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Theologiſche
Studienmn und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für
das geſammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit |
D. Siefeler, D. Lüde und D. Nitzſch,
herausgegeben
D. €, ullmann und D. F. W. C. umbreit,
Profefforen an der Univerfität zu Heidelberg.
1847.
Zwanzigſter Jahrgang.
Erler Band.
Samburg,
bei Friedrich Perthes.
4 8471.
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für
das gefammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit
D. Giefeler, D. Lüde und D. Ritzſch,
berandgegeben
D. &. ullmann und D. F. ®. C. Umbreit,
Profefforen an der Univerfität zu Heidelberg. -
Hamburg,
bei Friedrich Perthes.
18 4 T.
Snbalt des JSahrgangd 1847.
Erſtes Heft.
Yhandlungen. Seite
1. Schoeberlein, über das Verhältniß der perſoͤnlichen Ge⸗
meinſchaft mit Chriſto zur Erleuchtung, Rechtfer⸗
tigung und Heiligung. — 7—
2. Bee, über die Pradeſttnation i
3. Tiſchen dorf, Nachricht vom vaticanifchen Bibelcoder,
Mit einem Zacfimile in Stindtud . . . 19
Gedanken und Bemerfungen.
1. ulimann, theologiſche Aphorismen. (Zugleich Selbſtan⸗
zeige der Schrift: die Sünblofigkeit Jeſu.) . 155
2. Grimm, über das Goangelium und den erflen Brief bes ’
Johannes als Werke eines Befflrs . . . 171
3. Ahelis, über die Bedeutung des Wort up . . 187
Recenfionen,
3. Umbreit, praktiſcher Sommenter über die Be beö
alten Bundes. (Gelbflanzgeige.) - - . 209
2. Kliefoth, Theorie des Sultus der
evangelifhhen Kirche; 240
3. Eübemann, über das Weſen bes
proteflantifchen Gultus; | > Shrenfeudter 263
u Sahalt.
Zweites Heft.
— — —— — —
Abhandlungen. Seite
1. Krönlein, Amalrich von Bena und David von Dinant 271
2. Bed, über die Prädeflinatin -. . . ..31
Gedanken und Bemerkungen.
1. Braune, die @ünden ber Wiedergeborenen - . 4371
2. Ruppredt, die Parabel von den Arbeitern im Beinberge . 396
Recenfion en,
be Wette, das — des Rn — von
Kirchliches.
euͤcke, über die Nichtannahme des koͤnigsberger Deputirten
D. Rupp auf ber berliner General⸗Verſammlung des’
QBuftoosXbolphvereine - . 0.2.0.4
Ullmann, ein Wort über benfelben Begenftand ee 5
Drittes Heft.
Abhandlungen
1. Ritter, über den Begriff une — der a
Philoſophie. 557
2. Ebrard, Mbukadnezeeeeeee 644
Gedanken und Bemerkunger.
1. Umbreit, ſieben Blicke in das erſte Kapitel der — 701
2. Steffenſen, über Matth. 18, 45. und 6. . . 718
Necenfionen.
1. v. Baur, ber Begriff dee — Philoſophie ec.; ver.
von Ritter 557
2. Rothe, theologiſche Ethik; rec. von Schweizer . . 735
3, Der deutſche Proteftantismus ; rec. von Schentet . . 723
4. Reber, Felix Hemmerlin; rec, von Herzog. ; . 808
1.
Jahalt. | 27
Biertes Heft.
Abhandlungen. Seite
Wieſeler, der Kanon bes neuen nen von Mu⸗
ratori . i e A . 815
Dressler, übe Jeſaja 17. 18. . ; 0.0. 857
BGedanten und Bemerlungen.
Dietlein, die Bedeutung ber Tantifchen Poitofopbie I
die neuere Theologie . ä —— 889
Hofmann, altteflamentiihe Gtellen un. Stute ; . 916
Recenſionen.
Schweizer, bie Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformir⸗
ten Kirche; rec. von Schnedenburger. . 7
Sartorius, die Lehre von der heiligen Liebe; rec. von
Schoeberlein. — 9884
Mapte, bie natürliche Theologie des Raimundus von Ga:
bunde; zer. von Holberg . : g . 1028
Kirchliches.
Diedrich, iſt der Rationalismus me eine Kirche zu
bilden? ® ® > . “ ® . 1057
Abh andlungen.
Cheol. Stud. Fahre. 1847, 1
1.
Ueber
dad Verhaͤltniß der perfönlichen Gemeinichaft
mit Chrifto
zur
Erleuchtung, Rechtfertigung und Heiligung.
Von
Schöberlein,
Repetenten in Erlangen.
— um a
E. Tönmte Hberfläffig erſcheinen, über Rechtfertigung
und Heiligunig und die dahin einfchlagenden Punkte noch
etwas fagen, und thöricht, denfelben neue, zu richtigerer
Einſicht leitende Seiten abgewinnen zu wollen, nachbem
feit drei Sahrhunderten dieſer Begenftand mehr als irgend
ein anderer Aller Bemüther befchäftigt hat und von allen
denkenden, dem Firchlichen Intereſſe zugewandten Geiſtern
im Unterfuchung genommen worden if. Allerdings iſt
auch der Gegenfat in diefen Punkten nach allen feinen
Seiten fo beleuchtet und bis gu feinen letzten Eonfeqnen»
zen verfolgt worden, daß darin kaum ein neuer wiſſen⸗
ſchaftlicher Kortfchritt zu erwarten if. Nicht aber fo
ridächtlih der Einheit, welche über dieſem Gegenfate
Waltet.
1 *
8 Schaseslce
Es ift natürlich, daß bie Kirche eine Wahrheit, welche
fie einem tiefgewurzelten Irrthum in dem heißen Sehnen
nad) Licht und Friede und unter den mühevollſten Kämpfen
abgerungen hat, mit aller Liebe, Sorgfalt und Energie
vorerft fefthalte, umgrenzge, weiter audführe, tiefer zu
begründen ſuche. Eben im Lichte dieſes Gegenſatzes muß
ihr der neue Schaß doppelt lieb und werth, heilig und
unveräußerlich erfcheinen. GEſs iſt diefe Treue des Feſt⸗
baltens für fie fogar nothwendig. Sie würbe Gefahr
laufen, von der Wahrheit felbft fich zu verlieren, wenn
fie, bevor fie des Gegenſatzes in feiner ganzen Schärfe
fi Mar bewußt geworden, auf Bermittelung denken wollte.
Erf wenn id erfaunt und dem Gegner nachgewielen
habe, auf welche gefährliche Abwege uud in welche ver,
derbliche Mißpräuche die Conſequenz feines Syſtems ihn
führe, darf ich ihm zugeben, daß von einem höhern Stand»
punkt aus feine Richtung eine relative Wahrheit und
Berechtigung habe. Ich muß erſt gefichert im Eignen
ſeyn, um mich frei urtheilend darüber ſtellen zu können;
doch dann fol ich's auch. Weiß ich mich jenen Irrthümern
gegenüber auch noch fo fehr im Rechte, fo darf ich doch
nicht undeadstet laſſen, daß eben dieſe gegenfäßliche Stel-
Inng, in welche ich durch die Belämpfung jener Irrthümer
genöthigt worden, auch mich in eine gewifle Einfsitigleit
könne gebracht und daran gehindert haben, den vollen
Ausbdruck für die Wahrheit zu finden. Und dieß ſoll mich
beitimmen,, aus dem unmittelbar gegebenen Gegenſatze
heraduszutreten unb nach der Einheit zu fuchen, die beiden
Gegenſaͤtzen ald erbaltende Lebenskraft inwohnt unb,
während fie mein theuer errungened® Kleinod mir nur
noch ſicherer bewahrt, mich doch zugleich auch unbefangen
uud weitherzig genug macht, dem Beſitze des Gegners eine
gerechtere Anerkennung zu Theil werden zu laſſen.
In jener Bezichung hat die Kirsche ihre Aufgabe ger
löſt. Sie bat. die Fefleln des Gefetesdienfted, unter
ib.d. Verhaͤltniß der panflal. @emeinfp.mit Chriſto ec. 9
weihen die Seelen im Mittelalter gehalten waren, zer,
brochen und das Evangeliun mit feiner Freiheit der Kin⸗
ber Gottes wieder unter und aufgerichtet, Sie hat den
Renſchen des falichen Scheine feiner Gerechtigkeit eutklei⸗
bet und anf Ehrifti Gerechtigkeit gewiefen, die allein wor
Gott gilt and durch kein Werk werbient, fondern nur
als freied Guadengeſchenk durch den Glauben kann em⸗
pfaugen werben. Sie hat dargethan, wie ohne Recht⸗
fertigung eine wahre Helligung flattfinben Töne, wie
aber ber rechtfertigende Blaube nothwendig auch gute
Werke fchaffe, ja wie er eben die rechte, geiunde Quelle
aller Heiligung fey.
Nachdem aber nufere Kirche fo jenen Irrthum ber
fatholifchen überwunden hat, fol fie aus den Gegenfatze
felb auch heranstreten und bie Wahrheit in der Einheit
und Zotalität ihrer Momente zu erfaſſen fuchen. Denn
unfer Blick darf nicht in der Bergangenheit befangen
Bleiben; er fol anf Grund der Forderungen der Gegen,
wart (und fürwahr die mannichfachen neuen Bewegungen
derfelben mahnen dringend genug, an der alten Form
wicht Heinlich zu halten) zugleich in Die Zukunft borbrin
gen, welche und and den vielen Begenfägen zur urfprüngs
lichen, nun aber in ihrem verborgenen Reichthum erkann⸗
ten Einheit wieber zu führen verheißt.
Zur Löfung diefer hohen Aufgabe fol andy bie fol⸗
gende Abhandlung einen geringen Beitrag liefern =).
) Da biefe Abhandlung eigentlich nur der andere Theil der im
zweiten Quartalheft 1845 vom Verf. gelieferten „über die chriſt⸗
lie Berföhnungsichre” if, To möge man es entfchulbigen, wenn
er von Manchem, was beiden gleijerweife zur Grundlage bient
und dort bereits eingehender behandelt iſt, bier bloße Umriffe
gibt und hinfſichttich der weitern Ausführung und Begruͤndung
auf jene Arbeit zuchdweiß.
10 Schöberlein
Der Menſch ik als Perſonlichkeit gefchaffen. Dar-
in liegt ein Doppeltes: Selbfäheit und Gemeinſchaft.
IR ſchon deim Individnum überhaupt die Selbſt⸗
erhaltung Grundgeſetz des Lebens, ſo noch viel mehr bei
dem perſoͤnlichen Indivibunm, weichem eine eigene, ſelbſt⸗
Ränbige, ewig währende Aufgabe geſtellt ift. Der Menſch
iR durchaus mit Raturnothwenbigkeit an fich gebunden,
nud felbft wenn er gegen fich wüthet, ebenfe als wenn er
fi aus Liebe verleugnet, ift es dennoch im letzten Grunde,
obwohl im entgegengefegter Weife, fein eignes Selbſt,
dem er lebt. |
Zudem Gott aber den Menſchen als ein fein ſelbſt
bewußtes und feiner ſelbſt mächtiged Weſen nach feinem
Bilde ſchuf, und fo, fein eigned Wefen ihm mittheilend,
in Gemeinfhaft wit ihm trat, hat er in feinem Thun bes
zeugt, daß der Zug nach Gemeinfchaft das eigenfle Weſen
der Perfönlichkeit fey. Unter dem Einfluffe derfelben fin
bet ſich der Meufh fchon vor, wenn er zum Selbſt⸗
bewußtfeyn erwacht und zur Selbſtbeſtimmung fich erhe-
ben will; denn feinem Selbſtbewußtſeyn if das Gottes⸗
bewußtfeyn eingeboren, and bie ganze vorangehende Ent⸗
widelung feines natürlichen umd perfönlichen Lebens iſt
nur unter ber Pflege Anderer gebichen. Für fie trägt
er aber auch die eigentliche Beſtimmung im fich, Inden
feine anerfchaffene Bottess Ebenbildlichkeit ih eben anf
bad Einswerden mit feinem Urbilde und mit Allen, wels
chen die gleiche Ebenbilblichkeit aufgeprägt ift, hinweiſt.
Died fpricht fi deutlich genug in feinem Bebürfnig
aus, an einer Auctorität fich zn halten und felbft gegen
Andere fle zu üben, geiftige Anregung und Nahrung von
Anbern zu empfangen and aus dem eignen Schatze An-
dern wieder mitzutheilen.
Wie die Berbindung von Gentrifugals und Gentris
petalfraft bie Welttörper in ewiger Bewegung hält, fo
find Selbftheit und Gemeinſchaft die beiden Hebel des
—
&6.d. Berhältn. ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ehriſtorc. 11
yerfönlichen Lebens =). Sie bedingen ſich gegenfeitig, fie
erſtarken und leiden mit und durch einander. Wenn jebe
Gele wahrhaft dem eignen Beten lebt, fo fördert fie
dadurch auch das Geſammtwohl, wie der Dichter ſchön
fagt: wenn die Rofe ſelbſt fich ſchmuckt, ſchmückt fie auch
deu Barten.” Und Niemand Tan binmwieberum befler
fein eignes wahres Wohl begründen, ald wenn er das
bes Ganzen fchafft und fucht, dagegen ein fitten» unb
charakterls ſer Menſch auch ein unbrauchbares Glied bes
Ganzen ift, und, wer Andern eine Grube gräbt, ſelbſt
bineinfällt.
a) Dan pflegt fonft als primären Begenfap (und Begenfag iſt die
Beringung alles Lebens) den von Natur und Bei gu nehmen.
Mein dieſer erhält feine nähere Beſtimmung erft von jenen.
Beil nämlidy der Menſch Sreatur if, fo muͤſſen bie Verhaͤltniſſe
innerhalb feiner felbft bedingt ſeyn durch fein Verhaͤltniß nad
oben. Natur und Geiſt aber iſt ein Begenfag Innerhalb‘ der
Verföntichkeit ſelbſt, während die Beziehung nad; Oben in dem
Gegenfage von Selbſtheit und Gemeinschaft befaßt if. Beſtimmt
Fi der Menſch für bie Gemeinfhaft mit Bott, dem Grunde
feines MWefens, in welchem alfo auch feine Beſtimmung ruht, fo
bleiben bie Segenfäge von Natur und Geift in Harmonie und
vollenden fidy in berfelben bis zur vollen Durdybringuflg und
Durchklärung ber Ratur vom Geiſte (wie uns foldyes in ber
yaeumatifchen Leiblichleit bes Himmels 1 Kor. 15, verheißenift),
fo dag bie Natur vom Geifte die volle Macht und Freiheit und
der Geiſt von ber Natur bie beftimmte, individuelle Korm zur
Geibftoffenbarung empfängt, Sucht aber der Menſch im Wider:
fprudde mit feiner Beſtimmung feine Selbfiheit ſtatt der Bemein-
Ayaft Gottes, fo erzeugt dieß auch innerhalb der Perföntichkeit -
feib eine Störung, woburd Natur und Geiſt ſelbſtiſch gegen
einander werben und in Feindſchaft treten, Der Geiſt in feiner
Gelbfibethätigung geräth in falfche Spiritualität, daß er mit
Beradytung unb Umgehung feiner NRaturbafis ſich unmittelbar
ſelbſt verwirklichen will. Und die Natur geräth durch ihre Los⸗
ldſung vom Geiſte in bie Grflarrung der Materialität, in wel
cher jept noch die Leiblichkeit gebunden liegt. Hochmuth und
Sinnlichkeit, teufliſches und thieriſches Weſen ſind die beiden
Pole menſchlicher Suͤnde.
o
12 8saqhoberlein
Wiewohl fie aber beibe ſich gegenfeitig bedingen und
gemeinſam das perſoönliche Leben auſerbauen, fo haben fie
doch eine verſchiedene Bedeutung für daſſelbe, und das
bewußte, freie Ich ſoll andy zu beiben eine verſchiedene
Stellung einnehmen. Auf der rechten oder verkehrten
Stellung beider zu einander beruht die Geſundheit ober
Krankhaftigleit der perfönlichen Entwidelung, beruft das
Wohl und Wehe bed Gemeinlebens. Sich felbft zu Leben,
iR Naturnothwendigkeit; wicht fo, einem Anbern zn leben.
Zwar bedarf der Menſchh, um das eigene Bebürfuiß zu
befriedigen, auch des Andern, und inſofern it auch Die
Dflege der. Gemeinfchaft Sache der Natur; allein um in
biefer nicht Die eigne Befriedigung zu fuchen, ſondern die
des Andern, dazu vermag bie bloße Natur fich nicht zu
erheben, dazu bedarf es freier Entfchließung ber Perfön-
lichkeit, und ed beginnt hiermit eigentlidy erſt bad wahre
Leben berfelben. Jenes iſt Vorausſetzung, Grundlage
für dieſes, dieſes Beſtimmung von jenem. Die Selbſt⸗
heit iſt die Wurzel des perſönlichen Lebens, bie Gemein⸗
ſchaft Krone und Blüthe deſſelben. Wie nun die Wurzel
zwar vorhanden und nothwendig, aber vor den Augen
verbergen if, fo fell die Selbſtheit zwar bewahrt bleiben,
aber nicht als Motiv in's Bewußtſeyn des Meufchen
treten. Im Bewußtfeyn lebe der Sim für Andere und
für das Ganze, der Drang nad; Bemeinfchaft um des
Audern willen. Der Drang nach Gelbfibefriedigung darin
iſt nur gut, fo lange er, in feiner natürlichen Latenz
verfchloffen, filler Wächter über die Smtegrität des eig⸗
nen Lebens bleibt, nicht Reiter und Beherricher ber Lebens»
bewegungen wird. Daß aber, wer nach feiner Beſtim⸗
mung ringt, doch auch das findet, worauf diefelbe ruht,
wiewohl er's zumächft nicht fucht, das liegt in der von
Bott gefeßten Harmonie von Grund und Ziel, von Anlage
und Beſtimmung. Gott Ienkt zwar den Menfchen durch
die verborgene Macht der Naturnothwendigkeit, und Die
1.3. Verhältniß der perföml, Gemeinfeh.mitGpriflosc. 13
Erhühelt iR das Band, wodurch er ben Menfchen in
jan Hand hat und ihn, ihm ſelbſt unbewußt, zu jebem
Ciciien leitet. Denn der Menſch würde, ba ein Wefen
ia sicht ſelbſt wahrhaft kann aufheben wollen, allerdings
vu göttlichen Zuge nicht folgen, wenn er wicht zugleich
send fühlte, daB er auf biefem Wege zur wahren
Einheit wit ſich ſelbſt, zu Heil und Frieden gelange.
Ber wenn ber Menſch fein Selb um fein felbft willen
fnht, fo verliert er ſich ſelbſt; dagegen wenn er ſich
iR werkmgnend Andern um ihrer willen Jebt, fo ge
wit ex ſich felbft, weil allein aus ber Gemeinſchaft mit
Inden die wahre Freiheit und Erfüllung bed eiguen
Veſens erwachſt (Matth. 16, 25.). Das eben if das
Gchrimniß der Liebe, des höchſten Gemeinſchaftslebens,
deß Rethwendigkeit und Freiheit, Einfalt und Klugheit
wir Eins werden, daß fie zwar ganz und gar nicht
anders fan, als fie thut, doch aber mit vollem Bewußt⸗
Immusd Freiheit es that, und daß fie, alle die mächtig
Wrmden Interefien des eignen natürlichen Selbſts
u de Uebermacht der Selbſthingabe verleugnend, boch
AR in verborgenen Grunde des Gemuͤths von ihr zwar
ſeahntes uub mit heiliger Gewalt fie faflendes, aber
kaehneg6 zu dewußtem Zwecke erhobenes höhered Leben
ihtes eignen Selbſts in dem Andern findet.
Beil nun die Dahingabe in die Gemeinfchaft bie
Sudbetiumung der Perföntichkeit iſt, ſo wurzelt fie
ad im innerſten Grunde derſelben. Wollen wir dieſen
erſten Grund mit einem Namen bezeichnen, fo wählen
wir am beften das Wort: „Bemüth” a). Gemüth iſt
—
— ——— —
) Gewuͤth iſt nicht mit Gefuͤhl zu verwechſeln. Während in je⸗
nem Attivitaͤt und Yaffivität Eins find, ſpricht dieſes nur die
paſſive Geite des perföntichen Lebens aus. Go find Buße,
Glaube und Liebe Aeußerungen bes Gemuͤths, Friede und Selig⸗
keit Zußände des Gefuͤhls.
14 SGchoͤberlein
dad eigentliche Organ für perſoͤnliche Gemeinſchaft im
Menfhen Dean hat diefem Worte wiffenfchaftlichen
Werth abfprechen wollen. Aber mit Unrecht, ba das
Weſen des Gemuͤths und fein Berhältniß zu den andern
Kräften fi beitimmt ausfprehen und begrenzen Täßt.
In ihm hat der Menſch nämlich die Unmittelbarkeit und
Innerlichkeit feined Lebens, in welcher Receptivität und
Spontaneität fi begegnen uud die übrigen Kräfte in
ungetrennter Einheit befchloffen liegen und wirkfam find,
die Erkenntniß in der Form der Idee, bie dem Gemäthe
inwohnt uud vorfehwebt, der Wille in ber Form bes
Berlangens, davon ed bewegt wird.
Diefed Gemeinfchafteleben ded Gemüths, wie es
deßhalb das Erfte iſt, was fi im Menfchen zu regen
beginnt, iſt zugleich das Höchſte, in welchem die Thaͤtig⸗
Seit aller andern Bermögen fich wieder zufammenfchließt,
Begiunend in reiner NReceptivität, wächſt es hinan bie zur
höchſten Spontaneität. Das Kind hängt mit feinem Her
zen an der Mutter, umd erhebt ſich mit demſelben fehnend
nach oben, bevor ed noch Aber mütterliche und göttliche
Liebe nachgedacht ober derſelben burch eignes Thun fich
wäürbig au machen befchloffen "hat. Und doc gibt es
auch kein höheres Ziel felbftändiger Entwidelnug und
feine edlere Frucht männlicher Charalterreife, als daß
der Menſch mit klarem Sinne und mit der ungetheilten
Kraft feines inneren Lebens Gott und denen liebend che,
unter welchen ihm fein Beruf zugewieſen iſt.
Eben hierin aber, baß diefe perfönliche Gemeinſchaft
das: Erfte und Letzte, das Umfaſſendſte im menfchlichen
Leben ift, ift zugleich begründet, daß auf ihr die Thätig⸗
feit und Aeußerung aller einzelnen Seiten deſſelben ruht,
von ihr die wahre Bildung bderfelben ausgeht. Wohl
Kegt in der Perfönlichkeit ſelbſt Allee bereitö al& leben»
dige Anlage, und alle Bildung und Erziehung iſt im,
Grunde nur eine Entfaltung des dem Menfchen Einge⸗
&
ib.d.Berhältniß der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ehriſto ꝛc. 15
beram, begleitet von ber Tilgung ber durch die Gäünbe
diefem Keime eingeimpften Unlauterkeit und Verkehrtheit.
Alein wie follte dieſe Lebenskraft ihrer verborgenen Tiefe
entlockt und geläutert werden, wenn nicht durch das in»
nige Zuſammenſchließen mit gereifteren, überlegenexen Pers
fönlichleiten! Lernt nicht vertranend und liebend nur
dad Kind vom Lehrer? Bilde und färkt es nicht feine
moralifche Kraft durch bewuudernbes Anfchauen ebler
Sharaktere? Ein Lernen ohne Demuth und Liebe bages
gen it äußerlich, hohl und unfruchtbar. Und ein grumbs
fügliches Handeln nad dem bloßen Geſetze läßt Halt und
vermag zu freudiger Begeifterung nicht fortzureißen. Ia,
die wahre Erfenntniß, was iſt fie anders, als ein lieben⸗
des Eingehen in den Geil, der dieſelben Gedanken
vorgedacht bat (vergl, bie ſprachliche Identität von Er⸗
kemen und dem Liebesact des Zeugens), and das Thun
ded Guten, was anders, ald eine freudige Berehrung
ni Willend, aud den das Gute ſtammt? Denu das
Zufalige und Geſtaltloſe kann ber Menſch nicht erfeunen,
fondern das nur, worin der Geift eined Erkennenden
fein Befen andgeprägt hat, und dieſes eigentlich, nicht
die leere Korm und die fchwere Materie, fonbern ber
Geiſt, der beides belebt und nach feiner Eigenthümlich keit
geflaltet, iſt's, was das Object meines Erkennens bildet.
Den deßhalb ein innerer Zug der Verwandtfchaft nicht
mit diefem Geifte verbindet, der wird auch deſſen Werke
nicht verfiehen, und andererſeits Ichrt die Erfahrung auf _
dem Gebiete ber Wiffenfchaft leider unr zu überzengend,
daß ber Berfiand allezeit das findet und beweiſt, wonach
das Herz verlangt (1 Joh. 4, 8.), Ebenſo wenn id) etwas
wii, folge ich im Grunde nur einemandern, hinter dem Ges
genftande liegenden Willen, weicher den meinigen durch ben
Begenftand anzuziehen und für fidhzu gewinnen fucht. Und
es it auch hier das, was ich will und fuche, nicht das Object
klbR, fondern das Wefen bes perfönlichen Geiftes, weicher
16 Schoͤberlein
ans der Eigenthümlichkeit des Objects mich anſpricht. Das
her kommt es denn, daß bad Eeben des Gemüths, daß
der innerfte Brund der Perfönlichleit vom Erkennen und
Wollen rüdwirtender Weiſe aud; wieder beſtimmt und gebils
det wird. Alle wahre Weisheit nämlich macht demüthig und
frei son bem Eignen; und je mehr zwei Seelen in ihre
wachfen, defto enger vwerfchmelzen fie durch fie mit einau⸗
der, während die falſche Weisheit durch Hochmuth ent⸗
zweit. Deßgleichen je lauterer und energifcher zwei See⸗
len nach bemfelben hohen Ziele fireben, befto flärker zie⸗
hen fie fi an, delle umauflödlicher wird ihr Bund; und
jede wahre Tugend bes Einzelnen dient, die organifche
Einheit des Banzen gu befefligen und zu vollenden.
Mas bier von der intellectunellen und moras
liſchen Seite des menfchlichen Lebens gif, gilt audh
von der juridiſchen. Auch das Recht ruht ganz auf
Gemeinfchaft, das natürliche anf ber natärlich gefebten,
dad höhere anf. der freien Bemeinfchaft der Liebeseini⸗
gung. So hat das Kind rechtlichen Anſpruch an das
Bermögen des Baterd, und ben im gleichen Lande Ges
bornen kommt gleiches Heimathsrecht in demfelben zu,
weil die natürliche Geburt das Kind mit bem Bater, die
Landesgenoſſen unter fi zu Einem Ganzen verbindet.
Doc iſt dieß nur das rein Außere Recht, nur bie allges
meine Rechtögrundlage, auf welcher ein freies, höheres
Recht fich aufbanen fol. Es wirb nämlich die Stellung
eined Kindes in der Familie um fo intenfiver und wahs
rer, feine rechtliche Stellung darin, daß ich fo ſage, im⸗
mer rechtlicher, je mehr es in freier, voller Kindeshin⸗
gabe mit den Eltern innerlich zuſammenwächſt, wie es
denn auch die Ruckwirkung davon, ober, um es jnridifch
ausdsubräden, die Vergeltung dafür in dem erhöhten Ge⸗
meinfchaftsgefühl unbefchräntten gegenfeitigen Austauſches
inne wird. In bderfelben Weife begründet fi ein Bür⸗
ger durch bie Berbienfte, die er fih um das Gemeinwe⸗
fen erwirbt, einen immer höhern Rechtsanſpruch in ſei⸗
uͤb. d. Verhaͤltniß der perfönl, Gemeinſch. mit Ehriftoac, 17 .
ner Stadt, wenn auch derfelbe nicht in feiten äußern Bes
wiliguugen ihm zuerkannt wird, fondern nur in dem
Bewußtſeyn feiner Mitbürger unter der Korm allger
meiner Hochachtung und Dankbarkeit lebt. Immer, wie mein
natũrliches Eintreten in ein Ganzes und meine natürliche
Stellung in bemfelben eine entfprechende Rüdwirkung
deffelben auf mich zur Folge hat, bie mein Recht ift, fo
verarfacht meine freie, innerlichere Hingabe an baffelbe
eine freie, innerlichere Rüdbeziehung deffelben auf mich,
die eine. Berinnerlichung, Erhöhung und Vollendung dee
Rechtsverhältniſſes zu nennen ift a), Im NRechtöverhält-
niffe nun ſteht der Menſch auch gu Gott, und zwar maß
er deffelben,, weil feine Eriftenz in Gott durchaus grüns
det, anf nothwendige und fletige Weife in feinem Ber
wußtſeyn inne werden. Dieß gefchieht im Gewilfen, dem
perfönlihen Organe für das Rechtsverhältniß der Ereas
ine zu Gott. Auch bier nun iſt die Stellung des Ger
wiſſens zum Ich von ber Gemeinfchaft abhängig, welche
weiihen dem Menfchen und Gott befieht. Bon den eins
zelnen Urtheilen des Gewiſſens ift nämlich feine Grund»
Rimmung wohl zu unterfcheiden. Jene beziehen ſich bloß
auf die einzelnen Willensäußerungen, diefe aber auf die
Örundfielung der ganzen Perfönlichleit zu Gott. ft
der Menſch im innerfien Grunde feines Weſens, im Ge»
müthe, von Bott gefchieden, fo nimmt auch das Zeugniß
bed Gewiffend die Form der Scheidung im „du fol”
an. Dagegen, wenn der Menfch mit feinem Gemüthe
(im landen) ſich Gott wieder ergeben hat, fo maltet
binfort ins Gewiſſen (natürlich auf Grund göttlicher Vers
föhnung, die eben der Glaube ergreift) wieder das Zeug:
niß des Verföhntfeyus, ob auch in Bezug auf die einzel»
nen widergöttlihen Regungen der fündigen Natur die
obige Form bed Zeugnifles fich noch geltend mache.
2) Vergl. des Berf- Abh. üb. die chriſti. Werföhnungsiehre, Stud,
u, Krit. 1845. D. 2. ©. 805 ff.
