teſtantiſche Theologie und Kirche von Herzog und Plaͤtt. 





384 Ric 


das Münzbild der Makkabäüer geworden ift. Eine derartige Sym⸗ 
bolit würde num biefen Zug der Erzählung nur dann als hiſtoriſch 
empfehlen, wenn wir nnd Melchiſedek von dem durchbohrenden 
Gefühl des politifchen Nichts der einheimifchen Dynaſtieen zu biefer 
finnbildfichen Übertragung bes Schirmrechts über das Land an dem 
thatlräftigen Fremdling gedrungen denken dürften. Möglich ift das 
immerhin, und durch diefe Möglichkeit verliert der Auſtoß im der 
Spende Melchiſedeks feine Bedeutung. 

Wenden wir und vom lanaanitifhen Priefterfönig zu dem beb- 
raiſchen Erzvater, fo erwedt and fein Berhalten den Argwohn 
der Kritil. Seine Anerkennung des Gottes Melchiſedeks ift zwar 
nicht bedenklich, um fo mehr aber fein Vorbehalt des Jahvenamens 
für feine Auffaffung dieſes Gottes: war denn Jahve fchon der 
Gott Abrahams? das ift die große Trage. Ebenfo ift Abrahame 
Abgabe des Zehnten von feiner Kriegsbente (ſeit Hebr. 7, 2 wird 
jo doch. nur er als Subjelt zu den mm ergänzt) an und für fid 
unverfänglich, weil den Zehnten einer Gottheit zu widmen uralte 
Sitte bei allen Völkern war !), allein die Abgabe bed Zehnten 
gerade an den BPriefterlönig von Salem nimmt fi unmilffürlic 
wie eine kluge Fiktion zur Rechtfertigung des fpäteren BPBriefter- 
zehnten mit dem Beiſpiel des Vaters Israels aus, und man fann 
e8 daher Wellhaufen ?) nicht übel nehmen, daß er die Zehnten⸗ 
abgabe Abrahams von Salem, beziehungsweile an das judäiſche 
Zentralgeiligtum, als eine fpätere Analogie zu ber Zehntenabgabe 
Jakobs an den israelitiſchen Neichötempel auffaßt, hat doch auf 
Zu?) hier „die Zurüctragung fpäterer Einrichtungen auf bie 
Urzeit“ erkannt. Der fpezielle Gegner unferes Kapitels, Nöldeke, 
redet übrigens von diefen Dingen gar nicht, er bezeichnet nur die 
ſtolze Uneigennügigleit Abrahams, der nicht um Lohn gehandelt 
haben möge, als eine Zuthat des Erzählere, allein eben diefe drüdt 
zu charakteriftiich die jonveräne Verachtung des Sodomiters von 





1) Winer, Bibliſches Realwörterbuch, dritte Ausgabe, Art. Zehent, der. 

2) Wellhauſen, Die Kompofition des Hexateuch I, 415; in Jahrbücher 
file deutjche Theologie, Jahrg. 1876. 

3) A. a. O., ©, 266. 








Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 886 


dem ſich als Auserwählten Gottes fühlenden Patriarchen aus, als 
daß fie ſich als erfunden kundgäbe. 

So ſcheint denn der Kern in Gen. 14 gefchichtlich noch weniger 
geſind zu fein, als dies bei der Schale der Fall war, unb dennoch 
zeigt auch bie Begegnung Abrahams mit Melchifebet unter dem 
Mitroflop des ravra de donıudbere ebenfo unverfennbare Zeichen 
echter Gefchichtlichkeit, al8 der pentapolitanifche Krieg. 

Betrachten wir zunächſt die „rätfelhaft und anfprechend er- 
ſcheinende“ Geftalt Melchifebels, wie fie von Hermann Schul ?) 
prädiziert wird, fo verliert fie unter dem Mikroſkop viel von ihrem 
ſymboliſchen Helldunkel, allein was fie an ihrem weihevollen Zauber 
einbüßt, das gewinnt fie dafür am gejchichtfichem Lichte. Der Name 
Melchiſedek bedeutet nämlich ſchwerlich „König der Gerechtigkeit“, 
jo trefflich auch diefe Bedeutung mit ber den Israeliten mit den 
übrigen Drientalen gemeinfamen Hochſchätzung der Gerechtigkeit als 
der erften Regententugend harmonieren würde, weil ber Augenfchein 
das Urteil Eb. Neftles ®) über den Gehalt der zufammengefetten 
femitifchen Namen beftätigt, wonach die meiften einen Gottesnamen, 
fei e8 nun im erften ober im zweiten Gliede, in fich fchließen. 
Neftle 4) weift diefe Regel insbefondere an den mit 759 zuſammen⸗ 
gejeßten Namen im Hebräifchen, Afiyrifchen und. Phönizifchen nad. 
Benden wir fie nun auf prypbo an, fo fehen wir uns vor bie 
ſchwierige bei allen diefen Zufammenfegungen nur von Fall zu Tall 
zu entfcheidende Trage geftellt, welcher Beſtandteil das Subfelt und 
welcher das Prädikat ſei. Das von Neftle mit 3737350 zuſammen⸗ 
geftelfte Pyafim (auch pyyhr) wide zb zum Subjeft empfehlen, 
was uns auf einen phöniziich-Tanaanitifchen Molochdienfſt im vor- 
iBraelitifchen SYerufalem führen würde. Die Thatſache eines folchen 
Kultus mit feinen bekannten Menfchenopfern ſcheinen nım dem 
Schreiber dieſes wirklich die beiden Erzählungen von der Verjuchung 


⸗ 


F 1) Hermann Schultz, Altteſtamentliche Theologie. Zweite Ausgabe. 
687: 

2) Bf. 29, 4. If. 32,1. 2Sam. 8, 15m 

3) EB. Neftle, Die israelitifchen Eigennamen nad) ihrer —— 
lichen Bedentung. S. 21. 

4 a. O., ©. 175—177. 

Theol. Stud. Jahrg. 1885. 22 


836 Röſch 


Abrahams zu der Opferung Iſaals in Gen. 22 und van dam 
Altarbau Davids auf dem Standort des Peftengeld auf der Tame 
Arafnas des Jebuſiters in 2 Sam. 24 zu verbürgen. Beide be 
weiten nämlich die Verdrängung fannanitischer Menfchenopfer auf 
dem Berg Morija durch die israelitifchen Tieropfer, insbeſondere 
fegt die letztere es einem nahe, in dem gänzlich unmotivierten Stand- 
ort de8 Wiürgengels auf der Yebufiterteune nach Asınfegie des 
Berguamend nn) 7 von ben Götzenhöhen Salomos fur feine 
ausländifchen Weiber in 2Kön. 23, 13 1) den phantoftifchen Reflet 
der Tradition über den einſtigen Standort des Molochbildes währen 
der jebufitifchen Herrfchaft zu vermuten und den Namen bes Tennen 
befigers für. den des als legten Königs der Jebuſiter 2) auch zu 
gleich letzten Repräfentanten des Miolochdienftes zu nehmen. Cine 
hübſche Stütze wärde die Deutung ber erften Namenshälfte Meldi 
fedel3 anf den Moloch auch in der phöniziſchen Abkunft des erfieren 
bei Leo Grammaticus finden, welcher ihn zum Sohne des Sidos, 
des Gründers von Sidon macht, wenn auf die byzautiniſche Trabi 
tion mehr Verlag wäre, obwohl fi dann und warm eine Berl | 
in biefem Kehricht findet, wie die im Chronicon paschale aus 
Malalas erhaltene Berufung für die aſſyriſche Urgeſchichte auf fü 
Schriften eines Zeumgususg 6 Baßvinıas Ikoong beweift, welden 
Auter Gelzer?) wit Scharffiun und Glück in deu: ſumeriſch 
alkadiſchen Keiljchriftberichten relognosziert bat, ein Beifpiel, au 
dem man erſieht, wie Notizen fpütefter Traditionsſammlungen bis 
ins höchfte Altertum zurückreichen können. Was nun das in diefem 
Tall als Prädikat zu nehmende ps betrifft, fo dürfte man ihn 
bei feiner Beziehung. auf den Götzen keinenfalls den Begriff vr | 


1) Georg Hofmanns Überiegung des Ramms mit „Olberg” wmittelf 
ber Hupotheſe einer Risoba von RM oder IND in B. Stade, Zeitigrit 
für die altteftamentliche Wiffenfchaft 1882, ©. 175, hat doch wohl kein Bürger 
echt is. der Wiſſenſchaft? 

2) 2 Sam. 24, 23 und Emald, Gefchichte des Bolkes Israel. Dritte 
Ausgabe. 3. Bd. ©. 221, Aum. 

5) 9. Gelzer, Sertus Julius Afrilanıs und die byzantiniſche Chrond⸗ 
graphie. Erſter Teil. ©. 77. 

9 A. a. O., ©. 89. 


Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 38 


wnipesfellen, füllich beſtimmten Gerechtigkeit unterlegen, ſondern mar 
den der pariiknlariftiſchen fittlich indifftrenten, welche die Monolatrie 
von ihrem betreffenden Volls⸗ und Detögatt für das Intereſſe 
feiner. Verchrer erwarkete und wie fio ſich vielleicht ein Phklifter- 
Kuptling von Aslalon, der in einem uſſyriſchen Keilſchriftbericht 
Zidqa, das iſt möglicherweiſe Zedelic, Haft, im ſchwarzen Walfiſch 
beim Baltrer dachde, wenn man bem H73 nicht mit Muckſicht auf 
ef. 49, 24 nach dem Vorgang vos Schultens !), mit Bräto« 
rind 2) und Neftle 3) die Bedentung kriegeriſcher Tapferleit oder weit 
D. H. Mülter 9 die der Trefflicgleit Kberhampt mach dem Himjari⸗ 
iden und Arabifchen geben will, Wie die erfte, fo faaı man nun aber 
auch mit W. v. Baudifjtn ?) His weite Hälfte deu Namens zum 
Subjekt madhen, da dis drei Namenzuſammenſetzungen in den him⸗ 
Iarifchen Juſchrefter: Tsipts, der Gerechte hat fir) erinnent, yarız, 
dt Gerechte hat erhöht (Baudiſſin: Sadil erglänzt), und nn, 
bialektifch flatt ron, der Gexrechte hat gefät, in dem ps einen 
Gettesnamen vermuten lafſen °), der dem auch wirklich ie der 
phönigtfcheon Mytholbogie bei Phils und Dosnascas 7) in den Ber 
grändern des Kultur und Site, den beiden Brüdern Biesng und 
Soden (mit den Varianten Zudex ımb ZIedew) oder Sckdenog, dud 
iſt hebräiſch up um pyn oder p3y, und im dem mudiſchen 
Hanckeunamen 74 für Jupiter zu Tage tritt. Freilich haben 
weder die hintjariſchen Inſchriften, noch die helleniftiſche Redaktion 
der phöntzifchen Mythologie, noch bie shalımudifche Aſtrononiie im 
biefer Frage Anſpruch auf Altertam und Nutorität, allein fie bewsiſen 
maerhin die eiuftige myihnlegifche Berwendung von ps. Seiner 





1) Sefenius, Der Prophet Jeſaja. 3. Teil. ©. 186. 

2) Prätorius, Himjarifche Beiträge (Zeitfchrift dev Deutſchen Morgen⸗ 
ländiſchen Geſellſchaft 1872), ©. 747. 

) Neſtle a. a D., S. 172, Mm 1. 

4) Dav. H. Müller, Himjariſche Inſchriften (a. a. O. 1875), ©. 599. 
i 5) Wolf von Bandiffin, Stuben zur ſemitiſchen NMeligionsgeichichte 

15, Anm. 1 

6) Brätorins ‚ Stmiarifche Iuachriften fa. a. O. 1872% ©, 426. 

7) Joh. Konr. Orelli, Sanchoniatkenis ete. fragmente, pag- 22, 
not, 48, pag. 32 u. 38, endlich pag. 89, not. 106. 

22* 


888 Röſch 


Wahl zum Subjekt würde endlich feine durch den Namen des ſpä⸗ 
teren jerufalemifchen Häuptlings Adoniſedel verblirgte Stabilität 
gegenüber von dem Wechſel des erften Elements von a5 zu fe 
zu befonderer Empfehlung gereihen. Mag man nun aber aud im 
erften oder im zweiten Namenelement den Gott fuchen: er bleibt 
in beiden Fällen derfelbe, denn wenn nad Epiphanius !) die Inden 
den Planeten Jupiter auch Xwyeß Baal nannten, jo wird man 
hieraus den Schluß wagen dürfen, daß ps fein Spezialgott, ſondern 
nur ein Epitheton des höchften Gottes war, wie e8 nach dem Urteil 
Shlottmanne?) und v. Baudiffins?) Moloch, Baal und Adon 
auch waren, jo daß aljo alle vier unter fich identiſche Vorftellungen 
wären. Läßt fich mit dem vorftehenden Reflexionen die gefchichtliche 
Wahricheinlichkeit des Namens Melchifedel verteidigen, jo wird man 
dagegen die gefchichtliche Unmahrfcheinlichleit des Nefidenznamens 
Salem mit nichts verringern fünnen, denn mit der von Hißig t) 
zur Hebung feines Hiftorifchen Kredits verjuchten Ableitung vom 
füdarabifhden Siläam, „Stein", laßt fih ſchon darum nichts aus⸗ 
richten, weil der Beweis für den ſüdarabiſchen Charakter der Sprade 
der vorisraelitiichen Bewohner Jeruſalems wahrſcheinlich unerbring- 
fich bleiben wird. Dafür dürfte die Meöglichkeit der Doppelwürde 
Melcifedels als König und Priefter unanfechtbar fein, menigftens 
treten Hermann Shulg) und Fr. W. Schulg ®) neuftens 
für fie ein. Jedenfalls fteßt diefer Doppelwürde Melchiſedeks der 
Priefterfürft Raguel⸗Jethro⸗Chobab, dem die ihn umgebende genen- 
logiſche Verwirrung, noch ficherer aber die altarabifche Nominativ⸗ 
form feines Namens mit Vav⸗Cholem, arabiih Duma, ftatt des 
hebräifchen Jether mit der abgeftreiften Dellinationsendung die Ge⸗ 
Schichtlichkeit gewährleiftet, wenn gleich Wellhaufen 7) fich die Ans 


1) Epiph. adv. Hier. S. I, cap. 16. 

3) Schlottmann, Baal, Art. in Riehm, Handbwörterbuch des biblifchen 
Altertums. | 

5 Wolf von Baudiffin, Moloch, Art. in der Henlencyklopäbie ı. [. w. 

4) Hitzzig a. a. O., ©. 31. 

5) Herm. Schultz a. a. O. ©. 148. 

6) Fr. W. Schultz a. a. O. 

7) Wellhauſen a. a. O. H, 539. 











Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 339 


fiht erlaubt, der Jahviſt habe in der betreffenden Erzählung viel- 
acht urfprünglic gar keinen Namen genannt, als vettender Pendant 
zur Seite, 

Legt man endlih den Segensſpruch Melchifedels unter das 
Glas, fo ift Nöldele allerdings zuzugeben, daß der Ausdrud „Bott 
der Höchfte, der Schöpfer Himmels und der Erbe” fih wie eine 
Umfchreibung des Jahvenamens ausnimmt, denn das Subjekt 
by 5x vertritt mit yrby og in Pf. 78, 35 und 56 ohne Frage 
Jahve und das Attribut yayy oroy UP hat feine Parallele dem 
Gedanken nach in den Ausfprücden der Propheten» und Lehrbücher 
des Alten Zeftaments über das Verhältnis Gottes zur Welt !) 
und dem Wortlaut nad) abgejehen von dem Wechjel des Verbums 
in dem ya) bay mes einer Neihe von Palmen ?). Indes iſt 
8 wahrfcheinlich, daß der Ausdruck ynby x ein Hinter die Anfänge 
der israelitiſchen Offenbarungsreligion zurüdreichender allgemein 
femitifcher Gottesname ift, wie das von 5 allein Nöldele) 
beiviefen hat. Dafür fpricht der Tünftliche Archaismus feines Ge⸗ 
brauchs in Pf. 78, der durch die von dem Dichter ausgejprochene 
Afiht, Nätfel aus der Vorzeit zu verfündigen, bewiefen wird; 
dafür fpricht der Rücktritt feiner Beftandteile aus der Sprache der 
Brofa in die der Poefie während des Standes ber Dffenbarungs- 
religion , welchen der altteftamentliche Kanon in dem Gros feines 
Sahalts repräfentiert; dafür fpricht ferner die nirgends wahrnehm-« 
bare Verwendung des einfachen jrby zur Namenbilbung, während 
diefe bei dem doch auch der PBatriarchenzeit zugeeigneten sw in 
zwei bis drei jedenfalls ſehr alten Beifpielen nachgewiejen werben 
fan, Umftände, auf welche aufmerkfam gemacht zu Haben, das 
Verdienst Neftles *) if. Dem allem fei Übrigens, wie ihm wolle; 
daß pohy 5 ein auf breiterer, micht ſpezifiſch israelitifcher Baſis 
ruhender Gottesname von hohem Altertum fei, bezeugt jedenfalls 
die PBarallelifierung von by und noy im Eingang der legten 


1) Serm. Schult a. a. DO. S. 526. 

2) ®. 115, 15; 124, 8; 134, 8; 146, 6. 

5), Nöldeke in den Situngsberichten der Alademie ber Wiffenfchaften zu 
Berlin 1880. ©. 760 ff. 

9 Neſtle aa. O., ©. 44. 


340 Ri 


Prophetie Bileams, deſſen Hochſprüche auch Wellhauſen?) für 
bis auf Num. 28, 28 und 24, 20 —24 intalte Reſte alter Zrabition 
im Buch des Jehoviften anfieht. Näheren Aufihlug über diefe 
breitere Bafis, begiehungsweife über den vorbin behaupteten allge: 
meinen femittichen Charakter bes Gottesnamens dürfte uns nun ein 
Neihe von WBibelftellen gewähren. Bielleicht berechtigt ſchon in 
DB. 88, 7—9 und 19 bie für die umter dem Beiſtand Aſſure 
gegen Israel verblindeten Rachbarväller winfchenstverte Exrkemmitnis, 
daß Yahve allen yrby auf ber ganzen Erde fei, zu dem Schluß, 
daß die femitifchen Völkerſchaften alle biefes Prädikat für ihre ver: 
fchiedenen National⸗ und Xervitorialgötter in Anfpruh und Ge 
brauch genommen haben ?). Daß dies befonders in Bebylonien ge 
ſchah, beweift unwiderleglich dao nad) ben kritiſchen Bihefforfchern 
exiliſche 14. Rapitel Im Buch Jeſaja, deſſen Verfaffer feine Ver⸗ 
trautheit mit der babyloniſchen Mythologie durch den nyro "ir, den 
„Berg des Stifte" bei Suter, ſonft gewöhnlich „Berfanmlungöberg”, 
weicher nach Friebr. Deliuf 7) umd Schrader ©) dem keilſchrift⸗ 
lichen Gotterberg entfpricht, genügend dokumentiert. Diefes Kapitel 
legt nämlich dem König von Babel den Titanenplan in ben Mund, 
feinen Stuhl Über Be Sterne des EI erhöhen und fi dem &ffon 
gleichfielfen zu wollen. Wan wird nicht zu weit gehen, wenn man 
in biefer Prahlerei das Recht fucht, wenlgftens bie Idee, wenn auch 
nicht den Terminus des ziby 5 dem babyloniſchen Gotterſhſtem 
zu vinbizieren, zumal ba dieſe Idee Hei Deuterojefaja 46, 1 und 
bei Seremis 50, 2 und 51, 44 in der Aufführung bes Bel als 
erfien unter ben babyloniſchen Göttern realifient iſt 6). Nicht die 


1) Wellhauſen a. a. O. H, 580. 

2) Spuren Hiervon kann man wenigfiens mit Hitig a. a. O., ©. 45, 
in dem moabitiſchen Ort6namen MDYbN und mit Haleoy im dem nordarabiſchen 
Eigennamen I 729 in den ufchriften von Safe finden. Der erfiere hat 
nayDR wohl == de ANegenemmen und ber letztere bemerkt in feinem Essai 
sur les inscriptions du Safa. Suite et fin. im Journal Asistique, VI. 
S. t. XIX, p. 482 zu 35 12Y: „O’est le ’Eisodv phemicien traduli par 
Yyougarios [Nein!], lo by hebreu;t 

8) Fr. Delitzſch a. 0. ©. ©. 118. 

4 Eb. Schrader a. a. O., ©. 389, 

5) Schiottmann a. a. O. 





Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 341 


gleiche Autorität wird man im diefer Frage bem Danielitifer zu⸗ 
erkennen Bönnen, wenn er den König Nebuladnezar 3, 26 an die 
drei Männer im Feuerofen, 3, 32 an feine Völler und 4, 14 an 
Daniel, fowie den letzteren feldft 5, 18 und 21 an den König 
Belfazar das Wort vom why mby und why richten läßt, ba 
ihn dabei ebenfo gut die dichterifche Licenz, als die poſitive Kennt⸗ 
nis don dem Abſchluß des Babylontfchen Pantheons mit einem 
höchften Gott geleitet haben kann. Doch tft das letztere immerhin 
möglich, weit er einerſeits Nebukadnezar 4, 5 monolatrifch von 
Bel als feinem Gott veden läßt und anderjeite doch die Ehaldäer 
ale durchaus polylatrifh I) ſchildert, disparate Vorfteflungen, welche 
nur in ber Vorausſetzung eines Obergottes zu ihrer Einheit fommen. 
Beftätigt werben diefe biblifchen Andeutungen durch die bisherigen 
mythologifchen Erhebungen aus den Seilfchriften infofern, als, um 
Delitzſch) für die Mehrzahl feiner Forſchungsgenoſſen reden zu 
iaffen, „ganz frei von jeglichem die ober jene Stadtgottheit als 
folche bevorzugenden Parlikularismus ber Glaube an ‚Einen Gott 
über alle Götter‘ durch die babyloniſchen Prieftergefänge hindurch 
geht”, wenn au der Name „Bott der Höchſte“ noch nicht ge. 
funden worden iſt ). Der mit dem Brinzipat im älteften baby» 
loniſch⸗ſemitiſchen Götterfyftem betraute Gott aber heißt Ilu, ein 
Name, ber ſich auch bei Diodor von Sieifien *) in feiner befannten 


1) Dan. 2. 11; 3, 12; 5, 4. 11. 28; 6, 8. 

2) Er. Delikf a. a. O. ©. 164. 

8) In dem Mittelglieb der theogontichen Triabe des Damaseius bei Mo- 
vers, „Die Phönizier”, Sb. I, &. 275—276 und Eb. Schrader a. a. O., 
&. 12: — "row zei Amor zei "dor — ſcheint nflerdinge ein YSY durch- 
zuſchimmern, allein ba das Affyriſch⸗Babyloniſche eine Nomirialbildung auf in 
oder on Aberhaupt nicht kennt (Ebd. Schrader, Die affurifch- babyloniſchen 
Keilinfchriften, S. 213— 214) und insbeiondere dag Adjektiv ilu bon dev Wurzel 
br, bat, fo iſt ZAAswos wohl eher eine aus der Reminiseenz bes hebriifchen 
roh entſtandene Verderbnis von Taoc ober Haoc, wie den auch Eb. Schrader 
es in feinem Citat mit einem Fragezeigen verfehen bat. - - 

4) Diod. Sic. D, 80. Es ift nämlich mit Weffeling fintt des finnlofen 
2, Abov oder HAsov: "Hdov zu leſen, wie Gefenins, der Prophet Sefala ILL, ©. 833 
will. Wefleling ſelbſt verftand das 'HAo» nicht und vermutete dafür Bijdor. 
Zum Schutz der Becepta reicht die Angabe de Simplicius tm fechflen nach⸗ 


32 Rafc 


Aufzählung der fünf chaldäifchen Planetennamen als Mogç für 
den Kronos — Saturn erhalten hat. Ein inftinktiver Impuls ver 
bietet die Trennung dieſes Ilu vom hebräifchen dx, dieſem etymo⸗ 
logiſchen Märtyrer der Neuzeit. Lngeftört bat fi) übrigens Ilu 
im Befige feinee Würde nicht erhalten, er fcheint fie vielmehr teils 
an Bel, wenn er nicht mit diefem identifch war, was freilich jehr 
nahe Liegt, teild an Anu, den Anammelech der Bibel und Dannes 
des Berofus, teil an den Meeresgott En, teil an den Mondgot 
Sin, teil® an den fpäteren Lolalhauptgott der Stadt Babylon, 
Merodach, verloren zu haben, wenn man anders nad) deren Ehren 
prädifaten: „Der Erhabene, der Vater der Götter, der Schöpfer“ 
und „ber Herr der Länder" wie Bel‘); „Erftgeborener, Vater 
der Götter”, wie Anı 2); „Herr des Himmels nnd der Erde“, wie 
Ea ®); „Herr der Götter, Himmels und der Erbe, König der Götter 
und aller Götter Götter, jo da bewohnen die großen Himmel“, wie 
Sint); „König bes Himmels und der Erbe, König der Götter, 
ilu iu = Gott Gott = Gott near 2Eoyıv (ob „höchfter Gott“? 
wie Delitzſch und Schrader meinen), wie endlich. Merodach ©) ges 
priefen wird ©), urteilen darf. Wie bei den Babyloniern, fo begegnet 
uns ein höchſter Gott aber auch bei den Phöniziern, und zwar 
nicht bloß mit dem Begriff, fondern au mit dem Namen des 
by bin. Sreili find die alonim vealonuth im „Poenulus‘ des 
Plautus ohne Beweiskraft für ihn, nachdem fie durch die Auffin 


chriftfichen Jahrhundert: Koovov, öv jAlov darson ol aiasol TEXOSHyöpevor, 
nit zu, demm ber gute Mann bat wohl nur nad Diodor geweisſagt und 
dort die Recepta ſchon vorgefunden. Ebenfo wenig taugt die Papyrusnotiz 
Letronne?s, flatt Saivoy rũ nAlov [aoznp, riv Lodt]wv xUxdor xıA. 
wird zu Iefen fein: Balvo» BE Tod Alov rov xuxdov. Auch die Säuleninſchrift 
von Beirut: xodvov Hilov Bouos, beruht entweder auf einem Mißverftänduis 
bes Steinmeben oder bes Entzifferers. 

1) &. Schrader, K. A. X, S. 174. 

2) Ebenda S. 10—11. 

3) Ebenda ©. 6. 

4) Sr. Delitzſch a. a. O. ©. 185. 

6) Eb. Schraber a. a. O., ©. 422. 

6) Schröder, Die Phöntzifche Sprache. ©. 102. 129. 132. 174. 181. 
200, und Neftle a. a. O., S. 48. 











Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedel. 343 


dung des Appellativs 7b für Gott außer Zufammenhang mit 
moy gefeßt find umd die Smfchrift von Parahyba gerade durch 
ihre nMyn omıdy ihren Kredit verloren bat. Ebenſo wäre ein 
etwaiger Rückſchluß anf ihn ans den Angaben der famaritifchen 
Helleniften ?) über die Beſtimmung bes Garisimtempels für den 
„höchften Gott“ oder „höchften Zeus“ um der angeblichen phönis 
ziſchen Abftammung der Samariter 2) willen nur ein Trugſchluß, 
da der famaritifche „größte oder „hüchfte Gott“ bei Joſephus 3) 
wie bei ben famaritifchen Helleniften nur der aus Gen. 14, 18—22 
gezogene Ausdruck der Inanſpruchnahme des Salems Melchiſedeks 
für ihre Hauptſtadt Sichem von ber famaritifchen Eiferſucht auf 
Jeruſalem ift, welche zu dieſem Zweck die Septuagintaüberfegung 
von Gen. 33, 18 benußt oder vielleicht fogar veranlaßt hat, nicht 
aber der Ausflug eines jübifch-phöniztfchen Synkretismus, wie Mo» 
vers 4) will, der fich für diefen Charakter der famaritifchen Re⸗ 
Iigton auf die doch nur für die Zeit ihrer Prägung beweijenden 
jamaritifchen Münzen mit dem von Sonne und Mond flantierten 
Zempelbild und auf die angebliche Prahlerei des Magier Simon 
mit einer Inkarnation excelsi dei, qui sit supra conditorem 
mundi in feiner Berfon 5), welche doch nur nach der gnoftijchen 
Unterfcheidung zwiichen dem höchſten Gott und dem Demiurg zu 
verſtehen ift, vergeblich beruft. 

So bleiben nur noch die Philoniſchen Fragmente übrig, welche 
in verworrener Darftellung von biefem Gotte reden). Sie laſſen 
wur Zeit der Kabiren emen gewiffen „EAsodv genannt “ Yıyıoros " 
und „ein Weib, genannt BneodI* mit einander in der Gegend 
von Byblus gewohnt haben, denen zwei Kinder, ’Erriysos ober 
Arrcy3wr, fpäter Odgevös genannt, und I, geboren worden 


1) Sälottmann, Die fogenannte Inſchrift von Parahyba (Zeitichrift 
der Deutſchen Morgenländiſchen Geſellſchaft 1874), ©. 486. 

2) Srendenthal, Alexander, Polyhiſtor u. f. w., ©. 8586 und 
Movers, Die Phönizier, Bd. I, S. 557—558. 

3) Jos. Antt. XI, 8, 6 und XH, 5, 5. Die a. let. O. 

4) Movers a. a. O. 

5) Clem. rocogn. I, 72; D, 7. 

$ Orelli, Sanch. Fragm., pag. 24 suq. 


844 i LT.) 


fein. Der Vater 5"Yıyıorog fei bei einer Begegunng mit wilden 
Tieren umgelommen und darauf unter die Götter verſetzt worden, 
der Sohn Uranos aber habe nad Übernahme dee väterlichen Herr⸗ 
haft feine Schwefter Ga geehelicht und mit ihr vier Söhne er⸗ 
zeugt: "IAoc ober Kobvos, Börviog und Aayaıv aber Size, ub 
Arias, bo habe Urames auch von anderen Gemahllinnen eine 
zahlreiche Nachkommenſchaft gehabt. Dies habe zu Eiferfudtt- 
händeln zwiſchen ihm unb GA geführt, fo daß fie ſich getrennt 
hätten, Uranos aber habe fie auch nach feiner Trennung von ih 
befiebig befucht und vergewaltigt, um fie hernach wieder zu ver⸗ 
laſſen, ja er babe fogar ihre Rinder zu verderben verſucht. Auf 
das Hin habe Gu Bundesgenoſſen geſammelt nud ihn oftmals ab- 
gewehrt. Indeſſen fei Kronos zum Manne herangewachfen und 
babe alodann auf Rat und mit Hilfe des Hermes Xrismegiftos, 
die Partei der Mutter ergreifend, feinen Bater in. Bundesgenoſſen⸗ 
fchaft mit den ’EAoeise befriegt und vom Throne geftoßen, um 
diefen felbit zu befteigen. Seinen Wohnfit habe Kronos mit einer 
Mauer umgeben und Byblus als erfte Stadt gebaut. Nachher 
habe er feinen Bruder Atlas aus Argwohn in bie Tiefe ber Erde 
binabgeftoßen und verfcharet, ferner feinen Sohn Iddedos mit 
deffen eigenem Schwert ermordet, wie auch ber eigenen Tochter dad 
Haupt abgefhlagen. Der in diefer eubemeriftiichen Hülſe ertenm- 
bare Kern ift: Die Phöntzter flntuterten einen höchften Gott als 
Schöpfer des Himmels und der Erbe. Diefer hieß in Byblu 
teile poby, teils du, teils wohl and infolge der Zufammennahm 
beider Benennungen zu einem Namen poby In, denn ale Br 
wohner der Gegend von Byblus ift Eliun mit dem Erbaner vor 
Byblus, feinem Sohne Ylos Krenos, offenbar identiſch. Außer⸗ 
dem fiel diefer Hödhfte Gott aber auch noch mit dem von einem 
Eber getöteten Adonis zufammen. Sein Charalter und Kultus wat 
nach der Mordluft feines mit dem Großvater identiſchen Enbels 
ein molochiſtiſcher. Soll nun der Gottesname ray un im vor⸗ 
israelitifchen Serufalem noch unhiftorifch fein? Und mie es der 
Name nicht tft, fo tft es auch das Attribut nicht. Denn wenn 
auch die Kosmogonieen des Semitismus alles Werben als einen 
feruellen Prozeß der Urkräfte darftellen, fo fchränft doch die ba 


Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 845 


byloniſche Tradition diefen Prozeß anf das Chaos ein und über⸗ 
trägt beffen kosmiſche Distribution, beziehungsweife die ausgeftal⸗ 
tende Schöpferthätigfeit, den in und mit ober neben bem Chaos 
gewordenen Göttern, beziehungsweiſe diefem ober jenem inzelgott 
ter Beihilfe der anderen. Wenn dagegen bie phönizifche nad) 
Philo den fernellen Werdeprozeß auf das gefamte Schöpfungsdetail 
ausdehnt, wenn fie insbefondere den Eliun den Uranos und bie 
Ga geſchlechtlich erzeugen ftatt erfchaffen läßt, fo braucht man nur 
dad ya mod ip im Munde des Tanaanitifchen Briefterfürften 
im Sinne de Beftgerd von Himmel und Erbe zu nehmen, weil 
er fie al8 feine Kinder erzeugt hat, wie Deut. 32, 6 Jahve als 
Later Joraels deſſen Igp heißt, um auch dieſer Vorftellung gerecht 
ju werden. 

Wenben wir uns von Melchifedel zu Abraham, fo haben wir feine 
bifterifche Exiſtenz als Vater Jaraels einftweilen auf die Autorität 
eines Ewald, Dillmann und Riehm Hin vorausgefegt; neuer 
dings wird biefelbe jeboch ebenjo angefochten wie die Melchiſedeks. 
Ihre Gegner find, um nur Hauptnamen zu nennen, Nölbele ?), 
Dozy), Wellhaufen®) und Stade 9. Eine dem Erzvater 
nicht eben gilnftige Neutralität beobachtet Hermann Schulg ®) 
mit jeinem fleptifhen Botum, man mäfje es nach dem Zuftand 
der Überlieferung unentſchieden Taffen, imwiefern der Name und 
die allgemeinen Lebensumriffe Abrahams von gefchichtlicher Zuver⸗ 
läſſigkeit ſeien. Bon den Gegnern begnügt fi mın Nötbele mit 
der Appellation an bie allgemeine Tingefchichtlichkeit der angeblichen 
Stammpäter ganzer Vöoller und an bie ſymboliſche Dignität des 
Namens Abram oder „hoher Vater“. Mit dieſen beiden Waffen 
beginnt auch Doz feinen Angriff, den Hauptichlag aber führt er 
mit dem Parallelismus des Felſen und der Brunnengruft, daraus 





2) Röldele a. a. O., &. 157. 

2) Dozy, Die Iuraeliten zu Melle von Davids Zeit bis ins 5. Jahr⸗ 
hundert unferer Zeitrechnung. S. 21—26. 

8) 3. Wellhauſen, Prolegomena zur Gedichte Iraels (Zweite Aus⸗ 
gabe der Geſchichte Israels, Bd. I), ©. 837— 838. 

9 B. Stade, Gefchichte des Volkes Israel. S. 110, Anm. 2, 

5) Hermann Schultz a. 0. O. ©. 108 


844 . 47.) 


feten. Der Bater ö"Yıyıoros fei bei einer Begegnung mit wilden 
Tieren umgelommen und darauf unter Die Götter verſetzt worden, 
der Sohn Uranos aber habe nach Übernahme der väterlichen Herr⸗ 
fchaft feine Schwefter Ga geehelicht und wit ihe vier Söhne er⸗ 
zeugt: "IAog ober Kodvos, Berukos und Aayaıv aber Zizem, ul 
Arlas, bo babe Urenes auch von anderen Gemaßlinnen eine 
zahlreiche Nachkommenſchaft gehabt. Dies Habe zu Eiferfuchts⸗ 
bündeln zwiſchen Ihm und BA geführt, fo dag fie ſich getrennt 
hätten. Uranos aber babe fie auch nach feiner Trennung von ik 
befiebig befucht und vergewaltigt, wm fie hernach wieder zu ber 
laſſen, ja er babe ſogar ihre Finder zu verderben verfucht. Auf 
das Hin habe Gu Bundesgemoffen geſammelt ımb ihn oftmals ab⸗ 
gewehrt. Indeſſen fei Kronos zum Manne herangewachſen und 
babe alodann auf Rat und mit Hilfe des Hermes Xrismegiftos, 
die Partei der Mutter ergreifend, feinen Vater in. Bundesgenoſſen⸗ 
Schaft mit den ’EAoeise bekriegt und vom Throne geftoßen, um 
diefen felbft zu befteigen. Seinen Wohnfig habe Kronos mit einer 
Mauer umgeben und Byblus nis erfie Stadt gebaut. Nachher 
habe er feinen Bruder Atlas aus Argwohn in bie Tiefe ber Erde 
binabgeftoßen und verfcharet, ferner feinen Sohn Zddedog mit 
deſſen eigenem Schwert ermordet, wie auch ber eigenen Tochter da} 
Haupt abgefchlagen. Der in diefer euhemeriftiichen Hülſe erkenn⸗ 
bare Kern iſt: Die Phonizier flatuterten einen höchften Gott als 
Schöpfer des Himmels und der Erbe. Diefer hieß in Bub | 
teile poby, teils bu, teile wohl and infolge der Zuſanmnennahme 
beider Benennungen zu einem Namen yıbp In, benn ale Be 

wohner der Gegend von Byblus ift Elinn mit dem Erbauer vn 
Byblus, feinem Sohne Ilos Krenos, offenbar ideutiſch. Außer⸗ 
dem fiel diefer höchſte Gott aber auch noch mit dem von einem 
Eber getöteten Adonis zufammen. Sein Charakter und Kultus war 
nach der Mordluft feines mit dem Großvater identiſchen Gutes 
ein molodjiftifcher. Soll nun der Gottesname jhhy da im vor 
israelitifchen Serufalem noch unhiſtoriſch fein? Und wie es der 
Name nicht ift, fo iſt es auch das Attribut nicht. Denn wenn 
auch die Kosmogonieen des Semitismus alle? Werben als einen 
jeruellen Prozeß der Urkräfte darftellen, fo fchränft doch die ba 


Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 845 


byloniſche Tradition diefen Prozeß anf das Chaos ein und über⸗ 
trägt deffen kosmiſche Distribution, beziehungsweife die ausgeftal⸗ 
tende Schöpferthätigfeit, den in und mit oder neben bem Chaos 
gewordenen Göttern, beziehungsweiſe dieſem ober jenem inzelgott 
unter Beihilfe ber anderen. Wenn dagegen bie phyoniziſche nach 
Bhilo den fernellen Werdeprogeß auf das gefamte Schöpfungsdetall 
ausbehnt, wenn fie insbefondere den Eliun den Uranos und bie 
Ga gefczlechtlich erzeugen ftatt erfchaffen läßt, fo braucht man nur 
das ray may min im Munde des Kanaanitifchen Briefterfürten 
im Sinne des Beſitzers von Himmel und Erde zu nehmen, weil 
er fie al8 feine Kinder ergengt hat, wie Deut. 32, 6 Jahve als 
Bater Israels defien 15p heißt, um auch diefer Borftellung gerecht 
ju werden. 

- Wenden wir uns von Melchiſedek zu Abraham, fo haben wir feine 
bifterifche Exriftenz als Vater Jsraels einftweilen auf die Autorität 
eines Ewald, Dillmann und Riehm Hin vorausgefeßt; neuer 
dings wird biefelbe jedoch ebenfo angefochten wie die Melchiſedeks. 
Ihre Gegner find, um nur Hanptnamen zu nennen, Mölbele !), 
Dozy), Wellbanfen?) und Stadet). Eine dem Erzpater 
nicht eben günftige Neutralität beobachtet Hermann Schulg ®) 
mit feinem fleptifhen Votum, man mäfje es nach dem Zuftand 
der Überlieferung umentfchteben Iaffen, inwiefern ber Name und 
die allgemeinen Lebeusumriſſe Abrahams von gefchichtlicher Zuver⸗ 
fäffigkeit feier. Bon den Gegnern begnügt fi mm Röldeke mit 
der Appellation an die allgemeine Ungeſchichtlichkeit der angeblichen 
Stammpäter ganzer Völker und an die fymbolifche Dignität des 
Namens Abram oder „Hoher Vater“. Mit dieſen beiden Waffen 
beginnt auch Dez feinen Angriff, den Haupiſchlag aber führt er 
mit dem Parallelismus des Bellen und ber Brunnengruft, daraus 


1) Nöldeke a. a. O. &. 157. 

2) Dozy, Die Jarageliten zu Melle von Davids Zeit bie ins 5. Jahr⸗ 
hundert unferer Zeitrechnung. S. 21—26. 

3) 3. Welldanfen, Brolegomena zur Gefchichte Ieraels (Zweite Aus⸗ 
gabe der Seichichte Israels, Bo. I), ©. 837— 838. 

9 8. Stade, Geſchichte des Volkes Israel. S. 110, Anm. 2. 

5) Hermann Schultz a. a. O., S. 108. 


846 Ric 


Israel gehauen und gegraben ift, mit Abraham, feinem Water, 
md Sara, feiner Gebärerin, bei Deuterojefaja ), dem er mit 
einem kecken Hochdruck auf ben Buchftaben des Tertes und einem 
gewandten Griff in ben arabifchen Sprachſchatz zur Entfchleierung 
Saras die verblüffende Entdeckung abzwingt, dag Abraham eigent 
ih ein Gößenftein und feine fürftliche Gemahlin die ihn bergende 
Höhle geweſen ſei. Diefes Reſultat flankiert er auf der einen 
Seite mit dem rabbinifchen Märchen von der Höhlengeburt und 
» Erziehung Abrahams wegen Nimrods Mordbefehl gegen alle nen 
geborenen Knäbchen um feines Traumes willen von einem fünf. 
tigen Ufurpator, ob dieſes gleich eine jehr durchfichtige Archaifierung 
des herodätfchen Kindermordes in Bethlehem ift, und auf der ar 
dern Seite mit der Perfonififation des Volfes Israel in Abraham 
bei den Propheten, woraus deſſen eigene Imperſonalität folge. 
Leider verliert diefes Experiment mit bem Fortes fortuna burd 
den Umftand viel von feiner Wirkung, daß Dozy9 Bafis zur po 
fitiven Operation, die Behauptung, der ursprüngliche Name bes 
Erzvaters Abram fei ein Gottesname geweſen und thatjüchlich dem 
böchften Gott von Byblus beigelegt worden, eine haltlofe ift. Er 
beruft fi nämlich für diefelbe auf Movers. Die Phönizier, 
Zt. I, ©. 542, wo fteht, daß in Byblus die Miythe von Adonis 
fofal gewejen und er in dem nad ihm benannten Fluß verehrt 
worden jei, welcher jest bei den Arabern Nahr Ibrahim heiße, 
ohne Zweifel darum, weil er früher ebenfo geheißen habe, nämlid 
enan oder “Pauds, 6 Inpıoros Ieös (Heſych). Nun ift allerdings 
fo viel. richtig, daß die Phönizter ihrem höchften Gott außer dem 
vorhin befprochenen jſyhn auch das Epitheton om gegeben zu haben 
fcheinen, wie die Bibel?) neben yn5y ja auch or und ninp ale 
Epitheta Gottes gebraudt. Wenigftens fprechen hierfür die Na- 
men: onbya und byaan in phönizifchen Inſchriften, Peuss in 
der von Movers citierten Hefychifchen Stoffe und "Pruavdas in 
der des Stephanus von Byzanz aus Philo, welche, freilich dunkel 


1) Sf. 51,1. 2. 

2) Jeſ. 57, 15. Pi. 92, 95 188, 6 und die Nomm. pr. EYIM umb 
DM, au BYWIS. 

3) Schrader a. a. O. ©. 19. 








Die Begegnung Abrahams mit Melchifedel. 347 


genug, fo lautet: “Paudvdag zovrdorıv dp Ünovug 6 Jedc" 
gaudv yag ro Inyos, üIas de 6 eds!) Die Wahrfcheinlich- 
kit des Gebrauchs von or als Epitheton für den höchſten Gott 
bei den Phöniziern involviert jedoch noch keineswegs die Tchatfache, 
daß fie dieſes Epitheton mit an zu einem Gottesnamen zufammen- 
geſetzt und dieſe Zufammenfegung unter ihre Benennungen des höch⸗ 
ften Gottes eingereiht haben, und die arabifche Anderung des an« 
tilen Waſſernamens „Adonisfluß* in den „Abrahamsfluß“ legt 
ſchon darum kein Gewicht in die Wagſchale, weil wir den Grund 
dieſer Änderung einfach nicht kennen. Aber auch wenn das Nichte 
beiviefene wirklich bewiefen wäre oder noch bewiefen würde, fo 
würde das einen Verdacht gegen die Gefchichtlichleit des menfchlichen 
Trägers dieſes Namens an und für fich keineswegs rechtfertigen, 
da die Sitte der Übertragung von Götternamen auf Menfchen bei 
den Semiten trog der ſtrammen Behauptung Dozys *): „fein 
Menſch trägt ben Namen eines Gottes“, mit phönizifchen ®), bibli⸗ 
hen und arabifchen *) Beiſpielen fich belegen läßt. Statt der 
Seihichtlichkeit feines Trägers gefährlich zu werden, kommt ber 
Name pIan, und zwar in oder ohne Zufammenhang mit BIN, 
worüber man bekanntlich ftreitet, derfelben vielmehr fehr zuftatten. 
Im erfteren Falle wird fie nämlich, durch den Umftand empfohlen, 
daß fih der Name in der Form von Aburamu 5) aud als im 
Aſſyriſchen gebräuchlich erwiefen hat, deſſen Sprachgebiet die Vor⸗ 
fahren der Hebrüer unter den Zweiflern an ber gefchichtlichen Exi⸗ 
ftenz des Erzvaters nur Wellhaufen ®) und Stade”) wegen ber 
aus der Verlegung des urfprünglichen Wohnfies der Tharaiden 
nah Ur in Chaldäa im Vierbundesbuch fich ergebenden Wider: 


1) Zur Erklärung vgl. Ed. Meyer, Über einige ſemitiſche Götter in 
der Zeitfchrift der Deutſchen Morgenländiichen Gefellihaft 1877, &. 731, 
Am. 5. 

2) Dozy aa. O. ©. 74, Anm. 2. 

3) Schröder a a. O. ©. 254, Anm. 3. 

4) Neftllen a. O. ©. 115. 

6) Eb. Schrader a. a. O. S. 200. 

6) Wellbanfen a. a. O. ©. 330. 

7) B. Stade, Geichichte des Volkes Jorael. S. 110, 





848 Abi 


ſprüche und Unguträglichleiten entziehett wollen. Im letzteren Falle 
aber wird fie dadurch .geheben, daß Abtam⸗Abitam alsdann we 
nigften® jenen rütjelhaften Bannanitiich gefärbten Ramen auf ber 
Dftfeite des mittleren Euphrats, wie Ahiramu nu. f. w., an die 
Seite tritt, welche von Schrader ) für die Spuren ber einftigen 
Raft der Hebräer in Haran uf ihrer Wanderung von Ur⸗Mugeir 
nad Kanaan angejchen werden. „Ziemlich undurchfichtig“ ift da⸗ 
gegen die jpätere Ramensform des Erzvaters: Abraham, mm ums 
das Prädikat Wellhaufens ?) für feine ihm ungeſchichtlich ſcheinende 
Perſon wenigfiens im dieſem Punkte anzueignen. Rech Dozy ?) 
ift fie jeher jung, nach Stade *) nit nur fehe alt, ſondern auf 
die urjprüngläde. Nach dem erfteren verdankt fie nämlich um 
ihred arabischen Etymon mham willen ihren Urjprung erft dem 
babyloniſchen Exil als der einzigen Zeit ded Anfammenlchens ven 
Juden und Arabern, wührend do nach dem Tekteren 5) der Stamm 
Inda ſchon vor feiner Konfolidierung arabifhe Stämme zu Nach⸗ 
barn hatte und der Stamm Sineon mitten unter ihnen zeftete. 
Rad) Stades 8) Auficht foll fie dagegen neben dem Hebraifiezten 
Abram den Anteil verraten, weichen ein fremder Stamur au ber 
von Haus aus nickkisraekitifchen, fondern vielmehr, weit an Sebren 
gebunden, edomitiſchen Figur des Erzvaters habe. Gleichtr Anſicht 
iſt offenbar auch Welihaujen ’), wenn er Abraham den „Heiligen 
von Hebron * nennt und Ihn „Lalibbäifchen“ Urfprungs fein mb 
mit Ram in 1Chros. 2 zufammenrhängen läßt. Doch dem ellem 
fei, wie ihm wolle, eine Inſtanz gegen die gefchichktiche Eriften 
und tramseupbratenfifche Herkunft Abrahams gieht die Namens 
änderung nicht ab, da fir ſich durch ihre Aukküpfing ar bie ber 


1) Schrader a. a. O. ©-110, Amm. 2 und ©. 18%. 

2) Wellhauſen a. a DO, S. 337. 

8) Dozy a. a. O. S. 25—26. 

9 B. Stade, Wo entſtanden die genemlogifiher Sagen über den Urſptung 
der Hebräer? (Zeitichrift für die altteſtamentliche Wiſſenſchaft 3881), ©; 348 
bis 349, 

5) Ebenda ©. 348, 

6) Ebenda S. 349. | 

) Wellhauſen a. a. O., ©. 338, am Schluß der Anm. 





Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. X 


trandeuphratenſiſchen Heimat desfelben fremde ügyptifche und ara⸗ 
biſche Sitte der Beſchneidung in Gen. 17 als ein ſpäterer, dem 
arabiſchen Sprachgebrauch angepaßter Einſchub in die urſprungliche 
Tradition erweift. Gemwäßren num ſchon hie beiprochenen Umſtände 
der Gefchichtlichkeit Abrahams nach den Umrifſen der Geneſis einige 
Sicherheit, fo empfängt diefe ihre glänzendfte Beftätigung durch 
de Erwähnung des Erzvaters erſt von den exiliſchen Propbeten, 
wenn anders Wellhanuſen im dieſem Punkte recht hat. Bekanntlich 
fommt der Exrzvater bei Micha 7, 20. Jeſ. 29, 22 und Deutero⸗ 
kfain 41, 8; 51, 2; 63, 16, fowie bei Jerem. 83, 26 und 
Heſeliel 33, 24, fonft aber nirgends vor, während man ihn dor 
ouch bei Amos 7, 9 und 16 neben Iſaak erwarten dürfte Nun 
it Micha 7, T—20 nad Wellgaufen 7) exilifch, wogegen aber dem 
Schreiber diejed die Bezugnahme auf Affur in V. 12 zu fprechen 
ſcheint, und ebenfo ohne Frage Jeſ. 28, 22 megen ber zweifellofen 
Unechtheit der Worte: „welcher Israel erlöfte”, jo daß allerbinge 
nur noch Stelien exiliſcher Propheten übrig bleiben. Hat aber erft 
da8 babyloniſche Uuglüd ben armen Juda bie Geftalt feines 
Stammoaters in bie Erinnerung zuridigerufen, fo muß diejelbe um fo 
gewiffer hiſtoriſch fein, als die dichtende Phantaſie doc unmöglich 
den Ahnherren unter dem Boll und im dem Lande feiner ſchreck⸗ 
lihften Feinde hätte fuchen küunen, wenn er nicht thatjächlid von 
dort Bergeftammt Hütte. Wellhaufen 2) felbft zieht freilich einen 
andern Schluß aus der prophetiſchen Prämifie: den, daB Abraham 
wohl die jüngste Figur in der Patriarchengeſchichte und wegen 
Amos 7, 9 u. 16 wahrſcheinlich erft verhältnismäßig ſput feinem 
Sohne Iſaal vorgefsgt worden fei; allein die Art und Weife, wie 
die exiliſchen Propheten Abrahams gedenken, beiweift evidemt genug 
deſſen unvorbenflicden Primat im Heroenkreiſe Isſsraels. So fekt 
>B. doch gewiß das Triumpirat Abraham, Iſaak und Jakob bei 
Jeremja 33, 26. eine Iange Vergangenheit für feine Herrſchaft im 
Vollsgedicht voraus. 


1) Bleet, Einleitung in das Alte Teftament. Vierte Ausgabe, bearbeitet 
von 3. Wellhauſen. & 425—426 Anm. 
2) Wellbaufen, Proleg., S. 338, 


30 Rich 


Konnte num Abraham wirklich fchon feinen Gott Jahve nennen, 
wie es ihn Gen. 14 Melchiſedek gegenüber thun läßt? Man hat 
bekanntlich auf Grund der Bundſchließung Gottes mit Abraham 
als zw don in Gen. 17 und der Verfchweigung feines Namens 
Jahve vor den drei Vätern Israels in Er. 6, 2ff. den Gotte- 
namen Jahyve der patriarchaliſchen Religiondftufe ab⸗ und erft der 
mofaifchen zugefprodhen, und zwar Bat das ſchon Joſephus gethan. 
Nach einer andern, und zwar von Dehler, Franz Delitzſch un 
de Lagarde nod immer vertretenen Erklärung von Ex. 6, 2 ff. foll 
bier jedoch nicht die Unbelanntfchaft der Erzpäter mit dem Jahve⸗ 
namen, jondern nur die göttlihe DVorenthaltung von Erfahrungen 
über deſſen ganze Tiefe ausgeſprochen fein. Biegegen fragt Her: 
mann Schulg!) mit Recht, was denn das heißen folle, „ein Name 
ift befannt ohne feine Bedeutung“. Die wirkliche Sachlage ift 
die, daß der Vorbehalt des mw dx für die patriarchalifche Religions⸗ 
ftufe lediglich Sache des Vierbundesbuches oder wie die den Lefern 
bekannten Benennungen diefer Pentatenchader fonft Lauten, ift, weil 
faſt alle Stellen, in welchen der Name zw I vorkommt, ihm ans 
gehören 2); während der Gott der Erzväter fonft eben auch Jahve 
und Elohim Heißt. Das Recht des Buches aber zu feiner Anfidt 
fuht Neftle nah Ewald in den feltenen nur den Anfangözeiten 


des Volles Israel angehörigen, fpäter aber fehlenden Namen 


zufammenjegungen mit say. Neben dieſem deſtkriptiven Genus: 
namen iſt jedoch auch noch“ ein ſpezifiſcher Eigennamen fiir ihren 
Gott bei den Erzvätern vorauszufegen. Und diefer iſt? Jahve! 
Denn Mofe bütte den Aufruf an fein Voll im Namen des Gottes 
der Väter nicht widerfinniger inaugurieren können, als mit einem 
neuen Namen für ben alten Gott?). Den Urfprung des Namens 
Jahve hat man nun befanntli) intra muros et extra, umd zwar 
nicht ohne den Tribut an das peccatur, geſucht. Der nenfte 
Stand der Unterfuchung ift der, daß man fein Onelfengebiet auf 


1) Hermann Schul& a. a. O., ©. 489. 

T) Nefle aa. O., ©. 45. 

8) W. v. Baudiffin, Studien zum femitifchern Religionsgefchichte. Heft I, 
©. 226. 


Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 31 


den femitifchen Boden eingegrenzt bat. Hier gehen jeboch bie 
Meinungen auseinander : die einen geben dem Namen einen ſpezifiſch 
iraelitifchen, die andern einen fanaanitifch-babplonifchen, die dritten 
einen arabiichen Urſprung. ‘Die erften haben die Etymologie und 
Dogmatik unbebingt für fi, die zweiten und dritten werden bon 
biftorifchen Gründen geleitet. Diejenigen nun, welche fir Kanaan⸗ 
Bobylonien plädteren, und das find, nachdem Lenormants Auv 
kinuv im Anfang der Borfippa-Infchrift durch Opperts von De» 
litzſch gebilligte Verwandlung dieſes angeblichen Gottesnamens in 
dad Prädikat für Nebnladnezar „Hirte wahrhafter“, in Wegfall ge⸗ 
tommen ift, noch Schraber !) und Deligfch ?) berufen fich auf die 
Anklänge an Jahveformen in teils Feilinfchriftlichen, teils phönis 
hen, teils biblifchen Eigennamen, welche jedoch, wenn fie wirklich 
den Jahvenamen involvieren, auch mit der Hypotheſe ber Auf- 
nahme Jahves in das betreffende heidniſche Pantheon entlräftet 
werden Tönnen, was die Vertreter diefer Anficht teilweife felbft zu⸗ 
geben, hauptſächlich aber auf das ſumeriſch⸗aſſyriſche Syllabar, 
welches das fumerifche Schriftzeichen NI für ili, Gott, in feiner 
afpriihen Spalte mit I und Ja-u erflärt, woraus man das 
einftige Vorhandenfein eines babylonifch-affyrifchen Gottes Jau oder 
ohne die affprifche Nominativendung Ja folgern möchte, den man 
übrigens bis jet noch nirgends gefunden Bat. Selbftverftänblich 
müßte bei biejer Ableitung als Hebrätfhe Urform my und m» und 
für mm eine befondere hebräifche Adaptation des dem Israeliten 
an und Tür fich unverſtündlichen Fremdworts angenommen werden, 
wie Delitzſch will. Gegen dieſe Ableitung aus dem Babyloniſchen 
bzw. gar aus dem Sumerifchen hat fih zunächſt Philippi ®) 
erhoben. Er beweift zuerft in der etymologifchen Trage die Ur⸗ 
Iprünglichleit der Form mm aus ihrem ausfchließlichen Gebrauche 


I) Eb. Schrader a. a. O. ©. 25, mit großer Zurückhaltunh. 

2) Deligih a. a. D., ©. 161—164 mit aller Zuverfiht und Ent⸗ 
ſchiedenheit. | 

3) Fr. Bilippi, IR mm akladiichefumerifchen Urſprungs? (Zeitfchrift 
für Völkerpigchologie. Bd. XIV, Heft 2). 

Theol. Staub. Jahrg. 1885. 23 


— — 


82 Röſch 


in der Proſa und folgert hierans die Notwendigkeit, in ber etymo- 
logiſchen Behandlung, nicht mit Deligich vom », 3, > zu mm, jondern 
von mm zu > u. f. w. fortzufchreiten. Sodann beſpricht er die 
Unerflärbarkeit des Übergangs der Zufammenfekung des Sume⸗ 
riihen I mit der afiyriihen Nominativendung u in Iau ode 
Jau ftatt in Jju oder Ju als Diphthong und die infolgedefien fid 
ergebende Undurchſichtigkeit der afiyriihen Erklärung des betrefia 
den Zeichens neben I noch mit Iau oder Jau. Endlich Löft er mit 
der Berufung auf ben Wechfel des phonetifch und ideographiſch 
geſchriebenen i zur Darftellung des Lautwertes il und auf bit 
durch die graphifche Abkürzung von Assur in as bewiejene Mig- 
lichkeit der Abkürzung von il in i, wie fie Haleoy annimmt, dad 
fumerifchsaffgrifche Gottesgebilde Yan oder Jahu in ein einfache 
Ku auf. Hat e8 mit den in Frage ftehenden aſſyriologiſchen 
Momenten eine ſolche Bewanbnis, fo Lafjen fie fi natürlich nid! 
gut zu der Behauptung verwerten, daß Abraham Jahve als feinen 
Gott aus feiner Heimat Ur in Chaldän, das außer Dillmanı 
wenige mehr im meſopotamiſchen Norden fuchen, mitgebracht habe 

Eher bürfte fi zur Stüge diefer Behauptung die von W. v. Bau: | 
diſſin), Liele?) und H. Rawlinſon?) vorgefchlagene, vom 
erfteren aber wieder zurückzenommene 4) Verbindung Jahves mi 
dem ſüdbabyloniſchen, urſprünglich ſumeriſchen Waffergott Hr 
oder En oder Ja, dem Lofalgott von Eridu, füdlih von Üru am 
Euphrat, ‚als dem „Herrn des Himmels und ber Erde”, „Schöpfer 
der Menfchheit“, dem „Gott des Lebens und ber Erkfenntnit‘, 
dem „Herrn von Thib (der gefegneten Stadt) oder des Paradieſes“ 
empfehlen. Der Xerritorialgott von Ur und Haran, der Mittd 
ftation des Tharaidenclans zwifchen der alten und neuen Heimat, 
war aber eben der ſich aud) im Namen Labans verratende Mond 


) 8. v. Baudifjin, Jahve et Moloch. ©. 8. 

2), Tiele, Mor Müller und Fritz Schulge über ein Problem ber Ir 
ligionswifſenſchaft. ©. 48. 

8) H. C. Rawlinson, Notes on a newly-discovered day eylinder 
of Cyrus the Great (The journal of the Royal Asiatie Society of Great 
Britain and Ireland. N. S. Vol. XI, 1880). 

4) W. v. Bandiffin, Studien u. ſ. w. ©. 219, Anm. 3. 





Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 863 


gott Sin !) und nit En: wie kam da wohl der Erzpater dazu, 
fih von dem ihn umgebenden Lofalpaganismus loszumachen und 
den Sin mit dem En zu vertaufchen? Die Antwort wäre leicht, 
wenn es wahr wäre, was Joſephus 2) bei Berofus über Abraham 
gefunden haben will, daß er in den himmliſchen Dingen ſehr er« 
fahren geweſen fei, oder was die Hellenijten, teilweife nicht ohne 
Widerſpruch mit fi felbft, von ihm rühmen, daß er die Aftronomie 
und alle andern chaldäiichen Wiffenfchaften verbreitet ja erfunden 
babe; er kommte alsdann durch Reflerion zu diefem Tauſche ver- 
anlagt worden fein. Allein als Angehöriger eines Hirtenftammes 
war er in Sachen des Geiftes einfach ein Höriger der ihn lei- 
tenden Priefterfchaft und ihres Kultus und kann alſo nicht wohl 
durch Setbftbeftimmung, fondern nur durch göttliche Einwirkung, 
bw. Offenbarung, von dem Heidentum feiner Umgebung frei ge 
macht worden fein. ALS den Urheber der ihm zuteil gewordenen 
göttlichen Dffenbarung könnte er fid den Gott ber Weisheit und 
der Heiligkeit im beimifchen Pantheon, den Ea, gedacht Haben, 
deffen fumerifcher Name fchon unter der ſemitiſchen Volksſchichte 
Sudbabyloniens die dem femitifchen Sprachgenins angemeftene 
Anderung in mim erfahren Haben Tann. Auf Sübbabylonien als 
die Heimat des Jahvenamens weift wenigftens den Schreiber diefes 
da8 Sprichwort in Gen. 10, 9 von dem, wie Nimrod, gewaltigen 
Zäger vor mm Hin. Nimrod ift nämlih nad Oppert?) einfad 
eine Berfonififation de8 unteren Euphratgebiets, Elam mit ins 
begriffen, weshalb man auch den Namen Nimrod im ganzen 
Altertum nur unter den Königen ber zweiundzwanzigſten ügpptifchen 
Dpnaftie finde, die alle echte fuflanifche gengraphifche Namen 
tragen. Anders deuten ihn freilid Paul Haupt und Sayce *), 


1) Schrader, Keilinfchriften und Geſchichtsordnung. S. 536, und a. a. O. 
©. 149. 
2) Jos. Antigua. I, 7, 2. | 
3) Dppert in feiner Rejenfion von The Chaldean account of Ge- 
nesis etc. by George Smith in ben Göttingischen gelehrten Anzeigen 1876. 
©. 876. 
9 Schrader a. a. O., ©. 93 u. 422. Delitzſch a. a.D., ©. 220 
u. 228. 
23* 


852 Röſch 


in der Proſa und folgert hierans die Notwendigkeit, im der etymo- 
Logifhen Behandlung, nicht mit Delitzſch von », 3, 9 zu mm, fondern 
von mm zu 3 u. f. w. fortzufchreitn. Sodann beſpricht er bie 


Unerflärbarkeit de3 Übergangs der Zufammenfekung des Sume 
rifhen I mit der afiyrifchen Nominativendung u in Jau oder 


Jau ftatt in Jju oder Ju als Diphthong und die infolgedefien fig 
ergebende Undurchſichtigkeit der aſſyriſchen Erklärung des betreffen: 
den Zeichens neben I noch mit Iau oder Jau. Endlich Töft er mit 
der Berufung auf ben Wechjel des phonetifh und ideographiſch 
geſchriebenen i zur Darftellung des Lautwertes il und auf die 
durch die graphiiche Abkürzung von Assur in as bewiejene Pig 
lichkeit der Abkürzung von il in i, wie fie Halevy annimmt, das 
ſumeriſch⸗aſſyriſche Gottesgebilde Jan oder Jahu in ein einfaches 
Yu auf. Hat e8 mit den in Frage ftehenden aſſyriologiſchen 
Momenten eine ſolche Bewanbnis, fo laſſen fie fi natürlich nidt 
gut zu der Behauptung verwerten, daß Abraham Jahve als feinen 
Gott aus feiner Heimat Ur in Chaldäa, das außer Dillmenı 
wenige mehr im meſopotamiſchen Norben fuchen, mitgebracht habe. 
Eher dürfte fi zur Stüge diefer Behauptüng die von W. v. Bar: 
diffin?!), Ziele?) und H. Ramlinfon?) vorgefchlagene, vom 
erfteren aber wieder zurückzenommene *) Verbindung Jahves mi 
dem füdbabyplonifchen,, urjprünglih fumerifchen Waflergott Sr 
oder En oder Ya, dem Lolalgott von Eribu, füdlih von Üru om 
Euphrat, als dem „Herrn des Himmels und der Erde”, „Schöpft 
der Menfchheit“, dem „Gott des Lebens und der Erkenntnis”, 
dem „Herrn von Thib (der gefegneten Stadt) oder des Paradieſes“, 
empfehlen. Der Territorialgott von Ur und Haran, der Mitt: 
ftatton des Tharaidenelans zwifchen ber alten und neuen Keimal, 
war aber eben der fi auch im Namen Labans verratende Mond 


1) W. v. Baubiffin, Jahve et Moloch. ©. 8. 

2), Tiele, Mar Müller und Fritz Schulte über ein Problem der Fe 
ligionswifſenſchaft. S. 43. 

8) H. C. Rawlinson, Notes on a newly-discovered day ecylinder 
of Cyrus the Great (The journal of the Röy&l Asiatic Society of Great 
Britain and Ireland. N. S. Vol. XI, 1880). 

DM. v. Baubdiffin, Studien n. |. w. ©. 219, Anm. 3. 


Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedek. 853 


gott Sin !) und nicht Ea: wie kam da wohl der Erzvater dazu, 
fih von dem ihn umgebenden Lokalpaganismus loszumachen und 
den Sin mit dem Ca zu vertauſchen? Die Antwort wäre leicht, 
wenn es wahr wäre, was Joſephus 2) bei Beroſus über Abraham 
gefunden haben will, daß er in den himmliſchen Dingen fehr er« 
fahren gewefen jei, oder was die Helleniften, teilweife nicht ohne 
Widerfpruch mit fich felbft, von ihm rühmen, daß er die Aftronomie 
und alle andern chaldäifchen Wiffenjchaften verbreitet ja erfunden 
babe; er konnte alsdann dur Reflexion zu diefem Tauſche ver» 
anlaßt werben fein. Allein als Angehöriger eines Hirtenftammes 
war er in Sachen des Geiftes einfach ein Höriger der ihn lei⸗ 
tenden Priefterfchaft und ihres Kultus und kann alſo nicht wohl 
durh Selbftbeſtimmung, fondern nur durch göttliche Einwirkung, 
bw. Offenbarung, von dem Heidentum feiner Umgebung frei ge- 
mat worden fein. ALS den Urheber der ihm zuteil gewordenen 
göttlichen Dffenbarung könnte er fi) den Gott ber Weisheit und 
der Heiligkeit im heimischen Pantheon, den Ea, gedacht Haben, 
deffen fumerifcher Name ſchon unter der femitifchen Volksſchichte 
Sidbabyloniens die dem femitifchen Sprachgenins angemefiene 
Änderung in mm erfahren Haben Tann. Auf Südbabylonien als 
die Heimat des Jahvenamens weift wenigftens den Schreiber diefes 
da8 Sprichwort in Gen. 10, 9 von bem, wie Nimrod, gewaltigen 
Jäger vor mm Bin. Nimrod ift nämlih nach Oppert?) einfad 
eine Perfonififation des untern Euphratgebiete, Elam mit ins 
begriffen, weshalb man aud ben Namen Nimrod im ganzen 
Altertum nur unter den Königen der zweiundzwanzigſten ägyptifchen 
Dynaftie finde, die alle echte fufianifche gengraphiiche Namen 
tragen. Anders deuten ihn freilih Paul Haupt und Sayce 9, 


1) Schrader, Keilinfchriften und Geſchichtsordnung. ©. 536, und a. a. O. 
©. 149. 

2) Jos. Antigg. I, 7, 2. 

3) Oppert in feiner Rejenfion von The Chaldean account of Ge- 
nesis etc. by George Smith in den Göttingifchen gelehrten Anzeigen 1876. 
S. 876. 

4) Schrader a. a. O., ©. 93 u. 422. Delitzſch a. a. O., ©. 220 
u. 228. 

23* 


854 Röſch 


deren erſterer ihn für das Nomen gentile der Stadt Marad 
oder Amarad nimmt, während ihn der letztere für eine ſemitiſche 
Umformung des ſumeriſchen Amar-ud, Sonnenkreis, das mit Me⸗ 
rodach identiſch ſein ſoll, erklürt, aber auch dieſe Erklärungen 
führen nach Südbabylonien. Hiegegen läßt ſich die Folgerung 
Welldaufens!) aus der Form des Namens Nimrod, daß 
ihn die Hebräer von den Syrern überlommen hätten, die ihn m 
Haran nach Jakob von Sarug in dem „Marri (Herrn) mit den 
Hunden” noch in fpäter Zeit gehabt hätten, nicht verwerten, da 
fie nur beweift, daß bie Götter wie die Menfchen vom Süden 
gegen den Norden Meefopotamiens gewandert find, was auch der 
von Jakob von Sarug vor dem Hundegoft aufgeführte harraniſche 
Mondgott Sin deutlich zeigt. Nun wendet allerdings Hermann 
Schultz ?) gegen Abraham als den perfönlichen Träger einer reinen 
Offenbarungsreligion ein, e8 müßte dann dieje den Edomitern und 
anderen arabiichen Stämmen im genenlogifchen Zufammenhang mit 
Abraham ebenfowohl zu eigen geworden fein als ben JIsraeliten, 
diefe Konfequenz hat jedoch eine von ihrem Lirheber gewiß nid 
erwartete Beftätigung und Wiberlegung infofern gefunden, als das 
gute Korn in dem zuerft von Tiele3) und dam von Stade‘) 
aus dem Aufbruch Jahves aus Ser und Edom im Deboralie 
und aus ber Verwandtichaft Mofes und Israels mit den Kenitern 
gezogenen Schluß auf die auch von Wellhaufen) vermutet 
mofaifche Entlehnung des Jahvedienſtes von arabifchen Stämme 
die Waprfcheinlichkeit fein dürfte, daß dieſe abrahamifchen Vöoller⸗ 
haften wirklich Jahve zu ihrem Gott hatten, freilich in paganifti- 
ſcher Entftellung, eines Allmachtsbegriffs zum Gewittergott &dom— 


1) Wellhauſen, Proleg., S. X. 

3) Hermann Schulk a. a. O., ©. 113. 

3) W. v. Baudiffin, Studien u. ſ. w. ©. 227 u. 228. 

9 Stade, Geichichte des Volles Israel. S. 129—131 und ©. 429, 
Anm. 1, wo er Jahve vom arabiſchen 550, herabfallen, ableiten und ihm 
die Bedeutung: „Fälle“, d. 5. der die Feinde und Sünder „Niederjchmetternie”, 
unterfegen möchte. 

5) Wellbanfen, Proleg, S 421. 


Die Begegnung Abrahams mit Melchifebel. 855 


Duzap— Dufares 1) weil das lebendige Waffer aus dem Brunnen 
Abrahams bei ihnen zur Pfütze geworden war. Erfcheint nun ber 
von dem Erzähler in Gen. 14 dem Erzvater in den Mund gelegte 
Gottesname Jahve immer noch als ein biftorifches Ärgernis? 
Wenn der Erzähler dann ihn daneben auch noch den Gott Meldji- 
fedels monolatrifch als wirklich anerkennen läßt, fo Heißt er Bifto- 
rich ganz richtig den Stammpater einen Tribut zuerft zahlen, 
welchen fein Volt nach ihm lange genug an die Heibengötter be» 
zahlt Hat. Die Zehntabgabe an den Priefterlönig von Salem 
werden wir dagegen, wie ſchon oben bemerkt worden tft, als eine 
Ungefchichtlichkeit aus der Zeit des Verfafjerd oder des abjchließen- 
den Redaktors der Erzählung preisgeben müſſen. 

So kommen wir jchlieglih auf die Trage nad) dem Boden 
und der Zeit, welchen die Erzählung entftammt. Ihre von ihrer 
Umgebung abftechende Eigenartigleit und ihre in den Hauptſachen 
und ⸗Geſtalten den Anforderungen der gejchichtlichen Wahrfcheinlich- 
feit durchaus angemefjener Inhalt hat befanntliih Ewald ?) zu der 
Vermutung ihrer Entlehnung aus einem vormofaifchen, Tanaani- 
tiihen, Geſchichtswerk veranlagt, für deren Möglichkeit er ſich auf 
die Spuren der Einwirkung uralter fanaanitifcher Traditionen auf 
die Hebrätfche Gefhichtserinnerung und Geſchichtſchreibung berufen 
bat. Den Schreiber diefes treiben diefe Umftände wenigftens zu 
der Vermutung ihrer Entjtehung an Ort und Stelle, das heißt 
im vorisraelitifchen Serufalem. Wenn Stade) recht Hat, daß 
die Briefterkreife der verfchiedenen Lofalheiligtümer die Träger ber 
Sage und Geſchichtſchreibung waren, warum foll es nicht auch 
der vorisraelitifche Priefterfreis Jeruſalems, und zwar nicht bloß 
etwa für Fabeln über den Lolalgott, jondern auch für gefchichtliche 
Borgänge, wie die Begegnung feines Priefterkönigs Meelchifedet mit 
dem heldenhaften hebräifchen Einwanderer, gewefen fein? Von dort 


1) ©. Röſch, Das ſynkretiſtiſche Weihnachtsfeſt zu Petra, in der Zeitfchrift 
dee Deutichen Morgenländiſchen Gejellichaft 1885, S. 2—A. 

2) Ewald, Geichichte des Bolles Israel. Bd. I, S. 79—80. 

3) Stade, Wo entflanden die genealogifchen Sagen über den Urfprung 
der Hebräer? in der Zeitichrift für alttefkamentliche Wifjenfchaft, Jahrg. 1881, 
©. 849. 


866 Röſch: Die Begegnung Abrahams mit Melchiſedel. 


aus ift die Erzählung in den israelitifchen Priefterfreis eingedrungen 
und nach vielleicht Tangem bloß mündlichkem Umlauf in den Ziid- 
reden bei dem Opferſchmaus endlich in die von fpäten Intereſſen 
beherrſchte Faſſung gebracht worden, in welcher fie um 
aufbehalten if. Ein Überreft von ihrer früheren rhapſodiſchen 
Umlaufsform ift aber auch uns noch geblieben, es ift Melchiſedek 
Hochſpruch: 
„Geſegnet ſei Abraham von 'El Eljon, 

Dem Herrn über Himmel und Erde! 

Und geſegnet ſei 'El Eljon, 

Der deine Feinde geliefert in beine Hand!“ 1) 


Havra 83 domualsrs, TO xalov xarsyeıe. 








1) Aug. Palm, Atchebräifche Lieder. ©. 5. 





Rezenſionen. 


1 


proteſtantiſche Keleuchtung der römiſchen Angriffe auf 
die evangeliſche Heidenmiſſion. Ein Beitrag zur Charak⸗ 
teriſtik ultramontaner Gefchichtfchreibung. Bon D. Guſtab 
Warneck, Pfarrer zu Rothenſchirmbach, Herausgeber ber 
allgemeinen Mifj.-Zeitf hr. 1. Hälfte. Gütersloh 1884. 





Man darf e8 zum Lobe der evangelifchen Geiftlichkeit in der 
Provinz Sachen jagen, daß fih unter ihr eine verhältnismäßig 
große Zahl von Männern findet, welche fich durch wiflenjchaftliche 
Leiftungen Berbienfte erworben haben. Sie betreffen die verſchie⸗ 
denen Gebiete der Theologie; insbefondere find es gefchichtliche 
Spezialforfhungen, wodurch unfere Hiftorifche Erkenntnis wertvollen 
Zuwachs erhalten Hat. In der Neihe diefer Förderer der Wifjen- 
haft nimmt D. Warned eine hervorragende Stelle ein. Der 
Gegenftand, welchen er zu feiner Aufgabe gemacht hat, die. Heiden- 
miffton, gehört ebenfo fehr dem praftifchen Chriftentum wie der 
theologifchen Wiffenfchaft an. Es ift Hinlänglich befannt, daß er in 
weitem Umfang die Teilnahme der evangelifchen Ehriften aller Stände 
für die Miſſion erfolgreich angeregt hat. Dies ift ihm gelungen, 
nicht nur durch die lebendige Darftellung und einfichtige Beurteilung 
der gegenwärtigen Thätigleit evangelifcher Miffionäre in feiner treff- 
lichen Deiffions- Zeitfegrift, fondern auch durch die vieljeitigen Ge⸗ 
fihtspunfte, unter welche er die Bedeutung, die Aufgaben und die 
Wirkungen der Heidenmiffton geftellt hat, und durch das gründliche 


1. 


proteſtantiſche Beleuchtung der römiſchen Angriffe anf 
die evangeliſche Heidenmiſſion. Ein Beitrag zur Charak⸗ 
teriftik ultramontaner Gefchichtfchreibung. Bon D. Guſtab 
Warneck, Pfarrer zu Rothenſchirmbach, Herausgeber der 
allgemeinen Miſſ.⸗Zeitſchr. 1. Hälfte. Gütersloh 1884. 





Man darf es zum Lobe der evangelifchen Geiftlichkeit in der 
Provinz Sachen jagen, daß fich unter ihr eine verhältnismäßig 
große Zahl von Männern findet, welche fich durch wiſſenſchaftliche 
Leiſtungen Berdienfte erworben haben. Sie betreffen die verſchie⸗ 
denen Gebiete der Theologie; insbejondere find es gejchichtliche 
Spezielforfchungen, wodurch unfere Hiftorifche Erkenntnis wertvollen 
Zuwachs erhalten Hat. In der Neihe diefer Förderer der Wiſſen⸗ 
haft nimmt D. Warned eine Hervorragende Stelle ein. Der 
Gegenftand, welchen er zu feiner Aufgabe gemacht hat, die. Heiben- 
miſſion, gehört ebenfo fehr dem praktifchen Chriftentum wie der 
theologischen Wiſſenſchaft an. Es ift Hinlänglich bekannt, daß er in 
weitem Umfang die Teilnahme der evangelifchen Ehriften aller Stände 
für die Miſſion erfolgreich angeregt hat. Dies tft ihm gelungen, 
nicht nur durch bie Lebendige Darftellung und einfichtige Beurteilung 
der gegenwärtigen Thätigfeit evangelifcher Meiffionäre in feiner treff- 
lien Miſfions⸗Zeitſchrift, ſondern auch durch die vielfeitigen Ge- 
fichtspunkte, unter welche er die Bedeutung, die Aufgaben und bie 
Wirkungen der Heidenmiffton geftellt hat, und durch das gründliche 





1. 


proteſtantiſche SKelenchtung der römiſchen Angriffe anf 
die evangelifhe Heidenmiſſion. Ein Beitrag zur Charak⸗ 
teriftik ultramontaner Gefchichtfchreibung. Yon D. Guſtav 
Warner, Pfarrer zu Rothenfchirmbach, Herausgeber der 
allgemeinen Miſſ.⸗Zeitſchr. 1. Hälfte. Gütersloh 1884. 





Man darf es zum Lobe ber evangelifchen Geiftlichkeit in ber 
Provinz Sachen fagen, daß ſich unter ihr eine verhältnismäßig 
große Zahl von Männern findet, welche fich durch wiffenfchaftliche 
Leiſtungen Berdienfte erworben haben. Sie betreffen die verfchie- 
denen Gebiete der Theologie; insbeſondere find es gejchichtliche 
Speziafforfchungen, wodurch unfere hiſtoriſche Erkenntnis wertoollen 
Zuwachs erhalten hat. In der Reihe biefer Förderer der Wiffen- 
haft nimmt D. Warned eine Hervorragende Stelle ein. ‘Der 
Gegenftand, welchen er zu feiner Aufgabe gemacht hat, die. Heiden- 
miffton, gehört ebenjo fehr dem praftifchen Chriftentum wie ber 
theologifchen Wiflenfchaft an. Es tft Hinlänglich befannt, dag er in 
weitem Umfang die Teilnahme ber evangelifchen Ehriften aller Stände 
für die Miſſion erfolgreich angeregt hat. Dies ift ihm gelungen, 
nicht nur durch die lebendige Darftellung und einfichtige Beurteilung 
der gegenwärtigen Thätigkeit evangelifcher Meiffionäre in feiner treff- 
lichen Mifftons-Zeitfprift, fondern auch durch die vielfeitigen Ge⸗ 
fichtspunkte, unter welche er die Bedeutung, die Aufgaben und die 
Wirkungen der Heibenmiffion geſtellt hat, und durch das gründliche 


360 Warneck 


Studium und die echt wiſſenſchaftliche Behandlung, welche er ihr 
zuwendet. Hiervon hat er in der vorgenannten Schrift Zeugnis ab⸗ 
gelegt, welche vor wenigen Monaten ſeiner fruchtbaren Feder ent⸗ 
ſprungen iſt. Der Titel ſpricht einen Gedanken aus, welcher in dieſer 
Vollſtändigkeit und Doppelſeitigkeit noch nicht durchgeführt worden 
iſt. Die Verteidigung der evangeliſchen Miſſion wird zugleich zur 
ſchweren Anklage der römiſchen Miſſionsmethode und Geſchicht⸗ 
ſchreibung. 

Der Verfaſſer iſt von edlem Unwillen ergriffen über die Neu⸗ 
belebung und Steigerung der vorreformatorifchen Mißbräuche, melde 
ber Papft und die römische Kirche fi in unferen Tagen zu 
fchulden fommen läßt. Die neuen Dogmen von der Siündlofigfeit 
der Maria und der Unfehlbarkeit des Papftes haben die Kreatur: 
vergötterung zur offiziellen römischen Religion gemadt. Der Ery 
bifhof von Avignon predigte während des Konzils in Rom, die 
Fleiſchwerdung Gottes habe dreimal ftattgefunden: zu Bethlehem, 
am Meßaltar und im Batilan. . Das ftreift an Blasphemie, aber 
auch für die Vergötterung der Maria bat Warned eine Zahl von 
Zeugniffen gefammelt, welche den Sieg des Heidentams über das 
Ehriftentum im Papismus beweifen. Schon Pins IX. war trunfen 
in diefem Wahn; feine Erlaffe ftrogen davon, während Chriſtus 
kaum in ihnen erwähnt wird. Don ihm fcheint der Papft nichts 
weiter zu wiffen, als daß er der Statthalter desjelben fei. Die 
Erlöfung beruht ihm auf Maria. Unfer Heil ift auf die Heilige 
Jungfrau gegründet, fagt er; wenn es für und eine Hoffmung 
und eine geiftige Heilung giebt, empfangen wir fie einzig und 
allein von ihr. Man wird an die Worte jenes Franzislaners er⸗ 
innert, welcher Chriftum anrtef, daß er ihm den Beiftand der 
Maria vermittele. Wie diefer Aberglaube unter den vömifchen 
Miffionären fortwuchert, das weiß niemand genauer als D. Warned. 
Er berichtet die Erflärung der Miffionäre in Uganda: Der Maria 
weihen wir unfere Seele, unferen Leib, unfer ganzes Leben, unfern 
Tod und unfere Ewigkeit. Wir beſchwören fie, unfere Herrin und 
Oberin zu fein. Wir erflären, daß wir alles Gute, was Bier ge- 
ftiftet werden mag, Maria zu danken Haben, und daß ihr alle Ehre 
davon gebührt. Der Verfaffer gedenkt der Betrügereien von Lourdes 








Broteftantiiche Beleuchtung der vömifchen Angriffe ꝛc. 861 


und Marpingen, anberfeits der Frechheit, womit der Ablaßhandel 
betrieben wird, der Tyrannei gegen die Untergebenen, weldie vom 
Papft auf die Bifchöfe fich fortpflanzt, und für welche er ein 
treffendes Beifpiel in dem Verfahren des Bifchofs Martin von 
Baderborn aufweift, vielleicht des zweibentigften unter den zwei⸗ 
deutigen Charakteren, welche in unfern Tagen mit der bifchöflichen 
Würde bekleidet worden find. Nicht mit Unrecht bemerkt er, daß 
die gründliche Verderbtheit der römifchen Kirche fie in verhältnig« 
mäßig kurzer Zeit zu einer Kataftrophe treiben müſſe. Religion 
md Sittlichleit find es, welche die Kirchen erhalten; wo aber bie 
Religion zum Mittel herabgewürdigt wird für die Herrſchſucht des 
Bapftes, wo es der höchfte Akt der Sittlichkeit ift, ihm das Ges 
wiſſen zu opfern, wo die Lüge teils gefliffentlich geförbert, teils 
ſchweigend geduldet wird, fo daß fie das Urteil über die Vergangen- 
beit und die Behandlung der fittlichen und religiöfen Aufgaben in 
der Gegenwart Immer vollftändiger durchdringt, da ift ein Gottes» 
gericht unvermeidlich, und die Geſchichte Iehrt, dag e8 dann am 
nächſten ift, wenn die Wepriftination am Ziele zu fein meint. 
D. Warneck nennt das erfte Kapitel, „die römifche Provokation“. 
Denn die Erneuerung der ſchnöden Mißbräuche richtet überall ihre 
Spike gegen die evangelifche Wahrheit. Zu den belannteren direkten 
Angriffen des Papftes und der Jeſuiten gegen umfere Kirche fügt 
der Berfaffer die minder beachtete Schmähfhrift Leos XIII. vom 
3. Dezember 1880 Hinzu, die in Geftalt eines Rundſchreibens bie 
Miffionäre der evangelifchen Kirche für trügerifche Männer erflärt, 
welche fich anftrengen, die Herrfchaft des Fürften der Finfternis 
auszubreiten. In demfelben Zone reden die katholiſchen Mifftons- 
Zeitſchriften und Gefchichtsbücher. Der Herabwürbigung der pro 
teftantifchen Meiffionen und der ebenfo unwahren Verherrlichung 
der eigenen ftellt der Verfaſſer die objektive und billige Behand- 
Img gegenüber, welche die römifchen Miſfionen in den proteftan« 
tiſchen Darftellungen erfahren. Wie nahe aber gleichwohl Chrift- 
liches und Heidnifches, Politifches und Neligiöfes in Theorie und 
Praxis der Römlinge bei einander Tiegt, davon geben die römischen 
Mifftonsberichte unzählige Beifpiele. Eines der Iehrreichften neuerer 
Zeit führt der Verfaſſer aus den von Selbftlob überftrömenden 


362 Warneck 


Berichten der römiſchen Miſſion in Madagaskar an. Ein fran⸗ 
zöfiſcher politiſcher Agent, gewohnt, nach jeſuitiſcher Methode Re 
ligion in Politik und Politik in Religion zu verwandeln, empfahl 
der kranken Königin „unter alle Nahrungsmittel einige Tropfen 
Weihwaſſer zu miſchen; denn dadurch würden täglich Heilungen zu⸗ 
wege gebracht. Er näherte ſich der Sterbenden, gab ihr einige 
fromme Gedanken ein, worauf fie Augen und Hände zum Himmel 
erhob. Darauf Tieß er, als ob er fie magnetifieren wolle, ein 
Gefäß mit Waſſer bringen, tauchte feine Hände darein und wuſch 
die Stirn der Königin, indem er zugleich die ſakramentaliſchen 
Worte ſprach. Keine der anweſenden Perfonen (ich vermute, die 
Königin nicht ausgenommen) hatte auch nur die mindefte Ahnung 
von der frommen Lift, welche da angewendet wurde, um ein 
Seele zu reinigen“. Die fo getaufte Königin ift nun Batronin 
der Inſel. 

D. Warned gehört nicht zu der Zahl der evangelifchen Geilt- 
lichen und Laien, welche aus übertriebener Empfindlichkeit gegen 
die von ihnen abweichenden Richtungen der evangelifchen Kirche oder 
vermöge der Shealifierung des Papismus oder aus politifchen Mo 
tiven von einem Liebesbändnis mit der römischen Schweſterkirche 
träumen; denn feine Studien haben ihn eines anderen belehrt. 
Er fieht ihre vergifteten Waffen gegen das Evangelium und bie 
evangelifche Kirche gerichtet, er verfolgt die Gegner auf ihr 
Scleichwegen, er deckt ihre Verlogenheit auf und leiftet damit der 
Erfenntnis der Wahrheit einen höchſt dankenswerten Dienft. 

Es ift eine mühfame Arbeit, zu welcher er fich anſchickt, umd 
nur wenige möchten außer ihm vorhanden fein, welche mit glei 
fiherem Schritte in dem Irrgarten der römifchen Litteratur über 
Milton fich zurecht finden könnten. Auf mehr als 50 Seit 
giebt er eine Kritik des Werkes eines englifchen Konvertiten Ra 
mens Marfchall, welches 1863 in beutfcher autorifierter Über⸗ 
ſetzung erfchien, unter dem Titel „die chriftlichen Miſſionen, ihre 
Sendboten, ihre Methode und ihre Erfolge‘. Dies Werk, weldes 
im römifchen Lager den höchften Rang einnimmt, ift, wie Warned 
erfannt bat, bis auf ben heutigen Tag das Hauptzeughaus, wel⸗ 
chem die dortigen Gegner ihre Waffen und Gitate in Belämpfung 








Proteftantifche Beleuchtung der römifchen Angriffe sc. 868 


der proteftantifchen Miffton entnehmen, und zwar in ber Regel, 
ohne es zu nennen. Die Geſchichte der Miſſion wird darin nad 
dem von Kardinal Manning ausgefprochenen Grundfag behandelt, 
daß die Dogmatik die Gefchichte überwunden habe. Über die pro- 
teftantifche Miſſion urteilt er mit berfelben Gehäffigkeit, mit 
welcher Leo XIII. die evangelifhe Kirche befchimpft. Die pro- 
teſtantiſchen Mifftonäre, jagt Marfchall, können die Heiden nur in 
Atheijten verwandeln. Eine ungeheuere und univerjelle Verbeerung 
folgt ihnen überall Bin; denn da Gott ihnen alle übernatürlichen 
Gaben vorenthielt, verhängen fie über die heidnifche Welt einen 
noch ſchwereren Fluch, ein noch unheilbareres Wehe. Die pro» 
teſtantiſchen Mifftonen find Überall das fchlimmfte Hindernis gegen 
die Belehrung ber Heiden, ihr Chriftentum ift eine Täufchung, ihre 
Bertreter Betrüger. In diefem Sinne und Ton wird das Ganze 
und die einzelnen Mifftonäre beſprochen. Warned entlarut die 
Gewiffenlofigfeit, mit welcher Marſchall die Statiftif der Bibelgeſell⸗ 
haft und der Miffionsgefellichaften behandelt. Denn die Beweiſe 
Marſchalls find Berichte proteftantifcher und katholiſcher Schrift 
fteller, welche entweder an fich unrichtig und gehäfftg find, oder 
deren Urteile aus dem Zuſammenhang geriffen nnd in der bös⸗ 
willigften Weife verdreht und gedeutet werden. So wird 3. B. 
der edle Miffionar der Südſeeinſeln, John Williams, ein feltenes 
Mufter aufopfernder Liebe und Thätigkeit, nur erwähnt, um feine 
ſittliche Reinheit zu befchmugen, und wenn er in feinem Berufe 
den Märtyrertod erlitt, fo wird biefer als die gerechte Vergeltung 
dafür bezeichnet, daß er die Infulaner ausgeplünbert habe. Die 
Litteratur über die Miffionen der Südfeeinfeln ift reichlich vor- 
handen, und jeder vermag, daraus mit Leichtigfeit die Zeugniffe zu 
jommeln für den günftigen Erfolg, mit welchem da® Leben ber bes 
tehrten Eingeborenen verfittlicht worden iſt. Marfchall dagegen 
weiß Tediglich nieberträchtige, verwilderte Betrüger und Lügner dort 
zu finden. Seinem fanatifchen Hafje gegen die evangelifche Kirche 
fommt nur die Lüge gleich, welche ihm als Mittel dient. 

Jedoch diefe Berleumdung, welche fich Gejchichtfchreibung nennt, 
bat noch eine andere Folge für die Kirchengeſchiche. Janſſen 
hat das Marfchaltfche Wert, welches er für ein Maffifches erklärt, 


864 WVWarned 


für feine Darftellung der proteftantiichen Miſſton benugt. Er 
bat die Tendenz desſelben fortgepflangt und die leichtfertigen Be 
hauptungen leichtfertig wiederholt. Die tendenzmäßige Wendung, 
Heranziehung oder Weglaffung der Quellen ift diefem Hiftoriter 
von Köftlin und anderen bei vielen gefchichtlihen Stoffen nachge⸗ 
wiefen worden; Warned in feiner Erörterung Über Janſſen bat 
das doppelte Verdienft, auf dem Gebiet ver Miſſtonsgeſchichte zu 
zeigen, wie er viel Malice mit wenig eigenem Studium verbinde, 
die Dürftigfeit feiner Quellenkenntnis mit Plagiaten verdedt, u 
tritifch und unmahrhaftig zu Lob und Tadel die Autoritäten heran 
zieht. Während er im Stile Marſchalls Verunglimpfungen jeder 
Art auf die evangelifhen Miffionen häuft, beharrt er bei den 
Traditionen von dem apoftolifchen Charakter des Heiligen Jeſuiten 
Xaver, der nur mit Kreuz und Brevier ausgerüftet nach beiden 
Indien, nah den Moluffen, nah) Japan und China gezogen jei. 
Und da ift e8 denn ein zweites Verdienſt D. Warneds, daß er 
die verhimmelnden Lobhudeleien einmal gründlich ansgefegt hat, mit 
welchen die römische Schriftftellerei diefen Miſſionar noch immer 
umgiebt. Wer bei der Wirklichkeit ftehen bleibt, wird Xaver alt 
einen für die Ausbreitung des römiſchen Ehriftentums begeifterten, 
mutvollen, thätigen Mann jchägen, welcher in der Fürſorge für 
Arme und Kranke auch großer Liebe fühig war. Übrigens abet 
ift er in Benugung verwerflicher Mittel der richtige Jeſuit. Schon 
das ift charakteriftiich, dag fein Mufter, Ignatius von Loyola, 
„erft dam in ihm das Streben nah chriftlicder Vollkommenheit 
zu entzünden vermochte, als er feiner Ehrbegierde fchmeichelte, feine 
Talente fobte, ihm Schüler zuführte und in Gelbnöten aushalf”. 
Dem eutfprechend betreibt er jelber die Miffton in Indien. Er 
erwirkt einen Befehl des Königs von Portugal an den Bizefönig, 
daß in feinem Bereiche die neuen Chriften aus dem königlichen 
Schatze unterftätt werden. Es follen ihnen gewiffe zeitliche Bor: 
teile, welche von großem Einfluß auf das Herz der Uuterthanen 
jeien, zugewendet werben, damit die Heiden geneigt werben, fich 
unter das Joch des Evangeliums zu beugen. Da aber Güte allein 
nicht Hilft, fo follen alle Götzenbilder aufgefucht und zerftört, fireng 
Strafen verfündigt werden gegen jeden, der es wagen follte, ein 





Proteftantifche Beleuchtung der vömifchen Angriffe 2c. 865 


Götzenbild zu verfertigen oder einen Brahminen zu beſchützen oder 
zu verbergen. Aus einem von Warned mitgeteilten Briefe Xavers 
an den König geht hervor, daß die königlichen Beamten jenem in 
der Anwendung ber Zwangsmaßregeln zu faumfelig waren. „Strenge 
Strafen“, jchreibt er, „müßten jeden Gouverneur treffen, wenn in 
feiner Provinz die Zahl der Belehrten unbeträchtlich bleibt, denn 
das fteht feit, daß e8 viel mehr Bekehrte geben würde, wenn Die 
Beamten es ernftlich wünſchten. Ja, ich fordere, da Ew. Ma⸗ 
jeität einen feierlichen Eid fchwören, daß jeber Gouverneur, ber es 
verfäumt, unferen heiligen Glauben auszubreiten, bei feiner Rück⸗ 
fchr nach Portugal durch jahrelange Einfperrung beftraft, feine 
Güter Fonfisziert und zum Beſten wohlthätiger Zwecke verkauft 
werden follen. Ich könnte Thatfachen in Menge anführen zur 
Unterftügung der Notwendigkeit meines Rates.... Ich beſchränke 
mich aber auf die Verficherung, daß, wenn jeder Vizelünig und 
Gouverneur von dem vollen Ernft folchen Eides überzeugt wäre, 
ganz Ceylon, viele Könige der Mealabarfüfte, das ganze Kap Co- 
morin in einem Jahre das Chriftentum annehmen würden. So 
lange aber die Bizelönige und Gouverneure nicht durch Furcht vor 
Ungktade gezwungen werden, viele Chriften zu machen, barf Em. 
Mofeftät wicht erwarten, dag die Predigt des Evangeliums in In⸗ 
dien eime erhebliche Wirkung habe, oder daß viele zur Taufe ge 
bracht werden und ein bedeutendes Wachstum der Belchrten ftatt- 
finde. Die einzige Urfache, baß Nicht jedermann in Indien an 
die Gottheit Chrifti und an feine heilige Lehre glaubt, Tiegt in 
der ftraffreien DVernachläffigung der Belehrung durch die Statt- 
halter.“ — Als ein König der Miffton fich feindlich zeigte und 
die Ehriften niedermebelte, deren Anzahl wahrjcheinlich fehr über- 
trieben auf 700 angegeben wirb, fo verfuchte Xaver eine Revo⸗ 
Intion ‚gegen ihn ins Werk zu fegen und mit Hilfe der Portugiefen 
deſſen Bruder zum Throne gu verhelfen, wenn diejer fi taufen 
laſſen wolle. Die Politik fchlug aber zum Nachteil Xavers aus, 
und er 309 es vor, Indien zu verlafien. Sein Mangel an Kenntnis 
der Randesfprachen war ihm binderlih. Warneck beweiit das aus 
feinem eigenen Zeugnis: „ES ift eine fchlimme Lage inmitten eines 
Volles von fremder Zunge ohne einen Dolmetſcher. Rodriguez 


866 Barnıd 


verfucht zwar den Dolmetſcher zu machen, aber er verftcht wenig 
Bortugiefih. Da lannft Dir alfo denken, was ich hier für ein 
Leben führe, und was ih für Predigten halte, wenn weder das 
Bolt den Dolmetfcher noch diefer mich verfteht. Ich follte Meifter 
in der Zeichenfprache fein. Dennoch bin ich nicht ohne Arbeit, 
denn ich brauche keinen Dolmetfcher, um neugeborene Kinder zu 
taufen.” Dagegen weiß die Legende, daß er die zur Predigt nö 
tigen Spraden wunderbar fchnell erlernte, und wenn das noch 
nicht Schnell genug vonftatten ging, fo redete er die Sprachen durch 
ein Wunder, ohne fie erlernt zu Haben; oder er redete eine folde 
Sprache, daß von Zuhörern verjchiebener Nationen jeder in feiner 
Sprade ihn verftand. Da dies durch die Kanonifationsaften ver- 
bürgt ift, fo hat in der jefuitiichen Geſchichtſchreibung auch diesmal 
das Dogma das widerfprechende Zeugnis XRavers überwunden. Es 
ift auch nur eines von vielen Wundern. Er vollbringt mit Kru⸗ 
zifiren, Roſenkränzen und anderen Dingen fo viele Wunder, er bes 
fehrt jo viele Heiden, „daß die Welt feit den Tagen des Apoftel 
Paulus keinen Völkerlehrer gefehen hat, gleich dem heiligen Xaver“. 
Wie aber die Qualität diefer Bekehrungen befchaffen war, davon 
finden fich dei Warned mehrfache harakteriftifche Zeugniffe. Xaver 
fie 3. B. den Glauben, das Gebet des Herrn, das Ave» Maria 
und die zehn Gebote ins Tamulifche überfegen und die Säge wie 
der und wieder nachſprechen. Beim Glauben fragte er nach jebem 
Sake, ob fie das feft glauben? und wenn fie das bejaht, ermahnte 
er, die Worte oft zu wiederholen und erklärte, daß Diejenigen 
Chriften feien, die daran fefthielten. Ähnlich bei dem Vaterunfer 
und den zehn Geboten. Dann folgte eine allgemeine Beichte, und 
der Unterricht war fertig. Was die Quantität betrifft, fo wiſſen 
feine Xobredner, daß er an einem Tage 10000 und im ganzen viele 
Hunderttaufende getauft habe. Xaver felbft dagegen fchreibt gegen 
Ende feiner Wirkſamkeit 1549 über das portugiefiihe Indien: 
„Die Eingeborenen find fo fchledht, daß von ihnen niemals die 
Annahme bes Chriftentums erwartet werden Tann. Man könnte 
fie ebenfo gut auffordern, ſich umbringen zu lafien, als Chriſten 
zu werden.” — Der Bericht des Jeſuiten Martin vom Jahre 1700, 
welchen Warneck binzufügt, beftätigt e&, wie gering der Wert von 


Vroteftantifche Beleuchtung der römifchen Angriffe zc. 3 


Kavers Miſſion nach Zahl, Beichaffenheit und Wirkungen auf die 
Folgezeit gewefen if. Es gebe, fagt er, unter den Indiern nur 
drei Sorten von Berfonen, welche das Chriftentum angenommen 
haben, ſeitdem es ihnen von europätfchen Mifftonären gepredigt 
fü. Die erften feien die Bewohner ber Fifcherfüfte, welche vor 
der Ankunft des Xaver aus Furcht vor den Mohammedanern und 
wegen des Schutzes der Portugiefen fich Chriften nannten, und 
dur welche Xaver Hindurcheilte, um fie zu unterrichten. Zweitens 
die Bewohner an der Südküfte, jo weit bie Portugiefen fie unter» 
johten. Sie belannten fich fofort äußerlich zur Religion der 
Sieger. Man zwang fie, ihren Kaften zu entfagen und die euro- 
päiſchen Sitten anzunehmen, mas fie aufs höchfte erbitterte und 
ur Verzweiflung tried. Die Teste Klaſſe beftand aus Leuten, 
welhe die Hefe des Volks bildeten, aus Sklaven ber Portugiefen, 
oder aus folchen, welche wegen ihrer Lafter aus ihrer Kafte ge- 
floßen waren. 

Der Schwulft, in melchen das meift fehr einfache Leben der 
römischen Meiffionäre und Helligen eingemwidelt wird, ift von altem 
Datum. Wir erkennen ihn fchon in den alten Biographieen, welche 
den Stempel römifcher Kirchlichfeit tragen. Seine Wurzel aber 
hat er in den Panegyrifen bes finkenden Heibentums. An diefer 
Stelle, wie an unzähligen anderen, hat fich die Verborbenheit des 
heidniſchen und kirchlichen Noms gemifcht. 

Warneck verkennt dennoch nicht, was in der Ausdehnung ber 
römischen Mifftonsthätigleit Großartiges tft, auch nicht die Aufs 
opferungsfähigfeit vieler römischer Mifftonäre; aber die Weihrauch- 
wolfen, mit welchen römische Selbftgefälligkeit die Mifftonäre ums 
giebt, will er Tichten, und wenn Janſſen in ber Miffion die fignis 
flanteften Belege für die Heiligende Kraft der römifchen Kirche 
findet, fo macht Warneck auf die nötigen Einfchränfungen aufmerf- 
ſam. Vierhundert Jahre ungeftörter Mifften und Kirchenverwals 
tung in Südamerika haben bewirkt, daß man in Ecuador, dem päpſt⸗ 
lihften aller Länder, welches fich ganz dem Bapfte zur Verfügung 
geftellt hat und welches jeden proteftantifchen Gottesdienſt ausfchließt, 
die einfachften Lehren der Religion ganz unbelannte Dinge find. 
Die Pfarrer figen das ganze Jahr hindurch in Quito oder anderen 

Theol. Stud. Yahrg. 1885. 24 


8368 Warneck 


Städten und reiten nur ein» oder zweimal zu ihren Gemeinden 
hinaus, um Abgaben zu nehmen und nebenbei die Saframente zu 
ipenden. Die fittliden Berhältniffe des ganzen Landes find elend. 
In Merilo, Beru und Bolivia fteht es damit womöglich noch 
ſchlechter. Man leſe die Tatholifchen Berichte darüber und über 
Brafilien, Argentinien, Chile, welche Warneck vorführt, und man 
wird diefelbe Beobachtung machen, zu welcher man bei ben roma⸗ 
nischen Volkern Europas gedrängt wird, daß je mehr eine Nation 
dem Papismus preisgegeben ift, um fo mehr fie in Aberglauben 
und Unfittlichleit verfinkt. 

Einen bejonderen Abfchnitt widmet Warned der Eitierkunft 
römifcher Schriftfteller. Hier wird an Marfchall, auch an Jauſſen 
und anderen die Perfidie nachgewiejen, mit welcher andere Schrift. 
fteller zugunften Roms und zu Schmähung der enangelifchen Kirche 
benugt werden. Solche, weldye fich bei Kennern durch ihre Unze 
verläffigkeit um allen Glauben gebracht Haben, werden als voll | 
fommen zuverläffige Autoritäten gepriefen, dafern fie nur brauchbar 
für die Parteizwecke find. Die dreifteften Unmwahrbeiten werben 
ohne Bedenken ausgefprochen und womöglich aus den angeblichen 
BZeugniffen von Proteftanten bewiefen, die entweder Krpptofathe 
liken find oder gar nicht exiftieren. Um 1863 fagt die dentſche 
Überfegung von Marſchalls Bud: Bis auf biefe Stunde hat Rom 
100 Schulen mehr ald Berlin, und durch alle diefe Schulen wird 
dem Volke genau dasfelbe gelehrt, was in Berlin gelehrt wir. 
Triumpbierend fügt Marfchall Hinzu: „Sole Thatſachen fchlagen 
eine Welt von Humbug in die Flut.“ Mean darf behaupten, 
daß die Befcheideuheit in diefen Worten ebenjo gering ift wie ihre 
Wahrheit. Warned bat fich die Mühe gegeben, ftatiftifche Notizen | 
zuverläffiger Ablunft zu erlangen. Darnad) gab e8 am Ende der 
päpftlichen Herrfhaft in Nom 14 Elementarſchulen. In dieſen 
Schulen lernten die Knaben Iefen, fchreiben und etwas Grammatil, 
die Mädchen Lefen, um das Gebetbuch zu verfiehen. Einen metho⸗ 
difchen &lementarunterricht, welcher die bei uns üblichen Fächer 
umfaßt hätte, gab es nit. Auf 100 Rekruten im SKiccheuftaat 
famen 59, bie nicht leſen konnten. Die Lönigliche Regierung brachte 
bis 1876 die Zahl der Schüler in weltlichen und geiftlichen In⸗ 





Broteftantifche Beleuchtung der römischen Angriffe ꝛc. 809 


ſtituten auf eima 18000; während in Berlin um 1881 etwa 
118900 Elementarſchüler vorhanden waren. Welche Ergebniffe 
der Unterricht in den häheren Schulen bis zum Jahre 1870 Hatte, 
‚babe ih an einem anderen Orte geſchildert!) umd will das bier 
nicht wiederholen. 

Beachteuamwert ft die Bemerkung Warnede, daß Be Berichte 
der römiſchen Mifftomäre unter einer noch ſtrengeren Zenſur ftchen 
als die Verdffentlichungen heimischer Kleriker. Es befteht.ein Syftem 
der Unmehrheftigleit in Rob und Verſchweigen, und mur felten 
dringen Merichte von urkundlichem Wert in die Öffentlichkeit, wäh- 
rend die Aufrichtigkeit ber proteftantifchen Sehriftfteller über Mif- 
Non, welche mit dem Licht auch die Schatten erfennen laffen, der 
römischen Feindſeligkeit und Schmähfucht die Arbeit erleichtern. 
Man kann nicht behaupten, daß Warnecks Rüge gegen bie falfche 
Lunſt der römiſchen Schriftftellerei zu ftrenge fei; fie argumentiert 
vielmehr mit den Tchatfachen, und jeder vermag aus feiner Dars 
legung die römische Art zu erkennen, welche faft unnermeiblich da, 
wo Barteinng ins Spiel Tommt, dem Heiligen die Lüge anheftet. 

Um zu zeigen, daß man mit ber gleichen böswilligen Sophiſtik 
auch das Erhabenfte gemein machen unb die Wahrheit in Lüge 
verwandeln famı, menbet er im fünften Abfchnitt diefe römische 
Methode auf die ueuteftamentlihen Berichte und bie apoftofifche 
Zeit an. Aus den tadelnden Bemerkungen und Ermmahnungen der 
Apoſtel, die fih an die Grmeinden richten, läßt fih mit den glei» 
hen Künften der Auslegimg ableiten, daß die Gemeinden bürftig 
an Erkenntnis, von Laftern aller Art erfüllt, in innerer Zerriſſen⸗ 
heit begriffen waren, und daß, wenn ben thatfächlichen Zuftänden 
und Vorgängen gegenüher die Apeoftel die Gemeinden loben, dies 
nichts anheres als Schmeichelet und Schönfärberei ſei. Auch der 
ünßere Erfolg, höchſtens 30 Keine Gemeinden befannten Namens, 
laͤßt ſich als ein geringes Ergebnis der Arbeit von 12 Apofteln und 
wenigfteus 30 Gehilfen darſtellen. Selbft die Apofiel, namentlich den 
Cherafter des Petrus und Paulus, Iann man durch ſolche Mittel in 


1) Jakobi, Streiflichter anf Religion, Polttit und Univerfitäten der Zen- 
trumspartel. Halle 1888. ©. 19f. 
24* 





30 Barned 


den Schmuß ziehen. Es kommt ein Zerrbild der apoftolifchen Zeit 
zutage, ganz ähnlich demjenigen, was die Jeſniten von der Miſſion 
der evangelifchen Kirche entwerfen. Das alles ift treffend ge- 
zeichnet, nur glaube ih, die Parodie würde wirkfamer fein, wenn‘ 
fie kürzer wäre. 

Einen der wichtigften und intereffanteften Abfchnitte bes War⸗ 
neckſchen Buches bildet das este Kapitel über die römische Mif- 
fionslegende. Der Verfaffer findet mit Recht den allgemeinen und 
tieferen Grund für das Gedeihen dieſer Wucherpflanze in ber 
Selbftverherrlichung der römischen Kirche, in der Verkennung und 
Verſchweigung ihrer Fehler, in ihrer Unkritik und Aufgeblafenheit. 
Mit der gleichen Selbftverblendung, in der fie dem Gemifch von 
wahren Chriften und Namenchriften alle Prädikate beimißt, welche 
nur für die Gläubigen beftimmt find, überficht fie an dem einzelnen, 
welche fie für auserwählte Werkzeuge Gottes hält, die Wirkſamkeit 
der Sünde, drückt bie fittlichen Gefichtspunkte herab, um bie Men⸗ 
fchen zu erheben, ftattet fie mit Wundern aus, beren übernatürliche 
Beſchaffenheit kaum jemals, felbft vor der wohlmwollenden Kritik zu 
erhärten tft, die in der Regel durch Oftentation von dem füttlichen 
Gehalt der neuteftamentlichen Wunder fich unterfcheiden,, außerdem 
großenteil8 abenteuerfih und abgeſchmackt find, mithin ebenfo ver- 
wandt den Erbichtungen der apokryphiſchen Evangelienlitteratur, 
wie fie dem Geifte der echten Evangelien fremd find. Und das 
alles mit jener Ruhmredigkeit vorgetragen, gegen deren konveutio⸗ 
nellen Bombaft der jogenannte pietiftifche Jargon, welchen die Röm- 
linge den proteftantifchen Mifftonsblättern vorwerfen, ein Ge 
ringes iſt. Warneck bemerkt treffend, daß die Miſſion die reichfie 
Gelegenheit zur Sagenbildung darbiete, weil hier die Phantafie durch 
die fremdartigen Bedingungen angeregt wird, und leicht Umgefſtal⸗ 
tungen des Thatfächlichen wirkt. Wir fügen Hinzu, daß entfernte 
Großthaten und Wunder fehwerer zu kontrollieren find, als örtlich 
nahe, und daß fich fehr gewöhnlich die pia fraus an die abſichts⸗ 
[08 dichtende Sage anſchließt. Warned hat die fehr wenigen ehren 
vollen Ausnahmen auf römifcher Seite nach feinem gewohnten Ge⸗ 
rechtigfeitsfinn nicht überfehen. Ein um fo fchärferes Licht läßt 
er auf die leichtfinnig oder abfichtlich hervorgebrachten Miſſioné⸗ 


Proteſtantiſche Beleuchtung der römiſchen Angriffe zc. 871 


legenden fallen, namentlih auf den Nimbus des Xaver. Sehr 
Iehrreich ift der Nachweis, wie die Legende in der Reihenfolge der 
Berichte Tavinenartig wächft, und wie bie jefuitifchen Erzähler, felbft 
wenn einmal ein Eritifcher Zweifel fich regt, durch zweidentige Dars 
ftellung den frommen Lefer. darüber hinwegzuheben fuchen. Lehrreich 
ift ebenfo die Beobachtung, daß auch in der Gegenwart der Same ber 
Legenden in den Mifftonsgebieten ausgeftrent wird. Die prahlerifchen 
und lügneriſchen Berichte jefuitifcher Miffionare Tegen diefe Keime, 
welche mit oder ohne Abficht zu Wunbderbäumen fich entwickeln werben. 
Ich glaube zwar nicht, daß die im Stickſtoff der Unfehlbarkeit 
atmenden römischen Schriftfteller durh Warnecks Buch zu nüch⸗ 
ternerer und wahrhafteree Gefchichtfchreibung geführt werben; allein 
die evangelifche Kirche und Theologie wird es ihm banken, daß er 
auf dem Gebiet, in welchem er vor anderen heimisch ift, die tra⸗ 
dittonelle Unmwahrbeit als das aufgewiefen Hat, was fie tft. 
Profeffor D. Yacobi. 





2. 


D. Bangemann, Die Intherifhe Kirche der Gegenwart 
in ihrem Verhältnis zur Una Sancta. Eine Iubiläums- 
gabe in fieben Büchern. Berlin 1883. 1884. Gelbit- 
verlag des Berfaffers. In Kommiffion bei Wilh. Schulge 
(Wohlgemuths Buchhandlung). ME. 31,70. 





Das Werk zerfällt in folgende einzeln erfchienene Hefte): 

1) Erftes Bud: Der fiebente Artikel der Augsburgifchen Kon⸗ 
feſſion, als Fundament zu einer biblifchen Lehre von der Una 
Sancta. 1883. 70 © Mi. 1,25. 

2) Zweites Bud: Gefhichtliche Darftellung des Ringens und 
Kämpfens um Wiedergewinnung der verlorenen Einheit der Una 
Sancta. 1883. 124 © Mt. 2. 


1) Diefelben find im folgenden nach den Zahlen 1—9 citiert. 


872 i Wangemann 


3) Drittes Buch: Die nenlutheriſche Freilirche und ihre Ab⸗ 
irrungen von ber firchlichfymbolifchen Lehre von der Una Sancta. 
1883. 197 ©. Mt. 3. 

4) Viertes Bud: Die nenlutherifche Begriffsverwirrung in den 
Kirchenideen hervorragender Stimmführer in dentfchen Intherifäen 
Landeskirchen als ein vornehmliches Hindernis für die Ausge 
ftaltung der Una Saneta. 1883. 150 S. Mi. 2,50. 

5) Fünftes Bud: Bauplan und Bauſteine für die leibliche Aus- 
geftaltung der Una Bancta. 1883. 279 ©. Mi. 4,ss. 
6) a. Sechſtes Buch: Die preußifche Union in ihrem Verhältnis 

zur Una Sancta. b. Stiebentes Bud: Die Una Saneta 

nach der Lehre ber Heiligen Schrift. 1884. 359 ©. Mt. 5,50. 

Dazu treten Ergänzungshefte: 

7) Zum dritten Bud: Drei preußifche Dragonaden wider bie 
[utherifche Kirche. 1884. 119 ©. ME. 1,90. 

8) Zum fünften Bud: Johann Sigismundt und Paul Ger- 
hardt oder der erfte Kampf der Intherifchen Kirche in Kur 
brandenburg um ihre Eriftenz. Ein Eirchengefchichtliches Lebens⸗ 
bild aus dem 17. Jahrhundert. 1884. 256 ©. Mi. 4,20. 

9) Grundlage für das fehfte Buch: Die kirchliche Kabinetts- 
politit des Königs Friedrich Wilhelm III. inforiderheit in Be⸗ 
ziehung auf SKirchenverfaffung, Agende, Union, Separatismus 
nach den geheimen füniglichen SKabinettsakten und ben Alten- 
fteinfchen bandfchriftlichen Nachlaßaften des königlichen geheimen 
Staatsarchiv gezeichnet. 1884. 452 ©. ME. 7. 

Das umfaffende Werk des in den Kämpfen der preußiſchen 
Landeskirche erfahrenen Verfaffers liegt nunmehr in neun Broſchüren 
vollendet vor. Wir hatten die Beiprechung der bedeutſamen Arbeit 
mit Abficht bis zum Abfchlug des gefamten Werkes aufgefpart, 
um womöglich ein einheitliched Gefamturteil zu gewinnen. Ein 
folches zu geben ift jedoch nach ber ganzen Anlage des Buchs 
nicht möglih. Die Fülle einzelnen Stoffs hat eine einheitliche 
Seftaltung nicht gefunden; eine ſolche ift auch von dem Verfaſſer 
gar nicht beabfichtigt gewefen. Dadurch wirb allerdings die Be 
fprehung auch nur eine fortlaufende Rückſichtnahme auf einzelne 
Erörterungen des Berfaffers enthalten können. 


Die lutheriſche Kirche der Gegenwart ꝛc. 878 


Der Verfaſſer hat als Ausgangspunkt und Grundlage für das 
gefamte Werk Art. VII (n. VIII) der Auguftana gewählt. An 
diefem Artikel, in welchem der DVerfaffer das Bekenntnis zur Una 
sancta findet, fol die Intherifche Kirche der Gegenwart einer Prüfung 
unterworfen werben. Allerdings weift der fpezielle Titel des erften 
Buchs (Nr. 1) fogfeih über den Gefamttitel hinaus. Wangemann 
will nach diefem Spezialtitel (Nr. 1) dem fiebenten Artikel der 
Auguftana „als Fundament zu einer biblifchen Lehre von ber 
una sancta* zur Erörterung bringen. In der That folgt au im 
legten Buch die Lehre der Heiligen Schrift von der una sanota, 
Schon dieſe Folge giebt zu prinzipiellen Bedenken Anlaß. Nimmer- 
mehr kann nach evangelifchem reſp. lutheriſchem Prinzip eine kirch⸗ 
lie Lehranffaffung zum Fundament für die biblifche Lehre dienen, 
jondern umgelehrt fünnte nur die bibltfche Lehre das Fundament 
bilden, auf dem die Korreltheit des Artikels VII der Auguftana 
zur Erörterung käme. Allerdings Tiegt auch der Fehler mehr im 
Ausdruck als in der Sade. Die biblifche Lehre von der una 
sancta (Nr. 6P) ſchließt ſich durchaus loſe an das abgefchloffene 
Berk an, nachdem bereits ber Verfaſſer das Schlußwort für das 
Ganze gefchrieben hat (Nr. 6, S. 15379ff.) Auch verliert diejes 
letzte Buch dadurch an Bedeutung, als es nur ganz kurz auf 
44 Seiten eine fummarifche Überficht über bie biblifch-theologifche 
Auffaffung des Verfaſſers ohne eingehendere exegetifche Begründung 
giebt. Dabei verweift der Verfaffer auf die ausführliche Begründung, 
die er in feinem früher erfchienenen Buch: „Das Opfer nach Lehre 
der Heiligen Schrift" gegeben Hat. Wir müffen darauf verzichten, 
an diefer Stelle auf diefes abfchließende fiebente Buch, das eben mehr 
ein Anhang als ein organifcher Teil des Werks ift, näher einzugehen. 
Die Auffaffung Wangemanns, nach der er bereits die vollftändige 
Una sancta mit ihren Tonftitutiven Faktoren Gemeinfchaft der Gläu⸗ 
bigen einerfeits, Wort und Saframent anderfeits im Alten Teftament 
ausgeftaltet findet, die tupologifche Verwendung des Alten Teftaments, 
nah der er 3. B. im Allerheiligften die Dreieinigleit dargeftellt 
ſieht (die Heiligkeit Gottes des Vaters in den verborgenen Geſetzes⸗ 
tafeln, die Gnade Gottes des Sohnes in der Bundeslade umd die 
Herrlichkeit Gottes bes Heiligen Geiftes in den Cherubim, während 





874 Baugemann 


zugleich diefelben Zeile des Allerheiligften die drei Amter Chrifti 
abbilden follen, S. 607), ift fo eigenartig und bietet fo mannig⸗ 
fahen Anlaß zu prinzipiellen Crörterungen biblifch = theologifcher 
Natur, daß wir im Blick auf den übrigen reichen Inhalt des 
Werts auf eine nähere Erörterung verzichten. 

Das wefentliche Fundament ift und bleibt dem Titel gemäß für 
das ganze Werk Auguftana VII (u. VII) und da Wangemann je 
nicht mit Rom, fondern nur mit ſolchen ſich auseinanderſetzt, welde 
alle auf dem Boden der Auguftana ftehen wollen, fo ift dieſes 
Fundament für den verfolgten Zwed durchaus genügend. 

Aus dem Gefagten erhellt ſchon, dag in dem gefamten Werl 
die fnftematifche Ordnung fehlt, und wir glauben, daß der Verfaſſer 
diefelbe zu fehr unterfchägt Hat, wenn er ausgefprochenermaßen, 
wie wir fchon oben kurz anbdeuteten, nur „lauter einzelne, nicht zu 
einem Ganzen verarbeitete Werkſtücke und Stoffe" bat geben 
wollen (Nr. 6, ©. 582. 592). Dazu ift. doch ber Werkſtück 
und bes Stoffes zu viel gegeben, als daß fie unverarbeitet neben 
einander liegen bürften. Abgeſehen davon, daß die Verbreitung 
bes Werkes, wie der Verfaſſer wiederholentlich felbft beklagt, durd 
die neunfache Broſchürenform und die dadurch entftandene Verteue- 
rung gehemmt ift, find bei der allmählichen Bearbeitung und Heraus: 
gabe vieler in relativer Selbſtändigkeit erfcheinender Hefte fo viel- 
fache Wiederholungen, Erweiterungen, Einfchaltungen, Nachträge ent« 
ftanden, daß dadurch das Leſen des Werkes wejentlich erfchwert wird. 

Der fachgemäße Plan, welcher der Arbeit hätte zugrunde gelegt 
werben müffen, ergiebt ſich unſeres Erachtens einfach dadurch, daß 
der Verfaffer an dem Reſultat der grundlegenden Entwidelung von 
Auguftana VII der Reihe nad) die verſchiedene Stellung erörter! 
hätte, welche die lutheriſche Kirche der Gegenwart dazu einnimmt. 
Tann hätte fi an Buch I (Nr. 1) das jegige Buch IV (Rr. 4), di 
Stellung der Stimmführer in den lutheriſchen Landesfirdgen zu⸗ 
nächſt angefchloffen. An dritter Stelle wäre die Entwickelung der 
preußiichen Landeskirche und der Union getreten (Rr. 9 u. Rr. 6°); 
dann erit wären die fogen. altlutherifchen Freilirchen (Wr. 3 u. 7) 
zur Beſprechung gelommen, deren Entjtehung ja heuptiächlich di 
Unionsfämpfe zur Borausfegung haben. Endlich Hätte ber Ber 


Die Yutherifche Kirche der Gegenwart ꝛc. 875 


faffer feine eigene Darlegung, die leibliche Geftaltung ber una 
sancta betreffend gegeben (Nr. 5 und ein Teil von 6. So 
allein wäre der Geſamttitel: „Die Intherifche Kirche der Gegen» 
wart in ihrem Verhältnis zur una sancta* zu jeinem vollen 
Rechte gelommen. Dadurch wäre ohne Scaben für das Ganze 
Nr. 2 in Wegfall gelommen und nur Einiges des darin Hiftorifch 
Erörterten etwa einleitungsweife für bie Geſchichte der Union vers 
wendet worden. Das Ergänzungsheft Nr. 8 wäre als jelbftändige 
Spezialunterfuhung aus dem Ganzen ausgeſchieden ). Diele 
Wiederholungen wären vermieden worden (3. B. wäre das in 
Nr. 9 über den Separatismus Entwidelte mit Nr. 3 verarbeitet 
worden). Allerdings ift ja erft im Verlauf der Arbeit dem Verfaſſer 
da8 überaus wichtige Material der Geheimen Kabinettsaften zuge: 
gangen, wodurd eine Neubearbeitung und Ergänzung bereits früher 
gedruckter Partieen nötig ward. Dadurch aber ift der fchon fo wie 
jo loſe Zuſammenhang des Werkes um fo mehr gelodert worden. 
Trotz all diefer methodischen und formellen Mängel gewinnt 
die Arbeit des Verfaſſers dadurch das Anziehende, dag die Perfon 
de8 Schreibers mit ihrem warmen Herzen aus allem Gefchriebenen 
und entgegentritt. „Mag's mir feiner meiner Lefer Übel nehmen, 
daß ich fo perfünlic rede. Es hat mir's fchon mancher verdacht, 
aber man muß einen Menfchen nehmen, wie er ift; id) kann einmal 
nit mit dem bloßen Berftande bloß wiſſenſchaſtliche Elaborate 
fiefern, der Menſch fühlt, vedet, empfindet bei mir mit, und das 
bat auch fein Gutes, denn alſo entftchen nicht Bücher, fondern 
Zeugniffe, und ein folches follen meine neuen fieben Bücher fein“ 
(Nr. 8, ©. 14). Mit diefen Worten charakterifiert Wangemann 
jelbft feine Arbeit. Darin liegt zugleich der Grund für die metho- 
diihe Schwäche, aber auch für das Intereſſe, das beim Leſen der 
Bücher ſtets vege bleibt. Dean muß freilich mit der wohlthuenden 


1) Die darin enthaltenen Unterfuchungen über Johann Sigismunds Über- 
tritt zur reformierten Kirche find durch die Benutzung des Staatsarchivs be- 
jonder8 wertvoll. Auc über Paul Gerhardt ift manches neue Material herbei⸗ 
gebracht, ohne daß allerdings das bisher ſchon gewonnene Eharakterbild Gerhardts 
wefentlich geändert wird. Der betreffende Teil des Werkes bebürfte einer ber 
fonderen Beſprechung. 





376 Wangemaun 


Herzensfprache, aus der man ſtets des Verfaſſers innerſte Über⸗ 
zengung heraushört, auch viele ſcharfe und bittere Urteile über bie 
Gegner hinnehmen, die wir Tebhaft bedauern. 

Gehen wir nunmehr zur Beſprechung bes Werkes felbft über. 

Die grundlegende Erörterung von Auguftana Artikel 7 im 
erften Buche wird mit ganz befonderer Klarheit, Gründlichkeit und 
Schärfe geführt und erhält einen um fo höheren Wert, als der 
Verfaſſer damit ausgefprochenermaßen feine gefamte frühere Auf- 
faffung lorrigiert. Es tft ja charafteriftiich, baß gerade über biefen 
Artikel die Intherifchen Theologen der Nenzeit jo überaus ent- 
fchieden diffentieren. „Wie oft“, fo fehreibt Kahnis in feinen Zeug 
niffen von den Grundwahrheiten des Proteftantismus (S. 45), 
„Haben wir Lutheraner uns in Konferenzen, Religiensgefprächen, 
engeren Disputationen an der Beſtimmung der Kirche Artikel VI 
der Augsburger Konfeffion die Zähne zerbiffen. Nie, nie Haben 
wir uns einigen können.“ 1) Gegenüber all den Auffafjungen, 
welche von einem abftraft dogmatifhen Standpunkte aus alles 
Mögliche aus Artikel 7 Heraus» oder vielmehr in ben Artikel 7 
bineinlefen, was fich bei näherer Prüfung als pure Unmöglichkeit 
erweift, jobald man den gefchichtlichen Boden, auf dem bie 
Auguftana erwachſen ift, in Betracht zieht, betont der Berfaffer 
ſehr richtig dem hiſtoriſchen Ausgangspunkt, daß von einer von der 
römifchen oder gar der reformierten Kirche abgegrenzten organifchen 
Intherifchen Kirche noch gar nicht die Rede fein konnte, daß alfo 
auch von dieſem Gefichtepunfte aus nimmermehr die Ausdrücke der 
Auguftana erklärt werden können. Damit erweift der Verfaffer 
ſehr richtig die Unmöglichkeit der von vielen neueren Bertretern 
des Ruthertums verfochtenen Anficht, daß das Subjelt in dem ge⸗ 
nannten Artikel wechſele, fo daß zuerft bie Kirche als oongregatio 


1) Eine harakteriftiiche Iluſtration für den unter den mannigfaltigen Ber 
treteen ber Intherifchen Kirche beſtehenden Diffenfus giebt auch) Wangemann unter 
der Überfchrift: „Ein fchönes Traumbild” (6, ©. 371 ff.), wonach der Zu⸗ 
fammentritt einer allgemeinen Iutherifchen Konferenz, welche Wangemann mit 
regftem Eifer betrieben hatte, daran feheiterte, daB don vornherein eine Über⸗ 
einftimmung in den Hauptgebanfen, befonders betreffs der Lehre von der Kirche 
nicht erzielt werden konnte. 


Die Intherifche Kirche der Gegenwart zc. 877 


sanctorum im idealen Sinne, und von ben Worten in qua au 
die Kirche nah Seiten ihrer vielen Geſtaltung genannt werde. 
Wangemann begnägt fich aber nicht damit, die Unmöglichkeit jolcher 
Auffaſſung hiſtoriſch zu erweiſen; im Gegenteil gehören bie eins 
gehenden Erörterumgen Uber die einzelnen Begriffe der Definition 
mit zu den trefflichften Bartieen des Werkes. Der Nachweis, daß 
der Begriff soeietas nicht als konkrete Gemeinfchaftsform, jondern 
als „die Zugehörigkeit zur Kirche” verftanden werden muß, daß 
mit dem consentire nicht an einen kirchenpolitiſchen Konſenſus und 
mit der unitas seolesiae nit an einen Firchenpolitiiden Körper 
gedacht werben Tatın, dag damit vielmehr das geiftliche Band, bie 
Einigfeit des Heiligen Geiftes in den Herzen ber Gläubigen allein 
gemeint ſei, iſt unwiderleglich von Wangemann geführt. Ebenſo 
Klar find die Erbrterungen über das, was zu ben traditiones seu 
ring aut ceremonias zu rechnen ſei. Wangemann kommt zu dem 
rihtigen Refultat, daß das bezeichnete Gebiet alle diejenigen lirchlichen 
Anordnungen umfaßt, welche in das Gebiet der Kirchenordnungen, 
des Kirchenregiments und ber Agenbe gehören, welche alle nicht das 
Weſen ber Kirche betreffen, alfo inbezug auf die Frage nad) der 
Gemeinſchaft der Kirche nicht in Betracht gezogen werden können. 
Bei der Erörterung don Wort ımd Sakrament als notae 
erternae verfiht Wangemann bie Anfchauung, baf die Muguftana 
nad Artikel 7 Wort und Sakrament nur als Erkennungszeichen 
für die reale Exiftenz der Kirche anfleht und die konſtitutive und 
effeltide Bedeutung für das Wefen ber Kirche in Abrede ftellt. 
Dir können ihm bierin nicht beitreten. Zwar Artikel 7 enthält 
nichts, was uns Uber „das Erkennungszeichen“ Hinausführt, aber 
neben Artikel 7 iſt doch Artikel 5 und 13 mit in Nechnung zu 
schen, wo bie Wirkſamkeit der Gnadenmittel zur Mitteilung des 
heiligen Geiſtes und zur Erwedung des Glaubens, und darum 
auch zur Konftitulerung der congregatio sanctorum zweifellos 
ſchon in der Auguſtana bezeugt wird. In derfelben Linie müffen 
auch Artikel 9 und 10 in Betracht lommen. In der Verwal: 
tung von Wort und Sakrament liegt ein wefentlicher Faltor 
der Kirche, wodurch dieſelbe auh in bie Sichtbarkeit tritt 
(agnosei potest), fo daß ſchon nach der Anguftana ſich durchaus 





8178 Baugemann 


nicht ecclesia proprie sic dieta und large sic dieta mit be 
Degriffen ber ecelesia invisibilis und visibilis beden. Bird 
mehr kommt ſchon der ecclesia proprie sic dieta eine weſent⸗ 
lihe Sichtbarkeit in der fie mit konſtituierenden Faktoren von 
Wort und Saframent zu. Wangemanns Entwidelung ift in diejem 
Punkte aud nicht ohne Widerfprühe. Er mehrt entfchieben ab, 
daß die Auguftana Wort und Salrament zu Tonftitutiven Tal 
toren der Kirche erhoben habe. Es fei dies vielmehr ein refor 
mierter, fpeziell calvinifcher Gedanke, der aber fpäter in ber In 
therifhen Kirche durch die Konfordienformel Aufnahme gefunden 
babe (1, ©. 31). Diejer Fortbildung der Konlordienformel zollt 
Bangemann die vollfte Anerkennung (1, S. 63), betont aber dabei 
wieder, daß diefer Fortſchritt den Gegenfak zu der reformiertn 
Kirche bezeichne, „in der die eigentliche Firchenbildende WBebentun 
der Saframente nie zum Ausdrud gelommen fe“ (©. 66). 
Ehenfo wird Luther in feinem Streit gegen Carlftadt und bie 
Schweizer bereits die Hare Erfenntnis von Wort und Sakrament 
als grundlegenden Faktoren der Kirche zugefchrieben, anderjeits aber 
wieder Kliefoth (Rr. 5, S. 249) getabelt, daß er im Widerfprud mit 
der Apologie, weldhe Wort und Saframent nur als notae externae 
occlesiao Teune, diefe Gnadenmittel als Tonftitutive Faltoren feinem 
Kirchenbegriff einfügt. Dagegen wird wieder anderwärts (Nr. 6, 
S. 311) die Predigt des Worts und fchriftgemäße Verwaltung ber 
Sakramente als konftitutive Faktoren der Kirche nach Art. VII 
der Auguftana bezeichnet, neben denen das Kirchenregiment als 
dritter Faktor nicht geltend gemacht werden bürfe. 

Debeutfam ift die eingehende Darlegung der fogen. altluthe⸗ 
rifchen Bewegungen im dritten Bud (Nr. 5), zu welchem ein Er- 
gänzung&heft: „Drei preußifche Dragonaden“ (Nr. 7) tritt, im dem 
vor allem die Hönigernfche Affaire aus den bisher geheimen, jegt 
dem Staatdardhiv überwiefenen Alten eingehend behandelt ift. Der 
Verfaſſer bekennt durch einſeitig parteiifche Geſchichtsdarftellung 
früher ohne Wiffen und Wollen zugunften der jeparierten Qutheraner 
das Urteil über bie Iutherifche Kirche in Breußen irre geführt zu 
haben. „Gott wolle mir in Gnaden vergeben, daß meine frühere 
gefchichtliche Darftellung dazu beigetragen hat, diejem Irrtum Bor 


Die Iuthertiche Kirche der Begenwart ıc. 879 


hub zu leiften. Meine Lebenstage geben zu Ende, ich fehne mich 
heraus ans den Kämpfen und aus der Arbeit in die Ruhe, aber 
mir ift e8 eine heilige Gewiſſensſache, da8 was ich damals ver- 
jehen babe, wieber gut zu machen, fo lange ich noch lebe; ich 
wärde nicht ruhig fterben können, wenn ich’& unterließe” (Nr. 3, 
& 11). Es ift ein trauriges Bild, das Wangemann in biefen 
Heften entrollt, woburd am Schluß die Thatfache Tonftatiert wird, 
daß die fepariert Intherifche Kirche in 14 fach verſchiedenen Kirchen- 
förpern in Deutſchland exiftiert, die unter einander auf das hef⸗ 
tigfte ſich befehden. Das Ergänzungsheft zeigt uns die Hönigernfche 
Dragonabe aftenmäßig als ein Ereignis, in dem die Milde, Nadh- 
fiht und Gewiffenhaftigkeit des Frommen Königs Friedrich Wilhelm III. 
in das hellſte Licht tritt. Die Verleumdnugen, die ſich bis zum 
heutigen Tage an dieſe traurige Geſchichte knüpfen, find unzweifel- 
haft widerlegt. Außerdem behandelt dies rgänzungsheft eine 
zweite „Dragonade* in Hermannsdorf, welche in einer vom Evan« 
gelifchen Bücherverein in Hannover als Traktat verbreiteten Schrift 
von Bolzberger beſchrieben ift, und erweift diefelbe in gebührender 
Weiſe als eine vollſtändig aus der Quft gegriffene Verleumbung. 
dern hätten wir tabei aber dem Verfaſſer die gar nicht hergehörige 
Parallele am Schluß des betreffenden Heftes erlaſſen, in der er 
die Berfolgung des Grafen Wolf von Schönburg um feines lu⸗ 
theriſchen Glaubens willen durch den damals in den Händen der 
Bhilippiften befindlichen Kurfürft Auguft von Sachfen erzählt. 
Die Gerechtigkeit einer Sache kann nicht dadurch erhöht werben, 
daß man bie vorgelommenen Ungerechtigleiten in anderen Ländern 
ihr gegenüberftellt. 

Ebenfo müſſen wir unfer Bedenken äußern, daß Wangemann 
die dogmatifchen Ungeheuerlichkeiten Scheibel8 und die Kirchenrecht» 
lichen Utopien Hufchtes in fo hervorragender Weiſe betont, daß 
diefe abfteufen Vorausſetzungen ſogleich allen denen auch zugerechnet 
werden, welche im Verlaufe der weiteren Kämpfe in die Intherifche 
dreificche eintraten (S. 36). Wir glauben, daß Namen wie Nagel, 
Beiler u. a. nicht auf diefem Wege zu der Separation gelommen 
find und nicht für die Grundideen ber beiden genannten Männer 
verantwortlich gemacht werden können, 


Bo Wangemann 


Das vierte Buch (Nr. 4) behandelt die Abirrungen der gemuin 
Intherifchen Lehre innerhalb der Intherifchen Landeskirchen. Debei 
bat Wangemann uidt etwa die Landeslirchen jelhft, fordern aut 
einzelne hervorragende Stinunführer derſelben, vor allem Lohe, Mir 


foth, v. Zezſchwitz ins Auge gefaßt. Trefjflich ift hierbei der be 


ſonders auf hiſtoriſchem Wege geführte Nachweis won der Lnhalt- 
barkeit der Kliefothſchen Lehre vom Kirchenregiment als welent. 
lichen Faktor der Kirche (S. 247 ff.). Heuptfäclich aber ift 4 
v. Zezſchwitz, deffen Schrift über die Abendmahlsgemeinſchaft Wange⸗ 


mann ber eingehendften Kritik unterwirft. Schreiber diefes ift je 





hierbei unmittelbar beteifigt, da feine mannigfach wunwolikomemen, 


aber in allen weſentlichen Pofitiouen noch Beute vom ihm vm 


tretene Schrift über „has Recht und bie Pflicht der gaftweiis 
Gewährung der Abendimablsgemeinfchnft nach dem Beleuntnis de 
Intherifchen Kirche” (Leipzig, Roßberg 1869) die Veranlaffung zu 
v. Zezſchwitz' Gegenichrift geweien if. Wangemann Bat alle we 
fentlichen Poſttionen jener Schrift gegenüber v. Zezſchwitz in aus⸗ 
führlicher Darlegung verteidigt. Der wefentlichfie Punkt iſt dabei 
die Widerlegung der von den belämpften Stimmführern immer und 
immer wiederholten Behauptung, die Vermeigerung jebweber Abend 
mahlagemeinſchaft bei dilfentierendem dogmatifchen Belenntuis in 
der Lehre vom Abendmahl gründe fich auf die Thatſache, daß das 
Abendmahl nach Intherifger Lehre note confessionis fei. Schon 
in der genannten Schrift hatte ich darauf hingewieſen, daß dei 
Abendmahl aid nota confessionis zu betonen fpegififch zwinglijch fei 
Es ift ja eine Thatſache, daß Luther das Abendmahl vor allem al! 
Snadengabe Gottes anfah, die für fich ganz unabhängig ven um 
ſerem Glauben tft, während Zwingli dagegen das Ahensmahl al! 
Gemeindebeleuntnis allein auffaßt. Hier Liegen auch hie tieferen 
Brände für die Betommmg der manducatio infidelium ſeitens Luthers 

Dennoch mörhte ich ein Mißverſtändnis befeitigen, das ſowohl 
durch meine bamalige Darftellung, wie auch durch Wangemann 
warme Verteidigung und eingehende Begrlinbung biefer Poſition leid! 
entftehen kann. Es würde falich fein, wollte man ſchon Zwingli 
Betouung des Abendmahls als nota eonfessionis dehin auffaffen, 
als habe er mit der Teilnahme am Sakrament das Belenuimis 7 


Die Imtherifche Kicche ber Gegenwart ꝛc. 581 


der ſpezifiſch reformierten Lehre vom Abendmahl im Unterſchiede 
von Luther verlangen wollen. Zwingli will nichts anderes, als 
das chriftliche Belenntnis zu der von Ehrifto vollbradhten Erlöjung 
hervortreten Taffen; die Teilnehmer folten ſich der Kirche gegenüber 
als Chriften (wicht als Zwinglianer) erweifen. Qui huic... 
interest, toti se ecclesiae probat ex oorum esse numero, qui 
Christo fident ?). 

An diefem Sinne Hat ja auch die Auguftana das gute Hecht 
des Abendmable als nota professionis inter homines an zweiter 
Stelle anerlannt und konnte es auf Grund ber Schrift gar nicht 
anders thun. 

Es ift nicht richtig, wenn Wangemann behauptet, Auguftana 
und Apologie verhielten fi der Bezeichnung nota confessionis 
gegenüber nur abweiſend. Gewiß ift aber dem lutheriſchen Be⸗ 
kenntnis das Sakrament als signum et testimonium voluntatis 
dei erga nos von viel höherer Bedeutung, weshalb es dieſe Be⸗ 
jeihnumg mit einem magis auszeichnet. Dabei bleibt aber ber 
itehen, und darauf fommt es hier vor allem an, daß auf ber Linie 
Bwinglifcher Lehre die einfeitige Betonung des Abendmahls ale 
nota confessionis, als Zeugnis des Glaubens der Kirche gegenüber 
liegt. Je mehr auf die Seite der Altivität der befennenden Ge⸗ 
meinde der Schwerpunkt gelegt wird, wie die Schweizer thaten, um 
jo mehr erfcheint die Betonung des Abendmahls als nota con- 
fessionis vonfeiten der neueren Lutheraner ald eine dem gemmin 


1) Dies ift die einzige Stelle aus Zwinglis Werken, die von Zezſchwitz in 
feiner Schrift (S. 52) merkwürdigerweiſe als Beweis gegen meine Behauptung 
anführt, daß Zwingli dag Abendmahl ale nota confessionis anfehe. Noch über- 
rafchender ift aber der daranf folgende Kommentar zu dieſer Stelle, der bie 
jelbe im ihr ſtriktes Gegenteil verfehrend, alſo lautet: „Hier (in obiger Stelle) 
handelt es ſich alfo um ein Bekenntnis Gott (?!) gegenüber, allgemein chrift« 
iher Art, . . Wir dagegen reden von einem Belenntntsaht, ber vor 
Menſchen reſp. der Kirche gegenüber Zeugnis giebt, zu welcher Vekenntnis⸗ 
gemeinschaft man fich hielt und haben dies als lutheriſche Anfchauung ... ber 
gründet. Was Bat nun das mit einander gemein, und wie ſoll man e8 nennen, 
wenn jemand es unternimmt, wegen des leiten Begriffes einen Lutberaner 
Zwingliſcher Auſchauung zu zeihen”. Wir erwibern: Wie foll man ſolche Ber- 
fchrung des Haven Wortfinnes in fein direktes Gegenteil nennen’? 


882 Wangemann 


Lutheriſchen abſolut fremde einſeitige Ausbildung und verhängnis⸗ 
volle Übertreibung des Zwingliſchen Grundgedankens und fällt dent⸗ 
lich und Har unter das Gericht der Apologie, die ba ſchreibt von 
den „fürwigigen Gelehrten“, die ba meinen, das Abendmahl fei 
um deswillen eingefett, „daß es fei eine Lofung und Zeichen eines 
Ordens, wie bie Möndslappen ihrer Drden Zeichen und Unter 
ſchied fein“ (R. 267, 68). 

Von weittragender Bedeutung aber erjcheint es, dag Wange: 
mann offen bekennt, die früher von ihm und von. den Intherijchen 
Vereinen innerhalb der preußifchen Landeskirche feftgehaltene Po⸗ 
fition, daß das Abendmahl nota confessionis im Sinne des luthe⸗ 
rifchen Sonderbelenntniffes fei, fallen Laffen zu müſſen, als un 
vereinbar mit der lutheriſchen Grundanfchauung. 

Wenn der in Buch 3 und 4 geübten Kritik meift die gefunde 
Iutherifche Lehre fich einen Ausdrud giebt ?), wobei wir nur bie 
Schärfe der Polemik beklagen müfjen, fo Tönnen wir dem Ver⸗ 
fofjer in den pofitiven Darlegungen, die er im 5. Buch (Nr. 5) 
al8 „Bauplan und Baufteine für die leibliche Ausgeftaltung der 
Una sancta" giebt, nicht in allen Stüden folgen. Hier, glauben 
wir, ift der Verfaffer felbft in vielen und weientlichen Punkten von 
der genuin Intherifchen Lehre abgewichen. 

Diefe unfere Ausftellung erftredt fich zunächft auf Bangemannt 
Lehre vom Abendmahl. Wangemann betont als Gegenfa ber 
Iutherifchen Lehre zu derjenigen Ealvins, daß diejer (wie Wangemann 
durch gejperrten und fetten Druck bedeutungsvoll hervorhebt) Teugnet, 
„ba durch das Sakrament ein mehres oder anderes gejchenft werde, 
ale was dur das Wort dargeboten und im Glauben ergriffen 
wird“, (S. 146) während nach [utherifcher Lehre im Abendmapl ein 
anderes gegeben und gewirkt werde, als durch das Wort. Gegen dieſe 
letztere Behauptung fteht entfchieden ber lutheriſche Grundſatz, der 
auch in der Apologie feinen befenntnismäßigen Ausdrud gefunden 
bat: „idem est effoctus verbi et sacramenti“ (R. 201). Diejer 


1) Der firengen Kritik, welche Wangemann an dem in ber jächfiichen Landek⸗ 
kirche üblichen Amtsgelöbnis, welches den früheren Amtseid erjegt hat, ameübt 
(4, ©. 321 ff.), können wir allerdings in feiner Weiſe beipflichten. 





Die Iutherifche Kirche der Gegenwart ıc. 883 


Grundſatz Liegt auch Luthers Salramentslehre zugrunde (vgl. 3. B 
Erl. Ausgb. 29, ©. 345. 1°, ©. 306 u. oft). Die Heilsgabe 
des Abendmahls ift nicht Leib und Blut Ehrifti, fondern die duch 
die Darreihung von Leib und Blut Chriſti und vermittelte Vers 
gebung der Sünden, die auch im Wort und angeboten wird. „Es 
verhielt ſich mit nichten fo“, fagt Harleß 1) durchaus richtig, „daß 
das, was im Saframent bes Heiligen Abendmahls gereicht wird, 
bloß in dieſem und durch dieſes dargeboten wird. Es tft vielmehr 
ein und dasfelbe, was im Sakrament und was im Verheißungs⸗ 
worte des Menfchenjohnes, dort unter der Bedingung der ihm zu 
weihenden &lemente, bier unter der Bedingung des ihm durch den 
Glauben gemweihten Herzens durch den erhöhten und verflärten Herru 
zu eigen gegeben wird. Es ift auch Kein Unterfchied gradweiſer, 
größerer und geringerer Fülle, ober wie fonft einem ſolchen, an 
fh undenkbaren Unterſchied faſſen und formufteren wollte“; und 
Harnack jagt ebenda 2): „Wir fehen, mie ſehr auch unjer kirch⸗ 
lies Bekenntnis von ber Anſchauung beberrfcht ift, daß uns burch 
die einzelnen Gnadenmittel nicht ſpeziſiſch verfchiedene Gnadengüter 
mitgeteilt werben, ſondern daß fie alle, wenn auch auf verfchiedene 
Weife, bdiefelbe Gnade mit bemfelben Gnadenzweck und berjelben 
Gnadenwirkung vermitteln.“ 

Wohl bat Luther an einzelnen Stellen ?) eine fpezififche Wir- 
fung bes Abendmahls auch, auf das Teibliche Leben der Chriften 
ausgefprochen, ohne daß jedoch diefe gelegentlichen Äußerungen einen 
Einfluß auf feine Theologie ausgeübt haben. Wenn aber Wange- 
mann von einer leiblichen, ja felbft natürlichen Wirkung des Sakra⸗ 
mentes im Gegenſatz zu und im Unterfchied von der bloß geift- 
lichen Wirkung des Wortes und Glaubens fpriht (Nr. 1, ©. 54), 
wenn er auf diefe fpezifiich von der Wirkung bes Wortes unter: 
ſchiedene geiftleiblihe Wirkung des Sakraments vor allem die 
Lehre von der Una sancta, als durch die Selbftmitteilung des 
Leibes Chrifti im Abendmahl gewirkt, auferbaut, wenn er Luthers 


1) Harleß und Harnad, Die Firchlich- religiöfe Bedeutung der reinen 
Lehre von den Gnadenmitteln 1869. ©. 52. 

2) ©. 185f.; vgl. Form. Conc. (R. p. 746). 

8) Thomafins Hat fie in dev Dogmengefchichte I, 847 ff. zuſammengeſtellt. 

Theol. Etub. Yahrg. 1885. 25 


Lchre vom Abendmahl nad) einzelnen Äußerungen von diefem Punkte 

aus entfaltet, fo wird dadurch das weientlich Lutheriſche verrüdt. 

Zwar ſucht Wangemann feine Anfchauung vom Abenbmaßl audı 

aus den Intberifchen Symbolen zu begründen, wenn er au „die 
unleugbare Thatſache“ Eonftatieren muß, „daß in den ſymbolijchen 
Büchern die gemeindebildende und Tirchenbildende Bedeutung bee 
Saframentes hinter der eines perfönlichen Gnadenmittels für das 
geängftete Herz zurücktritt“ (Nr.5, S.85). Wangemann beruft ih 
indes zum Erweis, daß die Symbole die geiftleiblidye Wirkung 
des Abendmahls lehren, auf die im der Apologie Art. X citierte 
Stelle des Cyrill von Alerandrien, die mit ben Worten ſchließt: 
„nonne corporaliter quoque facit, communicatione carnis Christi, 
Christum in nobis habitare?* ſowie die andere Stelle, die von 
einer participatio naturalis ſpricht. Aber er überficht, daß bie 
ganze Stelle dort ausdrücklich nur zum Beweis dafür angeführt 
wird, daß dafelbjt gelehrt werde: „Christum nobis corporaliter 
exhiberi in coena.* Der Ausbrud participatio naturalis darf 
doch jo wenig für ſich allein gepreßt werden, als ber andere neben 
Cyrill citierte Ausſpruch des Vulgarius (Theophylakt): „panem 
non tantum figuram esse sed vere im carnem mubtari.“ Könnte 
man doc fonft auf Grund biefer letzteren Stelle ebenfo gut be- 
haupten, Die Apologie lehre die Transſubftantiation. Wenn aber 
Wangemanı den Sag aufftellt, es müßten für die Abendmahl: 
lehre die Reſte ber früheren griechifchen patriftifchen Zeit (Cyrill 
und Hilarius) wieder gewonnen werben, bie der Iutherifchen Lehre 
im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen feien, anberfeits 
aber an derjelben Stelle befennt, daß biefe Gedanken in ben fpäs 
teren (?) Schriften Luthers und in den ſymboliſchen Büchern (1) 
durchaus zurücktreten (Nr. 5, ©. 89f. 170), fo erfcheint die an« 
gebliche „Lücke“, die in diefer Einfeitigkeit der lutheriſchen Kirche 
Ttegen fol, doch vielmehr auf eine prinzipielle andere Auffaffung 
der Saframentslchre Binzumweifen. 

Damit wollen wir die Bedeutung bed Abendmahls ald gemein 
Schaftsbildend nach Iutherifcher Lehre durchaus nicht in Abrede ftellen. 
Dies folgt vielmehr aus der genuin Iutherifchen Lehre mit innerer 
Notwendigkeit und wird ſtets von Luther betont als communio, 


Die Intheriiche Kirche der Gegenwart ic. 886 


Nur darf man dieſes Moment nicht losgelöſt von der eigentlichen 
Bedeutung des Abendmahls als Gnadenmittel zum Ausgangspunkt 
nehmen und nicht auf da® leibliche Leben gründen !). 

Bon befonderer Bedeutung erfjcheint e8, daß Wangemann mit 
Necht betont, Quther Habe ſich in die Lehre von der Ubiquität und 
andere DVerfuche, ben Irrlehrern durch dogmatifche Ausdrücke den 
Weg zu verlegen, allezeit nur ungern und mit Wiberftreben hinein⸗ 
nötigen laſſen (Nr. 5, S. 169). Ye mehr gerade in unferer Zeit 
vielfach das Dogma von ber Ubiquität des Leibes Chriftt ale 
da8 fpezififch Iutherifche Dogma allein gepriefen wird, während es 
für Euther nur ein bei der Abendmahlslehre fi ihm nahelegenber 
dogmatifcher Hilfsjfat war, um fo wichtiger iſt es, daß gerade 
Wangemann vor der einfeitigen Betonung dieſes Punktes warnt. 

Dagegen können wir wieder Wangemann in feiner Darlegung 
der Lehre Luthers vom allgemeinen Prieftertum und vom geiftlichen 
Amt durchaus nicht beiftimmen. Wenn Wangemann fagt, das Bild, 
welches Luther vom allgemeinen Prieftertum entwerfe, entbehre der 
Iharfen Grenze, und behauptet, Luther habe bis zu den Bauern- 
kriegen jedem einzelnen Laten als durch die Taufe geborenem Priefter 
das Botfchafteramt zuerkannt, habe aber dann faft wider Willen 
auf Außerfiche Ordnungen zurüdgreifen müfjen, fo müſſen wir bie 
Konfequenz und Klarheit der Lehre Luthers vom allgemeinen Priefter- 
tum und feinem Verhältnis zum geiftlichen Amt entfchieben feft- 
halten. Ich Habe dies in der Schrift: „Luther und die Ordina⸗ 
tion“ (Wittenberg bei Herrofe, 1883, S. 307) eingehend erörtert 
und kann darum auf den dortigen Nachweis mich beziehen: Wanges 
manns Behauptung, daß Luther das Amt nur in der früheren Zeit 
ans der hriftlichen Gemeinde ordnungsmäßig erwachſen Laffe, fpäter 
aber die unmittelbare göttliche Stiftung des Amtes im Unterſchied 
von der Gemeinde betone, und dabei im Gegenſatz zu feiner 
früheren Lehre die Amtsträger nicht mehr im Namen und anftatt 
der Gemeinde ihr Amt führen laffe, tft nicht richtig. Gerade an 
dee Stelle, die Wangemann S. 197 zum Erweis citiert, heißt es 
in der don ihm weggelaffenen Fortfegung: „Denn fol Amt ift 


1) Bgl. das Nähere in meiner Schrift über Abenbmahlsgemeinichaft S. 22 ff. 
25* 


886 Bangemann 


nicht mehr denn ein öffentlicher Dienft, fo etwan einem befohlen 
wird von der ganzen Gemeinde, welde alle Priefter find“ 
und „darum muß man etliche dazu auswählen und ordnen, fo zu 
predigen geihidt .. . item fo die Saframente von wegen ber 
Gemeinde handeln, damit man wife, wo da getauft worden fei 
und alles ordentlich zugehe.“ 

Auch Wangemann läßt fi, wie Kliefoth und Stahl, durd 
Äußerungen Luthers täufchen, in denen derjelbe die göttliche Einfeßung 
des Amtes betont, als wenn er damit feine Aufchauung, daß ord- 
nungsmäßig aus der Gemeinde da8 Amt erwachſe, verlaffen habe. 
Niemals hat Luther beides in irgendwelchen Gegenſatz zu einander 
ftehend angefehen. Gerade in dem durch ordnungsmäßiges Handeln 
der Menſchen erwachjenden geiftlichen Amte vollzieht ſich bie Ein- 
ſetzung des Amtes durh Gott und Chriftus. Luther begründet 
ausdrücklich den Grundſatz, daß die Pfarrherren nit im Namen 
ber Kirche, fondern „aus Einſetzung Chriſti“ das Amt verwalten 
mit den Worten: „Denn der Haufe ganz kann folches nicht thum, 
fondern müſſen's einem befehlen und laſſen befohlen fein“ (Erf. 
25, ©. 364). Darum gefhieht die vocatio zum geiftlihen Amt 
ftets „durch Menfhen und gleichwohl auch von Gott“ (Er. 15, 
©. 5), „durch Menſchen und doch auh von Gott beftätiget“ 
(35, 59). Es ift gefund Iutherifche Auffaifung, den menfchlichen 
und göttlihen Zaltor nicht zu fcheiden. Wenn Menfchen nad 
Gottes Willen handeln, dann vollzieht fi) Gottes AYnftitution. 
Die Stiftung des geiftlichen Amtes ift nicht ein einzelner Alt 
Chrifti, wie die Einjegung der Taufe oder des Abendmahls, fon- 
dern ift nad) Luthers Auffaffung unmittelbar mit der durch Chriſtus 
vollbrachten Erlöfung für die geordnete Gemeinde von felbft ge 
geben. „&ott Hat den geiftlichen Stand ſelbſt eingefegt mit fei- 
nem eigenen Blut und Tode“ (Erl. Ausg. 20, S. 10). 

Mit großer Entfchiedenheit vertritt Wangemann die Wieder 
aufrichtung des Bilchofsamtes innerhalb der evangelifchen Kirche 
und die Gewährung eines kanoniſchen Rechtes an diefelbe. Er be 
klagt dabei das Fefthalten Luthers an feinem „ſpiritualiftiſchen“ 
Kirchenbegriff, der allerdings richtig und biblifch (1) die eigentlich 
wahre Kirche jet, aber eine Einfeitigfeit enthalte, die ihre Ergän 





Die lutheriſche Kirche der Gegenwart ıc. 887 


zung finden müſſe, da bie Kirche nad; der andern Seite eine leib⸗ 
liche fein müffe, die in weltlichen Sormen und Ordnungen verfaßt 
wird. Es fällt fchwer, diefe Klage mit dem in Buch 1 über 
Auguftana VII Entwidelten in Einflang zu bringen, wo der von 
Wangemann „fpiritualiftifch“ genannte Kirchenbegriff mit aller Ent⸗ 
ſchiedenheit als der einzig richtige vertreten wird. Wir müflen es 
verneinen, daß der Kirchenbegriff Luthers und der Auguftana fpiri- 
tualiftifch ift und der Ergänzung bebürfe; ber Fehler Tiegt auf 
Wangemanns Seite, ber, wie wir oben entwicelten, die wefent- 
lihe Sichtbarkeit ber Kirche durch die Fonftitutiven Faktoren Wort 
und Sakrament nicht beachtet hat. In diefer wefentlichen Sicht- 
barkeit, diefen Tonftitutiven Gnabenmitteln und ihrer Verwaltung 
ft aber die Notwendigkeit einer äußeren Organifation, die in dem 
Önadenmittelamt ihren Quellpunkt hat, fchon gegeben und braucht 
nicht al8 Ergänzung noch hinzugebracht zu werden. Cine andere 
Stage aber tft, ob Luther die Aufrichtung eines evangelifchen 
felbftändigen Bifchofamtes im Unterfchied von bem einen Gnaden⸗ 
mittelamt, wie Wangemann meint (Nr. 5, ©. 208) erfehnt Hat. 
Man kann gewiß viele Ausſprüche Luthers nach diefer Richtung 
anführen, in denen er den Segen des rechten Biſchofsamtes be» 
tont. Schwer aber füllt doch ins Gewicht, daß der Übertritt ber 
beiden preußifchen Biſchöfe im Jahre 1524 durchaus nicht zu der 
biſchöflichen Verfaffung führte. Die Stellung der Biſchöfe in 
Preußen wurbe mwefentlich bie Stellung von Superintendenten, und 
die bifchöfliche Gerichtsbarkeit ging ſpäter an die Konfiftorien über, 
während der Landesherr das Summepiffopat wie anderwärts be- 
ſaß. Auch die „Wittenbergiiche Reformation“ vom Jahre 1545 
enthält durchaus nicht, wie man es oft darftellt, wie auch Wange⸗ 
mann es anfieht, die lebhafte Anerkenntnis von dem dringenden 
Bedürfnis einer eigenen bifchöffichen Ordnung innerhalb der evange⸗ 
liſchen Kirche, da darin nicht von irgendeinem eigenen zweckmäßigen 
Aufbau der evangelifchen Kirche, fondern nur von dem Wieder⸗ 
eintritt der evangelifchen Gemeinden in den von Bilchöfen regierten 
Organismus der bisherigen Kirche gehandelt wird !). 


1) Bol. Köftlin, Martin Luther IL, 611 (2. Aufl.). 