Tyeol, Stud. Jahrg. 1847, 2
18 Schöberlein
Daß aber die perfönliche Gemeinſchaft eben nach bies
fen drei Seiten: der intellectuellen, moralifchen und juris
difchen, ihren Einfluß übe, hat feinen Grund im Weſen
der Berfönlichkeit felbft. Denn wenn baffelbe in Selbſt⸗
bewußtfeyn und Gelbfibeflimmung beftcht, womit bie
"Bermögen der Bernunft und bes Willens gefebt
ſind, fo muß dem lesteren, weil er als creatürliche in
bem göttlichen fein Geſetz hat, ein anderes Bermögen
entfprechen, welches ihm über bie Gottgemäßheit oder
Gottwidrigkeit feiner Selbſtbeſtimmung Zeuguiß gibt —
dad Gewiſſen. Diefe drei aber ruhen nothwenbig auf
einem vierten, in welchem die Perfönlichleit ihrem eignen,
felbRändigen innern Lebensfchaß befitt, und von wo aus
mithin ſich auch den andern erfi wolled, warmes Leben
mittheilt. Diefes if das Gemüth, das Vermögen für
verfönliche Gemeinſchaft a).
So ergibt ſich aus ber bisherigen Darfiellung, daß
die Grundbeſtimmung des Menfchen, von welder alle
übrigen Lebensbewegungen und Berhältniffe erfi ihren
wahren Gehalt und Werth empfangen, perfünliche Ge⸗
meinſchaft fey.
Es leuchtet ein, daß der Menſch diefe Gemein»
fhaft vor Allem mit Gott vollziehen müſſe, in defs
fen Urperfönlichkeit feine creatürlich⸗ abbildliche Perſön⸗
a) Auch die h. Schrift faßt das Werbältniß von Erkenntniß, Wille
und Gewiffen zum Gemüthe in der gleihen Weife auf, wenn
fie, wie den Willen, fo bie Gedanken (Pf. 14, 1. Roͤm. 1, 21.
2 Kor. 4, 6.) aus der xagdle kommen läßt und auch das Zeug⸗
niß des Gewiflens in diefeibe fept (Koͤm. 2, 15. Hebr. 10, 22.
1 30h. 8, 19—21.). Zwar entfpricht xegdla nicht ganz unferm
Worte Gemüth — dieſes birgt auch das Moment bes veög in
fi) —, aber die Sprache des Alterthums bat eben dafür Teinen
voßbezeichnenden Ausdrud, weil erſt im beutfchen Wolke die
wahre Innerlichkeit und im Shriftenthume die wahre Einheit bes
geifligen und natürlichen Lebens zur Verwirklichung kommt.
ib. d. Verhaͤltniß der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 19
lichlkeit wurzelt. Bon ba geht fie dann naturgemäß auf
ak creatärliche Perfönlichkeit, welcher das gleiche goͤtt⸗
lie Bild aufgeprägt it, über. . Dieß finden wir aufs
dentlichſte ausgeſprochen, wenn Sefus ald Summe bes
Geſezes, darin ja bie ewige Lebendorbnung ber göttli«
den Delguomie dem Sünder wieder zum Bewußtſeyn
gebracht wird, die Gottes⸗ nnd Nächfienliebe hinftellt.
Diefe vollkommenſte, b. bh. eben fo freie, als natlrlich
begründete, eben fo den innerften Lebenstern der Perſön⸗
lichleit, al& bie äußerften Grenzen des natürlichen Lebens
befafiende Gemeinſchaft bildet das Leben des Reiches
Gottes, für welches der Menſch von Ewigkeit die Bes
ſtimmung hat. >
Durd die Sünde löfte fich ber Menſch vom Reiche
Gottes ab. Er verkehrte die Principiew feines Weſens.
Statt ber Gemeinfchaft trat die Selbftheit als Zwed und
Ziel in den Sinn feines Gemüths, und die Selbitfucht
erhob ſich an der Stelle der Liebe zum Principe. feines
debens, wovon Daun die Zerrättung feines Leiblichen und
geifigen Weſens und die Knechtfchaft unter Sinnlichkeit
und Belt bloße, wiewohl nothwendige, Folge war. Zwar
ruht das Bebärfuiß ber Liebe noch im tiefften Grunde
umferer fündigen Natur und ift im Leben des Gott ent-
fremdeten Menfchen ebenfo noch die Mutter der edelften
Erfcheinungen, als fie zugleid den Punkt bildet, an wels
dem die Gnade aunüpft, wenn fie ihn für fein Heil ges
win nen will a). Aber fie wirkt da nur ald Macht der
a) Berf. Tann der Anficht nicht beipflichten, daß ber Heft bes goͤtt⸗
lichen Gbenbilbes (ober die noch gebliebene Erfcheinungss und
Rirkungsweife des Geiftes) nur im Gewiflen zu ſuchen und
alfo die Antnüpfung der Bnabe. auf dieſes zu befchränten fey.
Da bie freie Gemeinſchaft des Menſchen mit Bott. auf abfoluter
Abhängigkeit zuht, fo ift das Organ, in welchem ſich biefes Ver:
hältnig nach feiner objectiven Form Tundgibt, das Gewiſſen
nämlich, allerdings bie Bafis für jebe weitere Offenbarung Got⸗
2.
20 Schöberlein
Sehnfucht, nicht als freie Kraft (wie dieß Claudius im
feinen Briefen an Andres bei der Unterfcheidung von
„gut“ und „edel? fchön ausfpriht), und das alldurdhs
dringende und berrfchende Motiv des perfönlichen Lebens
bleibt — fey es mehr unter der Form des oft fublimften,
auf eigne Kraft trauenden und eignen DBerdienftes ſich
rühmenden Tugendſtolzes oder unter ber niedern Form
der Genuß» und Habfucht — der Egoismnd. Noths
wendiger Weife theilt fi) die im Grunde der Perſönlich⸗
feit, im Gemüthe, eingetretene Störung auch den übrigen
Vermögen des perfönlichen Lebens, Vernunft, Wille und
Gewiſſen, mit. Der Menfh kann Gottes Weſen unb
Detonomie hinfort nimmer verfichen, weil er Alles im
eignen Lichte ſchaut. Der Wille it gefuechtet unter das
Geſetz der fleifchlichen Begier, fo daß er dem Gefebe
Gottes nimmer zu folgen vermag. Und das Gewiflen
hört nit auf, in dem währenden Gefühle des Bedürf⸗
niffes nach Berföhnung und in den einzelnen Anklagen
die eingetretene Scheidung von Bett ihm vorzuhalten
und als feine Schuld ihm anzurechnen,
Soll nun der Menſch aus diefem Elende der Sünde
erlöſt werden, fo kann es nicht anders gefchehen, als daß
tes im Menſchen. Aber au in ber fubjectiven Geite bes
menſchlichen Lebens läßt fi) das Walten des Geiftes beim na»
türlihen Menfchen noch fpüren und ein Zug feiner Ebenbild-
lichkeit erfennen, da ja nicht bloß der Vernunft die Idee ewiger
Wahrheit, fondern auch dem Willen das Verlangen nach Frei:
beit und dem Gemüthe Ahnung und Gehnen nach göttlidyer
Liebe noch einwohnt (Röm. 7, 18—24.). Da der Menſch zur
” Sünde verführt worden ift, nicht in ſich felbft urfprünglich und
mit bewußtem , gottfeinblichen Vorſatze fie erzeugt hat, fo Tann
es nicht anders feyn, als daß feine Beſtimmung zur Gottesge⸗
meinſchaft auch in dieſer lehtern Weife nach dem Kalle fidy noch
ausſpreche. Und es geſchieht alfo die Antnüpfung der Gnade
nicht bloß an jenes objective Zeugniß der Abhängigkeit, fondern
auch an diefen fübjectiven Zug nach Semeinfchaft im Eon ar dgazog.
ib.d, Verhaͤltniß der perfönl. Gemeiaſch. mit Chriſto ꝛc. 21
die perfönliche Gemeinſchaft zwiſchen Gott und Menſch
wieder hergeftellt wird. Daß.dieß vom Menfchen nicht
ausgehen Tönne, liegt am Tage. Iſt überhaupt keine Ges
neinſchaft Des Menfchen mit Gott möglich ohne voraus»
gehende Gemeinfchaft Gottes mit dem Menfchen — dieß
liegt im Berhältniffe der Greatur zum Schöpfer —, wie
viel weniger nach eingetretenem Riffe !
Der Berfafler hat in feiner Abhandlung über bie
Berföhnung gezeigt, daß die Menfchwerbung des Soh⸗
ned Gottes nicht als bloßes Mittel für den Zwed der
Berfähnung aufzufaffen fey, fondern daß file vielmehr
ihre ummittelbarfte, innerfie und vollfte Bedeutung darin
babe, nuendliche Selbfloffenbarung der göttlichen Liebe
für die fündige Menfchheit in zeitlicher, an allen Kolgen
der Sünde perfönlich theilnehmenden und mit all ihrem
Leben dem Sünder ſich mittheilenden Selbfthingabe zu
feyn, daß fie aber ald folche, der Natur der Liebe ges
maß, zugleich nad drei Seiten, als Licht, Necht und
Kraft, wirfe: den Einblid in die Tiefen göttlichen We⸗
end uud Lebens ihm wieder eröffnend, eine freie, ver:
föhnte Stelinng zu Bott ihm begründend und die Durch⸗
Bringung des eignen Weſens mit göttlichen ——
wirkſam ihm darbietend.
Aufgabe dieſer Abhandlung iſt es — zu
zeigen, Daß, wie dort die Begründung des Heils durch
die perfönliche Lebens, und Leidensgemeinfchaft des Sohs
ned Gotted mit dem Menfchen, fo hier die Aneignung
des Heils burch die perfönliche Lebends und Leidensge⸗
meinfchaft ded Menfchen mit dem menfchgewordenen
Sohne Gottes gefchehe, und in derfelben die Erleuch-
tung, Rechtfertigung und Heiligung als integrirende Mo⸗
mente gleiherweife befchloffen liegen.
In der Perfon Chrifti begegnen ſich zwei Lebens⸗
bemegungen, eine von oben nach unten und eine von uns
ten nach oben. Indem Gott im Liebeöbrange nach Ger
22 Schöberlein
meinfchaft mit feinem entfremdeten Ebenbilbe fo weit
ging, wie es die abſolute Liebe kann, die Natur bee
Menfchen felbft anzunehmen, als menfchliche Perfönlichs
feit bienieden gu leben und alled Leib bis in den Tod
mit uns gefchichtlich zu erfahren, fo {ft Chriſtus bie per:
fönlich erfchienene, dem Menfchen fich opfernde Liebe
Gottes, die perfönlich mit der Menfchheit geeinigte Gott»
: beit. Indem Chriſtus aber auch mit wirklichem menfchli-
chen Bewußtſeyn und Willen, als der Menſch zur’ ZEoyiv
in den göttlichen Liebesrathſchluß einging, in Liebesge⸗
horfam gegen feinen Bater hienieden wirkte und alles
Leid bis in den Tod freiwillig erbuldete, fo ift er das
perfönlich fidh Bott dargebende Liebesopfer des Men:
fhen, die perfönlich mit Gott geeinigte Menfchheit. Bott
it in ihm Menfch, der Menſch in ihm vergottet. Chris
ſtus ii fomit der Angelpunft aller Gottesge—⸗
meinfchaft. Gott gibt ſich und nicht anders ale in
ihm, aber in ihm gibt er fih und auch ganz; fo können
auch wir und Gott nicht anders wahrhaft ergeben, als
in Lebensgemeinfchaft mit Ehrifte, durch fie aber können
wir auch völlig mit ihm Eins werben als feine Kinder.
Dieſes Berhälmiß ift, wie in oben genannter Abhand⸗
Iung ausführlicher bargethan worden, näher betrachtet,
ein bereitö ewig begründete. Im Sohne nämlih hat
Gott die Welt fchon gefhaffen. In ihm mit dem Men:
fchen, als uxoddeos, perſönlich Eine zu werben, und
burch den Menfchen, ald pxpdxocuos, mit feiner ganzen
Schöpfung in Gemeinfchaft zu treten, war der Rath fei-
ner Liebe, die der Weltfchöpfung Grund ift (1 Petr. 1,
20. Eph. 1, 4.). Und da die ewige Idee des Zeitlichen
nicht bloß ein in abflractem Vorſatze zeitlich Vorangehen⸗
des, fondern der reale Lebensgrund beffelben ift, fo if
der Sohn Gottes (durch feine in ideeller Wirklichkeit
ewige Wenfchwerdung) in Ewigkeit bereitd der sgwröro-
xos wie zig xriaeng Überhaupt, fo ded Menfchen insebe⸗
ib.d. Berhaͤltniß Der perfönl, Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 23
ſerdere, das Urbild ber Menſchheit, in welchem dieſelbe
au ih ſchon den Grund ihrer Exiſtenz und das Ziel ih⸗
vr Entwidelung bat. Dadurch aber, daß anf Grund
bed ewigen Liebesrathſchluſſes die Menfchwerbung auch
jeitlih im der durch die eingetretene Sünde bediugten
leidensvollen Weiſe verwirklicht worden, ift Chriſtus nun
auch für unfere zeitliche, aus dem Tode ins Leben über,
führende Entwidelung der zomröroxog iv zoAMoig ddskpoig
Ri, 8, 29.) und der Mittelpunkt der irbifchen Bes
fhidte geworden, anf welchen alle vorauögehende Lebens⸗
bewegung hinzielt und von wo aus alle nachfolgende
ausgeht.
Ale wahre religiöfe Entwidelung ift alfo durchaus
au die Bemeinfchaft mit feiner Perfon geknüpft.
Wie aber alle Macht des Gedankens und der That
fh durch den Geiſt vermittelt, welcher diefelben erzeugt
dat, in ihnen als Princip fortlebt und ale ſolches auf
fremde Perfönlichleiten wirkt, indem er das verwandte
Ledendprincip in ihnen entweder ſtärkt, oder erſt erweckt,
fo iR ed auch bei der in Chriſto geoffenbarten Liebe Got⸗
tee. Derſelbe h. Beift, durch welchen der Sohn Gottes
Menſch geworben (Luk. 1, 35.) und mit welchem er in
femer Menfchheit für die Ausrichtung feines Werkes ohne
Maß gefalbt worden, ift durch die Vollendung feines
Werkes zugleich dad Lebensprincip für bie erlöfle Ge⸗
meinde geworben, deren Haupt Ehrifius ift, und gießt,
von ibm andgehend, die in ihm erfchienene Liebe Gottes
in bie Herzen der Menſchen aus (Joh. 16, 14, Nöm. 5, 5.).
Wie nun die Liebe überhaupt fchöpferifch ift, fo ift fie es
vor Allem. indem fie in den innern Grund einer Ders
fönfichkeit ſich einſenkt, erweckt fie das gleiche Liebedies
ben. Einen natürlichen Antnüpfungspunft aber hat fie
m dem ber creatürlichen Perfönlichkeit eingebornen Ders
mögen ber Gottesgemeinſchaft oder, wenn wir noch ties
fer gehen wollen, in dem bem Menſchen (dadurch, daß er
24 Schöberlein
im Sohne von Ewigfeit ber zuvorverſehen und in ihm
nach dem Bilde Gottes gefchaffen iſt) von Natur keimlich
immanenten Bilde ded Sohnes Gottes. Indem der Sohn
Gottes nun anf Grund feiner zeitlichen Menfchwerdung
mit feiner ganzen andringenden Liebesmacht ‘dem Herzen
des fündigen Menfchen zum Heile ſich barbietet, fo wird
das durch die Sünde erlofchene, wiewohl nicht getilgte
Bermögen der Gottesgemeinſchaft, das im falfchen Lichte
des eignen Selbſts erblichene Bild Gottes in uns
wieber erwedt; und, ebenfo libermocht von biefer Liebe,
die fein tiefſtes, ſtäärkſtes Schnen flillt, ale frei ihr fols
gend, bie feiner ganzen Gegenliebe werth ift (1 Joh.
4, 19.), ergibt fi) der Menfch in dem inuerften Grunde
feines Gemüths Chriſto, feinem Heilande, zur unbeding-
ten Gemeinfchaft ded Lebens hin. Dieß ift der Weg des
Heils für den Sünder a).
Diefe Gemeinfchaft bat ebenfo ihre Stufenent-
wideluug, wie die Gemeinfhaft Gottes mit der füns
digen Menfchheit. Der Berf. hat hinfichtlich dieſer letz⸗
teren in ber obenerwähnten Abhandlung gezeigt, daß die
Liebe Gottes in ihrer erften Bewegung gegen den Sünder
als Zorn ſich offenbare, welchen der Menſch in feinem perföns
lichen und natürlichen Leben als Leiden (nach juriflifcher
Faſſung jened ald Schuld, dieſes als Strafe) inne werde.
Ohne nämlich noch ihre mitfühlende und mitlebende Theil⸗
nahme an dem Sünder herauszukehren, zeigt fie fich dies
fem erft, wie fie von feiner Sünde in ihrem göttlichen
Mefen, fo wie ed in fich ift, berührt wird, und tritt mit
a) Die nähere Beſtimmung dieſes Verhältniffes zwifchen menſchli⸗
dem unb göttlidhem Wirken bei der Belehrung liegt außer dem
Bereiche diefer Abhandlung. Uebrigens ergibt fidy bie Einheit
der reinen, alles menfchliche Verdienſt ausfchließenden Priorität
göttlichen und der wirklichen Freiheit menſchlichen Thuns am
einleucdhtendften eben aus dem Weſen der Gemeinſchaft und ih⸗
rer oben bargeftellten Beziehung zur Selbſtheit.
ib.d. Verhaͤltniß Der perfönl. Gemeinfch. mit Chriſto ꝛc. 25
ke iunern Harmonie feiner Selbftentzweiung, mit ihrer
dem Gefchöpfe zu wunbedingter Anctorität beftehenden
Serlichleit feiner Unwürdigkeit entgegen. Die umfaflende
Seeihaung für Diefe dem Sünder gegenüber das eigne
Echt dewahrende Stellung der Perfönlichleit Gottes ift:
Heiligleit — welche in ihrer activen, ſich ale ſolche dem
Simder nadı dem Maße feiner freien Selbfbeftimmung
mittheilenden Selbftbeziehung zur Gerechtigkeit wird. Das
Mittel ihrer Offenbarung ift das Geſetz, welches nicht
bioß in feiner vereinzelten gefchichtlichen Erfcheinung, als
Berichrift für Die einzelnen Lebensverhältniffe der Mens
fen gefaßt werden darf, fondern nmfaffender: ald Aus⸗
drad der in Gott ruhenden Idee menfchlichen Weſens,
als geoffenbartes, dem Sünder zur Norm vorgehaltenes
Urbild feines Lebens, weldhem Fluch und Segen ald
Correlat, nämlich als Hinweifung auf die an diefer ihrer
ewigen bee unverrüdt und energifch auch feithaltenden
Heiligkeit Gottes beigefügt ift.
Bon diefer eriten Stufe ihrer Selbfimittheilung fchreis
tet die ficbe aber zur zweiten, höheren, vwolleren, zu ber
dur Theilnahme vermittelten weiter. In ihrem unends
lichen Drange, das durch thren Zorn dem Menfchen bereis
tete innere und äußere Leiden felbft auch mit ihm zu tras
gen, erniedrigt fie fi bid zur Annahme der menfchlichen
KRatur und bietet fih auf Grund diefer ihrer Barmber;
äigfeit (die nach juriftifcher Faſſung als flellvertretende
Verſöhnung fi darftellt) mit ihrer ganzen Lebensfülle
dem Menfchen ald Gnade (nach ihrer juriftifchen Seite:
Verführung) zur Aneignung dar. Dieß gefchieht im Evans
gelinm, dem vom heil, Geifte getragenen Worte von der
in Chriſto perfönlich erfchienenen Gnade Gottes.
Beides, Gefeb und Evangelium, find alfo zwei Of⸗
fsbarungsmeifen derfelben Liebe. Sie folgen fih, weil
der Sünder die Totalität ihres Weſens nicht mit Einems
Bale zu faffen vermag, fonbern der Erziehung für ihr
26 Schoͤberlein
Verſtaͤndniß und ihre Aneignung bedarf, in der Geſchichte
der Menfchheit und des Einzelnen als Stufenentwicke⸗
Inngen, die wir in der Folge des alten und neuen Teſta⸗
mented erkennen. In jenem herrfcht bad Geſetz, Der
zadayayds auf Ehriftum, und es muß fo lange herrfchen,
ald die Liebe in ihrer Gnadenfülle noch nicht offenbar
geworben, ob auch immerhin einzelne Gnadenoffenbarun⸗
gen in ber Form der Berheißung voransgehen mögen.
Iſt aber die Gnade zur vollen Erfheinung gefommen,
fo wird fie damit auch die herrfchende Macht, und das
Geſetz, durchleuchtet vom Wefen der Gnade und zu hör
berer Zinheit mis ihr aufgenommen, verliert feine ſelb⸗
Rändige Stellung und dient der Gnade nur zur Offen»
barang ihres Lebens, ale Nichtfchnur für die Begnadigten.
Doch ift diefe Aufeinanderfolge Feine ausfchließende, da
die Liebe Gottes, fo viel an ihr if, vom Anfang an mit
ihrer ganzen Fülle dem ‚Sünder zugewandt ift und, wenn
fie audh die Momente derfelben nur in einem Nacheinan⸗
ber vor unfern blöden Augen und verfehrten Herzen aus»
einander legen fann, body auch dba fhon von Anfang an
das Endziel im Auge bat. Vielmehr gehen, mit Beibes
* haltung jenes fpecififchen Unkerſchiedes des alten und
nennen Teftamented, Beleg und Evangelinm fletig Hand
in Hand und wachen gemeinſam an Klarheit und Tiefe
ber Offenbarung. So finden wir das Evangelium bereite
unmittelbar nach dem Sundenfalle im Protevangelium,
und burd das ganze alte Teflament zieht ed fh im
immer heller werdenden Lichte hindurch bie zur Erſchei⸗
nung des Heiles felbfl. Ebenſo aber tritt auch im Geſetz
erft die Korberung bed bloßen Werks noch in den Vor⸗
dergrund, der geiftliche, tiefere -Gehalt hingegen ift nur
hie und da angedeutet. Denn wie hätte der Menfch den
vbllen Einblid in die Tiefe feines Berberbens ertragen
können, fo lange das Heil noch verdedt, noch in bloße
Berheißung gelleivet war! Mit der zunehmenden Macht,
ab.d. Berhältniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ehriſto ꝛc. 27
Aarheit und Geiſtigkeit der Verheißung aber in ber Zeit
ver Prophetie nimmt auch die Enthüllung ber höheren,
gefigen Forderung bed Geſetzes zu. Und als in Ghrifto
aadlih die Berheißung erfüllt ward, fo kam in ihm, weil
in der Liebe, deren perfönliche Erfcheinung er ift, Gerech⸗
hiefeit und Guade gleichermaßen inbegriffen find, and
bad Befep zur Erfüllung, und zwar nicht allein in Tras
gung ſeines Fluches, fondern zugleih in volllommener
Ofenbdarung feiner Forderung durch Wort und That
Ya fo fehr durchdringen fich in ihm beide Momente ber
liche, daß er das Weltgericht, die energifchte Offenbarung
der göttlichen Gerechtigkeit, eben dann halten wird, wenn
ach dad Reich der Gnade zur vollen Erfcheinung feiner.
dertlichkeit durch ihn Tommen fol. Und in alle Ewigkeit
wird er das Gefetz der Blänbigen, nur nicht in gebieten»
vr und firafernder Weile, fondern als heilleuchtendes
Urdild und ale felige, im inneren Grunde bed Herzens
unigende Liebesgewalt bleiben, fo daß dann auch in
dan, wie in ihm, Geſetz und Evangelium Eins gewor-
e mb alle Momente ber Liebe zur Erfüllung gekom⸗
un fund a).
Bon dem Maße und der Weife dieſer Liebeömittheis
Ing Bette an den Menfchen it nun das Maß und bie
Beife der Bemeinfchaft abhängig, in welche der Menſch
zit Gott treten Tann.
Bir können aber im Gemeinfchaftöleben ‚der Mens
(den überhaupt zwei Stufen unterfcheiden. Die erfte ift
Vie, daß ich, iadem ich zu einer Perfönlichkeit in Bezie⸗
u) Man entfchulbige, daß der Verf. hier bei der Rüdverweifung
anf die Gedanken der erfien Abhandlung ſich fo ausführlich auf
eine dort nicht gegebene Expoſition von ber geſchichtlichen Offen«
berung bes Geſetzes und Evangeliums einläßt. Gr thut es,
weil fie hier erft ihre volle Bebeutung gewinnt, wo fie auf bie
Gtufenentwidelung der Bemeinfchaft des Suͤnders mit Gott im
Einzel» und Gefammtiehen ihr Licht wirft.
28 Schöberlein
bung trete, fie, ohne noch einem befondern Zuge Der
Berwandtfchaft zu folgen, nur erſt fo nehme, wie fie für
ſich ift, und auch in diefem Maße nur mich ihr mittheile.
Ich laſſe fie noch außer mir, und indem ich die Gemein⸗
fhaft mit ihr vollziehe, gebe ich mich (und das Meine)
ihr nur in dem Maße bin, als fie nach ihrem individuellen
Werth und nad ihrer Stellung zur Gemeinfhaft (und
innerhalb diefer wieder fpeciell zu mir) diefe Hingabe auf
Grund der Gemeinfchaftsordnung in Anfpruch zu nehm en
hat. Wir bezeichnen bdiefe Stufe mit dem Ausdruck:
Achtung (die innere Seite der Gerechtigkeit), welche
deßhalb den Grundpfeiler alled Gemeinlebend bilder.
Eine zweite, höhere Stufe aber wirb dadurch vermittelt,
daß ih an dem Perſon⸗ und Natnrieben ded Andern
ſelbſt auch Theil nehme und ed in das meinige herein-
ziehe. Dieſes Theilnehmen, diefe Theilnahme und Herein⸗
nahme ift (was bei der Achtung nicht in dieſer Weife
der Fall ift) wefentlich bedingt durch innere Verwandt⸗
fchaft, fey ed allgemeine oder befondere, wie auch Die
Art und das Maß derfelben von der Art und dem Grade
diefer Verwandtſchaft abhängt 0). Dadurch mache ich
mich dem Andern erfi homogen, und es ift nun einehöhere,
vollfommene Selbfimittheilung möglih, die wir mie:
Liebe bezeichnen. Mit dieſer durch Theilnahme vermie-
telten Selbftmittheilung ift wahrhafte perfönlihde Eini⸗
gung eingetreten unb die höchfle Form ber Gemeinſchaft
erreicht.
Diefe beiden Stufen der Semeinfchaft begegnen ung
nun auch in dee Gemeinfchaft ded Sünders mit Gott.
Wenn Gott nur erſt in unmittelbarer Weife Dem
Menfchen fich mittheilt, d. b. wenn er dad Weſen feiner
a) Anders ift z. B. die Kindes⸗, anders die Freundes⸗, die eheliche
Liebe ꝛc. So darf und foll auch die Intenfität der Liebeshinga be
verfchieben feyn je nach Anziehung der Individualität ıc.
ib.d. Berhältniß ber perfönl, Gemeinſch. mit Ehrifto sc. 29
Prrfönlichkeit ihn erſt nur fo, wie es in felbftändiger
Birde dem Menfchen gegenüberficht, erfahren läßt, fo
uf fh auch der Menfch erſt nur in feiner nadten
kelbtheit Gott gegenüber fühlen. Die Gemeinfchaft bes
iht noch auf der Stufe der bloßen Achtung. Wie Gott
diefelbe gegen den Sünder darin vollzieht, daß er fein
reied Thum nicht ignorirt noch. aufhebt, fondern ale fols
br anerfennt, daß er ihm gibt, was er verdient, daß
er die Schuld und Strafe feiner Sünde durchs Geſetz
ihn fühlen läßt, — daß er gerecht gegen ihm iſt, ebenfo
ton nun auch Der Menfch bie Gemeinfchaft mit Bott
ur in der Weiſe vollziehen, daß auch er ald Sünder
geht it (man wolle biefen Ausdrud nicht mißdeuten),
af er nämlich in ehrfurchtövoller, bußfertiger Schen
(welhe etwas nicht bloß Aufgedrungenes if, wie das
Empfinden der Schuld und das Leiden der Strafe, fons
dern bereitd ein Act freier Gemeinfchaft) wegen feines
Inderfams vor Gott fich demüthigt, anklagt und flraft,
me Gott die Ehre gibt, die ihm dem Heiligen vom
kiner gebührt.
Dieß ifE die Buße, die aus dem Geſetzekommt,
y daſelbe nun alts ober neuteftamentlich, ja das pers
inlihe Geſetz im Vorbilde Ehrifi ſelbſt. Sie läßt den
Renſchen noch außer Bott fiehen, in ihr waltet noch
leue diebesmacht. Ja fie verfeßt den Menfchen vielmehr
in die troſtloſeſte Losgeriffenheit, indem er nun nicht bloß
von Bott gefchieden fteht, mit welchem ihn nur noch das
alzeneinſte Nechtöverhältuig und zwar das der Straf
zerechtigkeit verbindet, fondern gefchieden auch von feinem
"zum lieben Sch, von welchem ex fich im Geifte feines
Lillens losgeſagt hat. Damit nämlich, daß der Menſch
a Unglauben (Gen, 3.) aus der Gemeinſchaft Gottes ſich
bie, hat er, wie eben abnormer Glaube an ſich ſelbſt
(dechmuth) mit Unglauben an Gott allezeit Hand in Hand
“ft, zugleich angefangen, den Quell geſunder Entwides
‘
30 i Schoͤberlein
lung in ſich ſelbſt zu ſuchen. Dieſes falſche Vertranen auf
eigne Einſicht, Kraft und Würdigkeit (falſche Theilnahme
an ſich ſelbſt) reißt die Geſetzesbuße dem Menſchen aus
dem Herzen, und im Gedränge ber Angſt und Furcht
erwacht ber durch die Gcheinbefriedigung der Sünde in
Schlummer gewiegte, doch nicht getilgte Eu dvägmaog
(Roͤm. 7, 22.) d. i., abſtract gefaßt, das im Innerften
Grunde des Menfchen eingeboren ruhende Bedürfniß nach
Botteögemeinfchaft, und drängt fich hervor und firedt
ſich nach‘ oben aus, um den eignen Mangel aus ber
göttlichen Liebesfülle zu ergänzen._- Denn fo völlig ifolirt
kaun der Menfch nicht bleiben: die Selbflaufgabe muß
zur Gelb hingabe fortfchreiten. So drängt die Geſetzes⸗
buße deu Menfchen von felbft auf eine zweite, höhere
Stufe der Gemeiuſchaft vorwärts,
Doh Tann er auf diefe nur dadurch ſich erheben,
daß auch hier wieder die goͤttliche Liebe, auf einer höhe⸗
sen Stufe ihrer Selbſtmittheilung, ihm zuvor» und ent⸗
gegenfommt. Indemn er aber diefer göttlichen Liebe nun
begegnet, findet er fie gleichfalls über feine Sünde be-
trübt, ja er flieht, wie fie in geitlich-perfönlicher Wirklich,
feit den auf derfelben Iaftenden Fluch felbft auf ſich ges
nommen und, geBleibet in unfer eigen Fleiſch, bis in ben
Tod getragen hat. Diefer unendliche Widerfpruch gött⸗
licher Liebe mit feiner Selbſtſucht beſchämt, dieſe bitterfte
Folge feiner Sünde erfchüttert ihn. Und er trägt nun
nicht bloß darüber Leid, die göttliche Majeſtät verlebt,
fondern zugleich, die göttliche Liebe ind Leid gezogen
zu haben, Während er aber fo einerfeits jeßt erſt die
ganze Größe feiner Schuld vor Bott erkennen lernt und
dadurch noch mächtiger denn vorher ſich getrieben: fühlt,
von feinem verkehrten Selbſt, durch welches all dieſes Leis
den verurſacht worden, fich zu löfen, fo verliert doch
anbererfeitö feine Buße, indem fie deu theilnchmenden
Liebesſchmerz Gottes in den eignen Schmerz; aufnimmt,
ib. d.Berhältniß Der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ghrifto x. 31
den Charakter der Losgerifienheit von Gott und nimmt
du de Bemeiufchaft, ob auch zunächſt nur ber Leideus⸗
genciaſchaft, mit ihm an. Go wird ber Sünder von ber
söttihen Liebe dadurch, daß fie, den Zorn in Barmbers
ziglen verfchlingend, and bem Gedenſatze gegen ihn her»
and und in Gemeinſchaft wirklicher Hingabe mit ihm über:
getreten iſt, ſelbſt aud aus dem Gegenfatze gegen, fie her⸗
and uud in die Bemeinfchaft wirklicher Hingabe mit ihm
eingefährt. Und es iſt fomit die wahre, aus dem Evan,
gelium fomımende Buße, welche allein eine währenbe
Grundlage des neuen lebend zu bilden vermag, wie über:
danpt eine Betrübniß über die Betrübung der göttlichen
kiede, fo anf ihrer höchſten Stufe ein Liebesleiden
der Seele mit Ehrifto, in welddem das ganze gött⸗
lie Erbarmen gefchichtlich offenbar geworben.
Doch iſt dieß eine noch fehr unvolllommene Theil⸗
nahme an dem Liebeleben Gottes. Die Seele hat bier
war erſt das ans bem Leben Gottes in bad ihrige aufs
geusumen, was Gott nach feiner Liebe aus ihrem Leben
sorher a das felnige aufgenommen hatte, nämlich das
#36 der Sünde quellenbe Leiden. Gott hat ſich aber in
de Gemeinfchaft ihres Lebens nur dbahingegeben, um
benfeiben dad feinige einzupflangen, ihre Schuld nur ges
tragen, um ihr feine Gnade fchenten, ihr Elend nur mits
gelitten, um feine Seligkeit ihr mittheilen zu können.
Peine Theilnahme an Bott wird alfo dadurch erft eine .
volfowimene, daß ich nicht bloß das Spiegelbild meines
lebend im göttlichen, fondern daß ich Gottes eignes
Leben ſelbſt auch in das meinige herübtr⸗ und aufnehme.
Natürlich trägt nun diefe Theilnahme des Menfchen
eu Leben Gottes einen andern Charakter, als wir's bei -
Kr Theilnahme Gottes an unferm Leben geſehen haben a).
& iR aberhanpt in jeder Gemeinfchaft die Art und Weiſe
) Bergl, Verſohaungelehre, ©. 294-296,
32 Schoͤberlein
derſelben von ber verſchiedenen Stellung der Perſoͤnlich⸗
keiten innerhalb der Gemeinſchaft bedingt. Wohl iſt es
immer ein Act ber Demuth, eine Selbfidemüthigung gegen
und zu dem Andern, die ich in der Theilnahme an ihm
übe. Aber es ift ein Andere, wenn ich ale der Stärkere
an der Schwäche, und ein Anderes, wenn ich als der
Schwächere an der Stärke bed Andern Theil nehme, fie
in mein inueres und äußeres Leben aufnehmend. Jenes
begegnet uns in ben verfchiebeuen Stufen ber Herab»
laſſung der Eltern gu dem Kinde von der leiblichen Pflege
an bie zum Mitgefühle mit feiner Sündenfchuld, dieſes in
den verfchiedenen Stufen vertrauensvoller Ueberlaflung
des Kindes an die Eltern bid zum Blanben an ihre ver,
gebende Liebe. In noch höherem Maße muß diefer Unter:
fchied heraustreten, wenn das Verhältniß von Haupt und
Glied fi zu dem von Schöpfer und Geſchoöpf ſteigert,
vollends aber, wenn die Schwäche bed Geſchöpfs fogar
in Sünde und Leid übergegangen if. Haben wir nun
bei Bott feine Theilnabme an unferm Leben ale Barm⸗
herzigfeit erfannt, fo ſtellt fich unfere Theilnahme an
Gottes Leben ald Glaube dar,
Unfere Beziehung zu Gott ruht durchaus auf Glau⸗
ben. Denn da Gott der Schöpfer und Grund unferd
gefammten Wefend it, fo kann unfer perfönliches Leben
fi) gar nicht entwideln, wenigfiens feiner Beſtimmung
gemäß fich nicht entwideln, wenn wir nicht mit voller
Hingabe unſers Gemüths Gottes Leben in das unfrige
hereinziehen. Aus diefem Grunde ift und der Glaube in
der Form eines unmittelbaren Willens und bebürftigen
Berlangene nach oben bereits eingeboren. Doch bildet
er als ſolcher nur die Bafls für eine freie Selbſtbezie⸗
hung des Menfchen. Denn der Glaube ift, wiewohl
allerdings Gottes Werk in und — denn ohne thatkräaͤfti⸗
ges, unfer Inneres neubelebendes Einſenken ber göttlichen
Liebe in unfer Herz durch den heiligen Geiſt würden wir
i.d, Verhaͤltniß Der perfönl, Bemeinfch. mit Chriſto ꝛc. 33
ninwermehr der Gnade glauben koͤnnen, — fo doch zu»
gleich auch Freie, felbfleigene That des Menfchen, welcher,
vor der eigenen Ohnmacht im Innern überführt, all fein
keben hinfort nur ans Bott fchöpfen will, Und wiederum
er nicht bloß Sache einer einzelnen Seite im menſch⸗
lichen Weſen, wie des bloßen Verftandes und der Ueber⸗
jengung, d. h. nicht ein bloßes Fürwahrhalten göttlicher
(Held s) Wahrheit, wozu die fatholifche Kirche, indem
fie dad Heil des Einzelnen von feiner Gemeinſchaft mit
der Kirche, ftatt von der mit Ehrifto, abhängig macht,
verleitet wird und dann allerdings zu einer Ergänzung
deſſelben durch Werke ſich genöthigt flieht, fondern ber
Glaube if, wie unfere Kirche, wenn fie Erfenntniß, Bei⸗
fall und Zuverfiht feine Theile nennt, richtig erkannt
hat, eine Sache der innerfien Perfönlichleit, des Ges
müths, in welchem bie übrigen Seelenfräfte, wie oben
gezeigt worden, fämmtlich- al& in ihrem lebendigen Grunde
wurzeln. Eben deßhalb aber kann ed auch dem Glauben,
wrä Sleiched wieder Gleiches ſucht, noch nicht genügen,
BET eine einzelne Seite des Weſens Gottes zu fallen, wie
feine Macht oder Weisheit, fondern er ift nur dann ein
wahrer, Iebenbiger, wenn er in Gottes Herz einbringt,
wenn er das innerfte Weſen Gottes, wenn er feine Liebe
faßt. Der Blaube ift ein eingehendes, in fih
fangendes Hinnehmen der Liebe Gottes ins
Gemüth. Wie der Abfall des Menfchen damit begonnen
hat, daß er in Mißglauben Gott Lieblofigkeit, Verkur⸗
sung der eignen Perfönlichleit (Ben. 3, 5. 6.) zutraute,
fo tritt Die Wiedereinigung mit Gott damit ein, daß er
tm alle Liebe zutraut und die Erfüllung der eignen Pers
ſinlichkeit aus ihm nimmt. So finden wir den Glauben
hen im alten Teftament ald Lebendelement der From⸗
zen, weil dad Erbarmen der göttlichen Liebe, unmittelbar
14 dem Sändenfall eintretend nnd das unendliche Ders
daten zurücdhaltend, aud im alten Teftamente bereitg
Cheol, Srud, Fahre. 187. £ ö
2)
36 Schöberlein
Doch hat auch diefe höhere Selbfimittheilung, gleich
wie wir's bei der Theilnahme, durch welche fie vermittelt
wird, gefehen haben, erfi einen Gegenfaß zu überwinden,
der durch die Sünde hereingelommen if. Wie nämlich
die Sünde in falfcher Theilnahme ihr Wefen hat, indem
der Menſch die Befriedigung feiner perfönlichen Bedürf⸗
niffe aus fich felbft, flate aus Gott, fchöpfen zu Fönnen
meint und wirklich fchöpft, fo befteht fie auch in falfcher
Selbftmittheilung, indem er, ftatt Gott zu leben, ſich felbit
lebt, Und wie die wahre Theilnahme an Gott im Glau⸗
ben nicht andere möglich wird, ald baß der Menſch in
Buße von dem falfchen Glauben an fi felbft fich los⸗
mache, fo auch die Selbftmittheilung an Gott nicht ans
bers, ald daß er das falfche Sichfelbftleben in der Selbfl-
verleugnung aufgebe, Gleichwie aber die Buße den
innerften Grund des Herzens nicht umzuwandeln vers
mag, fo lange der Menfch noch unter dem Gefete, noch
allein, losgeriffen von Gott und Gott bloß gegenüber
fteht, fondern erft durch die gliedfiche Leidensgemeinſchaft
mit dem für unfere Sünde leidenden Haupte Chriftus zu
einer lebendigen, innerlihen und ummwanbelnden wird,
“fo ift ed auch bei der Selbftverlengnung Wohl findet
fi bereitd im alten Teflamente eine Art Belehrung, eine
Abkehr von fich ſelbſt und Zukehr zu Gott, welche im
Berhältniffe zur damaligen Stufe der Liebesoffenbarung
Gottes an die Menfchheit eine relative Vollkommenheit
bei den Gläubigen haben konnte. Aber fo lange Gott
noch nicht in .felbfiaufopfernder Hingabe fein ganzes Herz
gegen die Menfchen eröffnet hatte, konnte auch der Menſch
noch nicht im innerften Grunde des Herzens von fidh ſelbſt
frei werden. Denn da Selbfimittheilung das wefentliche
Leben des Herzens ift, und es ohne diefelbe nicht einen
Augenblid verharren kann, fo muß audy bie Berleugnung
feiner felbft, wenn fie eine wahre feyn fol, zugleich den
Charakter der Gemeinſchaft an ſich nehmen. Dieß ge
ib.d. Verhaͤltniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ehriftoac. 37
(hieht, wie bei ber Buße, durch bie Gemeinfhaft mit
Chrifo. Wie wir jene ein Liebesleiden der Seele mit
Erle genannt haben, fo ift’d auch bei der wahren
Selbſtverleugnung. Sie ift, was die heilige Schrift nennt:
ein Sterben, ein Begrabenwerden mit Chriſto. Während
ih in der Buße jenes Liebedleiden Ehrifti theile, in wels
dem er meine Sünde fih hat zu Herzen dringen und
ihren Fluch über ſich ergehen laſſen, fo in der Selbſt⸗
verlengnung (Matth. 16, 24.) dasjenige, vermöge deſſen
er, das in der Berfuchung, welche auch an feinem wahr,
haft menſchlichen Selbſt eine reelle Möglichkeit der An⸗
mäpfung hatte, fi ihm entgegendrängende Cigenleben
jurüchveifend,, zugleich feine mit unferer Schuld belabene
Derfönlichkeit in jede Schmach und feine ganze, mit den
Folgen unferer Sünde behaftete Natur (adp&) in jedes
Leiden, ja in den Tod felbft dahingab (Röm. 6, 10.
19er. 3, 18. Röm. 8, 3). So fterbe ich in meiner
Semeinfchaft mit ihm mir felbft, d. h. meinem falfchen,
won Sort losgeriſſenen Selbft, dem Kleifche ab.
Aber dieſe Gemeinfchaft des Sterbens führt noth-
werdig zur Gemeinſchaft feiner Auferftiehung (Röm. 6, .
4-11.) und feines ebene. Wie Chriftus die a&oE in den
Zod gab, Damit das wahre Leben in ihm, das zvsüue,
jur Erfheinung fomme, fo fterben auch wir in ber Ges
meinihaft Ehrifti und felbft nur ab, damit in ihr unfer
wahres Selbft aus dem Zode, dem Scheinleben der Sünde -
erfiehbe und dad zveüun in und herrfchend werde (Nom.
6, 5.). Da wir aber nun ald Bild Gottes zu feiner voll⸗
fommenen Gemeinfchaft gefchaffen find, fo lebt unfer Ich
dann eben erft wahrhaft, wenn es in diefer fteht. Dieß
gefchieht nun durch die Liebedeinigung mit Chrifto, dem
menfchgemordenen Sohne Gotted. Und fo ift die Eini-
gung der Liebe mit Ehrifto, welchem nun des Sünders
ganzes Herz gehört und fein ganzer innerer Menſch
un
38 Schöberlein
lebt (2 Kor. 5, 15.), bie lebte, höchſte ee ber Gemein⸗
fchaft mit Gott a).
Aus diefer Entwidelung erhellt, daß — Weg des
Heils für den Sünder kein anderer ſey, als den
ganzen irdiſchen Kampfes, und Siegeslauf
Chriſti durch Tod und Auferfiehung hindurd
vermögedervolllommenen Selbfthingabe des
inwendigen Menfchen an ihn ihm nachzulei⸗
den und nachzuleben, und daß mithin die unio
mystica nicht bloß Schlußpunft, fondern zugleich Aus⸗
gangspunft und währendes, fort und fort wachſendes
Moment im ordo salutis fey, in welchem alle übrigen
Zäftände chriftlichen Lebens nur einzelne Seiten und Ers
fheinungsweifen bilden. Bußfertiger Slaube und
felbfiverleugnende Liebe find ihre zwei Grund»
feiten. Wie alled Leben der Gemeinfchaft im gegens
feitigen Nehmen und Geben befteht, fo auch hier. Im
Glauben nimmt die Seele alle Liebesfülle aus Gott, um
in ber Liebe ſich Gott ganz wiederzugeben. Und wie
Gott in feiner Barmherzigkeit gegen den Sünder fidh
berabneigt und herabläßt, fo fehr, daß er felbfi deflen
Natur annimmt, fo ift auch der Glaube, worin ja der
Menſch bekennt, daß ihm felbft Alles fehle, in Gott aber
Alles für ihn liege, der Act der tieffien Demuth gegen
Gott. Dagegen gibt es Feine herrlichere Stufe der Er:
um - — ——
a) Hier, wo wir von ber Gemeinſchaft bes Menſchen mit Gott
reden, nennen wir nur bie höchfte Stufe berfelben‘ Liebe, weil
im Gemüthe des Menſchen ein wirkliches Auseinander und Nach:
einander jener Stufen flattfinbet. Anberö bei der Gemeinfchaft
Gottes mit dem Wenfchen, weil Bott gegen jeden Menſchen in
jedem Momente ganz Liebe ift und nur um des Menfchen felbft
willen in feiner Gelbftmittheilung ſich befchräntt; bei ihm ift
auch die niebrigere Stufe Ausfluß ber Liebe ſelbſt. Darauf
beruht der Unterfchieb des Gebrauchs vom Wort „Liebe” in
diefer und der genannten früheren Abhandlung,
*
üb.d. Berhältniß der perfönt. Semeinfch. mit Chriſto ꝛc. 39
babenheit für den Menſchen, ald wenn er (wiewohl er
allerdings nichts zu geben vermag, ald was er felbft erft
von Sort empfangen bat), Bott gegenüber fogar ale
Gchender erfcheint, fid ihm in der Liebe gibt mit feiner
ganzen Perfönlichkeit. Beide Seiten ftehen in innigiter
BVechſelwirkung. Der Blaube if das Erfte. Ohne ihn
{iR keine Gemeinſchaft mit Ehrifto, mit ihm aber ift fie
wirklich bereit au da, fo daß dur ihn der Menſch
Ades hat, was Ghrifti if. Aber die Liebe ift die noth»
wendige andere Seite deſſelben, die nicht ausbleiben kann,
wo er wirklich Sache ded Gemüths, alfo der innerfien _
Gefammtperfönlichkeit, nicht bloß des Verſtandes oder
formellen Willens ift. Ja fie kann fo wenig außbleiben,
daß fie ihm vielmehr, wie wir gefehen haben, keimlich
ſchon inne liegt. Deßmwegen, wie die Liebe aus dem
Stauden fort und fort ihr Leben nimmt, fo Eräftigt, ver⸗
inmerlicht und befefligt fih auch der Glaube durch Die
Liebe, bis er endlich, wenn alle Stadien irdifcher Ent⸗
widelung durchlaufen find, als befondere Vorfiufe vers
ſchwindet und, da jenfeits mit der relativen Kerne Got⸗
ted auch feine Unfichtbarleit, Die des Glaubens Gegen⸗
Rand ift cHebr. 11, 1.), für den Menfchen aufhört, als
wirkliches Schauen in der höchſten Stufe der Gemein:
fhaft, der Liebe, völlig aufgeht (1 Kor. 13). In gleis
der Weife aber bedingen fid auch auf beiden Stufen,
bed Blaubend und der Liebe, die negative und bie poſi⸗
tive Seite. Der Glaube fann nie der Buße (der evan⸗
gelifchen , nicht der gefeßlichen, über welche, als bloße
Borbereitungemacht, ber Bläubige vielmehr hinauskom⸗
men kann und foll) ermangeln, wie die Liebe immer mit
Gelbfiverleugnung wird verbunden bleiben, fo lange die
angeborne Selbftfucht im Menfchen nicht völlig getilgt iſt.
Dagegen muß die Buße allezeit in ben bie Gnade ergreis
fenden Glauben übergehen und die Selbflverleugnung
aus der Liebe fich erfüllen, wenn ber Menſch im Leibe ſich
.
32 Schöberlein
berfelben von ber verfchiedenen Stellung der Perſoöͤnlich⸗
keiten innerhalb der Bemeinfchaft bedingt, Wohl ift es
immer ein Act der Demuth, eine Selbfidemüthigung gegen
unb zu dem Andern, die ich in der Theilnahme an ihm
übe. Aber es ift ein .Andered, wenn ich als der Stärfere
an der Schwäche, und ein Anderes, wenn ich ald der
Schwächere an der Stärfe des Andern Theil nehme, fle
in mein inneres und äußeres Leben aufnehmend. Jenes
begegnet und in ben verfchiedeuen Stufen der Herab-
lafjung der Eltern zu dem Rinde von der leiblichen Pflege
an bis zum Mitgefühle mit feiner Sündenfchuld, dieſes in
den verfchiebenen Stufen vertrauensvoller Ueberlaffung
des Kindes an die Eltern bis zum Glauben an ihre ver»
gebeude Liebe. In noch höherem Maße muß biefer Unter:
fchied heraustreten, wenn das Berhältniß von Haupt und
Glied fi zu dem von Schöpfer und Geſchoͤpf fleigert,
vollends aber, wenn die Schwäche bed Geſchoöpfs fogar
‚in Sünde und Leid übergegangen if. Haben wir nun
bei Bott feine Theilnahme an unferm Leben ald Barm⸗
herzigkeit erkannt, fo ſtellt fich unfere Theilnahme an
Gottes Leben als Glaube dar.
Unſere Beziehung zu Gott ruht durchaus auf Stan
ben. Denn dba Gott der Schöpfer und Grund unfers
gefammten Wefens ift, fo kann unfer perfünliches Leben
fih gar nicht entwideln, wenigſtens feiner Beſtimmung
gemäß fi nicht entwideln, wenn wir nicht mit voller
Hingabe unferd Gemüths Gottes Leben in das unfrige
hereinziehen. Aus diefem Grunde ift und der Glaube in
der Form eines unmittelbaren Wiſſens und bedürftigen
Berlangend uach oben bereits eingeboren. Doch bildet
er als folcher nur die Baſis für eine freie Selbſtbezie⸗
bung des Menfchen. Denn der Blaube ift, wiewohl
allerdings Gottes Werk in und — denn ohne thatkräftis
ges, unfer Inneres neubelebendes Einfenten der göttlichen
Liebe in unfer Herz durch den heiligen Geift würden wir
uͤb. d. Verhaͤltniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 33
nimmermehr der Gnade glauben können, — fo doch zu»
gleich auch freie, felbfleigene That des Menſchen, welcher,
von der eigenen Ohnmacht im Innern überführt, al fein
Leben binfort nur aus Bott fchöpfen will, Und wiederum
iR er nicht bloß Sache einer einzelnen Seite im menſch⸗
lihen Weſen, wie des bloßen Verſtandes und ber Ueber⸗
jengung, d. h. nicht ein bloße Fürwahrhalten göttlicher
(Held ») Wahrheit, wozu die Fatholifche Kirche, indem
fie dad Heil des Einzelnen von feiner Bemeinfchaft mit
der Kirche, flatt von der mit Ehrifto, abhängig macht,
verleitet wird und dann allerbings zu einer Ergänzung
beffelben durch Werke fich genöthigt flieht, fondern der
Glaube ift, wie unfere Kirche, wenn fie Erfenntniß, Bei⸗
fall und Zuverficht feine Theile nennt, richtig erfannt
bat, eine Sache der innerſten Perfönlichleit, des Ger
müthd, in welchem die übrigen Seelenkräfte, wie oben
gezeigt worden, fämmtlich- als in ihrem lebendigen Grunde
wurzels. Eben deßhalb aber kann ed auch dem Slauben,
weil Gleiches wieder Gleiches fucht, noch nicht genügen,
nur eine einzelne Seite des Weſens Gottes zu fallen, wie
feine Macht oder Weisheit, fondern er ift nur dann ein
wahrer , lebendiger, wenn er in Gottes Herz einbringt,
wenn er das innerfie Wefen Gottes, wenn er feine Liebe
faßt. Der Blaube if ein eingehendes, in fid
faugende® Hinnehmen der Liebe Gottes ing
Gemüth. Wie der Abfall ded Menfchen damit begonnen
hat, daß er in Mißglauben Gott Lieblofigkeit, Verkur⸗
jung der eignen Perfönlichkeit (Gen. 3, 5. 6.) zutraute,
fo tritt die Wiedereinigung mit Gott damit ein, daß er
ihm alle Liebe zutraut und die Erfüllung der eignen Pers
fönlichFeit aus ihm nimmt. So finden wir den Glauben
ſchon im alten Teftament ald Lebenselement der From⸗
men, weil dad Erbarmen der göttlichen Liebe, unmittelbar
nah dem Sündenfall eintretenb und das unendliche Der»
derben zurüdhaltend, auch im alten Teftamente bereits
Theol, Sud, Jahrg. 1847. #8
34 Schöberlein
in finfenmweife bellerem Lichte nnd wachſender Kraft fidı
offenbarte. Auch dort hatte der Fromme fein Leben darin,
daß er, das Bertrauen auf eigne Weisheit, Kraft und
Wurdigkeit aufgebend, in die jededmalige, feiner gefchicht-
lichen Stufe entfprechende göttliche Liebesoffenbarung
einging (vgl. die Erempel ded Glanbens im 11. Kap.
des Hebräerbriefed). Rur ift, während hienach der Glaube,
als Lebensbewegung bes innern Menfchen gefaßt, im
alten Xeftamente allerdings nicht andrer Art ift, als im
‚neuen, und auch dort ſchon den Weg bildet, aus dem
Geſetzesſchrecken in Gott fih zu finden, bie Offenbarung
der Liebe Gottes in Ehrifto, in welchem bie bloße Ver⸗
heißung zur Erfüllung geworden, und fomit auch ihre
Wirkung auf dad Gemüth ded Menfchen doch eine fo
fpecififh nene, daB ber Größte bes alten Teſtamentes
immerbia noch Heiner ift, al& der Kleinſte im Reiche Got:
ted. Denn dadurch erfi, daß Gott ſich ganz, mit feiner
ungetheilten Liebesfüle an den Wenfchen hingegeben hat,
kann der Menſch auch Gott ganz erfaffen und alles Be⸗
bürfniß für fein geifliged Reben aus ihm hinnehmen;
dadurch erſt, daB Gott in der Menfchwerbung perfönlich
mit dem Menfchen in Gemeinfchaft getreten ift, kaun auch
der Menfh, von dem aus GChrifto ausgehenden hei⸗
ligen Geifte im innerftien Grunde feiner Perfönlichkeit er»
griffen, wahrhaft und ganz in perfönliche Einigung mit
Gott treten. So ift der wahre, lebendige hrif
lihe Slaube ein Liebesleben der Seele mit
Ehrifto, zwarnurnod in Form ber Neceptivität,
aber doch, da ja dad Berwandte nur vom Verwandten
ergriffen werden kann und bie Energie ded Verwandt,
ſchaftszuges zu Gott ſelbſt ſchon Liebesregung ift, ein
wirkliches Liebesleben a). Wie ich in der Buße an bem
a) In dem an ſich völlig berechtigten Streben, menſchliches Ver:
dienft gänzlich auszufchließen, bat bie ältere Dogmatik diefe
⸗
uͤb. d. Verhaͤltniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 35
far mich übernommenen Leiden Ehriſti Theil nehme, fo
im Glauben an feinem für mich errungenen Leben ea).
Dort geht die Liebe Ehrifti in Korm des Schmerzes, bier
in Form der Freude in meine Seele ein.
Buße und Glaube als theilnehmende Seite in ber
Gemeinſchaft des Sünderd mit Gott bilden aber nur die
Berfinfe für eine höhere Selbftmittheilung. Denn went
dad Ich dem Ich, hier fpeciell die Seele Gott durch
Theilnahme, Inſichnahme feines Lebens ſich ihm verwandt,
oder vielmehr ihre urfprüngliche Verwandtfchaft mit ihm
wieder lebendig gemacht hat, — wie Fr. v. Baaber trefs
fend fagt: „Der Glaube öffnet, feßt in Rapport, macht
einer fremden Perfönlichkeit theilbaftig” —, fo liegt nun
fein Hemmniß mehr zwifchen inne. Und fle vermag mun
Gott nicht mehr bloß das zu geben, was ihm auf Grund
feiner individuellen Würde und feiner Stellung im Gans:
zen der Gemeinfhaft gebührt, wobei fie aber fonft noch
gauz im ihrer felbfifchen Abgefchloffenheit gegen ihn ver-
harrte, fondern fie kann ſich ihm nun mit ihrem innerften
Leben zum Opfer und Eigenthume geben, ſich m ungetheils
sem Maße mit ihm einigen.
— — ———
Immanenz des Liebesmomentes im Glauben nicht genug aner⸗
kannt. Von neuern evangeliſchen Theologen aber iſt es geſche⸗
hen; vergl. J. Müller (Lehre von der Bünde. J. S. 115.): „Auch
der Glaube im eigenthümlich chriſtlichen, namentlich pauliniſchen
Sinne des Wortes muß als ein Moment im Begriffe der Liebe
zu Gott erlannt werden; benn es iſt ein &icherfchließen bes
Gemüthe für bie - zuporfommende göttliche Liebe und Gnade
weidyes ja ſelbſt offenbar eine Weiſe der Liebe zu Gott ift.”
Nitz ſch (Syſtem, S. 283.): „Im Glauben Fann ein gewiffes Eles
ment ber Liebe, nämlid Wahrhaftigkeit, Demuth, Verlangen
und Selbftverleugnung nicht fehlen.” So nennt audy Schleier-
macher den Glauben eine Sache ber anfchauen wollenden Liebe,
a) Damit ift nicht gemeint, daß ber Glaube das Leiden Iefu- nicht
andy zu feinem Objecte habe, Aber im Glauben lebt ber Menſch
nicht das Leiden im Leiden nach, ſondern die erloͤſende Macht,
welche darin für ihn liegt. er
a
36 Schöberlein
Doch hat auch diefe höhere Selbftmittheilung, gleich
wie wir’ bei der Theilnahme, durch welche fie vermittelt
wird, gefehen haben, erft einen Gegenfag zu überwinden,
der durch die Sünde hereingefommen if. Wie nämlich
die Sünde in falfcher Theilnahme ihr Weſen hat, indem
ber Menfch die Befriedigung feiner perfönlichen Bebürfs
niffe aus fich felbft, ftatt aus Gott, fchöpfen zu können
meint und wirklich fchöpft, fo befteht fie auch in falfcher
Selbftmittheilung, indem er, ftatt Gott zu leben, ſich ſelbſt
lebt. Und wie die wahre Theilnahme an Gott im Glau⸗
ben nicht anders möglidy wird, ald daß der Menſch in
Buße von dem falfhen Glauben an fich felbit fich los⸗
mache, fo auch die Selbftmittheilung an Gott nicht ans»
dere, als daß er das falfche Sichfelbftleben in der Selb ſt⸗
verleugnung aufgebe, Gleichwie aber Die Buße den
innerftien Grund des Herzens nicht umzuwandeln vers
mag, fo lange der Menfch noch unter Dem Gefeße, noch
allein, losgeriffen von Gott und Gott bloß gegenüber
flieht, fondern erft durch die gliedliche Leidendgemeinfchaft
mit dem für unfere Sünde leidenden Haupte Ehriftus zu
einer lebendigen, innerlichen und umwandelnden wird,
"fo ift ed auch bei der Gelbfiverleugnung. Wohl findet
fi) bereitd im alten Teſtamente eine Art Belehrung, eine
Abkehr von fich ſelbſt und Zukehr zu Gott, welche im
Berhältniffe zur damaligen Stufe der Liebesoffenbarung
Gottes an die Menfchheit eine relative Vollkommenheit
bei den Gläubigen haben konnte. Aber fo lange Gott
noch nicht in .felbftaufopfernder Hingabe fein ganzes Herz
gegen die Menſchen eröffnet hatte, konnte auch der Menſch
noch nicht im innerften Grunde des Herzens von fidh ſelbſt
frei werden. Denn da Selbfimittheilung das wefentliche
Leben des Herzens it, und es ohne bielelbe nicht einen
Augenblid verharren kann, fo muß auch bie Berlengnung
feiner felbft, wenn fie eine wahre feyn fol, zugleich ben
ECharafter der Gemeinfhaft an fich nehmen. - Dieß ges
6. d. Verhältniß der perfönl, Gemeinſch. mit Ehriftosc. 37
fhieht, wie bei der Buße, durch die Gemeinfchaft mit
Chriſto. Wie wir jene ein Liebesleiden der Seele mit
Ehrifto genannt haben, fo ift’d auch bei der wahren
Gelbftverleugnung. Sie ift, was, die heilige Schrift nennt:
ein Sterben, ein Begrabenwerben mit Chrifte. Während
ich in der Buße jenes Liebesleiden Ehrifti theile, in wels
dem er meine Bünde fi hat zu Herzen dringen und
ihren Fluch über ſich ergehen laffen, fo in der Selbſt⸗
verlengnung (Matth. 16, 24.) dasjenige, vermöge deſſen
er, das in der Verſuchung, weldye auch an feinem wahrs
haft menfchlidhen Selbft eine reelle Moͤglichkeit der Ans
knüpfung hatte, fich ihm entgegendrängende Kigenleben
zurückweiſend, zugleich feine mit unferer Schuld deladene
Derfönlicykeit in jede Schmach und feine ganze, mit ben
Folgen unferer Sünde behaftete Natur (adpE) in jedes
Leiden, ja in den Tod felbft dahingab (Röm. 6, 10.