588 BVBengemann 


Bon ganz befonderer Bedeutung ift das als Grundlage für das 
fechfte Buch bezeichnete Ergänzungsheft Nr. 9, zu dem das fechfte 
Bud felbft nur die eng ſich aujchliegende Fortſetzung bildet. Sehr 
wertvoll ift e8, daß Wangemann die Geheimen Königlichen Kabinetts- 
often und ben Altenfteinfchen handſchriftlichen Nachlaß amsnuken 
fonnte. Die Geſchichte der Agende und der Union erhält hier 
intereffante Auffchlüffe, infonderheit tritt der perſönliche Anteil, den 
der König an der Herftellung der Agende gehabt hat in ein gan 
befonderes und wirklich überrafchendes Licht, das uns in die felb- 
ftändigen liturgifhen Studien des Königs hineinblicken läßt. Aber 
unferes Erachtens thut der Verfaſſer zu viel, wenn er, bis auf 
die eine Ansitellung, daß der König die „referierende" Spendeformel 
in ber Agende Hartnädig fethielt, alle Maßnahmen des Königs 
rechtfertigt und die Ausübung des Titurgifchen Rechts feitens des 
Königs im vollen Umfang durchaus verteidigt. Die Gegnerſchaft 
Wangemanns gegen Schleiermader, deſſen Oppofition von feinen 
reformierten Prinzipien aus Wangemann nicht genügend in ihrem 
Rechte anerkennt, hat zu einer faft ausnahmsloſen Billigumg aller 
Vorgänge in Sachen der Agende und Union geführt. Wenn 
aber gar Wangemann am Schluß der Entwidelung fagt (Nr. 9, 
S. 436): „Die Römiſchen und Evangelien Haben ihre heiligen 
Orter, nach welchen fie wallfahrten. Die Römifchen haben ihre 
wunberthätigen Bilder und Wafler, die Evangelifhen in Preußen 
haben wor andern (?! welche andern?) zwei Orte”, und fodann als 
diefe zwei Orte das Benfter der Arbeitöftube Kaiſer Wilhelms in 
Berlin und die Srabftätte Friedrich Wilhelm II. in Eharlotten- 
burg bezeichnet, jo muß jeder evangelifche Ehrift und gute Batriot 
gegen eine derartige Parallelifierung entjchieden proteftieren. Daß 
der Einführung der Agende wie ber Union manches Weenfchliche 
beigemifcht war, daß das einfeitige Vorgehen des Königs als 
summus episcopus, wie der Staatsbehörden, die doch den König 
berieten,, nad) kirchlichen Grundfägen nicht vertreten werden Tann, 
wird auch auf Grund des Wangemannfchen Buches wohl niemand 
leicht in Abrede ftellen, der nicht den Xerritorialismus vertritt, 
wenn auch viele Verleumdungen durch die Kabinettsakten ſich als 
das, was fie find, erwiefen haben. Daß der König nur ein ihm zu- 





Die lutheriſche Kirche ber Gegenwart tr. 389 


ſtehendes formelles Recht ausgeübt hat, wird niemand beftreiten 
können, aber eine andere Frage tft, ob das innere materielle Recht 
der Kirche nicht durch eine derartige Ausibung bes Summepiflopats 
gefährdet und verletzt werden mußte. Jedenfalls ift es inkonſequent, 
wenn Wangemann wohl das Vorgehen des Königs durchaus ver- 
teidigt, aber fein Feſthalten an der „referierenden” Spenbeformel 
als unberechtigt befämpft. Nimmermehr darf Einverftändnis mit 
einzelnen Maßnahmen oder Abneigung gegen andere der Maßftab 
werden, nach dem die materielle Rechtmäßigkeit des Verfahrens 
geprüft wird (vgl. z. B. Nr. 6, ©. 473 die Unterfcheidungen 
wahrer und faljcher Union). 
Auf die Darlegungen über die weiteren Entwidelungen innerhalb 
der premßifchen Landeskirche in Buch 6 können wir im einzelnen 
nit näher eingehen. Sie find lebendig umb anziehend gejchrieben, 
weil der Verfaſſer felbft die Zeit durchlebt Hat. Nur möchten 
wir bemerfen: So wenig wir die utopifchen Pläne bes Generals 
fnperintenbenten Hoffmann, welche in feiner Schrift: „Deutfchland 
einft und jet im Lichte des Wortes Gottes” ausgeführt wurden, 
vertreten oder rechtfertigen Lünnen, und fo gewiß wir glauben, daß 
Dorners kirchenpolitiſche Grundfäge vielfach zu fehr aus der 
Theorie und ohne genügende Rückficht auf die hiftorifch berechtigten 
konfeſſionellen Eigentümlichkeiten der Kirchenkreiſe innerhalb der 
preußiſchen Landeskirche gefloffen find, fo ift die Beurteilung beider 
Männer bei Wangemann doch zu fehr beeinflußt durch die aus⸗ 
geprägte Tirchenpolitifche Gegnerſchaft des Verfaſſers. Die Pa- 
rallele mit dem Kryptocalvinismus (Nr. 6, S. 591) tft durchaus 
unzutreffend. Darin liegt zunäcft kein Vorwurf. Schwerlich 
wird jemand eine objektive Beurteilung einer Zeit gewinnen, in der 
er jelbft als thätiges Mitglied einer ausgeprägten Partei kämpfend 
geftanden hat. Ganz offenbar täuſcht fih Wangemann über fich 
jelbft, wenn er noch heute fein Auftreten auf ber fogen. Oftober- 
Ionferenz im Jahre 1871 durchaus verteidigt. Wer die damals 
gehaltene Rede Tieft, wird den Eindruc gewinnen, daß ber Ver⸗ 
faffer der „Una sancta“ fo nicht mehr reden könnte. Daß damals 
das Ziel der Rede Brückners, eine Konfüderation der verfchiebenen 
evangelifchen Landeskirchen zu gewinnen von vornherein ausfichtslos 


300 Wangemann 


ward, war die Folge des Eindrucks, den Wangemanns Rede durch⸗ 
aus auf jeden Hörer hervorbracdte. Heute vertritt in warmer 
Weile Wangemann genau diefe VBorfchläge der Oltoberkonferenz, 
fogar mit dem Ausblid auf eine wirklich einheitliche deutfche evan⸗ 
gelifche Kirche (Nr. 6, ©. 486 f.) 

Wenn wir zuleit auf die Forderungen bliden, bie Wangemann 
unter den gegenwärtigen Verhältniſſen für die Landeskirche geltend 
macht (vgl. Nr. 6, S. 450. 478f.), fo find es im wefentlichen 
diejenigen ber Iutherifchen Vereine und ber Eonfeffionellen Partei 
innerhalb ber preußifhen Landesklirche. Aber — und das ift das 
Wichtige — fie find fämtlih durch bie vorausgehenden Crörte 
rungen des gefamten Werls nur unter den Geſichtspunkt der 
edvrakia gefordert, find aljo alle durchaus nicht Lebens⸗ um 
Gewiffensfragen der Lutheraner als folcher innerhalb ber preußifchen 
Landeskirche. Insbeſondere jagt Wangemann ausdrücklich: „Die 
Lutheraner in Preußen haben, foviel ich weiß, nie die Organifation 
als eine Sache des Dogma und bes Gewifjens, fondern nur genau 
ihren Belenntniffen entjprechend als eöradia gefordert" (Nr. 6, 
©. 396 Anm.) Damit fteht allerdings die bisherige Faſſung des 
dritten der von den Iutherifchen Vereinen feftgehaltenen Grundſätze 
(S. 312) in Widerfprud. Derfelbe lautet: „Das Tonfeffio- 
nelle Recht ber Iutherifchen Gemeinden fordert zu feiner 
Wahrung eine Fonfeffionelle Kirchenberfaſſung. Wir begehren 
demnach die Anerkennung und Durchführung des evangelifch luthe⸗ 
rischen Belenntniffes in Kultus, Gemeindeordnung und Regiment.“ 
Wenn die Wahrung des Tonfefftonellen echte der Gemeinden 
entfchieden eine Sewiffenspflicht ift, die Wangemann doch als 
folche nicht Tengnen wird, zu diefer Wahrung aber (alfo nidt 
bloß als logiſche Konfequenz) eine konfeſſionelle Kirchenverfaſſung 
als nötig gefordert wird, fo weiß ich nicht, wie man dem Di⸗ 
lemma entgehen kann, daß den Tutherifchen Vereinen Preußens die 
gefonderte Geftaltung der Iutherifchen Kirchenverfaſſung für bie 
[utherifchen Gemeinden der Landeskirche im Linterjchiede von den 
unierten und reformierten nicht eine Gewiſſensſache gewefen if. 
Jedenfalls ift die ganze Frage jekt von Wangemann ausdrücklich 
auf das Gebiet der edradia verwiefen, und wenn Wangemann, 





Die Intherifche Kirche dev Gegenwart ꝛc. 891 


wie er berichtet, mit Abfafjung eines den veränderten Zeitumftänden 
entiprechenden neuen Programms für die Aufgaben der Tutherifchen 
Vereine beauftragt ift (Nr. 6, ©. 582), und die Anfchauungen 
Wangemanns, die er in der Una Sancta entwidelt, wie es fcheint, 
innerhalb der konfeſſionellen Kreife Preußens Lebhafte Anerkennung 
gefunden haben, fo ift dem bisherigen heftigen Streit die fcharfe 
Spige genommen. 

Ein Punkt ift es allerdings, den Wangemann als einen 
brennenden Notftand innerhalb der preußifchen Landeskirche be⸗ 
zeichnet und der baldigft praltiih in Angriff genommen werben 
müſſe. Er meint die Freigebung ber „belennenden“ Spendeformel, 
wie er fie nennt. Diefe Forderung ift für Wangemann eine Sache 
des Dogma und bes Gewiſſens (vgl. bejonders Nr. 6, S. 480 ff.) 
Um fo mehr müſſen wir zulegt noch. auf diefelbe eingehen, ba fie 
thatfächlich mit der bevorftehenden Revifton der Agende ihre endgültige 
Entſcheidung finden muß. Je tiefer die Wunden find, welche ber 
traurige Streit über die Spendeformel der Landeskirche gefchlagen 
bat, um fo wichtiger ift die Verftändigung über biefe Frage für 
unfere Zeit. 
| Was ift die Bedeutung ber fogen. Iutherifchen Spendeformel, 

ſpeziell, was ift ihre Bedeutung innerhalb der lutheriſchen Kirche? *) 
Wangemann fieht fie als ein Belenntnis an, in der die fpezififch 
futherifche Lehre des Abendmahls fich einen Ausdrud giebt. Wir 
wollen es unerörtert Laffen, ob nicht mit Recht Wangemann ber 
Einwand gemacht werden könnte: „So wird alfo doch wieder das 
Abendmahl durch die ihm wefentliche Tonfeffionelle Spendeformel 
jur nota confessionis, was im Buch 4 heftig befämpft ift.” Jeden⸗ 
falls aber wird der Spendeformel eine Bedeutung beigelegt, bie fie 
innerhalb der Intherifchen Kirche ebenfo wenig als in der alten 
Kirche gehabt Hat. 

Es ift vor allem zu Tonftatieren, daß die Spendeformel weder 
von Luther, noch von Bugenhagen, der uns bie Haffiichen Ius 
therischen Agenden gegeben bat, als ein integrierender Beftandteil 
der Abendmahlsfeier angefehen worden ift. Luther hat die Spende» 


I) Bgl. meine Schrift über Abendmahlsgemeinſchaft S. 80 ff. 


892 Wangemann 


formel, die unrechtmäßigerweiſe den Namen „lutheriſch“ trägt, gar 
nicht gelanut. Er Hatte nur bie Formel der Meſſe: Corpus 
(sanguis) Jesu Christi custodiat animam meam (tuam) in 
vitam aeternam. In feiner Formula missae erwähnt er bie 
letztere. Nachdem er dort ven bem Gebet, das in der Mefie 
vor der sumptio ftebt, gejagt Bat: quod si orationem illam 
ante sumptionem orare voluerit, non male orabit, fährt: er 
fort: Item et illam (sc. orationem): Corpus Domini etc. 
custudiat animam tuam in vitam aeternam. “Damit bezeidjnet 
er die Spendeformel als ein „Gebet“, das wohl gebraucht werden 
fann, aber nicht wefentlich zur Feier if. Im der „deutſchen 
Meſſe“ hat er Leine Ependeformel. Die Bugenhagenfchen Agenben 
haben fäntfic feine Diftributionsformel. Die alte bänifche Kirchen 
ordnung fchreibt vor: accipientibus panem et calicem nihil 
dicatur, quia omnibus publice dictum est ante in consecratione 
Christi. In der Schleswig-Holfteinfchen Agende von 1542 heißt 
ed ausdrüdliih: „Wenn man das Salrament austeilt, foll man 
den Kommunikanten, fo bad Brot und Kelch empfangen, nichts 
fagen, denn zuvor ift es insgemein gejagt mit den Worten und 
Befehlen Ehrifti im ihre Ohren. Das kann man nachmals nicht 
beſſer machen.” Ganz ebenjo Tautet es in der Braunſchweiger 
Kirhenerdnung von 1543 und ber Hildesheimer von 1544, welde 
ebenfalls Bugenhagen zum Verfaffer haben). 


1) Bel. König, Bibliotheca agendorum 1726, ©. 46. Dieſes Werk 
von König Hat Friedrich Wilhelm ILL. bei Ausarbeitung ber Agenbe auch be 
nut, wie fi) aus Wangemann Nr.9, S. 52 ergiebt. Das au der genannten 
Stelle von Friedrich Wilhelm in feiner Erörterung nicht ausgeichriebene Citat 
der Brannfchweiger Agende, defien Ausfall Wangemann bedauert, ift demmach 
dies oben gegebene. Fälichlich ift aber dort vom König Friedrich Wilhelm die 
Agende von 1563 flatt der von 1543 bezeichnet. Es beruht dies auf einer 
irrtümlichen Auffaffung des Baffus in Könige Bibliotheca, wo allerbings 
vorher auch die Agende von 1563 kurz erwähnt wird, während das Citat ent- 
ſchieden aus der Kirchenordnung von 1543 angeführt wird, über welche allein 
der ganze Pafſus handelt. — Befrembend ift e8, daß Richter in feiner befannten 
Sammlung Evangelifher Kirchenordnungen weder in der Schleswig-Holfleiner, 
noch Braunfchweiger noch Hildesheimer Kirchenorbnung, die er alle drei Im Auszug 
mitteilt, diefen woichtigen Paſſus mit aufgenommen hat. Bgl. aber aufer König 





Die Iutherifche Kirche der Gegenwart ꝛc. 396 


Noch im Sabre 1616 und 1619 fpredden zwei Gutachten ber 
Wittenberger theologiſchen Fakultät auf ergangene Anfrage ſich 
dahin aus, daß die Anwendung der Spendeformel kein integrieren. 
der Teil der Abendmahlsfeier jet, wohl aber zum Wohlftand und 
zur Erbauung der einzelnen fehr dienlich fein könne, wenn bie 
Austellung nicht bloß eine ftumme Handlung fe. Das zweite 
Gutachten kennt noch lutheriſche Kirchen, in denen feine Spende 
formel gebraucht wird !). Andere Agenden geben formulierte Spende» 
formeln 2). 

Die Bedeutung aber, bie die lutheriſche Kirche dev Spende» 
formel beigelegt hat, beftand darin, daß fie die Applikation des 
Saframents an den Einzelnen ausdrücken jolle, weshalb wir meiftene 
and in den Spendeformeln den Singular: Nimm bin und iß zc. 
finden. Die Wöürttemberger Kirchenorbnung vom Sahre 1553 
Ihreibt vor: Wiewohl nun beides, Brot und Wein, was zu dem 
pegenwärtigen Nachtmahl gebraucht wird, durch die Stiftung Ehrifti, 
jo vorher in der Ermahnung und hernach infonderheit verlefen ge⸗ 
nugjam gereichet ift und es derhalben nicht wieder fonderlicher Worte 
mehr bedarf, fo mag der Kirchendiener zu mehrerer Erinnerung 
in Darreihung des Leibes und Blutes Chrijti zu einem Seglichen 
ungefähr folgende Worte fprechen: Nimm bin und ig, das ift der 
Leib Ehrifti, der für dich gegeben ift ®). Das oben erwähnte Gut 
achten der Wittenberger Yalultät von 1616, nennt die Spendeformel, 
die fie nicht für wefentlih zur Feier Hält, „eine Applikation bei 
einem jeden Inbividuo zu mehrerer Erinnerung und Stärkung aller 
Schwacgläubigen und zu mehreren Troft” ; und das andere genannte 
Öutachten von 1619 fagt, der Spendeformel Zwed fei, „baß man 


den Abdruck der Braunfchweiger Kirchenordnung bei Hordleder, Handlungen 
von den Urſachen des teutfchen Krieges (I, 1722), ferner: König, Casus consc. 
p.575. Kliefoth (Liturg. Abb. VIII, 128), und befonders Kawerau, Zur 
Geſchichte der luth. Spendeformeln in Zeitfchr. für luth. Kirche und Theol. 1870. 

1) Dedeken, Thesaurus decisionum I, 577 sqq. 

2) Zufammengeftellt find 12 verjchiedene in den lutheriſchen Agenden vor- 
tommende Kormeln bei Höfling, Urkundenbuch, S. 124 ff., zu denen Klie- 
foth, Liturg. Abh. VIII, 124 ff. noch IX Yinzufügt. 

8) Richter, Kirchenordnungen II, 137. 


jien Semumnilnter des Here Chrinti Weohltheten, auch dieſes 
Gefrumese6 Ruz mub Satans ebfeuberfih erinnert werde“. 
Bengmemu Isitet bie Geguerichaft des Königs gegen bie befla- 
ratıue Epenbefermuel ab amS der falidden ifem vorgefpiegelten Auf: 
feffung, «iS fei birfefbe mer cime Sinägeburt des Safjes der Luthe⸗ 
ramır gegen die Sruptecafniniien (Rr. 6, ©. 185) und in be 
That Ielmmben bie eigruhänbigen Retizen des Königs die Richtigkeit 
Diefer Unit Wengemauns (Rr. 6, ©. 5iff.) Die Auffaffung 


des Lönigs, als fei die Ependeformel: Rehmet hin und effet x. 


ans Heft zub Berfelgungejucht gegen die Kryptocalviniften er⸗ 
fundben, iſt wicht zu beften, aber Thatſache ift es doch — und 
dies beachtet WBangemeuu als den wahren Kern dieſer Auffafjumg 
nit — bei im Berlauf der kryptocalviniſtiſchen Streitigkeiten 
Diefe beflarative Shpeubeformel zur Ipezififchen Formel der Tutheri- 
fügen Kirche umb zum weſentlichen Bekenntnis Intherifcher Lehre 
erft gemacht werden iſt. So entfcheibet bie Leipziger Fakultät in 
einem Gutachten, dem die Jahreszahl fehlt, das fich aber deutlich 
als aus der Zeit des Kryptocalvinismus entftandenes kundthut, um 
die Salviniften zu feparieren, genüge nicht mehr die Formel: das 
Blut Yen Eprifti, für eure Sünden vergoffen, ftärke und erhalte 
euch im wahren Glauben, fondern es müßte fortan gefagt werben: 
Nehmet Hin und effet, das ift x.!) Zu diefem Zwecke allein wird 
fie in manchen Agenden noch durch den Zuſatz: Das ift der wahre 
Leib verftärkt ?). Im Yahre 1627 verfuchte Hunnius in langen 
Kämpfen in Lübel, wo bis dahin noch feine Diftributionsformel 
überhaupt im Gebrauch geweſen war, die deflarative Spendeformel 
mit der Erweiterung der „wahre“ Leib einzuführen, drang abet 


damals nicht durch. Erft im Jahre 1647 gelang es in Lubed 


wie in Roſtock °). 

Somit bleibt ganz gewiß als hiftorifche Thatfache beftehen, daf 
einer durchaus fachgemäßen und wenn auch nicht von Luther umd 
Bugenhagen, fo doch frühzeitig von der Iutherifchen Kirche in Ge⸗ 


1) Dedeken |. c. I, 578. 
2) Bol. Kahnis, Dogmatif III, 511. 
8) Aliefoth a. a. O. 


Die lutheriſche Kirche der Gegenwart 2c. 895 


brauch genommenen Spenbeformel wider ihre urfprüngliche Tendenz 
eine Applifation an ben Einzelnen zu fein, der Sinn eines kon⸗ 
feſſionell Intherifchen Belenntniſſes zur Abhaltung Irrgläubiger 
untergelegt wird. 

Wie verhält es ſich num mit der Spendeformel der preußifchen 
Agende? Sehen wir zunächſt ab von ihrer Tendenz, die ihr als 
Unionsformel beigelegt wurde, jo wird niemand fie in ihrem Wort⸗ 
laute als unpaffend bezeichnen Tünnen. Auch Wangemann verwirft fie 
feineswegs (Nr. 6, ©. 481). Sie Heißt mit Unrecht bie refe- 
rierende Spendeformel, wie Nitzſch gut nachgewwiefen bat !), denn 
fie bezeugt die Gegenwart des Herrn, der zu ben Kommunikanten 
Ipriht: Nehmet hin ꝛc. Bugenhagen, der, wie wir fahen, die An- 
wendung jeder Spenbeformel für unnötig hält, weil die Gemeinde 
Chrifti Wort aus den Konfefrationsworten fchon in ihren Ohren 
babe und man es nicht befier machen könne, würde gegen bie 
betr. Spenbeformel ber preußifchen Landeskirche am wenigften etwas 
einwenden können, weil fie eben ganz unveräudert biefe „nicht 
beffer zu machenden” Worte als in diefem Augenblick von Chriſto 
zu den Kommunikanten gefprochen darbietet. 

Aber allerdings kommt bet der Beurteilung ihrer Einführung 
durch die preußifche Agende die Tendenz in Betracht, die ihr als 
agendarifche Unionsformel untergelegt wurde, genau fo wie jener 
früher befprochenen Formel eine konfeſſionell futherifche Tendenz 
beigelegt wurde, bie fie an und für fich nicht gehabt Hatte. Beide 
durchaus unanftößigen Formeln belommen fofort einen anderen 
Charakter, und die unbefangene Anwendung der einen ober ber 
anderen wird gejchädigt, fobald fie zum Scibolet irgendwelcher 
Sondertendenz, dort der Konfeffion, hier der Union gemacht würden. 

Wir leben nicht mehr in der Zeit der Einführung der Unten. 
Im Laufe der faft ſiebzig Jahre Hat fich eine Obfervanz betreffs der 
Spendeformel in den verfchiedenen Gemeinden gebildet, welche kirchen⸗ 
regimentlich gefchägt ift. Unterm 7. Juli 1857 ift vom evangeli- 
Ihen Oberkirchenrat eine Zirkularverfügung erlaffen, welche neben 
andern berechtigten Abweichungen von der Agende außer der agen⸗ 





1) Prakt. TH. 5 360, 


26 Wangemann 


dariſchen noch folgende Spendeformeln als gleichberechtigt be 
zeichnet: 1) die ſogen. „lutheriſche“ Spendeformel mit mehreren 
Barianten; 2) die Spendeformel der römischen Meſſe, welche 
Luther gebraucht hat; 3) für die Gemeinden reformierten Belennt- 
niffes, die dafelbft übliche Formel 1Kor. 10, 16. Mit dieſer 
„Gleichberechtigung“ ift aber nicht der beliebige Gebrauch frei- 
gegeben. Würde da doc fofort wieder der Streit in ben Gemein- 
den entbrannt fein. Vielmehr wird überall der status quo feft- 
gehalten, die Bertanſchung der agendartichen Spendeformel mit 
einer der genannten gleichberechtigten ift an die Genehmigung bes 
Konfiftoriums gebunden, welches forgfältigft zu prüfen hat. 

Wie wird ſich nun die Nevifion der Agende hierzu zu ftellen 
haben? Der Oberkirchenrat hat in dem Proponendum, welches be» 
treffs der Agendenrevifion im Jahre 1881 den Provinzialfgnoden zu⸗ 
ging, es ausgefprochen: „Wir können es nicht für bedenklich erachten, 
dem uns ausgefprochenen Wunfche zu genügen und die genehmigten 
Barallelformulare zur agendarifchen Spenbeformel al& foldye und an 
geeignetem Orte in der Agende mit zum Abdruck zu bringen.” 

Wo aber tft der geeignete Ort? Etwa im Anhang oder in ber 
Anmerkung unter dem Tert? Wir würden es geradezu als ver: 
hängnisvolf anfehen müffen, wenn nicht den vom Oberlirchenrat ans⸗ 
drücklich als „gleichberechtigt“ bezeichneten Spenbeformeln ber ihnen 
als folcher gebührende Pla im Text der gende gegeben würde. 
Damit würde allein ben berechtigten Anfprächen der fonfefflonell 
Lutherifchen innerhalb der Landeskirche genügt werden, daß die be 
treffende Formel nicht mehr bloß als aus Nachficht geduldet erfcheint. 
Dadurch allein auch würde beiden Formeln die ihnen im Laufe 
ber Gefchichte untergelegte Tendenz genommen werben, welde fie 
zu einander entgegengefetten macht, nnd es wärde durch ihr gleich 
berechtigtes Nebeneinanderftehen bezeugt, daß fie einander nicht aus⸗ 
ſchließen, oder gar wider einander ftreiten. Aber eben fo verhäng- 
nisvoll wäre es, wenn man, was allerdings Wangemann will 
(Rr. 6, ©. 483) den Gebrauch der Spendeformel den Befchliffen 
jedes Gemeindekirchenrats freigäße und damit wieder die Tendenz 
provozierte. Vielmehr ift der status quo zu wahren und in ber 
Agende in einer unter den Text zu fegenden Anmerkung die Änderung 








Die Intherifche Kirche ber Gegenwart ac. 897 


der in der Gemeinde üblichen Spendeformel an die Genehmigung 
der firchlichen Oberbehörde zu binden. Nach diefer Richtung hatte die 
Kommiffion ber ſächſiſchen Provinzialfynode 1881, in der die aus⸗ 
geprägteften Vertreter fowohl der konfeſſionellen, mie ber poſitiv 
unierten Bartei, wie der evangeliichen Vereinigung faßen, einmiütig 
fih dahin geeinigt, inbetreff diefes Punktes der Synode vorzufchlagen: 
Den Intentionen des Dberfirchenrats gemäß follen die in der Ver⸗ 
ordnung vom 7, Juli 1857 als gleichberechtigt mit der agendari⸗ 
hen Spenbeformel bezeichneten Spendeformeln dem Text ber Agende 
eingefügt werden, mit dem in ber Anmerkung aufzunehmenden Hin» 
weis auf die für den Gebrauch derfelben beftehenden kirchenregiment- 
lichen Beſtimmungen.“ Aus ber Synode tft keinerlei Widerſpruch 
gegen dieſen Beſchluß erhoben worden. 

Wir haben uns länger bei dieſem Bunte aufgehalten, weil Wanges 
mann ihn für den bremmendften hält. Wir wäßten Feine Löſung, 
welche alle berechtigte Wunſche berückſichtigte ohne hiftoriſch Gewor⸗ 
denes zu zerftären und unberechtigte Willkürlichkeiten zu begünftigen. 
Denn’ es Wangemann allerdings als eine Gewiſſenspflicht für fich 
bezeichnet, daß er niemals die agendariſche Spendeformel in Gebrauch 
nimmt, fo bleibt für ihn, wie für die, welche gleicher Anficht find, 
nichts Abrig, als nur in folchen Gemeinden ein geiftfiches Amt an⸗ 
zunehmen, in denen die fogenannte Intherifche Formel in berechtigtem 
Gebrauch ift. 

Wir brechen bier ab, fo zahlreich die Punkte auch find, die der 
Erörterung fich nahelegen. Da ausgeſprochenermaßen das ganze 
Buch nur einzelne Werkftücke und Stoffe enthält, tft fewohl bie 
einheitliche Benrteilung des Werkes als bie Bollftändigkeit der Bes 
ſprechung aller einzelnen Punkte bei befehränktem Raum unmöglich. 
Trotz all der genannten und anderer Mängel (3. B. in ben Dar⸗ 
legungen der Abendmahlslehre Calvins u. a. m.) ift das Wange⸗ 
mannfche Werk hoch eine fehr verdiente und bedeutfame Erfcheinung, 
gerade für unfere Zeit um fo bebeutfamer, als bie weiteften Kreiſe 
der Vereinslutheraner innerhalb ber preußifchen Landeskirche den 
Grundfägen Wangemanns zugeftimmt haben. Für den Beſtand der 
preußifchen Landeskirche Handelt es fich gar nicht um die Konfenjus« 
union, ſondern wejentlich nur um die Doppelfrage: zuerft, ob der 


898 Wangemann: Die Iutheriiche Kirche der Gegeitwart 2c. 


Beſtand des lutheriſchen Bekenntniſſes und der Tutherifchen Kirche 
völlig gefichert ift bei Gewährung der Abendmahlsgemeinſchaft an Re⸗ 
formierte, und über diefen Bunkt herrſcht keinerlei Differenz. Dazu 
tritt die andere Frage, ob und wieweit ber Beftand bes Iutherifchen 
Belenntniffes und der Intherifhen Kirche eine felbftändige von den 
reformierten und unierten Gemeinden gefonberte verfaffungsmäßige 
Ausgeftaltung der Iutherifchen Kirche bedarf. Diefes tft die eigentliche 
brennende Frage. Wir glauben, daß mit den bisherigen Beftrebungen 
der Iutherifchen Vereine in Preußen die Auflöfung der einheitlichen 
Verfaſſung der Landeskirche notwendig gegeben würbe, was mit ber 
Auflöfung der Landeskirche felbft identisch ift. Wenn aber durch Wange 
manns Buch die Überzeugung ſich in weiteren Kreifen Bahn bricht, 
daß alle diefe Fragen nicht Lebens⸗ und Gewifjensfragen jind, ſondern 
die Fragen des Kirchenregiments- und der Kirchenordnung, wie der 
Agende unter die ceremoniae ritus und traditiones der Auguftana 
zu rechnen find (Nr. 1, S. 20), wobei der Grunbfag der edzadia 
maßgebend ift, dann hat der Streit innerhalb der preußischen Landes⸗ 
kirche feine prinzipielle Schärfe verloren. Der Kampf betreffs ber 
Spynodalverfaffung, welcher hauptſächlich die jet beftehenden Parteien 
ber Landesfirche von einander fhied und dem Streit die Schär 
gab, kommt zur Zeit nicht mehr in Trage. Trügen nicht alı 
Zeichen, fo bereiten fich innerhalb des Parteilebeng neue Änderungen 
vor. Auch Wangemauns Bud) wird dazu beitragen. Durch dasſelbe 
wird zunächft innerhalb der Konfeffionellen der prengifchen Landes 
fire eine weitere Auseinanderfegung reſp. Scheidung bewirkt werben. 
Jedenfalls aber find auch ganz neue Bahnen dadurch bereitet zur 
weiteren Berftändigung mit allen denen, welche innerhalb der bie 
Union, d. 5. die eine evangelifche Kirche vertretenden Parteien ftehen, 
welchen e8 mit der Wahrung des Belenntnisftandes neben ber Union 
nah 8 1 der Generalſynodalordnung ernft ift. 


Wittenberg. D. Rieiſchel. 





Miscellen. 


Theol. Stub. Jahrg. 1886. 


26 


1. 
Programm 


der 
Haager Geſellſchaft zur Verteidigung der chriſtlichen Religion 
für das Yahr 1884. 





Die Direltoren haben in ihrer Herbftverfammlung, am 8. Sep- 
tember 1884 und folgenden Tagen, ihr Urteil gefällt über vier 
Abhandlungen, welche vor dem 15. Dezember 1883 zur Löfung 
der im Jahre 1882 ausgefchriebenen Preisaufgaben eingegangen 
waren. 

Drei derfelben bezogen ſich auf die Aufgabe: 

Die Geſellſchaft wünſcht zu erhalten: Eine gemein» 
faßliche Schrift für Gebildete, worin mit Rück— 
fiht auf die Bedürfnifje der gegenwärtigen 
Zeit, die wichtigſten Fragen das fittlihe Leben 
betreffend ins Licht geftellt und beantwortet 
werden. 


Die erfie, ein beutfher Aufſatz, nur etlihe Seiten groß 
(Motto: 10h. 2, 17) verdiente feine ernfthafte Kritik und wurde 
gleich beifeite gelegt. 

Die zweite Abhandlung war gleichfalls eine deutſche und ges 
zeichnet mit den Worten: Die Moral ift bie eigentliche 
Wiffenfhaft u. f. w. (Rode), Es war in diefer Schrift viel 

26* 


402 Programm 


Gutes, was Beachtung verdiente. Sie zeugte nicht nur von fitt 
fihem Ernfte und warmer Sympathie mit bem Evangelium, 
fondern auch von Belefenheit und Studium. Jedoch entfprad fie 
gar nicht den Forderungen, welde in ber Preisaufgabe geftelit 
werden oder daraus hervorgehen. Der Aufgabe zufolge hätte der 
Verfaſſer fowohl in der Wahl der von ihm zu befprechenden 
Gegenftände als auch in ber Art und Weife der Bearbeitung, 
fowie inbezug auf die Form feiner Schrift, fich von den Bedürf⸗ 
niffen und der Empfängfichleit der gebildeten Leer unferer Tage 
müſſen leiten laffen. Es zeigte fich nicht, daß er fich deſſen be 
wußt worden wäre, oder daß er fortwährend des Zweckes und ber 
Beftimmung feiner Arbeit eingedent gewefen wäre. Es fehlt 
feinem Stile an jeder Aufgewedtheit und Lebhaftigfeit, und der 
jelbe war hie und da ungelenkig. Die VBeweisführung war, mit 
einem Worte, ſchulmäßig. Der Berfaffer ging nicht von ben 
Keen und Vorftellungen aus, von denen man vorausſetzen barf, 
daß die Laien der heutigen Zeit in ihnen aufwachjen und leben, 
jondern von den Fragen, welche und wie fie in den Schulen der 
Philofophie geftellt und beantwortet werden. Demzufolge behar- 
deite er manche Einzelheit, welche außer dem Gefichtskreife des 
Laien liegt und ihm Fein Intereſſe einflößen kann. Aber auch bei 
der Wahl der „Tragen das fittliche Xeben betreffend“, an deren 
Löſung der Verfaffer feine Kräfte verfuchen follte, waren die Br 
dürfniffe des Laien außeracht gelaſſen. Obgleich vollftändig zus 
Heftanden werden muß, daß auch für ihn alles von den Brin- 
zipten abhängt, fo geht hieraus doch nicht hervor, daß bie prak⸗ 
tifhen Fragen vernadhläffigt werden dürfen, fondern im Gegen 
teil, daß bei der Behandlung diefer Teteren die Bedeutung und 
der Wert jener Prinzipien zutage treten müfjen. Dies war vom 
Verfaſſer nicht im Auge behalten, und demzufolge wurde auch dur 
feine Abhandlung den Anforderungen der Aufgabe kein Genüge 
geleiftet. Es kam noch Hinzu, daß die Direktoren, gegen mehr als 
eine Unterabteilung feiner Bemweisführung von rein wiſſenſchaftlichem 
Geſichtspunkte aus wichtige Bedenken Hatten. Nicht hierdurch jedod), 
fondern durch den Charakter der Abhandlung im ganzen murbe ihr 
abweifendes Endurteil beftimmt. 


der Haager Geſellſchaft 3. Berteid. d. chriſtl. Religion. 408 


Auch der dritten Abhandlung, einer franzöftfchen, gezeichnet mit 
dem Motto: Si je n’ai pas l’amour, je ne suis rien 
(Saint-Paul), konnten die Direftoren zu ihrem Bedauern den Preis 
nicht zuerfennen. Zwar neigten einzelne von ihnen, trog vieler 
und wichtiger Bedenken, zur konditionellen Krönung Hinz ihre Mei 
nung fonnte jedoch nach ernftliher Erwägung keine Mehrheit er- 
halten. Einftimmig gaben fie alle dem DVerfaffer das Lob, daß 
er, ganz dem Wunfche der Geſellſchaft gemäß, in fchöner, hie und 
da hinreißender Form feine Ideen vorgetragen hatte und nament⸗ 
(ih in ben erften zwei Teilen feiner Schrift („La vie morale et 
le monde matöriel“ und „La vie morale considöree en elle- 
möme“) vortreffliche Beiträge zur richtigen Löfung der in ber 
Schwebe befindlichen fittlichen Probleme geliefert hatte. Gleichwohl 
trugen die meiften fchon gegen den Anhalt diefer Teile Bedenken: 
die Anficht der Gegner ſchien ihnen hie und da nicht richtig auf» 
gefaßt und mitgeteilt zu fein und der Widerlegung derfelben mußten 
fie oft die Beweiskraft abſprechen. Nach Lefung und Erwägung 
des dritten Zeiles (La vie morale et l1’Evangile“) aber erlangten 
die nämlichen Direktoren die Überzeugung, daß der Verfaſſer nicht 
geliefert Hatte, vielleiht von feinem - Standpunkte aus ſchwerlich 
fiefern konnte, was mit der Preisaufgabe beabfichtigt wurde. War 
diefer Teil einerfeits, nad) der Überzeugung des Verfaſſers ſelbſt, 
unentbehrlih in der Abhandlung, fo war er anderfeits nur für 
diejenigen brauchbar, welche mit ihm auf dem nämlichen ethijch- 
orthodoren Standpunkt ftehen und eine mehr oder weniger modi- 
fizierte Auffoffung der kirchlichen Erlöfungsfehre mit dem Evan- 
gelium identifizieren. Um dieſer Gefinnungsgenoffen des Verfaſſers 
willen durften nach dem Urteil der oben bezeichneten “Direktoren, 
die zahlreichen Andersgläubigen unter den Gebildeten um fo weniger 
vernachläffigt werben, als nicht jene, fondern gerade diefe einer 
gemeinfaglichen und zugleich wiffenfchaftlichen Behandlung der fitt- 
lichen Fragen, welche gegenwärtig an der Tagesordnung find, ber 
dürfen. Auch im Intereſſe feiner Geiftesperwandten felbft hätte 
außerdem der Berfaffer in bdiefem Zeil feiner Abhandlung nicht 
den unverbrüchlihen Zuſammenhang zwischen der Moral und 
einer beitimmten Dogmatik darthun, fondern vielmehr das Kriftlich« 


40d Programm 


fittliche Leben in feiner Eigentümlichkeit und in ber Verſchieder⸗ 
heit feiner Formen befchreiben und es fp auch denjenigen, welde 
nicht feiner Anficht waren, anempfehfen müflen. Die Direktoren 
würden fich gefreut Haben, wenn ber tafentnolle Verfaſſer fein 
Aufgabe auf biefe Weile aufgefaßt Hütte, aber da fick zeigt, 
daß dies nicht der Ball war, mußten fie ihm die Krönung ver 
weigern. 

Die vierte Abhandlung, von einem nieberländifchen Verfaſſe, 
mit dem Sinnfpruch: "Errornodoundevreg Erni vo Heuehip x 
(Ephef. 2, 20) war hervorgerufen durch die Aufgabe: 


Die Gejellfchaft verlangt: Eine tritifch-hiſtoriſth 


Unterfuhung über den Urfprung des Apoſtolate 
und die Bedeutung, weldhe demfelben nad de 
Schriften des Neuen Teftamentes und ber mei 
teren hriftliden Ritteratur der erften zwei Jahr 
hunderte, in der hriftliden Kirche zuerkan 
wurde. | 


Sie konnte jedoch nicht für eine Antwort auf diefe Fragr 


halten werden. Der Verfaſſer handelte nicht oder wenigſtens ut 
geffiffentlich über den Apoſtolat als ZYuftitmt oder Würde, M 
deſſen Urſprung und über die in den erften zwei Jahrhundert 
demſelben zuerfannte Autorität, fondern über die Apöftel, I 


Bildung, ihre Wirkſamkeit und ihren Einfluß. Schon diefes Dir 


berftändnis inbezug auf die Mbficht der Trage würde die Krönum 
unmöglic gemacht haben. Aber die Abhandlung mar außerden 
in mehr als einer Hinficht äußerſt mangelhaft. Vom Geſficht—⸗ 
punkte der Form aus ließ fie viel zu wunſchen ührig: die Spradt 
war nicht fauber, der Stil bisweilen platt, das Aneinanderreihen 
der Gedanken oft unlogifh. Noch unglnftiger lautete das Urt 


über den Inhalt. Der Verfaſſer erklärte, der hiſtoriſch⸗kritiſchen 


Methode zu Huldigen, aber zeigte deutlich) und Mar, daß er dieſelbt 
nicht verftehe. Sein Urteil über das Alter und den Charalin 
der Quellen ftimmte mit dem Gehrauch, den er danon malt, 
nicht überein. Bei der Scheidung hiſtoriſcher und unhiſtoriſcher 
Beftandteile in diefen Quellen verfuhr er ganz willkürlich, um 


der Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 5 


geriet er micht felten in die Irrtümer eines veralteten Rätionalismmus. 
Troß des Fleißes, womit er gearbeitet Hatte und feiner guten 
Abfichten mußte ihm daher jeder Anfpruch auf den Ehrenpreis 
verfagt werden. 

Nachdem diefes Urteil gefaßt war, befchloffen die Direktoren, 


die beiden Aufgaben des Jahres 1882 aufs neue auszufchreiben. 
Sie Tauten folgendermaßen: 


J. 


II. 


Die Geſellſchaft verlangt: Eine kritiſch-hiſtoriſche 
Unterſuchung über den Urſprung des Apoſtola— 
tes und die Bedeutung, welche demſelben nach 
den Schriften des Neuen Teſtamentes und der 
weiteren chriſtlichen Litteratur der erſten zwei 
Jahrhunderte in der Hriſtlichen Kirche zuer— 
kannt wurde. 

Die Geſellſchaft wünſcht zu erhalten: Eine gemeinfaß- 
tihe Schrift für Gebildete, worin, mit Rückſicht 
auf die Bedürfniffe der gegenwärtigen Zeit, bie 
wihtigfien Fragen, das fittlihe Leben betref- 
fend, ins Licht geftellt und beantwortet werden, 


Sie fügen jetzt diefe neue Preisaufgabe hinzu: 


III. 


Die Gefellfchaft verlangt: Eine Abhandlung, worin 


der Gebrauch des Wortes Äyıos und feiner Des 


rivate in den Schriften des Neuen Teftamentes 
genetifch erklärt und zur Charakteriftit des älte- 
ten Chriftentums verwandt wird, 


Ber dem 15. Dezember 1885 wird den Antworten entgegen 
gefehen. Was fpäter eingeht, wird der Beurteilung nicht unter- 
zogen und beifelte gelegt. 

Ber dem 15. Dezember 1884 erwarten die Direlturen die Ant- 
worten auf die im Jahre 1883 ansgefchriebenen Preisftagen über 
die Lehre des Gebetes nah dem Neuen Teſtamente 
und über die Anwendung hiſtoriſcher Kritil auf die 
Bibel, 

Tür die genligende Beantwortung jeder Preisaufgabe wird bie 
Summe von vierhundert Gulden ausgejet, welde die Vers 


8 Brogramm 


fonen, mit welchen Coornhert perjönlich oder brieflich verkehrt Hat. 
Die wichtigen Fragen nad) dem Verhältnis des Staates zu den 
Kirchengenoſſenſchaften überhaupt und zur Reformierten Kirche be- 
fonders, der Streit des Klerikalismus und des Dogmatismus, 
das Entftehen der erften Keime des Widerſtandes gegen den Cal: 
vinismus, welche In kurzem zum Arminianismus führen follten, 
und der Einfluß, welchen Coornherts Schriften jowohl auf bie 
Staatsmänner als auf Arminius felbft ausübten, alles diefes wird 
foum berührt. Umfonft fucht man Belege dafür, dag der Autor 
bekannt ift mit den Selten jener Tage, mit Koryphüen der anti- 
bogmatifchen Richtung, wie Corranus ımd Dverhaagh, Spiegel, 
Hooft, Roemer, Viffcher, Albada, Hans de Nies n. ſ. w. Unbe⸗ 
fannte, hie und da gewiß noch verborgene Dokumente zu entdeden 
und zu verwenden, — daran hat er nicht gedacht; mit einem 
Worte — der Stempel wiſſenſchaftlicher Unterſuchung Aft dieſer 
Arbeit nicht aufgedrückt. 


Die Geſellſchaft, eine gründliche Bearbeitung diefes Gegen- 
ftandes ſehr jchägend, wiederholt nicht blog die Aufgabe, fondern 
dehnt den Termin zur Einfendung der Abhandlung auch noch auf 
zwei Jahre aus und hofft jo vor dem 1. Yanuar 1887 eir 
folche zu befommen über: 


„Nachdem eine ausführliche Bibliographie ber 
Schriften Eoornherts, mit Andentung der Büther- 
fummlungen, wo biefe vorhanden find, neulich 
in der „Bibliotheca Belgica‘ gegeben tft, ver- 
langt die Gefellfhaft als Beitrag jur Ge 
ſchichte der hriftligen Kirche nnd bes hriftlichen 
Lebens in den Niederlanden ein Lebens» und 
Charafterbild Dirk Bollertszoon Coornherts.“ 


Als neue Preisfrage, vor dem 1. Januar de jahres 1886 
zu beantworten, wird angeboten: 


„Eine Geſchichte der Kriftlihen Gemeinden in 


Klein-Afien bis zum Ende des zweiten Jahr— 
hunderte.“ 


der Teylerſchen theologischen Gefellichaft zc. 409 


Der Preis befteht in einer goldenen Medaille von 400 Gulden 
an innerem Wert. 

Man kann fich bei der Beantwortung des Holländifchen, La» 
teinifchen, Frunzöſiſchen, Engliſchen oder Deutfchen (nur mit Latei⸗ 
nisher Schrift) bedienen. Auch müffen die Antworten mit einer 
andern Hand als der des Berfafjers gefchrieben, vollftändig einge⸗ 
ſandt werden, da feine unvolljtändigen zur Preisbewerbung zugelafjen 
werden. Alle eingefhicten Antworten fallen der Geſellſchaft als 
Eigentum ankeim, welche die gefrönte, mit oder ohne Überfegung, 
in ihre Werke aufnimmt, ſodaß die Verfaffer ſie nicht ohne Er» 
laubnis der Stiftung herausgeben dürfen. Auch behält die Gejell- 
haft fih vor, von den nicht gefrönten Antworten nach Gutfinden 
Gebrauch zu machen, mit Verſchweigung oder Meldung des Namene 
der Verfaſſer, doch im legten Falle nicht ohne ihre Bewilligung. 
Auch können die Einjender nicht anders Abjchriften ihrer Antworten 
befommen al8 auf ihre Koften. Die Antworten müfjen nebjt einem 
verfiegelten Namenszettel, mit einem Denkſpruch verjehen, einges 
jandt werden an die Adreſſe: Fundatiehuis van wijlen den Heer 
P. TEYLER VAN DER HULST, te Haarlem. 


Drud von Friedr. Andr. Perthes in Gotha. 








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Eine Beilage von Ir Wilh. Grunow in Leipzig. 











Bur gefälligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen 
find an Brofeffor D. Riehm oder Konfiitorialrath D. Köftlin in 
Halle a/S. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re⸗ 
daftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Pakete 
zu frankieren. innerhalb des Poſtbezirks des Deutfchen Reiches, fowie 
aus Oſterreich Ungarn, werden Manuffripte, falls fie nicht allzu 
umfangreih find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nidt 
überfteigen, am beften als Doppelbrief verfenbet. 


Friedrich Andreas Perthes. 





492 Programm 


Butes, was Beachtung verdiente. Sie zeugte nicht nur von fitt- 
fihem Ernfte und warmer Sympathie mit dem Evangelium, 
fondern auch von Belefenheit und Studium. Jedoch entiprach fie 
gar nicht den Forderungen, welche in der Preisaufgabe geftelft 
werden ober daraus hervorgehen. Der Aufgabe zufolge hätte der 
DVerfaffer jowohl in der Wahl der von ihm zu bejprechenden 
Gegenftände als auch in der Art und Weife der Bearbeitung, 
fowie inbezug auf die Form feiner Schrift, fih von ben Bedürf⸗ 
niffen und der Empfänglichkeit der gebildeten Lejer unferer Tage 
müffen leiten laſſen. Es zeigte fich nicht, daß er ſich deſſen be= 
wußt worden wäre, oder daß er fortwährend des Zwedes und der 
Beftimmung feiner Arbeit eingedent geweſen wäre. Es fehlte 
feinem Stile an jeder Aufgewecktheit und Lebhaftigkeit, und ber» 
felbe war bie und da ungelenlig. Die Beweisführung war, mit 
einem Worte, ſchulmäßig. Der Verfaſſer ging nit von den 
Ideen und Vorftellungen aus, von denen man borausfegen darf, 
daß die Laien der heutigen Zeit in ihnen aufwachſen und eben, 
Sondern von den ragen, weldhe und wie fie in den Schulen der 
Philoſophie geftellt und beantwortet werden. Demzufolge behan⸗ 
delte er manche Einzelbeit, welche außer dem Gefichtöfreife des 
Laien Tiegt und ihm fein Intereſſe einflößen kann. Aber auch bei 
der Wahl der „ragen das fittliche Leben betreffend“, an deren 
Löſung der Verfaſſer feine Kräfte verſuchen follte, waren die Be: 
dürfniffe des Paien außeracht gelaffen. Obgleich voliftändig zu« 
geftanden werden muß, daß auch für ihn alles von den Prin— 
zipien abhängt, jo geht hieraus doch nicht hervor, daß die prak⸗ 
tifhen Fragen vernadhläffigt werden dürfen, jondern im Gegen 
teil, daß bei der Behandlung dieſer Tegteren die Bedeutung und 
der Wert jener Prinzipien zutage treten müffen. Dies war vom 
Verfaffer nicht im Auge behalten, und demzufolge wurde auch durch 
feine Abhandlung den Anforderungen der Aufgabe fein Genüge 
geleiftet. Es fam noch Hinzu, daß die Direktoren, gegen mehr als 
eine Unterabteilung feiner Beweisführung von rein wifjenfchaftlichem 
Geſichtspunkte aus wichtige Bedenken Hatten. Nicht hierdurch jedoch, 
fondern durch den Charakter der Abhandlung im ganzen wurde ihr 
abweifendes Endurteil beftimmt. 


der Haager Gefellichaft 3. Berteid. d. chriſtl. Religion. 408 


Auch der dritten Abhandlung, einer franzöftfchen, gezeichnet mit 
dem Motto: Si je n’ai pas l’amour, je ne suis rien 
(Saint-Paul), konnten die Direltoren zu ihrem Bedauern den Preis 
nicht zuerfennen. Zwar neigten einzelne von ihnen, troß vieler 
und wichtiger Bedenken, zur konditionellen Krönung Hinz ihre Mei⸗ 
nung fonnte jebod nach ernftliher Erwägung feine Mehrheit er» 
halten. Cinftimmig gaben fie alle dem VBerfaffer das Xob, daß 
er, ganz dem Wunfche der Gefellichaft gemäß, in jchöner, hie und 
da hinreißender Form feine Ideen vorgetragen hatte und nament⸗ 
ih in den erften zwei Zeilen feiner Schrift („La vie morale et 
le monde mat£riel“ und „La vie morale considöree en elle- 
möme‘) vortrefflihe Beiträge zur richtigen Löfung der in der 
Scwebe befindlichen fittlichen Probleme geliefert hatte. Gleichwohl 
trugen die meiften ſchon gegen den Inhalt diefer Teile Bedenken: 
die Anficht der Gegner fchien ihnen hie und da nicht richtig auf- 
gefaßt und mitgeteilt zu fein und der Widerlegung derfelden mußten 
fie oft die Beweiskraft abjprechen. Nach Lefung und Ermägung 
des dritten Teiles (La vie morale et l’Evangile‘) aber erlangten 
die nämlichen Direktoren die Überzeugung, daß der Verfaffer nicht 
geliefert Hatte, vielleiht von feinem - Standpunfte aus fchwerlich 
liefern konnte, was mit der Preisaufgabe beabfidhtigt wurde. War 
diefer Teil einerfeits, nach der Überzeugung des DVerfaffers felbft, 
unentbehrlich in der Abhandlung, fo war er anderjeits nur für 
diejenigen brauchbar, welche mit ihm auf dem nämlichen ethifch- 
orthodoxen Standpunkt ftehen und eine mehr oder weniger modi- 
fizierte Auffaffung der kirchlichen Erlöfungsiehre mit dem Evan⸗ 
gelium identifizieren. Um diefer Gefinnungsgenofjen des Verfaſſers 
willen durften nach dem Urteil der oben bezeichneten ‘Direktoren, 
die zahlreichen Andersgläubigen unter ben Gebildeten um fo weniger 
vernachläffigt werden, al® nicht jene, fondern gerade diefe einer 
gemeinfaßlichen und zugleich wiljenfchaftlichen Behandlung der fitt- 
lihen ragen, welche gegenwärtig an der Tagesordnung find, bes 
dürfen. Auch im Jutereſſe feiner Geiftesverwandten felbft Hätte 
außerdem der Berfaffer in biefem Zeil feiner Abhandlung nicht 
den unverbrüchlihden Zufammenhang zwifchen der Moral und 
einer bejtimmten Dogmatik darthun, ſondern vielmehr das chriftliche 





Add Programm 


ſittliche Leben in feiner Eigentümlichkeit und in ber Verſchieden⸗ 
heit jeiner Formen bejchreiben und es ſo auch denjenigen, melde 
nicht feiner Anficht waren, anempfehlen müſſen. Die Direktoren 
würden firh gefreut Haben, wenn ber tafentvolle Verfaſſer feine 
Aufgabe auf diefe Weiſe aufgefaßt hätte, aber ba ſich zeigte, 
daß dies nicht der Fall war, mußten fie ifm bie Krönung ver- 
weigern. 


Die vierte Abhandlung, von einem nteberländifchen Verfaſſer, 
mit dem Sinnſpruch: "Erroınodounderres Erri zo Ieuehip wre 
(Epheſ. 2, 20) war hervorgerufen durch die Aufgabe: 


Die Gefellfchaft verlangt: Eine kritiſch-hiſtoriſche 
Unterfudhung über den Urfprung des Apoftolates 
und die Bedeutung, welche demfelben nad den 
Schriften des Neuen Teftamentes und der weis 
teren hriftliden Litteratur ber erften zwei Jahr— 
hunderte, in der dKriftliden Kirche zuerkannt 
wurde. 


Sie konnte jedoch night für eine Antwort auf diefe Frage ge 
halten werden. Der Verfaſſer handelte nicht oder wenigftens nidt 
gefliffentlich über den Apoſtolat als Zuftitut oder Würde, über 
deſſen Urfprung und über die in den erften zwei Jahrhunderten 
demfelben zuerfannte Autorität, fondern über die Wpnitel, ihre 
Bildung, ihre Wirkſamkeit und ihren Einfluß. Schon diefes Mis⸗ 
berftändnis inbezug auf bie Abficht der Frage würde die Krönung 
unmöglid) gemacht haben. Aber die Abhandlung war außerdem 
in mehr als einer Hinficht äußerft mangefhaft. Vom Gefichts- 
punkte der Form aus ließ fie viel zu wünſchen ührig: bie Sprade 
war nicht fauber, der Stil bisweilen platt, das Aneinanderreihen 
der Gedanken oft unlogiih. Noch ungünftiger lautete das Urteil 
über den Inhalt. Der Verfaffer erklärte, der hiſtoriſch⸗kritiſchen 
Methode zu buldigen, aber zeigte deutlich und ar, daß er dieſelbe 
nicht verftehe. Sein Urteil über das Alter und ben Charakter 
der Quellen ftimmte mit dem Gebraud), den er davon machte, 
nicht überein. Bet der Scheidung hiftorifcher und unbiftorifcher 
Beitandteile in dieſen Quellen verfuhr ex ganz willlürfih, und 


der Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 5 


geriet er nicht jelten in die Irrtümer emes veralteten Nationalismus. 
Trotz ded Fleißes, womit er gearbeitet Hatte und feiner guten 
Adfichten mußte ihm daher jeder Anfpruch auf den Ehrenpreis 
verfagt werben. 


Nachdem diefes Urteil gefaßt war, befchloffen die Direktoren, 
die beiden Aufgaben des Jahres 1882 aufs neue auszufchreiben. 
Sie Lauten folgendermaßen: 


I. Die Geſellſchaft verlangt: Eine kritiſch⸗-hiſtoriſche 
Unterfuhung über den Urfprung des Apoftola= 
tes und die Bedeutung, welde demfelben nad 
den Schriften des Neuen Teftamentes und der 
weiteren Kriftlihen Litteratur der erften zwei 
Jahrhunderte in der hriftliden Kirche zuer- 
fannt wurde, 

II. Die Geſellſchaft wünfcht zu erhalten: Eine gemeinfaßs 
liche Schrift für Gebildete, worin, mit Rückſicht 
auf bie Bedürfniffe der gegenwärtigen Zeit, bie 
wichtigftien Fragen, das fittlihe Leben betref- 
fend, ins Licht geftellt und beantwortet werden. 

Sie fügen jetzt diefe neue Preisaufgabe hinzu: 

IH. Die Gefellfhaft verlangt: Eine Abhandlung, worin 
der Gebrauch bes Wortes Ayıos und feiner Des 
rivate in den Schriften des Neuen Teftamentes 
genetifch erklärt und zur Charakteriftit des älte- 
fen Chriftentums verwandt wird, 


Vor dem 15. Dezember 1885 wird ben Antworten entgegen» 
gefehben. Was fpäter eingeht, wird ber Beurteilung nicht unter- 
zogen und beifeite gelegt. 

Ber dem 15. Dezember 1884 erwarten die Direktoren die Ant- 
worten auf die im Jahre 1883 ansgefchriebenen Preisfragen über 
die Lehre des Bebetes nad dem Neuen Teſtamente 
und über die Anwendung hHiftorifher Kritik auf die 
Bibel. 

Für die genligende Beantwortung jeder Preisaufgabe wird bie 
Summe von vierhundert Gulden ausgefeht, welche die Vers 


28 Programm 


fonen, mit welchen Coornhert perſönlich oder brieflich verkehrt hat. 
Die wichtigen Fragen nad) dem Verhältnis des Staates zu ben 
Kirchengenoſſenſchaften überhaupt umd zur Reformierten Kirche be- 
fonders, der Streit des SKlerifalismus und des Dogmatismusg, 
das Entftehen der erften Keime des Widerftandes gegen ben Cal⸗ 
vinismus, welche In kurzem zum Arminianismus führen follten, 
und der Einfluß, welden Coornherts Scheiften jowohl auf die 
Staatsmänner als auf Arminius felbft ausübten, alles dieſes wird 
faum berührt. Umjonft fucht man Belege dafür, daß der Autor 
bekannt ift mit den Selten jener Tage, mit Koryphüen der anti⸗ 
dogmatiſchen Richtung, wie Corranus und Overhaagh, Spiegel, 
Hooft, Roemer, Viſſcher, Albada, Hans de Ries u. ſ. w. Unbe⸗ 
kannte, bie und da gewiß noch verborgene Dokumente zu entdecken 
und zu verwenden, — daran hat er nicht gedacht; mit einem 
Worte — der Stempel wiſſenſchaftlicher Unterfuchung iſt diefer 
Arbeit nicht aufgedrückt. 


Die Gefellfhaft, eine gründliche Bearbeitung dieſes Gegen⸗ 
ftandes fehr fchätend, wiederholt nicht bloß die Aufgabe, fondern 
dehnt den Termin zur Einſendung der Abhandlung auch noch auf 
zwei Jahre aus und hofft jo vor dem 1. Januar 1887 eine 
ſolche zu befommen über: 


„Nachdem eine ausführliche Bibliographie ber 
Schriften Eoornherts, mit Andentting der Büther- 
ſammlungen, wo dieſe vorhanden find, neulich 
in der ‚Bibliotheca Belgica‘ gegeben tft, ver— 
langt die Geſellſchaft als Beitrag Zur Ge— 
ſchichte der chriſtlichen Kirche nnd bes hriftlihen 
2ebens in den. Niederlanden ein Kebens- und 
Charafterbild Dirk Bolkertszoon Eoornherts.“ 


ALS neue Preisfrage, vor dem 1. Januar des Jahres 1886 
zu beantworten, wird angeboten: 


„Eine Geſchichte ber Hriftlihen Gemeinden in 


Klein-Afien bis zum Ende des zweiten Jahr— 
Hunderte.“ 


der Teylerſchen theologischen Gejellichaft zc. 409 


Der Preis befteht in einer goldenen Medaille von 400 Gulden 
an innerem Wert. 

Man kann fi bei der Beantwortung des Holländiſchen, La⸗ 
teinifchen, Franzöſiſchen, Englifchen oder Deutſchen (nur mit Latei⸗ 
niſcher Schrift) bedienen. Auch müflen die Antworten mit einer 
andern Hand als der des Verfaſſers gejchrieben, vollftändig einge 
jandt werden, ba feine unvolljtändigen zur Preisbewerbung zugelafjen 
werden. Alle eingejchietten Antworten fallen der Geſellſchaft als 
Eigentum ankeim, welche die gefrönte, mit oder ohne Überfegung, 
in ihre Werke aufnimmt, fodag die Verfaffer fie nicht ohne Er⸗ 
laubnis der Stiftung herausgeben dürfen. Auch behält die Geſell⸗ 
ſchaft fih vor, von den nicht gefrönten Antworten nach Gutfinden 
Gebraud zu machen, mit Verſchweigung oder Meldung des Namens 
der Verfaffer, doh im letzten Falle nicht ohne ihre Bewilligung. 
Auch können die Einfender nicht anders Abjchriften ihrer Antworten 
befommen als auf ihre Koften. Die Antworten müfjen nebjt einem 
verfiegelten Namengzettel, mit einem Denkſpruch verjehen, einges 
fandt werden an die Adreſſe: Fundatiehuis van wijlen den Heer 
P. TEYLER VAN DER HULST, te Haarlem. 


Drud von Friedr. Andr. Perthes in Gotha. 


Im Berlage von Wiegandt & Grieben in BWerlin ift focben erichienen 
und durch jede Buchhandlung zu beziehen: 


Srand, Paftor. Die hriftlide Wahrheit für das Ver— 
ftändnis der Gegenwart. ME. 4 

Steinmeyer, Brof. D. Die ee des Herrn 
zum Ermweife des Glaubens erwogen. Mi. 2. 25. 

Wieſe, D. Über die Mißbräuche der Sprade. 2. verm. 
Auflage. ME. 1. 20. [117] 


Verlag von Bleyl & Ksemmerer in Dresden. 





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Johann Friedrich Herbarts 
philosophische 
[114] Lehre von der Religion 
quellenmässig dargestellt. 


Ein Beitrag zur Beantwortung der religiösen Frage der Gegenwart 
von Dr. Albert Schoel, 


Professor an der Kantonsschule in St. Gallen. 
Preis 5 Mark. 
Näheres besagt der diesem Hefte beiliegende Prospekt der Verlagshandlung. 





Antiquarische Buchhandlung (Spezialität: Theologie) 
122] von Bernh. Liebisch, 


Leipzig, Kurprinzstrasse 4. 


Soeben erschienen und stehen gratis und franco. zu Diensten folgende 

theologische Kataloge: 

No.1: Encyklopädie. Gesammelte Werke u. Zeitschriften. Bibelausgaben. 
Philologia sacra. Exegese und Kritik. Christologie. 1600 Nrn. 

No.2: Praktische Theologie: Pastoraltheologie, Predigten, Erbauungs- 
bücher, Katechetik, Liturgie, Missionswesen. Hymnologie. Geschichte 
und Litteratur der religiösen Poesie. Kirchenrecht. 1300 Nrn. 

In Vorbereitung sind: 

No. 3: Dogmatik. Patristik. Religionsphilosophie. Hebraica und Judaica; 
Religionswesen und heilige Schriften der übrigen nicht - christlichen 
Völker. ca. 1400 Nrn. 

No. 4: Kirchen- und Dogmengeschichte. ca. 1600 Nrn. 


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— — 


ganzer Bibliotheken und einzelner Werke. 


Hierzu: ein Beilage von Joh. Ambr. Barth in Leipzig. 
Eine Beilage von Wilhelm Hertz (Beſſerſche Buch) in Berlin. 
Eine Beilage von Vleyl & Kaemmerer in Dresden. 
Eine Beilage von Julius Niedner in Wiesbaden. 
Eine Beilage von G. Grote'ſche Berlagsbuchhandlung in Berlin. 
Eine Beilage von der Schriften-Riederlage des Evangel. Vereins 


Hurt a 
Eine Beilage von Fr Wilh. — in Leipzig. 








Zur gefälligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendbungen 
find an Profeffor D. Riehm oder Konfiitorialrath D. Köſtlin in 
Halle a/S. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re⸗ 
daftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Palete 
zu franfieren. Innerhalb des Poftbezirts des Deutfchen Reiches, fowie 
ans Oſterreich Ungarn, werden Manuffripte, falls fie nicht allzu 
umfangreih find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht 
überfteigen, am beften als Doppelbrief verfenbet. 


Friedrich Andrens Perthes. 


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8 Inhalt. S 
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ß Seite & 
> Abhandlungen. n 
» A 
ß 1. Hering, Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation IT\ . . 195 v 
m 2.0. Soden, Der erfte Theffaloniherbrief - - - > 0 2 0 0. 263 I 
} Gedanten und Bemerkungen. R 
= = 
(; 1. Bertheau, In welchem Jahre wurde Bugenhagen geboren? . . 313 m 
D 2. Röſch, Die Begegnung Abrahams mit Melhifebel . » - . .» . 321% 
” , 

Rezenfionen. . 
1. Warned, Proteftantifche Beleuchtung dev römischen Angriffe auf die s 
— evangeliſche Heidenmiſſion, 1. Hälfte; rez. von Jacobi... 359 * 
BD 2. Wangemann, Die lutheriſche Kirche der Gegenwart in ihrem Ber- 2 
* hältnis zur Una Sancta; rez. von Rietſchee....4371 * 
Miscellen. * 
1. Programm der Haager Geſellſchaft zur Verteidigung der Be 
Religion für das Jahr 18854 . . . . 401 
2. Programm der —— Pe Sera Ai Sauren Mi Ä 
das Jahr 1885 . . „407 





-ENORETARETIENETIA ETF 





Dead von mn. Audr. Verthes in Gotha. 


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Cheologifche 
Studien und Kritilen. 


Fine Zeifſchrift 
für 
das gejamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. €. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit 
nd in Verbindung mit | 
D. 6. Sanur, D. W. Beyſchlag um D. 3. Wagenmann 


| herausgegeben 
von 


D. 3. Köftlin un D. E. Riehm. 


EIER — — 


Jahrgang 1885, driffes Heft. 





— 














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Cheologifche 
Studien und Kritiken. 


Fine Beitfhrift 
für 
das geſamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 
D. €. Ullmann und D. J. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. ©. Baur, D. W. Beyſchlag u D. 3. Wagenmann 


herausgegeben 
von 


a PR D. J. Köſtlin und D. E. Riehm. 
OFFEN 
re ei Sy LIER 
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1885. 


Achtundfünfzigſter Dahrgang. 
Zweiter Band. 


Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 
1885, 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


cdine Zeitſchrift 
für 
das geſamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. C. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. ©. Sanur, D. W. Beyſchlag um D. J. Wagenmann 


herausgegeben 


D. 3. Köſtlin D. E. Riehm. 







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Dahrgang 1885, driftes Heft. -Eopt. Lit ) 
— 





Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 
1885. 


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Abhandlungen. 


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1. 


Dem Andenken von 


D. 3. 9. Dorner. 


Bon 
Prof. D. Dorner in Wittenberg. 





Bon der verehrten Redaktion diefer Zeitſchrift wiederholt auf: 
gefordert, einen Nachruf für meinen feligen Vater D. J. A. Dorner 
zu fchreiben, konnte ich mich den Schwierigkeiten kaum verfchließen, 
welche gerade der Löoſung diefer Aufgabe dem Sohne des Ent» 
ichlafenen entgegentreten müfjen. Denn wenn einerjeitd die Pietät 
und die Liebe zu dem unvergeßlichen Bater den Wunſch erwedte, 
ihm auch, jomeit e8 in meinen Kräften fteht, Worte der dankbaren 
Erinnerung zu weihen, jo mußte ic) mir doc auf der andern 
Seite jagen, daß es dem Sohne befonders fchwer fallen müffe, in 
einer wifjenjchaftlichen Zeitfchrift die Bedeutung des großen Theo» 
logen objektiv zu würdigen. So möge der Leſer denn die nad) 
folgenden Seiten nachſichtig beurteilen, welche es ſich zur Auf» 
gabe jegen, das wiljenfchaftliche Bild des Entjchlafenen in kurzen 
Zügen zufamenzufaffen und die Grundlinien feiner weitverzweigten 
praftifchen XZhätigleit im Zuſammenhang mit feinen wiſſenſchaft⸗ 
lichen Überzeugungen zu verftehen. Ebenfo aber wird e8 wohl jeder 
mann als bereihtigt anjehen, wenn fich Verfaſſer auf den refe- 
rierenden Ton beſchränkt und ſich einer felbftändigen Beurteilung 
nah Kräften enthält, 


418 Dorner 


Das ift jedenfalls auch für den oberflächlichen Betrachter deut⸗ 
ih, daß Dorner in keiner Weile richtig gewürdigt wird, auch 
nicht nach der wiffenfchaftlihen Seite, wenn man ihn nicht zugleich 
in feiner raftlofen praftifchen Arbeit betrachtet. Denn es war feine 
Grundüberzeugung, daß die Wilfenfchaft, vor allem die Theologie, 
auch dem Leben nahe ftehen müſſe, fo wenig er anderfeits eine 
voreilige Einmifchung praltifcher Intereſſen in das wifjenichaftliche 
Studium und in die ruhige Denkarbeit billigen konnte. Diefe 
Richtung auf die Verbindung von Wiffen und Handeln Hatte er 
mit feinem großen Lehrer, Schleiermader, gemein, und diefe Eigen- 
tümlichleit feines Wefens verdient um fo mehr hervorgehoben zu 
werden !), als gerade Dorner 'als einer der Hauptvertreter der 
fpefulativen Theologie ſich mit Problemen zu beſchäftigen liebte, 
welche fcheinbar von der Praxis weit ablagen. Er ift fich bes 
Zufammenhanges derfelben mit dem religiöjen Intereſſe und mit 
der praktifchen Frömmigkeit dennoch ftets bewußt geblieben, wie 
feine Arbeit über die Unveränderlichkeit Gottes in ihrem Schluß⸗ 
teile gerade die praftifche Fruchtbarkeit feiner mit großer Gelehr- 
ſamkeit hiftoriich und fpefulativ begründeten Anficht nachweifen ſoll. 
Und wenn er in feiner Dogmatik mit fühner Spekulation in die 
Seheimniffe der Zrinitätslehre und der Chriftologie einzubringen 
juchte, fo wird man, man mag feine Refultate fonft beurteilen wie 
man will, nicht in Abrede ftellen dürfen, daß es ihm bei erfterer 
zugleich darum zu thun war, das Weſen des Sittlichen in feiner 
Tiefe und Lebendigkeit zu erforfchen, und daß, fo fehr er auch einen 
Standpunft, der bloß die ökonomische Trinität gelten Laffen will, 
als religiös berechtigt anerlannte, dennoch zugleich für das fromme 


1) Vgl. „Zur Erinnerung an 3. X. Dorner”, Tuttlingen 1884: „Er, ber 
vorzugsiweife der Mann der theologiihen Wiffenichaft war, hat mit feiner 
wiederholten Einkehr im Hirten- und Lehramt uns auch daran erinnert, daß 
es unſere Pflicht if, Feine wiſſenſchaftliche Schriftkenntnis unvermwertet zu Laffen 
für unjern Dienft an der Gemeinde Ehrifti, S. 20. 24. Hier (in Neuhaufen) 
haft du je und je in gleich jchlichter Weife felbft das Wort Gottes zır. diefen 
ländlichen Chriftenleuten geredet, und dein letes war, vor wenigen Jahren der 
Jugend in der Chriftenlehre das geiftliche Brot zu brechen, die einfache Milch 
des Evangeliums zu reichen.” 


Dem Andenfen von D. 3. A. Dorner. 419 


Gemüt einen Ertrag aus feiner Spekulation erhoffte. So war 
er weit von einer Theologie entfernt, welche fih in unfruchtbare, 
rein theoretiihe Erörterungen, in einen formaliftifhen Intellektua⸗ 
lismus verliert. „Auch wir”, fagt er in einem Brief vom Juni 
1878, „hätten Schuld an der Erkrankung unfres Volkslebens, wenn 
wir forglos und in Verſchwendung von Zeit und Kraft die Wiffen- 
ſchaft nicht fo betrieben, daß aus den Gedanken der Wahrheit zün- 
dende, begeifternde Funken in die Gemüter fielen oder fallen, wenn 
wir vielmehr einer Art von vornehm fcheinendem wiſſenſchaftlichen 
Egoismus verftelen, der nicht dienen, nügen, fi dem gemeinen 
Beiten opfern, fondern Lieber nur an ſich, an das eigene Behagen 
und geiftige Genießen denken will.“ 

Wie aber Dorner Wiffenfchaft und Praxis vereint wiſſen 
wollte, fo war feine wiljenfchaftliche Arbeit nicht nur eine viel- 
feitige, fondern fie war aus einem Guſſe. Er hat nicht bloß auf 
alle Gebiete der Theologie feine Thätigkeit ausgedehnt, fondern 
e8 war ihm auch zu thun um die richtige Stellung der Theologie 
zu den übrigen Wiffenfchaften. Diefen univerfellen Geiſt fpricht 
ganz bejonders die akademische Rede aus, welche er am 15. Ok⸗ 
tober 1864 als Rektor der Berliner Univerfität gehalten Hat. 
Hier führt er aus, wie die Gefchichte der Univerfitäten in unferem 
Jahrhundert die Selbftändigkeit der Fakultäten gegen einander ge- 
zeitigt habe. „Die Vermifchung der Gebiete, die Benormundung 
der einen durch die anderen ift aufgehoben und zwar vornehmlich 
durch die Fortfchritte, welche durch die Teilung der Arbeit erzielt 
find. Jedem diefer Gebiete ift nicht bloß die Freiheit der Rede 
und Lehre in Schrift und Wort vergönnt, alle haben wenigftene 
einen Anfang auch der inneren Freiheit gemacht durch bewußtes 
Ergreifen ihres eigentümlihen Prinzips, worin das Geheimnis 
ihrer Kraft Liegt. Aber eben damit“, führt er fort, „find auch der 
Univerfität neue Aufgaben erwachſen. Es kommt darauf an, zu 


1) Prof. Fifher von Newhaven fchreibt in dem „Independent“ vom 
24. Juli: „It was evident, that while his mind was earnestly engaged 
on the deep problems of theology, his heart was near to God.“ Bgl. aud) 
J. A. Dorner von $ Innp. ©. 2. 


420 Dorner 


verhüten, daß die einen Willenfchaften die anderen feindlich, oder 
was noch ſchlimmer ift, imdifferentiftiich betrachteten“, damit wicht 
die Trennung dazu führe, daß die Gedankenwelt ein und derfelben 
Nation in fich gefpalten werde, was auch die innere Einheit und 
Kraft der Nation fehädigte; würden Spezialfchulen aus den Uni- 
verfitäten, fo würden diefe „früher oder fpäter einem banaufifchen 
Pralkticismus entgegeneilen, weil fie fich abfchließen von dem echt 
Menſchlichen, das von ihrer Wiſſenſchaft nicht umfpannt tft, von 
ber Gefamtentwidelung der Vernuuft in unferem Geſchlecht und 
dem Lebensgeifte be8 Ganzen”. Die Hegemonie einer Wiſſenſchaft 
lehnt er ab; aber da8 fordert er, daß „den Fächern, welche die 
höhere allgemein menfchliche Bildung vertreten, Philologie, Ge⸗ 
ſchichte, Mathematik, Philofophie die Geltung für bie akademiſche 
Jugend aller Fakultäten in feiner Weiſe verfümmert, fondern ge 
mehrt werde*. Er fordert ferner von jeder Wiſſenſchaft, „daß fie 
auch für die andere etwas fein und leiften muß. Denn fchon in 
den fchöpferifchen Gründen des Alls tft ein geheimer realer und 
vernünftiger Zufammenhang aller Gebiete des Dafeins angelegt, 
und das fittliche Werk der Meenfchheit ift es, diefen zu exfennen 
und zu lebenspoller Wirklichkeit zu bringen: Ein Gott, eine Welt 
und Menfchheit, fo geartet, daß die Grenzen jedes Gebiets richtig 
und feharf erfaßt, nicht abfchließen, fondern Brücken und Über: 
gänge zu den anderen bilden. Nicht das ift die fittliche Forde⸗ 
rung, daß wir uns vermefjen, auch über andere Gebiete als das 
unfrige gleichjam gejetgeberifch, entjcheidende Urteile abgeben zu 
wollen. Aber was uns zulommt, ift: mit Kraft und Tüchtigkeit 
im eigenen Fach, die das erjte fein muß, den offenen freien Sinn 
für alles Menſchliche außer uns, ein DVerftändnis für alle Mächte 
des Volkslebens zu verbinden“. Und auch in diefer Rede weilt er 
zum Schluß auf den fittlihen Einfluß der Wiffenfchaft Hin. „Die 
Philologie wird ihre Haffiihen Schäge als Gemeingut der Kultur 
unferes Volkslebens einverleiben und die Gefchichte die ewigen fitt- 
lichen Gefege des Steigens und Fallens der Völker und Weiche 
enthüllen und dem heranwachjenden Gefchlecht Vorbilder des Herois- 
mus, aber auch der Macht der Treue im Kleinen und des Sieges 
der Ausdauer geben. Die Philofophie wird gegen materialiſtiſche 


Dem Andenken von D. 3. A. Dorner. 421 


und fleptifche Richtung eine geiftige Schutwehr bilden und die 
tbeale Haltung in Sinn und Streben, diefen Schmelz der Jugend 
hervorrufen und bebüten helfen, die Naturwiſſenſchaft den Sinn 
für die Thatfache, das Reale jchärfen und zur reinen objektiven 
Hingebung an die Sache gewöhnen. Die Yurisprudenz der ewigen 
Idee des Rechts und Gerechtigkeit dienend, weiß bejonders den 
Sinn für Hiftorifche Kontinuität einzupflanzen; von ihr und ihren 
Süngern gehen für Bildung männlicher Charaktere die Cinflüffe 
aus, die in ihr einen anserwählten Sig haben, und jo wird dem 
Lebensblut, das durch die Adern der Umiverfität kreiſt, auch der 
nötige Eifengehalt nicht fehlen. Und endlich die Theologie vermählt 
alle diefe Formen des Weltbemußtfeins und Selbftbewußtjein mit 
dem Gottesbewußtfein. . . Sie weilt das vielbewegte Menſchen⸗ 
(eben, auch das der Univerfitäten mit all ihrem edlen Streben auf 
den, der aller Dinge Urfprung und Hoffnung ift, den Vater des 
Lichtes, der neidlos uns alle gute und volltommene Gabe ſchenkt“. 
Beſonders behielt Dorner das Verhältnis der Theologie zn der 
Philofophie im Ange, deren Entwidelung er bis in die letzte Zeit 
mit unaußgefeter Aufmerkſamkeit verfolgte; er erkannte die Auf: 
gabe in vollem Umfange an, den chriftlihen Gtaubensinhalt in 
einer den Anforderungen der Zeit entfprechenden Weife zur Dar: 
ftellung zu bringen und war der Überzeugung, daß die Denk; 
arbeit der Philojophie feit Kant nicht ignoriert werden dürfe !). 
Er felbft hat ſich am engiten an Scjleiermader und Hegel anges 
ichloffen, ohne daß man fagen könnte, daß feine Theologie den 
Charakter des Eklekticismus trage. Was ihn an Schleiermader 
feffelte, war die pſychologiſche Begründung der Religion im Ge⸗ 
müte; Hegel fchien ihm durch die Betonung des objektiven Ele⸗ 
mentes des Erkennens den Schleiermaderichen Subjektivismus des 
Gemütes zu ergänzen und mit Recht auf ein Erkennen der Wahr- 
heit zu dringen. Aber feine Theologie war trog alledem jelbftändig 
gedacht und von einem alles beitimmenden Prinzip getragen, das 
fih überall im einzelnen fühlbar machte. 


1) Bgl. Kleinert, Rede bei der Gedenkfeier der theologifchen Fakultät in 
Derlin. S. 12. Dorner, GOefchichte der proteftantifchen Theologie. S. 776. 


422 Dorner 


Der Grundgedanke feiner Theologie !), vom dem er ausging, 
war der, ben er in feinem erften Hauptwerke zur Darſtellung zu 
bringen fuchte, daß fowohl das religiöfe wie das fittliche Ideal der 
Menſchheit in der Perſönlichkeit Chrifti verwirklicht ſei, und 
daß deshalb weder ein abftrafter Idealismus noch ein theologiicher 
Empirismus haltbar feien, weder eine Auffaffung, welche das Real- 
werden des deals in Chrifto leugnet oder abjchwächt, noch eine 
Denkweiſe, welche fih nur an die gegebene Biftorifche Offenbarung 
hält. In legter Beziehung war feine Überzeugung vielmehr darauf 
gerichtet, zu zeigen, daB das der Menfchheit vorgezeichnete Ideal 
in religiöfee und fittliher Beziehung auch als ſolches deal er 
fennbar fein müſſe, daß fich zeigen Laffen müſſe, daß die der Ver⸗ 
nunft innewohnenden been des Sittlihen und der Gottheit erſt 
im Chriftentum zu ihrer Vollendung kommen. Das war nicht fo 
gemeint, als ob das Chriftentum könne andemonftriert werden. 
Vielmehr fette feine Theologie den Glauben voraus. Aber er war 
der Meinung, daß in ber Erfahrung des Glaubens ein zentrales 
unmittelbare Erkennen enthalten ſei, ein objeltiver Wahrheits⸗ 
gehalt, deifen fi die denkende Vernunft bemächtigen könne und 
zwar in der Weife, daß die der natürlichen Vernunft innewohnende 
Kunde vom Sittlichen und Göttlichen nicht durch die chriftliche 
Erkenntnis vernichtet werde, ſondern vielmehr als die Voraus: 
jegung und der Anknüpfungspunkt zu behandeln fei, von welchem 
ans die chriftliche Erkenntnis als die alles vordhriftliche Erkennen 
vollendende ſich erweifen Laffe. Eben daher war fein Blick ebenfo 
fehr wie auf die thetifche Darftelung der Glaubens⸗ und Sitten 
lehre auf die Geſchichte gerichtet, in welcher der Prozeß der Vers 
einigung von Hiſtoriſchem und Idealem fich verwirklicht. Ya, als 
den Kern feiner Theologie kann man den Gedanken bezeichnen, daß 
die aller Religion zugrunde liegende Idee der Gottmenfchheit und in 
Berbindung hiermit das ethifche Ideal in Ehrifto verwirklicht wor: 
den jet, daß eben deshalb Chriftus der Mittelpunkt der religiös. 
ethifchen Gefchichte und Haupt der Deenfchheit fei. Allein dieſe 


1) Bol. Pünjer, 3. A. Dorner, „Augsburger Allg. Zeitung“, Beilage 
Nr. 283. Ebenfo „Andover Rewiew“ Auguft 1884 3. A. Dorner, ©. 176f. 


Dem Andenten von D. 9. A. Dorner. 42 


Offenbarung in Chriſto muß man zum Gegenſtand perfönficher 
Lebenserfahrung machen, und Dorner bemühte fih, den Weg zu 
zeigen, wie man zu biefem Glauben kommen fünne. Der menſch⸗ 
lie Geift durchlänft Hier Stufen, welche er in der Pifteologie 
Ichilderte. Der bloß Hiftoriiche Glaube, welcher fich der Autorität 
jei es der Kirche, ſei e8 der Schrift fügt, ift nur eine Vorſtufe. 
Ebenjo aber auch diejenige Betrachtungsmweife, welde im Chriften- 
tum nur ewige Wahrheiten fieht, feien dieje im Gebiet des Er- 
kennens, Wollens oder Gefühle. Vollkommen ift erſt der Glaube, 
„der das Evangelium innerlich) ameignet und dem jich dieſes in 
eigenfter Erfahrung als die Kraft des Heils und als die Wahr- 
heit erweilt, die eine neue Weife des Seins und Bewußtfeins ber 
Gotteskindſchaft begründet”. 

Wie es ihm auf bie Erfahrung einer objektiven Realität an- 
fommt, die im Glauben wurzelt, jofern ſich Ehriftus dem Glauben 
al® der Gottmenſch und das ethifche Ideal bezeugt, wie alfo bei 
Dorner eine Richtung auf eine Vereinigung des Subjelts mit dem 
Objekt des religiöfen Erfennens genommen wirb, fo ift feine ganze 
Theologie darauf gerichtet, ein objektives Erkennen von ber relis 
giöſen und ethifchen Wahrheit als realer Wahrheit, nicht bloß ale 
Idee oder Ideal zu gewinnen. Ebendaher mußte er darauf aus» 
gehen, die der chriftlihen Erfahrung zugrunde liegenden objektiven 
Prinzipien zu erkennen, die in Gott liegen. Oder: die in Chrifto 
verwirklichte dee der Gottmenfchheit und das damit verbundene 
in Chrifto verwirkfichte ethifche Ideal weifen auf Gott als letzte 
Quelle zurück und find von Gott aus, d. 5. von dem richtigen 
Gottesbegriff aus erft recht verſtändlich, der freilih nur unter der 
Vorausſetzung des Glaubens zu gewinnen if. Es war daher 
nicht zufällig, fjondern Bing mit dem Grundgedanken feiner Theo⸗ 
logie zufammen, wenn er für Religion und Ethik das in Chrifti 
PVerfönlichkeit real gewordene Ideal in legter Beziehung in Gott 
objektiv begründet fand und deshalb vor allem eine gründlich durch⸗ 
geführte Gotteslchre als das erfte Defiderium einer fruchtbaren 
Theologie betonte. Der in Chriſto offenbarte Gott war ihm nicht 
bloß Gegenftand fubjeltiver Erfahrung, fondern Objelt der Er» 
fenntnis, und er hat bie ganze Sraft feines fpelulativen Geiftes 


4% Dorner 


darangefeßt, eine befriedigende Gotteslehre troß aller fleptifchen 
Zeitftrömungen und treg aller vom Neuplatonismus berftammenden 
Traditionen, welche zum Teil den Gottesbegriff der Kirche be⸗ 
berrfchten, zur Durchführung zu bringen), Dabei war er der 
Überzeugung, daß unfere Erkenntnis von Gott es nicht bloß mit 
der Offenbarung Gottes, nicht bloß mit der Art der Wirkfamteit 
Gottes in der Welt zu thun babe, fondern daß vielmehr die Offen- 
barnng Gottes gar nicht Offenbarung wäre, wenn fte nicht das 
wahre Weſen Gottes uns offenbarte. Wenn daher nad dem Er- 
örterten Chriftus ihm in den Mittelpunkt der Theologie trat, fo- 
fern „in ihm alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis ver 
borgen Liegen“ ®), fo ift für ihn das objektive Realprinzip von 
allem, das freilich ohne Ehriftus nicht voll erkennbar fei, Gott; 
und nur von feinem Gottesbegriff au, welcher die Prinzipien für 
die Religion wie die Ethik enthalten foll, ift feine Auffafjung des 
religiöfen wie des ethifchen Lebens der Menſchheit zu verftehen. 
Man kann alfo kurz jagen: die Erfahrung Ehrifti ift die reli- 
giöſe Bafis, von der er ausgeht; in ihm find wir mit Gott 
geeint. Darin aber ift zugleich eine Erkenntnis enthalten. Die 
Aufgabe ift nun, „daß die thatfächliche Gewißheit, die dem Glau⸗ 
ben von feinem Inhalte beimohnt, zur wiffenfchaftlichen Erkenntnis 
oder zum Bewußtſein von dem inneren Zufammenhang und der 
objektiven Begründung dieſes Inhalts gebracht werde. Die reli⸗ 
giöfe Gewißheit Tann und muß zugleich zur wiffenfchaftlichen Ge⸗ 
wißheit werden.” In letzter Beziehung fchreibt er in einem Briefe 
vom 25. April 1877: „Zür die Wiffenfchaft kommt es nicht darauf 
an, daß alle empirischen Menſchen gleich hoch ftehen und die Wahr: 
heit gleichermaßen anerkennen, fondern darauf, daß die Vernunft 
als Vernunft eine Gewißheit von der Wahrheit hat. Diefe Ger 
wißheit Hat aber die Vernunft auch als religidje, nicht bloß ale 


1) VBgl. den Nachruf in der „Neuen Ev. Kirchenzeitung”, welcher befonbers 
die Kunſt hervorhebt, „die fchwierigften Fragen zugänglich zu machen”, die 
Leichtigkeit der Korn, in die er die Darftellung der jchmerften Probleme zu 
gießen vermochte, die geflaltende Kraft in der Sprache. 

2) Das ift da8 Motto, das er unter fein in Göttingen angefertigtes Bild 
ſetzte. 





‚ Dem Andenken von D. 3. X. Dorner. 425 


fittliche oder für das Sittliche beftimmte, nämlich wenn fie — was 
die Aufgabe aller ift — die nötige Ausbildung, ja die Erfüllung mit 
Hriftlichem Geifte gewonnen hat.” Ergänzt wird diefe Bemerkung 
durch eine andere vom 13. März 1881: „Es iſt gewiß richtig, 
daß man a priori nie das fonfrete Einzelne erreicht, aljo daß man 
auch nicht zum Glauben an Chrifti Perfon auf apriorifchem Wege 
fommen kann, bern auch wenn man die Notwendigkeit ber Menſch⸗ 
werdung und zwar in Einem begründen zu können überzeugt ift, 
wie ih es bin, fo ift doch mit diefer Notwendigkeit die Wirk⸗ 
lichkeit nicht erreicht: das bleibt ewig wahr. “Die entgegengefeßte 
Annahme würde auch wieder zu dem Irrtum zurüdführen, daß der 
Glaube andemonftrierbar fei; er ift aber Anfhauung einer Wirf- 
lichkeit, Ergriffenfein durch fie. Er beginnt mit der Empirie, aber 
duch PVertiefung in fie erfaßt er fie als verwirflichte bee oder 
Wahrheit.“ ben der Glaube als principium cognoscendi ver- 
weift uns auf den in Chrifto offenbaren Gott als das Real⸗ 
prinzip der Welt, und es ift daher die Aufgabe der Theologie eine 
volffommenere Gotteserkenntnis, die aus der Offenbarung in Ehrifto 
und ber Vernunft gemeinfam zu ſchöpfen ift, wie ja die Offen. 
barung in Ehrifto jelbft an die Vernunft anfnüpft und fie vollendet. 
Gott ift alfo als das Realprinzip zu erfaflen, und von dem chriftlich 
beftimmten Gott ans ift die Welt, vor allem die Welt der Neligion 
und Sittlichkeit zu verftehen, welche in der Realifierung der Gott- 
menfchheit gipfelt. Darum ift auch die ſpekulative Methode die für 
die thetifche Theologie geeignetfte. Denn fte hat die Aufgabe, die 
Momente, welche in der Erfahrung enthalten find, auf ihr Prinzip 
zurkdzuführen und von biefem Prinzip aus auf debuftivem Wege 
darzuftellen, fo daß das vernünftige Denfen von Moment zu 
Moment mit Notwendigkeit fortfchreitet, bis es befriedigt ift umd 
in einer zufammenhängenden Darftellung feinen Inhalt ex- 
pliziert bat. I 
Bei der Ausbildung der Gotteslehre war es ihm vor alle 

darum zu thun — und bier ging er ſeinem Prinzip entfprechend 
den entgegengejegten Weg wie Hegel — zu zeigen, daß der Begriff 
des göttlichen Seins nicht der Höchfte, ſondern der Leerfte fet, daß 
man nicht mit dem vntologiſchen Argumente abfchliegen, fondern 


4% Dorner 


mit-ihm beginnen müſſe. Denn daß vor allem Gottes objektives 
Sein, feine von dem Subjekt unabhängige Exiſtenz feſtgeſtellt und 
anerfannt werden müſſe, war in der Örundrichtung feines Dentens 
angelegt, welche dem Piychologismus und Subjektivismus jeder 
Art entgegengejett war. Aber das Sein, auch die Afeität Gottes 
war ihm nur die unerläßliche Baſis, um barauf bie näheren Ber 
ftimmtheiten Gottes aufzubauen. Auch wäre Dorner mißverftanden, 
wenn man ihm imputieren wollte, dag er das Sein als eine ge 
trennte Eigenschaft Gottes für fich angejehen hätte, als ob er zuerit 
Sein an fih und dann noc beftimmtes Sein wäre; vielmehr iſt 
fein Sein durchaus beftimmt; aber feine Beitimmtheiten find aud 
eriftent. Die Gotteslehre näher darzulegen, kann bier nicht die 
Abficht fein. Nur das fei erwähnt, dag er die metaphyſiſchen und 
phyſiſchen Eigenfchaften Gottes nicht bloß im Intereſſe der ob 
jeftiven Exiftenz Gottes, fondern vor allem im Intereſſe des ethifchen 
Weſens Gottes für nötig bie. Denn Gott ift ihm nicht bloß 
Vertreter der fittlichen Idee, auch nicht bloß fittliches Geſetz, ſon⸗ 
dern vor allem der realiter Gute, der perjünlih Gute, und wenn 
auch die Exiſtenz und Aſeität Gottes metapbyfifch angefehen die 
Baſis für die Gotteslehre ift, jo tft doch —, und das wirb häufig 
nicht fo beachtet — in letter Inſtanz der Grund, warum Gott 
abfolute Exiftenz, Afeität, Lebendigkeit, Intelligenz, Harmonie be 
anfprucht, diefer, weil er als ber ſchlechthin Gute alles died 
braucht. Alles ift Mittel für den letzten Zweck; Gott als der Ur- 
gute muß fein. Der abſolute Selbſtzweck ift es, ber zulett alles 
trägt; um bdesfelben willen müſſen Gott alle Eigenfchaften zu 
gejchrieben werden. Vor allem muß Gott als ethifcher auch meta 
ponfifche Eigenschaften haben. Denn wenn nicht er als ber Ur⸗ 
gute abfolutes Sein, abjolute Kaufalität wäre, jo würde das 
Gute niemals zur wahren Exiftenz kommen. Das Ethiſche ift 
ihm nicht ſubjektives Ideal; es ift ihm vor allem vollendete Ren 
lität in Gott. 

Diefes Ethifche in Gott ift ihm aber fo wenig, mie bloße 
Idee, auch bloßes Sein. Vielmehr ift das Sein Gottes ſchon ald 
lebendiges zu denken; Gott aber ift vollends der Urgute nur da 
durch, daß er fich felbft ewig durch feine eigene Aftion dazu macht, 


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Dem Andenken von D. J. A. Dorner. 427 


daß er das abfolut Vernünftige, in fi) Wertvolle ftetS mit Frei⸗ 
beit will, dag in ihm Einheit von Freiheit und Notwendigkeit ges 
geben iſt. Er Hat die Zrinitätslehre fo zu begreifen gejucht, daß 
fie da8 ewige immanente Leben Gottes als einen ewigen Prozeß 
darftelit, durch welchen er ewig fein Leben, feine Intelligenz, fein 
ethiſches Wefen durch Xhätigkeit Hervorbringt. Er wollte damit 
das Ethiſche auch in Gott nicht al8 Sein, fondern als abfolute 
Thätigkeit bezeichnen. Gott ift ihm nicht bloß ethifche Welt- 
ordnung, Weltgeſetz, fondern der wahrhaft ſeiende aktive 
perſönliche Gute. 

Er Hat aber auch das Ethifche ſelbſt genauer unterfucht und 
fand als Reſultat, daß es nur gedacht werden könne als Einheit 
von Gerechtigkeit und Liebe. Gott will zunächſt fich felbit als ben 
abfolut Sittlihen, al den, welcher das DVernünftige, in ſich Wert- 
volle mit Freiheit will. Gott ift nicht bloß Liebe ohne Selbit- 
behauptung, fein Selbftzwed Liegt nicht außer ihm, er will viel 
mehr fich felbjt, aber nicht willfürlich, fondern weil er ſich als den 
Guten will, und hierin ift zugleich enthalten, daß er ſich auch als 
die Quelle von möglichem Guten will, da8 außer ihm, wenn aud) 
nur durch ihm, möglich ift. Der Wille, die Gefinnung der Selbft- 
mitteilung, ift zu unterfcheiden von der Selbftmitteilung, und dieſer 
Wille ift immer nur fo zu denten, daß Gott auch anderes Gute 
will, weil er fih als den Guten will. Hierdurch wollte er den 
Pantheismus wie Deismus gleichmäßig ausfchliegen. So kann 
Gott nicht profufe Güte fein; er muß vielmehr fi) als den Ur- 
guten wollen, ja fi wollen, weil er al8 der Urgute abfoluter 
Selbftzwed ift, und wenn er feiner Gefinnung nad) auch anderes 
Gute will, das als Gutes auh nur perjönlicher Art fein kann, 
jo will er eben auch da einen Selbitzwed, der, weil er in jich 
wertvoll ift, auch gegen jede Anfeindung geſchützt werden muß. 
Dorner berührt fih darin mit Kant, daß er das Sittliche, welches 
Selbſtzweck ift, fo denkt, daß es eben deshalb unbedingtes Recht 
auf Eriftenz hat und daß eine Verlegung desfelben Verlegung eines 
unbedingt Wertvollen iſt. Sole Verlegung kann nicht als etwas 
Sleichgültiges ignoriert werden, weil darin läge, daß Gott nicht 
das Gute als das anjähe, das allein unbedingtes u zur Eriftenz 

Theol. Stub. Jahrg. 1886. 


428 Dorner 


hat. Vielmehr wo das Recht des Guten verlet ift, fordert bie 
Selbftbehauptung des Guten, welche eben nur das Recht bes ab- 
folut Wertovollen behauptet, daß dem Rechte des Guten gemug ge 
than werde. 

Die Konjequenzen diefer Grundgedanken der Gotteslchre zeigen 
fich in feinem Lehrſyſtem dargeftellt. Iſt Bott ale der perfünlid 
ethifche, Urheber der Welt, fo kann er in letter Hinficht nur ſolche 
Weſen wollen, welche felbjt ethifcher Art find; fo hat die Welt 
um ihres Endzweckes willen au für Gott Wert. Das Ver⸗ 
hältnis Gottes und der Welt muß fo angelegt fein, daß die ethi⸗ 
schen Weltweien, obgleich gefchaffen, jelbft das Sittliche Hervor- 
bringen können auf Grund deſſen, was ihnen von Gott gegeben 
ift, daß aber zu dem Hervorbringen des Sittlichen das richtig 
Verhältnis zu Gott als dem Urquell alles Sittlihen erforderlid 
tft. Eben daher ift Religion und Sittlichleit in Wahrheit nicht zu 
trennen. Das Sittliche ift Vereinigung von Selbftbehauptung un 
Selbftmitteilung. So teilt Gott fich der Menfchheit mit, aber 
nicht in abforptiver Weile, fondern jo, daß Gott, wie er felhft 
den Unterſchied von ſich und der Kreatur aufrecht erhält, auch ber 
Kreatur die Kraft der Selbftbebauptung gewährt; er teilt fid 
daher jo mit, daß die göttlichen Mitteilungen ben Menfchen er 
heben und feine Kraft ftärken, wie fie feiner Empfänglichleit ent- 
iprechen. Aber ebenjo hat auch der Menfch Gott gegenüber em 
pfänglih und auf Grund des Empfangens felbftthätig zu fein. 
Beides, die göttliche Selbftmitteilung und die ethifche Selbftthätig 
feit gipfelt in bem Gottmenfchen. Weil ihm der ethifche Gott ſich 


voll mitteilt und in ihm wohnt, darum ift er auch ethiſch thätig. 


Daher ihm Chriftus ebenfowohl für die Ethik wie für die Dogmatil 
den Mittelpunkt bildet. ‘Denn da Gott einerjeits fich mitteilt, ander- 
ſeits die Menſchheit felbfithätig fein foll, fo unterſcheidet ſich Dog⸗ 
matik und Ethik fo, dag erftere die göttlichen Thaten beſchreibt, 
letztere das Handeln des Menfchen, jedoch fo, daß man bei erfterer 
durch die göttlichen Thaten auf das fittliche Leben zugleich Binge- 
wiefen wird, wie umgelehrt die Beichreibung des fittlichen Lebens 
an die göttliche Selbitmitteilung anzufnüpfen hat. 

Das Verhältnis Gottes und der Welt bedingt dies, daß das, 


Dem Anbenten von D. J. A. Dorner. 429 


wos Im Gott In vollendeter Harmonie Hetvortritt, in bet Welt 
auseinanbertreten muß. SU ein gefchaffenes Weſen ethifch fein, 
jo Tann Ihm nicht bie ethiſche Vollendung anerjchaffen fein. Biel 
mehr wird bie Hervorbringung des Sittlichen in der Welt, welche 
der abjoluten ewigen GSelbfthervorbringung Gottes als des Ethi- 
ſchen entſpricht, in zeitliche Deomente anseinanderfallen müſſen. 
Auf Grund der auf völlige Harmonie berechneten von Gott ge 
ſchaffenen Naturanlage ſoll bei gefchaffenen Wefen, melde Sitt⸗ 
liches hervorbringen Tollen, der religiss⸗ſittliche Prozeß als ein all- 
mäßlicher ſich entfalten. Hieraus folgt von jelbft, daß das Ziel 
ber Entwidelung, welches ber wirklichen Entwidelung der Welt 
fine! vorausgeht, nur in allmählichem Prozeſſe kann erreicht wer⸗ 
den, und daß «8 demgemäß nicht bloß ein religids-fittliches Ideal 
in den Sinne der Vollendung, fondern auch ein Ideal des fitt« 
lichen Werbens giebt. Vor allem uber Hat Dorner mit aller 
Energie betont, daß das GSittliche nicht bloß als Ideal beftchen 
darf, nicht bloß als Geſetz und Forderung, fondern, daß es reale 
Exiftenz im Willen und Werd gewinnen muß; und daher ſchien 
ihm bie Ethik ber richtigen Metaphyfik nicht entbehren zu Yünnen, 
baher kam es ihm befonders baranf an, daß das religids - fittliche 
Ideal Hiftorifch realifiert werde; daher legte er ben größten Wert 
auf die Geſchichte als die Stätte, in welcher fich der fittliche und 
religiöfe Prozeß der Menſchheit auswirke. „Die Brücke zur Ge 
ſchichte“, Fchreibt er in einem Briefe vom 23. Juni 1877, „ift 
das Ethiſche. Denn es ift dasjenige Ideale, was nach innerem 
Sefeg und Trieb That, Gefchichte muß werden wollen. Aber be- 
Hindert an dieſem Übergang ift man durch eine Metaphyfik, welde 
son der falſch gedachten, lebloſen Unverunderlichkeit Gottes willen 
ihm feine Hände und feinen Gang, um nicht zu fagen fein Herz, 
bindet." Demgemäß nahm er Stufen der Entwidelung an und 
mar der Meinung, daß wie die Welt eine wirkliche Entwidelutig 
nach göttlichem Willen haben folle, fo auch ber göttliche Liebes- 
wille nicht in feinem Verhältnis zur Welt an ftarre Unveränder⸗ 
fichkeit gebunden fein Lönme, fondern feine Mitteilungen an die 
Welt dem Prozeffe der Welt emtiprechend vollziehe und daß die 
Sich⸗ſelbft⸗Gleichheit Gottes nur darin beftehe, daB er das Ethiſche 
28 * 


430 Dorner 


überall in feiner abfoluten Würde bewahre. Der allgemeine Ge⸗ 
danke, welcher feine religiöje Entwidelungstheorie beherrfchte, war 
feiner Gotteslehre entiprechend der, daß bie göttliche Mitteilung 
ſtets vorangebe, daß auf Grund berfelben eine fittliche Selbitthätig- 
keit fich entfalte, welche zugleich eine neue Empfänglichkeit für gött⸗ 
liche Mitteilung bervorrufe, und daß diefer Empfänglichkeit eine 
neue Mitteilung entjpreche, womit wieder eine höhere Stufe bee 
Schritten ſei. So ift die göttliche Wirkſamkeit oder Offenbarung 
nicht eine fchlechthin übernatürliche, fondern fie kommt einem Be 
dürfnis entgegen und befriedigt dasfelbe, ja hebt die religiöje Ver⸗ 
nunft auf eine jedesmal Höhere Stufe. Syn concreto ging et 
davon aus, daß — feiner Gotteslehre entiprechend — der ethiſche 
Zwed zunächſt einer realen Bafis bedarf, auf der er ſich aufzubauen 
vermag, die aber an fich noch nicht fittlich fein kann, fondern nur 
conditio sine qua non für eine fittliche Entwidelung. Diele 
Bedeutung hat die äußere Natur, ebenfo aber auch die Natur 
anlage des Menfchen, welche in der religiös -fittlichen Anlage 
gipfelt. Diefe kommt aber nicht fofort zur vollen Realität. Biel 
mehr fann der Menſch eine Zeit lang ein vorfittliches Daſein 
führen, in weldem er feinen natürlichen Anlagen entjprechend in 
der Natur und in den natürlichen Gemeinfchaften dahin Lebt, wäh. 
rend die Gottheit ihm höchſtens nad der Seite der Macht fih 
offenbaren kann. Aber diefe, der guten Anlage entjprechende Lebens⸗ 
weile ermweift fi ber wachſenden Kompfiziertheit der Verhältnifie 
nicht gewachſen. Die natürlihen Anlagen und Gemeinfchaften 
haben nicht die Kraft, auf die Dauer dem Menſchen als Leititern 
zu dienen, je mehr fich feine Selbftändigkeit durch die Bethätigung 
entfaltet. Notwendigkeit und Freiheit treten einander gegenüber; in 
dem Menfchen erwacht die Idee des Gefekes; damit coincidiert, daß 
die Gottheit fich ihm als Geber und Hüter des Sittengejeges im 
Gewiſſen offenbart, welches feine Freiheit beftimmen fol. Hier 
treten Gejeß und Freiheit, Gott und Menſch einander gegenüber; 
Gott ift der fordernde Gefetgeber; der Menfch foll das Geſetz 
vollziehen. Aber auch diefe Stufe ift unvolllommen, felbft wenn 
fie normal verlief. Es kommt darauf an, daß der Menſch 
nicht bloß dem Geſetz um der Autorität willen folgt und Gott 


Dem Andenken von D. 3. X. Dorner. 481 


gegenüber Gehorfam übt; vielmehr wird die Ausübung des Ge⸗ 
fees felbit erit dann volllommen fein, wenn dasfelbe nicht bloß 
im Wiffen lebt, fondern in den Willen aufgenommen und zum 
Lebensgeſetze geworden ift, und wenn Gott nicht als der Gefegeber 
fremd ihm gegenübertritt, fondern den Menſchen als befeelendes 
Prinzip erfüllt, fo daß Gott ſich volllommen dem Menſchen mit- 
teilt, der Menſch dauernd von feinem Gelfte erfüllt ift, und das 
Geſetz nicht als eine äußere Notwendigkeit, fondern ala Gefe ber 
Freiheit von ihm aufgenommen und realiftert wird. ‘Diefe Stufe 
fann nur erreicht werben durch eine That Gottes, und zwar Tann 
fie überhaupt nur durch eine felbftändige Perfünlichkeit zur Dars 
ftellung kommen, ben Gottmenſchen, der von dem ethifchen Gott 
volffommen erfüllt auch das fittliche Ideal realiftert. Diefer Gott- 
menfch tft aber durch feine Perjünlichkeit der Anfang einer neuen 
Entwicelungsreihe; er offenbart durch fich jelbft die evangelifche 
Stufe in ihrer Vollendung. Alle übrigen, welche die evangelifche 
Stufe befrhreiten follen, müfjen ben Geift Gottes empfangen, den 
er mitteilt. 

Es entfpridht völlig der Gotteslehre Dorners, daß er es mit 
jeltener Klarheit zum Ausdrud bringt, daß e8 nicht in der Welt 
beit dem Standpunkt des Geſetzes, der Forderung des Sollens 
bleiben Tann, daß vielmehr wie in Gott Freiheit und Notiwendig- 
keit abfolut geeint find in der fich felbft behauptenden Liebe, die⸗ 
jelbe Einheit als das fittliche Weltziel angefehen werden muß. 
Ebendaher fteht ihm auch im Mittelpunkt nicht das Neich Gottes 
als Gemeinfchaft, fondern die Perſon Chriſti, welche neue Per: 
Sönlichkeiten aus uns machen kann, die das Notwendige frei wol⸗ 
fen. Für feine Lehre von der Kirche folgt hieraus, daß er nicht 
die Kirche als Anftalt den Perſonen vorangehen, jondern bie 
Kirche aus der Gemeinfchaft der Perſonen werben läßt‘). ‘Denn 
auch das Verhältnis des einzelnen zu der Gemeinfchaft betrachtet er 


1) Das ſchließt natürlich nicht aus, daß die einmal beftehende Kirche zu 
Chrifto binführen kann; nur wird jemand erft ein volles Glied der Kirche, 
wenn er wirklich chriftliche Perfönlichkeit ift; dann bringt er aber, ethiſch be 
trachtet, auch immer wieder die Kirche mit hervor. Vgl. „Olaubenslehre“ IT, 
8 128, 1. 


482 Dorner 


fa, daß dasfelbe dem befprochenen Stufen nad ein verſchiedenes ikt. 
Zriet der Menſch als Naturmenſch in feinem vorfittlichen Zuftend 
noch nicht der Gemeinſchaft felbftändig gegenüber, tritt dann auf 
der gefjelichen Stufe die Gemeinſchaft dem Menſchen euteritatin 
gegenüber, fo ift auf der evangeliichen Stufe der einzelne erft in 
der Einheit mit dem Gottwenſchen dur die Beſtelung des heiligen 
Geiftes zu einer felbftändigen Perſönlichkeit geworben, und bie Ge⸗ 
meinfchaft erfcheimt hier in höherer Form als das fittliche Prodult 
ber gotterfüllten Berfünlichkeiten. Daher vertritt er inbezug auf 
die Erlenntnis mit jo großer Energie das Recht der Berfon auf 
eigene, nicht durch Autorität garantierte Gewißheit umd inbezug 
auf das Sittlihe die unbedingte Verantwortlicgleit der Berjon fir 
fid und ihre Handlungen, inbezug auf das refigiöfe Verhäftnid 
aber das Recht der Berfon mit Gott felbft in Verkehr zu füchen, 
ohne kreatürliche Mittler, beißen fie Schrift oder Kirche, ſo fehr 
er die Bedeutung beiter als Gnabenwittel, d. 5. als Mittel, melde 
zu Gott fetbft führen, aber nicht bei fich, als leizter Quelle für 
das religiöfe Leben ben Menſchen fefthalten wollen, auerkennt 
Beil Gott ethiſcher Bett ift, fo ift auf der evangeltichen Stufe 
die vollendete Einheit mit Gott zugleih die Duelle vollbomenener 
ſittlicher Freiheit, wie es urbildli der Gottmenſch Chriftws dar⸗ 
ftellt, deſſen Bemußtfein wir uns aneignen, deſſen Geiſt wir in 
uns aufnehmen. 

Es ift nicht wohl möglich — auch an dieſer Stelle nicht 
nötig —, die dogmatiſchen Überzeugungen Dorners im einzelnen 
barzulegen. Nur auf Einiges, das ebenfalls eng mit feiner Gottes⸗ 
Ichre zufammenhängk, jei noch hingewieſen. 

Wenn er in der Chriftologte. der: mobersen Kemofe abgeneigt 
war, fo lag das im ſoiner Überzeugung begründet, daß der ethiſche 
Gott nicht ethiſcher wäre ohne Selbſibehauptung, daß Gett als 
ethifcher ſich ſelbft gleich. ſein müſſe und uicht fi verkieren könne. 
Wenn er auf der andern Seite aber die alte Annahme ablehnte, 
daß Chriſtus von Anfang am ſchon vollendeter Gott geweſen ſei 
und nur von ſeiner Gottheit entweder keinen Gebrauch gemacht 
oder fie nur insgeheim gebraucht habe, ſo war es wieder das 
ethiſche Prinzip, welches ihn Hierzu beſtimmte. Der Weg, be er 


Dem Andenten von D. 3. X. Dorner. 458 


zu gehen verfucht, ftimmt mit feiner DVorftellung, daß die Einheit 
Gottes mit dem Menjchen durch die fittlich beftimmte Empfüng- 
lichleit bes Menfchen hindurch fich vermittelt und an Innigkeit 
wächſt, und daß auf Grund diefer wachjenden Einheit auch ein ſitt⸗ 
liches Wachstum ftattfindet. Wenn er es aber für nötig hielt, 
entgegen einer weitverbreiteten Anficht, auch auf die ſozuſagen vor» 
fittliche Anlage Chrifti zurückzugehen und in ihre die Möglichkeit 
für feine eigentümliche Entwidelung zu finden, fo entjpricht das 
durchaus dem Grundſatz, daß fittlide Stufen zu durchlaufen find 
md dag nicht bloß Chrifti Berufsthätigkeit für das Chriftentum 
von Wichtigkeit ift, fondern feine Perſönlichkeit, von welcher auch 
feine Berufsthätigkeit ausgeht und welche diefer Thätigkeit erſt 
ihren vollen Wert verleiht, im Mittelpunkt fteht. Wie aber ber 
Menſch aus dem vorfittlichen Zuſtand fich ethiſch entwidelt (ſ. oben), 
fo wird auch Ehrifti Perfon nur verfianden, wenn man fie nicht 
bloß als fertige, jondern au in ihrem fittlihen Werden, und 
nach der vorfittlichen Anlage, aus der fie als ans dem Natur- 
grund fich ethiſch entfaltet, zu verftehen jucht, eine Anlage, welche 
feiner Meinung nad) bei Ehrifto auf eine bejondere göttliche Aktion 
als ihren Grund zurückwies. 

Nicht minder ift die Xehre von der Sünde und von ber Ver⸗ 
ſöhnung und Erlöfung durch feine Gottesichre beftimmt. Denn 
einmal tft ihm die Sünde Abwendung von Gott, aber von Gott 
al8 dem Urquell des Sittlichen und daher religiös und fittlich zu⸗ 
glei. Anderſeits aber ſoll das Sittlihe und das religiöfe Ver- 
hältnis im allmählichen Prozeß realifiert werden und hat daher 
Stufen. So macht Dorner auf der einen Seite geltend, daß die 
Sünde auf jeder Stufe der Entwidelung Verlegung eines unbe- 
dingt Wertvollen ift, und daß das Recht bes Buten unbedingt ges 
wahrt werden muß, daß über der Sünde die göttliche Ungnade 
schweben und daß fich diefelbe auch objektiv in der Strafe offen- 
baren muß. Demgemäß leugnet er, daß erft die enangelifche Stufe 
Sittliches enthalte, dejjen Verwerfung die Ungnade Gottes auf fich 
zieht, da die evangelifche Stufe ſittlich gar nicht zu erreichen ift, 
wenn nicht die anderen Stufen vorhergegangen find, auf denen fie 
ruht. Auf der andern Seite hebt er aber doch hervor, daß bie 





484 Dorner 


Sünde, bevor bie evangelifche Stufe erreicht ift, noch nicht als 
definitive aufgefaßt werden kann, noch einen provtjorifchen Charakter 
trägt und noch nicht die ewige Verdammnis ale Strafe zur 
Folge haben Tann. 

Dem entfpricht nun die Modifikation der Offenbarung der 
göttlichen ſich felbft behauptenden Liebe in Chriſto, welche die Sünde 
notwendig macht. Chriftus wird nicht bloß überall der Sünde, 
wo fie ihm begegnet, Träftigen Widerftand leiften; vielmehr damit 
die Menfchheit in ihm zur volllommenen Einheit mit Gott kommen 
kann, dazu iſt nötig, daß das Unrecht des Böſen und das Recht 
des Guten anerfannt, daß die Schuld gefühnt werde, welche die 
vorchriftliche Menſchheit drüdt, dag die göttliche Ungnade, weldt 
aus der Selbitbehauptung bes ethifchen Gottes gegenüber dem 
Böſen mit Notwendigkeit hervorgeht, aufgehoben werde. Wenn 
alfo Chriſtus die Einheit mit Gott und die höchſte Stufe der 
Sittfichkeit innerhalb der Mienfchheit darftellen fol, fo kann er nur 
fo fich mit Gott einen, daß er zugleih das Bewußtſein der Un 
gnade Gottes gegen die Mienfchheit in ſich aufnimmt und im Mit 
gefühl die göttliche Ungnade und Strafe mitzutragen bereit ift, 
und fo das verlegte Recht des Guten wiederherftellt. Kurz, de 
die Sünde zwar die göttliche Ungnade notwendig macht, aber ald 
proviforifche die göttliche Liebe noch nicht ausfchließt, fo muß die 
göttliche Liebe fich jo offenbaren, daß zugleich der Wert des Guten 
der Sünde gegenüber zur Anerfennuug kommt: und Chriftus, der 
die vollendete Einheit mit Gott innerhalb der Menſchheit realifiert, 
realifiert fie fo, daß er zugleich die Selbitbehauptung des Guten 
der Sünde gegenüber zur Geltung bringt, indem er als Haupt 
der Menſchheit das Recht der göttlichen Ungnade aus Liebe ar 
erkennt und die Schuld fühnt. Daß aber Ehriftus die Menſchheit 
vertreten Tann, bat feinen Grund zugleich darin, daß, bevor die 
höchfte Stufe befchritten ift, der einzelne dem Zufammenhange und 
der Autorität ber Gemeinfchaft gegenüber noch unfelbftändig if, 
noch unter dem Einfluß des Ganzen fteht, noch nicht im vollen 
Sinne felbftändige Perſönlichkeit ift, daher auch auf diefer Stufe 
noch Stellvertretung des einzelnen durch den Vertreter bes Ganzen 
möglih ift. Erjt indem Chriftus die Meenfchheit mit Gott ver- 


Dem Andenken von D. I. U. Dorner. 485; 


ſöhnt, ift e8 möglich, daß ber einzelne, ber ſich Chrifti Geift an⸗ 
eignet, der vollen Perſönlichkeit teilhaftig wird. Wie alfo Chriftus 
der geſetzlichen Stufe gegenüber erft die volle Freiheit der Perſön⸗ 
lichkeit realifiert, jo befreit er auch die Menfchheit von dem ſün⸗ 
digen Zufammenhang der Gemeinfchaft, indem er die über ber 
Menfchheit ſchwebende göttliche Ungnade durch feine Stellvertretung 
der Menfchheit aufhebt und es num jedem einzelnen möglich macht, 
eine in ihm mit Gott geeinte freie fittliche Perfönlichteit zu wer⸗ 
den, welche von dem Zuſammenhange mit der allen gemeinfamen 
Sünde und Schuld befreit ift. Von Gott aus gefehen, muß hier- 
nach gejagt werden, baß durch Chriftus die über der Menjchheit 
ſchwebende Ungnade befeitigt, Gott alfo verfühnt iſt. Wie Gott 
um feiner ethiichen Sich-jelbft-Gleichheit willen das Böſe nicht igno- 
rieren konnte, jo kann er auch die in Chrifto vollzogene Verſöh⸗ 
nung nicht ignorieren; wie er zuerft feine Ungnade, wenn auch 
mit Langmut gepaart (wegen des noch proviforifchen Charakters ber 
Sünde) offenbart, fo ift er nun der Menſchheit verföhnt, und jeder 
einzelne kann in der Gemeinschaft mit Chrifto der göttlichen Liebe 
al8 gerechter Liebe teifhaft und auf Grund der Einheit mit Gott 
eine fittlich freie Perfönlichkeit werden. 

Wenn Dorner hiernach die Sünde nur als ein Zwifchenneinge- 
fommenes behandelt, fo leitet ihn dabei nicht etwa eine Verfennung 
des Gewichtes derfelben; vielmehr hat er dies mehr geltend gemacht 
als andere, die Chriftus wefentlih nur als Erlöfer, nicht als Ver⸗ 
jöhner auffaffen. Seine Abficht war vielmehr die, die Anficht ab» 
zufchneiden, als ob Chriftus Tediglich der Wieberherfteller eines 
früheren normalen Zuſtandes fei. Er mollte beides verbinden, daß 
durch Chriftus bie Menfchheit von Sünde und Schuld erlöft, aber 
zugfeih aud auf eine höhere Stufe geführt worden fei, die fie 
auch bei normaler Entwidelung erft durch Chriftus hätte erreichen 
fönnen. Der Gehalt der Geſchichte war für Dorner nicht nur ein 
immer gleicher, der höchftens gegen Verderbnis behauptet oder wieder: 
hergeftellt werden müfle, fondern ein ftufenweife wachjender. Die 
Geſchichte war ihm zugleich der Schauplag des Fortichritte. 

Ich Habe gerade diefen Punkt deshalb ausführlicher berührt, 
weil Dorner bis an das Ende feines Lebens die Rechtſertigung 


488 Dorner 


als das Kleinod der proteftantifchen Kirche verteidigte. Es wird 
das um fo mehr begreiflih, wenn man ſich vergegenmärtigt, daß 
er in ihr nicht bloß die Befreiung von Schuld, nicht etwa nur 
eine prinzipielle fubjeltive Ummendung, fondern ben Eintritt ber 
höchſten Stufe der religiössfittlichen Entwickelung erfannte, die Be- 
grändung der mit Gott geeinten fittlich freien Perfönlichkeit, melde 
nicht auf ihre eigene fittliche Umkehr, fondern anf die Erfahrung 
der verfühnten Liebe Gottes gegründet ift und hierin den Quell⸗ 
punkt für ihre fittliche Bethätigung befitt, da Gott ethifcher Gott, 
der Urgute tft. 

Es könnte fich zu widerfprechen fcheinen, wenn Dorner einerfeits 
in der Gotteslehre bie realen Prinzipien auffuchte, und anderfeits den 
Grundfatz fefthielt, daß die proteftantifche Kirche als ihr Material⸗ 
prinzip die Rechtfertigung, als ihr Formalprinzip die Schrift anſehe. 
Indes läßt fich beides wohl vereinigen. Deun daß die Religion in 
Gott begründet fein muß, daß die Gotteslehre erklären muß, daß Gott 
als ethifcher Gott in ein Liebesverhältnis zur Kreatur treten will, dad 
eben in der Religion fich darftelit, fchließt andererfeits nicht aus, daR 
von dem Proteftantiemus als der höchſten Stufe der riftlichen Re⸗ 
ligion ausgefagt wird, fein Prinzip als Religion fei eben die 
in der Rechtfertigung in Chrifto gegebene Einheit Gottes und de 
Menſchen, wie diefelbe auf der höchften Stufe des refigiös-fittlichen 
Prozefſes fich darftelle.e Daß er aber dieſer religiöfen Erfahrung 
die Schrift zur Seite ftelite, hat den Grund, daß er die Reali⸗ 
fierung der höchften Stufe nur als eine gefchichtliche Thatfache be: 
geeifen kann, da bie Menſchheit nur in dem gefchichtlichen Prozeſſe, 
in der biftorifchen Erſcheinung Chrifti diefe Stufe erreicht. Ohne 
Epriftus ift diefe Stufe vollends bei dem Eintritt der Sünde un- 
denkbar; die Schrift aber ift die Urkunde über bie hiſtoriſche Per: 
ſönlichkeit Ehriſtt und feine urſprüngliche Wirkſamkeit im dem 
Gläubigen. Iſt alfo: in Chriſto dieſe höchſte Stufe beichritten, fo 
kann fie auch nicht gewonnen und fefigehalten werben, wenn nicht 
das Hiftorifche. Bild Chriſti und das Bild feiner Hiftorifchen Wirk 
ſamkeit gegenwärtig bleibt. Wollte man von der Schrift abjehen, 
fo: würde man eben von der Gefchichte, von dem Realwerden der 
höchften Stufe des religiös » ſittlichen Lebens in der Welt abfehen, 


Dan Andenken non D. I. 4. Dorner. 4 


d. 6. man würde auf die Stufe des bloßen Ideales ohne Rea⸗ 
lität, anf die Stufe des Sollens ohne Sein, auf bie gefeiglide 
Stufe zurückſiuken. So bedarf aljo der Proteftantismus nad 
Dorser ber Schrift als ber Urkunde ber hiftorifchen Offenbarung 
in Ehrifto, aber diefe Urkunde foll ums zugleich den in Ehrifto 
reafgewardenen ewigen religiös-fittlicden Gehalt offenbaren und zur 
eigenen Erfahrung führen. Rechtfertigung, die nicht auf bie hiſto⸗ 
rifche Realität Chriſti zurückginge, ſich auf die Schrift nicht ſtüͤtzte, 
ſchwebte in der Luft, da es fich gerade mm das Real⸗geworden⸗ſein 
der höchften Stufe handelt. Schrift ohne Erfahrung der Recht⸗ 
fertigung würde aber ebenfo unmöglich fein, da der Yuhalt der 
Schrift eben zu der Erfahrung hinweift. Auch handelt es fich nad 
Doruer in Wahrheit nicht um zwei Prinzipien, jondern wm eines, 
nämlih um den im der Schrift wie in ber Erfahrung wirkſamen 
Geiſt Ehrifti. 

Es erwies fih Ihm die chriftlicde Stufe dadurch ale die höchſte, 
über welche hinaus micht nene Stufen befchritten werden fünnen, 
daß das Prinzip ber Rechtfertigung und die Erfahrung derſelben 
ein immer gleiches iſt. Es kann einer nicht mehr oder weniger 
gerechtfertigt fein, Gottes Bunde ift ihm zuteil geworden; er ift 
ein Sind Gottes. Wem auch die Gewißheit der Nechtfertigung 
Grade hat, fo ift fie am ſich doch eine göttlich objektive That, die 
jedem Glaͤubigen durch Aneignung in der hriftlichen Grunderfahrung 
zuteil wird. Dagegen Bat die Heiligung und ebenfo auch die An⸗ 
eignung de8 Heils im Erlennen ihre Stufen. Dadurch aber wird 
das Grundverhaltnis Gottes und des Menſchen nicht geändert. Viel⸗ 
mehr auf Grund ber Sündenvergebung, auf Grund der Erfahrung 
der göttlichen Liebe beginnt ein neuer Erkenntnisprozeß und eim meer 
fittlicheer Prozeß. Der Menfh Handelt aus der Einheit mit Gott 
heraus; dieſes Handeln kann vollfonmener und. unvolllommener 
fein. Bon ben Werken hängt die Rechtfertigung nit ab. Das 
Einzige, was fertig ift, pflegte er zu fagen, tft die Rechtfertigung ?). 
Altes andere ift im Werden auch bei dem Ghriften. 


1) GEs if daher durchaus begreiflih, ba Dorner in einer vom ihm ver⸗ 
faßten Denfichrift des evangeliſchen Oberkirchenrates diefe Auffaffung ber Recht⸗ 


488 Dorner 


Es erübrigt und nun, noch einen Augenblic® bei der Auffaffung 
Dorners von dem Prozeß der Geſchichte zu verweilen, auf den 
er durch feine Grundanſchauung hingewiefen war. Wenn er auch zu⸗ 
gab, daß die wirkliche menſchliche Entwidelung nicht dem Ideale der 
Entwidelung entfpredde, fo nahm er doch an, daß Gott in dem 
Lauf der Gefchichte die Menfchheit nie verlaffen habe und daß 
zwar durch die Sünde eine Modiſikation in ber Entwidelung ein- 
getreten, daß aber nichtsdeftoweniger doch ein Fortſchritt felbft 
in der vorchriftlichen Gejchidhte zu erkennen fe. So war er der 
Meinung, daß die verfchiedenen vorchriftlichen Religionen, wenn 
auch einfeitig und darum teilweife verkehrt, einen wahren Kern in 
dem einer jeden eigentümlichen Inhalte beſeſſen haben, daß ein 
jebe ein Moment des göttlichen Wefens befonders zum Bemußtfeir 
gebracht habe, 3.3. die brahminiſche das göttliche unendliche Sein, 
die chinefifche Gott als den Urheber des Maßes, die griechiide 
Gott als die Quelle der Harmonte und Schönheit, die hebräifd: 
Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit; dag aber alle Religionen der 
außerchriftlichen Welt bald mehr bald weniger einen tiefen Zwie⸗ 
ſpalt zwifchen Gott und der Menſchheit empfinden und nach eine 
Verführung traten, daß alle Religionen auf das Chriftentum 
binweifen, in welchem Gott die vollendete Offenbarung gegeben 
hat, und daß, wie der chriftliche Gottesbegriff alle Momente des 
GSottesbegriffs umfaßt und untereinander erft in das rechte Ver⸗ 
bältnis fett, fo aud, das Wahre aller Religionen in dem Chriften 
tum zur Anerkennung komme, wodurd fich dasſelbe eben als die 
abfolute Religion erweift, bie alle niederen Stufen ihrer Wahrheit 
nach in fich aufbewahrt. 


Rechtfertigung gegen Hengftenberg verteidigte, und es ift das nicht etwa ein 
kirchenpolitiſches Manöver feiner Tendenz nad) gemwejen, wie es im ber „Se 
maine religieuse‘ 16. Auguft 1884 angedeutet wird. Das ift um fo mehr be⸗ 
greiflich, al® er zu erkennen glaubte, daß mit ber Verfälfchung der Recht⸗ 
fertigungsiehre der evangelifhe Standpunkt mehr oder weniger verlaffen werben 
müffe und geſetzliches Wefen in der einen oder andern Weife in der Kirche 
Einzug halte D. B. Weiß fagt in feinem Nachrufe in den „Fliegenden Blät- 
tern”: „Die Rechtfertigung war die Seele feiner ganzen Theologie, ein Glaubt, 
der eben weil er des ewigen Heiles gewiß macht, die Leuchte für jedes Er- 
kenntnisſtreben und die Kraft eines neuen Lebens wird.“ 


Dem Andenken von D. 3. X. Dorner. 439 


Diefe abjolute Religion felbit Hat er dann in ihrer urſprüng⸗ 
lichen Geftalt und Neuheit in feiner neuteftamentlihen Theo- 
logie zur Darftellung gebradt. Sie war der Ertrag feiner exege⸗ 
tischen Forfchungen, die er auch in einzelnen exegetiſchen Vorleſungen 
befonders über Evangelium Johannis, NRömerbrief, Bergpredigt 
n. a. feinen Schülern mitteilte, Vorlefungen, welche troß ftrenger 
Handhabung einer exregetifchen Methode, welche den Kreis der mög» 
lihen Auslegungen umfchrieb, um jchlieglih nach Ausſchließung 
der nicht annehmbaren, die ihm richtig fcheinende Erklärung als 
Refultat zu erweiſen, ungeſucht zugleich einen erbaulichen und 
praftifchen Charakter trugen. Einerſeits fuchte er zu zeigen, wie 
das Chriftentum auf einer neuen That Gottes beruhe, die ber 
Empfänglichkeit der Sehnfucht entgegenfommt, die in der Menfch- 
heit vorhanden war. Anderjeits zerfällt ihm auch die Urzeit in 
verschiedene Stufen. In Chriftus wie in den Chriften ift die 
Einigung des Göttlichen und Menfchlichen gegeben, aber in Ehrifto 
urfprünglih, in den Chriften abgeleitet; daher zerfällt ihm bie 
neutejtamentliche Theologie in die Darftellung Chrifti, feines Les 
bens und feiner Lehre und in die Darftellung der Art, wie bie in 
Chriſti Perſon realifierte Gottmenſchheit in die Chriften eingeht 
und von ihnen aufgefaßt wird. In letzter Beziehung findet Dorner 
Stufen der Aneignung des chriftlichen Prinzips. Der zweite Teil 
der neutejtamentlichen Theologie zeigt Hauptfächlich drei Stufen, 
einmal das Chriftentum im Anſchluß an das Alte Zeftament (an 
das Sittengefeg: Jakobus, an das Zeremonialgeſetz: Hebräerbrief, 
an die Prophetie: Petrus), ſodann das Chriſtentum in ſeiner Neu⸗ 
heit im Gegenſatz gegen das Alte Teſtament bei Paulus, endlich 
das Chriſtentum als die „abſolute Religion“ über den Gegenſatz 
hinaus in den Johanneiſchen Schriften. So ſtellt das Neue Teſta⸗ 
ment das Chriſtentum in feiner perſönlich prinzipiellen Erſcheinung 
in Chriſto dar, ſodann in ſeinem Verhältnis zu der bisherigen 
Entwickelung, in ſeinem Anſchluß an dieſelbe, in ſeinem Gegenſatz 
gegen dieſelbe, endlich in ſeiner eigenen Selbſtändigkeit und inneren 
Vollkommenheit als abſolute Religion. So iſt die Schrift ſelbſt 
ein Produkt des von Chriſto ergriffenen, ihn ſich ſtufenweiſe an⸗ 
eignenden menſchlichen Geiſtes. An die Periode der Urkirche, 


440 Dorner 


welche im wefentlichen, wenn auch in verfhiedenen Stufen, die hrift- 
liche Grundthatſache und Grunderfahrung wiederſpiegelt, ſchließt fid 
die Entfaltung des chriſtlichen Prinzips in ber Kirche: und auch hier 
nimmt Dorner wieder eine Stufenreihe in der Entwidelung an. 
In feiner Symbolik ſucht er den Gedanken durchzuführen, def 
die hriftliche Heilserfahrung, die ihrem Kern nad) fich gleich bleibt, 
Stufen ihrer Aneignung durchläuft. Die Abmormitäten, welche mit 
jeder Stufe eintreten, wenn fie ſich einfeitig abfchließt und verfeftigt, 
verfeplt Dorner nicht zu berückſichtigen. Zuerſt fei die Reflexlon af 
den chriftlichen Inhalt in den Vordergrund getreten, das Ehriftentun 
jet als Sache der Intelligenz vorwiegend behandelt worden. Dir 
Stufe, weldye beshalb die objektiven Dogmen, den riftlichen Gottes⸗ 
begriff und die Ehriftologie zur Darftellung bringt, repräfentiert & 
griechiſche Kirche. Sodann beginnt die chriftliche Erfahrung, fif 
des Willens zu bemächtigen; diefe Stufe erhebt fich auf der vor 
hergehenden. Aber auf Grund der gewonnenen Erkenntnis win 
nun das Chriftentum als Lebensgefeg aufgefaßt; die Welt wir 
für das Chriftentum gewonnen und von ihm durchdrungen; der 
objektive Zweck, das Reich Gottes ſoll realifiert, das höchfle Gut 
hervorgebracht werden. Es handelt fih Hier vor allem um de 
Ausbau der Kirche und ihrer Organifatin. Diefe Stufe repri- 
fentiert die römifche Kirche. Die dritte Stufe ſieht Dorner im 
Proteſtantismus befchritten, in welchem die unmittelbare Erfohrung 
bewußt in den Mittelpunft geftellt wird und die Hriftliche Perjür- 
feit im zentrafen Gemütsleben ſich erfaßt. Ohne daß die Chätie 
feit der Intelligenz und des Willens ausgeſchlofſen iſt, tritt hier 
doch Gott gegenüber das Bewußtſein des Empfangens in dm 
Mittelpunkt, und hierin wirb die Grundquelle der Tugendfraft wie 
der chriſtlichen Erkenntnis mit Bewußtfein erfaßt. Es kommt abe 
hier befonders darauf an, daß das Subjekt mit der objeltiven 
biftorifchen Offenbarung in Chriftus, der aber zugleich ewig lebe 
dige Kraft ausübt, fich zuſammenſchließt, daß der einfeitige Sub 
jektwismus ansgefchloffen ſei, wie auch anberfeits der einſeltige 
Objektivismus, daß das Subjekt der eigenften Erfahrung der WR 
hiftorifchen Chriftus offenbar gewordenen göttlichen Gnade fi 
teilhaft wiffe, daß alſo Erfahrung und Urkunde ber hiſtoriſchen 


Dem Andenken von D. 3. U. Dorner. 41 


Offenbarung nicht auseinanderfallen, ſondern in ihrer Einheit und 
Zuſammengehsrigkeit erfaßt ſeien. 

Wie Dorner die urſprüngliche Heilserfahrung zuerft die Welt 
der Intelligenz, dann die Welt des Willens ergreifen und ausge⸗ 
ftalten läßt, bis der Proteftantismus auf die zentrale Heilserfah- 
rung felbft in vollbewußter Weife fich richtet und dieje zum 
Mittelpunkt feiner Erkenntnis und Willensrichtung macht, um von 
dem Zentrum aus auch bie Arbeit der vorhergehenden Stufen neu 
aufzunehmen und zu verwerten, jo betrachtet er in feiner Gefchichte 
der proteftantiichen Theologie die Stufen, welche der Proteftantie- 
mus bis jett durchlaufen Hat. Wenn in feinem Urfprung ein 
fräftiger Zufammenfchluß der fubjeltiven Heilserfahrung mit dem 
objektiven in Chrifto erjchienenen von der Schrift urkundlich bes 
zeugten Heil gegeben ift, fo tritt doch diefer Zufammenfhluß 
felbft noch in unmittelbarer Weife auf. Er glaubt daher, bag 
die Entwidelung zunächit jedes ber Momente, das objektive und 
da8 ſubjektive für fih und darum in einfeitiger Weiſe ins Auge 
gefaßt habe, daß einer einfeitigen Schrifttheologie, welche als letzte 
Duelle die Schrift, die objektive Autorität derfelben erfaßte, ohne 
völlig die Erfahrung fallen zu lafjen, eine ebenfo einfeitig dem 
biftorifchen Prinzip abgewandte ſubjektiv⸗idealiftiſche Richtung gegen- 
übergetveten ſei, bis die neuere Zeit insbefondere feit Schleier- 
macher, Schelling und Hegel an dem Verſuch arbeite, in wiſſenſchaft⸗ 
licher Weiſe die objektive Seite und die ſubjektive Seite, das Hiſto⸗ 
riſche und Ideale, bie Schrift und die fubiektive Glaubenserfahrung 
zu einer volleren Einheit zufammenzufchließen. Indem dies geſchieht, 
wird es zugleich möglich, von diefer Einheit aus die Erlenntnis 
zu einer höheren Stufe zu erheben, eine volllommenere Gotteslchre 
und Ebhriftologie anzuftreben (in der Theologie 3.8. die Einheit 
des fittli Notwendigen [objektiven] und des Freien [jubjektiven] 
gegenüber dem mittelalterlichen Thomismus, der das Notwendige, 
und Skotismus, der das Freie als Willkür betonte, geltend zu 
machen) und ebenfo auch das chriftliche Prinzip nad der Willens- 
feite bin durch Kirchliche Organifation und Liebesthätigkeit zu ent⸗ 
falten: und hierin fand er die Hauptaufgaben der Gegenwart für 
Theologie und Kirche. 


442 £ Dorner 


Obgleich alſo in der dhriftlichen Entwidelung keineswegs ein 
normaler Verlauf behauptet wird, fo verfucht Dorner doch einen, 
wenn auch durch zum Xeil gegeneinander fich abfchließende Ein- 
feitigfeiten hindurchgehenden Fortfchritt in der religids⸗ethiſchen Ge⸗ 
fhichte der Mienfchheit zu erſchauen. ALS allgemeinften Teitenden 
Gedanken für dieſe Betrachtung der Geſchichte kanu man vielleicht 
diefen bezeichnen, daß der menfchliche Geift, der die göttliche Offen: 
barung ftufenweife empfängt, diefelbe auch ftufenweife fi) aneignet, 
und indem er auf Grund derfelben fich zugleich ethifch bethätigt, 
jedesmal Produkte hervorbringt, weldhe die jedesmal objektive Bafis 
für feine weitere felbftthätige Entwidelung und feine ethiſchen Her⸗ 
vorbringungen bilden, wie auch die Empfänglichkeit Gott gegenüber 
fteigernd modifizieren. 

Ahnlich Hat Dorner auch die Geſchichte der Chriftologie bes 
handelt. Auch bier fuchte er von einer eminenten Gelehrſamleit 
unterftüßt zu zeigen, wie das Berftändnis ber Berjon Ehrifti in 
der chriftlichen Kirche von Stufe zu Stufe fortgefhritten fei *). 
Es ift in der erften Zeit das Bewußtſein feitgeftellt, daß in Chriſto 
das Göttliche und das Mienfchliche geeint fei und biefe Erfenntnie 
durch Ausfchlug von immer feineren Formen des Ebjonitismns 
und Dofetismus zu immer klarerem Bewußtſein gebracht. Indem 
aber zugleih die Momente des Göttlichen und des Menfchlichen 
für fich firiert werden, entfteht die Zweinaturenlehre und bie Auf: 
gabe einer konkreten Beftimmung des Wie der Vereinigung beider 
Naturen, des göttlihen und menſchlichen Faltors. Zunächſt über- 
wiegt bei den Berfuchen der Bereinigung bis zur Reformationgzeit 
die göttliche Seite, nad) der Reformationgzeit die menjchliche Seite; 
die dritte Periode feit dem Anfang unferes Jahrhunderts fucht die 
Perfon Ehrifti als Einheit des Göttlichen und Menfchlichen im 
Gleichgewicht und Unterfchied beider Seiten zu erfennen. Wie ihn 
bier der Gedanke leitet, daß aus der unmittelbaren Einheit die 
Fixierung ber in der Einheit unmittelbar verbundenen Momente 
hervorgeht und dann wieder die Aufgabe erwädhft, die Verbindung 


1) Bol. Entwidelungsgefchichte der Lehre von der Perſon Chriſti. 2. Aufl. 
I, ©. 119. „Glaubenslehre“ II, 1. ©. 300f. 





Dem Andenlen von D. 3. X. Dorner. 448 


der Momente näher zu erforfchen, was in der bezeichneten Weiſe 
mannigfaltig gejchieht, fo batte er auch bei anderen Dogmen bie 
Tendenz, die Hauptanfichten, welche im Laufe der Gejchichte über 
diefelben hervortraten, al8 ebenjo viele Momente zu betrachten, welche 
ftufenweife erfcheinen und alle Berüdfichtigung verdienen. In ber 
Berföhnungslehre 3. B. fuchte er die Hauptanfichten entjprechend 
den Hauptmomenten des Gottesbegriffs, welche einfeitig firtert wer⸗ 
den, zu begreifen; demgemäß findet er einſeitig phyſiſche, äfthetifche, 
logiſche, abſtrakt juridifche, moralifche oder einfeitig veligiöje, auf 
die Liebe Gottes einfeitig zurückgehende Auffafjungen der Verjüh- 
nung, welche in objeftiver wie in ſubjektiver Form, in erfterer in 
der Älteren, in letterer in der neueren Zeit auftreten *); ebenfo 
juht er dasfelbe inbezug auf die Ponerologie ?) durchzuführen. 
Diefe Auffaffung der Gefchichte, nach welcher ſich in derjelben 
Stufen der geiftigen Entwicelung offenbaren, ift Dorner mehrfad) 
als Geſchichtskonſtruktion in Hegelſcher Manier verdacht worden. 
Indes wird man nicht leugnen können, daß, wenn man nicht ein⸗ 
fach bei einer Regiſtrierung und Aneinanderreihung der einzelnen 
geſchichtlichen Thatſachen ſtehen bleiben will, die Auffaſſung der 
leitenden Geſichtspunkte immer zugleich durch die eigene Welt⸗ 
anſchauung bedingt iſt und ſein wird, und es kommt nur darauf 
an, ob dieſe Weltanſchauung ewigen Wahrheitsgehalt in ſich birgt 
oder nicht. Auch wird man umgekehrt ſagen müſſen, daß die Rich⸗ 
tigleit einer Anſicht über den Zuſammenhang der geſchichtlichen 
Entwickelung in dem Maße ſich ſteigert, als dieſelbe imftande iſt, 
den verſchiedenen Standpunkten, welche hiſtoriſch aufgetreten ſind, 
gerecht zu werden und zu erkennen, was dieſelben an Wahrheits⸗ 
gehalt gefördert haben, der niemals verloren gehen darf. Jeden⸗ 
falls iſt eine Theologie um fo größer, ſteht auf um fo höherer 
Warte, je mehr fie imftande ift, fremde Standpunkte zu würdigen. 
Auch ſah Dorner ftets das allein als das rechte Ziel der Polemit 


1) Bgl. „Staubensiehre” II, 2. ©. 608 f. 

2) Bol. „Glaubenslehre“ II, 1. ©. 132. Auch die Schilderung der chriſt⸗ 
hen Bott ebenbilblichen PBerfönlichleit in feiner Ethik entjpricht den Haupt» 
momenten des Gottesbegrifis. 

Theol. Stud. Yabrg. 1886. 29 


4A Dorner 


an, die Wahrheit, welche der Gegner vertritt, ans den Einfeitig- 
feiten, in welche fie verftridt ift, zu befreien, und hierzu war die 
Theologie Dorners in hohem Maße befähigt. 

Das bewies er auch in dem perfünlichen Verkehr befonders 
mit Studierenden 4), „indem er ebenfo ftreng Konfeffionelfe wie 
negativ Gerichtete, Kantianer wie Herbartianer und Empiriften zu 
Worte kommen ließ und fih mit den Gründen, die fie für ihre 
Standpunkte geltend machten, mit aller Ruhe, Objektivität und 
Freundlichkeit auseinanderfeßte*. 

Auch in der Kirche war er aller Enge fremb und wollte, daß 
im Intereſſe der fortjchreitend tieferen Erfaffung der Offenbarung in 
Ehrifto und des Fortſchrittes des ethifchen Lebens Luft und Licht 
frei erhalten bleiben. Denn fo jehr er gerade auf die Prinzipien 
der Reformation zurüdging, fo wenig glaubte er, daß die Refor⸗ 
mationszeit den abfoluten Höhepunkt chriftliher Erkenntnis dar- 
ftelle. Dem entſprach feine Thätigleit auf der Generaliynode von 
1846, wo er mit Nisih und Julius Müller auf eine Lehrordnung 
drang, welche der Entwidelung freien Spielraum gewähren follte; 
ebenfo Hatte Hierin ein harter Streit mit der ftreng Iutherijchen 
Geiftlichleit in Hannover feinen Grund, wo er ein Gutachten der 
Göttinger Fakultät abfaßte, nicht minder feine jchonende Behandlung 
der „freifinnigen* Theologie, welche er im hannoverjchen wie im 
preußifchen Oberfonfiftorium in einer Reihe von Fällen zur Gel⸗ 
tung bradte. Und wie es ihm vor allem um die Perföntlichkeit 
zu thun war, fo haßte er «8, wenn man einzelne Perſonen in 
Bauſch und Bogen verurteilte, weil fie beftimmten Richtungen an- 
gehören, und fuchte bem in Theologie und Kirche fich leider immer 
mehr breitmachenden Unweſen zu fteuern, die Leute nach Partei⸗ 
etifetten zu beurteilen, wie er in diefer Hinfiht oft im Scherz 
auch von einer gegenfeitigen Lobesaſſekuranz reden konnte. 

Der Reichtum, welder ſich in den verjchiedenen Zweigen der 
Reformationskirchen barjtellt, follte nicht durch gegenjeitige Abfper- 
rung verfümmert, fondern zu gegenfeitiger Befruchtung verwandt 
werden. Daher feine hervorragende Thätigfeit für die evangelifche 


1) Nachruf im „Schwäbifchen Merkur” 24. Auguft 1884. 





Dem Andenken von D. 3. A. Dorner. 445 


Alltanz, bie er häufig — fogar die Verſammlung in Newport — 
bejuchte, daher auch feine Thätigkeit beſonders im preußifchen Ober⸗ 
firhenrate zur Gehaltung der Union. Wie er in feiner Ethik gel- 
tend machte, daß die Welt der „erften Schöpfung“, nad ihrer 
natürlichen Seite wie nach Seiten der ethifhen Produfte von dem 
Chriftentum nicht abforbiert werden folle, fo wollte er auch das 
proteftantifche kirchliche Leben in Deutjchland mit dem nationalen 
Leben verbunden willen und eime proteftantifch » deutiche National- 
fire war eine feiner Lieblingsibeeen, für bie er in Schrift und 
Wort eintrat. Mit ber ihm eigentümlichen Zähigkeit pflegte er 
die Anfänge zur Verwirklichung derjelben durch rege Beteiligung 
an der Eiſenacher Konferenz der Kirchenregimente, deren Be⸗ 
deutung er duch Zuziehung von Synodalmitgliedern zu fteigern 
wünfchte. | 

Weil er ferser auf die Berfönlichkeit in feinem SKirchenbegriff 
ein fo großes Gewicht Tegte, fo vertrat er, durch eine nach der 
Studienzeit nah England unternommene Studienreiſe in dieſer 
Richtung bejtärkt !), die Auficht, daß bie deutſchen Landesfirchen 
durch Die Lebendige Beteiligung der Laien au den Firchlichen und 
religtöfen Angelegenheiten nen belebt werden müſſen. ‘Dem ent- 
ſprechend war er ein Freund der jynodalen Einrichtungen, arbeitete 
für diefe Idee — eine Verbindung des FTonfiftorialen mit dem 
preöbpteriafen Elemente, auch hierin an die gegebenen Traditionen 
da8 Neue antnäpfend — in Hannover und befonders in Preußen, 
jchon auf der @eneralignode 1846, nicht minder aber feit feiner 
Berufung in den enangelifchen Oberkirchenrat wie auf Kirchentagen. 
Dieſe Zuziehung der Laien für die kirchliche Organifation follte 
aber zugleich auch das religiöſe Intereſſe und die Luft an der 
Bethätigung desfelben werden, und es fohlte duch die offizielle Be⸗ 
tiligung der Laien an der kirchlichen Organifation auch eine 


1) Er Bat fon vorher als Bilar feines Baters in Neuhaufen auf eine 
Ändernsig der Kirchenverfaſſung gebrungen. In der von ihm verfaßten Auto- 
biographie, welche leider nur bis zu der Mepetentenzeit fortgeführt ift, ſchreibt er: 
„Bon unſerer Diöcee ging, während ih in Neubaufen war, auch eine Petition 
ın den Landtag, worin wir um eine Kirchenverfaffung baten, für welche ich 
nich lebhaſt intereſſierte, ſeitdem die Idee der Kirche mich gefefjelt hatte.” 

29* 





446 Dormer 


Befruchtung der freien Xhätigkeit erzielt werden, welche im der 
inneren Miffion im Gange war. Letztere bat er ſtets auf das 
wärmfte unterftäßt; er bat in Bonn felbft innere Miſſion ge- 
trieben, den „Geiftern im Gefängnis gepredigt“, wie er von feinen 
Beſuchen der Strafanftalt fagte, er war langjähriges Mitglied des 
Zentralausjchuffes für innere Miffton und hielt gerade die Thätig⸗ 
feit, welche auf freie Weife den einzelnen Perſönlichkeiten nachgeht, 
für den geeignetften Weg, auf welchem die proteftantifche Kirche 
zur Löſung der fozialen Frage beitragen könne. Er bat auf der 
Konferenz in Magdeburg einen Bortrag — den legten öffent- 
lichen — gehalten, in welchem er einen Überblick über die außer⸗ 
ordentliche Ausbreitung dieſes Werkes gab, der wohl geeignet ift, 
zu zeigen, welchen Einfluß auf das Vollsleben diefe freie Thätig⸗ 
feit ausüben Tann ?). 

Es ift oben ausgeführt worden, welches Gewicht Dorner auj 
die heilige Schrift legte. Dem entfpricht e8, daß er an der Rich⸗ 
tigkeit der Überfegung derfelben mit dem gejamten Proteftantisumus 
das größte Intereſſe haben mußte. Indes war e8 doch noch ein 
befonderes Intereſſe, das ihn zu einem der Hauptoorfedhter der von 
der Eifenacher Konferenz in Angriff genommenen Bibelüberfegungs- 
revifion machte, über die er im Oberkirchenrat das Referat hatte. 
Gegen eine Änderung der Iutherifchen Bibelüberfegung wurde von der 
foufefftonellen Richtung ftarle Oppofition gemacht; diefem Traditio⸗ 
nalismus gegenüber, der auch wieder einen gejeglihen Zug au fidh 
trug, machte Dorner das Hecht der proteftantifchen Kirche geltend, 
auch an den Werken ihrer Väter Kritif zu üben und die Reſultate 
einer fortgefchrittenen Wiffenf haft auch ihnen gegenüber zu ver- 
werten. Er wollte verhindern, daß aus der Iutherifchen Bibel⸗ 
überfeßung eine Art Vulgata werde. Es handelte fi ihm bei 
diefer Arbeit um ein Prinzip. Zu gleicher Zeit mochte ihn babei 
wie bei jo mandem andern Werke das Bewußtſein leiten, daß bie 
Wiſſenſchaft ihre Früchte auch in der Praxis bringen müfle, daß 
nichts fchäblicher fei, als wenn fich die Wirfenfchaft dem Bolks⸗ 
leben entfrembe, ftatt dasfelbe gejund zu befruchten: und wo konnte 


1) Bol. den Nachruf von B. Weiß in den „Hliegenden Blättern”, ©. 6, 





Dem Andenken von D. 3. A. Dorner. | 447 


mehr eine ſolche Fruchtbarkeit der Wiffenfchaft fich zeigen als bei 
der Überfegung des religiöfen Volksbuches zus’ Foxijy? Das find 
die Ideale, die ihm bei diefem Werke vorjchwebten. 

Inbezug auf eine andere das Volksleben in feinen Wurzeln bes 
rübrende Frage hat er ebenfalls praftifch eingegriffen. In der 
von ihm verfaßten Denkichrift des evangelifchen Oberkirchenrates 
über die Sonntagsfrage fordert er die Verbindung religiöfer Er» 
bauung mit ethifch-notwendiger Erholung, befonder& in der freien 
Sefelligkeit, feinem ethifchen Grundſatze gemüß, daß das menschlich 
Sittliche, weil es in fi wertvoll ift, von dem Neligidjen nicht 
darf abforbiert werden. Es zeigte fich Hierin ferner auch die Kon 
jequenz feiner Unterſcheidung von Geſetz und Evangelium, indem 
er einer puritanifchen gefeßlichen Auffaffung der Sonntagsheiligung 
abgeneigt war. Diefe Durchführung des evangelifchen Standpunftes 
ag ihm in feiner praftifchen Thätigkeit überall am Herzen. Wie 
das Dogma nicht zum Lehrgeſetz werben follte, fo fuchte er zu 
wehren, daß die erziehende Tchätigkeit der Kirche befonders in der 
Kirchenzucht in Gefetzlichkeit ausarte; die Kirche follte nie aus dem 
Auge verlieren, daß fie e8 mit der Pflege der Neligion zu thun 
hat, welche Sache freier Überzeugung ift, und daß ihr Ziel fein 
muß, mündige Berjönlichleiten heranzubilben. Daher er auch bei 
Beratung der preußifchen Kirchenverfaffung die Furcht nicht zu teilen 
vermochte, welche viele vor ben „Schlußbeftimmungen“ hatten, weil 
er von dem Bertrauen auf die in den Perfünlichkeiten freiwirkende 
Kraft des Evangeliums befeelt war. 

Schließlich ſei noch ein Punkt erwähnt. Weil ‘Dorner den 
vorchriftlichen Produkten des fittlichen Schaffens, der Welt der 
erften Schöpfung ihren Wert zuerfannte und ihre Selbftändigfeit 
verfocht, verteidigte er die Unabhängigkeit und Würde des Staates 
und befämpfte — Hierin mit Lutheranern wie Harleß eins — die 
Stahlſche Idee eines chriftlichen Staates, in welchem er nur eine 
Zurückſchraubung des Ehriftentums auf geſetzliches Weſen zu fehen 
vermochte. Dasjelbe aber machte er inbezug auf die Ehe geltend. 
Eben daher Hat er auch in feiner praftifchen Wirkfamkeit die Ber 
rechtigung des Staates, die Zivilehe einzurichten, anerfannt und von 
der Kirche bie Anerkennung der Zivilehe als Ehe gefordert, eben 


448 Dorner 


daher auch mit ber neuen firdhlichen Ehegeſetzgebung in Breuken 
fig nicht völlig befrennden können. 

Ebenfo aber fand er in dem Kampfe des Staats mit dem 
Ultramontanismms umentwegt auf der Seite des Staates; er faßte 
feine Anfiht in einer Rede, bie er auf bem Berliner Rathaufe 
hielt, in die Worte zufammen: der Staat muß Herr in feinem 
Haufe fein. In dieſem Sinne begrüßte er die Falkſche Gefek- 
gebung ihrem Kerne nad als einen großen Fortſchritt. Daß er 
ebenfo als furchtloſer Patriot das Wort zu ergreifen fi nicht 
fchente, wo er es für feine Pflicht hielt, das hat er unter anberem 
anf dem Stuttgarter Kirchentage bewieſen, wo er für den be⸗ 
drängten Brubderftamm in Schleewig - Holften mannhaft eintrat. 
ie hätte er auch anders handeln follen, da er als die Aufgabe des 
Staates — auch Hier an feine Gotteßichre aufnüpfend — anfah, 
immer mehr das Abbild ber göttlichen Gerechtigkeit auf Erden zu 
werben] ?) 

&o war Dorner ein Mann, der danach ftrebte, nicht nur 
Glauben und Wiſſen zu verfühnen und eine in jih zufammen- 
hängende Weltanfhanung auszubilden, ſondern aud) diejelbe prak⸗ 
tifch zu bethätigen, ein Dann aus einem Buffe, und hierin (ag das 
Geheimnis feiner umfaflenden und tief eingreifenden Wirkſamkeit. 
Im beften Sinne des Wortes war er Ybealift; mit feiner Grund- 
überzengung von dem Fortſchritt des Chriftentums und der Huma- 
nität, die fich nicht ansfchließen follten, hing e8 zufammen, daß er 
ein Dann der Hoffnung war, der fi über die Welt zu erheben 
vermochte, über die Enttänjchungen, die fie auch ihm brachte. 
Darum wußte er, wie ihm im Scherz gefagt wurde, eine olym⸗ 
pifche Ruhe zu bewahren. Als eine innerlih harmoniſche Perfön- 
Cichteit war er zum Optimismus geneigt, fuchte alles zum beften 
zu fehren und, wo es irgend möglich war, einen Anfat von Gutem 
zu finden, an den man anknüpfen könnte. So wurde er vielen 


1) Obgleich ſchwer Ieidend, begab er ſich auf jeiner letzten Reife nach Rüdes⸗ 
heim, um das Niederwalddenkmal noch mit eigenen Augen zu fehen und fich 
an biefem Tünftlertfchen Symbol der neuentfiandenen Einheit und Blüte bes 
dentſchen Baterlandes zu erquiden; und bier ereilte ihn ber tödliche Blutſturz. 


Dem Andenken von D. I. X. Dorner. 4 


ein Wegweiſer für ihr Leben ). Dorner bielt den rechtfertigenden 
Glauben für den Mittelpunkt des Chriftentums. Aber der Glaube 
war ihm triebfräftig für das fittliche Leben und wie er theoretifch 
bier ein ftufenmweifes Fortſchreiten behauptet, jo hielt er praftiich 
und perſönlich bis zum legten Atemzuge die Hoffnung feft, als 
„den Glauben, der in die Zukunft fchaut“. 

In der Gegenwart aber übte er eine raftlofe Thätigkeit, und 
nie ermüdete er, fein Willen zu bereichern in allen Gebieten. War 
von irgendeinem intereffanten Gegenftande bie Rede, über ben er oder 
wir nicht im Haren waren, fo pflegte er oft in feine ausgezeichnete 
Bibliothek zu gehen, die fein Stolz war, und uns fofort durch ges 
meinfame Lektüre zu orientieren. Wenn er aud der Stepfts Feind 
war und befonders dem Hochmut, mit dem fie oft auftritt, fo 
machte er doch felbft auf die Grenzen unferer Erkenntnis aufmerk⸗ 
ſam. Er fagt 3. B. in einem Briefe vom Jahre 1871: „Kann 
man bei der Schleiermacherſchen und Altichellingichen Anficht von 
einem nur quantitativen Unterfchied von Geiſt und Natur doch 
fefte Unterjchtede herausbringen für die göttlichen Cigenfchaften 
(ethifche und phyſiſche), jo will ich über diefen ſchweren Punkt 
nichts gefagt haben, der mir felbft noch nicht ficher fich geftaltet 
bat.” Aber nicht nur durch Studium fuchte er fich zu bereichern; 
der anregende Austaufh mit Freunden war ihm nicht minder Bes 
dürfnis 2). Seine Perjünlichkeit fuchte er im Verkehr mit andern zu 
bilden und zu fördern. Davon zeugen auch die Mitteilungen, 
welche mir einer feiner nüchften Breunde (D. Herrmann) über die 
Zeit feiner Wirkſamkeit in Kiel gemacht hat, und die hier eine 
Stelle finden mögen. „Dorner“, fo fehreibt er, „fand für feine 





1) Heinrici fagt in den „Deutfchrevangelifchen Blättern“ Hft. IX: „Dorner 
war (den Schlilern) mehr als der Vermittler der theologifchen Bildung; er war 
ihnen die lebendige Verwirklichung der Eurythmie der chriftfichen Perfönlichkeit, 
die in der Schlichtheit und Güte einer flarten Seele fich ihnen kundgegeben 
hatte,“ 


3) Jeep fagt a. a. DO. ©. 5: „Es hätte ihm ein Lebenselement gefehlt, 
wenn er nicht auch in Berlin einen engeren Kreis von Berufsgenoffen zu 
fruchtbarer Sejelligfeit hätte fammeln können; denn im Freundesverkehr erichloß 
fich am reichften fein Herz und Geiſt. So ſuchte er auch nach diefer Seite hin 
ben Begriff ber Univerfität lebensvoll zu verwirklichen.“ 


450 Dorner 


Wirkſamkeit ein fehr bereites ımb empfängliches Feld in Kiel vor. 
Die theologiſche Jugend zeichnete fich durch ein Lebhaftes Erkenntnis: 
bedürfnis aus, und raſch gewann Dorner durch Borlefungen und 
perfünlichen Verkehr die Stellung des einflußreichften und gelieb- 
teften Lehrers. Seine Vorlefungen umfaßten außer ber Dogmatit 
und Ethik einen großen Teil der Exegefe, der Synoptiker, des Evan⸗ 
gelium Johannis, des ARümerbriefes, ferner die Theologie des Alten 
und Neuen Teftamentes und vor allem die damals ſchon mit Vor: 
liebe von ihm gepflegte Gefchichte des proteftantifchen Lehrbegriffs, 
in welchem er den Grund zu feiner Gefchichte der proteftantifchen 
Theologie legte. Alle mit ibm im der theologifchen Fakultät zu- 
fammenwirfenden Genofjen fanden fi durch ihn in ihrem Streben 
gefteigert und unterftüßten ihn gerne und neidlos, jo daß eine aud 
von der jungen Welt tief empfundene Harmonie des wifjenfchaft: 
fihen Zuges bie Fakultät zuſammenſchloß. Charalteriftifch aus 
bem Einfluß der theologischen Bildung feiner ſchwäbiſchen Heimat 
berrührend war da8 den Schleöwig-Holfteinern durchaus Tongeniale 
Streben nad philofophifcher Vertiefung und Ergänzung der theo- 
logischen Erkenntnistheorie. Alte feine theologiſchen Kollegen fanden 
ihm nahe, objhon mit Mau, Belt und Thomfen ein befonders 
enges Verhältnis beftand. Von ben praktifchen Geiſtlichen war 
Claus Harms e8 vor allen, der durch feine Predigten ihn in feinem 
inneren chriftlichen Qeben förderte, ohne daß ihn die Zeichen der 
Hyperſthenie des landſchaftlichen und Tonfeifionellen Bewußtfeins 
irgend verlegt hätten. ALS im Jahre 1841 die 2djährige Wirk: 
famteit von Harms in der Kieler Gemeinde feitlich begangen wurde, 
beteiligte fih Dorner an berfelben durch Überreichung der Schrift 
„Das Prinzip unferer Kirche nad dem inneren Verhältnis feiner 
zwei Seiten”. Diefes Thema, das ihm Thon lange im Sinne 
Tag, hat ihn bis zu feinem Lebensende bejchäftigt. Auch die nicht: 
theologifchen Kreife Kiels empfanden und genofjen den erfrifchenden 
Einfluß des neuen Kollegen. Bald nad) feiner Ankunft ſchloß fid 
eine während des ganzen Lebens ausharrende und fruchtbare Freund⸗ 
Ihaft mit E. Herrmann, in welcher gerade die Richtung auf bie 
Erkenntnis des proteftantifchen Prinzips und beffen Verwirklichung, 
bon deſſen Feſtſtellung aus Dorner die gefunde Entwidelung ber 


Dem Andenken vor D. 3. A. Dorner. 451 


Reformation zur evangelifchen Theologie und Kirche erwartete, 
vorzugsweife das treibende Motiv war und blieb. Ein dritter 
in diefer Gemeinfchaft war der Philoſoph Ehalybäus. Die drei 
Männer hatten einen engen wiljenfchaftlichen und fozialen Verkehr 
und genofjen auch die Schönheiten des Landes und die Annehm⸗ 
Iichleiten der Umgebung in gemeinfamen Touren, welche befondere 
gerne nad der Inſel Alfen und nach Lübed unternommen wur- 
den. Genoffen derfelben waren häufig nahe verbundene Kollegen, 
unter welchen vor allen Waig als ein erwünfchter Begleiter und 
hochgehaltener Freund genannt werde. Nach dem allem war Dorner 
in der Lage, ber Univerfität Kiel nicht bloß von dem Seinigen zu 
geben, fondern auch von ihr und dem Lande reichlich zu empfangen. 
Die vaterländifchen Fragen deuteten damals nur in vereinzelten 
Erfcheinungen ihren großen Ernft an. Unter diefen andeutenden 
Ereigniffen fei erwähnt, daß, als Dorner und Herrmann eine ges 
meinfame Reife nach Kopenhagen machten, eine Audienz, die ihnen 
der damalige König Chriſtian VIII. bewilligte, die Gefahren vor 
ihre Augen rückte, die vonfeiten der immer mächtiger werdenden 
Bartei des dänischen Einheitsftaates drohten. Dorner hatte gegen 
die Tönigliche dee, eine Tutherifche Gefamtlirhe der Monarchie 
duch Einführung einer einheitlichen Liturgie herbeizuführen, feinen 
Widerſpruch geltend zu machen, während Herrmann vor ber Aus» 
führung des Gedanfens warnen mußte, eine bänifche Rechts⸗ und 
NReichseinheit durch eine einheitliche Strafgefeggebung anzubahnen. 
Unter den Kopenhagener Gelehrten, mit denen fie verkehrten, konn» 
ten fie einen Eifer für ſolche Ideale nicht wahrnehmen. Den Ins 
tereſſen ber Wiffenfchaft ernftlich Hingegeben, ſchienen fie nur dafür 
begeiftert, daß das dänifche Glied der germanifchen Völkerfamilie 
durch feine Leiftungen für die gemeinfamen Kulturaufgaben eine 
bedeutende Stellung einnehme und dafür anerkannt werde.“ 

Unter den bänifchen Gelehrten war Dorner befonderd eng mit 
Martenſen verbunden und hat diefe Verbindung durch einen regen Brief- 
wechfel bis an das Ende des kurz vor ihm heimgegangenen Freundes 
gepflegt, ein Briefwechſel, in welchem beide Männer ihre theologiſchen 
Überzeugungen, ihre Anfichten über neue Erfcheinungen in der Wiſſen⸗ 
ſchaft gegenfeitig austaufchten, aber auch die kirchenpolitifchen und 


452 Dorner: Dem Andenken von D. J. U. Dorner. 


vaterländifchen Bewegungen beiprachen, ohne daß durch ben natie 
nalen Gegenfag je ihre Freundſchaft eine Trübung erlitten hätte 
Seinen univerfellen Beift bewährte Dorner perjönlich durch die 
vielen und mannigfaltigen freundfchaftlihen Beziehungen, die er 
mit bedeutenden Männern der verfchiedenen Fakultäten, mit hervor 
ragenden Praktikern in Staat und Kirche im eigenen Vaterland 
wie über die Grenzen des beutfchen Baterlandes hinaus beftändig 
unterhielt und mit der ihm eigenen Treue und Bietät bewahrte. 
Einem amerikanifchen Freunde fagte er, fich ſelbſt charakterifieren, 
„I regret that we cannot as often as we wish talk over im- 
portant theological questions of the day. Iam of a diologistic 
nature and in conversation with friends I succeed best in 
clearing up hard points for myself.“ Als ihm dann im Laufe 
ber Jahre fo mancher Freund genommen wurde und er fchlieklih 
fich felbft in feiner Thätigkeit mehr und mehr eingefchränkt fühlte, 
da hat er mir einft in den folgenden denkwürdigen Worten feine 
Stimmung ausgefprochen, mit denen ich dieje Erinnerungsbfätter 
Schließe. „Man muß daran fefthalten: Keiner ift unentbehrlich, im 
Gegenteil, wenn das, was er repräfentiert, gewirkt bat, fo könnte 
ein längeres Wirken auch hindern und ben Gang erfchweren. 
Jeder Zeit giebt der Herr der Kirche doch das, was fie bedarf. 
So lange aber Kraft und Odem noch in und [ebt, haben wir aud 
eine Aufgabe, und es ift, wie wenig wir feien, für das große 
Ganze auch auf uns und unfere Gabe gerechnet.” Und während 
er derartige Worte ſprach, leuchtete aus dem Liebreichen Auge dab 
Feuer der ewigen “Jugend. 