1 Betr. 3, 18. Röm. 8, 3). So fterbe ih in meiner
Semeinfhaft mit ihm mir ſelbſt, d. h. meinem falfchen,
von Gott losgeriſſenen Selbft, dem Kleifche ab.
Aber dieſe Gemeinfchaft des Sterbens führt noth-
wendig zur Gemeinfchaft feiner Auferficehung (Rom. 6, .
4—11,) und feines Lebens. Wie Chriftus die odgE in den
Zod gab, damit das wahre Leben in ihm, das mvsüug,
zur Erfcheinung fomme, fo flerben auch wir in der Ge
meinfchaft Ehrifti ung felbft nur ab, damit in ihr unfer
wahres Selbft ausdem Tode, dem Scheinleben der Sünbe -
erfiehe und dad zveüue in ung herrfchend werde (Nöm.
6, 5.). Da wir aber nun ald Bild Gottes zu feiner voll
Fommenen Gemeinſchaft gefchaffen find, fo lebt unfer Ich
dann eben erft wahrhaft, wenn es in diefer ſteht. Dieß
sefhieht nun durch die Liebeseinigung mit Chrifto, dem
umfchgewordenen Sohne Gottes. Und fo if die Eini-
gung der Liebe mit Ehrifto, welchem nun bes Sünders
ganzed Herz gehört und fein ganzer innerer Menſch
sul
38 Schöberlein
lebt (2 Kor. 5, 15.), bie lebte, hödhite Pie ber Gemein⸗
ſchaft mit Gott a).
Aus diefer Entwidelung erhellt, daß der Weg des
Heils für den Sünder kein anderer ſey, als den
ganzen irdiſchen Kampfes» und Siegeslauf
Chriſti durch Tod und Auferftehung hindurd
vermögedervolllommenen Selbfihingabe des
inwendigen Menfhen an ihn ihm nadhzuleis
den und nadhzuleben, und daß mithin die unio
mystica nicht bloß Schlußpunft, fondern zugleich Aus⸗
gangepunft und währendes, fort und fort wachfendes
Moment im ordo salutis fey, in welchem alle übrigen
Zuͤſtaͤnde chriftlichen Lebens nur einzelne Seiten und Er⸗
fheinungsweifen bilden. Bußfertiger Glaube und
felbftverleugnende Liebe find ihre zwei Grund⸗
feiten. Wie alled Leben der Gemeinfchaft im gegen⸗
feitigen Nehmen und Geben befteht, fo auch bier. Im
Glauben nimmt bie Seele alle Xiebesfülle aus Gott, um
in der Liebe fih Gott ganz wiederzugeben. Und wie
Gott in feiner Barmherzigkeit gegen den Sünder ſich
berabneigt und bherabläßt, fo fehr, daß er felbft deflen
Natur annimmt, fo ift auch der Glaube, worin ja der
Menſch bekennt, daß ihm ſelbſt Alles fehle, in Gott aber
Alles für ihn liege, der Act der tiefften Demuth gegen
Gott, Dagegen gibt es Feine herrlichere Stufe der Er:
a) Hier, wo wir von ber Gemeinfchaft bes Menſchen mit Gott
reden, nennen wir nur bie höchfte Stufe berfelben Liebe, weil
im Gemüthe bes Menfchen ein wirkliches Auseinander und Nach:
einander jener Stufen flattfindet. Anders bei der Gemeinfchaft
Gottes mit bem Menſchen, weil Bott gegen jeden Menfchen in
jedem Momente ganz Liebe ift und nur um bes Menfchen felbft
willen in feiner Gelbftmittheilung ſich befchräntt: bei ihm ift
auch die niedrigere Stufe Ausfluß der Liebe felbfl. Darauf
beruht der Unterfchied des Gebrauchs vom Wort „‚Liebe” in
diefer und der genannten früheren Abhandlung.
ub.d. Berhältniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 39
habenheit für den Menſchen, ald wenn er (wiewohl er
allerdings nichts zu geben vermag, als was er felbft erft
von Bort empfangen bat), Bott gegenüber fogar ale
Gebender erfcheint, ſich ihm in der Liebe gibt mit feiner
ganzen Perfönlichkeit. Beide Seiten ſtehen in innigfter
Wechſelwirkung. Der Glaube if das Erfie. Ohne ihn
if feine Gemeinſchaft mit Ehrifto, mit ihm aber ift fie
wirklich bereit6 auch da, fo daß durch ihn der Menfch
Alles hat, was Chriſti if. Aber die Liebe it bie noth⸗
wendige andere Seite deſſelben, die nicht ausbleiben kann,
wo er wirklich Sache ded Gemuths, alfo der innerften _
Gefammtperfönlichkeit, nicht bloß des Verſtandes ober
formellen Willens if. Ja fie kann fo wenig ausbleiben,
daß fie ihm vielmehr, wie wir gefehen haben, Feimlich
ſchon inne liegt. Deßwegen, wie bie Liebe aus dem
Slauben fort und fort ihr Leben nimmt, fo Eräftigt, ver⸗
immerlicht und befefligt ſich auch der Blaube durch bie
Liebe, bis er enblich, wenn alle Stadien irdifcher Ent»
widelung durchlaufen find, ald befondere Vorftufe vers
ſchondet und, da jenfeits mit der relativen Kerne Bots
tes auch feine lnfichtbarkeit, die des Glaubens Gegen,
Ran» iſt (Hebr. 11, 1.), für den Menfchen aufhört, ale
wirkliches Schauen in der höchften Stufe der Gemein:
fhaft, der Liebe, völlig aufgeht (1 Kor. 13.). In gleis
her Weife aber bedingen ſich anch auf beiden Stufen,
des Blaubend und ber Liebe, die negative und die poſi⸗
tive Seite. Der Glaube kann nie der Buße (der evan⸗
gelifchen , nicht der gefeßlicdhen, über welche, als bloße
Berbereitungsmacht, der Gläubige vielmehr hinauskom⸗
men kann und fol) ermangeln, wie die Liebe immer mit
Gelbfiverleugnung wird verbunden bleiben, fo lange die
ageborne Selbfifucht im Menfchen nicht völlig getilgt ift.
Dagegen muß die Buße allezeit in ben die Gnade ergrei⸗
fenden Glauben übergehen und die Selbfiverleugunng
and der Liebe ſich erfüllen, wenn ber Menſch im Eeide ſich
S
40 Schoͤberlein
nicht aufreiben ſoll. Ze mehr jedoch die Seele an Glanben
und Liebe wächſt, deſto mehr gewinnt die Buße und
Selbſtverleugnung an Innerlichkeit, Freiheit und Tiefe.
Und fo geht die Buße immer mehr in der kindlichen Zus
verfiht ded Glaubens und die Selbfiverleugnung in ber
reinen Macht der Liebe auf, bid endlich mit der völligen
Zilgung ber Sünde und ihrer Kolgen im ewigen Leben
die unio mystica in unbefchränfter Seligfeit und Herr
lichkeit mit Gott beftehen wird.
Durch diefe Lebendgemeinfchaft des Sünders mit
Gott in Chriſto, welche, mit dem Glanben hienieben bes
ginnend, jenſeits zum volllommenen Schauen Gottes fi
vollendet, iſt offenbar eine dDurchgreifende Veränderung,
eine völlige Umwandlung und Neubilbung geſetzt. Deun
im Gegenfage gegen ein früheres Eavro Erw ift ein Hsa fnv
eingetreten, Die Selbfiheit, welche durdy die Sünde aus
ihrer gottgewollten Latenz hervorgetreten und baburdh,
daß fie Zwed und Ziel dem Menſchen geworden, in gott«
widrige Selbfifucht umgefchlagen war, ift durch Buße
und Gelbfiverleugnung wieder in ihre dienende Stellung
zurüdgedrängt und dagegen durch Glaube und Liebe die
Gemeinfchaft, und zwar nicht die Gemeinfchaft mit irgend
einer einzelnen creatürlichen Perfönlichkeit, fondern mit
dem Lebendgrund und Urbilde des eignen Lebens, von
welchem aus auch alle andern Berhältniffe des Gemein,
lebens ihre normale Stellung erhalteu, als beherrfchendes
Motiv wieder zu ihrem urfprünglichen Rechte erhoben
worden, Auch ift dieß nicht in einer einzelnen, etwa
entlegenen Seite des perfönlichen Lebens gefchehen, fon»
dern in feinem concreten Mittelpunfte, dem Gemüthe, in
welchem jede die Fülle der Perfönlichkeit begründende
Lebensbewegung ein», und jede der Perfönlichkeit wahr⸗
haft eigene Rebensbewegung aus: und beſtimmend auf die
übrigen Bermögen derfelben übergeht (Röm, 5, 5. Apoſtelg.
16, 14, vergl. mit Eph. 4, 23.). So ift die Lebens⸗
ab.d. Verhaͤltniß der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 41
gemeinſchaft mit Ehriſto ein duewdtcasda, zöv zaladv
&do0xov unb Zvödcacdas vöv viov, fit die Wiederher⸗
Relung der durch die Sände verlornen Bottedebenbilds
lihteit, welche ja, während wir ihre fnbftantiele Seite
(unverlierbared Ebenbild) in der Perfönlichkeit erkannt
haben , nach ihrer habituellen (verloreues Ebenbild) in
der allfeitigen Lebensgemeinfchaft mit Bott nach Herz,
Geiſt und Sinn befieht; der Menfch iſt dvaxamvouusvos
zur’ eixbva vo xılaavrog adrdv, iſt eine nam welaıs ges
worden. Die heilige Schrift nehnt dieſe völlige Um:
wandinng: Wiedergeburt; als freie That des Men,
fchen gefaßt, iſt's Belehrung. Das fiete Wachsthum
dieſes gegen die Bergangenheit abgefchloffenen, gegen bie
Zutunft aber in finfenweifer Eutwidelung begriffenen
Zufandes (vergl. die Yorifte xrıodevr« und Ivsducachs
in Eph. 4, 24. Gal. 3, 27. mit 2 Kor. 4, 16.) bezeichnet
fe mit: Erneuerung a).
Die perfönlihe Gemeinfhaft mit Ehrifto, vollzogen
im Gentralvermögen der Perfönlichkeit, im Gemüth,
offenbart num ihre Kraft auch in den Abrigen Vermögen
derſelben. Wir haben ihrer oben drei erfannt: Vernunft,
Gewiſſen und Wille. Es fteht mithin die geiftig » intellecs
tnele, inridifche und moralifche Entwidelung des Men⸗
ſchen unter dem belebenden Einflufle der Bemeinfchaft mit
Ehriko und ift in jener nur fo viel hriftlihe Wahr»
beit, ald Diefe darin lebt und waltet. Wenn die göttlichg
Liebe, indem fie, Menſch werbend, die Lebens» und Leis _
a) Es ift bier nicht der Ort, darzuthun, wie dieſe geiftige unio mit
Ehriſto zugleich von einer leiblichen begleitet ifl, die mit ber
Biedergeburt beginnt und mit der Erneuerung wädft, bis fie in
jenen Leben ſich vollendet. Darauf fey nur nebenbei hingewiefen,
dafs für biefe leibliche Einigung bie Sacramente ihre Bedeutung
haben, bie Taufe für ihren Beginn in ber Wiedergeburt, das
Abendmahl für ihre Bortfegung in der Erneuerung.
42 Schoͤberlein
densgemeiuſchaft mit dem fündigen Menſchen vollzieht,
als Offenbarung, Verſöhnung und Erlöſung
zugleich in die Welt tritt; um die dreifache Wirkung ber
Sünde: Berfinfterung, Schuld und Kucchtichaft, principiell
aufzuheben, d. h. wenn Chriſtus der (Rechter) Weg, die
Wahrheit und das Leben für die Welt ift, fo muß er
auch dem einzelnen Sünder, wenn berfelbe, die in ibm
erfchienene göttlihe Gnade in fein Herz fafiend, perfön:
lich mit ihm fi einige, Licht, Recht und Kraft, d. h.
Princip der Erleuhtung, Rechtfertigung und
Heiligung zugleich (1 Kor. 1, 30.) werden. Ohne aber
in diefer Gemeinfchaft mit Ehrifto zu ftehen, befindet ſich
der Menſch noch in Finſterniß, Schuld und Kucchtfchaft
der Sünde. -
Was die erfte diefer drei Wirkungen, nämlich bie auf
die Erfenntniß, anlangt, fo Tann man fagen, daß
fchon von der allgemeinen Offenbarung Gottes in der
Natur eine wahre, lebendige Erkenntniß nicht möglich
fey ohne tiefered Leben ded Gemüths. Denn in allem
GSefchaffenen waltet ein Liebesgefeß: in der Blüthe und
Frucht des Baumes, im Zuge bed Steins nad) der Erbe,
im Umfhwunge der Erde um die Sonne. Und wer bie
Macht und das Gefeß der Liebe nicht darin erkennt, der
mag wohl ein formelles Willen von der Erfcheinung har
ben, aber Einſicht in das eigentliche Leben und Weſen
der Dinge hat er nicht. Diefe befißt der Dichter, welcher
im Raufchen ded Windes durch die Blätter des Baumes
eine geheime Sprache und eine Freude oder Trauer ber
Natur vernimmt, viel mehr als der Chemiker und Phy⸗
fiter, weldyer bloß von Stoffen und tobten Gefeßen weiß,
Diefed allgemeine Gefeh, daß dad Verwandte nur vom
Berwandten könne erfannt werden, gilt in ungleich höhes
rem Maße noch von der Erkenntniß menfchlicher Sünde
und göttlicher Gnade. Daß dem Gottlofen für das Weſen
beider die Augen verfchloffen find, daB and) der, welcher
üb, d. Verhältniß der perfönl. Gemeinſch. mit Chriſto ıc. 43
bloß die Stimme des Gewiſſens und die Auctorität des
Geſetzes kennt, nur den formellen Widerfpruc in ber
Gände fieht, nicht ihr inuered Verderben von Glaubens⸗
und Lieblofigkeit, nnd in der göttlichen Liebe nur bie
Majeftät ihres Rechts, nicht die Demuth ihres Erbar⸗
mens, bedarf feines Beweifed, Aber auch wenn Jemand
Durch das Wort ded Evangeliums Über die göttliche Heils⸗
öfonomie belehrt worden ift, jedoch dieß Heil nicht andh
für fidy im Herzen ergriffen hat, fo fehlt ihm zwar nicht
jenes Map der Einfiht, welches ihn bewegen fünnte und
folte, der Sünde abzufagen und der Gnade Gottes fidh
zu ergeben, allein erft wenn er mit gläubigem Liebes⸗
fune Chriſto in fein Leiden nachgegangen und felbft dar,
über betrübt geworden, die göttliche Liebe bis in ben
Tod gebracht zu haben, lernt er die ganze Tiefe der
Schuld und das eigentlichſte Wefen der Sünde erfennen.
Defgleichen bleibt ihm bei aller möglichen theoretifchen
Kenntniß das innere Leben und die volle Herrlichkeit der
göttlichen Liebe fo lange verborgen, ald er nicht Diefer
Liebe ſich felbft ergeben und ihre felige Macht am eignen
Herzen erfahren bat — wie denn auch die heilige Schrift
die Erleuchtung als eine Sache des Herzens auffaßt
(2 Kor. 4, 6.) und unter Zulyvodıs ein auf Erfahrung
rubendes Erkennen verfteht. Sa, wenn der Sohn Bots
ted, in welchem Gott, gleichwie er in ihm die ewige Lies
beöoffendarung feiner ſelbſt hat, fo auch den ganzen
Rathſchluß feiner Liebes offenbarung an die Menfchheit
durh Schöpfung und Erlöfung von Ewigkeit gefaßt und
in derzeit verwirklicht hat, vermöge unferes Glaubens in
yerfönlihe Gemeinfchaft mit uns tritt und dadurch auch
ir den inneriten Grund unferes gefammten Geiſteslebens
als felbftmitcheilendes Princip eintritt, fo muß und in
anferm Geifte dadurch nicht bloß die lebendige Erkennt⸗
niß des Heils aufgehen, fondern es ift und damit zugleich
dad Princip aller wahren Erkenntniß Gottes und fein."
44 Schoͤberlein
Dffenbarung in der Ereatur überhaupt gegeben. Als
Bott den Menfchen nach feinem. Bilde fchuf, hat er ihm
die ganze Welt feiner eignen ewigen Ideen, wenn zwar
nur in creatürlicher Abbildlichkeit, fo doch in lebendiger
Geifteswahrheit eingepflanzt, die aus ihrer erft noch keim⸗
lichen Eriftenz cwie fie ja jede Idee hat) zu immer helles
rer Entfaltung übergehen follte, je tiefer durch die wach:
fende Freiheit und Innigkeit des Liebesumganges mit
Gott das Geiſtesleben Gottes in das ded Menfchen eins
gehen konnte. Nachdem nun durch die Sünde hierin eine
Hemmung, ja Berfehrung und Zerrättung eingetreten ifl,
wird jenes urfprängliche Verhältniß auch durch denfelben
Sohn, in und zu welchem wir gefchaffen find, wieder
hergeſtellt, und je inniger wir und mit ihm durch den
heil. Geift, der das Werk Chriſti und perfönlich eigen
macht, verbinden, befto heller geht in Kraft dieſes Got⸗
teögeiftes (I Kor. 2, 20.) unferem Geifte die ganze, im
Sohne offenbare Tiefe göttlichen Weſens nnd göttlicher
Delonomie auf (Eph. 3, 16—19.). — Gleicherweiſe thut
fih die perfönliche Bemeinfchaft mit Ehrifto auch im Ges
wiffen fund, indem durch fie nämlih die rechtliche
Stellung des Menfchen zu Gott eine andere wird.
Im erftien Momente der Liebedbewegung Gottes ges
gen den Sünder kann diefer, wie oben gezeigt worden,
‚da die göttliche Liebe jeder Liebesbewegung bed ‘Mens
fhen zuvorkommen muß, nur paſſiv fich verhalten. Er er;
fährt Schuld und Strafe ohne, ja wider feinen Willen.
Die einzige Wirkung davon im Gemüthe des Sünderd
fann die feyn, daß er biefe abfolute Auctorität der Stel»
lung Gottes gegen ihn anerfenne, fein Unrecht beflage
und dem Gerichte Gottes fi unterwerfe, — daß er Gott
Recht gebe. Dieß ift der Standpunft des Geſetzes, dieß
das Nechtsverhältniß der burch Theilnahme noch nicht
vermittelten Gemeinfchaft des Sünderd mit Gott.
Aber Die göttliche Liebe will ihn zu einem höheren,
ib. d. Verhaͤltniß der perſonl. Gemeinfch. mit Chriſto ꝛc. 45
volleren, freieren Rechte leiten. Dieß kann nur geſchehen
durch das Betreten der höheren Gemeinſchaftsſtufe, die
und in Chriſto eröffnet iſt. Yu ihm, dem perſoͤnlich er⸗
fhimenen Gnadenrechte Gottes (er. 23, 6. 2 Kor. 5, 21.)
muß der Sünder Theil nehmen, wenn er felbft zu wahs
rem Rechte vor Gott gelangen wil. Gleichwie im
menfchlichen Staate alled. Recht auf der natürlichen Ges
burt (und der von ba bedingten Entwidelung bes natlirs
lichen Lebens) ruht, fo im Reiche Gottes auf der Mies
dergeburt (und der von da ausgehenden Entwidelung
des geiftlihen Lebens). Es möchte auffallen, wenn nun
gefagt wird, daß auch hier noch der Menfch die Strafe
für feine Sünde trage. Doch aber iſt es, recht verflans
den, alfo. Denn wenn die Theiluahme an Ehrifto fich
nicht anders vollziehen kann, ald durch Theilnahme au
feinem Liebesfchmerz über unfere Sünde, d. h. nicht ans»
ders ale in der Buße, was ift diefe, da jenes Leiden
Ehriki, juriſtiſch betrachtet, das Aufſichnehmen unferer
Squld und Strafe if, anders, ald das Erleiden nnferer
Sündenſchuld und Strafe in der Korm eines Mitleidens
mit Shrifio! Sa, hier erft kommt die Strafe zu ihrer
wahren Erfüllung. Denn wenn dad Weſen derfelben
barin beſteht, daß für eine wider dad Geſetz des Gemein⸗
iebend verurfachte Störung dem fchuldigen Bliede dies
felbe vom Haupte in rüdwirkend empfindlicher Weife zur
Erfahrung gebracht, d. h. ihm ein entfprechendes Aequi⸗
valent des Leidens (als rechtliche Reaction bed Gemein,
lebens) auferlegt werde, fo finden wir dieſes wahrhaft
anögleihende Aequivalent für Die Sünde eben erfi in der
Buße. Da nämlih die Sünde nicht bloß Außere That,
ſendern aus dem Herzen gekommen ift, fo Tann äußeres,
es ſey geiſtiges oder leibliches, Leiden nicht genügen:
die rechte Strafe muß im innerften Grunde der Seele
rrütten werden. Und da die Sünde ihrem eigentlichften
Veſen nach eine Losreißung von der göttlichen Liebe if,
46 Schöberlein
fo muß das Herz auch beflagen, nicht bloß überhaupt
Unrecht gethan, fondern insbefonbere diefe Liebe beträbt
zu haben. Selbfi extenfio wird die Strafe burch bie
Buße volftändiger, da der Schmerz im Mitleiden mit
Ehrifto die Sünde des ganzen Geſchlechts, für welche
Ehriſtus gelitten, mit befaßt und die Sünde bes Einzel.
nen doch nur im Berhältniffe zur Sefannntfünde ihre volle
Würdigung erhält. Aber freilich iſt dieß nicht Strafe im
gewöhnlichen Sinne des Worted. Denn während im
äußerlichen Staatöverbande die Freiheit der Uebernahme
bei der Strafe gleichgültig ift, iſt fle bei der wahren Ge⸗
meinfchaft nothwendig, weil fie, die Perfönlichkeiten im
innerften Lebendgrunde ded Ich verbindend, ganz auf
Freiheit ruht. Hier kann mithin die verurfachte Störung
anr bann für aufgehoben, dad Recht des Gemeinlebens
sur dann für befriedigt erachtet, dem Sünder nur dann
wieder eine verföhnte Stellung zu Bott in feinem Reiche
zu Theil werden, wenn er in freiem Schmerze gleichſam
ſelbſt fi firafend, von feiner Sünde ſich wieder losſagt.
Und ruht in der wahren Gemeinfchaft alles Recht fo fehr
anf gegenfeitiger Theilnahme, daß, wenn Gott dem Süns
der Strafe zuwendet, er felbft an fich diefe Strafe mit
erleidet, wie Sönnte da der Sünder zu göttlihem Rechte
wieder gelangen, wenn er nicht andy an dem Strafleiden
dev göttlichen Liebe Theil nähme! So ehrt alfo Schuld
and Strafe allerdings auch hier wieder, doc auf einer
höheren Stufe ihrer Erfcheinung: ald Sache freier Lies
beötheinahme, mithin im Vergleiche mit unferen irbifchen
Berhältuiffen in uneigentlihem Sinne, fo daß, vom ges
wöhnlichen Standpunkte aus angefehen, die Zurechnung
von Schuld und Strafe vielmehr gerabezu zu verneinen
iſt. Und im gleichen Sinne iſt ed auch zu verfichen,
wenn ber Buße eine abbüßende, verdienftliche Kraft für
dad Reich Gottes zugefchrieben wird, da vielmehr im
ab.d. Verhaͤltniß der perfönt. Gemeinſch. mit Ghriflosc. 47
Berhälmmiffe zur gewöhnlichen Bedeutung bes Wortes
„Verdienſt“ hier Alles auf lauter Gnade ruht =).
Doc iſt dieß nur die eine Rechtsſeite in ber Liebes⸗
theilnahme des Chriſten an Chriſto. Der Chriſt nimmt,
wie oben gezeigt worben, nicht bloß am Leidenskampfe,
fondern auch am Siege feines Hellandes, nimmt, wie im
Schmerz, fo in Freude an ihm Theil. Iſt nun in juri⸗
Rifcher Faſſung fein Leiden eine Strafe an unferer Statt
und fein ſiegreiches Hervorgehen and dem Leiden die
Berföhnnng für uns (Röm. 4, 25.), fo wird, wenn wir
in der Buße feine Strafe in nnfer Leben herübernehmen,
burh den Glauben, feine Berföhnnng unfer. In ber
Buße iſt's noch bloße Theilnahme an feinem Leiden ale
ſolchem, im Glauben erfi empfangen wir bie Gnaden⸗
fraft, die für und darin liegt. Wie die Gerechtigkeit ber
göttlichen Liebe auf ihrer höchſten Entfaltungeftufe eine
Guadengerechtigkeit ift b), fo die höchſte Gerechtigkeit des
Menſchen eine Glaubensgerechtigkeit. Durch den Glau⸗
den haben, ja find wir (2Kor. 5, 21.) in dem Geliebten,
auf welchem Gottes Wohlgefallen ruht, die Gerechtigkeit,
die vor Gott gilt; ohne Glanben aber ift keine Recht⸗
fertigung des Sünders, keine Vergebung der Süns
deu. So fchließen ſich Strafe (im höheren Sinne) und
Vergebung nicht aus, fondern bedingen fich vielmehr ger
genfeitig ; und wie jede Vergebung, der nicht Strafe vor⸗
ausgeht oder begleitend folgt, eine abflracte und willkür⸗
liche if, fo entſpricht die Strafe dagegen nur dann ihrer
a) Man wird biefer Darflellung nicht, ben Vorwurf machen wollen,
daß mit Worten geſpielt werde. Vielmehr ift es von hoher
wiffenfchaftlidher Bebeutung, zu erfennen, wie im Organismus
bes Reiches Gottes Bein Moment einer tieferen Stufe auf einer
höheren geradezu aufgehoben, fondern vielmehr in Kraft ber Liebe
zu höherer Wahrheit erhoben werde. Rur fo kann bas Weſen
und Leben ber Liebe und bes Reiches Gottes tiefer erfaßt werben.
b) Bergi. Abhandlung bes Verf. über bie Verföhnung, S. 307.
\
48 . Schöberlein
Bedeutung, wenn fie (wie fie deßhalb in ihrer remunerar
torifhen Macht zugleich pädagogifch wirkt) die bloße
Borfiufe für die Bergebung bildet, wie Göſchel treffend
fagt: „Strafen und doch nicht vergeben, wäre ein Ans
faug ohne fein Ende” a).
Aus dem Gefagten erhellt übrigens, daß bie Rechts
fertigung nicht, wie die ältere evangelifche Dogmatik auf
Grund äußerlihsjuriftifcher, and Deiftifche ftreifender Bor»
fiellungen will, außer dem Menſchen, bloß in Gott vor,
gehe. Wohl iſt's ein wirklich juridifcher Act; aber, weil
Chriſtus felbft Cnicht bloß fein Außeres Werk) das ges
offenbarte Gnadenrecht, die wefentlihe Gerechtigkeit für
den Sünder ift, und Chriſtus burdy den Glauben in wahr⸗
haft perſönliche Einigung mit uns tritt, ein Act, welcher
in ung felbft vollzogen wird (2 Kor. 5, 21, Röm. 8, 16.
Hebr, 10, 22), wie Jak. Böhme fchön fagt: „Niemand
fann die Sünde vergeben, als Chriſtus im Menfchen b);
wo alfo Chriftus im Menfchen lebt, da ift die Abfolu-
tion” (Bnadenw. 13, 11), und an einer anberen Stelle:
„Chriſtus felbft iſt die zugerechnete Gnade” (Gnadenw.
10, 37.). Doch iſt hiermit nicht dad Innewerden jenes
Actes im Gefühle gemeint. Denn damit würde, wie un⸗
fere Kirche richtig erfannt hat, ber Friede der Seele auf
den ſchwankendſten Boden gebaut, weil nicht nur übers
haupt das Gefühlsleben etwas Wechſelndes ift, fondern
Gott ſelbſt mit weiſem Bedachte dem Menfchen das füße
Gefühl des Kriedens bisweilen entzieht, um feinen Glaus
ben dadurch von Selbftfucht und Sinnlichkeit zu reinigen
und fefter zu gründen, Gonbern indem dad Gemüth mit
aufrichtigem Sinne Ehriftum faßt, der unfere Gerechtig⸗
a) Vergl. Goͤſchel's zerſtreute Blätter (S. 480.), welchen ber Verf.
auch für diefe Abhandlung mandye Anregung verdankt.
b) „Chriftus in uns” iſt bier offenbar nicht gleichbebeutend mit
Heiligung.
ib.d. Verhaͤltniß ber BR Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 49
keit iſt, ſo tritt dieſe Gerechtigkeit — nicht bloß ee
tive, foubern zugleich inhaesive — als eine Verſohnungs⸗
macht wirklich and in unfer Gewiffen ein, und ba
bie Seele ſich darüber wohl gewiß werden kaun, ob fie
ed mit ihrem Glauben anfrichtig meine oder nicht, fo ber
bauptet unfere Kirche mit Recht, daß der Menſch auch
feined Heild gewiß werden koͤnne, ob diefe ‚Sewißheit
and für Zeiten jeder felgen Empfindung entlleidet feyn
follte. Aber rechtfertigen kann hiernach freilich auch nur der
Iebendige Glaube, welcher, auf einem Bedürfniſſe nach
Liebe ruhend, felbft ein Ausſtrecken des inneren Menfchen
sad der göttlichen Liebe if. Dagegen wo der Menſch
das bloße But cd. h. die Entledigung von Gewiſſensangſt)
auf jedem Wege will, und nicht zugleich bie göttliche
kiebe felbft, welche darin ſich zu uns niederneigt — wie
wenn ber Anßerlichstirchliche Broteftant in ſchlecht⸗juridi⸗
(her (nach Schleiermacher : magifcher) Weife Chriſti Ver⸗
denkt auf ſich Übertragen will, oder der Außerlich-firdys
lie Katholik die Vergebung von der Kraft der Gnaden⸗
mittel ex opere operato erwartet — : da ift die Rechtfertis
gang bloße Täufchung, weil der vermeinte Glaube nicht
Sache des Gemuths ik, fondern bloßes Kürwahrhalten
and fleifchliches Wollen, d. h. Aberglaube.
Die perföuliche Gemeinfchaft Ehrifi erweilt ſich aber
endlich auch als ſittliche Macht, fie ik das Princip
aller wahren Heiligung.
Iſt allfeitige Lebendgemeinfchaft ded Menfchen mit
Gott Beſtimmung ded Menfchen, fo befteht feine wahre
Gittlichleit, da Sittlichleit nichts Anderes iſt als bewuß⸗
tes, freied Ringen nach der eigenen Beſtimmung, darin,
daß er, dieſe Gemeinfchaft frei wählend, alle Berhältniffe
feines inneren und äußeren Lebens in diefelbe aufnehme.
Dur die Selbfifucht der Sünde ift er aus dieſer Ger
weinihaft heraudgetreten. Offenbar kann er nun dadurch
oh nicht zur wahren Sittlichkeit Be werben,
Tyeol, Stud. Jabrs. aan
50 Schbberlein
daß ihm im Geſetze bie göttliche Liebesheerlichkeit bloß
gegenübertritt. Auf diefem Wege kann fie wohl die ihm
eingeborene Idee feines Weſens, deren Verwirklichung
eben feine Beſtimmung ift, zu voller Klarheit erheben,
nicht aber fie and ihrer gegenfäglichen Stellung, bie fle
im Gewiffen unter der Korm der Korberung einnimmt,
in feinen perfünlichen Lebensmittelpunkt als immanente
Kraft überführen. Dieß maß aber gefcheben; denn ber
ethifche Wille ruht durchaus auf dem Gemüthe. Für fic
allein kann er bloß abftracte Geſetzlichkeit leiften; aber
die wirkliche Dahingabe des eigenen Ich an die Beſtim⸗
mung, bie wirkliche Erfüllung fittlichen Thund mit inne
vem, felbfteigenen Lebensgehalte empfängt der Wille erft
and dem Gemüthe. Wahre Gittlichkeit ift alfo nur da⸗
durch möglich, daß die göttliche Liebe, weiche als abfoln-
tes @emeinfchaftsleben, wie wir ed in der Dreisperfönlichen
Gelbftoffenbarung Gottes und in feiner Offenbarung nadı
außen eriennen, bad Princip alles Guten ift, fi zur
Bemeinfchaft ihm barbiete und in fein Gemüth eingebe.
Wie num diefe göttliche Riebe in der ewigen Menſchwer⸗
bung des Sohnes, abgefehen felbR von ber Sünde, dad
Urbild ift, in umd zu welchem der Menſch gefchaffen und
an weichem zu ſittlicher Entwickelung und Vollendung fich
zu erheben ded Menfchen Beitimmung von Ewigkeit if,
fo it auch die perfönlihe Erfheinung des Gohnes im
Fleiſche das Urbild, und vermöge feiner Einwohnung Im
Gemüthe bed Menfchen durch den h. Geift das urkräftige
Priucip aller fittlihen Erhebung bed Menfchen aus der
in der Zeit zwifchen eingetretenen Sünde zum Leben in
Gott. Alle wahre Sittlichkeit, ale Heiligung bed
Sünders ift ein Geftaltgewinnen Ehriftt in uns (Gal. 4,
19.), eine iunere Berklärung in fein Bild, In der Buß⸗
gemeinfchaft mit ihm ſtößt der Shader die Selbſtſucht
von fi ab, Rirbt dem Kleifche und mie ihm der Welt,
in ber GBlanbensgemeinfchaft aber ziehe er Chriſti Leben
üb.d. Verhättniß der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chr iſto ꝛc. 51
in fein Gemäth, das ein Leben in Gott ifl. &o wird der
Menſch in Ehrifto frei, wie ja Freiheit in dem Dop⸗
pelten befieht,, dem Losſeyn von bem der Idee des eig-
am Weſens Feindlichen und dem Verbundenfeyn mit bem,
in deſſen Bemeinfchaft Die Beftimmung des Menfchen ruht
(Rom. 6, 22; 8, 2.) — und durch bie Freiheit von ber
Sünde frei zugleidh von der knechtenden Macht des Ges
ſetzes, dem Gorrelate bed Sundendienſtes, wiewohl nur
alfo, daß ed, da feine volle Herrlichkeit in Chriſto pers
fönlih wohnt, durch deſſen Einwohnung im Menſchen
ſelbſt das Leben feines Ich geworden ift (Bal. 2, 19. 20.
Röm. 3, 31; 7, 4.)
Indem nun aber auf diefe Weiſe die perfönliche Ges
meinfchaft mit Chrifto dem Sünder alled Heil vermittelt,
fo gefchieht dieß durch ihre beiden Seiten in verſchiede⸗
ner Weiſe. Wie wir gefehen haben, befteht fie in Recep⸗
tisität unb Nctivität, in Nehmen und Beben, in bußfer-
tigen Glauben und felbfiverleugnender Liebe. Anders
vermittelt ums nun das Heil ber Glanbe, anders bie
Liebe. Die erfie Bedingung ift, daß ich Chriſtum im mich
aufnehme. Dieß gefchieht durch ben Glauben. Faſſe ich
ihn aber im Blanben, fo babe ich ihn auch wirklich unb
babe ihn ganz; denu feine Perfönlichkeit kann ſich nicht
theilen, und mit ihe ift die ganze in ihr befchloffene Gna⸗
benfüle mein eigen: ich werbe ein wirkliches Glied des
Reiches Gottes, ein Erbe aller Güter defielben. So be:
darf 5 zum Heile alfo zunächft nur bed Glaubens; durch
ihn empfange ih Alles, was mich aus den Banden ber
Ehnde reißt: der Glaube erleuchtet mich, weil er mir
die Offenbarung des innerſten Weſens Gottes, feiner
ewigen Liebedgebanten in Chriſto, er rechtfertigt mich,
wei er mir die durch die Hingabe göttliher Liebe in das
Ledesleiden der fündigen Menfchheit :geftiftete Berführ
ung in Ehrifto, er heiligt mich endlich, weil er mir die
durch das Herciutreten urbildlicher Liebesherrlichkeit in
4*
*
52 Schöberlein 34
das dem Sünbdendienfte verfallene Menfchenleben geſche⸗
bene Erlöfung in Ehrifto wahrhaft zueignet. Aber was
der Blaube empfangen hat, das fegt die Liebe
nun in Bewegung, Thätigfeit und Hebung
und befeftigt ed fo im perfönlichen Leben, Selbſt in der
Erleuchtung laffen fich beide Momente unterfcheiben.. Dat
der Sünder durd den Glauben einen Einblid in bie
göttliche Liebesweisheit empfangen, fo erweilt er ſich das,
durch nun als felbft auch weife und ebenbärtig geworben
der göttlichen Liebesweisheit, daß er fein innerfied Ich
mit Berleugnung feines bisherigen falfchen Selbſts ganz
Shrifto zum Liebedopfer hingibt, und je mehr er in ber
Lauterkeit und Kraft dieſer Hingabe wächſt, defto heller
und durchfchauender werden die Augen feines Beilles für
die Tiefen der göttlichen Liebe.
Ebenſo begegnen und beibe Momente in den rechtli⸗
hen Beziehungen des neuen Lebens. WWährenb die Buße
zum Strafleiden Chriſti, welches fle ihm nachlebt, mehr
receptio fich verhält, erfcheint die Seele in der Selbſt⸗
verlengnung (ber negativen Seite der Liebe) felbfithätiger,
indem fie alles Kreuz des Lebens, welches fie nicht, wie
der natürliche Menſch pflegt, ald Strafe, wodurch fle
von Gott gefchieden wäre, fondern vielmehr als einen
Weg und ein Zeugniß innigerer Gemeinfchaft mit Chrifte
anfteht, mit willigem Sinne auf ſich nimmt, um fich ihm,
der fich für fie zuerſt geopfert hat, als wohlgefälliges
Opfer wieber entgegenzugeben und fo am eignen Kleifche
fein Leiden für die Gemeinde (gewiffermagen) zu ergäns,
zen (Kol. 1, 24.). Und ebenfo: ob auch der Menfd) durch
den Glauben die Rechtfertigung von feinen Sünden oder
(pofitio gefaßt) die Kindfchaft erlangt, fo erhebt ſich diefe
Kindfchaft doch erſt dadurch zu freubiger Energie und
freier Regfamteit, daß die Seele zugleich auch liebend an
Chriſto hängt.
Am deutlichiten treten dieſe beiden Seiten der Ser
ib.d. Berhältniß der perfönl. Gemeinſch. mit Ehrifto sc. 53
wenfhaft mie Ehriſto, der Empfang des Heild nämlich
in bußfertigen Glauben und die Bethätigung deflelben in
der felbfiverleugnenden Liebe, nach ihrem Llnterfchiebe
aneinander bei der Heiligung. Wenn nämlich die Buße
id von dem falfchen Selbſt, weil es wider Gott ift, erft
sur abwendet, fo befämpft die Selbfiverleugnung daſſelbe
wun wirflich geradezu, bad Kleifch fammt ben Lüften und
Begierden Freuzigend, Und bie Liebe nützt eifrigen, freu⸗
bigen Sinnes die Snadenkräfte, die fie durch den Glauben
empfangen hat, um das gefammte innere Leben durch den
Gehorſam Chriſti zu heiligen und in allen Berhältniffen
bes änferen Lebens feinen Ramen zu verherrlichen.
Haben wir bdeßhalb oben gefehen, daß der Sünder
im Glanben Gottes Liebe faffe, um felbft auch in Liebe
fih Gott wieder entgegenzugeben, fo gilt dieß gleichers
weife audy von den Gaben, welche ber Liebe Frucht find:
der Glaube nimmt alle Gaben aus Ehrifto, um in ber
Liebe ich mit allen Gaben Ehrifto wieder zu geben. Im
Slauden demüthigt fih die Seele vor Gott wegen ber
Finſterniß, Schuld und Knechtichaft ihred Sündenlebend,
kicht, Friede und Kraft dagegen aud dem Brunnen des
Heils ſchöpfend; in der Liebe aber erhebt fie fich wieder
zn ihm, fich freuend, iu Kraft ber empfangenen Gnade
feinem Bilde nun auch ähnlich werden zu dürfen in Er-
kenntniß Gottes, in Freudigkeit der Kindfchaft und in
Reinheit ded Sinned und Wandels. Die Liebe ift alfo,
wie an fih, fo auch rückſichtlich der Gnadengaben die
Rete Bewährung bed Glaubens, der Glaube aber die ftete
Duelle der Liebe, und beide bleiben nur kräftig zu unun⸗
terbreochener Heilsvermittelung durch biefe ihre lebendige
Bechfelbeziehung.
Diefe in der yerfönlichen Gemeinfchaft mit Ehrifto
dem Gläubigen gefchentte Gnade der Erleuchtung, Recht»
fertigung und Heiligung ift nun eine eben fo in ges
Biffem Sinne vollendete, als andererfetts in
54 Schöberlein
ftetem Wachsthume begriffene. Dem Principenad
iſt nach allen diefen drei Seiten durch den Glauben ein Reued
geſetzt. Aus der Herrfchaft des Weſens diefer Welt ift der
Menſch genommen, ein Glied ded Reiches Gottes ift er
geworben nad allen Beziehungen feines Lebend: va
doyaia napnidev, IdoV, yEyove xaıvd vd dvra. Jedoch
das Neugefehte bat im Menſchen auch feine hiftorifche
Entwidelung. Er kann nicht mit Einemmale die ganze
Fülle des göttlichen Liebewefend faflen Nur nad) und
nach wächlt der Glaube tiefer in die Dffenbarungen Got:
tes hinein, nur allmählich reinigt ſich und erftarft bie
Liebe des Gläubigen an der täglich neuen Treue Ehrifti.
Aber je tiefer der Glaube in Chriftum fich fenft, deſto
mehr holt er Schäße aus ihm, in Fiebeshingabe damit zu
wuchern; und je treuer er dieſes thut, defto fähiger wird
er, noch mehr zu holen, fo daß er wächſt von Stufe zu
Stufe bis zur Vollendung des ewigen Lebens,
Dieg muß nach den drei Seiten: der intellectuellen,
juridifchen und ethifchen, gleicherweife der Kal feyn.
Der Glaube verfeßt den Geiſt mitten ins Herz Got:
tes hinein, daraus alle feine Dffenbarungsgebanten ent
quollen find. Da bat der Menſch den rechten Stand»
punkt für jede geiftliche Erfenntniß. Chriftus ift pas Bin’
beglied von Zeit und Ewigkeit, er ift ber Erfigeborene
vor aller Creatur, in dem Alles gefchaffen ift, der Angel
punkt und Mittelpunkt der irdifchen Geſchichte. Wer ihn
erkennt und in wen fein Geiſt Iebt, dem ift mithin das
Dieffeits und Jenfeits aufgefchloffen, der hat den Schlüſ⸗
fel zum Verftändniffe der ganzen Natur und Geſchichte.
Aber freilich Iöft fi der Geiſt nur langfam von den
vielen eingefogenen Irrthümern, nur mit vieler Mühe
trägt er das Licht des Evangeliums in die mannichfachen
Gebiete des Willens über, und nach noch fo viel herben
und freudigen Erfahrungen lernt er doch nie aus in dem
Berftändniffe des innigen Berflochtenfeyns von Majeſtaͤt
üb. d. Berhältniß der perſoͤal. Gemeinſch. mit Ehriftozc. 55
und Demush, von Heiligkeit und Gnade In ber göttlichen
liebe,
Weniger geneigt if man, die Einheit pringspieller
Abgeſchloſſenheit md gefchichtlichen Wachsſthums bei der
jarivifchen Seite zugugeben. Aber beides hat auch hier
feine Wahrheit. Indem der Menſch durch den Blauben
Ehriſto einverleibt it, auf welchem Gottes Wohlgefallen
rubt, ruht daſſelbe auch auf ihn. Die Verſoͤhnung If
wahrhaft fein eigen, er bat ein» für allemal eine Gott
geeinigtsrechtliche Stellung, er. if} gerechtfertigt por Gott,
Und diefer Stand Der Rechtfertigung währt fo lange in
objectiver Wirklichkeit und Gultigkeit, als Chriſtus im
innerſten Lebensgrunde der Perfänlichkeit wohnt, ob auch
der Blänbige dabei noch vielen Sünden unterliege und
bie nub da, felbft längere Zeit, zum freudigen Bewußt⸗
ſeyn diefer Rechtfertigung fich nicht erheben könne (Nom.
8, 26. 27.). Iſt aber auf diefe Weife die Rechtfertigung
allerdings ein abgefchloflener Act und währender Zukand,
fo in doch andererjeitd auch Entfaltung und Wachsſthum
dieſes Rechsöverhältuiffes nicht zu verkennen. Es wärg
zämlih Abſtraetion und ein Zeichen, Daß die Berföhnnug
nur mit deu Verſtande, nicht mit dem Gemüthe erfaßt
werden, wollte Jeiand über alle Sünden feines weiteren
Lebens, von Denen er übereilt wird, auf Grund der eins,
mal erlangten Rechtfertigung forglod wegiehen. Son⸗
dern es liegt iu der Natur menfchlidher Lebensentwicke⸗
ung, daß ein Chriſt die empfangene Berfühnungegnade
nun auch anf jedes Schuldverhältnig, in weldem.er
ficht oder von Neuem wieder tritt, übertrage und für
bie einzelnen Sünden, die er begeht, beſonders wieder
Sergebung von Gott erbitte. Die Anklagen Biber biefels
ben heben zwar das Grundverhältniß des Berfühntfeyns
nicht auf, dienen Demjelben vielmehr zum einzelnen Her»
vertreten ind Bewußtſeyn, aber barin eben erweift fich
de Berföhnung erfi ale ein lebendiges But und wahres
56 &chöberlein
Eigenthum, dadurch befeftigt fie fich zugleich immer tiefer
in der Seele, daß er ſich diefelbe jenen Anklagen gegen»
über auch wirklich für jede einzelne Lebensbeziehung zu
Harem, freudigen Bewußtfeyn bringt. Und wiewohl er
auch für verborgene Fehler Verzeihnug fich erbitten kann
( Pſ. 19, 13.), fo wird doch fein Herz eben dadurch erſt,
baß er es thut, auch über dieſe wahrhaft berubiät! Die
Rechtfertigung, in welcher das Schuldverhältniß der Per⸗
fon als folcher ind Auge gefaßt ift, wird befhalb in ber
h. Schrift als ein einmaliger Act bargeftellt, dagegen bie
Vergebung, in weldyer die Beziehung auf die einzelnen
- Sünden vortritt, als ein fich wieberholender. Und zwar
ift nicht biefe etwa als bloßer Vorgang im Menfchen ans
zufehen, während jene zugleich ober ausſchließlich in Gott
zu feten wäre, fondern beide find beides zugleich, ba vor
Gotted Augen nicht bloß der Anfang des neuen Lebens
und mit ihm der Eintritt in das neue Rechtsverhältniß,
fondern auch jede Verinnerlichung und Bertiefung deflels
- ben offen liegt und für feine Selbfihingabe an den Mens
fchen, welche diefer im Gemüthe und Gewiſſen inne wird,
beftimmend wirkten muß. Was aber von der negativen
‚ Seite gilt, gilt auch von der pofltiven, der Kindfchaft.
Der Menſch wird durd den Glauben wirklich ein Kind
Gottes (Sal, 3, 36.), wie foldhes ihm der h. Geiſt in
feinem Geifte bezeugt, aber nicht gibt Gott dem Gläubis
gen fogleich alle feine Rechte in die Hand, wiewohl fie
ihm in Chrifto alle hinterlegt find; nur nad und nadh
empfängt er fie, und zwar nad dem Maße feiner Ge
meinfchaft mit Ehrifto. Je mehr die Seele bloß Befrei⸗
ung vom Uebel der Sünde fucht, bloß die Laſt der Schuld
und die Schreden der ewigen Strafe lod werben will,
deſto mehr mit Knechtlichem it noch das Kinbesverhälts
ni gemengt. Aber mit um fo freierer, innigerer Kraft
die Seele in bußfertigem Glauben an Chriſtum fi an⸗
fchließt, deſto tiefer und feliger wird ihr Friebe; je reis
4
üb.d. Verhaͤltniß der perfönt. Gemeinſch. mit Ehrifto ꝛc. 57
ner unb brünfliger fie ihren Heiland lieben lernt,’ deflo
freier wird ihre Stellung als Kind in feinem Hanſe,
deſo tranter wird ihr Umgang mit ihm, deſto allfeitiger -
erat fie ihre Kindesrechte erkennen und gebrauchen,- nnd
fe wählt fie — womit jedoch dad fchwanktende Gefühl
davon nicht zu verwechfeln it — im Genuffe ihrer Rechte
hienieden, bis fle jenfeitd das volle Erbe empfängt
(Rim. 8, 23.).
Auch bei der Hriligung endlich begegnet und diefelbe
Deppeiheit des Berhältniffed. Die Allmählichkeit ihrer
Entwidelung liegt vor Augen. Aber aud in principiels
ler Bollendung fteht fie da. Hat nämlich Ehriftus dem
Türken diefer Welt fein Reich abgenommen, fo ift audı
die Seele, die fich ihm ergeben,. der Hetuggpaft der Sünde
für immer entnommen, fo daß fie wohl nody Sünde bat,
weil diefelbe zu tief ihr ganzes geiftiges und leibliches
Weſen durchdrungen hat, als daß fie mit Einemmale
gar; könnte getilgt werden, aber daß fie dieſelbe nimmer
that (vergl. 1 Joh, 1, 8. mit 3, 9.), daß nicht fie es
iR, welche die Sünde thut, fondern das Fleifch, das ihr
sch auklebt. Das Herz, von weldhem alle Lebensbewe⸗
gang ausgeht, ift durch Chriſti Einwohnung neu und ges
heiligt; und da er, wie er ihr Überhaupt nichts vorents
halt, fo auch mit feiner ganzen Lebendtraft ſich ihr zu
geben bereit if, damit fie zu jedem, auch dem ſchwerſten
Kampfe dadurch ſich flärke, fo ift fie de6 Sieges fich ger
wis und flieht in Hoffnung alle ihre Keinde gefchlagen,
wiewohl ihr erf in feinem himmlifchen Reiche die vos
fonmene freiheit von Sünde und Kampf zu Theil wer:
den wird (1 Joh. 5, 4. 5.). Und fo flieht auch Bott fie
a Chriſto als eine geheiligte an, wie er fie als eine ges
rechte in ihm fieht, weil Chrifti Kraft ebenfo für unfere
Schwachheit eingetreten als feine Gerechtigkeit für unfere
Ungerechtigkeit.
58 Schöberlein
So gilt alfo dad allgemeine Geſet bed Lebens, daß
im lebendigen Keime bereits das ganze Gewächs vorge⸗
bildet und fertig liege, und doch nur in allmählicher Weiſe
zur Eutwickelung und Vollendung fomme, auch von ber
Erleuchtung, Rechtfertigung nud Heiligung, als den drei
integrirenden Offenbarungs » und Wirkungsweifen der
unio mystica, bei welcher wir bag gleiche Geſetz "erfannt
haben.
Iſt nun, wie gezeigt. werben, mit ber Nengeburt dee
Gemuͤths, des perfönlichen Lebenscentrums, auch Die Neu:
geburt der drei darin wurzelnden Urundvermögen, ber
Bernunft, des Gewiſſens und Willens, geſetzt, theilt ſich
Chriſtus, indem er als die perſoͤnlich erfchienene Liebe
Gottes gegen ie fündige Menſchheit ind Gemüth zu
bleibendem Innewohnen ſich einſenkt, zugleich der Ver⸗
nanft als die Offenbarung in der Erleuchtung, dem Ge⸗
wiffen als .die VBerfühnung in der Rechtfertigung, dem
‚Willen und durd ihn der ganzen leiblich » geiftigen Natur
ale die Erlöfung in der Heiligung mit, und hält dieſe
göttlich s intellectuelle, inribifche und ethifche Entwidelung
des Sunders mit der myftifchen, mit welcher fie gleicher
zeit aus dem Einen neuen Keime aufgeht, gleichen Schritt,
fo leuchtet ein, wie keines von dieſen dreien feine letzte
urfählidhe Begrändung in dem andern habe, fon
bern jedes berfelben in dem Einen Höheren: ber
unio mystica. Es if irrig, zu fagen, der Glaube allein
rechtfertige nicht, fondern der Blanbe in Verbindung mil
den Werfen, wie die tatholifche Kirche will. Nein, der
Glaube rechtfertigt allein, und zwar wieberum, nicht weil
er Drincip ber Heiligung ift, fo daß doch die Rechtferti⸗
gung wieder von ber Heiligung abhängig gemacht wärd®
fondern er rechtfertigt, ‘weil er Chriſtum, das perfönliche
Gnadenreht für den Sünder, faßt und in den Leben‘:
grund der Perfönlichleit zu wefentlicher Einwohnung auf
nimmt. Die gleihe Bewandtniß hat ed damit, went
ib. d. Berhältniß der perſonl. Gemeinfch. mit Ehriſto ꝛc. 59
won dem Blanben wegen ber ihn immanenten Liebe, die
us Geſetzes Erfüllung fen, vechtfertigende Kraft zus,
färeibt. Aferbings iſt im Glauben ein Liebeleben cin
Fern der Theilnahme an Ehrifto), wie oben gezeigt wors
den; ohne dieſes wäre er nicht Sache ded Gemüths, Des
ioo dvdgmnos, und würde alfo Ehrifti und feiner Gnade
sicht wefentlich theilhaftig werden können. Wein nur
weil das eiebesmoment im Glauben dieſe Bedeutung
hat, iſt die Rechtfertigung darauf zu beziehen, nicht
weil die Liebe der Keim der Heiligung if. Ja wenn ein
Menſch durch Kraft der Gemeinfchaft Ehrifti noch fo fehr
wihr in Liebe und Heiligung, fo wirb doch nie Diefe
Heiligung irgend Grund der Rechtfertigung, fondern immer
zur Chriſtus, die Berfühnung für unfere Sünde Denn
Sergebung Tann nie verdient werden, fle ift durchaus
freie Liebesthat. Beruht nicht auch am Ende, genau bes
trahtet, dad Abhängigmadhen der Vergebung von der
Yiligung anf bloßer Täufchung, da die nachfolgende
Neigung ohne Bezug zur früheren Sünde ficht, und weil
fe doch nicht mehr thut ale geboten ift, dieſe nicht gut
sahen fan; wenn man fie aber ald opus supererogati-
sum and infofern als Aequivalent für die frühere Sünde
betrachtet, die Bergebnng aufhört, Vergebung zu feyn?
Kur Empfänglichfeit des Herzens {ft Bedingung von
Seite des Sünders. Andererfeits iſt ed aber auch irrig,
den Glauben bloß als Organ der Rechtfertigung umb,
am jeden Schein von Berdienft auszuſchließen, vielleicht
fogar bloß als formelle That der Seele, nicht als Lebens⸗
bewegung der innerften Perſönlichkeit zu faffen. Ein fols
hr Glaube wäre bloßer Schein und hätte feine Kraft der
Rechtfertigung. Man darf zwiſchen Glaube, welcher
shtfertigt, und zwifchen Glaube, welcher heiligt, nicht
Kheiden; fondern in demfelben Glauben, welcher recht
fertigt, liegt auch die Kraft der Heiligung, und biefe ift
nicht als bloße Folge der Mechtfertigimg zu betrachten,
. 60 Schöberlein
wie von ber Altern Dogmatik zu gefchehen pflegt. Der
legte Grund der Heiligung ift der, daß Chriftus, der da
heilig iff und heiligt, das principielle Leben des Sünder
geworben if, und fie ift nur deßhalb ohne Nechtfertigung
nicht zu denken, weil fie aus Chriſto quillt, ber für bie
Seele zugleich Fürft des Friedens if. Bon der Erleuch⸗
tung gilt daffelbe Verhältniß. Ale Erleuchtung, Recht⸗
fertigung und Heiligung hat nur fo viel chriftliche Wahr⸗
heit, als unio mystica in ihr ift, und aller Wachsthum
in denſelben nur fo viel geiſtlichen Werth, als die unio
mystica im Gemüthe dadurch erhöht wird, weßhalb fid
Chriſtus aucd auf jeder Stufe geiflihen Wachsthums,
wie fchon in der der Wiedergeburt voraudgehenden Ber
rufung, nicht an ein einzelnes Organ der Perfönlichkeit
als folched, fondern durch daffelbe an den innerften Grund
der Perfönlichkeit, and Gemüth, zu gläubiger @inigung
mit ihr wendet. Alles ift für uns nur Chriſtus, weichen
die Seele im Glauben ergreift, und Chriftus, im Glau⸗
ben ergriffen, wirft zugleich zum Helle unferer ganzen
Derfönlichkei.
Steht aber nun hiernach auch die gleichbered:
tigte und gleichzeitige Immanenz der Erleuch⸗
tung, Rechtfertigung und Seiligung in der unio mystica
fer, fo fchließt dieß dennoch die gegenfeitige Wed»
felbegiehung und Wechſelwirkung diefer drei nicht
aus, fondern vielmehr ein, da in einem geiftigen Orga
nismus, wie bed Menfchen Perfönlichkeit ift, keine Seite
des Lebend gegen die andere fich abjchliegen kann, wenn
das Ganze nicht leiden fol.
Es kann feiner diefer Momente fehlen ‚ ohne daß
auch die andern aufhörten, wahren geiftlichen Charakter
zu haben. Bloße Rechtfertigung ohne Kraft der Heili⸗
gung ift eine Selbfitäufchung; denn Chriſtus will ſich nicht
bloß ftüchwelfe dem Glauben geben. Wer in einer Sünde
mit Bewußtſeyn und Willen verharrt, erflärt damit, daß
5
>
aAb. d. Werhältniß der perfönl. Gemeinſch. mit Shrifto:c. 61
er die Gemeinſchaft Ehrifti, dem jebe Sünde ein Greuel
it, noch nicht wahrhaft auf biefelbe bezogen habe; fo
taun er audy die Kraft feines Berdienfted zur Vergebung
sicht anf diefelbe beziehen. Ebenſo iſt auch jene Heili⸗
gung feine evangelifche, fondern bloß gefeßlicdher Gehor⸗
fam oder natürliche Beflerung, die ohne irgend welche
begleitende oder vorangegangene Erfahrung ber Kind»
(haft ihr Werk treibt, Denn die Liebe ift die Seele der
wahren Seiligung ;:die Liebe aber empfängt nur von bem
Kindesverhältniß ihre Innerlichkeit, Freiheit und Wahr⸗
beit, und fomit auch ihren wahren gefeßerfüllenden Werth.
Wie aber auf diefe Weife das Borhanbenfeyn des
einen Prüfftein für die Wirklichkeit des andern ift, fo
dient auch die gefunde Pflege eines jeden dem andern
zur Stärkung und Befeſtigung. Ge mehr ein Menſch,
die Schuld feiner Sünde anblidend, in ihrer völligen
Bergebung fih felig fühlt, mit deſto fregdigerer Kraft
wird Der Wille dem Sündendienſt entfagen und Chrifto
‚wlieb leben. Und je aufrichtiger und entfchiedener er
an feiner Heiligung arbeitet, defto feſter kann der Trof
ber Gnade im Herzen haften, mit deſto innigerem Zutrauen
wird er das Angeficht feines Gottes fuchen. Deßgleichen
muß Die wachfende Eiuficht in den Liebedreihthum Got -
ted die Seele ermuntern, immer anhaltender und eifriger
Zriede und Kraft aus demfelben zu fchöpfen, und umge⸗
kehrt. Zwar ift ed in der ben individuellen Liuterfchieb
in ſich befaffenden und heiligenden Ordnung des Reiches
Gottes begründet, daß die Einen mehr im Anfchauen ber
unendlichen Liebesweishelt Gottes, bie Andern mehr in
dem feligen Gefühle himmlifchen Friedens und wieber
Undere in dem Kampfe für die alfeitige Durchbildung
des Reiches Gottes in dem Kreife der fie umgebenden
Belt leben, ohne daß darum die Wahrheit und Geſundheit
ihred geiftlidhen Lebens dadurch beeinträchtigt wärbe.