Weiß: Über das Weſen des perfönlichen Ehriftenftandes. 458 


% 


2. 
Über das Weſen des perfünlichen Chriftenitandes. 
Zweiter Artikel ’). 
Poftine Entwickelung. 
Bon 


Dr. Sermann Weiß, 
Profefior in Tübingen. 





I. 


Wir Handeln fpeziel nur von dem perſönlichen Lebens— 
ftande des einzelnen Ehriften, wie er feinem wejentlichen 
Inhalte nah unter dem Xitel des ordo salutis innerhalb der 
Dogmatif und meiftend auch in dem erften grundlegenden Zeile 
des ethifhen Syſtems bargeftellt wird. Dabei muß freilich auf 
die objektive Seite des Erlöfungswerles und auf den Zuſammen⸗ 
hang des imdividuellen Heilsftandes mit der chriftlichen Gemein⸗ 
ſchaft Nüdfiht genommen werden. Gehen wir nım gerade davon 
aus, daß der perfönliche Lebensftand des Chriften die individuelle 
Aneiguung und Verwirklichung deffen darftelle, was in der Berfon 
und dem Erlöſungswerke Chriſti objektiv al8 Gabe und Kraft für 
die Menfchheit, genaner für die chriftliche Gemeinde, zunächit inner» 
halb ihrer irdiſchen Entwidelung gefegt ift, fo folgt daraus un⸗ 
mittelbar dreierlei: einmal daß dieſer Stand ein fpezififch neuer, 
fodann daß er ein im Prinzipe vollfommener, endlich daß er weſent⸗ 
lich von Gott durch Ehriftum gefchaffen ift und auf dem leben« 
digen Zufammenhange des Subjeltes mit Chriftus beruht. Der 
Shrift ift durch feine Gemeinschaft mit Ehriftus prinzipiell in den⸗ 
jenigen Stand verjegt, welcher der Idee der Religion oder Gottes⸗ 


3) Bol. in dieſer Zeitſchrift Sahrg. 1881, Hft. 8. 





454 Bei 


gemeinſchaft, zugleich aber auch dem Ideale fittlicher Perſonlichkeit 
entfpricht, fein Verhältnis zu. Gott und fein Berhalten gegen den⸗ 
felben Haben bie normale Geftalt erhalten und ſtellen wenigftens 
im Brinzipe die Erfüllung menſchlicher Anlage und Beſtimmung 
dar ?). Aber der ueue Stand prinzipieller Bolltommenbeit iſt 
weientih Erlöfungsftand durch Chriftum, er ift alfo nidt 
bloß entgegengefeßt dem Stande der Unvolltommenheit, fondern bem 
alten Leben in Sünde, Schuld und Verderben; daraus vollends 
bildet fi, da wir dieſes Leben begrimdet wifjen in dem gleichen 
Sefamtzuftande des menfchlichen Gejchlechtes, die unzweifelhafte Er: 
fenntnis, daß der neue Lebensftand wefentlich ein von Chriftus 
mitgeteilter, durch denjelben im Subjefte gefchaffener, nicht etwa 
bfoß ein unter feiner Beihilfe von dem Subjelte erworbener ober 
produzierter ift. 

Der Rationalismus, um uns vorläufig diefer allgemeinen 
Kategorie zu bedienen, kennzeichnet feine Einſeitigkeit und feinen 
Irrtum anf unferem Gebiete immer dadurd), daß er die ſpezifiſche 
Neuheit, fodann die prinzipielle Bolllommenbeit, endlich den weſent⸗ 
lichen Urſprung aus göttliher Mitteilung beim Chriftenftande ver- 
fennt, ganz entfprechend feiner ähnlichen geringeren Schätzung Ehrifti 
felber und feines Erlöſungswerkes. Man hat mit Recht fchon oft 
darauf hingewieſen, daß der Nationalismus keinen abfoluten Maß—⸗ 
ftab an das Menschenleben anlege, fondern immer in Nelativitäten 
hängen bleibe. Sünde und Sündenverberben find ihm nichts Ab- 
folntes, fie find ihm keine Größe, welche einen reinen pofitiven 
Gegenſatz gegen da8 deal darftellt, fondern nur verhältnismäßige 
Unvolllommenheit und Tehlerhaftigkeit, darum bildet für diefen 
Standpunkt auch Chrifti Erfcheinung und Wirkſamkeit nur einen 
relativen Fortfchritt oder Anftoß, feinen abjoluten Wendepunft, 
der Chriftenftand ift zwar bedeutend beſſer al8 der vordriftliche 
und außerdhriftliche, aber er iſt nicht ein prinzipiell volllommener 
Stand, und wie der Ehrift Chrifto gegenüber bei dem Eintritt in 


1) Auf Joh. Gerhard Loc. XVII, $ 238 redet fchon in dieſem Simme 
von einer perfectio renatorum, noch zu unterjcheiden von dem summus per- 
fectionis gradus in lege divina requisitus. gl. Loc, XVIH, 77 ff. 113. 


Über das Wefen des perſönlichen Chriſtenſtandes. 455 


den Chriftenftand nicht abfolut empfangend, fondern vielmehr mit⸗ 
wirkend fich verhalten hat, jo hängt auch die Weiterbildung des⸗ 
ſelben in erfter Linie von feiner Aktivität, von feinem unendlichen 
Hortfchreiten ab. Der Chriftenftand ift alfo von dem vorchriſt⸗ 
lichen und außerchriftlichen nicht prinzipiell geichteden und ebenfo 
wenig die GenefiS des Chriftenftandes von der Fortführung des⸗ 
jelben: der tiefere Grund Biervon liegt darin, daß aud in Chrifto 
nichts Abſolutes, nichts ‚fpezifiich Neues und Volllommenes ges 
funden wird. Schleiermader Hat belanntlicd eben dadurch den 
Rationalismus wirklich überwunden, daß er das volllommene Sein 
Gottes in Ehrifto und damit ebenſowohl die Erlöfung der Menſch⸗ 
beit als die Vollendung menſchlicher Natur, die vollendete Schöpfung 
derfelben in ihm ftatuiert Hat und von ihm ans fich auebreiten 
läßt („Slaubenslehre” 8 86 ff.). Und entfchiedener kann die fpezi- 
fiihe Neuheit und Abfolutheit des Chriftenftandes nicht bezeichnet 
werden als durch die Bemerkung Schleiermaders: „Der einzelne, 
auf welche dieſe erlöfende Einwirkung (Chrifti) ſich äußert, muß 
eine Berfönlichleit erlangen, die er vorher noch nicht 
bat“ ($ 106, 1; vgl. 113, 3 und 4 und 108, 4). In der 
Behauptung, daß der Chrift in der Gemeinſchaft mit Chriftus eine 
fpezififch neue, ja erft überhaupt bie wahre und nun im Prinzipe 
volllommene (teligiössfittliche) Perſönlichkeit erlange, Täßt fi) das 
Weſen des Chriftenftandes treffend ausdrüden.. Man muß nun 
aber nicht nur nad rüdwärts den vorangegangenen Zuſtand der 
Unvollkommenheit und Sünde fich voll vergegenwärtigen, fondern 
auch an der neuen Perfünlichkeit deſſen, der in Chriſto ift, die 
mannigfaltigen Seiten derjelben ins Auge faflen. Neu und im 
Prinzipe volltommen ift diefelbe geworden in drei Grundbeziehungen : 
in ihrem Verbältniffe oder ihrer Stellung zu Gott, fodann in ihrer 
inneren Qualität, endlich in ihrem Verhältniſſe und Verhalten zu 
er Welt, fpeziell zu der Menſchheit. Wir dürfen bier nicht vor» 
jreifen, um dies. etwa im einzelnen an dem Stande der Gottes» 
indfchaft nachzuweiſen, worein der Chrift dur feine Gemein⸗ 
haft mit Chriſtus eingetreten if. Wenn aber gejagt worden ift, 
er Chriftenftand fei unmittelbar in feinem Daſein ein Stand 
rinzipieller Volllommenheit, fo ift allerdings damit die Vollendung 


466 Bei 


diefes Standes felber, die Vollkommenheit im firengen Sinne dieſes 
Wortes, von welcher unten zu reden ift, uoch wicht gefekt. 

Bon Hier aus lafſſen fih num fon zum Boraus die Ein- 
feitigleiten und Berirrungen firleren, in weldje man bei 
der näheren Beftimmung des Chriftenftandes hineingeraten kaun 
und fchon oft himeingeraten iſt. Es ergiebt fidh kein bloker Forme- 
liomus, wenn wir zumächit fagen, die Fehler oder Einſeitigkeiten 
entftehen dadurch, daß hinfichtlih des Chriftenftandes entweder 
zu viel oder zu wenig gefegt werde und zwar in doppelter 
Beziehung, nämlich teil inbetreff feines Urfprungs oder feiner 
Bildung teils imbetreff feines Inhaltes oder Refultates. Dabei 
find die Anfichten inbetreff des Urfprunges und des Inhaltes ein- 
ander ftetd analog. Wenn in beiden zu viel geſetzt wirb, fo über⸗ 
wiegt da8 Göttliche, und wir gelangen bis zu derjenigen Grenze, 
wo da8 Menſchliche ausgeſchlofſen oder doch unterdrückt erſcheint, 
meiften® der Abficht nad) zuguniten des religiöfen Momentes, während 
das ethiſche mehr oder weniger preißgegeben wirb; umgelehrt verhält 
es fich bei derjenigen Auffaffung, weiche im Urfprunge und im In⸗ 
halte des Chriftentums zu wenig fett. 

Nehmen wir zuerft an, es werde zu viel geiekt, und zwar 
zunähft im Urjprunge, bei der Bildung des Chriftenftandes, 
bzw., da wir unfere Betrachtung hier ebenfo gut bis dahin aus- 
behnen fünnen, des gejamten Chriftentums überhaupt, jo wird die 
abfolute Neuheit des Chriftentums und die ſchöpferiſche Wirkſam⸗ 
feit Gottes bei feiner Hervorbringung, alfo nad beiden Seiten hin 
Bas Wunder ſeines Urfprungs überfpamt. Es wird die Bor- 
bereitung und Anlnüpfung, wie fie in der urjprünglihen Anlage 
und im gefchichtlichen Leben gegeben fein könnte, aud die VBorbe⸗ 
zeitung durch die univerfale Wirkfomleit Gottes, namentlich aber 
jede Urt der menjchlicden Bermittelung für die Entſtehung des 
Chriſtlichen, entiprechend aljo die Analogie des Vorchriſtlichen und 
Außerchriſtlichen ausgefchloffen oder doc, auf ein bedeutungsloſes 
Minimum reduziert. Es waltet bier eine Auffaffung, welche den 
religiöß-ethäichen Prozeß in einen magifdh-naturaliftiicden verwanbelt, 
wie berfelbe der ethilchen Natur Gottes des Heilsurkebers und 
gleichermaßen des Menſchen des Heildempfängers und Ehrifti des 





Über das Weſen des yerfönlichen Ehriftenftandes. 47 


Heilsmittlers widerſpricht. Der fouveräne Wille und die reine 
Ichöpferifche Kraftwirkung Gottes (gratia irresistihilis) erfcheint ala 
zureichender und faltiſch al8 alleiniger Erklärungsgrund des Chriften- 
tums, und die göttliche Art der Wirkſamkeit anf dieſem höchften 
Gebiete des geiftigen Lebens trägt alfo einen natwraliftiichen Cha» 
rakter. — Ganz entſprechend beftimmt ſich bei diefer Auffaffung 
auch der Inhalt des Ehriftentums oder des neuen Lebens. In 
demjelben tritt das ibdealiftifche Element, das Perfönliche, Willens- 
mäßige, das fpeziftiich Geiftige zurück gegenüber von einem natura- 
liſtiſchen Subftantialiemus, auch wird das neue Leben gerne wie ein 
ganz fertiges Produkt aufgefakt, dasfelbe erfcheint liber das Werben 
und Ringen, wie ed doch zum Charakter alles geiftigen Lebens im 
Diesfeits gehört, über die wefentliche Spannung gegen Wechfel, 
Unvollkommenheit und Simde durch feine göttlich beftimmte Natur 
erhaben, es bedarf höchſtens wie der Keim ber Pflanze entfaltet, 
nicht aber eigentlich entwickelt und ebenjo wenig durch befonbere 
Anftrengung erhalten zu werden. Man kann, anjchließend an eine 
beftinnmte duch Schleiermacher aufgeftellte Parallele („Glau⸗ 
benslehre” 5 22. 100 und 101, vgl. 113, 4) fagen, die feither bes 
jchriebene Auffafjung des Chriftenftandes, bei welcher in Urfprung 
und Juhalt zu viel gefegt, d. H. dem göttlichen Faktor ein ein- 
feitige8 Übergewicht eingeräumt wird, entfpreche dem Euthchianis⸗ 
mus oder Monophyfitisumne bzw. dem Doletismus in ber Chrifto⸗ 
logie. Die Bertreter einer derartigen Auffafjung des Chriſten⸗ 
ftandes innerhalb der kirchlichen Entwickelung find Leicht zu entdeden, 
diefefben lehnen fich einfeitig an gewiſſe Ausfagen von Panlus 
und Johannes tim Neuen Xeftamente an. Nach einer Seite 
gehören hierher der Auguftiniemus und der reformierte Prüdeſti⸗ 
nationismus (auch Luther de servo arbitrio), nad einer anberen 
Seite alle diejenigen Theorieen, welche bie Wiedergeburt ſchlechthin 
über die Rechtfertigung ftellen und nun mehr oder weniger beut- 
(ich eine Art von naturaliftiicher Wiedergeburt entweder fchon in 
der Kindertaufe oder in dem Progefje der Bekehrung zuftande 
kommen lajjen ?) (vgl. Schleiermader 8 88, 4). 


1) Bekanntlich führt aber die ertreme Hintanſetzung des Menfchlich» Ge⸗ 


458 Bei 


Die entgegengefeite Berirrung befteht nun darin, daß bei dem 
Entftehungsprozefje und in dem Inhalte des neuen Lebensftandes 
zu wenig gefeßt wird. Geſchieht dies im Eutftehungsprogzefle, 
fo ergiebt fi jene Auffaffung, welche auch heute noch am für- 
zeften und anſchaulichſten als Pelagianismus oder doch als pelagia- 
nifterend bezeichnet wird. Die menſchlich⸗ natürliche, teils im ber 
erften Schöpfung begründete, teils gefchichtlich erarbeitete Borberei- 
tung, Analogie und Selbftthätigleit, fowie die univerfale göttliche 
Propädentil werben in folder Weife betont, daß eine fchöpferifche 
Einwirtung Gottes zur Begründung des neuen Lebens dadurch 
überflüffig, ja unmöglid wird. Gott trifft auch durch Chriftum 
nur gewifje erleichternde Veranftaltungen (adjuvare), auf Grund 
welcher der Menſch fein Heil fchafft und erwirkt, foweit überhaupt 
gefagt werden lann, daß diejes auf Erden in einem abgefchloffenen 
Momente oder in einem Zuftande faltifch ſchon vorhanden fe. 
Denn wenn wir nun auf da8 Reſultat jenes fo aufgefaßten 
Prozeſſes blicken, fo ift ja auch im Chriftenftande das Heil nicht 
eigentlich vorhanden, auch nicht im PBrinzipe, der Chrift bewegt fid 
nur mit größerer Sicherheit und Leichtigkeit auf dem Wege, welcher 
zum Heil führt, er bat von Ehriftus aus in feinem Erkennen und 
Wollen nur eine unvergleichlich wertvolle Anleitung und Anregung 
für fein Streben nad) dem Heil empfangen, durch welche er in 
den Stand gejegt ift, bei gehöriger eigener Anftrengung das Ziel 
zu erreichen. — Auch diefe Auffafjung läßt allerlei Modifikationen 
zu und bat diefelben thatfächlich erfahren, diefelbe lehnt fich etwa 
an Jakobus, nod mehr an die Synoptifer an, welde fie 
überdie® einfeitig deutet, bat zum Hintergrund einen judaiſtiſch⸗ 
deiftifchen Gottesbegriff und eine ebionitifche oder ebionifierende 
Ehriftologie. Gegenüber von der zuerft befchriebenen Einſeitigkeit 
wahrt fie das Mecht des Menfchlichen, des Ethifchen, des Geſchicht⸗ 
fischen, damit den Zufammenhang des Chriftentums mit dem Vor⸗ 


fchichtlichen gegenüber von ber göttlichen Gnadenwirkſamkeit bei einzelnen (mie 
Zwingli) auch dahin, daß felbft die gefhichtliche Vermittelung Ehrifti zum 
Heile nicht unentbehrlich erjcheint. Gott kann durch ſeinen Logos und feinen 
Geiſt auch folche jelig machen, welche Ehriftum noch nicht Tennen (vgl. Sch Leier- 
macher $ 100, 3; 108, 5. 124), 





Über das Weſen des perjönlichen Chriftenftanbes. 459 


Hriftlichen und Außerchriftlihen (vgl. Schleiermader $ 13) 
und enthält eine berechtigte Warnung wie gegen naturaliftifchen 
Magismus ebenjo gegen einen myſtiſchen Quietismus, welcher fo 
gerne vergißt, daß ein Chriftenmenjch bei aller Sicherheit des Seine 
im Werden fteht und feinen feften Befig nur durch die kontinuier⸗ 
lihe That behaupten kann. 

Noch foll aber in aller Kürze auf eine weitere Reihe von 
Einſeitigkeiten Hingewiefen werden, welche in dem bejchriebenen 
Örundgegenfage bei der Auffaffung des Chriftenftandes nicht uns 
mittelbar enthalten find, fondern fich ebenfowohl mit der einen ale 
mit der andern Seite verknüpfen lafjen, obgleich der eine Zeil der» 
jelben naturgemäß zu der erften, der andere zu der zweiten Seite 
jenes Gegenfages Bin grapitiert. Wie nämlich nach dem oben ger 
ſchilderten Gegenjage ein verjchiedenes Maß von Intenſität in 
der einen oder anderen Richtung bei Entitehung und Inhalt des 
neuen Lebens ftatuiert werden Tann, fo ift es auch möglich, daß 
gerade an dem Inhalte ſelber eine Richtung einfeitig hervor⸗ 
gehoben und dafür andere zurücgeftellt werden. So betonen die 
einen bei der Schilderung des neuen Lebenszuftandes zu aus⸗ 
Schließlich diejenigen Momente, buch welde er als Aufhebung 
des alten Zuftandes (von Sünde und Schuld) erfcheint, andere 
dagegen lafjen das Moment der Erlöjung und Belehrung ganz 
zurücktreten gegen die vollendete Schöpfung; ferner kann an dem 
religiöfen Momente des Chriftenftandes entweder da8 Ders 
bältnis, die Stellung zu Gott (justificatio, adoptio), alfo die 
ideale Seite, oder ebenfo die reale, das neue Leben aus 
Gott und in Gott (regeneratio, renovatio) einfeitig hervorgehoben 
werben. Wiederum fajjen manche eben nur das Weligidje im 
engeren Sinne, die Gottesgemeinfhaft und was ideal oder 
real unmittelbar mit ihre gefet ift, ins Auge, während andere dies 
ganz zurüddrängen und die Aufmerkfamkeit nur auf die neue Stel: 
lung und Aufgabe Hinlenten, welche der Ehrift der Welt, insbe: 
ſondere noch der Menschheit gegeniiber befommen habe. Den einen 
ft das Chriltentum ganz vorwiegend eine neue Erleudtung 
oder Einficht, den anderen ein neues praftifches Verhalten, wie 
wir Diefen Gegenfag ſchon im Firchlichen Altertum rge belle» 

TZTheol. Gtub. Jahrg. 1886, 





400 Weiß 


niſchem Morgenland und romaniſchem Abendland ausgeprägt finden. 
Auch als einfeitige Gefühls beſtimmtheit und Gefühlerichtung ift 
ja das Chriftentum ſchon öfter aufgefaßt und gepflegt worden. 
Endlich binden die einen Urfprung und Ziel des Chriftentums 
fo enge an die Gemeinſchaft, daB das individuell» Perfönliche 
darüber verloren gehen will, und andere verlieren Aber dem Ber: 
fönlihen und Fudividnellen den Zuſammenhang mit der &emein- 
Schaft faft ganz aus den Augen. Die Tonfreten Beifpiele für bie 
genannten Einfeitigleiten lafjen- fi aus Bergangenheit und Gegen: 
wart fo leicht auffinden, daß es überflüffig wäre, diejelben nament⸗ 
lich zu erwähnen, Schleiermader hat aud für diefe Einfeitig- 
feiten unter allen Neneren daB feinfte Gefühl und die fchärffte 
Aufmerkſamkeit bewährt. Man thut ihm auch unrecht, wenn man 
ihm beilegt, daß er den Chriftenftand zu einfeitig an die Gemein: 
fchaft gebunden Habe, fehon feine bekannte Formulierung des Gegen⸗ 
Tages zwifchen Proteftantismus und Katholicismus („Glaubenslehre“ 
8 24) fpricht gegen diefe Annahme, er bedadhte recht wohl, daß 
eine „volllommene Gegenfeitigleit“ im Verhältniſſe der einzelnen 
und der Gemeinfchaft zu einander im Ehriftentum ftattfinde (S 90, 1; 
106, 1 und 2; 115; 123, 3). Wenn e8 zuweilen bei ihm ſcheinen 
kann, als ob das neue Leben des einzelnen nur eine unfelbftändige 
Manifeftation des chriftlichen Gemeingeiftes wäre, fo ftellt er diefer 
Einfeitigkeit die Erwägung entgegen, daß „doch urfprünglich ein» 
zelne von Ehrifto ergriffen wurden und aud jet noch e® immer 
eine durch die geiftige Gegenwart im Wort vermittelte Wirkung 
Chriſti ſelbſt ift, wodurch die einzelnen in die Gemeinfchaftt 
des neuen Lebens aufgenommen werben”. Es ift daher no 
immer geraten, gerade auch in diefem Stüde die ebenſo ſchöpferiſch⸗ 
genialen als umfichtigen und überaus beziehungsreichen Ausführungen 
Schleiermachers fi zum Mufter zu nehmen. 


u. 
Wir menden uns zu einem zweiten Zeile umferer Aufgabe, 
indem wir daran gehen, die wichtigften Lehren de8 Neuen Tefta- 
mentes über den perfönlichen Chriftenftand in der Kürze zu über: 


Über das Weſen bes perfönfichen Ehriftenftandes. 461 


blicken. Wir wollen ums daraus vor allem verfiddern, daß ſchon 
die originalen unb normativen SZeugwifle desielben die volle Wirk⸗ 
lichleit und Eigentümlichkeit des neuen Lebens behaupten, zugleich 
aber wird uns dben fein eigentümlicher Charakter nach feinen 
wejentlichen Seiten durch jene Zeugniffe anfhaulid und verſtänd⸗ 
ih gemacht erden, und mir werden ertenmen, baß feine Gefamt- 
anſchauung alle jme oben vorgefährten Ginfeitigleiten vermeidet unb 
überragt, während fie in ihrer Konzentrieeten Lebensfülle die Wo- 
mente bewahrt und harmoniſch vereinigt, welche in ihrem Aus» 
einanderftreben jeme Einjeitigleiten hervorrufen. 

Schon bei den Synoptilern !), ſei es im Munde Jeſu, fei 
e8 im eigenen Berichte der Evangeliften, findet fich unverkennbar 
dad Bewußtſein ausgeſprochen, daß die Jimger Jeſu, melde ale 
ſolche Genoffen des Gottesreiches find, durch ihre Verbindung wit 
Jeſus im jenen ganz fpestfifchen Zuftand des neuen Lebens einge 
treten find, wie er andy ben Frommen des Alten Bundes noch nicht 
eigen war (Matth. 5, 3ff.; 31, 11. 27ff.; 12, 49f.; 26, 28 
2. a.). Sie find durch ihn Kinder Gotteo geworben in dem 
breifachen Sinne, daß fie in die voukvmmene Gnadengemeinſchuft 
Gottes eingetreten find (adoptio), daß die Gefinnung ihres Her- 
zens von Grund aus umgewandelt ober in bie normale Richtung 
gebracht worden (regeneratio, conversio Matth. 5, 3ff.; 13, 
2—9. 24fl.; 18, 3; 19, 26; vgl. Jak. 1, 18. 1Petr. 1, 23), 
endlich daß ihnen der Antrieb zu behartlichem gotigemüßem Streben 
md Handeln verlichen worden iſt (ogl. Matth. 5-7 unb fonft). 
Begründet wirb der neue Lebeneftand auch bei den Synoptilern 
durch den Slauben au Chriſtus, dadurch, daß der Menfch 
angezogeh von feiner ſpeziſiſchen Heile- amd Neihebotfehaft, deren 
Wohrheit ihm durch ben Eindruck feiner Perfon verbürgt wird, 
auf entfcheibende Weife in jenes ganz eigentiimliche Berhältnis bee 
inwerften Vertrauens und der ımbedingten Folgſamkeit zu ihm ale 
dent Siellvertreter Gottes eintritt, welches fich unmittelbar zur 
Nachfolge feines Lebens, alfo zur beharrlichen Teilnahme an ber 


2) Ich darf Hier vermeifen auf meine Abhandlung Aber „Die Grundzlige 
ber Heilslehre Jeſu bei den Synoptikern“ in dieſer Zeitſchr. 1869, Hft. 1. 
30* 


462 Weiß 


praftiichen Richtung wie an dem Gute desfelben geitaltet. So hat 
der Menſch durch eine enticheidende Wendung jenen neuen Weg 
betreten, welcher zum Leben führt, aber doc auch ſchon unmittelbar 
an demfelben teilnehmen läßt (Matth. 7, 14; 11, 28f.; 16, 24f.; 
19, 21). 

Eigentümlih ift freilich für die Auffaffung der Synoptifer 
ein mehrfaches: einmal tritt als Objelt und Grund des Glaubens 
das Wort Ehrifti, und zwar in ber unmittelbaren Vereinigung 
von Verheißungs⸗ und Befehlswort, feinem Werke, hier Tpeziell 
der Himmelreichsftiftung, und wiederum aud das letztere feiner 
Perſon entfchieden voran, und Wort, Werl und Berfon Chrifti 
erichienen durchaus ale den Vater offenbarend und zu ihm bin- 
feitend. Sodann ift beim Glauben die ihm auch bier als Grund⸗ 
eigenjchaft beigelegte Empfänglichkeit ftets verbunden mit der fitt- 
lich gearteten und fittlich ftrebenden Aktivität, er iſt deshalb auch 
niemal® ausschließlich auf das Heildgut der Begnadigung gerichtet, 
fondern ftets. zugleih auf den neuen Gehorfam. Endlich ift der 
entfcheidende Wendepunkt der Belehrung oder Wiedergeburt nicht fo 
beitimmt markiert wie bei Paulus, und die fchöpferifhe Einwirkung 
Gottes zur unmittelbaren Herporbringung des Glaubens ift nicht fo 
ausdrüdlih im Unterjchiede von der menfchliden Empfänglichkeit 
und Folgſamkeit ijoliert heransgeftellt, fo daß die letztere ſtets als 
mitwirkend bei der Belehrung oder Glaubensbildung auftritt. Den- 
noch fehlen die vorhin genannten, bei Paulus mit befonderem Nach⸗ 
drud bervorgehobenen Requifite der Belehrung oder der Wieder: 
geburt keineswegs, ſpeziell die Schöpferiiche Wirkfamleit Gottes in 
Chrifto wird durch die eigentümliche Kraft feines Wortes vertreten 
(dgl. zu den oben angeführten Stellen noch Matth. 16, 17), nur 
eine myſtiſche Lebensgemeinfchaft mit Chriftus und ein unmittel⸗ 
bares fchöpferifches Durchdrungenwerden von dem heiligen Geifte 
find faum angedeutet. Dieſe zulegt genannten Elemente des neuen 
Lebens erfcheinen bei der fynoptifchen Lehre fchon deshalb mehr 
eingewidelt, weil diejelbe in ihrem näheren Zufammenhbang mit 
dem altteftamentlichen Typus und tin ihrer unmittelbaren Abzweckung 
auf die erfte Süngerbildung innerhalb des altteftamentlihen Bundes⸗ 
volkes gerade im Munde des irdifchen Ehriftus ſolche Punkte natur- 


— 


Über das Wefen des perfönlichen Chriſtenſtandes. 468 


gemäß noch nicht hervorbebt, welche den Tod und die Verklärung 
Ehrifti fowie die Ausgießung feines Geiftes zur Vorausfegung 
haben. Die dur den Umgang mit Jeſus gründlich vorbereitete 
Belehrung oder Wiedergeburt der erften Jünger ift ja auch erft 
unter der Einwirkung diefer Thatſachen perfekt geworden. 

Der Standort des Apoftels Paulus ift nun gerade ber 
umgekehrte. Sein Evangelium webt gänzlih in der Anfchauung 
und Verkündigung bes für uns gekreuzigten und auferftandenen 
Chriftus und des erhöheten Herren, welcher der Geift ift und durch 
welchen der Geift der Kindfhaft vom Water mit feiner fpeziftich 
erneuernden Kraft wirkt und eingeht, freilich fo, daß auch hier die 
Berfündigung von Chriſto als unentbehrliche Vermittelung erfcheint. 
Nehmen wir noch die anthropologifhen Vorausfegungen des Paulus 
vom fleifchlihen und unter dem Banne der Schuld verhafteten 
Zuftand des natürlihen Menfchen Hinzu, fo erhellt fofort, daß 
Gott und der Menſch, auch wenn jener diefem durch Chriftus ers 
Löfend entgegenlommt, von vornherein in einem weit ſchrofferen 
Gegenſatze zu einander fich darftellen, al® dies auf dem Boden 
der Synoptiker der Fall ift. Auf der anderen Seite aber ift wies 
der in dem für uns geftorbenen, auferjtandenen und zum Geift 
verffärten Chriftus ein Mittler gegeben, durch welchen auf dem 
Grunde des Glaubens fogar eine noch innigere Gemeinfchaft 
zwifchen Gott und den Menfchen bergeftellt werben Tann, als dies 
unmittelbar durch den Chriſtus der Synoptiker gefchieht. Die 
Löſung des fcheinbaren Widerſpruchs erfolgt dadurch, daß bei 
Paulus der Eintritt in die Heilsgemeinfchaft Chriſti noch entſchie⸗ 
dener als bei den Synoptikern als radilaler Bruch mit dem 
alten Leben fich vollzieht und eine Erneuerung der Perfünlichkeit 
und ihres gefamten Lebensftandes involviert und daß gerade ber 
paulinifche Ehriftus famt dem mit ihm verbundenen heiligen Geift 
als die übermächtige Kraft erfcheint, welche von ſich aus jenen 
Bruch und diefe Erneuerung bewirkt. 

Zum Nachweife hierfür darf man nur auf fo befannte db. 
Schnitte und Stellen wie Röm. 6—8. 1Kor. 6, 17. 2Kor. 3, 
17f.; 5, 15. 17. Gal. 2, 20. Eph. 2, 4-10. Kol. 2, 12f.; 
3, 3 verweiſen. Es ift willfürlic) und fteht auch im Widerſpruch 


484 Beiß 


mit der Lehrbarftellung der Reformatoren und der alten engmge- 
then Dogmatifer, wenn man ber in biefen Abfchnitten ausge⸗ 
drüdten Aufchauuug von der Geneſis und dem Welen des Chriften- 
ftandes innerhalb der paulinifchen Geſamtlehre, fpeziell im Ber 
hältnis zu feiner Rechtfextigungslehre, nur einen untergeordneten 
Plag anweiſen will). Richtig ift, daß jene Anſchauung Heupt- 
ſachlich an eine ſymboliſch⸗ miyſtiſche Auffaſſung ber Taufe fi 
anſchließt; aber im Vorgange der Zaufe iſt für Paulus der Faktor 
des Glaubens nach ber vollen Bedeutung und Wirkſamkeit des⸗ 
jelben mitgefeßt, ia der Slaube, welcher wit Chriftus zur Ge⸗ 
meinſchaft des neuen Lebens fi zufammenfchließt, fpielt offenbar 
bei der Bildung bes neuen Lebens überhaupt bie entſcheidende Nolle 
(Kol. 2, 125. Phil. 3, 8—12. Gal. 2, 20. Eph. 1, 18; 2, 8). 
Man darf au nicht aus folden Stellen wie Sal. 4, 6 etwa ben 
Sat ableiten, daß bei Paulus zeitlich zuerſt Die Rechtfertigung ober 
die adoptio als Frucht bed Glaubens eintrete, daß aber bie reale 
Umwandlung des Subjeltes oder die Wiedergeburt erft als Wir 
tung der nachfolgenden Gejstesmitteiluug fich einftelle, und zwar 
weientlih im Anſchluß an die Taufe aber ger erſt an den mei 
teren Glaubensgehorſam. Wohl fondert Paulus Rechtfertigung 
und Wiedergeburt ſachlich und logiſch genau und läßt in diefem 
Sinne die erfters der letzteren und fo auch der Geiftesmitteilung 
und der unio cum Christo vorangeken, wie man beutlich erkennt, 
wenn man den Zufanımenhaug des Abſchnittes Nöm. 3, 21 his 
zum Schluffe von Kap. 5 mit dem Inhalte von Kap. E-—8 ner 
gleicht. Aber zeitlich find jene wicht getrennt, fie find vielmehr bie 
unzertrennlicden Momente besfelben Vorganges, welcher anfchan: 
ih dur die Taufe deſſen fixiert wird, der Chriftum im Glauben 
ergreift, wobei djefer in einem für ihn der Grund der Recht⸗ 
fertigung und ber Ernenerung wird (ogl. ſchon Röm. 5, 1 mit 
V. 5). Auch ift der in Rom. 8 im feinem Höhepunkte gefchifderte 


1) Tieffinnig iſt diefelbe au von Schleiermader (4. 8. S 101, 2; 
100, 1) verwendet worden. Reuß bat bdiefe Seite gleichfalls beſonders ge 
würdigt, geht aber zu weit, wenn er bie Rechtfertigung bei Paulus vom ber 
Wiedergeburt abhängig denkt. 


Über das Wefen des perfönlichen Chriftenftandes. 465 


Chriftenftand durchaus nur verftändlich, wenn jeine Vorausfegungen 
gleihermaßen in jenem Prozeſſe realer Ummandlung (nad) Kap. 6 
und 7) mie in der (Kap. 3, 21 bis Kap. 5 befchriebenen) Recht⸗ 
fertigung gefucht werden. Bon beiden Vorausjegungen mag wohl 
gelten: menge fie nicht! aber ebenfo gewiß: trenne fie nicht! 
Weit eher haben wir Anlaß, die einheitliche Wurzel derfelben aufs 
zufuchen. 

Wohl fteht dem Apoftel das Intereſſe der Rechtfertigung nad 
den bekannten Gegenfage feiner Lehre gegen die Geſetzeslehre zu- 
nächſt als das entjcheidende voran, und er begründet die Recht⸗ 
fertigung nicht auf den Xgsozos &v nur oder auf den Geiſtes⸗ 
befig und ſomit auf die Wiedergeburt fondern allein auf den 
Glauben, welcher die Gnadenbotfchaft des Evangeliums von dem 
für uns gefreuzigten und auferftandenen Chriftus vertrauensvoll 
ſich aneignet. Indeſſen fchliegt diefe Aneignung ale That des 
Gläubigen fein Angeeignetwerden durch Chriftus unmittelbar in fich, 
der Gläubige ift unmittelbar durch den Akt feines Glaubens in 
Chriſtum hineinverſetzt (Ev Xgıozo), ift ein Zugehöriger Chriſti 
im rechtlichen und realen Sinne, und beshalb gilt für ihn Chriſti 
Gerechtigkeit als feine eigene, und er hat teil an dem Leben Chrifti 
zunächft im redhtlihen und dann auch im realen Sinne (2 Kor. 
5, 21, vgl. 3.17. Phil. 3, 9, vgl. V. 12 und Kap. 1, 6. Röm. 
8, 1, vgl. V. 10; 6, 7—11; 7,4—6). Wenn nun ber Ölaube 
gerade als rechtfertigender jedenfall® zunächſt das Angeeignetfein 
von Chriſto teils anzeigt, teils vollends realifiert, jo bildet das 
ev Xosoro sivaı von felber das Mittelglied, welches 
unmittelbar das Eingehen Chrifti und feines Geiftes in den 
Gläubigen nad fich zieht, um fo mehr, als das Släubigwerden 
felber nur erfolgt, wenn das Subjelt von Ehriftus und von feinem 
Geifte innerlich ergriffen ift (Röm. 10, 8ff. 1Kor. 12, 3. 2 Kor. 
4, 3—5. Bhil. 3, 12. Eph. 2, 8—10, vgl. Apg. 16, 14). Wenn 
nun das von Chriftus durch Wort und Geift ergriffene Subjekt 
diefen hinwiederum im Glauben ergreift und dadurch ein Zuge 
höriger Chrifti und ein gerechtfertigtes Gottesfind wird, jo muß 
ia diefer Prozeß ganz unmittelbar darin fich vollenden, daß Chriftus 
und fein Geiſt in den Gläubigen eingehen und dadurch im realen 


Bei 


A6 
Sinne ber Grund feines neuen Lebens im Geiſte werben, um |ı 
mehr, als ja der Haube fchon beim Sudyen und Ergreifen du 
rechtfertigenden Gnade Ehrifti nur im volffländigen Anfgeben vr 
alten Egoität und in der reinen Selbfihingabe an Ehriftum fi 
vollziehen Tann. 

Deutlich und beftimmt bat alfo Paulus den Akt der Reit 
fertigung durch den Glauben ganz unmittelbar mit der Belehrun 
und ber Wiedergeburt verknüpft, und die letztere hat auch noch di 
Thatfahen ber Geiftesmitteilung und der unio mystica cm 
Christo, welde ſich an die Rechtfertigung anschließen, zu ih 
inneren Vorausfegung. Der Geredhtfertigte ift auch in bie Xebent 
gemeinſchaft Ehrifti aufgenommen, und Chriſtus lebt in ihm, mil 
rend durch denjelben Akt fein alter Menfch prinzipiell ertötet, fen 
ungdttliche und widergöttliche Natürlichkeit, Egoität und Simlid. 
feit (oagE) zerbrochen tft, und mit Chriftus ift auch der heilig 
Geiſt zum befeelenden Brinzipe feines Perfonlebens gemorden. 
So ift der Gläubige vermittelft der fchöpferifchen Einwirkung 
Gottes in Ehrifto eine zaıyn) xuioıs (Sal. 6, 15. 2Ror. 5. 11. 
Eph. 2, 10) geworben, freilich nur im unmittelbaren und ftetigen 
Zufammenhange mit feinem neuen Lebensgrunde Chriftus (Rön. 
8, 1ff.). 

Man kan nur die Frage aufwerfen, ob ein Paulus, wen 
er feine Anfchauung auch auf folche Hätte anwenden follen, weldt 
in der Kriftliden Gemeinfhaft als Kinder geboren, ge 
tauft und bann erzogen find, diefe Hinfichtlich derfelben modifiziert 
haben würde. Denn feine Darftellung fett ja überall dem Über 
tritt vom Judentum oder Heidentum zum Chriftentum voran. 
Allerdings ift gerade auch nad) der Darftellung des Panlıs (Röm. 
5, 12 ff. und fonft) mit der Erfcheinung Chrifti ein neues Or 
famtleben für die Menfchheit und in der Menfchheit begrümbet 
worden, und die Gemeinde der Gläubigen ift als Gejamtheit dt 
organifierte Gemeinfchaftöfreis, in welchem dieſes Gefamtichen 
reale Geltung Bat und vermittelft deſſen allein es fi fertpflant 
Diejenigen, welche in der hriftlichen Gemeinde aufwacer, erfahre 
innerhalb derfelben jedenfalls die vorbereitenben Guabenmeerkuugn 
Gottes und künnen von Kindheit auf ganz allmählid vom Chile 





Über das Weſen des perfönlichen Chriſtenſtandes. 467 


angeeignet werden und fich aneignen laffen. Aber der bleibende 
Quellpunkt für diefes Gefamtleben ift die Einigung der einzelnen 
mit Chriftus im Glauben, nicht ihre Verbindung mit der Ge⸗ 
meinde. Unmöglich aljo Könnte jene Modifikation darin beftehen, 
daß die Nechtfertigung weſentlich als objeltiver Gemeindebefit, d. h. 
als ein Thatbeſtand gedacht wäre, welcher für die einzelnen fchon 
vor ihrer Aneignung besfelben im Glauben Geltung bat, und un⸗ 
möglich könnte auch dann der die Verfühnung mit Gott im ſub⸗ 
jeftiven Sinne vermittelnde Glaube vorgeftellt werden abgelöft von 
wirfliher Belehrung oder Wiedergeburt. Nimmermehr hätte Pau⸗ 
lus einen Chriftenftand ftatuieren können, welcher nicht begründet 
wäre in einem durch Chriftus felber bewirkten Umfchwung in der 
innerften religiössfittlihen Grundridtung und Grundftellung des 
Subjektes und in einem realen Bande, welches dasfelbe fortan in 
feinem Herzen mit. Gott durch Chriftus verfmüpft, ein Verhältnis 
aber zw Chriftus, welches diefem Umfchwung erft zuftrebt, hätte 
er immer nur als eine Annäherung an den Chriftenftand, alſo 
noch nicht als Heilsbegründend für das Subjekt betradhten können 
(vgl. auh Schleiermader 8 106 und 107. 115 und 87, 3). 
Auch bei Johannes ift der Ehriftenftand gleichbedeutend da» 
mit, daß wir durch den Glauben, womit Erkenntnis und Liebe 
innig verbunden find, Ev Xoro uns befinden, und hieraus fließt 
al8 unmittelbare Folge, daß auch Ehriftus und mit ihm Gott der 
Bater und der Heilige Geift in den Gläubigen lebt, wohnt und 
wirft (Joh. 15, 1—16; 17, 6—10. 14; 1, 12f. 1908. 1, 3; 
3, 6. 24). Auch Hier ift der Chriftenftand im Gegenfage zu dem 
Zuftande derer, welde &v To xooum find, mweientlih ein An⸗ 
geeignietjein von dem verflärten Chriftus und ein Durcddrungenjein 
von ihm in der Gemeinfchaft feines Lebens, wodurdh man teils 
nimmt an feinem Lebensgute wie an feinen Lebensimpuljen (vgl. 
roch Kap. 6, 37 ff. 44; 12, 44ff.; 16, 27. 33). Aber gegen« 
iber von Paulus verrät ſich noch eine charakteriftifche Steigerung 
yauptfächlid in folgenden Punkten. Schon der irdifche Chriftus 
rägt in feinem inmwendigen, jedoch für das empfängliche Auge 
iberall durchſcheinenden, Weſen die Herrlichkeit, den göttlich«geiftigen 
debensgrund und Lebensgehalt, an ſich, diejelbe Tann daher auf bie 


ER Bei 


Yünger ſchon während des Erdenwanbdels Ehrifti übergehen, und 
diefe können Schon in dieſer Zeit in die myſtiſche Lebensgemein- 
ſchaft mit ihm umd dem Vater eintreten, welche durch die Geiftee- 
jendung nar erhalten und noch in gewiffen Sinne weitergeführt 
wird (Kap. 1, 14. 16—18; 6, 32 ff.; 8, 12; 11, 25; 14, 9—16; 
16, 13—15; 17, 10. 22). In dem Heildgut aber, welches man 
von Chrifto empfängt, find der Empfaug der Gnade und derjenige 
des Geifteslebens nicht mehr fo wie bei Paulus ftreng von ein- 
ander unterfchieden, weil das Intereſſe der Beguadigung oder gar 
der Rechtfertigung bei Yohannes merklich zurüdtritt, vielmehr find 
jene beiben zufemmengefaßt in der Aneignung der göttlichen Vater⸗ 
liebe, doch auf höherer Potenz der Anſchauung als bei den Synop⸗ 
titern, wie Chriftus ſelber als Sohn Gottes auch noch in Höheren 
Sinn ale der Träger und der Vermittler der aufnehmenden und 
der belebenden Vaterliebe Gottes erfcheint (vgl. noch beſonders Kap. 
1, 12—18; 15, 1—17, 130h. 4, 4 bis Rap. 5, 5 al.). In 
dem Begriffe der Gotteskindſchaft find alfo auch die adoptio und 
bie regeneratio unmittelbar vereinigt (Rap. 1, 12f., vgl. 3, 6. 
1908. 2, 29; 3, 2. 9). 

Ganz beſonders charakteriftifg wird aber die johanneifche Auf- 
faffuug von der paulinifchen no durch einen dritten Bunt 
unterschieden, in welchem man befanntlih am meilten ſchon eine 
Annäherung an die Gnoſis hat finden wollen. Wie der irdiſche 
Chriftus als der Aoyos aaopE& ysvduevos bereits das vollfommene 
Eingehen des göttlichen Lebens in die Menſchheit darftellt, che er 
fein Werk ausführt, und wie das lektere eher unter dem Gefidhie- 
punkte einfacher Ausbreitung der in ihm vorhandenen Lebensfälle 
unter den Empfänglichen erfcheint, während es bei Paulus fait 
noch mebr als bei den Synoptifern als eine den Gegenfaß der 
Sünde und Welt übermindende Lebensarbeit und auch als ein per- 
fönfiches Hindurchdringen in die Verklärung fich darftellt: fo zeigt 
der Glaube und das dur Chriſtus in ibm gebildete Leben der 
Gottestinder in manden Stellen eine Geftalt, wie wenn darim eben 
der urfprüngliche Gotteszug (die Kogosverwandtichaft) ihres eigemen 
Weſens unter der Einwirkung des menfchgewordenen Chriſtus zur 
Offenbarung und Aftualifierung gelangte (Rap. 8, 47; 10, 26f. 29; 





Über das Weſen des yerjönfichen Chriſtenſtandes. 489 


6, 37; 11, 52; 17, 6; 18, 37; 3, 21; vgl. 1908. 3, 8ff.). 
Zwar find feine vermittelnden Worte und Werke jedenfalls not⸗ 
wendig, um das neue Leben ind Dafein zu rufen, und die Gottes» 
finder bringen feiner Offenbarung und urſprünglichen Lebensfülle 
kaum mehr als die lebendige Empfänglichkeit entgegen: aber man 
lann doch mit demſelben Nechte jagen, daß das Leben aus Gott 
feiner Grundlage nad in ihrem Innern nur ermedt und dann zu 
feiner Erfüllung gebracht, als daß es durch die Einwirkung Ehrifti 
dort erft erzeugt oder gepflanzt werde. In Stellen wie ob. 1, 
12 f.; 3, 6, weniger entfehieben in 1305. 2, 29; 3,2. 9, vgl. ®. 14, 
liegt jene zweite Seite auch vor, aber ohne deutliche Bermittelung mit 
der anderen. Sind Chriſtus und die Gottesfinder denmach ſchon 
vonhaufe aus mit einander weſensverwandt, indem ihnen, wen 
auch in weientlicher Verfchiedenheit der Art und des Maßes unb 
deshalb in ſpezifiſch verſchiedener Potenz, derfelbe göttliche Lebens⸗ 
grund mit ihm urſprünglich innewohnt, fo ift es eine erklärliche 
Konfequenz, daß die Anſchauung vom Chriftenftande, welcher durch 
die Bereinigung Chrifti mit den Gläubigen gebildet wird, hier 
vollends jene Höhe erreicht, wonach die Gottesfindichaft die volle 
Analogie oder dns getreue Nachbild, gewiſſermaßen die ungehemmte 
Fortfegung von dem Verhältniſſe des eingeborenen Sohnes zum 
Bater (und zum heiligen Geifte) und eben damit die Vollendung 
des religiöfen Verhäliniſſes und Verhaltens überhaupt in fich ber 
greift (Rap. 16, 26f.; 15, 7—11; 17, 21—26; vgl. 7, 38 f.; 
14, 12—21. 1%. 4, 7—16). Der Inhalt der johanneiſchen 
Ausfagen geht auch in diefer Beziehung noch hinans über bie Höhe 
ſolcher panliniſcher Stellen, wie Röm. 8, 28—30 und 1Mor. 
15, 28. 45—49, und aus dem ganzen Zufammmenhange derſelben 
ft wohl erflärlih, daß der Stand des Heils mehrfad als ein 
ınverlierbarer und in feinem Grunde unveränberlicher dargeftellt 
ft (1Joh. 3, 9; 2, 19; 5, 18f. Joh. 10, 27—29). Doc 
Heinen ob. 15, 6 und 17, 11. 15 die Gefahr des Abfalls 
oranszujegen. ‘Die dogmatifche Bearbeitung der Lehre vom Eheiiten- 
tande aber bat auch die aufgeführten fpeziellen Ausjagen der jo- 
armeifchen Lehre in fich aufzunehmen fo gut wie diejenigen der 
gnoptifchen und der pauliniſchen. Es wird fih nur fragen, ob 


Klo Bei 


biefe drei Lehrtgpen ohme eine gewiſſe Beihränfung ober auf 
Umbildung ber jedem derfelben eigentümlich ausgebildeten Momente 
fit kombinieren laffen. Bor allem aber wird unſere Aufgabe 
fein, die Fülle der fi ergänzenden Momente in einer eimbeitlicen 
Geſamtanſchauung richtig zufammenzufaffen und zur Entwidelung 
zu bringen. 


II. 


Unfere ſyſtematiſche Entwidelung ſoll in drei Abfchnitten fol- 
gende Hauptpunfte näher erörtern; 1) die nachgewieſene Thatſache 
des neuen Lebensftandes in engem Zufammenhange mit der Trage 
nad feinem Urfprunge; 2) feine inneren Hauptmomente, befonders 
Rechtfertigung und Wiedergeburt in ihrem Verhältniffe zu ein 
ander; 3) einige Folgerungen über Gewißheit, Bewahrung und 
Bedeutung des neuen Lebensftandes. 


1) Die Thatſache nud der Urſprung des nenen Lebens: 
ftandes, 


Durch das neuteftamentliche Zeugnis ift vollends evident ge 
worden, daß die fpezififche Dignität des Chriftentums als der ab- 
foluten Religion und der Religion der Erlöfung, insbefondere nod 
die fpezififche Dignität Ehriftt des Erlöfers ihre Brobe darin findet, 
daß der perfönliche Ehriftenftand ald Stand des neuen Lebens 
im abfoluten Sinne fi darſtellt und behauptet wird. “Der 
durch den Glauben vollzogene entfcheidende Eintritt in die Gemein: 
Schaft Ehrifti muß für das einzelne Subjelt den prinzipiellen Beſitz 
des Heils, der Gottesgemeinſchaft, den Anteil am Reiche Gottes 
mit feiner Gnade und feinem fpezififchen Leben unmittelbar ver- 
mitteln, er muß aber auch eine folche innere Wendung, Willens- 
rihtung und Begabung des Subjeltes in ſich fchließen, wie fie 
im Grunde dem Welen und Willen Gottes und Chrifii adäquat 
ift und ein demjelben entiprechendes zufammenhängendes Handeln 
naturgemäß aus fich hervorgehen Täßt und verbürgt. Alle dieſe 
Attribute faffen wir am fürzeften und bezeichnendften im Weſen 
der Gotteskindſchaft zufammen (vgl. Schleiermader, 


Über das Wefen des perfönlichen Chriftenftandes. ai 


Ölaubenslehre $ 109. 124, 1 und 2). Daß wir auch nad) dem 
Zeugnis der Synoptifer durch den Glauben an Ehriftum Kinder 
Gottes im vollen Umfange diefes Begriffes werden, ift oben ge- 
zeigt worden, bei Paulus und Johannes tritt uns biefe Ausfage 
ohnehin deutlich und energifch entgegen. Die Kehrfeite berjelben 
aber liegt in der Einficht, daß es für den Menſchen unmöglich ift, 
ohne den Glauben an Chriftum, außerhalb feiner Gemeinfchaft, 
alfo mit den Kräften und Mitteln des natürlichen Lebens jenen 
vollfommenen und adäquaten religiös -fittlichen LXebensftand zu er» 
reihen. Dieſe Einfiht entipringt freilih nur aus der ſpezifiſch 
Kriftlichen Erfahrung, fie kann aljo weder aus allgemeinen Prin⸗ 
zipien noch durch die Verweiſung auf die Gejchichte demjenigen 
dbemonftriert werben, welchem jene Erfahrung noch ganz fremd ift 
(1Ror. 2, 7 ff. 14). Für den Chriſten aber befteht kein Zweifel, 
daß der vorhergehende Zuftand im alten Leben der Sünde und der 
Unvolffommenheit nur durch die erlöſende That Gottes auf- 
gehoben und in den neuen der Gottesfindfchaft verwandelt werden 
fann, und diefe That muß ſich vermittelft der allgemeinen Heils⸗ 
veranftaltung auch noch befonders auf den einzelnen erftreden. 
Diefer könnte von fi) aus und unter der allgemeinen Päbdagogie 
Gottes im beften alle zu einer Vorahnung des neuen Zuftandes 
und zu einer Sehnfucht nach demfelben gelangen, felbft für das bes 
ftimmte Suchen und Erftreben der Gottestindfchaft müßten wir fehon 
befondere vorbereitende Einwirkungen Gottes vorausfegen (Schleier 
macher 8 87 und 108, 6). Zu diefer Folgerung gelangt man 
in jedem Falle, wenn man den Zuftand der außerchriftlichen Menſch⸗ 
beit mit demjenigen Maßftabe mißt, welchen uns die Ausfagen der 
Heiligen Schrift und der chriftlichen Erfahrung über den durch 
Chriftum herbeigeführten Normalzuftand an die Hand geben, wie 
man aud den Urjprung der Sünde erflären und wie weit man 
dabei auch den Zuftand der Unpolllommenbeit in Anfchlag bringen 
möge, der von der erften Schöpfung des Menfchen nicht hinweg⸗ 
zudenken ift. 

Die fortfchreitende Erforfhung heidnifcher Religion und Sitt⸗ 
ichleit wie auch der israelitifchen Vorſtufe, mag diejelbe noch fo 
ınbefangen den Spuren des Lichtes darin nachgehen, dient nur 


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durch die Einwirkung des chriſtlichen Geiſtes von Chriſtus her ale 
Borbereitung oder doch als Analogie des neuen Lebens im ihnen 
gewedt werden if. Zum DBeweife für ımfere Behauptung er⸗ 
ismert man neuerdings beſonders gerne daran, daß der Menſch 
ohme Chriftus das wahre, höchſte Gut nicht kenne und erftrebe, 
nämlich das überfinufide Gut des ewigen Lebens, daß er ferne 
die Erhabenheit über bie Welt und ihren Lauf, wie fie zum Wein 
der geiftigen Perſonlichteit gehöre, nicht befige und daß es ihm 
ganz ferne liege, das Reich Gottes als ein Reid allgemeiner 
Menfcenliebe zu kennen und zu wollen. Dies it unzweifelhaft 
richtig, namentlich wenn die genannten Attribiste des Chriftenftand«s 
in jenem vollen Sinne aufgefaßt werben, welder ifnen urfpräng 
fi im Neuen Teftamente zulemmt. Doch wird man den tiefiten 
Gegenfatz zwiſchen dem natürlichen und dem chriftlichen Lebens 
ftande immer darin finden müflen, baß der natürliche Menſch ſich 
felber Lebt und der Welt, und daß er unter dem Bunme ver 
Schuld fi) befindet und durch beides von Gott geſchieden ift, 
während der Ehrift, durch Ehriftum aufgenommen in Be Onaden⸗ 
gemeinfchaft Gottes, auch für ihn im feinem Weide Lebt und 
nach der Bollmdung der Gottesgemeinfchaft in demfelben trachtet 
(2Ror. 5, 15. Sal. 2, 20). 

Die neuere Philoſophie feit Kant hat, offenbar Hierzu 
angeregt dur daB proteftantifde Ehriitentum, von ihrem Stand» 
punkte aus das Problem einer radikalen Ernenerung Des natür⸗ 
Tichen Menſchen auch ernftlich ins Auge gefaßt. Kant ift ber 
Anficht, dag der menſchliche Wille nicht wahrhaft gut und frei 
werden könne, außer auf dem Wege einer „moraliichen Rewelutten”, 
er hoffte diefelbe, wie es fcheint, von der Einkehr des Wewfdher 
in feinen intelligißeln Charalter, d. 5. in fein geiftiges Grund⸗ 
weien, welches ihm zunädft als Unlage mitgegeben it, und durch 
die ernftliche Aufnahme des Ideales der gottwoßfgefälligen Menſch⸗ 


Über das Wefen des pesfönlichen Chriftenftandes. iR 


beit ins Innere der Perjönlichleit. Aber ſchon Fichte, noch voll» 
ftändiger Schelling und Hegel Haben erlanıt, daß nur ber 
Saft Gottes jelber in feiner intenfioften Gelbftoffenbarung im 
Subjekte jene Wiedergeburt bewirken, der Geiſtigkeit md Freiheit 
des Subjeltes zum Dafein verhelfen könne. Nur die zentrate 
Einigung des menfhlichen Geiftes mit dem abfolut 
Guten, d. 5. mit Gott, und zwar mit dem perfönlichen Gott, 
fann zur prinzipiellen Begründung des Guten im Menfchen führen, 
die Initiative aber zu diefer Einigung muß don Gott aus» 
gehen, und fie muß ſich zunädft in einer menfchlichen Berfon 
bon volllommener Empfänglichleit in urbildlicher und zentraler 
Weile vollziehen. Das Streben des natürlichen Menfchen nad 
dem Guten entfpringt aus einer dunkeln und beſchränkten Erfaffung 
der Idee desfelben und kann niemals zur Realiſierung desſelben 
führen. In Chriftus ift das Ideal der gottwohlgefälfigen Menſch⸗ 
beit wirklich geworden und zwar durch die befondere Schöpfung 
Gottes und in urfprünglicher und volllommener Vereinigung mit 
denfelben, deshalb kann unter feiner Fchöpferifhen Einwirkung jene 
moralifhe Revolution bewirkt und überhaupt der Menſch vom 
alten in den neuen Lebensſtand hinübergeführt werden. Die Phi⸗ 
lofophie mag es überdies bei ihren Verſuchen unentjchieden Laffen, 
ob die Wiedergeburt als einmaliges Faltum im Leben des Men- 
ſchen fich vollziehe oder ob fie doch nur einen kontinuierlichen Prozeß 
darjtelfe, für den Chriften wird fie durch den Anſchluß an den 
biftorifchen Erlöfer zum empirischen Saltum und eben dadurch zur 
wahrhaften Wirklichkeit. Daß aber das neue Beben aud bei den 
Gläubigen nicht in feiner Reinheit und Vollkraft wirkfam wird, 
muß für diefelben vielfach ein Anlaß zum Vorwurfe fein, beweift 
jedoch nichts gegen feine ausſchließliche Abftammung von Chrifte 
ber umd gegen jeine ſpezifiſche Dignität, weil der neue Menfch and 
in den Gläubigen erft zu wachſen und überdies die noch vorhandenen 
Nachwirkungen und Reſte des alten Menſchen und bie aus der 
Belt ftammenden Verſuchungen fortwährend zu überwinden bat, 
weil der Gläubige von Ehriftus zwar angeeignet, aber noch nicht 
vollfommen durchdrungen und erneuert ift. Aber in der. Ent» 
jhiedenheit, womit der Wille jett, im einzelnen mehr oder weniger 





wonuen haben, wie es von Chrifte aus gerade im den 
einzelnen zuftande fommt. Bir berüßren bier die ſchwierigen 
Fragen liber das Verhältnis von Gnade und Freiheit, über deu 
Vorgang der Belchrung und Wiedergeburt. Dan darf ſich nidıt 
begnugen, zu fagen, in der Erfcheinung und dem Lebenswerke Ehrifti, 
feruer in dem Dafein, Bewußtſein umd Leben, insbefondere in dem 
Zeugniffe der hriftlihen Kirche feien die hinreichenden allgemeinen 
Vorausfegungen für das AZuftandelommen des Glaubens in ben 
einzelnen gegeben, die innere Bildung desfelben im Subjelte aber 
fei nicht weiter zu erforfchen, weil fie nach ganz individuellen Be⸗ 
dingungen erfolge. Zwar ift in jenen „allgemeinen Borausfeßungen”, 
wie fie eben genannt worden find, fobald fie ernftlich als ſpezifiſche 
Bnabenveranftaltung Gottes in Chrifto gedacht werden, auch fchon 
ein Boden für göttlihde Gnadenwirkung gelegt, und der Glaube, 
welcher auf biefem Boden fich bildet und mur auf demfelben ſich 
bilden ann, ift nicht reines Eigenwerf des Menſchen. Man würde 
alfo jene Anſchauung mißlennen, wenn man fie ſchlechtweg des 
Pelagianismus befchuldigen wollte Dennoch fegt diefelbe ein Zu- 
wenig göttlicher Gnadenwirkung, jo daß auch der zu poftulierende 
neue Lebenoſtand nicht hinreichend erklärt oder begründet ijt, und 
ed können fich hieraus bedenkliche Konfequenzen für das Selbſt⸗ 
bewußtfein und Verhalten des Chriften ergeben ?). Freilich muſſen 
wir, wie ja fchon Luther fo nachdrücklich hervorgehoben Bat, uns 
die göttliche Einwirkung ſtets vermittelte denfen durch des Mittel⸗ 
glied der hriftlihen Gemeinde und insbeſendere darch die 
Berlündigung des göttlichen Wortes im berielben. Die Gemeinde 

Y) Re auch Iufns Heer, Über den Mhgientbegrii Ti tſchus 
Zürich 1584, 





Über das Weſen des perfönlichen Chriftenftandes. 475 


Ehrifti ift zumächft dazu beftimmt und ausgerüftet, um den That⸗ 
beftand und die That feines Lebens, aljo das Himmelreich mit 
feinen Gütern nnd Kräften, in der Menſchheit zu erhalten und 
fortzupflanzgen; fie befteht und wirft auf Erden von Chriſto ber als 
da8 Volk des Neuen Bundes und als die neue geiftlihe Mienfchheit, 
in ihrer Mitte befindet fich das Neich der Gnade (Röm. 5, 21). 
Wir können eben deshalb eine direkte Präfenz und Einwirkung 
des erhöheten Ehriftus wenigſtens dogmatifch nicht behaupten und 
verwerten: aber im heiligen Geifte als der eigentümlichen Form 
der Gegenwart und Wirkfamfeit, in welcher das fpezififche Sein 
Gottes in Ehrifto feit deffen Hingang zum Vater innerhalb der Ge⸗ 
meinde fich fortjegt, wirft Gott und mittelbar Chriftus nun auch) 
in da8 Innere deſſen Hinein, welchen er belehren will. Speziell 
wird das Evangelium von Chrifto zum Mittel der ſchöpfe⸗ 
rifchen Einwirkung Gottes in Chrifto auf das Herz des Men⸗ 
ſchen, und es ift richtig, zu jagen, daß der Menſch demfelben zu- 
nächſt nichts emtgegenbringen könne als die reine Empfäng— 
lichkeit, innerhalb deren von Gott in ihm jene Selbftthätigkeit 
geweckt oder erzeugt werde (gratia operans), deren Vereinigung 
mit der Empfänglichleit zu dem entfcheidenden Alte des Ergreifens 
Chriftt im Glauben oder zu ber Belehrung führt. Jene Em- 
pfänglichkeit, welche fich durch die göttliche Gnade zur zuftimmenden 
und aneignenden Selbitthätigleit erweden und umbilden läßt, ift 
freifih mehr als capacitas mere passiva, fie ift ja fchon ein 
ethifch » geiftiges Verhalten, und manifeftiert fi als folches ſchon 
im willigen oder gar begierigen Anhören des göttlichen Wortes, 
zum Annehmen desfelben aber erhebt fie fi nicht von felbit, fie 
wird dazu erhoben durch die fchöpferifche Gnade (vgl. auch Lut⸗ 
Hardt, Kompendium der Dogmatit, :$ 61). Xreffend bemerkt 
Schleiermadher: „Jedes Gejteigertwerben jener lebendigen 
Empfänglickeit ift ein Werk der vorbereitenden göttlichen 
Gnade, durch die zur Belehrung wirkſame Gnade aber wird fie 
in belebte Setlbftthätigfeit verwandelt. Derfolgen wir 
aber jenes Element von diefem Punkt, wo es fchon durch die vor- 
bereitenden Gnadenwirkungen gefteigert erfcheint, weiter rückwärts 
und fragen, worin denn in ben erften Anfängen die Lebendigkeit 
Theol. Etub. Jahrg. 1886. 31 


416 Bei 


beftanden habe, wodurd fie fi von ber Paſſivität unterjchieden: 
jo ijt wohl nur hinzuweiſen auf das, wenn auch noch jo jehr an bie 
Grenze des Bewußtſeins zurückgedrängte, doch nie gänzlich er- 
loſchene Berlangen nad der Gemeinfhaft mit Gott, welches 
mit zur nefprünglichen Vollkommenheit der menjchlihen Ratur ge- 
hört“ („Slanbenslehre* 8 108, 6; vgl. $ 14; 88, 4; 91). Über: 
baupt iſt die ganze Darftellung, in welder Schleiermacher das 
ihwierige Problem der Belehrung und Wiedergeburt bebanbelt 
($ 107 und 108, vgl. $ 100. 101. 124) noch heute klaſſiſch zu 
nennen. 

Nur feiner Behauptung können wir nicht beiftimmen, daß jo: 
gar im Gebiete der Erlöjung ein vereinzeltes Wirken Gottes in 
Raum und Zeit ſich nicht denken laſſe (S 97, 2; 109, 3; 122, 3). 
Denn wenn aud gerade das erlöfende Wirken Gottes innerhalb 
eines großen und geordneten Zufammenhanges ftattfindet, welchen 
wir in feinem weiteften Rahmen durch den Umfang des göttlichen 
Heilsratjchlufjes und Weltplanes bezeichnen, jo muß doch Gott eben 
in diefem Zufammenhange aud wieder perſönlich an den einzelnen 
handeln. Falls im Siune des chriftlihen Theismus mit der Ber: 
fünlichkeit Gottes voller Ernft gemadt wird, dann wird Gott ge- 
rade bei der enticheidenden Gnadenwirkung der Belehrung , Recht⸗ 
fertigung und Wiedergeburt auch als perſönlich beteiligt zu denken 
fein, damit die Annahme und die Erneuerung zum Kinde Gottet 
an den einzelnen wirklich als fein Werk fich vollziehe. A. Schwei- 
zer, welcher Gott auf der Stufe des Naturzufommenhanges und 
des Gefeges nur mittelbar auf die einzelnen wirken läßt, fcheint, 
wenn wir ihn vecht verftehen, doch gerade darin aud das Aus 
zeichnende der Wirkſamkeit Gottes im Gebiete der Erlöfung zu 
finden, daß Hier diefelbe zu einer unmittelbar perjünlicden fich ge 
ftaltet ). Gerade in der Gottesfindfchaft ſoll der Ehrift zur um 
mittelbaren Gemeinfchaft mit Gott feinem Vater erhoben fein, da⸗ 
durch gewinnt er jenen unendlichen Wert und das ewige Leben. 
Wenn fogar die Belehrung, Rechtfertigung und Wiedergeburt nur 


1) „Glaubenslehre“ 8 100 ff. 108. 157 ff. 184. — Bol. Harleg, Ethil 
8 21. 











Über das Wefen des perfönlichen Chriftenftandes. 477 


als indirelte Wirkungen Gottes an den einzelnen aufgefaßt werden, 
dann ift große Gefahr vorhanden, daß das eigentlich Reale an 
diefen Alten einfeitig in das menfchliche Bewußtſein und in die 
menschliche Selbfithätigleit Hereinfalle, wodurd) der einzelne auf dem 
Grunde der chriſtlichen Hellsanftalt fi die Gnade Gottes zueignet 
ober zufpricht, und daß dieſelben fomit ihre objektive Wirklichkeit 
und ihre Bedeutung als göttliche Thaten verlieren. Diejer Cha⸗ 
ratter kann ihnen bei ſolcher Auffaffung mur durch den Prädeſti⸗ 
natianismus gefichert werden, wie wir allerdings an dem refor« 
mierten Lehrſyſteme ſehen. 

Schleiermacher freilich hat die entſchiedene Tendenz, auch 
jenes indirekte Wirken Gottes auf dem Gebiete der Erlöſung doch 
als ein objeltives und reales zu ſaſſen, nur fein abftralter Gottes⸗ 
begriff hält ihn ab, dies gehörig zur Durchführung zu bringen. 
Deshalb bemerkt er ſchon hinſichtlich der Perſon Chriſti, daß 
„Chrifto ein ſchlechthin kräftiges Gottesbewußtſe in zuſchreiben 
und ihm ein Sein Gottes in ibm beilegen ganz eines und das⸗ 
jelbe ift. Der Ausdrud Sein Gottes in einem anderen Tann 
immer nur das Verhältnis der Allgegenwart Gottes zu dieſem 
andern ausdrüden“ ($ 94, 2 und 109, 3; 116, 3; vgl. 
$ 52 und 53). Das aber ift fein großes und bleibenbes Ver⸗ 
dienft, daß er einerfeitS das vollfommene Sein und erlöfende 
Wirken Gottes in Chrifto umd weiterhin in dem heiligen Geifte 
„als der Bereinigung des göttlihen Wefens mit der 
menſchlichen Natur in der Form des das Gefamtleben ber 
Gläubigen befeelenden Gemeingeiftes" (S 123, vgl. 100 und 101) 
entfchieden lehrt und dabei doch die erlöfende Wirkſamkeit Gottes 
von Chriſto aus ohne falfche Transcendenz in dem Bette feines 
biftorifchen Fortwirkens innerhalb der chriftlichen Kirche namentlich 
mittelft des Wortes Chrifti ſich vollziehen läßt !). Wie in feiner 
Chriftologie, fo finden fi namentlich auch in feiner Lehre vom 
heiligen Geifte überaus wichtige, neue Momente („Glaubenslehre“ 
$ 110, 3; 115 und 116. 121—124), wie fie am meiften von 


2) Bol. auch Gaß, Art. Schleiermacher in Herzogs Renlenchllop. 2. Aufl. 
8b. XIU, ©. 567. 
51 * 


478 Beiß 


Rothe bewahrt und eigentümlich weitergebildet werben find. Er 
bezeichmet deufelben zwar öfter6 Turzweg als den dyriftlichen Gemein: 
geift, aber feiner Subftanz nad), oder, wenn biefes Wert zu rea⸗ 
liftiſch lauten jollte, feiner Grundlage und jeinem Weſen nad, iſt 
er die „Bereinigung des göttlichen Weſens mit der menſchlichen 
Natur" (8 123), alfe die genaue Fortſetzung der Erſcheinung 
Eprifti, ja er ift dieſes ſo jehr, daß dieſe Auffafjung eher ber 
fabellianifchen nahelommt, als dag fi für Schleiermadher der hei⸗ 
fige Geift nur in eine eigentümliche Form fubjektiven menſchlichen 
Bewußtfeins verwandeln würde. Bon berfelben Anfchauung ift 
die „hriftliche Sitte“ ganz durchdrungen (vgl. nur S. 311 ff. 518). 
Dazu kommt dann nod) der ganz zutreffende Gedanke, daß ein 
Einwohnung des Heiligen Geiftes, im Unterfchiede von bloße 
Einwirkung desjelben, im Subjefte nur zuftande kommt, wen 
die Empfänglicgkeit für Chriſtum in die felbitthätige und zu: 
fammenhbängende Nachbildung desfelben übergeht, und and) de 
gegen wird nichts einzumenden fein, daß diefes jedenfalls in feinem 
Beginne nicht ohne ein gemeinfames Thun, ohne ein Aufein 
auderwirken und Miteinanderwirken der Jünger Jeſu fich vollziehe. 
Denn der heilige Geift, wie er in den Gläubigen als der Geiſt 
der Kindſchaft und als das fpezififche Leben der chriftlichen Gr 
meinde vorhanden ift, bat eben das Doppelte an fi, dag er 
einerfeits ein fpezififches Sein und Wirken Gottes, wie es burg 
Ehriftum vermittelt ift, darftellt, anderſeits aber doch auch ein 
Brodutt menſchlicher Selbftthätigleit bildet, welches von der 
felben auf dem Grunde jenes fpezififchen göttlichen Einwirkens und 
Eingehen in die menfchliche Perfon und in Gemeinfchaft mit dem. 
felben erzeugt wird. Wie fchon bemerkt, bat unter den Neueren 
nur Rothe biefes eigentümliche Wefen des heiligen Geiftes noch 
deutlicher entwidelt, obwohl auch andere, wie A. Schweizer in 
derfelben Richtung ſich bewegen, die Ausführungen Schleiermadhers 
und Rothes bieten aber aud allein einen wirklichen Schlüffel zum 
Verjtändnis der paulinifchen und aud der johanneifchen Ausfagen 
über den heiligen Geift. 

Es ift jedenfalls eine faljche Entgegenfegung, wenn man bie 
pſychologiſche Wirkung des göttlichen Wortes, welche ja doch zu 





Über das Weſen des yerfönfichen Chriftenflanbes. 479 


gleich feine religiös »ethifche ift, als bloß natürliche von einer erft 
durch den heiligen Geift Hinzugefügten übernatürlichen Wirkung 
ſchlechthin unterfcheiden will. Und doch kann die heilsfräftige Wire 
fung bes Evangeliums erft erklärt werden durch die VBorausfekung, 
daß die Einwirkung des heiligen Geiftes mit dem natürlichen Ein» 
druck derfelben fih verbunden habe (vgl. Matth. 16, 17. Joh. 
6, 44f.; 8, 47. Apg. 16, 14. 1Ror. 2, 5. 2 Kor. 4, 65 vgl. 
mit 3, 6 und 1Theſſ. 2, 13); wir müſſen dabei fowohl an bie 
unter göttlicher Leitung und Einwirkung befonders ermwedte Em⸗ 
pfänglichkeit denken, ohne welche das Evangelium in keinem Herzen 
wirffam werden kann, al8 an die mehr oder weniger unmittelbaren 
Anregungen aus dem Gemeinfchaftsleben, welche dazu beitragen, 
um das Evangelium kräftig werden zu laſſen, in beiden erweiſt fich 
die hinzutretende Wirkſamkeit des heiligen Geiftes (vgl. Schleier. 
mader 8 124; 108, 5 und 6). So wird auch einigermaßen 
verftändlih, warum einzelne auch abgefehen von verfchuldetem 
Widerftreben, fi wenigftens für die befehrende Kraft des göttlichen 
Wortes noch nicht empfänglich zeigen, ihre Empfänglichkeit ift durch 
die befchriebene Wirkſamkeit des Heiligen Geiftes noch nicht hin⸗ 
reichend ausgebildet. 

Schon die allgemeine Kenntnis, Erfahrung und Gewißheit 
(notitia et assensus) davon, daß in Chriſto jenes neue Leben 
für die Menjchheit vorhanden und zugänglich fe, übt eine erleuch⸗ 
tende, anziehende und befreiende Macht über den zuvor in Dunkel, 
Furcht und Verkehrtheit gefangenen Geift aus. Wenn aber das 
Herz es wagt, auf dem Grunde des Evangeliums die Gnade 
Gottes in Chriſto al8 fein Heil und Höchftes Gut perfönlich in 
feſter Zuverficht fich zuzueignen (fiducia specialis), dann gewinnt 
e8 eben fein neues Leben. Aber gerade diefes perfünliche Wagnis 
ſetzt nicht bloß die allgemeine Einladung Gottes voraus, das Herz 
muß dazu von Gott getrieben fein durch feinen heiligen Geiſt. So 
entfteht der feligmachende Glaube (fides salvifica) durch die 
heilsträftige Wirkung des Evangeliums und des heiligen Geiftes, 
und denfelben Alt müfjen wir auch die Belehrung nennen. Bei 
dem letzteren Alte denken wir nun vorwiegend an die prinzipielle 
Abwendung von dem alten fündigen Zuftande und Verhalten jamt 


450 Bei 


der gründlichen Verurteilung bderfelben in ber Buße, ber erſtete 
drüct hauptſächlich die entfcheidende Hinwendung zu der entgegen: 
fommenden und nenfchaffenden Gnade Chriſti ans, wodurch das 
Subjekt fi von ihm aufnehmen läßt, aber auch ihn aufnimmt in 
vollem Vertrauen uud reiner Hingabe. Mit Recht haben die Re 
formatoren und die alten edangelifchen Dogmatifer allen Nachdrud 
darauf gelegt, daß der Glaube von der Buße nicht getrennt werden 
dürfe und dag die Belehrung und die Wiedergeburt ummittelbar 
damit verbunden fein. Die Intberiihen DBelenntnisfchriften und 
Dogmatiter find nur buch ihre Auffafjung der Kindertaufe teil, 
weife gehindert worden, dies ganz deutlich und Tonfequent zu ent 
wideln. 

Wenn Calvin (Inst. III, 3) !) die poenitentia immer zugleich 
ſchon aus der fides hervorgehen Täßt, nicht ausfchließlich aus bem 
timor Dei (3, 7 und 15) und die Fortfegung der poenitentia in 
der mortificatio und vivificatio durch das ganze Leben hindurch be 
tont, jo bängt dies einerjeits mit feiner Erlöfungslchre und ber 
von ihm vorausgeſetzten unio cum Deo et Christo fowie mit 
feiner Polemik gegen den ſchwärmeriſchen Anabaptismus (2. II, 
2, 11; 3, 2 und 14) zufanımen, anderſeits find darin Gefſichts⸗ 
puntte vertreten, welche auch in ber Intherifchen Lehre entweder 
ſchou enthalten find ober fich doch darein leicht einfügen laſſen. 
Ehe der entjcheidende Glaubensakt eintritt, ift ja vollends bei dem 
Getanften und in ber hriftlihen Kirche Erzogenen auch fchon ber 
aufleimende Slanbe wirkſam, und niemals kann und foll überhaupt 
im Neuen Bunde bie bloße Geſetzespredigt ohne die Gnadenverfän- 
digung zur Erwedung der Buße angewendet werden, alfo geht freilich 
die entfcheidende Buße, wie fie bei der Belehrung in Verbindung mit 
dem entjcheidenden Glaubensakt zu ihrer vollen Wirkſamkeit gelangt, 
felber fehon aus einem gewiften Glauben an da® Heil in Chriſto 
hervor. Aber damit ift die Wahrheit und Forderung nicht befeitigt, 
daß jener feligmachende Glaube eben doch aud aus der Buße 
wiederum hervorgehe und das durch fie vertretene Moment in ber 





3) Bgl. Lobſtein, Ethik Calbine, Kap. V. 


Über das Wefen des perfünlichen Chriſtenſtandes. 481 


Belehrung zur vollen Geltung bringe !). Und fo kennt auch Calvin 
eine grundlegende poenitentia, aus welcher die fructus derſelben 
hervorgehen (III, Kap. 3, 2—11), wenn er auch nicht einen dies ober 
gar unum momentum derſelben gelten laſſen will, unb er redet 
öfter von ber participatio Christi und von der regeneratio ale 
von einer Thatfache, welche ein- für allemal vollzogen ift und 
weiche die Vorausfegung der Heiligung bildet (III, Kap. 3, 6. 
9. 10f. 18. 21; vgl. Kap. 1, 1—4 und Rap. 11, 10). Die 
Spnoptifer und Paulus verbinden ohnehin die grundlegende Sinness 
änderung und Belehrung aufs engfte mit dem entjcheidenden Glau⸗ 
bensafte, und wenn dies bei Johannes auffallend zurücktritt, fo 
wird doch niemand aus dieſer eigentümlichen Lehrdarftellung heraus 
eine weſentliche Abweichung in der genannten Richtung begründen 
wollen. 

Die hiernach weſentlich durch die anziehende und fehöpferifche 
Einwirkung Gottes bewirkte Ummendung des Subjektes im Inner⸗ 
ften von fich felbft und damit von Sünde und Welt zu Gott in 
Chrifto ift zugleich deſſen innerſte That, der höchſte und ent- 
fcheidende, der fchlechthin neue Befreiungs⸗ und Freiheitsaft, wo⸗ 
durch feine religiös⸗ſittliche Grundftellung und Grundrichtung prins 
zipiell verändert und eben die nene Perfönlichkeit gefchaffen ift 
(Joh. 6, 28f. Röm. 4, 20). Und da jegt das Subjekt in feiner 
vollen Hinwendung zu der göttlichen Gnade, in feiner lauteren An⸗ 
eiguung ber göttlichen Vaterliebe und zugleich im gänzlichen Ber- 
ziht auf bie entgegenftehende Egoität auch für die Einwirkung und 
Gemeinschaft Gottes gründlich und gänzlich geöffnet ift, fo bildet 
fih unter der Einkehr Gottes in demſelben (Röm. 5, 5; vgl. 
1%0h. 4, 16) die wahrhafte Kebensvereinigung mit Gott 
in Chrifto (unio mystica) und die davon umnzertrennlihe Ein» 
wohnung des heiligen Geiftes in unmittelbarer Folge jener 
Hinwendung und Hingabe. Dadurch erweitert ſich die entjcheidende 
That des Subjeltes und der darin geſetzte religiös-fittliche Zuftand 
derjelben vollends entfchteden zu einem neuen Leben und Sein 


1) Bol. Bed, Ehriftliche Ethik I, 232. 241 ff. Harleß, Ethik, 5 18, 
©. 184 f. 


ans Gstt und in Gott, umb mit Yezichung Kieranf ik dieſt 
Bollendung des Prezeſſes der Befchrung, welche jedech zeitlich 
faum von dDiefer zu umterjcheiden ift, die Wiedergeburt zu 
nennen "); denn es ift wahrhaftig mum eim memes Geiſtesleben, bei 
mau cin gottmenfchlidkes nennen darf, eine Fortſetzung des Lebent 
Eprifti in relativem Maße, im Grunde der Berfönluhleit geſchaffen 
worden. Schen bei Luther (Comm. ad Gal.) findet ſich die 
merfwürbige Außerung: fides consummat divinitatem et, ut 
ita dicam, creatrix est divinitatis non in substantia Dei sei 
in nobis. Aber wenn er hundertfach hervorhebt, daß wir dur 
den Glanben, welcher Gottes oder des heiligen Geiftes Werk in mt 
fei, wahrhaft wiebergeboren werben, fo ift je ſchon hierin basienig 
im Grund gegeben, was vorhin ven und nur in feine einzeln 
Momente zeriegt worden if. Und follte vielleicht Luther feine in 
der Schrift „De servo arbitrio““ mit der geiwaltigften Plerophorie 
bis ins Außerfle Extrem geltend gemachte Anfchauung je fo voll 
ftändig verlafien Haben, dag er bei feiner Auffaffung des recht⸗ 
fertigenden Glaubens Gottes ſchöpferiſche Wirkſamkeit und dauernde 
Einwohnung im Subjekte ganz hintangeſetzt Hätte! Ein oh. 
Gerhard 3. B. in feinem gewiß korrekten Locus XVII: „De 
justificatione per fidem‘‘ wird nicht müde, zu lehren, daß bie 
regeneratio oder renovatio hominis interior und die unio cum 
Deo et cum Christo und die donatio spiritus sancti unmittel- 
bar mit der fides und der justificatio verbumden feien, da ja aud 
fhon die fides nur als opus Dei spiritus sancti in nobis zw 
ftande komme (vgl. $ 128. 184—186. 205—211. 226 al). | 
Daß nur dieſe Lehre mit Paulus und Johannes übereinftimmt 
bedarf Teines Beweiſes, ihr Zufammenhang mit den Synoptikern ift, 
wie ſchon oben angedeutet wurde, mehr ein indirekter, und diefe follen 
uns vor einfeitiger Ausbildung der bei Paulus und Yohannes 


1) Bgl. J. T. Bed, Ehriftliche Ethik IL, S. 242 ff. Schon Hollaz, dem 
A Schweizer, Wuttle u. a. faflen die Wiedergeburt als die Vollendung, 
das Reſultat der Belehrung. Auch für Calvin mie für Luther iſt dieſelbe 
nur in der Bereinigung fämtlicher genannten Momente vorhanden (Inst. 
UI, 1-8. 11). 


Über das Weſen bes perſönlichen Chriſtenſtandes. 488 


vertretenen Seiten ber Abhängigkeit von der fchöpferifhen Wirk⸗ 
famkeit Gottes und der Rebensgemeinfchaft mit ihm bewahren. 


2) Die hanptiächliden Momente des neuen Lebens in 
ihrem inneren Berhältniife zu einander. 


Aber freilich ein perſönliches Geiſtesleben ift in der 
Wiedergeburt gefchaffen worden durch Gott im Menfchen und doch 
zugleich durch die höchfte ethifche That des letzteren, und jo ift das 
Geſchaffene nicht eine Art von hyperphyſiſcher Subftanz, nicht 
ein naturartiger Reim oder Potenz aus Gott, was weder mit dem 
perfönlich-geiftigen Wejen ‚Gottes noch mit demjenigen bes Men» 
ihen ale des göttlichen Ebenbildes vereinbar wäre. Es wird daher 
in biefer Richtung mindeftens zu einer irrigen Auffaffung Anlaß 
gegeben, wenn geradezu gejagt wird (Bed a. a. O. I, 254f.), 
es fei das nene Leben bes Wiedergeborenen „eine aus Gottes Geift 
mitgeteilte felbftändige Lebensſubſtanz und Kraft, bie fich eben 
als Geift mit der geiftigen Innenſeite der Seele organiſch zu⸗ 
jammenfchließt, wie der Leib zufammengefchloffen ift mit der finnen- 
haften Außenfeite dev Seele". Das neue Leben befteht aljo auch 
nur als kontinnierliher Wille und That der Perfönlichkeit, als 
Richtung und Verhalten des Geiftes, aber als ein folches, welches 
kräftig und beharrlich ift, weil es einen neuen, in Gott felber ge⸗ 
gründeten, aus Gott geborenen Anfang darftelit, weil e8 immerhin 
zugleih ein Sein ober eine Kraft in fich begreift (Joh. 3, 6. 
Röm. 8, 9ff.). Durch diefen Prozeß und diefe That Hat der 
Menfch die neue, ja überhaupt erft die volle Perfünlichkeit erlangt, 
wie er fie nur durch die prinzipielle Einigung mit Gott, feinem 
Vater, feinem geiftigen Lebensgrunde (Apg. 17, 28, vgl. das Ex 
zov Ysod sivar bei Joh. 8, 47 u. f. w.) erlangen und nur in 
berfelben behaupten kann. Dies tft das tiefite Weſen der Kind⸗ 
fhaft Sottes. Man kann diefelbe auch einen höheren neuen Cha⸗ 
rafter nennen, und zwar ben intelligibeln Charakter nad) 
einer befannten Bezeihnung Kants, fofern er auch durch eine in⸗ 
telligible That begründet worden ift. Denn die Belehrung ift nicht 
ein ſchlecht empirifcher, einzelner Alt der Seele und ihr Probuft ift 
nit eine empirische Beſtimmtheit derfelben im gewöhnlichen Sinne, 


wie fie fort tur cmm ciupinre Eerfemelt, am einen folkı 
zu geögerer Exerge, in ir geirgt wird. Wenn dieſelbe auf in 
ker 3:1 RS sc_:sgex Get, ie feche fie doch als inmerfter un 
jexrtraler Geittesaft, welter die gejeme Richtung und hl: 
tung des perii:chen Gem̃etlebens im Yemerfien verändert, ll 
„mereliihe Revointisn zu rabileler Umfche in der Ordnung der 


Triebfedern uud Darimen”, welche alſo eine total neue Neihe vn 
pfychologiſchen Allen begründet und fertan beherrichend durchführt, 
hinter und über dem empiridhen pinchologiichen Setriebe, welches 


weſentlich durch den im dem empiriichen Charakter angelegten Far 
falnerus beherrſcht ift. Auch ift jene Beränderung zwar teifweik 
durch das empirische Seelenleben vermittelt worden, aber fie ver 
danft ihren wirfliden Urfprung dem „intelligibeln“ Geifteswein 
des Menſchen und dem Eimvirkten bes überfinnfichen Gottesgeiftet 
anf dasfelbe, fie ift eine von oben her gewirfte neue, vollendete 
Schöpfung des Geiſtes oder im Geifte des Menſchen, durch melde 


die Anlage des gottebenbifdfichen Menfchen zur Gotteskindſchaft et 


zur Altualität erhoben und zu jenem überfinnlichen Treiheitsakte be⸗ 
fähigt worden ift, fie behält auch ihren überweltlicen 
Hintergrund und Stügpunkt (ihr dos nos zo ce) 
an der neuen Gottesgemeinfhaft in Chriſto und bilde 
die Quelle eines ganz neuen Geifteslebens, welches nun kontinuier⸗ 
li beherrſchend, freilich auch noch kämpfend, hereingreift in das 
natürliche Perfonleben und dadurch den empirifchen Charakter ded 
Menfchen fortfchreitend verändert. 

Gerade auch den letzteren Punkt, nämlich daß das neue Geiftes⸗ 
(eben trog aller Immanenz desfelben in der neuen Perſönlichkeit 
während ihrer irdifhen Entwidelung immer auch relativ trand 
cenbent bleibt, weil es ganz an feinem transcendenten Grunde hängt, 
hat wiederum Schleiermacher wohl ins Auge gefaßt, nur un 
derjenigen Modifikation, welche ihm durch feine Geſamtanſchauung 
an die Hand gegeben war. Nach ihm befteht die relative Tran 
cendenz an dem Leben bes Wiedergeborenen darin, daß weſentlich 
der Gemeingeift, d. 5. ja freilich für ihm der Heilige Geiſt, 
welcher nie völlig in die Verfünlichkeit eingeht, ber Grund feine 
neuen Lebens ift und bleibt (5 123, 3). In ühnlider Richterz 





Über das Weſen des perfönfichen Chriſtenſtandes. 485 


bewegen fich die treffenden Bemerkungen von Harleg (Ethik T. A. 
S. 220 und 237): „Was da (in der Wiedergeburt) geworden iſt, 
ift nicht ein bloß neu geworbenes Geiftesleben des Menfchen, ſon⸗ 
bern eine Geiftesgemeinfchaft des Tebendigen und bleibenden 
Öottes mit une... . Was primitiv in der Wiedergeburt eins 
tritt, ift eme neue wirkſame Relation Gottes zu dem 
Menfhen. Auf folden Relationen des Nealgrundes unferes 
Dafeins ruht aber überhaupt alles rein und wahrhaft geiftige dem 
Menfchen fpezififch eignende fogenannte Vermögen. Gerade aud) 
die Freiheit ruht ausfchließlih In der Wechfelbeziehung zwiſchen 
Gott und dem Menſchen, nicht in der Kreatur als ſolcher, losge⸗ 
(öft und Tebiglich gedacht von dieſer faktifchen Beziehung.“ Go 
verhält es jich in der That; aber eine verbreitete Richtung in ber 
heutiger Theologie verwirft folche einfache Srundwahrheiten ale 
Myſticismus, faſt als könnte es Religion und Ehriftentum geben 
ohne eine Lebendige Wechfelbeziehung zwiſchen Gott und bem 
Menfchen. Freilich) darf auch nicht die im unbewußten Grunde ber 
Seele wirkſame Relation Gottes in Ehrifto zu dem Menſchen fchon 
als die Wiedergeburt unmittelbar begründend angefehen werben, wie 
Zhomafins, Harleß u. a. zugunften der Kindertaufe annehmen; zu⸗ 
nächft liegt im jener Relation an ſich nur die Vorausfegung und 
Borbereitung der Wiedergeburt, aber fie kommt in der Wieber- 
geburt zur vollendeten Wirkſamkeit und felber zu prinzipieller Voll⸗ 
endung. Aber noch weniger ift e8 fo gemeint mit jener relativen 
Zranscendenz des neuen Lebens, als ob einer ſchon darum bes» 
ſelben teilhaftig wäre, weil er äußerlich der CEhriftengemeinde an- 
gehört und auch innerlich eine gemwiffe Übereinftimmung mit ihrem 
Glauben hegt, während er doch niemal8 Chriftum perſönlich 
in entfcheidender That der Belehrung und des Glaubens ergriffen 
hat. Die Relation der Gemeinde zu und, auch wenn fie eine 
:inigermaßen innerliche ift, ift noch fein ausreichender Grund des 
perfönlichen Ehriftenftandes , fie hat nur vorbereitende und vermit- 
ende Bedeutung (Schleiermader $ 108, 4). 

Meſſen wir von Hier aus noch einmal mit wenigen Worten 
ven nunmehr nach feinem wefentlihen Grunde und Inhalte er- 
lärten Rindfhaftsftand an der religiöfen Idee, fo er 


vi 
auf die Annahme und Neuſcheffung des Süubers m 
Kinde Gettes Seiner immeren DOualität nad iſt der Menſch al 
wicbergeberener, geifilicher, im der Gemeinſchaft Gottes Leben 
prinzipiell zur Erfüllung feines der Anlage und Beftimmumg 
anerfchaffenen, aber dur Unvelllommenheit und Sünde bit 

und verberbten Weſens, zu der Abnlıcke 

im Stand der Bolllommenheit erhoben. In 

Berhältniiie zu der Welt als der Summe der endlichen Sr 
der Chriſt als Kind Gottes feine Erhabenheit oder 

Freiheit, aber and jenen Sinn, Trieb und Kraft, welcher dieſelbe 
gemäß dem ihm zugewiefenen Standorte und Berufe nach dem 
Willen Gottes zu bearbeiten und dem Reiche Gottes einzunerleibe 
oder doch dienfibar zu machen firebt, und diefe Stellung bethätigt 
er noch jpeziell der Menſchheit und in fpezififcher Modifikation der 
chriftlichen Gemeinfhaft gegenüber. In letzterer Beziehung tritt 
die chriftliche Nächftenliebe als unmittelbare Erſcheinung der danl⸗ 
baren Gottes⸗ und Chriſtusliebe mit ihrer extenfiven und inten 
fiven Unendlichkeit beherrfchend in den Vordergrund. Das Kind 
Gottes ift Abbild Ehrifti geworden, in feiner reinen Gottes⸗ 
gemeinfchaft vornehmlih ein Abbild feines Prieftertums, in 
feinem DBerbältniffe zur Welt ein Abbild feines Künigtumt, 
beides auf unzertrennliche Weife in feinem inneren Wefen (vgl. 
Luther, delibertate christiana). Schleiermader faßt alle 
zufammen, wenn er von der chrijtlichen Kirche, fofern fie Gemein 
Schaft der Wiedergeborenen und des heiligen Geiftes ift, folgendes 
fagt: „Das Wollen des Reiches Gottes ift die Lebenkein⸗ 
heit des Ganzen und in jedem Einzelnen fein Gemeingeift; es iſt 
aber in dem Ganzen feiner Innerlichkeit nad} ein ſchlechthin krüfties 
Gottesbewußtfein, mithin das Sein Gottes in bemfeldtn, 
bedingt aber durch das Sein Gottes in Chrifto“ ($ 116, 3). 
Fein tft auch fchon in $ 100, 2 von ihm ausgeführt worden, 





Über das Weſen de perfönlichen Chriftenftandes. 487 


daß die Thätigkeit des Erlöfers an dem Gläubigen nicht nur als 
eine perfonbildende, fondern auch als eine weltbildende fich 
darftelle. 

Diejelbe Höhe und Vollkommenheit des Chriftenftandes in feiner 
Richtung auf die mejentlihen Beziehungen des Menfchenlebens 
(euchtet an demfelben hervor, wenn wir ihn ale den Stand ber 
Zugehörigkeit zu Chriſtus oder beftimmter dee Gliedſchaft 
Ehrifti (participatio Christi) betrachten. Der leßtere Ausdrud 
behält feine volle Geltung, aud wenn wir feine unmittel- 
bare Beziehung zu dem himmlischen Ehriftus annehmen und 
uns die unentbehrliche Vermittelung durch den heiligen Geift mit 
demfelben und fpeziell durch den gejchichtlihen Zufammenhang mit 
feiner irdiſchen Erfcheinung und Gemeinde babei gegenwärtig er- 
halten (vgl. Schleiermader 8 100, 3). Denn da Ehrifti 
Perfon und Werk ganz in Gott gegründet ift und bie wefentliche 
und dauernde Offenbarung und Heilsgegenwart Gottes in ber 
Menfchheit vermittelt, fo ift der gefchichtliche Zufammenhang mit 
ihm als getragen von dem heiligen Geift zugleich ein Zufammen- 
bang mit dem himmlischen und ewigen Chriſtus, das Leben der 
Chriften ift durch die Gemeinfchaft des Glaubens mit ihm er» 
hoben in die Mitte des göttlichen Lebens, zu welcher die Menfch- 
heit an fich fohon in dem Menfchenfohne erhöht worden ift, und 
welche nun durch ihn gegenwärtig und wirkſam ift, nur in ver- 
Ichiedener Weife, wie im Himmel fo auf Erden (Kol. 3, 1—4)'). 


1) Wenn für Gott jedenfalls Zeit und Raum, als bloße Ordnungen für 
das Leben der Kreatur, feine Mächte bilden, welche feiner Gegenwart und Wirk⸗ 
ſamkeit irgendwie hemmend oder trennend fich entgegenflellten‘, fo gilt dasjelbe 
für das Leben und Wirken Chriſti und bes heiligen Geiſtes, fofern und foweit 
es unmittelbar Gottes Leben in fich trägt und darſtellt. Die Verklärung Ehrifti 
durch dem heiligen Geift auf Erden, ganz entjprechend feiner perjönlichen Ver⸗ 
Närung durch die Erhöhung in den Himmel, ift aber Mittel und Erweis 
einer noch höheren Gegenwart und Wirkſamkeit besfelben, als fte dem irdiſchen 
Ehriftus zukommen konnte (Joh. 14—17). Chriſtus iſt die zepadn der neuen 
Menfchheit nicht bloß durch feine Stellung im göttlichen Ratichluß und durd) 
fein tebifches Lebenswerk, fondern erft recht durch feine Erhöhung und durch 
fein Fortwirken im heiligen Geifte; nur vollzieht fi) das letztere, bie Ber- 
gegenwärtigung und Wirkſamkeit des erhöheten Ehriftus, allein im fletigen Zu⸗ 


40 Beiß 


Chriſtus ſamt dem von ihm ausgehenden heiligen Geifte fie 
uns nicht bloß den Wert der Gottheit dar, fondern Gott iſt in 


ihnen und durch fie vorhanden und fpezifiich wirkſam in er 
Menſchheit, und deshalb nimmt der Glaube im heiligen Geifte u 


Chriftus als dem Träger und Bermittler gottmenſchlichen 
Lebens teil, auch wenn Cbriftus vorerft in die Unfichtbarteit it 
Himmels entrüdt ift. Die Ehriften haben aljo al8 Glieder Chriſt 
Anteil an der ganzen Fülle und Bedeutung feiner Perfon, fein 


Erſcheinung und feines Werkes und zwar in der Zufammenfaflug 


des irdifchen und des erhöheten Chriftus, nur dag fie maturgemöf 
erft allmählich von der Fülle feiner Gaben durchdrungen werden, 
dag überdies nur in ihrer Geſamtheit d. 5. in feinem gan 
Leibe fein Leben in annäheruder Vollſtändigkeit fich abbildet 
(Schleiermader $ 113, 124 u. 125) und daß fie erft in 


der Stunde der zufünftigen Vollendung feiner vollen Herrliälet | 


teilhaftig werden können. Darin aber liegt das Entſcheidende für 


ihren Stand, daß fie den Zufammenhang mit Ebriftus und ſeinen 


Leben nicht erft fuchen und erftreben, fondern als Gläubige auf 
dem Grunde feiner Gemeinfchaft in der ftetigen Aneignung und im 
ftetigen Gebrauch aller der Büter, Gaben und Kräftebegriffen find, 


welche ihnen von Ehrifto und von ber oberen Geifteswelt, ber je 


mit ihm angehören, berzufließen. Sie befinden fich durch das Auf 
genommenfein in die Gemeinfchaft Chriſti dauernd und prinzipiel 
auf einem ganz neuen Lebensboden, in einer neuen Leben“ 
Sphäre und Lebensatmosphäre, welcher fie mit dem JInnerſten ihret 
Geiſtes zugewendet find, und damit aud) unter einer der feitherigen 
entgegengefegten Lebensrichtung und Lebenspotenz, deren beherrſchen⸗ 
den Einflüffen ihre Perfönlichleit ebenfo gründlich als andauern) 
geöffnet iſt (Köm. 5, 15. 21; 6, 13f. Kol. 1, 13; vgl. Joh 
15, 1—16). Dabei ift wohl zu beachten, daß es Gottes Guade 
in Chriſto ift, welche in diefem jene neue Lebensfphäre gefchaffer 
und auch die Gläubigen, freilich nicht ohne ihre freie Annahme 
diefer Gnade, in diefelbe verjegt Kat; dies ift beſonders deutlid 


ſammenhange mit feinem irdiſchen Lebenswerke (Joh. 16, 13—16; vgl Matti. 
18, 20). 








Über das Weſen des perfönfichen Chriſteuſtandes. 489 


ausgeiprochen in ber Anfchauung des Apoſtels Paulus, daß bie 
Rinder Gottes oder die Genofjen des Gottesreihes das Ge⸗ 
Ihlecht des zweiten Adam barftellen (Röm. 5, 15 ff. 1Kor. 
15, 45 ff). Hofmann fagt hieran anſchließend: „Der Wieder 
geborene befigt fpezifiich das Gut der Lebensgemeinfchaft mit dem, 
welcher für die ganze Menſchheit Anfünger eines neuen Lebens ges 
worden iſt.“ Aber aud) die Synoptifer enthalten ſchon die Grund» 
züge einer folchen Anfchauung von ber Gliedſchaft Ehrifti in allem 
denjenigen, was fie über Chriftus als den Herren bes Himmel⸗ 
reiches und über feine Jünger als die Genoffen oder auch Unter⸗ 
thanen deöjelben ausfagen (vgl. bef. Matth. 12, 49f.; 17, 26; 
22, 1ff.; 18, 18—20; 19, 13—15; vgl. 18, 1—7). Durd die 
größere Verinnerlichung, welche dieſe Ausfagen bei Paulus und 
Johannes erfahren Haben, find dieſelben nur konſequent fortgebildet 
worden entjprechend denjenigen Erfahrungen, welche die Gläubigen 
nah der Verklärung Chrifti bei dem Vater von feinem Leben und 
Wirken in den Chriften gemacht haben. 

Wir haben nun aber das DBerhältnis von Wiedergeburt 
und Rechtfertigung zu einander noch bejonders zu beiprechen. 
Unfere entjchiedene Hervorhebung ber Wiedergeburt künnte die Mei- 
nung erweden, al& ob die prinzipielle Sündenvergebung oder die 
Rechtfertigung von ber Wiedergeburt abhängig gedacht wäre, und 
dies wird ja neuerdings als „pietiftifche Unterordnung der Wieder- 
geburt unter die Rechtfertigung“ ganz befonders getadelt. Wenn 
indefien Schleiermader ($ 109, 3 und 4 und $ 101, 1), 
Rothe, Nitzſch, Martenjen, Bed (Ethil5 5,3; L, 257 ff.) 
unter diefen fchon von Thomafius (Dogmatik $ 75, eine von 
ihrem Standpunkte aus vortreffliche Darftellung) ausgefprochenen 
Zadel fallen, welchem namentlih auch Dorner (Ölaubenslehre 
I, 730 ff.) nunmehr forgfältig auszumweifen gefudht Hat, fo muß 
für jene Auffafjung der Sache eine Berechtigung vorliegen, deren 
Berüdjichtigung noch keineswegs in die katholiſche oder in bie 
Oftandrifche Lehrweife hineinführt. Auch heben jene Theologen 
(wenn auch nicht alle mit derfelben Entfchiedenheit, da bei Rothe 
und Bed der Gefihtspuntt realer Erneuerung durch Gott einfeitig 
überwiegt) hervor, daß fie die Nechtfertigung dennoch als abjoluten 





4% Weiß 


Gnadenakt Gottes an dem Sünder feſthalten und fie im fen 
Weife erft von der wachſenden Heiligung ober gar von menihligem 
Verdienfte abhängig machen. Sie wollen den Hechtfertigungät 
nur bewahren vor juridifcher oder aud vor kirchlicher (ſakrame— 
taler) Außerlichkeit und wollen die beiden, innig verbundenen Mr 
mente zur Geltung bringen, daß wir nur auf Grund bes Glu 
bens (immerhin per fidem, nit propter fidem) gerectfertig 
werden und daß der Glaube ala Wert Gottes in uns allerding 
auch die Belehrung oder Wiedergeburt und die lebendige Gemein 
Schaft mit dem Erldfer, alfo den Grund des neuen Lebens in 
ethiſchen Sinne, in fi ſchließe. Auch die Reformatoren, Lulkt 
voran, und in der Hauptfache die evangelifchen Belenntnisicrifte 
und Dogmatifer fuchen jenes ganz beredhtigte Intereſſe durdm 
zu vertreten, indem fie wenigftens, wie fchon oben angedeutet wır 
den tft, die Gleichzeitigkeit von Nechtfertigung und MWiedergeb 
oder Belehrung, ferner im Weſen des von Gott gewirkten Glır 
bens feine ethifche Natur und feine Kraft zur unio cum Christ 
und zur Vermittelung des heiligen Geiftes hervorheben, wenn auf 
namentlich im Anſchluß an Melandhthon!), daneben wieber ci 
andere Lehrdarftellung hergeht, welche die Grenze jener juribilcen, 
ſakramentalen oder auch intelleftualiftifchen Rechtfertigungslehre ev 
reicht, indem ſie den Christus extra nos oder die imputatio de 
meritum Christi al& objektiven Grund ber Rechtfertigung, bein 
Glauben aber das reine Hgyavov Anrzsıxov einfeitig in den Vorder 
grund ftellt. Aus diefer legteren Einfeitigkeit haben fich bekannt 
für Lehre und Leben namentlich der Iutherifchen Kirche Folgen en 
wickelt, welche die Reaktion des Pietismus gerade auch auf diem 


1) Die Lchre Melanchthons von der fides und ber justificatio (m da 
dritten Ausarbeitung ber Loci) trägt in dem Streben nach logiſcher und lirh 
licher Korrektheit einen gewiffen Außerlichen und formaliftiichen Charakter. Cr 
Ergänzung kann darin gefunden werden, daß als drittes Stüd ber poenitents 
(neben contritio und fides) die nova.obedientia aufgeführt wird. Das Ethik 
tritt aber hier mehr dnaliſtiſch neben das Religiöfe (neben die fides), Ahuld 
wie die donatio spiritus sancti neben die remissio peccatorum (dgl. and 
Lipsius, Dogmatif, 8 714 und Herrlingen, Melandithon, ©. #1 
50—58). 


Über das Weſen des perſoͤnlichen Chriſtenſtandes. 491 


Punkte zunächſt als heilſame Rückkehr zu dem neuteſtamentlichen 
und reformatoriſchen Standpunkte erſcheinen ließen ). 

Es handelt ſich hier um die wichtige Aufgabe, die evangeliſche 
Lehre in ihrem Mittelpunkte davor zu bewahren, daß fie nicht der 
Sicherheit toter Gewiſſen Vorſchub Teifte, ftatt der Troſt der er- 
ſchrockenen Gewiffen zu fein, und daß nicht entweder ber ethifche, 
nah Schleiermachers Ausdrucksweiſe der teleologifhe, Charakter 
des Chriftentums verloren gehe, indem die fittliche Forderung bes 
neuen Lebens kaum in Betracht gezogen wird neben dem Beſitze 
der Sündenvergebung, ober aber der göttlichen Gnade ihre grund» 
legende Bedeutung entzogen werde, indem bie Wirkung bderjelben 
auf die Zuteilung der Sündenvergebung bejchränft, die Aufgabe 
der Belehrung und Erneuerung aber ganz von den eigenen Ans 
firengungen (propriis viribus) des Ehriften abhängig gedacht wird. 
Eines wie das andere will z. B. Schleiermader abwehren, 
wenn er keine Aufnahme in die Gemeinſchaft der Seligfeit Chrifti 
zulafien will unabhängig von der Aufnahme in die Sräftigfeit 
feines Gottesbemußtfeind und nun die Mitteilung ber Seligkeit 
dadurch unabtrennbar macht von der Mitteilung der Vollkommen⸗ 
beit, daß beide unmittelbar in der Aufnahme in die 
Lebensgmeinfhaft Ehrifti gegeben find (8 101, 1) 2). 
Diefe Aufnahme aber ift ihm identifch mit der fchöpferifchen Wirk⸗ 
ſamkeit Chrifti oder der göttlichen Gnade zur Belehrung des Sün⸗ 
ders, in diefem Sinne find bie Rechtfertigung und die Belehrung 
des Sünders als dur einander bedingt gedacht. „Man kann mit 
Recht jagen, jeder Akt der Belehrung fei, infofern zugleich das 
Bewußtſein der Sündenvergebung nnd der Kindichaft Gottes mit 
dem Glauben entfteht, in dem Menfchen felbft eine Deklaration 
des allgemeinen göttlichen Ratfchluffes um Chrifti willen zu recht⸗ 
fertigen.“ So verfchwinde uns das Deklaratorifche wieder in dem 
Schöpferifhen (8 109). Schleiermader begnügte fich alfo 





1) Bgl. auch 2. Müller, Dogmatifche Abhandlungen, S. 221f. 226 ff. 
Dorner, Geichichte der prot. Theologie, S. 634 ff. 

3) Als Vorgang vgl. nicht nur Calvin Inst. III, 3, 9; 11, 10 al., fon- 
dern auch anftveifenb bei Foh. Gerhard, Loc. XVII, 8 208. 

Theol. Stud. Jahrg. 1885. 32 








492 Wei 


nicht damit, unfer Problem nur durch einen „Wechſel der Ve⸗ 
trachtung“ (der religidfen und der ethifchen) Löfen zu wollen, ne 
mit feine Löfung gegeben ift für denjenigen, welcher die wirklite 
Einheit und die einheitliche Wirklichleit des Neligiöfen und det 
Ethifchen im Mittelpunkte der neuen Lebensbildung (Rechtfertigung, 
Bekehrung, Wiedergeburt) erlennen möchte. In feiner Darftellug 
fiegen Momente der Wahrheit, welche ganz entfchieben feſtzuhalten 
find. Der deklaratoriſche Akt der Rechtfertigung ift aufs engite 
mit dem fchöpferifchen Gnadenalt der Belehrung zu verfnühfe, 
Rechtfertigung umd Wiedergeburt aber find mir als bie zwei w 
zertrennlichen Seiten der Aufnahme des empfänglichen Sünders in 
die Rebensgemeinfhaft Chriftt zu betrachten. Bedenklich iſt Mi 
Schleiermacher nur, daß er, wie ſchon oben hervorgehoben, Got 
nicht unmittelbar an der Belehrung und Rechtfertigung bes ein: 
zelnen beteiligt fein läßt und dag ſich ihm infolge deſſen di 
Rechtfertigung in einen Alt des menſchlichen Bewußtſeins ver 
wandelt, Freilich ift er bei ihm als Ausflug der intenfiofte 
Gnadenwirkung Gottes zur Belehrung des Sünders keinesweg 
bloß menſchlicher Bewußtfeinsatt, zumal wenn wir zugleich daran 
denken, wie derfelbe nach Schleiermacher, ganz ähnlich wie bei de 
Reformierten, mit der göttlichen Erwählung zufammenhängt. 
Wenn man die perfünlihe Gnadenthat Gottes zur Beleh 
rung des Sunders oder zu feiner Aufnahme in die Lebensgemei 
haft Ehrifti als Grundlage bes perfünlichen Heileftandes ent 
ſchieden fefthält, dan kann auch nicht gejagt werden, bie dari 
enthaltene Rechtfertigung des Sunders fei ein analytifches Urteil, 
weil bei jener Auffaffung der Sünder entfchieden per fidem, nikt 
propter fidem gerechtfertigt wird. Die Nechtfertigung vollzieht 
fih aber auch nicht bloß als fyntHetifches Urteil, ſondern al 
eine That Gottes, welche deflaratorifch und fehöpferifch zugleich if, 
jedoch fo, daß für dad Bewußtſein des Gläubigen das Deklarato 
riihe dem Schöpferifhen fahlih übergeordnet iſt. Dem 
der reine und freie Gnadenwille Gottes in Chrifto ift der Grund 
der ebenjowohl vechtfertigenden als neufchaffenden That Gottes at 
dem Sünder, wodurch er ihn in die Lebensgemeinfchaft Ehrifti auf 
nimmt, und auf diefen reinen und freien Gnadenwillen Gottes in 


Uber das Weſen des berfönfichen Chriſtenſtandes. 


Chriſto bezieht ſich ber Glaube auch ansſchlichlich, am feine Recht⸗ 
fertigung bet bie Erklilrung aus einem ausreichenden Motive 
ſicheryuſtellen. Die Reflexion auf das ſchopfetiſche Wirken Gottes 
un thin kritt ihm nur beftätigend hinzn. So war ja ſchon bie 
Wiekſamkeit Chriſti an dei Sundern anf Erben beſchaffen, daß 
derſelbe auf eine untrennbare Weiſe durch die Kundgebung der bes 
gntidigenden Vaterliebe Gottes re auzog und zugleich durch Die 
Offenbarung ſeines ernenenden Geiſtes auf ihre Bekehrung ein⸗ 
wirkte, und wenn nun die Empfanglichen wirklich im Glauben an 
Ehriſtas ſich auſchlofſen, fü wurden fie durch den Alt Ihrer Auf⸗ 
nahme zugleich in bie lebendige Geiſtesgemeinſchaft Chrifti vollends 
hereingezogen, wuhrend fe in erſter Linie beguadigt, d.h. der Ver⸗ 
gebung ihrer Sunden und der Kindesannuhme verſichert wurden 
(Maitthh. 5, 6ff.; 11, 28ff.). Indefſen Hit z. B. auch Schleier 
macher (8 109, 4) mit aller Entſchiedenheit ausgeſprochen, daß 
Die Rechtfertigung ein freie und abfoluter Gnadenalt Gottes ſei, 
bet Beck (Eh I, 287 ff.) Finder fich dieſe Erklaärung in mehr 
teſtringletter Weiſe. Wenn man die Rechtfertigung üls That Gottes 
auf Die gange Gemeinde bezieht, Ts witd das Wefentlicht an der⸗ 
felben überhaupt fallen geläfien. Wezieht man dieſelbe aber anf ben 
eiuzelnen, fo THHB man inimer fragen, was dern die Rechtfertigung 
abgeſehen von dem wenitzfiens ſicher hinzutretenden Bewußtſein der⸗ 
ſeſlben Uberhaupt becheute, und da doch alle das ketztere dus dem 
Glauben herlelten, fo kann alſo bie Rechtfertigung nicht als voll⸗ 
zogen gedacht werden, außer mit der vollen Etwecdung des Glau⸗ 
bens (Aoriatio Rasi). Dies behält ſeine Richtigkeit, wenn auch bie 
volle Genthyhelt der geſchehenen Rechtſerlignng für den Glanben erſt 
allciahlich öde Uberhuupt erſt ſpaͤter ſich einſtellen mag. Somit 
vollzicht Dort He Rechtfertigung des Anzeinen allerdings durch ein 
ainmerliches Hanbeln im beit Geiſte, Hetz und Gewiffen deeſekben, 
nie ja bie Bildung des Glaubens ober der Belehrung ſchon zuvor 
dis innerliche und perſbntiche Entgegenkommen Gottes in Chrifto 
vorausſetzt. Auch nah Thomafius vollzieht Gott die Recht⸗ 
fertigting vermöge eines Als wirkſamer Anſchauung desſelben 
als caes Bläuibigen in Chriſto, und ber Rechtfertigungsatt blekbt 
dein Meiſſchen micht äußerlich, fondern vol lzieht ſich im Glauben 
92 * 


494 Weiß 


und Gewiſſen desſelben (Dogmatif 8 75). Wenn aber dieſes 
zugeftanden wird, dann ift doch der „innergöttliche At“, welchen 
Thomafins dem Vollzug der Rechtfertigung im Menſchen voran 
gehen Täßt, eben noch nicht dieje felber fondern nur ihre Einli- 
tung, fozufagen ihr erfter Zeil. Darf man aber aljo teilen beim 
Handeln Gottes? 

Wir begründen alſo die Rechtfertigung nicht auf die fittlide 
Qualität, welche der Ehrift durch den Glauben oder die Wieder: 
geburt fid) erworben hat, nicht auf ben Christus in nobis, wohl 
aber auf unfer Angeeignetfein im Glauben von Chrifto, auf unſer 
durch ihn bewirktes Sein in Ehrifto, wie aud Luther (5. d. 
zu Joh. 14, 20) gerne die Sache dargeftellt hat. Und nun er 
giebt fich allerdings als unmittelbare Folge der Rechtfertigung, daß 
in dem alfo zunächſt zur Begnadigung von Chrifto Angeeigueten 
auch Chriſtus und der Heilige Geift einkehren, um durch dieſen 
Alt das Werk der Wiedergeburt an ihm zu vollenden. Dem Ein 
gehen oder Einwohnen des Heiligen Geiftes entfpricht dann auf der 
fubjeltiven Seite die dankbare, hingebende Gegenliebe gegen Gott 
und Chriftus, wie fie ja von Paulus und Johannes aufs innigſte 
mit dem Befige des heiligen Geiftes verfnüpft und als die um 
mittelbarfte und gleichermaßen andauernde Erwiberung der fid) mi 
teilenden Liebe Gottes aufgefaßt wird (Röm. 5, 5; 8, 28. Gal. 
5, 6. 1%0h. 4, 11ff.). Wir fegen aber auch voraus, daß der 
rechtfertigende Glaube Chriſtum ergreife oder dag der Chrift im 
Slauben von ihm angeeignet werde, fofern er nicht bloß der Offen 
barer, jondern fpeziell in feinem fühnenden Leidensgehorfam, als 
der Gefreuzigte und Auferftandene, der wirkliche Vermittler der 
göttlihen Gnade, ber wahrhaftige Bundesmittler um 
Berfühner ift, welcher durch feine fühnende Genugthuung det 
heiligen Baterliebe Gottes es möglih gemacht bat, mit det 
Sündern den volllommenen Bund der Gnade und die innigfte Ge⸗ 
meinfchaft des Lebens einzugehen (Röm. 5, S—11. 28or. 5, 
18—21). | 

Nur indem wir aud) diefes Moment an dem objektiven Grund 
der Rechtfertigung bewahren, bleiben wir in der Kontinwität der 
biblifchen und der Kirchlichen Lehre. Auf diefem Grunde wird auf 





Über das Weſen bes perfönlichen Ehriftenftandes, 495 


erſt der NRechtfertigungsaft felber in feiner. tiefften Bedeutung ver- 
ftanden. Denn bei diefem Alte Handelt e8 fi) darum, daß zuerft 
das perfünliche Verhältnis zwifchen dem heiligen Gott und dem 
fündigen Menfchen wieder richtig geftellt und ins Reine gebracht 
werde, ehe die Liebesgemeinfchaft zwifchen beiden fich vollzieht. Es 
muß alfo durch die vergebende Gnade Gottes die trennende Schuld 
bes Siünders hinweggethan werden. Der Ernft dieſes Vorgangee 
aber wird nur gewahrt, wenn Gott feine Vergebung auf einen 
von ihm felber veranftalteten Alt der Buße oder Sühne gründet, 
wie er von Chrifto als dem heiligen Stellvertreter der Menjchheit 
geleiftet worden ift und für diejenigen Geltung bekommt, welche 
durch den bußfertigen Glauben in die ſolidariſche Gemeinfchaft 
Chriſti des Verfühners eintreten. Läßt man diefe fühnende DVer- 
mitteluug im Lebenswerke Chrifti fallen, fo wird man entweder zu 
der Annahme Hingeleitet, dag die Sünde im vorchriftlichen Stadium 
feine wirffihe Schuld Gott gegenüber herbeiführe, oder man läuft 
Gefahr, nachträglich an der Gewißheit der Rechtfertigung zu zweifeln. 
Wenn die zuerft genannte Annahme ftattfindet, fo fehlt die Tiefe und 
Gründfichkeit der Buße vor dem Empfange und die innige Dank⸗ 
barkeit nad dem Empfange der Rechtfertigung; beides wird nur 
unter dem Kreuze Chrifti des DVerfühners in feiner reinen Stärke 
erweckt werden. Jener Zweifel aber müßte fich gerade bei den⸗ 
jenigen, welche als Glieder der hriftlichen Kirche aufgewachfen find, 
um fo leichter und kräftiger einftellen, weil fie in dem gewöhn⸗ 
lichen Falle, daß fie erft in fpäteren Jahren zur Belehrung kom⸗ 
men, ihre im Stadium vor der Belchrung begangenen Sünden 
noch entfchiedener als wirkliche und perſönliche Schuld ſich anrechnen 
müffen als etwa folche, welche vom Heldentum oder Judentum 
herüber zu Chrifto geführt werden. Alfo nur indem das Evans 
gelium dem Sünder die Gnade Gottes verfündigt, wie fie ihm in 
Chrifto dem Verſöhner entgegenfommt und indem der Geift 
Gottes ihn zur Aneignung derfelben einladet, Tann in ihm das 
trennende Mißtrauen gegen Gott oder die Furcht des böjen Ges 
wiffens völlig ſchwinden und jenes ebenfo demütige als freudige 
Vertrauen zu ihm fich bilden, welches bie Grundlage für die Recht⸗ 
fertigung und ihren Brieden abgiebt. 


406 | Weiß 


3) Bewahrung, Entwickelung und Gewißzheit des nem 
Lebensftandes, 


Wenden wir und zunäcft zu ber frage von ber Memahruy 
und damit zugleih von der fittlihen Bedeutung bes um: 
Sehensftandes. Wäre derſelbe eimfeitig durch Gottes allnädtig 
Bnadenwirkung in dem Subielte hervorgerufen, in welchem Jul 
er denn auch ganz wie eine höhere Natur oder Naturkraſt fü 
darftellen würke, dann wäre er auch unverlierbar, er hätte ur 
feine Kraft zu entfalten und zu bethätigen. Durch unfere p 
ſamte Entmidelung ift eine ſolche Porftellung ausgeiclein 
Amifchen dem perfünfichen Bott und feinem kreatürlichen Ebenbik, 
dem Menjchen, faun nur eine perſönliche, ethifche, d. 5. in ihm 
innerften Kerne durch den Willen unb die Freiheit beftimmte 3 
ziehung ftattfinden. Zwar wirb die Freiheit und Geiſtigkeit de 
Menfchen im vollen realen Sinne erft im der Wiedergeburt vw 
Gott geſchaffen, aber «8 gefchieht wenigftene unter der Meitwirkm 
der freien Empfünglichleit des Menfchen, und gerade der Glaubt, 
durch welchen die fittlichsgeiftige Berfönlichkeit zur vollen Aktusl- 
tät gelangt, kann nur als das Band einer ebenfg freien gfg inuign 
Gemeinſchaft mit Bott gedacht werden, und ebenfp bildet bie al 
dem Glauben entfprungene Liebe zu Bott ein Prinzip, more de 
reinfte Hingabe an denfelben mit der höchſten Selbftändigfeit um 
fittlichen Aktivität vereinigt iſt, Somit hefteht eine Gemeinſchuß 
auch nur fort durch die kantinuierliche That das Glaube 
durch hie heftändige Wiedererztugung jener geiftigen Grundrichtun 
aus beren erftmaligem, entſcheidendem Auftreten das neue Lem 
gehoren worden iſt. Tireilich die Gnade Gottes, durch melde det 
Alt des Glaubens hemirft worden ift, wird unter ber WBemwahrun 
derfefben in beim Subjekte immer Fröftiges und gebt tiefer in dab 
felbe ein, fo daß her Glaubensalt und Glauhensſtand demſelben 
immer mehr erleichtert, immer mehr naturlich und habitneli un 
alfe das Banh der Gottesgemeinſchaft immer inuiger und feſter 
wird. 
Dabei ift nun aher folgender Punkt wohl zu erwägen, melde 
gewöhnlich unter dem Titel von Glaube und Werke abgehan 





Über das Wefen des perfänlichen Ehriftenftandes. 497 


beit wird. Der Glaube bildet zunächft den intelligibeln Cha- 
rafter des Wiedergeborenen d. 5. den innerften Punkt feiner per- 
fönlichen Lebensrichtung, wodurch er mit Gott und dem Neiche 
des ewigen Lebens in Chrifto zufammenhängt; das in ihm geſetzte 
Prinzip des göttlichsgeiftigen Lebens ift aber noch nicht zum em⸗ 
pirifchen Charakter des Menſchen geworden, es muß fich dort 
erft ausbreiten und auswirken in ber Succeſſion zeitlicher Seelen⸗ 
afte und in dem gefamten Umfange des pſychiſchen Organismus 
in der Wechjelwirfung mit dem finnlichen Bewußtſein und dem 
weltlichen Leben. Hierfür ift nunmehr die Grundlage in ber 
neuen Perfönlichkeit gefchaffen, während ohne die Baſis der Wieder: 
geburt das Subjelt gerade an den ſucceſſiv Hervortretenden Auf- 
gaben, welche das Leben dem fittlihen Streben ftellt, ohne durch⸗ 
greifenden Erfolg fih abmüht und niemals ein Ganzes oder Voll» 
fommenes hervorzubringen imftande ift. Wie leicht zu erſehen ift, 
(affen fich bier das inmere und das Äußere Handeln oder empi- 
rifcher Charakter und Wandel nicht von einander fcheiden, beide 
müffen fortan mit einander von dem neuen übermeltlichen Prinzipe 
des Geiftes beftimmt, durchdrungen und gereinigt werben, die Wieder- 
geburt muß fih jo in die Heiligung umfegen und darin bes 
währen (Röm. 6, 11ff.; 8, I—14. Gal. 5, 16. 25 vgl. Matth. 
16, 24ff.). Helligung und Wiedergeburt ftehen, wie auch ſchon 
Schleiermacher bemerkt hat (S 106, 1; 110, 3) in einem Ber 
Hältnis zu einander, welches demjenigen parallel geht, deſſen Nach⸗ 
bild e8 ift, welches bei Ehrifto ftattfindet zwifchen dem Alte der 
Bereinigung bes Göttlihen mit feiner menjchlihen Natur und 
zwifchen der Entwidelung und Wirkungsweife feiner Perfon wäh. 
rend des Vereintſeins von beiden in berjelben. Hierher gehört 
aud die Bemerkung Schleiermachers in der „chriſtlichen Sitte“ 
(S. 312): „Soll die Wiedergeburt ein Begriff fein, der Realität 
het, fo kann fie nichts anderes fein ald die Einigung des 
göttlihen Geiftes mit ber menfhlidhen Intelligenz, 
und diefe Einigung rein für fich betrachtet muß als vollendet 
erfcheinen, denn der göttliche Geift ift mit ihr als Impuls ober 
als Agens im Menſchen gejegt und an ein Mehr ober weniger 
ift dabei nicht zu denken, ohne den göttlichen Geiſt felbft dem 





4% Weiß 


Gnadenakt Gottes an dem Sünder feſthalten und ſie in keiner 
Weiſe erſt von der wachſenden Heiligung oder gar von menſchlichem 
Verdienſte abhängig machen. Sie wollen den Rechtfertigungsakt 
nur bewahren vor juridifher oder auch vor kirchlicher (ſakramen⸗ 
taler) Außerlichkeit und wollen die beiden, innig verbundenen Mo- 
mente zur Geltung bringen, daß wir nur auf Grund des Glau⸗ 
bens (immerhin per fidem, nicht propter fidem) gerechtfertigt 
werden und daß der Glaube ala Werk Gottes in uns allerdings 
auch die Belehrung oder Wiedergeburt und die lebendige Gemein: 
fhaft mit dem Erföfer, alfo den Grund des neuen Lebens im 
ethifchen Sinne, in fich ſchließe. Auch die Neformatoren, Luther 
voran, und in der Hauptſache die evangelifchen Bekeuntnisſchriften 
und Dogmatifer fuchen jenes ganz berechtigte Intereſſe durchweg 
zu vertreten, indem fie wenigftens, wie fchon oben angedeutet wor: 
den ift, die Sleichzeitigkeit von Wechtfertigung und Wiedergeburt 
oder Belehrung, ferner im Wefen des von Gott gewirkten Glau- 
bens feine ethifche Natur und feine Kraft zur unio cum Christo 
und zur Vermittelung des heiligen Geiftes hervorheben, wenn auch, 
namentlich im Anſchluß an Melandhthon!), daneben wieder eine 
andere Lehrdarftellung hergeht, welche die Grenze jener juridifchen, 
jatramentalen oder auch intelleftualiftiichen Rechtfertigungslehre er- 
reicht, indem fie den Christus extra nos ober bie imputatio des 
meritum Christi als objeftiven Grund der Rechtfertigung, beim 
Glauben aber da8 reine Ogyavov Anrzrıxov einfeitig in den Vorder: 
grund ftellt. Aus diefer legteren Einfeitigfeit haben fich befanntlic) 
für Lehre und Leben namentlich der lutheriſchen Kirche Folgen ent» 
wickelt, welche die Reaktion des Pietismus gerade auch auf diefem 


1) Die Lehre Melauchthous von der fides und ber justificatio (in der 
dritten Ausarbeitung der Loci) trägt in dem Streben nach logifcher und kirch⸗ 
licher Korrektheit einen gewiflen äußerlichen und formaliftiichen Charakter. Eine 
Ergänzung faun darin gefunden werden, daß als drittes Stüd der poenitentia 
(neben contritio und fides) die nova obedientia aufgeführt wird. Das Ethiſche 
teitt aber hier mehr dualiftiich neben das Religiöſe (neben die fides), ähnlich 
wie die donatio spiritus sancti neben die remissio peccatorum (dgl. aud) 
Lipsius, Dogmatif, $ 714 und Herrlingen, Meandthon, S. 24. 
50— 58). 


Über das Weſen des perſoͤnlichen Chriſtenſtandes. 491 


Punkte zunächſt als heilſame Rückkehr zu dem nenteftamentlichen 
und reformatorifchen Standpunkte erjcheinen ließen ?). 

Es handelt fich hier um die wichtige Aufgabe, die evangelische 
Lehre in ihrem Mittelpuntte davor zu bewahren, daß fie nicht der 
Sicherheit toter Gewiſſen Vorſchub Leifte, ftatt der Troſt der er- 
Ihrodenen Gewiffen zu fein, und daß nicht entweder der ethifche, 
nah Schleiermaders Ausdrucksweiſe ber teleologiihe, Charakter 
des Chriftentums verloren gebe, indem die fittliche Forderung des 
neuen Lebens kaum in Betracht gezogen wird neben dem Befige 
der Sündenvergebung, oder aber der göttlichen Gnade ihre grund» 
legende Bedeutung entzogen werde, indem die Wirkung derfelben 
auf die Zuteilung der Sünbenvergebung befhränft, die Aufgabe 
der Belehrung und Erneuerung aber ganz von den eigenen Ans 
ftrengungen (propriüs viribus) des Chriften abhängig gedacht wird. 
Eines wie dad andere will 3. B. Schleiermadher abwehren, 
wenn er keine Aufnahme in die Gemeinfchaft der Seligkeit Chrifti 
zulaffen will unabhängig von der Aufnahme in die Kräftigkeit 
ſeines Gottesbewußtfeind und nun die Mitteilung der Seligkeit 
dadurch unabtrennbar macht von der Mitteilung der Volllommen- 
beit, daß beibe unmittelbar in der Aufnahme in bie 
Lebensgmeinfhaft Ehrifti gegeben find ($ 101, 1) 2). 
Diefe Aufnahme aber ift ihm identisch mit ber fchöpferifchen Wirk⸗ 
ſamkeit Chrifti oder der göttlichen Gnade zur Belehrung des Sün⸗ 
ders, in diefem Sinne find bie Rechtfertigung und bie Belehrung 
des Sünder als durch einander bedingt gedacht. „Man kann mit 
Recht jagen, jeder Alt der Belehrung fei, infofern zugleich das 
Bewußtſein der Sündenvergebung und der Kindfchaft Gottes mit 
dem Glauben entjteht, in dem Menſchen felbft eine Deklaration 
des allgemeinen göttlichen Ratfchluffes um Chrifti willen zu recht⸗ 
fertigen.“ So verjchwinde uns das Deklaratorifche wieder in dem 
Schöpferiiden ($ 109). Schleiermacher begnügte ſich alfo 


1) Bgl. au 8. Müller, Dogmatifche Abhandlungen, S. 221. 226 ff. 
Dorner, Geichichte der prot. Theologie, S. 634 ff. 

3) Als Vorgang vgl. nicht nur Calvin Inst. III, 3, 9; 11, 10 al., fon- 
dern auch anftveifend bei Joh. Gerhard, Loc. XVII, $ 208. 

Theol. Stud. Jahrg. 1886. 32 


4% Weiß 


nicht damit, unſer Problem nur durch einen „Wechſel der Be⸗ 
trachtung“ (der religiöſen und der ethiſchen) Löfen zu wollen, wo⸗ 
mit feine Löfung gegeben ift für denjenigen, welcher die wirkliche 
Einheit und die einheitliche Wirklichkeit des Religiöſen und bes 
Ethifchen im Mittelpunkte der neuen Lebensblldung (Rechtfertigung, 
Belehrung, Wiedergeburt) erkennen möchte. In feiner Darftellung 
Liegen Momente ber Wahrheit, welche ganz entfchieben feſtzuhalten 
find. Der deflaratorifche Alt der Rechtfertigung tft aufs emgfte 
mit dem fchöpferifchen Gnadenakt der Belehrung zu verknüpfen, 
Rechtfertigung und Wiedergeburt aber find nur als die zwei un- 
zertrennlichen Seiten der Aufnahme des empfänglichen Sünders in 
die Lebensgemeinfchaft Chrifti zu betrachten. Bedenklich ift bei 
Schleiermacher nur, daß er, wie fchon oben hervorgehoben, Gott 
nicht unmittelbar an ber Belehrung und Rechtfertigung des ein: 
zelnen beteiligt fein läßt und daß ſich ihm infolge deſſen die 
Rechtfertigung in einen Alt des menſchlichen Bewußtſeins ver- 
wandelt. Zreilih ift er bei ihm als Ausflug der intenfioften 
Gnadenwirkung Gotte® zur Belehrung des Sünders keineswegs 
bloß menschlicher Bewußtfeinsaft, zumal wenn wir zugleich daran 
denken, wie derfelbe nach Schleiermacher, ganz ähnlich wie bei ben 
Neformierten, mit der göttlichen Erwählung zufammenhängt. 
Wenn man die perfünlihe Gnadenthat Gottes zur Belch- 
rung des Sünder oder zu feiner Aufnahme in bie Qebensgemein- 
ſchaft Ehriftt als Grundlage bes perfünlichen Heilsftandes ent- 
tchteden fefthält, dann kann auch nicht gejagt werden, bie darin 
enthaltene Rechtfertigung des Sünders fei ein analytifches Urteil, 
weil bei jener Auffaffung der Sünder entjchieden per fidem, nicht 
propter fidem geredtfertigt wird. Die Neöhtfertigung vollzieht 
fih aber auh nit bloß als fynthetifches Urteil, fondern als 
eine That Gottes, welche deklaratoriſch und ſchöpferiſch zugleich ift, 
jedoch fo, daß für dad VBewußtfein des Gläubigen das Deflarato- 
riihe dem Schöpferifhen fahlih übergeordnet if. Denn 
der reine unb freie Gnadenwille Gottes in Chrifto ift der Grund 
ber ebenſowohl rechtfertigenden als neufchaffenden That Gottes an 
dem Sünder, woburd er ihn in die Lebensgemeinſchaft Ehrifti auf- 
nimmt, und auf biefen veinen und freien Gnadenwillen Gottes im 





Uber da8 Weſen des betfönfichen Ehriftenftandes, 408 


Chrifto bezieht fich ber Glaube auch ansſchließlich, am feine Recht⸗ 
fertigung durch bie Erkllrung aus einem ausreichenden Motive 
ſicher juſtellen. Die Reflexion auf das ſchopferiſche Wirken Gottes 
un iin kritt ihm nur beſtätigend hinzn. So war ja ſchon die 
SWirkſumkeit Chriſti an den Sundern anf Erben beſchaffen, daß 
derſelbe auf eine untrennbare Weiſe durch die Kmdgebung der be⸗ 
gntidigenden Vaterliebe Gettes ſie auzog und zugleich durch bie 
Offenbaruug ſeines ernenenden Geiſtes auf ihre Bekehrung ein⸗ 
wirkte, und wenn nun die Empfänglichen wirklich im Glauben an 
CEhrtiſtus fi) auſchloſſen, fo wurden ſie durch den Alt Ihrer Auf⸗ 
nahme zutzleich in bie lebendige Geiſtesgemeinſchaft Chrifti vollends 
hereingezogen, wuhrend ſie ih erſter Linte begnadigt, d.h. der Ver⸗ 
bung ihrer Sunden und der Kindesannahme verſichert wurden 
(Multh. 5, 5ff.; 11, 28ff.). Indefſen Bat z. B. auch Schleier⸗ 
macher (8 109, 4) mit alter Entſchiedenheit ausgefprochen, daß 
Die Reqhtfertigung ein freier und abfelater Gnadenalt Gottes jet, 
bei Bed (Eihkl I, 257 ff.) finder Fi dieſe Erklaärung in mehr 
teſtringletter Worte. Wenn mian die Rechtfertigung als That Gottes 
auf die gaͤnze Gemeinde beziehht, ſo wird das Wefentliche am der⸗ 
felben Aberhaupt fallen gelaſſen. Bezieht man dieſelbe aber auf ben 
einzelnen, fo muß man immer fragen, was dern die Rechtfertigung 
abgeſehen von dem wenigftens ſicher hinzutretenden Bewußtſein ders 
ſelben überhaußt Beute, und da doch alle das ketztere aus dem 
Glauben heittten, fo kann alſo die Rechtferizung nicht als voll» 
zogin gedacht werden, außer mit der vollen Erweckung des Glan⸗ 
bins (donatio Raei). DieB behult fehte Richtigkeit, wenn auch bie 
volle Gerttzhelt ver geſchehenen Rechtferligung für ben Glanben erſt 
SINHähtie odet Uberhaupt erſt ſpäter ſich einſtellen mag. Somit 
vdilzichz Gott Se Rechtfertigung des einzelnen allerdings durch ein 
duinerliches Banden an bein Geiſte, Hetz und Gewiffen desſelben, 
wit ja bie Bildung des Glaubens oder der Bekehrung ſchon zuvor 
ns intierliche und perſbatiche Entgegenkommen Gottes in Chrifto 
vorausſetzt. Auch nach Thomaſius vollzieht Gott die Recht⸗ 
feetiung vermoge eines Als wirkſamer Anſchauung desſelben 
als dies Glaͤubigen in Chriſto, und der Rechtfertigungsatt biekbt 
dem Merfcjen wit äußerlich, fondern vollzieht ft) im Glanben 
52 * 


494 Weiß 


und Gewiffen desfelden (Dogmatik $ 75). Wenn aber diejes 
zugeftanden wird, dann ift doch der „inmergöttliche Akt“, welchen 
Thomafius dem Vollzug der Rechtfertigung im Menſchen voran- 
geben Täßt, eben noch nicht dieſe felber jondern nur ihre Einlei- 
tung, fozufagen ihr erfter Zeil. Darf man aber aljo teilen beim 
Handeln Gottes? 

Wir begründen alfo die Rechtfertigung nicht auf die fitkliche 
Qualität, welche der Chrift durch den Glauben oder die Wieder- 
geburt fich erworben bat, nicht auf den Christus in nobis, wohl 
aber auf unfer Angeeignetfein im Glauben von Chrifto, auf unfer 
durch ihn bewirktes Sein in Ehrifto, wie auch Luther (7.2. 
zu Joh. 14, 20) gerne die Sache bdargeftellt hat. Und nun er⸗ 
giebt ſich allerdings als unmittelbare Folge der Rechtfertigung, daß 
in dem aljo zunäcft zur Begnadigung von Chrifto Angeeigneten 
auch Chriftus und der Heilige Geift einkehren, um durch diejen 
Alt das Werk der Wiedergeburt an ihm zu vollenden. Dem Ein. 
gehen oder Einwohnen des heiligen Geiftes entjpricht dann auf der 
fubjeftiven Seite die dankbare, Hingebende Gegenliebe gegen Gott 
und Chrijtus, wie fie ja von Paulus und Johannes aufs innigfte 
mit dem Beſitze des heiligen Geiftes verknüpft und als die un- 
mittelbarjte und gleichermaßen andauernde Erwiderung der fich mit- 
teilenden Liebe Gottes aufgefaßt wird (Nöm. 5, 5; 8, 28. Gal. 
5, 6. 1J0h. 4, 11ff.) Wir fegen aber auch voraus, daß der 
techtfertigende Glaube Chriftum ergreife oder daß der Chrift im 
Glauben von ihm angeeignet werde, fofern er nicht bloß ber Dffen- 
barer, fondern fpeziell in feinem ſühnenden Leidensgehorfam, als 
der Gekreuzigte und Auferftandene, der wirkliche Vermittler ber 
göttlichen Gnade, der wahrhaftige Bundesmittler und 
Verſöhner ift, welder burch feine fühnende Genugthuung ber 
heiligen DBaterliebe Gottes es möglich gemacht ‚bat, mit ben 
Sündern den volllommenen Bund der Gnade und die innigfte Ge⸗ 
meinfchaft des Lebens einzugehen (Röm. 5, S— 11. 2Kor. 5, 
18—21). 

Nur indem wir auch diefes Moment an dem objektiven Grunde 
der Rechtfertigung bewahren, bleiben wir in der Rontinuität der 
bibfifchen und der kirchlichen Lehre. Auf diefem Grunde wird auch 


Über das Weſen bes perfönlichen Chriftenftanbes, 495 


erſt der Rechtfertigungsaft jelber in feiner. tiefften Bedeutung: vers 
ftanden. Denn bei diefem Akte handelt e8 fich darum, dag zuerft 
da8 perfünliche Verhältnis zwifchen dem Heiligen Gott und dem 
fündigen Menfchen wieder richtig geftellt und ins Reine gebradt 
werde, ehe die Liebesgemeinfchaft zwifchen beiden fich vollzieht. Es 
muß alfo durch die vergebende Gnade Gottes die trennende Schuld 
des Sünders hinweggethan werben. Der Ernft dieſes VBorganges 
aber wird nur gewahrt, wenn Gott feine Vergebung auf einen 
von ihm felber veranftalteten Aft der Buße oder Sühne gründet, 
wie er von Chrifto als dem heiligen Stellvertreter der Menſchheit 
geleiftet worden ift und für diejenigen Geltung bekommt, welche 
durch den bußfertigen Glauben in die folidarifche Gemeinfchaft 
Ehrifti des Verfühners eintreten. Läßt man diefe fühnende Ver⸗ 
mittelung im Lebenswerfe Chrifti fallen, jo wird man entweder zu 
der Annahme Hingeleitet, daß die Sünde im vorcriftlichen Stadium 
feine wirkliche Schuld Gott gegenüber herbeiführe, oder man läuft 
Gefahr, nachträglich an der Gewißheit der Rechtfertigung zu zweifeln. 
Wenn die zuerft genannte Annahme ftattfindet, fo fehlt die Tiefe und 
Gründlichkeit der Buße vor dem Empfange und bie innige Dank⸗ 
barkeit nach dem Empfange der Rechtfertigung; beides wird nur 
unter dem Kreuze Chrifti des Verſöhners in feiner reinen Stärke 
erweckt werden. jener Zweifel aber müßte fich gerade bei den⸗ 
jenigen, welche als Glieder der chriftlichen Kirche aufgewachfen find, 
um fo leichter und kräftiger einftellen, weil fie in dem gewöhn⸗ 
lichen Falle, daß fie erft in fpäteren Jahren zur Belehrung kom⸗ 
men, ihre im Stadium vor der Belehrung begangenen Sünden 
noch entfchiedener als wirkliche und perjünliche Schuld fich anrechnen 
müffen als etwa ſolche, welche vom SHeidentum oder Judentum 
herüber zu Chrifto geführt werden. Alfo nur indem das Evan⸗ 
gelium dem Sünder die Gnade Gottes verfündigt, wie fie ihm in 
Ehrifto dem Verſöhner entgegenkommt und indem der Geift 
Gottes ihn zur Aneignung derjelben einladet, kann in ihm das 
trennende Mißtrauen gegen Gott oder bie Furcht des böfen Ges 
wiſſens völlig fchwinden und jenes ebenjo demütige als freudige 
Vertrauen zu ihm ſich bilden, welches die Grumdiage für die Recht⸗ 
fertigung und ihren Frieden abgiebt. 


496 | Weitß 


3) Bewahrung, Entwickelung und Gewißzheit des neuen 
Lebensftandes, 


Menden wir und zunächſt zu der Frage von ber Memwahrung 
und damit zugleich von der fittlihen Bedentugg des ueuen 
Beheneftandes. Wäre herfelbe einfeitig duch Gottes allmächtige 
Gnadenwirkung in dem Subielte hervorgerufen, in welchem Kalle 
er denn auch ganz wie eine höhere Natur oder Naturkraft fich 
darftellen würke, dann wäre er and unnerlierbar, er hätte nur 
feine Kraft zu entfalten und zu bethätigen. Durch unfere ges 
ſamte Entmidelung ift eine ſalche Porſtellung gaugsgeſchloſſen. 
Awiſchen dem perſönlichen Bott und feinem kreatürlichtzn Ebenbilde, 
dem Menſchen, hann nur eine perſönliche, ethiſche, d. h. in ihrem 
innerſten Kerne durch den Willen und bie Freiheit beffimmte Ber 
ziehung ſtattfinden. Zwar wird die Freiheit und Geiſtigkeit des 
Menſchen im nollen realen Sinne erſt im der Wiedergeburt you 
Gott geichaffen, aber «8 gejchieht wenigftens unter der Mitwirkung 
der freien Empfünglichleit des Menfchen, und gerade ber &laybe, 
durch welchen hie fittlich-geiftige Perfönlichkeit zur vollen Altugli⸗ 
tät gelangt, kann nur als das Band einer chenfg freien glo innjgen 
Gemeinſchaft mit Gott gebacht werden, und ebenſo bifdet hie gue 
ben Glauben entjprungene Liebe zu Gott ein Prinzip, morie die 
veinfte Hingabe an denfelben mit der höchſten Selbſtändigkeit nah 
fittlichen Aktivität wereinigt iſt. Somit heiteht eine Gemeinſchaft 
auch nur fort durch die Fanginuierliche That des Glaubens, 
durch hie heftändige Wiedererzeugung jener geiftigen Grundrichtung, 
ang deren erftmaligem, enticheibendem Auftreten dns neue Leben 
gehpren worden ift. freilich die Gnade Gottes, durch welche ber 
Akt des Glaubens bemirft worden ift, wird unter der Bewahrung 
derfefhen in dem Subjekte immer Fröftiger und gebt tiefer in das⸗ 
ſelbe ein, fo daß her Glaubensgkt und Glauhensſtand demſelben 
immer mehr erleichtert, immer mehr natürlich und hahitnell und 
alſa das Band der Gottesgeweinſchaft immer inuiger und fefter 
wird. 

Dabei ift nun aher folgender Punkt wohl zu erinägen, welcher 
gewöhnlich unter dem Titel von Glaube und Werke abgeban« 


Über das Weſen des perfönlichen Chriſtenſtandes. 497 


delt wird. Der Glaube bildet zunächft den intelligibeln Cha- 
rafter des Wiedergeborenen d. h. den innerften Punkt feiner per- 
fönlichen Lebensrichtung, wodurch er mit Gott und dem Reiche 
des ewigen Lebens in Chrifto zufammenhängt; das in ihm gejeßte 
Prinzip des göttlich-geiftigen Lebens ift aber nach nicht zum em⸗ 
pirifhen Charakter des Menſchen geworden, e8 muß fidh dort 
erft ausbreiten und auswirken in der Succeffion zeitlicher Seelen» 
afte und in dem gefamten Umfange des pfychifchen Organismus 
in der Wechjelwirkung mit dem finnlichen Bewußtſein und dem 
weltlichen Leben. Hierfür ift nunmehr die Grundlage in der 
neuen Perfönlichkeit gejchaffen, während ohne die Bafis der Wieder- 
geburt da8 Subjekt gerade an den fucceffiv hervortretenden Auf⸗ 
gaben, welche da8 Leben dem fittlihen Streben ftellt, ohne durch» 
greifenden Erfolg fi abmüht und niemals ein Ganzes oder Voll- 
kommenes bervorzubringen imftande iſt. Wie leicht zu erfehen ift, 
laſſen fich hier das innere und das äußere Handeln oder empi⸗ 
riſcher Charakter und Wandel nicht von einander fcheiden, beide 
müffen fortan mit einander von dem neuen übermweltlichen Prinzipe 
des Geiftes beftimmt, durchdrungen und gereinigt werden, die Wieber- 
geburt muß fih fo in die Heiligung umfegen und darin be 
währen (Nöm. 6, 11ff.; 8, 1—14. Gal. 5, 16. 25 vgl. Matth. 
16, 24ff.). Heiligung und Wiedergeburt ſtehen, wie auch fchon 
Schleiermacher bemerkt hat (8 106, 1; 110, 3) in einem Der 
bältnis zu einander, welches demjenigen parallel geht, defjen Nach⸗ 
bild es ift, welches bei Chrifto ftattfindet zwiſchen dem Alte ber 
Bereinigung des Göttlichen mit feiner menfchlichen Natur und 
zwiichen der Entwidelung und Wirkungsweife feiner Berfon wäh⸗ 
rend des Dereintfeins von beiden im derfelben. Hierher gehört 
auch die Bemerkung Schleiermachers in der „chriftlichen Sitte“ 
(S. 312): „Soll bie Wiedergeburt ein Begriff fein, der Realität 
bat, fo kann fie nichts anderes fein als die Einigung des 
göttlihen Geiſtes mit der menſchlichen Sntelligenz, 
und diefe Einigung rein für fich betrachtet muß als vollendet 
ericheinen, denn ber göttliche Geift ift mit ihr als Impuls oder 
als Agens im Menfchen gefetst und an ein Mehr oder weniger 
iſt dabei nicht zu denken, ohne den göttlichen Geift felbft dem 


498 Weiß 


Mehr oder Weniger zu unterwerfen. Ein anderes aber ift es 
mit der Einwirkung diefer Einigung beider auf den 
pfyhifden Organismus (vgl. Rothe, 8 86 und 200. 
Harleß, Ethik $ 25). 

Aber nur indem das neue Leben fi alfo bewährt, kann es 
fich auch bewahren. Zwar hängt die Bewahrung vor allem von 
der befchriebenen ftetigen und kräftigen Neproduftion des Prinzipes 
d. h. des Glaubens ab, aber doch auch von ber Durchführung des 
Prinzipes im zeitlichen Verlaufe des Seelenlebens und im verein- 
zelten Handeln, in welchem die entgegengefeßte Richtung des alten, 
natürlich fündigen Lebens fortfchreitend aufgehoben werden muß. 
Ora et labora, diefe doppelte Bewegung des Geiftes ift auch zur 
Bewahrung des neuen Geiftcölebens notwendig, und die Intenſität 
beider Seiten wird nur vorübergehend eine ungleiche fein Können, 
weil eine Wechſelwirkung zwijchen beiben befteht und weil beide in 
derfelben Wurzel der religiös-fittlihen Energie des neuen Sub- 
jeftes ihren Grund haben und zufammenlaufen. Wohl aber dürfen 
wir dem Gedanfen Raum geben, daß bei ftetigem und treuem 
Feſthalten und Arbeiten nach beiden Seiten hin in der Erneuerung 
der Gottesgemeinjchaft und im Geſchäfte der Heiligung zuletzt eine 
folhe eftigkeit der erfteren und eine ſolche Durchführung der 
leßteren eintrete, baß der neue Lebensftand ein unverlierbarer 
werde und nun im engeren Sinne zu einem Stande der Boll- 
tommenbeit, foweit diefelbe auf Erben erreichbar ift, geworben 
ſei. Durch diefe Annahme glauben wir das Intereſſe des Glaubens 
und die betreffenden Ausjagen des Neuen Zeftaments, welche auf 
eine Unverlierbarfeit des Gnadenſtandes gerichtet find, um deren 
willen auch viele Neuere (Schleiermacher, Nitzſch, Rothe, 3. 
Müller, Dorner) diefelbe dem Wiedergeborenen als folchen beilegen, 
zu befriedigen und doch auch denjenigen Momenten Rechnung zu 
tragen, welche die Verlierbarfeit des Gnadenftandes begründen. 
Während Glaube und Wiedergeburtsftand an fih noch einen lös⸗ 
baren Zufammenhang zwifchen der menfchlichen Subjektivität und 
Chriſto darftellen !) fann auf dem Grunde diefes Zufammenhanges 


3) Diefe Behauptung ſcheint fi auch aus ber fittlichen Natur der fiden 





Über das Wefen des perfönfichen Chriftenflandes. 499 


und unter der Mitwirkung ber neuen Perfünlichkeit da8 Band ber 
Semeinfchaft mit Chrifto fo feft geknüpft und das Leben des 
heiligen Geiftes fo völlig in den gefamten inneren Organismus 
derfelben aufgenommen und eingeführt werden, baß der neue Lebens⸗ 
ftand, zu einer anderen höheren Natur ausgebildet, ein uns 
verlierbarer und unzerftörbarer geworden ift. Der Zufammenhang 
mit Chriftus ift zur wirklichen Ähnlichkeit mit ihm und zu einem 
Berklärtfein durch ihn, wie zu einem Eingelebtfein in ihn fortgebildet ; 
der Wiebergeborene tft aus dem Stadium der Kindheit in das 
gereifte Mannesalter eingetreten, in welchem die Richtung der Per- 
fönfichkeit eine fefte und ausgebildete geworden ift, und an eine 
Änderung ihres Grundeharakters ift namentlich deshalb nicht mehr 
zu bdenfen, weil er auf dem Grunde der Gnade und Treue Gottes 
in Chrifto ruht, welche ihr begonnene und unter der Mitwirkung 
des Gläubigen bis zu diefem Punkte fortgeführtes Wert nun auch 
vollenden wird (Röm. 8, 28ff. 2 Kor. 4, 6ff. Phil. 1, 6. vgl. 
Joh. 17, 1ff. 1905. 2, 14. 19; 3, 6—9). Empirifch Täßt ſich 
freilich die Thatſache diefer erreichten Reife des Ehriftenlebens nicht 
feftftellen, der Ehrift ſoll feine Seligkeit bis ans Ende mit Furdt 
und Zittern und in ftetS ernewertem Suchen ber göttlichen Gnade 
fhaffen und nur daneben deffen fich immer wieder getröften, daß 
die Treue. Gottes ihn fefthält und am feiner Vollendung arbeitet 
(Röm. 8, 12—17. Phil. 3, 12—15; 2, 12. vgl. Joh. 10, 
27ff.; 14, 1-17). Am wenigften kann davon die Rebe fein, daß 
der zu folder Stufe der Vollkommenheit fortgefchrittene Chrift 
das Wohlgefallen Gottes und die ewige Seligkeit nun wie ein 
Recht oder Berdienft beanfpruchen und damit den Grund ber recht: 
fertigenden Gnade verlaffen würde (Luf. 17, 7). Aber in dem 
entwidelten Sinne muß auch auf evangelifhem Boden von chrift- 
licher Vollkommenheit gefprochen werden. Wenn dagegen die eine 
oder die andere Seite jener oben bezeichneten Doppelbewegung ans 


zu ergeben, welche die evangeliiche Lehre, und zwar die Iutherifche noch konſe⸗ 
quenter als die reformierte, behauptet. Die fides und peccata mortalia (pec- 
cata contra conscientiam) Fönnen nicht zufammen beftehen. Vgl. Joh. Ger- 
hard, Loc. XVH, $ 188 ff. und XVIU, 8 134—140. 


Weiß 


haltend verſüumt oder vernachläſſigt wird, dann muß das Band 
der Gottesgemeinſchaft wieder erlahmen oder reißen, das neue 
Geifteslehen ind Stocken und Siechtum geraten und zuletzt erfterben. 
Wer da hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, von dem wird 
auch genammen, was er hat, der trügeriſche Schein des Lebens 
kann vielleicht längere Zeit vorhalten, der Wiedergeborene kann, 
gerade, wenn es ihm an ber rechten Wachſamkeit über fich ſelbſt 
fehlt, hei dem allmäßlichen Dahinfchwinden feines neuen Lebens fid 
wohl auch felbft über feinen Zuftand täufchen; aber wie ber Fort- 
fhritt und das Wachstum in der Vollendung der neuen Berfün- 
lichteit, fo muß früher oder fpäter die Untreue ind die Abnahme 
im Verfall und Tode derjelben offenbar werden. 

Bon bier aus läßt fih nun auch die Frage nad ber Gewiß—⸗ 
heit des neuen Lebensſtandes (certitudo salutis) annähernd 
beantworten. Wenn wir den neuen Lebensftand in dem gefamten 
bisher entwidelten Sinne überhaupt als wirklich ſetzen, fo muß der 
darin befindliche Chriſt auch eine gewiſſe perfänliche Erfohrung und 
Überzeugung davon haben oder doch nad) einiger Zeit gewinnen. 
Ein fo neues, fpezififches und entjcheidendes Geiftesleben kann für 
denjenigen, welcher es errungen bat, beziehungeweile dem es 
von Gott gejchentt worden tft, nicht dauernd verborgen oder 
ungemiß bleiben (Röm. 5, 5; 8, 14—16. 2 Kor. 5,5. Eph. 1, 
13f. 1 Joh. 3, 18—20. 24; 4, 17ff. vgl. Joh. 14, 21; 15, 
45; 16,24; 17, 22f.). Allerdings kann das Bewußtſein vor ber 
eylangten Gewißheit und auch nad) berfelben längere Zeit ſchwanken, 
wenigftens fa lange nicht jener oben befchriebene Stand der Reife 
oder Bolllommenbeit erreicht wird, welcher vielleicht wenigen 
Ehriften auf Erden befchieden ift. Bor der Belehrung kann ja 
der Borbereitungszuftand ſchon viele Ähnlichkeit mit dem Stande 
des neuen Lebens zeigen, und nach derfelben treten nicht felten Zu⸗ 
fände des Rampfes und der Schwäche ein, welche zu Zweifeln über 
das Vorhandenjein des neuen Lebens führen können; für fo viele, 
welche in der chriftlichen Kirche aufwachfen, ift ohnehin der letzte 
Übergang aus dem Stadium der Vorbereitung in den neuen Lebens⸗ 
ftand ein fo innerlicher und verborgener, daß der Moment bes 
Übergangs fich empirisch durchaus nicht fixieren läßt, und da wir 





Über das Weſen bes yerfiefichen Chriſtenſtandes. Sn 


auf ber amberen Seite die Möglichkeit des Abnehmens und Er⸗ 
fterben® im neuen Leken nicht ausgefchlofien haben, fo kann aud) 
ein banges Schwanlen darüber entfliehen, ob nicht bereits wieder 
der Berluft des neuen Lebens eingetreten fe. Wenn man biefe 
Schwierigkeiten erwägt, in weldden der Chriſt fich befindet, ſobald 
er Hber feinen Beſiiz des neuen Lebens zur Gewißheit gelangen 
wi und hbany weiter hebeult, welden Schaden er ebenfomohl 
durch ängftliche Skrupulafität als durch eitle Einbildung fich zu⸗ 
zießen Tann, zumal vollends, menn diefe Srage noch mit der an⸗ 
deren von ber götilichen Ermählung in Verbindung geſetzt wird, 
fo Begreift man die YZurüdhaltung, ja den Widerwillen, womit 
auch einzelne evangeliiche Theologen der Behauptung gegenüber 
ftehen, daß eq eine nerfünliche Semißheit des Gnadenftandes gebe 
und geben falle. SIudeflen ift der Widerfpruch gegen die Erlenn⸗ 
barkeit des Gnadenſtandes, ſpeziell gegen die ſubjektive Heilſsgewiß⸗ 
heit, öfters ber Verräter der nieht deutlich erfannten ober auch ber 
kanuten Anficht, daß «6 überhaupt Teinen ficheren Heilsftand des 
Subhjektes gehe, welder von dem Stadium bes bloßen Trachtens 
nach dem Heil heftimmt gefchieben wäre. Diefe Anſicht glauben 
wir durch unfee gefomte Ertwickelung widerlegt zu haben, fie 
kann auch nur dazu fühnen, die abfolnte Bedeutung ber Er⸗ 
löfung aufzuheben und mod; fpeziell den Ernſt der Belehrung 
und den Wert des Glaubens fomie die Freudigleit des neuen 
Gehorſams abzuſchwächen oder auch das Suhjelt, wie im Ka⸗ 
tholieiaus, an Me ſleitende Macht der Kirche d. h. des Prieſter⸗ 
tus zu überfiefern, 

Bielleicht mürde aber auf enangelifhem Boden wenigftene ber 
Widerwille gegen die behauptete Heilsgewißheit verfchminben, wenn 
ftet® der Grundſatz heobarhiet würde, daß niemand weder hei an⸗ 
been up bei firh ſelber denjelben durch hejondere Er⸗ 
forſchung ader durch außeyordentfiche Anftrengungen feft« und. 
ficherauftellen ſucht, weil dieſe Gewißheit ba, wa dag neue Leben 
narhanden. ift, ſchon von ſelher fich aufbringen werde und ſich auf« 


4) Rgl. ſchon bie teeffenbe Poſemikl Calvins gegen Anabaptiſten ums 
Jeſuiten (Inst. IIL 4, 2. 14), Ähulich Luther in der Schrift „Wide bie 


602 | Weiß 


dringen muſſe !). Es verhält ſich hier doch ähnlich wie mit ber 
leiblichen Gefundheit, über deren Borhandenfein diejenigen aus na» 
türlihen Gründen am wenigften reflektieren, welche fie wirklich 
befigen. Leben will, wie fchon Bengel in unferer Frage her- 
vorhebt, erlebt fein, und wer es erlebt, der gelangt auch zu 
dem frohen Gefühle feines Beſitzes, wer es aber nicht erlebt, ſieht 
auch früher oder fpäter die Einbildung feines Befſitzes dahin⸗ 
Ihwinden. Allerdings find auch die naturgemäßen und von Gott 
geordneten Bedingungen zu erfüllen, welche ein gefichertes und 
zuweilen auch gehobenes Gefühl des neuen Lebens herbeiführen. 
Diefe Bedingungen find dreierlei; einmal der unmittelbare 
Glaubensakt auf dem Grunde des Evangeliums, der Sakramente 
und des chriftlichen Gemeinfchaftstebens, welcher allmählich den Cha⸗ 
rafter einer ftetig fich reproduzierenden Gefinnung annimmt, jodann 
die befondere Erfahrung der Gottesgemeinſchaft im Gebet oder 
überhaupt im geordneten Umgange der Seele mit Gott, endlid 
ganz befonders noch die Bewährung des neuen Lebens im geord- 
neten fittlihen Handeln. Unter der normalen Bereinigung dieſer 
drei Funktionen wird die göttliche Verficherung durch den heiligen 
Geiſt, ohne welche es feine perfönfiche Heilsgewißheit geben Tann, 
beim GChriften ſich einftellen. Dagegen entftehen bei einfeitiger 
Pflege der einen oder der anderen von den genannten drei Thätig- 
feiten abnorme, ungefunde Richtungen, ebenfo bei allen dreien, 
wenn nicht die naturgemäße, geordnete Übung derfelben eingehalten 
wird. WIN man dur einfeitige, überfpannte Reflexion auf die 
objeltiven Gnadenmittel und auf bie Kirchliche Gemeinſchaft ſich 
des Gnadenftandes verfichern, fo entjteht die falſche Kirchlich— 
feit, und wir nähern und dem Katholicismus, will man das⸗ 
ſelbe bewirken durch Fünftliche Pflege und Steigerung des inneren 
Umganges mit Gott und Chriftus, fo entfteht myftifher Spi- 
ritualismus und Separatismus, will man endli das 
Ziel erreichen durch einfeitige und gefteigerte Übung des fittlichen 
Handelns, der guten Werke, alfo vielleicht mit befonderer Vorliebe 


bimmlifchen Propheten“. Im meientlichen ift damit das Prinzip des Methodis⸗ 
mus fon verurteilt. — Zn 





Über das Weſen des perfönlicsen Chriftenftandes. 508 


durch Übung folder Werke, welche nicht direkt durch den Beruf 
borgezeichnet find, fo entfteht der Prakticismus mit feinen ver- 
fchiedenen Färbungen mehr kirchlicher oder mehr perjönlich-asfes 
tifcher oder auch mehr weltlicher, moralifierender Art !). Wir wieber- 
holen alfo, daß die perfünliche Heilsgewißheit als ein fpezififches 
Lebensgefühl von Gott demjenigen früher oder ſpäter gefchenft 
wird, welcher in jenen für den Chriftenitand unentbehrlichen drei 
Richtungen bie naturgemäßen, geordneten Funktionen ausübt, und 
fie wird ihm, wenn auch Hinfichtlich der Intenſität als eine 08 
cillierende, fo lange verbleiben, als er biefelben in normaler Weife 
ausübt. Das Chriftenleben wird bei normaler Vereinigung der 
genannten Funktionen namentlich auch jene gefunde und erhebende 
Harmonie ruhiger, feliger Heildgewißheit und ernten Heiligungs- 
ftrebens barftellen, welche die Signatur feiner Vollendung bildet 
und die höchſten chriftlichen Charaktere, wie einen Apoftel Paulus, 
Luther, Bengel auszeichnet, wie fie uns als Produkt gegenfeitiger 
Durchdringung des Intherifchen und des reformierten Typus ber 
Srömmigleit vorihwebt (Schleiermadher $ 101, 13). 