Aber fo weit hierzu nicht bie von Gott geſetzte Individua⸗
..& Schöberlein
Iktät leitet unb berechtigt, wirb, je mehr die eine Seite
auf Koften der andern ſich ausbildet und gegen biefelbe
fi, verfchließt, deſto mehr jene kräufeln, deſto langfamer
fortfchreiten und am Ende der Gefahr völligen Erfterbens
erliegen. Dagegen je mehr ein Menſch der gegenfeitigen
Wechſelwirkung diefer Grundfeiten des perfönlichen Lebens
Raum gibt und Diefelben mit göttlichem Gnadengehalte
ſich erfüllen läßt, einen deſto gefunderen Berlauf wird
fein geiftliched Leben nehmen.
Außer diefer Gegen» und Wechfelfeitigkeit derſelben
untereinander läßt fi aber auch eiue naturgemäße
Folge berfelben nacheinander, eine anf Innern Geſetzen
subende Entwidelung berfelben audeinander erfennen.
Doch find dieſe Gefege nicht ſowohl dogmatiſcher als
pfychologifcher Art. Dogmatiſch wichtig iſt nur dieß, daß
ohne perfönliche Lebensgemeinſchaft mit Ehriſto nach kei⸗
ner Seite hin dem Menſchen Heil werden fönne, dieſelbe
aber, wenn fie eingetreten, nach allen Seiten hin audı
wirkfam ſich äußere, nub baß jeder Empfang von Wahr⸗
heit, Friede und heiliger Kraft nicht Werk und Verdienſt
des Menſchen fey, fondern Onadengabe Gottes in Chriſto
durch ben heiligen Geiſt, obwohl jeder Empfang won ber
nicht: bloß natürlich gegründeten, fondern auch burdı
felbfteigue freie Ueberlaffung bedingten Empfänglichkeit
und jeder neue Wachſsthum von der treuen Nutzung und
Pflege der vorher empfangenen Gnadenkraͤfte abhängt.
Ba biefen Belegen des perfönlichen Lebens gehört,
daß fich demfelben Alles durch die Ertenutuiß vermittele.
Es Tanıı mithin das Herz weder den Krieden der Ber
föhnung empfangen, noch zur Heiligung ſich kräftig erhe⸗
ben, wenn es nicht erſt durch dem heiligen Geift die in
Ehrifto erfchteneue Gnade erfaunt hat. Ferner will ſich
das Herz, da die Stellung nach oben bei der Ereatur
für ihre Stelung nach innen bebingend ift, feiner Ver⸗
föhuung mit Gott, welchem es ſich nun zur Bemeinfchaft
üb.d. Berhältniß der perfänl. Gemeinſch. mit Chriſtore. 63
ergeben, erſt gewiß werden, um mit ungehemmter, frenbi«
ger Kraft den Willen Gottes am eignen Weſen zu voll
ziehen. So lange der Menfch ſich noch im Zwielpalte mit
feinem Bott und Heren fühlt, ift dem unter dem Einfluſſe
des Gewiflens ſtehenden Willen die Kraft gebrochen; fo
lange er ſich noch nicht für angenommen betrachten darf,
taun der Glanbe nicht zur freien, Eindlichen Liebe erſtar⸗
fen, aus welcher jedes gottgefällige Thuu quellen muß.
Es geht infofern, als pſychologiſcher Borgang betrachtet,
die Rechtfertigung der Heiligung, die Erleuchtung der
Rechtfertigung naturgemäß voran. Und die evangelifche
Lehre ift und bleibt deßhalb für dieſes Nacheinander ber
geitlichen Lebendentwidiung (ordo salutis) der richtigfle,
allgemeingültige Ausdrud.
Doch if fürd Erfte mit Berweifung auf das oben
Gefagte zu bemerken, daß dieſe Aufeinanderfolge Fein
urfächliched Bebingtfeyn des einen vom andern in fidh
ſchließt, daß wir alfo eben fo wenig deßhalb geheiligt
werden, weil wir gerechtfertigt find, ale wir die Rechts
fertigung empfangen, ‘weil wir erleuchtet find; fondern
jedes derfelben behält feinen urfächlichen Grund in ber
perfönlichen Gemeinfchaft mit Chriſto. Wenn aber doch,
wie die Erfahrung lehrt, die Gewißheit der Nechtfertis
gung für die Seele Beweggrund zur Heiligung wird, fo
iR dDieß eben bloß Beweggrund, fo wenig aber ein obs
jectiv⸗ urſachliches Verhaͤltniß, ald man baflelbe in der
entgegengeſetzten Erfahrung wird finden wollen, baß ein
Menſch Vergebung für eine Sünde nur dann ſich zueig⸗
nen fönne, wenn er mit ernſtem Willen ihr zn entfagen
fig entfchloffen hat.
Zum Undern aber gilt, daB ungeachtet diefer Auf-
tinanderfolge doch bie Wiedergeburt nicht mit einem dies
fer drei Zuftänbe allein eintrete, fo daß die andern ent
weder rein vorausgehen oder erft nachfolgen könnten,
fondern jeder dieſer Znftände erhält feinen eigentlich
64 Schöberlein
rege evangelifchen Werth eben erft dadurch, daß er
ache der Wiedergeburt, alfo auch in Verbindung mit
den andern vorhanden if. Man darf nämlich erfilich mit
biefen Brunbfeiten der Wiedergeburt nicht die vorans⸗
gehenden Stadien, welche jede bat, verwechſeln. So kann
eine gewiffe Erkenntniß des Heild vorausgehen, aber zur
Erlenchtung wird fie erft durch perfönliche Heilserfah⸗
zung. Deßgleichen ift der hoffende Hinblid auf Verſoͤh⸗
nung noch nicht die Nechtiertigung ſelbſt. Wenn nun
ſolche Erkenntniß noch, Fein Friedegefühl in die "Seele
bringt, oder and manchem die Seele durchziehenden Friede-
gefühle noch feine Frucht der Heiligung erwächſt, fo folgt
daraus nicht, daß Erleuchtung ohne Rechtfertigung oder
Rechtfertigung ohne Heiligung beftehen und dieß etwa
mit der Zeit erſt ald Folge eintreten könne, ba jenes
dloß vorausgehende Stadien der Erleuchtung und Rechts
fertigung find, wicht dieſe ſelbſt. Umgekehrt wenn ein
: duch Gotted Wort bewirkter Anlauf zur Beſſerung —
wie ja die Treue im Geringen allezeit "die Empfänglichs
feit für höhere Gaben zum Segen hat — ber Seele zum
Eintritt in die Wiedergeburt, mit welcher Gottes Friebe
in fie einlehrt, Bahn bricht, fo darf man daraus nicht
fließen, daß die Rechtfertigung eine Folge der Heilis
guug fey, da jene fittliche Erhebung des Herzens noch
nicht Heiligung felbft geweien,
Sodann aber, felbft wenn bie Wiedergeburt einge⸗
treten, muß doch, obwohl ber wiebergebärende @laube
‚in Bernunft, Gewiflen und Willen zugleich einen neuen,
geifilihen Keim fett, berfelbe nicht überall zugleich wirk⸗
fam ſich zeigen, fondern es ift vielmehr natürliche Ord⸗
nung, daß der eine nach dem andern ſich entfalte. Und
‚ee kann fomit der eine dieſer Zuftände auf ben andern
ſich ſtützen, ohne daß dieſer bereits beſtimmt und deutlich
ind Bewußtſeyn getreten wäre, fo wie auch umgekehrt ber
eine den andern als nothwendige Kolge in fich bergen
üb, d. Berhaͤltniß ber perfönl. ſemeinſch mit Ehriſto ꝛc. 65
kann, ohne daß dieſer unmittelbar ſchon zu ausgeprägter
Erfheinung kommen müßte.
Benden wir dieß nun anf die oben angegebene na⸗
turgemäße Folge biefer Zukände an, fo ift allerbings
fetzubalten, daB die Erleuchtung nur dann diefe wirklich
ſey, wenn fie wirkliche Ergreifung der Gnade durch den
Blauben in fich fchließt, und daß die Heiligung, ob fie
auh vom Willen erfi auf Grund des verfühnten Gewiſ⸗
fend in Vollzug geſetzt wird, doch ihm ſchon vom Mo⸗
mente der SHeilderfahrung an als neue Lebensmacht ins
wohne, Andererfoitö aber ift auch anzuerkennen, daß,
wiewohl mit ber Rechtfertigung zugleich die Erleuchtung
und Heiligung im Menfchen gefegt find, der Menſch doch
bie rechtfertigende Gnade nur ergreife, infofern er burch
Kraft des heil. Geiſtes fein Heil in ihr erkennt, und daß
er zur heiligenden Liebe nur ſich erhebe, infofern Der
Bei Gottes feinem Beifte Zeugniß gegeben, daß ex
durch Chriftum ein Kind Gottes fey.
Haben wir aber bis jebt, wo wir vom Ergreifen der
Buade redeten, vorzüglich die Verföhnung im Auge ges
babt, fo daß die jinridifche Geite ale ber Hebel für die
beiden andern erfchien, fo dürfen wir und doch nicht vers
bergen, daß das gläubige Gemüth vorzugsweife und zus
nachſt auch andere Seiten der göttlichen Gnade faflen
föune, obne daß der Charakter chriftlicher Wiedergeburt
dadurch aufgehoben würde Wie nämlich der Cine im
Befühle feines Sündenelendes bie verfinfternde und ver,
biendende oder die Enechtende und verwüſtende Madıt
dere Sünde mit tieferem Schmerze bellagt, während ein
Anderer, davon weniger berührt, nur unter der Laſt des
Schuldgefühls fenfzt, jenes aber nur dann ben chriſtli⸗
den Bußcharakter verlöre, wenn er nicht zugleich mit
beflagte, durch eigene Schwib und mit Berfchuldung ges
gen Bott, den Herrn feines Lebende, darein verfunfen zu
fyn, fo it es auch beim Ergreifen der mann Richt
Cheol, Stud, Jahrg. 1847,
66 Sqhoöberlein
iſt's dann bloß Wiedergeburt, wenn die Seele dafür wer
Allem dankt, daß fie, der Schuldenlaſt entlebigt, wieber
freien Zugang zu ihrem binrmlifchen Vater habe. Es
Tann auch bieß die Geele mit vorwiegender Freude er⸗
füllen, daß in Ehrifte ihr alle Raͤthſel göttlichen Waltens
im eigenen und allgemeinen Leben gelöf find, ober daß
fie, ans dem Sündendienſte nun endlich befreit, ihrem
Herrn in reiner Liebe dienen könne. Und in biefem Falle
wird das beftimmte Bewußtſeyn der Rechtfertigung der
Seele erſt in Folge ihrer fittlichen Umwandlung auf
gehen, fo daß jene von biefer abhängig erfcheint. Doch
tft andh bier das reine Borausgehen der Heiligung vor
der Rechtfertigung im Bewußtſeyn eine ZTänfchmg.
Denn in der Freude über die zu gottgefäligem Wandel
empfangerre Gnadenkraft Liegt bereits das Gefühl ber
Berfähnung, und gwar nicht bloß ald Sache der Hoff
nung, fordern auch des wirflichen Glaubens, - da ſolche
Freude nur in einer zu Gott nimmer im Knechts⸗, fon
dern bereits im Kindesverhältniffe ſtehenden Seele Plat
haben kann. Mithin geht auch hier, wiewohl weniger
offenbar, die Rechtfertigung der Heiligung im Bewußt
feyn voran. Und nur dann würde die Heiligung ihre
richtige Stellung und ihren chriklichen Werth verlieren,
wenn fie nicht aus der freien Liebe eined an die Grade
Gottes Hläubigen Gemüthed erwüchfe, fondern ein Menſch
fi die Gerechtigkeit vor Sort durch eigene Kraft wirt
lich verdienen wollte. Ebenfo würde aber auch die Rechts
fertigung dhriftticher Wahrheit und fomit der Kraft zur
Heiligung entbehren, wenn ein Menſch, bloß froh, der
quölenden Gewiſſensanklage entledige zu ſeyn, ſich's wei⸗
ter gar nicht kümmern ließe, ob er die göttliche Liebe,
durch deren Selbftentänßernng ihm diefe Gnade zu Theil
geworden, durch fortgefetted Sundenleben betrübe oder
nicht. Solche Glaubensgerechtigkeit iſt wicht beffer, ale
jene Werfgerechtigfeit, in welche fie auch von felbft un.
üb. d.Berhältniß ber pexfönl, Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 67
tee der Form des Buchſtabendienſtes überfchlägt, wenn
fie nicht geradezu zur Henckelei und Zügellofigfeit führt.
Somit herrſcht alfo, innerhalb jener oben aufgeſtell⸗
ten Grundgeſetze, auch bier auf dem geiftlihen, wie auf
jedes höheren Lebensgebiete die größte Mannic fals
tigfeit der Entwidelung. Ihren guten Grund
aber hat biefelbe in ber göttlichen Orbuung, nach weis
her Jeder hienieden nicht bloß in befoudere änßere Ber»
bältmifie geſtelt und auf befondere Weiſe durchs Leben
geführe wird, fondern Jeder auch eine deſtimmte Indivi⸗
bualität feiner Perfünlichkeit angeboren empfängt, die er
sicht bloß nicht ablegen kann, fondern die er vielmehr zum zei
deren Anfbau des Ganzen bewahren und in reiner Weiſe
zur Entfaltang bringen fol. Für diefe Mannichfaltige
feit geiftlicher Entwidelung finden wir die deutlichfie Bes
Rätigung in der h. Schrift. Ein Beweis dafür liegt ſchon
darin, daß zur Bezeichnung bed Grundcharalter6 ber
evangeliſchen Verkündigung bald die eine, bald die anbere
Brite von den heiligen Schriftftellern gewählt wird, wie
.S. 1 Tine. 2,4. die Erleuchtung, Eph. 6,15. die Recht⸗
fertigung ꝛc., und daß jebt diefe von jener, dann jene
von diefer abhängig erfcheint, wie 3. B. Tal, 2, 24; 1
Joh. 3, 7. die Helligung ald Bebingung ber Rechtferti⸗
gung, Röm. 6, 15.19. Hebr.9, 14. die Rechtfertigung ald
Voransſetzung der Helligung dargeſtellt wird. Aber and
die ganze Prarid ber Apoftel legt ein Zengniß dafür ab.
Denn je nach den geſchichtlichen Zuftänden ober indivi⸗
duellen Berhältniffen, welche diefelben eben vor ſich hats
ten, Iaffen fie bald die eine, bald die andere Seite in den
Berdergrund treten. Weil die Inden das Hell auf eis
zene Erfülung des Geſetzes gründen wollten, ſah ſich
Pasins genöthigt, ihnen die Rechtfertigung allein durch
a Glauben aufs fchärffte entgegenzuhalten. Dagegen
wußte Jakobus, wo man einem Blanben, der nicht im
Ormüthe wurzelt und. fomit fih auch im Leben nicht als
5%
68 | Schöberlein
heiligende Kraft erweift (von einem ſolchen in fich feld
todten Slauben weiß Paulus in feinen Briefen gar nicht)
rechtfertigende Kraft zufchreiben wollte, die Rechtferti⸗
gung an die Bebingniß ber Heiligung knüpfen. Mit der
gleichen Berechtigung traten deßhalb aud die Neformas
toren dem in der Fatholifchen Kirche eingeriffenen Geſetzes⸗
und Werkdienſte mit ber paulinifchen Lehre von der Rechtfer⸗
tigung burch den Glauben entgegen, und umgekehrt ift ges
genüber jedem Mißbrauche diefer Lehre das Dringen auf
Heiligung am Orte, So follte auch jeder Prediger und
Seelforger noch immer die gleiche apoftolifche Weisheit
üben. Endlich aber, abgefehen von diefer Außeren Ber,
anlaffung, ift auch die Individualität der Apoftel felbft
— ‚welche fich in den verfchiedenen Entwidelungsftadien
der Kirche und in den verfchiedenen Eonfefflonen wieder:
fpiegelt — von großem Einfluſſe geweien. Paulus und
Jakobus treten hier Cinnerhalb der dhriftlichen Wahrheit).
am weiteiten auseinander. Der die innere Ordnung ber
‚göttlichen Heilsökonomie mit bialektifher Schärfe zer
legende Berftand des Paulus mußte die Rechtfertigung
von jebem Berbienfte menfchlihen Werkes und der Hei
ligung überhaupt aufs beftimmtefe getrennt halten, fo
daß diefe gleihfam ald Frucht aus jener erwächſt. Der
praftifhe Sinn eined Jakobnsé dagegen ſucht vor Allem
die Frucht bes neuen inneren Lebens im äußeren und
Iäßt fo die Rechtfertigung vom äußeren Werke abhängig
erfheinen. Bei Petrus ſteht dieſe praktiſche Richtung
noch mehr in ihrer Verbindung mit dem inneren Leben.
Der contemplatio » fpeculative Geift eines Johannes aber
ſchaut alle dieſe Unterfchiede in ihrer höheren Einheit.
Nechtfertigung und Heiligung treten bei ihm ungetrennt
auf, wie 3. 3. das „Heiligen” in Joh. 17. beide Begriffe
in ſich zu vereinigen fcheint. „Erkenntniß“ ift ihm ber
Ausdrud für perfönliche Lebensgemeinfchaft mit Chrifto,
wie ja bei diefer auch ein inneres ‚Schauen flattfindet,
üb. d. Berhältniß der perfönl. Gemeinſch. mit Ehrifto sc. 69
welches bis zu jenem höchften Punkte wählt, daß wir
ihn fchauen werden, wie er ift (1 30h. 3, 2,). Und gleich»
wie er, wenn er bad Berhältniß der Gläubigen zu Chrifto _
und umgekehrt bezeichnen will, am liebſten Bilder von
mpftifcher Bereinigung wählt, wie vom Neben am Wein,
ftode, vom Brode und Wafler des Lebens ꝛc., fo it auch
in feinen Briefen und in den legten Reden Jeſu, zumal
im hohenpriefterlichen Gebete, das „Er in und” und
„Wir in ihm” die Grundvorftellung, die ihn leitet.
Bon ihm, dem Lieblingsjünger ded Herren, dem alle
übrigen überlebenden Apoftel, muß deßhalb auch eine
chriſtliche MWiffenfchaft, welche nicht innerhalb der hiftoris
fen Gegenfäte verbleiben will, fondern über ihnen bie
böhere Einheit fucht, die Wahrheit erkennen lernen: daß
die perſönliche Gemeinfhaft des Sünders mit Ehrifto in
derſelben Weiſe augfchließlicher Quell für Beginn und jeg⸗
lihen Wahsthum der Erleuhtung, Rechtfertigung und
Heligung ſey, als die perfönliche Gemeinfhaft Gottes
mit der fündigen Menfchheit in dem oagE Zyevero bed
idyos Dffenbarung, Berfühnung und Erlöfung als intes
grirende Momente in fid, fchließt.
70 Bed
2,
Ueber bie
Praͤdeſtination.
Die auguſtiniſche, calviniſche und lutheriſche Lehre
aus den Quellen dargeſtellt und mit beſonderer
Ruͤckſicht auf Schleiermaher's Ermählungslehre
comparativ beurtheilt
von
© Bed, |
epetenten am theol. Stifte zu Tübingen a).
— — — — — —“ — —
Die Prädeſtinationslehre iſt, wie bekannt, im Refor⸗
mationszeitalter ein Hauptgegenſtand der Controverſe
geworden, ſo daß ſchon dieſe Thatſache den engen Zu⸗
ſammenhang dieſer Lehre mit den Grundideen der Re⸗
—
formation nicht in Zweifel laſſen kann. Man hat zwar
ſchon geſagt b), die Reformation, wie ſie aus den ge⸗
meingültigen Bekenntniſſen ſpreche, gehe nicht von den
göttlichen Eigenſchaften aus, um aus ihrer inoraliſchen
Zweiheit und! nothwendigen Offenbarung Schöpfung und
Kal, Heil und Verdammniß zu conftruiren, bie Refor⸗
mation gehe von der Thatfache der Rechtfertigung durch
a) Der Aufſatz ift geichrieben, als ber Herr Berfaffer noch Stabt:
vicar in Kirchheim u. Ted war,
b) Ritzſch gegen Möhler, Befonderer Abdruck aus biefer Zeitfchrift,
1. ;
—
über die Praͤdeſtination. 71
den Glauben aus und fey fo in biefem Entwidelunge-
gauge fogar gemöthigt geweien, ſich gegen den Leber,
ung ind conſtructive Syſtem zu verwahren, welches
4 ihr nur in polemiſchem Eutwidelungsgange als Acci⸗
bed angehängt habe. Hiermit wirb denn offenbar bie
calviniſche Präbdeftinationdiehre — denn fie iſt das con⸗
Aractive Syſtem — ald etwas Späteres unb Demeigent-
hen Mittelpunkte ber Reformation Fremdes begeichnet,
da fie gewagt, dad Weſen Gottes zu confiruiren und
kise Offenbarung in der Welt der Nothwendigkeit zu
asterwerfen. Siergegen aber ſteht fchon bad, daß Nies
wand häufiger, Niemand firenger, ald eben Calvin, ges
gen die menfchliche Aumaßung eifert, die Gott Geſetze
verkhreiben wolle, unb daß Luther felbit am Anfange,
wie befannt ift und wie wir unten geuaner finden wer⸗
den, mit härtefter Gonfequenz fich gegen Erasmus —
elfe doch wohl im SInterefle der Neformation — auf
vn Grunde der nachmals calvinifchen Principien ges
Ytıs hat. Bei genauerem Zufehen kann es auch Keis
um entgehen, daß, was der Myſticismus ind Ertrem
sieben hat, gerade bie sola fides drängt, ſich in
Gert zu verfenten und in feiner Abfolucheit aufzugeben,
daß die Rechtfertigung, weldye den Ausgangspunkt der
Reformation bildet, in natürlicher Entwickelung auf das
Berhälmig zwifchen Gott und Menfchen zurädführt, daß
da institia, qua Deus iustos facit, auf die andere ſich
änden muß, qua ipse iustns est. Wir fommen fomit
dech auf das Wefen Bottes hinaus, fobald wir nur Die
lutheriſche Lehre in ihrem Grunde verfiehen wollen, und
hen damit einen gemeinfamen Berührungspunft mit
Lalvin. Auf der andern Seite aber iR es einmal That»
ſache, daß Calvin fo gut als Luther auf bem Boden der
karift ſtehen will und daß im dieſer Lehre gerade beide
4 anf das Wort der Schrift berufen. Wenn fomit
72 Beck
beide aus dem Einen und ſelben Quelle rein und lauter
ſich herleiten wollen, ſo mag zwar darüber geſtritten wer⸗
den, welcher Lehre mehr Recht zukomme, aber als un⸗
zweifelhaft wird zuzugeben feyn, daß auch dann die an-
dere, felbft eregetifch, nicht unberecdhtigt, daß auch fie ein
nothwendigeds Moment und fein zufäliges Accidens in
der Eintwidelung feyn müfle So werden wir alfo auf
eine genetifche Betrachtung ber Sache hingemwiefen. Das
Berhältniß beider ‘Theorien wird nur durch hiftorifche
Zurüdführung auf ihre gemeinfame Grundlage in Das
rechte Licht zu feßen feyn. Diefe Grundlage aber ift,
wie man weiß, die auguftinifche Theorie; von dieſer bar
ben wir auszugehen und und fomit zunächft in unferem
biftorifchen Theile mit den Theorien Auguſtin's, Calvin's
und der Iutherifchen Kirche zu befchäftigen.
Erfter, hiſtoriſcher Theil.
1. Auguſtin a).
Die auguftinifche Prädeftination hat den erften Sün⸗
benfall und den Stand der Sünpdhaftigkfeit zu ihrer Vor⸗
ausfegung, von woher erft die menſchliche Freiheit und
bie damit zufammenhängende Präbdeftination zum rechten
Verftändniffe gebracht werden kann. Wir haben fomit die
drei Punkte zu erwägen: 1) Sündenfall, 2) Leben in der
Sünde, 3) Prädeftination.
Mit Pelagius ift Auguftin einverflanden in dem Ans
fangspunfte, daß der Menſch am Anfange gut aus der
a) Ich benugte bie Ausgabe Paris 1651. Die Schrift de civitate
Dei, welche Baur in ber Dreieinigkeit und Menſchwerdung be
ſonders -berüdfichtigt bat, Tonnte ich bier nicht benugen und
muß darum auf Baur’s Darflellung am gedachten Orte ver
weifen,
über die Präbdeftination. 73
Hand bed Gchöpfers hervorgegangen ſey, fehler» und
tadelloe. Aber das iſt im Wefentlichen doch auch nad
Yelagiud der Menfch jetzt nicht mehr. Der Grab und
die Art diefer Alteration ift ed nun eben, worauf es ans
fommt, und ihre Auffaffung wird zunächſt motivirt durch
Angabe des Grunded, warum der Menfch nicht gut ger
blieben, fondern in die Sünde verfallen fey. Der Süm
denfall ift der Gegenfland von Auguſtin's Unterfus
hung befonders in der Schrift de gratia et correptione,
e. 10. Hier ift die Einwendung aufgeſtellt: „Hatte der
Menfh in jener Vollkommenheit (rectitudo), in der er
fehlerlos gefchaffen war (factus), auch die Beharrlichkeit,
fo mußte er zweifellos darin auch beharren; hat er aber
bebarrt, fo bat er doch wohl nicht gefündige, noch jene
Vollkommenheit und mit ihr Gott verlaffen. Daß er aber
nun wirklich gefündigt und das Gute verlaffen hat, bas
zeigt die Erfahrung. Alſo hatte er auch nicht die Be:
barrlichkeit in jenem Gut; hatte er fie nicht, fo hat er
fie auch nicht erhalten; erhielt er fle nicht, wie fann fein
Rihtveharren Sünde feyn, da das Beharren ihm doch
sicht zu Theil geworden it?” Auf diefe Einwendung
gibt nun Auguftin die Antwort: „Gott, der Herr aller
Dinge, der Alles fehr gut gefchaffen hat, fah freilich vor»
aus, dag aus dem Guten auch Böfed hervorgehen werbe
(mala ex bonis exoritura esse), aber. er wußte auch, baß
es feiner allmächtigen Güte angemeflener fey, auch aus
dem Böfen Gutes hervorzubringen, als das Böfe nicht
suzulaffen, und darnum hat er der Engel und Menfchen
Leben fo georbnet, darin zuerſt and Licht zu bringen,
was ihr freier Wille vermöge, und fobann, was feiner
Gnade Segen und feiner Gerechtigkeit Urtheil im Stande
fu.” Es werden alfo hier fihtlicdh für den Sündenfall
zwei Momente ftatuirt, die potentissima bonitas Gottes
und der Engel und Menſchen liberum arbitrium, Sn
welches Berhältniß werden nun aber beide zu einander
74 Bed
gefekt? „Der Menfch iſt gemacht mit freiem Willen und,
wenn auch mit feinem Lünftigen Falle unbelanunt, doch
darum felig, weil er die Möglichkeit, nicht zu fterben und
nicht elend zu werben, in-feiner Hand fühlte Hätte er
in diefem volllommenen und fehleriofen Zuflande durch
feine Freiheit beharren wollen, fo hätte er gewiß ale
Lohn feines Bleibens (merito hulus permaasionis) auch
bie Fülle von Geligfeit erlangt, bie auch Die heiligen En»
gel zu Seligen macht, das if, daß der Fall fürder eine
Unmöglichkeit geworden wäre. Er bat aber burd feine
Freiheit Gott verlaffen und: darum Gottes gerechtes Ge⸗
sicht erfahren.” Vgl. Kap. 12: „Dem Adam ift die Wahl
gelaffen worden zu beharren; Gott hat freilich vorher.
gewußt, was er nurecht thun würde, er hat es vorher:
gewußt, aber ihn nicht Dazu gezwungen (praesciente,
sed tamen non cogente) Bo iR denn alfo der
Sündenfall eine That dermenichlichen Freiheit, vollbracht
contra Dei voluntatem, sednon praeter cam.” Diefe Freiheit
wird fo ausdrücklich hervorgehoben, daß Auguſtin hier von
ber pelagianifchen Seite nur gar wenig entfernt iſt Kap. 11:
„Bott wollte ihn nicht ohne feine Gnade laflen, aber er
bat fie in feiner Zreiheit verlaflen. Hätte er diefen Beis
ftand nicht durch feine Schuld verfcherzt, fo wäre er im⸗
mer gut. Über er hat verlaffen und warb verlaflen. Er
fonnte bleiben, wenn er wollte, weil es ihm nicht an der
Unterflüßung fehlte, durch welche er konnte und ohne
weiche er nicht beharrlich da6 Gute behalten konute, das
es wollte. Aber er wollte nicht bleiben, und fo iſt es
gewiß feine Schuld, da ed auch fein Verdienſt gewefen
wäre, wenu er hätte bleiben wollen.” Hiermit ift von
der göttlichen Seite nichts übrig gelaffen, ale ein adiu-
torium, das der Menich durch feinen Willen wollen ober
nicht wollen Tann. Die Kreiheit Eonnte diefed adistorlum
erhalten, bie Freiheit konnte es verfcherzen, und fie hat
es verfcherzt.
uber die Präbeflination. 75
Run aber fährt Anguſtin fort in der eben angeführten
Stelle: „Hätte diefe Stüte einem Menfchen oder Engel
gefehlt, fo wäre, weil ihr Weſen auch mit ihrem Willen
ohne Gottes Schug doch nicht zur Beharrlichkeit geichafr
fin war, ber Fall gewiß nicht ihre Schuld; denn bann hätte
bie Stüge gefehlt, ohne welche, zu bleiben, eine Unmoͤg⸗
lichkeit war.” Gonad war ber Menſch vom göttlichen
adietorium , von dem er fich doch follte losreißen können,
abhängig unb wiederum war es body nicht fo mit ſei⸗
nem Herzen verwachfen, daß er die wahre Freiheit ges
habt hätte, weiter nicht zu fallen. Diefen Gegenfag nun
fuht Auguſtin durch die linterfcheibung einer gratis
prima etsecunda auözugleichen. Kap.IL: Talequippe
erat adiatorium, quod desereret, cum vellet, et in quo permane-
ret, si vellet, non quo fieret, ut vellet. Bas iſt nun aber mit
diefer Unterfcheidung gewonnen? Hiernach it ja ber erfe
Menſch mit einem fo ſchwachen Verſtande und fo unfräfs
tiger Willensfreiheit ausgeſtattet (ignarus sdhue faturi
sei easus erat”), daß ihm auf der anderen Seite keine
wirflihe Freiheit übrig bleiben kann, bie ihn getrieben
hätte, dad adiutoriom divinum zu verlaffen. Wußte er
doch nicht, daß er deſſelben veriuftig gehen könne! Wa:
sum nun bat ihm Gott in biefer Beziehung das Wiſſen
nicht verlichen? Es bleibt Fein anderer Ausweg, ale die
erfie Antwort, daß fo des Menfchen Kal mit Rüdficht
auf die Erlöfung geordnet geweſen fey.