Man kaun mit einem gewiffen Rechte jagen, das eben bes 
Schriebene geſunde Erleben der Heilsgewißheit ſei felber fchon die 
Erfahrung des ewigen Lebens; nur follte nachdrücklich hinzu⸗ 
gefügt werden, es jei dies nur der unvolllommene Beginn bes 
ewigen Lebens, welcher auf die jenfeitige Vollendung harre, aber 
auch das fichere Unterpfand derſelben darftelle (Joh. 11, 25f. 
2Ror. 5, 5ff.). Daß Gott, der Bater der Geifter und bie 
Liebe felber, nicht ein Gott der Toten, fondern der Lebendigen ift, 
bewährt fi uns zunächſt darin, daß er die nach feinem Bilde ges 
ichaffenen und zur Gemeinfchaft mit ihm berufenen Menfchen zus 
erft auf Erden geiftig lebendig macht und zu feiner Kindfchaft er- 
hebt in Chriſto, dem Urbilde und Herſteller diefer Kindfchaft ımd 





1) Bgl. Schleiermacher, Glaubensichre 5 87, 2 und 3. Calvin, 
Inst. Lib. III, 14, 16—21. Melandthon, Loc. de praedestinatione. 
Luther auf der Höhe feines Glaubensidenlismus (3.8. in „de lib. christ.‘“) 
bedarf der Neflerion auf die Werke gar nicht, obgleich ihm dieſelben aus dem 
heilsgewifien Glauben ummittelbar folgen. Dagegen vergleiche wieder Job. 
Gerhard, Loc. XVII, $ 26; vgl. $ 82 ff. 104. 


804 Weiß: Über bad Weſen des perſbulichen Chriftertlandes. 


dieſes Lebens. Indem er hierzu bie Bahn der Erldfung dm 
ſchlägt, Hat er zugleich denjenigen Weg gewählt, auf welchem allen 
für unfere menſchliche Einficht bie teligiöfe Abhingigkeit und Sie 
fittliche Freiheit, göttliches utd menfchlichee Zuſamccenwirken, und 
auch unter den Meunſchen felber individnelle Perfünlichleit und ſitt⸗ 
liche Gemeinfchaft zu demſelben Ziele der Hervorbringung eines 
gottebenbildlichen Geifterreiihes auf dem Wege allmitihlicher Gut: 
wickelung und Arbeit fi vereinigen lufſen. Diefe in Chrifto er⸗ 
löften und erneuerten Perfonen bilden in ihrem gliedlichen Zu- 
fammenhange bie neue Menſchheit, ben Leib Ehrifti, in Ihrem 
Durhdrungenfein vorn Gott und feinem Leben fein wahrhaftiges 
Reich. Ihrre Werke haben in erfter Linte der Förderung und Ent 
widelung ihres perfönlichen Lebens zn dienen, der letzte Zweck 
Gottes Tiegt nicht in den Werken der Kinder Gottes ſondern ia 
itmen felber und in ihrer Gemeinfchaft mit Gott ums unter ein⸗ 
nanber, welche der Tempel Gottes iſt und die Offenburung feine 
Hirrlichten (1 Kor. 15, 28. Veh. 17, 22ff.). 

Det perfönlihe Chriſtenſtand auf Erben, wie ur aus 
bet Offenbarung Gottes in Chrifto vom Himmel, aus bot Tiefe des 
göttlichen Lebens, ſtammt und die Kräfte des göttlichen, ewitgen 
Lebens in diefer irdiſchen und fündigen Menſchenweit offenbart, 
iſt amd die befte Apologie des Chriftentums und Ber fidßerfie 
Deweis für die von den Ehriften erhoffte Vollendung im hinm—⸗ 
liſchen Leben. Don diefer Thatſache hat bahet auch alle Theo 
logie ausgehen, und amf diefelbe Hat fie alles zu beziehen. Huf 
dtefem runde Het fie bie Delle der Selbfägewibhelt und einen 
mmerſchüttetkichen Deſtand, in biefes Befchtündung zuncichſt eine um 
aufechtbare Poſition, an dieſet Vorausſetzung zunüchſt einen wi 
trüglichen Maßſtab und Prufftein der Lehre (vgl. dus testimenitim 
Spiritus saneti), Abre ihr Standpunkt Befindet ſich ke Mittels 
punkt aller höheren menfchlichen Betrachtung, jaim Mittelpuntte 
des Gott und die Menſchheit umfaſſenden gelftigen 
Lebens, und deshalb ift die Theologie chen nicht bloße Anthrv⸗ 
pologie oder empirifche Anleitung zum feligen Leben, fondern fie 
ift das Zeugnis von den höchſten Wahrheiten über Gott und bie 
Menfchheit, über ihre Vereinigung in Chriſto and über den dur 


Klöpper: Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid 2c. 5 


tn angebahnten Weg und das zulünftige Ziel der Vollendung der 
Menſchheit in Gott und in feinem Weiche. 


3. 


Der ungewallte Flicken und dns alte Kleid, Der 
nene Bein und Die alten Schläude ). 


Born 


D. Xldert Alöpper. 





Es ift bekanntlich Teine vereinzelt daftehende Erfcheinung tn 
der nenteftamentlichen Exegeſe, daß über den Sinn von gewiſſen 
Schriftworten, die jedem Nichttheologen ohne weiteres Kar zu fein 
fcheinen und deshalb als Sprihwörter in den täglichen Gebrauch 
übergegangen find, trogdem unter ben Fachmännern bie verſchie⸗ 
benften, ja entgegengefettten Anfichten ſich erhalten oder neu er» 
zeugen. Zu diefen Stellen gehört nit am wenlgften auch bie, 
der wir im Folgenden unfere Aufmerkſamkeit zuwenden wollen. 
Wir tönnen uns der Aufgabe entheben, die Gefchichte der Aus⸗ 
legung bes betreffenden Abfchnittes, auch nur im Umriſſe zu ver⸗ 
zeichnen, da dies vor nicht langer Zeit in dankenswerter Weiſe 
von W. Beyfchlag ?) gethan ift, und amch der auf biefem Gebiete 
gut orientierte H. Holgmann eine kritiſche Überficht über die 
bez. neueren Verhandlungen gegeben Hat °). Wenn wir trotz biefer 
und anderer, namentlich der verfchiedenen, auch den fraglichen Ge⸗ 





1) Matth. 9, 14—17. Marl. 2, 18—22. Luk. 5, 33—39. 

3) Der Gleichnisreden Jeſu Matth. 9, 14 — 17 u. ſ. w. Oſterprogramm 
der Unviverſität Halle⸗Wittenberg. Halle 1876. 

3) Jahrbb. für prot. Theol. IV, 332342. 


506 Klöpper 


genftand bejprechenden Schriften von B. Weiß, uns von neuem 
der Erörterung jenes zuwenden, fo ift e8 von dem Bewußtſein 
aus gefchehen, daß bei allen, der Deutung unferer Perikope ges 
widmeten uns befannt gewordenen Publikationen, noch gewiſſe 
Dunfelheiten und Zweifel zurüdlaffende Punkte rüdfichtlih bes ur- 
ſprünglichen Sinnes ber parabolifchen Ausſprüche Jeſu im Rück⸗ 
ftande geblieben zu fein fchienen, welde uns zu weiterer Klar⸗ 
ftellung berfelben die Aufforderung geben. 

Voraus geht bei allen drei ſynoptiſchen Evangeliften !) der Be 
richt, dag Jeſus im Haufe des Zöllnere Matthäus (Mark. und 
Luk.: Levi) mit vielen Zöllnern und Sündern gefpeift Hat; dieſer 
Umftand von den Pharifäern (Mark.: Schriftgelehrten der Pha- 
rifäer, Luk.: Schriftgelehrten und Pharifäer) einer tadelnden Kritik 
unterworfen wird, der gegenüber Jeſus fein Verhalten mit dem 
Ausfpruch verteidigt, daß nicht die Gefunden fondern die Kranken 
des Arztes bedürfen, und daß er nicht gelommen fei, die Gerechten 
Sondern die Sünder zu berufen. 

Der nun folgende Abfchnitt fcheint nach allen drei Referenten 
in irgendwelcher näheren, zeitlichen Verknüpfung mit dem vorauf- 
gehenden zu ftehen. Matthäus macht dies am merklichften durch 
fein: „rors mgooseygovraı auto os nadnral Indvvov Asyovres“ 
(9, 14); aber aud) die „os de“ des Lukas (5, 33) weifen auf 
die V. 30 namhaft gemachten Schriftgelehrten und Pharifäer zu- 
rüd, die alfo noch al8 gegenwärtig vorgeftellt zu werben fcheinen. 
Am lockerſten erfcheint die Verknüpfung dieſes Paffus mit dem 
Boraufgehenden, bei Markus, wenn er ihn mit den Worten ein- 
leitet: „Kai noav of uadnıal Imavvov xal oi Dapıcaloı vr- 
orsvovrsg xal Eoyovras xai Asyovos auto x. v. A.“ Diefe 
Worte laſſen bekanntlich eine zwiefache Deutung zu. Entweder 
giebt Markus durch das yoa» — vnovevovseg eine archäologifche 
Notiz; wogegen aber nicht ohne Grund bemerkt worden ift, daß 
man in biefem Falle ein roAld oder nuxva als Zufag erwarten 
follte. Oder derfelbe Hat andeuten wollen, daß ſich zu der Zeit, 
wo Jeſus fih an einem Gaftmahle mit Zöllnern und Sündern 


1) Matth. 9, 10—13. Marl. 2, 15—17. Luk. 5, 29 - 32. 





Der ungewaltte Flicken und das alte Kleid ıc. 507 


beteiligte, die Johannesjünger und Bharifäer eine Faſtenübung ab⸗ 
gehalten hätten !). 

Was nun die Perfönlichkeiten der Fragefteller anlangt, fo wird 
man beim erften Anblid bei Markus dazu veranlaßt, anzunehmen, 
daß die nämlichen Subjelte, von denen ein damaliges Obfervieren 
von Faften notiert war, auch die Fragenden gewejen fein müßten. 
Allein die Frageitellung felbft: „dee vi 05 uednrai Inavvov xei 
os zav Pagıcalwv vnorevovar“, läßt doch jene Annahme kaum 
zu, da man nicht begreift, warum die Fragenden von fich felber 
in der dritten Perfon gefprochen haben follten. Nimmt man aber 
an, daß das Subjelt indem Zoxovras xai Asyovoı audro ein uns 
beitimmtere8 wie zıwös ray Dapıcalov (Marl. 2, 6; fo Bey⸗ 
Ihlag; Weiß: „Die befannten Gegner Jeſu“) geweien fei, fo ift 
jwar „os nadmrai voö ’Iodvvov‘ korreft, aber ftatt ‚os zwv 
Dapıoalov“ sollte man doc wohl eigentlih erwarten ,,oi 
Nuszegos““, 

Bei Lukas können die Sragefteller nur die Schriftgelehrten und 
Phariſäer fein, welche wiffen wollen, warum die Jünger des Jo⸗ 


1) Wenn Weiß hHiergegen (in der 6. Aufl. des Meyerſchen Kommentars 
I, 2, ©. 38) bemerkt: daß aber auch nicht der Tag des Feſtmahls V. 15 ge 
meint fei, fondern Markus ung in eine ganz neue Situation verfege, um an⸗ 
zudeuten, daß fich die Erzählung wieder fachlich anreiht, fofern die Gegner ſich jetzt 
mit ihrem Borwurf an Jeſum felbft wenden, obwohl fie deufelben nod) in eine 
Kritik des Verhaltens feiner Schüler Heiden: jo legt ſich die Frage nahe, welche 
Bedeutung haben im angenommenen Falle die WW. joav vnorevorzes? Sollen 
fie wiederum nur als eine archäoloifche Nebenbemerkung angejehen werden ? 
Wenn dies aber nad) dem „Leben Jeſu“ des Berfaffers (I, 513) nicht ange- 
nommen und die Sadjlage dort fo geſchildert wird: „Es war an einem der 
traditionellen Fafttage, an dem die Pharifäer und alle, die ſich durch Frömmig⸗ 
keit auszeichnen wollten, fafteten, wo man Jeſum fragte u. ſ. w.: jo wird man 
fragen dürfen, was war da8 für ein traditioneller Faſttag? Etwa der große 
Berföhnungstag ober ein wegen einer Landesfalamität Öffentlich ausgefchriebener 
Fafttag? In beiden Fällen möchte e8 fich aber ſchwerlich begreiflich machen 
laffen, daß Jeſus und feine Jünger ſich von ihrem ganzen Volke jo tfoliert 
haben follten, daß fie fih nicht mit am dem beteiligten, wozu die Pharifäer und 
alle, die ſich durch Frömmigkeit auszeichnen, wollten ſich in einer durchaus ber 
Schrift gemäßen Welle gedrungen fühlten. 

Theol. Stud. Jahrg. 1886, 33 


508 Klöpper 


hannes Häufig faften umd Gebete verrichten in ähnlicher Weiſe wie 
auch die Junger der Pharifäer. 

Endlich bei Matthäus find die Fragenden die Johannesjünger. 
Sie fagen: „dia se nusic xai ol Dapıcaloı vnowsdouev Tolle, 
ob dd uadnzal aov od vnorsvovan.“ Man bat gegen biefe Stel. 
lung ber Frage eingewendet, daß es unpafjend geweſen fein wiirde, 
wenn die Yohannesfünger von Jeſus den Grund (das Motiv) ihres 
eigenen häufigen Faſtens hätten erfahren wollen. Allein diefer Ein- 
wand ließe fich eben fo gut erheben gegen die Bormulierung der 
Frage bei Markus und Lukas, da dort die Schriftgelehrten ber, 
tefp. und Pharifäer doch auch das Motiv des Faftens ihrer Schüler 
zu wiſſen beanſpruchen. Jener Einwand erledigt fi) einfach da⸗ 
durch, daß man die Ungelenkheit in der Periodenbildung der hebrai- 
fierenden Sprache bei Matthäus in Rechnung zu ziehen bat ?). 
Die Yohannesjünger bei Matthäus wollen offenbar nicht ſowohl 
wiffen, warum fie felber nebſt den Pharifäern häufigen Faften⸗ 
übungen ſich unterziehen, fondern vielmehr: weshalb, während 
fie und bie Bharifäer?!) Häufige Faſten abhalten, So 
Jünger fih des Faftens enthielten ?). 


1) Ganz ähnlich Tiegt die Sache Matth. 13, 11, wo Jeſus auf die Frage, 
weshalb er zu den 5xAos in Parabeln. rebe, antwortet: „ors vuiv SEdoras 
yvavaı rd uvorigia tüs Paoıdslas Toy ovgaruv, &xelvois dE vv dedoras“: 
d. h. weil, während e8 auch gegeben ift, zu erfennen..... ‚8 jenen aber nicht 
gegeben if. Bol. au Matth. 11, 25, wo Jeſus feinem himmlischen Bater 
dafür dankt, daß während dieſer dasfelbe (d. h. die Geheimnifie dee 2. ©.) 
den Weiſen und Berftändigen verborgen, er e8 ben Unmündigen offenbart habe. 

2) Wenn Weiß und Beyſchlag es als eine „Seltſamkeit“ bezeichnet 
haben, wenn die Sohannesjünger fi) auf die Pharifäer, das Otterngezücht ihres 
Meifters, berufen haben follten: fo will da® um fo weniger befagen, als ja die 
Johannesjünger den Pharifäern ihrer ganzen Geiftesrichtung gemäß weit näher 
flanden als Jeſus den Pharifäern, und biefer tro der anderweitig fchärfften 
Polemik, namentlich gegen ihre Heuchelei, fie mit ihrer Geſetzeslehre den Sei- 
nigen gelegentlich als vefpeftable Autoritäten Binftellt; wenn auch natürlih nur 
ihre Worte, nicht ihre Thaten (Matth. 23, 2—3). Warum follen fih num bie 
Zünger des Johannes, deren Meifter die Pharifäer ja um nicht® weniger als 
um ihrer Faften willen ſcharf angelaffen hatte, fich nicht da, wo es fih um 
ein beiden Zeilen Gemeinſames handelte, ganz unbefangen auf die Bharifäer, 
als ihre Mitgenoffen in der fraglichen Angelegenheit, berufen haben? Daß bie 





Der ungewalkte Fliden und das alte Kleid zc. 509 


Faßt man die Worte jo auf, jo ſtellt Matthäus zweifellos die 
Sache am einfachften und richtigften dar; und Markus und Lukas 
geben nur fcheinbar ein anjchaulicheres Referat, das aber, wie oben 
gezeigt, bemerkbarere Unzuträglichleiten mit fich führt als der Be⸗ 
richt de8 Matthäus. Wahrfcheinlich find aus der, von den Jo⸗ 
bannesjüngern gefchehenen, fehr paffenden und begreiflihen Miter- 
wähnung der Pharifäer, als oft fajtender (bei Matthäus), von 
Markus und Lukas die Schriftgelehrten der, vefp. und Pharifäer, 
als fih mit an der Frage beteiligende, herausgeſponnen worden. 
Dofür, dag nur die Johannesjünger felbft mit einer Trage betreffs 
igrer und ber Pharifäer Faften, an Jeſus herangetreten feien, läßt 
ſich auch das anführen, daß, wie wir uns fpäter überzeugen werden, 
die folgenden Worte Jeſu unverhältnismäßig mehr den Eindrud 
machen, an eine ihm naheftehende Genoſſenſchaft, als an bie, wenn 
auch zur Zeit noch nicht mit vollem fanatifchen Haß, aber doch 
immerhin fchen im feindfeliger Beobachtung ihn umkreiſenden Pha⸗ 
riſder, gerichtet zu fein. 

Die Worte, mit welchen Jeſus die an ihn gerichtete Frage zu⸗ 
nächſt beantwortet ?), bieten Leine erhebliche Schwierigkeiten bar. 
Derfelde motivirt die Unangemeffenheit der johanneifchen und pha- 
rifäiihen Faſtenübungen für feine Jünger damit, daß ja biefe 
leßgteren, die zu ihm, als dem Bräutigam der meſſianiſchen Hoch⸗ 
zeitöperiode, in dem Verhältnis nüchfter Angehörigkeit (vioi Too 
yvugovos) ftehen, ſich während feiner Anwefenheit nicht paſſend an 
einem Ritus beteiligen könnten, der ja nur als entfprechender ſym⸗ 
boliſcher Ausdrud tiefer Trauer, niederbeugenden Schmerzes ange⸗ 
feben werden darf. Hatten ja zu diefer Stimmung die (Jünger 
des Yohannes, angefichts des vom Täufer verfündeten unmittelbar 
bevorſtehenden ſich im verzehrenden Feuer kundgeben follenden End⸗ 
gerichtes, im Hinblick auf einen, die Tennenreinigung binnen kurzem 
vollziehenden Meſſias vollentſprechenden Anlaß. In analoger Weiſe 


Phariſäer vor Johannes einen nicht geringen Reſpekt hatten, läßt ſich aus 
Matth. 21, 25 ff. und Parallelen, fo wie aus dem günſtigen Bericht des Joſephus 
über den Tänfer folgern, der mit Recht von Schürer (N. T. Zeitgeidhichte, 
©. 242) auf pharifäiicen Einfluß zurückgeführt ift. 
1) Matth. 9, 15 und Barallelen. 
83 * 





510 Klöpper 


auch die Pharifäer, welche das Ende der Dienftbarkeit Israels 
unter die Heibenvöller und die Tage des Meſſias dur Bußübungen 
berbeizuzwingen fich angelegen fein Tießen. Nicht aber die Sylinger 
Jeſu, in deffen Perfon der Meſſias fon in ihrer Mitte war, 
und zwar nicht in der Funktion eines Voliftreders göttlicher Straf: 
gerichte fondern in der Eigenſchaft eines ſolchen, der ihnen durch 
die frohe Botſchaft von dem bereits Berbeigefommenen Himmel» 
reiche felige Tage der Freude, und durch feine heilsfpenbenden 
Thaten ihnen die Vorempfindung ewiger Erlöfungsherrlichkeit ge 
währte. 

Sind fomit in der Gegenwart für bie Jünger Jeſu, denen täg- 
lich die Schäge des Reiches Gottes in reicher Fülle ausgeteilt 
werben, Aktionen nicht an der Stelle, durch welche Leichenfeterlich- 
feiten mimetifch zur Darftellung gebracht werben ): fo macht dod 
Jeſus anderſeits darauf aufmerffam, daß zu anderer Zeit und 
unter anderen Verhältniffen auch für die viol zoü vuupavos 
innere Dispofitionszuftände und Motive fi) herausbilden könnten, 
aus denen heraus eine Enthaltung von ber gewohnten Lebensweife 
in Speife und Trank, als naturgemäße äußere Abfolge fih ergeben 
würde. Es fei das bie Zeit, wo der Bräntigam von ihnen ge 
nommen fein werde 2). Daß in bdiefen Worten Sefus, von Todes» 
ahnung ergriffen, die Möglichkeit eines gewaltſamen Endes in Rech⸗ 
nung ftellt, kann nicht bezweifelt, und weder durch allegorifche Deu⸗ 
tung des bez. Ausfpruch® noch durch die Annahme eines rein ob» 
jeftiven parabolifchen Beifpieles, deffen direlte Anwendung auf ihn 
felber, Jeſus nicht bezwedt hätte, als Thatſache befeitigt werden. 
Für die Möglichkeit einer fo frühen Todesweisſagung hat u. E. 
n. Beyſchlag einige nicht zu unterfchäenden Inſtanzen gegen 
Keim zur Geltung gebracht 3); wie uns denn überhaupt von dem 
Grundfage: nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, 
in neuerer Zeit für das Leben Jeſu nicht felten eine zu weit- 


1) Matth. 11, 17. Luk. 7, 32. 

2) Bol. Joel 1, 8: „Sammere [o Lanb!] wie eine Jungfrau, umgürtet von 
Sadtud, um den Bräutigam ihrer Seele.” — er. 6, 26. 

) A. a. O. S. 12f. 


Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid ıc. 511 


greifende Anwendung gemacht, und dem Ahnungsvollen bei fein 
organifierten Naturen zu wenig Spielraum gelaffen zu fein fcheint. 
Das Renanſche Vorbild der idyllifchen galliläifchen Frühlingszeit 
ift von feinen deutſchen Nachfolgern oft buchftäblicher und pedan⸗ 
tifcher verwertet worden als bei einer geiftigen Organifation zu⸗ 
läfftg fein dürfte, bei der das Simultane und das Succeffive 
nicht fo fcharf zu fcheiben fein wird, daß man für jede neue Kon- 
zeption immer auch einen beftimmt nachweisbaren Anftoß von außen 
fordern zu müfjen glaubt, um jene, als eine für die reſp. Zeit- 
periode mögliche und zuläffige, acceptieren zu können. Daß der 
Anblid der ihres Meifters beraubten Johannesjünger, deren Faften 
infolge des Scidjals, welches jenen getroffen hatte, zugleich durch 
ein neues Motiv von jubjeltiver Natur intenfiv verfchärft erfchien, 
Jeſu, der fih ja bewußt war, ein mit ber berrichenden Denk⸗ 
mweife der maßgebenden Autoritäten ungleich ftärker in Gegenſatz 
ftehendes Prinzip zu verfolgen, als dies Johannes gethan hatte, 
die Vorahnung eines analogen Geſchickes erweckte, erfcheint uns 
phychologiſch nicht jo unwahrfcheinfih, daß wir, die bez. Perikope 
in einen beträchtlich fpäteren Abſchnitt des Lebens Jeſu Hinauf- 
zurüden, für notwendig erachten müßten. Was dagegen das ein⸗ 
fache: rörs vnorsvoovos de8 Matthäus anlangt, fo entfpricht es 
entfchieden am beiten der in der dämmernden Ahnung Tiegenden 
eventuellen Zufunftsperfpeftive, und find wir nicht geneigt, ung die 
von Markus und Lulas dargebotenen rveichern Zuſätze (Ev Exetın 
zT) Nneog, &v Exslvaıs vais Nuegaıs) anzueignen, da fie jene 
Zufunft (post eventum) weit ftärfer accentuieren und zeitlich 
firieren, als zuläffig erfcheint, und fie jedenfalls (wenn auch mohl 
ohne direftebewußte Intention ihrer Referenten) fchon in ſehr 
alter Zeit feitens der Chriſten die Auffafjung nahe gelegt Haben, 
die wir in der „Tıdayn z@v ansoozdAmv‘‘ !) finden, in ber es 
beißt: „Ihr Lim Gegenfag zu den beuchlerifchen Pharifäern] follt 
faften am vierten Tage der Woche und am Nüfttage (nagaoxevnr, 
d. h. Freitag).” Ein buchftäbliches Verftändnis der urfprünglichen 
Worte Jeſu, mit welchem die nachfolgenden parabolifchen Aus⸗ 


1) Kap. 8, Auf. 





512 Klöpper 


ſprüche deöfelben, zu denen wir nunmehr uns wenden, im ftärferen 
Kontrafte ftehen. 

Was die nun folgenden zwei Kleinen Gleichniſſe anlangt, fo ift 
die Formation berfelben bei Matthäus und Markus ziemlich gleich- 
lautend, während Lukas erhebliche Abweichungen von jener bar» 
bietet. Da nun diefe Tetteren, nad faft einftimmigem Urteil der 
neueren Kritiker den Eindruck machen, felundbäre, einem fpäteren 
religiöfen Bemußtfein Rechnung tragende Züge barzubieten, fo laffen 
wir das lukaniſche Referat zunächſt bei Seite liegen und halten 
uns an die ältere Faffung, wobei wir die neueftens mit erfchöpfen- 
ber Akribie Eonftatierten und beurteilten Nüancen, bet dem erften und 
zweiten Evangeliften, da fie für die Saderflärung von unerheb- 
licher Bedeutung find, bier unerdrtert laſſen. 

Die bez. Gleichniffe fagen ihrem Inhalte nach aus: Nimmt 
man einen Fliden von ungewalktem Zeuge und fett diefen auf 
ein altes Gewand, fo erreicht man nicht das, was man anftrebt, 
eine Wiederheritellung der Brauchbarkeit des fchadhaften, morjchen 
Kleides. Im Gegenteile wird das alte Kleid durch diefes Ergän- 
zungsſtück nur noch mehr in feinem einheitlichen Beftande gefchä- 
digt. Der neue unappretierte Flicken nämlich zieht ſich nach einiger 
Zeit infolge von Näffe zuſammen, erweift ſich zu enge für Die 
Stelle, die er ausfüllen foll, und reißt um des willen weitere Stüde 
von dem brüchigen Gewande los, fo bag ber Riß, der verftopft 
werden follte, nur noch größer wird, als er fchon war. 

Nicht minder als in dem erfteren Gleihnis, thut man etwas 
Zwedwiderfprechendes, wenn man jungen Moſt in alte Schläuche thut. 
Die Schläuche werden gefprengt, der Wein verfchüttet, und feine 
undurabler Behälter zu Grunde gerichtet. Vielmehr find für jungen 
Wein neue Schläuche zu verwenden, in welchem Falle erreicht wird, 
daß beide Beftandteile, der Wein und bie Schläuche, Tonferpirt 
werben !). 

Berfucht man diefe Gleichniffe zu deuten, fo fcheint es ſich 
auf den erften Anblic Hier nahe zu legen: Jeſus babe in ihnen 


1) Diefen letzteren Zug: za auporspos ovvrnpoövras, hat nur Mat 
thãus. | 





Der ungewaltte Flicken unb das alte Kleid ꝛc. 513 


das geſchildert, was die Johannesjünger thaten, und was bei ihnen, 
und, falls es von Jeſus für feine Jünger adoptiert würde, auch 
bei biefen letzteren einen fo zweckzerſtörenden Erfolg haben werde, 
wie die beiden Beifpiele vor Augen ftellen. Hiernach wäre das 
alte Kleid — das alte jüdische Neligionswefen; die alten Schläuche 
— gewiſſe Lebensordnungen desjelben ; ber neue ungewalkte Lappen — 
das Faften der Johannesjünger und Pharifüer; der junge Moſt — 
das geiftige Prinzip des Täufers, reſp. Jeſu. Allein, jo wird 
neueſtens von gewichtiger Seite ?) erwibert, — zur Erklärung des 
Umftandes, warum Jeſus feine Finger von Faftenübungen dis⸗ 
penfiere, können Parabeln nicht verwendet worden fein, in denen 
von den Johannesjüngern etwas gejagt fein würde, was fie ja gar 
nicht thaten, nämlich: ein Neues zu dem Alten hinzufügen. Gehörte 
ja doch das Faften der alten Ordnung der Dinge an, folglich kann 
dasfelbe durch den neuen Flicken und den neuen Moſt nicht ſym⸗ 
bolifch dargeftellt worden fein. Und hätten die Jünger Jeſu die 
alte Faſtenordnung der Sohannesjünger und Phariſäer adoptiert, 
fo würden fie ja eben nicht ein Neues mit dem Alten, fondern im 
Gegenteil ein Altes mit dem Neuen in unzwechmäßiger Weife zus 
fammengeftelft haben. 

Diefe Erwägungen, fo bdeduziert man weiter, müfjen notwendig 
zu ber Einficht führen, daß in den beiden parabolifchen Ausſprüchen 
nicht eine Darlegung der Zweckwidrigkeit der Faften für die Jünger 
Jeſu enthalten ſei (diefe Trage ſei ja bereits in dem Gleichnis 
von den Söhnen des Brautgemaces und dem Bräutigam erle 
digt). Vielmehr dienten jene Parabeln dem Zwecke, zu entichul- 
digen, oder richtiger: zu erklären, warum die Johannesjünger 
nicht anders könnten als das Faftengebot ihres Meifters aus» 
führen. Es würde zwedwiderfprechend fein, wenn die Johannes⸗ 
jünger einen neuen ungewalften Flicken (d. h. die Faftenfitte Jeſu 
beftehend in ber Enthaltung von Faften) auf ein altes Kleid 
(d. 5. ihren alten jüdifchen Standpunkt) fegen wollten. Die Folge 
davon könnte nur bie fein, daß diefe Heräbernahme ber neuen 


1) Weiß, Markusevangelium S. 97 ff. und an die bezüglichen Stellen des 
Meyerſchen Kommentars; Beyſchlag, a. a. D. ©. 2lf. 


614 Klöpper 


Sitte ihre gefamte alte Lebensweiſe in Auflöfung bringen werde. 
Ähnlich verhafte es fih mit dem zweiten Gfeichniffe ). Der neue 
Wein (d. 5. die Faftenfreiheit) dürfe nicht in die alten Schläude 
gegoffen (nicht in die alten Xebensgemohnheiten aufgenommen) werben, 
wenn nicht diefe felbft zu Grunde gehen follten. 

Allein, fo paſſend dies alles auch gefagt fein mag, fo können 
wir doch nicht umhin, einige befcheidene Zweifel gegen die Richtig. 
feit und Ungemefjenheit der Deutung und Anwendung der be}. 
Gleichniſſe gelteud zu machen. Wir dürfen erftlih, wenn aud 
nicht für unmöglich, fo doch für gewagt erachten, wenn ein rein 
Negatives, das Nichtfaften, durch einen ungewalkten Lappen 
parabolifcy dargeftellt worden wäre. Dieſer Anftoß fteigert ſich 
noch erheblich bei dem zweiten Gleichnis, wo die Abftinenz von 
Faftenübungen mit gährendem Moſt verglichen worden wäre. 
Berner: Iſt es angemefien, daß Jeſus — wie bier angenommen 
wird — feinen alten Gegnern, den Schriftgelehrten 
der Pharifäüer gegenüber, den Standpunkt der Johannes⸗ 
jünger, der in ber vorliegenden Trage doch zugleich der der 
Widerfader felbft war, fo nachfichtig und milde beurteilt? War 
eine Rechtfertigung oder auch nur ein Erflärlichmachen defien, was 
die Johannisjünger in Gemeinichaft mit den Pharifäern objervierten, 
der angenommenen Situation irgendiwie entfprechend! Wäre es 
nicht etwas fehr Wohlgethanes geweien, wenn die Pharifäer und 
Sohannesjünger fih aus dem neuen evangelifchen Standpuntte 
etwas angeeignet hätten, gleichviel, ob ihr altes Seid dabei 
noch weiter auseinander ging? Welches Unglück wäre herbeiges 
führt worden, wenn Johannesjünger wie Pharifäer auf ihrem alten 
Standpunkte, an dem neuen Wein Anteil genommen hätten, wären 
auch immerhin dabei ihre alten Schläuche in die Brüche gegangen ? 
Iſt es im weiteren glaublih, daß Jeſus vor den Augen der 
Schriftgelehrten der Pharifäer das Thun der Yohannesjünger be- 
greiflich gemacht haben follte unter Hinweis auf das, mas gefchehen 
würde, wenn fie, auf ihrem alten Boden ftehen bleiben wollend, 
die Faſtenfreiheit fich aneigneten, was ja nichts anderes war als 


2) Wie Beyfchlag Hierüber urteilt, ſ. u. 








Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid ıc. 515 


der völlige Zufammenbruch ihres bisherigen Standpunktes, ohne 
dag der Redner zugleich auch bemerklich gemacht haben follte, in 
welcher Weife denn nun das Neue verwendet werden follte? Welchen 
Gewinn Hätten denn die Schriftgelehrten für ihre Einficht erlangt, 
wenn ihnen nur gejagt wurde: Die Johannesjünger, und fomit 
auch ihr felber, thut gut, fo lange ihr noch auf dem Boden des 
Judentums verharren wollt, fo zu bleiben, wie ihr feid, da mit 
der Aneiguung der enangelifchen Faftenfreiheit nur der Zufammen- 
fall eurer gefamten, veligiös-fittlihen Lebensweife erfolgen kann? 
Dazu ift noch in Anfchlag zu bringen, dag die Faftenobfervangz 
der Bharifäer und Johannesjünger gar nicht etwas jo eng und unzer⸗ 
trennli) mit dem Judentum Verfnüpftes war, daß, wenn man 
einfach von berfelben abftrahbierte, dies als ein fo durchaus Neues 
bezeichnet werden durfte, infolgedefien das Judentum felbft feiner 
Auflöfung entgegengeführt worden wäre. Große Schichten des 
Volkes fetten ja ebenfalls diefen neuen Flicken (d. h. die Faſten⸗ 
freiheit) auf ihr altes Kleid, thaten ben neuen Wein in alte 
Schläuche, ohne daß fich entfernt auch nur die fchlimmen Folgen 
eingeftellt hätten, weldye in den beiden Parabeln in Perſpektive ges 
ftelit werden. Vielmehr war das Faften, in der Form, mie 
e8 die Pharifäer und Johannesjünger betrieben, viele 
Jahrhunderte Hindur in Israels Gefchichte etwas Unbekanntes 
geweien, ohne daß die Keligionsordnung der alten Hebräer fich 
deshalb aufgelöft oder auch nur irgendweldye Beeinträchtigung und 
Schädigung erlitten hätte. Würde alfo im Zeitalter Jeſu von 
den Pharifäern und den Sohannesjüngern ber neue Flicken auf 
ihr altes Kleid gefeht, der neue Wein in bie alten Schläuche ger 
goffen fein, fo wären die betreffenden ja damit nur zu einer 
Freiheit zurückgekehrt, bei der ihre Vorfahren fi ſehr wohl bes 
funden Hatten und von ber auch für die Gegenwart gar nicht ab» 
zufehen war, daß fie eine fo verberbliche Wirkung auf den Be⸗ 
ftand des Alten werde ausüben können, wie Jeſus dies in Aus⸗ 
ſicht ftellte. 

Diefe Einwände gegen bie uns angebotene neue Deutung der 
beiden &leichniffe möchten fo erheblicher Natur fein, daß ein Ver⸗ 
ſuch einer andersartigen Auffaffung derfelben nahe gelegt zu fein 


516 Klöpper 


bürfte. Daß namentlih die zweite Parabel fich fchwerer unter 
den angenommenen Gefichtöpuntt einer Rechtfertigung ober Erklä⸗ 
rung ber Faftenfitte des Johames und feiner Jünger rüden Lafle, 
biefer Einficht hat fih auch Beyſchlag nicht verfchloffen. Allein 
der von ihm angebotene Vorſchlag, dem zweiten @leichnis einen 
anderen Zwed unterzulegen al® dem erfteren, ift doch von vorn- 
herein ſchon durch die große Ähnlichkeit beider, ein fehr gemagtes Unter: 
nehmen, zumal da der Redner felbft nicht die mindefte Andeutung 
giebt, daß die zweite Parabel, wie der gedachte Exreget annimmt — die 
Antwort auf eine andere Trage („warum faften deine Jünger 
nicht?“) — gebe, als bie erftere, welche die Yrage beantworten 
folle: „Warum faften die Fohannesjünger und Pharifäerjchüler fo 
viel?" Werden in biefem letteren Falle die Johannesjunger in 
ihrem Thum gerechtfertigt ober entfchuldigt, To zeige Seins in bem 
anderen alle durch das zweite Gleichnis, daß, wenn er jungen 
Wein in die alten Schläuche thue, dies ein foldher Innerer Wider» 
fpruch fein würde, daß beides, Form und Inhalt, Sitte und Leben 
daran zugreumde gehen könnte, daß feine Jünger Gefahr Liefen, 
an beiden zugleich irre zu werden, weshalb es vielmehr gelte, für 
dies neue Leben der Reich⸗Gottesgemeinſchaft neue entfprechendere 
Formen zu fuchen !). 

Indes, wenn wir aud anerkennen, daß Beyſchlag auf dem 
angedeuteten Wege dem zweiten @leichnis ein verhältnismäßig 
befferes, feinen charakteriftiichen Zügen entfprechenderes Berftändnis 
entgegengebracht bat, fo ift doch die von ihm herausgebracdhte Frag⸗ 
ftellung eine zu künſtliche, veißt nach bdemfelben Typus gebildete 
Sleichnisreden gewaltfam auseinander" und miſcht überdem, unter 
dem Bann von gewiffen Vorausfegungen ftehend, auf die wir oben 
bereitS hingedeutet haben und die wir fpäter noch näher erörtern 
werden, fo fremdartige Züge auch in die relativ richtigere Deutung 
der zweiten Parabel, daß wir auch diefe letztere uns nicht jo ohne 
weiteres aneignen können. 

Gehen wir deshalb, um uns eine eigene Überzeugung zu ges 
winnen, an bie Sinterpretation ber fo viele Rätſel bietenden Gleich⸗ 


1) A. a. O. S. 22f. 


Der ungewalkte Flicken unb das alte Kleid ıc. 517 


nifſe! Es möchte ſich empfehlen, zunächft die rein formalen 
Elemente und Verhältniffe, die in demfelben fich darbieten, ins 
Licht zu fielen. Was ift das Gemeinfame in beiden, und worin 
differieren fie von einander? 

In beiden Parabeln wird ein Neues zu einem Alten in ein 
nicht entfprechendes Verhältnis gejett. Sin beiden angenommenen 
Fällen übt das Neue in Rüdfiht auf das Alte eine folche Wir⸗ 
fung aus, daß das Alte dadurd eine Schädigung erleidet. In 
beiden Gleichniffen ift da8 Neue offenbar ein an fi Wertvolles 
und feineswegs ein für ſich Schädliches, fondern das letztere 
nur um des willen, weil es in unangemefjener, zweckwiderſprechen⸗ 
der Weife mit einem anderen in Verbindung geſetzt wird. So⸗ 
weit das Gleichartige. Nunmehr die unterfchiedlihen Momente. 
Das Bild vom ungewaltten Flicken legt als folches die Vorſtellung 
nahe, als fei das bez. Neue etwas Vereinzeltes, Fragmentariſches, 
von einem größeren Ganzen Abgetrennted. Dagegen führt uns 
der neue Wein auf die Anfchauung einer irgendwelchen neuen 
fi) lebendig erweifenden Kraft, eines geiftigen Brinzipes, das eine 
ftarfe Expanfionsfraft bethätigt, fih gewaltig auszuwirken und 
weiter zu verbreiten ftrebt. Ferner das erftere Gleichnis begnügt 
fi; einfach damit, anfchaulich zu machen, daß man ein DVereinzeltes, 
Fragmentariſches, eine gewiſſe Kontraktionskraft befigendes, nicht 
als Meittel bennten dürfe zwecks der Wiederbrauchbarmachung eines 
Beralteten, Undurabeln; dagegen iſt nichts Pofitives darüber ange⸗ 
deutet, was denn nun Überhaupt geichehen folle. Dagegen fagt 
das zweite Gleichnis nicht bloß aus, in welcher Weife ein Neues 
mit einem Alten nicht in Beziehung zu fegen fei, fondern zu⸗ 
gleih pofitiv, was man zu thun habe, um dem Neuen, was ale 
folches offenbar in fo hohem Maße wertvoll ift, um dauernd kon⸗ 
jerviert zu werden, eine angemefjene Yorteriftenz zu fichern. In 
dem erjteren Gleichniffe ift alfo die Erhaltung des Alten Zweck; 
das Neue, Mittel, um biefen Zweck zu erreichen. In dem zweiten 
die Erhaltung des Neuen Zweck; das Alte verfehltes Mittel zur 
Erreihung des Zweces, welcher nur durch ein neues Mittel er» 
zielt werden Tann. 

Nach diejen formalen Präliminarien die Erinnerung an einige 


518 Klöpper 


allbefannte, aber nicht immer im Gedächtnis behaltene archäo⸗ 
logische Thatfachen. 

Das mofatfche Geſetz hatte nur einen, ein für allemal be 
ftimmten Fofttag, den ganz Israel feiern follte dadurch, daß es 
„jeine Seele Leiden ließ“ *), den großen Verfühnungstog. Dieſes 
Baften entfpricht ganz dem Tage, mo man über feine Sünde Leid 
tragen, mit Eruft und Demütigung Buße thun, und Gottes ent- 
zogene Gnade wieder zu erlangen fuchen follte. Im Übrigen war 
die Beobachtung von Faften dem freien Willen und Antriebe der 
Einzelnen überlaffen. Für das ganze Voll wurden Fafttage nur 
in folchen Zeitläuften ausgefchrieben, wo befondere Unglücksfälle, 
Landesfalamitäten dazu aufforderten, die Seelen vor Jahve zu 
beugen, unb bie zeitweilige Enthaltung von der gewöhnlichen Nah. 
rung bie äußere ſymboliſche Darftellungsform der inneren, iiber die 
Berfündigung und Verſchuldung tief trauernder, gebrochener, zer- 
knirſchter Stimmung fein follte. Erft während des Exils traten 
zu dem einzigen, vom Geſetz gebotenen Fafttage vier neue, durch 
Baften gefeierte Trauergedenktage Hinzu, die auf beftimmte beſon⸗ 
ders tragiiche Vorfälle der Iettten Unglückszeit eine Beziehung 
hatten 2). Nachdem jedoch der Tempel aus feinen Trümmern wieder 
erftanden war und eine ‘Deputation aus Bethel nah Jeruſalem 
gefandt, die Anfrage ftellte, ob man fernerhin im fünften Monat 
trauern und fich enthalten (d. h. faften) follte, erhält Sacharja von 
Jahve den Auftrag, in feinem Namen zu fprehen: „Wenn ihr 
gefaftet und Leid getragen habt im fünften und fiebeuten Monat, 
habt ihre dann mir (d. 5. in Beziehung auf mich, mich dadurd 


1) WE) MN, ranewoör vnv yuyiw, die Seele herunterdrücken, herunter- 
fiimmen, ſchwächen (3Mof. 16, 31; 28, 27. 32. AMof. 29, 7; 30, 14 xa- 
x000 wur), der urfprüngliche Ausdruck für Kaften, |. DilImann, Exod. 
und Lev. ©. 582. — „Es fol, um den Ernft der Buße, der Treue u. ſ. w. 
zu bezeugen, dem natürlichen Willen etwas abgebrochen, ein ihm fonft erlaubter 
Genuß entzogen werden” (Dehler, Theologie des Alten Teftaments, 2. Aufl, 
©. 452). In den fpäteren Büchern des Alten Teftaments DIS Jud. 20, 26. 
Zah. 7, 5. 2Sam. 12, 16. Eſth. 9, 31. MIYN, das Sich-fafteien, Car. 9, 5; 
hald. MW Dan. 6. 19. 

2) Sach. 7, 3. 5; 8, 18. 


Der ımgewaltte Flicken und das alte Kleid zc. 619 


berübrend) gefaftet. Und wenn ihr effet und trinfet, feid ihr es 
nicht, die eſſen und trinfen?* ?) D. h. Wie Efien und Zrinfen, fo 
fei auch das Faſten ihre Sache. Sie thun damit das, wozu bie 
trauernde Seele fie auffordert; Gott Hat davon fo wenig Gewinn 
al8 von der Frömmigkeit des Dienfchen (Hiob 22, 2. 3); aber 
letstere verlangt er 2). Ya, nah Sad. 8, 18 follen die im Exil 
eingeführten Yaftzeiten „dem Haufe Judas zu Luft und Freude 
und fröhlichen Fefttagen werden”, d. h. man werde die in Ans 
regung gebrachten Faften beibehalten aber fie als Freubenfefte bes 
gehen. 

Es wird aus dem Angedenteten erhellen, wie weit die Neligion 
des Alten Bundes in ihrer klaffiſchen Periode davon entfernt ift, 
das Faſten über den im Geſetze felbft firierten Verſöhnungstag 
hinaus in der Weife zu erweitern, baß von vornberein beftimmte 
Monats oder gar Wochentage diefer Obfervanz gewidmet worden 
wären. Im Gegenteil war der prophetijche Geiſt darauf geftimmt, 
jelbft die wenigen in der Exildzeit eingedrungenen, von vornherein 
beftimmten Yafttage für obfolet zu erklären, nachdem die innere 
Gemütslage des Volkes infofern eine andere geworden war, als 
eine Situation vorlag, in der es weniger angemeſſen gemwefen wäre, 
Jehovas Zorn durch harte auferlegte Opfer zu beſchwichtigen, als 
vielmehr feine erlöfenden Thaten mit freudigem, dankerfüllten Herzen 
zu preifen. 

Wenn nun, biefer Auffafjung entgegengefeßt, feit ber makka⸗ 
bäifchen Zeit von der pharifäifchen Richtung des Judentums eine 
Taftenpraris Eingang fand, welcher zufolge nicht bloß, wie bisher, 
in ganz befonders dazu die inneren Motive darbietenden Situationen 
aus freiem Antrieb, vom Privatmann oder vom ganzen Volke dann 
und wann gefaftet wurde, fondern von vornherein an einem ober 
mehreren Tagen der Woche ein ftationäres Faften als eine 
notwendige, unverbrüchlihe Äußerungsform echter und wahrer 
Frömmigkeit feftgefegt wurde: fo war biefe derartige von ben 
pharifätfchen Schriftgelehrten aufgebracdhte und beobachtete Faften⸗ 


1) Sad. 7, 5—6; vgl. Jeſ. 58, 2—6. 
3) Steiner, 81. Proph. ©. 360 fi. 


529 Klöpper 


objervanz infofern ein novum in SYrael, als darin der urfprüng- 
fiche im Geſetz vorgezeichnete und auch vom Prophetismus innege- 
baltene Standpunkt in der bezüglichen Frage, nicht unerheblich über- 
fchritten war. Zwar war auch diefe neue pharifäifche Faftenübung 
urfprünglich wenigftens aus geiftigen Motiven herausgewachien, bie 
eine innere Verwandtfchaft hatten mit denjenigen, die in der Erils- 
periode zu der Beobachtung von den gedachten Tranerfafttagen im 
Jahre geleitet Hatten. Waren ja doch zu der Zeit, in der jene 
neue pharifäifche Faſtenweiſe ſich auszubilden anfing, die Nöte und 
Drangfale der Exilsperiode zurücgelehrt und eben damit die pfy- 
chologiſche Dispofition zu tiefer Trauer, zur Beugung unter die 
gewaltige ftrafende Hand Jahves, ein durch Selbftentjagung ver- 
ftärftes Flehen um Abwendung der Züchtigungsgerichte vollauf ge- 
geben. Ja, felbft im Anbruch der neuteftamentlichen Zeitgefchichte 
fehlten innere Motive für das, was in den pharifälfchen Waften- 
übungen zum Ausbruc gebracht werden follte, keineswegs, da ja 
Jorael, duch feine Sünde und Schuld in die Harte Kuechtfchaft 
von beidnifchen oder halbheidniſchen Gewaltherrſchern binabgeftoßen, 
in feinen innerften religiöfen Gefühlen täglich auf das empfind- 
lichſte verlegt, an der vollen Geltendmachung und Befolgung feines 
heiligen Geſetzes mannigfach behindert, umd jo in feinem Berufe 
als Gottespolf geftört und von der ihm gewordenen Verheißung, 
die Heiden zu unterwerfen und Jahves Gefege unterthan zu machen, 
weit entfernt zu fein fchien. Sicher Motive genug, um fich im 
Seldftgericht der Buße, in ber Trauerftimmung der eigenen Un⸗ 
wöärdigfeit zu dem zu reden, der allein die Macht hatte, das Joch 
der Sünde zu zerbrechen und Tage ber Freiheit, bes Glückes umd 
friedlichen Wohnens in einem von einem Dapididen glorreich bes 
berrichten Reiche herbeizuführen! 

Welches waren nun aber die Mittel, welche bie Phariläer an- 
wendeten, um ihrer Bußftimmung einen Ausbrud zu geben, wem 
die Tilgung der Sünde und ihrer Folgen herbeizuführen? 

Der Gefamtrichtung des nachexilifchen Judentums entfprechenb, 
nach weldyer nicht auf bie innere religiöß-fittliche Gefinnung, fon- 
dern auf das äußere, dem Buchſtaben des Geſetzes entſprechende 
Thun das Hauptgewicht gelegt wurde: Inm es dem Pharijismus 


Der ungewalfte Flicken und das alte Kleid ꝛc. 21 


weit weniger auf die Buße als Zerkunirſchung des Herzens, als 
wahre aufrichtige Neue über die Sünde felbft an, denn vielmehr 
auf gewiffe ritnale Formen, die als Werkleiftungen Gott darge⸗ 
bracht, ein Verdienſt (Lohn) vor ihm begründen und ihn zur 
Zurücknahme feiner Strafbeftimmungen zu veranlaſſen. Trotzdem 
Ihon bie Propheten gegen diefe, dem finnlichen Menſchen nahe 
liegende Meinung, durch eine Gabe als ſolche, durch die alt- 
heiligen Formen der Opfer und Kafteiungen, bie nicht als Aus» 
druck, fondern in Stellvertretung der Selbftdemütigung und ber 
Aufopferung der böjen Willensrichtung, dargebradht wurden, Gott 
zur Berfühnung umftimmen und zum Strafnachlaß bewegen zu 
können, als auf bie gefährlichften Abwege wahrer Srömmigleit ihre 
warnende und rügende Stimme erhoben Hatten, jo fehrten diefe 
nämlichen Beftrebungen, wenn and in etwas verfeinerten, fo doch 
in nicht minder der echten Neligiofität gefahrbringenden Formen 
innerhalb der Kreife der pharifäifchen Schriftgelehrten zurüd. 

In der altſynagogalen Theologie ift die Buße (teschuba) eine 
Leiftung, durch welche eine begangene Sünde gut gemadt und 
ihre Wirkung wieder aufgehoben wird. „Man achte auf den Aus⸗ 
drud Iamwn mwy]: die Buße ift ein Werk, eine Leiftung, nicht 
Sinnedänderung, neravore" 1), „Die Buße nam ift dem Wort⸗ 
laut nad die Rückkehr des Siünders von ber Geſetzwidrigkeit zur 
Geſetzeserfüllung. Sie wird weſentlich als Thun aufgefaßt. Wo fie 
näher bejchrieben wird, findet ſich als erfter Wefensbeftandteil nn 
Belenntnis der Sünden” 2). — „Das Belenntnis gewährt nad 
Jalkut Schim., Beresch, 159 ein Berdienft und ift förderlich für 
diefes und das ewige Leben“ 2). „Die Buße als Selbftwerurtei« 
fung des Sünders findet einen thatfächlichen Ausdrud in dem, 
was ber Sünder ſich felbit anthut, um feine Sünde an fich zu 
ftrafen. Nach Pesikta 160* gehört zu ihr das Faſten, welchem 
gleichfalls die Aufhebung des göttlichen Strafbefchluffes als Wir- 
fung beigelegt wird Beresch. rabba c. 44, und weldes als ver» 


1) Weber, Syſtem ber altiynagog. Theologie, S. 252. 
2) Ebd. ©. 308. 
8) Ebd. ©. 304. 


622 Klöpper 


bienftlich rar und als Bedingung für ben göttlichen Strafnachlaß 
bezeichnet wird, an beiden Stellen in Verbindung mit den Al 
mofen. Wenn Gottes Zorn auf der Gemeinde laftet und fie mit 
Dürre heimfucht, jo bejänftigt es neben dem Gebet ben göttlichen 
Zorn Taanith 8°. Durch Baften bewahrt man fich nad) Baba 
mezia 85* vor dem Feuer des Gehinnom und macht fi) pofitiv 
der Erbörung des Gebete würdig; gewiſſe Bitten werben ofne 
Saften nicht erhört“ ?). 

Aus diefem Anſchanungskreiſe heraus machen fich die Züge, 
welche die Evangelien von dem Faſten der Pharifäer entwerfen, 
durchaus verftändlih. In dem Faſten der „Heuchler“, vor wel 
chem Matth. 6, 16—18 gewarnt wird, foll durch das, was der 
Menſch feinem Leibe anthut und wovon der trübfelige Ausdrud 
des Gefichtes Zeugnis giebt, die Bewunderung der Zufchauer und 
ber Lohn jeiteng Gottes (der doch ind Verborgene fieht), erworben 
werden. Der Pharifäer des Infauifchen Sleichniffes (18, 10O—14) 
bat in dem Dantgebet, in welchem er Gott feine Verdienjte vor: 
rechnet, unter den pofitiven Gerechtigfeitsleiftungen an erfter Stelle 
das durch feine Zeitdauer imponierende zweimalige Taften in jeder 
Woche, ohne dasjelbe auch nur mit irgendeiner an Bußfertigfeit 
anflingenden Stimmung in Beziehung zu jegen. 

War fomit die Frömmigkeit der Phariſäer wieder geworben, 
worüber feiner Zeit Hofea zu Hagen Hatte, — „wie das Morgen⸗ 
gewölt und wie der Zau, der bald fchwindet“ , ober wie es Je⸗ 
remia ausbrüdt zu einem „Umkehren mit Trug“ 2): fo tritt une 
die Buße und ihre Außerung bei Johannes dem Täufer wieder in 
einer Auffaffung und Geftalt entgegen, wie fie dem prophetifchen 
Geiſte des Alten Bundes entiprah, und wie fie als Vorbe- 
dingung für das Herannahen „des Tages Jahves“ und feines 
Gejalbten jchlechterdings erforderlich war. Johannes leiftete dem 
Worte des Propheten Folge, der da fpricht: „Aber auch jetzt noch, 
ſpricht Jahve, Tehret zu mir mit eurem ganzen Herzen und mit 
Faften und Weinen und Klagen, zerreißet eure Herzen und nicht 


1) Weber a. a. O., ©. 304 f. 
2) Hof. 6, 4. Jer. 8, 10. 





Der ungewallte Fliden und das alte Kleid zc. 523 


eure Kleider und fehret zu Jahve, eurem Gott, deun gnädig und 
barmherzig und langmütig ift er.“ „Weihet ein Faften .... 
denn nahe ift Jahves Tag“ ?). Und der Ernft, die Aufrichtigkeit 
und Wahrhaftigkeit der Sinnesänderung, melde er von dem Wolfe 
beanipruchte, gewährte ſolchen Pharifäern keinen Zutritt zu feiner 
Bußtaufe, welche im ftolzen Vertrauen auf ihre Abrahamskind⸗ 
fchaft keine Garantie ungehenchelter, demütiger Beugung vor Gott 
und thatbereiter Umkehr zum letzteren gemwührten. Sein Faften 
war die treue Wiederſpiegelung der inneren Stimmung, die Ber- 
leiblichung des ihn ganz durchdringenden Bewußtſeins, daß die Axt 
an die Wurzel der Bäume gelegt fei, daß es alſo darauf an⸗ 
tomme, ſich im eine folche innere und äußere Verfafjung zu jeten, 
um dem fi binnen kurzem im einem vermihtenden Fenergericht 
entlobernden Gotteszorun zu entrinnen. Indem “Johaunes bie Miſ⸗ 
fion Hatte, die Intonation zum geben zum Sonvroas, jo mar bier- 
für die angemefjene äußere Lebensform bie eines ars dardtem 
units ivov ?). 

Allein, wenn fo für den Täufer, als den dem Meſſias die Bahn 
bereitenden wiedererweckten Elias, Bnftrauer und Falten die Mo⸗ 
mente waren, die er als Borbedingungen des Eimtritts in das 
fünftige Gotte@reih prinzipiell zur Anerkennung zu bringen hatte: 
hatten denn biefelben das Recht, eine ausſchließliche uneinge- 
ſchränkte und unbedingte Geltung und Bedentung auch dann noch 
für ſich in Anfpruch zu nehmen, als der Meſſias bereits gekommen 
war, das Signal zum ooxrjoaadas gegeben hatte und ſich ale 
vos ardanisnov dadlov zei relvoy ber Welt dargeftelit hatte? ®) 
Daß dies nicht ber Fall jet, daß die, wenn auch für die unmittel⸗ 
bar-vormeifianifche Zeit durchaus berechtigte uud dem Raiſchluſſe 
ber göttlichen Zoglc enkfprechende “) Stimmungs⸗ und Lebensweiſe 
des Zohammes eine Einschränkung und Modifilation erleiden mäße 
für diejenigen, in deren Mitte der meſſianiſche Bräutigam be⸗ 


1) Joel 2, 12—13 ; 1, 14f. 

2) Matth. 11, 17. Luk. 7, 32f. 

8) Matth. 11, 17—19. Ruf. 7, 82. 34. 

4) Matih. 11, 19. Luk. 7, 85. 
Theol. Stud. Jahrg. 1885. 34 





524 Klöpper 


reits verkehrte, haben wir aus dem Munde besjelben bereits ver- 
nommen. - 

Wenn nun aber die Jünger des Täufers, ohne Flares und 
höheres Bewußtfein bavon, daß dad Mejfinsreich nicht mehr in, von 
den dunkeln Wollen des göttlichen Gerichtszornes verhüflter Nebel- 
ferne lag, fondern fich bereits in der Perſon Jeſn mit feinen 
Heildgütern auf der Erde auszubreiten angefangen hatte, ungeachtet 
deſſen fich harten, mit peinlicher Gewiſſenhaftigkeit und Geſetz⸗ 
mäßigfeit innegehaltenen Faftenerercitien Bingaben, lag diefem Thun 
nicht die Vorausjegung zugrunde, einmal, daß die alte Religions⸗ 
ordnung noch beftehe und daß fie vorderhand fortbeftehen werde 
und folle; dann, daß fie Hier und da an einzelnen Punkten ber 
Beſſerung bedürftig fei; und endlich, daß ihr diefe Reparatur durch 
die große, der Ankunft des Mefifias vorausgehende, in fcharfen 
Saftenkafteiungen ihre Wahrheit und Echtheit bewährende Buße zu 
teil werden müſſe? 

Wie wäre e8, wenn wir das, was wir als Anfchauung, Zweck 
und Praris der Fohannesjünger Fonftatiert haben, in dem Worte 
des Herrn von dem Auffegen eines ungewalkten Zeugftückes auf 
ein altes Kleid dargelegt finden könnten? Das alte Gewand märe 
nicht die Religion des Alten Bundes, fondern das empirische JIuden⸗ 
tum, wie es zur Zeit fih als ein mannigfache einzelne Schäden 
an fi Habendes präfentierte. Allein, wenn auch hier und da Riſſe 
in bemfelben fich bemerklih machen, fo ift e8 troßdem, nad) der 
Anfchauung des Täufers und feiner Schüler, noch nicht fo un- 
brauchbar, daß es nicht durch einzelne, ihm beizubringende Korrel⸗ 
turen wieder in Stand geſetzt werden könnte. Dies foll bemirft 
werben durd einen ungewalkten Zappen, d. 5. durch die mit ber 
Meifiasidee in unmittelbarer Beziehung ftehende, vertiefte und fid 
dem entfprechend in verfchärften Baftenlafteiungen einen Ausdruck 
gebende Bußtraner. 

Und der Erfolg, den Jeſus von diefer, an dem alten Ge⸗ 
wande vorgenommenen Nteparaturarbeit, d. h. von der Verwer⸗ 
tung eines fragmentarifchen Beftandteiles der neuen mefjianifchen 
Drdnung der Dinge zur Ausbefjerung des zeitgenöffiichen Juden⸗ 
tums vorausfieht, kann er ein folcher fein, welcher der Intention 


Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid zc. 525 


ber betreffenden Perfönlichkeiten entfprechend wäre? Ein folcher, 
daß Jeſus auch feinerjeits diefe Methode für feine Jünger zu 
aboptieren fich aufgerufen fühlen fünnte? Mit nichten. In dem 
Maße, als nicht die Fülle, die ZTotalität der meſſianiſchen Idee 
zur gründlichen Renovation bes alten jüdifchen Religionsweſens 
verwendet, jondern nur ein von dem Ganzen losgezetteltes Stück⸗ 
wert zur Ausbefjerung des im großen und ganzen für intakt gel« 
tenden $udentums benußt werden follte; in dem Maße, als jenes 
an fich wertvolle Fragment, die bußfertige, fi vor Gott auf- 
richtig bemütigende Gefinnung, unter den Händen der Johannes⸗ 
jünger wieder in die Bahnen einlentte, wo das Innerliche ſich in 
die Formen eines gefeglich-ritualen Thuns, einer das göttliche 
Wohlgefallen herbeindtigenden Leiftung, eines opus operatum 
eingelapfelt wurde, konnte Jeſus diefen derartigen Beftrebungen nur 
die Prognofe ftellen, daß dadurch die Riſſe des alten faferigen 
Gewandes nur vergrößert, anftatt verftopft werden würden. Denn 
war auch immerhin die Bußftimmung der SYohannesjünger eine 
echtere und lanterere als die phariſäiſche; waren aud ihre Faften- 
obfervanzen frei von phariſäiſcher Hypokriſie und Oſtentation, 
fo wurde doch auch in ihren — der Johannesjünger — Kreijen 
auf die äußeren Ritualmwerke in nafiräifchen Enthaltungen, Herfagen 
von Simndenbelenntnis-Formularen, Gebetöformeln, ein Wert unb 
ein Accent gelegt, daß ſich aus diefer Praxis für die Zukunft nicht 
heilende, jondern nur verhängnisvolle Einwirkungen auf den reli- 
gidfen Zuftand des Volkes erwarten ließen; daß gar leicht die neuen 
Mittel der Remedur, weil allmählich den Mitteln ähnlich werdend, 
welche die Schabhaftigkeit bes alten Religionsweſens herbeigeführt 
hatten, die Schäden desjelben nur vermehren künnten. Don dieſem 
Geſichtspunkte aus lehnt Jeſus die ihm von den Johannesſchülern 
indireft nahe gelegten, ftationären Faſtenobſervanzen für feine Jünger 
ab, weil für ihn weber die Vorausfegung, daß das alte Kleib noch 
durch einzelne, wenn auch an ſich achtbare Fragmente repariert wer» 
den könne, nicht vorhanden ift, und weil ihm auch ſelbſt das 
Mittel der Ausbefferung, — man vergefje nicht, daß die Inter⸗ 
pellanten jelbft fi) mit den Pharifäern als Häufig faftende zu- 
fammenftellen, aljo ihre Faftenweife mit der der Phariſäer unter 
34% 











5% Klöpper 


einen Gefihtspunft gerückt hatten, — nicht fo unbedenklich er: 
fdien, da die Erfahrung ihm gelehrt hatte, wie leicht eine an fi 
achtbare Neligiofität, die aber von Haufe aus eisen ftarfen Zug zur 
Selbſtdarſtellung in gefetlich gebumdener Form Hat, fich in bera 
veräußerlihte Surrogate umfebt, und wie man mit, den geiftigen 
Gehalt verdunkelnden Symbolen einem, gerade durch zu vice 
Schattenwefen Trank gewordenen Religionswefen nicht dauernd auf 
helfen könne, fondern nur zu feiner weiteren Zerfetung beitragen 
werde. 

Wenden wir uns nun, nachdem wir eine angemeſſene Deutum 
des erfteren Gleichniſſes gefunden zu haben meinen, zur Erflärumg 
des zweiten. 

Die formale Analyfe zeigte uns, daß, während in ber eben 
beiprochenen Parabel die Reparatur eines Alten, Zweck, das Neu 
Mittel zum Zweck war, in dem jet zw erörternden, von den be. 
Perfönlichkeiten die Konfervierung eines Neuen ale Zwed an 
geftrebt wird, zu deſſen Erreichung in einem Kalle falfche, in 
dem anderen richtige Mittel gewählt werden. Das Neue, um 
defien dauernde Sicherung und Aufbewahrung es ſich Handelt — 
(der junge Wein) —, erjcheint hier nit als ein relativ Gute, 
wie der ungewaltte Flicken, fondern als ein ſchlechthin Wertvolles; 
es ift fein Stüd, Fragment von etwas Gutem, fondern ein duch 

feine eigene Natur belebend, erfrifchend, ftärkend wirkendes Prin⸗ 
zip, bei dem alle Mühe, Sorgfalt und Umficht anzumenben if, 
daß Behälter, Aufbewahrungsmittel gefunden werben, in denen dass 
felbe eine fichere umb dauernde Unterkunft findet. Diefe Behätter 
müffen um fo ftärfer und elaſtiſcher fein, als der Wein noch jung 
ift und deshalb eine ftarke Expanfionskraft Befikt, d. h. als das 
Prinzip ein neues, fich gewaltig Bahn brediendes, überall Hin feine 
duvyauıs zur Eyeoysme zu entfalten ftrebt. 


Unter dem neuen Wein verftcht Jeſus das uvam mis 


Beorlelas Tod Ieod !). Er kann dies Iektere unter dem Bilde 
des Weines vorführen, weil e8 wie diefer ein das (höhere). Reben 


beförderndes, erhaltendes und ftärfendes Gut iſt. Er kann die Idee 


1) Mark. 4, 11. Matth. 18, 11. Luk. 8, 10. 








Der ungewalfte Flichen umd das alte Kleid ıc. 527 


des Meiches Gottes als jungen Wein parabolifcd) darftellen, weil 
fie fowohl ad extra (vgl. das Gleichnis vom Senfforn) als auch 
ad intra (Gfeichnis vom Sauerteige, Salz) fih energiſch auszu⸗ 
wirken die lebendige Zriebfraft in fich hat. 

Welcher Art müſſen nun die Darftellungsmittel, Lebensformen 
fein, damit dem lebenſpendenden, neuen, mit gewaltiger Expanſions⸗ 
fraft ansgeftattetem evangelifch= meſſianiſchen Prinzipe feine Fort» 
eriftenz und Wirkfamfeit auf die Welt gefidert werde? Soll 
Jeſus, als der meifianifche Vertreter des Gottesreichs-⸗Myſteriums 
ed jo machen, wie die Johannnesjünger es verlangen, foll er das⸗ 
jelbe in die alten abgenutten Lebensformen einfchließen, welche das 
zeitgendfjige Judentum ihm nahe legte und anbot? Sollte die 
frohe Botfchaft vom Gottesreihe, die ſich in Mafarismen er» 
öffnete, Schäge von unvergleichlicdem Wert zur Annahme darreicht, 
zur Teilnahme an dem von Gott zugerüfteten Hochzeitgmahle eine 
[adet, in Lebensformen eingezwängt werden, wie fie das alternde 
Judentum berausgebildet Hatte, wo auf regulierte Kafteiungen des 
Leibe, oder andere ritunle Werkleiftimgen, bei unflarer und uns 
fiherer Schäßung des Weſens und der Zorn, ein ungebührliches 
Gewicht gelegt wurde? 

Das „respice finem‘‘ muß ihn von der Wahl folder, durch 
vielfachen Mißbrauch brüchig gewordener Behälter zurüdhalten. 
War ja do fein anderer Effekt bei ſolchem Thun vorauszu⸗ 
beredjnen, al& der, daß das übermäcdhtig fi) Bahn brechende Prin- 
zip die engen, Tnappen, undurablen Lebensformen zerbrechen, ſich 
damit aber jelbft abhanden kommen und verflüchtigen werde. 

War das erftere Gleichnis darauf Hin angelegt, daß es nur ne⸗ 
gativ ein gewiſſes verfehltes Thun fehilderte, und ließ ſich mit Beibe⸗ 
haltung der Figuren bdesjelben nicht anſchaulich machen, was für 
ein richtiges Thun an die Stelle des zwedzerftörenden Verfahrens 
gelegt werben follte, jo bietet die zweite Parabel volllommen die 
Mittel dar, um zugleich eine pofitive Anweifung zu geben, wie in 
dem bez. alle gehandelt werden ſolle. Das alte Kleid follte nad) 
der Intention Jeſu gar nicht mehr durch Flickwerk neu aufge⸗ 
fiugt werden, weder durch einen ungewalkten nod durch einen ge⸗ 
walften Lappen. Wohl aber find für die Frohbotſchaft vom Neiche 








528 Llöpper 


Gottes Lebensformen zu fuchen und herauszubilden, in benen fie 
zur äußeren Darftellung gelangt, in denen fie als in freien, 
weiten, aber dabei doc feften und hHaltbaren Gehäuſen eine 
ihrem qualitativen Wefen entfprechende Unterkunft erhält. Fragt 
man, welches denn nun in concreto diefe neuen Schläude 
ſeien, in bie der Herr feinen neuen Wein gegoffen hat, fo wird 
man in den &pvangelien wenig von dem finden, woran man 
bei den aoxoi xaıvol zunächſt zu denken geneigt fein könnte, 
nämlih von nen aufgerichteten Kultusordnungen, Ritualſatzungen 
und Berfaffungsformen. Da das von ihm vertretene Prinzip das 
Muyfterium von Gottesreich ift, fo erforderte die Konfequenz desſel⸗ 
ben, daß, dem Matth. 10, 24 und Barallelen ausgefprochenen Kanon 
gemäß, in erfter Linie dafür geforgt wurde, dag Verkündigungs⸗ 
organe ber neuen Offenbarung berangebildet wurben. Im übrigen 
befolgte Jeſus in Beziehung auf die Geftaltung von gottesbienft- 
lichen Gebräuchen und Gemeindeordnungen den Grundfag, das Ge 
je und die Propheten nicht aufzulöfen fondern zu erfüllen. So 
wenig wir bei ihm Ausfprüche finden, welche direkt auf Abſchaffung 
des Sabbats, der übrigen Fefte, der Opfer und anderer NRitualien 
gerichtet find, fo wenig jehen wir ihn auch bemüht, über bas, 
worin bei diefen gejeßlichen Drdnungen ihre „Erfüllung“ beftehen 
jolle, fi ander® zu äußern, als nur fo, baß die allgemeine 
prinzipielle Norm angedeutet wird, nach welcher ber, die ganze 
Maſſe durhdringende Sauerteig ded Evangeliums auch auf jenem 
Gebiete feine erneuernde und umbildende Kraft bewähren werbe. 
Und diefe Norm läßt ſich dahin beftimmen, dag, wie wir bies 
fhon auf dem engeren Gebiete des Faſtenweſens Hinlänglich zu 
Tonftatieren Gelegenheit gefunden haben, fein Äußeres, Symboliſches 
das Recht für fich Hat, ſich als folches, d. H. in der Abtrennung 
oder aud nur relativen Ablöfung von der entjprechenden innerlichen 
religiöfen Gemütsftimmung zur Geltung zu bringen, fondern nur 
foweit die Berechtigung befigt, im Neuen Bunde eine Stelle zu 
finden, als es der vollkommen adäquate Ausdrud einer geiſterfüllten 
innerlihen Zuftänblichkeit if. Wie notwendig es dagegen ſei, daß 
fih aud in der, von Jeſu inaugurierten Drönung der Dinge 
jolhe äußere Lebensordnungen zur Aufbewahrung und Fortfeitung 


Der ungewalkte Flicken und das alte Kleid zc. 529 


des neuen Prinzipes auch wirklich herausbilden, ift in den Schluß⸗ 
worten des Matthäusreferates (za augporegoı avsrneoüvres) auf 
das beftimmtefte betont, und damit, bei allem Drängen darauf, 
daß die äußeren Formen geiftdurchörungen find, doch einer rein 
fpiritwaliftifchen Auffaffung des Sachverhältnijfes vorgebeugt. Wie 
in allen einzelnen Fällen, wo fich Veranlaffung dazu darbot, Jeſus, 
dem bier geäußerten Srundfage gemäß, prinzipielle Anleitungen 
gegeben bat, wie etwa neue Schläudhe für den neuen Wein ber» 
zuftellen feien; oder wie er felbft in einigen Fällen beftimmte 
Anordnungen neuer Formen für das gottesdienftlihe Gemeinde⸗ 
weien getroffen hat, — dieß hier näher zu erörtern, liegt außer- 
halb der Aufgabe, die wir für diesmal uns geftellt haben. Nur 
daran wollen wir zum Schluß noch erimmern, daß bie Feier des 
letzten Mahles, welches Jeſus mit feinen Jüngern beging, die beite 
Illuſtration auch dafür giebt, welche Art von neuen Schläuchen 
Jeſus an die Stelle der alten, auch von den fich Tafteienden Jo⸗ 
hannesjüngern benugten, für feinen neuen Wein verwertet wifjen wollte. 

Wir wenden ung zum Schluffe noch zu dem Texte, in welchen 
ber dritte Eoangelift unjere beiden Parabeln überliefert bat. 

Liegen Matthäus und Markus die beiden zulegt erörterten 
Gleichniſſe, ohne eine einleitende Bemerkung, auf den parabolifchen 
Ausspruch von dem Bräutigam und ben Hochzeitsgenoffen folgen, 
und deuteten dadurch an, in einer wie engen Beziehung jene zu diefem 
ftünden: jo führt Lukas jene durch die Worte ein: Eaeys de xal 
sragaßoinv rrgög avrovs“, und giebt ſchon hierdurch zu erkennen, 
daß die folgende Gleichnisrede dem in V. 35 Enthaltenen nicht 
unbedingt gleichartig ſei, ſondern die fo eben beiprochene Sache 
nad einer etwas anderen Richtung Hin in Betracht ziehe. 

Was nun den Wortlaut der Parabelm felbft anlangt, jo Hatten 
die beiden erftern Evangeliften von einem, aus einem ungemalften 
Lappen beftehenden Flicken gefprochen. Lukas läßt ihn ericheinen als 
einen von einem neuen Kleide abgetrennten!). Da nun 
der von einem bereits fertigen Gewande abgejchnittene Flicken nicht 


1) 5, 36: „örs ovdeis EntBiAnua ano iuarlov xaıvoü oyloas 
£nıßarreı Eni Fudriov naAaıoy.“ 


5850 Klöpper 


mehr als ein ungewalftes Stüd Zeug gedacht werden darf, fo kaun 
notürlih von einer zerftörenden Wirkſamkeit jenes Flickens in Bes 
ziehumg auf das alte leid, für das er als Ergänzungsftüd 
dienen fol, nicht bie Rede fen. Deshalb wird als folge ber 
von Lukas berichteten Manipulation angegeben, daß dadurd einer 
jetd das neue Kleid, von bem der neue Flicken genommen, zer 
fpalten merden, anderfeit8 der neue Anfjag mit dem alten 
Kleive nicht in Harmonie ftehen würde !). 

Endlich Bat Lukas zu dem zweiten, tim mefentlichen mit dem 
Texte ded Markus übereinftinnnenden Gleichnis, noc einen Zuſatz, 
in welchem ausgejprochen wird, daß niemand, nachdem er alten 
(abgellärten) Wein getrunken Bat, zu jungem Wein (no in Gäh⸗ 
rung befindfichem Moft) Luft verfpiiet, indem er (fich) fagt, der 
alte ift gut (milde) 2). 

Aus dieſen abweichenden, charakteriftiichen Zügen des dritten 
Evangeliften ergiebt fich für den Gedankengehalt der betreffenden 
Parabeln folgendes. 

Unter dem neuen Gewande, von dem der Flicken genommen 
wird, fann man nur die neue, von Jeſus inaugnrierte Lehr⸗ umd 
Lebensordnung des Reiches Gottes ſich vorftellig machen. Die 
jelbe wird bier als eine ſchon vollkommen fertig geftellte, in eim- 
heitlichem Beftande fi) der Anſchauung barbietende Größe voraus 
gejegt. Wenn nun von dieſer neuen Ordnung der Dinge von 
Phariſäern und Johannesjüngern ein einzelnes Stück Iosgelöft 
und auf ihr altes Kleid des theofratifchen Judentums aufgejeht 
wird, jo wird durch ein ſolches Verfahren, in welchem gewiſſe 
Elemente einer freieren religiös-fittlichen Gefamtanfchauung und 
Lebenspraris ausgebrochen und auf ein altes, an enge gejetliche 
Formen gebundenes Neligionsiwefen transportiert werden, ebenfowohl 
bie nene NReichsordnung in ihrem eimheitlichen Beſtande geſchädigt 
werden, als auch die neuen Lebensgewohnheiten mit der alten 





1) et d2 un VE, zul 10 xawov oylosı xal TO naAud 0V Ovupwvnoe 
10 EnißAnuo To ano Tod xuvoü, 

2) 8. 87: xal odders nıWv noAmor Ieicı vEor' Adycı ö nakaıos 
zonotös Eorı. 








Der ungemwalfte Fliden und das alte Kleid zc. 531 


Gefamtanſchauung und Praxis, mit der fie jo willlürlih algamiert 
find, in ſeltſamem Kontraft ftehen. 

Was ferner den Sinn des von Lukas zu dem zweiten Gleich 
nis gemachten Zuſatzes anlargt, jo wird er nicht wohl ein anderer 
fein fünnen als der folgende: Es fei begreiflich und verftändlich, 
daß die Pharifüer und Johannesjünger, denen durch Langjährige 
Eingewöhnung in die alten Bewußtfeind und Lebensformen des 
gejetlichen Indentums, diejelben geläufig, Iieb und bequem gewor- 
den feien, micht Luft hätten, Methoden des ſittlich⸗religiöſen Ver⸗ 
haltens zu adoptieren, gegen die fie, als noch unbewährte, zu freie 
und ungebundene, eine naturgemäße Averſion haben müfſen. 

As Summe der Iufarishen Gejamtdarftellung der Parabel» 
ausſprüche Jeſu ergiebt ſich aljo: eine Verwendung fragmentarifcher 
Beitandteile einer neuen Ordnung der Dinge taugt weder für den 
neuen noch für den alten Standpunft. Es wird dadurd nur eine 
Spaltung in der neuen Neligionsverfaffung bewirkt, fowie die diefer 
entnommenen und auf den alten Standpunkt übertragenen Ele⸗ 
mente mit diefer Ietteren in Discrepanz ftehen. Bei Kombination 
der neuen Religionsordnung — (neuer Wein) — mit alten Lebens⸗ 
obfervanzen — (alte Schläuche) — durchbricht erftere biefe letz⸗ 
teren, wobei aber der neue Religtonsgehalt ſich jelber abhanden kommt, 
und die undurabeln jüdifchen Lebensformen zugrunde gehen. Es 
jei begreifiich, wie Anbünger der alten Religion fih nur ſchwer 
von ihren aligemohnten Bräuchen trennen könnten 

Man wird nicht leugnen können, daß diefe lukariſche Verſion der 
Gleichniſſe Jeſu im ſich wicht fo übel zufammenftimmt. Eine an⸗ 
dere Trage aber ift e& freilich, ob dieſe Barabeirede Jeſu fih für 
die Zeit feines Auftretens, und zumal feiner beginnenden Xehrthätig- 
feit, genügend verftändlich machen umd ſich in den Rahmen feines 
damaligen Bewußtſeins paffend einreihen Laffen werben. 

Zunächft würde doch als auffällig zu notieren fein, wenn Jeſus, 
der erft ſeit kurzem die erften Samentörner feiner evangelifchen 
Lehre auszuftresen begonnen hatte, ſchon von einer in der Tota⸗ 
(tät ihrer Momente daftehenden neuen Lebensordnung (neues Kleid) 
geredet haben follte, von welcher als Möglichkeit vorausgefett 
wird, daß mun von ihr einzelne Elemente abtrennen und zur Auf⸗ 


532 Klöpper 


beiferung einer alten religiöfen Verfafjung verwenden könne. Doch 
wenn man über diefen Stein des Anſtoßes nocd allenfalls hinweg 
fommen fönnte, — ift e8 angemefjen, wenn Jeſus die Schriftge- 
fehrten und Pharifäer, um ihnen die Unangemefjenheit eines folden 
Verfahrens, — zu welchem fie begreifliherweile nicht im Ge⸗ 
tingften die Neigung verjpüren konnten, — darauf aufmerkſam ges 
macht hätte, welchen Schaden feine Sade infolge davon Haben 
werde, wenn feine Gegner und die Johannesjünger fich Vereinzeltes 
von ihr aneigneten? Was lag den nterpellierenden daran, ob die 
von eins aufgerichtete Neligionsordnung — einmal angenommen, 
dag wirklich von den auf dem alten Boden ftehen Bleibenden, ein- 
zelne freiere Gewohnheiten adoptiert wären —, ob, fagen wir, biefe 
neue freiere Genoffenjchaft gut oder fchlecht dabei fuhr? Ein Mo- 
tiv, da8 fupponierte Verfahren zu unterlaffen, wäre doch das gel- 
tend gemachte Moment für fie kaum geworden. Eher könnte als 
ein ſolches Zurücdhaltungsmittel der Gefichtspunft ber Nichthar- 
monie des Neuen mit dem Alten erfcheinen, wenn —, wa® aber 
freilih wiederum faktifch nicht ausführbar war — die bezüglichen 
Berjönlichkeiten einen Vergleich zwijchen dem neuen fertigen, in 
volfendeter harmonifcher Geftalt vor ihnen ftehenden Religionsweſen 
und ihren bisherigen alten, mit ein paar neumodiſchen Zuthaten 
verjehenen, Hätten anftellen fünnen, bei welchem fich ihrem Be 
wußtfein die Buntjchedigkeit und Geſchmackloſigkeit ihres Koſtüms 
unwilltürlic” würde aufgedrungen haben. Endlih, wie kann man 
fi) vorftellig maden, daß Jeſus feinen Gegnern eine ſoweit ge 
hende Konzeifion gemacht haben follte, das Lebenselement der Pha⸗ 
rifäer und Johannesjünger unter dem Bilde bed alten Weins 
darzuftellen, da ja doch diefer erfahrungsgemäß ber objektiv beſſere 
und wohlſchmeckende iſt? Und foweit follte Jeſus in feiner Tole⸗ 
ranz fich der Gegenpartei genähert haben, daß er ihr zu verftehen 
gab, man könne den, ihren alten bewährten Gewohnheiten Anhäng- 
lihen es gar nicht fo jehr verübeln, wenn fie feine bejondere Dis- 
pofition in ſich verfpürten, fich in die neue, noh in der Ent- 
wickelung beftndliche, unerprobte Lebensweiſe, wie es die feine zur Zeit 
noch fei, zu finden? 

Iſt nun dies aber alles fo befchaffen, dag es in die Periode 








Der ungewallte Fliden und das alte Kleid ꝛc. 583 


bes Lebens Jeſu gar nicht Hineinpaßt, jo legt fi) nahe, die Iufa- 
rifhe Formulierung der bez. parabolifchen Ausſprüche daraufhin 
anzufehen, ob fie etwa den Barbenauftrag einer jpäteren Zeit an 
fih Habe, und fomit ſich als Ausdrud gewiſſer Verhältniffe bes 
apoftolifchen Zeitalters begreiflih machen Tiefe. Bekanntlich) 
fam es in biefem zwifchen dem nomokratiſch gerichteten Inden⸗ 
hriftentum und dem freieren panlinifchen Heidendriftentum zum 
Konflitt. Nach der Anfchanung der Heibenchriften hatten fich ja 
die Judenchriſten herbeigelaffen, von der evangelifchen Lehr⸗ und 
Lebensorbnung einzelne Lappen loszutrennen und auf ihr altes Ges 
wand des theokratifchen Judentums zu ſetzen. Dieſes Verfahren 
bringt einmal ein Schisma in das Chriftentum. Anderſeits 
ftehen wiederum bie, feitend ber Judenchriſten angeeigneten neuen 
evangelifchen Fragmente mit ihrem, dem Weſen nach noch jüdischen 
Standpunkte in Disharmonie. Das Chriftentum ift eben nicht 
in die alten engen jubaiftiichen Schläuche (Lebensformen) einzu« 
zwängen. Die Folge davon fünnte nur die fein, daB das neue 
hriftliche Prinzip fich fo gewaltig exrpanfiv erweiſt, daß die alten 
judaiſtiſchen Aufbewahrungsbehälter zerfprengt, der neue chriftliche 
Geiſt fih verflüchtigt, und zugleich bie alten Lebensformen der 
Bernichtung anheimfallen. 

Nachdem jo das dem Chriften- und Judentum Verderbliche 
dieſes jnbenchriftlichen Standpunktes bargelegt ift, folgt ſchließlich 
ein dem ansgleichenden, untonsfreundlichen Standpunkt des Lukas 
entfprechenber Ausfpruch, der das Judenchriſtentum einer milden, 
fchonenden, toleranten Beurteilung unterftellt. Die Judenchriſten 
haben fich als geborene Glieder des alten theofratifchen Gottes» 
volles jo ſehr an ihren alten, abgeflärten milden Wein gewöhnt, 
dag man dafür ein aufgefchloffenes Verftändnis, die Stimmung 
fangmütigen Tragens, haben werde, wenn fie fich nicht fofort ent- 
Schließen können, bem noch in Gährung befindlichen Moſt des 
neuen evangelifchen Prinzips ben entfchiebenen und unbedingten Vor⸗ 
zug zu geben. 

Faßt man die Ausfprüche Jeſu, wie fie Lukas referiert, in der 
gedachten Weife auf, fo werden fich alle jpeziftichen Züge jener 
verftändlich machen. Wir begreifen, wie das Chriftentum ſchon 


5A Klöpper: Der ungewalkie Flicken und bas akte Kleid ac. 


unter dem Bilde eines fertig geftellten Gewandes erſcheinen konnte, 
von dem man einzelne Elemente abtrennt und auf das alte Meib 
des Judentums fetzt, wie durch biejes Thun bie wahre Religion 
in ihrem Wehen geſchäüdigt wird. Man verfteht, wie das Unharmoniſche 
in der ſynkretiftiſchen Formation des -Yudenchriftentums ſich dem 
Dewußtjein der freier denkenden Heidenchriften bemerkbar machen 
mußte. Enblih, wie man von einem zur Billigkeit geneigten 
Unionsftandpunlte aus, nachdem man gegen das Unangemeſſene, 
Schüdliche, Berhängnisnolle der jubaiftifchen Intentionen Proteft ein- 
gelegt hatte, doch noch ein mildes begütigendes Wort für falche 
judenchriftliche Brüder übrig Hatte, die fi) nicht fo leicht von 
ihren, von den Vätern ererbten, altgeheiligten Lebensgewohnheiten 
trennen konnten, und vor einem unvermittelten, decidierten Übergang 
zum geſetzesfreien Paulinismus zurückſcheuten. 

Da nun, wie auf der Hand liegt, diefe lulbarifche Berfion 
der Worte Yen fich dem Verfiändnts der Glieder eine® Schon als 
felbftändige Religionsverfafſung beftehenben Chriſtentums ungleich 
teichter aufſchloß als die ältere, ſprödere, eine genauere Keuntnis 
der eriten Entftehungsbedingumgen des von Jefu gegründeten Gottes⸗ 
reiches zum Grunde habende Fafſſung ber Worte, die uns bie beiden 
erften Evangeliften barbieten: jo ift es aus bemfelben Umſtande 
auch feicht zu erklären, daß faft alle neueren Interpreten dieſer 
Parabeln, ſelbſt in dem Talle, wenn fie den Tert des Matthäus 
oder Markus al8 den Altern bevorzugten, doc) in der Deutung des⸗ 
felben in den Spuren des Lukas gewandelt find, und bies oftmals 
treuer, als fie es fich felbft mögen eingejianden haben. 











Gedanken und Bemerkungen. 


!. 


Der Streit über die Echtheit eines Luther 
fundes ’). 


Bon 
Brofeffor H. Hering in Halle. 





Einem Sammelbande der an noch ungehobenen Schägen reichen 
Zwidauer Ratsbibliothet gehört als erjtes Stüd eine 50 Blätter 
enthaltende Handfchrift mit dem Titel an: „Praelectio Doctoris 
Martini Luteri in liprum Judicum.“ Obwohl nicht Original 
fondern Abſchrift einer Nahfchrift und daher Außerlih nicht in 
gleicher Weife verbürgt, wie die von Seidbemann herausgegebene, 
von Luther ſelbſt gejchriebene Pfalmenvorlefung, ift bdiefe von 
ihrem Entdeder, Herrn Dr. Buchwald, unter Luthers Namen 
als eine Vorleſung des Neformators veröffentlicht, von Köftlin 
mit einem einleitenden Vorwort, das fofort für die Zeit der Ab⸗ 
faffung einen wertvollen Winf gab (S. vu), ausgeftattet und mit 
Freude und Dank gegen den Herausgeber von allen begrüßt wör- 
den, welche fih für die Entwidelung Luthers interejfieren. De 
brachte eine der erften theologischen Beſprechungen einen Zweifel 


1) D. Martin Luthers Vorleſung fiber da8 Buch der Richter, aus einer in 
der Zwidauer Natsbibliothet befindlichen Sandichrift herausgegeben von Georg 
Buchwald, Dr. phil., cand. (jest Lic.) theol., Oberlehrer am Gymnaſium zu 
Zwidau. Leipzig (3. Dreichers Verlag) 1884. X und 80 ©. Ich citiere die⸗ 
jelbe mit der Abkürzung Jud., Luthers Vorleſungen über die Pialmen mit Schol. 


538 Hering 


an Luthers Autorſchaft. D. Dieckhoff war es, welcher, nachdem 
er fi mehrfach mit den von Seidemann edierten Scholien Luthers 
zu den Pfalmen litterarifch bejchäftigt, beſonders auch Luthers 
Stellung zur Kirche und ihrer Reformation vor dem Ablagftreit 
in einer Feſtſchrift 1883 dargeftellt hatte, in diefer neuen Ver 
öffentlihung trog mander Annäherungen an Luthers Art umd 
Lehrweife ihn felbft nicht zu finden vermochte !). War dies für alle 
überrafchend, die auf gleichem Arbeitsgebiet thätig, ſofort ficher ge- 
weien waren, feinen anderen als Luther in der Vorlefung über dad 
Richterbuch zu hören, fo war es nicht minder die Hypotheſe, melde 
D. Dieckhoff mit dem Hinzufligen, er zweifle nicht, Daß fie fid 
beftätigen werde, zur Prüfung verlegte; denn in D. Staupig wollte 
er den Derfaffer fehen. Man fragte fih, mit weldem Recht die 
Argumentationen gegen das göttliche Recht der römischen Biſchöfe 
al8 der Nachfolger Petri, wie die Klagen über fehlimme Erfah: 
rungen wegen freimütigen Zeugniſſes, wie abjchäßige Urteile über 
abergläubifche Wallfahrten, wenn mit D. Diedhoff alles dies dem 
Luther vor dem Ablaßſtreit abgefproden werben fellte, in ben 
Mund eines jo behutfamen Beurteilers kirchlicher Dinge, als wel 
chen wir bisher Steupis kennen, gelegt merden dürfe, und in der 
That hat D. Diedhoff diefe Frage gar wicht angerührt. Offenbar 
find es beſonders zwei vereinzelte Wahrnehmungen geweſen, die, 
für die Erkenntnis des geſchichtlichen Zufammenkanges der Bor- 
tefung nicht ohne Wert, Dieckhoff mit einer Hypotheſe befreundet 
haben, die jedes meiteren Anhaltes entbehrt. Ir dem zweimal 
oorfommenden tuus sum, salvım me face (Jud. S. 47f. 59) 
hatte er namlich das Motto des Staupis und in dem nos Mis- 
nenses dicimus einen Himweis auf die Heimmt desfelben gefunden. 
Und nun Sam Hinzu, daß nach Dieckgoffs Urteil Der Inhalt der 
Borlefung, mie ſtark er in Einzelheiten an die Schriften Luther 
im jener Zeit erinnere, doch die Seele der Lehre Luthers, nament 
lich Luthers Aufführung von der Neue, und ebenfo eine Steherheit 
in der Auffaffung des Verhältniſſes zwifchen Rechtfertigung und 
Heiligung in der Ordnung der Wiedergeburt vermiffen Laffe. 


3) In Luthardts Zeitſchr. für lirchl. Wiſſenſch. 1884. ©. 356. 





Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 639 


Andes waren hiermit nur Fragen aufgeworfen, welche Beant- 
wortung erheifchen; aber eine genügende Bafis für die 
Hypothefe der Autorfhaft des Myſtikers, deſſen Sprache 
und Lehrweife unferer Erkenntnis faft ebenfo zugänglich geworden 
ift, wie die Luthers felbit, war keineswegs gegeben. Die 
Richtervorlefung und die Werke des Staupig hätten auf Ahnlich- 
feit und Unterfchied und zwar ebenjo in Titterarifcher wie in theos 
logiſcher Hinficht unterfucht werden müffen, um eine haltbare Hypo⸗ 
theje zu begründen. Nur auf den zwei genannten Stützpunkten ruhend 
ift diefelbe ausſichtslos. So hat denn ſchon Kolde in feiner Anzeige 
der Buchwaldſchen Veröffentlichung DiedHoffs Gründe mis Recht nicht 
für ftihhaltig erkannt )). Immer bleibt die Aufgabe, Luthers 
Autorfchaft näher zu begründen, und diefer bat ſich foeben Buch⸗ 
wald, Diedhoff befämpfend, mit Erfolg unterzogen, während Died- 
Hoff in demfelben Heft feine Hhpothefe gegen Buchwalds Einwen- 
dungen zu verteidigen ſucht?). Wie fchon Kolde zur äußerften 
Vorficht inbetreff des argumentum a silentio gemahnt, fo weit 
Buchwald auf das Unrichtige einer Argumentation hin, welche neue 
auffallende Äußerungen Luthers beanftandet, weil wir bisher fein 
Seitenftüd zu ihnen haben. Für unfere Kenntnis der 
früheren Entwidelung Luthers müffen wir ja immer 
noh vorhandener Aporieen eingedent bleiben. Auch 
erinnert Buchwald gegen die Beanftandung der abfchügigen Auße- 
rung über das Wallfahrtswefen mit Recht, daß Luther in der 
Offentlichkeit feine Polemik milderte. Es bedurfte Hierfür nicht 
des Hinweiſes auf die erft 1523 gehaltene Deuteronomiumovorles 
fung; näher noch und beweisfräftiger tft der Vergleich der Vor⸗ 
lefungen Luthers und jeiner Predigten. Jene enthalten rückſichts⸗ 
lofen, diefe gemäßigten Tadel der firchlichen Inſtitutionen. Und 
eben diefe Mäßigung entfpricht dem für Luthers ſpäteres Auftreten 
Tennzeichnenden Prinzip, Schwachen nicht Ärgernis zu geben. 

Buchwald ift dann weiter dazu Übergegangen, die Richtervorle- 
fung mit den Scholien zu vergleihen. Er hat zunächft nachgewiefen, 


1) Theol. 2.-3. 1884. ©. 558 ff. 
2) Luthardts Zeitſchr. file kirchl. Wiffenfch. 12. Hft. = 630 ff. 638 ff. 
Theol. Stud. Jabrg. 1885. 








540 Hering 


daß die Behandlung der Steffen des Buches der Richter, welde 
in den Scholien vorkommen, gleiche oder ähnliche Gedanken ergiekt, 
und er hält gegen Diedgoff auch daran feft, daß die Deutung von 
Nicht. 14, 14 (S. 77) in ber Hauptfache mit derjenigen überein 
ftimme, welche ji in der Ofterpredigt vom Jahre 1516 findet. 
(Ausgabe von Fuaate I, 595. Er. Ausgabe Op. var. arg. 
1, 96 ff.) „In beiden“, fagt er, „wird Simfons Nütfel von 
Ehrifti Auferftehung gedeutet, und dies ift doch wohl die Haupt 
ſache.“ Er betont dies mit Recht gegen Diedhoff, der in feinem 
erften Anfiag die Abweichungen, die fi immerhin bei ähmlicher 
Deutung finden, als Zeichen verfchiedener Autorichaft genommen 
hatte. Wenn berfelbe jett fagt, dag er ein großes Gewicht auf 
biefe Einzelheiten nicht gelegt habe, aber es immer auffallend findet, 
daß Luther verfchiedene allegorifche Erklärungen gegeben haben follte, 
ohne auch nur der aufgegebenen Erklärung Erwähnung zu thun, 
fo verfennt er, daß Luther jchon in den Scholien gegenüber einem 
fiarren Tefthalten an ber Tradition das Recht neuer Auslegung 
als das der Fülle des Schriftfinnes Entſprechende vertreten hat 
(Schol. II, 205) 2). Als Buchſtabe, und nicht als Geift mürde 
thm das bloße Verharren auf der Tradition oder auf eigener, einer 
früheren Erfenntnisftufe entjprechenden Auslegung gegolten Haben; 
denn omnis locus scripturae infinitae est intelligentiae (Sol. 
I, 297). Nun hat zwar weiter Diedyoff auf die Möglichkeit 
einer gemeinfamen Quelle für die Übereinftimmung der allegarifchen 
Deutung in Schol. und Jud. und auf eine Stelle aufmerkſam 
gemadt, in welcher Luther fi auf Anguftin für die Deutung 
mehrerer Namen beruft (a. a. O., S. 640); aber diefe Überein- 
ftimmungen ber Allegorien in Jud. mit denen der Scholien erhalten 
dennoch dadurch, daß fie fih in einem Schriftftüd finden, welches 
fonft mit Merkzeichen Iutherifcher Art überjät ift, die Bedeutung 
von Indicien, die nicht gering zu ſchätzen find. 

Auh der philologifche Beweis, den Buchwald dafür 
führt, daß Luther die Richteruorlefung gehalten, wird von Died» 


1) Kür alle weitere Bergleihung verweiſe ich anf meinen Aufſatz über 
Luthers erfte Bodlefungen in den Stud. u. Krit. 1877, ©. 588 ff. 


| 


‚Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 541 


hoff nieht Hinreihend berückſichtigt. Er wendet ein, das 
nota, notandum, welches zuweilen in Luthers Predigten 1514 bis 
1516, in Schol. wiederholt, häufiger noch in Jud. fich findet, fei auch 
jonft im eregetifchen VBorlefungen ganz gewöhnlich geweſen (a. a. O., 
©. 637, vgl. S. 643). Dies ift wohl richtig; doc iſt mit dieſem 
Sprachgebrauch immer nod individuelle Anwendung verträglich, fo 
daß das Vorkommen einzelner diefer Formeln aber ihr Nichtvor- 
fommen einen Schriftfieller Tennzeichnen Bilft.e Aus dem Vorrat 
traditionell gewordener Einführungäphrefen, die auch in die deutſche 
Literatur übergegangen find: „Nun fällt eine Frage (quaeritur) 
— Die Meifter Sprechen — Etliche ſprechen — Nun mertet 
(notandum) u. |. w.“, bevorzugt der eine in der mittelalterlichen 
Litteratur diefe, der andere jene !), auch find diefe Wendungen 
durchaus nicht auf VBorlefungen und Predigten bejchränft, wie 
Dieckhhoff meint; fie finden fidh ebenfowohl in Traktaten, wie z. B. 
in denen des Meifter Edhart häufig *), jo daß es nicht ftichhaltig 
ift, ihr Nichtvorkommen bei Staupig aus der Traltatform feiner 
Schriften zu erflären. Dieckhoff verweift nun auf Luthers Traktat 
„Bon der Treiheit eines Ehriftenmenfchen*, in welchem fich der- 
gleichen ebenfalls nicht findet. Aber nicht die Traßtatform, ſondern 
die zwifchen 1516 und 1520 liegende ſprachliche Entwidelung hat 
Luther fich ablöfen laffen non der Demonftrier- und Disputierphraſe 
der früheren Zeit. Für Luther als Verfaffer der Nichterbuchuor- 
leſung bleibt daher das häufige nota zufammen mit dem igitur an 


1) Hermann von Friglar 3. E. wendet das: „ez ist ein vräge, 
ich mach ein vräge“ ziemlich oft an: Ausg. von F. Bfeiffer, ©. 14. 17. 
22. 26, bei. 44. Nikolaus von Straßburg dagegen braucht diefe Formel 
m. ®. nie, auch da nicht, wo e8 nad) dem Gedankengang uahe gelegen hätte, 
wie ©. 264, 26; 265, 19; 273, 30; 275, 31; 286, 3 u.ö., während andere 
diefer Ausdrüde: „nü merke, ir sönt wizzen“ n. dgl. bei ihm ſowohl, wie 
bei Hermann von Friglar vorlommen. Vgl. 263, 7; 265, 6; 278, 25 mit 
3, 1; 41, 35. 

2) Als Beifpiele aus den zahlveichen Stellen nur folgende (Ausg. von 
5. Pfeiffer): „nü ist ein vräge“, ©. 384. 390f. 395. 417; „nü möhte 
man fragen‘, ©. 888; „nü frage ich für baz“, ©. 389; „at merket“, 
©. 385. 386. 388; „man sol vuch wizgen‘ (sciendum bei Luther), ©. 397. 


419. 
35* 


542 Hering 


der erften Stelle des Satzes und der Vorliebe für ideo ein fo 
lange nicht gering zu ſchätzendes Zeugnis, bis, was Dieckhoff nicht 
getban, gleicher Redegebrauch bei Staupig nachgewieſen ift. 

Hierzu kommen nun die zahlreichen verdeutlichenden, im ben 
fateinifchen Text eingeftreuten deutfchen Worte (Jud. 34. 35. 36, 
39. 42 u. f. w. Schol. I, 61. 62. 65. 88. 160. 232. 247 
u. f. w.). Im ihnen kündigt fi) das Genie und ber Trieb des 
geborenen Dolmetſchers an, welcher mit Worten der Mutterſprache 
zeigen möchte, was die Schrift meine; zumeilen blickt bier auch der 
derbe Humor dur, der uns an Staupig befremdlicher als an 
Luther dünken möchte (Jud. ©. 71) ). 

Für Luther als Verfaſſer entfcheidet endlich die von Buchwald 
S. 637 nadjgewiefene überrafchende Übereinftimmung eines Zeile 
der Stelle in Jud. S. 26 mit einer von Luther über das dritte 
Gebot gehaltenen Predigt (Ausgabe von Knaake I, 445, 23) 2). 
Wenn nun Dieckhoff mit Scharffinn feftzuftellen ſucht, daß das 
benugte Original in der Predigt vorliegt, weil fie einige Worte 
in ftrengerem Zufammenhange bietet, fo ift dies möglicherweife 
richtig. Da die Predigten Über die zehn Gebote 1516 gehalten 
find, dürfte jemand annehmen wollen, daß Luther das im ber 
Predigt über das dritte Gebot gejprochene Wort bald darauf in 
feine Nichtervorlefung habe einfließen Laffen. Aber Dieckhoff ge 
langt durch feine Analyfe zu dem Ergebnis, daß die Worte ideo 
cogitur populus etc. nit in den Zufammenhang der Richter⸗ 
vorlefung pafjen, und jo möchte er eine Interpolation annehmen, 
die — er deutet nicht an, durch wen und in welder Abſicht — 
nach 1518 vorgenommen ſei, weil erft in diefem Jahre Luther 
feine Predigten veröffentlicht habe. Aber die Analyfe, aus der 


I) Den Eifer des Schriftausfegere und zugleich eine nach Koldes Urteil 
bei Staupit nicht zu vermutende Kenntnis des Hebräifchen befunden auch die 
Stellen Jud. 33. 44. 55. 66. 78. Bgl. Schol. H, 80. 93. 129. 154 umd 
viele andere Stellen. 

2) In einer Beſprechung, die erſt während bes Drudes des obigen Auf⸗ 
ſatzes erichienen ift (Luthardts Zeitfchrift für kirchliche Wiſſenſch. 1885, Hft. 1, 
S. 40), macht D. Kawerau nod) darauf aufmerffam, daß in Jud. mehrfach 
auf die dietata super psalterium zurädverwiefen wird, fo daß ein Zweifel 
über die Identität des Verfafſers fich nicht behaupten Tann. 


Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 543 


dieſe zweite Hilfshypotheſe, kühn wie die moderner neuteftament- 
licher Kritifer hervorgeht, ift troß des aufgewandten Scharffinns 
dennod) gerade dem eigentüimlichen Gedankenzuge des betreffenden 
Abſchnittes in Jud. nicht gerecht geworden und daher verfehlt. Syn 
der Predigt handelt Luther von der Pflicht des Volkes, das gött⸗ 
lihe Wort zu hören. Bon hier aus thut er einen Blick auf bie 
Berpflihtung und auf die Berfäummisichuld der Prediger und er- 
klärt e8 daraus, daß troß der ftrengen Verbote die Pfarrkirchen 
nicht befucht werden. In der Nichtervorlefung dagegen ift Gegen- 
ftand feiner Rede die Pflicht, recht da6 Wort Gottes zu predigen, 
und auf diefe deutet da8 in ore gladii des Textes. Er fchildert 
nun drei Arten von Predigern. Die erften find die, deren erftes 
Wort im Gottesdienft aus Thomas oder Ariftoteles her iſt. Diefe 
vergleicht er mit Fröfchen in kotigen Sümpfen, ganz jo wie 
tin den Scholien 1, 457. Die zweiten beſtehen aus denen, 
welche mit dem Schwert des Wortes nicht verwunden. Das find 
fofche, welche dem Volt, nicht Gott zu gefallen ftreben, befonders 
die, welche den PBrälaten fchmeicheln und mit Flaumfedern ftreicheln, 
während doch Chriftus, der Gründer der Kirche, befohlen Hat, 
freimütig und furchtlo8 feine Lehre zu predigen, nicht, wie Quther 
auf den erften Abjag zurückweiſend Hinzufügt, ariftotelifche Dekrete, 
nicht fophiftifche oder fcholajtifche Lehre, nicht Narrenpofjen oder 
theologische Zänkereien. Wenn daher da8 Boll zum Hören des 
Wortes mit fo viel Strenge verpflichtet ift, mit wie viel Strenge 
die Prediger des Wortes! Nun klagt Luther Über das entſetz⸗ 
liche Elend einer fait völligen Verſäumnis dieſes fo dringlichen, 
allen Geboten vorgehenden Auftrages. So liegt e8 doch nahe, 
daß er von hier aus mit dem Sag cogitur jam etc. den gegen- 
wärtigen Schaden des kirchlichen Lebens beleuchtet, daß das Bolt 
gezwungen wird, in feiner Parochie das Evangelium zu hören, und 
dies nicht thut, weil die Priefter gezwungen find, das Evangelium 
zu predigen — Luther meint: es in feiner verwundenden, aud) durch 
Philofopheme nicht geſchwächten Kraft zu predigen — und dies 
nicht thun, weil fie es nicht Kennen. Und nun fchildert er diefe 
zweite Klaffe von Predigern abfchließend als folche, welche in dider 
Unwifjenheit mit Fabeleien und falfchen Lehren Narrenpofjen treis 


B4d Hering 


ben. So ift auch diefe Betrachtung in fih geichloffen; hier 
ktegt nichts außer dem Zujammenbang, bier ijt nir— 
gende Flickwerk eines Anterpolators, namentlich der 
tete Sag: Ideo nugantur fügt ſich ſehr wohl in die Architel⸗ 
tom des Mbfchnittes, der zum Xextwort percusserant civite- 
tem etc. (Jud. 25) gehört. Jeder Abſatz fchließt mit einer 
Schilderung der betreffenden Prediger. Die erften werden wegen 
ihrer philoſophiſchen Geſchwätzigkeit getadelt; die zweiten treiben 
Boffen mit menschlichen Erdichtungen und beide verwunden nicht 
mit der Schärfe diefes Schwerted. Die dritten find die rechten Pre 
diger , weiche Berfolgung erleiden und den Spruch: „Euge serve 
bone et fidelis‘‘ hören werden. 

Aber durch genaue Beleuchtung diefer einen Stelle find wir 
auch ſchon Über Einzelheiten hinaus zu einer zentralen Gemeinſam⸗ 
feit von Jud. mit Schol. geführt. In beiden nämlich ift 
es dem Verfaſſer um das Wort Gottes zu thun. Die 
Klage über Berfäumnis des Wortes vernehmen wir fchon in den 
Scholien. Dieckhoff zeige doch Ähnliches bei Stanpig! Und ebenfo 
ftimmen die lebhaften Äußerungen über die Heilige Schrift, die in 
einer Fülle, weiche wir bei Stanpit vergeblich ſuchen, in Jud. ſich 
finden, mit dem Typus der Scholien überein. Wie in der Wolfen 
büttler Gloſſe und den Scholien fuht er in Bildern und Ber 
gleichen, zu welchen die Allegorefe immer neuen Stoff bietet, den 
Wert der heiligen Schrift zu ermeifen. Sie verfteht er unter 
Schild und Lanze (S. 44) und unter dem Schwert (S. 25); fie 
ift Gottes Blitz, weil fie alles in den Menfchen ausrichtet, wat 
der Blitz auf Erden thut (S. 23). Die heilige Schrift ift die 
Norm, an welcher alles gemeſſen wird (S. 68). Sie giebt der 
Predigt ihren Inhalt (S. 59) und für jeden Prälaten ift fie das 
Schwert bes Mundes (S. 65); fie ehrt, was Papſt und Biſchöfe 
thun follen (S. 72), und fie enthält, was alle Gläubigen ver- 
tragen können, aud bei nicht völligem Verſtändnis (S. 37) '). 


Sie tft zu hören, wie wenn man Ehriftus felbft reden hörte, umd 


— — — — — 


1) Bol. Ausg. Knaake I, 81, 12, wo Luther erwähnt, daß einige von 
feiner Predigt fagten: „haec scandalisant infirmos“. 


Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. BA 


fie fol ohne Menſchenfurcht, freimütig als vermundendes Schwert 
gehandhabt werden (S. 23. 26). Wie in den Scholien, jo ift dann 
weiter das Verhältnis von Geſetz und Evangelium, von Altem und 
Neuem Teftament ein Hauptgegenftand der Erörterungen. An Aus» 
führungen find befonder8 die von S. 56—59 nad) ihrem Inhalt und 
bis in die charakteriftiichen Ausdrücke und Antithefen ein Nachhall 
der Scholien. Water ift zur beachten, daß Luther, während er den 
Glauben der Frommen des Alten Teftaments mit dem umfrigen 
ebenſo wie in den Scholien identifiziert (S. 20), eifrig dem Rück⸗ 
fall des Schriftverftändnifjes aus dem Geift in den Buchftaben 
wehrt und aus diefem Grunde da® Recht der Allegorefe verteidigt. 
Bon hier aus wendet er fi dann weiter gegen die Modernen, 
welde am Buchſtaben leben, während das Schriftverftändnis es 
auf ein Ganzes anlegen, nicht verftücdt bleiben müſſe, denn das 
Heiße mit den Juden Steine fammeln (S. 30). 

Und wie die Auffaffung der Schrift, namentlich 
des Neuen Zeftanrents im Unterfhied vom Alten 
Teftament der evangelifchen Heilsertenntnis, wie fie 
damals Luther fhon befaß, die Hand reiht: Das Wort 
Chriſti verleiht (confert) die Vergebung; das Evangelium tröftet 
und heilt, ift ministratio laetitiae, gaudii, salvationis, fo finden 
fih audb die Grundlinien der Rechtfertigungslehre 
Quthers in Jud. wieder. Er hatte ſchon in der Wolfen 
büttelfchen Bjalterglofje den Glauben den furzen Weg zum Heil 
genannt; jo fagt er auch jest, der Glaube an Jeſum Chriftum 
ift der durd) das Evangelium gelehrte Weg, um von Sinden und 
Unruhe frei zu werden (S. 58). Bethel heißt porta coeli, weit 
dort ben Gläubigen (das credentibus ift zu beachten) der Zugang 
zum Grgreifen des Himmelreihe offen fteht (S. 31). Daß foldye 
Worte den Kern feiner perjünlichen Frömmigkeit ausjprechen, zeigen 
weiter feine feelforgerlichen Ratſchläge für Angefochtene. Denn 
zum Glauben, und was ihm dasfelbe bebeutet, zum Hoffen wer» 
den wir durch Anfechtung gewöhnt (ut discamus contra spem 
in spem credere) (©. 66). So foll man allen Angefochtenen 
Gottes Barmherzigkeit vor Augen ftellen, damit die Hoffenden auf 
Chriftus aufgerichtet werden (S. 76), und: hinwiederum ift das 





546 Hering 


die Heftigfte Anfechtung, wenn Gott dem, der um Vergebung 
(venia) bittet, feine Wohlthaten aufrüdt, und wenn Solchen Er- 
barmung und Bergebung (indulg. venia) jogar gänzlich verfagt 
wird (S. 66). 

Mit dem Lutherifchen diefes Lehrtypus, der hier 
nicht ausführlich dargeftellt werden fann, harmoniert der Lu— 
thergeift der Zeugniffe. Das kennzeichnet ja überhaupt bie 
Lehrnorträge Luthers fchon in jener Zeit, daß in ihnen ber Feuer⸗ 
geift eines reformatorifchen Eifers durchbricht, den fo nur er beſaß. 
So gewaltige Rügen der Mißftände wie z. B. ©. 63 
und 72 muß man lefen, um zu hören: das ift Yuthers 
Stimme, wie wir fie aus den Scholien fennen. 

Nun gilt diefer reformatoriiche Eifer allerdings aud) dem mön⸗ 
hifhen Ideal, der Wiederherftellung der volllommenen 
Dbedienz gegen die urfprüngliche Ordensregel (S. 49). Wenn 
auch Luther in den Scholien fich ähnlich vernehmen läßt, fo über- 
rafht e8 uns doch, wenn er von der Ordensregel des Auguftin 
und Benedict in Jud. fagt, fie enthalte hinlänglich far, was zum 
Heil gehöre (S. 46); wenn er urteilt, ein Mönch, melcher die 
verfprochene Obedienz nicht leifte, Lältere und leugne Chriftum und 
das Kreuz (S. 74); wenn er Chriftum unter den Beijpielen ber 
volllommenen Obedienz mitnennt (S. 49), und am meijten, wenn 
er für die Überwindung der Schwierigkeiten ſich auf feine eigene 
Erfahrung beruft: auch ihm fei der volllommene Gehorfam wohl 
vernunftwidrig erfchienen, aber wunderbar zu jagen, fei jofort der 
Herr alsbald gegenwärtig gemwejen, und jo fei auch das ihm leicht 
vonftatten gegangen, was ihm vorher thöricht erjchtenen ſei (S. 54). 
Aber auch diefe Forderungen, die wir uns gewöhnt haben im 
Gegenjag gegen Luthers evangelifche Erkenntnis zu denken, und 
ihre Erfüllung ſchaut er noch mit dem Evangelium zufammen. 
In ihnen tritt uns Gottes Befehl entgegen (S. 53), darum find 
fie unbedingt gültig; und die Erfüllung ift nur dem Glaubenden 
(credenti) möglich; was unmöglich erfcheint, muß fide fixa ange: 
griffen werden (S. 54). 

Erhellt ſchon aus dem nobis religiosis, daß Luther die 
Borlefung vor Mönchen gehalten (Köftlin im Vorwort 


Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 547 


S. vi), fo führt uns diefer Eifer um MWiederherftellung der 
Klofterregel zujammen mit den Betrachtungen über Novizenbildung 
auf die Vermutung, daß Luther damals einen bejon- 
deren Anlaß Hatte, fo zu reden. Und diefe wird durd 
feine Briefe aus dem Jahre 1516 beftätigt, wie ſchon Kolde in 
- feiner Beipredhung mit Recht darauf hinweift, daß gewilfe Gedanken 
und Ermahnungen in den Briefen, allerdings mit ftärferem Ans 
Hang an die Myſtik, auch in Jud. jich vernehmen Lajjen !). Wie 
er in jenen ermahnt, die Schwachen, Ungehorfamen mit Kreuzes⸗ 
finn zu tragen, wie er erinnert, daB einer des andern Scand- 
dedel fein müſſe nah Chrifti Vorbilde ?), jo fchärft er in Jud. 
den Mönchen das Kreuztragen als erfte Regel ein (S. 35. 71). 
Die ungebuldigen Brüder fol man als von Gott gegeben anſehen, 
um Geduld, Demut und Selbfterkenntnis hervorzuloden (S. 69 f.). 
Werden ungeduldige Menfchen zum magisterium novitiorum ers 
wählt, fo werden auch die Zöglinge unwillig, ungeftüm und unge» 
duldig (S. 35). Wir gehen ſchwerlich irre, wenn wir annehmen, 
daß Luther diefe VBorlefungen als Diſtriktsvikar, 
und zwar im vollen Eifer jeines ihm feit dem Mai 
1515 übertragenen Amts vor Mönchen des Witten» 
berger Kloſters als regens studii gehalten hat). 
Und nun erklärt fi auch da8 „nos Misnenses dicimus ..... 
Saxones vero“ (S.47f.). Wenn Luther fih am 1. Mai 1516 
vicarius per Misnam et Thuringiam nennt *), fo erhellt, daß 
er fih mit Mönchen, die diefem Bezirk angehörten, fehr wohl in 
ein „nos Misnenses“ zuſammenfaſſen konnte, und dies dann weiter 
auch in dem Sinn, daß er mit ihnen zufammen in Hinſicht auf 
die Mundart das Meitteldeutfche gegen das Sächſiſche, d. h. Nieder- 
deutfche vertrete. Denn wenn ſich auch da8 Sprachgebiet des Nieder- 


—— — — 


1) Theol. L.⸗Z3. 1884, &. 560. 

2) Lutherbriefe, Ausgabe von Enders 1884 I, 80. 33. 60. 67. 77. 

8) Lutherbriefe, Ausgabe von Enders I, 67. — Über Luther als Diſtrikts⸗ 
vikar vgl. Köftlin, M. Luther I, 130. Knaake, in der Zeitfchr. für Iuther. 
Theologie und Kirche 1878, ©. 628. Kolde, Die dentichen Auguſtiner⸗Kon⸗ 
gregationen und Staupitz, ©. 264. 

4) Enders, Lutherbriefe I, 34. 





548 Hering 


deutfchen zur Zeit Luthers weiter na Süden erftredte, als jekt, 
und namentlich die eingemwanderten Bewohner des Flämig Dielen 
Dialelt bis in die Neuzeit feitgehalten haben, jo war dies ſowohl 
in den Dörfern der Niederung, als auch in der Stadt Wittenberg 
anders. Im die Bufchdörfer, welche früher von Wenden bewohnt 
wurden, waren dadurch, daß fie dem meißnifchen Sprengel zuge: 
wiefen worden waren, Geiftliche mitteldeutfcher Abftammung ge 
tommen, und mit ihnen die Sprache derfelben, fo dag ein Mid: 
dialeft entftand ?). In Wittenberg wurde das ftädtifche &erichts- 
buch feit 1416 nicht mehr, wie bisher niederdeutfch, fondern mittel: 
deutjch mit einigen Anklängen an die biöherige Mundart verfaßt?) 
Als Luther feine VBorlefungen hielt, fprah man in 
Leipzig, Halle, Wittenberg meißniſch?). 

Werner erklärt fih auch das tuus sum, salvum me fac! 
(S. 47. 59.) Daß wir es mit emem Citat das Wortes eines 
andern zu thun haben zeigt fchon die Stellung diefes Ge— 
betsfpruches zwifchen zwei Pfalmworten ©. 59. Dem 
vor Auguftinern Medenden lag es, abgejehen von feinem perjün 
fihen Verhältnis zu Staupig, nahe, an dies Motto des General: 
vikars zu erinnern. 

Demnach erweift fih die neue Verdffentlihung 
als wertvolle Bereiherung der Qutherforfhung. Wie 
Schol. Quther als Brofeffor, fo zeigt Jud. den Di- 
ſtriktsvikar in hellem Licht. 

Die Berwandtfchaft dea Inhalts beider Vorleſungen nötigt, 
Jud. in der Zeitnähe der Scholien entftanden zu denken; die Briefe 
des Jahres 1516, die Berührungen mit der Ofterpredigt und der 
Predigt über das dritte Gebot lafien das Jahr 1516 vermuten, 


1) Winter, Die Sprachgrenze zwifchen Platt- und Mitteldeutich in „Neue 
Mitteilungen des thür.-fächf. Altertumsvereins”. Bd. IX, 1862, Hft.2, ©. 12. 
14. 19. 

2) Stier, Über die Abgrenzung der Mundarten im Churkreiſe. Wittenb. 
Gymn. Progr. 1862. 

3) Auffatz von Hildebrandt in den „Grenzboten“ 1860 I, 111, auf den 
mid) Herr Dr. Konrad Burbach, der ſich mit diefem Gegenftand als Forſcher 
beichäftigt, aufmerkſam gemadjt Hat. 








Der Streit über die Gchtheit eines Lutherfundes. 549 


nur ift bie Zeit von Mitte April bis Anfang Juni ausge 
ſchloſſen, weil Luther fih damals auf feiner Vifitationsreife be 
fand’). Zu Ende Oftober beichäftigt Luther die Peſt in feinen 
Briefen und Predigten ?); follte er in feiner Vorlefung vor Mönchen 
geihwiegen, die Gelegenheit feeljorgerliher Beratung nicht auch 
bier benugt haben, während er fich für fein eigenes Bleiben auf 
die Obedienz berief? ?) Und eben in diefer Zeit beginnt auch ber 
Einfluß der deutihen Myſtik fo ftart auf fein Denken und feine 
Sprache einzuwirten, daß es unmöglich ift, die Vorleſungen fpäter 
zu verlegen. Zwar find diefelben nicht ohne Myſtik, wo er 3. B. 
von einer solitudo fpridht, die umferem Geift nötig fei, um 
Gott zu ſchauen (S. 20). Und wenn er für die rechte Ver—⸗ 
faffung der Gläubigen in einer für ihn charafteriftifchen Formu⸗ 
fierung desperatio de se und sperare in Deum fordert (S. 47), 
fo fpüren wir die im Geift Bernhards fcharf ausgeſprochene Rich» 
tung gegen Eigengerechtigkeit und Selbftvertrauen, die wir aus den 
Scholien tennen. Aber ſowohl die Predigten wie die Briefe aus 
dem Spätjommer und Herbit zeigen mehr muftiiche Färbung. Es 
wird fchwer fein, zu entjcheiden, ob dies in der anderen Gattung ber 
Rede begründet ift *), oder ob wir dennoch die Zeit der Vorlefungen 
vor Dftern 1516 zu denken haben. Am letzteren Falle bliebe es 
auffallend, daß Luther joniel fpäter ein Stüd feiner Vorlefung hätte 
follen in die Predigt über das dritte Gebot einfließen laſſen. 
Gerade diefer Umftand dürfte dafür fprehen, dag Luther 
die betreffende Stelle der Ridhtervorlefung in der 
Zeit Mitte Auguft bis Mitte September geiproden 
bat®). Das ift jedenfalls ausgefchloffen, was Kolde für möglid) 


1) Köftlin, M. Luther I, 130f. 

2) Ebenb. I, 133. 

8) Enders, Luthers Briefe I, 68. 

4) Die Erordien der Predigten iiber die decem praecepta find 3.8. tiefer 
mit myſtiſchen Gedanken gefättigt, als die Behandlung der Gebote jelbft. 

5) Am 15. Auguft 1516 begann Luther feine Erffärung des zweiten Gebotes, 
am 5. Oktober wohl bie Predigt Über das vierte Gebot. Ausgabe von Krraale 
I, 480 - 447. Das Jahr 1516, in weldem die Predigten gehalten, nicht das 
Sahr 1518, im welchem fic veröffentlicht woorden find, glaube ich für die Ve⸗ 


550 Hering 


hält, einzelne Zeile der Vorlefung wegen des fcharfen Tadels kirch⸗ 
liher Mißſtände in die Zeit des Ablafftreites oder gar fpäter zu 
verlegen. Die Vorleſung ift inhaltlid aus einem Guß, und bie 
Erfenntnisftufe, welche fie Lennzeichnet, da8 Zuſammenſchauen kirch⸗ 
licher Erfcheinungen mit evangelifchen Prinzipien, wie es fih in 
der Beurteilung der Obedienz zu erfennen giebt, bat in diefer Uns 
befangenheit den Ablaßſtreit nicht Überdauert. 

Auch das fcharfe Auftreten Luthers mötigt nit zu der An 
nahme einer ſpäteren Abfafjung. Dasſelbe verlangt allerdings noch 
eine gejonderte Beiprehung im Zujfammenhang mit der Trage, 
welche Anregungen dem Auftreten Luthers gegen fozial - kirchliche 
Mikitände voraufgegangen find. Die merkwürdige Stelle, in wel 
cher Luther Hilfe für die Tirchlichen Schäden von der Seite der 
Laien erwartet (S. 77), berechtigt zu diefem Schluffe nicht. Die 
Neubildung des Kirchenbegriffs, die fih in ihm vollzog und ihn 
ihon in den Scholien fagen läßt: jede Perjon könne der andern 
Auge und Seele fein, während zunächft doch die kirchlichen Lehrer 
ihm dafür galten 1), Ließ eine Äußerung wie die obige wohl zu, 
und auch gefhichtlih war vor der Reformation der Anteil hervor⸗ 
ragender Laien an den Verſuchen einer Klofterreform, wie an den 
Konzilien groß genug, um Luther, welcher von der Verderbnis unter 
den Prälaten damals ſchon fo tief überzeugt war, an Hilfe durd) 
Laien denken zu laſſen ?). 


flimmung der Zeit, in welcher die Richterbuchvorlefung gehalten worden ift, zur 
grunde legen zu müſſen; denn wie follte man zu der Annahme gelangen, daß 
die Stellen, welche fidy mit Jud. berühren, erft zwei Jahr nach dem erften Ent- 
wurf, bei einer ev. Redaktion zum Zweck der Herausgabe eingefchaltet worden 
jeien? Und doch kann nur unter diefer m. E. nicht zutreffenden Vorausſetzung 
D. Kamerau der Koldeſchen Anficht von einem Sicherftreden der Vorleſung 
durch mehrere Jahre fo viel zugeftehen, daß er e& für möglich hält, die Vor⸗ 
lefung möchte fich bis ins Jahr 1518 und vielleicht uod) länger mit mancherlei 
Unterbredjung Hingezogen haben (vgl. den oben ©. 542, Anm. 2 angeführten 
Aufſatz). 

1) Schol. I, 110. Bgl. Stud. u. Krit. 1877, ©. 633. 

2) So beabfichtigte Herzog Wilhelm von Sachſen 1446 eine Generalvifte 
tation in feinen Landen, wo ber Berfall des Firchlichen Lebens übergroß ge 
worden war. Reinhardt, De jure principum; nad) Schilter, De lib. 





Dir Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 551 


Der Text der NRichterbuchvorlefung, wie er vorliegt, bedarf der 
forgfältigften Emendation. Dieſelbe wird vielleicht in manchen 
Fällen durch nochmalige Vergleichung der Handfchrift gefördert 
werden, wahrfcheinfich aber find viele Fehler durch Flüchtigkeit der 
Nachſchrift oder Verfehen des Abfchreibers entitanden und nur durch 
Konjektur zu verbeſſern. Köftlin hat fchon jactat (S. 37, 3. 15 
v. u.) in lactat berichtigt (Vorw. ©. ıx), das der Zufammenhang 
unzweifelhaft ergiebt, nur daß man nad dem Gebrauch diefes 
Wortes bei Luther (Ausgabe von Knaake I, 79, 3. 4) das Paffiv 
erwartete. in Lefefehler konnte Leicht entftehen, falls Luther, der 
mit vielen Abkürzungen zu fhreiben pflegte, die Endfilbe ur in 
Baffivformen durch ein Häfchen oben rechts am t bezeichnet haben 
follte, wie e8 in den älteren Druden Brauch ift. Hierüber muß 
das Manuffript der Scholien Klarheit verichaffen. An und für 
fih kann ja freilich das Aftioum lactare fowohl faugen wie füugen 
bedeuten. Für das finnentftellende cognitas ©. 34, 3.7 v. o. hat 
Dieckhoff durch Vergleichung der Stelle bei Auguftin cognitor her» 
geitellt, S. 645 feiner „Antwort“. Im Folgenden biete ich eben- 
falls eine Neihe von Verbefferungen und Vorfchlägen. 

©. 22, 3. 10 v. o. ift das Fragezeichen hinter Christum zu 
tilgen und wohl hinter quaerentes zu fegen. ©. 26, 3.19 v. u. lies 
puras ftatt pares. ©. 27, 3.1 v. o. lies leonino für Theonino. 
Bol. das leoninas fauces ©. 77, 3.10. o. und dazu ©. 41, 3.11 
v. u. ©.30, 3.9 v. u. lie$ intuentes für intuens. ©. 35, 3.14 
dv. 0. möchte ich emendierend und anders abteilend [efen: ut crucem .... 
voluntarie portarent mente et corpore, deo, non mundo (für 
modo) amplius adhaererent (ftatt adhaerent) spiritu et corde 
toto (vgl. auch S. 47, 3.16 v. u.), voluntatem propriam ..... 
resignarent superiorum pro dei amore. So ift der Sat nad) 
Sinn und Rhytmus durdfidhtig. Die folgenden Worte fitque 
perfecte quilibet resignatque bedürfen gewiß ebenfalls einer 
Änderung. Luther ſcheint einen „vollkommenen“ Mönch in dem mit 


eccl. Germ., 1. 6, c. 7,8 7; und Friedberg, De finium inter eccle- 
siam et civitatem regundorum judicio quid medii aevi doctores et leges 
statuerint. Lips. 1861. 


562 Hering 


fitque beginnenden Sag ſchildern zu wollen, einen jolchen, welcher 
nah der von ihm eben befürmworteten Methode erzogen if. Der 
Übergang ins Präſens ift hart, aber doch hat das fitque in 3. 10 
v. o., das quilibet am cuilibet monacho ©. 34, 3. 10 v. u. 
ein Präcedend. Unverträglich miteinander find dagegen die eben- 
falls in den Zufammenhang paffenden und kurz zuver gebrauchten 
Worte perfecte und resignatque. Sollte hinter perfecte ein 
Wort etwa institutus oder oboediens auögefalten fein ? 

5.37, 3.2 v..a. lied opinione jtatt opinio. Ebeud. 3.11 v. o. 
verlangt entweder audiat oder legit. ©. 39, 3. 17 v. u. lies mi- 
litiam ftett malitiam. So fchon des Sinne wegen, vgl. aber 
auch S. 40, 3. 18 0.0. — ©. 40, 3. 17 v. u. lied exereitu 
ftatt exereitus. ©. 41, 3. 1 umd 2 v. un. lies volunt.. . 
sectantur. ©. 46, 3. 7 v. u. lies rarissime ftatt verissime. 
S. 48, 3.80. u. lies de peccato cave future. ©. 53, 3. 12 
v. o. lied permittunt ftatt permittuntur. ©. 56, 3. 12 v. o. 
lies persequuntur ftatt persequantur. ©. 57, 3. 1 v. o. lies 
eam ftatt non. &bend. 3.8 v. o. ift ne ftatt neque erforderdicdh. 
Ebend. 3. 6 v. u. lied operiri ftatt operire. ©. 59, 3.6 v. o. 
wird hinter existens ein desperet vermißt. ©. 64, 3. 1 v. o. 
ift non zu tilgn. S. 66, 3. 5 v. u. ift hinter vehementissima 
ein Punkt zu fegen, fo daß mit Prima, veniam die Aufzähfung 
beginnt. Dgl. das Secunda ©. 66, 3.2.0. — ©. 67, 
3. 11 v. o. ift an eam überflüffig, obſchon vielleicht von Luther 
anakoluthiſch fo geiproden. S. 68, 3. 16 v. u. ließ gratise 
ftatt gratia. ©. 69, 3. 10 v. o. lie religiesi ftatt religiose. 
©. 74, 3. 13 v. o. tft entweder varia zu lejen, oder Hinter 
varias ein Wort, etwa sententias oder historias zu ergänzen. 
©. 77, 3. 20 ff. v. u. ift die Periode in Unordnung. Ich ver- 
ftehe unter castra befeftigte Klöfter, wie 3. 3. das castrum 
Sancti Petri et Pauli zu Belbug eines war (Bogt, Bugenhagen 
©. 7), fo daß das folgende monasteriorum darauf zurüdweift; 
und laffe dem Jam namque zu Anfang der Periode parallel mit 
Jam nunc ad felicitatem einen neuen Sat beginnen, der wie 
der erſte herb, ja farkaftijch (felicitatem!) die gegenwärtigen Klofter« 
zuftände darftellt. Ferner ift gewiß lanceariis ftatt des Nom. zu 


Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 5658 


leſen, und jo lautet die Periode: Jam namque dicuntur eccle- 
siae, si episcopus vastioribus dominetur finibus; si castra 
hostes non timeant, si lanceariis equitibus adornantur. Ejus- 
modi monasteriorum quam de bonis studium extat. (Hier 
vermißt man einen zu studium gehörigen Komparativ, durch den 
dad quam erit berechtigt wird.) Jam nunc ad felicitatem de- 
venimus, ul. % 

Einer Reviſion fcheinen auch folgende Stellen bedürftig. S. 19, 
3.3 v. u. vielleiht quae armata veniebat. ©. 22, 2.13 v. o. 
wohl eine Lücke hinter praedicatore. ©. 75, 3. 14 v. u. führt 
der Zujammenhang mehr auf corporali als Abl. compar. al8 auf 
den Nom. corporalis. 

Die Verbefferungsvorfchläge zeigen ebenjo wie die Diedhoff 
zu danfende Emendation auf S. 34, daß viel Sinnentitellung mit 
einfachften Mitteln zu befeitigen ift. Zugleich echellt aus der von 
Dieckhoff angeftellten PVergleihung zwiihen Jud. und Auguſtins 
Quaestio 17 in Judices (S. 644 des Diedhoffichen Aufſatzes), 
daß die Nachſchrift faft den Wortlaut der Vorlefung miedergieht. 
Dieckhoffs Urteil über die Mängel des Zuſammenhangs (S. 648 
fetter Abfat) ift daher nicht richtig. Überaus verfehlt ift aber Died- 
hoffs Beiprechung derjenigen Stelle der Vorlefung, welche S. 33 
zunächft den Anfong des dritten Kapitels in lateinifcher Überfegung 
giebt und den Text gegen die ©. 34, 3. 1 oben beginnende Aus⸗ 
legung ausbrüdlich abgrenzt Durch die Bemerkung: Hactenus verba 
textus. Dieckhoff dagegen will den Text nur in den Anfange- 
worten bis Chananaeorum jehen und ergeht fich über den Zu- 
ftand des uns vorliegenden Wortlautes der Veröffentlichung in 
Neflegionen, die faft mit einem Verdikt zu jchließen drahen. Aber 
mie? Die betreffenden Worte lauten bei Luther: propter con- 
tribulationes filiorum Israel, ut doceret illog bellum. Wenn 
nun die Vulgata den zweiten Vers wiedergiebt: ut posten dis- 
cerent fili eorum certare cum hestibus etc., fo ift, von dem 
contribulationes hei Luther zunächft abgefehen, doc, genug Über⸗ 
einftimmung des Sinned vorhanden, um einen Kritiker vor der 
Behauptung zu bewahren, jene Stelle gehöre nicht zum Tert! Nun 
aber konnte ein Blick in den hebräifchen Text ihn befehren, wie 


554 Hering: Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes. 


eng fi) bis auf das eine fragliche und zunächſt als verdächtig zu 
bezeichnende Wort contribulationes Luthers Wiedergabe an jenen 
anschließt, welcher ®. 2 lautet: 

onen Dme29 Manknap Mm nya 1002 pr 

Luther, der ſich auch fonft öfter um den hebräifchen Tert be- 
müht zeigt, ift alfo von feinem dem jumb entſprechenden propter 
an dem Urtert genau gefolgt, vielleicht unter Mitbenutzung der LXX, 
welche überfegt: An» dia vas ysveag viav Iogani Tod dıdadka 
avdrods rröisnov. Luthers wörtliche Übereinftimmung mit dem 
Hebräifhen und Griechiſchen erleidet nur durch das contribula- 
tiones, welches dem Sontert nach dem ninTn, ysvezs entipreden 
müßte, eine jehr auffällige Unterbrechung. Aber gerade die 
Schwierigkeit hebt ſich durch die bis zur Evidenz gewiſſe Konjektur, 
daß ftatt contribulationes vielmehr contribules zu leſen ift, ein 
Wort, das von Du Cange mit consanguinei, cognati wieder 
gegeben (Ausgabe von Hentſchel, Paris 1842, ©. 577) um 
als Überfegung des hebräifchen und griechifchen Wortes noch kennt— 
licher wird durch die Erflärung bei Johannes de Janua Summa 
quae vocatur Catholicon. Mogunt. 1460: Contribulis a con 
— tribulis.... simul ejusdem tribus. (&benfo bei Forcellini.) 
Quther bat. fih aljo nur die Freiheit genommen, ftatt „Stämme 
der Kinder Iſr.“, zu fagen: „die Stammesgenofien“. 

Anftatt dieſes Emendationsverſuchs wäre allerdings noch eine 
Möglichkeit zu berückſichtigen. Nach Du Cange findet fih Bei 
dem Lerifographen Guilelmus Brito aud da8 Wort contribulitas 
im Sinn von cognatio oder consanguinitas. Da dasfelbe aber 
in dem oben zitierten Catholicon, welches im 16. Jahrhundert 
viel gebraucht wurde und daher wahrjcheinlich den lateinischen Wort- 
ſchatz der Zeit enthält, fehlt, jo wird man wohl vorziehen, ſich für 
contribules zu entfcheiden. 

Drudverfehen ©. 23, 3.2 v. o. lies: debemus. — ©. 29, 
3. 170. o. lies: vestigia. — S. 31, 3. 3 v. u. lied: voca- 
verunt. — ©. 32, lette Zeile des 2. Abſatzes lied: regnet. ©. 68, 
3. 19 v. u. lied: nudius tertius. 


Buchwald: Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers ıc. 555 


2, 


Noch eine Bemerlung zu dem Streite Luthers 
mit den Wittenberger Stiftsherren, 15323 -249. 


Von 
Lie. Dr. ©. Budwald, 


Oberlehrer am Gumnafium zu Zwickau. 





Die Poachſche Sammlung von Predigten Luthers barg, wie 
ihr Indexband anzeigt, urjprünglih auch Luthers Predigten aus 
dem Jahre 1523. Leider ift der betreffende Band verloren. Diefer 
Berluft ift uns nun, wenn auch nicht vollftändig, fo doch einiger» 
maßen erfegt durch Roths unmittelbare Nachſchriften von Predigten 
Luthers ?). Diefe beginnen mit dem 21. Juni, Roth muß mithin- 
ſchon gegen Mitte des Jahres 1523 nad Wittenberg gekommen 
fein, wo er fich bei Beginn des Winterfemefters 1523 — 24 in- 
matrifulieren Tieß ®). Dasfelbe geht aus den Adreffen der an ihn 
gerichteten Briefe hervor. 

Die und aus dem Fahre 1523 in Rothſchen Nachichriften er- 
haltenen Predigten Luthers find, wie der Vergleich mit Poachs Inder 
ehrt, tdentifh mit den von diefem fatalogifierten. Mit völliger 
Gewißheit kann dies auch daraus gefchloffen werden, daß beide, 
Roth und Poad, für den 4. und 7. Zrinitatisfonntag ausdrücklich 
Amsdorf und nicht Luther als Prediger angeben. 

Die von Roth im Jahre 1523 nachgefchriebenen Predigten 
Zuthers find nun folgende 9: 


1) Bol. Theol. Stud., Jahrg. 1884, ©. 562 ff. 

2) Bgl. Andreas Poachs handichriftlihe Sammlung ungedrudter Predigten 
D. Martin Luthers. 1885. I, p. XXXII ss. 

3) Bgl. Müller, Stephan Roth in „Beiträge zur ſächſiſchen Kirchen- 
geichichte” 1882, ©. 57. s 

4) Bgl. Poachs Sammlung 1. c. 

Theol. Stud. Jahrg. 1885. 36 


556 Buchwald 


I. Am 3. p. Trin. (21. Juni) über Luk. 15. 

I. „ Sohannestag (24: Juni) über Luf. 1. 
II. „ Xag Mariä Heimfuhung (2. Juli) über Luk. 1. 
IV. Am 5. p. Trin. (5. Juli) über Sul. 5. 


V. „ 6 p. Trm. (12. Juli) über Motp. 5. 

VI. „ SZatobustag (25. Juli) über Matth. 20. 
VI. „ 8. p. Trin. (26. Juli) über Matth. 7. 
v2I. „ 9. p. Trin. {2. Auguft) über Luk. 16. 

IX. „ 11. p. Trin, (16. Quguft) über Luk. 18. 

X „ 12. p. Trin. (23. Auguft) über Marf. 7. 
XI. „ 13. p. Trin. (30. Auguft) über Luk. 10. 
XN. „ 14. p. Trin. (6. September) über Luk. 17. 
XH. „ 135. p. Trin. (13. September) über Mattb. 6. 
XIV. „ 20. p. Trin. (18. Oftober) über Matth. 22. 
XV. „ 22. p. Trin. (1. November) über Dlatth. 18. 
XVI „ 23. p. Trin. (8. Revember) über Matth. 22. 


Unter diefen Predigten. befindet fi nun alſo auch Die vom 
2. Auguft, im welcher Luther gegen das Wittenberger Domkapite 
anfümpfte. Den insbeſondere polemiſchen Abfchnitt der Predigt 
hatte Roth urſprünglich gar nicht mit nachgeſchrieben. Es ik 
wahrfcheinlih, daß Luther bereit6 am 12. Juli, am Tage nad 
einem zweiten Schreiben an dad Deomfapitel ?), Gelegenheit nahe, 
nad) feiner Gewohnheit am Schluffe der Predigt, von der Kanzel 
‘aus fi) über feine Stellung zu den Wittenberger Stiftsherren zu 
erklären. Luthers Worte waren indes dem jungen Magifter „zcu 
Iharff“ : „de judicio coneilio etc. tft zeu ſcharff, relinquamus 
ergo: —“ fließt er feine Nachſchrift. — Auch am 2. Auguft 
hatte es Roth vorgezogen, den polemifchen Schlußteil der Predigt 
Luthers nicht mit zu notieren. Die legten Worte in feiner Nach⸗ 
Schrift lauten: „ea dieta sunt uff die Kern vffin Schloß zc.: — 
Et multa hic dixit tanta vehementia ut nihil supra.“ — 
Wegen des gefchichtlichen Intereffes jedoch, welches gerade diefes 
Predigtftücd in der Folgezeit erlangte, jchrieb ſich Roth jpäter zwi» 


1) De Wette I, 354 ff. 








Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers ꝛc. 557 


then dem 6. und 13. September basjelbe von einer Nachichrift 
ab. In Rothe Heft iſt nun dieſe Kopie durchſtrichen — ein 
Zeichen dafür, daß der Schreiber fie fpäter nechmals ab» und ſo⸗ 
zufagen aufs reime schrieb. Dieſer Reinfchrift gab dann Roth den 
Titel: „Bon Zweirley ergernuß ber Lehr vnd ber liebe ein 
furger vuterricht D. M. 2." — Dies iſt der von mir an oben ger 
nannter Stelle ber „Theologischen Studien" veröffentlichte Predigt- 
abkchnitt. 

Luther wurde aljo nicht, wie l. c. &. 572 vermutet wurde, 
von der epiftolifihen Berifape für den 9. Trinitatisſonntag, zu 
feinen Invektiven veranlaßt, fendern dad &feihmid vom unge⸗ 
rechten Baushalter führte ihn dazu, wie bie Wiedergabe der 
Rothichen Nachſchrift zeigen wird. 


Dominica post Petri D. M. 
Evan: Lucae 16. 

Non praedicat de fide, sed de operibus et fructibus fidei, 
scilicet charitate proximi, stat in hoc, ut proximo cura ha- 
beatur. Diene ihm mit leib vnd leben, gut ꝛc. 

Non satis est ‚predigen vorſtehen, deren, sed armati simus 
etiam, ut defendamus tales praedicationes et maneamus in 
eo etc. comtra diabolum in morte etc. YVidetur hoc evan- 
gelium et pleraque alia ad opera respicere etc. hec adferat 
Sathan, et hic in vita justitiarii, hypecritae etc. ut hic simus 
armati fc. 

Facite vobis etc. hic clare dicent: ponitur ut fiant 
bona opera et fa[cite]: almieos]: de mam[mona]: etc. ubi 
nunc est doctrina tua de fide quae sola justificet etc. vides 
hic opera ete. Oportet ut simus hic t{ug. Dicatis quod hec 
seriptura, et verba dei gebrauchen. ‘Der ſprach ut homines 
inter se Ioquuntur, Iha wie man vff der gaſßen redt, ut mater 
cum puero etc. primum Innerlich, seeundo üußerlich, loquitur 
scriptura de Justificatione, primum wie e8 Innerlich Im bergen 
vor gott gehet, 2° wie es vor den menfchen gehet zc. coram deo 
non justificatur nisi qui habet lauter her, corda purificans 
fide cor respicit etc. non opera. deus corde creditur etc. 

36* 


668 Budwald 


Paulus Rho. 10). coram deo sola fides justificat sine operi- 
bus, Innerlich est ista justificatio. loquitur scriptura nunc 
ut est inter homines, nunc coram deo, non simul et semel, 
oportet et ſpruch darnad ..... si contrariantur, nos non 
contra id possumus aliquid, hic nulla sunt opera, non juvant 
wallen ıc. sed sola fides etc. Sed illa ſpruch ut hic gehen 
herauß coram hominibus, ore fit confessio ad salutem etc. 
ut certus sis et coram te et coram hominibus etc. qui non 
habent differentiam inter scripturas, faciunt errorem. lo- 
quitur more hominum etc. et ut parentes jubent filios esse 
mites, misericordes etc. per opus non fit misericors, sed 
oportet prius esse miseric[ordes], et vade, indica te opere 
esse misericordem etc. textus clare dicit: facite vobis etc. 
id est si es Christianus in fide intus, vade et ostende foris 
te erga proximum, ut tu certus sis et alius etiam ut exeat 
fides et ostendat se etc. Nota veruntamen quod super est: 
date ele[femosynas]: animo salicet ... vobis etc.: — et hoc 
dictum habebunt adversariüi, non loquitur von den weßen das 
gwifchen gott ond menfchen gehen, sed quod zwitſchen [!] menschen 
und menfchen si dederis elefemosynas]: faciet te intus rein et 
extra coram hominibus ita ut fides tua te manifestet mundo. 
Sic Danieli dietum ad Nab[uchodonosor] redime peccata 
eleemos[ynis] 2). Der redet vor gott, der ander vor den men- 
fhen, nunc de fide in corde, alter coram hominibus etc. id 
est tua elemosyna faciet te certum esse remissa peccata te 
teste et alis: — oportet scripturam loqui de operibus. Non 
satis est habere opera, sed et cor requiritur, opus tauge 
nit, si non est ex rechtſchaffen bergen. opus fein nu nisi cor 
adsit, oportet cor esse rectum si opus dfebet] esse redt: 
ſchaffen. oportet fidem adesse, opera non faciunt rein in 
corde, sed foris coram te et aliis hominibus etc. dic ex 
scriptura hanc glossam etc. Pro illo habes dictum Petri °) 





1) Röm. 10, 6. 
2) Dan. 4, 24. 
3) 2Petr. 1, 5. 





Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers ꝛc. 659 


pfeißet euch mit gutten werten ꝛc. 2Pe. 1: non diecit ut per 
opera justifiatis etc. sed dicit; - facite ut certi sitis etc. 
Scriptura loquitur de justificatione duplici, primo redhtfertig[ung] 
an Ir felber in qua non est conscientia gewiß, 2° de recht⸗ 
flertigung] ut est gewiß ꝛc. 

Loquitur hie textus clare de amicis hic in terris, non in 
coelis, ut eruamus oculum, qui respieit in coelum et sinamus 
oculum qui respicit sanctos in terra etc. sancti in coelis non 
egent nostris operibus, sed sancti in terris etc. ſchaff frunde, 
ubi vides pauperes, infirmos, vnvorftendig, illi sis auxilio, üi 
dabunt testimonium tibi in. extremis, ii werden bey dir ftehen 
et ostendent tuam fidem etc. sic eris certus tu quod fidem 
habes: — Non ad sanctos respiciendum etc. intercessio nulla 
erit tune: — 

Mammon reidthum, gut, das vbrig ift, dicit iniquum, quia 
non est homo qui bene utitur, quia qui est sine fide, non 
cogitat juvare proximum, niemandt thut recht damit exceptis 
Christianis etc. datum est ut egentem juvat [!], semper cu- 
mulant avari, cogitant de ventre etc: — 

1) Peccatum dupflex]: peccatum quod est contra fidem 
non est ferendum, quod contra charitatem bene est feren- 
dum etc. infirmi in fide et vita sunt ferendi leiden ıc. cum 
peccatoribus crassioribus habendum est mittleiden :c. denique 
cum iis agendum est, ut meliores fiant, si ceciderunt, ut re- 
surgant etc. sed quod est contra fidem, non est ibi tacen- 
dum etc. Item ii non ferendi sunt qui nolunt meliores fieri 
et confitentur etc. rectum esse etc. Nota exemplum in 
Christo etc. ftellen ons zur libe faullig 2. — ea dieta sunt 
off die dern vffm Schloß ꝛc. — Et multa hic dixit 
tanta vehementia ut nihil supra: — 

Das Folgende ift bereits aus Roths Reinfchrift mitgeteilt, melche 
bi8 auf wenige Varianten mit der urfprünglichen Abfchrift über» 
einftimmt. Diefe lieft (Theol. Stud. 1. c. S. 567, 3. 3 v. o.) 


1) Hier beginnt das bereits mitgeteilte Predigtftüd, aber hier nod) in un⸗ 
mittelbarer Nachſchrift, alfo in urfprünglichfter Form. 


560 Buchwald: Noch eine Bemerkung zu den Steeite Luthers zc. 


nad „gehen“ noch: „aber das wollen wir nod ein weil wehren“, 
nah „wirt“ (3. 5 v. 0.) noch „Bo werden fie wollen ſchreihen 
ond Hulff fuchen“; es fehlen in ihr die Worte „und ihr vnchriftlich 
weßen nit abftellen“ (Al. 2, 3. 6 v. o.), „boß“ (3. 8), „vnd 
folfens nicht leiden“ (3.12), „ond widder die lehr des glaubeus“” 
(3. 14), fowie die Schlußworte „babei wollen wird“ zc. 


Kezenjionen. 


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l. 


Das Alte Teftament bei Johannes. Ein Beitrag zur Er- 
Härung und Beurteilung der johanneifchen Schriften von 
Lie. U. 9. Franke, Privatdozent (jetzt außerordentl. 
Profeffor) in Halle. Göttingen, VBandenhoed und ARuprechts 
Berlag. 1885. V u. 316 ©. 8°. Preis 6 Marl. 


Unter vorftehendem (übrigens in feinem Hauptteil nicht glück⸗ 
ih formulierten) Zitel liegt uns ein Werk vor, welches ganz ge- 
eignet ift, den Unterfuchungen über die johanneifchen Schriften 
einen neuen fräftigen Anftoß zu geben und die Zuverſicht vieler 
Vertreter der Tübinger Tendenzkritif, dag der’ „wilfenfchaftlichen 
Theologie" die Unedhtheit des Yohannesevangeliums als ausge⸗ 
macht gelten müjfe, einigermaßen zu erfchüttern. Denn das Buch 
— dieſes Eindruds wird fi fein aufmerkjamer Lejer erwehren 
fönnen — gehört nit zu den nur vom apologetifchen In⸗ 
tereffe eingegebenen VBerteidigungsichriften für das Johannesevan⸗ 
gelium. Es enthält gründliche und umfaſſende Unterfuchungen. 
Der mit ber einfchlägigen Litteratur genau befannte Verfaſſer, fo 
entjchieden er auch für die Echtheit der johanneifchen Schriften ein» 
tritt, will den wirklichen Sachverhalt nirgends vertufchen, die ihm 
in den Weg tretenden Inſtanzen nicht mit mehr oder weniger 
jcheinbaren Ausreden beifeite fchieben, vielmehr alle Beobach⸗ 
tungen feiner Gegner, die fi) ihm als begründet erweilen, unum⸗ 


564 Franke 


wunden anerkennen; nur dadurch, daß er die vorliegenden 
Probleme, deren Schwierigkeit er nicht unterſchätzt, mehr ale 
bisher gefhehen war, bei der Wurzel anfaßt, gewinnt 
er feine die Echtheit der johbanneifhen Schriften feiter 
begründenden Ergebnijfe. Nicht felten ftellt ſich dabei her- 
aus, daß die Beftreiter der Echtheit ihre fchärfften Waffen Auf- 
fafjungen johanneifcher Anfchauungen und Bofitionen verdanten, 
welche auch von den PVerteidigern der Authentie geteilt, zumeilen 
fogar zuerft aufgebracht worden find, und welche ſich der tiefer 
dringenden Unterfuchung nicht bewähren, und der Verfafjer hat da- 
her vielfachen Anlaß, nicht nur einzelne Stellen der johanneijchen 
Schriften, fondern auch die Grundbegriffe und die Geſamtanſchau⸗ 
ung des. Johannes in helleres und richtigeres Licht zu fegen. Er 
felbit legt hierauf, wie der Nebentitel „Ein Beitrag” u. f. w. ar 
deutet, das Hauptgewicht in der mohlbegründeten Überzeugung, daß 
die Entfcheidung der kritiſchen Frage mit dem richtigen Ber: 
ftändnts ber johanneifhen Schriften im wefentlichen ſchon ges 
geben iſt. 

Freilich bildet nur das Verhältnis der johanneifhen Schriften 
zum Alten Teftament den eigentlichen Gegenftand der Unterfuchung. 
Aber ſchon die in der Einleitung (S. 1—9) in eben fo flarer 
als präziſer Darftellung vorausgeſchickte Überficht des bisherigen 
kritiſchen Streites über die johanneifchen Schriften weift nad, daß 
dieſes Verhältnis der Angelpuntt ift, um welchen die ganze kritiſche 
Verhandlung ſich dreht. Aus neueren Modifikationen der Tüͤ⸗ 
binger Johanneskritik, namentlich aus Thoma's „Geneſis des 
Johannesevangeliums“ zeigt der Verfaſſer zugleich, daß mit dem 
bloßen Nachweis der Verarbeitung altteſtamentlichen Materials in 
den johanneiſchen Schriften für deren Authentie noch nichts ge⸗ 
wonnen, daß vielmehr eine allſeitige Unterſuchung des Verhält⸗ 
niſſes der johanneiſchen Schriften zum Alten Teſtament erforder—⸗ 
lich iſt, zu welcher bisher wohl dankenswerte Vorarbeiten vor⸗ 
handen waren, die aber noch niemand unternommen hatte. 

In drei Teilen löſt er ſelbſt die Aufgabe, die er fich geſtellt 
bat. Der erſte (S. 10—88) macht da8 prinzipielle Ber- 
Hältnis des Johannes zum alten Bunde zum Gegenftand ver 


Das Alte Teftament bei Johannes. 365 


Unterfuchung. Es handelt ſich aljo Hier mejentlih um dem. von 
Baur behaupteten, von feinen Nachfolgern trog mander Ein» 
ſchränkungen feitgehaltenen und aud) von einzelnen DVerteidigern der 
Echtheit der johanneiſchen Schriften zugeftanbeuen Antijudais: 
mus de vierten Evangeliſten und um die richtige Beleuchtung 
des: Sachverhalts, auf welchen diefe Behauptung gegründet worden 
ft. Dabei kommt wieder ein Dreifaches im Frage: Die Stel- 
tung des Johannes zum Bolle, zu der Offenbarung und zur 
Schrift des alten Bundes. In dem erften der damit gegebenen 
Abfchnitte (S. 11— 27), defjen Inhalt der Verfaffer in etwas 
weiterer Ausführung ſchon im feiner 1882 gedruckten Habilitations- 
Differtatiom mitgeteilt hat, wird das Problem in voller Schärfe 
dahin. formuliert: „Wie iſt die Verwendung der Iuden als der 
Repräſentanten des ımgläubigen Kosmos im Evangelium (Johames) 
aufzufaſſen?“ Unter Ablehnung ungenügender Löſungen wird an- 
erfannt, dag der Evangelift im diefer Beziehung in feiner Dar⸗ 
ftelung allerdings eine befiinente Tendenz verfolgt, obſchon man 
diefelbe nicht für den eigentlichen Zweck feines Evangeliums aus⸗ 
geben darf. Daß diefe Tendenz aber nicht Antijudaismus ift, be- 
weist der Verfaſſer aus den Zeugnifjen perfönlichen Intereſſes des 
Evangeliften an der füdifchen Nation und ihrem Geſchick. Viel⸗ 
mehr will Johannes die ihm wor Augen Tiegende Thatfadhe, daß, 
während eine Gemeinfchaft von Kindern Gottes aus aller Welt, 
ohne Rückſficht auf nationale Herkunft, ſich des Heiles in Chrifto 
freut, das Bolt des alten Bundes von demjelben au$- 
geihlojfen geblieben tft, daraus erflären, daß Jeſus ſchon 
während feiner perjönlichen Wirkſamkeit auf der Erde von dem 
Volke der Juden als ſolchem verworfen worden ift. Im Lichte 
der Thatfache, daß die Verwerfung des meſſianiſchen Heils jeitene 
der jüdifchen Nation entjchieden war, konnte Johannes das 
Berhaften, welches diefe in ihren Häuptern und Führern fchon 
Jefu gegenüber bewiefen Hatte, nicht mehr mit Unmifjenheit ent: 
ſchuldigen, mußte vielmehr darin die aus entfchiedenem Unglauben 
und völliger Gottentfremdung entiprungene Verſchuldung erkennen, 
welche das Judenvolk jeines Charakters und feiner Privilegien als 
des Volkes Gottes verluftig und es zum Nepräfentanten des gott- 


566 Franke 


entfremdeten Kosmos gemacht hatte. Hiermit ſcheint uns der Ver⸗ 
faſſer in der That eine völlig ausreichende Löſung des Problems, 
durch welche namentlich auch das vielberufene 06 Zovdados alles 
auffällige verliert, gefunden zu haben; ja es iſt dies die allein 
mögliche Löſung des Problems, falls man nicht einer einheitlichen, 
in fi widerſpruchsloſen Auffaffung aller johanneifhen Ausfagen 
über die Juden (vgl. namentlich Joh. 4, 22) die Annahme vor 
ziehen will, daß zwei einander widerfprechende Betrachtungsweiſen 
der Yuden im Evangelium Yohanne® unvermittelt und unverföhnt 
neben einander hergeben. | 
Es ift ganz richtig, was der Verfaffer betont, daß jich jene 
Betrachtungsweife der Oppofition, welche ſchon Jeſus ſelbſt unter 
jeinen Volksgenoſſen, insbefondere bei deren Häuptern und Führern 
fand, für Johannes zunächſt aus der gefchichtlihen Sachlage, wie 
fie fich gegen Ende der apoftolifchen Zeit geftaltet Hatte, ergab. 
Wir möchten aber bier noch weiter darauf aufmerkſam machen, 
wie feine altteftamentliden Anſchauungen ihn mit innerer 
Notwendigkeit auf jene Auffaffung der Sachlage und jene Betrach⸗ 
tungsweiſe der jüdifchen Oppofition gegen Jeſum führen mußten. 
Bon einer Verwerfung des ermählten Eigentumsvolkes Jehovas 
weiß freilich da8 Alte Teftament, wifjen auch die Propheten noch 
nichts. Immerhin erheben diefe aber oft genug gegen das Voll 
Israel als ſolches die Anklage treulojen Abfalls und unbuf- 
fertiger Feindſchaft gegen feinen Gott; oft genug ift auch in ihren 
Augen da8 Voll in feinem gegenwärtigen Beftand, na 
mentlich fofern e8 durch feine Häupter und Führer repräfen- 
tiert ift, verworfen und dem Gericht verfallen, und alle Hoffnung 
auf eine Wiederherftelung des Bundesverhältniffes richtet fih auf 
die Zukunft und hat das aus dem Reit der Bekehrten erneuerte 
Bolt zum Gegenftand. — Weiter ift e8 eine fchon im Alten 
Teſtament ausgeprägte Anfchauung, daß zwar bei den gottesver- 
gefjenen, durch ihre Götzengreuel verunreinigten Heiden das Böſe 
eine unbeftrittene Herrſchaft übt, aber doc, weil fie Gottes Geſetz 
nicht kennen, jein innerſtes Weſen noch nicht offenbart und feine 
höchſte Macht noch nicht entfaltet. Erit in Israel, das fidh 
dem ar bezeugten Willen Gottes gegenübergeftellt fieht und fort 











Das Alte Teftament bei Johannes. 567 


und fort Objelt der göttlichen Erziehung ift, offenbart das 
Böfe fein innerftes Weſen und die ganze TInechtende 
Macht, weldhe es über die Herzen der Menfchen übt. 
Da tritt die bewußte Yeindfchaft gegen Gott, die entichloffene Auf» 
fagung des Gehorfams gegen ihn, die gefliffentliche Verachtung und 
Übertretung feines Geſetzes, das empörerifche Ankämpfen gegen 
feine NRechtsordnungen, die freche Verhöhnung und Profanierung 
alles Heiligen an den Tag (vgl. 3. B. Yel. 3, 8; 30, 10. Ger. 
2, 20. 27. Am. 2, 7. Pf. 50, 16 u. v. a.), um beremmillen 
Israels Verderben und Verſchuldung größer ift, als die der 
Heiden (2Rön. 21, 9. &. 5, 6f.), umd felbft Sodom ihm 
gegenüber noch gerecht erſcheint (Ez. 16, 47 ff.). Wenn nun bie 
Thatfache, daß das jüdifche Volk als ſolches die legte und 
höch ſte Offenbarung in dem Sohne verworfen hatte, dem Evans 
geliften vor Augen lag, fo mußte er einen Schritt weiter gehen, 
als die Propheten: jener Reſt konnte in feinen Augen nicht mehr 
der Zukunft angehören, weil eine weitere, noch vollfommenere 
Offenbarung und Heilsthat Gottes nicht mehr zu erwarten war; 
je mehr bei ihm die Betrachtungsweife des meſſianiſchen Heils als 
eines fchon der Gegenwart angehörigen Gutes überwog, um fo 
mehr mußte in feinen Augen auch jener Reſt mit den in die Ges 
meinfchaft der Kinder Gottes jchon aufgenommenen oder noch ein⸗ 
gehenden einzelnen Israeliten zufammenfallen, und um fo mehr 
mußte fih ihm der Ausichluß des jüdiichen Volkes in feinem 
gegenwärtigen Beftand von dem Heil in Chrifto ſchlechtweg 
als nunmehrige Verwerfung des jüdifchen Volks darftellen; 
benn jenen geretteten Reſt fonnte er unmöglich als das nod) 
fortbeftehende Volk anjehen. Hatte doch aud die altteftamentliche 
Weisfagung fhon bezeugt, daß die verftocdte Verſchmähung der 
meifianifhen Heilsgnade das unwiderrufliche Vernichtungsgericht 
nach ſich ziehe (vgl. Ez. 20, 38. Jeſ. 65, 11ff. 66, 24 
und meine Schrift „Die meifianifche Weisfagung”, S. 191). So 
mußten alfo für Johannes die Begriffe „Volt Gottes“ und „Volk 
der Juden“, die für die Propheten zwar nicht identisch, aber doch 
noch untrennbar verbunden waren, fi) von einander löfen. Sah 
er fih aber jo dur den gefchichtlihen Sachverhalt genötigt in 


508 Srante 


femem Urteil iiber das nunmehrige Verhältnis der jlidifchen Na⸗ 
tion zu Gott und ſeinem Heil einen Sihritt weiter zu gehen, als 
die Propheten, fo mußte er auch weiter auf GOrund der anderen 
vorhin angeführten altteftametiichen, insbefondere propketifchen 
Anſchauung in der verftocten Berwerfung des in dem eingeborenen 
Sohne dargebotenen Heiles den denkbar höchſten Gipfel der 
von den Juden fchon von Alters her bewiefenen Gottfeindſchaft 
und daher auch in dem ungläubigen jüdischen Voll den vollen» 
detften Typus des gottentfrembeten Kosmos erkennen. 
Ja nur unter der VBorausfegung, daß das Beil in Chriſto 
zunächſt ben Juden beftimmt und im einer Feine Entjchuldigung 
übrig laſſenden Klarheit dargeboten war, konnte er und von ihr 
aus mußte er zu einer folchen Betrachtuugsweife „der Juden“ 
fommen. Daraus ergiebt fich denn won jelbft, wie beim Rückblick 
auf die Geſchichte Jeſu Chrifti die Thatjadye: Eis ra iden nAYe, 
xai ol idsos avzov ov nuoskoßov (Yoh. 1, 11) von Johannes 
aufgefaßt und dargeitellt werden mußte, und mie notwendig ihm 
dabei diejenigen, welche zuvor os 3%sos waren, nunmehr als ai 
'Jovdaios den an den Namen des Sohnes glaubenden Kindern 
Gottes (Joh. 1, 12.) ale den nunmehrigen ödsos 08 &v zo xdaue 
(Joh. 13, 1) gegenübertraten. Es mar nicht Autijudaismus, fons 
dern es waren gerade feine altteftamentlichen Glaubensüberzeugungen, 
melche ihm die von ihm eingenommmene Stellung zu feinen Volks⸗ 
genofjen anwieſen. 