Iſt aber fon Adam nicht mit wirklicher Willens⸗
freiheit zur Sünde gekommen, fo bleibt noch weniger jetzt
für die Menfchen eine Freiheit, mit der fie die Erb:
fünde aufuchmen könnten. Hier fommt der Hauptfchler
des auguftinifchen Syſtems zu Tage: während feine Ten»
den; immer iſt, Gnade und Freiheit zu verbinden, wirb
vielmehr in der That immer die zweite von ber erfien,
die menſchliche Seite von ber göttlichen verfchlungen.
Vahrend er bie Anthropologie einführt in bie Dogmen⸗ e
l
76 Bed
gefchichte, kommt er vom theologifchen Standpunkte nicht
hinweg. Denn will man’ fit auch an feine infralapfaris
fhe Seite halten, fo bleibt doch die ungeheure Schwies
rigfeit, daß der Wille vor dem Falle frei gewefen und
nach dem Falle aufgehoben ſeyn fol, daß fomit eine ein⸗
zige That des freien Willens feine Freiheit vernichtet.
Denn was hilft uns eine Freiheit Adam’d, wenn doch,
ob er nicht beharren will, von feinem Willen abhängig
gemacht wird, der damals noch fo frei war, Gutes oder
Böfes zu wollen? Was hilft ung eine folhe Freiheit,
wenn wir im nämlichen Zufammenhange zu lefen befoms
men (Kap. 11,): nunc autem, quibus deesthocadiutorium, iam
poena peccati est. Eine Strafe für die Sünde, eine
Strafe für und, da wir nicht aus eigener Schuld gefüns
bigt haben ? Anguftin antwortet (Kap. 6.): „ Wennman nicht
wiebergeboren ift, fo {ft die Hauptfache nicht zu überfehen,
daß Gott den Menfhen am Anfange der Schöpfung volls
fommen gefchaffen hat und bei Gott keine Ungerechtig⸗
keit it; darum iſt die erfte Schlechtigkeit, welche den Un:
gehorfam gegen Gott zur Folge hat, vom Menfchen, weil
er aus der Bollfommenheit, in der ihn Gott von Anfang
gefchaffen hat, durch feinen böfen Willen herausgefallen
und fchlecht geworden ift. Oder iſt die Schlecdhtigfeit am
Menſchen etwa deßwegen nicht zu tabeln, weil er, der
Einzelne, fie nicht eigen, fondern mit Allen gemein hat?
Vielmehr verdient Tadel auch am Einzelnen, was Alle
haben. Wenn von der Schlechtigkeit Keiner frei ift, folgt
nicht, daß fie Einem deßwegen nicht zufomme; jene Erb-
fünden heißen darum fremd, weil ein Jeder fie von feis
nen Eltern mitbefommt, aber mit gutem Grunde heißen
fie auch die unfrigen, weil „in jenem Einen Alle. geſün⸗
digt haben.” Es ift dieß der Punkt, wo die auguftinifche
Eregefe von Röm. 5, 12, eingreift, die aber darum nicht
unmittelbar beweifen fann, weil wir eregetifch und grams
matifch durchaus fein Recht haben, das ip’ mit dv iden⸗
über bie Praͤdeſtination. 77
fh gu nehmen, womit denn bie Nothwendigkeit der Ber
ziehung bed H ald Mascul. auf Adam wegfallen muß.
Echen wir alfo hiervon ab, was ift denn der Grund ber
Errfünde in und? Bleiben wir bei der oben gewonnes
an Anſicht fliehen, daß auch bei Auguftin der Sündenfall
ein georbneter fey, fo muß nothwendig auch in den Ein»
sinn der Zuftand der Erbfünde als ein potentieller ger
ordnet ſeyn.
Die Frage ift aber nun näher, wie wir nah Aus
gukin dieſen Zuftand der Erbfünde aufzufaffen haben,
oder in genauerem Zufammenbange mit unfeter Frage,
welhe Freiheit er dem Menſchen eben in dem Reiche und
chen der Sünde noch zufchreibt. Hier gibt wiederum
die indeß befprochene Stelle Kap. 11. entfcheidenden Auf-
(dluß: liberum arbitrium ad malum sufficit,
ıd bonum nihil est, nisi adiuvetur omnipotenti bono,
Vil man nun aber einwenden (Kap. 1.), das ſey kein freier
Rilke, der fih nur nach einer Seite neigen könne, fo ber
Kater Auguſtin, wir haben die Kreiheit zu Beidem, zu
Gum und Böſem, sed in. malo faciendo liber est quisque
istiiae servusque peccati. Dieß wird dann weiter ausge⸗
führt de gratis et lib. arb. c.15: „Immer ift unfer Wille
ei, aber nicht immer if unfer Wille gut. Entweber ift
a frei von Gerechtigkeit und ein Knecht der. Sünde,
dann ift er böfe, oder er ift frei von der Sünde.” Frei
aber von der Gerechtigkeit, das ift offenbar gerade fo
il, ald frei von der wahren freiheit, mit anderen
Berten, nicht frei, fondern, wie er felbft fagt, servum
peecato. In dem Stande alfo, in welchen durch Adam’d
Gündenfall das ganze Menfcyengefchlecht gebracht wor⸗
a iR, herrſcht keine Freiheit, ſondern allein Knechtſchaft
vr Sünde, Nichte defto weniger wirb in demfelben Buche
. Rap.1.2,) eine Freiheit ſtatuirt, vermöge der Jeder fich feine
Eindezurechnet, und Doch fürchtet Auguſtin wieder (Kap. 4.,
2 einem guten Leben und frommen Wandel, welche ben
78 Bed
ewigen Lohn verdienen, bleibe Fein Raum mehr für gra-
tia et adiutorium Dei. Solche Stellen und beſonders der
Ausbrud adiutorium zeigen zur Genüge, daß, fobald er
ſich eine Freiheit nady beiden Seiten deuten will, er ims
mer in die pelagianifche Vorſtellungsweiſe verfällt. Vgl.
de dono perseverantiae 6. voluntate sus quemque Dei esse
desertorem, ut merito deseratur a Deo. Und doch faun
wieder unter den Sünden keine Freiheit feyn! So if bie
Freiheit, wo fie hervortreten will, immer die pelagianis
fehe und wird baber immer wieder von ber Knechtſchaft
der Gnade abforbirt: was eine Hand gibt, nimmt die
andere wieder. Es ift ein Schwanten nach beiden Sei⸗
ten, das endlich immer wieder nicht in der Witte, fondern
in einem audfchließenden Begenfage zur Ruhe kommt.
Die Menſchen alfo haben die wahre Freiheit nicht
und find der Sünde unterthan, fo daß fie ſelbſt ſich nicht
frei machen können. Hier greift nun die Prädeftina-
tion ind Syſtem ein, nad der Bott vermöge feiner
Barmherzigkeit ihre Befreiung geordnet hat, Diefer Ber
griff iſt zuerſt im Allgemeinen und nach feinem Berbält:
niffe zur praescientis und gratia aufzufaffen.
Zwifchen gratia und praedestinatio if nämlicdy allein
ber Uinterfchieb, quod praedestinatio est gratiae praeparetio,
gratia vero iam ipsa donatio. Das Verhältniß zur Präfcien;
aber wird fo beſtimmt: „Das Borherverfehen it nicht
ohne Borberfehen, aber umgelchrt das Borberfehen kann
ohne Borberverfehen feyn. Durch dad Borherfehu. weiß
Gott, was er felbft thun will, worherfehen kaun er andı
dad, was er felbft wicht thut, wie 3. B. alte Sünden.
Darum ift dad Borherverfehen Gottes im Buten die Bor-
bereitung der Gnade, bie Gnade aber fchon die Wirkung
der Borherverfehung.” De dono persev. 6: nihil fit, nisi
quod aut ipse facit, aut fieri ipse permittit. Haeo per-
missio ad pruescientiam tantum Dei pertinet. Aber auf
der andern Seite in sun quae falli mutarigue non potest
über die Praͤdeſtination. 79
preesciestia opera sus future disponere, id ommino, nee
dind quieguam praedestinatio est. In diefer Definition
fr hanptſaͤchlich zwei Momente enthalten: 1) Die Prä⸗
vefination erſtreckt fih nur auf das, was Bott feibft
dat; das aber kann nur Gutes feyn, Es gibt nur eine
Mädeflination, die ded Guten als eine praeparatio gratiae.
2) Die Prädeftination wirb unterfchieden von der per-
missie, von einen Vorherwiſſen deffen, was durch Andere
geſchieht. Hiernach muß es alfo Subjecte geben, welche
siht in burchgängiger Paffvität zu Gott ftehen, ed nf
Handlungen von Menfchen geben, auf weiche Bott nur
ine wittelbare Einwirkung ausübt. Hieraus ergeben fich
für die weitere Unterfachung zwei Theile: 1) In welcher
Irt erfiredt fich die Prädeftination auf die Enten, wenn
ft gratiae praeparatio ift, in welcher Art wirb bie gratia
vorbereitet und ausgeführt? — Wirkfamfeit der Onade.
2) Die Präbdeftination geht nur auf die Guten: die Exi⸗
ka des Böfen wird aber durch bie Wirklichkeit und
du Gewiſſen bewiefen: wie verhält fich nun hierzu, wie
mm Böfen uud zum Uebel die Prädeſtination? — Be⸗
Mistung der Guade. Alfo
h Birtfamtleit ber Prädeflination und der
Gnade im Berhältniffe zu den Guten, oder genauer zu
den Erwählten. Die Hauptfielle hierüber ift don. persev. 21:
„Bir behaupten, der Anfang im Glauben und das Ber
herren darin bis zum Ende it Gottes Gabe” Hier
werden denn bie zwei Klippen ded Pelagianismus and
vehliich bezeidmiet: „Gagen wir, von uns ſey der Anfang
des Glaubens, fo daß wir damit bie übrigen Gottesgaben
verdienen, fo fchließen bie Pelagianer, gratium Dei secun-
tem merita nostra dari; umgekehrt fagen wir, dad Bes
ken fey von und und nicht von Bott, fo antworten
k, dann haben wir von un® auch des Glaubens An»
fung, wie fein Ende. Denn fie fchließen, weit mehr noch
züfen wir von und ben Anfang des Blaubens haben,
80 Beck
wenn das Beharren bis zum Ende von uns ſey, denn
Vollenden ſey etwas Größeres, als Anfangen, und ſo iſt
wiederum ihr Schluß, gratiam secundum merita nostra
dari.”
Was alfo Auguftin den nachmaligen Ausläufern des
Pelagianiemus, dem Semipelagianismus und Synergis⸗
mus, entgegenhält, das iſt die durchgängige Berneis
nung berpelagianifchen Tendenz, gratiam secundum
merits nostra dari, secundum merite homines praede-
stinari. Dieß ift der Grundgedanke befien, was man ge
wöhnlich mit dem Namen des auguftinifhen Syſtems
bezeichnet, bieß der innerftie Mittelpunkt feiner ganzen
Theologie, dieß das Thema, das in allen Tonarten wie
derkehrt, dieß der. Nerv feiner Polemil. So wird es
denn auch jeßt nach den zwei oben angegebenen Seiten
des Pelagianismud gefehrt, nach initiam et finis fidei.
Das Eine betrifft die vocatio electorum, das Andere die
perseverantis, und zwijchen beide hinein ſchiebt fidy das
opus conversionis.
a) In erfter Beziehung — die Berufung — if
alſo ber Streitpunkt der, non secundum merita ante-
cedentia, oder, wie die Pelagianer auswichen, secun-
dum prseviss futurs praedestinari electos. Den fchlas
gendften Beweis hiefür nimmt Yuguftin (praed. sanct. 15.)
aus der Perfon Ehrifti ald bes einzigen Mittlers her:
„Dieß zu feyn, hat denn das die menfchliche Ratur in
Chriſto durch irgend ein vorangehended Verdienſt ber
Werke und des Glaubens erwerben können? Und doch
ift er gerade das Vorbild des ganzen Befchlechtd. Denn
diefelde Gnade madıt von Anfang des Glaubens an einen
jeden Menfchen zum Chriften, diefelbe, welche jenen Mens
fhen von feinem Anfänge zu Chriftus gemacht; aus dem⸗
ſelben Einen Geifte fommt des Menfchen Wiedergeburt
und Chriſti Geburt, Wie er, der Eine, zum Haupt,
fo ‚find wir Biele zu feinen Gliedern vorherverfehen.”
über die Präbeflination. 81
Das eigentlich Perfonbildende,, um einen fchleiermacher-
(den Ausdruck zu gebrauchen, ift alfo im Menfchen, wie
in Chriſtus, die göttliche Gnade, und wie in Chrifto bie
beden Raturen zur Einheit verbunden find, To bleibt auch
Be durch Präbeftination gewonnene Einheit Gottes und
des Erwählten unauflöslih. Es ift daher bafjelbe Bes
därfuiß der Erköfung, welches in Ehrifto wie im Ein,
ieluen dad Perfonbildende der göttlichen Gnade anerkennt,
Praed, sauet. 11: „Wenn der Apoflel 1 Kor. 10. fagt:
darum aus dem Glauben, daß nadı der Gnade die Ver⸗
heifung feft fey, fo muß ich mich wundern, wie bie Meu⸗
(ken Ach ihrer Gchwachheit lieber als der Stärke der
söttlihen Berheißung anvertrauen wollen. Aber der Wille
Getted über uns felbft IR uns zu ungewiß! Was thus?
dein Wille über Dich felbft ift Dir gewifler ? Du fürdye
hf nicht dad Wort: wer da meint zu flehen, der fehe
ml zu, daß er nicht falle? Wenn alfo beide ſchwach
id, varum will benn der Menſch nicht lieber dem flärs
ke, ald dem fchwächeren feinen Glauben, feine Hoffe °
my feine Liede aubefehlen?” So wenig aber die ante-
‘eieatia merita die Guade der Präpeftination verdienen
fine, die durch die vocatio an die Erwählten gelangt,
jo wenig können es auch die pelagianifchen merita prae-
a feterı. Das Hauptargument gegen fie nimmt Aus
guſtin aus der Kindertanfe: denn wenn Gott bie kleinen
Finder der Taufe würdigt, die doch bald flerben follen,
lo if fehr Leiche zu ſehen, daß die zukünftigen Verbienfte,
Beide nicht zukunftig find, ohne Zweifel auch gar keine
fd (fatura, quse non sunt futura, procul dubio nulla
“at werite), praed. sanct, 11.
b) Geht nun fchon die Berufung ganz und allein
wihlieptih von der göttlichen Seite aus, fo fann auch
aBerfeder Belehrung bie menſchliche Thätigfeit
kam Raum für irgend einen Auſpruch gewinnen: wer⸗
ka die merita futura abgewiefen, fo fann von merite
Test, Stud, Jahrg. 1847, 6
”
8 Bed
praesentia noch weniger die Rede ſeyn. Vielmehr ift im
Merle der Belehrung bie Gnade allein wirkfam. Died
zeigt Auguftin nach der zweifachen Seite des Wiſſens
und des Willens, nnd hier tritt die gratia praeveni-
ene an ihre Stelle. Nach ber praktiſchen Seite näus
lich fagt er (dom. persev. 16): „Was den Willen betrifft,
fo kommt die Gnade auch dem Glauben zuvor. Sonſt,
wenn der Glaube zuvortommt, fo kommt ohne Zweifel
auch der Wille zuvor, weil Glaube ohne Wille nicht ſeyn
kann. Kommt aber die Gnade dem Glauben zuvor, fo
kommt fie, weil dem Willen, gewiß auch bem Gehorfam
zuvor” (vgl. de gratia et lib. arb. 6, 14. 17.), So werde
bed Menfchen Herz ein ſteinernes geheißen; dieß koͤnne
aber nichts Anderes bezeichnen, als den härteſten und ge
gen Gott durchaus unbeugfamen Willen, denn wo der
Wille vorangeht, ift fchon kein fieinern Herz mehr (don.
perser. 13.). Nach der anderen, theoretifchen Seite
nimmt er (praed. sanct. 2,) die Stelle 2 Kor. 3, 5. zum
Ausgangspunkte und fagt: „Wer fieht nicht, ˖daß das
Denfen vor dem Glauben kommt? Niemand glaubt ja
etwas ohme den Bedanten, es fey zu glauben. Wenn
auch jäh, wenn auch noch fo ſchnell dem Willen des
Glaubens einige Gedanken voranfliegen, und ber fo bald
folgt, daß er nur als der innigft verbundene Begleiter
anftritt, fo muß doch Alles, was man glaubt, im Gefolge
des Denkens geglaubt werden, ja felbit dad Glauben if
nichts Anderes, als mit Beifall denfen. Wir find aber
ja nicht tüchtig, etwas zu denken, als von und felber,
alfo auch nicht zu glauben, was Religion und Krömmig-
keit angeht; fondern, daß wir zureichen, ift von Gott.
Der Menfd aber will zwar dieſen fo ganz deutlichen Zeug»
niffen nicht widerſtreben, aber doch will er feinen Blau:
ben von ſich haben, fo fchließt er mit Gott einen Ver⸗
trag, worin er ſich einen Theil des Glaubens zueignet
und ihm einen Theil laffen will, ia, was noch unver»
über bie Praͤdeſtination. 83
(dämter if, ben erften nimmt er ſich, den folgenden gibt
a Gott, und in dem, was er als gemeinfam behauptet,
. mat er ih zum Erſten und Bott zum Lebten.” Mit
(ihen Haren Ausfprächen fcheinen zwar andere in Wi⸗
tafpradh zu treten, z. 3. grat. et lib. arb. 4: victoria,
ga peecatum vincitur, nihil aliud est, nisi donum Dei, in
so certamine adiuvantis liberum arbitrium. 5: nec
gratla Dei sola, nec ipse homo solus, sed gratia Dei cum
le, — Praed. sanct. 3: nostrum est credere et velle, il-
ins autem dare credentibus et volentibus facultatem bene
sandi per spiritum sancium, per quem caritas diffunditur
a cordibus mostris. — Stellen, in welchen Auguflin theils
um Gemipelagianismnd, theild dem offenen Pelagianier
26 in die Arme zu fallen fcheint, Doch gerade in der
letten feßt er hinzu: verum est quidem, sed eadem regu-
k et utramque ipsius est, quia ipse praeparat voluntatem,
4 utrumgae nostrum, quis non fit sine volentibus nobis,
Nersach ſcheint denn freilich Doch irgend eine Bedingung
m; verlangt werden zu müflen. Aber Augnſtin will
det kineöwegs zugeben, und body fagt er (praed. sanct.
N): Darum erhalten wir diefe Gebote und werben auf
fe ald Gottes Befchente bingewiefen, daß wir erfennent,
fued et nos ea facimus, et Deus facit, ut illa faciamus,
Bolen wir daher Beides vereinigen, fo füme es gerade
krauf au, was {ft Dad quod nos facimus, quod nos ha-
mu? Die Antwort wäre nad; der kurz zuvor anges
führten Stelle das velle. Darunter ift aber dann nicht
"end eine beſtimmte Willensbeſtimmung zu verfichen,
Imdern die allgemeine Möglichkeit des Wollens, daß et
"6 non fit sine volentibus mobis; dieſe allgemeine Moͤg⸗
Aleit des Willens iſt aber zugleich: von Gott; das Be,
mitfeyn, unfere vernünftige Natur, durch bie wir une
m Ihieren und Steinen unterfcheiden, die ift ald Be⸗
Nuyung der Wirffamfeit der Gnade vorauögefegt, aber
Mi nicht vom ums, fondern von Gott, Go if das
6*
88 Bed
Herz, das eben fo gut fleinern feyn kann, als fleifchern,
diefe ganz allgemeine Möglichkeit dee Willensbeftimmuns
gen vorausgeſetzt, ald bad Medium, per quod et in quo
Deus operatur vocatione sua secundum propositum, Praed.
sanct. 8: „Die Gnade, die im Verborgenen durch Gottes
Güte den menfchlichen Herzen mitgetheilt wird, wird von
einem Herzen zurüdgewiefen. Vielmehr, wenn der Bater
innen fich hören läßt und Ichrt, zum Sohne zu kommen,
fo nimmt er das fleinerne Herz und gibt das fleifcherne.”
Daher wird denn hier gerade die Wirkſamkeit der Gnade
aufs höchfte gefpannt, denn „gewöhnlich iſt es zwar feine
Art, wenn von außen das Wort kommt, von innen die
Herzen zu rühren” (Kap. 6.), aber (grat. et corrept. 5.)
„Gott macht bie, welche er will, auch ohne vorangegan:
genen Tadel, d. i. andy ohne die gewöhnlichen Mittel zu
Bekehrten.“ Die beftimmte Willensrichtung kommt fonadı
allein von Bott, der an unferem Herzen, dieſer allgemeinen
Potenz ded Willens, ein Subſtrat feiner Wirkſamkeit ge
ſchaffen hat: grat. et lib. arb. 17: ut velimus, sine nobis
operatur, cum autem volumus, et sic volamus, ut faciamus,
nobiscum cooperatur. Jedoch vermögen wir’ ohne feine
Wirkung oder Mitwirkung in guten Werken der Gott
feligteit nichts, und die Berufung, welche zu Ermählten
macht, hat den Sinn: erwählt wirb man nicht, weil man
glaubt, ſondern damit man glaube (non qui eliguntur, quis
crediderunt, sed qui eliguntur, ut credant), oh. 15, 16.
c) Hat das Bisherige dem Semipelagianismus ent-
gegengearbeitet, fo wird nun dem Synergismus entge-
gengetreten durch die Entwidelung der Präbeflination
zum donum perseverantiae. Zuvor handelte es ſich
von dem Anfange, jeßt von dem Ende des Glaubens.
Beide find zufammengehalten nur durch die göttliche ope-
ratio (corrept. et grat. 7.). Die Erwählten find zweifelsohne
auch berufen, aber nicht die Berufenen darum auch ſchon
erwählt. Daher don. persev. 1: „Unter perseverantia ver-
über die Praͤdeſtination. 85
Rebe ih das Beharren bei Ehrifto bis zum Ende, und
diefe Beharrlichkeit hat weit mehr ein Gläubiger von Eis
um Sabre nnd darunter, wenn er bie zu feinem Tode
getreulich gelebt hat, als der von vielen Jahren, wenn
er kurze Zeit vor feinem Tode von Gott abgefallen ift.”
Kap. 6: „IR aber die Beharrlichfeit gefchentt, fo wird anch
bi6 zum Ende beharrst. Daher: wer durch Gottes Gna⸗
denfülle von der angeborenen Berdammniß auserfchen iſt,
dem wird ohne Zweifel andy die Predigt ded Evanges
linms verfchafft, und, wenn er hört, glaubt und beharrt
er bid zum Ende, und wenn er in ber Irre geht, wird
er durch Züchtigung gebeflert, ja Einige ehren ohne Züch⸗
tigung von Menfchen anf den rechten Weg zurüd, Ans
dere, wenn die Gnade ihnen zu Theil geworben, werden
in beliebigem Alter den Gefahren bdiefed Lebens durch
ſchlennigen Tod entriffen.” Kap. 93): „Denn wer durch
die aflweife Fügung göttlicher Vorſehung vorhergefehen,
werfehen, berufen, gerechtfertigt, herrlich gemadt (Rom.
8.) iR, der ift, ich fage nicht vor feiner Wiedergeburt,
fondern fchon vor feiner Geburt ein Kind Gottes und
kaun durchaus nicht umlommen, und bei ihm wirkt @ott
fo fehr Alled zum Guten, daß, wenn er auch vom rech-
ten Wege abkommt, ſelbſt bas ihm zum Gegen gereichen
muß, weil er jest demüthiger und erfahrener geworben
iR.” Andere freilich gibt ed, welche auch von Gott ber
rufen find, aber wieder abfallen und fomit zeigen, daß
das donum perseverantiae ihnen nidyt geworden. Bei ber
nen wiederholt fich denu bderfelbe Kal, wie oben beim
&) Quicungue enim in Dei providentissima dispositione praesciti,
praedestinati, vocati, iustihcati, glorihcati sunt, non dico,
etiam nondum renati, sed etiam nondum nati, filii Dei sunt
et omnino perire non possunt, atque iis cooperatur Deus in
bovum usque adeo omnia, ut etiam, si qui eorum exorbi-
tant, etiam hoc ipsis faciat proficere in bonum, quia hamilio-
res redeunt atque doctiores.
‘
86 Bei
Sünbenfalle Adam's. Man follte nämlich meinen, fic ha:
ben dad donum nicht, alfo haben fie ed entweder nicht
befommen, dann find fie ohne Schuld, ober fie haben es
nicht behalten, dann ift Gottes Wille nicht erfüllt. Dem;
ungeachtet wirb Beides bejaht: 1) ihre Schuld in der
eben angeführten Stelle: der Tadel trifft fie mit Recht,
weit fie in den guten Leben, das fie hatten, nicht beharr⸗
ten. Sie haben durch ihren Willen ihre gutes Leben in
ein böfes verwandelt, und wenn die Züchtigung fie nicht
beffert, fie vielmehr bie zum Tode im Verderben behar-
ren, fo find fie auch Gottes ewiger Berdammniß werth.
Sie find aber zweifeldohne auch in ber Zeit, wo fie gut
und fromm leben, nicht unter die Zahl der Erwählten zu
rechnen, Vielmehr es gibt Kinder Gottes, welche ed noch
nicht für und und doch fchon fir Gott find, und wieder
gibt ed Andere, weldye wegen der zeitweile erhaltenen
Gnade Kinder Gottes heißen bei und und nicht bei Gott
(vgl. don. persev. 8.). Aber diefe (Kap. 13.) find entlaffen
nach ihrem freien Willen, fie hatten bad Befchent der
Beharrlichleit nicht erhalten, durch ein gerechted und ge»
heimes Gottedurtheil. Denn wiewohl fie dur ihren
freien Willen abgefallen find, fo wird doch 2) Gottes
Ordnung und Wille erreicht. Daß kein Erwählter in
diefer Sterblichkeit naſeweis (altius sapere) werde und
fi) in der Zahl der Verordneten vorausfeße, fo ift, weil
das verborgen bleiben muß, fehr zu glauben, daß Einige
von den Kindern bed Berderbens, ohne Die Gnadengabe
ber Beharrlichkeit bie zum Ende, anfangen, im Glauben
zu leben, und eine Zeitlang wirklich gläubig und gerecht
leben, nachher aber fallen und fo aus diefem Leben, ehe
fie diefed Glück wieder gefunden, weggeriffen werden.
Aber woher die filii perditionis, war doch bisher nur
von gratis und praeparatio gratiae bie Rede! Das führt
auf den weitern Punkt der auguftinifchen Prädeſtina⸗
tionslehre:
über die Praͤdeſtination. 87
2) die Beſchränkung, Partienlarität ber
Gnade. Ans der oben von Anguſtin angeführten Defis
nition ber Prädekination Folgt freilich unmittelbar nur
Eiue Präpdefination, die praedestinatio eleetorum, welche
jngleich praeparatio gratiae if, Aber eben, daß ſich Die
Prädeflination mit ‘den electi befonderd zn thun macht,
fließt auch die Eonfequenz in fich, daß, mit wen ed Die
Prädeflination nicht zu thun hat, ber auch fein eloetus
iſt. Aus der urfprünglich einfachen PYrädeftination hebt
ſich fomit hier eine Zweiheit herand; wenn wir andy nicht
fagen können, die Berworfenen feyen zum Berderben
präbeflinirt, fo doch, fie find es nicht zum Guten. Die
Berwerfung wäre fo dem Principe nach nichts Dofltives,
fondern nur eine Privation. Daher ſetzt Auguſtin den
Grund diefed Mangeld in den Menfchen (praed. sanct. 5.),
amd zwar nicht fowohl in eine befondere Schuld des Ein-
seinen, ale in die Mangelhaftigkeit der durch den Fall
alterirten menfhlihen Natur. Sie if dad Allen
Srmeinfanıe, aber die Prädeflination hebt aus ber Mafle
Einige hervor, und zwar nur Einige. „Wir haben Alles
vom großen Gott, der, wiewohl wir Alle Eine Natur har
ben, uns von ben Audern ausdgefondert hat. Alfo die
Audern läßt Gott eben, wie fie find, an und aber ger
ſchieht durch die Prädeflination etwas Befonderes, denn
die Gnade if das, was bie Unten von den Böen aus⸗
fondert, nichts, was Guten und Böfen gemeinfam wäre,
Mag daher die Gnade and) der Natur zufommen, ver,
möge der wir vernünftige Wefen und von den Thieren
uuterfchieden find, ber Natur, welche unter ben Menfchen
felbR die Schönen von den Häßlichen, die Geiſtreichen
von den Langfamen unterfcheidet, mag der Natur ſelbſt
bie Möglichkeit des Glaubens zukommen, folgt daraus
bean der wirkliche Glaube? Nicht Alle haben Glauben,
während Alle Glauben haben können. Die Natur alfo,
weihe und bie Möglichkeit des Glaubens gibt, macht
88 | Bed
feinen Unuterfchied unter deu Menſchen, aber ber wirkliche
Glaube macht einen Unterfchied zwifchen Gläubigen und
Ungläubigen.” Was alfo der Menfch von Natur bat,
das iſt, wie wir oben gefehen haben, uur bie ganz alls
gemeine Möglichkeit der Willensbeſtimmungen, fo hier bie
reine, abfiracte Möglichkeit des Glaubens, welche aber
zur Wirklichkeit zu erheben nicht in des Menfchen Macht
liegt, Kap. 8: „Der Glaube iſt durchaus von Bott. Wie
wir alfo in aller Unbefangenheit von einem Schulmeifter,
der in einer Stadt allein ift, fagen, er fey für Alle
Schulmeifter, nicht weil Alle lernen, fondern weil Alle
nur bei ihm lernen, fo lehrt Gott Alle zu Chriſtus kom⸗
men, nicht weil Alle fommen, fondern weilNiemand ohne
ihn kommt. Wer glaubt, wenn die Predigt von außen
an fein Ohr tönt, der hört und lernt inwendig vom Bas
ter, wer aber nicht glaubt, hört von außen und
nicht von innen.” Don. persev 14: „Es if Har,
daß Einige in ihrem Geile von Natur bie Gotteögabe
der Erkenniniß haben, bie fie zum Glauben treibt, wenn
fie ihrer Anlage gemäß Worte hören oder Zeichen fehen,
und doch, wenn fie nach dem höheren Richterfpruche Got»
tes durch die Gnade der Verordnung nicht aus ber Maſſe
des Verderbens audgefondert find, fo kommen ihnen
feine göttlichen Worte und Thaten zu Hülfe, durch Die
fie glauben Sönnten, wenn fie foldhe hören oder ſehen
würden.” Go ift denn allerdings die Berwerfung eine
nen-discretio, nur etwas Privatives, nur ein Belaffen
im alten Zuflande, in der massa perditionis. Die Ungläu:
bigen find keine Sudividuen, fie find nur in der Maſſe:
aber — und dieß ift der Punkt, wo die Prädeftinationg-
lehre nun weiter gehen mn, — wie fomnıt ed, daß aus
diefer Mafle Einzelne hervorgerufen werden und doch
nur Einzelne?