Der zweite Abſchnitt (S. 27—46) handelt von der Stellung 
des Johannes zu der Offenbarung bes alten Bundes und weift 
pofitiv und negativ, d. h. durch Abwehr der Mißdeutung von 
Stellen, wie Joh. 1, 18; 5, 37; 10, 8 u.a. nad, daß fem 
Glaube an diejelbe ehenfomenig einem Zweifel unterliegen kann, als 
der der andern neuteſtamentlichen Schriftfteller, und daß er — bei 
aller gelegentlichen Bezeugung der Erhabenheit der in dem Sahne 
gegebenen Dffenbarung, als ber abfoluten, auch die Errovgavız 
fund machenden (Joh. 3, 12f.), über die vorbereitende des alten 
Bundes — den inneren Zufammenhang beider Offenbarungen und 
die Zweckbeziehung der altteftamentlichen auf die des neuen Bundes 
nachdrüdlich betont. Mit Recht fordert dabei der Verfafler, daß 


Das Alte Teſtament bei Johannes. 569 


man Judentum und altteftamentlide Religion wit, wie von der 
Tübinger Kritit meiit geichehen ijt, ohne weiteres identificiere, ſon⸗ 
dern wohl unteufcheide, fall8 man Johannes vet veritehen wolle, 
und entwidelt namentlich den Sinn von Joh. 1, 17 im Lichte 
diefer Unterſcheidung in einer m. E. durchaus zutreffenden Weife, 
Schon in diefem Abjchnitt tritt uns aber auch ein im weiteren 
Berlauf der Unterfuchungen noch öfters bemerfbarer Mangel in 
der DBeweisführung des Verfaſſers entgegen, welcher m. E. ihre 
Überzengungsfraft zu beeinträchtigen geeignet ift. Sch glaube näm⸗ 
ih, daß diejelbe noch wirkſamer geweſen wäre, wenn er weniger 
Gewicht auf die Beziehungen jphanneifcher Ausfagen auf beftimmte 
einzelne Stellen des Alten Teftamentes, die er entdeckt zu haben 
glaubt, gelegt Hätte. Tritt er auch der Sritiklofigfeit, mit welcher 
nach %. Adf. Lampes Vorgang Hengftenberg folche Beziehungen 
gejammelt hat, ensfchieden entgegen, jo jcheint er mir doch auch 
jelbft darin noch zu weit zu gehen. So legt er (S. 32f.) be⸗ 
deudende® Gewicht darauf, daß Johannes in Joh. 1, 14, mie 
ichon Lampe erfannt Habe, „die ihm felbft durh Jeſum vers 
mittelte Gottesſchan“ als das Gegenbild der nach 2Moſ. 33, 18 ff. 
Moſes zuteil gemondenen darſtelle (vgl. au S. 102. 204. 
265. 291), Das ſtcheint ums aber troß der aus dem Inhalt 
und den Ausdrüden in Joh. 1, 14. 17 und 18 entnom« 
menen Beweisgründe (zu denen man nad eine gegenfägliche Be⸗ 
zieyuug des Eoxnvocev ph. 1, 14 zu dem napsoxsodaı in 
2Mof. 33, 19. 22. 34, 6 Hinzufügen könnte) äußerjt zweifel« 
haft. Der Berfaffer weift felbft (S. 288) darauf Bin, dag 
dad nom on 23 2Mof. 34, 6 in der Sept. mit zodvsieos 
ai aAndsvos wiedergegeben ijt, daß überhaupt dem hebräifchen 
nem nor in der Sept. ftändig Zieos zai aAndsım entſpricht 
und das Wort "on nur Eſth. 2, 9, wo es dem jonft gebrauchten 
m in der Redensart „Gnade finden” entfpricht, mit gas wieder» 
gegeben ift. Letzteres Wort ift nämlich in der .Sept. die Wieder- 
gabe von ın. Darin will der Verfafjer nber einen Beweis dafür 
finden, daß Johannes, obwohl er fi in der Regel an die Sept. 
halte, auch von Haufe aus mit dem Hebräifchen Grundtert bekannt 
gewejen fei. Ohne dies hier in Abrede jtellen zu wollen (f. u.), meinen 


570 Srante 


wir doch, dieſer Beweis dafür fei jehr prefär, umd die richtige 
Fofgerung aus jenen Wahrnehmungen wäre vielmehr die längft 
gezogene (vgl. 3. B. Meyer und Weiß zu oh. 1, 14) gemeien, 
daß die Korrefpondenz des johanneifchen gagıs zui aAjYEı« (oh. 
1, 14 und 17) mit dem altteftamentlihen nom "on nur ein täu⸗ 
fchender Schein ift. Denn wer wirflid auf den Grundtert zurüd- 
ging, dem konnte die Inkongruenz der Ausdrüde non und «Anden 
(zumal in der johanneifhen Bedeutung diefes Worte6) nicht ver» 
borgen bleiben, und er hätte mehr Anlaß gehabt, bezüglich diejes 
Wortes von der griehifchen Bibel abzuweichen, als bezüglid des 
Wortes on. Für feine Leſer hätte Johannes Überdies, wenn 
er wirfli) eine Bezugnahme auf das alttejtamentlihe nom on 
beabfichtigt Hätte, diefelbe durc; Abänderung der ftehenden Wiedergabe 
diefer Wortverbindung in der griechifchen Bibel jedenfalls wieder ziem- 
ih unkenntlich gemacht. Auch die Beziehung von Joh. 3, 12 auf 
5Mof. 30, 11ff. (S. 37. 197) ſcheint mir bei der völligen Ber- 
Ichiedenheit der Gedanken und Zwecke der beiderieitigen Ausjagen 
ſehr zweifelhaft, und felbt eine auf unbeftimmter Reminiscenz an 
die deuteronomiſche Stelle beruhende bloße Entlehnung des Aus: 
druds in den Worten xai ovdsis avaßspnxev eis Tüv oVpavov 
läßt fi) angefihtd der Stellen Spr. 30, 4. Bar. 3, 29 einer: 
jeits und Joh. 6, 38. 62 andrerfeits nicht mit voller Beftimmt: 
heit behaupten. Auch geht Franke zu weit, wenn er in Joh. 3, 
12. die Anſchauung ausgefprocden findet, daß die altteſtamentliche 
Offenbarung nur die erriysır zum Inhalt habe; in Hebr. 12, 
18—29 iſt der von ihm erörterte Unterfchied zwilchen der alt 
und der neuteftamentlichen Offenbarung gemacht (vgl. meinen Lehr: 
begriff des Hebräerbriefs S. 113ff.); aus jener johanneifchen 
Stelle aber läßt er fih doch nur fehr mittelbar erſchließen. — 
Der dritte Abfchnitt (S. 46—88) Handelt von der „Stellung 
des Johannes zur Schrift des alten Bundes“ und weift über: 
zeugend und allfeitig nah, daR fih dem Evangeliften „Schrift 
glaube und Chriftusglaube, das Verftändnis der Schrift und der 
Eindlit in die Wege Gottes zum Heil der Welt“ in und mit 
einander entwideln und vollenden. Beſonderer Beachtung empfehlen 
wir die trefflichen Erörterungen über die auf dem Boden de$ 


Das Alte Teftament bei Johannes. Hi 


Geſetzes fich bewegenden apologetifchen und polemifchen Ausein- 
anderfegungen Jeſu mit den Juden (S. 62—-72). 

Dos aus den Unterſuchungen über das prinzipielle Verhältnis 
des vierten Koangeliften zum alten Bunde gewonnene Ergebnis, 
daß er ein der gotwwerliehenen Prärogativen feines Volles ſich wog! 
bewußter, in den heiligen Schriften des alten Bundes lebender und 
webender Israelite war, muß ſich nun aber auch an dem Gepräge, 
welches feine chriſtliche Geſamtanſchauung an fich trägt, bewähren. 
Darum Handelt der zweite Hauptteil, auf welden der DVerfaffer 
mit Recht das Hauptgewicht gelegt bat, von den „altteftamentlichen 
Grundlagen des johanneifchen Lehrbegriffs“ (S. 89— 254). Sollen 
nım die in ihrer Art fehr eigentümlichen johanneifchen Schriften 
wirklich ans dem Apofteltreife, und dazu von einem der Urapoſtel 
herrühren, jo müffen zumächft die allen andern neuteftamentlichen 
Schriftftellern gemeinfamen, aus dem Alten Teftament ftammenden 
Grundanſchauungen auch ihnen eigen fein. Das weit der Ver⸗ 
faffer in der eriten Abteilung ded zweiten Teiles bezüglich der drei 
Hauptpimfte, die auch in den kritiſchen Verhandlungen über die 
johanneifhe Frage in den Vordergrund getreten find, nämlich ins 
betreff der Anſchauungen über Gott md Welt (S. 91—143), der 
Eschatologie (144-—166) und des Meſſiasglaubens ale der Wurzel 
des Glaubens an Ehriftum (S. 166-185) mit einer der ent⸗ 
fcheidenden Bedeutung diefer Unterjuchung entfprechenden, das Der 
tail im umfaffender Weije berücfichtigenden Grändfirhkeit nad. 
Wir lönnen den Gang feiner Ausführungen dem Leſer nicht vor» 
führen, fondern müſſen auf das Buch felbft verweilen. Mit einem 
Bedenken aber wollen wir nicht zurückhalten. Beſonders in den 
beiden erſten Abjchnitten Hatte es der DVerfaffer mit den johannei⸗ 
[hen Anſchauungen zu thun, in welden man Zeugnifje feiner 
alexandriniſchen Geiftesrihtung und des Einflujjes 
Philos zu finden pflegt. Run bat Franke den tiefgreifenden 
Unterfchied zwifchen der johanneiſchen und der päilonischen Ans 
ſchauung, die er zu diefem Zwed auf Grund umfafjender Quellen⸗ 
ftudien ſehr eingehend entwickelt hat, gut aufgezeigt und überzeugend 
uachgewiefen, daß Johaunes in allem, worin Philos intellektua⸗ 
tiftiſche Spekulation den Boden der religidfen Anſchauungen des 

Theo. Stud. Jahrg. 1886. 97 


572 Franke 


Alten Teſtaments verläßt, im Gegenſatz zu ihm und auf der Seite 
des Alten Teftaments fteht. So ſehr wir aber feine Überzengung 
teilen, fo will e8 uns doch vorkommen, als ob er derjelben einen 
zu fchroffen, mindeftens mißverftändlichen Ausdruck gegeben habe, 
wenn er den „angeblichen Alerandrinismus” des Johannes gerade, 
zu „als Fiktion. vorurteilßpoller Kritik oder unbefonnener Inter⸗ 
pretation“ bezeichnet (S. 92), und ale ob er über der Verfchieden- 
beit die immerhin in gewiffen Maße vorhandene Verwandticait 
nicht genügend anerkenne. Philonismus und Alerandriniemus darf 
man ja nicht identifizieren und den legteren nicht in fo fchroffen 
Gegenfag zu der bibliiden Denkweiſe ftellen. Wir hätten ge 
wünjcht, daß der Verfaſſer in feiner ganzen Unterfuchung über 
den Alerandrinismns der johanneifhen Schriften der Schlufbemer- 
fungen in der Abhandlung Weizſäckers über die johanneiſche 
Logoslehre (Jahrb. für deutfche Theol. 1862, S. 708) mehr 
eingedent geblieben wäre: „Es ift ja nichts leichter, als die große 
Verſchiedenheit beider Lehren (der johanneifchen und der philonifchen 
Logoslehre) ‚zu zeigen, nachzuweiſen, daß fie auf verfchiedenen 
Srundanfhauungen beruhen... Uber dies fchließt doch gewiß 
nicht aus, daß diefelbe (die johanneifche Logoslehre) unter der An- 
regung durch geläufige Begriffe, die von dorther, oder wenigftens 
aus verwandten Gebieten famen, angeregt wurde.“ Mit Recht ift 
dort weiter betont, daß alle neuteftamentlihen Schriftfteller bei 
ihrem Zurüdgehen auf das Alte Teftament diefes mehr oder we: 
niger „durch das Medium der zeitgendffifchen jüdifchen Auffaffung“ 
anfehen. Die Richtigkeit diefer Bemerkungen ftellt Franke freilich 
nicht in Abrede; er giebt (S. 112) die Möglichkeit zu, daß 
die johanneifhe Gefamtanfhauung einen ausgeprägten biblifchen 
Charakter haben, und dag doch bie Logosidee von Philo entlehnt 
fein könnte; und nachdem die nähere Unterfuchung ergeben hat, daß 
fi das Philo und Johannes Gemeinfame auf das biblifch-jüdifche 
Element der philonifchen Logoslehre beſchränkt, erflärt er es doch 
(S. 127) „für gefchichtswidrigen biblifhen Purismus, alfo für 
Dogmatismus, wenn man den Mpoftel feine Logoslehre unmittel- 
bar aus den Ausfagen des hebräifchen Kanons über ‚Wort‘ und 
‚Weisheit‘ gewinnen läßt”, und fehreibt felbft dem alerandrinifchen 


Das Alte Teftament bei Johannes. 6783 


Buche der Weisheit Salomos, indbefondere der bekannten Stelle 
Rap. 18, 14—25 einen bedeutenden Einfluß ſowohl auf die An⸗ 
fhauung des Apofalyptifers von dem Worte Gottes (Ap. 19, 
11 ff.) als auf die johanneifhe Logoslehre zu (S. 127 ff.). Von 
folhen richtigen Erfenntniffen aus, hätte er aber von vornherein 
ftatt jener fchroffen Zurücdweifung de8 „angeblichen Alerandrinig- 
mus“ des Johannes die Aufgabe fchärfer im Auge behalten fols 
fen, die Übertreibungen der Tübinger Tendenzkritit auf ihr rich— 
tiges8 Maß zurüdzuführen. Dean unterfhägt, wie mich dünft, 
vielfah die Bedeutung, welche die Helleniftifhe Bildung und 
Denkweife für die erfenntnismäßige Ausbildung der urchriftlichen 
Olaubensüberzeugungen von Anfang an gehabt Hat. Sie konnte 
aus verfchiedenen Gründen bet diefer Ausbildung weit mehr Bei⸗ 
hilfe Leiften, al8 die Schufgelehrjamteit paläftinifcher Schriftgelehrten. 
Die helleniftiſche Bildung aber ftand überall mehr oder weniger 
unter dem Einfluß des Alerandrinismus. War dod, Alerandria 
ihr Hauptfig, von welchem aus die griechifchredenden Juden auch 
ihre Bibel erhalten Hatten. Auf Grund folder Erwägungen ift 
m. €. die Frage fo zu ftellen: Läßt das Medium, durch welches 
der Verfaſſer der johanneifchen Schriften das Alte Teftament ans 
fieht und das aud feine Auffaffung der altteftamentlichen Begriffe 
und Anfchauungen färbt, mehr den Charakter paläftiniiher Schrift» 
gefehrfamkeit oder mehr den der helleniftifchen Bildung und dar 
mit and eine gewifje Verwandtſchaft mit dem Alerandrinismus er» 
fennen? Jenes dürfte allerdings in “ob. 12, 41 der Fall fein, 
wo — mie ſchon Schlottmann (da8 Bud Hiob, 1851, S. 130f.) 
gezeigt hat — der Einfluß der üblichen jüdiſch-aramäiſchen Para- 
phrafe auf die johanneiſche Auffaffung altteftamentliher Schrift: 
worte ſchwerlich verfannt werden kann. Weit überwiegend tritt 
aber in den johanneiſchen Schriften helleniftifche Denk- und Aufs 
faffungsweife an den Tag, die in Mandher Beziehung dem älteren, 
nicht philonifchen Alerandriniemus verwandter ift, al8 der paläfti- 
niſchen Schriftgelehrſamkeit. Und diefer Befund jcheint mir der 
Abkunft dieſer Schriften von dem aus der Takılata zuv EIva» 
ftammenden Fiſcher, der nicht in den Schulen der Schriftgelehrten 


gebildet war, und erft ald Jünger Jeſu und dann als Apoftel in 
37* 


874 Franke 


Jeruſalem, wo ein beträchtlicher Teil der Gemeinde ans Helleniſten 
beftand (Apftlg. 6, 1), und fchliegli als Vorſteher eines griechiſch⸗ 
redenden nnd überwiegend heidenchriftlichen Gemeindekreifes feine 
chriſtliche Geſamtanſchauung ausgebildet und fi) immer mehr in 
das Schriftwert hineingelebt hat, beineswegs ungünftig zu fein. 
Es ift hier nicht der Ort zur näheren Ausführung und Begrün 
dung biejer Andeutungen. Pur zur Exemplifikation der gemadtn 
Ausftelung verweife ich gleich auf die erften Ausführungen de 
„Gott und Welt“ überjchriebenen Abfihnitts (S. 92ff.). Hie 
ſcheint mir Franke bie räumliche Borftellung des Johannes von 
dem Himmel und feinem Gegenſatz zu der bießfeitigen Welt viel 
zu fchroff der Philoniſchen Lehre von den beiden Welten, de 
Stunenweit und der Ideenwelt, gegenüber zu ftellen. Erkennt « 
auch an, daß bei Philo die altteftamentliche räumliche Vorſtellung 
noch nachwirkt (S. 95), jo hat er doc, wie mich dünkt, bei I 
hannes Über der einjeitig betonten Berjchiedenheit feiner Borftellung 
von ber Philoniſchen das, was fie mit dieſer gemein Bat, allzuſeht 


beifeite geſtellt. Er Hat gewiß darin Recht, daß nicht mur bie 
Ausdrucke zdapos vorzös und aiaInTog, fonderu auch die durh | 


diefelben bezeichnete Anfchanımg dem Johannes ebarfo fremd ift, 
wie der ganze intellektualiftifh-fpelulative Idenlismus, 


aus welchem fie erwachſen if. Das aber darf man nicht ver 


fennen, bag vermöge der Korrefpondenz der Begriffe „himmliſch 


und „überfinnlih” und weil der Himmel in der biblifchen An- 


ſchauung in erfter Linie Wohnftätte Gottes ift, aus der räum 
lichen Vorftellung von demfelben im Neuen ZTeftament bald meh 
bald weniger eine ideale Bedentung des Ausbruds heraustritt, 
und daß dies innerhalb des Neuen Teftaments am meiften bei Yo 
hannes der Fall if. Wie hätte diefer ſornſt — um von dem 
 ov &v To odoavo in Ych. 3, 13, deifen Echtheit zweifelhaft 
ift, ganz abzufehen — das Jenſeits fchon ir dem Mage in Chrifte 


ing Diesſeits getreten und da® ewige Leben als fchon gegenwär 


tiges darstellen können, daß „barüber geradezu der Gedanle an eine 
erſt durch Verſetzung ins Jenſeits zu gewinnende Seligfeit und 
Vollendung durchaus zurücktritt“ (S. 134. 150. 174. 198. 242)? 


At die himmlische Welt dem Gläubigen in Jeſu Ehrifto ſchon 














Das Alte Teftament bei Johannes. 575. 


erichloffen, und ift ihm in der Gemeinfchaft mit dem Water und 
dem Sohne das alles andere in ſich fchließende Gut der himm⸗ 
Eichen Welt, das ewige Leben ſchon eigen, fo fett das voraus, daß 
auch in der Vorftellung des Himmels das Moment des Überfinn⸗ 
lichen, Geiftigen, Ewigen, Gotteigenen das räumliche fo überwiegt, 
daß diefelbe der alerandrinifchen Auffafiung des Himmels, berem 
intellektualiftiſche PVerbildung und — wenn man wii — Ber 
Haltung Philos Ideenwelt ift, in der That näher fteht, als ber 
faft ausschliehlih räumlichen des Alten Teftaments und des pa—⸗ 
fäftinifchen Judentums. — Ebenſo fcheinen mir Franke's Bemer⸗ 
fungen über den Gegenſatz, in welchem die eben berührten johannei⸗ 
chen Anfgauungen von dem Verhältnis des Jenſeits zu dem ‘Diebe 
feit8 und vom ewigen Leben zu dem Alexandrinismus ftehen 
(S. 134 ff.), diefen Gegenſatz, der in Philos dualiſtiſcher Anfchauung 
über da® Verhältnis der Körperwelt zur Geiftesiwelt nnd in feinem 
die Bedeutung der Heilsgefhichte und damit auch der Prophetie 
verfennenden Intellektualismus begründet ift, einfeitig hervorzu⸗ 
heben und darüber das, was Johaunnes mit dem Alerandrinismus 
gemein bat, zu verdeden. Philos Beichreibungen des Zuftands der 
Ruhe und rende, in welchen der Weife verjegt ift, wenn er fi) 
ans dem Sinnlihen in das Geiftige und Göttliche erhoben Hat, 
find doch ein Analogon zu dem Frieden und der Freude, welche der 
Häubige im Bewußtſein des ſchon gegenwärtigen Beſitzes des 
ewigen Lebens genießt; wie es denn überhaupt nicht wohl andere 
fein konnte, al8 daß ber fpefulative Idealismus Philos und der 
veligiöfe Idealismus des Johannes troß ihrer verichiedenen Grund⸗ 
richtung in manchen verwandten Anfchauungen zufammentrafen. — 
Im einzelnen möchte ih noch auf die S. 122f. gegebene Aus⸗ 
legung von Joh. 1, 4 und 5 aufmerfjam machen, bei welcher 
Franke aber näher hätte nachweifen follen, baß ihre der Gegenſatz 
des Tv in V. 4b und des praes. yalvss in B. 5a nicht im 
Wege jteht. 

Bon befonderer Wichtigkeit ift der gründliche Nachweis, daß 
alle wefentlihen Momente der urchriftlihen Eschatologie auch in 
dem Gedanfenkreife des Johannes noch eine Stelle behalten haben, 
fo fehr fie auch durch die Auffaffung des ewigen Lebens als eines 





576 Stante 


ſchon gegenwärtigen Befiged der Gläubigen in den Hintergrund 
gedrängt find. In der ebenfo wichtigen Unterfuhung über den 
Meifiasglauben und feine Bedeutung in der johanneifchen Ehrifto- 
fogie hat der Verfaſſer (S. 184; vgl. auh S. 215f.) unter an- 
derm mit Recht die Stelle 1%0h. 5, 6ff. Herbeigezogen, inbetreff 
deren ich bei diefer Gelegenheit meine Ausführungen (in diefer 
Zeitſchr. Jahrg. 1864, ©. 552 ff.) in Erinnerung bringen möchte. 

Die zweite Abteilung des zweiten Teiles (S. 185—254) ift 
dem Nachweis gewidmet, daß auch die eigentümlidh johannei- 
chen Ideen im Alten Teftament wurzeln. In ſechs Abfchnitten 
mit den Auffcriften: „Das Heil in Chrifto al3 Erfüllung des im 
alten Bunde gegebenen“ (S. 186—192), „die Gottesihau in 
Jeſu Chriſto“ (S. 192 —213), „das Bundesopfer und die Sühne“ 
(S. 214—222), „das neue Gebot“ (S. 222— 231), „das ewige 
Leben der Gottesgemeinihaft" (S. 231—243) und „die neue 
Gemeinde" (S. 243—254) wird diefer Nachweis geführt. So 
überzeugend er mir im ganzen erjcheint, fo trat mir doch gerade 
bier der oben erwähnte Mangel, daß manchmal recht zweifelhafte 
Beziehungen auf beftimmte einzelne Stellen des Alten Teſtaments 
geltend gemacht und betont werden, mehrfad entgegen. So foll 
1Joh. 5, 20 in feinem fignifilanteften Zeile Reproduktion von 
Ser. 24, 7 fein (S. 187. 250. 262). In ber Sept. lauten die 
betreffenden Worte: xai duow avrois xagdlav vov eidsvar av- 
vous Eus, Or &@ eins xlosos; das trifft mit 1%0b. 5, 20 
wenig genug zufammen; Johannes müßte aljo auch hier den Grund⸗ 
text felbftändig reproduziert haben, was aber bei einer Ausſage, 
die ſich ſo ganz in feinem eigenen Begriffsfreis und feiner Termi⸗ 
nologie Hält, wenig Wahrjcheinlichkeit hat. Gewiß hat auch fie 
altteftamentliche Wurzeln, wie dies namentlih von dem johannei⸗ 
ſchen yıydaxsıy Tov IE0v gilt (vgl. meine Bemerkungen im 
Jahrgang 1864, S. 543); aber es ift nicht eine einzelne Stelle, 
fondern ein viel breiterer Boden, in welchem diefe Wurzeln zu 
juchen find. — Nur mittelft künſtlicher Kombinationen ift ferner 
S. 205 die Beziehung von Joh. 17, 11. 6. 26 auf den Engel, 
in welchem Gottes Name ift (2Mof. 23, 20f.) Hergeftellt. Bon 
jonftigen zweifelhaften oder ganz unannehmbaren Beziehungen nos 


Das Alte Teftament bei Johannes. 57 


tiere ich die von Joh. 11, 52 auf Jeſ. 53, 6 (S. 219) und um 
gleich die im dritten Teil des Werkes vorfommenden hinzuzufügen 
— bie von 1 Joh. 2, 10 auf Bi. 119, 165 (S. 262), von 
Koh. 20, 22 auf 1Mof. 2, 7 (S. 263. 313), von oh. 1, 1 
(nv noös Tor Heov) auf Spr. Sal. 8, 30 (©. 265. 288) 
und von Joh. 10, 28f. auf Jeſ. 43, 13 (S. 266), wo das 
übrigens öfter gebraudte (5Mof. 32, 39. Hiob 10, 7; vgl. 
Hof. 5, 14 u. a.) dıso mn pom einen ganz anderen, im der 
Sept. richtig wiedergegebenen Sinn Hat (bıym nicht = rauben, ent» 
reißen, fondern — erretien). — Einige Einzelheiten mögen hier 
noch zur Sprade kommen. Als Beifpiel dafür, wie mande Stelle 
von dem Verfaſſer gelegentlich in helleres und richtigeres Licht ge» 
fegt ift, hebe ih die S. 208 über Joh. 1, 52 gegenüber der 
berrfchenden Meinung (vgl. 3. B. Weiß 3. d. St.) gemachte, rich⸗ 
tige Bemerkung hervor, dag Chriftus ſich nicht al3 den antitypifchen 
Jakob, fondern ale das antitypische Bethel darftelit. — Unklar ift 
mir geblieben, wie Franke in dem Ausdrud zzagaxinzos die Bor: 
ftellung eines „Vertreters Gottes“ finden kann (S. 212), und nicht 
beiftimmen Tann id, wenn er in Abrede ftellt, dag in 1Joh. 4. 19- 
eine Aufforderung zur Liebe zu Gott enthalten fei (S. 226); dae 
avrov in diefer Stelle ift freilich ein fpäterer Zufag; ayanmoperv 
aber wird gemäß V. 7. 11 und 20f. nicht als Ind. fondern als 
Konj. zu faffen und in umfafjendem, nah V. 11 die Bruderliebe 
einschließenden, aber nah V. 18 in erfter Linie auf die Gottee- 
Liebe bezüglichen Sinne zu nehmen fein. — Unfere kleinen Aus- 
ftellungen können uns nicht hindern, das Schlußergebnis bes 
zweiten Teiles als ein durch die Unterſuchuugen des Berfaflers 
wohl begründetes anzuerkennen; er fpridht e8 S. 254 in den 
Worten aus: „Des Johannes Schriften find ein Zeugnis dafür, 
daß ſchon gegen Ende des erjten Jahrhunderts die auf helleniſch⸗ 
heidnifhem Boden begründete Gemeinde es war, in welche der 
Schwerpunkt der neuen Kirche ſich verlegt Hatte. Und der Mann, 
welcher in ihnen redet, ift rückhaltslos den Weg mitgegangen, 
welden Gott die Kirche geführt. Aber das Evangelium vom ewigen 
Leben für jeden der da glaubt, zeugt an jedem Punkte ba> 
für, daß es das Alte Teitament war, in deffen Licht Jo⸗ 


578 Franke 


hannes Jeſum zuerſt erblickt, an deſſen Hand er auch die 
Theologie entwidelte, welche für das gegenwärtige Heil in 
Ehrifto immerhalb des Neuen Teftaments den höchſten Ausdrud ge 
fanden. Keiner der nenteftamentlihen Schriftfteller hat die Ans 
einanderſetzung mit der jübdifchen Vergangenheit der Kirche klarer 
und voffftändiger vollzogen, Feiner aber auch den idealen Gehalt 
des Alten Teſtaments für das in Ehrifto erſchienene Neue voller 
und freier nutzbar gemacht, al3 Johannes.“ 

In dem dritten, „das Alte Teftament in der Darftellung 
de3 Fohannes“ überfchriebenen Teil handelt der Berfaffer von dem 
Gebrauch, welden Yohannes von dem altteftamentlichen Schrift: 
wort macht (S. 255—282), von dem Maß, in welchem er babe 
an die Sept. fi hält und anf den hHebräifchen Grundtert zurüd- 
geht (S. 282-293), und von feinem Hermeneutifchen Verfahren 
(S. 293—815). Der erfte diefer Abfchnitte weift von verſchie⸗ 
denen Gefichtspunkten aus einen folchen Reichtum von altteftament- 
fihen Elementen und einen fo bedeutenden Einfluß des Alten 
Teſtaments auf die Darftellung und Ausdrudsmeife in ben jo 
hanneiſchen Schriften nah, daß, wenn man auch die Fülle der 
Belege einiger Sichtung bedürftig finden mag, doch genug übrig 
bleibt, um die Behauptung zu rechtfertigen, daß Johannes im 
Alten Teftament lebt und mwebt. Die Bemerkungen, daß die Ci 
tationsformeln des Johannes durchweg noch dem älteren, unbe 
fangeneren Ausdrud des Glaubens an die Schrift entfpreden 
(S. 258), und daß feine Eitate mit wenigen Ausnahmen dem 
Kreis der in der urchriftlichen Gemeinde von Anfang an mit Bor 
liebe benügten Schriftzeugniffe angehören (&. 259f.), feien hier 
befonder3 hervorgehoben. 

Weniger überzeugend fcheint mir der zweite Abfchnitt biefed 
Teiles. Sein überrafchendes Ergebnis tft, daß Idhannes alferdinge 
nur in den Gitaten Joh. 13, 18 und 19, 37 und wahrfcheinlid 
auch oh. 12, 15 und 6, 45 von ber Sept. auf den Grundtert zu- 
rüdgegangen: ift, daß aber in feiner freien Benutzung von Schrift: 
ftellen, in den bloßen Anflängen an altteftamentliche Schriftworte 
und in feinem Sprachſchatz die Sept. gar feinen nennendwerten 
Einfluß geübt Hat, vielmehr der Grundtert maßgebend geweſen if. 





Das Alte Teftament bei Johannes. 879 


Daraus wird die Folgerung gezogen, daß der Verfaſſer der jo 
hanneiſchen Schriften von Hanfe aus micht mit der griechifchen, 
jondern mit der Bebrätfhen Bibel vertraut gemefen jei, und daß er 
erft ſpüter bei feinem Eintritt in einen griedhifchredenden und nur 
mit der griechiſchen Bibel vertrauten Gemeindekreis ſich dem Ge 
brauch der letzteren angetchloffen habe, indem er nur noch da, wo 
ihm feine Erinnerung koftbare Weisfagungdworte darbot, die der 
griechiſche Text nicht genligend erkennen Tieß, auf den @rundtert 
zurüdging. — Hier ift mir fraglich, ob der Sachverhalt iu riche 
tigem Lichte dargeftellt ift. Zunächft fcheint mir der Verfaſſer 
ganz außer Acht gelaffen zu haben, daß zwifchen der „Mutter⸗ 
ſprache“ (S. 290) des Johannes, dem jidifch-aramäifchen Volks⸗ 
dialeft und der hebräiſchen Sprade ein beträdhtlicher Unterſchied 
it, und daß daher Johannes nur auf dem Weg bejonderen Stus 
diums mit der Iekteren und mit dem Grumdtert hätte vertraut 
werden können. Sodann liegt, wenn man auch die angeblich) fchon im 
erften Jahrhundert neben der Sept. vorhandenen griechifchen Übers 
fegungen ber Bibel und „die griechiſche Volksbibel zur Zeit Jeſu“ 
mit dem Berfafler (S. 285) für Phantafiegebilde Hält, doch keines⸗ 
wegs nur die Alternative: Sept. ober Grundtert vor. Franke 
(äßt Hier außer Acht, daB es fir Juden und Chriften, welche die 
Sept. zu gebrauchen gewohnt waren, auch noch einen anderen, 
mittelbareren Weg gab, auf welchem fie zu von der Sept. ad» 
weichenden und dem Grundtert entjprechenderen griedhifchen Citaten 
fommen fonnten, als das Studlum des hebräifchen Kanone; ich 
meine den Gebraud des Schriftworts im Gottesdienft. Bei den 
Hebraiften in Paläftina wurde im Shynagogengottesdienft der he» 
bräifche Text verlefen und dann mündlich im jüdifch-aramäijchen 
Volksdialekt wiedergegeben und ausgelegt. Ein fabbatlider Be 
fucher desſelben — und ein folcher wird Johannes ebenſowohl ge 
weien fein, wie fein Herr und Meiſter — konnte jo manches 
Schriftwort in hebräifcher oder jüdiſch-aramäiſcher Faſſung in fein 
Gedächtnis aufnehmen. Aus diefer Duelle dürfte wohl, was fid) 
von Einfluß der üblichen jüdifch-aramäiichen Paraphraje des he⸗ 
bräifchen Textes auf die johanneiſche Auffaffung aftteftamentlicher 
Schriftworte nachweifen läßt, namentlich jene Spur in Joh. 12, 





580 Franke 


41 (f. oben), abzuleiten fein. Im Synagogengottesdienſt der 
Helleniften aber konnte trotz des Gebrauchs der Sept. in den aus- 
fegenden und paränetiihen Anſprachen manches Schriftwort im 
Munde eines mit dem Grundtert befannten Mannes oder auch in- 
folge jener Neminiscenzen eine von der Sept. abweichende, dem 
hebräiſchen Text entiprechendere Geftalt erhalten, und dieſe Geftalt 
fonnte, wenn das betreffende Scriftwort ein häufig gebrauchtes 
war, leicht andy bei Helleniften ftereotyp werden. Noch leichter 
fonnte dies in⸗ und außerhalb Paläftinas in den Gottesdienften 
griechiſchredender Chriftengemeinden gefchehen. Auf diefe Weiſe ift 
m. €. die Übereinftimmung in der von der Sept. abweichenden 
und den hebräifchen Text entiprehenden Form der Gitate in Hebr. 
13, 5 umd bei Philo de confus lingu. p. 344 und wohl aud 
die in Hebr. 10, 30 und Röm. 12, 19 zu erklären. Verhält 
fih dies fo, fo läßt ſich bei einem in der Pegel die Sept. ge 
brauchenden Schriftfteller, wie der Verfaſſer der johanneifchen 
Schriften, aus einigen wenigen mehr mit dem hebräiſchen Text 
übereinlommenden Citaten noch nicht einmal mit voller Sicherheit 
auf ein in diefen Fällen ftattgehabtes felbjtändiges Zurückgehen 
auf den Grundtert fehfießen, gefchweige denn darauf, daß dem 
Scriftfteller der Grunbtert ebenjo geläufig war, wie die Sept. 
Auch gewinnt von jenem Gefichtepunft aus bezüglich des Citats 
Joh. 19, 37 das Zufammentreffen mit Offb. 1, 7 und die ana- 
loge Form des Eitats bei Yuftin mehr Gewicht, als der Verfaſſer 
(S. 285) zuzugeſtehen geneigt iſt. In dem freien Citat Joh. 
12, 15 vollends hat das un Yoßov nicht fo viel zu bedeuten, 
als Franke (S. 286) meint, da die Sept. es oft genug darbot 
GSeſ. 10,24; 41, 10.13. 14; 43, 1. 5; 44, 2; 54,4 u. a.). 
Schwerer als die vereinzelten Citate würde es allerdings wiegen, 
wenn die Vertrautheit des Johannes mit dem Grundtert fi aus 
feiner freien Benugung von Schriftftellen, den bloßen Anklängen 
und aus feinem Sprachſchatz beweifen ließe. Ich muß aber ges 
ftehen, daß mir Franke den von ihm gelieferten Nachweis ehr 
zu überfchägen fcheint, wenn er gegenüber den Berührungen 
johanneifcher Stellen mit dem Grundtert, die mit der Sept. ale 
„Kleinigkeiten“ bezeichnet (S. 288) und den Bann gefprengt zu 











Das Alte Teftament bei Johannes. 581 


haben meint, welcher der Anerkennung jo mander Schriftbezie- 

Hungen des Johannes im Wege ftand, weil man an den betreffen 
den Stellen den Wortlaut der Sept. nicht wiederfand (S. 291). 
Denn eine Anzahl feiner Belege (So. 1, 1. 14. 17; 9, 7; 
10, 28 [1]) befteht eben in ſolchen ſehr zweifelhaften Schrift- 
beziehungen, fo daß fich bezüglich ihrer die Beweisführung im 
Zirkel dreht; bei andern (Joh. 1, 29; 3, 14; 12, 13. 40).findet 
wohl Abweichung von der Sept., aber keine Annäherung an den 
Grundtext ftatt: und wo die letztere ftattfindet, war erft zuzufehen 
ob fie nicht andere Gründe bat, al8 die Reminiscenz an den Grund⸗ 
tert; fo ift Joh. 1, 52 das Bart. ftatt des Verb. finit. in 
der Sept. gewiß nicht in der Rückſicht auf den Grundtert, 
fondern in der ſchon zuvor begonnenen Bartizipialfonftruftion 
begründet. Überhaupt hat Franke zweierlei nicht gehörig im Auge 
behalten ; nämlich einmal, daß bei einem Schriftiteller, der aner- 
fanntermaßen das Schriftwort in fehr freier Weife verwendet, Abs 
weichungen vom Septungintaausdrud nicht auch ſchon Beweije von 
Nachwirkung der Erinnerung an den Grundtert find; und fodann, 
daß ſowohl der griechifche Sprachgebrauch und die griechiſche relis 
giöje Terminologie, welche fi unter der Einwirkung von mancher» 
lei Faktoren, von denen die Sept. nur einer ift, in der urdrifte - 
lichen Gemeinde gebildet hatte, als der eigentümlich johanneifche 
Sprahgebraud natürlich auch auf die Faſſung, in welcher in den 
johanneifhen Schriften Schriftworte angeführt oder ſonſt verwendet 
worden find, Einfluß geübt hat. So ift 3.2. der nur in Matth. 
13, 15 und Apoftg. 28, 27 beibehaltene Hebraismus Eenayvvsn 
in ob. 12, 40 dem mnenteftamentlichen Sprachgebraud) gemäß 
durch das griechifche nweoö» erfegt, während das dJWwmos Joh. 
3, 14 der eigentümlich johanneifchen Terminologie angehört. Wir 
können nicht alle einzelnen von Franke angeführten Belege hier be 
ſprechen. Uns erfcheinen fie aber alle nicht geeignet mehr zu be» 
weifen, ald das, daß die Belanntfchaft des Johannes mit der 
Schrift und feine religiöje Terminologie noch andere Quellen hatte, 
ala das Stubium der Sept.; daß fie namentlich nicht geeignet find, 
ein feinem Gebrauch der Sept. vorangegangenes Studium des hebräi⸗ 
ſchen Grundtertes und eine Bertrautheit mit demjelben zu ermweijen. 


582 Franke: Das Alte Teftament bei Johannes. 


Veit überzengender als ber zweite tft ber dritte Abſchnitt, 
weicher eine gründfide und allfeitige Charakteriſtik Des hermenen⸗ 
tiſchen Berfahrens des Johannes giebt, den Einklang desſelben mit 
dem allgemein neuteſtamentlichen, ſeinen Unterſchied von dem ſchul⸗ 
mäßigen bes Apoſtels Paulns und feinen Gegenſatz zu dem Bir 
loniſchen zutreffend nachweiſt und die übertriebenen Anfichten von 
der johanneiſchen Typologie auf ein richtiges Maß zurkcfühtt, 
Wir mahen noch darauf aufmerffam, daß hier Franke ſelbſt 
(S.310f.) bezüglich der (übrigens auch von Higig, die Palmen 1, 
S. 191 bemerkten) Kombination ven Pi. 35, 21 mit 2Md. 
12, 46 in oh. 19, 36 einen Einfluß der Sept. auf die je 
banneifche Auffaffung der Pfalmftelle nachweift. 

Haben wir auch einiges in ein ambered Licht ftellen müffen, 
als in welchem Franke es darftelt, an feinem Schlußergebnis 
(S. 315 f.) wird dadurch nichts gelindert: dag nämlich der Verfaſſet 
der johanneifden Schriften ein „auf dem Boden der nationalm 
Theokratie heimiſcher Mann war, welder, auch nachdem ihm in 
Jeſu ein Höheres aufgegangen, als, was der alte Bund ihm bet, 
und nachdem ihn der Beruf des Zeugen Jeſu auf einem anderen, 
als den nationalen Boden geftellt hatte, doch die alte Heimat nicht 
verleugnet.” 

Schließlich notieren wir noch einige Druckfehler: S. Al, 3.7 
v. o. fies „Indentifikation“; S. 98, 3. 7 v. u. flatt „ne 
rungen“ lied „Andeutungen’; ©. 104, 3.13 v. u. ftatt „bracdhte‘ 
lies „beachte; S. 113, 3.8 v. u. lies „hypoſtatiſcher“; ©. 120, 
3. 10 v. u. lies „Weſens“; ©. 124, 3. 19 v. u. fies „evx; 
©. 127, 3. 12 v. u. lies „Offb. 19, 11ff.“; ©. 250, 3. 20 
‚dv. u. lies „Ser. 31, 34*; ©. 288, 3. 17 v. o. lies „Eh. 
2, 9". — Zu wünfchen wäre gewefen, daß es dem Berfajier 
gefallen hätte, ein Regiſter der erläuterten Stellen beizufügen. 

Halle a. ©. Ss. Riehm. 


Schmid: Geidhichte der Erziehung xc. 538 


2. 


Gedichte der Erziehung vom Anfang au bis auf unfere Zeit, 
bearbeitet in Gemeinfchaft mit einer Anzahl von Gelehrten 
und Schulmännern von Prälet Dr. 8. U. Schmid, 
Oherfiudienrat und Gymmnafialdireftor a. D. Erſter 
Band: Die vordriftlicde Erziehung, bearbeitet von 
K. A. Schmid und G. Banr. Stuttgart, Verlag der 
Cottaſchen Buchhandlung. 1884. VI u. 333 ©. 





Das Wert, befien erfter Band vorliegt, und welches auf vier 
Bünde berechnet ift, tft nach dem Vorworte für die Gebildeten be» 
ftunmt, „jenen Mittelftand zwifchen den Ungebildeten und den Ge 
feheten“, umd foll denfelber mit der Leuchte der Gefchichte den 
Weg weiſen, den fie bei der Erziehung zu wählen haben. Zu dem 
vorliegenden erften Bande hat D. Baur die Einleitung und die 
Geſchichte der Erziehung bei den Naturvöllern, den Kulturvöllern 
des Drients und dem Wolle Jorael geliefert, ber Herausgeber die 
Darſtellung ber Erziehung bei den Haffichen Völkern, den Griechen 
und Römern. 

Ich verſuche zunüchft den reichen Anhalt dieſes Bandes zu 
ſtizzieren. Die Einleitung handelt 1) von dem Gegenſtande 
und feiner Bedeutung. Die Gefchichte der Erziehung iſt nicht 
bloß die Sefchichte der Pädagogik im engern Sinne, ber Erziehungs- 
wöllenfchaft ımd der ans dieſer hervorgegangenen pübagogiichen 
Same. Sie hat vielmehr die gejamte getitige Atmoſphäre ku 
berüdfichtigen, in welcher jene Syſteme erwachſen find, ferner bie 
paudagogiſchen Grundſätze aufzufuchen und darzuſtellen, melde in 
verfchiedeuen Perioden mund bei verſchiedenen Völlern für die Er- 
ziehmg maßgebend gewefen find, ja auch die ohne bemußte Grund⸗ 
füge vollzogene faktiſche Erziehung in den Kreis ihrer Beobach⸗ 
tungen aufzunehmen und endlich und namentlich den erziehenden 
Einfluß der realen Mächte des Familienlebens, ber Volkstimlichkeit, 


581 Schmid 


der ftaatlichen Gemeinfchaft, der Wiffenfhaft und Kunft und vor 
allem der Religion darzuthun. Sie ift alfo eine Geſchichte der 
Erziehung als der fittlihen Einwirkung der älteren Ge— 
neration auf die jüngere (Scleiermader). Inſofern ift fie 
ein Teil der Kulturgefchichte, ja fie führt im den eigentlichen 
Mittelpunkt und Lebensquell derfelben ein, indem fie die Bil- 
dungsideale aufſucht und aufzeigt, deren Verwirklichung die ver- 
Ichiedenen Völker und Zeiten nachftrebten. Neben diefem allge⸗ 
meinen kulturwiſſenſchaftlichen Intereſſe aber bietet die Geſchichte 
der Erziehung ein entjchieden praftifhes Intereſſe für die 
Ausübung des pädbagogifhen Berufes dar; fie ermeitert 
den Gejichtökreid des Pädagogen und bereichert ihn mit einer Leben» 
digen Anſchauung der mannigfachſten pädagogifchen Verhältniſſe 
und Beftrebungen; fie flößt ein Heilfames Mißtrauen gegen das 
blendende Neue ein, indem fie darauf aufmerkſam madıt, mie fo 
manchesmal ſchon dergleichen als eine Zäufchung ſich erwiefen Hat, 
und fie mahnt zur Demut in der Erwägung, ein wie reiches Erbe 
wir von den vergangenen Gejchlechtern empfangen haben, und wie 
jo manches, was nicht in des Erziehers Macht fteht, fördernd und 
bindernd bei der Erziehung mitwirkt. Vor allem zeigt die Bes 
ſchichte der Erziehung den innigen Zuſammenhang der Erziehung 
mit der Religion auf und belehrt die Erziehung, wie alles religiöfe 
Leben und alle erziehende Thätigkeit im Grunde jederzeit ala von 
der eigentlichen und richtigften Lebensfrage von der Frage beftimmt 
gewefen ift: „Was muß ich thun, daß ich jelig werde?“, wie bie 
mannigfaltigen vorchriftlichen Verſuche, diefe Frage zu löſen, fi 
als unzulänglich erwiefen haben, und wie dagegen das Chriftentum 
als die richtige Löſung fich bewährt und von jeiner Entftehung an 
al8 der wichtigfte und eigentlich maßgebende Faktor des gefamten 
Rulturlebens und insbefondere der Erziehung ſich bethätigt hat. 
Die Einleitung entwidelt 2) den Gang und die Methode 
der Behandlung. Gemäß ihrem innigen Zufammenhange mit der 
Religiondgefchichte ftellt die Geſchichte der Erziehung zuerft die Ent» 
widelung der Erziehung innerhalb des Gebietes der natürlichen 
Neligionen dar und zwar, nachdem fie den zerftreuten Spuren 
großenteil® unbewußter pädagogifcher Einwirkung bei den fogenannten 








Geſchichte der Exziehuug zc. 685 


Naturvölkern nachgegangen ift, bei den weltgefchichtlich bedeu⸗ 
tenden Kulturvölkern der vorchriſtlichen Welt, geht dann 
zu dem ißraelitiichen Volke als dem Träger der vorbereitenden ge» 
offenbarten Religion über, um dann zu zeigen, wie die gejamte 
Erziehung dur das Ehriftentum eine Umgeltaltung erfahren 
bat, und endlich die Geſchichte der Erziehung unter dem Einfluffe 
des Chriftentumsd darzuftellen. Dabei hat fie, eingedenf der Auf. 
gabe der Geſchichte, „die Thatfachen möglichit in ihrem wirklichen 
Zufammenhange darzuftellen”, ſowohl bloßes chronikartiges äußeres 
Aneinanderreihen einzelner Ereigniffe als auch willfürliche Gefchichts- 
. Sonjtruftion zu vermeiden. Aus legterer Rückficht ftellt fie die Er» 
ziehung bei den vordriftlichen Kulturvölkern einfach in der Reihen⸗ 
folge dar, wie diefe auf dem Wege von Oſten nach Weiten ihr 
begegnen: Chinefen, Juden, Perſer, Semiten, Ägypter, Griechen 
und Römer. 

Endlih führt die Einleitung 3) die Litteratur an, ©. 19 
bis 28, befchränft fih aber dabei auf ſolche Schriften, welche mehr 
oder weniger das Gejamtgebiet der Erziehungsgeihichte berück⸗ 
fichtigen. 

Begonnen wird mit der Erziehung bei den Naturvölkern, 
S. 29—57. Es find diejenigen Völker, bei welchen die Kraft des 
Geiftes den Bann der Natur nicht zu brechen vermag, welche der 
Natur gegenüber feine eigentliche, eines beftimmten Ziele bewußte 
Initiative Haben, ſondern fich wejentlid auf einen Verteidigung» 
zuitand befchränten und fich genügen lafjen, wenn nur von Tag 
zu Tag die Natur ihnen freiwillig gewährt oder fie ihr abringen 
fünnen, was fie zum leiblichen Leben bedürfen. Ihre Religionen 
beruhen auf dem Glauben an eine von den Naturkräften ganz ver- 
fchiedene urfichtbare Macht oder auch an viele foldher Mächte, die 
fih in den Seelen VBerftorbener oder in auffallenden Naturdingen 
manifeftieren, ober denen man felbft Repräfentanten ſchafft (Ani- 
mismus und Fetischismus). Sie fordern feinen Gottesdienft, der 
mit einem dem Willen der Gottheit entfprechenden fittlichen Handeln 
verbunden ift. Wegen diefes im ganzen gemeinfamen Charakters. 
wird die Erziehung der einzelnen Naturvölfer nicht nach einander: 
befprochen, fondern nur die pädagogifch interejlanten Einzelheiten, 


586 Sämid 


welche bald allen oder mehreren diefer Bölker gemeinfam, bald 
einzelnen eigentümlich find, unter gewiſſen allgemeinen Gefichts⸗ 
sunfkten zuſammenftellt. Gemeinfam ift ihuen die Unfähigkeit, den 
ſpezifiſchen Wert der menſchlichen Perſönlichkeit als foldyer, der 
geiftigen Natur des Dienfchen, zu ſchätzen. Daher die Gering⸗ 
ſchätzung des eigenen und deö fremden Lebens, der Ramibalismus, 
die Sklaverei, der Kindermord. Darum auch feine Erziehung im 
engeren Sinne, feine bewußte Hinleitung der AYugend zu einem 
beftimmten, durd das Gele des Geiſtes vorgeftedtten Ziele, fon- 
dern nur Erziehung in dem weiteren Sinne einer freien Einwir⸗ 
fung der älteren Beneration auf die jüngere, fo befonders, aber 
auch faft ausfchlieglih im Yamilienleben. Aber aud, hier nur 
vereinzelte und noch fehr fchwanfende Anfäge zu den beiden Grund» 
pfeilern aller erfolgreichen Erziehung, der Autorität auffeiten des 
Erzieher und der Pietät feitend des Zöglings. Die bewußte 
und freie Einwirkung erftredt fi) auf die Beichaffenheit, Bil- 
dung und Ausbildimg bed Leibes. Eine Einwirkung auf das 
geijtige Leben findet nur unbewußt ftatt durch die Mutter⸗ 
ſprache, durch Volkspoefie, Anfänge bildender Kunſt und Sprud 
weisheit. So haben auch die Naturvöller an der aktiven umd pafs 
fiven Erziehungsfähigkeit entfchieden teil, ja einige von ihnen haben 
fich felbit auf eine Stufe erhoben, weldye es zweifelhaft madht, ob 
man fie nicht zu den Kulturoöffern rechnen foll, die Meritaner 
und Beruaner. Über fo anerfennendwert auch ihre bedeutfamen 
Anfänge wirklichen Kulturlebens find, zumal da fie höchſt wahr- 
fcheinlih autochthon find, fo Haben doch auch diefe Völker nicht 
vermocht, den auf ihnen liegenden Bann de Natürlichen mit 
klarem Bewußtſein eines höheren Zieles und freier felbftthätiger 
Geiftesfraft zu durchbrechen. 

Die Chineſen, S.59—87. Sie find ein Kulturvolk, deffen 
nach verfchiedenen Seiten hin reich entwicelte Kultur Anerkennung, 
ja Bewunderung verdient. Aber diefer Kultur ift dod eine ber 
ſtimmte Schranke geſetzt; fie erhebt ſich aus einer mechanifchen 
und technifchen Fertigkeit nach beitimmten äußeren Regeln nicht zur 
freien geiftigen Produltinität und dient nur praftiichen Intereſſen. 
Diefe Eingefchränttheit des chineſiſchen Geiftes und Lebens findet 


Geſchichte der Erziehung ꝛc. 587 


ihren unmittelbarften und prägnanteften Ausdrud in der Religion 
der Chinefen, die über den Standpunkt eines nüchternen abftraften 
Deismus nicht hinauskommt und ganz in die Moral aufgeht, welche 
auch nur durch ftete Beziehung auf das im bürgerlichen Leben 
Nützliche beftimmt if. „Daß nur nit dur ordnungsmwidriges 
Berhalten die von Thian in die Welt hineingelegte Harmonie ges 
ftört werde”, das ift e8, was die Moral der chineftichen Religion 
fordert. So wird die Ordnung auf das entjchiedenfte gewahrt. 
Sie ruht hier auf der feften Naturbafis der Familie. Die fitt- 
liche Gefinnung der Pietät ift die eigentliche Kardinaltugend des 
hinefiihen Volles. Auch der Staat trägt durchaus Familien⸗ 
mäßigkeit. Und darum hat das geſamte Staatswejen Chinas einen 
pädagogifchen Charakter empfangen. Das ganze chineftfche Neich 
ift eine große Kinderftube, welche infolge bes uralten Beſitzes 
einer Schrift und reichen Litteratur zugleich eine große Kinder» 
ſchule ift. Die bis in das einzelnfte genauen pädagogijchen Ein⸗ 
richtungen Chinas werden nad biefer Grundlegung anziehend ges 
fchildert. Das Reſultat aber ift doch: Auch dem chinefischen Er» 
ziehungswejen ift eine Schranke gefett, über welche hinauszukommen 
es weder vermag noch auch verfucht. Es ift ein warnendes Erempel 
für alle, welche durdy äußere Normen erreichen zu können meinen, 
was nur der felbftthätigen und freien Bewegung des Geiftes ge⸗ 
lingen kann, welcher das leitende Gefeg mit Freiheit in ſich auf⸗ 
genommen und zu feinem Lebensprinzip gemacht Hat. 

Die Inder, ©. 87—115. Ihre Religion war urſprüng⸗ 
{ich eine frische Verehrung lebhaft empfundener und phantafievoli 
perjonifizterter Naturfräfte. Nach ihrem Vordringen über Vorder- 
indien vollzog fih, für das Erziehungsweſen von entfcheidender 
Bedeutung, die Ausbildung des Kaſtenweſens und die Umbildung 
ber Volksreligion der Veden in eine Priefterreligion, den Brah⸗ 
mantömus, welcher die höchſte Lebensaufgabe des Menfchen darin 
fand, in treuer Erfüllung der vorgefchriebenen Pflichten, ganz bes 
fonder8 aber in felbftverleugnender Büßung und Abkehr von ber 
Welt danach zu tracdhten, daß feine Seele zu Brahma ſich wieder 
erhebe, ja völlig mit eins werde und in ihm aufgehe. Der 
Buddhismus ift Hierzu nicht ein Gegenfaß, fondern das Subli⸗ 

Theol. Stub. Jahrg. 1885. 38 


588 Schmid 


mat des Brahmanismus; er ſetzt ſogleich bei der höchſten Stufe 
der Vervollkommnung ein, ohne fi) um die Vorftufen im Brah—⸗ 
manismus zu kümmern, Hält fi) an bie abfolute Stufe des Nir- 
wona, und er macht dieſes felige Gut zu einem allgemeinen 
Gute, womit er prinzipiell das Kaftenweſen durchbricht. Bei Be⸗ 
ſprechung der alſo bedingten Erziehung der Inder wird von der 
Familie ausgegangen, ber Wert des Kinderbeſitzes und die niedrige 
Stellung der Frau betont und gezeigt, wie die Kindererziehung durch 
beſtimute Geſetze zur heiligſten Pflicht gemacht und geregelt war, 
alferdings jo, dag das äußere Zeremoniell befonders berichfichtigt 
ift. Die Leitung der Erziehung und des Unterrichts Liegt in den 
Händen der Brahmanen; fie gilt auch wiederum bejonbers den 
Brahmanenfprößlingen. Diefe Erziehung des Brahmanen wird 
eingehend gejchildert: das Verhältnis des Schülers zum Lehrer, 
der Unterrichtögegenftand, die Beden, fo daß alle Disziplinen zu 
Bedangas werden, d. h. zu &liebern oder Zweigen bes Beda, 
bie Methode des Unterrichts. Aber dieſer erklufive brahmaniſche 
Unterricht hat das reichentwickelte geiftige Leben der Inder nicht 
allein hervorgebracht; dabei haben mitgewirkt die jchon frühzeitige 
felbfttHätige Beteiligung an dem religiöfen Gedankenleben, Extra- 
ftunden bei anderen Lehrern, die lebendige Fühlung mit der reichen 
nationalen Poeſie und die Kenntnis der Schrift. Das Haupt 
refultat der Betrachtung des indischen Erziehungs- und Unterrichts 
weſens ift trogdem die Wehrnehmung, daß die Inder inbezug auf 
die Organifation des Volksunterrichtes hinter den Chineſen weit 
zurücbleiben, die mechanifche Methode im ganzen mit ihnen teilen, 
und dag vielmehr tn der geiftigeren Weltanfchauung nnd ber tie- 
feren, volleren uud Lebendigeren Auffaffung des Weſens der Gott: 
beit und ihres Verhältniſſes zur Welt trog allen Ausichreitungen 
des indischen Geiftes der weſentlichſte Dienft zu fuchen ift, welchen 
das indifche Volt der Erziehung der Menfchheit geleitet hat. 

Die Berfer, S. 115 — 137. Nachdem Goethes Lob der 
älteren PBerjer in den Noten zum weftöftlichen Diva mitgeteilt umb 
modifizgert worden ift, wird die perfifche Religion mit ihrer dna- 
liſtiſchen Grundanſchauung gejchildert. Ihre Vorzüige vor der in- 
diſchen Weltanſchauung find: die Sonzentration ber verſchiedenen 


Geſchichte der Erziehung zc. 289 


Gottheiten um zwei Grundprinzipien, deren ethiſche Beitimmtheit 
und die dadurch bedingte Yorderung an den Menſchen, fich von 
dem Einfluſſe Ahrimans frei zu maden und in den Dienft Or- 
muzds zu ftellen. Sodann werben die heiligen Schriften, die aud) 
bier die fefte Grundlage für die Erziehung, insbefondere für den 
Unterricht boten, harafterifiert. Der priefterliche Unterricht für 
die Prieſterſöhne umd für weitere Kreife Hatte zum eigentlichen 
Lehrziele, dem Schüler den Inhalt der Heiligen Bücher möglichft 
genan und vollftändig einzuprägen. Daneben war die veligiöje Er⸗ 
ziehung wejentlich auf die Ausführung beftimmier Kultusformen ges 
richtet. Aus den ergänzenden Berichten abendländifcher Schriftfteller, 
fo des Herodot und Zenophon, geht Hervor, daß den Belennern 
der Lichtreligion als eigentliche Grundtugend die Wahrhaftigkeit in 
Wort und That erfhien. Am Schluß wird der mächtige und not» 
wendige päbagogifche Einfluß der religiöſen Grundanfegauungen bes 
Aveſta noch einmal betont, zugleich aber auch auf die Schwächen 
der perfiichen Volkstümlichkeit und Erziehung aufmerkſam gemadht, 
deren Grund nit, wie man in alter umd neuer Zeit gemeint, in 
unansgebildetem Denfvermögen ruhe, fondern in der religiöfen An⸗ 
fchauung der Perjer, die doch nur Naturreligion war. 

Die Semiten, insbejondere die Affiyrer, ©. 137 
bis 153. Es wird zunäcdft der Unterſchied der indogermanifchen 
und der ſemitiſchen Vollstümlichleit als ber eimer vorberrichend 
objeftiven und eimer vorherrfchend fubjeltiven Richtung feftgeftelit 
und im einzelnen nachgewiefen. Unter Zurückweiſung der Renan⸗ 
fhen Hypothefe wird fodann die Eigentümlichkeit der ſemitiſchen 
Religion mit ihrer Abftraltion umd Konzentration gejchildert: feine 
eigentliche Mythelogie, weil fih der Semite nur an das Hält, was 
die Götter für ihn bedeuten, nicht an das, was fie au fich waren 
und find; die Naturkräfte nicht perfonifiziert, fondern unter allge» 
meine Begriffe zufammenfaßt; das Element des Kultus beſonders 
hervortretend und zwar mit außerordentlicher Intenfitüt der fub- 
jeftiven Beteiligung. Bezüglich der jemitifchen Erziehung werben 
die Notizen bei Cicero, Cenforius, Diodor und im Buche Daniel 
angeführt, auf die wir bier zunächſt bejchränkt find. Am Schluffe 
aber wird darauf hingewieſen, daß ſich durch die Entzifferung der 

38 * 


590 Schmid 


aſſyriſchen Seilinjchriften die Ausficht eröffnet, die Kunde von ber 
affyriichen Erziehung aus dem Bereiche begründeter Vermutung in 
den urkundlich beglaubigten Thatfachen erhoben zu fehen. 

Die Ägypter, ©. 153—177. Nach einem Überblick über 
die Entzifferung der Hieroglyphenſchrift der Ägypter wird nad 
Herodots Ausſpruch, daß Ägypten ein Geſchenk des Nil fei, nad 
gewiefen, daß die uralte ägyptifche Kultur großenteils ein Produkt 
diefes Stromes fet, hierauf eine Überficht der Gefchichte des Volkes 
gegeben und fodann feine Religion dargeftellt als die eigentlich be 
gründende und beftimmende Macht des eigentümlichen nationalen 
Lebens, wie es fih in Kunft, Wilfenfchaft, Erziehung und Unter 
richt bekundet. Bezüglich letzterer wird die Zielbewußtheit und 
Planmäßigkeit betont und gefchildert. Hieran ſchließt fich eime 
febendige Schilderung der großartigen Erziehungs» und Unterrichts 
anftalten Ägyptens mit ihren Einrichtungen und Disziplinen. AL 
die alles beſtimmende Eigentümlichkeit ergiebt fich die Tendenz der 
ägyptifchen Erziehung, das von den Göttern felbft ftammende hei- 
fige Erbe ber Väter dem heranwachlenden Gefchlechte rein zu über⸗ 
liefern und zum vollen Eigentume zu machen. Diefe Gebundenheit 
an eine unverbrüchliche Überlieferung hemmte aber bie freie Ent- 
wicelung und Bewegung des Individuums und bie Angftlichkeit, 
alles Neue fernzuhalten, jeden lebendigen Fortjchritt, wozu noch die 
ftete Beziehung aller Wiſſenſchaft und Kunft auf die praftifchen 
Lebenszwede als hemmende Schrante tritt. 

Geſchichte der Erziehung bei den klaſſiſchen Völ— 
fern!) A. Die Griechen, S. 178— 257. Zunädft wird 
ein Überblick über bie Gefchichte der Erziehung in Griechenland ge- 
geben: die heroiſche Zeit, die homerifche Zeit und die Blüutezeit. 
Sodann werden die griechiſchen Erziehungstheoretiker behandelt. 
Hierauf folgt eine eingehende und fefjelnde Darftelung der grie 
hifchen Erziehung nach den drei Erziehungsperioden: der häuslichen 
Erziehung, der öffentlichen Erziehung nad ihrer gymnaſtiſchen und 
muftichen Seite, und der Erziehung im Alter der Ephebie: a) die 

1) Diefe Überfchrift iſt den bisherigen nicht entfpredhend. Nach der Ein- 


leitung, S. 16f., und ber ©. 58 ftehenben Überſchrift mußte fie Tanten: Die 
Kulturvölker des Occidents und das A und B wegfallen. 





Gefchichte der Erziehung ıc. 591 


gymnaſtiſche Fortbildung, b) die Vollendung der mufifchen Aus» 
bildung und zwar vorzugsweife durch Beredſamkeit und Philofopbie 
(und bier eine kurze Darftellung der griechiſchen Philoſophen). 
Bei Beiprehung der gymnaftifchen Erziehung wird die religiöfe 
Bedeutung der Feftfpiele hervorgehoben, bei der Darftellung ber 
mufifchen Erziehung die religiöfe Erziehung behandelt. Als das 
mit Bewußtjein feitgehaltene Ziel der griechiſchen Erziehung er« 
Scheint befonderd in der Blütezeit die Harmonische Ausbildung der 
Seele zur Selbftbeherrfchung und Befonnenheit, de Leibes zur ges 
funden Kraft, Schönheit und würdigen Haltung. 

B. Bei den Römern, ©. 258—293. Begonnen wird 
mit einer Befprechung der geographifchen Bejchaffenheit des Lan⸗ 
des, die zugleich den römischen Charakter bedinge, das fefte, ftarte 
Wollen, das felbftverleugnende Handeln aus Pflicht, das beharrliche 
Streben nad) Far erlannten Zielen und das aufopfernde patrio⸗ 
tiihe Thun. Diefer urfprüngliche Charakter erhielt fi), wenn⸗ 
gleich nach den erften Jahrhunderten ſtufenweiſe fintend, in ber 
Geſchichte der Römer, auch in der ihrer Erziehung, in welcher ſich 
deutlich drei Perioden unterfcheiden Tafjen, deren erfte bis zum 
Zweiten punifhen Kriege, deren zweite bis zum Untergange der 
Republik reiht. In der erften Periode war bie Erziehung ftreng 
und rein; in der zweiten nahm fie Elemente auf, die wohl den 
Unterricht bereicherten, aber feine erziehende Kraft ſchwächten; in 
der dritten ſchwand mehr und mehr die nationale Eigentümlichkeit 
und machte einem farblofen Kosmopolitismus Plag. Nachdem ſo⸗ 
dann das römifche Familienleben, die hohe Stellung der Frau und 
deren erzieheriicher Einfluß gejchildert worden ift, wird der Unter» 
riht auf den drei Unterrichtöftufen. ausführlich dargeftellt: ber 
elementarifche, der grammatifche und der rhetorijche, als deſſen Ab» 
jchluß der Unterricht im Jahre des Tirociniums folgte, entweder 
das tirocinium militiae oder das tirocinium fori. Das ab—⸗ 
jchließende Urteil über die römische Erziehung ift: fie war ledig» 
ih national und weſentlich praftifh, durchaus keine menfchheitliche; 
finden ſich hin und wieder, befonders in der Kaiferzeit, Fortfchritte 
zu freierer Humanität, jo find fie nicht aus dem alten und eigent- 
lichen Römertume erwachjen. 


592 Schmid 


Das Bolf der vorbereitenden Offenbarung, die 
Israeliten, S. 294—333. Nahdem die altteftamentliche Re⸗ 
. ligion aufs neue, vgl. S. 16 und 143, als eine geoffenbarte Re- 
ligion dargethan und in ihrer Erbabenheit über den natürlichen 
Religionen charakteriftert worden ift, wird gezeigt, wie die gefamte 
Geichichte des Volles Israel eine Gefchichte der göttlichen Er: 
ziehung iſt. Durch diefe war bedingt die Erziehung innerhalb des 
Volkes. Durch die Religion waren die Faktoren rechter Erziehung 
gegeben: die Anerkennung der eingebornen Würbe eines jeden Men⸗ 
fen, die nicht bloß natürliche, fondern geheiligte Liebe der Eltern 
zu den Kindern und bie Tindliche Pietät. Durch den Charakter der 
geoffenbarten Religion war ferner bedingt die abfichtliche und aus 
brüdliche Unterweifung und ald Summe aller päbagogifchen Weis 
beit der Spruch: „Die Furcht des Herrn ift der Weisheit An- 
fang." ALS Unterrichtsmittel ergeben fih Schriftlunde und Schrift- 
gebranh. Ein regelmäßiger öffentlicher Unterricht fand nicht ftatt. 
Seit dem Jahre 722 vollzog ji die Umwandlung, daß an Stelle 
der Prophetie die Weisheitölehre trat; aber auch da ward der 
Nachdruck nicht auf bloßes Unterrichten, jondern auf die Erziehung 
für das Leben gelegt. Erft in der nacderilifchen Zeit kam durch 
das Schriftgelehrtentum ein dibaktifcher Zug in die Erziehung und 
fand ein Unterrichten von Schülern ftatt; aber auch in biefer 
Zeit gab es keine eigentlichen öffentlichen Schulen, denn die Sy- 
nagogen dienten dem Zwecke, das ganze Bolt zu gründficher 
Kenntnis und gewiſſenhafter Ausübung der väterlichen Religion 
zu erziehen. Nachdem ſodann die Schriften pädagogifchen Inhalts 
aus der naceriliihen Zeit beſprochen worden find, wird bie 
Stellung des Volles Israel in der Geſchichte der Erziehung 
präcifiert. Es ergiebt fi) als Vorzug der Israeliten vor allen 
vorchriftlichen Völkern, daß Gott felbft durch feine Offenbarung 
zur Erkenntnis feines Weſens als des einen rein geiftigen Gottes 
und ſeines Heiligen Willens als des höchften Geſetzes erzog, 
als Schranke dies, daß der Wille Gottes den Israeliten zu⸗ 
nächſt nur als äußeres Geſetz gegenübertrat, daß infolge deffen 
in der Erziehung des Volkes Israel das negative Element der 
Zudt vorwiegt. Das gehört zu der Unvolllommenheit des Alten 


Geſchichte der Erziehung ꝛc. 598 


Bundes, wodurch diejer eben als ein nur vorbereitender charakte⸗ 
riftert wird. 


Diefe Inhaltsangabe zeigt, daß Hier ein Wert erftaunlichen 
Fleißes und vielfeitiger Gelehrfamkeit vorliegt. Nehmen wir dazu 
die Kunſt, mit welcher das weitfchichtige Material zufammengefaßt 
ift, und die Kfarheit und Frifche der Darftellung, fo künnen wir 
den Berfaffern Anerkennung und Dank nit verfagen. Es ift 
aud) zweifellos, daß hier ein zeitgemäßes Unternehmen in Angriff 
genommen worden ift, da gewiß bie Leuchte der Geſchichte gerade 
auf dem Gebiete der Erziehung mit feinen vielen, oft weit aus⸗ 
einandergehenden Anfichten und mit feinen mandherlei Experimenten 
fubjektivfter Art und Willkür recht ſehr notthut. Was in der 
Einleitung von dem praftiihen Nugen einer folden Gefchichte der 
Erziehung verheißen wird, kann jeder aufmerffame Pädagoge und 
Erzieher nad der Lektüre diefes Buches an fich jelbft beftätigt 
finden. Und diejer praftifche Zweck ift ficherlih um jo beſſer und 
ficherer erreicht, je weniger derfelbe in der Darftellung in gejuchter 
Weiſe verfolgt und hervorgehoben ift. Die Früchte werben nicht 
abgepflüct zum Genießen angeboten oder gar aufgebrängt, fondern 
bangen am Baume und laden zum Genießen ein. Ich denfe da 
befonders an die Zuſammenfaſſung am Schluſſe jedes Abſchnittes 
und an folche eingeftreute Bemerkungen, wie fie jih 3.8. S. 106. 
183. 190. 198. 222 finden. Aber eben weil das Werf für die 
gebildeten Erzieher mit beftimmt und vorzüglich geeignet ift, ift 
gewiß zu bedauern, baß ein großer Zeil derfelben durch viele ge⸗ 
lehrte Partieen, welche ein nicht geringes Maß von Gelehrfamteit, 
befonder8 die Kenntnis der lateinifchen und griechiſchen Sprade 
vorausfegen, von der Benutzung besjelben ausgefchlofjen tft, und. 
der Wunſch berechtigt, es möchte bei einer zweiten Auflage der 
Anhalt nad) diefer Richtung Hin vereinfacht werden. Daß Dies 
ohne Schädigung der Güte des Inhalts gefchehen kann, beweift 
das Buch ſelbſt auf mehr als einer Seite, befonders die Art, 
wie in das PVerftändnis der chinefifhen Sprache, der Keilinſchriften 
und ber Hierogiyphenjchrift eingeführt wird. Hier wird nur all 
gemeine Durchſchnittsbildung voransgefegt und in lojerem Zus 


594 Schmid 


fammenhange mit dem Ganzen verjucht, biefelbe zu fördern; bort 
wird Eaffifche Bildung und Gelehrfamleit vorausgejeßt: das ift 
eine Ungleichmäßigkeit, welche auffällt. 

Eine andere Ungleihmäßigfeit ber Bearbeitung macht fich darin 
geltend, daß Baur die gejchichtliche Entwidelung der Erziehung 
im großen und ganzen und auch bei den einzelnen Völkern befonders 
berücfichtigt und, wo das irgend möglich ift, aufzeigt und dar⸗ 
ftellt, während Schmid eine abgerundete Darftellung der Erziehung 
bei den Griechen und Römern giebt, ohne den einzelnen Entwide 
lungsſtufen derfelben nachzugehen, obwohl er diejelben nennt und 
kurz charakteriſiert. 

Den Theologen intereſfiert am meiften die in ber Einleitung 
ausdrücklich betonte und dur das Ganze verfolgte Abficht, auf 
geichichtlichem Wege den innigen Zufammenhang der Erziehung mit 
der Religion, der Gejchichte der Erziehung mit der Religions 
gefchichte nachzumweifen. Diefer Nachweis foll vor dem Radikalis⸗ 
mus in der Erziehung warnen umd zur Achtung zwingen por ber 
Religion, welcher „eine fo umfafjende und gewaltig wirfende Macht 
unmöglich innewohnen könnte, wenn fie eine bloße Einbildung wäre“, 
S. 9, zur Wertfchägung beſonders der chriftlichen Religion. Wer 
wollte in unferer Zeit die Wichtigkeit ſolchen Beweiſes Teugnen? 
Wer wollte in unjeren Tagen verfennen, daß folcher Nachweis um 
fo eher und nachhaltiger wirken wird, je mehr er auf das gejchicht- 
liche Gebiet, das Gebiet der Thatjachen verlegt wird? Wer wollte 
fich nicht darüber freuen, daß gerade die allgemeine Religionsgefchichte 
gegenwärtig fo energifch für die Zwede der Apologie ausgebeutet 
wird? Faſt zu gleicher Zeit gefchieht dies in hervorragender Weiſe 
von zwei Seiten in zwiefadher Art. Hier wird mit der Neligions- 
gefchichte in die Innigfte Verbindung gebracht die Gefchichte der Er- 
ziehung, von anderer Seite die fpelulative Theologie (vgl. B. Gloatz, 
Spek. Theologie in Verbindung mit der Neligionsgejchichte, 1. Bd., 
1. und 2. Hälfte, Gotha 1884). Gewiß beides höchſt danfens- 
werte Unternehmungen. Das Unternehmen in bem uns zur Be 
ſprechung vorliegenden Werte aber ift beſonders deshalb bedeutfam, 
weil es als Gefchichte der Erziehung „in den eigentlichen Mittel⸗ 
punkt und Lebensqueli der Kulturgejchichte einführt“. Die 


Geſchichte der Erziehung ꝛc. 595 


eminent apologetifche Bedeutung der KRulturgejchichte aber darf wohl 
gegenwärtig als allgemein anerkannt gelten. 

ft nun jene Abficht erreicht? Wir ftellen die Vorfrage: Iſt 
fie gleichmäßig verfolgt? Hier tritt und wieder ein Hauptunter⸗ 
schied in den Arbeiten der beiden Verfaſſer entgegen, welder der 
Gleichmäßigkeit des ganzen Werkes befonders gefchadet und aud 
die Erreichung jener Abficht zum Zeil verhindert hat. Baur hat 
in der Einleitung und in den von ihm behandelten Abfchnitten die 
Geſchichte der Erziehung mit ber Religion auf das engfte ver« 
fnüpft und durchgehende die Darftellung der religiöjen Anjchau- 
ungen eines Volfes der feiner Erziehung vorangejtellt; Schmid 
dagegen hat die Darftellung ber Religion der Griechen und Römer 
in die Darftellung ihrer Erziehung nur eingeflodhten, fo daß 
der Einfluß der Religion auf die Erziehung nicht auf der ganzen 
Linie erfennbar wird. So gewiß man nun auch die Methode des 
erſteren als die den Grundfägen der Einleitung entjprechendere 
wird bezeichnen müfjen, jo babe ic) doch den Eindrud gewonnen, 
als ob diejelbe nicht immer zum Ziele führte. Wird nämlich die 
Darftellung der Religion eines Volkes zu audfchlieglih und zu 
ausführlich an die Spite geftellt, fo kann man leicht die Fäden 
zwifchen Religion und Erziehung verlieren. Wenigftens tft es mir 
bei der Lektüre des erjten Abjchnittes „Die Naturvöffer“ fo ers 
gangen. Im übrigen aber ift die Aufgabe meifterhaft gelöft. 
Schon die in der Einleitung, S. 12 ff., gegebene überfichtlihe Be⸗ 
ftimmung des duch ihr Weſen bedingten verfchiedenen Einfluffes 
der natürlichen und geoffenbarten Religionen auf die Erziehung iſt 
vortrefflich. Wie deutlich erkennt man ferner den Einfluß der res 
Tigiöfen Anjchauungen auf die gejamte Erziehung bei den Chinefen, 
Indern und Perfern. Wie fein wird der Unterſchied zwiſchen der 
hinefifchen und indifchen Erziehung auf den Himmelweiten Unter⸗ 
Ichied der Weltanichauungen der Chineſen und der Inder zurück⸗ 
geführt, S. 94. 95. 102. Wie anfchaulic) wird wiederum die 
Erhabenheit der iranischen Welt» und Religionsanfhauung über der 
indiſchen und beider entfprechend verfchiedene Einwirkung auf das 
gejamte nationale und foziale Leben dargeftelt, S. 121. Wie 
wird bio in das Einzelne nachgewiefen, daß bei den Ägyptern bie 


596 Schmid 


Religion die eigentlich begründende und beftimmende Macht des 
eigentümlichen nationalen Lebens geweſen ift, S. 163 ff. Wie tref- 
fend wird aus der Eigentümlichkeit der indifchen Weltanfchauung 
heraus der Umftand erflärt, dag in Indien das Verhältnis des 
Schülers zum Lehrer als Heiliger galt denn das zu Vater und 
Mutter, ©. 106. Wie fchlagend wird das fittlich thatkräftige 
Leben ber Perfer und der Ägypter im LUnterfchiede zu der müßigen 
Beichaulichkeit der Inder darauf zurücgeführt, daß jener Religionen 
eine jenfeitige Vergeltung für das irdifche Leben lehrten, ©. 133. 165. 
Mit welcher Konfequenz wird im letten Abfchnitte der für die 
Erziehung in jeber Beziehung maßgebende Charakter der geoffen- 
barten Religion Israels betont und aufgezeigt. 

Aber auch der gelungenfte Beweis in diefer Richtung kann 
nicht Schon und allen gegenüber ein Beweis für die objeltive Re⸗ 
alität der Religion fein. Ich betone dies, weil das vorliegende 
Werk eine entfchiedene apologetifhe Tendenz bat, und weil in feiner 
Einleitung da, wo es ſich um die Bedeutung des Gegenftandes 
handelt, die Behauptung fteht, daß die Neligion, welche auf das 
gefamte menfchliche Leben, wie auch auf die Bildungsidenle den 
wejentlichiten beftimmenden Einfluß ausübe und ſich dadurd) als 
eine umfafjende und gewaltig wirkende Macht bewähre, eben des⸗ 
halb feine bloße Einbildung fein fünne, ©. 9. Diefe Behauptung 
muß die Apologetit beanftanden. “Denn daß die Religion eine um⸗ 
faffende und gewaltig wirkende Macht im Menfchen- und Völker⸗ 
leben fei, leugnen auch viele von ‘denen nicht, welche alles Reli- 
giöfe nur als ein Subjektives auffallen und gelten laſſen wollen. 
Ihnen kann man auf dem Wege des praftifchen Beweiſes oder 
durch gefchichtliches Material nicht beitommen, fondern nur durch 
metaphufifche Erörterung. Ich bemängele jene Behauptung als 
eine ütbertreibende befonders auch deshalb, weil ich fonft in dem 
Buche eine große und anerfennenswerte Vorſicht gerade in ber 
apologetifchen Verwertung des Materials der allgemeinen Religions 
geihichte geübt finde. Wohl ift an einem urfprünglichen Mono⸗ 
theismus feftgehalten, aber auch betont, daß berfelbe nur in der 
urfprünglihen Ahnung der unfichtbaren Gottheit als einer einheit- 
lihen Macht beftanden haben, nur ein monotheiftifcher Zug ges 


Geſchichte der Erziehung ıc. 59% 


weien fein könne, und mehrmals davor gewarnt, Neligionsformen, 
welche nur auf der erften Stufe der Entwidelung ftehen geblieben 
find, als der urfprünglichen reinen Gottesoffenbarung näher ftehend 
anzufehen, bejonders vor einer Überfchägung der chinefifchen Re— 
ligion gegenüber der mythologiſchen Religion nad) diefer Richtung 
Bin gewarnt, ©. 10, 63. 66. 164. Nicht aber wollte ich durch 
obige Einſchränkung den apologetifchen Wert des Werkes überhaupt 
bemängeln. Diejen erfenne ich vielmehr bereitwilligft und in weitem 
Umfange an. Das Werk ift durch die innige Verbindung, in 
welche e8 Erziehung und Religion jet, durch den gefchichtlichen 
Nachweis diefer Verbindung vorzüglich geeignet, die Achtung vor der 
Religion bei vielen zu heben, bei denen, welche die Bedeutung der 
Religion für das nationale und foziale Leben eines Volles zu ver- 
kennen und zu unterfchägen geneigt find, den qualitativen Unterfchied 
zwifchen der natürlichen und geoffenbarten Religion deutlich ertennen 
zu laffen, ben Vorzug der geoffenbarten Religion vor aller natürlichen 
Religion und den entjcheidenden Wert des Chriftentums für die 
Erziehung, feine umgejtaltende Macht auf einem fo weiten und wich⸗ 
tigen, wir dürfen auch fagen, neutralen Gebiete in Klarfter und 
eindringlichfter Weife aufzuzeigen. Hierin liegt die große apologe- 
tifche Bedeutung des Werkes, die ihm nicht wird beftritten werden 
fönnen, um deren willen e8 .die volle Beachtung und Anerlennung 
der Chriften und Theologen verdient. 

Wenn ich fchließlich noch einige Bemerkungen zu den einzelnen 
Abſchnitten diefes erften Bandes machen foll, fo finde ich, daß im 
ersten Abfchnitte „Die Naturvölker“ zu wenig Gewicht gelegt ift 
auf die erzieherifche Bedeutung der Stammesfitte und der Stammes» 
fagen der fogenannten Naturvölfer. in mit dem Religionsweſen 
der Naturvölfer fo vertrauter Mann wie Roskoff, auf den ja. 
auh Baur Bezug nimmt, fagt in feiner Schrift „Das Religiond- 
wesen der roheften Naturvölfer“, Leipzig 1880, S. 146f.: „Fragt 
man den Wilden, warum er biefe oder jene Sitte zu beobachten 
fich verpflichtet Halte, fo ift die gewöhnliche Antwort: weil fie von 
den Vätern herftammt. Die Sitte fteht auch dem Wilden als 
traditionelles Geſetz gegenüber, dem er fich fügt. Die, Wilden ges 
nießen daher nicht einer ſchrankenloſen Freiheit, wie häufig geglaubt 


598 Schmid 


wird, fie unterliegen „einem tyranniſchen Codex”, find Sklaven des 
traditionellen Gefeges. Gegenüber dem Stammesbewußtfein, das 
fih in der Sitte ausdrüdt, fühlt fi das Einzelbemußtfein uns 
mädtig und muß fich felbftverleugnend jenem fügen“. Dieſer 
Faktor in der Erziehung der Naturpölfer ift zu wenig betont. 
Nicht minder wichtig für die Darftellung und Beurteilung diefer 
Erziehung ift das nachgewiefene Vorhandenfein von Stammesſagen 
bei den Naturvölfern und die Art, wie diefe Sagen religiöfen und 
nationalen Inhalts von Geſchlecht zu Gefchlecht überliefert wur- 
den. Auf diefe Überlieferungen ift zwar au von Baur, ©. 47, 
al8 auf ein befonders wirkſames Erziehungsmittel hingewieſen; 
aber diejelben werden meines Erachtens zu kurz abgethan und nicht 
genug geihägt. Wenn wir hören, daß es bei den BPolynefiern 
einiger beftimmter Samilien Pflicht und Lebensberuf war, die ihnen 
anvertrauten Legenden und Gefänge unverfehrt von Geichlecht zu 
Geſchlecht zu überliefern, daß es Erbpflicht der älteften Söhne in 
diejen Familien war, biefelben mit wörtliher Treue zu lernen, zu 
üben und zu lehren, daß fih auf manden Inſeln alle bedeutenderen 
Sagen in Profa und Poefie fanden und die poetifche Bearbeitung 
als Kontrolle der dem Wechſel leichter ausgeſetzten Projaerzählung 
galt ?), dann müfjen wir wohl fagen: Es gab auch bei den Natur: 
pölfern eine bewußte Einwirkung „der älteren auf die jlingere 
Generation aud in geiftiger Hinfidht, ja fogar eine Erziehung im 
engeren Sinne, einen nicht einmal unmethodifchen Unterridt. Zu 
gleich ergiebt fich hier deutlicherweife das günzliche Verwachſenſein 
der Erziehung mit den religiöjen Anfchauungen bei diefen Völkern. 
In dem zweiten Abjchnitte „Die Chineſen“ ift mit Recht her» 
vorgehoben das Eigentümliche der chinefiichen Erziehung, daß als 
das einzige Ziel des Unterrichtes gilt, das beftimmte überfommene 
Maß von Kenntniffen und Wilfenfchaften dem jüngern Gefchlechte 
zu übermitteln, fo daß aud das Willen der Gebildetften nicht über 
den Bereich ihres Landes und Volkes hinausgeht; aber es konnte 
vielleicht auch darauf hingewiefen werden, da e& ſich um Die ge- 


1) M. Müller, Borlefungen über den Urfprung und bie Entwidelung 
der Religion. Straßburg 1880. ©. 82 ff. 


Geſchichte der Erziehung x. 599 


ſchichtliche Entwickelung der Erziehung auch bei den einzelnen Völ⸗ 
fern handelt, daß die Chinefen in neuerer Zeit Verfuche über jene 
enge Schranfe hinaus gemacht Haben, daß die Regierung Anftalten 
gegründet hat, in welchen Chinefen eine Ausbildung erhalten, welche 
die Ausländer mit ihrer überragenden .und vielfeitigen Bildung er» 
fegen fol. Gerade in diefem fcheinbaren Fortfchritte zeigt fich die 
ganze Beſchränktheit des chinefifchen Weſens. 

Im Anichluffe an die Naturvölker ſpricht Baur auch von den 
Merilanern und Peruanern und weift auf deren entwidelte Kultur 
hin, die um fo bewundernswerter ift, al8 fie gewiß für eine autoch⸗ 
thone zu gelten bat. Hier ift aber nicht genug hervorgehoben, daß 
bei diefen Völkern neben der Höher entwicelten Kultur und beifer 
organifierten Erziehung aud höhere religiöfe Anſchanungen ſich 
finden. Ihre Gottheiten repräfentieren die höheren Naturmüchte 
und Naturerfheinungen; der Sonnengeift, bei deſſen Erfcheinen alle 
Geifter fterben, wird auch der Geiſt fchlechthin genannt. Nicht 
minder bedeutfam tft, daß mehrere Fürften jener Völker verfucht 
haben, eine neue höchfte Gottheit einzuführen, welche feine Bilder 
hatte noch Meenfchenopfer forderte. Und es ift nicht abzufehen, 
wohin dieſe felbftändige Entwidelung geführt haben würde, wenn 
fie nicht durch die fpanifche Invafton unterbrocden worden wäre 
(ogl. Tiele, Peruaner und Mexikaner). 

In dem Abjchnitte „Die Inder“ würde ein genaueres Ein- 
gehen auf die Entwidelung des nachbuddhiſtiſchen Brahmanismus 
und auf feinen Verfall in der neueren Zeit, ein Hinweis darauf, 
daß derfelbe nur noch den Eindrud eines großen Trümmerhaufens 
macht, und daß die Brahmanen, denen die Erziehung bauptfächlich 
obliegt, in fittlicher Beziehung tief gefunfen find, während das Volt 
immer mehr in groben Gößendienft verfällt, ein wirkfamer Beleg für 
die in der Einleitung mit Necht gemachte Behauptung gemefen fein, 
dag die natürlichen Religionen und mit ihnen die Völker dem 
Naturprozefie des Werdend, Blühens und Vergehens unterworfen 
find. Berner vermiffe ich bier bei der Beurteilung des Buddhis⸗ 
mus, S. 101, den Hinweis darauf, daß derfelbe infolge feines 
innerften Wefens, weil er das Dafein nur al8 Duelle von 
Schmerzen und Qualen auffaßt und auffaffen Iehrt, außer Stande 


600 Schmid 


it und auch thatſächlich nicht vermocht hat, jeine Anhänger einer 
fo volllommenen Zivilifation zuzuführen, wie fie das Chriftentum 
bewirkt hat. Diefe Erfenntnis dürfte in der Zeit der Zivilisation 
beſonders geeignet fein, die modernen Schwärmer für den Bud 
dhismus zu ernüchtern, jener Hinweis dem Charakter des ganzen 
Buches befonders entiprechen. 

An dem Abfchnitte „Die Perſer“ muß ich die Art beanftan- 
den, in welder Zoroafter die Ausbildung des parfifchen Dualis- 
mus zugefchrieben und reformatoriſche Bedeutung abgefprochen 
wird. Das läßt ſich mit Sicherheit nicht behaupten; vielmehr 
liegen beacdhtenswerte Gründe vor, welche befonders von Bunfen, 
Gott in der Gefchichte, II, 1. Abfchnitt, und von Tiele, Roms 
pendium der Religionsgeſchichte, S. 191, und vor allem ©. 204, 
hervorgehoben worben find, und welche es wahrjcheinlicher machen, 
daß der parſiſche Dualismus bereits beftand, als Zorsafter wie 
ein Reformator auftrat und im Gegenfage zur beftehenden Re⸗ 
figion den höchſten und einigen Gott Ahura mazdao verkündigte, 
daß aber jpäter diefer geiftige Gott mit dem guten Geifte der alt 
perfiichen dualiftiichen Religion identifiziert wurde. — Auch in 
dieſem Abfchnitte wäre eine Schilderung der jegigen PBarfis, etwa 
in der Art, wie fie uns M. Müller in feinen Eſſays gegeben 
bat, nicht ohne Wert geweſen. 

Ebenſo vermiffe ich bei der Beſprechung der Ägypter eine 
Schilderung des DVerfalles der ägpptifchen Religion (Unterdrückung 
durch fremde Eroberer, Eindringen griechifcher und perfifcher Ele⸗ 
mente) und mit ihr des ganzen nationalen und fozielen Lebens. 

In den beiden Abjchnitten, welche die Erziehung bei den klaſſi⸗ 
ſchen Völkern darftellen, fommt, wie bereits bemerft wurde, das 
Moment der gefchichtlichen Entwidelung zu wenig zur Geltung. 
Und doch ließ ſich gerade Bier Leichter als bei den übrigen vordhrift« 
lichen Völkern eine Gejchichte der Erziehung fchreiben. Wir fennen, 
um zunächſt von den Griechen zu reden, die Gründe des Auf⸗ 
Ihwunges des geſamten griechifchen Lebens; wir wiflen, dag mit 
der Gefeßgebung des Lykurg eine neue, reformierende Epoche in 
der griechiſchen Erziebung begann, fofern diefelbe auf das eugfte 
mit dem öffentlichen Leben verfnüpft wurde, und daß aud der 


Gefchichte der Erziehung ꝛc. 601 


Geſetzgeber Athens der Erziehung ein von allen gleichmäßig zu er» 
ftrebende8 Ziel körperlicher und geiftiger Ausbildung gegeben hat. 
Ebenſo erfichtlich find die Gründe des Berfalls, der mit dem pelo⸗ 
ponnefischen Kriege begann. Die alte Zucht erhielt durch diejen 
Krieg den empfindlichften Stoß; fremde Bildungselemente drangen 
ein; der wiſſenſchaftliche Unterricht ward erweitert und gefteigert, 
aber die Erziehung wurde jchlaffer. Bei den Römern ferner 
find ©. 260 die drei Perioden der Entwidelung der Erziehung 
wohl genannt und charakteriefiert; aber es ift das nicht, wie es nad) 
vielen eingeitreuten Bemerkungen vortrefflich hätte gejchehen fünnen, 
durchgeführt. Ich verweife auf ſolche bezeichnende Wandelungen 
der römiſchen Erziehung, wie fie ©. 272. 278. 281 und 286 ff. 
hervorgehoben find. 

Diefe Bemerkungen follen Ergänzungen und Berichtigungen fein, 
ber Berücdfichtigung der Verfaſſer anheimgeftellt, nicht ein Tadel 
über das Buch. Vielmehr miederhole ih: Es ift ein bedeutendes 
Unternehmen in Angriff genommen. Möchte es fo fortgefegt wer- 
den, wie es begonnen worden ift! Möchte das Werk viele auf⸗ 
merkſame Lefer unter den Gebildeten finden, auch unter den Theo⸗ 
Togen, welche fi für die apologetifche Bedeutung der Kulturgefchichte . 
und der allgemeinen Religionsgeſchichte intereffieren ! 


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Bit, CH. U: Ulrih Zwingli. Vorträge 


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Die für die Theol. Studien und Kritiken bejtimmten Einfendungen 
find an Profeſſor D, Riehm oder Konfiitorialrath D. Köſtlin in 
Halle a / S. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Xitel 
genannten, aber bei dem Nedaktionsgefchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re-- 
daftion bittet ergebenjt, alle an fie zu fendenden Briefe und Pakete 
zu franfieren. Innerhalb des Poftbezirfs des Deutfchen Reiches, ſowie 
aus Oſterreich Ungarn, werden Manuftripte, falls fie nicht allzu 
umfangreich find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht 
überfteigen, am beften als Doppelbrief verjendet. 


. Friedrich Andreas Perthes. 





t 


Inhalt. 


— 


Abhandlungen. 


. Dorner, Dem Andenken von D. 3. A. Dorner 
2. Weiß, Über das Wefen des perfönlichen ae Gm Ar⸗ 


tifel) . 


. Klöpper, Der — Flicken rin das "alte Kleid, "Der n nene 


Wein und die alten Schläuche. 


Gedanken und Bemerkungen. 


Hering, Der Streit über die Echtheit eines Lutherfundes 
.Buchwald, Noch eine Bemerkung zu dem Streite Luthers mit dei 


Wittenberger Stiftäherren, 12324 2 2 2 nenn 


Rezenſionen. 


.Franke, Das alte Teſtament bei Johannes; rez. von Riehm . 
. Schmid, Geſchichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unfere 


Zeitz re3. von Stende 


Drud von Friedr. Audr. Verthes in Gotha. 


SEASTIERTT SERIIELTL 


















2 


— 
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Fer 22, 





= Theologiſche 
Studien und Kritiken. 









Fine Zeitſchriſt 


für 


das geſamte Gebiet der — 
begründet von 
D. C. Ullmann und D. F. W. €. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. 6. Baur, D. W. Beyſchlag mo D. J. Wagenmann 


herausgegeben 
von 


D. 3. Köftlin un D. €. Niehm. 





Dahrgang 1885, vierfes Heft. 


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— 
© 


Gotha. 
Briedrid Andreas Perthes. 
1885. 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Fine Beitfhrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 
begründet von | 
D. C. Ullmann un D. F. W. C. Umbreit 
und in Verbindung mit | 
D. 6. Saur, D. W. Beyſchlag und D. 3. Wagenmann 


herausgegeben 


D. J. Köſtlin un D. €. Richm, < z 
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—— I "A . 


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— 77 SETEDE > 


— 












— — 





Gotha. 
Friedrich Andreas Perthes. 
1885. 


Abhandlungen. 


l, | 
| Initia Zwinglii 
Beiträge zur Geſchichte Der Studien und der 


Geiftesentwidelung Zwinglis in Der Zeit vor 
Beginn der reformatoriichen Thätigleit. 


(Nach bisher zum Zeil unbelannten Quellen.) 
Bon 


Joh. Aartin Aller, 


Pfarrer in Affoltern bei Höngg (Kanton Zürich). 





Vorbericht. 

Eduard Zeller Hat feinen Artikel „über den Urjprung und 
Charakter des Zwingliſchen Lehrbegriffs“ in den Theol. Jahr⸗ 
büchern 1857, ©. 59 mit der Bemerkung gefchlojjen: „ES wäre 
ber Mühe wert, das Verhältnis des Neformatord zu den an⸗ 
deren Bildungselementen feiner Zeit mit Benugung der Spuren, 
die in feinen Schriften zerftreut Liegen, in ähnlicher Weiſe zu ver⸗ 
folgen (nämlih wie Sigwart das mit Bezug auf oh. Picns 
von Mirandula gethan), und wenn ſich jemand diefer Aufgabe unter- 
ziehen wollte, würde er fi um die Gefchichte der Reformation 
ein entjchiedenes DVerdienft erwerben.” In gegenwärtigem Aufjage 
liegt ein diesbezüglicher Verſuch den Sachverftändigen zur Prüfung 
por. Daß fich bisher niemand an die Aufgabe gemacht, erklärt. 


608 Ufteri 


fih wohl aus der eigenartigen Schwierigkeit derfelben und aus 
der Dürftigfeit der von Zeller angedeuteten Quellen. Das Arbeitss 
material bat fi nun zwar für den Verfaffer diefer Abhandlung 
durch Hervorziehung bisher vergrabener Denkmäler aus Zwinglis 
Lehrjahren einigermaßen vermehrt; doc, ift es noch immer derart, 
daß feine Verwertung nur ein fragmentarifches Reſultat erhoffen 
läßt, und daß die Schwierigkeit der in Rede ftehenden Unterfuchung 
eine wenig verminderte ift. Der Verfaffer muß daher für fein 
Unternehmen auf befondere Nachficht Anſpruch machen. Ein Seiten- 
ſtück zu Köſtlins Theologie Luthers in ihrer gefchichtlichen Ent 
widelung mit Bezug auf die Initia Zwinglii, wie es ihm aller- 
dings als Ideal vorſchwebte, ift, wie jedermann zugeben wird, 
wegen pagenügender Quellen unmuglich. 


Die bei Anlaß der Zwinglifeier in Zürich veranſtaltete, Zwingli⸗ 
Austellung“ förderte nebft anderen Zwinglireliquien auch eine Aus⸗ 
wahl von Büchern aus den Überreften feiner einft der Stifte 
bibliothet Täuflich abgetretenen und nun der Kantonsbibliothek ein- 
verleibten Bibliothet zufgge. Es finden fh darunter verfchiebene 
Werke, die der Reformator fchon in den Fahren des Suchens, 
Sammelns und allmählichen Reifens in Glarus, in Einfiedeln und 
in der Zeit der Züricher Anfänge beſeſſen und ftubiert bat, wie 
fi) aus gelegentlichen Äußerungen in feiner Korrefpondenz ergiebt. 
Daraus läßt fig nun ein wenn auch noch fe fragmentarifcher 
Üherblick gewinnen über bie Bildungsftoffe, mit denen Zwinglis 
Geift in jenen dehrjahren fich Beichäftigte und nährte, was hei der 
-Dürftigfeit dev Rachrichten über jeine Entwickelung, deren man je 
übschoupt nur qus zweiter, ob quch ihm naheftshender Hand melde 
Befit, bei der geringen Zahl feiner aus jeuer früheften Peniobe 
auf. uns, gelommenen Briefe und bei dem gänzlichen Fehlen ſchrift⸗ 
ſtelleriſcher, dns veligiössethlichs. oder theologifche Gebiet beſchlagen⸗ 
der Erzeugniſſe unftzeitig willlommen fein mus. Es mögen zwar 
gerade ſolche Schriften, die am wreiften befruchtend auf ihn ein⸗ 
wirlfen, nicht in ſeinem Beßtze gemeim jan, da fie ihm ſorſt 
irgendwie zugänglich waren, oder da ar ſie, nachdem er ſia geleſen, 


Initia Zwinglii. 009 


Freunden abtrat und nicht wieder erhielt; fo vermißt man z. B. 
unter jenen Überreſten verjchiebene Schriften Luthers, deren Zus 
fenbung ihm laut brieffichen Außerungen verſprochen worden; 06 
mog auch manches im Privatbefig geblieben und im Lauf ber 
Jahrhunderte verloren gegangen fein. So ift es mir 3. B. ned 
nicht gelungen, das Neue Teitament von Erasmnd, das er do 
fiherlich im erfter Ausgabe beſeſſen ?), von dem er feine Abſchrift 
der pauliniſchen Briefe in Einfiedeln genommen und aus deflan Ab⸗ 
netationen er fi) Auszüge für diefelbe gemacht hat, wieder aufs 
zufinden, und doch wäre gerade biefes Wert, au deſſen Hans 
Zwingli wohl zum erftermial dns Raw Teftument im Grundtext 
fernen lernte, von ganz befonderem Juterefſe 2). Nimmt man nun 
aber das noch Borhandene mit allen fonft noch in feiner Korre⸗ 
fpondenz zerftreuten Andeutungen und Winken zufammten, fo evgiebt 
ſich immerhin eine anfehnlihe Summe von Material, defjen Durch⸗ 
ſicht die Kenntnis von Zwinglis Studlen und Gelftesentwidelung 
nicht unweſentlich bereichert. 

Die Bereicherung beſchränkt ſich indeſſen nicht bloß auf eine 
umfangreichere Bekaumtſchaft mit der Litteratur, die bes Reforma⸗ 
tors Geiſt durcharbeitete, und die alfo wohl auch auf die Bildung 
feiner Überzeugungen irgendwelchen Einfluß ausübte; befombere Auf» 
nrerkjansteit verdienen überdies die zahlreichen Marginalien von 
feiner Haud umd die von ihm augeftrichenen oder unterfirichemen 
Stellen im Text. Zwar verteilen ſich diefelben ganz ungleichmäßig 
und find partieenweiſe fehr zahlreich vorhanden, während fie ander» 
wärts, in ganzen und halben Bänden, trag ebenjo wichtigen, 
Zwingli ſicherlich nicht unberührt Taffenden Inhaltes, wiederum ganz 
fehlen. Ste find auch im großen uud gamzen nicht fo bedeutenden 
und bezeichnenden Inhaltes, mie man bei einem angehenden Ne 
formator erwarten könnte, indem fle nicht felten bloße Anhalts⸗ 


1) Opp. VII, p. 15 oben. 

3) Erft nachträglich fand ich auf der Kantonsbibliothel die 2. Auflage de 
1519 (März) mit wenigen Randgloffen, die aber ganz unverkennbar die Schrift- 
züge Zwinglis aufmeien, fo daß — and) ohne Einzeichnung des Namens — 
aller. Jweifel asgefhloflen if. Sogar außen anf den Einbaudvechen findet = 
Hanbſchriftliches von Zroingli. 





610 Ufteri 


punkte für das Gedächtnis darbieten oder als kurze Summarien 
fih darftellen, aljo fein individuelles Gepräge haben und fein per» 
fönliches Urteil enthalten. Das gilt fogar von der Mehrzahl 
der an den Rand gejchriebenen Bemerkungen. Intereſſanter ift im 
allgemeinen die Durchſicht der angeftrichenen Stellen, da man in 
der Regel über die Motive der Hervorhebung derfelben ſich Rechen⸗ 
Ichaft geben kann, und da bei Vergleihung und Zufammenftellung 
diefer Dicta ſich ein ſachlicher Zuſammenhang ergiebt, der auf die 
ethifch-religiöfe Gelftesrichtung des werdenden Reformators ein helles 
Licht wirft. Dean könnte ja freilich fehr irre gehen, wenn man 
diefe Hervorhebungen regelmäßig als Beifallsäußerungen auslegen 
würde; doc liegt es immerhin an folchen Stellen nahe, dies zu 
thun, wo eine unverkennbare Harmonie mit fpäteren Grund 
anfhauungen des Reformators zutage tritt. Handelt es fich vor- 
nebmlih um ethifch-religiöfe Gedanten und um eigentlide Ge 
wifjenswahrheiten, jo wird man es in der Regel unbedenklich thun 
dürfen, während allerdings bei dogmatiſchen oder überhaupt ber 
Diskuffion unterliegenden Ideen größere Vorficht geboten ift. Auf 
jeben Fall aber beweifen die in Rede ftehenden Marginalien und 
Hervorhebungen eine aufmerkſame Lektüre, wie fi) namentlich auf 
aus der unermüdeten Verbeſſerung der Drudfehler auch in Bar 
tieen, wo fonft Randbemerkungen völlig fehlen, und aus häufigen, 
ganz objektiv gehaltenen, die bloße Interpretation oder Emendation 
des Textes beichlagenden Gloſſen ergiebt. Es Teuchtet freilich nad 
dem Geſagten ein, wie fchwierig es ift, bandfchriftlichen Merk⸗ 
zeichen und Noten aller Art, die von dem mit der Feder leſenden 
Zwingli al8 unwilllürlicher Ausdrud feiner Gedanken und Empfin- 
dungen bei der Leltüre aufs Papier hingeworfen wurden — lediglich 
für den Selbſtgebrauch und als Anhaltspunkt für die Erinnerung — 
etwas Gewiſſes mit Bezug auf den Gang feiner Studien, auf bie 
Bildungsgefchichte feiner Überzeugungen und auf die geiftigen Ein- 
flüffe, die auf feine Entwidelung beftimmend eingewirkt haben, ab- 
zulaujchen ?). 


1) Eine ähnliche, wiewohl enger begrenzte Aufgabe hat fich der in den „Stud. u. 
Krit.” 1884 erfchienene Artikel von Hofftede de Groot: „Luther in der Studierſtube“ 


Initia Zwinglii. 611 


Was indeifen der Verwertung diefer Marginalien erft ihren 
eigentlichen Wert giebt, das ift die Möglichkeit wenigitens annähern- 
ber Zeitbeſtimmung. Es Hat fi mir dur Vergleichung ber 
Handſchrift in den noch erhaltenen Autographen der Zwinglifchen 
Briefe ein ficheres Kennzeichen des Schriftcharakters der vorzüriche⸗ 
rifhen Periode ergeben. Während nämlich Zwingli, ehe er nad) 
Zürih kam, den Balken des Kleinen Lateinifchen d regelmäßig 
ziemlich tief unter die Zeile herabzog, that er dies nachher nie 
mehr. Diefe Abweihung in der Schreibweife ift fo charakteriſtiſch, 
daß ich fie durch fümtliche Briefe, die ich verglich, ohne eine ein- 
zige Ausnahme durchweg beftätigt fand. Sie ift daher für mid) 
ein ganz unzweifelhaftes Kriterium, das auch durch gewille Wahr- 
nehmungen bezüglich des Inhaltes gewiffer Randbemerkungen nur 
beftätigt wurde. Einen Grund diefer Änderung in der Handſchrift 
findet man wohl am einfachſten in der Annahme, daß es in Zürich 
nicht Sitte war, das d unter die Zeile herabzuziehen, und daß 
Zwingli fi) der dortigen Schreibart accomodierte 1). Die gemachte 


geftellt. Es ift von Intereffe, die im ganzen viel weniger objeltiv gehaltene 
Art, wie Luther zu gloffteren pflegte, zu vergleichen. Es wäre mir daher auch 
bet Zwingli als Spielerei erfdjienen, aus der graphifchen Beſchaffenheit der 
Anftreihungen irgendweldhe Schlüffe zu ziehen, trotzdem daß fich ebenfalls 
die bei Luther bemerkten Nitancen vorfinden. 

1) Diefe letzte Vermutung, die übrigens von wenig Belang if, wurde mir 
nachträglich wieder zweifelhaft. Da nämlich von ben Ietten Briefen aus Ein- 
fiedeln (1518) bis zu demjenigen an Mykonius vom 26. November 1519 
(Opp. VI, 97 sq.) fein Driginal in Zürich vorhanden ift, erfundigte ich mid), 
um meiner Sache ganz gewiß zu fein, nad) den in Schlettftadt aufbewahrten, 
im Supplement zu Zwinglis Werken abgedrudten Originafbriefen an Rhenan 
aus dem Frühling und Sommer 1519. Here Pfarrer Nied in Straßburg, 
der die Güte hatte, diejelben für mich zu vergleichen, fand, daß noch im Juni 
1519 bHeruntergegogene d, und zwar mit fehr fcharfer Ausprägung, vorkommen, 
daß diejelben Hingegen im Juli verſchwunden feieu und weicheren, mit auf der 
Zeile abgerundeten Ballen Pla gemacht Haben. (Der früher unter die Zeile 
heruntergezogene Ballen war nämlich oft ein ftarker, langer, grabliniger Strich, 
nicht felten aud) war er etwas nad) links eingebogen, in welchem Ball dann 
der Buchſtabe eine weniger fteife, zierlichere Form befam.) Mit dem Brief 
vom 2. Yuli 1519 (Suppl. p. 28) jet die Umwandlung vollzogen. Indem 
durch diefe Wahrnehmung die fragliche Änderung der Handfchrift etwas fpäter 


612 Ußeri 


Entdeckung ift aber darum nicht ohne Bedeutung für die unternom- 
mene Unterfuhung, weil in Werken, die allerdings Zmingli ſchon 
in Einfiedeln befaß und ftudierte, fich doc auch Randgloffen erft aus 
der Züricher Periode ftellenweife (laut angedeutetem Merkmal) vor- 
finden, deren Inhalt dann zuweilen von demjenigen älterer Margina⸗ 
lien bebeutfam abweicht, refp. einen ſehr bezeichnenden Kortfchritt 
in der hriftlichen Erkenntnis bekundet. Am anffallendften tritt dies 
bei jener eigenhändigen Abſchrift der paulinifchen Briefe zutage, die 
Zwingli allerdings ſchon in Einfiedeln mit Randglofjen verfehen, 
die er aber offenbar al& bequeme Taſchenausgabe auch fpäter noch 
benugt und gloffiert hat. Durch Sichtung der Randbemerkungen 
nach dem obengenannten Kriterium, auf das ich zur Zeit der Ab⸗ 
faffung meiner Feftfchrift: „Ulrich Zwingli, ein Martin Luther eben 
bürtiger Zeuge des evangelifchen Glaubens“ noch nicht gefomman 
war, ergab fich mir eine unten näher auszuführende, wichtige Modi⸗ 
flation meiner früheren, in die Teftfchrift aufgenommenen Dar- 
ftellung, foweit fie auf der Prüfung jenes Einftebler-Mtanuftriptes 
beruht. Habe ich es dort allerdings bloß als wahrſcheinlich 
bezeichnet, daß nicht nur der Text, fondern aud die Randbemer⸗ 
tungen aus jener früheren Zeit herrühren mödgten, fo ift mir num 
dieſes mit Bezug auf die einen derjelben zur Gewißheit geworben, 
während e8 mir mit Bezug auf die andern ebenfo feftficht, daß 
dies nicht der Fall ift, und es wird durch eine forgfältige Berück 
fihtigung des Inhalts der einen und der andern das Wefultat 
ber nach dem handfchriftlihen Kriterlum angeftellten Unterfuchung 
beftätigt, freilich nicht zugunften einer fa frühzeitigen Erlenmtnis 
reife, wie fie in der Feſtſchrift ift machgewiefen worden. Rad 
diefen Vorbemerkungen über die Quellen und Materialien, die 
der vorliegenden Studie zugrunde liegen, gehe ich zur Meitteilung 
der zu gewinnenden Aufjchlüffe über Zwinglis Geiftesentwidelung 
über. 


hinabgerückt wird, als oben im Tert angegeben iſt, wurde es mir erllarlich, 
daß in der in einem November 1518 erſt erſchienenen Sammelbändchen Lutheriſcher 
Schriften ſich vorſindenden handſchriftlichen Dedikation Zwinglis an Vadian ned 
die früheren d zu bemerken find. 





Initia Zwinglii. 618 


Die noch vorhandenen Bücher aus Zwinglis Bibliothek mögen 
zwar zum Teil bis in feine Stubienzeit zurückweiſen, doch ift 
darüber jedenfalls nichts Sicheres mehr auszumitteln; aud hat man 
fi) natürlich den Studiengang als in den damals vorgejchriebenen 
Geleiſen fich bewegend vorzuftellen, und was Mykonius in feiner 
Lebensbeſchreibung Zwinglis !) (de H. Zw. vita et obitu $ 5—-9) 
darüber jagt, wird durchaus zutreffend fein. Für die humaniſtiſche 
Richtung, die in feiner Bildung vorberrichte, gab jedenfalls die 
Schule des Wölflin in Bern, die erfte von der Kirche unabhängige 
in der Schweiz, wa Haffifche Studien und ſchöne Künfte getrieben 
wurden ?), einen erften Anſtoß. Weitere Nahrung fand diefe 
Richtung in Wien; denn daß er um berjelben millen fpäter, mn 
namentlih auc fein Freund Badian mit Geift und Erfolg fie 
vertrat, verfchiebene, zuerft von ihm unterrichtete SYünglinge dorthin 
empfahl, ergiebt ſich aus feiner Korrefpondenz, und daB er für die 
Wiener Studien ein bleibendes Intereſſe bemahrte, beweift auch hie 
Dedilation zweier Neben des vielugriprechenden, frühvollendeten 
Glarners Strub, mit der Vadian, ber Herausgeber derjelben, ihn 
beehrte ). Es kann allerdings auffallen, daß ſich nicht die leiſeſte 
Äußerung Zminglis über feine Wiener Eindrücke anffinden läßt, 
da dach während feines dortigen Aufenthaltes gerade die huma⸗ 





1) Nachträge zu Zwinglis Lebensbeichreibung, herausgegeben aus Stäudlins 
und Tihirners Archiv für Kicchengefchichte von Leonhard Ufteri, Leipzig 1813, 
1. Hft. ©. 4ff. 

2) Mörikofer, Zwingli, ©. 6f. Huldreich Zwingli ꝛc. won Rud. 
Stähelin (Rr. 3 der Schriften des Vereins für Reform.⸗Geſch., ©. 10. 

3) Die Zueignungsepiftel (Opp. VII, p. 8) begiunt: Ein tibi Udalzice, 
yirorum optime et bonarum literarum amantissime, orationes duas, 
quas Arbogastus noster Glaronesius dum vita fungeretur, tumultuario 
labore scriptas, ritu scholastico Viennae jussus habuit, alteram in Ur- 
sulae et Virginum reliquarum, quae fuerunt comites, tandem 
alteram in D. Catharinae, quae a professoribus arttum li- 
heralium tutelaris passim Dea decernitur, honorem et com- 
mendationem. Die Art, wie fi) Vadian weiter üben diefe Meden ausſpricht, 
Befamdet fein fomohl auf den eruften Juhalt als quch auf bie nicht ordinäre 
Form fich beziehendes humaniſtiſches Intereffe, und auch Zwingli vebet in feinem: 
Antwortichreiben (p. 7) von „suaves nostri Arbogasti musular‘“. 


614 Ufteri 


niftifhen Studien an der Univerfität unter Leitung des Conrad 
Celtes einen fo lebendigen Auffchwung nahmen. Cine dem Scho⸗ 
laſticismus oppofitionell entgegentretende Regierungsverordnnung von 
1499 hatte die humantiftifchen Vorlefungen obligatorisch erklärt, für 
die lateinifche Grammatit das Lehrbuch von Nicolaus Perottus 
Sipontinus eingeführt, ferner Stilübungen und genaucd Studium 
der römischen Dichter, befonders des Virgil, auch befondere Berück⸗ 
fihtigung der Realwiſſenſchaften verlangt. Und in der artiftifchen, 
db. h. philofophifchen Fakultät, auf welche jene Verordnung fid) bes 
309, wurde Zwingli für da8 Sommerfemefter 1500 immatrifuliert !). 
Was er da in ſich aufnahm, trug ficherlich feine Früchte. Jenem Lehr» 
buch, das er eigentümlich zu befigen wünfchte, und das ihm Glarean 
beforgte, begegnen wir fpäter in feiner Korrefpondenzs (Opp. VL, 
15 u. 16 o., au 17; Cornu copiae od. Copia Cornu). Seine 
erften litterarifhen Erzeugniffe, die uns erhalten find, die zwei 
politiich « patriotifchen Sinngedidhte, verraten eine genaue Bekannt⸗ 
[haft mit der antifen Hiftorie, Poefte und Mythologie. Und wenn 
eben namentlich bei Celtes der Humanismus nit in einem for» 
maliftifch-philologifchen, auch nicht bloß im äfthetifchen, fondern in 
einem vealiftifchen Intereſſe feine Pflege fand, fo ftimmt dazu 
vollflommen die dem Realen auf allen Wiffensgebieten zugewandte 
Geiftesrihtung Zwinglid. So wenig ihm die Form gleichgültig 
ift, wichtiger ift ihm doch die Sache; für alles Wiffenswürdige hat 
er Intereſſe; eine Menge von Randbemerfungen in feinen Büchern 
beweifen e8, wie er fi alles Mögliche aus Länder und Völker⸗ 
funde, Naturwiffenfchaft, Phyfiologie, Heilkunde, Geſchichte ꝛc. ein- 
zuprägen ſuchte, und wie er emfig fammelte, was er von Wiffens- 
ftoffen der Heterogenften Art in feiner Lektüre antraf. Man bekommt 
wirklich, wenn man jene in der Glarner: Periode gelefenen Bücher 
durchgeht, den Eindrud von einer polyhiftorifchen Neigung 2). Zu 


1) S. Aſchbach, Gefchichte der Wiener Univerfität und Wiener Huma⸗ 
niften; ferner E. Egli in der Theol. Zeitichrift aus der Schweiz, ale 
von Meili, 1884, 1. Hft., ©. 92. 

2) Auch fpäter noch gewähren zahlreiche Randbemerfungen einen Einblid 
in Zwinglis Belefenheit befonders in der Haffifchen Literatur. Im Neuen 
Zeftament des Erasmus 3.B. Kol. 237 hat er betreffend die Sitte des Krem- 








Inisia Zwinglii. 615 


formeller Vollendung brachte es Zwingli in feinen eigenen Bro 
dukten niemals; man fieht, daß das ftoffliche Intereſſe ſtets weit 
überwog !). Auch in jenen fchan erwähnten Erftlingspoefieen ift 
der Gedankengehalt die Hauptfadhe, während die Afthetiiche Form 
ganz auf dem Niveau der Mittelmäßigkeit zurückbleibt?). Davon, 
daß die realen Wiffenfchaften Zwingli ſehr anzogen, finden fich 
übrigens auch in feiner Korrefpondenz früher und fpäter Spuren 
genug; feine humaniftiichen Freunde überjandten ihm wiederholt ihre 
Ausgaben geographifcher und hiftorifcher Schriften, fo 3. B. Vadian 
1518 feinen PBomponius Mela 3), und gerade in Glarus jcheinen 
ſolche Studien ihn lebhaft befchäftigt zu Haben, denn in dem erften 
an ihn gerichteten Briefe, der uns noch erhalten ift, fpricht Glarean 
ihm fein Bedauern aus, daß er ihm feinen Ptolemäus habe ver» 
ſchaffen können und nimmt dabei zugleich Anlaß, fich über den Um⸗ 
fang der neueren geographiichen Entdedungen mit ſichtlichem Intereſſe 
zu äußern. Gehen wir den Keimen diejer Teilnahme an den Fort⸗ 
fchritten der Länder» und Völkerkunde nach, fo fehen wir uns wieder 
auf Conrad Celtes zurückgeführt, der in Wien vaterländifche Geo⸗ 
graphie und Geſchichte mit beftändiger Beziehung auf die Gegen- 
wart lehrte, dur Anwendung einer neuen Methode mit ‘Demon 
ftrationen einen pädagogischen Fortichritt erzielte und überhaupt das 
Leben und feine praktischen Bedürfniſſe bei feinem Unterrichten ſtets 
im Auge hatte). Durch diefe praftifche Richtung ſuchte er das 


tragens ber Malefilanten auf Plutarch verwiefen, im Psalterium quincuplex 
bei Pſ. 104, 14 auf, das homeriſche: &Ayıra uveAor Kydowv. 

1) Bol. Zwingfis eigene merfwürdige Auferung anläßlich des „Ar- 
cheteles‘“, Opp. VII, p. 218 unten und 219 oben. 

3) Beſſer find die fpäteren Igriichen Verſuche. Vgl. über Zwinglis Poefteen: 
9. Weber in der Theol. Zeitichrift ans der Schweiz, 1. Hft., 1884, ©. 53 ff. 

3) Opp. VII, 76 und Supplem. p. 22. Auch Glareans „Descriptio de 
situ Helvetise et vicinis gentibus (1514) befand fich ſicherlich in Zwinglis 
Bibliothel. Mörikofer teilt (S. 24) mit, daß der Berfafler in der Zueignung 
an den Züricher Ehorherrn Heinrich Utinger unter den ausgezeichneten Köpfen 
und ben Gelehrten der Schweiz voraus Zwingli, Vadian und Lupulus nenne. 

4) Zwingli fand alfo wohl bei Eeltes gerade das, was Luther .in feinem 
Bildungsgang vermißte, und was überhaupt bei den mehr nur mit formalem 
und äfthetifchem Intereſſe betriebenen, zu Stilübungen begradierten oder im 


616 Ufert 


wfruchtbare, formaliftiiche umd fopbiftifche Schulgezätt zu über 
winden und 309 ſich bamit allerdings Anfeinbungen vonfeite anderer 
Brofefforen vom alten Schlag zu. Denn wenn aud die Sophiftit 
in Wien nicht fo üppige Blüten damals mag getrieben Haben wie 
3. 8. in Parts !), vertreten wer fie gleichwohl. Celtes ließ ſich 
ferner die rhetoriſche Ausbildung der Studierenden fehr angelegen 
fein, and nie ift Zwingli nad dem Zeugnis des Mykonius müde 
geworden, eben darauf Deühe und Fleiß zu verwenden, und zwar 
fo, daß er da8 Hauptaugenmerk aud bier nicht auf die kunſtvolle 
Form, fondern auf den Gedanken und auf deifen populären, draftiſchen 
und fruchtbringenden Ausdruck richtete 2). Wie ihn in diefer Be 
ziehung der Trieb, fich felbft zu vervollkommnen und die Ergebniffe 
feines Nachdenkens und feiner Beobachtungen auch ſchriftftelleriſch 
zu verwerten, durchs ganze Leben begleitete, Ichren folgende wenig 
beachtete Mitteilungen des genannten Gewährsmannes ®): „Hisce 
studiis tanta diligenta incubuit, quanta neminem scio a multis 
annig ineubuisse, oratorias namdue vires ac nervos hao 
tempestate nemo, vel eorum qui id maxime profitentur, sic 
habuit perspeeta. Nec Ciceronis vim vel ad hujus exemplum 
vel ad veterum praescripta conatus est exprimere, sed es 
modo quo illam et tempora et ingenia nostra requirebant. 
Atque id omnmo est hic adsecutus apud nos, quod Tullius 
olim apud suos. Instituerat, imo jam coeperat ea de re 
nostris hominibus scribere, si fieri posset, ut ita docti, ju- 
dicando, deliberando, consultando, nonnisi tempus perderent, 
in comitiis et foederatorum cenventionibus statim viderent 


phantaſtiſchem Schweigen in einer Idealwelt ihte Befriedigung ſuchenden Waffi- 
fen Studer des gewöhnlichen. Humanismus fehlte, praktiſch verweribart 
Biffenſchaft, Welt⸗ uns Lebensanſchacung. S. Köftlin, Luthers Leben J, 50. 

1) Opp. VII, p 45: „Leonge hie (Lutetine) alii sunt quam tu aut 
Viennae aut Basilese unquam videris.‘“ 

2) Mykoninus a. a. O. 89. Bgl. auch den Brief Hagens Zw. Opp. VIE, 
p. 127. 

8) In dem unvollendeten Dialog, abgebruckt ebenfalls in Uſteris Nad- 
rögen, 1. Hft., S. 40. Auf diefe Stelle iſt meines Willens noch ſelten auf⸗ 
merflarm gemacht worben. 








Initie Zwinglii. 617 


rerum capita, tum vero breviter et apte dicerent quae 
forent ad rem, intelligerent item, quae ab aliis extra 
causam ad fallendum adsumerentur, et caverent: sed fato 
praeventus non perduxit ad finem. Haec res quidem 
ex his non minima, quae mortem ejus magis reddunt 
invisam. Gustum nos ejus instituti sensimus et admodum 
doluimus, tantum damnum oratoriam artem et nos in morte 
viri ejus accepisse.‘ Zum PVollsredner hat fi aber Zwingfi nad) 
des Mykonius in diefem Punkt befonbers eingehendem 
und nahdrüdlihdem Zeugnis vornehmlich in Glarus ausgebildet, 
dazu Hat er die Alten ftudiert, dazu feinen Geift mit vielem Wiſſen 
befruchtet und feinen Gefichtöfreis bereichert, dazu aus den Klafſikern 
praktische Lebensweisheit geſchöpft, dazu feinen, jegt noch vorhanu⸗ 
denen Valerius Maximus auswendig gelernt, um die hier ihm ge» 
botene Beiſpielſammlung dann praltifch« paränetifch verwerten zu 
fönzen, dazu Plutarch, Lucien, Cicero de officiis, dazu Hiftorifer, 
Boeten und Philoſophen mit Nuten grlefen und ans der Kenntnis 
der Vergangenheit ſich Tüchtigkeit für die Gegenwart erworben ?). 
Und in alledem mögen die in Wien empfangenen Ansegungen noch 
forigewirkt und ihre Früchte getragen haben. Wenn man endlich 
hört, daß Conrad Celtes auch ein großer Freund und Beförderer 
der Muſik geweien, fo fann man ohne weiteres vorausjegen, bag 
nicht am wenigiten um beffentwillen der junge, mufitalifch. beam- 
Ingte und gebildete Zmingli ſich zu ihm Hingezogen fühlte; umb wie 
eifrig er diefe Kunſt noch in Bafel und Glarus, ja fein Leben lang 
forttrieb, ohne die üblen Nachreden zu achten, welche ihm feine 
Liebhaberei zuzog, tft uns ebenfalls durch Mykonius und Bullinger 
bezeugt, und Dignauer adreffterte 1514 einen Brief an ihn jehr bes 
zeichnend folgendermaßen 2): Apollineaelyrae moderatori 
nostraeque tempestatis Ciceroni indubitato, Domino Huldrico 
Zwinglio, Glareanorum plebane S. D. 


1) Über Zwingfis auch noch im bewegten Amsöleben fortgefetste Haffiiche 
Stubien ſ. beſ. den interefjanten Brief Opp. VII, p. 305. 

2) Opp. VII, p. 9. Glarean fandte Zwingli auf feinen Wunſch 1510 
im Muſik geſetzte Lieder, Später gab er biefe ober andere Efegieen mit Dedi⸗ 
tstion au Zwingli hercus (Opp. VIE 2. 19). 


618 Uſteri 


Weniger leicht iſt zu erkennen, welche Stellung Zwingli zu der 
philoſophiſch⸗theologiſchen Richtung der Schulen feiner Zeit ein⸗ 
genommen hat. Mit philofophiichen Studien begann er nad) dee 
Mykonius Zeugnis ſchon in Wien, doch traten dort diejelben ficher- 
fih gegenüber den humaniftifchen noch ganz in den Hintergrund, 
wie denn auch Deyfonius mehr von einer Bereicherung und weiteren 
Ausbildung ſchon erworbener SKenntniffe redet und als Zweck, 
der ihn nach Wien geführt, ganz allgemein: nihil non quod 
philosophia complectitur bezeichnet. Ob da fchon geflügelte Worte, 
wie fie von einem Celtes erzählt werden: 

Omnia nummus habet, coelum venale, quid ultra? 
ihm zu Ohren gelommen und auf ihn Eindruck gemacht, wer wollte 
das entjcheiden? Ernftlicher und gründlicher kamen jedenfall® erft 
in Bafel bei dem dem Mannesalter Entgegenreifenden die philo- 
fophifchstheologifchen Stubien an die Reihe; wenn aber Mykonius 
al8 einzigen Beweggrund zum Studium ber „nugae Sophis- 
tarum “ angiebt: ut, si quando contra eas pugsandum foret, 
hostem nosset, fo tft offenbar die fpätere Einſicht, wozu auch 
diefe fonft fo unfruchtbare Beichäftigung mit einer Pſeudophilo⸗ 
ſophie Habe dienen müſſen, als Motiv ind Bewußtſein des Jüng⸗ 
lings hineingetragen, und nur fo viel werden wir der Ausjage des 
Mykonius entnehmen dürfen, daß Zwingli einen ftarfen Eindruck 
von der Spitfindigfeit, vom Ernft echter Wilfenfchaft weit entfernten 
Leichtfertigleit und Haltlofigkeit folder Sophiftit davontrug, und 
daß in ihm micht felten der Widerfpruch gegen dieſes inhaftlofe 
dialektifhe Spiel fi regte. Allerdings mochte er darin je mehr 
und mehr einen Feind ahnen, den zu befämpfen er dereinft nicht 
werde unterlaffen können. Und ähnlich mochte es ihm ſpeziell mit 
der fcholaftiihen Theologie ergehen, welcher er ſich nad) erworbener 
Magifterwürde mit allem Fleiß zumendete, doch, wie es nad My⸗ 
fonius (a. a. O. $ 9) jcheint, mehr „quia res ita postulavit et 
ordo‘* als aus innerer Neigung, und bei der er bald erfannte, 
„quaenam inesset hic boni temporis amissio, quod omnia 
confusa, sapientia mundi, philosophia, Deus, inanis loquacitas, 
barbaries, vana gloria et quidquid hujus generis, nihil inde 
sanae doctrinae posset sperari*. Indes bezog ſich diefer Ein- 


Initia Zwinglii. 619 


druck ſchwerlich auf die fcholaftiiche Theologie an fi, vor der wohl 
Zwingli ebenfo wie Luther damald und noch jpäter gleich feinen 
humaniftifchen Freunden alle Achtung Hatte, er galt nur der Art, 
wie fie in ihrem Auflöfungsftadium getrieben wurde, der Herab- 
würdigung ernfter, dem Wefen der Dinge nacdjforjchender und auf 
ein reales Erkennen gerichteter Wiffenfchaft zu fpielender Sophiſtik, 
zu einem dem Sfeptizismus nahverwandten Nominaliemus, der 
dann doch wieder den blindeften Auftoritätsglauben und die hoch» 
mütige Verachtung und Verfegerung der philofophifchen Arbeit zur 
Kehrjeite Hatte. Einen ähnlichen, abftoßenden Eindrud befamen da» 
mals von biefem geiftlofen Formalismus aud) Männer, die fpäter 
die Scholaftit geradezu repriftinierten, 3. B. Johann Ed, der ur- 
fprünglich nicht wenige Freunde unter den Humaniſten hatte, und 
dem auch wir nod begegnen werden !). Alfo nur auf biefe ent⸗ 
artete Scholaftit ift es wohl zu beziehen, wenn Mykonius im Sinn 
bes oben fchon Angeführten fortfährt: Perrexit tamen in castris 
veluti speculator alienis, denn für die Annahme einer fleptifchen, 
gegen Chriftentum und Sirchenlehre überhaupt fich ablehnend ver« 
haltenden Dentweife im Sinne der dem Glauben entfremdeten 
Humaniften fehlen wenigftens die Beweife vollftändig, man begegnet 
auch einer folhen Dentweife bei Zwinglis bumaniftifchen Freunden 
nicht. Die Art, wie nun Mykonius die Berufung zum Pfarrer 
von Glarus erzählt (a. a. DO. $ 9), zeigt, wie ſehr Zwingli da⸗ 
von überrafcht und in feinen Plänen vielleicht auch geftört wurde. 
Man gewinnt den Eindrud, die theologijchen Studien ſeien ihm 
noch nicht in dem Grad zur Herzensfadhe geworden, daß er ein 
tirchliches Predigtamt gewünſcht — wie konnten fie es bei der rt, 
wie fie nach Herkommen getrieben wurden? — und läßt fi auch 
wie gefagt, eine ffeptifche Richtung nicht beweifen, fo ift doch ein 
gewiſſer theologifcher und kirchlicher Indifferentismus um fo wahr» 
fcheinliher, und es treten fo die Worte des Mykonius: „Tum 
vero, quod coeptum erat per alios, cogebatur perficere: Fit 
sacerdos, devovet se studüs divinis potissimum‘‘ woßl in die 


1) In einem Briefe vom 18. März 1517 an Badian madıt fi Ed luſtig 
über „Scholasticorum theologorum nugas et sophismata“. 
Tbeol. Stud. Sahrg. 1885. 40 


6% Uferi 


richtige Beleuchtung. Don jett an feheint Zwingli feine Studien, 
fomeit fie nicht durch eigene wiſſenſchaftliche Tiebhabereien und durch 
die ihm anvertraute Bildung von Knaben aus edlen Glarner: 
Geichlechtern beftimmt wurden, mehr und mehr in den Dienft feines 
Predigtamtes geftellt und auch die antike Litteratur weniger mehr 
um ihrer felbft willen denn als Hilfsmittel gefchätt und verwertet 
zu haben !). Alles Erkannte, Erlernte, Beobachtete aber brachte er 
in praftiiche Anwendung. 

Nun trug aud eine in Baſel empfangene Anregung, wohl die 
fegensreichite feiner ganzen Studienzeit, ihre Früchte, die Anregung 
nämlich zum Schriftftudium, die er, mit Leo Judä zu Thomas 
Wyttenbachs Füßen figend, einft belommen, und von der wir nidt 
ans unjerer Hauptquelle, Mykonius, fondern, was noch wertvoller 
ift, aus feinem eigenen und aus feines damaligen Studiengenoffen 
Zeugniß wiſſen. Zwingli verdankte Wyttenbach nod ein Zweites, 
nämlich die Erkenntnis von der Haltloſigkeit des Ablaſſes, allein 
für die frühere Zeit wird wohl hauptſächlich das Erſtgenannte in 
Betracht kommen. Neben der Schrift machte jener Lehrer auch 
die rechtgläubigen Väter namhaft als diejenigen Ausleger 
derſelben, aus welchen die alte Kirchenlehre in ihrer reineren Ge- 
ftalt könnte erfannt werden. In Beiden, im Studium der Schrift 
und der Kirchenväter, wurde Zwingli in Glarus, Einfiedeln und 
Zürich Wyttenbachs getreuer Schüler, bis er endlich die Schrift _ 
durch den in ihr waltenden Geift befjer verſtehen lernte, als felbft 
die Väter es ihm lehren konnten. Anfänglich beſchränkte ſich freifid 
dies Bibelftubium auf die Lektüre der Yulgata, wobei ihm dann 
immer mehr die Unerläßlichkeit der Kenntnis des Grundtertes zum 
Bewußtfein kam. Indeſſen rühmt Mykonius fchon von feiner Ver: 
trautheit mit der lateinifchen Bibel: Progressus erat jam eo, ut 
doctis et probatis viris judicaretur scripturam divinam habere 
in numerato. 

Die erfte Spur fodann, dag Zwingli mit Erlernung der gries 
hifchen Sprache umgegangen, findet fi ſchon in Glareans Brief 


1) Ethnica (studia) deinceps non ita magnifecit, nisi ubi sacris illis 
adminicularentur et concionibus. Mykonius a. a. 0. $ 9. 





Initia Zwinglii. 621 


vom Jahre 1510 ?), woraus erhellt, daß er fich nach einer „Sfagoge“ 
erkundigt. Doch fegte er ſelbſt a. 1523 den Anfang feiner grie- 
hifchen Exerzitien ins Jahr 1513, und aus einem Briefe diefes 
jelben Jahres erhellt fein damaliger Feuereifer für diefe Sprache: 
Ita enim Graecis studere destinavi, ut qui me praeter Deum 
amoveat nesciam, non gloriae (quam nullis in rebus quaerere 
honeste possem) sed sacratissimarum literarum ergo. Und 
da er Schon bald über die mittlerweile in Angriff genommene Ifagoge 
des Chryfolora® Hinaus ift, frägt er feinen Vadian: Post eam 
quid sumendum ? %a er hat mit den griechiſchen Studien der⸗ 
geitalt einen Bund auf Lebenszeit gemacht, daR er in fein griechifches 
Lexikon, das des Suidas, hineinfchreibt: Eiui Tod ZuyyAlov, xai 
10V xugiov undenos xurallaEtn, ei un Farsoov dnodavov- 
vos 2). Er hielt fein Gelübde auch treulich, denn beigefügt ift von 


1) Opp. VII, 2. 

2) Ähnlich in „Aldus Manutius, grammaticae institutiones Graecae, 
Venet. 1515“: Est Uldrici Zwinglii nec mutat dominum. (Einen andern 
Lehrer ale Grammatif und Lerilon Hatte Zwingli nit. Als Hilfsmittel 
dienten ihm Überjegungen (Mykonius $ 10). Mykonius bat ihn brieflich 
21. Oktober 1515: rationem edoceas, qua tu es usus in iis literis perdis- 
cendis absque duce (Opp. VI, BLsq.). Zwingli meinte dann in feiner 
Antwort, Myfonius jet darin fchon genug bewandert und feine Bitte mache 
ihm den Eindrud a pumice aquam! oder Alcinoo poma! Nach dem Brief 
des Balentin Tſchudi an Zwingli vom 27, April 1518 (Opp. VII, 42) hätte 
Ieisterer übrigens dod) vorübergehend einen Lehrer gehabt, wenn aud nicht für 
die Anfangsgründe. Die griechiſche Litteratur blieb zeitlebens Zwinglis Lieb⸗ 
haberei (Bullinger, Reformationsgeihichte I, 30). Er Hatte in den erflen 
Zuricher Jahren ein griechiſches Kränzchen mit Freunden, eine Kleine Aademie, 
mit Bezug auf welche Glareau von Paris fchrieb: Futurum anguror, ut 
Tigurum multis Universitatibus non cedat (Opp. Zw. VII, p. 140). Auf 
gemeinſame Plato⸗Lektüre bezieht ſich wohl die von Lic. E. Egli mir mitgeteilte 
briefliche Äußerung Grebels an Mylonius vom 4. November 1521: De Zinlio 
et quog tu amas bene agitur. Platonisamus Zinglius, Scudus, Ammannus 
et ego. Ein ſehr anfchauliches Bild von jenem „sodalitium literarium Ti- 
gurense“, worin Zwingli griechiſche Literatur dozierte, hat Albert Bürer von 
Brugg, ein Schüler Rhenans, der im Frühjahr 1520, von Simon Stumpf, 
dem Pfarrer von Höngg, eingeführt, zweimal dabei hofpitierte, uns Hinterlafien; 
es wurbe von Dr. Fechter unter den Papieren Rhenans aufgefunden und ift 
im Supplement zu Zwinglis Werken, ©. 25 Anm. abgedrudt. Vgl. auch das 

40* 


682 Uferi 


fpäterer Hand: Collegii majoris Tiguri post obitum clarissimi 
illius prioris possessoris ab anno Domini 1534. — Nad des 
Diykonius Darftellung könnte es nun fcheinen, wie wenn ſchon in 
Glarus jenes Denkmal feiner fiebenden und begeifterten Hingebung an 
den Grundtert des Neuen Teftamentes, jene jogar dem Gedächtnis 
eingeprägte Abjchrift der pauliniſchen Briefe, wenigftens teilweie 
entftanden wäre, und Leo Judä berichtet dies foger ausdrücdlicd ?), 
weshalb es denn auch in viele LebenSbefchreibungen übergegangen 
ift 2). Mlein abgejehen davon, daß die griechifch gefchriebene Schluß. 
bemerfung, die beiläuflg gefagt orthographiich und grammatifch nicht 
ganz fehlerfrei ift, in den Mat des Jahres 1517 vermeift, muß 
diefe Arbeit und überhaupt die Beichäftigung mit dem griechiichen 
Neuen Teftament ſchon darımm erft in die im Sommer oder Herdft 
1516 beginnende Einfiedlers Periode verlegt werden, weil die erfte 
Ausgabe desjelben von Erasmus, die ihr zugrunde lag, im Jahr 1516 
Anfangs März erfchienen if. Ohne in Abrede zu ftellen, was 
Mykonius über die in Glarus fchon erworbene ausgedehnte Bibel- 
fenntnis fagt, glaube ih doc aus dem Ton der Glarner⸗Korre⸗ 
ſpondenz fließen zu können, daß erft, als Zwingli den Grumdtert 
und als Ausleger die Kirchenväter zu ftudieren anfing, was frühe 
ftens fchon ganz am Ende des Aufenthaltes in Glarus, recht ein 
dringlich aber erſt in Einftedeln gejchehen konnte, das ungeteiltefte 
Intereſſe mit ernftefter innerlicher Beteiligung den biblifchen Stu 
dien fich zumendete. In Glarus nahmen ihn Politit und Welt 


Zeugnis von Hagen Zw. Opp. VII, p. 128. Neben biefer Societät, am de 
auch ältere Männer teilnahmen, beftand noch feit dem Sommer 1519 eine dei 
Mytonins Elementarunterricht fortfeßende griechiſche Fortbildungsſchule, worin 
Zwingli uud Andere mit den Kandidaten Klaſſiker laſen. (Suppl. ©. 22) 
So fehr iſt der angehende Neformator noch Humanift, daß er nicht bloß pri 
vatim zu feiner Erholung die Klaſſiker lieſt, ſondern auch ohne amtlide Rö⸗ 
tigung Jungen nnd Alten Titterarifche Vorleſungen bäft. Wie anders Tuther! 

1) Mykonius a. a. DO. $ 10. Leo Judae ebenfalls in Uſteris Nachträgen, 
1. Hft. S. 80. 

2) Der Irrtum findet ſich fogar bei Hundeshagen, Beiträge zur Kirchen 
verfaffungegeih. und Kirchenpol., &. 157. Schon bei Schuler, Bildungsgeſch 
Zwinglis, legt der Text S. 22 das Mifverfländnis nahe, während hinten 
Aum. 84 das Richtige enthält. 


Initia Zwinglii. 63 


händel offenbar noch fehr in Anſpruch. Es herrfchte dort damals 
ein reges politifches Treiben, indem die verjchiebenften Mächte fich 
um glarnerifche Soldtruppen bewarben. „Täglich werden Gefandte 
des römischen Pontifer oder des Kaiferd, der Mailänder, der Be- 
netianer, der Savoyer, der Franken gehört und zu eben denfelben 
folche geſchickt“, ſchreibt Zwingli 1513 feinem Freunde Vadian !). 
Ob er fich bei diefen Umtrieben ganz neutral verhalten hat? Es 
Scheint nicht der Fall gewefen zu fein. Mit welcher Begeifterung 
z0g er als Feldprediger no im den Pavierzug! Wie erjchien es 
ihm anfänglic) noch als eine da8 Schweizervolf ehrende Aufgabe, 
dem Oberhaupt der Kirche, „den Hirten“ 2) Heerfolge zu leiften | 
Und erft die ernfte Lehre der Erfahrung brachte ihn dazu, von allem 
Söldnerdienft abzumahnen. Wenn ihn die franzöfifche Partei hate 
und ihn endlich von Glarus vertrieb ®), fo mochte jene frühere 


1) Opp. VII, 9. 

3) So nennt Zwingli ja ben Papft in dem „Fabelgedicht von einem Ochſen 
und etlichen Tieren“. Bol. Heer, Ulrich Zwingli ale Pfarrer in Glarus, 
Zürid) 1884 bei F. Schultheß, S. 10 ff. 

3) Es dürfte angezeigt fein, diefe eigentliche Urjache des Wegzuges von 
Glarus bier mit Rüdficht auf ſolche, die den Quellen ferner fliehen, nachdrück⸗ 
lichſt in Erinnerung zu bringen, weil dee Berfofler des pſeudonymen Büch⸗ 
leins: Die wahre Union und die Zwinglifeier (Antwort auf die Feſtſchrift von 
Pfarrer 3. M. Ufteri, von ©. Karmann von Toggenburg, St. Gallen uıb 
Leipzig, bei Moriell 1884), S. 48 neuerdings die Lüge des Chromiften Salat 
aufwärmt, Zwingfi habe wegen fittlichen Ärgernifſes von Glarus und nachher 
von Einfiedeln weichen müffen. Über fein Scheiden von erflerem Orte ſchrieb 
er felber ein Jahr fpäter an Vadian (Zw. Opp. VII, 24): Locum mutavi- 
mus, non cupidinis aut cupiditatis moti stimulis, verum Gallorum - 
technis et nunc Eremi sumus. — Quid cladis nobis attulerit tandem 
factio illa Gallica, dudum jam ventus ad vos perflavit. Omnia tamen, 
»nisi dudum scisse te non dubitarem, percenserem; fuimus enim pars 
" quoque rerum gestarum: [calamitates enim multas vel tuli- 
mus vel ferre didicimus. Ein Beweis auch dafür, daß Zwingli mit Ehren 
von Glarus jchied, iſt das von Schuler (a. a. DO. &..852, Anm. 132) mite 
geteilte Zeugnis des katholiſchen Glarners Bäldi: Im 1516. Jahr nahın 
Mſtr. Ulrich Zwingli und Mftr. Hans Franz (Zinf?) von Einfiedeln auf 
St. Peters Tag Urlaub. Da gaben ihm die Kilcher (Kirchgenofjen) die Aut- 
wort: Sie batend Mir. Ulrich faft bei ihnen zu bleiben; fie wollten das beft 
thun, mit dem Haus zu bauen. Zwingli behielt auch wirklich die Pfrlinde 


624 Ufteri 


Parteinahme fir den Bapft und die vielleicht damit verbundene 
aktive Förderung feiner Intereſſen mit daran ſchuld fein. Abgeſehen 
von den 50 Gulden päpftlicher Penſion, die er bezog, muß es aufs 
fallen, daß der Freiburger Beter Ball, ein Haupt der päpftlichen 
Partei in der Schweiz, ein ihm zur Verfügung ftehendes Landgut 
bei Bavia mit einträglichen Ländereien Zwingli gleichfam als Leib- 
geding verfprodden; und daß er ihm noch zu Anfang des Jahres 
1515 fchreibt ?) er wolle binmen zwei Jahren dies Verſprechen er- 


Glarus noch und Tieß fie durch einen Vikar verjehen, bis er dann, nach Zürich 
berufen, am Sonntag vor St. Thomas Tag 1518 auf dem Rathaus zu Glarus fie 
niederlegte. Sein Andenken blieb im Segen, und auch ihm blieb die Erinnerung au 
fein dortiges 10jähriges Wirken Lieb und keineswegs befhämend (Opp. VII, 164; 
J, 172 oben). — Mit Bezug auf den Wegzug von Einfiedeln genügt es, auf 
da8 denfelben bedanernde und Zwingli ebrende Schreiben des Landrats von Schwyz 
(Opp. VII, 60) Hinzumeifen, ſowie auch auf die fortbauernden Beziehungen 
zwifchen Zwingli und Einftedeln und auf das Anfehen, das er bort fletsfort 
genoß. (Siehe den Brief an Leo Judae Opp. VII, 59.) — Die Stelle aus 
dem Schreiben an bie Brüder vom Jahr 1522, die Toggenburg, um Zwingli 
zu fompromittieren, anführt (a. a. DO. ©. 48), und die er — ein Beweis, wie 
leichtfertig er mit der Chronologie umgeht, — in Einfiedeln geichrieben jein 
Laßt, ift uebſt andern ſchon im meiner Feftfchrift (S. AL ff.) in die richtige Be 
leuchtung geftellt worden. — Ein weiteres fauberes Muſterchen Biftorifcher Ge⸗ 
wifienhaftigkeit iſt S. 58 die Verſchiebung des Geburtsdatums von Zwinglis 
ältefter Tochter um mehr denn ein halbes Jahr (vom 31. Juli auf den 6. Ja⸗ 
mar 1524, offenbar damit fogar die Geburt vor die kirchliche Trauung 
(5. April 1524) falle. (Mörikofer a. a. O. J, 212 ff. verſchweigt nichts und 
giebt die richtigen Daten.) 

3) Opp. VII, 11: Circa locum Papiae habendum scis quae dixerim 
Tibi: ea ad unguem observabo.. — Haec omnia si tempora maneant 
tranquilla, ad binos annos Dommationi Tuae pro contracta mutua ami- 
citia dimissurus sum, ex quibus commodissime vivere poteris. Über 
die fonftigen meitgehenden und bis ins Jahr 1522 fortgefeten Anftrengungen 
der Kurie, Zwingli duch Verſprechungen zu gewinnen, und über die groß- 
artige Unabhängigkeit, bie er dem gegenüber je mehr und mehr bemährte, 
ſ. Heer a. a. O., S. Sf, m. Feſtſchrift S. 50f., bei. aber Mörikofer 
I, 185 ff. wo auch das ſchöne Wort mitgeteilt iſt: Ich habe in kurzen Tagen 
einen päpftfichen Brief und große mündliche Berheißungen empfangen, worauf 
ich jedoch ob Gott will unentwegt und chriftlich geantwortet habe; obgleich ich 
feinen Zweifel trage, ich hätte fo groß werden mögen, wie micht ein jeber, 
wenn mir die Armut Ehrifti nicht Tieber wäre als die Pracht der Päpfller. 


Initia Zwinglii. 6 


füllen: „pro contracta mutua amicitia“. Ob dies nicht un» 
gefähr fo viel Heißt wie: „für geleiftete gute Dienfte". Aus dem 
Blan wurde natürlich nichts, nicht nur weil das Kriegsglüd in 
Italien fi wendete, fondern gewiß auch, weil Zwingli in Zukunft 
gegen alle ausländiſchen Werbungen entfchieden Front machte. Die 
bitteren Erfahrungen, die ihm feine politische Thätigkeit zuzog, 
mochten dem Erwachen ernfterer religiöfer Bebürfnifie und dem 
Suchen eines inneren Haltes in ber heiligen Schrift nur förder⸗ 
lich fein. 

Die noch vorhandenen Ueberrefte aus Zwinglis Bibliothek bieten 
einige Anhaltspunkte und einen fragmentarifchen Einblid in Zwinglis 
humaniftifche und philofophifch»theologifche Studien während der 
Ölarner Zeit. Es müßte namentlih von Intereſſe fein, wenn 
unter denfelben derjenige Schriftfteller fich vorfände, mit dem ſich 
nah Sigwart der Reformator damals bauptfächlich beichäftigt und 
der einen fo entjcheidenden Einfluß auf fein theologifches Denten 
ausgeübt Haben foll: der italienische Philofoph Joh. Picus von 
Mirandula. Allein es find nur zwei Schriften des Neffen, 
Joh. Franz Picus, der in Abfiht auf Originalität weit Hinter 
dem Oheim zurüditeht, aus Zwinglis Befig anf uns gelommen, 
und es wird unten von denfelben ausführlicher die Rede fein. Nach 
Mykonius hatte der Name Picus allerdings ſchon in Baſel bei 
Zwingli einen guten Klang und es zog ihm dies früh — barım 
hebt es der wohl unterrichtete Freund gefliffentlich hervor — Ver: 
dächtigungen und Anfeindungen vonjeite des Klerus zu; ja Mykonius 
leitet daher den erjten Urfprung aller Schmähungen her. Zwingli 
muß einige von den Theſen, zu deren Berfehtung Joh. Picus in 
Rom nicht war zugelaffen worden, weil der angeblich büretifche 
Anhalt von dreizehn derſelben bei den Vertretern der Kirche Feine 
Gnade fand, in Schuß genommen haben; welche, wird uns nicht 
gefagt; wir müſſen uns alſo mit Vermutungen begnügen, und ich 
erlaube mir, auf da® in meiner Feftfchrift darüber Befagte zu ver» 


Alle diefe Schritte der Kurie erflären fich am beften, wenn es eine Zeit gab, 
wo Zwingli die päpftlichen Intereſſen aud aktiv förderte. Vgl. Finsler, 
Zwingli, S. 11. 


63 Uferi 


weifen und nur noch beizufügen, daß auch die Säge: Gott habe 
bloß in Geftalt eines vernünftigen Gefchöpfes erjcheinen können 
(während Duns Scotus belanntlidy behauptete, Gott hätte ebenio 
mit einem Steine wie mit einem Menfchen zum Heil der Welt fih 
vereinigen Eöunen), und: Gott fei die Fülle des ganzen Seins !), 
allerdings jehr an die Denkweiſe Zwinglis erinnern. Sigwart läft 
fih auf diefe Thefen gar nicht näher ein, was doch, weil wir mit 
Bezug auf fie ein glaubmwürdiges Zeugnis haben, zunächſt Hätte ge 
fchehen follen, begreiflich übrigens! ihm bat die Billigung ſolchet 
Einzelheiten wenig Bedeutung gegenüber der von ihm behaupteten 
weitgehenden Abhängigkeit des Zwingliſchen Syftems von 
oh. Picus. Namentlich beruft er fih auf die genaue Anlehnung in 
Gedanken und Wortlaut an verfchiedene Hauptjchriften des Ftafieners, 
wie er fie befonders in der Schrift de Providentia Dei und in 
den Kommentaren zu Matthäus und Lukas, weniger beftimmt auf 
im Commentarius de vera et falsa religione, gefunden hat. 
Diefe Entdeckung teilweife wörtlicher Übereinftimmung würde im 
deſſen nur beweifen, daß Zwingli in der fpäten Zeit, da er jem 
Schriften abfaßte, fich gerade mit Joh. Picus bejchäftigt, und dab 
er dabei auf congeniale Gedanken in einem ihm anſprechenden Ge⸗ 
wande geftoßen 2). Biel weiter geht watürlich die Behauptung, daf 
fein theofogifches Denken feine Grundiden aus jener Quelle ge | 
fchöpft Habe. Dafür feheint mir Sigwart den genügenden Beweis 
nod) nicht erbracht zu haben. Für Alles, was er anführt, finden 
fi) auch andere Vorgänger, mit denen Zwingli vertraut war, um 
von denen er Anregungen kann empfangen, Ideen aufgenommen 
haben. Ich denke namentlich an die griechifchen Väter und über 
haupt an den Platonismus, der Zwingli durch andere Vermittlung 
noch, durch Auguftin und ſogar durch die ältere Scholaftik, ſodam 
ferner in einzelnen Punkten durch die ftoifche PHilojophie, nament 


1) ©. Zeller in den Theol. Jahrbüchern, Bd. XVI, ©. 46. 

3), Diefe Erklärung fcheint mir einfacher und natürlicher als diejenige Sig- 
warts: „Gerade daß Zwingli in feiner legten Hauptichrift de providentia am 
volſſtãndigſten auf die Ideen Picos zurfidtommt, beweift, daß fie in der That 
die Grundlage feiner Spekulation geweien find.” (Sigwart bei Herzog, 
Renlencyli. 1. Aufl. IX, 547.) 











Initie Zwingli. 07 


ih) durch Seneca !) von früh ber kann beeinflußt haben. Um. bie 
Neigung zur allegoriichen Schriftauslegung zu erflären, braucht man 
vollends nicht, wie Sigwart thut ?), vornehmlich auf Picus zurück⸗ 
zugehen. — Es wird nun freilih zugeftanden, dag Zwingli aud) 
gar Manches, was er bei Picus fand, liegen gelafjen, u. a. bie 


1) Diefen Schriftfteller hat Zwingli jedenfalls jehr früh gelefen, und wie 
ſtark derjelbe ihn beeinflußt hat, geht daraus hervor, daß manche Ideen floifcher 
Philoſophie fpäter in fein theologifches Syſtem übergegangen find, und daf er 
fh mit Vorliebe auf Seneca berufen (vorzüglich in de provid. an vielen 
Stellen). Er nennt bieien Opp. V, p. 40 in Berbindung mit Bafılius: 
„imagnus et sanctissimus vir, ethnicus, sed ferme magis theologus.“ 
Bullinger bezeugt (Reformationsgeſch. I, 30), daß Zwingli „fürus den Sene- 
cam” unter den lateiniſchen Schriftftelleen gebraucht habe: „nampt den all- 
wägen animorum agricolam“. Und in des Hieronymus Schrift de viris 
illustribus seu de scriptoribus ecclesiastieis (wovon unten nod) wird bie 
Rede fein), faud Zwingli den ſtoiſchen Philoſophen continentissimae vitae in 
den catalogus sanctorum aufgenommen und in der Weihe der chriftlichen 
Schriftftellee aufgeführt (Kap. 12). Abgeſehen von dem ethijch-praktiichen Aus- 
führungen, in denen Senecas Stärke berubte, mußten auch gewifſe dogmatifche 
und theoretiiche Gedanken Zwingli ſympathiſch berühren, denn wir begegnen 
ihnen in anffallender Weile in feinem Syſtem. Ein Punkt nun, in welchem 
fpeziell platonifche Ideen ihn durch bie Mittelglieb beeinflußten, ift die anthro- 
pologifche Anſchauung von Geift und Fleiſch, von der in der leiblichen Natur 
wurzelnden Sünde (vgl. Baur, Seneca und Paulus in Hilgenfelds Zeitichr. 
für wiſſenſchaftl. Theol. 1858, ©. 193, und Zeller, Theol. Jahrb. 1853, 
S. 262). Was fi) bei Zwingli Ähnliches findet, erinnert wenigftens mindeftens 
ebenfo jehr an Seneca als an Picus, ift eben. der von Plato ausgegangenen Ge- 
dankenſtrömung gemeinfam. Hingegen das ift gegenüber der bei Zeller fidh 
fiabenden eimfeitigen Betonung bed platoniſch⸗ ſtoiſchen Elemented aus dem von 
Sigwart (a. a.D. ©. 77) Betonten mittelbar zu lernen, daß auch in der Anthro- 
pologie die Bibel und ſpeziell Paulus auf Zwingli ftärker eingewirkt haben als 
tegendein anderes geifliges Bildungselement. Die unbefriedigende platonijche 
Anſchauung findet fi) and vorzugsweiſe in derjenigen Schrift, wo dm meiften 
auf Philoſophen Rückficht genommen ift und philofophiiche Autoritäten nament- 
Gh aufgeführt find, in de providentia. (Bgl. Aler. Schweizer, Central 
dogmen I, 112. 129.) — Ein meiterer Punkt, darin fi Zwingli ausdrädlich 
auf Senera⸗Plato bezieht, ift die Ideenlehre, wie er fie ebenfalls in de pro- 
videntia zubilfe nimmt. Opp. IV, 93 ff. und 138 aufammenfaffend. Ideas 
omnium rerum Deus in se habet. 

3) Ulrich Zwingli, ©. 51. 


638 Ufteri 


Spekulationen über die Engel *), indeffen gerade was dieſen letzt⸗ 
genannten Punkt anlangt, fo wäre dann doch zu erwarten, daß er 
3. B. in dem langen Brief an Miyfonius ?), wo er ſich über bie 
Engellehre etwas weitläufiger ausläßt, auch des Picus gedacht hätte; 
allein dort beruft er fih auf ganz andere Gewährsmänner, auf 
Hieronymus, Auguftin und Origenes, die offenbar auf fein theo⸗ 
logiſches Denken einen tiefer greifenden Einfluß ausgeübt Haben. 
Zwingli felbft redet nur an Einer Stelle von dem Staliener, von 
Joh. Picus fiher in der VBorrede zu Jeſaja aus dem Jahr 1529 3) 
(in welchem auch de providentia erſchien) und zwar allerdings mit 
großer Achtuug: acuto vir ingenio, et si Dominus ad maturi- 
tateım pervenire dignatus fuisset, divino futuro. Die andere 
Stelle, auf die man fh gewöhnlich beruft, aus Glareaus Brief 
vom Jahre 1510 %, handelt nur allgemein von Picus Mirandu- 
lanus und könnte fich ebenjo gut auf jenen jüngeren Joh. Franz 
Picus beziehen, der damals, aus feinen Beſitzungen vertrieben, in 
den verfchiedenften Ländern, auch in Deutfchland herumirrte und 
fchriftftellerte, den Zwingli ficher in Glarus gelefen, bei dem wir 
manche von den Ideen, auf die Sigwart fi) beruft, aud finden 
werden 5). 

Wenn wir nun zu einem Weberblid über die noch vorhandenen 
Bücher, mit denen Zwingli während der in Rede ftehenden Periode 
ſich bejchäftigte, übergehen, jo nimmt unfere Aufmerkſamkeit zuerft 


1) Sigmwart, Ulrich Zwingli, S. 69 oben... 

2) Opp. VII, 123 sqg. 

8) Opp. V, 556. Eine ganz beiläufige Erwähnung neben Scotus in einer 
Schrift des Jahres 1528 fand ich noch Opp. II 2, 166. 

4) Opp. VO, 2. 

5) Auch in den noch erhaltenen Werken, die Zwingli bejeffen und in feiner 
früheren Zeit ſtudiert, finden fich zwar fehr viele Berweiiungen auf gleichzeitig ger 
leſene Schriftfteller, Kirchenväter und Klaifiler, aber nicht eine einzige auf irgend⸗ 
eine Schrift des Joh. Picus; ein argumentum ex silentio, das Beachtung 
verdient. Ich kann daher nur der Reduktion der Sigwartichen Darlegung auf 
ihr richtiges Maß mich anfchliegen, wie fie ſchon Zeller in den Theol. Jahrb., 
Bd. XVI, ©. 45 ff. durchgeführt hat. Es jcheint mir überdies wahrjcheinfid, 
daß die eingebendere Lektüre des Joh. Picus nicht einmal in die frühere 
Zeit fällt. 











Initia Zwinglii. 629 


eine Eleine von Glarean Zwingli dedizirte, wohl auch von ihm 
herausgegebene Schrift des Lambertus de Monte in Anfprud. 
Quaestio magistralis a venerando magistro Lamberto de 
Monte — ostendens per autoritates scripturae divinae, quid 
juxta saniorem doctorum sententiam probabilius dici possit 
de salvatione Aristotelis. In der Vorbemerkung wird von dem 
Verfaſſer gefagt, er Habe die Lehre des Ariftoteles juxta fidelissi- 
mam interpretationem scti et angelici doctoris Thomae Aqui- 
natis Coloniae in gymnico monte quadraginta circiter annos 
propagavisse !). Das Jahr der Herausgabe ift nicht angegeben, 
es Tiegt aber nahe, an die Jahre vor 1510 und 1512 zu denken, 
weil damals Glarean fih in Köln aufbielt und dort magiftrirte. 
Die Schrift intereffiert nicht wegen irgend welcher Randgloffen von 
Zwinglis Hand; denn es finden fich feine, fondern wegen des 
Themas, das dem Humaniften und künftigen Vertreter der dee, 
daß auch edle Heiden der vordriftlichen Zeit felig geworden, zu⸗ 
fagen mußte. Die Schrift ift übrigens keineswegs etwa von einem 
für das ſpefiziſch Chriftliche gleichgältigen Geift infpirirt, fondern 
gut kirchlich und gut ſcholaftiſch. Und auch Glarean, der fie em⸗ 
pfiehlt und herausgiebt, ift zwar Humanift, aber, wie ſicherlich auch 
Zwingli ?), gar fein Feind der Scholaftif; nur die damals in Köln 
herrjchende, illiberale, bornirte Richtung, berüchtigt genug durch den 
Reuchlinfchen Handel, ift ihm zumider, und er träumt daher immer 
von einer Verſetzung nad Baſel, wo nicht nur befjeres Trinkwaſſer 
und feinem Magen zuträglichere Speife, fondern wo er ſich auch 
eine Lehrjtelle „in via seu secta Scoti“ wiünfdt®). Cujus 


1) Größere von ihm beramsgegebene Schriften: Compilatio commentaria 
in octo libros Aristotelis de physico s. de naturali auditu intitulatos. 
Coloniae 1506. — Expositio saluberrima circa tres libros de anima Aristo- 
telis etc. Coloniae 1508. 

2) Bol. 3. B. Zwinglis Bemerkung über fein einfliges Stundium des 
Thomas von Aquino. Opp. IV, p. 118, unten ©. 645 angeführt. 

$) Opp. VII, 2: ea lege ut lectio mihi philosophica in via seu sect& 
Scoti daretur, mas Füßli im Schweizer Mufeum, 6. Jahrg., S. 602 ab- 
weichend überfet: Wie er feine künftigen Studien Tieber zu Baſel fortjegen 
möchte, um dort bie philofophiichen Vorlefungen über Scotus zu hören. Möri- 





630 Ufer 


doctrina luculentior et verior Neotericorum de Termino fig- 
mentis atque nugaculis. — Die handſchriftliche Dedilation Gla⸗ 
reans an Zwingli ift nicht ohne Intereſſe. !). Ul. Zwingli, eru- 
ditissimo bonarum artium M. Henr. Glar. Loriti S(alut.) 
d(ieit) p(lurimam). Habes libellum, vir clementissime, de 
Aristotelis servatione inscriptum, quem rogo hilari fronte 
accipias: credidi enim rem tibi fecisse gratissimam, tum quod 
Aristotelicus es, tum etiam quoniam multos pertinaciter 
hunc condemnare videmus. Quorum ut insaniem rabiemque 
sedare possemus: solus ille Lambertus hujus libelli auctor 
quocunque me verterem occurrere visus est, qui ex sacrae 
scripturae testimoniis rem hanc profunde speculatus 
est, probavitque luculenter. Nec obstat, quoniam parum 
eleganti stylo usus sit. Nam oratores non sumus omnes. 
Forsitan enim plus veritati quam elegantiae studuit, quod 
quidem te ipso teste longe melius est. Quo fit ut labia 
comprimant, qui hactenus Aristotelem damnarunt, quum nec 
hoc nec oppositum probare possunt. Vale et me ame. Be 
merkenswert ift diefe Dedilation namentlich al8 Zeugnis der Ger 
finnung, in weldjer Glarean eine Unterfuchung der Frage wünfcht: 
aus Zeugniffen der 5. Schrift ſoll fie entjchieden werden, und für 
eine Prüfung derjelben in diefem Geifte fcheint ihm allein Lambertus 
de Monte etwas DBefriedigendes geleiftet zu haben. Nicht um eine 
rationaliftifche Seligfprechung ift e8 ihm zu thun, etwa nad) dem 
Geſchmack freidenkerifher Humaniften; eine folche hätte ja auch 
jene fanatijchen Eiferer niemals belehrt. Wenn Ariftoteles in der 


Tofer Hingegen (S. 24) wie oben. — Das folgende de Termino bat Füßli gar 
nicht überſetzt. Bezieht es fi auf die Streitfragen über die Dauer der Gnaden⸗ 
zeit, deu terminus gratiae, der ſich nach der mittelaterlichen Theologie abjolnt 
anf dieſes Leben beſchränkte, alſo daß ungetauft fterbende Kinder ber Ver⸗ 
dbammmis anheimfielen? Es ift allerdings nicht gejagt, daß jene „Neueren“ 
mit ein Grund waren, weshalb Glarean fi von Köln wegiehnte, allein es 
läßt fih) aus dem Zuſammenhang vermuten, und. dann liegt e8 nahe, an bie 
oben im Text angebeutete Richtung zu denken. 

1) Aus der höflichen Anrede „vir clementissime‘ ift auf eine frühe Zeit 
zu fchließen; denn fpäter (cf. Opp. VH, 5) wird in freundſchaftlichem Tone 
Torrefpondiert. 


Initia Zwinglii. 631 


Schrift des Lambertus fo ziemlich zu einem chriftlichen Theologen 
oder Philoſophen zugejhnitten wird, fo fcheint diefer Mangel 
an Unbefangenheit den Glarean nicht geftoßen zu haben. Die ans 
tife Philofophie war ihm, einem Anhänger der älteren Scholaftif, 
noch nicht in ihrer Differenz von der chriftlichen Theologie zum 
Bewußtfein gelommen. Er kannte fie fchwerlich fchon aus ven 
Quellen. Zwingli nennt er wohl nicht in einem andern Sinn 
einen Ariftotelifer !), al8 wie er fich felber als einen folchen bes 
trachtet. Der Schluß der Dedilation endlich zeigt, wie bei diefen 
Humaniften edelften Schlages das ernfte Streben nad) Wahrheit 
das ſprachliche Geſchmacksintereſſe weit überwog, und wie nicht die 
Barbarei des Stils, fondern die Barbarei der Gefinnung von ihnen 
als der größte Feind angefehen wurde. 

Nah der von Glarean unterftrihenen Vorbemerkung, daß 
„Autoritäten, d. 5. Zeugniffe der Schrift und der Beil. Lehrer hier 
mehr beweifen als Vernunftgründe”, wird von Lambertus an einer 
Menge allerdings ausschließlich biblifcher Beiſpiele von vorchriſt⸗ 
lichen Perfönlichkeiten außerhalb des Bundesvolkes der Gnadenftand 
nachgewiefen oder wenigftend glaubhaft gemacht, zunächſt an Beis 
fpielen aus den Vätern vor Abraham, dann an foldhen aus ben 
unbefchnittenen Frommen. So bütten zur Zeit des Geſetzesbundes 
auch Heiden den wahren Gott gefunden und ihm gedient, und diefen 
jei nun Ariftotele8 anzureihen. Es finde fi Hier überall implicite 
die fides in Christum venturum. Man fieht, Lambertus will 
nicht etwa eine natürliche Religion der geoffenbarten in Abjicht auf 
beifbringende Kraft an die Seite ftellen. 2). Es ift vielmehr feine 
unzweibeutige Weberzeugung, bag nur der Glaube an Chriftum 
ventum oder venturum, al8 explicite oder auch implicite vor» 


1) Schuler teilt mit (a. a. O. Anm. 42, &. 306), Glarean babe Zwingli 
die Schrift des Ariftoteles von den Tieren geſchenkt und in einem freundfchaft- 
lichen Begleitichreiben ihn ebenfalls einen „Arifotelifer” genannt und gegen bie 
Feinde des Ariftoteles geeifert. Die Bezeichnung ift alfo in ſehr allgemeinem 
Sinn zu nehmen. 

2) Eher anerkennt er (tm Berlauf feiner Schrift) eine außerbibliſche Wahr- 
heitsoffenbarung und Propfetie in vereinzelten, allerdings unglücklich gewählten 
Beifpielen (Sybille xc.). 


682 Ufteri 


bandener felig made. Und ganz biejelbe Meinung hatte es auch 
jpäter bei Zwingli mit der vielangefochtenen Idee von der Selig» 
feit edler Heiden. Y). Lamıbertus redet freilich weder von einem 
Herkules, noch von einem Thefeus, noch von einem Sofrates, noch 
von einem Cato oder Scipio, er befchränft fi auf den Ariftoteles, 
und da muß man fich ja allerdings an bie guten Dienfte erinnern, 
die derjelbe der mittelalterlihen Theologie geleiftet und durch die 
er ſich wirklih eine Ausnahmsftellung, eine gewiſſe Infallibilität 
erworben; man kann aljo fagen: Zwingli geht in den Konfequenzen 
viel weiter, fo weit, daß ohne Zweifel felbft ein Lambertus den 
Kopf geichüttelt hätte; aber auch wirklich nur in den Konfequenzen, 
nicht eigentlich im Prinzip; diefes hat er fchon bei Lambertus ge⸗ 
funden. 

Der nämliche Sammelband, in welchem die eben befprochene 
Schrift fih findet, enthält noch Verſchiedenes, das Zwingli wohl 
durch einen andern feiner humaniftifchen Freunde, durch Beatus 
Rhenanus, zugelommen ift, denn es find vermifchte, von dieſem teils 
herausgegebene, teil8 empfohlene Schriften. Derfelbe hatte in Paris 


1) Bgl. dazu das von Sigwart, Ulrich Zwingli, ©. 120 und 146 Ge- 
fagte; und Hundeshagen, Beiträge zur SKirchenverfaffungsgeichichte und 
Kirchenpolitit, S. 339 f. Anm. Hundeshagen weicht zwar darin von Sigwart 
ab, daß er vom einer Bermittelung durch den Aoyos anepuarızös redet, mas 
nad Sigwart eine Zwingli durchaus fremde Idee einmengen heißt. Bgl. endlich 
wie Bullinger Zwingli interpretiert und gegen Luther in Schug nimmt bei Befta- 
lozzi, Bullinger, ©. 231. Darin herrfcht mithin allgemeine Übereinftunmung, 
daß Zwingli ein Seligwerden nur durch Ehriftum kennt; Hundeshagen führt 
aus der Exegesis hist. resurrect. die Stelle an: Quicunque servantur, 
per Christum servantur, h.e. per misericordiam Dei, quam mundo 
in Christo obtulit. Diefer Gelehrte fagt daher aud mit Recht: Die Anficht 
Zwinglis ift Teinesmegs eine etwa lediglich aus der humaniſtiſchen Bildungs» 
weife abzuleitende oder gefchöpfte, fondern ein ähnliches Intereffe, den ohne feine 
Schuld außer Zufammenhang mit ber chriftlichen Heilsölonomie gebliebenen 
Teil der Menfchheit von dem dur Ehriftum erworbenen und verfündigten 
Gnadenheil nicht abſolut ausgeichloffen zu denken, läßt fi als gefunde Reaktion 
ber fittlichen Weltanficht entgegen einer einfeitig religiöjen, befanntermaßen durch 
faft alle Jahrhunderte der Kirche hindurch bei folgen nahweifen, welche 
damit keineswegs die Kardinallehre, daß niemand zu Gott 
komme, ale dur Ehriftum, etwa befeitigen wollen. 


8V 


Initia Zwinglü. 683 


unter dem berühmten Ariftotelifer, Jakob aber Stapulenfis, ftudiert 
und aljo wohl auch die von diefem verfaßte „in Politica Ari- 
stotelis introductio‘“* Zwingli zur Lektüre zugefandt, zugleich noch 
den economicus Xenophontis, der gleichzeitig (Paris 1508) er. 
fhienen war. Mit den Kirchenvätern bejchäftigte fi Rhenan früh 
fon, wir haben von ihm fehr geſchätzte Ausgaben von foldhen, er 
unterftüste den Erasmus bei feinen Bemühungen um die Väter 
und wurde von demfelben fehr hoch gehalten. Sein Lehrer Cono 
förderte ihn zu Bajel in der griechifchen Sprache, überjeßte ſelbſt 
griechifche Kirchenlehrer, 3. B. Schriften des Gregorius von Nyſſa, 
bie auch wieder (wohl durch Rhenan) in Zwinglis Hände kamen, 
und regte feinen Schüler zu ähnlicher Beichäftigung an. So gab 
diefer denn 1512 die oratio des Gregor von Nazianz heraus, die dere 
felbe auf den Nyſſener gehalten, als diefer gefommen war, ihn 
zum Biſchof zu weihen, und gleichzeitig des Baſilius Rede de 
differentia usiae et hypostasis an Gregor von Nyffa, Beides in 
lateiniſcher Sprache. Es findet fi died alles in dem nämlichen 
Sammelband. Eine beftimmte Einwirkung dieſer meift Kleinen 
Schriften auf Zwingli läßt fi natürlich nicht nachweilen. Wo 
Marginalien am interefjanteften wären, bei den Traktaten des Gregor 
von Nyffa de anima, de homine, de resurrectione, de pro- 
videntia etc. finden fi feine. Doch muß diejes Kirchenlehrers 
Auffaffung vom Menſchen, dag er da8 Band zweier Welten fei, 
an ber Spige der irdiichen, fie als Mikrokosmus zufammen- 
faffend, und als Aoyıxov wo» Hineinragend in die unfichtbare 
Welt, bei Zwingli einen empfänglicden Boden gefunden Haben, 
denn wir begegnen bei ihm fpäter einer ganz verwandten Ans 
ſchauung; und auch Gedanken wie diefer: das Ebenbild Gottes ift 
nichts Körperliches, fondern das Gottverwandte im Menfchen als 
Potenz aktueller Verähnlichung, alles, wodurch derfelbe imftande 
ift, Gott zu erfaffen und mit ihm in Gemeinſchaft zu treten, 
fingen ja unverkennbar an die Zwingliichen Ideen an !), ſodaß 
wir die analogen bei Picus durchaus nicht in einfeitiger Weife 
zu betonen berechtigt find. Allein von einer Kopie tft freilich 


1) Vgl. Sigmwart a. a. DO. ©, 765f. 


634 uſteri 


auch hier nicht die Rdde. Die Spekulation des Gregor von Nyſſa 
ſchlug verſchiedene Wege ein, auf die Zwingli ihr nicht folgte; fie 
ſuchte namentlich den Dualismus zwiſchen Geiſt und Körper, von 
dem fie ausging ), zu überwinden, während derſelbe ja bei Zwingli 
ſchroff und unvermittelt entgegentritt. 

Die von Rhenan ſelbſt herausgegebenen Stücke fodann füllen 
nur wenige Seiten; aber gerade jene Rede des Bafilius ?) Hat 
Zwingli fehr aufmerkjam gelefen und feine Randbemerkungen dazu 
gemadt; und wenn Sigwart fagt), er habe für den wahren 
Sinn der traditionellen trinitarifchen Zormeln gar fein Organ ge⸗ 
habt und in die das Trinitätsdogma bedingende Denkweife fich 
nicht zu finden gewußt, jo entjpricht died zwar dem @indrud, den 
man aus feinen Schriften gewinnt, wenn man ihm gleich nicht 
abfprechen kann, daß er fich in feinen Lehrjahren eifrig aud mit 
diefem Problem befaßt; noch in den weiter unten zu berüdfich- 
tigenden Kommentaren, die er ftudiert, find Spuren in Menge 
vorhanden, wie Lebhaft ihn bie trinitarifche und die chriftologifche 
Frage befchäftigt Haben. Beſonders bedeutfam erjchien ihm bei 
Bafilius der nun auch beftimmt auf den h. Geift ausgedehnte Ge⸗ 
fichtspunkt der Wefenseinheit in der Gottheit, und zwar in dem 
religiöfen Intereife, jofern dadurch der-abfolute Wert des Chriftentums 
und die Solidarität der 3 trinitarifchen Perfonen in ihrer Heils⸗ 
wirffamfeit und in der Heildaneignung ins Licht geftellt werden 4). 
Wohlgefallen fand er auch an dem zur Veranſchaulichung herbei- 
gezogenen, jchönen Bild der Strahlenbrehung, indem er zugleich bie 
Bemerkung des Baſilins über die der Glaubensanſchauung zu 
vergleichende Lnvoflfommenheit der Verfinnlihung des fchlechthin 


1) Auch nad) ihr giebt die Sinnlichkeit den Anlaß zum Fall. 

3) Auch als aslketiſchen Schriftftellee ſchätzte Zwingli diefen Kirchenvater 
fehr hoch. Opp. V, 40. 

8) Ulrich Zwingli, ©. 72. 

4) Die Chnrakteriftil der zweiten Hypoſtaſe: filius solus unice ex ingenito 
lumine elucens bat Zwingli allerdings mißverftanden, indem er das „in“ in 
„ingenito“ nicht privativ faßte; allein es leitete ihn Hier der Haffiiche Sprach⸗ 
gebrauch irre und bie Verwiſchung des Wortipiels in der ihm vorliegenden 
lateiniſchen Überfegung des griechifchen Movoyers &x ou aysrııjzou paros. 


Initia Zwingli. 635 


Überfinnfichen unterftrih. Man begegnet auch fonft oft bei ihm 
einer großen Vorliebe für Gleichniſſe zur Veranſchaulichung gött- 
licher Geheimniffe. — Die Trinität felbft anlangend blieb auch 
Zwingli die Einheit des göttlichen Weſens ftetd die Hauptſache; 
fie betont er mit Vorliebe 3. B. Opp. IH, 1795. Es iſt daher 
begreiflih, daß er Über das immanente trinitarifche Verhältnis 
furz hinmwegging (,„servato notionum ut vocant discrimine ‘“), 
indem er nur etwa (wie aud Luther, ſ. Köſtlin a. a. D.], 
102) an die Auguftinfhe Parallele von memoria, intellectus . 
und voluntas erinnerte oder ein anderes Gleichnis vorfchlug, doch 
ohne darauf großen Wert zu legen (Ufteri und Bögelin, 
Zwinglis W. im Auszug I, 145f.). Es jcheint ihm auch der 
Geift der Auguftinfhen ZTrinitätslehre, wie er fie in dem aus 
feinem Befig noch vorhandenen Buche de Trinitate entwidelt 
fand, nicht eigentlich Mar geworden zu fein, da er Opp. IV, 83 
mit Berufung auf die Schrift die 3 Perfonen mit den 3 Haupt: 
eigenfchaften dee summum bonum (potentia, bonitas, veritas) 
Yarallelifiert. Eine folche Parallelifierung kommt zwar fchon bei 
den Scholaftifern, befonders Abalard und Hugo von St. Victor vor, 
lehnt fi) aber dort an die pfychologifche Dreiheit der Auguftin« 
ſchen Zrinitätslehre an und bezieht fich zunächft auf das inner« 
trinitarifche Verhältnis, weshalb auch die Eigenfchaften in anderer 
Reihenfolge ftehen: Macht, Weisheit, Liebe. Bei Zwingli hin⸗ 
gegen ift es durchaus die Offenbarungstrinität, die ihn intereffiert, 
und mit Rückficht auf diefe ergiebt fi ihm aus der Schrift fehr 
einfach obige Verteilung; er ift aber im Irrtum, wenn er meint, 
damit den eigentlihen Quellen der kirchlichen Trinitätslehre auf 
die Spur gelommen zu fein !). Die von Sigwart behauptete An» 
lehnung an Picus 2) ift mithin auch nur ſcheinbar, indem bei letz⸗ 
terem die 3 Momente ebenfall® anders verteilt find (ens, verum, 
bonum, a. a. O. ©. 19f.). 

Die in dem genannten Sammelband ferner enthaltene Rede 
des Gregor von Nazianz verbreitet fih mit Rüdfiht auf einen 


1) So urteilt auch Fin sler, Zwingli (3 Borträge), ©. 47. 
2) A. a. O., S. 72. 
Theol. Stud. Jahrg. 1886. 41 


6356 Uſteri 


bevorſiehenden Märtyrertag über die rechte Art ſolcher Feſtfeiern, 
und Zwingli unterließ es nicht, feinem ſchon bier vorgefundenen 
fpäteren Lieblingogedanken, die wahre Feier ſei nicht weltlich, noch 
fleiſchlich, ſondern beftehe in Aufmunterung zur Nachahmung des 
Wandels und der Kümpfe der Märtyrer, Beifall zu geben. 

Weitaus das Wichtigfte aber in diefem Sammelband find die 
Schriften des Zah. Franz Picus v. Mirandula: 1) Hymni he- 
roici tres ad Trinitatem, Christum et Virginem cum com- 
mentarüs lucalentissimis ad Joannem Thomam filium, 2. Auft. 
Argentorati 1511 (die 1. Auflage war 1507 zu Meiland er» 
Schienen), mit einigen MHeineren Gedichten. 2) Liber de provi- 
dentia Dei contra Philosophastros, in duas partes divisus, 
Argentinae 1509 (die 1. Auflage war 1508 erſchienen), eben- 
falls mit einigen Heineven Zugaben 1). 

oh. Franz Picus, Graf von Mirandula und Concordia, war 
trog der widrigen Schidjale, die ihn zeitlebens verfolgten, von 
einem unermüdlichen Eifer für die Wiſſenſchaften beſeelt. Er ge⸗ 
noß bei allen, einer newen, befjeren Zeit freudig entgegenfehenden 
Gelehrten, die nicht geradezu vom engherzigiten, lichtfeindlichſten 
Geift befeſſen waren, gleich feinem herühmteren Oheim Joh. Bicus 
ein großes Anſehen ?), wiewohl er legterem an Originalität, Frei⸗ 


1) Den Hymnen ift ein empfehlendes Vorwort von Ahenan beigedrudt. 
Da beide Schriften in der vorliegenden Ausgabe zu Straßburg erjchienen find, 
die zweite auf Beranlaffung des Joh. Grüninger unter jorgfältiger Zugrunde⸗ 
legung des Autographon des Verfaffers, if anzıniehmen, daß Zwingli fie von 
dorther durch Ahenan erhalten bat. Gedachtes Borwort wünjcht, daß über der 
antiken Litteratur folde echt chriſtlichen Schriften bei den humaniftiichen 
und philoſophiſchen Studien die ihmen gebührende Beachtung finden möchten: 
der Inhalt diefer Hymnen und der beigegebenen interpretamenta fei em un» 
gemem reicher und ummfaflender: universa pene et divina et naturalia et 
moralia praecepta — fabularum mysterig. Letzteres bezieht fi) anf bie 
religrons· philefophiiche Deutung der Mythen, au denen dev Berfafler wirklich 
nicht nur ein äſthetiſches Phantafie- Iutereffe nimmt, und die er nicht bloß 
vhetorijch-poetifch verwendet, fondern deren mysteria er in chriſtlichem Geift zu 
deuten fucht. 

2) Es if von Juterefſe, das in der von Zwingti mit großem Beifall ge- 
Iefenen Verteidigung gegen die Theologen von Löwen und Köln noch wenig be⸗ 


Initia Zwingli. 687 


heit und Beweglichkeit des Geiftes und wohl auch au Gelehrſam⸗ 
feit nicht ebenbürtig mar. Dieſen ſcheint er ſich, ohne ihn gu er⸗ 
reihen, zum Vorbild für feine Studienricdjiung genommen zu 
haben. „I cultiva les sciences & lexemple de son oncle, 
mais son trop grand attachement & la Scholastique hu fit 
negliger la belle Latinité“ 9. Während du Pin die Werte 
v5 Joh. Picus folgendermaßen dharafteriftert: Is sont ecrits 
avec beaucoup d’elegance, de facilitE et de nettete, et il y. 
fait paraitre autant de pénétration d’esprit que d’etendue 
de conmaissancen, lautet das Urteil ber diejenigen des Franz 
Picus: I n’y a pas tant d’esprit, de vivacite, de subtilite, 
d’elögance, ni m&@me tant d’erudition dans les siens que 
dans ceux de son onele, mais il y a plus d’egalit£ et de 
splidite. So war denn wohl der Neffe auch in lirchlichen Krei⸗ 
jen genehmer, wie er ſich denn der beſonderen Gunft des Papftes 
zu erfreuen batte, indem Julius IL ihm. wieber zu feinen Be 
figungen verhalf. Ein Dann wie Joh. Eck, der freilich anfäng- 
lich auch zu den aufftrebenden, einer neuen Zeit bahnbrechenden 
Geiftern zu gehören ſchien, erhob die Ikaliener, Oheim und Neffen, 
in den Himmel und war von legterem befonders entzückt, feit er 
bei einem Beſuch ie Mirandula die gafffreundlichfte Aufnahme 
gefunden. In einer Rede, die er anno: 1515 zu Ingolftadt ger 
halten, findet ſich der Pafſus: Quis quaeso hodie in Italia in 
omni philosophia doctior exstat Alberto, prineipe Carpi — 
quis. Joanne Franzisco Pico, doctissimo comite, aut elegan- 
tior vel copiosior sive philosophiam veolueris sive theole- 
giam? qui licet dis: extorris, castris suis et oppidis priva- 
tus, inter arma tamen absolutissima scripta in lucem edi- 
dit, et jam Caesaris Maximiliani beneficio ad Mirandulae 


kannte Urteil Luthers über ben älteren (Joh.) Pieus zu vergleichen. „Wie 
hat man des Roh. Pici Schlüfe mit fo grenlichem Lärmen verdammt, nur, 
daß die treffligen Magistri nostri ihre Irrtümer für Recht behaupteten! Ber 
aber bewundert fie wicht heutiges Tages außer irgend einigen alten Sophiften, 
die. irgend in einem Winkel fchmeigen müffen, ob fie wohl vor Grimm berſten 
möchten.” (Walch, Luthers Werle XV, 1608.) 
1) M&moires des Hommes Illustres par Niceron, vol. 34, p. 147. 
41 * 





638 uſteri 


dominium postliminio reversus !), licet nondum ab armis 
quietus, adhuc quotidie magna et praeclara opera sub in- 
cude literatoria habet ?). 

So viel zur allgemeinen Charakteriftil diefes Joh. Franz Pi⸗ 
cus, deſſen Schriften Zwingli in Glarus gelefen, in dejjen Nähe 
er vielleicht fih au, als er in Italien war, perfönlich befunden, 
gerade als denfelben abermals das Schickſal fo frhwer traf. Am 
[ehrreichften ift aber ein Blick in diefe Schriften ſelbſt. Der 
Neffe ift ein philofophifher Effektiter wie der Oheim. Der Au- 
toritäten, die in der zweiten Schrift de providentia Dei ange 
rufen werden, ift Legion: Griechifche und Iateinifche Kirchenväter, 
Neuplatoniker, Klaſſiker, Stoifer, Epikuräer, Gymnofophen, Druis 
den, Brahmanen, dann natürlich die Scholaftifer, aber auch die arabischen 
Ariftotelifer, fogar mehr oder weniger mythiſche Figuren: Pythago⸗ 
ras, Orpheus, Hermes Trismegiftus x. ꝛc. Allein diefes phan⸗ 
taftifch klingende Aufgebot von Wahrheitszeugniffen aus allen Völ⸗ 
fern und Religionen, Ländern und Zeiten Bat einen ernften Hinter 
grund — die dee, daß das Göttliche fi am menſchlichen Geift 
nirgends unbezeugt gelaffen °). Selbft bei einem Epilur fehle das 


1) Nach einer zweiten Vertreibung, bie auf die Niederlage des Papſtes in 
der Schladht von Ravenna 1512 gefolgt war. 

3) Anno 1522 freilih, als er eine Verteidigung bes Dionysius Areo- 
pagita gegen Luther in Deutfchland wollte druden laffen, Hatte er damit fein 
Glüd. Zw. Opp. VII, p. 220 oben. Sehr bezeichnend iſt es für ihn, daß 
er fi zum Advokaten jener neuplatoniſch-chriſtlichen Myſtik aufwarf, vor der 
Luther zufolge genauerer Beſchäftigung mit ihr nichts wiffen wollte, trotzdem 
daß er fie bei Tauler benützt fand. Daß wohl auch Zwingli einige Anregungen 
von diefer Seite her empfing, wird ſich unten noch zeigen. Betr. Luther f. 
Köftlin, Theol. Luther I, 109 f. 

3) Bol. dazu Uferi und Bögelin, Auszug aus Zmingfis Werfen 
IL, 273 ff. Auch de providentia Opp. IV, 93. Aus allen diefen AÄußerungen 
Zwinglis ergiebt fid feine Beeinfluffung durch platonifche Ideen, wie fie ihm 
eben dur die mannigfaltigften Vermittelungen und auch unmittelbar nahe 
traten. Ob er don Picus fi) auf das durch die verjchiedenften außerchriftfichen 
Autoritäten bezeugte angeborne Gottesbewußtfein hingewieſen ſah oder bei dem, 
wie fich noch zeigen wird, vom ihm hochverehrten Origenes und ähnlich wieder 
bei Erasmus von den in der Seele verborgenen Brunnen las, die aber erft 
vom ‚Schutt gereinigt werden müſſen, immer Tagen platoniſche Einflüffe zu⸗ 


Initia Zwinglii. 689 


Gottesbewußtfein nicht, es fei mithin etwas unmittelbar Gegebenes, 
Unveräußerfiches, nicht erft a posteriori, fondern a priori von 
Gott gewirktes. Zwingli hat fi aus dem Text heraus bie 
Worte an den Rand gefchrieben: tactus divinitatis in no- 
bis notitia melior, und das Citat aus Thales unterftrichen: 
omnia deorum plena indeque castitatem et religionem elici. 
Picus bezeichnet es als einen Hauptzwed feines Buches, zu zeigen, 
daß dem Lichte der überwältigend fich bezeugenden göttlichen Wahr- 
heit niemand ſich ganz habe entziehen können: in hoc opere cum 
alia multa tum haec maxime nova et in nostrae christia- 
nae religionis laudem spectabuntur, quod, qui patroni pu- 
tabantur impietatis, si non pietatis patroni jurati ve testes, 
at saltem stare adversus impios (tanta est vis veri: biefe 
Worte bemerkt fit) Zwingli am Rand) deprehendentur, et 
edicto cavere, ne, qui se tanquam hostes providentiae se- 
quebantur, aut Lyceum amplius intrent, aut *peripatetica 
nomenclatura digni censeantur. Die ganze Stelle ift von 
Zwingli unterftrihen, und kein Kenner feiner Anfchauung von der 
göttlichen Offenbarung wird fid) defjen wundern. 

Schon das Thema mußte unfern Reformator ungemein ans 


grunde, und anf ſolche ift dann auch die Art zurüdguführen, wie 
Zwingli die Wechſelbeziehung zwifhen der Seele und dem 
Worte Gottes darftellt, indem er dielelbe aus dem Schöpfungsverhältnie 
bes Menjchen zu Gott Herleitet, während, wie Stähelin (Bollsblatt für bie 
reform. Kirche, 1884, Nr. 1, S. 5) bemerkt, Luther das Gnabenverhältnis zu 
Ehrifto zugrunde legt (j. auch Köftlin, Theologie Luthers II, 288f. und 
868 f.). Bol. betr. die Anſchanung Zwinglis die Predigt von der Klarheit 
und Gewißheit des Wortes Gottes (3.8. Opp. I, 58) und dazu Stähelins 
Inbiläumsſchrift, S. 38. Vgl. auch die, verglichen mit Luther, jehr verſchiedene 
Stellung, die in Zwinglis Syftem ber erleuchtungsfähigen Vernunft zu- 
kommt. (&. Sigmwart a. a. O., ©. 45f.) Köſtlin bat ja gezeigt, wie bei 
dem beutjchen Reformator Äußerungen gleich der a. a. ©. II, 289 unten mit- 
geteilten ganz vereinzelt und nicht weiter zur Geltung gelommen find, während 
Hingegen Zwingli höchſt charakteriftifcher Weiſe fih im Abendmahlöftreit zu 
einer eigentlichen Theorie über das Verhältnis von Glauben und Vernunft ver- 
anlaßt ſah. S. das Subsidium de eucharist., bef. Opp. III, p. 248g. 
845 sqq. 491 sq. 493 sq. Bol. auch endlich Zwinglis Anſchaunngen vom 
„ianeren Wort“. — Bol. bazu Finsler a. a. O. ©. 39f. 9. 36. 





0 | uſteri 


ziehen. Wem Picus im Eingang fagt: das Problem von der 
Vorfehung liegen laifen, Heiße otio negotium permutare, fo bat 
ſich das Zwingli nicht nur flüchtig durch Unterftreihen gemerkt, 
fondern e8 Hat ihn ja wirflich die Befchäftigung wit diefem Gegen⸗ 
ftand bis in die legten Jahre maufhörlich begleitet, von wie früh 
an, wird fih noch aus mandem Symptom im Verlauf uriever 
Unterfudung zeigen. Dem Picws ift «6 nun, ehe er feine eigenen 
Gedanken entwidelt, wie ſchon angedeutet, namentlich daran ger 
legen, einen großartigen Consensus ber verjchiedenften Geifter zu⸗ 
gunfien der von ihm verteidigten Wahrheit nachzumeilen. Er ift 
Synlretift wie fein Ogeim; wicht nur Plato uub Xriftoteles, fon« 
ern auch Averrhoes und uch viele andere Philchophen mufſen 
bongr& malgr& unter einen Hut gebracht werden, was natürlid 
ohne manche erziummgene Deutmg und erſchlichene Behauptung 
nicht gelingt. Bedeutfam ift, daß bei Joh. und Joh. Branz Pie 
cus der Platonismus Zwingli nehetsat; alderding® nicht etwa weit 
Hervorhebung des Gegenjages zum Ariſtoteliomus, ſodaß Zwingli 
fehr wohl ven dieſem Ideenkreis fih angezogen fühlen und dad 
daneben als einen „Aristotelicus‘ fich Betrachten formie. Freilich 
mochte er dem Unfeblbarkeitsfultus, der mit Ariſtoteles getrieben 
wurde, zu allen Zeiten abhold fein, er hat menigftens eine Stelte 
unterſtrichen, da Picus von dieſer Vergätterung redet und es ta⸗ 
delt, dag man die chriftlichen Dogmen fogar durch die Autorität 
des alten Philoſophen ftügen wolle, weil deſſen Lehren "dem 
Ehriftentum am nächſten ftänden, während dor nach Auguſtin 
dies eher nan Plato und nad Hieronymus von den Stoifern zu 
fagen wäre. Dane nimmt aber Picus doch den: Ariftoteles 
gegen ben Vorwurf, feine „suprema mens“ und fein „pri- 
mus motor“, wie er die Gottheit auffajfe, befümmere fich 
nicht um die menfchlichen Dinge, in Schuß, Habe dad ſogar 
das unmiffende Voll vermöge. jenes tactus divinitatis da® “Das 
fein und die Vorſehung Gottes geadnt; ben Gfauben an Lohn 
und Vergeltung babe Orpheus aus dem. alten Ägypten gebracht. 
Und wie tief Ariftoteles über das göttliche Walten nachgedacht, 
thut Picus in folgendem, von AZwingfi unterftrichenen @itat dar; 
quod multis non ex. benevalentia Deus ingentes prae- 


Initia Zwinglii. Sat 


staret successus, sed ut ipsorum calamitates inde fierent 
insigniores. 

Natürlich, ift and davon die Rede, wie Gottes Vorfehung ſich 
anf das Kleinſte und Einzelnſte erftrede, anf dasjenige, was man 
„vie“ nenne, was aber für ihn das micht fei, um der Art willen, 
mie er's erfenne, er Teite nämlich feine Erkenntnis nicht ab vom 
Ding, fondern erfenne es in sua causa Zwiſchen dem Er» 
fennen und dem Erfantten (intelligere und. quod intelligitur) 
ft in Gott feine Zweiheit, alfo daB das Objelt des Etbennens 
etwas außer ihm Beſtehendes, Selbftändiges wäre (vgl. Hierzu 
Zwingli de provideatia Dei (Opp. IV, p. 189): Esse rerum 
universarum esse numinis est. Ut non sit frivola ea Phi- 
losophorum sententi&, qui dixerunt, omnid unum usse; si 
recte modo ihos capiamus, videlicet ita ut omnium esse 
Auminis sit esse, ut ab illo cunctis tribustur et sustine&- 
tur), auch die Vielheit des Erfannten bringt in fein Wefen 
feine Bielheit oder Zufammengefetheit (compositio.. (F. 15.) 
In ſich ertennt Gott alles, auch das Kleinfte, was aber die Er⸗ 
fenntnis des Größten und feiner felbft nicht hindert. Denn alles 
it in Gott „ut in causa“. Nichte empfängt er von einem 
andern, Alles ift zuesft in ihm). Picus beruft fi auf das 
„alten Phildſophen einleuchtende* johammeifhe: quod factum est 
in ipso vita erat (eine ſchon von alten Kirchenlehrern angenom» 
mene Konſtruktion). Quamgquam intellectio divina a re, quae 
intelligitur, denominari solet, tribuendum est id tamen re- 
lationi respectuive, cujus natura est ad aliud dici. — Ipsa 


1) Bgl. hierzu Zw. Opp. III, 160. Neque rursum sic est vita motus- 
que omnium rerum, ut aut ipse temere inspiret aut moveat, aut quae 
spirant vel moventur temere ex ipso petant, quo vivant et moveantur. 
Quomodo ex ipso peterent quae ne esse quidem possent, nisi ex eo 
essent, aut quomodo peterent, antequam essent? Constat ergo Deum 
#on modo tanquam materiam aliquam id esse, a quo omnie sunt, mo- 
ventur et vivunt, sed simul esse sapientiam, scientiam, prudentiam ta- 
lem, cui nihil sit absconditum, nihil ignotum, nihil nimis remotum, nihil 
inobediens. Und das wird dann auf den Stachel einer Müde (alſo gewiß 
auf ein „vile‘) appliziert. 


642 Uferi 


quoque omnia, quae in eo, antequam fierent, vixisse dici- 
mus, etiam si facta non fuissent, nihil tamen divinae per- 
fectionis imminutum esset, quamvis respectus illi rationis 
ad res creatas cessavissent, — Unico actu simplicissimo et 
infinito se intelligens omnia intelligit; nulla ibi successio 
(Aufeinanderfolge der Eindrüde) nulla diversitas, nulla fati- 
gatio; nihil extrinsecus haurit; omnia quae sunt, quae 
fuerunt, quae futura sunt, in simplicissima illa et aeterna 
prorsus essentia Conspiciuntur, qua de re cecinimus in 
hymno ad Trinitatem: 
Excelsa semper tu conspicis omnia mente, 

Nam si quae exstiterunt et si quae lapsa futuris 

Junguntur, solo te noscens diceris actu _ 

Noscere: quis !) pariter, quod sint, Deus optime praebes. 
Diefe ganze Ausführung ift unterftrihen. Man begreift, daß 
Zwingli an ſolchen fpelulativen Erörterungen Intereſſe fand, aber 
es ift bemerkenswert, wie felten ähnliche, abjtrafte Unterfuchungen 
in feinen eigenen Schriften vorfommen, wie er das biblifh Ein- 
fache fpäter vorzog, und auch da, wo er den Weg pbilofophifcher 
Gedankenkonfſtruktion einfchlug, doch ftets das Konkrete und Prak⸗ 
tiihe im Auge behielt. Man vergleiche 3. B. den Epilogus zu 
feiner Schrift de providentia (Opp. IV, 138ff.), wo er dod 
verwandte fragen erörtert. Mir ift wenigftens in feinen Schriften 
feine Stelle bekannt, in der er in philofophijcher Weife die Viel⸗ 
heit der Welt in ihrem zeitlichen Berlauf aus der Ewigkeit, Un⸗ 
veränderlichfeit, Einheit und Abjolutheit ihres. Urhebers herzuleiten 
verfucht hätte. Es ergiebt ſich mithin bei aller Verjchiedenheit in 
der Auffaffung des religiös DBedeutfamen und des bibliih Zen⸗ 
tralen bei Luther und Zwingli doch aud wiederum im Prinzip 
eine Verwandtſchaft der Geiftesrichtung; ift jene Verfchiedenheit in 
Luthers kritifcher Bemerkung über Zwinglis in Marburg gehaltene 
Predigt de providentia Dei hervorgetreten, fo zeigt doch noch die 
chriftliche Umarbeitung und Erweiterung ber leßteren deutlich, daß 
auh bei dem Züricher Neformator nicht philoſophiſche, fondern 


1) (quis = quibus, Zwinglis Randbemerfung. 


Initia Zwinglii. 645 


religiöje Intereſſen die Ausschlag gebenden waren, und daß die 
Bibel als abfolute Autorität allen Ernftes aufrecht gehalten wurde. 

Wenn Picus im Verlauf feiner Schrift die göttliche Kaufalität 
auch da, wo ihrer Annahme Schwierigkeiten entgegenzuftehen 
ſcheinen, feithält und rechtfertigt, wenn er zeigt, wie auch das 
Schädliche in anderer Hinficht feinen Nuten habe, wie gerade in 
der ungeheueren Mannigfaltigleit des Gefchehens (durch Notwen⸗ 
digfeit und durch Freiheit, durch NRegelmäßigfeit und durch Un 
regelmäßigfeit) Gottes Güte und Weisheit ſich offenbare, wie des 
einen Untergang für das andere Entftehungsurfache fei, wie die 
Bosheit Anlaß gebe zur Übung der „patientia justorum * und 
zur Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit in Lohn und Strafe, 
wie überhaupt Gott Böſes nicht geſchehen laſſe, ohne ein größeres 
Gutes daraus hervorzubringen ?), wie aljo diejenigen, welche den 
Schöpfer anflagen möchten, daß er dem Menſchen Erkenntnis des 
Böſen gewährt, beachten follten: cognitionem hominis ex boni 
pariterque mali cognitione perfectiorem evadere, wie ferner 
Gott für jedes Geſchöpf nad) feiner Art forge, in der mannig» 
faltigften Weife die inftinktiven Xriebe zur Selbfterhaltung den 
febendigen Weſen einpflanze und dem Menfchen, deſſen leibliche 
Natur allerdings im Verhältnis zu feiner Würde ſchwach und ge- 
brechlich fei, in der Intelligenz und der Kunftfertigleit der Hände 
um fo größere und wertvollere Vorzüge verliehen habe, wie end⸗ 
lich die fcheinbare Ungerechtigkeit des Schickſals der Gerechten fich 
im Jenſeits als gnädige Läuterung oder Prüfung zur Erlangung 
einer hohen Seligfeit enthüllen werde ?), fo dag man mit Plotin 


1) Wie das gemeint ift, erhellt deutlih aus einer aus Plotin citierten, 
von Zwingli unterftrichenen Stelle: artificem rationem malis, 'postquam 
facta sunt, uti opportune, maximaeque esse potestatis bene malis 
uti (fol. 32). 

2) Illos, qui bene agunt et patiuntur adversa, vel, ut eorum minima 
delicta purgentur, Deus affligit in hac vita, ut nihil restet impuri, quin 
statim admittantur ad eam patriam, in qua nihil coinquinatum in- 
troibit, aut, si purgatione non egent, majore certe praemio non egere non 
possunt, quo potiuntur, qui sanctissime viventes aequo animo adversa 
pertulerint. Die Stelle ift unterftrichen; man beachte auch das „statim“. 


644 Ufer 


fagen fünne: nec malo bonum accidere nec bono contingere 
malum, und mit Yuguftin: multa Deus denegat propitius 
quae concedat iratus, — fo begreift man das Intereſſe, mit 
dem Zwingli folchen Ausführungen folgte. Ja man begegnet auch 
fon feiner jpäteren Lieblingslehre in dem von ihm ebenfalls 
unterftrihenen Sag: Nec vas testaceum figuli artem culpare 
merito potest. Aber diefe Wahrheit, daß der Menfh nur wie 
der Thon in bes Töpfers Hand, ift nun bier nit im ftreng 
prädeftinatianifhen Sinn gemeint, und es find auch feine 
Anzeichen vorhanden, daß Zwingli fie jo früh fchen in diefem 
Sinne ursierte. Zwar erklärt Picus alles Stehenbleiben bei den 
causae seeundse als ungenügend, und als eine Mittelurfache gift 
ihm natürlich auch die menjchliche Freiheit. Dennoch behauptet er, 
die Willensfreiheit fei nicht genug zu loben, fie beftehe vermöge 
der Providenz und mache den Menſchen dem freien Gott ähnlich. 
Und er bemüht fi} (Fol. 30), fie zu beweiſen. Zwingli hat fich 
den Ort dur die Randbemerkung markiert: libertas arbitrü 
probatur. „Quare si erit, quod Deus praevidet, quod 
Deus absolute voluit, nostra voluntas erit libera, et nostra 
pariter opera, quae de illa procedunt, libera judicabuntur, 
quoniam ita esse et praevidit Deus et voluit“. Die prae- 
destinatio wird genannt causa gratiae, nicht aber gleicherweiſe 
auch die reprobatio causa culpae, fondern nur causa poenae 
quae culpae ei respondet quam rationalis natura libere6 
incurrit arbitrio. ‘Die reprobatio ift die permissio, ut 
aliqua decidant ab ipso fine ipsaque salute (Fol. 27). Picus 
ſucht alfo das Problem durch Unterfcheidung von praevidere und 
praedestinare zu löjen; ein praedestinare als göttlihe Urs 
willenslaujalität findet nur für das Gnadenleben ſtatt; und es ift 
wenigſtens feine Spur vorhanden, daß Zwingli an diefem Löfunge» 
verfuh Kritik geübt. Es find im Gegenteil bis in die eriten 
Zürther Jahre hinein, wie ſich noch zeigen wird, vwerfchtedene Ans 
zeichen vorhanden, daB unfer Neformator zwar mit fteigendem In⸗ 
tereffe mit dem Problem ſich befaßt, daß er aber die fpätere Leug⸗ 
nung der Willensfreiheit noch längere Zeit nicht als die. unner- 
meidliche Konfequenz angefehen hat. Diefer Eindruck, der ich aus 


Initfa Zwinglii. 045 


meinen Quellen erhalten habe, wird übrigend durch Zwinglis 
eigenes jpäteres Geftänbnis in de providentia Dei (Opp. IV, 
pag. 113) beftätigt: Thomae Aquinatis (modo recte memine- 
rim ejus philesophiae) de praedestinatione sententia talis 
fuit: Deum, quum universa videat, antequam fiant, hominem 
praedestinare tum scilicet, quum per sapientiam viderit, 
qualis futerus sit. Quae mihi sententia, ut olim scholas 
colenti placuit, ita illas deserenti et divinorum oratulorum 
puritati adhaerenti (vgl. m. Feſtſchrift ©. 82 Anm.) maxime 
displicuit. 

Wohl auh Im Sinne des Vorausſehens ımd eines daranfhin 
gefaßten Natfchluffes ift es zu verfiehen, wenn Picus der Mei« 
nung Gregors zuftimmt: obtineri nequaquam posse, quae prae- 
destinata non sunt, sed quae sancti viri orando efficiunt, 
ita esse praedestmata, ut eorum precibus impetrentur; und 
wie wenig fataliftifch, wie durchans religiös vielmehr fein Deter« 
minismus ift, wie er den göttlichen Natfchluß als in der orga⸗ 
niſchen Einheit und Ganzheit der religiöfen Lebensäußerungen, nicht 
ober: als durch eine anßerhalb des Menfchen Tiegende Schickſals⸗ 
macht ſich vollziehend denkt, zeigt das aus Salluſt beigezogene 
Dictum des Cato: Agendo bene consulendo prospere omnia 
eedunt; ubi secordiae te atque ignaviae tradideris, nequid- 
quam deos impiores: irati infestique sunt; und man vers 
wundert ſich allerdings nicht, daß Zwingli gerade auch dieſe Stelle 
unterftrihen, wenn man an ben religiöfen Charakter denkt, den 
fein Determinismus ftet8 beibehalten. 

Eine der fihönften, ebenfalls von Zwingli unterftrichenen Aus» 
Führungen des Picus ift die, wie au an foldden, welche fih in 
die göttliche Vorfehung nicht finden können und ihren Gefegen und 
Lebensordnungen widerftreben, die ewige Gerechtigkeit gleichwohl, 
zu ihrem Gericht, fich vollziehe, indem fie nicht zum Frieden ge 
fangen können, fondern fich jelbft quälen, wie Auguftin gefagt: 
Jussisti Domine et ita est, ut omnis inordinatus animus 
git poena sibi, quo item autore didicimus, eum, qui est na- 
turae creator optimus, justissimum esse ordinatorem mala- 
rum voluntatum, quae cum bonis naturis utantur male, 





646 Ufteri 


ipsis ille, quamquam malis, utitur bene. Und endlich zeugt es 
ebenfalls von dem Wert, den der Schreibende und der Unter⸗ 
ftreichende auf den religiöfen Glauben legen, wenn auch von fol 
hen die Rede ift, die, ohne imftande zu fein, zugleich durch edle 
Geſinnung und duch wiſſenſchaftliche Cinfiht (probitate simul 
et doctrina) zu den Rathſchlüſſen Gottes hindurchzudringen, den⸗ 
noch glauben und befennen: omnia caste ab eo fieri, juste 
mundum regi gubernarique. 

Aus allem geht hervor, mit wie viel Intereſſe Zwingli der 
Gedankenentwickelung in der um ihrer Eigentümlichfeit und großen 
Seltenheit willen etwas genauer charakterifierten Schrift des Picus 
minor gefolgt if. Das Studium derfelben füllt jedenfalls noch in 
die Olarnerperiode; denn während Zwingli jpäter e8 liebte, griechifche 
Worte an den Rand zu fohreiben, finden fi ſolche Hier nod 
ganz vereinzelt, wiemwohl bei den mancherlei griechifchen, aber 
regelmäßig überfjegten Citaten im Text der Schrift felber Ber- 
anlafjung dazu vorhanden gewejen wäre. Verweiſungen auf das 
griehifhe Neue Teitament vollends fehlen gänzlich. Der Cha- 
vafter der Handfchrift ftimmt volllommen zu der frühen Zeit; 
allerdings bat Zwingli nicht, wie bei andern von ihm beſeſſenen 
Schriften e8 mandhmal der Fall ift, auf das Titelblatt feinen 
Namen geichrieben, und in feiner SKorrefpondenz ift da8 Buch 
auh nit erwähnt; allein es ift demjelben Sammelband einver- 
feibt, der jene ihm dedicierte Heine Schrift des Lambertus de 
Monte enthält, jo dag aljo die Authentie der Gloſſen gut beglau- 
bigt ift. 

Dosfelbe gilt aud) von den „Hymnen“, nur daB diefe, was 
die Randbemerkungen betrifft, weniger Intereſſe bieten. Fol. 8 
frappierte Zwingli eine Auseinanderjegung über verfchiedenen 
Schriftſinn; man dürfe an dem buchftäblichen nicht jo fehr han- 
gen, daß man ihn, auch wenn er offenbar faljch fei, doch nicht 
preißzugeben fich entjchliegen könne, damit nicht die Ungläubigen 
mit den göttlichen Ausfprüchen ihre Gefpött treiben und fich felbft 
den Weg zum Glauben verfchließen. Das war offenbar, wie fid 
noch aus vielem zeigen wird, auch in Zwinglis Augen ein rich—⸗ 
tiger hermeneutiſcher Grundfag; noch in feinen gedrudten Schriften 


Initia Zwinglii. Sr 


ift das Allegorifieren zwar mit Maß gehandhabt, aber nidht aufs 
gegeben. — Anläßlich des Namens ‚‚divi‘“ bemerkt Picus Fol. 
22: nec vulgus abhorret literatorum ab hac nuncupatione 
vivis nostri temporis principibus et divitibus attribuenda, 
quod sane recte factum minime videri debet. Wenn Zwingli 
fi) bewogen fühlte, diefe Stelle anzuftreichen, follte nicht ſchon 
etwas von jenem Eifern für Gottes ungefchmälerte Ehre, das der 
eigentliche Hebel feiner Reformation war, jchon etwas von jenem 
erniten Widerfprud gegen den Paganismns, als Motiv zugrunde 
gelegen haben? Und ift es nicht ebenfalls bemerkenswert, daß er 
eine andere Stelle, wo davon die Rede, wie Apollos Orakel den 
jeine Unwiſſenheit erfennenden Sofrate® als weife erklärt habe, 
auch durch Anftreichen hervorhob ? 

Unter den PVerehrern des Picus ift uns ſchon Joh. Ed von 
Ingolftadt begegnet. Und aud ein Buch diefes fpäteren Antago» 
niften der Neformatoren findet ſich noch vor unter den Überreften 
der Zwingliſchen Bibliothekt. Man möchte beinahe fragen: Iſt 
Saul aud unter den Propheten? Allein wenn man hört, wie 
Badian auf ganz gutem Fuß mit Ed ftand, jo daß diefer ſich ihm 
für die bei feinem Aufenthalt in Wien im Sommer 1515 ihm 
erwiejene Freundſchaft dadurd dankbar zu beweiſen ſuchte, daß er 
ihm nebit zwei anderen Gönnern, von Ingolſtadt aus, im November 
folgenden Jahres die Ausgabe feiner 1509 in Freiburg gehaltenen 
oratio adversus priscam et ethnicam Philosophiam widmete ?), 
wenn man aus diefer Rede erfieht, wie Ed urfprünglich den Män⸗ 
nern des Fortjchrittes zu huldigen Miene machte, heißt es doch am 
Schluß: Ex Italia, item Germania, Hispania, Anglia in dies 
plures prodeunt, qui antiquis philosophis in scientia doctio- 
res, in fide veriores, in vita meliores conspiciuntur, ut 
verum sit illud Pici Mirandulani: Nunc non minores Ari- 
stotele reperiri; hos ergo fidei christianae philosophos dili- 
gamus, amplectamur, observemus atque veneremur, ut cum 
eis, D. O. M. adjuvante gratia, in aeterna beatitatis sede 
olim collocati, aeternis felicitatibus philosophando perfrua- 


1) Wiedemanıu, Joh. Ed, ©. 481. 


Uſteri 


w 
⸗ 


x vernimmt, daß a. 1517 Vadian fegar den 
.aftrag, des Herzogs Wilhelms von Bayern er» 
a Somuueutars zur Logik des Asiftoteles mit 
ſchmeichelhaften Gedichte zierte !), wenn men endluh 

de noch a. 1517 der Nüraherger Chriſtoph Scheurl hrief⸗ 

se Beziehungen zwifchen Luther und Ed auf freundfchaftlichem 
Fuß vermittelte, und wie ſchmerzlich befremdend es für den Re 
formator war, die frifhen und ſchönen Breundihaftsbande ein 
Jahr nachher von Ed fo fchroff und leidenſchaftlich zerriffen zu 
jehen, was ihn indes nicht Hinderte, auch jet noch in demfelben 
einen Mann von großer Gelehrſamkeit, Geiſt und Scharffinn un 
befangen anzuerfennen ?), dann begreift man, namentlich mit Nüd- 
ficht auf die Beziehungen zu Vadian, dag defjen Freund Zwingli 
in Glarus ein Wert von Ed mit Amterefie las, wenn es fich auch 
nicht beftätigt, daß die drei, wie Füßli a. a. D, ©. 492 er 
zählt, mit einander in Wien fäudiert. Auch von ben Heraus 
gebern von Zwinglis Werfen iſt dieſe unerwiefene Nadriegt in einer 
Anmerkung aufgenommen (Opp. VII, p. 94). PMerfwürdigermweife 
behandelt Ecls Buch wieder dasjelbe Thema, das Zwingli wie kaum 
ein anderes von fräh an beichäftigte: die Prübeftination. Das 
Wert, betitelt Chrysopassus oder VI Centuriae de praedesti- 
natione, Augsburg 1514 °), findet fig in einem Sammelband 
fehr Disparaten Inhalts; denn der Band beginnt mit dem ins 
Lateinifche überfegten Kommentar des Cyrill von Alerandria zum 
Evangelium Johannes, und auf dem Titelblatt des legteren hat 
Zwingli fi als Eigentümer verzeichnet. Diefen Kommentar be 
faß er nach Opp. VIL, p. 14 fon: zu Anfang des Jahres 1516, 
und damals ungefähr muß er auch das Werk von. Ed ftubiert 


ı) Eckius ut reliquos superat doctrina animoque 
Scriptorumgae legit pervigil onmo gewus, - 
Sic nemo officium sinceri. infarpretis illi. 
Eripit, haud faciles scit reserare locos, 
Scit media immersum caligine prendere verum, 
Et claram obscuris reddere mce diem. 


3) Köftlin, Luthers Leben I, 142. 185. (1. Aufl.) 
8) Über das Bibliographie f. Wiedemann a. a. O., ©. 453 ff. 





Initia Zwinglii. 68 


haben, früher jedenfall nicht, da fi) irgendwo am Rand ei, 
Citat aus dem griechiichen Neuen Teſtament von feiner Hand 
findet. 

Ein Verzeihnis nennt ung nach der Vorrede die Namen all 
der Theologen, deren Meinungen über die Prädeftination unterfucht 
werden. Eck ſelbſt vertritt den jenripelagianifchen Standpunft der 
Scholaſtik und. zeigt fich im übrigen als einen treuen und gehor- 
famen Sohn der römiſchen Kirche: In his omnibus subjicio me 
sanctae matri eeclesiae et ejus praesuli maximo !). Abge⸗ 
fehen von der Hauptfrage find in dem Buch nocd, verfchiedene 
Probleme berührt, die Zwingli interejfieren mußten, 3. B. ber 
Streit, welde Strafe ungetauft verftorbene Kinder treffe. Cd 
nahm hiex eine vermittelnde Stellung ein, er behauptete, daß fie 
weber mit ber poema damni, nod) poena semaus beftsaft würden, 
fondern eine mittlere Gattung von Pein zu leiden hätten. Mean 
kann ſich's nicht anders denken, als daß jede Milderung des augufti- 
nischen Dogmas auf Zwingli Eindrud machen mußte, da der 
MWideripruc gegen dasjelbe, wiewohl in einer die Frage noch offen 
lafjenden, zurücdhaltenden Form, nad) gegnerifhem und nach feinem 
eigenen Zeugnis zu ben fräheften Angriffspuntten feiner angehen- 
den reformatorischen Predigt zu Zürich gehörte ?). Auch fein In⸗ 
terefje an einer von Ed erwähnten Bemerlung des Scotus über 
die Möglichkeit einer redemptio in inferno hat er burch eine 
Notiz am Rande beyeugt. 

Was nun aber den Geſamteindruck betrifft, dem. das Buch auf 
unfern Zwingli machte ®), jo fcheint derfelbe, nach den allerdings: 
nicht zahlreichen Randgloffen zu fchließen, wenigitens: fein durchweg 


1) Cent. I, No. LXXXVIII. 

3) Eine Stelle des Anguflin, die deſſen Lehre ſehr beſtimmt zum Ausdruck 
bringt, und die er in der Hieronymus-Ausgabe des Erasmus (Tom. II, p. 142) 
and, hat er fich angeftrichen, jedenfalls doch ein Zeichen, daß bie Frage ihm zu 
denken gab; es finden fich fonft dort durch viele Seiten hindurch Ieine Notizen 
von feiner Hanb. 

8) Es foheint fich auch bei Luther eine iconifche Anfpielung darauf vorzu⸗ 
finden: Walch, Luthers Werte XV, 1603. Jedenfalls berief ſich Ed in. der 
Leipziger Disputation daramf, S. 1309. 


(48 Uferi 


mur, wenn man veruimmt, daß a. 1517 Vadian fegar den 
Schuß des im Auftrag des Herzogs Wilhelm von Bayern er⸗ 
fchienenen Eck'ſchen Sommentars zur Logik des Ariſtoteles mit 
einem ſehr fchmeichelhaften Gedichte zierte !), wenn mas endlich 
weiß, wie noch a. 1517 der Nüraherger Chriftoph Scheurl brief- 
liche Beziehungen zwiſchen Luther und Ed auf freundjchaftlichen 
Tuß vermittelte, und wie ſchmerzlich befremdend es für den Ye 
formator war, die frifchen und fchönen Freundſchaftsbande ein 
Jahr nachher von Ed fo fchroff und leidenschaftlich zerrifien zu 
fehen, was ihm indes nicht hinderte, auch jest noch in demfelben 
einen Mann von großer Gelehrſamkeit, Geift und Scharffinn un 
befangen anzuerfennen ?), dann begreift man, namentlich mit Rück⸗ 
ficht auf die Beziehungen zu Vadian, dag defjen Freund Zwingli 
in Glarus ein Wert von Ed mit Ipmtereife las, wenn es fich auch 
nicht beftätigt, daß die drei, wie Füßli a. a. DO, ©. 492 er 
zählt, mit einander in Wien fäubdiert. Auch von ben Heraus⸗ 
gebern. von Zwinglis Werken ift dieſe umerwiefene Nachricht in, einer 
Anmerkung aufgenommen (Opp. VII, p. 94). Merkwürdigerweife 
behandelt Eds Buch wieber dasjelbe Thema, das Zwingli wie kaum. 
ein anderes von früh an beichäftigte: die Prädeſtination. Das 
Werk, betitelt Chrysopassus oder VI Centuriae de praedesti- 
natione, Augsburg 1514 °), findet fig in einem Sammelband 
ſehr disparaten Inhalts; denn der Band beginnt mit dem ins 
Lateinifche überjegten Sommmentar des Cyrill, von Alexandria zum 
Evangelium Johannes, und auf dem Titelblatt des letzteren hat 
Zwingli fi als Eigentümer verzeichnet. Diefen Kommentar bes 
faß er nach Opp. VIL, p. 14 fon: zu Anfang des (Jahres 1516, 
und damals ungefähr muß er. auch das Werk von. Eck ftubient- 


ı) Eckius ut reliquos superat doctrina animoque 
Scriptorumgae legit. pervigil onmo gemwas, : 
Sic nemo officium sinceri. inferpretis illi 
Eripit, haud faciles scit reserare locos, 
Scit media immersum caligine prendere verum, 
Et claram obscuris reddere- lace diem. 


3) Köftlin, Luthers Leben I, 142. 185. (1. Aufl.) 
s) Über das Bibliographie |. Wiedemann a. a. DO, ©. 458 ff. 


Initia Zwinglii. 649 


haben, früher jedenfall nicht, da fi) irgendwo am Rand ein 
Citat aus dem griechiſchen Neuen Teftament von feiner Hand 
findet. 

Ein Verzeichnis neunt uns nad) der Vorrede die Namen all 
der Theologen, deren Meinungen über die Prädeftination unterjucht 
werden. Ed felbjt vertritt den fenzipelagianiihen Standpunkt der 
Scholaſtik und zeigt fich im übrigen als einen treuen und gehor- 
famen Sohn ber römiſchen Fire: In his ommibus subjicio me 
sanctae matri eetlesiae et ejus praesuli maximo ?!). Abge⸗ 
fehen von der Hauptfrage find in dem Buch noch verjchiedene 
Brobleme berüßrt, die Zwingli interejfieren mußten, z. B. ber 
Streit, melde Strafe ungetauft verftorbene Kinder treffe. Cd 
nahm hier eine vermittelnde Stellung ein, er behauptete, daß fie 
weder mit ber poema damni, noch poena semaus beftsaft würden, 
fondern eine mittlere Gattung von Pein zu leiden hätten. Man 
ann fich’s nicht anders denken, als daß jede Milderung des auguſti⸗ 
nischen Dogmas auf Zwingli Eindrud machen mußte, da der 
Miderjpruch gegen dasfelbe, wiewohl in einer die Frage noch offen 
Taffenden, zurüdhaltenden Form, nach gegnerifhem und nach feinem 
eigenen Zeugnis zu den fräheften Angriffspuntten feiner angehen» 
den reformatorischen Predigt zu Zürich gehörte 2). Auch fein In⸗ 
terefje an einer von Ed erwähnten Bemerlung des Scotus über 
die Mögfichkeit einer redemptio in inferno hat er durd eine 
Notiz am Rande bezeugt. 

Was nun aber deu Geſamteindruck betrifft, dem. das Buch auf 
unfern Zwingli machte ®), fo jcheint derfelbe, nach den allerdings: 
nicht zahlreichen Randgloſſen zu fchließen, wenigftens- fein durchweg, 


1) Cent. I, No. LXXXVII. | 

a) Eine Stelle des Anguftin, die deſſen Lehre ſehr beftiimmt zum Ausdruck 
dringt, und die er in der Hieronymus-Ausgabe des Erasmus (Tom. II, p. 142) 
and, hat er fich angeftrichen, jedenfalls doch ein Zeichen, daß bie Frage ihm zu 
denken gab; es finden fich fonft dort durch viele Seiten hindurch keine Notizen 
vqun feiner Hand. 

8) Es foheint ſich auch bei Luther eine ironiſche Anfpielung darauf vorzu⸗ 
finden: Walch, Luthers Werke XV, 1603. Jedenfalls berief ſich Ed in der 
Leipziger Disputation baramf, S. 1309. 


650 Ufteri 


günftiger geweſen zu fein. Nicht zwar, daß der ſemipelagianiſche 
Geift im Prinzip ihm widerſtrebt Hätte, davon findet fih auch 
hier feine deutliche Spur, wenn ſchon, wie fih noch zeigen wird, 
eine Mißbilligung des lohnſüchtigen, auf Verdienfterwerbung ſpe⸗ 
fulierenden Weſens an verfchiedenen Stellen durchzublicken fcheint. 
Hingegen forrigiert er Verftöße gegen die Logik, fchreibt zu einer 
eigentlich unnötigen, weil tautologifchen Widerlegung: utinam hic 
cartae igitur pepercisses! Der gute Gefhmad des Huma⸗ 
niften empört fich gegen die Mißhandlung der Schriftftelle: Adam 
ift geworden wie unjer einer! es wird nämlich daraus gefolgert; 
(Cent. V, LXVD: Gott könne in wumneigentlihem Sinne auch 
Falſches ausfagen! nun iſt am Rand die launige Bemerkung zu 
leſen: Eho bone Erasme aures obtunde ne quod in sacris 
literis amoenissimum dictum suspicimus tam sophistice trac- 
tari audias! 

Die Löfung des Problems verfuht auch Ed durch Unterjcheis 
dung zwijchen praescientia und praedestinatio, feßtere als das 
posterius betradhtend, und in dem „prae‘ erblidt er eine bie 
Überzeitlichleit und Freiheit der göttlichen Ratſchlüſſe beeinträch⸗ 
tigende Inadäquatheit der Vorftellung ). Beltimmt behauptet er 
mit Bezug auf die guten Werke einen Synergismus, und. ber 
Grad der Verdienftlichkeit hängt ihm ab von der größeren oder 
geringeren Anjtrengung des freien Willens; er beruft fih u. a. 
auf Ambrofius, der da fage: & liberis voluntatibus, quas uti- 
que fuit bonum liberas fieri, spontanea est orta trans- 
gressio, und der auch die verdienftlichen Werfe, nad) denen die 
Frommen gekrönt werden, auf einen durch die unverdiente Ermwäh- 
[ung begründeten Concursus göttliher und menfhlider Thä—⸗ 
tigfeit zurückführe, implendae voluntatis Dei ita praeordinatus 
effectus, ut per operum laborem, per instantiam supplica- 


1) Daß dies prae auch für Zwinglis noch nicht zum abfofuten Determinis- 
mus ausgebildete Denkweiſe gleichwohl kein Anftoß war, beweiſt eine Randglofſe 
von feiner Sand im Psalterium quincuplex des Faber Stabulcucis (ed. 1508): 
futura enim vel contingenter vel necessario deo tum sunt certa et prae- 
sentia quam nobis praeterita qua mutari non possunt. — Ein „contingens“ 
anerfannte Zwingli fpäter nicht mehr Opp. IV, p. 98. 


Initia Zeinglii. | Mi 
tionum, por exereitium virtutum fiant incrementa merite- 
zum ?)). Hat Zwingli ſich dieſe Ausſagen angeſtrichen, letztere 
mit einem hamiſchen, wohl eben auf jenen lohnſüchtigen Geiſt ger 
müngten Seitenhieb gegen Eck: en ſolle nicht auch ante Ohren mit 
ſo frivolem Zeug übertäuben2), fo perfehlte anf her anderen Seite 
doch auch ain Eitat aus Auguftin nicht, auf ihn Eindruck au 
machen), wo den, bay Feiner Verdieuſte ſich rühmen Saum, dar 
Relurs zur nahe offen geloſſen wich, und wo her Marnung mar 
Verzweiflung und der Aufmunterung zu gegenfeitiger Ermahrung 
und Furbitte und zu nemltiger Beugung unter Gottes Pillen 
der Traft ſich beijgeſellt; Apsins arit potostatis, judieinm in nor 
bis debitum wufare damnationis et gratiam praadestine- 
tionis indehitam prorogere, Much an einem anderen Dr, 
wo Ed ſchulmeiſtext, a gebe ein zwiefaches Merhaften Gaottas mit 
Hezug auf ben Menſchen: velle gloriam „der mibäl velle d, i, 
am velle gloriam (mie Ed jelbft es interpretiert), da kann ſich 
wor Zwinglis Randhemerkung; „anad ber win Bar“ auf den 
Tan der Grörterung beziehen, fie Tann aber auch unter Anſpie⸗ 
ſlung anf Mia. 3, 23, 24 und Math, 18, 26f. dem Inhalt 
gelten und beiagen wollen, es gebe doch nach ein dritten, nämlich 
Gnade! 

Fin ſchines Zeugnis endlich für die Gefinnung, mit welcher 
Zwingli ſolche tiefen Prohleme unterſucht willen wollte, iſt das 
Auſtreichen einer den Schreiber ſelbſt ehrenden Stelle am Anfang, 





I) Ambrogius de roqationoa geatinm, Lab. III. Juf Ambrofins be⸗ 
rieſen ſich freilich in der Leipziger Diepptalien (Wald XV, 1939 ff.) fawohl 
Gt als Kariſtadt, wie dann im der That hei ihm verſchiedene dogmatiſche gr 
ſichtapuntte nicht zur Haren Einheit durchgearheitet find, Vgl. guch Myſq⸗ 
nins bei Zw. Opp. VII, 177. Bon Verxdienſt ſprach allerdings rin Zwingli 
ſpater nicht wich, aber hie ethiſche Willensberhätigung ließ ex, Io wenig glß eig 
Abrous, hei Dar Gnadenlehre zu Kurz Kommen. 

3) Diefe gerade jehr intereffierende Glofſe ift leider durd; den Buchbinder, 
des has Buch ſtaxk am Rande heſchnitten, verſtümmelt morbex, mb es find 
nr Sofguabe Horte uud Bucflahen deuflich lashaz; de his uns am... - 
werbis arbitr, ,.. Ucki docte ai (ober ti)... et honas aures tam frivolis 
4% 8. 
A) Kant. IV. 


Theol. Stud. Yabrg. 1885. 42 


652 Uferi 


beren Eindrud leider nur durd den ſonſt genugjam bekannten 
Charafter Ecks einigermaßen abgefhwädt wird; denn wirklich 
Ihöne Worte find «8, wie er da für folche Unterfuchungen eine 
demütige, betende Haltung als das Haupterfordernis erffärt, 
diefe vorausgefegt aber nichts Gott Mißfälliges darin erblicken 
kann, fondern fagt: Nec quicquam formidandum est, si 
non superbe, sed devote, si non curiose, sed studiose, si 
non per ambitionem, sed cum affect usapientiam petamus 
a Deo etc.) 

ft die vorläufige Belanntichaft Zwinglis mit Ed, dem fiho- 
faftifchen Theologen, mehr im Hinblid auf die fpäteren polemifchen 
Beziehungen als wegen eines doc kaum denkbaren, tiefergehenden 
Einfluffes von Intereſſe, und verdient es vollends nur flüchtige 
Erwähnung, daß Zwingli auch einen Kommentar zu den Sen- 
tenzen bes Petrus Lombardus bejeffen und gegen das Ende der 
- Ölarnerperiode gelefen, deijen Verfaffer, einem gewifien Paulus 
Cortesius, protonotarias apostolicus, Rhenan in dem von ihm 
gefchriebenen Vorwort das Lob erteilt, daß er durch Eleganz des 
Stils, Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit in der Mitteilung der 
verfchiedenften theologifhen Anfichten, verbunden mit Kürze und 
Bündigkeit der Darftellung, das Intereſſe der Studierenden aufs 
beite gefördert und fih um die Befreiung der Theologie von der 
Barbarei und um die Läuterung der thbeologifchen Litteratur vor⸗ 
züglich verdient gemacht Habe 2), — fo fcheint hingegen die Be- 


1) In diefee Geſinnung Hat Zwingli in feiner Abfchrift der paulinifchen 
Briefe zu Röm. 9, 20 ſich eine Stelle aus Origenes an den Hand notiert, 
wo diefer fagt: Als Daniel fich geiehnt, den Willen Gottes zu erkennen, wes⸗ 
halb er auch ein vir desideriorum Heißt, da ſei nicht zu ihm gejagt wor⸗ 
den: Wer bift du, der du mit Gott rechteft? fondern ein Engel ſei zu 
ihm gefandt worden, der ihn über alles belehrie: nos ergo si desiderio- 
rum, non contentionum viri sumus, fideliter et humiliter judicia Dei 
requiramus. 

2) Conrad Geßner urteilt in feiner Bibliotheca Universalis (ed. 1545) 
von diefem Werl: Eloquentiam cum theologia conjunxit. Diefer Vorzug 
mag denn auch in Zwinglis Augen e8 empfohlen haben. Es erichten zu Baſel 
bei Joh. Sroben 1513. — Unterftrichen ift wenig, u. a. in der Einleitung eine 
Berherrlihung der Scolaftit und eine Abfertigung der antifen Philoſophen, 


Initia Zwingli. 668 


fhäftigung mit dem im gleichen Sammelband befindlichen, von 
Zwingli, wie aus der Nichtberüdfichtigung des neuteftamentlichen 
Grundtertes zu erfchließen, wohl in Glarus fchon ftudierten Kom⸗ 
mentar des Eyrill von Alerandria zum Evangelium Johannes, 
dee großen Zahl und dem intereffanten Inhalt der Marginalien 
nach, eine fehr eingehende geweien zu fein. Doch führt uns diefe 
nun Schon in den Bereich der- jet immer mehr in den Vorder⸗ 
grund tretenden, an Hand verfchiedener Kommentare gründlichft 
betriebenen Bibelftudien, deren Schwerpunkt in die ftillen Jahre 
de8 Sammelns in Einfiedeln fällt, und deren Vertiefung bei nie 
wieder erkaltendem Eifer und bei emfiger Wortfegung in Zürich 
immer erfreulichere Refultate zutage förderte. Für eine zufammens 
faffende Darftellung und Würdigung ber in diefen Kommentaren 
zerfireuten Spuren zwinglifcher Geiftesarbeit und Meinungs⸗ 
äußerung empfiehlt fich aber eine von der bisherigen verfchiedene 
Behandlungsweife des Stoffes. Eine Beiprehung der Eindrüde, 
die Zwingli beim Studium folder Auslegungsjchriften empfangen 
und in Nandgloffen oder anderen handſchriftlichen Merkzeichen 
niedergelegt, mit einem Durchgehen diefer Schriften felber der 
Reihe nad) zu verbinden, hätte nämlich nur dam Wert, wenn 
eine Verfolgung diefer Studien nad ihrer cdhronologifchen Auf⸗ 
einanderfolge und eine Kontrollierung der allmählichen Ausbildung 
von Zwinglis Anſichten und Einfichten innerhalb der in Frage 
ftehenden Lehrjahre im einzelnen möglich wäre. Allein unfer Res 
jultat wird mehr auf eine Charakteriftit feiner in dieſem Zeit 
raum zuftande gelommenen Geiftes» und Gedankenrichtung als 
auf einen Einzelnachweis der Tortjchritte im theologifhen Er⸗ 
fennen und in der Entfaltung der religiöfen Gefinnung hinaus⸗ 
laufen, wobei immerhin da, wo deutliche Spuren vorhanden find, 
auf Wandlungen und Wendepunfte aufmerfjam gemacht werben 


kann. 
Doch ehe auf den Ertrag der die Einſiedlerjahre ausfüllenden 


von denen nur Plato und Ariſtoteles einigermaßen Guade finden, während 
Empebofles und Demokrit als aureae philosophorum pecudes bezeichnet 


werden. 
423 ®R 


Bi Uferi 


Bibelitudien im Zuſammenhang eingetreten werden kann, muß der 
Kinfluß eines Mannes, zu dem Zwingli wie zu feinem anderen 
in dieſer frühen Zeit als zu feinem Lehrer und Meiſter empor- 
ſchaute, amd defſen Arbeiten er mit der größten Bewunderung und 
dem Iebhafteften Intereſſe werfolgte, einkähliher, als es man den 
bisherigen Biographen geſchah, ins Licht geftellt werden, um jo 
mehr a dieſer Einfluß ſicher in Die Blaruer«- Periode zurückgeht ?). 
Ein ausdräckliches Zeugnis, was für Eindrücke und Erlen 
niſſe Zwingli dem Krasums ſchon in dieſer frühen Zeit verdanlte, 
haben wir änbeffen nur — und zwar aus jeiner eigenen Teber ?) — 
für ein kleines epaungeliſches Gedicht des au der erbaulichen 
Sprache mächtigen Gelehrten, nämlich für die Expostalatio Jesu 
ad hominem suapte culpa pereuntem. Welch gute Stätte ber 
gemütstiefe Ton und bie herzbewegliche chriftliche Einfalt dieſer 
dem Heiland in den Mund gelsgtem, erujten Ringe ia Der jugend» 
lichen Seele des Reformators gefunden, ift von den bifherigen 
Biographen und auch bas wir in weinen Fefſſchrift) hinreichend 
ns Licht gefiel Beben dieſen Kindrlicken kiefengeender Bint 
mochte Freilich zur Zeit mod Die feine Satire und die Eleganz bes 
Wusbruds in amberen Prebulten des Humesiften mindeſtens ehenſo 
großes Wohlgefalen bei Zwingli ermgen; deun er ſichreibt nach 
feiner Rücklehr om Baſtel dem wencheten Freund: „Mir war's, 
ba ih Deine Schritten Ins, als ob ad) Dich zeden hörte und 


1) Schon Zäger, der Regenjent der Sigwartſchen Schrift über Zwinglis 
Eigftem in ben Eins. und Rıit. 1856, ©. 708, hat die Wuſchbarkeit einer 
eingehenden Untexſuchung bes. Berhältuifges Zwinglis zu Eracanus betant. Gise 
forgfältige Darftellung der in mancher Hinſicht bahnbrechenden Bedeutung dieſes 
Iegteren für die Reformation mit fpezieller und durchgängiger Berüdfichtiguung 
ber Beziehungen zu Zwingli habe I in meiner Schrift: „BZwingli und Eras- 
mus", eine eiormatiragefähichticche Studie. (Ergämzende Beigabe zu meiner 
Feſtſchrift über Zwingli). Züri, Höhe 1885 — zu geben verfucht, wechulb 
ich mir erlaube, mich hier unter Veglafſung des iorziell dan Mragmmıs und 
feine Dentweife Charakterifierenden auf das unmittelbar zum Thema diefer Ab- 
handlung Gehörige zu beichränken. 

2) Onp- I, p. 298. f 

3) ©. 96.94. "Bin Mustang dieſes Gedichtes im ıbex Überſetzuug Læo 
Judae’s ift in der Schrift: „Zwingli und Erasmus“, S. 8 mitgeteilt. 


Initia Zwinglü. ws 


Deine feine, aber zierlihe Gefialt aufe gefälligſte fich bewegen 
ſaͤhe. Denn ohne Schmeidelei, Du bift mein Geliebter, mit wel⸗ 
hen ih mic unterhaften muß, che ich einfchlafe.“ Es begegnet 
ans eben bier wieder die mehrfach zu machende Wahrnefmung, 
daß Zwingli die Samentörmer, die für feine religiäfe Entwickelung, 
wie er erſt fpüter erfannte, beſonders fruchtbringend wurden, fo 
rachdrücklich gelegentlich hervorhebt, daß ihr langes Schlummern 
in der Tiefe feiner Seele und ihr zeitweiliges Zurücktreten hinter 
anderweitigen geiftigen Einflüſſen leicht überfehen werden kann. Es 
Mt ja mit jener in die frühefte Studienzeit fallenden Wyttendach⸗ 
fihen Anregung im Grunde nicht anders, und ähnlich verhält es 
fi auch mit feinem Entſchluß, fich ausſchließlich an die h. Schrift 
zu halten und nur diefe zu predigen, wie er im nad feiner 
eigenen Ausſage im Jahre 1516 gefaßt, und worauf er ben An» 
fang feiner Verfiindigung des Evangeliums fehr beftimmt und au 
mehr a8 einer Stelle feiner Schriften zurückſührt )). Zwingli 
war damit an die rechte Quelle gelommen, und jede aus der 
Schrift gefhöpfte Erkenntnis war ein Samenlorn, das nicht wieder 
verloren ging, ſondern weiter Frucht trug, ihn Immer tiefer ins 
Berftandnis unb ins Erleben des eigentlichen Evangeliums, wie er 
es übereinftimmernd mit Luther fpäter erfaßte, hineinführte und altes 
Heterogene, was anfänglic die Wahrheit in feiner Seele noch ver 
dumkelte, nad) und nach ausfhid. Denn daß er in Einfie- 
dein bie evangelifche Heilslehre auch theoretiſch no 
nicht in ihrer Reinheit erfaßt hat, fondern dort nur 
die Quelle entbedte, aus weldher ſchöpfend er nun 
niht mehr irren konnte, fondbern von Licht zu Licht 
vorwärts fchreiten mußte, das wird fih im Verlauf 
diefer Befprehung noch ergeben?) 

Die Queilen, aus denen weine Darſtellung vornehmlich jchöpft, 
ſind nım leider gende mit Bezug auf Erasmms nicht fo ergiebig, 


9 S. meine Feſtfchrift ©. 331. 

2) Zum gleichen Refuftat kommt auch ohne Eenntnis anderer als der ge⸗ 
druckten Quellen, aber mit richttgem divinatoriſchen Blick urkekkend Dr. Meol. 
N m Bien In: Urich Zwingli, Bortröge, Gotha fbei Perthes) 
1884. 


656 uſteri 


wie man wünſchen würde. Das griechiſche Neue Teſtament mit 
Anmerkungen ift aus Zwinglis Beſitz zwar in zweiter Auflage auf 
und gelommen, ebenfo mehrere feiner Paraphrafen, ſodann aus 
dem Jahr 1515 das Encomion moriae, bie Verteidigungsfchrift 
an Martin Dorpe und die Sprichwörterſammlung (Proverbio- 
rum chiliades).. Es iſt auch mit Sicherheit anzunehmen, daß 
Zwingli damals ſchon das noch früher erfchienene- Enchiridion 
militis christiani gelefen, um fo mehr, ba neben der aus dem 
Jahre 1519 ftammenden Ausgabe mit dem vorgebruckten, interef- 
fanten Schreiben an ben Abt Volz noch eine frübere aus dem 
Fahr 1515 aus feinem Befig vorhanden tft. Dies erbauliche 
Handbuch voll tiefen religiöfen Ernftes !), daraus man den Ver⸗ 
faffer von einer überrafchenden Seite, nämlich als begabten aske⸗ 
tischen Schriftfteller kennen lernt, konnte nicht - verfehlen, unferen 
Zwingli in chriftlich-biblifcher, ob auch nicht über die reinere alte 
Theologie binausfchreitender Erkenntnis, fowie in geiftlichem Leben 
und Heiligungsftreben wesentlich zn fördern. — Diefe ſämtlichen 
Schriften de8 Erasmus nun, zu denen, abgefehen von einigen klei⸗ 
neren und unbebeutenderen aus dem erften Züricher Jahr nur noch 
die Paraclesis, id est: adhortatio ad sanctissimum et salu- 
berrimum Christianae philosophise studium und die Ratio 
seu compendium verae theologiae?) — Hinzulommen, ent- 
halten mit Ausnahme der Sprihwörterfammlung beinahe teine 
handfchriftlichen Einträge. Deffenungeachtet ift ihr tief greifender 
Einfluß auf unjeren Reformator gar nicht in Zweifel zu ziehen, 
und wir können uns der Aufgabe nicht überheben, denfelben zu 
ſtizzieren. 


1) Heß, Erasmus J, 79 ff. 

2) Für die hohe Wertſchätzung dieſer Schrift durch Zwingli findet ſich ein 
ſehr prägnantes Zeugnis in: Supplement zu Zw. Opp. p. 16: Caeterum 
Lutherus doctis omnibus Tiguri probatur et Erasmi compendium, 
hoc vero mihi ita, ut non meminerim tam parvo libello 
tantam alicubi frugem invenisse Dies Büchlein enthält eine 
förmlihe Hermeneutik, und es wird darin der allegoriichen, nach den alten 
DMuftern, befonder® Origenes, zu treibenden Auslegung mit Begeifterung das 
Wort geredet. 


Initia Zwinglii. 657 


Eine fehr freimiütige und weitgehende Kritik der Bapftficche 
und ihrer Theologe wurde von Erasmus namentlich in feinen 
frügeren Schriften geübt, und fie konnte an Zwingli nicht ſpurlos 
verübergehen.. In der Ausgabe des Hieronymus 3. B., von der 
nachher noch ausführlicher wird die Rede fein, erlaubte fi) Eras⸗ 
mus in den Scholien fehr freimütige Äußerungen über römifches 
Kirchenregiment, römifche Kirchengebräuche, Aberglauben, falfch bes 
rühmte Autoritäten; von der Ohrenbeichte fagte er !), fie fet zu 
des Hieronymus Zeit noch nicht üblich gewejen; an einer Stelle, 
da der lettere vom „episcopus Romanus‘‘ redet ?), verfehlte 
Erasmus nicht, anzumerken, es fei zu des Kirchenvaters Zeiten 
noch diejer Titel und nicht der andere: „summus episcopus‘“ 
gebräuchlich gewejen; ferner findet fih Tom. I, fol. 6 von ihm 
die Notiz: Apud veteres sacerdotes non -vocabantur nisi 
episcopi et iidem presbyteri, tametsi postea presbyteri coe- 
perunt a sacerdote distingui, wozu Zwingli allerdings an den 
Rand fchreibt: sacerdos olim. Allein im allgemeinen findet man 
bei ſolchen Stellen, die dem kritiſchen Schreiber kirchlicherfeits nicht 
wenig übel genommen wurden, wenig oder gar Feine Anzeichen, 
daß Zwingli bdiefelben begierig aufgegriffen; felten gewährt uns 
eine feiner Gloſſen einen Einblic in die bei ihm beginnende refor⸗ 
matorifche Gedankenbewegung. Defjenungeachtet wird man voraus⸗ 
fegen dürfen, daß jene, feinem fpäteren Ideenkreis jo nahe ftehen- 
den, freimmätigen Äußerungen ſchon damals, als jie ihm zuerft be- 
gegneten, ihres Eindruckes nicht verfehlt; nur wird die Wirkung 
weniger eine zlndende und Hinreißende als vielmehr eine in der 
Stille arbeitende geweſen fein. 

Hingegen Tiegt e8 außer allem Zweifel, daß jeder Hinweis auf 
das Sittenverderben in der Kirche und auf die Verweltlichung des 
Klerus, auf bie Verkehrung der Religion in ein äußerliches Zere⸗ 
monieenwejen, wie auf diejenige der Theologie in ſpitzfindige So⸗ 


1) Ep. ad Ocean. Schol. Hier. Opp. ed. Erasm. I, fol. 89. Rand⸗ 
bemerkung Zwinglis: confessio. 

2) Ep. ad Innocentium de muliere septies iota, Schol. des Erasm., 
Opp. I, fol. 107. 





8 Uferi 


prtt, bei Zwingli Lebpaftefte Symputhie fund, Es zeugen hier⸗ 
für ſo viele hanbſchriftliche Merkzeichen und Noten, daß mich in 
Suchern, wu ſolche überhaupt fehlen, nichtsroweniger bis unbe⸗ 
dingteſte Zuftinimung Meere da voruuszuſetzen tft, we um ſolche 
Schäden Ins Meſſer angelegt wird !). 

Mit dem Hrößten Nuchdruck macht Eraemus de Schrift als 
die alleinige, lautere Quelle der chriftlichen Wahrheit geltend. Er 
etipfiehlt es, Aus den „allerlauterften Brummen der Evangrliſtern 
und Wpoftel und den bewähtteſten Autlegern rien kurzen In⸗ 
begriff der Lehre TERM: zuſcuumenzuftellen. Wir Abraham 
Brumen grad und Pant bie von den Wiliſtern verfchüätteten 
wieder anfgrub, Tb Mäffen auch wir nad dein lebendigen Wafſer 
graben, deſſen Adern in dem Wellen Chriſtus zu finden ſind. 
Dieſer iſt auch der Stein, und dem die Funfen chriftlicher ches» 
indrunſt gefchlaten werden kunen. Heutzutage wocdh giebt es 
Philifter, welche die Waſſeradern vbrſtbpfen, die Grabenden vers 
treiden, daB Waſſer mit Kot ttübe mädken” . Su: dem Lebens⸗ 
(auf deß Hieronhmus, mit dem Erasmus ſeine Ausgabe der 
Werte bieſes Krcheuvaters eiultitet, rihmt er bieſim nach: Ex. 
evangelieis et Apustölleis Vtaris welut ex purigsimis fontibus 
Christi philosopham hauriebat, wozu Zwingli in Ginſiedeln 
am Rand bemetkie: Theologiu unde purissime capiatır. — 
Eraßmus war auch ein lebhufter Apologet des Sprathftudiums 
als des wertvollften Hilfsmittels ber Schriftföorſchum, denn ohne 
Kennrnis der Sprache ſei es nicht nur thoöbicht, ſondern gerudezu 


1) Das Rähere Über des Erasmus Keitil Ber kirchlichen Zuſtände ſowie 
übex Zwinglis erſte Beriuche, diefelbe in Thaten umzuſetzen, in meiner Schrift: 
„Zwingli und Erasmus“, wozu id; bier nur noch betreffend die Zehntenfrage 
Zw. Opp. VII, 120. 121 und fir Zwinglis enbgliltige Stellung zu verfelben' 
Ale Schweizer, Zwinglis Bedenrung neben Lucher, ofad. Feſteede 1884 
S. 18ff., endlich berreffend die dem Reformator anfänglich gemachten Vor⸗ 
würfe, Hottinger⸗-Wirz, Helvet. Kirchengeſchichte IV, 176 ff., aber auch 
daB Opp: I. 386 nen. über Busttplis zkonsuiſche Lage Gdapte zu ver⸗ 
gleichen bitte. 

2) In dem MEWortebe dem Euchtribion beitgegebenen Beirf anBelz. Vyl. die 
faſt wörtlich übereinflimmende Ausführung in Zw. Opp. V. 120 54. 


Initia Zwinglü. 688 


„impium, theulogine mysteria tractasda suscipere“ !). Mas 
fine Auttegimgsprinziplen betrifft, fo haldigte er mit ber arten 
Ktrde migemein dem Wllegorifieren 2), und anch darin ſchloß fich 
Zwingli anfing ganz an ih und an feine Vorbilder, Origenes, 
Serönymus x. er Gr Hat folgense Stelle in ber Sprich⸗ 
wörterfammÄnig [p. 408) angeftrichen: Qui guaerit animi pa- 
bulum in arcanis hteris, serutetur sub allegerise involuero 
eonditaurm mystermm. Und es blieb von ihm keineswegs unbe» 
Berzigt, wus er tms Euchtridion bei. Erusmus las: Es ſeien unter 
ben Schriftauslegern vornehmlich diejenigen auszuwählen, „qui & 
litera tam inaxime revedmt., Cujusmodi swnt in primig 
post Paulum Origenes, Ambrosius, Hieronymus, Augnstinus. 
Die möndkide Fronmigkeit ſteche darum dahin, weil fie nar den 
Budyfiaben treibe und Chriftum nicht höre, der de rufe: Der 
@aft iſt's, der lebendig‘ macht 2c., nad) Paulum mit feinem: Das 
Grſetz iſt geiftlih. Der Buchſtabt tötet). Es iſt dies ein 
Sichkingsgebante des Erasmıs, auf ben er sit: zuriällomumt, und 
in ihm war Zwingli das Brogramm für feine Schrift» 
forſchung bentlih vorgezeichnet. 

Auch eine kritiſche Haltang erlaubte ſich Eratımıs, nicht aur 
gegenüber der ſogen. Traditien, indem er, was die h. Schrift 
nicht entfcheidet, der frei Prüfung und Distuffion ankeintgiebt, 
wicht. aur, darin: dem Hierpnymus folgend, gegenüber der Vulguta, 
fonderw ebenfo gegewäber ber lirchlich ftrengen Auffafjung der In⸗ 
fpiratien. Gleiefulid fahr frei äußerte eu fi Über bie Authen⸗ 


1) Proverb. chiliades, Bas 1515, p. 225, ven Awingli angeſtrichen. 
Bemerkung zu den Sprichwort: illotis manibus, 

2) Das Enchiridion leiftet darin das Unglaubliche; faft der ganze ge- 
ſchichtliche Stoff, namentlid des Alten Teſtamentd, wird in Megorie auf 
gelöſt, Befonvers and alles ſittlich Anftößige, 3. B. Vavids Ehebruch und 
Darts Inch 

8) Auch Zwingli verwendete da8 Panluswort gelegentlich in ſolcher Weiſe 
(Opp. VI 1, 680), obgleich ihm fein eigentlicher Sinn mwohlbelannt war (Opp. 
VI 2, 194). Nicht weniger bat Luther am gleichen Bine wie Erasitus an⸗ 
fänglid; von dem tötenden Buchſtuben und den lebendigmachenden Weift geredet, 
bis er dann fpäter entſchieden für bie vichiige — tintrut. Köflin, 
Luthers Theologie I, 70.. 88 ff. 604 ff. 





660 Ufteri 


tizitätöfrage: Non statim dubius est in fide, qui de auctore 
libri dubitat. Die Hauptjade fei, daß der 5. Geiſt vebe, nicht 
durch welches Drgan er rede. Offen Bezweifelte Erasmus die 
apoftolifhe Abfafjung des Hebräerbriefes, der Apolalypſe, des 
zweiten Petrusbriefes, auch des Symbolum apostolicum (Opp. 
IX, 8635q.). Zwingli hat num allerdings diefe Frage, in wel- 
chem Umfang die Inſpiration der Schrift zu behaupten und die 
kirchliche Tradition als maßgebend zu betrachten fei, niemals ex 
professo erörtert; daß aber auch er. darüber nicht allzu ängſtlich 
und engherzig dachte, gebt aus einer von Sigmwart a. a. OD, 
©. 46 angeführten, gelegentlichen Bemerkung zu Matth. 17, 1 
(Opp. VI 1, 327) und auch aus feiner freimütigen kritiſchen 
Äußerung über die Apolafypfe Hervor !). Wenn er freilich mit 
nicht zu wünfchen übrig laſſender Tiefe und Wahrheit von der 
Beglaubigung bes Wortes Gottes fprach ?), jo kamen ihm da- 
bei Abweichungen, Irrtümer und Widerfprüde in Äußerlich⸗ 
feiten und Nebenſachen als kleinlich und ar gar nicht in 
Betracht. 

Übte Erasmus eine fo weit gehende Kritik an der hergebrachten 
kirchlich⸗theologiſchen Auffaffung fogar der Schrift, fo iſt e8 frei. 
lich kein Wunder, daß die Scholaftit wit ihren der heibnifchen 
Philofophie entnommenen Elementen, infonderheit mit ihrem Ari⸗ 
ftoteles, noch weniger Gnade fand. Tandem huc progressum 
est, klagt er in ber Sprichwörterfammiung, und Zwingli bat. die 
Stelle angeftrihen — ut in mediam theologiam totus sit re- 
ceptus Aristoteles. — Sapiebant mortales et priusquam 
deus istorum Aristoteles nasceretur. 

Das Chriftentum jodann ift dem Erasmus weſentlich Leben 
in der Nachfolge Chriſti. Die Grundlage dieſer „wahren 
Philoſophie“ iſt Selbſterkenntnis °). Chriſtus ift nicht ein leeres 
Wort, heißt's im Enchiridion, ſondern die Liebe, die Einfalt, die 


1) Bekanntlich urteilte Luther darüber ebenſo ungünſtig, ol Köſtlin, 
Theologie Luthers II, 274 ff. mit Zw. Opp. U 1,1699. 

2) Zwinglis Werte im Auszug von Ufteri zc., IL, 216 ff. 

5) Prov. chil., p. 168, von Zwingli angeftrichen. 


Initia Zwinglii. 661 


Geduld, die Reinheit, kurz alles, was er gelehrt Hat. Der Teufel 
ift nichts anderes, als alles, was davon abzieht. Ganz ähnlich 
Hingt die von Zwingli im Kommentar des Hieronymus zu Jeſ. 61 
an ben Rand gefchriebene Definition von evangelium Dei: quod 
nihil aliud est quam justitia, veritas, lux, aequitas; fehr ab» 
weichend Hingegen die fpätere Begriffsbeftimmung im Commen- 
tarius de vera et falsa religione *): Est evangelium, quod 
in nomine Christi remittuntur peccata nad Luk. 24, 45; 
und eine wefentlich andere Stelle befommt nun auch das Ethiſche, 
wenn a. a. DO. p. 194 beigefügt wird: verum hac lege, ut 
nova creatura simus, ut Christum induti ambulemus. Est 
ergo tota christiani hominis vita poenitentia. So hat 
denn Zwingli fpäter unverkennbar feine Anfchauung vom Evans 
geltum im Sinn des großen Apoftels vertieft, fo gewiß er auch 
anfänglich die Betrachtungsweife bes Erasmus teilte. 

Wie nun Chriftus vornehmlich nad feiner zentralen Be⸗ 
deutung fürs chriftliche Leben von Erasmus gewürdigt wird, fo 
firebt derjelbe nicht minder auch eine ethifche Vertiefung und Be: 
feuchtung der von ihm im ihrer abergläubifchen Entartung ſcharf 
gegeißelten Heiligen- und Neliquienverehrung an. Die beiten Re⸗ 
liquien der Heiligen, da8 find ihre und zur Nachahmung gegebenen 
Borbilder. Es ift befannt, welch warme Sympathie diefe Ber 
trachtungsweife gerade bei Zmwingli fand, und wie er früh ſchon 
in Zürih die Bekämpfung des heidnifchen Heiligendienftes ſich 
Bauptjächlich angelegen fein Ließ ?). 

Ein Borläufer der Reformation war Erasmus auch in ber 
Rehabilitation des durch das fpezififh Kirchliche 
ganz in den Schatten geftellten Ehriftlih- Sozialen. 
Die fpeziftih mönchiſche Frömmigkeit, bemerkt er, tft nicht echter 
als die fchlichte ChHriftfichkeit, wie fie die Laien unter Fleiß und 
Arbeitſamleit und allerlei bürgerlichen und häuslichen Tugenden 
bethätign. Non adeo, heißt's in dem Briefe an Volz, in eo 


1) Zw. Opp. IIL, 191 sq. 
3) S. das Nähere in meiner. Feſtſchrift, © 98 ff, — in „Zwingli und 
Erasmus“, S. 20f. 





6“ uſteri 


desiderabimus tria illa vota ab hominibus reperta, qui pri- 
mum illud et unicum votum, quod in baptismo non homini 
ged Christo nuncupavimus, sincere et pure servaverit. Und 
ganz ähnlich Mint die Stelle im Zwiuglis Erſtlingsſchrift: Vom 
Erkiefen der Spyien (W. I, 26 u.): Sind wir mit Chriſto ges 
ftorben den Elementen, d. i. wie Chriſtus wit ſynem Tod uns 
fin gemacht von allen Sünden und Weichwerben, alfo find wit 
auch im Touf, d. t. im Olvuben, vom allen jUdiſchen und menſch⸗ 
lich erdachten Zeremonien umd erfiesten Werten erlöft, die Paulus 
Elementa nennt. Nach dem Zufammenhang bat Zwingli befon⸗ 
ders auch die Ordensgelübde im Auge ). — In der Belämpfang 
deu Edlibats, im der Windimung des humanen und biirgeriichen 
Charalters der Ehe, in der Verteidigung der Eheſcheidung {ft 
Erasmus ebenfalls mit Entfchiebenheit in feinen früheren und fru⸗ 
heiten Schriften vorangegangen. 

Es zeugt ferner von ber humanen Geiftesriätung deöfelben, 
daß er als Triebensapoftel bei jeder Gelegenheit den Krieg als 
eine der Chriftenheit ummürbige Barbaret befämpfte ımd verur⸗ 
teilte. — Rein Erkurs in der Sprichwörterſanmlung enthält fo 
viele von Zwingli mterftrichene Steffen wie derjenige Aber „, Duloe 
dellum inexpertis“ ®). Der Krieg — bemerft er weiter — nükt 
hörhftens einigen Wenigen, für das allgemeine Wohl ift er das 
größte Berderben! Und ift er durch eine Beleidigung provoziert, 
fo foflte man Tieber eine Wunde ungeheilt laſſen, bie nur zum 


1) Wenig fpäter überiehte Leo Juadae Luthers Schrift von den 
Möncdsgelübden ins Deutſche und beteiligte ſich bei jener Bittſchriſe 
Zwinglis an den Biſchof von Konſtänz und an die Tagfagung um Geſtattung 
ber Prieſterehe. Zw. Opp. II, 16-25. S. meine „Feſtſchrift“ ©. 39 ff. 

2) Sol. 577 ff. Das Nähere f. in „Zwingli und Erasmus“ ©. 22f. 
woſelbſt die bezüglichen Expeftorationen des Humaniften im Auszug mitgeteilt 
find. Eraſsmus ging in feiner Abnelgang gegen jegkiche Krkiegftihrung ſoweit, 
daß er Prow. Chil. p. 7%, von. ſihlechter Lelture redend, gewiffe Hiſtotien ned 
verberblicher nennt als Liebesgeichichten: Ex his animus nullo praemunitus 
antidoto imbibit admirationem et zelum, ut Graeci vocant, alicujus 
pestilentissimi ducis, puta Julii Caesaris aut Nersis aut Alexandri 
magni (1). Atgne in his ipsis quae pessima sumt (Impetus dementes) 
maxime placent. Hier jchrieb Zwingli an den Rand: Audif Andi! 


Initia Zwinglii. 66 


Verderben des ganzen Leibes kunnte geheilt werden. Verxijührte 
Rechtsgründe ſind wehllfeil (z. B. Berufung auf einſt beſeſſenes 
Brbiei),. Ein gutlicher Vergleich, ab auch ‚wait Einbuße, iſt wie 
bei einem Prozeß immer vorzuziehen. Manche ſchützen — heit 
es da — die Verteidigung der Kirche vor, als ob nicht das 
Boltk die Kirche wäre, aut quasi tota erclesiae dignitas 
in sacerdotum opibus sita sit, aut quasi bellis ac stra- 
gibus orta, proveeta, constabilita sis ecclesia ac non poting 
aanguine tolerantiae vitaeque contemptu. — Und wenu der 
Krieg nicht ganz zu permeiden, dann fallen wir Chriſten wenig⸗ 
tens dafür ſorgen, daß die böje Sache durch die Böſen und mi 
mögüirhft wenig Blutvergießen verrichtet werde, And wir Bingegen 
auch chriftliche Richeaiibung uns bewähren. Die Fürſten follen 
das Beil von der Kriegsluft suridlhalten, und chun's biefe nicht, 
deun ift es Pflicht der Prieiter, berupigend zu wirken. Auch 
diefe Säte hat Zwingli unterftniden; und es gewinnt die Teil: 
nahme, die ex ſolchen Ideen widmete, ein eigentümliches Intereſſe, 
wenu man einerſeits an feine dumftlich » patzintifchen Erſtlings⸗ 
beftrehungen,, anderſeits dann aber auch an feinen tragiſchen Aus» 
gang deut. 

In den dogmatiichen Anſchauungen ift der Einfluß bes 
Erasmus auf manchem Punkte ganz unverfenuber. Die Heils⸗ 
lehre des Paulus Hat Zwingli wohl anfäünglich nicht anders auf⸗ 
gefaßt als Erasmus, hei den Geſttzeswerlen dachte er au das Ze 
teanoninigeleg und ſchrieb z3. B. in jeinem Paulus⸗Manuſkript zu 
Gal. 2, 19: „uh bin durchs Belek dem Geſetze geitorben“, bie 
Erluuterung: Per jogem »vangelieam legi literae, während er 
fpäter dann in der „chriftlichen Einleitung“ (Opp. I, 555) eine 
ganz andere, dem wahren Sinn des Paulus entfprechende Erflä- 
rung bot 7). Auch wenn Zwingli „nach bem Weifte wandeln“ 
imerpretiert: „Daß Belek nach dem Geiſte halten“, jo liegt nah 
jene frikhere, erasmianiſche Auffaffung zugrunde; chenſo wenn 


a) Charakteiftiieh iR auch, nexglihen mit der fpäkenen Auslegung Opp. 
VE 2, 12 oben, das gu Nö. 19, 4 von Zwinglis früherer Hand ange 
führte Citat Joh. 17, 3. 





664 Uferi 


zu Röm. 9, 31 von zweierlei Geſetz redet: literae et spiritus 
(vgl. die ganz andere fpätere Auslegung Opp. VI2, p. 111 oben, 
wo vonuos dixasoodvng durch legis justitia wiedergegeben wird). 
Dur die Darftellung in meiner Feſtſchrift ift num freilich diefer 
Zeitunterfchieb und bie daran hangende Fortentwidelung der theolo- 
giſchen und hriftlichen Erkenntnis verwiſcht. Es hat fich mir nämlich 
erft nachträglich ergeben, daß alle jene ein tieferes Ber- 
ftändnts des Baulus befundenden Noten fpäteren Da— 
tums und jedenfalls niht vor dem Sommer 1519 
gejhrieben find. Es ift charalteriftiih, wie Zwingli an 
Stelle des bdoftrinären Gegenfates zwijchen lex literae und lex 
spiritus ber viel tiefere Lebensgegenſatz zwiſchen Geſetzes⸗ 
gerechtigfeitöftreben, deſſen Endergebnis die abjolute Inſolvenz, und 
Gnadengerechtigkeit ohne VBerdienft getreten if. Der Zeitpunkt, in 
welchen dies gefchah, muß, mag derfelbe immerhin nicht mehr 
genau nachgewiefen werden können, in feinem religiöfen Leben eine 
Epoche gewefen fein. Denn ber Fortſchritt iſt wirklich nicht nur 
ein theoretiſcher, ſondern involviert einen weſentlichen Umſchwung 
im chriſtlichefrommen Bewußtſein. Ob nicht damit zu⸗ 
gleich auch die Abkehr von Erasmus noch in einem anderen innig 
verwandten Lehrpunkt, nämlich in dem vom freien Willen, 
und die entſchiedene Hinwendung zur ſtreng prädeſtinatianiſchen 
Anſchauung zuſammenfiel?) 

Ein Einfluß des Erasmus macht ſich ferner in der Lehre von 
der Erbfünde bemerfih. Wie Zwingli diefer anfänglih an 
und für fich feine verdammliche Wirkung zufchrieb, jo hatte fchon 
Erasmus den ohne bie Taufe fterbenden Kindern das Heil nicht rund 


1) Ich bitte zur Ergänzung das in meiner Feſtſchrift S.80 Anm. und in 
„Zwingli und Erasmus“ ©. 25f. Über diefen Lehrpunkt Gefagte zu vergleichen. — 
Hter fehlen chronologiſche Anhaltspunkte nicht ganz. Die Wendung kann nicht 
vor Ende 1519 eingetreten fein, das zeigen Die Gloffen, aber auch jedenfalls 
nicht nach 1521, das erhellt aus einer brieflichen Äußerung des Mykonius 
(Opp. VH, 177). Zur Erklärung ift vor allem die Lebenserfahrung des mit 
der Peſtkrankheit beginnenden und dann immer. ernfter fich geftaltenden Zeit⸗ 
vaumes, ferner aber auch fpäter zu beiprechender lutheriſcher Einfluß In Be⸗ 


tracht zu ziehen. 


Initia Zwinglii. 665 


abgefprochen 1). Und in der Deutung des dp’ & oder in quo 
Röm. 5, 12 im neutralen Sinne fteht Zwingli ebenfall® auf 
den Schultern des Erasmus, während er hingegen das Nuapzor 
nicht fo beftimmt wie diefer von der altualen Sünde, fondern Lieber 
noch von der allerdings ererbten und, wie er fpäter dann doch betonte, 
auch verdammenden Sündenkrankheit deutete, wobei er fich freie 
lich in die größten Schwierigkeiten verwidelte, indem er einerjeits 
die Schuld Teugnete, anderfeits die Verdammlichkeit behauptete. 
Über die Gnade und das Zurüctreten, wenn nicht gänzliche Vers 
ſchwinden des Verdienftes finden fid) bei Erasmus ganz ſchöne und 
erbauliche Ausſprüche, die Zwingli wenigftens in der früheren Zeit 
auch religiös befriedigen fonnten. Den Scharf» und Ziefblid eines 
Luther freilich vermochten fie nicht zu bienden, denn fchon 1517 
ſchrieb er, die innerfte Sinnesrichtung des Mannes durchichauend: 
Ich fürdte, daß er EChriftum und die Gnade Gottes nicht genug 
treibe, worin er viel unmiffender ijt als Faber Stapulensis, und 
ein Jahr früher noch ſprach er ſich brieflich Spalatin gegenüber 
ſehr unbefriedigt über die oberflächliche Auffaffung der Geſetzes⸗ 
gerechtigfeit und über die Auslegung von NRöm. 5, 12 aus 9). 
Luthers Urteil könnte freilich zu hart erfcheinen, wenn man damit 
etwa den fchönen, von Zwingli unterftrichenen Schluß des Schreis 
bens an Volz zufammenhielte: Und wenn einer gethban, was er 
fonnte, fo gleiche er nicht dem Pharifüer im Gleichniß, fondern 
ſage nad Ehrifti Weifung und fage e8 von Herzen, fage es fi 
und nicht andern nur: Ich bin ein unnüßer Knecht, denn ich habe 


1) Erasm. Opp. IX, 903, Zwinglis Werte im Auszug I, 257 ff., Sig⸗ 
wart a. a. O., ©. Yöff. und meine Abhandlung über Zwinglis Tauflehre, 
Stud. und Krit. 1882, 2. Hft., ©. 247 ff. Im diefem Lehrftid tritt nament« 
lich der Gegenſatz gegen den Auguftinismus zutage. 

2) Luthers Äußerungen über Erasmus bei Köftlin, Luthers Leben I, 
137, 284, 327. Theologie Luthers I, 178. Kür den tiefliegenden Gegenſatz 
hatten übrigens nur wenige ein Berfländnis. Mykonius Tonnte deshalb 
(Opp. Zw. VII, 194) im Frühjahr 1522 an das Gerücht von einem keimen⸗ 
den Diffens zwifchen Luther und Erasmus nicht glauben: quod ferme libris 
illorum adeo inter se convenit, ut Lutherus dicatur ausam omnium, quae 
hactenus fecit, ex Erasmi seriptis cepisse. Siehe Glareans Urteil Zw. 


Opp. VII, 268. 


666 ufer; 


geihan, was ich zu thun ſchuldig war; ober menn man die Stelle 
in einer fpäteren Schrift vergliche: ‘Der Menſch st in fh ſelbit 
fleiſchlich. Der Zugang zur Sirche iſt her Hauke, ohne melden 
die Zanfe nichts nugt. Den Slauben giebt niemand ſich ſelbſt, 
er iſt ein Geſchenk Gottes, wodurch Gott benen, welcher es will, 
zusortommt und fie zu Ehrifte zieht‘), Es verbimt bier auch 
bervargehoben zu merben, daß Zwingli ſchen in Minfiebeln bei 
Erasmus in den Admptatipneu zum Neuen Teſtament Die richtige 
Audlegung des Glauhens“ in Sehr. 11 gefunden und ſich die 
ſelhe, die dort nur ganz nebenbei fteht, wit Weglaſſung des ührigen 
Zugalıs der Aumerlung in fein Manuſſfript notiert Kat: Fides 
hie pro fiducda, qua incçconcusso sparammp. Zusilih nahe 
diefe Betrachtungsweiſe in der Bolge in feinem refigiäfen Se⸗ 
wußtſein eine ganz aubere Stelle ein, als fie in dem des Era 
mus hatte, und fo wurde ber Glaube für ihn der refigiäie Zar 
tralbegriff, wie er es für den Humaniſten leineswegs Wer, 

Die porhin angeführte Stelle über ben Zugeng zur Kirche hat 
auch durch das über Die Taufe Bemerkte ihr Jutereſſe. Gi 
weiſt dem Sakrament einen untergeordneten Platz an, Geben wir 
3, ob vielleicht überhaupt iu Der Seframentelahre, die hei Zwingli 
eine jo eigentümliche und verhängnispolle Geſtaltung erhielt, ſich 
Beroͤhrungspunlte mit Erasmus nachpeiſen laſſen. Die Frage 
wird zur beſtimmten Krwartung, dei dem jo dei, wean man bis 
hen von Jäger?) in der Rezenſion der Gigwertärhen ‚Schrift ar⸗ 
wähnte, aber feither, ſo wiel mir belannt, wenig beachtete, hrief⸗ 
liche Äußerung MelanchtHons °) vernimmt: Cinglius mihi 
confesasug est, se ex Erasmi scriptis primum 
hausisse opinionem suam de ooena Domini, womit 
noch das Ahnfiche Urteil in einem früheren Brief aus dem Som: 
mer 1529 zu vergleichen: in Erasmus’ Schriften ſeien enthalten: 
semina multorum dogmatum und: teta illa tragödia sep) 


4) Behlottmann, Frasmus radiwirus I, 340, 

2) A. A. O., ®. 708, 
. 9) Mebef mom 32. Oktober 1529, alſo kurz nach dep Marburger Ge⸗ 
prä an Aquila (Corp. Ref. IV, 970). 


Initia Zwingli. 667 


deAmvon zvpraxod ab ipso nata videri potest. Wir find alſo 
in erfter Linie nicht auf die Niederländer, an die man Thon, 
zafobge bBiner Bemerkung in Zwinglis Schriften 7), gedacht, fondern 
faeziell auf Erasmns gewieſen. Schon den in den Taufftreitig⸗ 
feiten konkrete Geftalt gewinnenden Zwingliſchen Sakraments⸗ 
begriff finden wir bei Erasmus, der die in den asketiſchen 
Schriften des Hieronymus vorkommende Parallele mit dem sa- 
cramentum militare der Nömer in feinen Scholien weiter aus⸗ 
führte. Hierher gehört auch die Stelle im erjten Abſchnitt des 
Enchiridion: Neseis o Christiane, jam tum, cum vivifici la- 
wacri mysteriis initiabaris, namen dedisse te duci Christo, 
verbis conceptis in tam 'benigni Imperatoris jurasse sen- 
tentiam, ejus sacramentis veluti donariis anthoratum.? 
bisher ferner die ‚ganz frappant an Zwingli erinnernde Aus» 
führang in den Baraphrafen zu Röm. 4 über die Beſchneidung 
„Ron quae justitiam .conferret, sed quae symbolum ‚quod- 
dam ae nota foret apud homines, non apud Deum — nen 
ut justitiae parens, quae jam contigerat, sed partim ut ty- 
pıs qnidam verae circumcisionis, h. e. innocentiae secuturae 
in is, qyi ereditari essent, — partim ut signaculum quod- 
dam ze pignus, quo certa esset Abrahae hujus promissi fi- 
des, non comtinuo praestandi im Isaac, qui Christum adum- 
brebat ete. — und ebenſo das zu Rom. 6 Bemerlte, wo neben 
ber ganz an Zwingli ewinnernden Grundanfchauung befonders auch 
das ſchwantende quid baptismus vel efficiat vel designet 
ya beachten if. Und wenn man die eriten Anfüge zu Kon⸗ 
firmandenunterriht und Konfirmation ſchon in bem dat finden 
wollen, was Zwingli in ber Auslegung der 18. Schlußrede (Opp. 
I, 239) üßer eine Moorganifation ber Firmung jagt ?), jo Tann 
man auch bier noch um einen Schritt weiter zurückgehen und die 
Vermutung ausfprechen, Zwingli fei zu jenem Bemerkungen eben» 


a) Sigwart a. a. O, ©. 209 unter Berufung auf Zw. Opp. III, 658, 
womit indefien DI 2, 62 zu vergleichen. 

nr C. Peſtalozzi, Die Konſirmation, In den Verhandlungen der Züricher 
asletiſchen Gefellichaft 1882, S. 64 ff. | 

Theol. Gtub. Sahrg. 1885. 43 


668 Ufer 

falls durch Erasmus angeregt worden, der in der Epistola prae- 
posita paraphrasi in Matthaeum ganz ähnliche Gedanken äußert, 
nur in noch modernerem Sinne, indem er nit nur Unterricht 
der herangewachjenen, getauften Jugend, fondern anch Anfrage an 
diefelbe empftehlt, ob fie das durch Stellvertreter einft 
für fie Verſprochene ratifizieren wolle, und im Wei⸗ 
gerungsfall von Strafmaßregeln abrät, was allerdings der Sor- 
bonne dann auch Veranlaffung gab, Proteft zu erheben !). — 
Was nun das Abendmahl beirifft, fo Täßt fi fchon darum, 
weil den Erasmus vorgeworfen wurde, er habe die gleiche An⸗ 
fchauung davon wie Karlitadt und fein Anhang, vermuten, daß an 
der Anklage etwas war. Wirklich findet fi) auch im Enchiridion 
im 5. Kanon die bezeichnende Stelle, die wenigftens zeigt, worauf 
Erasmus den Hauptaccent legte: Christus contempsit et car- 
nis suae manducationem et sanguinis potum, nisi et spiri- 
taliter edatur atque bibatur. — Tu forte quotidie sacrifi- 
cas et tibi vivis neque ad te pertinent incommoda proximi 
tui. Adhuc in carne es sacramenti. Verum si sacrificans 
das operam, id esse, quod illa sumptio significat, 
puta: idem spiritus cum spiritu Christi, idem corpus cum 
corpore Christi, vivum membrum ecclesiae — ita demum 
magno fructu sacrificas, nempe quia spiritaliter 2). Auch 
die Bemerkungen bes Erasmus zu 1Kor. 10 und 11 in den Ba, 
taphrafen wurden beanftandet, als hätte er Hier Brot und Wein 
zu bloßen Symbolen gemadht. Es iſt dies nicht richtig, die reale 
Präfenz von Leib und Blut Chrifti wirb nicht geleugnet ®), ebenfo 
wenig aber hervorgehoben. Das Abendmahl wird wefentlich als 
Erinnerungs-, Bundes- und Gemeinfchaftsfeier gewürdigt. Wir 
haben aljo in der That bier die rudimenta ber Zwinglifchen 


ı) Erasm. Opp. IX, 819, 

2) Leo Judae hat fpäter in einer pfendonymen Schrift diefe und andere 
Stellen dem Erasmus vorgehalten. Heß, Erasm. I, 272 ff. Sie find, wie 
fi; unten noch zeigen wird, ganz auguſtiniſch, befonders auch das sacrificare 
im geift. Sinn. 

9) In den Parapbrafen zu Matthäus warnte Erasmus nur vor Grübe⸗ 
leien darüber, wie ber Leib Chriſti im Nachtmahl fei, 


Initia Zwinglii. 669 


Lehre 2). „Ehriftus hat gewollt, daB die Mahl das Gedächtnis 
feines Todes und das Symbol eines ewigen Bundes fein Toll“, 
fo leſen wir zu 1Kor. 11, und bei 1Kor. 10 noch bezeichnender: 
Nonne poculum illud sacrum, quod nos in memoriam 
mortis Christi cum actione gratiarum sumimus et 
consecramus, consortium arguit, quod pariter sanguine 
Christi sumus redempti? Rursus sacer ille panis, quem 
exemplo jussuque Christi partimur inter nos, arguit foe- 
dus ac societatem summam inter nos velut iis- 
dem sacramentis initiatos? Panis ex innumeris gra- 
nis sic conflatus est, ut discerni non possint. Corpus sic 
ex diversis membris constat, ut inter omnia sit societas in- 
separabilis etc. ?) 

Faft in allen Lehrpunften begegnen wir fomit bei Erasmus 
den Anſätzen und Keimen proteftantiiher Anſchauung. Beſonders 
freimütig lauten manche Ausſprüche über Kirche und Hierarchie. 
Die Kirche ift das Chriſtenvolk, heißt’s in der Sprichwörterſamm⸗ 
lung, die Geiftlichen bis hinauf zu den Kirchenfürften find Die» 
ner?) Um fo mehr mußte es Zwingli befremden, daß Erasmus 
im Neuen XTeftament (Fol. 318) anläßlih des Wpofteltonzile 
(Apg. 15) die Mitwirkung der Gemeinde bei jenem Beſchluß zu 
ignorieren jchien und benjelben als allein durch die Autorität des 
Petrus und Jakobus zuftande gekommen barftellte, daher feine 
Randgloffe zu der Selle: totiusque ecclesiae autoritate dicen- 
dum esse non vidisti doctissime Erasme. In Matth. 16 wird 
von letterem fjogar nach dem Vorgang des Drigenes der „Fels“ 
auf die glänbigen Ehriften, die Petrus ähnlichen, oder genauer auf 


1) Die Ausgabe ber Paraphrafen zu den Korintherbriefen, bie Zwingli be⸗ 
ſaß, iſt vom Jahr 1518. 

2) Es wird fi) unten noch zeigen, daß die urſprüngliche Duelle diefer 
Anfhaunng wohl für beide, für Erasmus und für Zwingli, bei Auguftin 
zu fuchen if. 

3) Zu Joh. 20, 23 bemerkt Erasmus: Wer ſich wegen ber Schlüffel- 
gewwalt eine Tyraunis anmaße, bedenke nicht das vorausgehende: Friede ſei mit 
eu: Toti turgemus mundano spiritu et tamen placemus nobis autorl- 
tate commissa remittendi aut retinendi peccata (Adnot. im N. T.), 

48 * 


6 uuſter 


die solida ista Christi professio gedentet und in den Adnota⸗ 
tionen jelbit die freimütige Bemerkung nicht unterdrückt: Proinde 
miror, esse, qui hunc locum detorqueant ad Romanum pon- 
tiicem. Verum supt, quibus nihil safis est, nisi quod sit 
immodienm, und in Joh. 21 iſt das: „Weide meine Schafel“ 
als Auftrag am jedweden episcopus gefaßt. Melde Bebeutung 
diefe von Erasmus gegebenen Anfklärungen als Grundlage für 
eine unbefaugene hiſtoriſche Auffaſſung für Luther gewannen, hat 
Schlottmann aq. a. O. S. 204 gezeigt. Die Frucht der dadurch 
beftimmten Studien war feine Stellungnahme bei ‚der Leipziger 
Disputation. Ebenſo wenig fönsnen fie auf Bwingfi ihres ‚Ein 
drucks perfehlt haben. Über feine Stellung zum Papfttum (vere 
glichen mit derjenigen Luthers) ſ. meine Feſtſchrift S. 139. Mn 
der weltlichen Herrſchaft des Papſtes wird als an etwas Über⸗ 
flüffigem ſchon von Erasmus gerüttelt, jeine geiftliche Qberhoheit 
aber nicht angetaftet, auch nicht in der früher Zwingli zugefchrie- 
benen, anonymen Schrift aus dem Fahr 1520: Consilium cujus- 
dam ex animo cupientis esse consultum et pontificis digni- 
tati et christianae religionis tranquillitati. (Üper pie Autar- 
ſchaft des Erasmus ſiehe „Zmingli und Erasmus“, ©. 32.) 
Gleichwohl Hat Erasmus ynftreifig viel dazu beigetragen, daß 
das Anjehen des römischen Biſchofs and feine Machtitelung je 
mehr und mehr unterwühlt wurde. Wenn er trotzdem immer 
wieder um feine Gunſt buhlte, und menn er überhaupt, jo wenig 
er's über fi brachte, feinem Hang, üherall Kritik zu üben umd 
durch Verbreitung neuer Ideen zum Widerſpruch zu xeizen, Ein⸗ 
halt zu thun, dennoch hinterher nicht mühe wurde, zu verſichexn, 
er unterwerfe fich rüchhaltlos dem Urteil der Kirche, wenn infolge 
deſſen die jchriftftellerifche Thätigkeit des Erasmus ein trauriges 
Schauſpiel von Schwankungen und Schwenkungen, Schlangen 
windungen, Zweideutigkeiten, Halbheiten, Retraftgtipuen uud Cha⸗ 
roßterfofigleiten aller Axt darhietet, ſo legt fich eben dabei ‚ale 
innerſtes Motiv feines Denkens und Handelns ſtarke Empfindlich⸗ 
keit für die Ehre bei den Menſchen und feige Sorge für zeitliche 
Rufe, Annehmlichkeit und Bequemlichkeit bloß — Gharofterfehler, 
die allerdiuge trag der hexvorxagendſten geiftigen Begehung und 


Initiw Zwikkelii, 6 


eines emineriken kritiſchen Scharfblicks verhüngnisvoll genug wuren, 
um eine reformatoriſche Wirkſamkeit bei ihrem Inhaber unmöglich 
zu mache. 

Deſſen ungeachtet leiftete Erasmus Her Reformation die wich- 
tĩgſten Handlangerdienſte in ſeinen bibliſchen Arbeiten, und nicht 
nur das: er erwarb fich um die religiöſe Aufklärung ein großes 
Berdienft; feine Schriften find voll von anregenden, befruchtenden 
Ideen, die bei Männern von Charakter und Überzeugungstreue 
fortarbeiteten und zu reformatorifchen Thaten ausreiften. Und 
wenn die Angeregten auch über Erasmus und überhaupt über die 
humaniſtiſche Richtung hinaus zu größerer Vertiefung ihres evan- 
gefifch-chriftlichen Beinußtfeins vorwärtsfchritten, fo blieb ihnen: doch 
zeitlebens als Erbe jetier Vorſchule eine Weite des Blicks, eine 
alfgemeine Bildung auf Maffifcher Grundlage, eine weltbürgerliche 
Lebenoweisheit und ein offener Sinn für jegliche Wahrheit, eine 
Meitherzigfeit und Zoleranz, wie man fie bei anderen, die nicht 
duch jene Vorschule gegangen, weniger antrifft. — Es dürfte hier 
noch der Ort fen, zu zeigen, wie auch die Empfänglichkeit unferes 
Zwingli fir Wahrbeitselemente und Qugendleiftungen außerhalb 
ber Sphäre der pofitio-biblifchen Offenbarung aus der Schule des 
Erasmus ftammt. Im Enchiridion fieft mun: Christi esse 
puta, quidquid usquam veri offenderis. Ebeidafelbft wird dem 
Plato göttliche Eingebung zugefchrieben ?). Unter allen Bhilofophen 
Sollen die Platonifer die beten fein und mit dem Evangelium am 
meiften Verwandtſchaft haben. Hierin ftehen mit ihnen auf einer 
Linie die Poeten, denn bei beiden: fei neben dem simplex sensus 
der myfteriöfe wohl zu beachten. Homerica et Vergiliana poesis 
tota allegorica. Wer Bierfür Verftändnis Habe, könne aus heids 
nifhen Mythen und Gedichten fo viel lernen als aus der Bibel; 
wen dies geiftliche Verftändnis abgehe, für den fomme es unge- 
fähr auf dasjelbe Hinaus, ob er Livius oder die Gejchichtsbücher 
des Alten Teſtamentes leſe. Er habe von dieſen letzteren doc 


1) Bol. Zwingli de providentia Opp. IV, 98, und die ſchöne Zufammen- 
ftellung der von Zwingli wegen ihrer Wahrheits- und DOffenbarungselemente 
hochgeſchätzten Klaſſiker bi Schuler a. a. DO. ©. 26 ff. 


072 Dorner 


nichts anderes als die Schale. Daß bei ben neueren Theologen 
fowenig Verſtändnis für die allegoriiche Auslegung vorhanden ſei, 
rühre daher, daß fie, mit dem einen Ariftoteles zufrieden, 
die Blatoniler und Pythagoräer vernadhläffigen — 
Man bat fih fchon oft daran geftoßen, dag Zwingli in feiner 
Expositio religionis Christianae unter ben edlen Heiden, von 
denen man hoffen dürfe, baß fie felig geworben, auch den mythi⸗ 
chen Herkules nnd Theſeus nennt. Es dürften aber diefe Figuren 
na der durch Erasmus eingeführten Behandlung der Mythen 
nicht in ihrer rohen Natürlichkeit, fondern als Idealgeſtalten auf- 
zufaffen fein; vgl. die Stelle im Enchiridion: Si Herculis la- 
bores admonent, honestis studiis et industria infatigata pa- 
rari coelum, nonne hoc discis in fabula, quod praecipiunt 
philosophi et theologi vitae magistri? Einer folden Ber: 
wertung der Mythologie Liegt Freilich als notwendige Vorausfegung 
die Annahme einer Uroffenbarung zugrunde, die, ähnlich wie die 
altteftamentliche, die Müfterien der wahren Religion in alfegorifcher 
Verkleidung zum Ausdrucd gebracht. Ein beliebtes Beiſpiel für 
das in ber Urzeit neben Mofes noch vorhandene und auch von 
diefem keineswegs veradhtete Offenbarungslicht ift Jethro mL 18, 
wozu Zwingli Opp. V, 265 zu vergleichen. 


(Kortiegung folgt im nächften Heft.) 


5 2. 
Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 
Bon 


Prof. D. Ung. Dorner. 





Es iſt eine Erfcheinung, die wohl eingehenderes Studium ver- 
dient, dag in dem fpäteren Mittelalter die transcendente, dem jen- 
jeitigen Leben zugewandte Richtung, welche das Weltliche gegenüber 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nach Occam. 618 


dem Seljtlichen verachtete, daß die Lebensanfchauung, welche in dem 
möunchiſchen Ideal gipfelt, felbft bei den Lehrern der Kirche, fo 
fehr diefes Ideal anerkannt wird, doch nicht mehr die Alleinherr- 
fchaft behauptet. Wir haben hier das intereffante Schaufpiel, daß 
während das Gemüt von jenen Idealen noch feitgehalten ift, doc) 
die Erkenntnis über diefelben hinausftrebt.- Der der mittelalter- 
fihen Anfchauung zugrunde Tiegende Dualismus im Gegenfaß des 
Natürlichen und Übernatürlichen, bes Weltlihen und Geiftlichen, 
konnte nur fo lange einigermaßen verborgen bleiben, als die Selb- 
ftändigleit des Individuums von der kirchlichen Gemeinfchaft ab- 
forbiert wurde, — kirchliche Wiſſenſchaft nnd die kirchliche Sitt⸗ 
lichkeit in ihrer nierenden Stellung ſich behaupten konnte, als 
unbedingt anerkannt wurde, daß alle Intereſſen des Menſchen den 
kirchlichen ſchlechthin unterzuordnen ſeien. Sobald dagegen das 
Bewußtſein rege wurde, daß die weltlichen Wiſſenſchaften, daß 
die weltliche Sittlichleit eine, wenn auch noch fo geringe Selbftän. 
digkeit gegenüber der firchlichen behaupten könne, fo trat der “Dug- 
lismus klar zutage, führte zu einer zwiefpältigen Weltanſchauung 
in der Lehre von der doppelten Wahrheit, und gerade durch diejen 
Zwiefpalt erwies fich die Notwendigkeit, die Fundamente der Welt: 
anfhauung und Sittlichleit aufs neue zu prüfen. In diefem Sinne, 
glaube ich, ift e8 wohl berechtigt zu fagen, daß die Münner, welche 
dieſen Zwiefpalt zum Bewußtfein brachten, die Reformation vorbe- 
reiteten.. Sie geben ihre aber nicht bloß fozufagen einen negativen 
Unterbau, fondern, indem fie eben die Selbftänbigkeit der fittlichen 
Freiheit, der weltlichen Wiffenfchaft, der weltlichen Sittlichkeit, 
wenn auch zum Teil nur in befchränfter Weife und nicht ohne am 
alten ererbten Ideal zugleich. haften zu bleiben, geltend machten, 
haben fie auch eine der wichtigſten Pofitionen der Reformation zus 
gleich pofitiv vorbereitet. 

Ich finde, daß in diefer Beziehung der Orben der Franziskaner 
in hervorragenden Mitgliedern eine bedeutende Thätigkeit ausgeübt 
hat. Schon Duns Scotus, wie ich in meinem Artikel in der 
Herzogſchen Realenchklopädie) zu zeigen geſucht habe, Hat eine 


1) Bol. Aufl. 2, 


74 Dorner 


were Bahn gegenüber Thomas eingeſchlagen, ſo ſehr es durch ferne 
Verehrung der unbefleckten Empfängnis Mariä, und ſeine md 
chiſche Askeſe, die ſich bis zu: Ekftaſen fteigerte, endlich uch dutch 
feine ſtreng kirchliche Sittenlehre, welche dem mönchiſchen dent 
huldigt, ausgeſchloſſen zu fein ſcheint. Es tritt: indes bei ihm das 
Streben deutlich zutage, den weltlichen Wiſſenſchaften eine ſelbſtäu⸗ 
dige Stellung zu geben, und ſpricht fi 3. B. in dem Satze aus, 
daß bie mathematischen Gefee, per impossibite vorausgefetzt, duß 
fein Gott wäre, ihre Geltung doch behalten müßten, wie er best 
auch in der Erfahrung und den allgemeinen Begriffen: die Yundar 
mente für eime felbftändige weltliche Wiffenfchaft anerfamte!). Wenn 
er ferner zu dem Sate fommt, daß für die Philoſophie ein Gag 
gelten könne, der fie die Theologie nicht wahr jet, ſo zeigt ſich 
doch darin neben Anderem auch das, daß en der Philofophie die 
Selbitändigfeit gönnte, foldie Säge, ausfpredden zu: Tönnen. Indem 
er ferner die Selbftändigfeit des Willens betont, auf das eingelne, 
vor allem den Einzelwillen ein großes Gewicht legt, die Selbbſtän⸗ 
digfeit der Mättelurfachen in der Welt gegenüber der göttlichen 
Aktion hervorhebt und Gott und Welt fo unterjcheidet, daß er auch 
der Welt eine größere Freiheit der Entwidehung zuerkennt als 
Thomas (wie er auch Gott vor allem al® ſich felbit behauptendes 
Subjekt auffajfen will), bahnt er auch für die Ethik eine nene 
Richtung. an. Denn, wenn auch insbeſondere diefe Hervorhebung des 
Einzelwillens zu einfamer mönchiſcher Beichaulichkeit führen konnte, 
fo lagen in. berfelben doch zugleich; Tendengen verborgen, melthe die 
Abhängigkeit des Einzelnen von der Autorität deu Kirche lockern 
konnten, mochte Duns immerhin zunächſt die Freiheit: als Freiheit 
zum Gehorfam gegen die Kirche verwenden und das Prinzip , das 
in feiner Betonung der Selbftändigkeit des Einzelmillend liegt, nad) 
nicht durdführen. Nimmt man die ganze Tendenz. feines‘ Denkens 
zufammen, fo war es fehr natürlich, daß ihm Mänmner folgten, 
welche dies Prinzip entfchiedener durchführten und gleichmäßig auf 
Zeile des fittlichen wie des intellektuellen. Gebietes anwmandten. 

Zu diefen gehört vor allem jem Schüler und Drdensgenoffe 


1) Bol. a. a. D., ©. 737f. 739. 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nach Occam. 678 


Wikhekm Occam. Denn einerfeits Begürftigte biefer die Selb⸗ 
ftändigkeit weltlicher Wiffenfchuft durd den Sat des Scotus, daß 
in der Philoſophie wahr fein könne, was in der Theologie falſch, 
ſuchte natürliche und theologiſche Wiffenfchaft zu trennen und fand 
erftere weſentlich in der Logik, Sprachwiffenfchaft!) und Jurisprudenz, 
wenn ee matärlih auch der Autorität der Theologie den Vorzug 
geben zu müffen meinte, ohne freilich bie Erfennbarfeit ihrer Objekte 
zu behaupten, fteigerte die Vorliebe des Scotus für das einzelne zum 
Nominalismus, kam eben damit aber auch dazu, ald das Sicherſte 
der Erkenntnis die Erfahrungen der inneren Zuftände der Seele an⸗ 
zuerfennen 3), und anderſeits inbezug auf das fittlihe Gebiet 
kämpfte er für die Selbftändigkeit de8 Staates neben ber Kirche ®) 
nnd ging überall auch hier auf die Einzelwillen zurück. In all diefem: 
aber thut ſich ein gemeinfamer Zug fund, der der Alleinherrichaft 
der Theologie und Kirche entgegentritt, ber das Natüurlich⸗Sittliche 
wenigften® in einzelnen Gebieten beffer würdigt und zur Anerken⸗ 
mung zu bringen fucht 4). Wir fehen gerade bei Dccam bie höchft 
charakteriftifche Verbindung feiner Gedanken, daß er einerfeits 
firenger mönchiſcher Beſchaulichkeit des Einzelnen, wie ſich zeigen 
wird, das Wort redet und anderfeits doch im Leben der Kirche 
und des Staates auf bie einzelnen als die Begründer der Gemein 
Schaft zurückgeht. Beides weiſt, wenn auch in verfchlebener Rich 
tung, anf die Betonung des einzelnen bin; bies tft der in Beidem 
herbortretende gemeinfame Gedanke. | 
Uns fommt es hier darauf an, zu zeigen, in welcher Weife Occam 
in dem Kampf zwifchen Katfer und Papſt das Verhältnis von Staat 
und Kirche beftimmt, wie er an diefem Punfte die Tendenz zur 
Derjelbftändigung der weltlichen Sphäre des Staates zu wahren 


1) gl. Opus nonaginta dierum c. 6, wo er dem Papſt Vernachläſſigung 
der Philologie vorwirft. 

2) Bol. hierüber Ritter, Geſchichte der Philoſophie, 8.TL., S. 597. 683. 

3) Bol. Ritter a. a. O. ©. 687. 575. 

4) Bol. 3.8. die Äußerung, man könne nieht jagen, daß alles; was außer 
der Kirche geichehe, „aedificant ad gehennam“. Die Ungläubigen fündigen 
nit in omni actu mortaliter. Hierin ift ein Anfat zur justitia civilis. 
Dial, P. IT, Tr. I, L. I, c. 27, 


66 Dorner 


fucht und fo einem neuen fittliden Ideal vorarbeitet. Oecam ift 
nicht der einzige in feiner Zeit, der in bem Kampf auffeiten bes 
Kaiſers ſteht. Vor allem find es Männer wie Marſilius von 
Badua und Johann von Janduno, die Verfaſſer des Defensor 
Pacis, erfterer ferner in feiner Schrift De jurisdictione im- 
peratoris in causis matrimonialibus !) und im Tractatus de 
translatione imperii; Johannes von Janduno hat ebenfalls über 
die potestas ecclesiastica gejchrieben. Die ihm zugefchriebene 
Schrift: informatio de nullitate processuum Papae Joh. XXII 
contra Ludovicum imperatorem fihreibt Goldaftus dem Franzie- 
kaner Henricus de Chalhem (von Thalheim) zu ?), dem Cancellarius 
Ludwig des Bayern. Auch der Franzistaner Bonagratia hat aufs 
feiten des Kaifers Lebhaft mitgewirtt. Des Franzisfaner Ordens⸗ 
generald Michael von Caeſena, der ebenfalls aufjeiten des Kaifers 
ftand, drei Traktate gegen die Irrtümer Johann XXI. beziehen 
fih mehr auf den Streit der Franzisfaner über das Eigentum, 
den er im Sinne ftrengfter Enthaltfamkeit von Eigentum führte 3). 
Wir werden auf diefen Punkt zurücdtommen. Unter den Deut⸗ 
ihen war es befonders Lupold von Bebenburg, der mit feinem 
tractatus de juribus regni et imperii fic) auffeiten des Kaifers 
ftellte *). 

Bon den Schriften von Occam fommen für unfere Trage 
folgende in Betracht. Die disputatio super potestate praelatis 
ecclesiae atque principibus terrarum commissa, noch zur Zeit 


1) Die fi) auf die Ehe des Sohnes des Kaifers, Ludwig von Branden- 
burg und der Margareta von Kärnten und Tirol bezieht, wie die unten zu 
erwähnende Schrift von Decam über bdenfelben Gegenftand. Sie wurde dem 
Marfilius von Riezler abgeſprochen (Riezler, Die litterariſchen Widerſacher 
der Päpfte zur Zeit Ludwig des Baiern, S. 234f.), ift aber von ihm fpäter 
als echt anerkannt. Vgl. Müller, Die Kämpfe Ludwig des Baiern IL, 160, 
Anm. 4. 

: 3) ®gl. Goldastus Monarchia. Tom. I. Dissertatio de Auctoribus. 

3) Über Michael von Eaefena vgl. übrigens noch Preger, Der kirchen⸗ 
politifche Kampf rc. Abhandlungen der bayer. Alademie hiſtor. Klaſſe. 14. Bd. 
©. 10f. 63f. 

4) Bgl. über die damalige Titteratur die ausführliche Arbeit von Riezler, 
Die litterariſchen Widerfacher der Päpfte zur Zeit Ludwigs des Bahern. 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nad; Oceam. en 


Bonifac VIII. gefehrieben in der Form eines Dialogs zwifchen einem 
Clericus und miles; fie fcheint indes Fragment zu fein 1). Berner 
werden die Octo Quaestiones super. potestate ac dignitate 
papali. Occam zugefchrieben ?); fe ie ie ‚aus bem 





1) Goldastus. Tom. I, p. 13 sg. Kiezler a. a. O., S. 145, erkennt 
die Echtheit dieſer Schrift nicht an. Seine Gründe find im weſentlichen die 
Form und der Ton des Dialogs. Der Inhalt macht and, ihm Fein Bedenken. 
Allein daß einem Laien die Vertretung des Rechts in den Mund gelegt wird, 
ift doch fein Grund gegen die Echtheit, da Occam aud) fpäter oft genug dem 
Clerus ala ſolchem gegenüber die Kirche als Gemeinfchaft der Gläubigen betont 
und das Recht der Laien hervorhebt, ſelbſt einen häretiſchen Papſt anzugreifen. 
Die franzöftfch-nationale Gefinnung ließe ſich wohl erfläven. daraus, daß Ooeam 
Mitglied der PBarifer Univerfität if. Seine Auffaffung des Kalfertums kanu 
fpäter fi) geändert haben, und es ift nicht zu Überfehen, daß Occam auch fpäter 
die Rechte der Könige durd) den Kaiſer nicht verlett wiffen will, |. u. Die 
vielen Anfführungen aus dem Gerichtsieben können ebenfalls kein genügenber 
Grund gegen die Echtheit fein, da Dccam es auch ſonſt Tiebt, ſich in juriſtiſchen 
Sineffen zu ergeben und feinem Stantsbegriff nach, ber daB Recht zum Mittel- 
punkt bat, hierauf von jelbft fommen muß. Wenn Niezler die Stelle citiert, 
welche dem miles in den Mund gelegt ift: „Wenn meine Frau eine Erbſchaft 
gemacht bat, und ich gehe nad Paris, um fie zu erheben 2c.” um Hieraus 
zu fchließen, der Verfaſſer „Iebe nicht in Paris”, fo geht das doch zu weit; 
er könnte gerade fo gut fchließen, der Verfafier ſei verheiratet. Dazu kommt 
aber, daß ich wenigftiens bei Goldast P. 15 Iefe: ego vado Parisius pro 
quadam haereditate etc. Wenn der entichievene Ton der Schrift Bedenken 
erweden könnte, während Occam ſich fonft eine Hinterthür „casualiter‘ nicht 
jelten offen hält, fo fehlt doc auch das nicht völlig, da er doc auch bier zu⸗ 
giebt: „quamquam possint aliqua temporalia per ipsos pontifices dispen- 
sari“, p. 14. Daß in biefer Schrift fi) der Schulgelehrte jo wenig zeigt, 
was in den anderen Schriften Occams der all ift, dürfte das gewichtigſte Be⸗ 
denken fein. Allein da8 Compendium errorum Johannis XXII. bat wenigftens 
was die Entſchiedenheit der Oppofition angeht einen verwandten Charakter, und 
feine Arbeit über die jurisdictio des Kaifers in Eheſachen, die Niezler als 
echt anerkennt (a. a. O., ©. 254 f.), ift ebenfo „frei von fcholaftiicher Schwer- 
fälfigkeit und entichieden im Zone”. Ich vermag daher nicht von der Unecht- 
heit des Traktates mich zu überzengen, den Stoeckl, Schwab, Lechler, Fried⸗ 
berg als echt anerkennen. Wenn übrigens Riezler Peter Dubois für den Ver⸗ 
fafjer hält, jo find in deffen Schrift de recuperatione terrae Sanctae aller- 
dings verwandte Gedanken. Nur tritt in biefer Schrift Frankreich noch ganz 
anders in den Vordergrund als in unferm Dialog. 

2) Goldastus Tom. II, p. 3745q. Das Werk wird anch unter dem 





ic Dorner 


FJahre 1339. RUGE mir iſt ber Tod Johann XXI. vdrausgefekt, 
fondern es wird audh gegen Lupold von Bebenburg polenfiftert ?). 
Sudan da® Compendium errorum: Papae Johannis XXI. ) 
duch nach dem Tobe des Phpftes gefchrieber®), Däas ui 
faffendfte Wert, das hier in Betracht kommt, tft fein Dialogus de 
Potestate' Papali et imperiali €), bem übrigens auch nicht boll- 
tndig erhulten iſt, da nach dem’ Plane, welchen er für den dritten 
Tat aufſtellt 5, die Fonfrete Anwendung der Grunbfäge auf die 
Verhäftniffe der Zeit, befonders den Streit Ludwig des Bayern: 
mit dem Papfitum fehlt 6). Stückweiſe iſt diefer Mangel durd) 
da6 opus nonaginta dierum 7) ergänzt, obgleich dasfelbe feinem 
größter Teil nach ſich auf den Minoritenftreit bezieht und den 
Michael vor Caefena verteidigt. Endlich ift noch ein Heiner Traktat 
von Occam erhalten: De jurisdietione imperatoris in causis 
matrimonielibus ®),. der aus dem Jahr 1342 ftammen foll. 

Im allgemeinen müfſen wir die Bemerkung vorausſchicken, daß es 
bet ber Art von Orcam, welche in feinen Hauptwerken hervortritt, bie 


Titel: Tractates de potestate evtlegiastica cifiert, vgl. die Einleitung Bei 
Goldäst. Tom. I. 

1). Bgl. Riezlern. a. O., S. 250. 

2) Goldastus Tom: II, p: 987 sg. 

9) Bol. c. 8. 

4) Goldastus Tom; HI, p. 396 sy. 

5) Bl: a. a. O. &. 771, 

6.8 die Ahfaffungszeit angeht, fo giebt Goldastus zwar das Jahr 
1828 an, Tom: II, p. 392. Alfett da Oecam in’ den Plan des dritten Teiles 
Beneditt XII. erwihnt; ©. 771, muß offenbar die Schrift Später abgefaßt fein 
(nach 1834 und vor 1342, dem Tode Benediie). Nach Müller iſt die Ab- 
faffung erſt na 1339, mid früher anzuſetzen. Bgl. der Kampf Ludwig des 
Buhern IT, 88. 

7) Goldastas Tom. II, p. 998. Riezlet Hält diefe Schrift für die erſte 
Oecams, &. 243 |! Sie iſt nach dent Schluß II, S. 1236 bei Lebzeiten Johanns 
verfußt, aber dem Dinloy einverleibt. Vgl. Goldastus TI, p. 77T. 

8) Goldastus Tom. I, p. 21. Bgl. Müller a. a: DO. II, 161. Riezler 
0. aD, &. 2540|. Außer ben genannten Schriften iſt noch ein ungebrudter 
Trallat Oecams zu: etwähnen, ber gegen Benedikt XII. gerichtet iſt, vgl. 
Müller a. a. O. LI, 88, und ein anderer wohl erſt nach Ludwigs Tode „über 
diß Wahl! Karl IV”. Müller a. a. O. U, 281, 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. us 


nerſchiedenen Anfichten ohne eine eigene Aintfeheabung nehensingnäer- 
zustellen oft ſchwer ift, feine eigene Anficht herauszufinden, Je⸗ 
doch wird man gewöhnlich bemerken, auf welcher Seite feine Sym⸗ 
pathie Liegt; auch hemüht er ſich ſehr oft, die aͤhm zuſagende An⸗ 
fit ausführlich darzulegen, zu begründen, ‚gegen Kinmänhe zu ver⸗ 
teidigen, während er die entgegenſetzte kürzer abfertigt. Ofter 
tritt auch jelbjt in den am meilten fcholaftiich gehaltenen Schriften 
das Gefühl des Schriftiteflerd an den Tag, und man merkt daran, 
wie er ſich zu der vorgetragenen Anficht verhält. Dazu kommt aber, 
daß feine ganze Stellung am Hofe des Kaiſers feine Denkweiſe 
berbürgt, nicht minder unzweideutige Schriften wie das opus no- 
naginta dierum, Compendium errorum etc,, De jurisdietione 
imperatoris in causis matrimanjalibus (auf die Schrift Die 
logus inter .militem et Olericym), 

Der Gang unſerer Unterfuchung ſoll der fein, dag wir zuexft 
feinen Staatsbegriff, dann feinen Kirchenbegriff, faweit er Hier in 
Betracht kommt, erörtern, ferner das Verhältnis beider zu ein⸗ 
ander nach feiner Auffafjung zu beftimmen ſuchen und endlich dar 
mit abjehließen, bie leitenden Prinzipien feiner Anjichten herauszu⸗ 
kehren und ihre Bedeutung für die Folgezeit zu würdigen ?). 


I. Oecams Staatsbegriff. 


Wir veben bier zuerſt vom ber Selbſtändigkeit des Staates. 
Die Sclbftänbigleit des Staates zeigt fih fir Docam im Recht, 
bie Begründung des Rechts iin der Vernunft; enbiich iſt noch won 





1) Es fei hbemerkt, Daß Decam feine ausführfiden Schriften gegen das 
Papſttum exſt am Hofe Ludwigs des Bayern geichrieben bat. Richtig ift 09 
aber doch wohl nit, wenn man haram annimmt, ex babe bie unten dar⸗ 
gelegten Anfichten erft zu bigger Zeit gehabt, jelhß wenn ber ‚Dialogus inter 
militem et clericum unedt fein fpllte, was mir nicht von Riezler erwieſen zu 
fein ſcheint. Denn Clemens VL, ber do wohl in dieſer Hinſicht Glauhen 
verdient, hat darauf hingewieſen, daß Dream auf die Anfichten bes Marſilius 
von Padua befonderen Einfluß ausgeübt habe. Das ſcheint Miller nicht genug 
zu beachten, da feine Darfteflung eher den Grein erwech, ale fi Docayı bem 
Marßilius gefolgt, a. a. D- I Ab. — Bol, Riezler, Die Titterauiichen 
Widerſacher der Paͤpſte. ©. 85. 241. 


63% Horner 


der Ausdehnung des Nechts zu reden. Sodann betrachten wir das 
fittliede Ideal, das nicht zu dem bisherigen ſtimmt, da biefes den 
Staat eigentlih überflüfſig machen müßte. 

Es ift bemerfenswert, daß Occam dem Staate kaum eine erzieh⸗ 
liche Aufgabe zumelft, wie es Thomas noch gethan hatte, der aber 
dafür dann auch den Staat der Kirche unterordnete, welche allein 
die Erziehung vollenden kan 2). So bleibt die andere Seite des 
Staatsbegriffe von Thomas Decam im wejentlihen übrig, die 
Sorge für das Recht und die temporalia, d. h. die zeitliche 
Wohlfahrt; der Staat Hätte es hiernah mehr mit leiblihen als 
mit geiftigen Gütern zu thun. Er bat die Aufgabe, das Eigen 
tum gegen willkürliche Eingriffe zu ſchützen, hat den Außeren Frie⸗ 
den aufrecht zu erhalten und für da8 bonum commune auf dieje 
Weile Sorge zu tragen. An den Mittelpunkt der Betrachtung 
aber tritt bei Decam dies, daB der Staat das Recht?) inbezug 
auf die temporalia zu verwalten hat, bejonder8 auch durch coër⸗ 
cere malos ®), alfo durch Strafret mit vis coactiva verbun- 
den, und er hat ein fehr deutliches Bewußtſein davon, daß, um 
diefer Aufgabe gerecht zu werden, der Staat feine volle Souverä- 
nität haben müfje, daß lediglich Verwirrung und Krieg entftehen 
müffe, wenn die geiftliche Macht fich in die ftaatlichen Aufgaben 
eindrängen wollte. Occam fpricht das fo aus: das Urteil über 
Gerechtes und Ungerechtes ftehe dem zu, der Geſetze zu geben habe. 
Denn der allein könne nach dieſen Gefegen urteilen, die Gefebe 
exponere Custodire gravare mollire 4), Wollte ſich da ein 
Fremder einmifchen, jo würde Rechtlofigkeit entftehen, das hieße 


-1) Die Stantelehre des Thomas von Aquin iſt im Anszuge aus den 
Duellen dargeſtellt worden von Baumann, die Stantslehre des Thomas von 
Aquino. Zwar fpricht and Dccam an einzelnen Stellen davon, daß der Staat 
die Aufgabe Habe, für die Jugend zu forgen, 3.8. Octo Quaest. Qu. II, c. 6. 
De jurisdictione imp. Goldastus I, p. 23. — Allein das tritt doch fehr be 
deutend zurück und wird nicht weiter verfolgt; wird auch an der letzten Stelle 
nur als Aufgabe eines gläubigen Kaiſers hypothetiſch Kingeftellt. 

3) Dal. Octo Quaest. Qu. IH, c. 6. 

8) ®gl. Dialogus P. III, Tr. ,L.L c.1. 

6) Bol. inbezug auf den Stantebegriff auch die Heine erwähnte Schrift 
gegen Bonifae VIII.: Dielogus inter Clericum et militem etc, 


Das Berhältnis von Kirche und Stant nad) Oeccam. 681 


justitiam dilacerare in terra. Beſonders aber zeigt fich, wie 
er auf die Souveränität des Staates in dem Sinne Gewicht legt, 
daß der Staat feine fremde Einmifchung dulden könne, daran, daß 
er oft ) bemerkt, es würden ja die Könige und alle Bürger Sklaven 
fein, wenn ihr Recht ihnen nicht felbftändig und von der geiſt⸗ 
lichen Macht unabhängig garantiert fein würde. Er läßt den Be⸗ 
ftand bes Staates und feines echtes durchaus nicht vom Glauben 
abhängig fein; vielmehr beitand das römifche Reich fchon vor dem 
Glauben, und ausdrücklich bemerkt er mehr als einmal, daß das 
Necht über einen Staat zu herrſchen, nicht vom Glauben könne 
abhängig gemacht werden. Vielmehr kann auch ein Kaifer mög⸗ 
ftcherweife ungläubig fein, was vor Konftantin die Megel war; und 
doch haben die Chriften ihm Folge gelelftet 2), Das Recht des 
Staates ruht alfo Teineswegs auf der chriftlichen Offenbarung. 
Er giebt feiner Anficht von diefer Selbjtändigkeit die höchſte Form, 
wenn er vielfach darauf Hinmeift, daB die Obrigkeit nicht vom 
Papſt fondern von Gott ftamme, freilich mit der Einjchränfung, 
die aber in letter Inſtanz auch dem Bapfttum gilt, daß ihre 
Vollmacht vom Vollke übertragen jei, wovon unten noch näher zu 
reden ift. 

Wenn jo darin, daß der Staat der Vertreter des weltlichen Rechts 
ift, feine Selbftändigfeit begründet ift, fo fragt fich zweitens, worauf 
er denn das Recht felbft in letter Hinficht gründe. Hier geht Dccam 
auf die alte Einteilung in das jus naturale, da® jus gentium und 
das pofitive Recht der leges eiviles zurüd und erkennt an, daß alle 


1) Bgl. 3. 8. Dialogus P. II, Tr. J, L. I, c. 12.138; Tr. ILL. I, 
c. 28, die Meinung, daß der Papft unbebingte Macht habe, nennt er Häretifch. 
De jurisdictione imp. in causis matr. ‚Diel. III, U, I, c. 25. 

2) Vgl. Octo Quaestiones Quaest. I, c. 10. Ebenfo bemerkt er c. 11, 
daß die Nechte und Freiheiten Gläubiger wie Unglänbiger zu fehüten feien. 
Das Gericht des Kaiſers in temporalibus kann nicht dadurd) aufgehoben wer⸗ 
den, daß er Häretiker iſt, c. 17. Er fagt, es ſei häretiſch, zu behaupten, ein 
wahres imperium fomme nur vom Papſt. Dialogus P. II, Tr. U, L. I, 
c. 25 vera jurisdictio temporalis, vera potestas gladii materialis fann 
auch bei Ungläubigen fein. Der Mißbrauch Hebe nicht fofort das Hecht auf. 
Pilatus hatte legitima potestau, wenn ev fie auch nicht legitime brauchte, 
Julianus Apostata war ein wahrer Kaiſer. 


1227 Dorner 


drei Formen des Rechtes unabhängig von ber kirchlichen Bewalt 
feien, daß die jurisdictio nad) ihnen völlig dem Staate zufomme ). 
Indem er mit allem Nachdruck darauf befteht, daß bie tempo- 
ralia Sache des Staates feien, beftimmt er die temporalia 2) näher 
dahin, daß fie das umfaſſen, was in solis naturalibus ohne 
Offenbarung beftimmt werden kann nad natürlichem und pofitiv 
mesifchlichem Gefege. Das natürliche Recht ruht zwar nad ihm 
in letzter Inſtanz auf Gottes Willen; aber es wird abgeleitet aus 
ber menſchlichen Vernunft. Er unterfcheidet ein dreifaches natür⸗ 
liches Recht, zunächft ein folches, das mit der Vernunft ſchlechthin zu⸗ 
fammenftiummt, 3. B. nicht Ehebrechen, dann ein ſolches, das nur auf 
einen idealen Zuftand der Menschen Anwendung finden könnte, 3.8. 
die Gütergemeinfchaft, endlich ein ſolches, das unter gegebenen Um⸗ 
ftänden vernunftgemäß erfchlofjen werden kann. Zu der dritten Form 
gehört 3. B. das Recht der Verteidigung, wenn man angegriffen ift, 
oder das Recht auf Eigentum, wenn einmal Eigentum da iſt ?). 
Offenbar aber ift feine Meinung, dag aud) das jus gentium auf dem 
jus naturale rufe. Denn wenn es aud) ein pofttives jus gentium 
giebt, fo ruht dns mac ihm ebenfalls Darauf, daß die universitas 
mortalium von Natur das Recht bat, ihre gemeinfamen Ange 
legenheiten gemeinfam rerhtli zu ordnen. Ebenſo zuht das Dicht, 
yofitive Geſetze zu geben, im einzelsen Stante auf dem natikzlichen 
Rechte. Es ift natürliches Recht, dag an dem, was alle angeht, 
alle ſich beteiligen; fie Lünen aber biefes Recht auch anf beftäammte 
Perfonen übertragen. Nach natürlichem Rechte haben aljo alle au 
der Geſetzgebung teil, weil fie das Wohl aller betrifft, können aber 
ebenfo wach natürlichem Rechte Einen gu ihrem Geſetzgeber mischen, 
bee dann Geſetze zu ſchaffen hat, welche nicht die muverkußerlichen 
natürlichen Rechte und Freiheiten verlegen dürfen. Auch der In⸗ 
halt pofitiver Geſetzgebung ruht auf dem allgemeinen naturrxecht⸗ 
lien Grundfage, daß nur daß, was dem bonum sommune dien 


.. 3) Bel. de jurisdictione imperateris in causis matrimonialibus. Gel- 
dastaıs Tom. I, p. 255q. Octo Quaestiones Quaest, III, c. 4. Dialogus 
P. IL Tr. U, LL 17. 

%) Dialogus P. IH, Er. U, L. II, c. @. 

8) Dial, P. II, Tr. I, L. IH, c. 6, 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nah Dccam. 685 


Gh fei, durch die Geſetzgebung feitgeftellt werben müſſe ‘), In 
letzter Inſtanz alfo wird das Recht auf die Vernunft gegründet, 
und der Staat, der ed mit dem Recht zu thun bat, hat eben des⸗ 
Halb ein von der Offenbarung völlig unabhängiges Fundament. 
Fragt man aber, wie das Naturrecht von der natürlichen Sitt⸗ 
lichkeit ſich unterfcheidet, fo wird man bei Decam auf mehr ger 
Tegentliche Äußerungen gewiefen. Wenn er auch nicht fich deutlich 
bewußt wird über das innere Verhältnis von Sittlichkeit und 
Recht und, wie fchon angedeutet, fi daher auc) gelegentlich ſchwan⸗ 
kend ausſpricht, fo ift doc das deutlich, daß er das Recht mit 
einer vis coactiva ?) ausgeftattet wiſſen will, daß es ſich aber 
inhaltlich auf die Ordnung ber zeitlihen Dinge und Verhält⸗ 
niſſe bezieht, d. 5. der auf den Leib und das äußere Wohl 
bezüglichen Dinge und Berhältniffe und zwar weſentlich ſoweit 
808 äußere Verhalten der. Menſchen zu einander in Betracht 
tommt. In diefem Sinne redet er von unveräußerlichen echten 
und Vreiheiten, welche dem Menfchen. von Natur zukommen und 
welche der Staat zu. ſchützen bat, damit das bonum commune, 
ons allgemeine Wohl aller möglich fei. Daß hierdurch das auf die 
Vernunft gegründete Recht einen eudämoniſtiſchen Beigeſchmack ers 
Hält, dürfte nicht zu leugnen fein. Iſt biernad das Fundament des 
Staats das Recht, das Fundament ded Rechts in letter Beziehung 
die natürliche Vernunft, jo müffen wir num die einzelnen Rechte 
etwas genauer betrachten, welhe Occam als weltliche anerkennt. 

Das erfte, was er häufig betont, tft das Recht der freien 
Verfügung über die eigene Perſon. Der Staat hat die Pflicht, 
dieſe Freiheit zu erhalten; niemand foll invitus zum Sklaven ge- 
‚macht : werden. Denn der Staat diene dem bonum eommune 
subditorum 8); in dem, was nicht da8 gemeinfame Intereſſe an« 
geht, foll dem einzelnen Freiheit gelaffen werden *). 


1) Ibidem 1. c. Das geht auch daraus hervor, daß er ſtets als Testen 
Maßſtab für die Haltbarkeit eines ſtaatlichen Zuſtandes das bonum commune 
anfieht. 

2) Dial. P, III, Tr. IL, L. IH, c. 22. 

3) Octo Qaaestiones Quaest. III, c. 5. 

4) Octo Quaestiones Quaest. VIII, c. 4. Se mehr fgreiheit die Unter⸗ 

Theol. Etub. Jahrg. 1886. 44 


684 Dorner 


Das zweite, was der Staat zu ſchützen hat, ift das Eigentum. 
Denn nachdem es nun einmal da ift, muß da8 Recht eines jeden 
auf fein Eigentum gefhügt werden. Über Nechtsftreitigkeiten, die 
das Eigentum angehen, bat der Staat die Entjcheidung !). Er 
erkennt den ausfchlieglichen Charakter de8 Eigentums nad dem 
Sündenfalle an, und man fieht aus ber ganzen Art, wie er jus 
riftifch die Eigentumsfofigkeit der Minoriten zu erweiſen fucht ?), 
daß er das weltliche Eigentum für die weltliche Sphäre anerkennt. 
Ja er geht fo weit zu behaupten, daß der Staat auch ein Auf 
fichtörecht über das Eigentum der Kirche habe, ob es dem ur 
iprünglihen Willen der Geber entiprecdhend verwaltet werbe °). 
Sreilih ift da® Eigentum durch jus humanum eingeführt, ift nit 
juris divini *); doch ift es berechtigt, wenn auch nicht dem voll. 
fommenften Stande entjprechend, vor der weltlichen Obrigkeit fein 
Recht zu ſuchen 5). Denn das Eigentum wird erſt Cigentum 
dur den Staat und feine pofitive Gefeßgebung ®). ben daher 
bat aud der Kaifer das Recht, über das Eigentum anderer zu 
verfügen, Steuern zu erheben, jo weit e8 dem bonum commune 
dienlich ift, auch herrenlojes Gut kann er im Intereſſe des öffent 
lichen Wohles fi aneignen, wenn es aber nicht notwendig. ift, 
dem Dccupierenden überlafjen 7). 

Terner gehört vor das ftaatliche Zribunal das Eherecht. Die 
Ehe als natürliche Inſtitution gehört nach ihm vor den weltlichen 
Richter, fie gehört aber allerdings zugleich vor dem geiftlichen 
Richter, fofern fie durch die lex divina, d. 5. die Schrift be» 


tbanen haben, um fo beffer ift der principatus, foweit die freiheit nicht ber 
pax und dem bonum commune wiberftreitet. Dial. P. II, Tr. II. LI, 
c. 2. 
1) ®gl. Goldast. Tom. I. Super potest. Praelatis etc. comisss. 

a) |. u 

3) Goldast. Tom. I, P. 15. Bgl. Octo Quaest. I, c. 15. 

4) Opus nonaginta Dier. c. 88. 89. 

5) Opus non. Dier. c. 108. Dial. P. IH, Tr. OD, L. DI, c. 19; vgl. 
auch c. 2. 

6) Nur wer den Staat anerkennt, kann Eigentum haben, da es ja durch 
jus humanum eingeführt if. Dial. P. III, Tr. I, L.D, c. 6. 

?) Dial. P. DI, Tr. U, L. II, c, 23—25. 








Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 685 


ftimmt it. Der Staat 3. B. Tann für fich die Vielweiberei nicht 
ftrafen, weil fie nicht dem Naturgefe zumiber ift!). Am aus 
führlichften hat er fi in der Schrift de jurisdictione impera- 
toris in causis matrimonialibus hierüber ausgefprodhen. Dem 
Stante zugehörig feten alle Ehen, die Nichtgläubige fchließen, ober 
Ständige und Nichtglänbige. Selbft ein ungläubiger Kaifer habe 
zu richten über folche Ehen auch in dem falle, wenn der Ungläu⸗ 
bige während des Prozeſſes gläubig geworden ſei. Ja er geht 
bier bis zu dem etwas unbeftimmten Sage fort, daß der Kaiſer 
das Recht habe, von den kanoniſchen Gefegen der Kirche abzu⸗ 
weichen, wenn es zum Nuten ded Staates diene oder bei drin» 
gender Notwendigkeit: denn menſchliche Geſetze, befonders aber 
firhliche feien nur um des allgemeinen Nutzens willen gegeben 
und follen nulli onerosae vel captiosae fein. Wenn nicht die 
divina lex widerjpricht, jo muß den Kirchengefegen gegenüber die 
ersisixeie zugezogen werden, was der Kaiſer thun kanu irrequi- 
sito summo Pontifice.e. Denn wenn die Kirchengefege in de- 
trimentum reipublicae redundant, braucht fi} der Fürft nicht 
an fie zu Halten. Der Gedanke, der ihn hier leitet, ift der, daß 
der Kaifer in Ehefachen, foweit die Schrift nicht beftimmend ein- 
greife, felbftändig entſcheiden könne. Hieran Hindert auch nicht, 
daß die Ehe Sakrament ift. Er ftrebt vielmehr danach, zwiſchen 
dem, was durch jus naturale gentium, durch leges civiles und 
dem, was in der Schrift geboten und verboten ift, zu unterfchetden, 
um über das erftere dem Kaiſer die Eutfcheidung zu laſſen. 

Bor allem wichtig erjcheint ihm aber das Strafrecht des 
Staates; e8 ſei principalissime Aufgabe des Staates, ut corri- 
gat et puniat delinquentes. ‘Denn ohne dies bedlrfe es feines 
Fürften, fondern nur eine® doctor und monitor ad bonum ?). 
Hier find es freilih nur die crimina saecularia, welche ber 
Kaiſer zunächft beftrafen kann. Offenbar verfteht er darunter bie 
Nechtöverlegungen. Sofern diefe nun aber zugleih Sünden find, 
fheinen fie als Sünden auch vor den geiftlichen Nichter zu ge» 


1) Dial. P. III, Tr. U, Lib. II, c. 16. 
3) Octo Quaestiones, Quaest. III, 6. 
44* 


686 Dorner 


hören. Indes meint Decam, vielmehr umgelehrt ſeien die Geiſt⸗ 
lichen, welche weltliche Verbrechen begehen, felbft der Bapft !) nicht 
ausgenommen, ber jurisdictio des Kaiſers unterworfen. Wirklich 
ftrafen Tann nur der, ber Macht Hat; die jurisdietio coactiva 
gehört dem Kaifer, überhaupt dem Staate. Die Kirche hat Feine 
Zwangsgewalt 2). Ste kann daher nur Poenitenz auferlegen, aber 
fie kann nicht trafen. Ste Hat das Net corrigendi, aber nicht 
puniendi. Das gilt auch von ſolchen Zodjünden, die Verbrechen 
find. Allein der Staat hat das Recht zu ftrafen. Und er braucht 
ſich in diefer Hinficht nichts vorfchreiben zu Laffen ®). Occam geht 
alfo in diefer Beziehung energiſch auf das Ziel los, die Gerichts» 
barkeit dem Staate zurüdizuerobern und ber Kirche nur foldhe 
Poenitenzen zu überlaffen, welche mit der bürgerlichen Strafe nichts 
zu thun haben. 

Endlich aber iſt es das Recht des Staates, ſich felbſt die 
Verfaſſung zu geben, ſeine Geſetzgebung zu beſtimmen, das Ver⸗ 
mögen der einzelnen, ſo weit es erforderlich, in ſeine Dienſte zu 
nehmen. Und hierüber iſt noch etwas genauer zu reden. Hier 
tritt der Nominalismus von Occam in feiner praftifchen Kon⸗ 
fequenz wenigftens infofern zutage, als er den Staat auf das 
bonum commune, d. 5. auf die gemeinfamen Intereſſen aller, 
und eben daher auch die Staatsvollmacht urfprünglich in der Ge- 
meinfchaft aller gegründet ſieht und geneigt ift, den Staat auf 
den Vertrag aller zu bafteren. Er bezeichnet es als das gene- 
rale pactum societatis humanae, dem Könige zu gehorchen 4) in 
Bezug auf das, was Gemeinwohl fe. Der Fürft ift nicht um 
feiner feldft willen da, fondern tft nur von der Gemeinſchaft aller 
zur Geſetzgebung und Leitung 5) bevollmächtigt. Eben daher bes 
fteht auch die Pflicht des Gchorfams nur inbezug auf das, was 


1) Dial. P. III, Tr. II, L. IH, c. 21. 22. ‘Octo Quaest. I, 17: 

8) Dial. I, L. VI, c. 2-4. Chriſtus war auch ber jurisdietio des Pi⸗ 
latus unterworfen. 

8) Dial. P. II, Tr. 1, L. DU, c. 11. 12; vgl. aud) Super potestate 
etc. Dialogus inter militem et Clericum. 

4) Bgl. Dial. P. II, Tr. II, L. II, c. 28. 

6) Dial. P. I, Tr. H, L. I, c. 27.28. P. IH, Tr. ILL. I, c. 6. 


Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 687 


dem Gemeinwohl dient. Der Kaifer Hat nicht mehr Vollmacht 
über die einzelnen als das Volk, das fie ihm gegeben Hat, und das 
bat nur Macht gegen den einzelnen, wo es das gemeinfame In⸗ 
tereife aller fordert. Nur um der communis utilitas willen ift 
ein Fürft da; wenn er über diefe Kinausgeht, jo ift das inordi- 
natum illicitum ?). Demgemäß kann auch das nur Gefegestraft und 
fönnen nur die Maßregeln Geltung haben, welche dem Gemein⸗ 
wohl nützen 2). Das ift nun freilich ein gefährlicher Grundjag, 
welcher gegen die Auflöjung des Staates Teine Garantieen bietet, 
da hiernach das Recht beftlünde gegen alles Widerftand zu leiften, 
wos der eigenen Anſicht gemäß dem Gemeinwohl oder dem Naturs 
geſetz widerſpricht. Das macht er denn auch in der That geltend 
und fordert nur, daß man dann gehorchen müſſe, wenn man nicht 
ficher einſehe, daß ein Befehl gegen jus divinum, naturale oder 
das Gemeinwohl fei. Dagegen ift es nicht Pflicht in ſolchem zu 
gehorchen, was zweifellos nicht dem Gemeinwohl dient. Er er. 
kennt deshalb auch ein Recht der Revolution an; in folhem Falle 
kann fi) ein rusticus gegen den Kaifer auflehnen, ja casualiter 
darf einer fogar den Kaifer töten). Im Falle der Not kann 
die Gemeinfchaft den Fürften abfegen; denn das natürliche Recht 
geitatte vim vi repellere %). Aus diefen Beftimmungen, welde 
feineswegs etwa ein Firchliches Intereſſe der Herrjchaft über den 
Staat im Hinterhalt haben, ift zu erjehen, wie ftark die Intereſſen 
der einzelnen gegenüber dem Ganzen bervortreten. Wenn der 
Vertreter de8 Staates — der Fürft — nicht die Intereſſen auf 
rechtliche Weife vertritt, fo kann das Volk fich feiner entledigen, 
fo ift man nicht zu Gehorfam verpflichtet, und es muß in der 
That auffallen, daß Occam, der fonft fih in den feinften juriſti⸗ 
ſchen Unterfuchungen gefällt, bier fo wenig Gewicht darauf legt, 
ber gejeglichen Ordnung des Staates bie notwendigen formellen 
Garantieen zu geben. Um das Recht aufrecht zu erhalten, wo es 


1) Dial. P. II, Tr. U, L. DI, c. 27. 

3) Dial. P. II, Tr. U, L. DI, co. 28. 

8) Octo Quaestiones, Quaest. VIIL 5. 

4) Octo Quaestiones, Quaest. II, 7. Dial. P. IL, Tr. U, L. I, c. 1. 





688 Dorner 


verlegt wird, will er den Staat; wenn aber der Vertreter des 
Staates felbjt das echt verlegt, fo ift er eben nicht mehr der 
legitime Vertreter der gemeinfanen Nechtöintereffen. Es würde 
weniger auffallen, wenn er hieraus den Gedanken ableiten würde, 
daß das Volk einen folchen Fürften in aller Form’ Nechtens ab» 
legen Tünne. Daß aber jeder einzelne Beliebige foll Widerftand 
leiften können, geht offenbar auf feine nominaliftifche Anfchauung 
von dem einzelnen zurüd. Doc ſcheint er ein Gefühl von der 
Gefährlichkeit folder Beftimmungen zu haben, wenn er bie umd 
da bemerkt, daß mit dem abusus noch nicht ohne weiteres das 
Net des Negimentes verloren gehe‘). Und mehr als einmal 
weiſt er darauf Bin, daß, wenn der Unterthan auch den König 
mit machen könne, fo habe er doch feine Superiorität über ihn 2). 
Auch will er offenbar von der Oppofition nur im wirklichen Rechts» 
falle Gebrauch gemadıt wilfen, ba ja biefelbe eben nur um des 
Rechtes willen berechtigt ift, und fo weift er auch wieder darauf 
bin, daß, da der Fürſt von der Gemeinfchaft fein Negiment habe, 
wer gegen den Fürften ſich vergehe, fich gegen alle feine Unter- 
thanen vergehe ?). 

Wenn jo der Staat wefentlih auf das pactum der Gefell- 
haft gegründet ift 4), fo läßt er fih nun im einzelnen auf die 
Frage näher ein, ob denn das Volk feine Rechte auf einen über- 
tragen foll, ob Monarchie, jelbftverftändfih Wahlmonarcie, befjer 
jet als Vielherrichaft, und ob viele Meonarchieen oder ein Welt» 
monard) wünſchenswert fei; und diefe konkreten Unterfuchungen 
zeigen denn do, daß er für die Stetigkeit der Verfaſſung ſich 
nicht völlig das Auge verjchließt. In beiden Fragen leitet ihn 
der Gedanke, daß im allgemeinen betrachtet, die Einheit befjer fei 
als die Vielheit, weil dadurch Streit vermieden werde: und daß 
daher die Monarchie der Ariftofratie vorzuziehen ſei ®), felbitver- 


1) Bgl. Octo Quaestiones, Quaest. I, c. 10. 
2) Octo Quaestiones, Quaest. I, c. 12. 

8) Dial. P. III, Tr. I, L. II, c. 25. 

4) Dial. P. IH, Tr. U, L. II, c. 28. 

5) Octo Quaestiones, Quaest. HI, 5. 


Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 689 


ftändlih eine Monarchie, die auf der Wahl des Volkes in letter 
Inſtanz bafiert, — e8 müßte denn fein, daß der Monarch zu ver⸗ 
dorben ift und die Umſtände e8 erfordern, ftatt der Willfür des 
einen eine Ariftofratie einzuführen, was aber nicht ohne brins 
gende Not gefchehen fol). Denn die Monarcie ift auch darum 
am beften, weil fie fi an die Familie anfchließt und fo das Nas 
türlichfte 9) if. Im übrigen aber legt er anf die Stetigfeit der 
monardifchen Succeſſion ein großes Gewicht, wenn auch feine 
Meinung dahin geht, daß wenn ein Fürſt feinen Nachfolger (felbft 
feinen Sohn) ernenne, er dies nur thun könne, weil er ſich vom 
Volke dazu beauftragt anjehen müffe ®), die Succeffion alfo in 
letzter Inſtanz auf der Volkswahl bafiert. Was aber die Einheit 
des Kaifertums gegenüber den Königen angeht, fo bat er in feiner 
früheren Schrift *), deren Echtheit, wie bemerkt, Niezler freilich an« 
zweifelt, zwar die Anficht ausgefprochen, daß der König von Frank⸗ 
reich und der Kaifer gleich jouverän feien, und hierin zeigt fich der 
Anfag zu der Auffafjung des Staates als eines nationalen. 
Allein nachdem er in bie Dienfte des Kaifers getreten ift, betont 
er mehr die univerfelle Monarchie, ohne daß er freilich deshalb 
die Refervatrechte der Fürſten aufgeben wollte 5). Die Gritnde, 


1) ®gl. Octo Quaestiones, Quaest. III, c. 7. 

3) Dial. P. UI, Tr. RL. I, c. 10. 

8) Octo Quaestiones Quaest. IV, 5; vgl. andy VIII, 3 wo er bemerkt, 
daß, wo feine Kaiferwahl fei ausgeübt worden, man anzunehmen babe, der 
Kaifer habe felbft feinen Nachfolger gewählt, jo daß die Kontinuität nicht unter- 
Brocken fei. Das Bolt habe dem Kaifer das echt Übertragen, feinen Nach⸗ 
folger zu wählen. 

4) Super potestate etc. gegen den Schluß. 

5) Dies ift gegen Nitter infofern geltend zu machen, als dieſer die fpätere 
Wendung der Occamfchen Gedanken nicht berüdfichtigt, vgl. a. a. DO. ©. 576, 
Anm. 1. Gegen Müller, Der Kampf Ludwigs des Bayern I, 215; II, 88 
ift dagegen Hervorzuheben, daß Occam feine Auffaffung der Selbftändigleit des 
Staates und zwar in nationaler Form fchon unter Bonifac VIII. in dem er- 
wähnten Traktat geltend gemacht hat. Daß diefer Traltat älter ift, geht 
daraus fchon hervor, daß Goldast. I, p. 13 Bonifac VIIL erwähnt wird, der 
„nuper noviter“ ftatuiert babe, er fiehe über allen Fürſten. In biefer 
Schrift wird das Papfttum fchon von ganz anderen Seiten angefochten als bloß 
von der Seite des „Karbinalbogmas der Minoriten“. Gegen Müller II, 





6% Dorner 


die er hierfür geltend macht, beziehen fich teils auf einen Hiftorifchen 
Nachweis, bei dem ihn bejonders dte Kontinuität des Kaiſertums 
feit der Römerzeit interefftert, die er Hiftorifch zu erweiſen fucht 7), 
teil8 auf den Gedanken, daß ein Univerfalftant um feiner Einheit 
millen feine Aufgabe, Frieden zu erhalten und rechtliche Zuſtünde 
zu fördern, beffer erfüllen könne, weil fo die Kriege der Fürften 
unter einander leichter vermieden werden, und das Unrecht ber 
Höheren ebenfo wie das der Niederen fi verhindern Lafje ?). 
Daher er auch bemerkt, daß mit feinem Könige einen Krieg gegen 
den Saifer zu führen, ein Majeftätsverbrechen fei, und wenn einer 
nicht beftimmt wiſſe, ob der Krieg ungerecht fei, fo müfje er es 
fiher annehmen, daß er ungerecht fei, da er für den Kaiſer ftets 
ein günftiges Vorurteil haben müſſe d). Auch inbezug auf das 
Raifertum ift feine Meinung, daß dasfelbe vom Volle ftamme 
und zwar von der universitas mortalium übertragen ſei *). 
Das römische Reich, das alle Völker vereinigt habe, habe hiermit 
nicht eine Ufurpation begangen, da vielmehr die Völker alle diefer 
Vereinigung zugeftimmt haben. Der Kaiſer ift principalissime 
von der universitas mortalium 5) gewählt. Die Wahl des 
Raifers ftehe urfprünglicd nad) dem jus gentium allen Völkern 
zu, in Bertretung aller den Römern, und diefe können wieder 
andere beauftragen, fo jet die Kurfürften, durch deren Wahl 
(quasi vice omnium eligendo) fofort der Gewählte römiſcher 
Kaiſer ©) ſei. Er betont es als die Pflicht des Kaiſers, feine 


262. Sollte man aber die Echtheit dieſer Schrift nicht anerkennen, fo fieht 
burch die oben erwähnte Ausfage Elemens VI. jedenfalls feft, daß Occam ſchon 
bei feinem Aufenthalt in Paris ſolche Aufichten Hatte. Daß er inbezug auf 
das Kaiſertum andere dachte, als er in die Dienfte bes Kaifers trat, anders zu 
ber Zeit, da er in Frankreich lebte, ift ſehr begreiflich. 

1) Dial. P.IH, Tr. II, L.I, c. 2629. Octo Quaestiones, Quaest. IV. 
c. 8. 
3) Dial. P. IL, Tr. II, L. I, c. 13; LUD, c. 5. 
8) Dial. P. II, Tr. U, L. D, c. 20. 
4) Dial. P. IN, Tr. U, L. I, c. 27. 29. 
6) Dial. P. IH, Tr. DH, L. I, c. 29, 
6) Man erinnere ſich daran, daß diefe Anficht mit der Enticheibung des 
Kurvereins zu Renfe zufammenftimmt 1388. Octo Quaestiones, Quaest. IV, 


Das Berhältnis von Kirche und Staat nad Occam. 691 


Souveränität über alle Fürſten feftzuhalten Y); ihm liegt fo fehr 
an der Einheit des den Erbdfreis umfaffenden römifchen Reiches, 
daß er den Kaifer, der Länder preisgeben wollte, als einen Zer⸗ 
ftürer des Reiches anjähe, der feine Bollmacht überfchritte.e Das 
römifche Reich kann nicht vermindert werden, da dies gegen das 
bonum commune aller Bölfer wäre, da e8 alle Völker umfaßt; 
ohne die Zuftimmung aller Menſchen Tann es daher auch nicht 
verringert und geteilt werben 2). Dagegen macht er einen wefents 
lichen Unterfchted zwiſchen den Ländern, welche der Kaiſer in feine 
eigene Verwaltung nimmt, und denen, welche er unter Wahrung 
feiner Oberhobeit Königen überläßt. Auf diefe Weife wird die 
Tendenz des Univerjalftaates, durch den allein das Recht nad) 
feiner Meinung wirklich gehandhabt werden kann, mit der Idee 
der nationalen Staaten einigermaßen verföhnt, der er früher hul⸗ 
digte. Das Gefagte mag zeigen, wie Occam das Recht des 
Staates ?) auf eine von der Kirche unabhängige Verfaſſung zu 
wahren fucht, aber feinem Nominalismus entfprechend diefe Ten⸗ 
denz jo durchführt, daß er auf die natürlichen Rechte des Volkes 
zurückgeht. 

Wenn ſo Occam vor allem das Recht dem Staate zuſchreibt und 
ihm eine ſelbſtändige Stellung zu geben bemüht iſt, ſo wird dieſe 
ganze Auffaffung doch wieder abgeſchwächt, wenn wir das 
ſittliche Ideal von Decam ins Auge faffen, das im Möuch⸗ 


c.9; c. 7; vgl. Quaest. VIII, c.3. gr. Dial. P. IH, Tr. I, L. I. c. 26—29. 
Bol. Riegler a. a. O. ©. 252. 

1) Dial. P.IM, Tr. U, L. U, c. 7. Der Kaiſer Tann nicht feine Herr⸗ 
ſchaft über Frankreich aufgeben, ohne da8 Reich zu zerflören. Das ift wohl 
gegen die Bulle Johanu XXIL gerichtet, welche Frankreich und Italien vom 
Reiche loszureißen beabfichtigte. Vgl. Müller a. a. ©. I, 336f. Ähnliches 
Hatte Schon Nikolaus III. beabfihtigt. Bol. Höfler, Die romanifche Welt zc. 
Situngsberichte der philofophifch-hiftsrifchen Klaffe der Wiener Alademie 1878. 
©. 307 f. | 

3) Dial P. III, Tr. U, L. I, c. 31. 

3) Es ift in diefer Hinficht bemerkenswert, daß DOccam von dem Kaifer 
vor allem Kunde der weltlichen Geichäfte fordert, während ex Kunde von Glau⸗ 
bensfachen nicht zn haben braucht Dial. P. II, Tr. DI, L.I, c.15, wenn auch 
manche die entgegengefettte Meinung haben. 


692 Dorner 


tum gipfelt und das im Grunde die meiften Güter, zu deren Schuß 
der Staat ba ift, geringihätt. Daß Occam den ehelojen Stand 
für vollkommen Hält, verfteht ſich von felbft !).: Was das Eigen- 
tum angeht, jo gehört er in dem Streite der Minoriten mit dem 
Bapfte zu den Hauptverfechtern der ftrengen Anſicht. igentum 
ift in dem ursprünglichen Naturzuftande gar nicht vorhanden ges 
weien. Urfprünglich war alles gemeinfam zu gemeinfamen Ge⸗ 
brauch 2). Seine Wurzel ift der Egoismus, und ganz auf das⸗ 
felbe zu verzichten, ift die Forderung der volllommenen Heilig» 
keit )). Um zu zeigen, daß die Minoriten diefem Ideale völlig 
entſprechen können, läßt er fih auf feine juriftifche Tragen über 
das Verhältnis von Gebrauchsrecht, Gebrauch einer Sache, Eigen» 
tum, und ebenjo auf biftorifche Unterfuchungen ein, ob Chriftus 
und die Apoftel Eigentum gehabt haben. Inbezug auf die juri« 
ftifchen Fragen fucht er nachzumeifen, daß wer den Gebraud einer 
Sache habe, noch nit im Beſitz derjelben fei*), und wer ben 
Gebrauch faktiſch habe, damit noch feinen Rechtsanſpruch zu machen 
brauche; er künne das, was er brauche, doch fo brauchen, daß er 
jederzeit bereit fei, darauf zu verzichten, wenn es ber Geber for⸗ 
dere. In diefer Weile ſtehe es mit den Gütern, welche die Mi⸗ 
noriten im Gebrauch haben; erjt fo fei die vollfommene Entfagung 
erreicht. Ste haben den usus facti, aber nicht den usus juris), 
Sie fünnen die licentia, Dinge zu gebrauchen, haben, aber nicht 
als rechtlich, jondern als concessa ®). Inbezug auf das Eigen» 
tum der Mönchsorden hebt er den doppelten modus hervor, daß 
einmal zwar der einzelne fein Eigentum babe, aber die Gemein» 
ihaft, oder daß zweitens auch die Gemeinfchaft fein Eigentum 
habe. Das erfte fei bei den Auguftinern der Ball; das legte fei 


1) Opus non. Dier. c. 115, P. 1216. 

2) Opus non. Dier. c. 4, c. 27: „communissimum “. 

3) Opus non. Dier. c. 76. Durch Beſitz wird Liebe zum Irdiſchen 
genährt. 

4) Compendium errorum etc. c. 2. Opus non. Dier. c. 87. 

5) Comp. c. 3. 4. Opus non. Dier. c. 58. 60. 

6) Opus non. Dier. c. 64. 61. 


Das Berhältnis von Kiche und Stant nach Occam. 698 


erſt der volllommene Zuftand, status perfectissimus !). Wenn 
er daher auch zugiebt, daß nach dem Naturreht im alle der Not 
das Recht beftehe, fich das Notwendige anzueignen ?), fo fordert 
er doch vollen Verzicht auf jede rechtlihe Form des Eigentums 
und feined Gebrauchs von den Minoriten, da es, wie er gegen 
Sohann XXI. des Öfteren betont, um bie Liebe zum Weltlichen 
gänzlich fallen zu laffen, nicht bloß der Unabhängigkeit vom Eigen- 
tum und der Entfagung in der Gefinnung bedürfe, fondern aud) 
in den Thaten ?). Was aber das Hiftorifche angeht, fo fucht er 
verſchiedentlich darzuthun, Chriftus und die Apoftel haben fein 
Eigentum gehabt, auch feine leider habe er nicht als Eigentum 
befeffen ). Durd freiwillige Armut fei auch der rechtliche Beſitz 
der res consumptibiles ausgefchloffen und bei Chriſto thatjächlich 
ausgeichloffen gemein. Wir haben hier das wunderliche Schau⸗ 
fpiel, dag der PBapit, welcher von den Rechten des Staates und 
der Selbjtändigfeit des Weltlichen nichts willen will, gefunbere 
Anfichten über das Eigentum ausfpricht ale der Mönch, ber aufs 
feiten des weltlichen Regimentes fteht, der aber den denkbar Höch- 
ften Grad der Entäußerung des Eigentums fordert. Aber man 
darf nicht vergefjen, daß der Papſt im Zufammenhang mit feiner 
Forderung über die Staaten zu herrichen auch weltlichen Beſitz 
forderte und daß das damit zufammenhängende kirchliche Vers 
derben überall Grund zu den lauteften Klagen gab). So er- 
Härt es fich, daß von der Geiftlichkeit Verzicht auf weltlichen Be⸗ 
fig oder wenigftens Maß in diefer Beziehung gefordert wurde, 
wovon unten noch näher zu reden ift, und daß der aufſeiten des 
Raifers jtehende Mönch völlige Entäußerung von allen rechtlichen 
Formen des Eigentums von ben Volltommenen verlangte. Chriſtus 
habe fo wenig weltlichen Beſitz als weltliche Herrichaft gehabt, 
und die Kirche, befonders in ihren vollfommmenen Gliedern habe 


1) Opus non. Dier. c. 8. 10. 17; vgl. c. 108. 109. 

2) c. 61. 

3) Opus non. Dier. c. 42. 

4) Comp. c. 3. 4. 6. Opus non. Dier. c. 60. 

6) Bol. 3. B. die Schrift Petri Cassiodori de Tyrannide Pontificis Ro- 


694 Dorner 


ihm hierin zu folgen !). Wenn es alſo einerſeits allerdings eine Ab⸗ 
ſchwächung der Weriſchätzung des Staates iſt, wenn die Güter, die 
er ſchützt, wie Ehe, Eigentum, als nur für unvolllonmene Menſchen 
wertvolle Gßter anzuſehen find, — zumal ja audy die nom Stante zu 
ſchützende Freiheit bei München durch den Gehorfam gegen die Oberen 
gebannt ift und die ftaatliche Strafgewalt nur unter Borausfeung der 
Unvollkommenheit der Welt da ift —, fo darf man anderſeits dach 
nicht verfennen, daß die Nichtung auf Entfagung vom Eigeutum bei 
Dccam aufs engfte damit zufammenhängt, daß er die Einmiſchung 
der Kirche in weltliche Angelegenheiten, die Verweltlichung der Kirche 
überhaupt befeitigt wiſſen will, was doch wieder dazu führen muß, 
daß dem Staat das weltliche Regiment zugeichrieben wird. Er⸗ 
wägt man ferner, daß er, wie unten erhellen wird, fiir die Kirche 
doch nicht fo weit geht, ihr alles Recht auf Vermögen abzu⸗ 
Sprechen, daß er aber Doch in den DVermögensangelegenheiterusigh 
Staat als oberſte Autorität betrachtet, daß er ferner fürause, 
die nicht zum volllommenften Stande gehören, ebenfoldk detdfinn® 
lichen Schuß ihrer Freiheiten und Eigentumsrechncrergiſch nr 
tritt, daß er alſo bloß für die vollkommenſten Chriften oahige Ally 
forderungen ftellt, die niemals auch nur die Mehraehl drh iVBqelles 
bilden, fo wird man zwar zugeftehen müffen, daß Ieinnſttibche 
Ideal ſich nicht mit feiner Wertihägung des Stantes’in Eirtkbavß 
befindet und die leßtere hierdurch noch an ihrer vollen Entieituug 
gehemmt ift, daß aber doch im wefentlichen feine Hochſchätzung deß 
Staates ihn eher zu einem fittlichen Dualismus führt, ale daß zer 
fih bemühte, den Dualismus zu ungunften des Staates zu bes 
jeitigen.. Und Hierzu mag vor allem die ſtchon oben erwähnte 
Nithtung feines Geiſtes beitragen, welche in ihrem fittfichen Ideal 
auf die mönchiſche Vollkommenheit des einzelnen gerichtet if. Gr 
fühlt ſich nicht berufen, für bie Kirche gegen den Staat einzu. 
treten; weit eher ift er geneigt, bei dem Staat den Rechtsſchutz 


mani, ſchon um 1250 bei Goldast. Tom. I. Ebenfo ſchon Berrhard von 
Clairvaur, auf deſſen Schrift De consideratione Occam ſich mehrfach be⸗ 
zieht. | 

1) Comp. c. 6. Opus non. Dier. .c. 93. 


Das Berhältnis von Kicche und Staat nad) Occam. 695 


gegen die Kirche zu fuchen, falls biefe ald organifiertes Ganze dem 
Heilsbedürfnis des einzelmen und der Art, wie er es befriedigen 
wit, in den Weg tritt. Handelt es fih alfo um Kirche und 
Start, fo trifft fein ſittliches Ideal noch weniger mit ben Ans 
ſprüchen eimer verwehtlichten Kirche zufammen, als mit der An⸗ 
erkennung des Staates auf dem weltlichen Gebiet, das man nun 
doch einmal nicht für alle aus der Welt fchaffen kann und das 
doc einer ſtreng rehtlichen Ordnung bedarf, während die Kirche 
die Mimpriten ftrenger Obfervanz verfolgte. 

Daß DOceam die befchriebene Auffaffung vom Staat im weſent⸗ 
fichen vetreten Tonnte, war nur unter ber Vorausfegung möglich, 
bag er einen anderen als den tm Wiittelniter üblichen Kirchen⸗ 
begriff geltend machte. Hütte er die Anſchanung völlig geteilt, ‚daß 
die Kirche ein fefter in fü adgefchloffener Organismus fei, ber 
um feiner göttlichen Befchaffenheit willen, über alles bie. letzte 
Entſcheidung haben müfle, was irgendwie mit der Religion zu⸗ 
ſammenhüngt — und was hängt .nicht mit ihr zufammen! — hälte 
er ber Kirche als organifierter Gemeinschaft und ben Vertretern 
derſelben, den Prieflern unbebingt Autorität zugeftanden, fo wäre 
es kaum möglich geweien, dem Staate eine jelbftändige. Stellung 
zu geben. Denn in der That Sam es gegenüber der dominie⸗ 
senden Üirchlichen Strömmg bdaranf an, daß ber Kirchenbegriff 
umgewandelt werde, da diefer eine Unterdrüdung der Selbftän- 
digkeit des Staates notwendig zur Folge hatte. Wir behandeln 
daher nun: 


N. Occams Kirchenbegriff. 


Es find fir den Kirchenbegriff beſonders drei Punkte von 
Wichtigkeit, die Occam geltend macht. Zu erſt dies, daß als bie 
Aufgabe der Kirche Hingeftellt wird, die spiritualia zu be» 
handeln, d. 5. das regimen fidelium, in quantum revelatione 
divina instruantur !), daß den Kirchenmännern die Kunde des 
Weltlichen abgefprochen wird, daß er als Aufgabe der Geiftlichen 


1) Dial. P. III, Tr. I, L. DI, °c. 4. 


696 Dorner 


anfieht verbo praedicationis, lectioni, orationi vacare !); bie 
Kirche hat es mit dem GBöttlihen zu thun, mit dem, was ben 
Glauben betrifft. Hiermit hängt nun aber zweitens dies zufammen, 
daß die Kirche weſentlich als Glaubensgemeinſchaft, congre- 
gatio fidelium erfaßt wird. Da er überall das Intereſſe der Ber- 
fönlichkeit im Auge hat, fo legt er eim geringeres Gewicht auf die 
anftaltliche Seite der Kirche. Bei ihm tritt die ſakramentale Auf⸗ 
faſſung der Kirche zurüd, eben damit auch die autoritative Auf» 
faffung. Die Kirche ift ihm nicht in dem Sinne organifierte 
Gnadenanftalt, daß der Gehorfam gegen fie das erfte wäre. Sie 
ift ihm vielmehr eine gemeinfame Angelegenheit aller, an der alle 
fih nicht bloß paſſiv, fondern aktiv beteiligen fönnen. Der Glaube 
muß jebermann intereifieren und inbezug auf Glaubensjachen kann 
auf Grund der Schrift der einzelne fich ein felbftändiges Urteil 
bilden, und unter Umftänben hat er nicht nur das Necht, fondern 
auch die Pflicht, diefes Urteil geltend zu machen. Er unterfcheidet 
fehr Scharf zwifchen den Dekreten der Konzilien, der Päpfte, der 
Lehre der Väter und zwiſchen der Offenbarung in der Schrift und 
der durch die Geſamtheit der Apaſtel feftgeftellten Canones der 
Apoftel 2). Lestere und die Schrift gründen fich allein auf gött« 
fihen Urfprung. Die Kirde ift ihm mit einem Worte congre- 
gatio fidelium; fie ift nicht im Klerus gegeben, fondern in dem 
ganzen chriftlihen Volt, und wie er im Staate bie Negierenden 
nur im Sintereffe de8 bonum commune regieren läßt, fo auch im 
der Kirche; die Organifation ift bloß Mittel für das kirchliche 
Wohl aller einzelnen. Das Papfttum wird nicht als eine not» 
wenbdige göttliche Inſtitution betrachtet, ſondern als eine Einrich- 
tung ex ordinatione humana ?). Die Organijation wird dem 
entfprechend fo eingerichtet werden, wie es dem Wohle der con- 


1) Dial. P. UI, Tr. U, L. II, c. 19, p. 917. 

3) Dial. P. II, Tr. I, L. UI, c. 25, p. 842 sg. De jurisdictione: 
imperatoris Tom. I, p. 28, wo er tadelnd fagt, daß nad einer beflimmten 
Anficht die Kleriker die Kirche feien: quos (die Klerifer) per ecclesiam intel- 
ligunt superaddicti. Dial. P. I, L. V, c. 29. 

8) Dial. P. UI, Tr. U, L. I, c. 8. 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 697 


gregatio fidelium am meiften entſpricht ). Hiermit ift alfo ale 
dritter Punkt feine veränderte Auffaffung der Verfaſſung ges 
geben. War gerade die Verfaffung in der römifchen Kirche von 
zentraler Bedeutung geworden, war in der organifierten Kirche das 
Heil und in ihr auf unfehlbare Weife, wobei man freilich noch 
über die bejte Form der Organifation. ftritt, ob der Papſt bem 
Konzil übergeordnet fein ?) follte, oder umgelehrt, jo geht Occam 
vielmehr von dem Intereſſe des Firchlichen Volkes aus und bes 
merkt, daß ſowohl Wahl als Abjegung der Biſchöfe und bejonders 
des Papſtes in letzter Inſtanz dem Vollswillen zukomme. Daß 
hierdurch das feſte Gefüge der kirchlichen Organiſation weſentlich 
erſchüttert wird, verſteht ſich von ſelbſt. Er führt in dieſer Hin⸗ 
ſicht aus, daß nach dem jus naturale dem römischen Volke zuſtehe, 
den PBapft als römischen Biſchof zu wählen. Denn es jei natürliches 
Necht, daß bei dem, was alle angehe, alle fich beteiligen, was ebenfo 
von Tirchlichen wie von weltlichen Angelegenheiten gelte. Es ſei das 
ſogar nach göttlihem Rechte, fofern ein Biſchof nach göttlichen echte 
jein foll und der Wahlmodus nad) dem jus naturale auch der Schrift 
entipreche. Sofern aber der Bapft zugleich der ganzen Ehriftenheit 
borfteht, wählen die Römer in Stellvertretung der ganzen Chriften« 
heit, e8 jei denn, daß fie häretiſch wären, in welchem alle bie 
anderen Katholiten zu wählen hätten ®). Ebeuſo aber können bie 
Römer ihre Wahlrecht auf die Kardinäle übertragen, wenn bieje 
nicht ketzeriſch ſind. Was hierdurch verhindert werden fol, ift 
die Tyrannei Über die Gewiffen. Oft genug jagt er: wenn der 
Bapft ftets, auch wenn er irrt, unbedingten Gehorfam fordern 
fönnte, fo jeien die übrigen nicht Freie, fondern Sklaven; dann 
fei das Evangelium nicht mehr Evangelium der Freiheit fondern 
eine neue Sklaverei“). Der Gehorfam gegen die Autorität ift 


1) Dial. P. UI, Tr. I, L.IV, 24; P. III, Tr. I, L. U, c. 20—26. 28. 

3) Occam ſcheint wenigſtens für den zweifelhaften Fall in einer Glaubens- 
frage das Konzil über den Papft zu ſtellen. Man könne vom Papfi an das 
Concilium generale appellieren Comp. error. c. 8. 

2) Dial. P. II, Tr. U, L. IH, c. 5. 6. 18. 

4) Dial. P. IH, Tr. , L. I, c. 6. 12. 18. 


68 Dorner 


alfo kein unbedingter; zur Prüfung und, auf Grund ber Offen- 
barung der Schrift, zum Widerſpruch gegen ſolches, da8 der Schrift 
widerftreitet, ift jeber berechtigt, ja verpflichtet. Iſt der Papft 
Häretiter,, fo ift er eben damit feines Amtes verluftig, und ein 
jeder kann ſich gegen ihn wenden !). Um biefen Sa zu erhärten, 
unterſucht er dem Begriff des Häretikers und macht bier ben 
Unterichieb, ob jemand bloß irre und ſich Eorrigieren laſſe, ober 
ob er incorrigibilis ji. Am leßteren Falle ift er im vollen 
Sinne des Wortes Häretifer, fo der PBapft insbefondere, wenn er 
3. DB. die Berufung eines Konzils verhindert, um feine Sache 
nicht unterjuchen zu laffen, oder wenn er trog allee Mahnungen 
bei feinem Irrtum beharrt ?). Übrigens -giebt er verfchiedene Male 
den Inſtanzengang an, der bei einem häretifchen Bapit eingehalten 
werden muß. Zunächft hat als Vertreter der ecclesia universalis 
das Konzil, oder wenn dies nicht, das Kardinallollegium, wenn 
dns verfagt, die Prälaten und Kleriter, oder wenn fie verſagen, 
die Laien, befonders die Vertreter des Volkes, die Fürften ®), ſchließ⸗ 
lich jeder einzelne zu handeln, da Glaubensſachen alle angehen *). 
Die Laien haben fi) dabei nach der auctoritas scripturarum zu 
richten 5). Dem entfprechend verfteht es fich von felbft, dag für 
ben Bell, daß der Papft Häretiker ift, auch Appellation von ihm 
möglich if. Wenn Occam auch nicht jo weit geht, die Häre⸗ 
tifer von einer Beftrafung dur ‚deu Staat auszuſchließen, fo 
koönnen doch über die Härefe die kirchlichen Autoritäten durchaus 
nicht unfehlbar entſcheiden, da ‚vielmehr felbit inbezug auf ben 
Bopft gefagt wird, daß, wie man einen wahnfinnigen Papit hin⸗ 
dern möfle, mit Gewalt fich felbjt oder andern Leids zuzufügen, 


1) Compendium error. c. 8. Nach Octo Quaest. III, 8 ift er als Häre- 
tifee minor quolibet catholico. 

2) Dial. P. J, L. DI, c. 3, c. 26, c. 29. 

8) Dial. P. I, L. VI, c. 57, c. 73, 8lsg., c. 99; vgl..o. 15. 64. 

4) Die Simplices ohne briomdere Stellung Comp. error. c. 8. Octo 
Quasest. I, 16. Dial. P.L L. V, 29; vgl. P. III, Tr. J, L. II, 6. 7. 9. 

5) Dial. P.I, L. VI, c.99. Er unterjcheidet c. 100 ſolches, was noch nicht 
fiher als Härefe feftfteht, von ſolchem, was fich ſicher als Härefe erkennen läßt. 
Erfleves gehört vor ein allgemeines Konzil. P. II, Tr. I, L.IIL, c. 4. 25. 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 8 


man fo auch einen häretifchen Bapft eventuell gemaltfam daran 
Hindern müffe, Seelen zu morben ). Das Gefüge ber Organi« 
fation tft erfchlittert, und das kommt der Selbftändigkeit des Stuates 
natürlich zuftatten. 

Das zeigt ſich befonders daran, daB Occam durchaus nicht 
geneigt iſt, die Vertreter der kirchlichen Gemeinſchaft ala die zu 
betrachten, welche die Prudikate der Helligkeit und Unfehlbarkeit 
für die Kirche garantieren. Er will nit, daß die Kirche einen 
Papft fih gefallen Laffe, der in Verbrechen verwickelt ift, welche 
öffentliches Argernis geben. Ihm geniigt keineswegs bie Bingliche 
Heiligkeit, welche durch die Ordination dem Priefter zuteil werden 
fol. Ebenfo aber Tann nicht nur der Papft Häretifer fein; auch ein 
Konzil kann irren und zwar nicht bloß über Thatſachen, fordern 
aud über Lehrinhalt. In dieſer Beziehung führt er aus, ein 
Konzil pflege nicht durch Offenbarung, fondern durch Stubium und 
Forſchung feine Anfichten zu Bilden, könne alſo nicht unfehlbar fein, es 
müßte denn Bott miraculose et aperte eine Offenbarung geben 2). 
Es ftüge fi vielmehr auf menfchlicde Weisheit und Schriftforfegung, 
nicht auf unmittelbare Offenbarung ®). Die Irrtumslofigkeit will er 
darum freilich für die Kirche nicht aufgeben, er fteht fie aber nicht in 
der Organifation garantiert; nur die gefamte congregatio fidelium 
kann nicht ieren *). In echt ſcholaſtiſcher Manier fragt er, ob alle 
Geiſtlichen irren Können — ja; ob alle Männer ivren können; ja ob 
alle Frauen irren können — ja; denn dann bleiben noch die Kinder, 
und biefe Tönnten eventuell die Träger Tirchlicher Unfehlbarkeit 
durch Offenbarung fein; denn den Ummiürdigen hat Gott es ger 


ı) Dial. P. I, L. VI, 65. 

3) Dial. P.I, L.V, c. 25.26. P. IH, Tr. I, L. DIL, e. 5. 8. Dasfelbe 
Gehauptet er von allen Klerilern, es fei kein Grund, weshalb: nicht alle im 
Berein follten irren können, ba ihre Funktionen fie nicht notwendig vor Irr⸗ 
tum behüten, weder die des Kinchenregiments, ned; ihre lehrende Funktion, wie 
fie auch an fich wicht heilig ud. Dial. P. EL V,.c. 29. - 

8) Reine vocatio humana kaun den BZufanmengerufenen Irrtumsloſtgkeit 
garantieren. Dial. P. IL, Tr. I, L. III, c. 5. 8. 

9 Dial. P.L, L. V,29—31, wenigſtens nicht mbezug auf Glaubensſachen, 
wenn auch in dem, was facti ift, Dial. P. IE, Tr. I, L. EV,#e. 22, 

Theol. Stud. Jahrg. 1886. 45 


700 Dorner 


offenbart !). Hierdurch wird offenbar der Sag von ber Unfehl⸗ 
barkeit der Kirche praktiſch — und da allein hat er Bedeutung — 
wefentlich erjchüttert, und es wird gegenüber dem BPrieftertum das 
Recht der Laien prinzipiell anerfannt. Das um fo mehr, als er, 
wie bemerkt, al& die einzige unfehlbare Autorität die Schrift und 
die Canones der Apojtel gelten läßt, nicht die Defretalen der 
Bäpfte, die Ausfprüche der Doktoren oder der Konzilien ?). 

Und doc; kann man nicht fagen, daß Occam die thatfächliche Ver» 
faffung aufgeben wild. Er behandelt gelegentlich die Frage, ob in 
der Kirche eine monarchiſche Spige wünjchenswert fei und bejat Die» 
jelbe, wenn er auch Fälle anerkennt, wo es mehrere Patriarchen 
geben könnte, womit der Weg zu Nationallirchen betreten werden 
fönnte 9). Auch daß man für gewöhnlich dem Papft in geiftlichen 
Dingen Gehorſam jchulde, ftellt er nicht in Abrede. Da ein 
Konzil nicht immer beifammen fein Tann, ift für die laufenden 
Geſchäfte notwendig, daß einer an der Spike fteht und für ges 
wöhnlich, wenn alles regelrecht zugeht, bat man dem Papft zu 
gehorchen, ja jo lange, bi8 man duch pofitive Einficht darüber 
Gewißheit Hat, dag er irrt 4). Dasfelbe gilt natürlich von einem 
Konzil, wenn e8 nicht irrt. Daß er ferner, wie im Staate, auch 
in der Kirche Sinn für bie Kontinuität der Entwideluug hat, geht 
daraus hervor, daß er es mehrfach tadelt, wenn ein Bapft bie 
diffhinitiones feiner Vorgänger aufpebt 5), was freilich damit nicht 
ganz zufammenftimmt, daß er die Möglichkeit zugiebt, daß ein 
Bapft Häretiter fei; ebenjo aber Hält er um der Kontinuität willen 
bad Bapjttum für notwendig, wo nicht die Verhältniffe anderes 


1) Dial. P. I, L.V,32—35. Auch Preger, Der firdhenpolitiiche Kampf 
unter Ludwig dem Bayer, Abhandlung der Hiftgrifchen Klaſſe der Lönigl. baye- 
rifchen Alademie, Bd. XIV, Abtl. I, S. 8, ficht in diefen Äußerungen die Anficht 
Decams. Jedenfalls ift für Occamı die Unfehlbarkeit der Kirche nicht in ihrer 
Organiſation garantiert. 

2) Dial. P. IH, Tr. L, L. OJ, c. 4, c. 13. p. 842 sq. 

3) Dial. P. IH, Tr. I, L. D,.c. 9. 10;. vgl. c. 20—26, c. 38. Der 
leitende Gefihtspuntt iſt natürlich das, was dem — der Kirche entſpricht. 
P. III, Tr. L, L. IV, c. 2.. 

4) Dial. P. IU, Tr. I, L. I, c. 19. 

5) Bgl. Opus non. Dier. c. 122. 


Das Berhältuis von Kirche und Staat nach Occam. 701: 


fordern 1). Für unbejchränften Herren hält er den Papft aber in’ 
feiner Weife, auch vom Falle der Härefie abgejehen. Der Papſt 
kann nichts thun, was gegen göttliches und natürliches Recht ift; 
er kann auch nicht alles, was nicht gegen beides ift, auch nicht in’ 
spiritualibus, 3.9. kann er nicht Ungläubige zum Glauben zwingen, 
kann nicht feinen Nachfolger beftellen, nicht zu dem zwingen, was 
der Volllommenheit zugehört, zur virginitas etc., kann auch keinen’ 
Mönch von der Armut bispenfieren, nicht zwingen, eine Sünde zu 
befennen, die man fchon dem confessor bekannt hat u. ſ. w. Ya 
nad Dial. P. J, L. V, c. 15 ſcheint es, daßsdie Erfommunikation der’ 
Gemeinde und nicht dem Papft allein zukommt). Die Meinung, 
der Papft fünne alles, fei eine Häreſe ’). Offenbar hat Occam 
eine große Averfion gegen die päpftlicde Willfür, wenn er aud für: 
gewöhnlich den Papſt, wenn er fi in den Schranfen hält, als 
Autorität anerkennt; nur iſt dabei als bie letzte Maxime voraus⸗ 
gefeßt, daß die Verfaffung dem Eirchlichen Wohle dienen muß und 
daß die Leiter fich deffen bewußt bleiben und dem entjprechend 
handeln follen, alſo nicht duch Verbrechen Ärgernis geben und 
nicht durch Irrtum und Häreje die Kirche in die Irre führen: 
dürfen. In folhem Falle fteht das Gemeinwohl höher als bie 
Autorität der Tirchlichen Oberen. Es läßt fi hier derjelbe Grund⸗ 
zug der Gedanken verfolgen, wie bei feiner Staatsauffeffung. Ohne. 
an den gegebenen Formen etwas zu ändern, wird doch durch bie 
Betonung bes Gemeinwohls, das der Autorität der verfafjungss 
mäßigen Ämter übergeordnet wird, und das er in dem Wohl aller 
einzelnen fieht, die thatſächliche Wertihägung der Verfaſſungsformen 
unter einen anderen Gefichtspunft geftellt und dem einzelnen weit. 
mehr Spielraum und Einfluß auf das ganze gewährt als es in 
dem Sinne der vorhandenen Verfaſſung liegt). — Dan fieht im: 


1) Dial. P. UL Tr. ,LD, c. 1. 

2) Bol. Preger.a. a. D., S. 8. 

8) Vgl. befonders Dial. P. II, Tr. HU, L. I, c. 28. 

4) Sch flimme Müller volllommen zu, wenn er II, 266 bemerft, daß im! 
Decams Schriften „mit dem mädtigen Rütteln an. bem alten Bau ber Hier- 
archie, wenn auch unfcheinbar, die Vorbereitung . eines neuen -Tirchlichen — 
faffungslebens verknüpft war“. 

45* 





702 Doruer 


feinee Betrachtungsweiſe tft ein enger Zufannnenhang. Die Aufe 
gabe der Kirche Find bie spiritualia, diefe find Angelegenheit eines 
jeden, fie dürfen alfo aud nur fo verwaltet werben, daß das In⸗ 
texeife der Gläubigen gewahrt bleibt, das bie oberfte Norm ift; 
hierans ergisbt fi, daß die Drganifation und die Autorität Ber 
Briefterfchaft nicht uubedingten Wert haben kann und beferänft 
fein muß '). 

Hieraus ergiebt fich auch noch dies, daB, wie die Kirche im 
Gebiete der spiritualia nicht else unbedingte Herrfchaft über die 
Gläubigen haben fol, jo fie vollends nicht in das weltliche Gebiet 
übergreifen kann, weder weltliche Herrſchaft noch weltliche Reichtümer 
beanſpruchen darf, daß fie Vermögen nur in dem Maße haben folf, 
als es für ihre geiftkichen Zwecke fürberlich ift, im derem Dienft 
ihr Vermögen fein muß. Hierüber verbreitet fig Occam häufig. 
Auch Hier macht er Gebraud von der Auſicht, daß bie chriſtliche 
Gemeinschaft. urfprünglich im Befitze von Eigentum ſei, das chrift⸗ 
liche Voll, daß alfo diefes auch unter Umſtänden über die Ver⸗ 
wendung der Güter mit zu beftimmen babe ?). Daß bie Kleriker 
gar kein Eigentum haben follen, furbert er nicht, aber Reichtümer 
brauchen fie auch nicht, da fie keine äußere Macht anszıüben haben, 
für die man Reichtümer brauchen würde). So viel als fie für 
ihren Unterhalt brauchen, foll ihnen gewährt werden, aber mehr 
ift vom Übel. Wenn die Kirche mehr befigt, fo foll fie es au 
den geiftlicgen Zwecken verwenden, für bie es gegeben ift; aber 
fein Papft ober Biſchof darf Kircdengut willlürlich behandeln, ofme 
Urfache veräußern ) oder zu willlittlichen Zwecken verwenden. Die 
Zwecke, zu welchen es verwendet werden fol, find einmal gottes⸗ 
bienftliche, fodann für Arme, für religiosi, für ecelesiastiei und 
enbli für weltliche Arme). Wenn die Prälaten der Kirche es 
fhleht verwalten, fo kann es nad) dem Grundſatz, dag es eigent- 


1) Der Glaube fieht Höher ala der Papſt Dial. P. IL I. VE e. Yösq.” 

2) Opus non. Dier. e. 76. 77. Die congregatio fidelium Sat urſprũng⸗ 
lich Rber Eigentum zu Beftimmen. Octo Quaest. I, 17. 

8) Dial P. HL Fr. L L. IE c. 29. 

4) DaL P. UL Tr H, L.L e 28. 

5) Opus non. Dier. c. 76. 


Das Verhältnis von Kirche nd Staat nad) Occam. 2103 


üb der congregatio fidelium gehört, auch von Laien verwaltet 
werben. Auch ift feine Meinung nicht, daß unter normalen Ber⸗ 
häftniffen der Papft die Verfügung Über alles kirchliche Eigentum 
in letzter Inſtanz babe, da vielmehr auch einzelne Kircheneigentum 
haben können; der Bapft Hat ur in dem Maß Vollmacht, als es 
die Gläubigen beftimmt haben *). Der Bapft darf auch nicht mehr 
von den Gläubigen in Aufpruch nehmen, als für feine Bedürfniſfſe 
pro victu, vestitu et exercendo suo offieio nötig ift 2). Was 
darüber Hinausgeht, hat er entweder als Geſchenk oder sibi usur- 
pat tyrannice ?). Das Geſchenk aber hat er nur jo zu verwal- 
ten, wie es der intentio dantium entfprict 9. Verfügt er am 
ders, fo ift da8 ein Diebitahl, und er iſt zur Rückgabe verpflichtet. 
Hierfür wird Bernard von Clairvaux als Zeuge aufgeführt in 
feiner consideratio für den Papft Eugen). Man darf hierbei 
nicht Überfehen, daB nah ihm Eigentum überhaupt nur nad 
menfhlihen pofitivem Rechte entfteht, daß alfo auch die Kleriter 
Eigentum nur jure kumano ®) haben fünnen. Bon bier aus if 
es völlig konfequent, wenn Occam inbezug auf das Eigentum eine 
völlige Selbftändigkeit der Kirche und ihrer Vertreter nicht an« 
erlennt, fondern verjchiebentlich hernorhebt, die Kirchenbeamten Haben 
an weltlihem Gut nur jo viel zu beanſpruchen, als ihnen nötig 
jei; und dieſes Gut ftammt won ber congregatio fidelium, farm 
aber ald Eigentum nur gelten durch geſetzliche Anerkennung Des 
Staates. Und wenn fidh hier die Kirche auf ihr kanoniſches Recht 
berufen wollte, jo jagt Decam oft genug, daß das kanoniſche Recht 
nicht das weltliche Recht aufheben Lünne 7). Eben bager fchreibt er 
inbezug auf das kirchliche Vermögen dem Staat eine ‚beauffidh- 
tigende Stellung zu, wovon im nächſten Abfchnitt noch ein Wort 


1) Opus nen. Dier. c. 77. 

2) Octo Quaest. III, 4. Papſt und Bijchöfe feien zum Dienſte da, nicht 
dazu, der Herde lac et lanea zu nehmen. 

3) Octn Quasst. VI, &. 

% Octo Quaest. VIII, 5; I, 16. 

5) Octo Quest. VIII, 5, p. 385(®). 

6) Opus non. Dier. cc. 88. 89. 

) Octo Quaest. IH, 2. 


704 Dorner 


zu reden if. Daß Kirchenbeamte vor das weltliche Gericht gehen, 
um zu prozejfieren, findet er daher, wenn auch nicht als dem voll« 
kommenſten Stand entfpredhend, fo doch auch nicht unberedhtigt ?). 


IU. Verhältnis von Kirche und Stant. 


Wir haben bisher gefunden, daß Occam bemüht ift, dem Staat 
für fich feine Aufgabe zuzuweifen, bie er felbftändig zu löfen bat, 
wie die Kirche die ihrige. So ift das Ideal des DVerhältniffes 
"beider zu einander dies, daß jeder für fich von dem andern nicht 
geitört das Seine zum Wohl der Geſellſchaft volibringen möge. 
Und wenn er auch die Religion für höher hält als da8 Intereſſe 
für das Irdiſche, fo glaubt er deshalb doc nicht, da man von 
der Religion aus die temporalia beftimmen fünne. Denn wenn 
er ih auch das Bild von Sonne und Mond inbezug auf das 
Verhältnis von Kirche und Staat, Papft und Kaifer aneignet ?), 
fo legt er e& doch in dem Sinne aus, daß ein fatholifcher Kaifer 
in spiritualibus (fofern er eben zugleich Chrift ift) die Direktion 
vom Papft erhalte, auf die temporalia und ihr Negiment hat 
das feinen Einfluß. 

Obgleich jo beides auseinander gehalten wird, fo führt Occam 
den Standpunft der Scheidung doch nicht völlig fonfequent durch. 
Denn er fällt, wenn auch nicht für dem regelrechten Gang der 
Dinge, jo doh für Ausnahmefälle in die Vermifchung geiftlicher 
und weltlicher Angelegenheiten 'zurüd. Er kommt Häufig darauf 
zu Sprechen, daß es im Grunde dasſelbe Volk ift, welches ber 
Bapft und Kaifer beherrfcht, welches fich einen Papft und einen 
Kaifer zu wählen von Haus aus berechtigt ift, ein geiftliches 
und ein weltlihes Oberhaupt. Wenn er daher auch für ge- 
wöhnlich (regulariter) die Anficht geltend macht, daß die Tei⸗ 
fung beifer fei, al8 wenn nur ein Oberhaupt wäre, das über 


1) Opus non. Dier. c. 108. 115. 117. 119. 

3) ®gl. Dial. P. III, Tr. I, L. I, 24. Octo Quaest. I, 14, wo Staat 
und Kirche mit Leib und Seele verglichen find, aber dem Leib ausdrücklich feine 
eigenen Funktionen zugefchrieben werden. Der Papft verhalte fich zum Kaifer 
wie der Bater zum Sohn, was fi) aber nur auf die un beziehe: Octo 
Quaest. I, 13. 


Das Berhältnis von Kirche und Staat nach Occam. 708 


spiritualia und temporalia zugleih verfügen könnte, fo ift für 
ihn nicht regulariter, aber doch casualiter nicht ausgefchloffen, 
daß der geiftliche Regent weltliche Angelegenheiten oder umgekehrt 
der weltliche geiftliche Angelegenheiten beforge. Im Grund find 
beide Vertreter des Volles und können alfo für außergewöhnliche 
Fälle auch über ihre gewöhnliche Kompetenz hinausgreifen. Man 
darf fich daher nicht wundern, wenn Occam das, was wir bisher 
als feine Anſicht aufgeftellt haben, wieder durchkreuzt, nämlich ca- 
sualiter, für bejtimmte Fälle, in denen das ausgeſprochene prin« 
zipielle Verhältnis von Staat und Kirche fich nicht durchführen 
läßt, weil entweder die Kirche oder der Staat feine Pflicht nicht 
tut oder nicht thun kann. Eine Durchkreuzung des Prinzipes ift 
Hierin deshalb zu finden, weil er nicht dabei bleibt, daß die Kirche 
in folhem Falle, wie auch immer, fich felbft helfe oder der Staat, 
wie auch immer, fich felbit helfe, fondern casualiter Kompetenz. 
überfchreitungen von beiden Seiten duldet. Zu feiner Entſchul⸗ 
digung läßt fi anführen, daß er einmal inbezug auf deu Einfluß 
des Staates auf die Kirche für feine Zeit den Kaifer als Ehriften 
vorausfeßt, und von dem Grundfa aus, daß jeder Ehrift gegen 
Berderbtheit und Ketzerei der Tirchlihen Dberen feine Stimme er» 
Heben dürfe, die Fürften nicht davon ausſchließen kann, im In⸗ 
tereffe des chriftlichen Volles einzufchreiten. Freilich verkennt er 
bier den Unterfchied zwiſchen dem Fürften als einer chriftlichen 
Perſon und ald Staatsoberhaupt, der aber auch den Res 
formatoren noch nicht deutlich geworden if. Was aber den Ein. 
fluß der Vertreter der Kirche auf den Staat angeht, fo ift hier 
derfelbe Grundfag, daß das Voll, ja jedes Mlitglied des Volles 
gegen Fürften, die ihre Pflicht verfäumen, ihre Stimme erheben 
fünne, fo verwendbar, dag auch der Papft im Auftrag des Volkes 
casualiter bie Pflichten de8 Staatsoberhauptes verfehen kann, 
wobei Occam freilih Amt und Perfon auch Hier nicht auseinander» 
Hält und Überfieht, daß das firchliche Amt als folches eben hier ein 
Hindernis bildet. Mit einem Wort: Gerade’ das, worin Occam 
jeine Stärfe hat, daß er auf das Volk als die Gefamtheit der ein- 
zelnen feinem Nominalismus gemäß zurüdgeht, wird für ihn eine 
Klippe, an der die fonfequente Durchführung der Sonderung der 


706 Dorner 


Aufgaben der ftaatlichen und ber kirchlichen Gemeinſchaft ſchei⸗ 
tert. Der eingelne iſt Ehrift und Bürger zugleich, und jo kann 
er, — und zwar je einflugreicher er Durch eine amtliche Stellung 
ift, um fo mehr — im Notfalle für beibe Gebiete eintreten. 
Daß Hier die in feiner Zeit noch herrſchende Theorie der Ver⸗ 
mifhung don jtaatlichem und kirchlichem Gebiete nachwirkt, wird 
nicht zu leugnen fein. Im ganzen aber extennt man, welche hohe 
Bedeutung er dem Staatsleben zufchreibt, darin, daB er auch ca 
snaliter nicht bloß im theofratifchen Papismus zurückfällt, ſondern 
ebenfo wenig byzautiniſche Abwege abjchneidet. Über intereſſant 
bleibt es, gerade an feinem Beiſpiel zu fehen, wie theokratiſche 
und buzantinifche Neigungen in einander übergehen können, wie 
beide Syſteme Zwillingsgefchwilter find. Doch betrachten wir feine 
Anficht noch etwas im einzelnen und zwar zuerſt die theokratiſchen, 
ſodann die byzautiniſchen Abweichungen, bie freilih — das darf 
Man nie vergeſſen — nur als Ausnahmen für den Notfall zu bes 
traten find. 

Um die Eingriffe des Papſtes als ertraordinäre zu bezeichnen 
und auf außerprdentliche Fälle zu beſchränken, bemerkt er häufig, 
der Bapft habe kein Hecht, die Kerhte und Freiheiten anderer sine 
culpa et absque causa zu ſtören ). Dagegen Habe der Papft 
in casu necessitatis in temporalibus quandam potestatem ?), 
Und wenn auch der Papſt an ſich sicht das Recht Hat, Für⸗ 
ften einzufegen, was daraus, dag er fie falbt oder krönt, nicht 
kann abgeleitet werden ®), jo kann er doch in casu ſelbſt den 
Kaiſer abjegen, wenn diefer debita officia debite exercere nollet 


1) Octo Quaest, I, 7. 

2) Octo Quaest. I, 8. 

8) Octo Quaest. I, 12. 13; II, 10; VI, 2. Die Krönung und Salbung 
dient dazu, die magnificentia regalis zu zeigen, bie reverentia zu erhöhen 
Octo Quaest. V, 8; IV, 7. Der Kaifer wird wicht erſt durch dieſe Bere 
monieen zum Kaijer, ev it es eo ipso IV, 7; VIU, 8.5, Dial P. IU, 
Tr. U, L. I, c. 21; P. UI, Tr. U, L. OD, c. 29. Die Salbung und Kr 
nung ift menſchliche Inſtitution, nicht wie die Ordination eines Prieftere 
göttlich. So müßte duch menſchliches Recht beſtimmt fein, daß fie erft 
die fürfllihe Macht gebe, Octo Quaast. V, 8. 8 9; VI, 2, was nidjt be» 
fimmt if. 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 70 


vel non posset und um feiner iniquitas willen inutilis ift Y. 
Übrigens bemerft er, daß der Papft wur dann eingreifen könne, 
wenn die, denen es zulommt, es ihm übertragen ?), oder wenn fie 
nicht tönen oder nicht wellen und talis immineret casus, der es 
darchaus untwendig macht, daß eingegeiffen wird. Über einzelne 
facta, wo fich Pupſte Abfegung von Fürſten geftnttet haben, in 
England und Spanien urteilt er ungünftig; «8 fei da eine pupft⸗ 
fiche Ufurpation vorgelommen; und Ähnliches deutet ex inbezug auf 
Innecenz IH. in jeinem Verhältnis zu Friedrich IL an). Finder 
eine Vakanz in der kaiſerlichen Succeffien ftatt, fo bat der Papft 
zwar nicht an fi das Net, in die Lücke einzutreten; aber doch 
fann an ibn der recursus im Notfalle jtattfinden, wenn fein 
Bicarins da iſt ). So behampten mande, daß durch die Ber- 
mittlung des Bapftes das Saifertum an die Franken gekommen 
jei, und Occam ſcheint der Meinung zu fein, daB fih das an» 
nehmen laſſe, wenn man dabei nit den Papſt ale Papit fondern 
als Römer amd Beauftragten des römiſchen Volkes anfehe °); in 
fetter Juſtamz bleibt er doc dabei, Kaijer fei der Frankenkönig 
duch die Römer geworden 9). Und wenn er auch von feinem 


1) Octo Quaest. I, 12. 

2) Octo Quasst. I, 8; VIII, 5. Der Papft übt damit nad) der letzten 
Stelle kein anderes Necht aus, als jedem Bürger zufteht, f. o. ©. 687. Für. 
gewöhnlich bat der Papft das Necht, den Kaifer abzujegen, nicht, weder jure 
divino, noch humano; und wenn e8 ein Kaifer ihm verliehen hätte, wäre er 
destructor imperii; alſo kann er dies wohl nur im Notfall, wenn fein anderer 
einen ſchlechten Kaifer entfernte Dial P. IH, Tr. II, L. I, c. 8. 

8) Octo Quaest. IL, 8. Die Theorie, daß der Papſt vom Unterthaneneid 
entbinden Tönne, erkennt er kaum an. SHöchftens hat dee Papſt erflären 
können, daß einem abgeſetzten Kaiſer die Unterthanen nicht mehr den Bid zu 
halten braudgen, wenn fie ihn darum frugen. Octo Quaest. VII, b. 

4) Octo Quaest. H, 14. Dial. P. UI, Tr. U, L. I, c. 22. „Supplet 
defectum“, aber nad) ber letzten Stelle nicht als Papſt fondern im Auftrag 
der Römer oder der Wähler. Den Auſpruch, daß dem Papſt eo ipso das Reichs⸗ 
vifariat zuftehe, erkennt er nicht an. 

5) Octo Quaest. IV, 5. 

6) Octo Quaest. IV, 8. Diele Erörterungen bieten auch inſofern Intereſſe, 
als fie zeigen, wie Occamı und feine Zeitgenofien bie Geſchichtsforſchung durchaus 
nur im Intereſſe einer beftimmten Theorie, nicht um ihrer felbft willen betreiben, 





208 Dorner 


Srundfag aus, daß das Volf die Rechte zu übertragen habe, anzu⸗ 
erkennen fcheint, daß die Römer zwar nicht das Imperium, aber das 
Recht, bei der Kaiſerwahl beftinmend zu wirken, oder andern die 
Wahl aufzutragen, dem Papfte Übertragen können, jo bemerkt er 
doch zugleich, daß man über das Faktum, ob diefe Übertragung 
ftattgefunden Habe, den päpftlihen Ausfagen nicht zu glauben 
brauche, wenn fie nicht bewiefen feien; und wenn es einmal über. 
tragen fei, fo fei es doch nicht für immer geſchehen; aud aus 
einer consuetudo der Römer in diefer Beziehung laſſe fich ein 
päpftliches Recht Teinesfalls ableiten ). Sieht man auf die ein- 
zelnen Funktionen des Staates, fo ift Occam der Meinung, 
daß in beftimmten Fällen das richterliche Urteil auf die geiftlichen 
Richter übergehen könne, wenn nämlich die weltlichen ihr Amt ver- 
nachläſſigen 2). Ebenfo wird bemerkt, daß in beftimmten Fällen, 
die zweifelhaft find für den Richter, der Papft entjcheiden könne, 
aber nur wenn ber Kaiſer nicht entfcheiden wolle, und aud in 
diefem Falle nit richterlih, aber docendo et praecipiendo ®) 
oder wie er es an einer anderen Stelle befchränft, wenn ber 
Kaiſer es zuläßt 4). Eine consuetudo für den Papft kann hieraus 
nur werden mit Zuftimmung des Kaiſers. Würde aber freilich 
ber Kaiſer dulden, daß die Richter die justitia vernadjläffigen, 
amd nicht dulden, daß der PBapft oder ein anderer bdiefen Fehler 
ergänzt, fo wäre er ein destructor justitiae und als folcher ab» 
zufegen 5). Hierin zeigt fich zugleich wieder, daß der Kaiſer nicht 
um feiner felbft willen da ift, fo wenig wie der Papft, fondern 
um bie Gerechtigkeit aufrecht zu .erhalten ®). 


1) Dial. P. III, Tr. U, L. I, c. 80. 

3) Dial. P. III, Tr. I, L. II, c. 7. Iſt kein weltlichen Nichter da, der 
die saecularia ex officio possit vel velit judicare, fo fann fich der Papft 
auch in das Richten über temporalia einmengen. Octo Su J, 11; aber 
nad) II, 7 nur im Notfall. 

$) Dial. P. II, Tr. I, L. DI, c. 16. 

4) Dial. P. III, Tr. I, L. III, c. 21. 

6) Dial. P. IIL, Tr. OU, L. III, c. 21. 

6) Man wird aud) beachten müffen, daß Dccam nicht daran denkt, gegen 
die Inftitution geiftficher Kurfürften anzugehen, welche zugleich weltliche Fürften 
find. Dieſe Bermifchung beanſtandet er nicht, daher er die geiftliche Juris⸗ 


Das Berhältuis von Kirche und Staat nad) Occam. 709 


Ebenfo aber kann auch in casu der Kaifer in das Kirchliche 
Gebiet übergreifen. Es zeigt fi das fowohl bei der Frage nad) 
der Einfegung als der Abjegung der Bäpfte. Der Kaiſer kan, 
wenn die Kardinäle ketzeriſch find, als Late jedenfalls die Papft⸗ 
wahl mitvollziehen, deren Recht ja in letter Inſtanz im chriftlichen 
Bolfe wurzeltl. Aber Decam geht weiter; der Kaifer könne bie 
Wohl in folhem alle deshalb allein vollziehen, mie es auch bie 
Geſchichte beweife, weil ihn die imperialis sublimitas magis 
dignum hujus modi juris vel potestatis made !). Denn wenn 
Laien au nicht folches thun follen, was Orbdinierte, fo können 
fie doch das thun, was dem gemeinfamen Nuten dient, und mas 
nicht zum ordo oder zu einem befonderen göttlichen Auftrag ges 
Hört, umd letzteres ift bei der Bapftwahl nicht der Fall 2). Freilich 
meint er, daB dies nur ein chriftlicher, katholiſcher Kaifer thun 
könne, der nicht häretiſch ſei)). Was nun die Abfegung des 
Bapftes durch den Kaifer angeht, fo ift dieſe natürlich auch nur 
in casu benfbar. Daß der Kaifer inbezug auf bie vis coactiva 
dem Papfte übergeordnet tft 4), daß der Kaiſer die jurisdictio 
coactiva auch über den Papſt ausüben kann, wenn er weltliche 
Berbrehen begeht, das ift noch keine Überjchreitung des Rechts⸗ 
ftandpunftes des Staates; dag aber der Kaiſer den Papft ab⸗ 
ſetzen kann), könnte ſchon eher bedenklich erſcheinen, vollends 
aber, daß er einen Papft wegen Härefie foll abfegen können. 
Hier Handelt er natürlich wieber im Intereſſe des bonum com- 
mune und gegen einen bäretiihen PBapft, der als incorrigibilis 
obendrein gar nicht mehr Papft fein kann, ja als Hüretifer eo 


diktion inbezug auf Rechtsſtreit anzuerkennen fcheint, wenn einer unter der weltlichen 
Jurisdiktion des geiftlichen Richters ſteht. Dial. P. IH, Tr. U, L. I, c. 18. 

1) Dial. P. UI, Tr. V, L. III, c. 4, c. 18. 

2) Dial. P. II, Tr. U, L. II, c. 4. 

3) Dial. P. ILL Tr. OD, L. II, c. 5. 

4) ſ. 0. ©. 686. Dial. P. IH, Tr. I, L. IU, c. 22. 

5) Dial. P. IU, Tr. U, L. UI, c. 17; P. I, L.VI, c. 55. Wenn der 
Bapft ſich weigert, falls er im Berbachte der Härefie fleht, eine inquisitio zu⸗ 
zulaffen, darf man den weltlichen Arm zubilfe rufen, wie nach c. 53. 54 bie 
Fürften einen ſolchen, der gegen päpftliche — kämpft, zu ee haben, 
eventuell felbft mit ben Waffen. 


110 . Dorner 


ipso aufgehört Yat, PBapft zu fein), kann er, wie gegen alle 
Hüretiler, Gewalt anwenden; er kann ihn behandeln mie einen 
Wahnfinnigen, der fich ſelbſt oder anderen Schaden zufägt. Das 
kann vonfeiten des Staate®, der publicae potestates, geichehen 
deficiente ecclesiastica potestate 2). Occam meint Octo Quast. 
IH, 8, daß ein chriftlicher Fürſt das bonum commune spiri- 
tuale fördern ſoll und zwar mit Bezug auf Glaubensſachen; ja 
ein ungläubiger Färft kann fogar in eine causa fidei fi) miſchen, 
zwar nicht fofern fie Offenbarungsfache ift, aber fofern fie rei 
publicae mores angeht, im Intereſſe ded Gejamtwohles, weun 
der Bapft als Häretifer incorrigibilis tft und der Kirche Ärgernis 
giebt, oder wenn er Verbrecher ift, wobei auf das deutlichfte die 
Borftellung mitwirkt, daß die Härefie wie ein anderes Verbrechen 
anzufehen ſei. Ebenſo fteht auch den Fürften das Recht zu, an 
dem Konzil teilzunehmen, zumal die Priefter doch auch nur ale 
Vertreter des Volles an bemfelben beteiligt find ®). 

Indem das Gefagte zeigt, daß der Papſt in casu über den Kaifer, 
wie der Kaijer in casu über den Papft Gewalt Hat, ergiebt ſich zu⸗ 
glei doch, daß der leitende Grundgedanke, dat Staat und Kirche 
als gleichberechtigte Größen anzujehen jeten, nicht prinzipiell verletzt 
wird, wenn auch eine reinliche Sonderung der beiberfeitigen Auf⸗ 
gaben, die er anftrebt, am diefem Punkte nicht durchgeführt tft. 

Es erübrigt, daß wir, au früher Erörtertes anfnüpfend, Occams 
Anficht Über die Punkte noch zufammeniftellen, welche Stant und 
Kirche gemeinfam find, über rechtliche Tragen, welche wach katho⸗ 
liſcher Anſchauung ſowohl vor den geiftlichen wie vor den weltlichen 
Nichter gehören können, insbefondere die rechtliche Stellung und Bes 
fugniffe der Kirchenbeamten, fodann das Tirchliche Vermögen, die Ehe, 
um eine Überficht zu ermöglichen, welche zeigen mag, wie er, von 
jenen beſprochenen casus abgejehen geneigt ift, dem Stante und der 
Kirche auch in diefen beide gemeinfam angehenden Punkten das jedem 
Zukommende zuzumeilen, aljo fein Grundprinzip zu wahren. Uns 


1) Bal. ©. 698 
3) Dial. P, I, L. VI, 99. 56 
8) Dial. P. I, L. VI, 86 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nad Occanı. a1 


verhohlen tritt feine Auficht ſchon in dem Dialogus inter militem 
et clericum hervor, ſowohl inbezug auf die Jurisdiktion, als das 
Sirchenvermögen. Die Meinung, daß bie Kirche es mit der juris- 
dietio der Verbrechen zu thun Habe, weil fie über Sünden zu ur⸗ 
testen habe, ja daß fie es überhaupt mit ben Gebiet des justum 
zu thun habe, wird widerlegt; wer die Geſetze gegeben bat, ber 
Hat zu urteilen, und das ift der Staat; will fich der Prieſter in 
die Rechtſprechung einmiſchen, fo entfteht Verwirrung. Die Auf- 
gabe des Priefters ſei zum Gehorfam zu ermahnen und Ver⸗ 
brechen zu tabein, aber nicht de justo et injusto cognoscere !); 
&enfo wenig aber wie über Sittliches, das zugleich rechtlich if, 
Gaben die Priefter über Hecztöftreitigleiten, die das Vermögen an⸗ 
gehen, zu entfcheiden. In diefer Beziehung blann das kanoniſche Recht 
gegen das weliliche keine Geltung beanfpruuchen. Überhaupt hat der 
Bapfı nicht das Recht, Geſetze des Kaiſers aufzuheben 2). Er geht 
aber auch‘ dazu fort, die Ausnahmefteiung der Geiftlichleit inbezug 
anf die ftaatliche Jurisdiktion zu mißbilligen. Die weltlichen Au⸗ 
gelsgenheiten auch der Geiſtlichen gehüren vor den weltlichen Rich⸗ 
ter ®), natürlich auch. die Streitigkeiten zwiſchen Laien und Gelft- 
lichen ). Handelt es fih um Verbrechen, die vor den Strafe 
richter gehören, fa giebt es Hein befonderes Recht ober ein geift- 
Tiches Bericht für Priefter, Chriſtus Hat auch vor Piletns ge» 
ftanden 2). Auch der Papſt hat hierin keine Ausnahmeſielluug, 
wen er fidh gemeiner Werbrechen ſchuldig macht. Die vis cosc- 
tiva kommt bem Staste u ©). Dem wenn Octam auch anerkennt, 


1) Bgl. auch Octo Quaest. III, 4. Sollte, was mir nicht erwieſen zu 
fein fcheint, der Dialogus inter militem et Clericum aud) nicht echt fein, fo 
hleibt die Anſicht Occamıs tar weſentlichen biefelbe. Das erkennt auch Riezler 
as, indem es zugiebt, es Imte Oecam der ausgeſprochenen Geſtunung nad 
den. Dialog geſchrieben haben. A. a. DO. ©, 148. 

% Disl. P. II, Tr. IL, L. N, & 29. 2gl. De jarindietione imper. 
in causis matrimonialibus. 

8) Dial. P. UI, Tr. H, L. II, e. 9. 

4) Disl. P. II, Tr. ID, L. IH, e. 19. 

8) Dial. P. I, L. VI, 4. 

6) Diel. P. III, Tr. DO, L. III, c. 293. Der Papſt ma humanum 
subire judieium, wenn er ein Verbrechen begangen bat Octo Quaest. E 17, 


712 Dorner 


daß in bem Gebiet der spiritualia die Kirche Gehorfam für ger 
wöhnlich verlangen könne und dag in spiritualibus der Kaiſer als 
gläubiger Ehrift auch von dem Papfte Weifungen erhalten fünne ), 
fo ift das doc) nicht fo gemeint, daß dies fein weltliches Regiment 
beträfe, in dem er felbjtändig zu entjcheiden Hat. Ya ein ungläus 
biger Fürſt hört darum nicht nur nicht auf, Fürft zu fein, fondern 
kann fogar einen verbrecherifchen Papſt trafen. 

Was zweitens das Kirhenvermögen angeht, fo ift es feine 
Rompetenzüberfchreitung, wie Occam meint, daß ein gläubiger 
Fürft auch für das Wohl der Kirche forgen foll 2) durch Unter⸗ 
ftägung der Kirche mit Geldmitteln, die der Staat hat. Soviel 
antemporalia, al® für den sumptus spiritualis ministeri und 
vitae subsidium nötig fei, foll der Kirche geliefert werben. Auch 
können Fürften der Kirche Schenkungen machen. Nur find diefe 
nicht als unwiderruflich zu betrachten und nicht der ftaatlichen 
Auffiht zu entziehen. Man wird es ferner anerkennen müfjen, 
wenn er ausſpricht, daß das Kirchenvermögen überhaupt der An 
erfennung des Staates bebürfe. Was das letzte betrifft, jo for» 
dert er die Aufficht des Staates über Stiftungen, daß biefelben 
der Intention der Geber gemäß verwendet werden. Der Fürft 
hat hier feinen Rehteihug in vollem Sinne geltend zu machen. 
Aber eben darum Hat er auch das Recht, im Notfalle das 
Kirchengut zu befteuern. Nec est blandiendum ecclesiarum 
superfluitati immo succurendum tantse gentis necessitati. 
Wenn man einwende, daß man dba wieder nehme, was Gotte ger. 
ſchenkt fei, fo fei zu erwidern: die rechte Anwendung des Geldes 


ebenfo, wenn er Eigentum ober Rechte anderer angreift, und das and dann, 
wenn ber Kaiſer Häretifer wäre. gl. Octo Quaest. H, 7. Dial. P. DIL, 
Tr. H, L. OL, c. 21. Wäre der Papſt vom Gericht des Kaiſers ausge⸗ 
nommen, jo könnte das wegen der großen sequela des Papftcs für den Frieden 
gefährlich werden. 

1) Dial. P. HI, Tr. D, L. I, c. 19. 24 . . 

3) Übrigens bemerkt Occam, daß der Kaiſer durchaus nicht. verpflichtet ſei, 
dem Papſt einen Eid zu leiſten, daß er die Kirche ſchützen wolle, und hat es 
ein Kaiſer gethan, fo find deshalb feine Nachfolger. nicht dazu verpflichtet. Octo 
Quaest. II, 11. 


Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occamı. 118 


fei die für die salus populi christian. Wenn bie fire cen- 
sualem agrum fauft, kann der Staat nicht den zu zahlenden 
census verlieren; und wenn der Staat in Not ift, kann die 
Kirche kein privilegium jo unbedingt erhalten haben, daß nicht 
der Staat dasfelbe aufheben und um des öffentlichen Wohles. 
willen Auflagen machen könnte. Sogar ber Bapft fchulde in tem- 
poralibus dem Kaifer Zribut, wenn diefer ihm nicht immunitas 
gewährte. Im großen und ganzen alſo nimmt er inbezug auf 
das Kircheneigentum den Standpunkt ein, daß dasfelbe dem Rechts⸗ 
ſchutze des Staates und feiner Aufficht befonders im Intereſſe der 
Beftenerung ?) und der rechten Verwendung unterftellt fei, wogegen 
der Staat aber auch den Kirchen, wo es not thut, mit feinen 
Mitteln zubilfe kommt. 

Was endlih die Ehe angeht, fo hat hierüber, wie erwähnt, 
Occam eine beſondere Schrift geſchrieben, und in welchem Maße 
hier Occam das Recht des Staates geltend macht, ift oben ſchon 
bemerkt worden. Die alten Kaifer haben, bevor e8 Kirchengefege 
gab, über die Ehe beftimmt, und der Kaifer hat, joweit nicht aus⸗ 
drüdlich die lex divina in Betradht kommt, noch heute darüber zu 
beftimmen. Wenn man die Ehe ald Sakrament bezeichne, und des⸗ 
halb die Ehefchließung der Kirche zufchreibe, fo ſei es fchon an ſich 
nicht richtig, daß in jedem Falle nur die Cleriker Saframıente vers 
walten fünnen. Jedenfalls aber habe der Kaijer über alles nicht 
im göttlichen Geſetz Beſtimmte in Eheſachen die Entjcheidung; wenn 
die Klerifer darüber beitimmen, fo beftimmen fie darüber nicht, ſo⸗ 
fern fie von Chriſto, fondern vom chriftlichen Volke den Auftrag 
dazu haben oder vom Kaiſer oder virtute consuetudinis. Eben 
daher kann ber Kaijer ftreitige causas ad se revocare, in quem 
populus suam transtulit potestatem. Die firchlichen Konftitutionen 
können bier fein Hindernis bilden, können nicht legibus civilibus 
praejudicare. 

Die Anfiht von Occam ift in biefer Schrift allerdings bes 
ftimmt dur die Tendenz, die Heirat des Sohnes des Kaijers 





1) Octo Quaest. III, 2. Dial. P. IH, Tr. H, L. I, c. 28; P. IH, 
Tr. OD, L. I, c. 17. 


714 Dorner 


Lndwig des Bayern mit Margareta ven Tirol und Kärnthen dem 
Wunſch des Kaifers entiprechend zu rechtfertigen. Eben daher ift 
and) die Erörterung mehr auf bdiefen einzelnen Fall zugeſchnitten. 
Aber fo viel ift doch deutlich, dag Dream glaubt, daß wenn fein 
Hindernis aus dem göttlidden Gefeg, der Schrift im Wege fick, 
ins ftreitigen alle der Kaifer in Eheſachen die Entfcheidung geben 
tösme, daß bie Kirchengefetze Tein Hindernis bilden lönnen, bem 
nicht der Kaifer ſein Recht gegenüber ftellen Könnte. Da die Che 
Tofigleit fein Ideal ift, fo Tann die Ehe um fo cher dem Staat 
von ihm überontwertet werden. Der Dualismus fommt and hier 
wieder der Selbftänbigfeit bes Staates zuftatten. Seine Keuden 
geht dahin, das, was an ber Ehe weltlich ift, ber Beſtimmung 
des Staated zu unterwerfen. Daß freilich die Beſtimmung ſehr 
ungenügend tft, daß wo bie lex divina in Betracht komme, bie 
Kirche weitzubeftinnmen babe, leuchtet ein, einmal deshalb, weil cin 
genaue Beitimmung im einzelnen über dad, was die Schrift be 
fehle, alfo über die Fragen, deren Inhalt vor das geiftliche Fo- 
rum gehöre, fehlt; ſodann aber auch deshalb, weil von feinem 
Prinzip aus, daß die Laien, alfo auch der Kaiſer über die Mei⸗ 
nung der Schrift ein Urteil haben, es völlig überflüffig fcheint, 
ſelbft das, was die Schrift lehrt, als vor das Forum der Fire 
gehörig zu bezeichnen. Erwägt man. aber, daß er Ehen von Nicht⸗ 
gläubigen, und von Richtgläubigen und Gläubigen nur als dm 
ftaatlihen Forum zugehörig betrachtet, dabei ebenfo alles, ws 
nicht in der lex divina beftimmt ift, tw Eheangelegenheiten dem 
Stante überweift und in biefer Anſicht ih nicht einmal durd de 
Einwand, die Ehe fer ein Saframent, irre machen läßt, und bie 
fnatliche Geſetzgebung gegen bie Birchfiche anerkennt, fo fickt man, 
daß er auf dem Wege zu der Anſchanung ſich befindet, daß die 
Ehe „ein meltliches Geſchäft fei”, worte ihn ſein Idesl mör 
Hifcher Heiligkeit wie gejagt nur beftärken konnte. Daß er dabe 
der Kirche das Ihre geben wollte, erhellt daraus, daß die Geſetze 
der Schrift verbindfich fein follen und daß er nicht den fatramentele 
Charakter der Ehe beftreitet, fondern nur dies, daß in jedem Zelt 
ausichlieglich der Kleriker das. Sakrament verwalten müfſe; aber at 
einer Maren Durchführung im einzelnen hat er es fehlen Lafiaı. 





Das Berhältnis von Kirche und Staat nach Occam. 715 


IV. Zufammenfaffende Überfidt. 


Faſſen wir die Anfiht Occams kurz zufammen, fo ift fols 
gendes zu jagen: 


1. Occam gründet den Staat auf das Recht, das Recht als 
natürliches auf die Vernunft, und fo fchreibt er dem Staat fein 
eigenes Gebiet zu, in welchem er von ber Offenbarung unabhängig 
it. Und doc iſt dabei zu beachten, daß er nicht in Vernunft⸗ 
abſtraktionen fteden bleibt, fondern die Tendenz verrät ſowohl in⸗ 
bezug auf den Staat wie aud die Kirche die konkreten Bedürf⸗ 
niſſe zu berüdfichtigen: daß er eine unter den gegebenen Umftänden 
mögliche Verfaſſung will, deutet er mehr als einmal an, fo inbezug 
auf die Trage, ob Monarchie, ob eine andere Verfaſſung im Staat 
wie in der Kirche vorzuziehen jei. 


2. Gegenüber der bisherigen Entwidelung ift dieſe Anerkennung 
der Selbftändigkeit de8 Staates möglich, weil er zugleich die Auf> 
gabe der Kirche auf die spiritualia einfchränft und ihr weſentlich 
die Pflege der Frömmigkeit zufchreibt, diefem Intereſſe ihre Ver⸗ 
faffung dienftbar macht, alles Rechtliche daher mefentlich nur ale 
Mittel für den geiftlichen Zweck betrachtet und eben daher die Juris⸗ 
diftion der Kirche in ber Weife befchneidet, daß SKollifionen mit bem 
Staate vermieden werden können, weil die Kirche mit ihrer juris- 
dictio nirgend mehr in das ftaatliche Gebiet, die temporalia und 
die vis coactiva eingreift. 


3. Diefe Trennung von Staat und Kirche will er aber doch 
nicht zu einer vollen Scheidung werden laffen. In den Gebieten, 
wo Staat und Kirche zufammentreffen, inbetreff der Jurisdiktion, 
inbezug auf das Kirchenvermögen, ſucht er den Einfluß des Staates 
auf die Kirche aufrecht zu erhalten, fo weit es ſich hier um das 
Recht handelt, wie er anderfeitS aud) anerkennt, daß die Vertreter 
des Staates in spiritualibus den Weifungen der Kirche, wenn fie 
Släubige find, zu folgen haben, was freilich nicht das weltliche 
Regiment betrifft. Ebenſo ſucht er in der Ehe dem Staat und 
der Kirche, jedem das Seine zu Überweifen. 

Theol. Stud. Jahrg. 1886. 46 


716 Dorner 


Auf der anderen Seite hat er freilich nicht völlig die Ver» 
mifhung beider Gebiete ferngehalten. Denn wenn er auch die 
Selbftändigfeit des Staates infofern anerkennt, als er die Berech—⸗ 
tigung zur Staatslenkung durchaus nicht vom Glauben abhängig 
macht, fo vergegenwärtigt er fi) auf der andern Seite doch, daß 
es dasſelbe Volk fei, welches ſich ftaatlich und Firchlich organiftere. 
Diefen Gedanken aber verwendet er unter dem Drud anderweitiger 
BVorftellungen dazu, casualiter wieder in der bejchriebenen 
Weiſe Firchliche und ftaatliche Angelegenheiten zu vermijchen. Dieſes 
casualiter, das bei ihm fich geltend macht, droht alle Prinzipien 
wieder in Frage zu ftellen, hängt aber damit zufammen, daß er 
feine prinzipiell einheitliche Weltanfhauung hat und darum der 
Cafuiftit Raum giebt. 


4. Sein fittliches Ideal ift zwar im Mönchtum gegeben, alfo 
in ber Zurüdftellung des Weltlichen gegen das Geiftliche, wie ſich 
das ja auch im feiner Beftimmung des Verhältniſſes von Theo⸗ 
logie und PhHilofophie ausſpricht. So kann das Weltlihe an dem 
ſittlichen Ideal gemeffen doc nur als etwas Lintergeordneted anges 
fehen werden. Aber anderfeits geht Occam doch fomeit, die Selb» 
ftändigfeit des Weltlichen völlig anzuerkennen. Aus diefer dop⸗ 
pelten Betrachtungsweife muß fih für die Ethik ein Gebiet auf- 
thun, das der Kafuiftit ausgefegt ift, und man kann fich nicht 
wundern, wenn das bei Decam in der befchriebenen Weife hervor» 
tritt. Doc iſt bei ihm die Einfiht in die Selbftändigfeit der 
weltlichen Gebiete foweit vorgejchritten, daß felbft da, wo er ca- 
sualiter den Dualismus zwifchen Weltlihem und Geiftlichem 
durh Vermiſchung beider Gebiete aufheben will, er doch nicht 
völlig feine Anficht von dem höheren Wert des geiftlichen Lebens 
durchführt, vielmehr auch hier ebenfo den Staat in die firchlichen 
Verhältniffe eingreifen läßt, wie umgekehrt die Kirche in die ſtaat⸗ 
lihen. Das gefchieht aber zugleich deshalb, weil er das höhere 
geistliche Leben auch nicht als ein fpezififch Kirchliches faßt, fondern 
mehr als Sache des einzelnen anfieht, feinem Nommalismus ent⸗ 
fprechend, eben daher weniger das kirchliche Leben als Tirchliches 
ale das höhere Leben auffaßt, als vielmehr das Leben in der 


Das Berhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 117 


Zurückgezogenheit von der Welt überhaupt, auch von ber größeren 
organifierten kirchlichen Gemeinſchaft. So kann feine Höherfchägung 
des geiftlichen Gebietes gegenüber dem Weltlichen inbezug auf das 
Verhältnis von Kirche und Staat nur noch fo viel wirken, daß er 
casualiter fomohl die Kirche dem Staat übergeordnet fein Täßt, 
wie anderfeitS den Staat kirchliche Angelegenheiten beforgen läßt, 
wodurch derfelbe doch auch felbjt in gewiſſem Sinne casualiter 
einen geiftlichen Charakter gewinnt. Es ift das Verdienft der Ne» 
formation, daß fie da8, was Dccam von feiner Kafuiftit abge- 
fehen beabfichtigte, prinzipiell durchführen konnte, wenn fie freilich 
in concreto aud wieder in byzantinifche Abwege teilweife geriet. 
Diefe find aber bei ihr Inkonſequenzen und Nachwirkungen ber 
vorhergegangenen Zeit, während bei Decam bie Unflarheit in ber 
prinzipiellen Anſchauung eine konſequente Durchführung feiner Ten- 
denz Weltliches und Geiftliches zu trennen unmöglich madte. Die 
Neformation erfannte die Berechtigung der weltlichen Gebiete als 
fittlficder Größen prinzipiell an. Sie kannte fein mönchiſches Ideal. 
Ehen daher konnte fie rüchaltlos die Stellung des Staates ans» 
ertennen, ja mußte es thun, dem Srundfage gemäß, daß die rechte 
Frömmigkeit ihren fittlichen Einfluß darin zu zeigen babe, daß 
man imftande fei, die weltlichen Berufe auf die rechte Weife, d. h. 
fo zu erfüllen, daB diefelben als gottgewollte Aufgabe erfaßt, 
und ihrer Eigentimlichkeit entprechend behandelt werden. Weil fie 
ein einheitliches Prinzip hat, das nicht fittliche Thätigkeit in ber 
Welt und Frömmigkeit auseinanderreißt, fondern die Frömmigkeit 
zum Fundamente einer Sittlichfeit macht, welche die weltlichen Be⸗ 
rufe ihree Art nad erfüllt, ift hier prinzipiell die Kaſuiſtik aus⸗ 
geichloffen. Deshalb konnte auch die reformatorifche Anfchauung 
eine volle Würdigung des Staates erjt möglich machen und feine 
Selbftändigkeit rüchaltlos anerkennen ohne kaſuiſtiſche Klauſeln. 
Und diefe Auffafjung hat fih in der weiteren Entwidelung mit 
fteigender Konjequenz geltend gemacht und in der ftaatlichen Geſetz⸗ 
gebung wie in der proteftantifhen Ethik fi immer Harer heraus⸗ 
gearbeitet. Man könnte den Unterfchied von Occam aud) fo firieren: 
Oeccam ertennt die Selbftändigfeit des Staates an, teild weil er 


Das Weltliche vom Geiftlichen trennt, teils weil er die Kirche als 
46* 


718 Dorner 


organijierte Hierarchie nicht hochſchaätzt, ſondern mehr auf dus 
religidje Bedürfnis des einzelnen fiebt. Es fehlt ihm die poji- 
tive Bereinigung von Frömmigkleit und weltlicher Ethik; hier iſt 
vielmehr bei ihm noch das Möngsideal wirkſam. Die NRefor 
mation behauptet prinzipiell bie Vereinigung der Frömmigkeit mit 
der weltlichen Ethik und kann darum dem Staate feine felbftändige 
Stellung geben, ohne daß die Frömmigkeit hindert, die vielmehr 
gerade den Antrieb enthält, die meltlihen Berufe ihrer Eigen: 
art entfprehend durchzuführen. 


5. Bon befonderer Wichtigkeit ift für Occam der Grundſatz, 
daß ſowohl der Staat wie bie Kirche Vollsgemeinfchaft fei, die 
Verbindung von einzelnen zu einem Ganzen. Und wenn man 
auch anerkennen muß, daß er inhaltlih für den Staat das Wohl 
des Volles, d. H. aller einzelnen, für die Kirche die rechte Pflege 
des Glaubens ale Aufgabe anfieht, fo verkündet er doch prinzipiell 
angefehen dag Recht der Revolution in Staat und Kirche, falls 
die Leitenden ihrer Pflicht nicht nadhlommmen. Gegenüber der ob. 
jeftiven Autorität des Ganzen oder feiner Vertreter, gegenüber der 
formellen Autorität des Amtes betont Occam das Recht der ein 
zelnen an die Güter, welche der Staat und die Kirche pflegen 
folen, fo ſehr, daß er gegen die Auflehnung wider die Autorität 
im. Intereſſe der Sade nichts einzuwenden hat. Fragt man, 
woran ber einzelne einen Maßſtab habe für das, was der Gemein 
ſchaft ſchädlich oder nützlich fei, jo giebt er in kirchlichen Dingen den 
Maßſtab der Schrift an, und es ijt nicht zu verfennen, daß er bie 
in dem Angriffe auf die Unfehlbarkeit nicht nur des Papftes fon 
bern auch der Konzilien und des ganzen Klerus als ein Vorläufer 
Luthers zu betrachten ift, Allein auf dee andern Seite ift nidt 
zu überfehen, daß ihm das Slaubensprinzip Luthers fehlt, von 
dem aus innerlih der Willfür vorgeheugt wird; er bleibt doch 
weientlih im autoritatinen. Gebiet ſtehen, indem er im bejten Fall 
auf Berufung. auf die. Schriftautorität refurriert, jedoch ohne daß 
das Subjekt fih den Glaubensinhalt prinzipiell zu eigen machte 
und innere eigene Gewißheit und Glaubenserfahrung hätte. Da 
ihm aber diejes inhaltliche Prinzip fehlt, fo kann er auch zu einer 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Occam. 9 


vollen Gewißheit nicht kommen, und bie Erfchütterung ber kirch⸗ 
fichen Autorität at fein Gegengewicht an dem als wahr erfahrenen 
Staubensinhalt. So fommt er über ein Schmanfen zwifchen Autos 
rität, allerdings weniger der Kirche, als der Schrift, und Stepfts 
prinzipiell kauum hinaus. Denn wenn ee auch für Laien für ben 
Hall der Härefe ber kirchlichen Leiter in einzelnen Füllen den Rück 
gang anf die Autorität der Schrift empfiehlt, fo Hat er doch 
ſelbſt Inhaltlich von biefem Prinzip feinen Gebrauch gemacht, um 
bie mittelalterliche Dogmatik zu erneuern. Und wenn man in beit 
compendium errorum und dem opus nonaginta Dierum lieft, 
was alles ihm als häretifhe Meinung gilt, fo wird deutlich, 
wie wenig er in concreto einen primzipiellen inhaltlihen Maß» 
ftab dafiir anzugeben weiß, was als Hörefe zu betrachten fei. 
Daß aber da ſchließlich die Willkür Plag greift, wo die Autorität 
nicht mehr beitimmt, ift kaum zu vermeiden; einen Standpımft 
zu finden, wo Freiheit und Autorität zur Einheit verbunden find, 
gelingt ihm micht, fo fehr er danach ftrebt, die Freiheit gegen 
Tyrannei zu ſchützen und die Willkür durch Berufung auf die 
Schriftautorität zu befeitigen. Wenn es daher gerade bei feinem 
Ideal der Vollkommenheit, das eine nicht für Alle erreichbare, bevor. 
zugte Heiligkeit enthält, eine tiefgehende Einſicht ift, dag er auf 
den allen gemeinfamen Glauben, den jeder aus der Schrift er» 
kennen könne, ein jo großes Gewicht legt, jo gelingt es ihm doch 
nicht, der Willfür des Verſtündniſſes der Schrift vorzubeugen, weil 
er nicht ein zentrales Prinzip findet, deſſen Wahrheit der einzelne 
inne wird, an dem er auch einen prinzipiellen Maßitab für bie 
Beurteilung der Härefe hat. Giebt es nicht eine folche zentrale 
Slaubenserfahrung, fo kann die Schrift nur zu Leicht willkürlich 
als Autorität verwendet werden, und es giebt dann für das Laien⸗ 
urteil, deffen Berechtigung er anerkennt, doch kaum ein anderes 
Mittel Hiergegen als eine autoritative Auslegung der Schrift von» 
feiten der Kirche. So kann man alfo nicht jagen, baß es ihm ges 
tungen ſei, bei feiner Anerkennung des Rechts des einzelnen in 
Olaubensfachen mitzuwirken, die Kirche vor Wuflöfung zu bes 
wahren, bie von der Willkur der einzelnen und ihrer Verwendung 
der Schrift droßt. 


720 Dorner 


Noch fataler aber, wie wir gefehen haben, fteht es mit der 
Autorität des Staates, wenn prinzipiell jeder ſoll Widerftand 
leiften tönnen, wenn er glaubt, daß das Gemeinwohl gefchädigt 
wird. Das ift die Revolution in Permanenz, und es verdient 
wiederholt darauf Hingewiefen zu werden, daß Occam, indem er 
von den einzelnen ausgeht und den Staat auf ihren Vertrag ſtützt, 
weit eher die Revolution begünftigt, als es die Neformation thut, 
welche den Gehorſam gegen die Obrigkeit geltend gemacht hat. Und 
wie in der Kirche im Slaubensinhalt, ber erfahren wird, allein 
eine baltbare prinzipielle Schranfe gegen die Wilffür gefunden 
werden kann, fo ift es auch ähnlih im Staat. Nah Occam 
ftammt die Obrigkeit vom Volfe und Hat in deffen Auftrage für 
das Gemeinwohl zu forgen. Nur mittelbar ftammt fie von Gott. 
Die Reformation dagegen macht geltend, daß der Beruf der Obrig⸗ 
feit, daß ihre Aufgabe eine göttlich gewollte jet, und der Inhalt 
biefer Aufgabe iſt fittlih notwendig und gottgewollt und infofern 
über die Willkür erhaben. Bei Oecam dagegen ift in dem Be⸗ 
griff des Rechtes, der mit dem Gemeinwohl verbunden ift, nicht 
genügend der Willfür des Subjekts vorgebeugt. Die Heiligkeit 
bes Rechts ift nicht genug gewahrt, wenn dasfelbe jo wie bei 
Occam mit dem Wohl in Beziehung gebracht wird; es ift bier 
ein eudämoniftifcher Zug, der bie Willfür entbinden Tann; es wird 
nicht energifch genug darauf bingewiefen, daB das Recht das uns 
veräußerlihe Fundament alles Sittlichen ift; und diefe Unter» 
ſchätzung des Rechtes hängt offenbar mit feinem Dualismus zwis 
Shen dem Weltlichen und dem Geiftlihen, mit feinem mönchiſchen 
Ideal zujammen. Es Klingt doch noch etwas von der alten An⸗ 
fiht bei ihm nach, daß die Rechtsordnung de8 Staats es nur 
mit der terrena felicitas zu thun habe, die vom Ideal aus bes 
trachtet nur geringen Wert hat. Kurz weil die Reformation, ohne 
das Recht mit ber Sittlichfeit zu vermengen, die Notwendigkeit des 
Staates energifcher darauf fundamentiert, daß feine Aufgabe eine 
heilige, göttliche fei, darum Tann fie die Autorität ded Staates 
energifcher betonen und ihn felbit energifcher gegen die Willkür 
fügen, welche feine Aufgabe nicht würdigt, jo daß immer bie 
Staatsaufgabe, die Staatsidee, welche durch die Obrigkeit vertreten 


Das Verhältnis von Kirche und Staat nad) Dccam. 721 


ift, vefpektiert werden, und der Reſpekt vor diefer Idee irgendiwie 
auch dann feinen Ausdrud finden muß, wenn man der Obrigfeit 
nit zuzuftimmen vermag !), während bei Occam der Rechtsbegriff 
durch den Begriff des Gefamtwohls eudämoniftifch tingiert und des» 
halb auch nicht vor dem fehädlichen Einfluß der Willkür gentigend 
geihügt tft und durch das mönchiſche deal immer wieder ges 
führdet wird. 


6. So fünnen wir wohl anerkennen, daß Occam, indem er 
dem Staat eine felbftändige Stellung neben der Kirche geben 
wollte, indem er dem Staate die Rechtspflege vor allem zufchrieb, 
indem er die Aufgabe der Kirche auf die spiritualia zu bejchränfen 
fudhte, indem er das Recht des einzelnen gegenüber den autorita- 
tiven Organen der Gemeinfchaft in Kirche und Staat betonte, in- 
dem er in feiner früheren Zeit die dee nationaler Staaten faßte, 
und auch in feiner fpäteren die dee nationaler Staaten mit der 
Idee des Kaifertums zu vereinen fuchte, ebenſo aber die Idee 
nationaler Kirchen ftreifte, indem er den Blick auf das Gebiet 
weltliher Sittlichkeit Tenfte, große Verdienfte um eine reifere Auf: 
fafjung des Verhältniffes von Staat und Kirche ſich erworben hat. 
Über wir dürfen darüber nicht vergeffen, daß ber prinzipielle Dua⸗ 
lismus feiner fittlichen Weltanfchauung zwifchen Geiftlihem und 
Weltlichem ihn teils zu einer Kaſuiſtik verführte, welche feine ur» 
fprünglihe Tendenz lähmte, teil8 ihm eine volle Schäßung des 
Wertes des Staates, die volle Erkenntnis der Heiligkeit feiner 
Aufgabe unmöglich machte, daß er ferner bei feiner Betonung des 
Rechts ber einzelnen, weil er noch nicht den Inhalt gefunden 
Hatte, der an Stelle der äußeren Autorität, innerlich die Wilffür 
des Subjelts zügelt, nicht völlig die Gefahr vermieden hat, die 
großen Gemeinfchaften von Staat und Kirche der Willfür der ein» 
zelnen Individuen preiszugeben, was erft gelingen Tonnte, wenn 
für die Kirche ein prinzipieller fittlich » veligiöfer Inhalt gefunden 


1) Wie fchon oben angedeutet, vede ich Hier von ber der Reformation zu 
grumde liegenden neuen prinzipiellen Auffaffung, nicht von der im einzelnen 
undollfommenen Ausführung. 


72 Dorner: Das Verhältnis von Kicche und Staat nach Occam. 


war, der das in fich freie Subjelt innerlich band durch ben 
Ernft eines wahrhaft proteftantiichen Gewiſſens, und wenn der 
Anhalt, die Aufgabe de8 Staates, feine Idee in ihrem vollen 
Werte, in ihrer ethifchen Notwendigkeit zum Bewußtſein gelommen 
war. 


Sedanfen una Bemerinngen. 





l. 
Über Heinrichs VIII. Eheicheidung. 
Aus Bugenhagens Handſchriften. 


Mitgeteilt von Lic. Vogt, 
Baftor in Weitenhagen. 





Die Bugenhagenmanujfripte der königlichen Bibliothek zu Ber⸗ 
lin (Manuscr. theoll. lat. Octav 40— 44) enthalten außer 
eigenen Ausarbeitungen Bugenhagens auch zahlreiche Excerpte und 
Abjchriften aus Büchern und Schriftftüden anderer Verfaffer über 
allerlei ragen, über die Bugenhagen fein Urteil abzugeben hatte 
oder ein folches fich felbft zu bilden für wichtig hielt. Da bie 
auf die Ehefcheidung Heinrichs VIII. bezüglihen (in Bd. 41, 
Blatt 89 bis 112 enthaltenen) bisher noch nicht benußt zu fein 
ſcheinen, ſei mir geftattet, das Wejentlichjte daraus hier mitzu- 
teilen. Wird auch die in den Biographieen der beteiligten Refor⸗ 
‚motoren, Melanchthon, Luther und Oflander von Schmidt, Köft- 
lin und Möller gegebene Darftellung durch das von Bugenhagen 
‚gebotene Material im wefentlichen nur beftätigt, jo mag letzteres 
doc immerhin dazu dienen, uns einen noch genaueren Einblid in 
‚die Stellung zu gewähren, welche die Reformatoren zu jener Frage 
einnahmen, wie in die gewiffenhafte Mühe, welche fie auf Beant- 
-wortung derjelben verwendeten. 

Wir unterfcheiden in Bugenhagens Aufzeichnungen: 1. ine 
Überficht der Belegftellen, mit welchen man englifcherfeits die Un⸗ 


126 Bogt 


güftigkeit der Ehe mit Katharina, und damit auch aller Erban- 
iprüche ihrer Tochter zu begründen fuchte (Bf. 103—106). 2. Das 
Gutachten Melanchthons vom Auguft 1531 (Bl. 89— 95) und 
Luthers vom 3. September (denn diefes Datum giebt Bugen- 
bagen (Bf. 95—101). 3. Zwei Briefe Oftanders: an Luther 
(31. 101. 102) und Melandthon (BL. 108—112) ohne Datum. 

Ich ftelle die Überficht Nr. 1 voran, obwohl fie im Manu⸗ 
ftript erft nad Nr. 2 folgt, und daher die Möglichkeit naheliegt, 
baß diejelbe erft zu den fpäteren Verhandlungen im Jahre 1535 
angefertigt if. Die Mehrzahl der dort angeführten Gründe wirb 
doch ſchon in den Gutachten Melanchthous und Lırflers von 1531 
berücfichtigt. 

Nr. 1 Hat die Überfchrift: Angli dicunt, hanc levitici pro- 
hibitionem de fratria non ducenda esse indispensabilem, 
testimonio octo universitatum, exaggeratione verborum legis, 
alia interpretatione Deuteronomii. 

Es wird zunähft aus dem einen Fall 1Kor. 5 gefolgert, 
daß Paulus ſämtliche Eheverbote Lev. 18 als unwandelbar 
fortbejtehend, und jede gegen diefelben geſchloſſene Ehe als Hureret 
bezeichne. Auch Johannis des Zäuferd Zeugnis gegen Herodes 
wird fo ausgelegt, als ob berfelbe jede Ehe mit der Gattin des 
Bruders, auch wenn lebterer fchon verftorben, als fündlich be» 
zeihne — mit Berufung auf Tertullion, welcher allerdings c. 
Marc. c. 34 fagt: Herodem adulterum pronuntians, etiam 
qui dimissam a viro duxerit, quo magis impietatem Hero- 
dis oneraret, qui non minus morte quam repudio di- 
missam a viro duxerit; et hoc, fratre habente ex illa filiam, 
et vel eo nomine illicite ex libidinis, non ex legis m- 
stinetu, — Ferner wird geltend gemacht, Gregor habe einem eng⸗ 
liſchen Biſchof aufgetragen, die Ehen zu trennen, welde, — wenn 
auch erſt nad dem Tode des Bruders, mit deſſen Gattin ein» 
gegangen feien, und gut geheißen, daß die Eheverbote des Leviticus 
aufrecht erhalten, aber auch bie Engländer nicht über bdiejelben 
hinaus befchwert würden. Es folgt Hinweis auf Konziliens- 
beichlüffe, wie das Toletanum II can. V (bei Bruns I, 209), 
welcher das Verbot ber DBerwandtenheirat Lev. 18, 6 mit aller 


Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 727. 


Strenge für die Chriften aufrecht erhält, bei Strafe mehrjähriger 
Exkommunikation, welche um fo länger währen foll, je näher ber 
VBermandtichaftsgrad geweien; das Agathense can. 61 (Bruns 
U, 158), welches die Ehe mit der Witwe des Bruders wie mit 
der Schweiter der Ehefrau ale Inceſt bezeichnet, und unbedingt 
Trennung derjelben fordert; — und daß Neocaesar. can. 2 
(Br. I, 71) Tuvn da yıuncar dvo adeAyois, EEudeiodn 
use Jasaron. — Willeff fei verdammt, auch meil er biefe 
Eheverbote nur als menfchliche Geſetze von Moſes bezeichnet babe, 
und wird danach der. Schluß gezogen: Ex his omnibus videtur 
publicus ab initio ecclesiae consensus et varius legis levi- 
ticae intelleetus, quod nullus, ne papa quidem dispensare 
potest contra hanc probibitionem juris divini et naturalis. 
Es folgen Stellen aus Kirchenlehrern, welche die Deut. 25, 5 
gebotene (oder geftattete) Leviratsehe als einen für die Chriften 
nicht gültigen Ausnahmefall bezeichnen. Chryſoſtomus hom. 51 
behaupte, der Fall mit den fieben Ehemännern einer Frau Matth. 22 
fei nur von den Sadducäern erfunden. — Baſilins im Briefe an 
Divdor verwerfe durchaus die Ehe mit der Schweiter der verftous 
benen Frau. „Was das Gefeh geftatte, geftatte es nur denen, 
die unter dem Geſetz feien, nicht uns.“ — Dann eine Stelle auß 
Ambrofins 1. VIII ep. 60, melde fid) auch gegen foldhe Ders 
wandtenheiraten wendet, die im mofaifchen Gefeß nicht verboten 
fein. Dann namentli Augustinus: c. Faustum 32 c. 8 u. 20, 
wonach, jenes. Geſetz von den Chriften nur geiftlich erfüllt werde, 
indem unter dem verftorbenen Bruder Chriftus, unter dem ihm 
erwecten Samen die durch Verfündigung des Evangelii hinzu⸗ 
gewonnenen Gläubigen verftanden wird; und eine ähnliche Stelle 
aus. Anſelm in epistola ad quendam, welche nod) bejonders gel- 
tend. madıt, daB die bei den Yuden — mie Abraham, Othniel, 
Thamar — aus bejonderen Gründen, namentlih zur Verhütung 
der Vermiſchung mit heidnifchen Völkern, geftattet geweienen Aus⸗ 
nahmen für die Chriften nicht maßgebend feien, denn Christian 
pietas nihil vult honestum judicare, quod faciat contra ho- 
nestatem naturae. Radulphus Flaviacensis zu Lev. 18 und 
Hugo de Sto Bictore lib. II de sacramentis zeigen, wie die an» 





728 Bogt 


fangs weiter geftedten Grenzen fpäter von Gott, um die Tugend 
der Enthaltjamkeit zu befördern nnd die maritalis licentia zu 
zügeln, enger gezogen fein. Während aber erfterer ganz allgemein 
binzufügt: Post divinum autem interdictum, quisquis hujus- 
modi nuptias inire praesumpserit, praevaricator factus, cri- 
men incestus incurrit, will feßterer doch zwifchen ſolchen Fällen 
unterjcheiden, wo ſchon der horror naturae bie Ehe durchaus 
habe verbieten müfjen, und folchen, in quibus ratio ignorantiae 
excusationem admittit, und in leßteren ein matrimonium se- 
cundum judiecium ecclesiae legitime factum nicht aufgelöft 
wiffen. Hildebert Cenomanenſis endlich und Ivo dehnen das Ehe» 
verbot von der Witwe auch auf die Verlobte des Bruders aus — 
alſo auch auf ben Fall, wo gar fein ehelicher Umgang ftattge 
funden, nnd wird in dem Valle, daß einer mit der Schweiter 
feiner Braut durch außerehelichen Umgang ſich fleifchlich vergangen, 
die Ehe mit beiden überhaupt, oder doch usque ad tempus per- 
actae poenitentiae für unzuläffig erflärt. Es folgt ein Aus 
ſpruch Gregors: Ex incestuoso concubitu proles legitima non 
succrescit, und ein Sag aus Thomas summa p. Ill qu. 59 
art. 3, wonach von Ungläubigen gefchloffene Ehen nach deren Bes 
fehrung, wenn fie gegen das göttliche Geſetz Lev. 18 find, unbe» 
dingt aufgelöft werden, wenn fie nur gegen weitergehende kirchliche 
Verbote verjtoßen, beftehen bleiben follen. 

Das Gutachten Melanchthons Hat bei Bugenhagen bie 
Ueberfhrift: Determinatio Doctoris Philippi Melanchthonis in 
caussa serenissimi regis Anglorum ad doctorem Angelum — 
mense Augusto anni 1531, und den Schlußſatz: Haec scripsi 
ego Philippus Melanchthon simplici animo, nihil spectans 
nisi ut alienae conscientiae in hac causa dubitanti consu- 
lerem, et offero me de tota re, si quis postulabit, copio- 
sius dieturum esse. Der Text ftimmt nur bis zur Mitte der 
Seite 522 mit dem im Corp. Ref. II, 520—27 gegebenen wört⸗ 
lich überein; von da ift wohl noch Übereinjtimmung in Gedanken» 
gang und im Wortlaut mander Süße; die Berfchiedenheit in der 
Faſſung ift aber eine fo überwiegende, daß der eine Text nur als 
vom Berfaffer felbft vorgenommene Umarbeitung de8 andern an⸗ 


Über Heinrichs VIIL Chefcheidung. 729. 


gefehen werden kann — wie ein gleiches auch wohl von den beiden 
Formen des Quthergutachtens (bei deWette IV, ©. 295 und 
- 300) anzunehmen if. Sachlich dürfte etwa nur der Unterfchied 
zu bemerfen fein, daß im Bugenhagenſchen Text die Gleichſtellung 
der bürgerlichen Geſetzgebung mit der mofaifchen durch angeführte 
Beifpiele noch etwas fchärfer hervorgehoben, anberfeit8 das der 
Katharina und ihrer Tochter durch die Scheidung gefchehende Un⸗ 
recht noch etwas ftärfer betont wird; allenfall8 möchte auch bei 
Bugenhagen die Berechtigung der Polygamie um ein Geringes 
weniger zuverfichtlich behauptet fein. Welcher von beiden Texten 
etwa als früherer Entwurf, welcher als fpätere Ausarbeitung ans 
zufehen fei, wage ich nicht zu entfcheiden. An fich Liegt freilich die- 
Annahme nahe, daß die definitive Textgeſtaltung die befanntere ge⸗ 
worden, und mag allerdings die des C. R. als die abgejchliffenere, 
durch Ausfcheidung des Entbehrlichen abgerundetere erfcheinen. 
Einige offenbare Schreibfehler der vom C. R. benugten Quellen 
dürften einfach nach Bugenhagen zu korrigieren fein. So jind- 
©. 521 3. 9 nad viventis aus Bugenhagen einzufchalten die 
Worte tamen contendunt alii loqui eam in genere de uxore- 
fratris et terribiliter u. f. f. — Zelle 4. v. u. lies illos ftatt 
alios. — ©. 523, 3. 1 talis ft. satis. — ©. 526, 3.5 v.u. 
Gregorius ft. Georgio. — Als eine Probe ber Zertgeftalt bei 
Bugenhagen will ich die den Zeilen 4—11 auf ©. 523 de8 C. R. 
entfprechende Stelle bier folgen laſſen, welche am meilten Eigen- 
tümliches bieten dürfte, während die übrigen Abweichungen, obwohl 
an Umfang nicht gering, doch mehr nur die Anordnung des 
Stoffes und die ftiliftiiche Faffung betreffen. Es heißt dort: Alia. 
vero multa, quae sunt mutabilia, non sunt proprie juris 
naturalis. Id enim est ipsa natura immutabilis. Et haec 
sunt in potestate magistratus, qui tamen probabiles ratio-- 
nes ex natura sumptas sequi debet. Hujusmodi. sunt dissi- 
milia instituta gentium in successionibus. Apud Hebraeos- 
primogenitus habebat duas partes patrimonii apud nos se- 
cus fit. Et hujusmodi politica infinita sunt. In his scien- 
dum est, maximam potestatem magistratus esse, quia Deus 
subjecit omnia talia potestati. Duodecim tabulae debitoris. 


70 Bogt 


Corpus, qui non esset solvendo, jubebant discerpi. Hoc füit 
justum propter autoritatem magistratus, etiamsi videtur du- 
rius esse. Apud Persas leve mendacium capitale fuit. Talia 
multa justa fuerunt propter autoritatem magistratus, quae 
debet fieri maxima. Et Deus approbat politicus ordina- 
tiones etiam dissimiles. In hoc genere sunt prohibitiones 
quorundam graduum longius distantium, ut prohibitio in 
quarto, item in tertio gradu. Sunt et hae prohibitiones 
mutabiles patrui et neptis, uxoris fratris et leviri. Hae 
non sunt juris naturalis, sunt enim mutabils. Et quidem 
exempla sanctorum ostendunt, mutari posse. Es folgen di 
S. 523, 3. 11—34 angeführten Beifpiele in etwas ambderer 
Yaffung und Reihenfolge. Lie vielleigt Melanchthon die obigen 
Deifpiele des Bugenhagenſchen Textes in zweiter Ausarbeitung 
fort, weil einige daran Anftoß geben fonnte? — Der Paſſus 
betr. die Bolygamie lautet: Disputatur hic a nonnullis de 
successione et de utilitate publica,. utrum propter succes 
sionem et utilitatem publicam rex Angliae debeat facere 
divortium. Satis constat, hanc causam non suffieere ad di 
rimendum conjugium. Ac fortasse potest rex alio etiam 
modo prospicere regno. Habet nobilissimam filiam nee 
inusitatum est succedere generos; certe conscientiam suam 
et famam pluris facere debet quam regnum. Sed sunt 
fortasse causae privatae et publicae quare expediat novum 
conjugium regi. Quod si ita est, potest consuli regi sine 
infamia prioris conjugii. Polygamia, hoc est habere plures 
uxores simul, nec divino, nec humano jure prohibitum est. 
Habet enim exempla patrum, Abrahae, David et aliorum 
sanctorum. Habet et recentia exempla. Extat enim historia 
Valentiniaui imperatoris, cujus liberi ex duabus uxoribus in 
regno successerunt. Est autem prohibita polygamia jure 
humano. Neque ego fero novas leges, negue velim in ge 
nere concedi polygamiam. (uare si quas graves Causa 
habet rex, vel propter conscientiam vel propter regnum, 
petat a Romano pontifice dispensationem, cui ut antea dixi 
quodam hominum consensu permittantur negotia judicialis, 





Über Heinrichs VIII. Ehefcheidung. 731 


non jure divino. Et hic potest ea, quae sunt humani et 
positivi juris his negotiis relaxare. Legimus interdum con- 
cessisse quosdam pontifices polygamiam, ut concessit Gre- 
gorius cuidam in Anglia. Existimo igitur Romae dispen- 
sationem impetrari posse. Si autem reeusabit dispensare 
papa, et rex habet causam necessitatis propter conscientiam, 
steut aliarum rerum politiearum et legum in isto regno 
moderatio penes regem est, quia habet summam autorita- 
tem ferendarum et tollendarum et dispensandarum legum, 
ita penes regem est hujus etiam legis moderatio, quia est 
res polities et mere juris positivi humani, etsi papa ad 
se revocat qua ex re imperitis fit opinio, quod jure divino 
prohibeatur polygamia u. f. f. wie ©. R. 527. 

Die Abſchrift des Lutherbriefes Hat bei Bugenhagen 
dte Überfchrift: Venerabili in Christo fratri Domino Antonio 
Anglo theologiae doctori Martinus Luther manu propria. 
Vitebergae. Die Zeztgeftalt iſt diefelbe, wie die bei de Wette 
IV, 300ff. unter B gegebene, giebt aber einige wefentliche Berich⸗ 
tigungen gegen die bort befolgten Lesarten. Die wichtigfte ift, daß 
©. 306 3. 4 v. u. hinter eomsentiat der wichtige Sag fehlt: 
Potius id permittat, ut rex et alteram reginam ducat 
exemplo patrum, qui multas uxores habuerunt etiam ante 
legem, sed se ipsam non probet a regio conjugio et nomine 
Anglicae reginae exeludi. Sachlich dusfelbe findet fih in A 
©. 296 3. 1-3 — doch fehlt die dort voramsgehende Erör⸗ 
terung über den geltend gemachten Wunſch nad männlicher Nad- 
kommenſchaft. Die Stelle S. 301 3.10 v. u. hat bei de Wette 
durch Verftümmelung ganz verfehrte Faffung erhalten. Nah Bu⸗ 
genhagen tft finnrichtig zu lefen qua eluderent legem Deuter. 
AXV. Cur non etiam invenerunt glossam qua 
eluderent legem Lev. XVII? An non potuit ulla 
inveniri? Sed illic voluerunt hic noluerunt glossam 
habere. — Es fei geftattet, bier auch die übrigen Tertabweichungen 
folgen zu Laffen, mit Ausnahme einiger, für den Sinn bedeutunge- 
loſer Umftellungen von Worten, mit welchen e8 Bugenhagen viel- 
fercht nicht immer peinlic; genau nahm. Einige — an wel⸗ 

Theol. Stud. Jahrg. 1886. 


132 Bogt 


chen Walchs deutfcher Text (XXI 1386) mit Bugenhagen über- 
einftimmt, werde ich mit WS bezeihnen. ©. 301, Anm. 7 Tieft 
Bugenhagen si wie Budd. 3. 2 dv. u. vere moralem. — 
S. 302 3. 2 läßt Bugenhagen aus adquaerenda bona.. — 
3. 8 haereditatibus für heredibus. — 3. 19 hinter istae 
leges hat Bugenhagen nody ex directo. — 3. 10 v. u. debe- 
bant ft. debent. — 3. 7 v. u. autoritate ft. autoritatem. — 

©. 303 3. 3 v. o. lied: urgere.. Dann, nad Abfag Ul- 
terius. — So auch Wald. — 3. 12 ift nach Bugenhagen zu 
fefen de novo (ut certe posset ex certis causis) aliquot ce- 
remonias Mosi jam abrogatas et liberas constituere, tunc 
vere ligarent istae ceremoniae non quidem autoritate M. — 
3. 18 v. u. seu civilis (j. Wald) Röm. 13. — 3.16 v. u. 
legi Deut. ft. legem. — 3. 15 v. u. Binter leges hat Bugen⸗ 
bagen nod) in speciem. — 3.7. u. explicat ft. exprimit, — 
Anm. 1 non hat Bugenhagen. — 

S. 304 3. 16 v. u. lies ita ut ubi opus fuerit cogat 
eum cum suis legibus feriari vgl, Wald. — 3. 13 v. u. 
agantur ft. regnentur. — 3. 10 v. u. Hinter voluntate fehlt 
bei de ®. et lege. — 3.8 v. u. lies vel ft. aut. — 3.6 
v. u. aliquo casu ft. in aliqua causa — 3. 4 v. u. fehlt bei 
de Wette Chaleb, was auh Wald Hat. — 

©. 305 3. 6 hinter mortuum Bugenhagen, Wald) nobis. — 
3. 8 3.8. (ut legislatore) ftatt et legislatorem. — 3. 9 


hinter probetur bHinzuzufügen prorsus. — 3. 10 I. servivit 
ille sane politiae. — 3. 16 [. (prohibitam duci) repudiare 
ftatt des finnlofen ducere et repudiare. — 3. 19 I. Primum 


constat non esse neque jure divino neque naturali, sed 
mere positivo prohibitam. — 3. 21 Hinter Moses fehlt ut 
dixi. — 3. 22 etiam ft. enim. — 3. 16 v. u. sorores ft. 
uxores. 

Am 6. Februar 1536 läßt Melanchthon dur Veit Dietrich 
an Oſiander die Bitte richten, er möge ihm die Auslegung der 
jüdifchen Lehrer über die Frage jchreiben, ob der Leibliche Bruder 
die Witwe feines Bruders habe zur Ehe nehmen müfjen, und 
wiederholt den Auftrag am neunten. — Im erfteren Brief giebt 





Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 133 


er zugleich an, den Brief Ofianders an Luther über diefe Ange 
(egenheit fchon gelejen zu Haben. Am 9. März trägt er Dietrich 
auf, Ofiander für feine literae eruditionis et amoris plenae 
Dank zu fagen C. R. II, 39 und 44. — Es ift wohl anzu⸗ 
nehmen, daß wir in Bugenhagens Abfchrift die in Rede ftehenden 
Briefe vor uns haben. Doch muß Melanchthon feine Bitte gegen 
Dfiander jelbft noch genauer formuliert haben. Denn leßterer 
giebt feinen Brief als Antwort auf drei ganz beftimmte Fragen 
Melanchthons. — Erftens habe Melanchthon gefragt, ob jüdifche 
Rabbinen das Eheverbot Lev. 18 nur vom lebenden Bruder ver- 
ftänden? — Oſiander antwortet: Kein Jude Habe je bezweifelt, 
daß die Witwe des DVerftorbenen ebenfo ausgejchloffen fei, wie die 
Trau des Lebenden. Die Auffaffung fei fo einhellig, daß es über- 
flüffig ſei, Zeugniffe zu fammeln — doch wolle er zu befjerer 
Vergewiſſerung die Worte des Maimonides berfegen, welcher im 
2. Kapitel des 5. Buches feiner Auslegung des gefamten Mofai- 
chen Geſetzes erkläre: uxor patris ejus (intellige uniuscujus- 
que viri) et uxor filii ejus, et uxor fratris ejus, et uxor 
fratris patris ejus: hae quatuor prohibitae sunt ei perpetuo 
tam si sunt desponsatae tantum, quam si fuerint ductae, 
tam repudiatae quam non repudiatae, tam in vita marito- 
rum quam post mortem eorum, excepta uxore fratris qui 
non reliquit semen. — Die zweite Trage: ob fie das Gefek 
im Leviticus fo verftcehe, daß das Gefe im Deuteronomium eine 
Ausnahme bedinge? beantwortet Dflander fo: Leviticus an ſich 
enthalte ein ausnahmlofes Verbot, fo daß die bis dahin beftchende, 
durch das DBeifpiel der Thamar erwiefene Erlaubnis und Sitte 
der Leviratsehe dadurch ausgeſchloſſen wäre, wenn das Geſetz 
Deut. 25 fie nicht geſtattete. Übrigens enthalte letzteres nicht ſo⸗ 
wohl ein Gebot, wie eine Erlaubnis — da ja auch die Wahl der 
discalceatio gelaffen jet — und fei die Erlaubnis nur auf den 
dort ausdrüdlih angeführten Fall zu befchränfen. — Die dritte 
Trage: ob Deut. 25 vom leiblichen Bruder verftanden werde? 
bejaht Ofiahder unummwunden, und macht zur Erklärung, weshalb 
der Stiefbruber nicht auch genannt werde, darauf aufmerffam, daß 


es fih um Erhaltung des Erbes handle, Söhne verfchiedener 
47* 


- 


TA Bogt 


Büter aber verfchiedene Erbgrundftücde zu Haben pflegten. Tim zu 
verdeutlichen, wie eng die vom Deuteron. gegebene Erlaubnis bes 
grenzt werde, führt er ſodaun Stellen aus dem talmudiſchen 
Traktat de fratria an, wonach die Leviratsche nicht nur mit der 
rechtmäßigen Witwe, fondern auch mit allen Kebsweibern des 
Bruders ausgefchloffen fei, wenn eine derfelben in irgenbeinem 
der angeführten Berwandtichaftsgrabe als Tochter, Stieftochter, 
Schweftertochter, Mutterfchwefter u. dgl. mit dem Überlebenden ge- 
ftanden habe; ferner werm der DBerftorbene nur irgendein lebendes 
oder verftorbenes, eheliches oder ımeheliches, ja in Blutſchande er 
zeugtes Kind gehabt habe; ferner dag immer nur einem Bruder, 
mit einer Witwe eines Verftorbenen die Ehe geftettet fein. f. f. — 
Dfiander fließt Bl. 110 mit folgenden eigenen Bemerkungen: 
Haec omnia, mi Philippe, quae mode effudi, copiosissime 
tractantur in commentarüs Thalmudiecis, ut ei, qui vel me- 
diocriter in eis versetur, dubium esse nullo mode possit, 
quin Judaei omnes in hac causa endem sentiant et dicant; 
recte an secus, alia quaestio est. Neque vero id eo dieo, 
quod putem eos errare, sed ut tester, me ad quaestiones 
tuas tantum respondere. Ceterum quod Angli legem levi- 
ticam indispensabilem putant, vos autem dispensabilem du- 
citis, non miror. Et quanquam deo gratias ago, quod illas 
duas leges sanis oculis inspicitis, etiamsi hanc ulkimam 
quaestionem inexplicatam relinquatis; tamen velim, non tam 
regis causa, cui certe propter insigne pietatis studium op- 
time volo, quam totius ecclesiae, quae propius me angit, 
ut eam quoque diligenter excuteretis, nec pateremini vobis 
obstare illustrium personarum nebulas atque nubes. Nam 
rustici nostri etiam didicerimt istam vestram rationem (post 
factum), ut sponsalibus incestis addant stupra, praefractari (?) 
sceleribus eas leges, quas ratione non possımt. Et esto, 
sint dispensabiles istae leges, quis habet eam potestatem’ 
magistratus? quis, cum ille esset idolatra? — Episcopi? 
quis postea transtulit? quamobrem habeant episcopi? om- 
nesne? — et pro libidine? — in certis casibus? — in qui- 
bus? — quas ob causas? quibus judicibus? quibus test- 








Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 135 


bus? quomodo concordabunt ecclesiae? habeat unus, quis? — 
quo jure et quorsum valebit? an ut sit qui possit facere 
ne sit peccatum quod est peccatum, ut imutilis fiat sanguis 
Christi, an ut liceat carni, a quo abstracturus erat spiritus 
sanetus, ut evacuetur regnum Christi? — Non haec «0 
scribo quod reprehendam vestrum consilium, cujus autor 
etiam fui, sed ut in caritate admoneam, etiam atque etiam 
consideretis, quid agatis. Non obscurum erit hoc judiecium 
vestrum sed erumpet, patieturque judices omnes homines 
bonos, malos, pios, impios. Quo magis operam dare vos 
opus ut incorrupte judicetis in theatro totius orbis publice 
collocati. Bene vale et nostri boni consule. 

Das Bruchſftück aus dem Brief an Luther, welches Bugen⸗ 
Hagen verzeichnet, beginnt mit dem Sat: Ego persuasissimus 
sum, esse quandam legem divinam, contra quam quisquis 
homo, quocumgue tempore et loco absque certo jussu aut 
permissu dei faciat, peccet. Daß als ein ſolches göttliches 
Geſetz das Eheverbot, au mit der Witwe des Bruders anzufehen 
fei, findet Ofiander dadurch angezeigt, daß derartige Ehen Lev. 18 
und 20 auch unter die Greuel gerechnet werden, um derentwillen 
die heidnifchen Völler — welche nit unter dem moſaiſchen Geſetz 
als ſolchem fanden — aus dem Lande getilgt werden. ‘Dem vers 
ftorbenen Bruder Samen zu erweden, ſei Deut. 25, 5 nicht ale 
ein Gebet, fondern nur als Erlaubnis für einen eng begrenzten 
Ball dargegeben; wofür er zum Belege die an Melanchthon aus⸗ 
führlicher berichteten Beichränfungen bei den züdifchen Geſetzesaus⸗ 
legern kurz zuſammenfaßt. — Er ſchließt dann: Wie viel Gewicht 
anbere diefer Auslegung ber Juden beimefjen wollen, mögen fie 
ſelbſt ſehen. Er felbft wiſſe gegen die einmätige Auslegung der» 
felben in diefer, auf Chriſtum nicht bezüglichen Sache nicht ein⸗ 
zuwenden. Wo fie den Sinn der Schrift verdrehten, pflegten fie 
uuter einander in Zwieſpalt zu fein. Irre Ofiander hierin nicht, 
fo entfſtehe feiner Meinung nach die Trage: ob jene Geftattung der 
Zeviratsche auch für die Ehriften noch gelte? Gerade weil bie 
ChHriften nicht dem Geſetze Mofis, fondern nur dem Naturgeſetz 
unterworfen feien, ift er geneigt, die Frage zu vermeinen. Bei 


736 Bogt 


den Juden fei eine Ausnahme gemacht nur zur Erhaltung der 
Sefchlechter, damit Chrifti Herkunft aus dem Stamme 
Juda und dem Geſchlechte David fihererfannt werde. 
Seit EChrifti Geburt falle diefer Grund fort; wie denn auch die 
Juden von ber Erlaubnis keinen Gebrauch mehr madhten. Den 
Ehriften gelten die Worte Jeſ. 56, 5 und Matth. 19, 12. 
Schließlich weift er darauf bin, daß die Verwirklichung der Bes 
ftiimmung Deut. 25, 5 zur Bigamie führen würde, da die über- 
febenden verheirateten Brüder nicht ausgejchloffen feien. 
Überblicken wir ba8 hiermit gewonnene Material, welches ſich 
vervollftändigt einerjeitS durch da8 Gutachten im Corp. Ref. III, 
528 und fonftige brieffiche Äußerungen Luthers und Melanchthons, 
anderſeits durch weitere Erörterungen der Frage bei Oſiander, wie 
fie Möller S. 190 ff. zufammenftellt, fo gewinnen wir furz fol- 
gendes Bild: Luther und Melanchthon find fih in ihrem Gut- 
achten einig darin, daß fie die Beitimmungen des mofaifchen Ges 
feges für Chriften als nicht verbindlich bezeichnen, außer foweit fie 
einem allgemein als ſolches erkennbaren Naturgefeß entjprechen, 
oder zum Inhalt eines bejonderen Landesgeſetzes geworden feien, 
welches die zuftändige Obrigkeit erlaffen habe. Erfteres Tönne 
beim Verbot der Ehe mit der Schwägerin nicht der Fall fein, 
denn dann würde die ebenfalls im geoffenbarten Geſetz enthaltene 
Anordnung — refp. nad Oſianders Auffaffung: Geftattung — 
der Leviratsehe einem unverbrüchlichen göttlichen Geſetz wider- 
fprehen, was undenkbar. Daß aber auch die Ehe Heinrich® mit 
Katharina nicht durch ein beftehendes pofitives Necht ungültig jet — 
ergiebt ſich — abgefehen von Heinrich® eigener gefetgeberifcher Ge⸗ 
malt — aus dem Umftande, daß nach zur Zeit beftehenden menſch⸗ 
lihem Rechte der Papſt Dispenfationsgewalt gehabt und geübt 
habe. — Oflander dagegen, entfprechend dem auch fonjt bei ihm 
(in der Beichtfrage, in feiner ganzen Lehre von der Gerechtigkeit) 
hervortretenden Gewichtlegen auf Heiligung und kirchliche Disziplin, 
ift, bei prinzipielle Anerfennung der Aufhebung des mofaischen 
Gefeges für die Chriften, gleichwohl bemüht, aus demfelben, im 
Chriftentum eher nur nod zu verfchärfende Normen für das fitt- 
(iche Verhalten zu gewinnen, und deshalb die Schwierigkeiten zu 


Über Heinrichs VIII. Chefcheidung. 137 


häufen, welche beim Aufgeben einer folchen ftrikten Norm fich er- 
geben. Seine überwältigende rabbinifche Gelehrſamkeit fcheint denn 
wirffih dazu gedient zu haben, den an fich fehr berechtigten Ge⸗ 
danken Luthers zu unterdrüden, daß fich Lev. 18, 16 nur auf das 
Weib des lebenden Bruders beziehe, entfprechend dem ganz un⸗ 
zweideutigen V. 18 und dem Bigamie nicht ausschließenden Stand» 
punkt des moſaiſchen echt Überhaupt. Wäre dieſe Auffaflung 
Luthers damals zur Geltung gelommen, fo wäre damit dem Pros 
teftantischen Eherecht die Weifung gegeben, nicht fomwohl in ber 
Schwöägerfhaft, fondern vorzugsweife nur in der Blutsverwandt⸗ 
Schaft EHehindernis zu fuchen Y. Übrigens hatte in einem früheren 
Tale Oſiander felbft eine folche Ehe in Schuß genommen (Möller, 
©. 114). Anderfeits hatte Melanchthon im lateinischen Entwurf 
der PVifitationsartifel von 1528 feinerfeitS die im mofaifchen Ges 
feß verbotenen Grade, noch mit der kirchlich üblichen Erweiterung, 
einfah für unzuläffig erflären wollen Corp. Ref. XXVI, 21. 
Wir müffen wohl annehmen, daß auf Luthers Gegenbemerfungen 
im offiziell angenommenen deutſchen Texte diefe Beſtimmung fort⸗ 
geblieben (ebenda S. 77), und vielmehr nur ganz allgemein, in 
Rückſicht auf vorgefallenen Mißbrauch chriſtlicher Freiheit, die 
Pfarrherren angewieſen werden, „was die Graden der Sippſchaft 
und dergleichen anbetrifft, beſcheidentlich und vernünftiglich zu lehren 
und zu handeln“. Nach einer Mitteilung Köſtlins (Luther, 
2. Aufl. II, 35) wollte Luther ſchon damals ausdrücklich ausge⸗ 
ſprochen haben, daß das bezügliche päpftliche Recht keineswegs in 
allen Punkten verbindlich fei, und wurde nur auf Verlangen des 
Rurfürften die betreffende Bemerkung zurücgehalten, um nicht etwa 
gleichzeitig in Konflitt mit dem Eaiferlichen Recht zu kommen, Das 
gegen werben in den Zorgauer Artifeln vom Mär; 1530 (Corp. 
Ref. XXVI 187, vgl. 179) die Ehefachen im allgemeinen ber 
bürgerfihen Gefeßgebung überwieſen, die päpftlichen Verbote ber 


1) Bol. Jörg und Tzihirner, Die Ehe. Leipzig 1819. ©. 189. 
Wenn ein Witwer in die Lage kommt, feinen Kindern eine zweite Mutter zu 
ſuchen, fo Tiegt e8 gewiß oft nahe, gerade in der Schwefter der verftorbenen 
am beften eine folche zu finden. Und wenn diefe Ehe zuläffig, fo fcheint freilich 
auch die analoge mit der Witwe des Bruders nicht auszuſchließen. 





28 Bogt 


Ehen zwiichen Gevattern, ber Wiederverehelihung auch des uns 
fchuldigen Zeil geſchiedener Ehen, fowie anderſeits die kirchlicher⸗ 
ſeits begünftigte Anerkennung beimlicher Verlöbnifſe entfchieden ver- 
worfen, und hinfichtlih ber Berwandtenehen einerfeits bemerkt, daß 
der Bapft feine Macht Habe zu dispenfieren in Fällen, bie jure 
divino verboten ſeien, anderfeits feine Geſetze getadelt, daß fie den 
Leuten Gewiffen machen in Fällen, die nicht jure divino verboten 
ſeien. In folgen Fällen feien die Gewiſſen nicht gebunden, außer 
fomweit die Obrigkeit hindernd eintrete. Es iſt aber bier ſowie auch 
vorher im dem unter Ofianders Mitwirkung emtftandenen Art. 6 
des Schwabacher Bifitationsfonventes pon 1528 (Richter, Kirchen- 
prdunugen I, 176) nicht gejagt, daß unter dem göttlichen Geſetz 
das bei Moſe gefchriebene zu verftehen fe. Derſelbe Stanbpuntt 
findet fich vertreten in Quthers kurz vorher veröffentlichter Schrift 
von Eheſachen (bei Wald X, Yöaff. Erl. Ausg. 23, 148 ff.). 
Luther weiſt bier die Eheſachen, fpeziell die Eutſcheidung über zu⸗ 
läſſige Verwandtſchaftograde, durdans der bürgerlichen Obrigkeit 
zu, und polemifiert nachdrädlich gegen die Unterwerfung der bürger- 
lichen Geſetzgebung umter die kanoniſche. Dabei läßt er die Trage 
nach Verbindlichleit und Auslegung des moſaiſchen Rechts unbes 
rührt, und fpricht feine perfönliche Meinung nur über ſolche Fälle 
aus, welche in letzterem nit verboten waren. Entgegen ber er: 
wähnten Auslegung Weelanchthons im Tateinifchen Entwurf der 
Bifitotionsartilel erklärt er aber dabei ausdrücklich dee Ehe mit 
ber Nichte für nur vom weltlichen, nicht vom göttlichen Rechte 
unterſagt. 

Ein ausdrückliches Aufgeben des in den Gutachten von 1531 
eingenommenen Standpunkts finden wir aber, ſchoͤn vor Wieder⸗ 
aufnahme der Verhandlungen mit den Engländern, 
in einem von Jonas, Luther und Melauchthon unterzeichnetsn, alſo 
wohl von Jonas verfoßten Gutachten vom 18. Januar 1535 (bei 
de Wette IV, 584) und zwar wirb bier auf das Geſetz Lev. 18 
als auf ein göttliche rekurriert in einem Falle, der dort ausdrück⸗ 
fih nicht einbegriffen war. Es handelte ſich nämlid um die Ehe 
mit der Schwefter der verftorbenen Frau, während dort nur bie 
Ehe mit der Schweiter der lebenden unterfogt war. (Es handelte 


Über Heinrichs VILI. Ehefcheibung. 789 


fih wohl um den Zall, welcher nad) Corp. Ref, IH, 611 bamit 
enbigte, daß der Nupturient des Kurfürften Lande verlieh.) Die 
Reformatoren finden aber in jenem Kapitel das allgemeine gött⸗ 
fihe Gebot, „daß man in nahen Gradibus, als einer unnatürlichen 
Vermiſchung, nicht heiraten ſolle“, umd betrachten, nad) der kirch⸗ 
(ih ühlich gewordenen Weile, das „fie werden ein Fleiſch fein”, 
unnatürlich preſſend, die Schweiter der Frau als Verwandte erften 
Brades. Daneben rekurrieren fie freilich noch auf das Faiferliche 
Recht, weiches feit Theodoſius und Juſtinian derartige Ehen ver⸗ 
bot, und auf bie Erwägung, daß das rohe Wolf mit derartigen 
Brücedenzfällen zweifelhofter Art, wenn fie gutgeheißen würden, 
noch ärgere, wirklich bintichänderiiche Verbindungen werde entſchul⸗ 
digen wollen. — Wodurch nun dieſe prinzipielle Beränderung des 
Standpunttes herbeigeführt wurde, TAßt fich nicht im einzelnen nach» 
weifen. Auch wird eine Vermittelung zwilchen der früheren — uud 
in theoretiichen Erörterungen wenigfiens von Luther ftets feſt⸗ 
gehaltenen Behauptung: „das mofaifche Geſetz als folches, aljo and; 
gev. 18, iſt für den Chriſten nicht verbindlich" mit der nenen 
„Sep. 18 ift nicht nur für die Juden, ſondern allgemein verbind- 
lich“‘ nicht gegeben. Kine folche Vermittelung wäre etwa zu finden 
geweſen auf dem von Oſiander (in der Schrift von verbotenen 
Heiraten und Blutfhanden, bei Möller, S. 191 ff.) betretenen 
Wege. Er macht bort geltend: da infolge der Sünde bie lex 
naturae dem menschlirhen Bewußtſein vielfach verdunkelt jet, diene 
dns Moſe geoffenbarte Geſetz dazu, fich darüber zu orientiegen und 
nachzufinden, was dem Bedürfnis der menfchlihen Natur und Ge⸗ 
ſellſchaft nach Gottes Ordnung wirklich entſprechend fei. Übrigens 
enthielt dieſe Veränderung des Standpunktes noch keineswegs ein 
Hinübergehen auf den der Engländer, welche durch Levitieus nun 
auch die Eheſcheidung Heinrichs gerechtfertigt fanden. Als ein Jahr 
ſpäter bie Verhandlungen mit letzteren wieder beginnen, fchreibt 
Buther — am 11. Januar 1586 — an den Aurfürften: „er werde 
fich nicht ftärken laſſen in ſolchem Gewilfen, dag die Königin und 
bie junge Königin famt dem ganzen Sönigreich incesti und incestae 
(fo ift doch wohl zu leſen!) follten geurteilt werden. „Ich will - 
mich in ihre Jurifterei nicht vertiefen, und Lünnte auch nicht mehr 


7410 Bogt 


wie eine Gans gag dazu fagen.” Aber ich halte, meine vorige Sen- 
tenz ſoll bleiben, ohne daß ich mich fonft nicht will unfreundfich 
gegen fte zeigen in dem oder anderen Stüden, auf daß fie nicht 
dächten, wir Deutjche wären Stein und Holz (de Wette IV, 663). 
Und Melanchthon ſchreibt am 6. Februar an Veit Dietrich — faft 
mit denfelben Worten mie tags zuvor an Camerarius: Angli con- 
tendunt, legem de non ducenda fratris uxore prorsus in- 
dispensabilem esse. Nos contra disputamus esse Jispensa- 
bilem. Vides autem quanto facilius sit ipsis de- 
fendere zo axgıßodixasov (den ftreng gejeglichen Standpunft), 
quam nobis inflectere Legem, ut efficiamus, divor- 
tium non fuisse necessarium. Multa hic assumenda sunt ex 
nostris thesibus, quod nobis liceat uti politicis exemplis ap- 
probatis Mosaicis. Has theses in eruditi non satis aequo 
animo accipiunt. Die legten beiden Sätze weiß ich nicht anders 
zu beziehen als auf die angeführten Fälle von Bigamie — von 
Balentinian und unter Gregor —, welde durch Beifpiele aus 
Geneſis geftügt wurden, und auf das begreifliche Auffehen, welches 
die Ausführungen der Neformatoren darüber erregen mußten. Der 
hier gefperrt gedruckte mittlere Sag zeigt freilich, daß Melanchthon 
Thon Schwierigkeiten empfand, feinen Standpunkt gegen die Argu⸗ 
mente ber Engländer zu behaupten. — Und obwohl das Corp. 
Ref. 528 sq. abgedruckte Gutachten — welches ſchon Seckendorf 
mit Recht in diefe Zeit verlegt — feine Namensunterjchrift trägt, 
ift doch wohl anzunehmen, daß es aus dieſen Wittenberger Ver⸗ 
handlungen hervorgegangen. Daß zuerft das Verbot der Ehe mit 
der Schwägerin Lev. 18, 16 als ein alle Ehriften verbindendeg, 
göttliches Gefeg — von welchem die Verfaffer auch ihrerfeits feine 
Dispenfation erteilen würden — bezeichnet wird, Tann und nad 
dem obigen Gutachten vom Januar 1535 nicht mehr befremden. 
Und die zweite Hälfte des deutfchen Textes Hält ja auch daran 
feft, daß eine Dispenfation möglich gewejen und daher die Ehe 
nicht Habe geſchieden werden follen, womit es freilich nicht ganz 
ftimmt, daß die Verfaffer vorher jagen, fie feien in ihrem Urteil 
nicht ganz entjchieden und um Erlaubnis bitten, dasjelbe noch 
zurädzuhalten. Offenbar ift diefe Inkongruenz aus einer ſchwer 


Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 141 


zu fchlichtenden Meinungsverſchiedenheit zwifchen den Verfaffern felbft 
herporgegangen. Eigentümlicherweife fehlen nun aber die Legterem 
Sat folgenden, dem Berlangen Heinrich entſchieden ungünftigen 
Worte in dem, aus englifchen Quellen mitgeteilten lateiniſchen Text. 
Man möchte am liebften annehmen, daß fie nur von ben heraus⸗ 
gebenden Engländern zurücgehalten, nicht etwa gar von den Gefandten 
jelbit ihrem König vorenthalten feien, obwohl Kor auf Melanchthon 
feinen vertrauenerwedenden Eindrud machte. Doch — vergegenwär- 
tigen wir und erft den Lauf der Verhandlungen. Am 19. Januar 
weiß Luther ſchon vom Tod ber Katharina, wobei er bemerkt: fie 
und ihre Tochter haben alfenthafben ihre Sache verloren, außer bei 
den armen Bettlern, den Theologen zu Wittenberg, welche ihr gern 
wollten zu Ehren helfen. Am 25. Januar find die Verhandlungen 
joweit im Gange, daß Luther derfelben fchon ſtark überdrüffig ges 
worden tft; und zwar ift auf den folgenden Sonnabend das Thema 
der Privatmefje angejegt. De Wette IV, 669f. — Am 6. Fe 
bruar fchreibt dagegen Melanchthon von Jena aus, es ſei bisher 
nur über die Ehefrage disputiert: de doctrinae evangelicae con- 
troversiis nondum contulimus, nisi obiter. Am 9. fehlt ihm 
noch Oſianders Gutachten. Am 10. befucht ihm einer der Gefandten, 
Nikolaus Heyth, mit einigen DBegleitern auf der Durchreife nad 
Nürnberg. Am 13. trifft er in Wittenberg ein. Erſt jetzt, auf 
der Durdreife in Leipzig, hat er vom Tode der Katharina gehört. 
Am 25. Februar ift er, wie Luther und Bugenhagen, zum Hoch⸗ 
zeitfefte bei Hofe in Torgau. Am 9. März bedankt er fich für 
Dfianders Gutachten und meldet gleichzeitig: Cum Anglis nunc 
de doctrina Religionis disputamus; und eben darüber am näd)- 
jten Tage an Georg von Anhalt; collocuti sumus de omnibus 
articulis doctrinae Christianae, et videntur nobis legati non 
abhorrere a studio purioris doctrinae (genau genommen durfte 
Melanchthon dies nur von Heyth fagen, während er im vertraus 
licheren Briefe an Dietrih von For faft das Gegenteil jagt). 
Quorundam articulorum formae. singulari diligentia quam 
explicatissime compositae sunt. Hiernach waren aljo über nicht 
wenige Punkte damals die Verhandlungen durch Fixierung der 
Reſultate abgefchloffen; darunter gewiß die Beurteilung der Eher 


12 Vogt 


frage. — Am 28. März fchreibt fodann Luther an die Surfürften, 
er ſolle die Artikel verdentfeht erhalten, woraus er fehen werde, 
„wie fern wir's mit ihnen alihier gebracht haben“. Die Gefandten 
wüßten freilich noch nicht, wie Ahr König biefelben aufnehmen 
werde. Sollte er fie aufnehmen, fo möchte das Bündnis feinen 
Fortgang haben. „Denn folge Artikel ſich mit unferer Lehre wohl 
reimen." Des Könige Sache mit der Ehe könne der Kurfürft 
ans diefer Religionsfache fchliegen (ſoll doc wohl heißen: von ihr 
ausſchließen, außer Betracht laſſen) — oder, wo e8 für gut an⸗ 
geſehen werde, fofern zu verantworten fich erbieten, als wir fie 
gebilfigt haben.” Können diefe letzteren Worte auch kaum anders 
verftanden werden, als daß eine relative Billigung — freilich nur 
eine relative — allerdings aus der Erklärung der Wittenberger 
zu entnehmen war, fo verwahrt fih doch noch am 30. März 
Melanchthon ausdrüclich gegen die Anterfteilung, als hätten fie 
den Engländern zugeſtimmt, und faßt die Differenz nach wie ver 
in die Worte: Nos sentimus legem de nen ducenda fratris 
uzore dispensabilem esse, etsi legem ipsam non aboleri vo- 
lumus. Zugleich meldet er, daß über die meiſten Punkte zwar 
eine Einigung erzielt, die disputiones de doctrina aber noch 
feineswegs abgefchlofjen feten (Corp. Ref. II, 52 sq.). 
Dazwiſchen nun fühlt das Besponsum legatorum regis 
Angliae ad Articulos ipsis a Confoederstis d. 25. Dechr. 
1535 Schmalcaldiae propositos, welches — mit fehlenden Ein⸗ 
gang — Corp. Bef. II, 46 mitgeteilt und vom 12. März be» 
tiert ift. Dasselbe begieht ſich hauptſächlich auf bie im projeltierten 
Schutzbundnis ansgubedingenden Hilfsleiſtungen mit Mannſchaft, 
Schiffen und refp. Hilfsgeldern. Hinſichtlich der gewünſchten Einig⸗ 
keit im Glauben und in der Lehre wird bemerkt: dieſelbe ſei nur 
zu erwarten, wenn die Augsburgiſche Konfeſſion und Apologie in 
manchen Punkten gemildert werde — durch Verhandlungen mit 
ben Theologen in England, zu welchen ein hervorragender Dent⸗ 
fcher abgefandt werben möchte. (Melnnntlich hatte man dabei Me⸗ 
lanchthon im Auge.) Der Tod Katharinas wird ermähnt als ein 
Umftand, welcher für Heinrich bie Gefahr, Hüfe im Kriege zu 
bedürfen, noch ferner rücke. Zum Schluß aber wird namens des 


Über Heinrichs VIE. Eheſcheidung. 748 


Königs da8 Verlangen ausgejprodhen: ut vestrae Celsitudines 
velint suscipere in posterum in omnibus futuris consiliis et 
alibi promovendam et defendendam eam sententiam, quam 
Reverendi Patres et domini D. Martinus, Justus Jonas, 
Cruciger, Pomeranus et Philippus in causa matrimonii Ser. 
R. Majestatis jam pridem tulerant.*“ Wo iſt nun die bem 
Könige fo ginftige Erklärung derfelben Theologen, mit welchen da⸗ 
mals zu Wittenberg werhandelt wurde, welche Schon vor einiger 
Zeit ergangen fen ſoll? — Man kann nur an das ad) der ge 
gebenen Überſicht nicht vor Mitte Februar adgefaßte judicium 
theologorum Eutheranorum benfen, deſſen erfter Teil allerdings 
den Schluß ergab, daß ber Papft mit Unrecht die Dispenfation 
zur Ehe mit Arthurs Witwe erteilt habe. Dabei wird ja aber 
der Schlußſatz des deutichen Textes ignoriert, welcher dennoch die 
Scheidung entjchieden mißbilligt! Man könnte verfucht fein, zu 
fragen, ob ſich etwa Luther und feine Genoſſen noch dazu berbeis 
gelaften, den im Iateinifchen Text zu ftreihen, und fo nod mehr 
ben Eindruck hervorzurufen, daß fie ihre Entfcheidung in suspenso 
laſſen wollten? wenn bdiefer Gedanke nit ſchon durch den Um⸗ 
Stand, dag bie deutfche Abichrift von der Hand des Bizekanzlers 
an ben Kurfürften gerichtet im kurfürſtlichen Archiv niedergelegt, 
Anſpruch auf offizielle Geltung macht, noch mehr durch Meland- 
thons beftimmte Verficherung vom 30. März ausgefchloffen würde. 
Dan kann alfo kanm umhin, anzımehmen, daß die Engländer nur 
das haben herausleſen wollen, was ihrem Könige erwünfcht war, 
und das Ungänftige gefliffentlich überjehe und wenigftens vorläufig 
ihrem Könige nur das erftere berichtet haben, um ihn der Fort» 
fegung der Verhandlungen geneigt zu erhalten. Sie mochten dazu 
noch ermutigt werden buch die Wahrnehmung, daß der letzte Say 
wielleicht wirklih nur auf Luthers Andringen noch Binzugefügt war, 
wührend die übrigen möglicherweife ſich noch mehr zu Nachgiebig- 
keit geneigt zeigten. — Werfen wir mm zum Schluß noch einen 
Blick auf die Behandlung, welche die vorliegende ehegefetliche Frage 
in den reformatorifchen Kirchenordnungen gewonnen, fo ift zunächſt 
auffällig, in dem wichtigen Gutachten Melanchthons an den Herzog 
Ülbrecht von Preußen Corp. Ref. III, 610 zu lefn: „Es ift in 


744 Bogt 


der Bilitation fleißig disputiert worden, ob eine neue Form außer 
den üblichen Nechten zu ftellen, und endlich bedacht, wie in ber 
Bifitation fteht, daß fie die gewöhnlichen Verbote halten ſollten. 
Doc follt bei den Viſitatoren ftehn, welche Fäll ein Dispenfation 
[eiden möchten.“ Dabei wird die DVerbindlichleit von Lev. 18 un⸗ 
bedingt vorausgefegt, und nur noch erörtert, welche weiteren Grade 
als verboten anzufehen fein, und in Wittenberg al8 verboten ans» 
gefehen würden. Mag e8 auch bei den darüber gepflogenen Ber- 
handlungen vorausgejeßt fein, daß die beftehenden Verwandtichafts- 
verbote im allgemeinen gültig bleiben follten, fo ift doch in den 
publizierten Vifitationsartifeln von 1528 und 1533 eine beftimmte 
Erklärung in jenem Sinne nicht zu lefen, und fcheint es daher, 
Melanchthon habe mehr feinen lateinifhen Entwurf in Erinnerung 
gehabt. — Während übrigens 3. B. Billifans Nördlinger und 
Zwinglis Züricher Ordnungen von 1525 (bei Richter I, 20. 21) ?) 
im Unterfchiede von den bisherigen Verboten nur „Moſe“, refp. 
„den in klarer göttlicher Schrift Lev. 18 ausgedrückten Verboten“ 
folgen zu wollen erflären — wahrt namentlich, des Urbanus Rhe⸗ 
gius Hannoverſche Kirchenordnung von 1536 den Iutherifchen Stand⸗ 
punkt injofern, als es dort Heißt (Richter I, 276): „Wo fi 
nun in Eheſachen etwas zuträgt, da8 man im Faiferlichen Rechte 
nicht wohl entjcheiden mag — wollen wir nad) Vermögen unferer 
hriftlichen Freiheit, auch das göttliche Hecht Mofi zuhilfe nehmen — 
denn obfchon uns Mofes in Judicialibus nicht geboten, und zum 
Nechtfprecher gegeben ift, fo ift er uns dennocd nicht verboten.“ 
Moſes als großer Prophet, aus Eingaben des h. Geiftes redend, 
werde ficherlich wohl gewußt haben, was im Ehejtand ehrbar, ehr- 
lich oder unehrlich fei. — Bemerkenswert ift aber, daß in der von 
den Predigern Joh. von Amfterdam in Bremen und Burfchoten 
in Hoya entworfenen, danach von Luther, Melanchthon, Jonas 
und Bugenhagen revidierten Lippefchen Ordnung von 1538 (Richter 
II, 499) urſprünglich ganz ähnlich wie bei Rhegius es hieß: und 


1) Man f. für das Folgende die Überficht in dem Programm von Goeschen 
Doctrina de matrimonio ex ordinationibus ecclesiae evangelicae adum- 
brata. Halis 1847. 4°. 


Über Heinrichs VIII. Eheſcheidung. 145 


fo man nha feiferlichem rechte nicht gefcheiden konde, jo mag men 
nach Chriftlicher frigheit godtliches rechten uth Moſe wall gebrufen, 
wente wo wall uns de in juditialibus tho Holdende nicht gebhaden, 
jo ijt fe uns doch nicht vorbadene.” Diefe Worte find aber ge⸗ 
fteichen, und dafür von Melandthon folgende eingefeßt: „Und 
nachdem Gottes Wort, das natürlich Recht verkläret, und die Ehe 
zwifchen gefippten Perfonen in etlichen Graden verboten Levi- 
tici 18, fol in folchen Graden feine Ehe zugelaffen — niemand 
alfo heiraten — ſoll ſolche Beiwohnung nicht geduldet und die Per- 
fonen bejtraft werden, denn ſolche Beywohnung ift wider natür« 
liches Recht, das Gottes Ordnung ift in menfchliher Natur, und 
hat fein Menſch Gewalt, dawider zu ordnen und bispenfieren, wie 
der Bapft freventlich gethan. — Weiter foll auch der andere Grad 
verboten fein u. f. f. — Wir fehen alfo gerade Melanchthon auch 
bier ausdrücklich zu der gejeglichen Auffaffung von Lev. 18 zurück⸗ 
fehren. Dagegen will e8 uns als eine Wahrung des Tutherifchen 
Standpunftes erjcheinen, wenn Brenz in jeiner Eheordnung von 
1553 das göttliche Gefeß zugleich als natürliches bezeichnet, ohne 
dabei auf Moſes zu refurrieren. Auch Bugenhagen in der Pom- 
merſchen Kirchenordnung von 1535 fordert, „daß man dem freien, 
dem Bapfte ununterworfenen Taiferlichen Rechte folge“, ohne auf 
Mojes Bezug zu nehmen, und fchließt ſich auch in feinen übrigen 
Bemerkungen offenbar an Luthers Schrift von Ehefadhen an. Da⸗ 
gegen beginnt die, von Bugenhagen nur revidierte Pommerfche 
Kirchenordnung von 1542 freilih damit, daß fie — fogar mit 
Beifpielen aus Aristoteles historia animalium, den horror na- 
turae gegen Ehen in naher Blutsverwandtſchaft erweift, geht dann 
aber ohne weiteres zu dem „geichriebenen Rechte” zu dem „Was 
Gott durch Moſes verboten Hat“ über, und in ganz gleicher Ver⸗ 
bindung redet dann die Brandenburger Slirchenordnung von 1573 
vom „göttlichen, natürlichen und gefchriebenen Rechte". — Spätere 
Zutherifhe Ordnungen refurrieren dann einfach auf Xen. 18. — 
So die Preußifhe von 1584, welche jenes Kapitel ausdrücklich 
al8 den Brunn bezeichnet, aus welchem alle anderen Ehegeſetze 
fließen; weil dasfelbe niht nur ad leges Mosis forenses, fons 
dern auch „meiftesteils“ ad legem moralem gehöre, feien 


746 Vogt 


daran alle Menſchen nicht weniger als an das ſechſte Gebot ge⸗ 
bunden. Demgemäß macht die Mecklenburgiſche Kirchenordnung 
von 1570 den Unterſchied, daß die im moſaiſchen Geſetz verbo⸗ 
tenen Grade abſolut ausgeſchloſſen ſein ſollen, während bei den 
anderen, als nur durch menſchliche Verbote ausgeſchloſſenen, die 
Diepenfation in Trage kommen kann. 

Sachlich ſcheint freilich der Hier bezeichnete Unterfchleb inſofern 
bedeutungslos, als die Unzuläffigkeit fümtlicher Leo. 18 bezeichneter 
Grade mit alleiniger Ausnahme der Schwagerehe auf chriftlichem 
Boden kaum je in Frage kommen kann, und auch bie leßtere feit 
1536 allgemein aufgegeben war, und Berfchiedenheit in concreto 
fih nur zeigte in Fällen, welche über das mofaifche Geſetz hinaus⸗ 
gingen, wie: ob Ehen im zweiten Grad der Berwandtichaft 
unter Umftänden gültig bleiben, ob beim britten Grade, auch in 
abfteigender Linie, Dispenfation zuläffig und dergleichen. Immerhin 
fpiegelt ſich auch hier der allgemeine Verlauf wieder, indem ſich 
zeigt, wie der von Luther Tühn geltend gemadte Grundſatz evan⸗ 
gelifcher Freiheit eine gründliche Neuordnung fordert, wie derjelben 
aber nicht nur die Schwerkraft der beftehenden Autoritäten entgegen« 
trat, fondern auch das Bedürfnis namentlih der Evangelischen, 
welche nicht in dem Maße wie Luther felbft vom Geiſte getragen 
waren, jenen Autoritäten eine andere, gefchriebene Norm entgegen« 
zuftellen, fo daß fchlieplich in weiterem Umfange, als fi anfangs 
erwarten ließ, in die alten Geleife wieder eingelenft wurde, bis 
dann die Zeit der Aufllärung — auch bei dem vorliegenden Gegen. 
ftande vielleicht grümdlicher, als erforderlich mar — mit dem Über- 
fommenen aufräumte. Zu diefem Verlaufe trug freilich auch der 
Umftand bei, daß Luther — in feiner Beforgnis in altteftament- 
lichen oder katholiſchen Geſetzesdienſt zurüdzufallen — feinerjeits es 
nie recht zu voller Würdigung bes Geſetzes, fpeziell des Bebürf- 
niſſes der kirchlichen Gemeinſchaft nad einer wirklich enangelifch 
kirchlichen, d. h. nicht einfach auf einem gefchriebenen Worte, ſon⸗ 
dern auf dem im Geifte der gegenwärtigen Gemeinde reprodnzierten 
Worte, injonderheit des Neuen Teftaments berubenden, vom Geifte 
der Freiheit, Weisheit und Liebe biltierten und gehanbhabten Ge⸗ 
ſetzesordnung brachte. Denn fonft hätte er ſchwerlich alle Hand» 


Über Heinrichs VIII. Ehefcheidung. 747 


Habung des Geſetzes aljo nicht nur in Ehefachen, fondern felbft 
3. B. die Anordnung von Faften — fo kurzweg ber bürgerlichen 
Dbrigfeit überwiefen, wie er es oft thut. 


2. 
Uber Melanchthons loci. 
Aus Bugenhagens Handſchriften. 


Mitgeteilt von Lic. Vogt, 
BPaftor in Weitenhagen. 





Das Corpus Reformatorum von Bretfchneider und Bindſeil 
druct in Bd. XXI, 251 ff. eine Nachfchrift der Vorlefungen Me⸗ 
lanchthons über die loci ab, welche in Bd. III der Bugenhagen⸗ 
manuffripte in der Töniglichen Bibliothek zu Berlin enthalten tft, 
und (S. 332) mitten im Abfchnitt de praedestinatione mit Nec 
moror abbricht. Den Herausgebern iſt es entgangen, daß ſich in 
Bd. I, Bl. 209 — 212 und BL. 232 ff. jener Handſchriften noch 
zwei Fortfegungen jener Nachſchrift befinden, welche, mit etiam si 
quis unmittelbar an jenes Nec moror anfegend, den Text ber 
Ausgabe von 1535 in jenem Bande des Corp. Ref. nod von 
©. 452, 3.3 bis ©. 468, 3. 21 v. u. begleiten, dort mit 
proprie nobis applicari divi abfchließend. Dieſe beiden Fort⸗ 
fegungen, offenbar auch der Bugenhagenfchen Nachſchrift von 1533 
angehörig, ftimmen dennoch faft durchweg mit der im Corp. 
Ref. folgenden Ausgabe von 1535 wörtlich überein. Wir no- 
tieren aus den erjten Seiten nur, daß reoswnroindse mit 
acceptatio personarum überjegt wird. Dagegen findet fich eine 
erhebliche Abweichung gegenüber dem Abfchnitt S. 459, 3.5 v. o. 
bi8 3. 14 v. u. Und da in diefer Zeitfchrift durch den Aufſatz 
von Loofs in Jahrgang 1884 — f. befonders ©. > — gerade 

Zheol. Stub. Yahrg. 1885. 


148 Vogt 


auf dieſen Paſſus aufs neue die Aufmerkſamkeit gelentt iſt, ſei 
uns geftattet, den Text der Bugenhagenſchen Nachſchrift Hier wört⸗ 
lich folgen zu laſſen (die in Klammern [} geſchloſſene Stelle ſtimmt 
wieder wörtlich überein): Et de his tenendum est hoc discri- 
men: Tota lex abrogata est, quod ad justificationem at- 
tinet, non quod attinet ad obedientiam. Hoc est, quod 
legi nemo satisfacit. Alia res ad quaerendam justifica- 
tionem proposita est, quam lex, videlicet quod propter 
Christum donatur nobis remissio peccatorum et imputatio 
justitiae, non propter derakagum aut ceremonias aut ullam 
legis partem. Et tamen postquam scimus nos per miseri- 
cordiam reconcikatos esse, subjieit nos Evangelium obe- 
dientiae erga deum, et vult nos bonum operari quia novum 
‘ testamentum aflert novam. vitam quae est obedientia quae- 
dam ergo deum. Requirit igitur hanc obedientiam, vide- 
licet timorem dei, fiduciam, invocationem, dilectionem, 
gratiarum actionem, confessionem, dilectionem proximi, pa- 
tientiam, castitatem etc. — Et haec opera docet et requirit 
lex moralis. Quamquam igitur alia res proposita est ad 
quaerendam justificationem, tamen. interim manet, lex mo- 
ralis quod ad obedientiam attinet. [Et in hanc sersentiam 
inquit Paulus: Non estis sub lege sed sub gratia. Hoc est 
certo: jam placetis deo per gratiam Le. per misericordiam, 
non propter legis impletionem. Item Gal. Christus nos 
redemit de maledicto legis, factus pro nobis maledictio. 
i. e. quia nemo legi satisfacit, ideo lex antea aocusabat et 
condemngbat omnes, nunc nen atcusat nec condemnat novo 
foedere postquam per Christum. reconciliati estis. Sig igityr 
3 decalogo liberati sumus, ut a maledicto liherati simgus. 
Hoc est, non condemnat ea lex creslentes, tametsi non 
satisfaciant legi. Hoc igitur beneficium est libertas, qund 
conscientise possunt habere firmam comsolationem, cum in- 
telligant gretis dongri remissionem peccatorum. Ihem justos 
placere per misericordiam etiamsi in iis adhuc haereant 
reliquiae peccati nec legi satisfaciant.] Ex his intelligi po- 
test quatenus abrogata sit lex: beneficium justißoatiouis 


Über Melanchthons loci. 149 


transfertur & lege ad Christum, ut sit certum et ratum. 
Caeterum mänet lex quod ad obedientiam attinet, quia 
certe Evangelium subjicit nos obedientiae erga deum. Et 
quomodo placeat haec obedientia, saepe jam dietum est. — 
Augustinus etc. 

Im weiteren Verlauf find nur folgende Abweichungen gegen 
den Text von 1535 im Corp. Ref. zu bemerfen: 

Corp. Ref. ©. 460, 3. 7 fchreibt Bugenhagen legibus ft. 
vinculis. 

©. 461 letzte Zeile Hinter naturae nad) et totam civilem 
disciplinam. 

©. 462, 3. 16f. non servant leges conjugii, violant se- 
pulchra etc. Deinde.... 

©. 463, 3. 7—8 nur: Ita permittitur secundum Paulum. 

S. 463, 3. 23 ift nit ejusmodi, fondern humanos zu 
leſen. 

S. 463, 3. 9 v. u. Hinter vocationis noch qui est verus 
cultus. 

S. 464, 3. 7—5 v. u.: Sed illi peccant qui violant ideo, 
quia contemnunt Evangelium, aut exemplo suo abducunt 
caeteros ab audiendo Evangelio. 

S. 465, 3. 1 hinter traditionibus fehlt immodicis. 

©. 466, 3. 18f. quod ipsae ceremoniae non justificant: 
sine fide fehlt. 

S. 466 letzte Reihe bat Bugenhagen noch: etsi autores pro- 
hibitionis non habent excusationem. 

©. 467, 3. 5—7 quae commendata sunt oculorum spec- 
taculis. 

©. 467, 3. 22 consequi gratiam ftatt justos fieri. 

S. 468, 3. 23 v. u. führt Hinter justitiae fidei Bugen⸗ 
bagen fort: Ita nos sentiamus sacramenta novi testamenti 
esse sigilla fidei, hoc est testimonia quaedam addita pro- 
missionibus, ad hoc ut nos certius credamus. Item ut pro- 
prie nobis applicari divi. 

Damit fchließt das Manuffript. 


48* 


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Rezenſionen. 


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l. 


Die biblifche Mrgefchichte (Gen. 1—12, 5) unterfucht von 
Lic. (jest D. theol.) Karl Budde, außerordentl. Profeſſor 
der evangel. Theologie zu Bonn. Gießen (3. Rickerſche 
Buchhandl.) 1883. IX und 539 ©. 8°. 





Der Herausgeber der Zeitfchrift für die altteſtumentliche Wiſſeu⸗ 
ſchaft, H. D. Stade Hat gelegentlich (Yahrg. 1883 S. 2 Anm.) 
de „de Wetter Ewalbſche Weiſe altteftamentliche Kritik zu treiben“ 
der heutzutage, „wo bie Unterſuchung längft andere Wege ein⸗ 
geſchlagen Hat“, befolgten jo gegenitbergeftellt, daß jene offenbar 
als ein veraltetes, einem überwundenen Standpunkt angehöriges 
Berfahren charakterifiert werden ſollte. Sollte damit gejagt wer⸗ 
den, daß’ die kritiſche Forſchung feit de Wette und Ewald fortges 
fegritten ift und mandje neue Ergebuiffe vor großer Tragweite ges 
women bat, fo würe dagegen nichts einzuwenden; am wenigften 
gegtiiüber demen, welche ſo glücklich find, raſcher zu einem ab⸗ 
ſchließenden und zuftimmenden Urteit über die durch Wellhauſen 
begründete Anfiht von dem Wftersverhältnis der Quellen bes 
Herktenchs zu gelangen, ald der Referent: Bedenklich abet‘ wäre 
jene Gegenäberftellitng, wenn mir bei den „anderet Wegen" an 
die kritiſche Methode beiten ſollten. Ach wenigftens muß 
offen geftchen, daß mir alle wirklichen Ergebniſfe der neueren kri⸗ 
tifgen Forſchung — nicht bloß die, welche ich für tichtig, ſondern 
auch die, welche ih überhaupt für wiffenfhaftlid wert- 


754 Budde 


voll halte — nad) derſelben Methode gewonnen zu fein ſcheinen, 
welche auch ſchon de Wette, Ewald und, um noch ein paar andere 
Namen anzufügen, Hupfeld und Bleek befolgt haben; daß uns 
dabei jetzt ein reicheres Material zugebote ſteht, und daß das ſchon 
früher vorhandene (z. B. die alten Überfegungen für die Text- 
fritit) audgiebiger verwertet wird, begründet ja feine Verſchieden⸗ 
heit der Fritifchen Methode. Wer die im legten Jahrzehnt erfchies 
nene Fitteratur aus dem Gebiet der altteftamentlihen Wiſſenſchaft 
durchmuftert hat, Tann freilich nicht verkennen, dag and bezüglich 
der fritifchen Methode nicht wenige Forſcher zumeilen „andere 
Wege“ eingefchlagen haben. Ob aber diefe anderen Wege beffere 
find? Mich will bedünken, als ob fie in manchem den Wegen 
bedenklih ähnlich wären, welche die Kritit vor der Zeit be Wettes 
in ihrer Sugendperiode oder — wenn man das lieber hört — 
in ihrer Sturm» und Drangperiode, zu gehen pflegte, nur daß 
man jett einen größeren gelehrten Apparat verwendet und fich einer 
eingehenderen Beweisführung befleißigt. — So langjem, fo bes 
dächtig, fo maßvoll, mit fo viel Reſpekt vor dem urkundlich Über- 
lieferten, mit fo viel vorfichtiger Zurücdhaltung gegenüber den mit 
den vorhandenen Mitteln noch nicht lösbaren Problemen, wie ein 
de Wette, ein Hupfeld oder ein Bleek, ſchreitet die neuefte kritiſche 
Forſchung nicht mehr vorwärts; fie iſt kühner geworden, eilt in 
großer Zuperfiht rafcheren Laufes ihren Zielen zu und meiß fo 
detaillierte Einblicke in Titterärtfche und gefchichtliche Vorgänge der 
älteften Zeiten zu gewinnen, daß man von jtaunender Verwun⸗ 
derung über ſolchen Scharfblic ergriffen wird. Bei näherem Zu⸗ 
fehen findet man freilich oft genug, daß das Verfahren, mittelft 
deſſen die Ergebniffe gewonnen find, mehr blendenden Scharffinn 
als nüchterne und umfichtige Abwägung der Tragweite der ge- 
machten Beobachtungen, mehr kühne Kombinationen als fihere und 
Mare Unterfcheidung zwiſchen thatſächlich vorliegendem Sachverhalt 
und bloßen Vermutungen und Wahrſcheinlichkeiten, mehr jelbfte 
bewußte Gewaltfamfeit, die das urkundlich Überlieferte nach eigenem 
Ermefjen und eigenem Bedarf zurechtfchneidet, als forgfältige und 
(ernbegierige Beachtung desfelben erkennen läßt. Man fteckt fi 
Ziele, ohne vorher ordentlich zugejehen zu haben, ob der Boden, 


Die biblische Urgefchichte. 155. 


von dem man ausgeht, auch fchon Hinreichend gefichert ift; man 
verfucht fih an neuen Aufgaben, ehe die alten, deren Löſung ſchon 
die Srageftellung für jene bedingt, genügend gelöft find. — Yu 
den überlieferten Zerten werden längſt bemerkte Unebenheiten zu- 
jammengetragen und dazu mit großem Scarffinn viele neue auf- 
gejpürt; etwaige frühere Erklärungen derfelben laſſen fich Leicht ale 
in irgendeiner Beziehung nicht genügend darftellen; und fofort 
fieht man fie als Anzeichen von Nähten oder Brüchen an und 
greift zu dem kritiſchen Meſſer. — Bon den Beobadytungen des 
objektiv vorliegenden Thatbeftandes nimmt man einen Zeil, im 
beften Fall den größeren, zum Fundament, während man den an⸗ 
deren verſchmäht; auf dem willkürlich bejchränften Fundament wird 
dann rüftig und frifch ein Bau nach dem dem Baumeiſter vor- 
ſchwebenden Plan ausgeführt; al8 Material verwendet man That- 
jachen, jo weit fie in den Plan paſſen; daneben auch Wahrjchein- 
lichkeiten, Vermutungen und bloße Einfälle in buntem ‘Durdj> 
einander; man denkt, was unficher ift, werde durch die Zuſammen⸗ 
fügung des Ganzen gehalten und getragen; aber man vergißt, daß 
dies nur fo lange der Fall ift, als des unficheren Materiald nicht 
zu viel und der Bau nicht zu fehr in die Höhe geführt if. Wo 
die Eritische Forfchung unferer Tage folhe Wege geht, da mag fie 
im einzelnen immerhin viele gute Beobachtungen von bleibendem 
Wert machen, aber ihre Beweisführungen im ganzen tragen all- 
zu fehr das Geprüge des Subjektivismus, als daß ihnen noch Über- 
zeugungsfraft inne wohnen könnte, und ihre Hhpothejenbauten 
müffen fih früher oder fpäter der ftreng methodiſchen Forſchung 
als bloße Kartenhäufer erweifen. 

Das oben verzeichnete Werk ift von einem werten Fachgenoſſen, 
auf deffen befonnenes und maßvolles Urteil ich ſonſt großes Ges 
wicht lege, von D. Kautzſch als „ein Mufter fcharffinniger und 
methodifcher Unterfuchung“ gerühmt worden (Schürers Theol. 
Litteraturzeitung 1884, Nr. 3). Den Scharffinn, die in das 
Detail eingehende, die verfchiedenen Möglichkeiten in Betracht 
ziehende, nur manchmal etwas zu umftändliche Gründlichleit, die 
vielfeitige Belefenheit und Gelehrfamkeit und die Selbftändigkeit 
und Genauigkeit in der hebräifchen Sprachforfchung, welche wie in, 


[3 Bade 


fraßeren Arbeiten jo auch in diefem Werke Bubbes au bear Tag 
treten, erfenme and ich germe an; daß aber ein Mann, wie Kauizfch, 
daſsſelbe für ein Minftee methodiſcher Lnterfudiamg erflüiren kormte, 
das iſt mir denn doch ſchwer begreiflich und Beweift aufs newe, 
wie ſehr die krittſche Forfchung unſerer Tage im Gefahr ik, die 
oben angedeuteten Abwege zu gehen. 

Der Hauptzwed der ganzer Unterſuchung {ft die weitere Son⸗ 
derung der jehoviſtiſchen Beftanbteife der Urgefchichte: der Verſuch, 
die üftefte jahviſtiſche Geſtalt derfelben (die im Anhung ©. 520 
bis 531 hebräifch und dentſch mitgeteilt Hi) zu Celonfiruteren und 
zu ermitteln, was in ben und vorliegenden Texte anf Nechuung 
der von Wellgaufen. angenommenen. mit I? und J® bezeichneten 
nenen Herandgeder und Bearbeiter jener älteften Schrift (I!) zu 
jegen tft, und in welchem Verhältnis dieſe verſchiedenen Ausgaben 
zu einander und zu ber Grunbiehrift ſtehen. Bezüglich anderer 
Trage der Hexateuchkritik wird auch gelegentlich biefed und jeirts 
Ergeimis gewonnen, und z. B. iubezug auf das Zeitalter ber 
Grundſchrift de und dort eine ind Gewicht falleude Bemerkung 
gemacht; aber alles Derartige fallt doch nur in die Kategorie der 
nebenbei verfolgten Zwecke. — Schon hier könute man bie Frage 
anfwerfen, ob ben wirklich die Bentatenchtritit fihon fo weit ift, 
daß fie fi) jene Hauptaufgabe ftellen kann. Muß mar nit zu⸗ 
vor zu einem einigermaßen geficherten Ergebnis‘ Aber die ſchrift⸗ 
ſtelleriſche Thatigkeit des ſchließlichen Redaktors des Hexateuchs ger 
kommen ſein? Und kann ein ſolches gewonnen werden, che feſt⸗ 
geſtellt iſt, ob wirklich — wie mit Wellhaufen die meiſten neneren 
Hexateuchkritiker vorausſetzen — von jenem ſchlirßlichen Redaltor 
ein älterer jehopiftifcher Medaftor (JE) zu unterſcheiden ift, welcher 
die ihm vorliegende mehrfach Aberwebeitete jahriſtiſche Schrift mit 
der (durch E bezeichneten) elohiftifcherr verbunden Hat? Ich weiß 
die Gründe fee wohl zu wärbigen, welche Wellhaufen in feinen 
grundlichen und an nemen Beobachtungen und Anregungen reichen 
Mhandlungen über „die Kompofition des Hexateuche“ (Jahrbb. 
f. deutſche Theol. XXI, &. 392450. 331- 602 und XXI, 
S. 407479) für dieſe Annahnie geltend gemacht hat, und habe 
in ſtiner wieder mehr auf Hupfeld zurückgehenden Auffnſfung des 


Die bibliſche Urgeichichte. 797 


Berhältwiffes von J und E immer eiten Portfihritt gegenüber ver 
von Nöldete und Kayfer vertretenen erkannt. Einer neuen gränd» 
lichen Unterſuchung bedarf aber jene Annahme eines älteren jeho⸗ 
piftiichen Redaktors, che man weiter daranf baum kann. Hat 
doch Welkhauſen ſelbſt in der Unterſuchung über Ben. 27—36, 
in weldyer ee „den ftriften Beweis“ Tür feine Annahme zu Kiefern 
verfpriäht la. a. O. XXI, 420), ſchließtich (S. 440) eine „auf 
fallende" Erſcheinum eingefteen müſſen, welche ganz geeignet 
ift, den „ftriften® Charakter feiner Beweisführung wieder m 
Trage zu ftellen. Auch dürften die treffenden Bemerkungen Dill⸗ 
arms (Benefits, Vorbemerkungen, Nr. 5) gegen das Haupfargu⸗ 
ment Wellhauſens davon überzeugen, daß man gut thäte, die 
Exiftenz bes mit IE bezeichneten Mebaftord noch nicht wie eine 
ausgemachte Sache zur behandeln. — Inbefſen kann ein von 
hier ans gegen bie Unterſuchungsmethode Buddes erhobene Vor⸗ 
wurf darum zurückgewiefen werden, weil für die Hanplaufgabe, 
welche er ſich geſtellt Hat, die kritiſche Frage nach dem mit JE 
bezeichneten Redaktor in ber That nicht don grundlegender Weden« 
tung iſt; denn er ift mit Wellhaufen (a. a. O. XXI, 419) der 
Überzeugumg, duß in der ganzen Hrgefchichte Keine Spur der mit 
E bezeichneten Quekllenſchrift nachweisbar ft (S. 508), nnd er 
hat darim vollkommen recht. — Dagegen hat Budde in der Wahl 
des Ausgangspunktes meines Erachtens von vornherein ges 
zeigt, wie eine methodiſche Unterfuchung nicht geführt werben darf. 
Er erklärt (S. IV), die Reihenfolge feiner einzelnen Untere 
ſuchungen entfpreche im wefentlichen dem Weg), Yen er ſelbſt durch 
feine Brobuchtungen geführt worden ſei. Run famı man ja woßl 
unter Umftünden an einem beliebigen Punkt eine Beobachtung 
marhen, von welcher aus fich neues Licht Aber weite Gebiete ver» 
breitet; es ift dann aber ein rein zufälfiger, ganz indivibueller 
Weg, anf welchem bie neuen Erfenntniffe gewonnen find; eine 
methodifche Unterfuchung dagegen hat ihren Ausgang nicht will» 
kürlich zu wählen, fondern muß von dem Boden ausgehen, welcher 
ihr don ihrem Objekt felbft und der bisher gewonnenen Erkennt⸗ 
mis desfelben angewiefen wird; mer affo zufällig von- einem be 
Liedtgen einzelnen Punkt aus eine neue Erkenntnis gewonnen: hat, 





(58. Budde 


hat, wenn er ſie von anderen anerkannt ſehen will, zunächſt die 
Aufgabe, ſeine Unterſuchung von dem durch den jeweiligen Stand 
der Forſchung gewieſenen Boden aus und auf dem ordentlichen 
Weg, den er mit anderen gemein hat, noch einmal zu führen und 
dabei gehörigen Orts die Einzelbeobachtung, die ihm weitere 
Ausſichten eröffnet hat, geltend zu machen; dieſes methodiſche Ver⸗ 
fahren wird ihm dann ſelbſt eine Probe dafür fein, welchen wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Wert feine auf ungewöhnlidem Wege gewonnene Er- 
fenntnis hat. 

Es ift die vielbeiprochene Stelle Gen. 6, 1—4, von mwelder 
Budde ausgeht. Gründlich weift er zunächſt nach, daf V. 1 u. 2 
jehoviftischen Urfprungs ift; die nähere Beſtimmung, daß das 
Stüd der älteften jehoviſtiſchen Schrift (I) angehöre, ruht auf 
Borausfegungen, die nur durch eine allgemeine Berufung auf 
Wellhauſens Unterfuchungen geftügt find (S. 6). Es folgt eine 
jehr eingehende exegetifche Unterfuchung über die crux interpre- 
tum Gen. 6, 3, namentlid) über das nıWa. In der Prüfung 
der Anfichten, welche in diefem Wort eine Zufammenfegung aus 
3, W und oJ erfennen, ift die relativ bejte, welche im litterarifchen 
Zentralblatt vom 5. Yuli 1862 (von Higig) veröffentlicht ift, 
überſehen: 03 — fo wird dort bemerkt — drängt in den Anfang 
des Sages (Spr. 20, 11; 19, 2), und zu weldhem Wort bie 
Partikel gehöre, entjheidet der Zufammenhang (Gen. 32, 19); 
auf Grund deſſen wird erffärt: „weil er (nicht nur Geift, fon- 
dern) auch Fleiſch iſt“. Haltbar ift auch diefe Erklärung freilich 
nit; e8 müßte un nach Aw ftehen. — Am meiften mutet 
Budde die Erklärung an, welde in dzuz einen nf. findet, das 
suff. auf die Engel bezieht und das Wort mit dem vorhergehen- 
den Sag verbindet: „nicht foll gewaltig fein mein Geift in dem 
Menſchen auf ewig durch ihre. (der Gottesfühne) DVerirrung; er 
(dev Menſch) ift Fleiſch“. Budde führt Teinen Vertreter dieſer 
Erflärung an; da ich fie fchon im Zimmermannjchen Theol. Litt.- 
Blatt Yahrg. 1864, Nr. 9 gegeben habe, fo muß ich mich zu ihr 
befennen; unabhängig davon hat H. Schultz (Altteftamentl, Theol. 
I, 393; 2. Aufl., ©. 648) eine ähnliche aufgeftellt, wie ſchon 
früher de Wette und Bunſen, nur mit einer anderen, meines Er- 


Die biblifche Urgeſchichte. 159 


achtens unmöglichen Erklärung de8 3. Bei näherem Zufehen 
findet Budde aber auch diefe Erflärung nit haltbar; mit Dilf- 
mann macht er zunächſt geltend, daß das nıwa ungeſchickt nach⸗ 
jchleppen würde. Nun ift allerdings diefer Einwand entjcheidend, 
wenn man erklärt: „wegen ihrer Verirrung“ sc. foll mein Geift 
nicht gewaltig fein u. ſ. w.; aber nicht entfcheidend ift er, wenn 
erklärt wird: nicht joll gewaltig fein ... auf ewig durd 
ihre Verirrung. Mit anderen Worten: er ift entfcheidend, wenn 
owia den Grund für die Vorkehr gegen ein Gewaltigfein auf 
ewig, nicht aber wenn e8 den Grund bes eventuellen Gewaltig- 
jein® auf ewig angeben fol; in Iegterem Fall ift feine Stel- 
(ung nad) obyb zwar immer ungewöhnlich, aber doch wohl moti« 
viert umd nicht wefentlich anderer Art, als die Stellung des unb 
nah odryb in 2 Sam. 7, 29. Weiter macht Budde allerlei fach- 
liche Schwierigfeiten gegen meine Erklärung geltend, unter welchen 
die gewichtigfte die ift: es könnten nicht die beiden unvereinbaren 
Borftellungen, daß der Geift Gottes das Prinzip des Lebens im 
Menschen fei, und daß die Vermifhung der himmlischen Wefen 
mit dem Menfchengefchlechte diefem Kräfte ewigen Lebens zuführen 
fönne, in einem Sat mit einander verbunden fein. Aber das ift 
übel angebradhter Scharffinn; das Heißt nach modernem Maß- 
ftab mefjen, was bei einem alten Schriftfteller möglih ift. Wenn 
der Jahviſt zweifelloe aus der Überlieferung, und zwar Gen. 
6, 1ff. „aus dem BVolfsglauben und dem Volksmunde“ ge 
ihöpft hat (S. 504), follte dann wirflich eine ſolche uns unver» 
einbar erjcheinende Verbindung von mythologiſchen Vorftellungen 
mit den bei den Israeliten fonft Herrichenden reineren religiöfen 
Anfhauungen bei ihm nicht vorfommen können? Wird von vorn- 
herein vorausgejegt, daß der erfte Aufzeichner der Volksſage diefe 
in dem Maße bearbeitet hat, daß die reineren religiöjen Ans 
Ichauungen Israels in feiner Darftellung in Harer, einheitlicher, 
in ſich widerfprudslojer Weife durchgeführt find (vgl. 
©. 244), fo dreht fi) die Beweisführung im Zirkel. — Bei 
alledem gebe ich meine Erflärung fofort auf, wenn mir eine beffere 
geboten wird; als eine folche fann ich aber die Buddes nicht an- 
erkennen: wa sin DI kann nimmermehr bedeuten: „durch ihre 


760 Budde 


Bexirrung iſt er Fleiſch (ſterblich, hinfüllig) geworden“; denn, von 
anderem abgeſehen, das „geworden“ iſt eingetragen, und der Gegen⸗ 
fatz zwiſchen dem Pluralſuffix in vau und m, welcher die Voran⸗ 
ſtellung des nam vor Aw> allein rechtfertigt, kann nicht — wie 
Budde (S. 44) annimmt — ber von Einzelwejen und der fie 
umfafjenden Gattung fein — Durd feine Kriti£ aller bisherigen 
Erklärungen von 6, 3 glaubt Budde bewiefen zu haben, daß eine 
baltbare Beziehung, diefes Verſes auf B. 1 und 2 nicht herzu⸗ 
itellen fei, und wendet fi nun zu B.4. In feinen Erdrterungen 
über dieſen Vers finden ſich viels zusteffende Bemerkungen; na⸗ 
mentlih. hat er ganz richtig erkannt, daß in dem norliegenden 
Text nicht geiagt ift, daß aus den Mifchehen her Gottesſöhne mit 
deu Menſchentöchtern die Nephilim bervangegaugen fein. Wenn 
er aber nun water Berufung auf den „gefunden folgexichtigen 
Menrſchenverſtand“ uorausfegt, der urſprüngliche Text müffe das 
geſagt haben und hans frifchmeg den V. 4 jo korrigiert (ic) gebe 
nur. die Überfegung): „Und als nun. hie. Gottesfühne deu Men- 
ſchentöchtern uaheten, da geharen die ihnen, und fo kamen die Ne⸗ 
philim in die Welt zu jener Zeit“, jo bat er zwar. einen An⸗ 
Schluß des V. 4 an DB. 2 hergeftellt, melſcher V. 3 vollends zu 
einem fremdartigen Einſchub macht; aber dem „gefunden folge- 
richtigen Menſchenverſtand“ dürfte damit. denn doch gar zu viel 
zugemutet fein. Bielleisht kaun ſich derſelbe doch leichter darein 
finden, daß ein Jaraelit, in deſſen Gedankenwelt Leben und Lang» 
(ebigfeit. eine fo. bebentfame Stelle einnimmt, dazu ein Schrift⸗ 
fteller, welcher Gott ſchon Gen. 3, 22ff. Vorforge treffen Täßt, 
daß der Menſch fich. nicht. eigenmächtig. das Gut unfterblichen Le⸗ 
bens aueigne, bei den Eben der Gnttesfühne mit den Menſchen⸗ 
töchtern in der That für. die Art der aus diefen Ehen hervor- 
gegangenen Sprößlinge weit weniger Intexeſſe Hatte als daran, 
baß durch ſolche Vermiſchung der unfterblichen Himmelsbewohner 
(mann auch nicht alle gemeint find, fo ift doch von der Kategorie, 
der Gattung die Rede) mit dem Menfchengefchlecht diefem Krüfte 
unfterhlichen Lebens, zuffießen konnten, und daß die Vorkehr, welche 
Gott nah V. 3 dagegen: getroffen, einem ſolchen Schriftfteller die 
Hauptſache war... In DB. 4 aber hat man. dann nur eine nad) 


Die bibliſche Urgeichichte. "1 
keögliche Bemerkung zu erkennen, welche 1) erlärt, daß jene Ver⸗ 
bindungen um fo. eher eingegangen werden konnten, weil es da⸗ 
wals auch ganz anferordenkätshe niefige Menſchen gab, und 2) in 
ben Say: „und and hernach, als (oder: weil?) bie Gottes⸗ 
ſöhne zu den Dienichenböchtern famen und dieſe ihnen gebaren“ 
andeutet, daß Gott zu feinem. Einſchreiten dadarch mitkeftimmt 
mwurbe, das das Deftehen jener Mifchehen und ihre Fruchtbar⸗ 
feit auch dem: Fortbeftand der Nephilim (vgl. Num. 13, 33) 
fürderfih mar. — 

Wos macht nun aber Budde mit dem gewaltſam aus dem 
Zuſammenhang geriffenen Gottesfpruch Gar. 6, 8? Weil vor- 
ber nur eime Verivrung van Einzelweſen berichtet ift, welche für 
508 ganze Menſchengeſchlecht Folgen haben Tomte, nämlich der 
Sündenfall, fo folgeut er, jener Bottesfpruch fei urſprünglich der 
Abſchluß der Sündenfallsgeſchichte geweſen. Mehr als ein Ein- 
fall ift vowerſt dieſe Folgerung nicht, und: ich zweifle, ob ſich em 
ſolcher zum Ausgangspunkt einer methodiſchen kritiſchen Unter⸗ 
ſuchung eignet. 

Die ung: vorliegende Sündenfallsgeſchichte hat nun aber ſchon 
ihren mit diefem Einfall unvereinbaren Abfchluß. So fſchafft 
benn die zweite Unterſuchung über den „Baum des Lebens“ (©. 
46—88). in Gen. 3: Raum zur Unterbringung des verfprangsen 
Gottesfpruche. Gen. 8,22 und 24 wird als ſpäterer Einſchub 
anegefchieden und Gen. 6, 3 an bis Stelle von V. 22 gejekt; 
folgerichtig werden dann auch bie übrigen Erwähnungen des Lebens⸗ 
Baumes andgeihieden: in Gen. 2, 9 Iautete der unfprüngliche 
Zeit: ....„gut zum: Effen und mitten im Garten den Baum 
der Erbanntuis des Guten. und Böfen“; in V. 17: „aber vom 
dem Baume, ber mitten im Garten fteht, ſollſt du nicht effen” 
u. ſ. wm. Die fonftigen, auch von andern vorgenommenen Aus⸗ 
fcheidungen (2, 10.15, 3, 20, das mb nad. mim und das 
rn wer in V. 19) können wir hier außer Betracht fuflen. In 
jenen Ausscheidungen aber begegnet uns ein alter Bekanuter; mein 
Beber: Freund Böhmer Hat ſchon 1860 in feinem Liber Genesis 
Pentateuchicus und 1862 in feiner Schrift „Das erfte Buch 
der Thova“ (vgl. dazu meine Rezenſion in Zimmermanns theg- 


162 Budde 


fogifchen Litteraturblatt 1863 Nr. 3) diefelbe Operation an Gen. 
2, 9 und 3, 22—24 vorgenommen, nur daß er 3, 23 mit aus⸗ 
fcheidet.. Budde Hat von diefem Vorgänger (nah S. 59) erft 
hinterher Kenntnis gewonnen, täuſcht ſich aber, wenn er meint, 
daß der Weg, auf welchem er zu feinem Ergebnis gelommen: ift, 
von dem Böhmers „außerordentlich verſchieden“ ſei. Der ein 
zige wirkliche Anhalt im Text für feine Eritifche Operation Tiegt 
darin, daß Gen. 3, 3 der Baum der Erlenntnis durch das Attri⸗ 
but „welcher mitten im Garten ift" gekennzeichnet ift, während 
doch nah Gen. 2, 9 aud der Lebensbaum feinen Standort dort 
bat, wobei aber die Ortöbeftimmung, ftatt am Ende des Verſes zu 
ftehen, auffalfenderweife zwifchen beide Bäume eingejchoben ift. Andre 
haben diefe Unebenheiten der Darftellung, (deren Grund übrigens 
von dem S. 71: nachdrütcklich betonten pfychologiſchen Geſichtspunkt 
aus unfchwer zu finden ift) wohl auch fchon bemerkt, ohne aber 
fo großes Gewicht darauf zu legen, daß fie weitreichende Fritifche 
Folgerungen daraus gezogen hätten. Auch Budde würde das viel- 
feicht nicht gethan haben, wenn er nicht — und darin lag aud) 
das Hauptmotiv Böhmers nit nur für feine von Budde mit 
Hecht abgelehnte Erflärung: „Baum der Beftimmung über gut und 
böfe“, fondern auch für feinen Vorgang in Buddes kritiſcher Ope- 
ration — den „zauberhaften“ Lebensbaum hätte los fein wollen, um 
den Erfenntnisbaum felbft „freier und geiftiger* (S. 65) auffaffen 
und gegen alle „magifchen und rein-mythifchen Auffaffungen“ ficher 
ftelfen zu lönnen. Was er in diefer Abficht fachlich geltend macht, 
das beruht wieder darauf, daß er die Erzählung nad; modernem 
Mapitab mift, und neben andern Skrupeln, die wirklich „unnüß“ 
ericheinen (S. 53), namentfih die mythologiſche Vorftellung von 
dem Lebensbaum mit der echt israelitifchen Anſchauung, dag Gottes 
Lebensodbem den Menfchen belebt habe, unverträglich findet (vgl. 
darüber oben). Mit Wellhaufen, dem gerade. „der frijche antike 
Erdgeruch“ des Mythologiſchen ein Beweis dafür ift, daß J die 
äftefte Quelle ift (vgl. Geſch. Israels I ©. 347. Prolegomena 
S. 324. 331ff. und bezüglich des Lebensbaums insbefondere ©. 
321), tritt Budde auf diefem Punkte allerdings ſtark in Wider» 
Sprud. Aber auch wir fünnen fein Wohlgefallen an dem von ihm 


Die biblifche Urgejchichte. 7163 


vermeintlich wiederhergeftellten, von den mythologifhen Zuthaten 
gereinigten urfprüngliden Text von Gen. 2 und 3 nicht teilen, 
find vielmehr der Meinung, daB der Lebensbaum für das Para⸗ 
dies fo wefentlid und in der Sündenfallserzählung fo unentbehrlich 
ift, daß mit der Ausfcheidung diefer mythologiſchen Vorftellung die 
Erzählung übel verftümmelt wird und aud ein guter Zeil ihres 
religiöfen Gehalts verloren geht. 

Vielleicht genügt Schon die aufmerkfame Lektüre von Dillmanns 
Bemerkungen über den Gedankenzufammenhang der Erzählung 
(Gen. ©. 42ff.), um davon zu Überzeugen. Hier kann ich einen 
eingehenden pofitiven Beweis dafür nicht geben, fondern muß mic 
darauf befchränfen, zu zeigen, wie ungenügend Buddes angebliche 
Wiederherftellung der urjprünglichen Geſtalt der Erzählung ift. 
- Der Einfiht, daß die Vorftellung, dem Menſchen fei im Paradiefe 
dte Möglichkeit dargeboten geweſen, unfterblichen Lebens teilhaftig 
zu werden, für den Zwed und Zuſammenhang der Erzählung ganz 
unentbehrlich ift, konnte fi auch Budde nicht entziehen. Um nun 
den Lebensbaum befeitigen zu können, will er fchon in Gen. 2, 7 
den Gedanken finden, daß der Menſch der Anlage nach unfterblich 
. geihaffen jei (S. 62). Bisher hat man in diefem ſchon auf 
3, 19 vorbereitenden Vers das gerade Gegenteil gefunden, und ic) 
denke, jeder unbefangene LXefer wird fagen: mit Recht. Die Eins 
hauchung bes Lebensodems (als Odem Gottes ift er hier nicht 
einmal ausdrücklich bezeichnet) zeichnet den Menſchen ja aller» 
dings vor den Tieren aus; aber wo fteht denn in dieſem Vers 
etwas davon, daß Gott durch diejelbe „den Menfchen unfterblich 
machen will“ oder gar der Unlage nah gemadht hat? Zur 
an vo iſt der Menſch dadurch gemacht worden; das fagt der 
Text, und weiter nichts! Und nun gar ber Gottesſpruch Gen. 6, 3 
an ber Stelle von 3, 22 und 24] Hier hat auh Kautzſch (a. a. 
O.) „ein ftarles Bedenken“ darin gefunden, daß an bie Stelle 
des „Todesurteils“ (2, 17) eine folche Feitiegung der Maximal⸗ 
dauer des menfchlichen Lebens treten fol. Wer im Auge behält, 
daß die ganze Erzählung darauf abzielt, neben dem fonftigen Übel 
befonders das zu erflären, daß der Menfch der Todesnotwendig⸗ 

Theol. Stub. Yahrg. 1886. . 9° 


764 Budde 


keit verfallen iſt, wird den von Budde hergeſtellten Abſchluß der⸗ 
ſelben ebenſo unpaſſend finden, als der im überlieferten Text 
ſtehende paſſend und zweckgemäß erſcheint. Iſt es überdies denk⸗ 
bar, daß von der mit dem Tod bedrohten Übertretung des gött⸗ 
fihen Gebots fchließlich der in diefem Falle milde Ausdrud gur 
gebraucht fein ſoll? (Bleibt Gen. 6, 3 an feiner Stelle, fo recht⸗ 
fertigt er fi durch Prov. 5, 19f. und Br. Jud. B. 7). Bon 
ber fonftigen Unbaltbarkeit der dabei vorausgefetten Erklärung des 
Gottesfpruhs war ſchon oben die Rede. So jcheint mir das 
zweifellos: der in der erjten Unterfuchung gewonnene Ausgangs: 
punkt der kritiſchen Forſchung hat durd die zmeite einen größeren 
Wert, als den oben bezeichneten, nicht gewonnen. — Um fo 
lieber will ich hervorheben, daß dieſe Unterfudhung in den gegen 
Wellhauſens kulturgeſchichtliche Mißdeutung )) de8 Baumes der 
Erkenntnis gerichteten Bemerkungen (S. 65— 70) und in den 
Ausführungen Über den original-israelitifhen Charakter diefer Vor⸗ 
ftelung (S. 74—81) aud) viel Gutes. enthäft. 

Die dritte Abhandlung behandelt „die fethitifche Stammtafel 
der Grundſchrift“ (S. 89—116). Ihre urjprüngliche Identität 
mit der Rainitentafel durfte der Verfaſſer vorausfegen; auch will 


1) Berwertbar für diefelbe wäre vielleicht eine mir aus Hupfelds Genefie- 
vorlefung befannt gemordene und fonft noch nirgends aufgeftoßene Erklärung 
von Gen. 8, 5, die ich hier gelegentlich mitteilen will: „Gutes und Böſes er- 
fennen“, d. i. im Munde der Schlauge = alles; Gutes und Böſes ift 
nämlich Umfchreibung des Begriffs „alles”, wie Gen. 24, 50; 81, 24 „weder 
Gutes noch Böſes“ = nichts (mofür Num. 22, 18 vgl. 8.38: „Großes oder 
Kleines”); ebenfo 2 Sam. 14, 17: „ber König ift wie ein Engel Gottes zu 
wifjen das Gute und Böſe“ vgl. mit 8.20: „zu wiflen alles, was auf Erden 
ift“; vgl. auch Homer, Od. XVII, 228 oida &eaora, &09Ac Te xul a 
 zeona. Diefelbe Borjpiegelung des Gewinns eines Wiffens (Wiſſens von 
Geheimnifien, Befriedigung der Neugier) machen auch bei Homer, Od. XII, 
188 die Sirenen: „wer uns gehört bat, geht davon zepwauesos .. . xai 
nisiova eds‘ Iduev ydo ro ndvra. — Hupfelb felbft fügt aber bei: 
„Dagegen im Namen des Baumes und in dem Bericht über die Erfüllung 
der Zufage der Schlange (3, 7. 22) ift ‚Gutes und Böfes‘ im ſprachgebräuch⸗ 
lichen fittlihen Sinn genommen, und durch diefen Doppelfinn werden die 
Menſchen betrogen.” 


Die Biblifche Urgeichichte. 165 


ich nicht mit ihm darüber rechten, daß er die Gründe Bertheaus 
und Dillmanns für die Urfprünglichfeit der Zahlen des famari- 
taniſchen Textes in Gen. 5 für entfcheidend hält, fo wenig id) 
felbft denfelben das gleiche Gewicht beilegen Tann. Die neue Ent» 
deckung aber, mittelft deren er diefe Anficht vollends außer Zmeifel 
geftellt zu Haben meint, Halte ich wieder für ein Irrlicht. Weit 
befanntlih nach dem famaritanifchen Text nicht bloß Methuſalah 
(mie nach dem Hebr.), fondern auch Jered und Lamech im Jahr 
des Eintritts der Flut fterben, fo folgert er: alfo ift fonnenflar, 
daß fie durch die Sintflut Hingerafft worden fein ſollen; folglich 
wollte der Berichterjtatter durch feine Angaben über die Gefamt- 
Lebensalter dem auſmerkſamen Lefer deutlich genug jagen, daß die 
erften 5 Urpäter Gott gehorfam und treu geblieben feien, daß da» 
gegen vom 6. Gejchlecht an das fündfiche DVerderben eingeriffen ſei 
und auch die erftgeborenen Urväter, mit Ausnahme des 7. und 10. 
(Henodh und Noah), ergriffen habe, weshalb fie als Sünder mit 
allen andern Sündern dem Gericht verfielen. Cine Stüge für 
diefe Anficht fucht Budde unter der Vorausfegung, daß die Namen, 
wie auc die Neihenfolge derfelben, in der Kainitentafel urfprüng- 
licher find, in der Bedeutung der abgewandelten Namen in Gen. 5: 
Herd — Niedergang, Methuſchelach — Mann des Gefchoffes, 
der Gewalt, dagegen Mahalaleel — Gepriefener Gottes (?) oder 
Preis Gottes, ſowie darin, dag Henoch und Mahalaleel ihre Stelle 
vertanfcht haben, weil erfterer als leuchtende Ausnahme unter den 
Sündern ftehen und die bevorzugte 7. Stelle einnehmen jollte. — 
Aber alle diefe Scheinftügen fallen dahin, wenn man beachtet, in 
welhen Widerſpruch Buddes Entdedung nicht nur mit dem von 
allen bdiefen Urvätern, den guten und bem angeblich böfen, gleich⸗ 
mäßig ausgefagten rion, fondern — was noch gemwidtiger ift — 
mit dem allen biefen Lebensaltersangaben zugrunde Tiegenden Ges 
danken fteht. Die Langlebigkeit Toll ja das Glück veranfchanlichen, 
welches die Urväter vor den Epigonen voraus hatten; und dies 
Süd teilt auch der famaritanifche Tert den 3 angeblich gottlofen 
Urvätern noch fo weit zu, als e8 irgend möglich iſt, ohne fie, 
wie die LXX den Methuſalah, die Sintflut überleben zu laſſen. 
Als eine für die Beurteilung des Verhältniſſes der Zahlreihen 
49* 


766 Budde 


im hebräiſchen und im ſamaritaniſchen Text beachtenswerte Be⸗ 
obachtung Buddes (S. 106ff.) heben wir dagegen hervor, da 
die Dauer der vorfintflutlichen Periode im hebräiſchen Text (1656 
Sabre) bi8 auf ein Jahr zufanmentrifft mit der Summe ber 
Jahre, die nad; dem Samaritaner bis zum Tod Noahs abgelaufen 
find (1307 + 350); ob feine Folgerungen daraus zu ziehen find, 
ift aber eine andere Frage. 

In der 4. Unterfuchung behandelt Budde die Kainitentafel 
(S. 117—152). Er nimmt zuvörderft an dem Ausdrud in 
4, 17 und an der Stelle, welde diefe Notiz einnimmt, Anftoß 
und korrigiert darum: „und Henoc wurde ‚zum Erbauer einer 
Stadt und nannte die Stadt nah feinem Namen Henod‘; 
beide Anftöße dürften fi) aber genügend daraus erklären, daß 
der für feine Perſon unftäte Kain erſt, nachdem er einer Nah: 
fommenfchaft gewiß ift, einen Stadtbau unternehmen kann. Not 
forgfältiger Unterfuchung des DVerhältniffes der hebräischen Namend 
formen zu denen der LXX ſucht Budde dann zu zeigen, daß 
feiner der Namen eine üble Bedeutung habe; zwar giebt er zu 
daß Mechujael „von Gott Geſchlagener“ oder ‚Vertilgter“ be 
deute (?); aber das fei nur eine fpätere Umformung aus dem 
urfprünglichen 5ymry oder Ian — Gott giebt (mir) Leben; 
Methuſchael aber deutet er „Bittmann“ oder beſſer (?) „Er 
betener“ sc. von Gott. Aus dem Lied Lamechs Gen. 4, 23f, 
in welchem die letten Worte zu überfegen fein: „Wenn Rain 
fiebenfah rächen konnte, jo Lameh 77 fach“, und welches die 
Race ebenfo wenig mißbillige, ale V. 19 die Bigamie, wird 
weiter gefolgert, daß urfprünglich nicht Tubal Kain, fondern 
Lamech als Erfinder der gejchmiedeten Waffen genannt war, da 
aljo der urſprüngliche Text in 4, 22 gelautet babe: „Und Zile 
gebar auch, den Zubal. Lamech aber wurde ein Erz» und Eiſen⸗ 
ſchmied.“ Tubal Kains Schweiter Naema nämlich ift erft fpäte 
Hinzugefügt, um „das Gleichgewicht" zwiſchen Aa und Zilla 
herzuftellen, d. 5. damit letztere auch zwei Kinder habe (I). — 
Als Anfang der Kainitentafel entnimmt er endlich vorläufig and 
Gen. 4, 1.2 und 16 die Worte: „Und der Menſch erkannte fein 
Weib, und fie ward ſchwanger und gebar einen Sohn. Da fprad 





Die biblifche Urgeſchichte. 167 


fie: ‚Einen Mann befam ich von Jahve', und nannte ihn Kain. 
Und Kain ward ein Adersmann, und wohnte im Lande Nod, vor 
Eden." Wir gehen auf diefe Einzelheiten nicht weiter ein, da 
Budde ſelbſt eingefteht, Hier auf „ungewiffen Wegen“ zu wandeln, 
wozu er freilich bet „jo alten, fo zerbrödelten, fo oft überarbeiteten, 
fagenhaften Überlieferungen" ein Necht zu Haben meint (S. 145). 
Wichtiger find die allgemeineren Folgerungen, melde er aus der 
Rainitentafel zieht. ALS ein folides Fundament derfelben erfenne 
aud) ich zweierlei an: einmal, dag — wie befondere Dillmann 
überzeugend gezeigt hat — die urfprüngliche Bedeutung der über- 
Tieferten Kainitentafel ebenfo wie die der ähnlichen phöniziichen 
eine Eulturgefchichtliche war; und fodann, daß die Ableitung der in 
4, 20—22 genannten Berufsarten von Nachkommen Kains mit der 
In unferer Geneſis folgenden Sintflutserzählung im Widerſpruch fteht. 
Mit letzterem ift aber noch keineswegs bewiefen, daß die beiden 
unvereinbaren Überlieferungen aus verfchiedenen ſchriftlichen 
Quellen ftammen müſſen. Oder ijt es undenfbar und unwahr⸗ 
Iheinlih, daß ein und derfelbe Schriftfteller bei der Aufzeichnung 
der einzelnen im Mund des Volles Tebenden Sagen die Verbindung 
derjelben zu einer Urgefchichte nur erft in der Weife durchgeführt 
bat, daß feine Erzählungen öfters noch lofe nebeneinander ftehen (vgl. 
Wellhaufen, Prolegomena S. 333), und auch manche Inkon⸗ 
einnitäten ftehen blieben? Wer im hohen Altertum nicht von vorn» 
herein eine bedeutende Titterarifche Betriebſamkeit vorausfett, der 
wird mit diefer Möglichkeit rechnen, fo fange nicht andre gewich- 
tige Anzeichen das Vorhandenſein verfchiedener ſchriftlicher Vor- 
lagen beftätigen 2). Von folchen Erwägungen ift Budde freilich 
weit entfernt. Er fügt zu jenen zwei Baufteinen noch den dritten 
hinzu, daß Jabal, der Vater der Zeltbewohner und Herdenbefiger, 
al8 Erftgeborener aufgeführt wird, folgert daraus, daß das 


1) Wellhauſen (Sahrbb. XXI, 898) Hat jene Möglichkeit anerkannt, 
meint aber, fe reiche nicht aus, um die inneren Disharmonieen der jehoviftiichen 
Erzählung zu erffären. Jedenfalls genügt aber der Umftand, daß in Kap. 11, 
1—9 nod ein Stüd vorliegt, in welchem ebenfalls feine Rüdfiht auf die 
Sintflut genommen ift, nod) lange nicht, um das Borhandenjein einer andern 
ſchriftlichen Vorlage zu beweifen. 


168 Budde 


nomadifche Hirtenleben diefer Überlieferung „als die Blume der 
Kulturentwidelung* (1) gelte, daß alfo das Volk, welches diefe 
Überlieferung beſaß, felbft noch aus folchen Nomadenhirten beftand 
und ſich von Jabal ableitete, und, ehe wir's uns verfehen, wird 
der Bau mit den Süßen gefrönt: „Sicher“ Haben fich die Hebräer 
einmal von Kain und wahrjcheinlih von Jabal abgeleitet; die 
Rainitentafel ift die ältefte der erhaltenen, ja „das äftefte Stüd 
echter und rein gehaltener Überlieferung der Hebräer“; und fo 
wird es denn — dem Zufammenhang enthoben und damit aller 
religiös » fittlichen Beleuchtung entzogen — für die ältefte Quelle 
(I) eingeheimft. Eine Kritit diefer Beweisführung möge man 
mir erlaffen. Nur darauf möchte ich den Verfaſſer aufmerkſam 
machen, mie er im Verlauf derfelben ganz vergefjen hat, daß es 
Th in der Kainitentafel niht um die Ableitung von Völkern, 
fondern um die Entftehung von Ständen und Lebensweiſen handelt 
(ogl. Wellhaufen, Prolegomena S. 333), fowie darauf, dad — 
doch wohl abfihtlid — Jabal niht — wie er ©. 145 und 
153 dem Text zuwider angiebt — als Dater aller Nomaden- 
hirten bezeichnet ift. 

Die fünfte Unterfuhung (S. 153 — 182) trägt die Aufjchrift 
„Die jahviſtiſche Sethitentafel nad den erhaltenen Bruchſtücken“. 
Das Vorhandenfein einer folchen in der jehoviſtiſchen Schrift 
wird, weil Noahs Abftammung angegeben jein mußte, als not» 
wendig anerfannt, und Gen. 4, 24 und 25 als Anfang, Gen. 
5, 29 als ein Bruchſtück aus derfelben bezeichnet. Bin ich hier⸗ 
mit vollftändig einverftanden, fo muß ich dagegen die Vermutung, 
auch die Mitteilung über Henod (5, 22— 24) habe urjprünglich 
der jehoviftiichen Sethitentafel angehört, al8 eine ganz ungenügend 
begründete und die Sonderung der Quellenfihriften wieder übel 
verwirrende zurücdweifen. Was in der jehoviſtiſchen Sethitentafel 
von Henoch gejagt war, wilfen wir ebenfo wenig, als ob diejelbe 
nur 7 oder 10 Glieder hatte. Die Mitteilung über Henoch aber 
ift da8 der Grundfchrift angehörige Analogon zu der jehoviltifchen 
Borftelung vom Lebensbaum im Paradieſe. Jene jet zwar im 
Unterfohied von dem Jehoviſten nicht bloß die in der Natur des 
Menſchen begründete Möglichkeit, fondern auch die Wirklich- 





Die bibliſche Urgeichichte. 169 


keit der allgemeinen Sterblichkeit von Anfang an voraus; aber 
auch fie weiß von einer Möglichkeit, daß der Menſch durch ein 
befonder8 nahes Verhältnis zu Gott der Notwendigkeit fterben zu 
müffen, überhoben wird, und bei Henoch ift nach ihr diefe Mög⸗ 
lichkeit zur Wirklichkeit geworden. — Für den Hauptzweck Buddes 
bat indefjen jene üble Bereicherung der jehoviftifhen Sethitentafel 
viel weniger Bedeutung als feine angebliche Wiederherftellung des 
urfprünglichen Textes in Gen. 4, 25: „Und Adam erkannte fein 
Weib, und fie gebar einen Sohn und nannte ihn Seth; denn 
‚Gott Hat mir Samen gejegt‘." Es ift wahr, daß die Namens- 
erklärung dadurch einfacher und ſprachlich annehmbarer wird; dabei 
könnte fie aber doch nur eine Korrektur der von dem alten Schrift⸗ 
fteller beabfichtigten fein; und was fonft für die Ausfcheidung der 
auf Kain und Abel zurücweifenden Worte geltend gemacht wird, 
ift jedenfall® nicht von jo großem Gewicht, daß jene urjprüngliche 
Tertgejtalt zum Fundament taugt für den fritifchen Hhpothefenbau: 
alfo gab es eine jahoiftifche Sethitentafel, die nicht „neben der 
Rainitentafel beftand, fondern felbftändig und allein in einer Er» 
zählungsgeftalt Schöpfung und Sintflut vermittelte” (S. 161); 
biefe ift in’4, 25 von einem Schriftiteller mit den auf Kain und 
Abel Hinweifenden Zufägen vermehrt worden; der letzte Redaktor 
des Hexateuchs hat den Vers ſchon im diefer überarbeiteten Form 
vorgefunden (S. 165); folglich kann nur entweder der mit JE 
bezeichnete Redaktor der Überarbeiter fein oder — und dafür ent« 
ſcheidet fich Budde fpäter — ſchon vor diefem Redaktor waren 
in der jehoviftiichen Schrift verfchiedene Schichten redaktionell mit- 
einander verbunden (S. 167). Welche weitreichenden kritiſchen 
Folgerungen aus der mindeſtens doch jehr zweifelhaften Operation 
in 4, 25! 

Indeſſen follen biefelben durch die ſechſte Unterfuhung über 
Kains Brudermord (S. 183 — 209) feiter begründet werben, 
Diefelbe ift großenteil8 nur eine nähere Ausführung deſſen, was 
ſchon Wellhaufen (Jahrb. XXI, 398 ff.) darüber gejagt hat. Die 
ganze Erzählung (Gen. 4, 2—16, a) ift ein unter geſchickter Be» 
nügung von Elementen aus Gen. 2 und 3 und aus der Rainiten« 
tafel (möglicherweife auch einer urfprünglichen fanaanitifhen Sage) 





70 Budde 


erfundener Zuſatz eines Redaktors, welcher — hier weicht Budde 
von Wellhauſen ab — damit eine die Kainitentafel und die (jah⸗ 
viſtiſche) Sethitentafel verbindende Klammer herftellen wollte. Es 
müſſen zwifchen der Entſtehung ber Überlieferung 4, 17—24 und 
der Erzählung 4, 2—15 „Jahrhunderte“ Tiegen (S. 193), weil 
dort das Nomadenleben noch als das fchönfte und edeljte, hier da⸗ 
gegen als ein gering geachtetes und bemitleidenswertes erfcheint; 
dagegen die Aufzeichnung jener Überlieferung und die Erfindung 
der Erzählung vom Brudermord brauchen nicht allzu weit aus- 
einander gerüdt zu werden, ja könnten möglidhermweife dem— 
felben Schriftftellee angehören, wenn nicht fonft ſchon feftftänbe, 
daß 4, 2—15 und die Zufähe in 4, 25 von anderer Hand ge 
fchrieben find (S. 194f.). Im diefer andern Hand erkennt man 
„mit Sicherheit” die eines Redaktors, welcher älter ift als bie 
Ichließliche Redaktion der Genefis (S. 209). — Belanntlicd Haben 
auch andre Kritiker die Erzählung vom Brudermord Kains teils 
von Gen. 2 und 3 (Ewald), teil8 von der Kainitentafel (Dill⸗ 
mann) losgelöft; und der richtige Ausgangspunkt für eine metho- 
difche Unterfuchung darüber, ob in der jehoviftiichen Schrift ſchon 
verfchtedene Schichten von einem Redaktor miteinander verbunden 
waren, wäre ohne Trage eben Gen. 4 gewefen. Dann hätten 
nicht Einfälle und gewaltſame Herftellungen eines angeblih ur⸗ 
fprünglichen Textes die Unterfuhung über diejes Kapitel beeinflußt. 
Die Frage ift vor allem, ob jene Loslöfung der Erzählung vom 
Vorhergehenden und Folgenden begründet if. Man kann darüber 
verfchledener Meinung fein. Meinerfeits Halte ich fie für nicht 
genügend begründet. Was madht man denn für die Loslöfung 
bes Kap. A von Kap. 2 und 3 geltend? Man fagt, es fei „ge⸗ 
ſchmacklos“ anzunehmen, daß der Verfaſſer von 3, 16 fein eigenes 
Wort in 4, 7 b in ganz anderem Sinne wieder gebrauche (Well⸗ 
haufen, Jahrbb. XXI, ©. 400, Budde S. 188). Aber was will 
gegenüber dem unverfennbaren inneren Zufammenhang und den 
zahlreichen fachlichen und ſprachlichen Berührungen zwiſchen Gen. 4 
und Gen. 2 und 3 (es mag genügen, in biefer Beziehung auf 
Hupfeld, Quellen der Genefld S. 126 ff., auf meine Bemerlungen 
im Zimmermannfchen theologischen Litteraturblatt 1863 Nr. 3, 





Die bibliſche Urgefchichte. 771 


S. 15 und auf Dillmann, 2. Aufl. zu verweiſen) ein ſolches 
Geſchmacksurteil beſagen! Außerdem wird geltend gemacht, 3, 20 
ſolle offenbar 4, 1 ff. vorbereiten, und jener Vers ſei ein Einſchub. 
Erfteres ift ganz richtig und Hat fein Analogon an der Vorbe⸗ 
reitung von Kap. 3 durch 2, 255; letzteres aber ift, jo lange 3, 21 
noch als urfprünglicher Beitandteil der Erzählung gilt, fehr frag- 
ih; und gejeßt, e8 wäre fo, wäre daraus mehr zu folgern, ale 
daß der Name mın in 4, 1 als fpäterer Zuſatz auszufcheiden ift 
(ogl. Gen. 4, 25 und Budde ©. 212)? Mehr läßt fich gegen 
den urfprünglichen SZufammenhang der Erzählung vom Bruder- 
mord mit der jehovijtiihen KRainiten- und Sethitentafel einmenden. 
Hier finden fi in der That einige Inkoncinnitäten. Die Notiz 
4, 26 über den Gebrauch des Jehovanamens fcheint mit 4, 1 und 
noch mehr damit, dag fchon Kain und Abel Jehova Opfer dar- 
gebracht haben (Budde, S. 228), unvereinbar. Indeſſen ift diefer 
Widerſpruch nicht fo fchlimm, als er gemacht wird, dem 4, 26 
rebet von dem der Sethitenlinie angehörigen Anfang der von den 
Patriarchen fortgejegten (12, 8; 13,4; 21, 33; 26, 25) und in 
Israel fortbeftehenden gottesdienftlichen Anrufung Jehovas; 
ein wirklicher Widerfpruh mit 4, 1 ift alfo nicht vorhanden, und 
die Opfer Kains und Abels konnten dabei außer Betracht bleiben, 
weil man weder das mohlgefällige Opfer des Erjchlagenen, noch 
das mißfällige des von Jehovas Angefiht Verbannten als den 
Anfang des nachmaligen Jehovakultus der Patriarchen und der 
Israeliten anfehen konnte. Gewichtiger erfcheint der Anftoß, daB 
zu der Bertreibung Kains von dem Aderboden und feiner Ver⸗ 
urteilung zu einem unjtäten Leben weder der Stadtbau noch auch 
Schon da8 die Niederlaffung bezeichnende Sun in 4, 16 paßt (vgl. 
jedoch 21, 21), und daß überhaupt die deutlich erkennbare ur» 
ſprünglich Eulturgefchichtliche Bedeutung der Kainitentafel nicht recht 
dazız ftimmt. Indeſſen darf wan auch dieſe Inkoncinnität nicht 
übertreiben. Nicht dag Kain ein Nomadenleben führen muß, ift 
in 4, 11f. die Hauptfahe (wie Budde ©. 192 vorausſetzt), 
fondern das ift nur die Folge davon, daß die im Altertum ge⸗ 
wöhnliche Strafe des Mords, die Verbannung. (vgl. 3. B. Feith, 
Antiquitates Homericae II, cap. 8. Rojenmüller, Das alte und 


772 Budde 


neue Morgenland I, S. 18) über ihn verhängt ift (ogl. aud 
Num. 35, 33f.). Hat das nun aud für feine Nachkommen 
Folgen, fo bleibt doch die Verurteilnng zur Unftätheit eine perfün- 
liche; und fo begreift fi auch die Andeutung, dag Kain feinen 
Stadtbau erft für feinen Sohn unternimmt (j. oben). Im 
übrigen aber wird zuzugeftehen fein, daß bie Tulturgefchichtliche 
Überlieferung der Kainitentafel urjprünglic) zwar nicht außer allem 
Zufammenhang mit der Überlieferung von Kains Brudermord 
ftand — das darf man ſchon aus der phöniciſchen Analogie 
ſchließen, in welcher auch vor der Fulturgefchichtlichen Genealogie 
von den Zeindfeligfeiten des Niefenbrüderpaars Hypſuranios und 
Uſoos die Rede tft (vgl. Sanchun. ed. Orelli ©. 16ff.) — 
wohl aber nicht fo eng, wie in unfrer Genefis, damit verbunden 
war. Nur fragt fih auch Hier wieder, ob man beredtigt ift, 
daraus litterargeſchichtliche Sclüffe zu ziehen. So lange 
man nitht nachgewiefen, dag fih in Inhalt, Darftellung und 
Sprade in Gen. 4, 2—16 a eine andre fohriftftellerifche 
Eigentümlichkeit fund giebt, als in 4, 17—26 — und diefer 
Nachweis ift noch nicht geführt —, bleibt immer die Annahme 
die nächftliegende, daß ein und berfelbe Schriftiteller bei der Auf⸗ 
zeichnung der mündlichen Überlieferungen die jene Inkoncinni⸗ 
täten mit fich bringende Verbindung hergejtellt Hat. Einer Ans 
deutung Tuchs (Genefis, 2. Ausg, ©. 78) und dem Vorgang 
Ewalds (Altert., 3. Ausg., S. 139 Anm., Yahrb. d. bibl. Wiffen- 
fh. VI, ©. 8f.) folgend — was Budde S. 209 Anm. über» 
jehen hat — Habe ih in dem Art. „Rain“ des Handwörterbuchs 
f. d. bibl. Altert. es als wahrfcheinlich bezeichnet, daß die Er» 
zählung von Kain und Abel urfprünglich dem Überlieferungsfreis 
über das zweite, nachfintflutliche Weltalter angehört habe. Was 
Budde (S. 182 Anm. 209 Anm.) dagegen einmwendet, trifft nicht 
zu; denn einmal handelt e8 ſich in der Kainitentafel nicht um die 
Entftehung von Völkern, ſodaß aljo von einer Kollifion derfelben 
mit ber Völfertafel nicht die Rede jein kann; und fodann betrifft 
meine Annahme die mündliche Überlieferung, nicht irgendeine 
Quellenfhrift. Mag es fi) aber damit verhalten, wie es 
will, fo wird ſich die gegenwärtige Geftaltung des ganzen Kapitels 


Die biblische Urgefchichte. 713 


Gen. 4 jamt der darauf folgenden (jehoviftiihen) Sethitentafel 
als eine von dem Berfaffer von Gen. 2 und 3 herrührende ganz 
befriedigend erklären Taffen, ohne daß man nötig bat, ihn eine 
Schriftfiche Vorlage benüten oder eine andre Hand mitthätig fein 
zu laffen. Dem Erzähler der Sündenfallsgefhichte mußte zunächft 
eine Überlieferung, wie die vom Brudermord Kains willtommen 
fein, um die rapide Steigerung des Böſen und des Fluchs in 
einem Teil der Menfchheit zu veranfchaulihen. Nun war ihm 
eine andre wahrſcheinlich mit jener nicht unmittelbar verbundene 
Überfieferung befannt, in welcher die Entftehung des Städtebaus 
und die von drei verfehiedenen Ständen und Xebensweifen nach⸗ 
gewiefen war. Die von diefer Überlieferung genannten Namen 
waren zwar fchon in einer Sethitentafel verwendet worden, um 
von Adam auf Noah überzuleiten; aber die fulturgefchichtliche Be⸗ 
deutung der Überfieferung (die, beiläufig bemerft, in den Namen 
Methuſchelach und Mahalaleel noch deutlicher erhalten ift, als in dem 
entjprechenden Namen der Rainitentafel) war dabei ganz abgeitreift. 
Einem Scriftitellee nun, der ſchon in Gen. 2 und 3 den Urfprung 
der Ehe, das Erwachen der Scham, die Stufenfolge in der Be⸗ 
feidung und Ernährung und namentlich die Entftehung des Acker⸗ 
baus nachgewieſen hatte, mußte jene Überlieferung auch bezüglich 
ihres Eulturgefchichtlichen Inhalts willlommen fein, fofern fie ſich 
als Fortfegung jener Nachweifungen verwerten lief. War er fih 
nun deſſen wohl bewußt, daß andre Völker im Städtebau, in 
Künften, im Handwerk, insbefondere auch in der Anfertigung von 
Waffen den Israeliten zeitlich vorangegangen und immer überlegen 
waren, und war ihm der Gefichtspuntt, von welchem aus die 
Propheten die dereinjtige Vernichtung aller feften Städte und aller 
Kriegswaffen ankündigen, nicht ganz fremd, jo begreift es fich, daß 
er nicht der erwählten, fondern der ausgeftoßenen Linie, den Kainiten, 
die von jener Überlieferung genannten Kulturfortfchritte beilegte. 
Die Anknüpfung an Kains Brudermord ftellte dann diefe Kultur: 
fortfchritte in die von dem Erzähler von Gen. 2 und 3 unbedingt 
zu erwartende religiös -fittliche Beleuchtung (vgl. darüber die Art. 
„Abel“ und „Rain* in meinem DBibelwörterbud), und in der 
Gegenüberftellung ber Rainiten und der Sethiten war (wie fchon 


774 Budde 


in Kain neben Abel) ein Vorbild des Gegenſatzes zwifchen der 
Bölferwelt und dem Volle Gotted gewonnen. — Mag man num 
diefen Hergang annehmbar finden oder nicht, das wenigftend wird 
jeder, der mit dem in Gen. 2 und 3 woaltenden Geift ſich ver: 
traut gemacht hat, zugeben, daß der Verfafjer jener Erzählung 
unmöglich auf diefelbe die zwei alles religiös⸗-ſittlichen 
Inhalts baren Stüde hat folgen laſſen können, welde nad 
Buddes Rekonftruftion der jahpiftiihen Schrift (S. 527.) ihr 
gefolgt fein follen. 

Aus der fiebenten, den „Abfchluß der Unterfuchung des Abſchnitts 
Rap. 2, 4 b bis Rap. 6, 4* bildenden Abhandlung (S. 210 bis 
247) hebe ih zunächſt als wertvoll die Zufammenftellung der 
Eigentümlichfeiten der jehoviftifchen Genealogieen S. 220ff. hervor, 
von der fich Übrigens ein guter Zeil fehon bei Hupfeld, Quellen 
der Geneſis (bef. S. 56—63) findet. Sehr richtig wird mittelft 
derfelben erwiejen, daß die Kainitentafel der jahviſtiſchen Schrift 
angehört hat. Im übrigen wird e8 nach der bisherigen Beleuchtung 
des Unterbaus genügen, über das Wefentlichfte des Hier weiter ge⸗ 
führten Hypotheſenbaus zu referieren. Es befteht in folgendem: 
Die ültefte jahpiftifche Schrift (IT), in welcher auf die Paradieſes⸗ 
und Sündenfallsgefchichte (ohne den Lebensbaum) die Kainitentafel 
und die Notiz über die Entftehung der Nephilim folgte, kann feine 
Gintflutserzählung enthalten haben. Won einem, derfelben Schule 
angehörigen priejterlichen Bearbeiter (J2) ift eine zweite verbefferte 
und vermehrte Ausgabe jener Schrift veranftaltet worden, bie 
namentlid) durch Aufnahme von Sagenftoffen aus Babylonien 
„dem erweiterten, zu weltgefchichtlichem Überblick gediehenen Ge- 
fichtsfreis des israelitiichen Volles Rechnung tragen” ſollte. Die- 
felbe enthielt ebenfalls die Paradiejes- und Sündenfallsgefchichte, 
aber mit dem Gottesnamen Clohim und den die Paradiefeeitröme 
und den Lebensbaum betreffenden Einſchüben. So nad) S. 232 
bi8 242; hinterher wird aber S. 496 ff. die dort offen gehaltene 
Möglichkeit vorgezogen, daß J? ftatt der Paradiefes- und Sünden⸗ 
fallsgefchichte eine Schöpfungsgefchichte mit dem Gottesnamen 
Elohim enthalten habe, und daß jene Einjchübe erft auf Rechnung 
von J8 oder auch eines andern in der fynkretiftifchen Weiſe von 


Die bibliſche Urgefchichte. 775 


I? verfahrenden Bearbeiter zu feßen find. Auf das erfte Stüd 
ließ der Bearbeiter fofort die zehngliedrige Sethitentafel folgen und 
Teitete durch diefelbe zu feinem zweiten Hauptftüd der Sintfluts- 
erzählung über. — Diefe beiden Ausgaben beftanden nebeneinander ; 
ein ebenfalls diefer Schule angehöriger Redaktor (J®) Hat diejelben 
ineinander gearbeitet und in&befondere um die Kainitentafel und bie 
Sethitentafel nebeneinander aufnehmen zu können die Erzählung 
vom Brudermord Kaind erfunden und eingefchaltet. Diefe dritte 
Ausgabe der jahpiftifhen Schrift ift, unter Wegfall des größeren 
Teils der Sethitentafel, in der uns vorliegenden Geneſis, verbunden 
mit den Stüden der Grundſchrift, erhalten. — Ohne weitere Kritif 
wollen wir diefen Hhpothefenbau feinem Schidfal überlaffen. 

Die achte Unterfuhung über die Sintflutsgefhichte (S. 248 
bis 289) betrifft wefentlich nur exegetifche und kritische Einzelheiten. 
Ich bemerke dazu folgendes: Wichtig ift in einigen Stellen, wie 
Gen. 6, 7; 7, 1-5. 8 und 9, das Eingreifen des Redaktors 
nachgewiefen. Die trog 6, 11 und 12 äußerſt unwahrjcheinliche 
Einfegumg von ennyo 877 vor yanımn in 6, 13 (©. 254) 
hätte fi der Verfaſſer vielleicht erjpart, wenn er 9, 11 beachtet 
hätte. — Dagegen macht er mit Recht (S. 255.) auf die an- 
nehmbaren Emendationen de Lagardes zu Gen. 6, 14 und Well- 
haufens zu Gen. 6, 16 aufmerfjam. Den Einfall, aus dem 
a» Dıyaan in Gen. 7, 17 ein oıD zu gewinnen, um ®.17 a der 
Grundſchrift zufchreiben zu können (S. 264), überlaffe ich den 
Liebhabern folcher Proben des Scharfſinns. — Die ©. 269 
Reuß allein zugefchriebene Anficht iiber Gen. 8, 4 gehört urfprüng- 
ih Hupfeld (Quellen der Gen. S. 16f. Anm.) an und ift au 
von Böhmer geteilt; in der Ablehnung derfelben bin ich mit Budde 
einverftanden. — Inbezug auf Gen. 8, 13b ift ©. 274f. der 
Vorgang Schraders (Studien zur Kritif und Erklärung der Ur⸗ 
gefhichte S. 145f.) überſehen. — Auf die S. 275 Anm. ges 
machte gute Bemerkung feien die Exrforfcher des Sprachcharakters 
der Grundfchrift aufmerkſam gemacht. — Die exregetifchen Be⸗ 
merkungen zu Gen. 9, 2 und 5 (S. 279—289) endlich ver- 
dienen alle Beachtung; was ich in benfelben für richtig, und was 
ih für unrichtig anfehe, mag bier unerörtert bleiben. 


776 Budde 


Seinen Hauptzweck verfolgt Budde erſt wieder im der neunten 
Unterfuhung über „Noch als Winzer und die PVerfluhung 8a 
naans” (S. 290 — 370). In der Erklärung von Gen. 9, % 
bi8 27 begegnen wir zunächſt einem richtigen Verftändnis de 
ins in V. 26 und 27. Unbegründeten Anftoß nimmt Budde 
an dem onn DB. 26; folde Sonderung des Fluchs und de 
Segens dur Wiederholung der Einführungsformel entfpricht ganz 
bebräifcher Gewohnheit (vgl. 3. B. 16, 9—11; 17, 3. 9. 15; 
19, 9; 20, 9. 10; 24, 24. 25 u. a). Ebenſo unbegründet ift 
der Anſtoß an den Worten: „Geprieſen fei Jehova, der Gott 
Sems“, bie Budde in „Jahves Gefegneter ift Sem“ forrigiert. 
Schon Clericus Hat gezeigt, daß jene Worte eine gebräudlid: 
Form der Beglückwünſchung find, in welcher fi die innerlihfe 
Teilnahme an dem wahrgenommenen Heil und Segen kund gieit 
(ogl. 14, 20. Er. 18, 10. 2 Sam. 18, 28. 1 Kön. 10, 9); 
und wie nahe lag es einem israelitifhen Schriftiteller dem 
Urpater im Hinblid auf den hohen Vorzug feiner von Sem ıb 
ftammenden Nachkommen gerade diefe Ausdrudsweije in den Mund 
zu legen. — olgenreicher ift, daß Budde von S. 298 an unten 
nimmt, die von Wellhaufen (Yahıb. XXI, S. 403) Leicht hin 
geworfenen Vermutungen über die urfprüngliche Geftalt und Br 
deutung der Überlieferung Gen. 9, 20— 27 weiter zu verfolgen: 
Da nicht Ham, fondern Kanaan verflucht wird, und da in V. 25 
Sem und Japheth ausdrücdtich als feine Brüder bezeichnet werden, 
jo ift offenbar, daß die Söhne Noahs urſprünglich Sem, Japheth 
und Kangan hießen, und letzterer der Miſſethäter war. au on ü 
V. 22 ift natürlich Einfchiebjel. Nun find die VV. 9, 18 und 19 
jahviftifch, und zwar rühren fie, da fie die Sintflutserzählung vor- 
ausfegen, von J? her; in diefer Schrift bildeten 9, 18a und 19 
die Einleitung zur jahviſtiſchen Völkertafel, deren Bruchſtücde u 
Gen. 10 erhalten find. Zwar könnte der Vers 5, 29, der vom 
Böhmer mit Recht darauf bezogen worden ift, dag Noah durh 
Erfindung des Weinbaus Zroft in der Mühjal des Lebens ge 
Schafft hat, dafür geltend gemacht werden, daß auch in J? di 
Erzählung 9, 20—27 geftanden habe. Da fie aber weber vor 
nod nad) der Sintflut in diefe Schrift Hineinpaft — letter 


Die bibliſche Urgefchichte. 777 


nicht, weil die Söhne Noahs bei dem Vater im Zelte wohnen 
und Kanaan (Ham) noch ein zudtlojer Knabe ift —, fo ift an- 
zunehmen, daß ein Redaktor (J*) fomohl 5, 29 in die Gethiten- 
tafel von I? als jenes infchiebfel in 9, 22 eingefügt hat, um 
die aus der äfteften Schrift (I!) ftammende Erzählung 9, 20 
bi8 27 mit den aus J? entnommenen Stüden zu verbinden. Syn 
dieſer älteften Schrift, die von der Sintflut nichts wußte, kann 
nun Noah nit Stammvater der Menfchheit gewejen fein, fo 
wenig als Kanaan ein Drittel der Menfchheit repräfentieren kann; 
vielmehr, da Kanaan die vorisraelitifche Bewohnerſchaft des jo 
genannten Landes (abgefehen von den Bhiliftern) und Sem Jsrael 
repräfentiert, fo muß auch Japheth im Sinn der urjprünglichen 
Überlieferung ein brittes einzelnes, mit jenen beiden nahe ver 
wandtes und auch in ober bei Kanaan zu fuchendes Volk fein. 
Es ift freilich fchwer ein folches zu finden. Die Philifter, an 
welche Wellhaufen dachte, können es nicht fein. So werben £8 
alfo die Phönicier fein. Zwar nimmt man gewöhnlich an, daß 
diefe zu den Kanaanitern gehören; aber ein Brudervolk Kanaans 
repräfentiert ja Japheth auch bei jener Annahme, und das Alte 
ZTeftament nennt die Phönicier nie Kanaan, fondern unterfcheidet 
fie als Sidonim von den Kanaanitern; Stellen, die dem zu wider⸗ 
fprechen fcheinen, laſſen fich leicht exregetifch oder Fritifch aus dem 
Weg räumen. Und wie ſchön "paßt der „Geheimname“ Japhet, 
wenn man ihn (nad nr ſchön fein) „Schönheit“ beutet, auf 
die glänzenden, reichen Städte der Phöniten! Wie gut paßt die 
weite Ausbreitung Japheths, das Wohnen in den Hütten Sems, 
die mit den Israeliten gemeinſame Herrſchaft über Kanaan zu 
den Phönicieen! Und wenn fih jemand durch alles dies noch 
nit darüber beruhigen laſſen will, daß er ſich bisher, durch die 
Bölfertafel irre geleitet, fo ſehr über Japheth getäufcht Haben 
fol, jo Tann ihm auh noch ber große Gewinn vorgehalten 
werden (S. 329), daß bier die ältefte israelitifche Überlieferung 
noch „unbefangen bdasjelbe ansfagt, was die wifjenfchaftliche 
Forſchung unferer Tage behauptet *: Israel und Kanaan find 
Brüder | 


Auf eine Kritik dieſes ganzen Hypotheſenbaus gedenke ich mic) 


718 Budde 


nicht einzulaſſen; manches in demſelben lieſt ſich wie eine Satire 
auf ſolche Kritiker, welche eine Vorausſetzung, die ſich als un⸗ 
durchführbar erwieſen bat, ſtatt fi an ihr irre machen zu lafſen, 
nur um fo zäher fefthalten und, mag biegen oder brechen, was ba 
will, mit allen Mitteln durchzuführen entfchloffen find. — Einige 
etwas feitere Beftandteile des Gebäudes follen aber doch beleuchtet 
werden: vor allem die Grundvorausfegung, daß die urfprüngliche 
Überlieferung Kanaan als dritten Sohn Noahs genannt und ihn 
als den Miſſethäter bezeichnet habe. Letteres hat fogar Dillmann 
acceptiert, ohme aber die Schwierigkeiten, in welche er fich dadurch 
oerwidelt, genügend löſen zu können (vgl. Budde S. 300). Bar 
Wellhaufen glaubte man, zwar nit fchon daran, dag der Väter 
Sünden auch an den Kindern Heimgejucht. werden, wohl aber an 
der bdiefen Glauben zuhilfe nehmenden Tendenz der Überlieferung, 
den Grund der Knechtſchaft der Kanaaniter nachzuweiſen, einen 
ausreihenden Erflärungsgrund dafür gefunden zu haben, daß Ka⸗ 
naan ganz in die Stelle feines Vaters Ham einrüdt, Warum 
fol nun diefe Erflärung fo unbefriedigend fein, daß man ihr eine 
Aunahme vorzieht, welche in ihren Komfequenzen jo viel urkundlich 
bezeugte Traditionen Israels über den Haufen wirft? Den Aus- 
drud aaa in 9, 25 übermäßig zu urgieren, davon follte fchen 
ber befannte weitere Gebrauch desjelben abhalten. Aber — jagt 
Budde (S. 301 Anm.) — um jener Xendenz willen hätte bie 
Sage ja leicht eine viel entjprechendere Erklärung dafür finden 
tönnen, daß Kanaan den Fluch tragen mußte, den Brüdern 
‚feines Vaters zu dienen. Gewiß, wenn ber Erzähler feiner 
„Einbildungsfraft die Zügel ebenfo frei fchießen laſſen“ konnte, 
ale es moderne Kritiker zu thun lieben (S. 405)! Wie aber, 
wenn er etwas mehr mit gegebenem lüberlieferungsftoff zu rechnen 
Hatte? Gehörte zu demfelben unter anderem auch, daß Noah 
Stammpater der nachfintflutlihen Menſchheit war, daß feine Söhne 
Sem, Ham und Yapheth, und daß Hama Sohn Kanaan war, 
ift dann nicht die vorliegende Geftaltung der Erzählung vollkommen 
begreiflih? Wenn die ſchamloſe Unzudt der Kanganiter (derem 
Sittenlofigfeit ohne Zweifel auch gefchichtlich der tiefere Grund 
ähres politifhen Elends war) der Überlieferung Israels die nähere 





Die bibliſche Urgeſchichte. | 7179 


Beſtimmung der Unthat darbot, deren Fluch auf den Kanaanitern 
Aoftete, follte etwa Kandan die aus unzüchtigem Stan entſprungene, 
alter Pietüt bare Ruchloſigkeit an "feinem Vater Ham begangen 
haben? Wet ſieht nicht, daß dieſelbe viel fluchwürdiger erſchien, 
wenn fie an dem begangen wit, ber felbft der erwählten Linie 
angehörte, den auch die Fsraeliten als Ahnhertruſehrten, 
an dem Stammvuler der Hadjfintflatlichen Menſchhett, dem ehr⸗ 
würdigen Noah? Dann über mnÄte «8 der Überlieferung Is— 
raels, die zur Motwierung eines Fluchs der perfönligen Ver⸗ 
Ichubduhg nicht bedurfte, at nächiten liegen, als den Miſſethäter 
nicht den Enkel (Kanaan), fondern deſſen Bater, den Sohn Roche 
(Bam), zu nennen. Hierzu kam hun noch, daß eine andere afte, 
urfprünglich kulturgeſchichtliche Überkteferuiig Noah als den Gr- 
finder und Einführer des Weinbaus bezeichnete, und damit einen 
paſſenden Auknupfungapunkt für eine der Pietät gegen den Stamm⸗ 
Vater der Menfchheit möglichſt Rechnung tragende Geſtaltung ber 
Stzähling darbot. — Übrigens würden, ſelbſt wenn die vollstüm⸗ 
liche Überlieferung wirklich urſprünglich Katiaan als den Miſſe⸗ 
thätet, ja went: fie ihn als Sohn Noahs bezeichnet Hütte, Litterär« 
gefhichtliche Folgerungen daraus immer no voreilig fein. — 
Dies gilt auch vun einer in ber Stellung der Erzählung begrün⸗ 
deten, wirllich vorhandenen Jukoncinnität, welche Budde in ſeinem 
Hypotheſenbau verwertet. Es iſt ganz richtig, daß nach der jeho⸗ 
viſtiſchen Vorſtellung — auch wenn man bie Altersangaben 
der Grundſchrift wie billig ganz außer Bettacht lüßt — die 
Söhne Noahs nur als verheiratete Munnet in die Atche gegangen 
fein koͤnnen, nud ebenſo richtig iſt, daß dazu die Scenerie naſerer 
Erzählung, die vordusfest, daß dieſelben noch im jugendlicherem 
Alter mit ihrem Vater zuſammenwohnen, nicht paßt (Budde 
S. 310). Gegen die Folgernng, daß die Überlieferung von ber 
Sintftut und die in unſerer Erzählung vorliegende, wie überhaupt 
die von Noch als erſtem Rebenpflanzer, von Haufe aus under 
vunden ueben einander beftanden, wird tichts einzuwenden ſein; 
wohl aber dugegen, daß man daraus auf verſchiedene Quellen⸗ 
ſchriften ſchließt. Oder war nicht jene Itkoncinnitüt für einen 
Theol. Stad. Sahri. 1888. 50 


780 Budde 


Schriftſteller, welcher die einzelnen im Volksmund lebenden Er: 
zählungen zu einer zufammenhängenden Geſchichte zu verbinden 
unternam, faum vermeidbar? Schien die Scenerie unjerer Er- 
zählung die vorfintfiutliche Zeit zu fordern, fo fand ihrer Ver⸗ 
fegung dahin, abgefehen von der Erwähnung Kanaans, die Angabe 
über Noah als Einführer des Weinbaus und bie Beziehung des 
ganzen Stüdes anf nachſintflutliche Berhältniffe im Wege. So 
blieb nichts übrig, als dasſelbe troß jener Inkoncinnität nach der 
Sintflut als letzte Erzählung aus dem Leben Noahs unterzubringen. — 
Ganz verfehlt ift es, daß Budde die Annahme Böhmers, Lemechs 
Hoffnung in 5, 29 beziehe fih auf Noahs Weinbau, wieder auf- 
gegriffen, ja fogar behauptet Hat, daß jener Vers mit der Be⸗ 
ziehung auf 9, 20—27 ftehe und falle (S. 311). Das gerade 
Gegenteil ift wahr: diefe Stellen können nichts mit einander zu 
thun Gaben. Hat denn das oft fo feine Ohr Buddes aus der 
Erzählung 9, 20-27 nicht einen Nachklang der befanders gegen 
den Weinftor am zäheften fich richtenden Abneigung des Nomaden 
gegen das jeßhafte Leben und feine Kultur herausgehört (vgl. in 
meinem Bibelwörterbuch die Artikel „Nafirker“, „Rechabiter“ und 
„Wein“ S. 17506)? Und hätte er nicht Anlaß gehabt, fiatt 
der altteftamentlichen Stellen, in welchen der Wein als „Sorgen- 
brecher“ gerühmt wird, die viel zahlreicheren Stellen berbeizuzichen, 
in weldden vor ummäßigem Weingenuß und vor dem Wein über- 
haupt gewarnt wird (vgl. d. A. „Wein“ S. 1753$.)? Und auf 
diefe Erzählung ſoll Lemechs Hoffnung auf den Troft, den Noah 
‚bringen werde, vorbereiten? Die wahre Beziehung von 5, 29 
hat man bisher allerdings überjehen, weil man Gen. 8, 21 nur 
den Vorſatz Jehovahs ausgeſprochen fand, Tein allgemeines Flut⸗ 
gericht mehr kommen zu laffen. Es blieb dabei umbeachtet, daß 
von einer Verfluchung des Erdboden in der ganzen Sintfluts⸗ 
gefchichte nirgends, wohl aber Sen. 3, 17 die Rede iſt, und daß 
da8 En Ar2yD gefliffentlich das Proyd diefer Stelle wieder auf- 
nimmt. Zweierlei will Jehova alfo nah 8, 21 infolge des 
Dpfers Noahs, welches der Mienfchheit zugute kommt, nicht wieder 
thun: ex will den Erbboden nicht wieder um des Menfchen willen 
verfluchen, wie er nah Kap. 3, 17 gethan Hatte, und er will 


Die bibfifche Urgeſchichte. 781 


nicht wieder alles, was da Tebt, jchlagen, wie er eben in der 
Sintflut gethan Hatte Auf erftere fegenspolle Wirkung der 
Dpferdarbringung des geredhten Noah weiſt nun fchon Gen. 
5, 29 Hin. Diefe drei Stellen der jehoviſtiſchen Schrift 3, 17; 
5, 29 und 8, 21 ftehen wirklich in unlöslihen Zufammen- 
bang. — Auf das „Wohnen Japheths in den Zelten Sems“ 
fann ich für diesmal nicht näher eingehen, fondern will nur meiner 
Überzeugung Ausdruck geben, daß fpezielle geſchichtliche Verhält- 
niffe, aus welchen diefe Ankündigung erwachfen fein könnte, ſich nie 
werden nachweiſen lafjen, und im übrigen auf den von den Aus- 
fegern verkannten Geſichtspunkt hinweiſen, den ich ſchon im Art. 
„Noah“ ©. 1099 b und Stud. u. Krit., Yahrg. 1883, ©. 815 
zur Löſung bes Problems dargeboten habe. 

Die 10. Unterfuhung (S. 371—408) über den Turmbau 
zu Babel jest die (mir jehr zweifelhaften) Ergebniffe Wellhauſens 
über die jahoiftifchen Beftandteile der Völfertafel, und baß die: 
jelben J? angehören, voraus, weift bie (wirklich vorhandene) In⸗ 
foneinnität von Gen. 11, 1—9 ſowohl mit 10, 8—12 als mit 
den übrigen jahpiftifchen Beſtandteilen der Völkertafel nach, folgert 
daraus, daß die Zurmbaugefchichte in J? nicht geftanden Hat, viel- 
mehr I! angehörte und erft von J° in den Zufammenhang von 
J2 eingefügt wurde. Die von J® in 10, 25 eingefchaltete Na⸗ 
menserklärung Pelegs follte fie vorbereiten. In It fcloß fie fich 
an die Erzählung von der Entitehung der Nephilim, deren Schluß 
neiprünglich der abgefprengte Vers 10, 9 bildete, an. Der mit 
I? bezeichnete Bearbeiter der jahviftifchen Urgeſchichte, welcher 
— pie wir ©. 401 erfahren — unferer heutigen Kritik voran» 
eilend, ſchon alle dieſe urgefchichtlicden Erzählungen „als fagenhaft, 
als Geſchichte im Gewand der Sage” betrachtet hat (1), Hat die 
beiden Stüde 6, 1. 2. 4; 10, 9 und 11, 1—9 ausgemerzt und 
Nimrod zum Erbauer Babels und des Turmes gemacht, nur daß 
er es doch nicht wagte, dies in 10, 8. 10-12 geradezu heraus⸗ 
zufagen. — Wenn nun in J! anf die Turmbaugeſchichte urjprüng- 
fich noch das jet vor Kap. 10 ftehende Stüd 9, 20—27 folgte, 
fo muß dazwifchen eime Notiz geftanden haben, welche uns von 
Babel nah dem Schauplag der Erzählung von Noahs Weinbau 

50* 


182 Budde 


und der Verfluchung Kangans führt. Welches dieſer Schauplatz 
war, ſoll die 11. Unterfuchung über „Heimat und Einwarderung 
Abrahams* (S. 409—454) ermitteln. Aus Gen. 11, 27—32 
wird V. 29 und 30 und au DB. 28, aber ahne die Worte „in 
Ur Kasdim“, für J1 in Anſpench genommen. Im Zuſammen⸗ 
hang der Beweisführung dafür macht Vudde unter anderem gel⸗ 
tend, daß bie Grundſchrift die Verwandiſchaft Neheflns, Labans 
uud Bethuels mit Abraham, bezw. ihre Ablunft nen Naher nicht 
anerkenne, fie vielmehr einfach zu Aramdern mache, and daß in 
11, 32 wiederum ber ſamarunniſche Text die urſprunglache Zahl⸗ 
qugabe (145) enthalte. — Das „Mebumsland“ Harans umd 
Abrams (11, 28), von welchem aus Abram nach Kanaan berulen 
wird (12, 1ff.), iſt die Gegend von Cheran, Ans ſhriſche Meſo⸗ 
potamien. Dieſes (nicht, wie Wellhauſan angenommen: bat, ſchon 
Kanaan) wird alſs der Schauplatz der Geſchichte 9, 20-—%7 fein, 
und ſomit wird in I’ nad dee Kurmbeugeichichte bie Nachricht 
geftauden haben: „ER zog aber upon Makel aus auch Noah, der 
Sohn Jabals, er und fen Weib und feine drei Söhne, Sem, 
FJapheth und Kanaan, und er ging nach dem ſhrifchen Meſopo⸗ 
tamien und blieb dort“, worauf fih 9, 2027 fo anſchloß: 
„Und Noah wurde ein Ackersmann und fing an, einen Weinbeng 
zu pflanzen“. — Ines „In UrKasdim“ (= Mugfeir) ia 14, 2B 
bat nicht etwa ber fchliehliche Redabtor (vgl. 15, 7), fonhern der 
Bearbeiter J2 Baigefjgk !), um für die Wanderung vom: Landımges 
punkt der Arche aus, als weicher ihm mich das Gebirge rueibs, 
fondern etwa die Kette des Puhchti⸗Ruh, im Qſten nen Babel und 
dem Tigris, galt, nach. Charan eine paſſende Zwiſcheuftatien zu 
gewinnen. — 

Bir begnügen uns mit diefem Reſerat, um noch Diem fir 
einige Bewerkungen über das im 12. Abſchnitt (S. 455520) 
gezogene kritiſche Schlußergebnis zu behalten. Die genze Gar 
derung von J! und J? als zwei ſelhſtändig ueben einander be 
ftehenden und erft pon J® verbundenen Ausgaben einer jabuiftifchen 


1). Wefevent Hält Gen. 15 nicht für jehopiftiih, fonbern file denterono⸗ 
miſtiſch. 


Die bibliſche Urgeſchichte. 788 


Schrift iſt — das wird teils aus unſerer Krikik, auch wenn man 
einzelnem darin nicht zuftemmt, teils ſchon ans dem einfachen Re⸗ 
ferat erhellen — nur mittelft einer Reihe von voreiligen Fol⸗ 
gerungen, zweifelhafden Vermutungen und kritiſchen Gewaltſam⸗ 
beiten durchgeführt. Mag Wetllheuſens Annahme Grund haben, 
daß in der jehoniftiicgen Schrift fchen vor ihrer Verbindung mit 
ben: anderen Quellenſchriften Einſchube von Ülberarbeitern gemacht 
werben find, worüber ich nicht abfprechen will, fo iſt doch Budbes 
Auöfüheung diefer Annahme jo „brüchig“ und haltlos, daß milt 
ihr eis wishicher Beweis für dirſelbe jedenfalls nicht erbracht iſt. 
Wie unbefriedigend die Buddeſche Kompoſition der von J1 ber» 
zührenden Urgeſchichte begliglich dos 2. und 3. Stüdes ift, darauf 
ift ſchon oben Bingewisfen worden. Dafür daß Ja nicht por Sa- 
Immo gefihrirben fein künne, wird (S. 506-515) neben der erft 
son dieſem Koönige nuögeführten völligen Knechtung der Kanaa⸗ 
aiter !) amch bin Beziehung des Wohnens Japheths in den Zeiten 
Semd (9, 27) auf die Abtretung: des Bezirks Kabul am Hiram 
von Tyras geltend gemacht, was doch auch Kautzſch ftart bean⸗ 
ftanbet. — Der zweite Heraudgeber der jahviftiſchen Schrift (I?) fol 
die ans Bubylonien ihm zugekommene Sintflutsgeſchichte zum 
Mittelpunkt der ganzen Urgeichichte gemacht und ihr zu Liebe die 
in feiner Vorlage verzeichwete älteſte Wberlieferung, fo viel als 
mötig, ınngeformt, zugleith aber auch der Reiuheit der religiöfen 
Aunjchauungen buch Ausmerzung des Mythologiſchen ans der ur⸗ 
würhfig volßstimlichen Überlieferung Rechnung gettagen haben. 
Budde Finder es teils aus letzterem Grund, teils, weil dieſe zweite 
Knsyabe in weit Höheren Anſehen ftand. (f. u.) als die erfte, 
wohrtcheinlih, daß diefelbe eine aus den Prieſterkreiſen hervor» 
gegangene gleichſam amtliche Mezenfion war. Anderſeits bemeift 
ige fynlcetiftifcher Charakter, insbeſondere ber Einfluß der baby⸗ 
fonifchen Sagen, daß fie früdeftens dem 9. Jahrhundert, feit die 
Affyrer ihre Eroberungszüge bis ans Mittelmeer hin ‚machten, am 
wahrſcheinlichſſten aber erft der Zeit des Ahas (vgl. den Priefter 


1) &. 507 ift übrigens überfehen, daß die Worte Any An pBTmon 
in 3of. 9, 27 ein deuteronomiftiicder Zufat find. 


784 Budde 


Uria in 2Kun. 16!) angehört. — Hier liegt freilich der Ein⸗ 
wand nahe: wenn das fyrifche Mefopotamien „die Wiege ber Is⸗ 
raeliten“ und der ganzen femitijchen oder noachidiſchen Bevölkerung 
Borderajiend war (S. 451), Liegt dann die Annahme nicht fehr 
viel näher, daß die Israeliten fchon von dorther die Überlieferungen 
mitgebracht Haben, welche fie mit bem „Zweiftromlanb“ gemein 
haben? Das Heruntergehen bis in die Zeit des Ahas ſcheint doch 
auch Budde jelbft bedenklich; und wie infolge der Eriegerifchen Ber 
rührungen mit den Affyrern ein jmdälfcher Priefter „mit der My⸗ 
tbologie der Affyrer und Babylonier und mit der darauf gegrün⸗ 
beten Religionsübung vertrant” geworden ſein folf, tft doch ſchwer 
abzufehen. Budde weiß auch jenen Einwand mit nichts anderem 
abzumeifen als damit, daß die ülieſte Geftalt ber israelitiichen 
Urgeſchiche — NB. nah ferner eigenen: Relonftruktion der⸗ 
jelben — Berührungen mit der Sage des Zweiftrontlands „nicht 
oder doch nur hier und da in leifen, ganz ins Hebrätfche einge 
lebten Zügen“ aufweife. — Jene beiden Ausgaben der jahvifti- 
ſchen Schrift hat nun der teils als Redaktor, teils. ale Schrift⸗ 
ftelfer arbeitende JS möglichit unverkürzt und unbeſchüdigt in einer 
dritten Ansgabe mit einander verbunden. Weit überwiegend Hält 
er fi aber an die zweite Ausgabe (J®); und diefe gleichem 
„amtliche* Ausgabe blieb auch neben der dritten erhalten und 
genoß in den Priefterkreifen Hohes Anfehen; denn nur fie.ift von 
dem DVerfaffer der Grundfchrift berüdjichtigt worden (S. 463 ff.) ; 
ja derfelbe hat ben ganzen urgejchichtlichen Stoff, welchen er in 
feiner Weife bearbeitet hat, aus J2 geſchöpft. Und nun werden 
wir fchlieglih (S. 470— 495) unter viel Aufgebot von Gelehr- 
famteit auch noch darüber belehrt, daR die von dem Redaktor 
der Geneſis nach ber Bearbeitung der Grundſchrift in Gen. 1 
mitgeteilte Schöpfungsgefchichte ihrem weſentlichen Inhalte wach 
fhon in jener zweiten Ausgabe der jahpiftifhen Schrift (I®) 
geftanden und den Anfang derfelben gebildet Babe. Damit find 
denn glücklich alle von der bisherigen fritifchen Forſchung ges 
fonderten Fäden wieder völlig ineinandergewirrt, und «8 fit 
den Feinden aller Kritik Leicht gemacht, höhnend darauf hin⸗ 
zumeifen, wie wenig es doch mit der angeblich unwiderſprechlichen 


Die biblische Urgefchichte. 185 


urfprünglichen Verjchiedenheit der Beftandteile ber Genefis auf fich 
haben fann. 

Immerhin ift es von Intereſſe, zu fehen, wie die Verfechter 
der nacherilifchen Abfaffung der Grundſchrift ſich dazu gedrängt 
jehen, die jehoviftifche Schrift in immer weiterem Umfang mit 
Beftandteilen und Charalterzügen auszuftaffieren, die von der 
Grundſchrift entnommen find. Schon Wellhauſen hat die Zeugniffe 
für die Benugung der Grundjchrift im Deuteronomium teilweife 
nur dur die Annahme zu befeitigen gewußt, daß die betreffen- 
den, uns nur in der Örundichrift enthaltenen Angaben auch in. ber 
jeboviftifchen Schrift geftanden hätten (Jahrbb. XXII 466 ff. 472F.). 
Dasfelbe vermutet er bezüglich des den Megenbogen betreffen« 
den Zuges der Sintfintsgefchichte (Prolegomena ©. 328). Budde 
fügt zu diefen hypothetiſchen Beitandteilen der jehoviftiichen Schrift 
bie Mitteilung über Henoch (5, 21— 24) und die Schöpfungd- 
erzählung Hinzu. Daneben aber nimmt er noch manche alige- 
meine Charakterzüge ber Grundſchrift, welde von den einen für 
ihre frühe, von ben anderen, namentlich von Wellfaufen für 
ihre fpäte Abfaſſung geltend gemacht worden find, teils für feine 
äftefte jahwiftifche Schrift (IN), teils für die zweite Ausgabe der⸗ 
jelben (I?) in Anſpruch: für jene den national befchränkten Ge⸗ 
ſichtskreis (S. 321) und teilweife bie tiefe und lautere israe⸗ 
Litifche Gotteserkenntnis (S. 244. 504); dem Verfaſſer dieſer 
dagegen, welcher allerdings anfangs eine bedenkliche Neigung zum 
Mythologifchen zu haben ſchien (S. 232 ff.), wird Binterher, 
nach gewonnener befjerer Einfiht, in noch höherem Maße ein 
reiner ethifcher Monotheismus zugejchrieben, vermöge deijen er 
bei aller Verwertung nusländifher Sagenftoffe aus diejen, wie 
aus der israelitifchen Vollsüberlieferung, die fein Vorgänger auf- 
gezeichnet hatte, mit ficherer Hand alles Mythologiſche ausgejchieden 
bat; ferner — freilich mit äußerft ungenligender Begründung — 
die Zugehörigkeit zur Briefterfchaft, der Gebrauch des Gottesnamens 
Elohim in der Schöpfungsgefchichte und die zehngliederige Sethiten- 
tafel als einzige Überleitung von diefer zur Sintfintsgefchichte 
(ohne Paradiefes- und Sündenfallägefchichte, ohne Brudermord und 
ohne danebenftehende Kainitentafel). Gegenüber den wiederholten 


3% Furſter 


Hinweiſungen Buddes anf Anzeichen ſpüteſter Abfaffung ber Grunde 
ſchrift, auf deren Beurteilung ich hier nicht eingehen fan, möge 
won biefe intereſſanten Übertragungen. fchriftitellerifcher Ehangtter- 
züge der Grundichrift auf bie beiden üfteften jahviſtiſchen Schriften 
nicht usheachtet laſſen. 

Eo thut mir aufrichtig leid, Aber ben wiſſenſchafilichen Oe⸗ 
ſamtcharalter und die Ergebniſſe eines: Werles, das im einzelnen 
manche wertvolle Aneführnugen für bie Exegeſe und die Kritik 
ber bibliſchen Urgeſchichte enthäͤlt, fo ungünftig haben urteilen zu 
müſſen. Nur ungern babe ih mich entſchloſſen, öͤffentlich ein 
Urteil darüber abzugeben. Aber wenn die theologiſche Wiſſen⸗ 
ſchaft ein gutes Recht Hat, die kirchliche Zenfurierung abzu⸗ 
lehuen, fa hat fie auch die Pflicht, ihre eigenen Berirrungsm rüd- 
haltslos aufzudecken; und gerahe hiefed Werk ſchien mir befpnbers 
geriguet, and: andere Fachgenoſſen daran zu erinnern, daß unfere 
kritiſche Forichung, wenn fie ohne ftrenge- Methode, aber: mit. vief 
Subiectiviomus und Gewaltſamleit übsrlieferte Texte in Stüde 
fehfägt und die Bruchſtücke nad) eigenem Gutdünken wieder zu⸗ 
fammenfegt (S. 145), in großer Gefahr ift, zu einem vielleicht 
fie manchen intereffanten, aber für die Wifſenſchaft unfruchtbaxen 
Spiel zu werben. Ed. ieh. 


2. 


Hörfter, Th. D.: Ambrofins, Bifhof. von Mailand. 
Eine Darftellung feines Lebens und Wirkens. Halle 1884. 
334 ©. 8. 





Nur mit Zögern hat Meferent, mit andersartigen Arbeiten ber 
Schäftigt, der freundlichen Aufforderung der Redaktion der Theol. 
Std. u. Krit. fih gefitgt, das Förfterfche Buch üher Ambrofius 


Ambrofius, Biſchof von Mailand. IH 


nachtraglich auch in biefen Blättern. zur Anzeige zu dringen. Mit 
Freuden entledigt er fich bei eintretender Muße der übernommenen 
Aufgabe, die ihm, ber zwar weder als Kirckenhiftarifer von Fach 
noch als dem Autor ebeubürtiger Ambroſiuskenner urteilen Tann, 
doch beſonders ſympathiſch ift, da fie ihm Gelegenheit giebt, auf 
eigene. Erftlingsarheit zuruckzugreifen. — Zwingt ihn. dabei er» 
nentes Prüfen ber früher gewonnenen Reſultate einigen Partieen 
dea Förſterfchen Buches gegenüber ſich ablehuend oder ergänzend 
zu verhalten, fo kann ex im übrigen gern in den Dauf einftimmen, 
der dem Halleſchen Superintendensen. für bie ihn nit minder wie 
ſeinen Helden ehrende Darftellung von verjchiedenen Seiten bereits 
ausgeſprochen mprben ift, 

Den geringften wiſſenſchaftlichen Ertrag liefert wohl unftreitig 
daB. erſte ber drei „Bücher“, in melde nach Kurzer Cinleitung 
(S.1—18:; Vorgeschichte des mailändiſchen Kirche, politiiche Zeit⸗ 
lage, Stellung der Kirche zu deu fittlichen und ſozialen Aufgaben 
im 4. Jahrhundert), die Schrift verteilt tft, ©. 19-85; „her 
Bischof." Wenn der Verfaſſer bier var. alles das kirchenpoli⸗ 
tiſche Wirken des Ambroſius darſtellt, ſo bat er allerdings van 
vornherein dem Leſer gegenüber mit dem Umſtand zu kämpfen, 
daß er ziemlich allgemein Bekanntes behandeln muß. Man er⸗ 
wartet in foldem Falle — ob mit Recht, fei dahingeſtellt — 
neue Geſichtspunkte, neue Beziehungen dargelegt zu finden, und 
baran fehlt es dieſem Abſchnitt einigermagen, wozu wohl mitge- 
wirkt. hat, daß es für den, der nicht ex profenso Kirchengeſchichte 
zu treiben Bat, ſchwer ift, firh ein nach allen Seiten vollitändiges 
und. in allen Bezägen klares Bild von der kirchlichen und poli« 
tischen Sefchichte des 4. Fahrhunderts zu machen. Immerhin wird 
man die überfichtliche und forgfältige, vorwiegend auf des Ambro⸗ 
ſius eigene Zeugnifje refurrierende Darftellung gern leſen, und das 
günftige Urteil über den Charakter des großen Kirchenfürſten und 
Seelenhirten, weiches im legten Kapitel. ausgefprodhen wird, kann 
als wohl fundiert gelten. — Nicht beiftimmen kann Neferent der 
abfälligen Kritik, weiche an. dem DVerhalsen des mailändifchen Bi- 
ſchofs in dem Streit um bie Rirchenauslieferung ©. 42 geübt wind. 
Iſt in der Chat des Ambrofius Kirchenideal ein: falſches, un⸗ 


188 Förfter 


evangeliiches, fo lag doch in diefem Speziellen Kalle nicht „Lirchliche 
Allgewalt mit ftantliher Ommipotenz‘ (S. 79) in einem für 
beide Teile gleich bebenklihen Streit, fondern es galt ein beredh- 
tigted nom possumus gegenüber durchaus unberechtigter und uns 
lauterer Forderung, wobet die Frage, ob Ambrofius ganz die rechte 
Form des Wiberftandes gefunden, offen. bleiben mag. — Eine 
fleine Enttäufchung bereitet übrigens das 1. Kapitel diefes Buches 
infofern, als dasfelbe in der Überſchrift auch Mitteilungen über 
des Ambrofius Bildungsgang anfändigt. Im Grunde erfährt man 
davon bier eigentlid gar nichts. Do wird das an diefem Ort 
Bermißte einigermaßen nachgeholt in dem 2. Kapitel des 2. Buches, 
wo von ben Bildungselementen und litterarifchen Etufläffen in den 
Schriften des Kirchenvaters gehandelt und dabei auch feiner allgemeinen 
humaniftiſchen Bildung gedacht wird. Nur wäre ein größeres Ein- 
gehen auf die vorchriftlichen insbeſondere philoſophiſchen Studien 
des einftigen consularis wohl am Plate gewefen. Speziell würe 
es von nicht geringem Intereſſe, wenn der mit Ambrofius jo durch« 
gehend vertraute Verfaffer den Lefer darüber belchrt hätte, ob jener 
feine philojophifchen Kenntuiffe vorwiegend den Quellen felbft, 
oder ob er fie vorwiegend den fompendiarifchen Schriften Ciceros 
verdanfte. Referent hat feiner Zeit das letztere annehmen zu 
müffen geglaubt (Ewald, Der Einfluß der ftoifch-eiceronianifchen 
Moral auf die Darftellung ber Ethik bei Ambrofius, Inaugural⸗ 
difjertation, Leipzig 1881, S. 17). Die Andeutungen Förſters 
Sprechen wenigſtens nicht gegen diefe Annahme. Bewährt fie fi 
aber, fo ift da8 zwar erklärlich, ja natürlich, doch zugleidy charakte⸗ 
riſtiſch Für die wiſſenſchaftliche und litterarifche Leiftungsfähigkeit 
des Kirchenvaterd, welche Förfter wohl in etwas zu überjchäßen 
geneigt ift. — 

Neben das erite Buch ftellen wir hier glei) das dritte S. 200 
bis 271: „Der Prediger und Dichter“. Bewirkte es mehr ber un. 
gleich dankbarere Stoff oder mehr die größere Sicherheit, mit der 
der Verfaſſer fich bier auf eigenftem Boden bewegt, jedenfalls ift 
dieſer Teil der Förfterfchen Arbeit in hohem Grade mwohlgelungen. 
Bon den einleitenden Bemerfungen über die Entwidelung der Pre⸗ 
digt vor Ambrofius würde Referent nur auf bie Ausführungen 


Ambrofius, Biſchof von Mailand. 189 


über die amtife und biblifche Rhetorik gern verzichten. Diefelben 
find noch weiter ausholend als bie erften Seiten der ganzen 
Schrift, wo über die Anfänge der Stadt Mailand gehandelt ward, 
und laſſen wegen der notwendigen Kürze der Darftellung unbe⸗ 
friedigt. Dagegen beruft der Überblick über die Firchliche Predigt 
vor Ambrofius anf forgfältigen Studien und bildet eine gute 
Grundlage für die Darftellung der Prebigtweife des mailändifchen 
Biſchofs. Überſichtlichkeit in der Gliederung, geſchickte Auswahl 
der Belege und anfpreihende Form wird man der Teßteren Dar⸗ 
ftellung zweifellos nachrühmen dürfen. Vor allem aber ift zu 
deffen, dag es Würfter gelungen ift, der beliebten Art, den Homi⸗ 
leten Ambrofius geringfhägig oder gar verwerfend abzuthun, einen 
Damm entgegenzuftellen. Ambrofius war ein Redner von Gottes 
Onaden, und vor allem, wo er — nur zum Teil in Abhängigkeit 
von Bafilins — foziale Mißftände befpricht, dürften feine Worte 
noch heute ihre einftige gemichtige Wirkung ausüben können. Selbft 
die Draftit mander feiner Expeltorationen (vgl. bei Förfter, 
S. 228 ff. u. 5.) fönnte unfern verwöhnten Ohren und Nerven 
hie und da recht wohlthätig fein, wenn anders nur fie von einer 
dem großen Vorbild verwandten Perfönlichkeit getragen wären. 
Denn allerdings: das legte Geheimnis der homiletifchen wie Tirchen« 
politifchen Bedeutung unferes Vaters liegt, wie Förfter mit Recht 
mehrfach hervorhebt, in feiner das altrömifche honestum und de- 
corum mit aftteftamentlichem Ernſt und neuteftamentlicher Demut 
und Liebe einenden Perjönlichleit. — Aufgefallen ift dem Referen⸗ 
ten, daß bie gewiß aus Predigten entftandene Schrift de Isaac et 
anima fo gar nicht zur Charafteriftit der ambroftanifchen Reden 
herangezogen iſt. Es fcheint faft, als ob die Abneigung Forſters 
gegen die bei Ambrofius überhaupt fehr beliebte Allegorifiermethode 
ihn die große Schönheit dieſer Schrift, die allerdings das Hohelied 
mit kühnfter, oft geſchmackloſer Allegorefe „zerquält“, verfennen 
ließ 9. Doc vergleiche man einmal Kap. 5, 43; 8, 75. 79, bes 


1) Zu den von Förfter mehrfach angeführten Beiſpielen willfürlichen Alle- 
gorifierens fet hier noch eins gefügt, das Ambrofius gewiß nicht dem Philo 
entlehnt hat: In de Jacob et vita beata (I, 4, 19 nach Migne) kommt er 


28 Fürſter 


ſonders die Schlaßworte, in denen zwar die platoniſch⸗philoniſche 
Biychologie, die- in dem Buch finrl hervortritt, noch wachklingt, 
die aber in ihrer einfacgen Schönheit: erguesfen müſſen: Mos 
animae summs, nostra autem membra veatimente sunt; ser- 
vanda. sunt quidem westiments, ne sandantur, ne inwete: 
rescant: sed ille magis qwi his utktur, servare se debet et 
custodire. 

S. 253-—-71 handelt: der Verfafler in forgfültiger' Weife über 
die postifchen Leiſtungen des Ambrofſus und deren Berangfägtingen, 
Referent ift zu wenig. orientiert anf dieſem Gebiet, um ein anderes 
Urteil zu füllen abe dies, daß: man bie Aupführungen Förſters 
gewig mit vegftem und fruchtbare Intereſſe werde Infen Fünnen. — 
In der Anm. S. 320 ff, wird eine. reimloſt wetrifche Überfeguung. 
der vier allgemein anerlannten Hymnen (Deus creator ommium; 
Aeterne rerum conditer, Jam surgit hora tertia; Intende 
qui regis Israel == Veni redemptor gentium) verſucht, gamik 
die richtige Form, um den Eindxuck der Ambrafianiſchen Lieder im 
Deutſchen einigermaßen wiederzugeben. Die Überfeguug iſt ſehhr 
anſprechend und wohlgelungen. Nur an der ſechſten Strophe des 
Hymnus Jam surgit horn tertia ift der Verfaffer geſcheitert. Die 
Verſe, welche an bie Erwahnnung des Heprenmortes im Jeohauues: 
apostole en mater tua anknüpfen, find in der That daniel ?) 
Referent belennt aher, daß ihm Forſters Überſetzung  geradrgn- un⸗ 
verftändfich erſchienen iſt. Jedenfalls iſt ſie ſehr ungenau 2). 


auf jene bedenkliche Manipulation zu ſprechen, durch welche Jalob ſich den 
beſten Teil der Herden Labans zu verſchaffen weiß. Dabei findet er nun 
in den dreierlei Stäben durch die wunderlichſten Kombinationen Trinitatis 
praefigarata mysterin und lobt die bonae oves, welche infolge ber heilſamen 
Perdigt dieſer Wyfterien bonorem purtus operum fidei sacrae non dege- 
nenes ediderunt! 
1) Praetenta nuptae foedera 
Alto docens mysterium, 
Ne virginis partus sacer 
Matris pudorem laederet. 
2) As ein Geheunnis kündet er 
Vom Kreuz der heilgen Ehe Bund, 
Daß die Geburt der Jungfrau nicht 
Berleist: (indieat}?) ber Hutter Teufchen Simm.. 


Ambrofius, ff don Mailand. 91 


Grid; das erfie Wort prastenta, aber auch) ‚der Gen. nuptae 
fommt nit zu ſeinem echt, und pudor ift, wie Forfters eigene 
Retiz ammeift, gewiß micht Für „Leufen Stan”, ſonbern fir den 
af der Keufchheit zu nechenen. — Referent-weiß wicht, wie ambere 
bie Worte überſetzt haben. Am beiten erſchten es ihm früher, daß 
man das me der ‚zweiten Belle ſachlich von praetenta abhängen 
laffe (eventuell mit Umſtellung dev erfien und zweiten Zeile) umd 
überfege: dem vorgeſchützten Bund der Heimgefüihrten, der Gattin, 
das if fo die Ehe Marias mit Joſeph, anzeigend als das, was 
fie war: ein gottgewolites heiliges Myfterium, nicht eine Ehe nach 
gmmähniihen Begriff; vorgeſchutzt, damit nicht ꝛc. — Doch läßt 
fich jedenfalls die Schwistigkeit einfucher löſen, indem man überſetzt: 

Kundmachend ihrer She Schein 

Tom Arc ala Gottesheimlichkeit, 

Auf dab der Suugfeau Mutterihaft 

Nicht Ichänbe ihrem beuſchen Ruf. 

Das zweite Buch, das uns noch zux Beſprechung übrig Bleibt, 
giebt zunächft Ray. 1, ©. 86—99 einen gut orientierenden Über» 
Kid über die ſchriftſtelleriſchen Leiftungen des Ambroſius. (Zu vgl. 
auch der Zuſatz S. 336.) — S. 99—128 folgt fene® oben er 
wähnte Kapttel über die Bildungselemente unb Eiterarifchen Ein⸗ 
füaffe in den Schriften bes Ambrofius. Sutereffante Streiflichter 
fallen babei auf den Stand der Realwiſſenſchaften in den eriten 
FJahrhunderten. Wichtiger aber ſind die drei Abfchnitte über das 
Derhältuis bes Ambrofius zn Phile, Origens und Bafiline. 
Forſter verrät auch hier fehr forgfältige Studien. Mit ganz ber 
fonderem Intereſſe verfolgt man den Nachweis der oft ſllaviſchen 
Anlehnung des Kirchenvaters an Säge des jüdiſchen PHilofephen. 
Ob aber freilich, die Wieinung, daß diefe Anlehnung im Geumbe 
mer. formaler Natur fei und in der Hauptſache ih auf „Behand- 
Kung de8 Alten Teftomgentes und Interpretation geſchichtlicher Vor⸗ 
gänge” beſchruule (S. 112), Haktbar ift, erſcheiut dem Referenten 
mehr als zweifelhaft. Ambrofſius war wohl kaum imftande, die 
chriftlichen und phileniſchen Gebanken iiber den Logos beſſer aus⸗ 
einander zu halten als ihm vorgüngige Väter, und hierin, wie In 
feinen pfychotogiſchen Thedremen, feiner Degradierung des leiblichen 


792 Förfter 


Seins an zahllofen Stellen, feiner Beſchreibung fittlider Borgänge 
und Zuftände (vgl. ded Referenten obengenannte Schrift, S. 23. 
36. 47. 50ff., auch Förfter, S. 139) zeigt er fich immer wieder 
material von Philo abhängig, ohne daß man dieſe Abhängigkeit 
als bewußte und gemollte, oder auch nur als fanftante. vorzuftellen 
hätte. Soviel Referent beobachtet hat, machen ſich je nachdem diefe 
oder jene Vorlage dem Ambroſius zur. Stäge. feiner Ausführungen 
bient, durhaus heterogene. Einflüffe geltend. (Bgl. die 
eben citierten Stellen aus des Referenten Schrift; auch Sörfter ; 
©. 126). 

Die Anlehnung an Origenes wird von Förſter wohl mit. m. 
auf ein ziemlich geringes Maß beichränft: Immerhin bat, wie 
nachgewiefen wird, Origene® dem abendländiſchen Kirchenvater nicht 
nur naturwiſſenſchaftliche und andere reafiftifche Kenntmiffe, ſondern 
auch gewiſſe eschntologiiche Anfchauungen vermittelt, obgleich nicht 
einmal ganz feft fteht, ob Ambrofius überall direkt von Drigenes 
entlehnt. Enger wieder ift der Anſchluß an Baftlins (beſonders 
im Hexaömeron, einer dem griechiſchen Original nachgebildeten 
Schrift); Förfter giebt auch Hierfür gut gewählte Belege und zieht 
mit Necht die geiltige Verwandtfchaft und gleichartige Stellung 
beider Väter zur Erklärung herbei. — Ähnliche Erwägungen Hat 
Referent betreffs des BVerhältnifies des Ambrofius zu Cicero an 
gefielit (vgl. des Referenten Schrift, ©. 14 ff.). Daß Fürfter 
hierauf an diefer Stelle nicht eingeht, Kat feine Berechtigung, da 
diefer Gegenftand fpäter bei Beiprehung der Ethik zur Verhand⸗ 
fung fommt. Doc fcheint Förfter überhaupt zu wenig auf die 
Beziehung zwifchen den beiden Genannten zu geben. 

Es folgt nun auf diefe vorbereitenden Erörterungen eine forg- 
fültige Unterfuchung über die Theologie und theologische Bedeutung 
des Kirchenlehrers Ambrofius. Vortrefflich ift die allgemeine Cha⸗ 
rakteriſtik S. 125 ff. Aber aud der Nachweis des Hier ausges 
ſprochenen zeigt den Verfaſſer als durchaus gediegenen Kenner des 
Ambrofius und feharfen, nüchternen Beurteiler der einfchlagenden 
Tragen. Die Unterfuchung verläuft, nbgejehen von einem einlei- 
tenden allgemeinen und einem die Ethik behandelnden Abfchnitt, in 
6 Kapiteln: Theologie, Chriftologie und Soteriologie, Anthropologie, 


Ambrofius, Biſchof von Mailand. 795 


Heilsaneignung, Kirche und Gnadenmittel, Eschatologie. Bon befon- 
derem Jutereſſe find der dritte und der vierte diefer Abfchnitte (Kap. 
6 und 7) an und für fi umd weil dem Lefer dabei ber Gedanke 
an des großen Lehrers größeren Schüler begleitet. Aufgefallen ift 
dem Referenten auch bier wieder die Vernachläſſigung der Schrift 
de Isaac et anima, die doch manches enthält, was bejonders für 
bie Faffung des Blanbensbegriffs von Belang ift. ebenfalls hat 
aber Förfter es verftanden, durch feine Unterjuchungen dem Am⸗ 
brofius einen felbftändigen Pla innerhalb der theologifchen Ent» 
widelung zu wahren. 

S.175—199 wird endli die Ethik des Ambrofius behandelt 
und zwar in zwei Abjchnitten: 1) die ethifchen Grundgebanfen ber 
Schrift de off. ministrorum im befonderen; 2) die ethifchen Grund» 
gedanken des Ambrofius im allgemeinen, 

Im erſten Abſchnitt fett ſich Förſter mehrfach mit des Refe⸗ 
renten ſchon einige Male citierter Schrift auseinander. Doch muß 
Referent ſich da gegen ein verhängnisvolles Mißverſtändnis ver⸗ 
wahren. Er hat — wie mehrfach ausdrücklich betont ward — 
nicht die ethiſchen Grundgedanken, ſondern die Darſtellung 
der Ethik bei Ambrofius behandelt. Förſter bemerkt dies zwar 
(S. 184), hat e8 aber fonft nicht berüdfichtigt, und doch hätte er 
fih nicht bloß verfchiedene Exklamationen „auch Ewald giebt zu”, 
„felbft diefer beredte Anwalt des ſtoiſch⸗ cicerontanifchen Einfluffes 
kann nicht umhin“ 2c., jondern auch einen Zeil feiner Polemik 
erfparen können, wenn er mehr darauf geachtet hätte !). Die 


1) Überhaupt muß Referent fich in aller Freundlichkeit beflagen, daß ihm 
von feinem Gegenpart nicht durchgängig die erwünſchte Achtfamleit zugebracht 
worden if. So hat Referent die Echtheit des Genitiv ministrorum im Titel 
ber Schrift nicht geleugnet (Förfter S. 176), fondern nur feinem Urteil über 
ben Inhalt der Schrift dadurch einen Ausdrud gegeben, daß er die Weg- 
Yaffung „jedenfalls für eine fachgemäße Korrektur” erklärte. Diefes Urteil wird 
vom Referenten auch gegen Förfter aufrecht erhalten. — Was bie wohlmwollende 
Anerkennung ©. 807. Anm. 181 betrifft, daß „Ewald wenigftens einige Male 
andy andere Stellen zurate zieht”, fo muß Referent auch biergegen remon⸗ 
firieren. Die vor allem neben ben Officien in Frage kommenden Schriften find- 
nicht nur eingehend berüdfichtigt, fondern auch mindeſtens fo häufig wie bei 
Hörfter citiert, mit Ausnahme ber für des Referenten Aufgabe ganz im Hinter 





79% Förfter 


ſachſiche Differenz zwifchen ums ift in Wahrheit nicht allzu groß. 
Bor allem, was Yörfter unter Rr. 2 über die etäffchen Grund» 
gedanten bes Ambrofius fagt, wird kaum amzıffechten fein. Ins⸗ 
befonbere eignet ſich Referettt die Eike S. 184 voll an. Biels 
leicht önnte man im weiteren eimmenden, daß teog der Aneifennumg 
des antik⸗ariftokratiſchen Zuges im der ſittlicher Anſchnuung der 
alten Kirche and befonbers bei Ambroſtus (S. 186) der Monchs⸗ 
BHrofoph zu fehe in den Borbergrund geſchoben wird (dgl. da⸗ 
gegen des NRefeventen Schrift, ©. 86 f.). — Vetteffend den Ab⸗ 
Schnitt 1 bei Förſter muß Referent aber jedenfalls Dabei ſtehen 
bieiben, daß es dem Ambroſtus keineswegs gelungen ft, die von 
ihm unwillſkürlich oefgmommenen föiflhreicerumamfthen und plato⸗ 
niſch⸗philoniſchen Gedanken wirklich zu afftımilteren. Anh die Hinzu⸗ 
bringung „des transcendenten Hintergrundes und des religibs⸗ 
chriſtlichen Elementes des ewigen Lebens“ (S. 178) beifert daran 
nichts. Im Gegenteil, es zeigt fiih eben an dem nnvermitteften 
Nebeneinander der zwei heterogenen Gedankenteihen, dab Aubtoſius 
feine ifofierten „ethifchen Grundgedanken“ überhaupt nicht zu einer 
gefchloffenen Anfhauung, einem Syftem, zufammenzuarbelten im» 
ftande war !). Referent will fogaur noch weiter gehen, als er es 


grund Flehenden Kommentare. ber allerdings mußte Referent es für feine 
Abſicht wicht uur als ratſam, ſondern geradezu als notwendig anfehen, daß 
von den Dfficien ausgegangen würde" (gegen Förfter, S. 176f.). 
Die Darftellung einer Disziplin hat man da zu fuchen, wo fie zuſammen⸗ 
hängend gegeben if. Und die Erörterung ethiſcher Prinzipien ift über- 
haupt nur im den Offizien gegeben. Anch iſt zu berikdfiäättgen, daß 
eben dies Buch als Buch, als Darſtellung der Ethik, eine weit Tider die Wire⸗ 
kung dee gelegentlich geäußerten Anſchauungen hinausgreifende Bedenkung ger 
wonnen hat. 

1) Es iſt nicht „die diplottratiſche Vergleichnng einzelner Stellen“ (Foͤr ſte r 
GS. 181), die der Referenten antike Einflüſſe erkennen ließ, ſondetn die ge⸗ 
famte Anſchaunng der don ihm daflir angefüihrten Schtiften de Abrah., 
de Isaac, de parad., de Jao. ete. — Mögen aber andy inmmerhin „endere 
Enflufſe“ auf die mönchiſch asfefifähe Richtung der Lirchenwäter hiugewirkk 
haben, ſo wird doch Fotſter das nicht im Abrede ſtellen, daß eben dieſe Ein⸗ 
fſufſe doch die Aufnahme ber antiker Gedanken, die ſich als die gerignet ſchei⸗ 
nenden Formen darboden, veraulaßten und daß ſomit diefe Gebanken faltiſch in 


Ambrofins, Bifchof don Mailand. 1% 


feiner Zeit getfan: Die rein transcendente „chriftliche“ 
Taffung des höchſten Gutes geftattete in alle Wege 
weder eine Verſchmelzung mit den antiten Elemen- 
ten, noch überhaupt eine wirklich Kriftlihe, d.h. evan⸗ 
gelifhe Darftellung der Ethik. 

Doch damit fei es genug. — Nochmals will Referent feine 
Freude ausſprechen über das Bud, daß ihm reiche Anregung ger 
geben bat, und den Wunfch beifügen, daß es Herrn D. Förfter 
vergönnt fei, anf dem von ihm ſchon mehrfach bearbeiteten Ge⸗ 
biete noch weiter zu arbeiten, anderen und fich felbft zur Freude. 
Nur wolle es ihm gefallen künftig die Anmerkungen möglichit unter 
den Text und nicht an den Schluß zu verweien! 


Reipzig. Lic. Dr, Yaul swald. 


der alten Kirche vorhanden find und bei den verichiedenen Männern verjchie- 
denen, bei feinem wohl bloß formalen Einfluß gewannen. 


Theol. Stub. Jahrg. 1886. 61 


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Inhalf des Jahrganges 1884. 





Erftes Heft. 


———— 


Abhandlungen. Geite 
1. Benrath, Wiedertäufer im Benetianifchen um bie Mitte bes 16. Jahr⸗ 
DUNDELIG = u. 35. 2. 18 ac: ee en Maas an 9 
2. Meyer, Die Wahlfreiheit des Willens und die fittliche Verantwort⸗ 
lichkeit des Menſchennn. 67 
Gedanken und Bemerkungen. 
1. Koffmane, Zu Luthers Briefen und Tiſchreen. 0... 131 


Rezenſionen. 


. Wright, The book of Kohelet; rez. von Klofermann. . . 151 


Zweites Heft. 


VVVx 


Abhandlungen. 
1. Hering, Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation II... 195 
2. v. Soden, Der erſte Thefſalonicherbrieeee 268 


ur 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Bertbeau, Im welchem Jahre wurde YBugenhagen geboren? . . 813 
.Röſch, Die Begegnung Abrahams mit Meldiiebel . . - . . -» 321 


198 Inhalt. 
Geite 
Rezenſionen. 
1. Warneck, Proteſtantiſche Beleuchtung der römiſchen Angriffe auf die 
evangelifche Heidenmiſſion, 1. Hälfte; vez. von Jacobi . . . 359 
2. Wangemann, Die Iutherifhe Kirche der Gegenwart in ihrem Ber 
bältnis zur Una Sancta; res. von Rietfhel . . 2 2 20. 971 


Miscellen. 


1. Programm der Haager Gejellichaft zur en ber — 
Religion für das Jahr 1884 . . . 401 


2. Programm der ne Zietaien Sera su Sorten L 
das Jahr 1885 . . 407 


Drittes Heft. 





Abhandlungen. 
1. Dorner, Dem Andenken von D. 3. A. Dorner . . 417 
2. Weiß, Über das Weſen des perjönlichen Chriſtenſtandes Once Ar⸗ 
tikel)... 453 
3. Klöpper, Der ungewaltte &liden und das "alte Kleid. Der ı neue 
Wein und bie alten Schläuhe. - . » » . ee... 505 


Gedanken und Bemerkungen. 


. Hering, Der Streit über bie Echtheit eines Lutherfunde® . . . 587 
. Buchwald, Nod eine Bemerkung zu dem Streite a mit den 
Wittenberger Stiftsherren, 1523—24 . . .. .» .... 555 


DD ⸗ 


Rezenſionen. 


1. Franke, Das alte Teſtament bei Johannes; rez. von Riehm . . 563 
2. Schmid, Gedichte der u, vom ae an bis — unſere 
Zeit; re. von Steude . . . 00. 588 


Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha. 


Inhalt. 799 
Seite 
Viertes Heft. 
Abhandlungen. 
1. Uſteri, Initia Zwinglü. Beiträge zur Geſchichte der Studien und 
der Geiſtesentwickelung Zwinglis in der Zeit vor Beginn der — 
matoriſchen Thätigkeit . 607 
2. Dorner, Das Verhältnis von Kirche er Stont nad Dam. . 672 
Gedanken und Bemerkungen. 
1. Bogt, Über Heinrichs VIIL. Ehefcheibung 725 
2. Bogt, Über Melanchthons loci . 747 
NRezenjionen. 
1. Budde, Die bibliſche Urgeihichte; reg. von Riehm. : 753 
2. Förfter, Ambrofius, Bifchof von Mailand; rez. von Ewald. 786 








Berlag von F. C. W. Vogel in Leipzig. 
Soeben erfihten: 


Wilhelm Gesenius’ 


Hebräiſche Grammatik. 


Bölig umgearbeitet und Herausgegeben 
Bon 
Prof. Dr. E. Kautzſch in Tübingen. 


[126] 


24. vielfach verbefjerte und vermehrte Auflage 
Mit einer Schrifttafel und einem Facſimile der Siloah-Infchrift von 3. Enting. 


gr. 8°. 1885. Preis 4 A. 





Berlag von Zriedr. Andr. Verthes in Gotha. 


Soeben erſchien: 

Barry, Wired: Die natürliche Theologie. Eine 
Darftellung der den vereinigten Zeugniffen von Gott 
innewohnenden Beweiskraft. 

Bauer, Wilh.: Die Gewißheit unferes Shriften- 
glaubens . 

Beder, W.: Reitfaden für den Religionsunter- 
richt. 3. Aufl... 

‚Brieger, Th.: Ouellen und Forſchungen zur Ge⸗ 

ICh der Reformation I. Aleander und Luther 


Fr Herm.: Bibliſch- theologiſches Wörter— 
buch der neuteſtamentlichen Gräcität. 4. vers 
mehrte und verbeſſerte Auflage. Lfg. 1Iu. 2 à .. 

Vollſtändig in ca. 14 Lieferungen. 
——: Reformation und Wiſſenſchaft. Akad. Rede 
Dentice Geſchichte. Bon Wilhelm Arnold. 1. Bd.: 
Dentfche Urzeit. 3. Aufl. we. - 
——: Dasjelbe geb. . En 
—: 2.8.1.2. Hälfte: Sränkifhe dei geh. 
— : Dasfelbe geb. . Ein 

Dentiche Seihichte.. In 8 Bänden. 

1. Bd.: Gefchichte der dentfchen Are von Felix 
Dahn. Erfte Hälfte (bi8 anno 476) . 

: 6. Bd.: Das Beitalter Fiedrichs des Großen 

und Aoſephs II. von Alfred Dove. ar Hälfte 
(1740—1745) . . 

Dorner, A.: Kirche und Reich Gottes. 





4 


34 


2 


Die drei großen Reformationsichriften Luthers vom 
Jahre 1520. Herausgeg. von Prof. Dr. 8. Lemme 
Fiſcher, &: Der Glaube an die Unſterblichkeit 
nach feinem Einfluß auf das fittliche Leben . : 
Fletichhaner, O.: Kalender-Compendium d. chriſtl. 
Zeitrechnungsweiſe auf d. Jahre 1— 2000 vor u. nach 
Chriſti Geburt. Ein Taſchenbuch für jedermann. geb. 
Gebhardt, Herm.: Thüringiſche Kirchengeſchichte. 
Seinen Landsleuten erzählt. 3 Bände . . . 
Sloat, B.: Spetulative Theologie in Berbin: 
dung mit der Religionsgeſchichte. 1. Band, 
1. und 2. Hälfte . 
ermens: Unfer religiöfes Rationalgut. 
acoby, H.: Chriſtliche Tugenden . . 
— : Allgemeine ——— ut Grund der 
hriftlicen Eerthit . 
: Analecta Lutherana . 
2. &fg. a. ; 
Kingsiey, Charles: Dorfpredigten 
Kloftermann, A.: Probleme im Apofteltezte. 
Kolde, Th.: Luther und der —— zu Worms 
1521 . . i 
— Martin Luther. i.. 
Krank, Alfr.: Lehrbuch der Homiletit. a 
Martin Luthers Schriften in Auswahl herausgegeben 
von Dr. %oh. Delius. In Kaliko gebunden 
: I. Troftfchriften. In Kaliko gebunden ; 
Beterien, H.: Henrit Steffens. Ein Lebensbild . 
Breilenie, E. v.: Der Erlöfer. Vorträge 
Niehm, Ed.: Luther als Bibelüberfeßer.. . 
Ayfel, J.: Ein Brief Georgs, Sie der 
Araber an den Presbyter Yefus. . 
Schiller, Geſchichte der EaniGen Raiferzeit I. Band, 
1. u. 2. Abtlg. ; 
Stende, E. ©.: Beiträge zur Apologetit. an 
Vademecum ans Luthers Schriften, für die evang. 
Schüler der oberen Klaffen höherer Lehranftalten zu- 
jammengeftellt und herausgeg. von Dr. al Aloe 
und Dr. Johannes Delius . . 
—— Agyptiſche Geſchichte, 1. Abil. 
Bit, Ch. A.: Ulrich Zwingli. Vorträge 








Separatabdrud 
aus dem „Börfenblatt für den Deutichen Buchhandel‘, 1885, Nr. 109. 


Deutſche Drude alterer Zeit, in Nachbildungen herausgegeben 
von Dr. Wilhelm Scherer, o. ö. Profeſſor der deutjchen 
Sprache und Litteratur an der Univerfität Berlin. 


I. Die September= Bibel. Das Neue Tejtament von Martin 
Luther. Nachbildung der zu Wittenberg 1522 erjchienenen 
eriten Ausgabe zum vierhundertjährigen Geburtstage Luthers. 
Mit einer Einleitung von Julius KRöftlin. Berlin 1883, 
z Grote'ſche Verlagshandlung. Fol. AM 50, geb. in Leder 

60. 


II. Das ältefte Fauſt-Buch. Historia von D. Johann Fauften, 
dem weitbeſchreiten Zauberer und Schwarzkünitler. Nachbil- 
dung der zu Sranffurt am Main 1587 dur Johann Spies 
gedrudten erften Ausgabe. Mit einer Einleitung von Wil: 
heim Scherer. Berlin1884, ebenda. kl. 80. „M20, geb. M 24. 


In Nr. 26 des Börjenblattes v. d. J. haben wir ein inter: 
eſſantes typographifches Unternehmen dem Lefer näher zu bringen 
gefucht: die »Drudjchriften des 15. bis 18. Jahrhunderts, in ge: 
treuen Nachbildungen herausgegeben von der Direktion der Reich3- 
druderei 2c., erites Heft (Berlin 1884)«. 

Heute haben wir es mit den Anfängen eines nicht minder 
intereffanten Werkes zu thun, das ebenjomwohl nach der typogra= 
phifchen wie nach der Litterarifchen Seite Hin Aufmerffamfeit ver: 
dient, und welches der Initiative eines bedeutenden Litterarhifto: 
rikers jeine Entitehung verdankt, dem die Hilfe eines einſichts— 
vollen und opferfähigen Verlegers zu teil geworben ift. 

Es Handelt ſich bei dem neuen Werfe um die Nachbildungen 
deutjcher Drude aus älterer Zeit, aljo ftreng genommen nur um 
Kopieen von allerdings hochachtungswerten Originalien, wenn wir 
die Höchit felten gewordenen alten Drude überhaupt mit dem leb- 
teren Worte bezeichnen dürfen. Das eigenartige Unternehmen darf 
den Anfpruch erheben, nad) Form und Weſen mit Aufmerkſamkeit 
aufgenommen zu werden, und deshalb wollen wir e3 hier verjuchen, 

* 





u 


das Intereſſe der Leſer des Börjenblattes für dasfelbe zu eriweden, 
indem wir e3 vornehmlich von der typographiichen Seite betrachten 
und die Würdigung feiner — übrigens längſt anerfannten — Be: 
deutung nad der Litterargejchichtlichen und Fulturhiftorischen Seite 
der berufenen Fachkritik anheimgeben. 

Die Grote’fche Verlagshandlung in Berlin, feit Fahren vor: 
teilhaft befannt durch die gediegene Art ihrer litterarifchen Unter: 
nehmungen und den bei der Herjtellung derjelben bewieſenen guten 
Geſchmack, hat bei der vierhundertften Wiederkehr des Geburtstages 
des deutichen Reformators Dr. Martin Luther den Entiehluß ge: 
faßt, deutiche Drude älterer Zeit in Nachbildungen herauszugeben, 
und als Nr.1 diejes periodiichen Werkes die September-Bibel beziv. 
das Neue Teitament Luthers im Herbit 1883 erjcheinen laffen. 

Ein Exemplar diefer im Sahre 1522 — alfo ein Jahr nad 
Luthers Aufenthalt auf der Wartburg, wo er die Bibel überjegte — 
zu Wittenberg herausgelommenen erften Ausgabe der Zutherbibel be: 
findet fih im Bejite der Grote'ſchen Verlagshandlung, welche da3- 
jelbe Schon vor Jahren durch einen glüdtichen Zufall zu erwerben 
in die Zage fam, jedoch ist dasſelbe nicht ganz vollitändig: es fehlen 
demjelben ſowohl das Titelblatt, wie auch ein Blatt aus der Offen: 
barung Johannis. Beide Blätter konnten jedoch durch dag Exem— 
plar der Königlichen Bibliothek in Berlin ergänzt werden und find 
durch befondere Güte des inzwiſchen verjtorbenen Direktors dieſer 
Bibliothek, des Profeſſor Dr. Karl Rihard Lepfius, dem Her- 
ausgeber für jeine Zwecke zur Verfügung geitellt worden. Der letz⸗ 
tere, Profeſſor Wilhelm Scherer, hat daher nur eine einfache 
Pflicht erfüllt, wenn er in der Einleitung der »Deutſchen Drucke« 
Nr. 11 folgendes erflärt: „Das ganze Unternehmen diejer »Deutichen 
Drude« wäre nicht oder wenigſtens nicht unter meiner Leitung ing 
Leben getreten, wenn nicht Zepfius die Schäge der Königlichen 
Bibliothek dafür zur Verfügung geftellt und gewillermaßen nur mir 

perſönlich anvertraut hätte. Leider ift bei der Herausgabe des 
1. Bandes ein Heines Verjehen injofern vorgefommen, daß eine Anz 
gabe über die Originale, nach denen die Nachbildung der September: 
bibel ausgeführt wurde, nicht in demjelben mitgeteilt worden ift, 
welches Verſehen im 2. Bande wieder gut gemadt wird, wie das 
auch dem Profefjor Lepfius noch zu jeinen Lebzeiten verfprochen 
worden war. 

Die Wittenberger Septemberbibel enthält befanntlich ven 
großen Anfang der Lutherſchen Bibelüberfegung, das Neue 
Zeitanent. Zur Würdigung des Werkes ift demjelben von Bro: 


——— 


feſſor Julius Köſtlin eine ſachgemäße Einleitung vorangeſtellt 
worden, welche auf etwa neun Drudfeiten ſehr ſchätzenswerte Er: 
fäuterungen für Gelehrte und Laien giebt. Wir entnehmen der: 
jelben bier einige Notizen, wie fie für Gutenbergs Jünger von 
Intereſſe fein mögen. 

Den Drud der Bibel beforgte Melchior Lotther in Witten: 
berg. Derjelbe hatte ji) einige Jahre vorher von Leipzig nad) der 
alten Univerfitätsjtadt*) Wittenberg gewandt und dort die am 
reichiten ausgeftattete Druderei errichtet. Auf dem Zitel der Bibel 
blieb Luther als Überfeger ungenannt; fagt er doch felbft in der 
Borrede: „Es wäre wohl recht und billig, daß dies Wort ohne alle 
Borrede und fremden Namen ausginge und nur fein felbjt eigen 
Namen und Rede führete.” 

Der Drud der Bibel wurde fehr befchleunigt. Die Evangelien 
und die Apoftelgefchichte wurden zuerjt gejebt, dann twurden bald 
auch neben jenen die Briefe in die Preſſe gegeben und ſpäter außer 
den zwei hierzu verwandten Breflen noch eine dritte für die Offen: 
barung Johannis in Thätigfeit gefeßt. So hat denn auch jeder 
diejer Beftandteile eine befondere Zählung der Bogen, beziehungs: 
weiſe Blätter; nur in der Offenbarung find diefe nicht gezählt. Die 
allgemeine Vorrede und die zum Römerbrief find wohl erit während 
des Drudes der Stüde, denen fie vorangehen, unter die Preſſe ge: 
fommen; auch fie haben ihre bejondere Bogenzählung. Aus Briefen 
Luthers ift zu erjehen, daß am 4. Juli 1522 das Lufasevangelium 
und die beiden Korintherbriefe beinahe fertig, fowie daß am 
20. Auguft die erjte Abteilung bis zum Bogen O und die zweite 
bis zum Bogen F in den Händen des Geheimfchreibers Johanns des 
Weifen, Spalatin, und des Kurfürſten fich befanden, denen Luther 
das Werk bruchſtückweiſe zufandte. Noch am 26. Juli erivartete 
Luther die Vollendung desfelben nicht vor Michaeliß, wenngleich, 
wie er fagte, täglich 10 000 Bogen (zu je zwei Blättern) unter drei 
Preſſen mit gewaltiger Anftrengung gedrudt würden. Die Bogen 
find bier ohne Zweifel, indem fie auf beiden Seiten zu druden 
waren, doppelt gezählt, alſo eigentlich 5000 Bogen täglich; die 
Leiſtung iſt auch fo noch eine außerordentliche für jene Zeiten. Auch 
auf eine ungemein flarfe Auflage läßt jene Zahlangabe fchließen. 

Bei dem Drud erhielten die einzelnen Bücher Initialen mit 
Holafehnitten nad) damaliger Weife, die Offenbarung Johannis 


*) In Wittenberg beftand die Univerfität befanntlich ſchon im 
Sabre 1502. Gie blieb dort bis zum Jahre 1817. 
** 


und 


21 große Bilder (Holzfchnitte). Lebtere find ohne Zweifel aus 
Lucas Cranachs Werfitatt hervorgegangen, zweifelhaft ift nur, 
wie weit aus feiner eigenen Hand. Wie Cranach mit Luther im 
Papfttum das Antichriftentum erfannte und ein Jahr vorher fein 
»Paſſional Christi und Antichrifti« herausgegeben hatte, fo be: 
merken wir in dieſen Bildern 3. B. auf einem Haupte des Draden 
diefelbe dreifache päpftliche Krone wie in jenem Paſſional. (In der 
wenige Donate fpäter erichienenen 2. Auflage ist aus ihr eine ein: 
fache Krone getvorden, da Luther es unpafjend finden mochte, eine 
ſolche polemifche Beziehung in die Ausgabe des Neuen Teitaments 
aufzunehmen.) 

Die Wittenberger Seber haben nicht allein ſehr angeftrengt, 
fondern auch fehr forgfältig gearbeitet. E83 waren nur wenige 
Drudfehler zu berichtigen: am Schluffe find unter der Überschrift 
»Correctur« nur acht Fehler verzeichnet. Der Drud ging über Er: 
warten jchnell von ftatten. Zu Anfang September durfte Luther 
die Vollendung des Ganzen ſchon auf den Matthiasfeiertag — den 
21. September — Hoffen, und da erfolgte wohl auch wirklich der 
Abſchluß und die Herausgabe. Am 25. ſchickte Luther ein Exemplar 
für feinen Wartburgswirt, den Schloßhauptmann von Berlepſch, 
an Spalatin ab, während diefer die Ausgabe bereit vollitändig 
in Händen hatte. 

Das Wert wurde — wie Köftlin aus dem Brief eines 
lutheriſch geſinnten Nürnberger erjehen — für den Preis von 
1% Gulden verkauft, ein für jene Zeit hoher Preis, der etwa der 
Summe von 25 Mark nah dem heutigen Geldwert entipridht. 
Die Bibel war aber jo raſch vergriffen, daß Lotther ſchon Mitte 
Dezember (alfo nad faum 3 Monaten) eine neue Auflage ver: 
Öffentlichen konnte, während zu gleicher Zeit ein Nachdruck in Bafel 
erichien. 

Luther nahm für diefe — wie für alle feine fchriftitelle- 
riſchen Arbeiten — keinerlei Honorar. Er fagt fpäter jelbit von 
feiner Bibelüberfegung: „Sch habe keinen Heller dafür genommen, 
noch gefucht, noch damit gewonnen; — ich habs zu Dienft gethan 
den lieben Chriften und zu Ehren einem, der droben fihet, der 
mir alle Stunde jo viel Guts thut, daß, wenn ich taufendmal 
fo viel und fleißig gedolmetſcht, dennoch nicht eine Stunde ver- 
dient hätte zu leben, oder ein gejund Auge zu haben.” 

Schon jene zweite Ausgabe zeigt in einer Reihe von Stellen 
Luthers ferneres Bemühen, die Überfegung und namentlich ihren 
deutſchen Ausdrud noch zu verbeſſern. Er blieb Hierin uner- 


{a 35, 


müdlih. Eine durchgreifende Neubearbeitung feines Neuen Tefta: 
ment3 erjchien 1530. Sie ging in feine erſte Gefamtausgabe der 
deutſchen Bibel über, welche 1534 erfhien, nachdem bis dahin 
allmählich und mit manchen Unterbrechungen auch die altteftament- 
fihen Bücher von ihm verdeutfcht worden waren. Diefe ganze 
Bibel gab Luther wiederum mit Freundeshilfe „aufs neue zus: 
gericht" 1541 heraus und endlich zum legten Mal, auch jetzt noch 
in einzelnem verbefjert, ein Sahr vor feinem Tode, 1545. Als 
immer denfwürdige Grundlage feines ganzen großen Bibelwerts 
ift aber die von der. Wartburg herftammende erfte Überfegung oder 
September-Ausgabe des Neuen Teſtaments anzufehen und fie wird 
uns im vorliegenden Werke durch die Pietät der Herren Köſtlin 
und Müller-Grote in einer forgfältig hergeftellten Nachbildung 
dargeboten. 

Über die letztere felbft noch ein paar Worte. Schon der erfte Blick 
auf das Werf läßt Kar die außerordentliche Fürſorge erfennen, 
welche man der Nachbildung des älteren Mujterd hat angedeihen 
laſſen. Die phototypiſche Reproduktion ift der Firma H. ©. Her: 
mann in Berlin, der Drud der Firma W. Drugulin in Leipzig 
zu verdanken, welche beide fich längſt eines hohen Rufes erfreuen. 
Wir hätten es gern gefehen — und mit uns gewiß noch mancher 
andere —, wenn auch der Lieferer des alten Büttenpapierd und 
der Berfertiger des Einbandes in dem Buche felbjt genannt worden 
wären, da fie durch ihre geſchickte Arbeit eine folche Ehre wohl 
beanfpruchen durften. Das Werk ift in 500 numerierten Exem— 
plaren hergeſtellt worden, jedes Exemplar Toftet im Subjfriptiong: 
preife geheftet 50 Mar, gebunden in ganz Leder 60 Marf. 

Wir wenden und nun zu Nr. IL der »Deutſchen Drudec. 
Das ältefte Fauſtbuch ift es, welches uns durch die gejchidte Hand 
des Profeſſors Wilhelm Scherer mit einer Einleitung von 
diefem felbft dargeboten wird: das fogenannte »Spies'ſche Fauit- 
bud« aus dem Jahre 1587. Auch bier überlafien wir die 
Würdigung des eigentlichen Inhalts den litterariſchen Fachmännern, 
um wieder jene Seite mehr ind Auge zu fallen, welche für den 
Leſerkreis des Börfenblatt3 von Intereſſe fein könnte. 

Das der Nachbildung zu Grunde gelegte Exemplar be: 
findet fih im Befite des Herrn Heinrih Hirzel in Leipzig 
und ftammt aus der durch erlefene Werfe ausgezeichneten 
Bibliothek feines Vaters, des im Jahre 1877 verftorbenen Herrn 
Salomon Hirzel. Die VBerdienfte dieſes gelehrten Buchhändlers 
befonders um die wiſſenſchaftliche Erforſchung Goethes find, 


en — 


wie Profeſſor Scherer in der Einleitung mit vollem Rechte ſagt, 
„allen an unſerer Nationallitteratur ernſthaft Anteil nehmenden 
Deutſchen bekannt“ und unlängſt wieder durch die Herausgabe 
feines vortrefflichen Kataloges von Goethes Schriften*) klar vor 
das Auge geſtellt werden. 

Herr Heinrich Hirzel hat die Güte gehabt, das in 
ſeinem Beſitz befindliche (überhaupt ſehr ſelten gewordene) Spies: 
ſche Fauſtbuch den Herren Scherer und Müller-Grote auf ziem— 
ih Lange Zeit zu überlaffen, damit dasfelbe zum Zwecke der 
Herausgabe ald Nr. IL der »Deutfchen Drude« möglichſt genau 
nad dem Mufter hergeitellt werden könnte, was übrigens recht 
ſchwierig geweſen fein muß. Herr Profeſſor Scherer jagt darüber 
folgendes: Leider ſtellten ſich der genauen photographiſchen Nach: 
bildung ſo ſchwere phyſiſche Hinderniſſe entgegen, daß dieſelben nicht 
durchweg völlig überwunden werden konnten. Das Exemplar iſt 
ſtark vergilbt und ſtellenweiſe fleckig; bei dem eigentümlichen Ver— 
halten des photographiſchen Negativs zur gelben Farbe liefen daher 
die Buchſtaben Gefahr, in ihrer Umgebung zu verſchwinden; dieſe 
Gefahr iſt durch die Aufmerkſamkeit des Lithographen und durch 
die Wachſamkeit der Korrektoren hoffentlich überall vermieden 
worden. Dagegen wird man zuweilen an der inneren Seite der 
Kolumne die Buchſtaben etwas zuſammengedrängt, etwas ſchmaler 
als im Original finden: das Original iſt gebunden und zwar ſo 
gebunden, daß von dem inneren Rande nicht viel übrig blieb; der 
Photograph konnte, wenn er den Einband nicht zerſtören wollte, 
auf der betreffenden Seite keine vollkommen ebene Fläche herſtellen, 
ſondern die Fläche war nach der Seite des inneren Randes hin 
etwas gekrümmt und gab ſomit ein verkürztes Bild.“ 

Auch ſonſt bot das Originalmuſter noch manche Schwierig— 
keiten. Sp waren auf zwei Seiten die Randnotizen durch Beſchnei— 
den beichädigt worden, ſodaß ihre Wiedergabe fait unmöglich war. 
Stücklicherweife fonnte die Ergänzung aus einem Exemplar ver 
Sräflih Stolbergjchen Bibliothek zu Wernigerode, welches Herr 
Bibliothefar Dr. Jacobs bereitwilligit zur Verfügung gejtellt 
hatte, entnommen werden. Dagjelbe Eremplar leiftete ferner durch 
Bergleihung mit dem Leipziger Muſter die beiten Dienjte, nament: 
lich find aus demjelben die zu ſtark vergilbten Seiten des Hirzel: 
ſchen Exemplares geradezu ergänzt worden. 


55 *) Salomon Hirzel, Verzeihniß einer Goethe-Bibliothek, mit Nach: 
a und Yortjegung herausgegeben von %. Hirzel. Leipzig 1884, 


©. Hirzel. 








— 


Auch die Photolithographie dieſes Buches iſt der Firma H. S. 
Hermann in Berlin zu verdanken. Dieſelbe iſt ebenſo wie der 
Druck, der aus der gleichen Offizin hervorgegangen, mit bewährter 
Sorgfalt ausgeführt worden und ſtellt der Leiſtungsfähigkeit der 
heutigen Berliner Buchdruckerkunſt das beſte Zeugnis aus. 

Das Fauſtbuch iſt nur in 300 numerierten Exemplaren herge—⸗ 
ftellt worden ; jedes Exemplar koſtet im Subjkriptionspreife geheftet 
20 Mt., gebunden (in Ganzleder oder Pergament) 24 ME., ein 
Preis, welcher uns bei den bedeutenden Herjtellungsfoften und 
der verhältnismäßig Heinen Auflage als recht mäßig erfcheint. 

Wir empfehlen das ſchöne Werk der bejonderen Aufmerkſam— 
feit des deutfchen Buchhandels. Es ift mit demfelben auf das engite 
verwachfen und jtelt geradezu ein Stüd von deutihem Sein 
dar, indem es das Fühlen und Denken aus früherer Zeit der Gegen: 
wart wieder vor das geiftige Auge führt. Herausgeber und Ver—⸗ 
feger der neuen Sammlung, welche ficher fein materielles Intereſſe 
dazu veranlagt hat, Hand an die Veranftaltung des eigenartigen 
Unternehmens zu legen, verdienen, daß man ihre achtungswerte 
Arbeit mit Wohlmwollen aufnimmt; ihre Namen find ung 
Bürgen dafür, daß die Fortſetzung des Werkes nur gediegenes 
bringen wird. 


Darmitadt. 
Eduard Bernin. 











Zur gefälligen Beachtung! 


Die für die Theol. Studien und Kritifen beftimmten Einfendungen 
find an Profeſſor D. Riehm oder Konſiſtorialrath D. Köjtlin in 
Halle a/S. zu richten; dagegen jind die übrigen auf dem Titel 
genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren 
mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. “Die Re— 
daftion bittet ergebenjt, alle an jie zu fendenden Briefe und Pakete 
zu franfieren. Innerhalb des Poſtbezirks de8 Deutſchen Reiches, ſowie 
aus Dfterreich - Ungarır, werden Manujfripte, falls jie nicht allzu 
umfangreid find, d. h. das Gewicht von 250 Gramm nicht 
iüberfteigen, am beiten als Doppelbrief verjendet. 


Friedrich Andreas Perthes. 






Inhalt. 


Abhandlungen. 


1. Uſteri, Initia Zwinglü. Beiträge zur Geſchichte der Studien und 
der Geiſtesentwickelung Zminglis in der Zeit vor Beginn der refor- 
matoriſchen Thätigft . . . . .. 607 
2. Dorner, Das Berhältnis von Kirche und. Staat ia Dccam . .. 672 


Seite 









Gedanfen und Bemerkungen. 


1. Bogt, Über Heinrichs VIII. nn EP IEe 7 795 
2. Bogt, Über Melanchthons loci . . - ET a 


gesspaazgeng: 


NRezenfionen. 


1, Budde, Die biblische Urgefchichte; vez. von Riehm i 
2. Förster, Ambrofins, Bischof von Mailand; vez. von Ewald . „ 786 


% 


O 


Drud von Frichr. Andr. Verthes in Gotha. 


RT, LRFIESTLERS TIERE HETLA TEA TEA FZenS, 


7 








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