In der Mafle fann der Grund nicht liegen, denn fie
ift ungetheilt gleich, alfo muß die Privation, wiedie Her»
über die Präbdeflination. 89
ausſtelang von Bott felber herrähren. Allerdings if
eine lniverfalität der Erlöfung vertündbigt (1 Timoth.
2,4.), aber diefe ift ja nicht wirklich ba, daher kaun nad
Ssguflin (corrept, et grat. 16.) omnes homines nur bedens
is, quia omne genus hominum in praedestinatis sit. Die
Usiverfalität iR nur potentiell, wie die possibllites cre-
dendi, aber actuell ift nur die Particularität — und bad
sah Gottes Willen. Diefen Widerſpruch fucht Auguflin
auf eine zweifache Art audzugleichen, die allerdings, in
die Conſequenz verfolgt, ſich gegenfeitig nur widerfpre:
den Tann. 1) Der Eine Grund ift das Verhältniß
der göttlihen Gnade und Gerechtigkeit Ccor-
rept. et grat. 10.). Bliden wir anf das ganze Menfchenges
ſchlecht, fo erfahren fie das gerechte Bericht Gottes, von
Adam's wegen. Darum, würde auch Keiner befreit, fo
kömte doch Riemand das gerechte Gericht Gottes tadeln.
Daß alfo im Bergleiche zu den Umkommenden Wenige,
au ſich aber Viele befreit werden, ift Önadenfache, Daß
fe aber nicht Allen zu Theil wird, braucht den Glaͤubi⸗
gen nicht zu irren, der da glaubt, daß von Einem Ale
in die zweifellos gerechtefte Verdammniß gerathen, fo
da Gott kein gerechter Tadel träfe, auch wenn Keiner
befreit würbe, woraus hervorgeht, wie eine große Gnade
6 iR, Daß Biele befreit werden und an den Einen, die
nicht befreit werden, zu feben iſt, was ein Jeder vers
diente.” Daher (praed. sanct. 6.) hören Biele dad Wort
der Wahrheit, aber die Einen glauben, die Andern wis
berireben. Die wollen alfo glauben, die nicht! Wer
wollte bad lenguen? Aber wenn den Einen der Wille
von Bott anbereitet wird, den Andern nicht, fo zeigt fich
Getted Barmherzigkeit und Bericht, Barmherzigkeit in
der Ermwählung, weldye auf das Gericht Gottes gefolgt
#, das Gericht Gottes gegen die Uebrigen, welche ver:
dlendet find; und doch haben jene, weil fie wollten, ges
Haute: Barmherzigkeit und Bericht wurden alfo ag dem
[4
90 Bed
Willen ſelbſt geibt.” Dieß fcheine num freilich ber Büte
Gottes, in welcher beide Eigenfchaften eins feyn mäflen,
zu wiberfprechen. Allein (don. persev. 11. 12.) benus est
Deus in beaeflcio certorum, iustas in supplicio cete-
rorum, et bonus in omnibus, quoniem bonum est, cum
debitum redditur, et iustus iu omnibus, quoniam iustum
est, si bonum sine ouiusquam fraude donatur. Nam sine
utlie bonis meritia datur regaum, quibus datur, et sine
ullis malis meritis non datur, quibus non da-
tur. Kap.8. bei Bergleihung von (Matth. 20.) dem Gleich⸗
niffe von den Arbeitern im Weinberge: „So war gegen
die Einen feine Gnadenfülle, daß fie gegen die Andern
feine Ungerechtigkeit il; wer befreit wird, verehre die
Gnade; wer nicht befreit wird, erfenne die Schuld. Denn
mögen auch bei dem Ermählten fogenannte eigene Ber:
dienfte vorhergehen, fo -hat er fie Doch in der Negel mit
dem, deſſen ſich Bott nicht erbarmt, gemein (tamen
sunt cum eo, cuius Deus non miseretur, ple-
rumque communia). In ben angefirichenen Stellen
it des Anguſtin Anficht befonderd unzweideutig ausge⸗
drückt. An fi find Alle einander gleich in der masse
perditionie. Auch ihr Verdienſt oder Nichtverbienft if
gleich. Aber die Prädeflination macht einen Unterſchied:
certos discernit, liberat, iis dat, eorum miseretur; ceteros
non discernit, non liberat, ils non dat, eorum non misere-
tar. Im Letzten zeigt ſich die reine Gerechtigkeit, im Er⸗
fien die reine Gnade. Hier nun freilich erheben fich zwei
Fragen: einmal, warum denn müſſen Gnade und Gerech⸗
tigkeit getrennt ſich offenbaren? Dieß fleht dem Auguftin
ald Grundfag feft, wenn er fidh auch einmal (de. civitate
Dei 22, 1,5 fiehe bei Baur, Trinität 1, 929.) die Mühe
nimmt, bieß aus der beflimmten Zahl von Engeln, unter
denen die Gefallenen ergänzt werden müflen, zu deduci⸗
ren. Die zweite Frage aber, die von ben Präamiſſen
Augußin’s felbft ausgeht, ift die: gefegt auch, Gnade und
über die Praͤdeſtination. 9
Gerechtigkeit müflen getrennt operiren, welches if denn .
ver Grund für die Praxis der Unterfcheidung, der Maps
ſab, nah welchem Gott bei der Ausfonberung oder
Kihtandfonderung zu Werke gebt? Diefe Yrage, die ſich
smittelbar aus dem Syſteme erhebt, muß beantwortet
werden, und bier hat nun Auguflin neben dem Berhälts
niſſ der göttlichen Gnade und Gerechtigkeit einen tieferen
Grund bereit in der 2. Antwort, nämlich dem verbors
genen Rathfchluffe Gottes. „Da fage ich nichte
auf die Frage, warum? weil ich befenne, keine Antwort
is finden. Fragſt Du wieder, warum? Weil in Diefer
Cache wie Gottes Zorn gerecht, feine Barmherzigkeit
greß, fo feine Gerichte unerforfchlich find.” Diefed uns
aferfäliche Gericht Gottes iſt denn an gar vielen Stels
lea (vgl. corrept. et grat. 5. 8. praed. sanct. 6, 8, 14. don.
peruer. 8. 9. 11.) Die ultima ratio geblieben. Zwei mögen
oh bier fliehen (don. persev. 14.): „Soweit er es der
Nihe werth hält, feine Gerichte zu offenbaren, wollen
wo danken, fo weit, file zu verbergen, wollen wir nicht
wen feinen Rathfchluß murren, fonbern auch das uns
fir dad SHeilfamfte achten.” Die allgemeine Norm des
göttlihen Weſens wird aber alfo aufgeftellt (grat. et lib.
ab. 22,): „Bott mag Böfes mit Gutem vergelten, weil
er gut ik, und Gutes mit Guten, weil er gut und ger
sch if, Nur Gutes wird er mit Böſem nicht vergelten,
weil ernicht ungerechtift.” Es ift nunaber unfchwer einzufes
ben, daß die beiden von Auguſtin für Die Nothwendigkeit einer
particularen Gnade angefiihrten Gründe einander aufheben.
I der tiefſte Grund die Unbegreiflichleit Gottes, fo fann
man auch nichts von feinem Weſen wiflen, alfo insbefons
re nichts von der nothwendigen Beboppeltheit und Ge⸗
thelltheit feines Willens in Gnade und Gericht. Umge⸗
Ihrt, hat man Bnade und Gericht ald zwei nothmendige
Ienfernugen des göttlichen Willens confiruirt, fo muß
Anm im Syſteme aud eine Einheit zu Grunde gelegt
t
>
92 | Dee
werden; dieß aber kann nicht die Unbegreiflichkeit Gottes
ſeyn, ein Grund, der vielmehr fein Grund ift, fonbern
eine Vorausſetzung. 2
Als ein Beweis, daß der Widerfpruch nur ſtatuirt,
nicht in einer Spitze gelöft ift, erhebt fi nun aber die
weitere Frage: Dad Gericht, wenn auch nur eine privatio,
fegt immer doch das Böfe voraus. Woher nun, da der
Wille Gottes der letzte Orund if, woher dad Böfe in
feinem Anfange und Beltande? Wie-fann Gotted Ge»
rechtigfeit fich darin zeigen, daß er dem Böfen, dad doch
eben Gegenftand feiner ftrafenden Gerechtigkeit iſt, durch
fein Gericht Beſtand gibt, daß er ed durch die Guade
nicht aufbebt? Es ift dieß die fchwierige Frage von dem
Verhältniffe der Prädeſtination zudem Bö⸗
fen, deren Löfung Auguftiin noch unternehmen muß.
Aber and, hier kann ihm die Antwort nicht fchwer wer⸗
den, denn, wenn auch mit Einfchiebung von Mittelglies
dern, langt er doch wieder bei der abfoluten Vorausſe⸗
«ung eines alternum Dei decretum, eined uubegreiflichen
göttlichen Willensbefchlufled an. Und zwar in folgender
Weife: 1) Gott kann nicht Urheber des Böfen feyn, ſon⸗
bern bie @inzelnen fallen durch ihren Willen, aber Gott
hat ihren Fall vorausgeſehen (corrept. et grat. 7.).
2) Aber der menfchliche Wille wird fchon wieder vernichs
tet (grat. etlib arb. 20.). „Es ift klar, daß nicht bloß der
gute Wille der Menſchen, weldye Bott aus Böfen zu Bus
ten macht und zu guten Handlungen, fo wie zum ewigen
Leben lenkt, fondern auch ber, weldyer die Ereatur der
Welt bewahrt (quae conservant seculi cresturam), fo in
Gottes Hand fteht, daß er fie, wohin und wann er will,
binneigt, fey es zu einigen Butthaten, fey es zu Strafen
gegen Dritte, wie er es für gut findet, nadı feinem ver-
borgenften, aber zweifellos gerechteften Urtheile.” Hier
tft nun freilich noch davon die Rede, daß die voluntates
. Ipsae conservent seculi creaturam; wenn alfo and, gleich
über die Praͤdeſtination. 93
die Creatur unfreiwillig über fie gelommen wäre, jo find
fe es doch noch, die mit eigenem Willen darin bleiben,
ud wenn fie nun in ber Sündhaftigkeit beharren, fo
ſeht Anguftin bei: wir finden auch, daß einige Sünden
Strafen anderer Sünden find. Aber woher nun wies
ber diefe Sünden? 3) (Corrept. et grat. 20.) „Gott
wirft, was er will, in den Menfchenhergen, fey’s durch
Beiſtand, fey’S durch Bericht, fo daß auch Durch die ers
fült werden muß, was feine Hände und Rathſchlüſſe
verordnet haben.” Alſo fcheinen auch die Böfen und dad
Böfe unter die Prädeftination zu fallen. 4) Da erhebt
ih aber nun Die obige Lnterfcheidung von permissio und
maedestinatio: „In der Böfen Macht flieht zu fünbigen;
daß fie aber im Sündigen durch ihre Boshelt das oder
jenes bewirken, ift nicht im ihrer Hand, fondern in ber
Hand Gottes, Der die Finſterniß vertheilt und orbnet, fo
daß auch durch das, was fle gegen Botted Willen thum,
nichts als Gottes Wille erfüllt wird.” Wir hätten fomit
Kifunkte zu unterfcheiden: 1) die praevisio, vermöge wels
her Gott die Höfen Thaten vorausfieht; 2) die Lenkung des
Ben zum Guten und zur Ordnung, ordinatio; 3) die
&duratio, weiche das Böfe zur Strafe des Böfen ſetzt.
Nun aber kommt Alles darauf an, wie fich bie prae-
sie zur menfchlichen Freiheit ftellen fol, Gott foll die
freien Handlungen der Menſchen vorausfehen; wenn bie
einzelnen, fo auch diefelben im Ganzen: alfo die gefammte
Tatwidelung eined Willens fällt unter das göttlihe
priescire, eine folche Entwidelung aber hat eine innere
Rethwendigkeit des Berlaufs, diefe muß alfo Gott auch
verherwiſſen. Warum nun, wenn fie böfe ſeyn wird,
wird fie von der Gerechtigkeit Gottes zum voraus zus
segeben? Gnade aber fann doch das auch nicht feyn,
nas durch ein zeitliche® Leben hindurch zum ewigen Tobe
fibrt, „Bott wählt, welche er will,” — wirb und bier
Algeguet, denn durch ihren eigenen Willen hätten fie
27
94 Bed
Heil und Gnade nie erlangen können, fie waren ja zwar
frei im Sinne bed aeguilibriam arbitrii, aber moraliſch
unfrei, servi peccati. So find aber Alle, und geſetzt, fie
‚haben die Gnade nicht gewollt, fo war ja das nur ber
Lauf der Natur, der eine durch Sünde verborbene Frei
heit zur Sünde treibt. Anders kann fie ja nicht, wenn
fie nicht von Bott unterffübt wird; warum alfo wurde
fie von Bott nicht unterſtützt? Iustissimo iudieio! lautet
die Antwort, Sey's fo! aber im Menfchen felbft liegt ja
fein Grund, der ihn von Anderem unterſchiede. Wir find
alfo als auf die wahre Urſache wieder auf den verbor-
genen Rathſchluß Gottes zurüdgetrieben. Doc zuvor
noch Eine! Corrept. et gratia 10: lapsum Deus sic ordine-
vit, ut prias ostenderet, quid posset hominum liberum ar-
bitriam, deinde quid posset suae gratiae beneflcium. Die
Sünde muß alfo im Sinne Gottes, der die Schatten ver»
theilt (dividentis tenebras), vorangehen, um bie Gnade in
helleres Licht zu ſetzen. Fällt fo nicht auf Gott ber
Schein: Laffet und Sünde thun, auf daß Die Gnade defto
mächtiger werbe? Denn hat Gott vorausgewußt, daß
die menfchlidhe Freiheit nichtd kann, und hat er den Men:
then doch in die Lage gefeht, von feiner Kreiheit Ger
brauch machen zu follen, fo kann die inteflectuelle und
moralifche, die mittelbare Urheberſchaft nur anf Gott zus
rüdfalen. Wie aber das mit dem Weſen Gottes verein.
bar, das liegt eben im verborgenen Rathſchluſſe Gottes
begraben, und der iſt denn der Schlußftein, welchen das
Syſtem ſich ſelbſt gefegt hat. Offenbar aber wäre es
weit zweddienlicher gewefen, benfelben, wie er eine Bor:
ausſetzung ift, zur Borausfegung, flatt zum Schluſſe des
Syſtems zu machen. So hätte wenigftens die Halbheit
unterbleiben müflen, welche wir bei Auguftin noch bemer⸗
ten, nnd welche einerfeite in dem ſchwankenden Begriffe
ber Freiheit hervortritt, die einmal pelagianifch, das an»
dere Mal als Linfreiheit gedacht wird, anbererfeitd zwi⸗
über die Praͤdeſtination. 95
ihen Infra⸗ uud Supralapſarismus nicht entfcheidet und
fo in deu Mittelbegriffen der Zulafinng, permissio and
praevisio, die legte Erklärung nur verfudht =).
1. Calvin.
Diefe Mängel und Halbheiten des auguftinifchen
Syſtems hat nun eben Galoin zu vermeiden geftrebt, in;
dem er ein Princip voranftellte und mit feier, eifer
2) Unter den Verhandlungen bes Mittelalters ſey nur des gott»
ſchalkeſchen Streites mit Wenigem erwähnt. Die Son»
fequenz einer doppelten Präbeftination wurde bald auf augu⸗
ſtiniſchem Boden gezogen in ber Schrift des ungenannten
Berfaſſers, Praedestinatus. (Muͤnſcher, Dogmengefchichte 1,
415.). Auch fpäter, während ſich die Kirche auf die andere
Seite, zum Gemipelagianismus, binneigte, hatten Beda unb Als
kuin, befonders aber Iſidor von Sevilla (Münfdyer 2, 121.) die
doppelte Präbeftination feflgehalten: gemina praedestinatio sive
electorum ad reguiem, sive reproborum ad mortem. Dieß war
aun eben der weſentliche Inhalt der gottſchalk'ſchen Lehre
(Binfcyer 2, 122.), propter praescita certissima ipsoram pro-
pris fatura mala merita praedestinasse in mortem merito sem-
piternam, nur daßer fi (vgl. Strauß, Blaubenslehre 2, 248,)
mit den praescita mala merita auf den unmittelbaren augus
ſtiniſchen Standpunkt zurüdzuziehen fuchte, wohin audy der fols
gende Unterfchteb gehört: (iis) perennem merito praedestinasti
mortem et eos dem similiter praedestinasti ad eam: quia ni-
mirum sine causa et ipsis praedestinasses mortis aeternae
poenam, nisi et ipsos praedestinasses ad eam. Gottfchalf
wurde verdammt, ein Opfer, wie neuere Geſchichtſchreiber fagen,
nicht fowohl des Semipelagianismus, als der Politik. Beine
Anfit rief übrigens eine Maſſe Gegenſchriften hervor , woruns
ter aud) die von Scotus Erigena, aus ber wefentliche Ideen
bei Schleiermacher wieberlehren und beren ausführliche Dars
Rellung fiehe bei Baur, Dreieinigkeit und Menſchwerdung 11,
2365-344. Der Grundgedanke war: es gibt überhaupt gar keine
(befondere) Yräveftination: praedestinando voluit, volendo prae-
destiaarit. Dieſe Anficht fand jedoch nicht weniger Siderſpruch,
als die, gegen welche fie gerichtet wer,
96 Bed
ner Eonfequenz durchführt. Eben das absolutum Dei.de-
cretum iſt, was wir bei Anguftin vermißten, für ihn ber
Ausgaugspunkt; freilich hat er gegen bie Härten feiner
Conſequenz als letzte Zuflucht nur den unbegreiflichen
Willen Gottes, aber dieſer ſteht nicht, wie bei Auguſtin,
iſolirt, ſondern im Zuſammenhange mit dem Principe,
indem er ſich von einem einzelnen verborgenen Willens⸗
acte Gottes zu dem abſoluten Weſen Gottes an ſich er⸗
hebt und dieſes zum Mittelpunkte ſeiner Theorie macht.
Angufiin’d Lehre hat ihren Ausgangspunft im zeitlichen
Acte des Sündenfalld ald einem Markſtein in der Ent
widelung der menfchlichen Kreiheit. Aber Calvin geht
ius außerzeitlihe Seyn Gottes zurüd, Die Grundlage
der auguftinifchen Theorie ift die menfchliche Erbfände,
bie der calvinifchen die Lrfreiheit Gottes. Hieraus
geben fogleich die wichtigften Momente ihrer Differenz
hervor. 1) Es handelt fich hier nicht fowohl um dad Bers
haltniß des heiligen Gottes zum fünbigen Menfchen, ale
in der hödhften Spige um das Verhältniß des abfoluten
Geiſtes zur endlichen Creatur. 2) Die Prädeftination tritt
nicht erft nad) dem Falle ein, um einen Theil der Men⸗
fhen zum Heile zurüdguführen, fondern bie Präbdeftina-
tion erftredt fi von Uranfang auf das ganze menfchliche
Geſchlecht und die ganze Idee feiner Entwidelung; da⸗
rum ift fie eine zweifache, eine zum Leben und eine zum
"Tode. Aus dem abfoluten Weſen Gottes folgt nämlich
zunächft die Abfolutheit feines Willens, und weil Zufäl«
ligleit eine Unfreiheit it, fo handelt es fich alfo um die
innere Freiheit nnd die eben wegen biefer Freiheit noth⸗
wendige Geltung des göttlihen Willens.
1) Der göttlihe Wille in feiner Abfolute
heit und Nothwendigfeit. Die Sachlage bezeichnet
Calvin in der defensio contra calumnies Alb. Pighii (ed.
Gallasius 1552) p. 281. alfo, indem er fidh der Meinung
feiner Gegner gegenüberflelt: „daß Bott in unwandels
⸗
uͤber die Praͤdeſtination. 97
varemı Rathſchluſſe ohne Unterſchied Alle zum Heile ges
ſchaffen habe. Aber, da er Adam's Abfall vorausgeſehen,
Io habe er, ums nichts deſto weniger die Erwählung ſtark
ud feſt zu machen, ein Mittel angewandt, bas Allen ges
menfom ſeyn ſollte. So fen in Ehriftus gegründet die
trwählung ded ganzen Menfchengefchlechts, daß Niemand
srioren werde, der nicht durch feine eigene Halöftarrig-
leit ich aus dem Buche des Lebens ſtreiche. Wieder aber,
de Bett vorausſah, daß Einige bis zum Ende in Boss»
heit and Beradktung der Gnade beharren werden, fo habe
er durch dieſes Vorausſehen fie ausgefchloffen, wenn fie
uht weile werden. Ja um dentlich zu zeigen, baß bie.
merisie Gottes der Freiheit nicht im Wege flehe, neh⸗
ara die Gegner dDieargutia auf, ale hätte Gott, was ihm
om Anfang bekaunt, nicht vorausgeſehen als zufünftig,
Iadern ald gegenwärtig, kraft eines intuitiven Wiffens.”
— Diefer gegnerifchen Meinung gegenüber entwidelt nun
Gin die feinige kurz in folgender Stelle des der Prä⸗
Veiaation befonderd gewibmeten Consensus Genevensis
u Infelben Ausgabe des Gallafine) ©) p. 907: „Bott habe
’ Anfang, da noch der Menfch in Unfchuld lebte, bie
3ahuft befchloffen, und wähle jebt aus ber verborbenen
Bafe die, welche er erwählt.” Man wandte Mn ein,
at ſolcher ewiger Rathfchluß Gottes habe etwas Schauer:
ie, als ein graufamer Act der Tyrannei. Dagegen
behanptet er in ber Art des Duns Scotus feine wefentliche
Ierseruäuftigkeit und Gerechtigkeit in der Institutio
i religlonis (ed. Tholuck.) 3, 23: „Gottes Wille
Rfo ſehr Maßſtab der höchſten Gerechtigkeit, daß, was
mil, nur allein wegen feined Willens für gerecht zu
— —
) De aeterna Dei praedestinatione, qua in salutem alios ex hu-
ainibus elegit, alios suo exitio religuit, item de providentia,
ga res humanas gubernat. — Der Iepte Zufag iſt für Galvin's
heerie charakteriſtiſch.
Stud. Jahrg. 1847, 7
98 Bed
halten if; fragt man alfo: warum thut der Herr alfo?
fo muß man antworten: weil er gewollt hat; fragt man
weiter, warum er gewollt hat, fo will man etwas wiſſen,
dad über Gottes Willen hoch erhaben hinaus liege, und
das gibt es nicht. Doch bringen wir darum nicht bie
Erdichtung auf von der abfoluten Wacht, vielmehr be
baupten wir nur, fie fey der Vernnuft keine Rechenſchaft
fehuldig, wir ſeyen die Richter nicht.” Calvin werwahrt
fi) zwar hier ausdrüdlicd; gegen dad commentum alwolatse
potentiae, aber nad) dem Zuſammenhange gilt die Verwah⸗
rung nur der Macht einer ſchrankenloſen, nicht überver:
nünftigen, fondern unvernünftigen WBilllür. Dagegen
‘erhebt fih eben Calvin von dem Begriffe der abfolaten
Erhabenheit und Gerechtigkeit Gotted auf jede Art gegen
die Begriffe bloßer Zulaffung und Vorher
fehbung. „Da der Wille Gottes weit über alle Ber
nunft erhoben uud mit feiner Macht im Zuſammenhang
tft, fo ift der Begriff der Zulaſſung, mit dem man ge
wöhnlich Gottes Sache führen will, nur eine gar zu
frivole und eitle Erdidtuug. Denn (Cons. Genev, 900.)
die Langmuth iſt mis Der AUmacht vielmehr in Verbin
dung zu feßen, fo daß Gott wicht bloß zulaͤßt, fonbern,
was geflhitht, durch feine Kraft lenkt.” „Bon Borfehung
fann nur Die Rede feyn, nicht ale ob 936.) Bott mäßig
drein ſchaute aufbas, was in ber Welt gefchteht, fondern,
fo, daß er die vom ihm gefchaffene Welt regiert; im der
Art iR er nicht bloß dee Werkmeiſter eines Aug eublicks,
fondern der ewige Regent, die Borfehang bezieht ſich
ebenfo auf die Augen, wie anf bie Hände” So fireitet
Calvin im Intereſſe der Immanenz gegen jede Trans⸗
ſceudenz einer bloß beiftifchen Lenkung, wie einer theifti-
fchen Zulafiung.
Damit hat er aber auch die Löfung des Räthſels
übernommen, welches auf jeber immaneuten Weltbetrach⸗
tung mit befonderem Nachdrucke ruht, der Frage: wie
über die Prädeflination. 99
daun mit ſolcher Nothwendigkeit die menſchliche Kreis
heit deſtehen? Er unterfcheidet in dieſer Beziehung
wilden Nothwendigkeit und Zwang, necessitas und coactio.
heit. IH, 2, 7: „„Sreier Wille wird dem Menfchen nur
ageſchrieben, nicht weil er die Wahl zwifchen Gnt und
dis gleich frei hat, fondern weil er das Böfe mit Wil:
kn that, umd nicht mit Zwang. Eine treffliche Freiheit
fürwahr, wenn der Menfch, der nicht zur Sünde gezwun⸗
gen iR, mit freiem Willen fich hergibt, den Willen in die
Feſſeln der Sünde fchlagen zu laſſen.“ Solche Freiheit
lang aber keineswegs die ‚göttliche Nothwendigkeit aufs
hen (II, 23, 6.); denn auch dem Böfen, das er vorher»
iah, fonnte Gott begegnen, wenn er wollte; da er es aber
siht gethan, fo hat er mit beftimmtem Rathſchluſſe Die
Renſchen gefchaffen, daß fie fih auf Erben alfo beneh⸗
ne. I, 4, 3: Es heißt allerdings gar oft, Bott habe
den Menfchen verfiodt und verblendet; natürlidy ba nach
kitziehnng feine® Lichte nur Finſterniß und Blindheit
ihn bleibt, da durch Wegnahme feines Geiſtes unfere
Sam ju Stein verhärten, da es mit dem Anfhören fei⸗
m denkung nur ſchief geht, fo heißt ed mit Recht, er
serhlende, verſtocke, fälle die, denen er das Vermoͤgen zu
khen, zu gehorchen, recht zu thun entzieht. — Wie fo
die nenſchliche Freiheit mit Gottes Regierung zufammens
kfleht, davon tft das befte Beifpiel der erde Sünden
fall MI, 23, 7: Unlengbar hat Gott vorausgeſehen,
weihen Ausgang der Menfch nehmen werde, ehe er ihn
Maf, und hat es darum vorausgefehen, weil er es in
ſeinem Rathſchluſſe fo geordnet hatte. 8: Der erfte Menfch
8 gefallen, weil es der Herr fo für gut gehalten hatte,
(dit homo Dei providentia sic ordinente,
rd suo vitio cadit. Durch feine eigene Bosheit hat
A die vom Herrn empfangene Natur mit fich ind Ver⸗
krden geriffen. Dieß wird weiter (Consens. Gener. 904.)
It vermittelt: Der Menſch war bei ber erften Schöpfung
7*
100 Bed
in einen foldyen Stand gefeßt worben, daß er durch feir
nen freiwilligen Fall felbft der Grund feines Verderbens
wurde, und doch war es im wunberbaren Rathſchluſſe
Gottes fo geordnet gewefen, daß biefer freiwillige Sturz
für das ganze Menfchengefchleht und alle Nachkommen
Adam’s ein Gegenſtand der Demüthigung würde, Denn
auch, wenn ed Gott fo für gut gehalten, läßt ſich darum
doch nicht fagen, der Menfch habe fich nicht freiwillig
ind Berderben geſtürzt, er, der doch fonft eine gute Ratur
erhalten und nach Bottes Bild gefchaffen war, — reis
heit ift alfo hier nur Freiheit von äußerem Zwange und,
wie Calvin befiimmt erflärt, fehr zu unterfcheiden von
der inuern Willensfreiheit, welche aus ſich die Wahl zwis
fchen Gut und Bös vollzieht.
St aber fo Alles durch den realen Willen Gottes
georbnet und auf diefen zurüdzuführen, fo fcheint Calvin
der Gonfequenz nicht entgehen zu können, daß ber Urs
fprung des Böfen auch in Gott zu feßen fey. Hier
ift nun 1) die nädıfle Entgegnung aus dem Borangehen,
den zu entnehmen, daß Gottes Wille die Zurechnung
des Einzelnen nicht aufbebt. IE, 1, 6: Die Natur ift von
Gott gut gerichtet, aber von Adam verfchlimmert. Cons.
Gener. 932: Adam mag procefliren, wie er will, er fev
durch die Reize der ihm von Gott verliehenen Frau ber
firidt worden, inwendig wird ſich Doch das töbtliche Gift
des Unglaubens, inwendig Ehrgeiz, der fchlechtefte Rath:
geber, inwendig die teuflifcdye Geißel der Kecheit vorfin⸗
den. Es iſt demnach (945.) zwiſchen einer entfernten und
nächſten Urſache zn unterfcheiden, und wenn auch das
Böfe von Bott geordnet ift, fo fagt doch Jedem fein
Gewiffen, daß er die Schuld feiner Sünde trägt (915:
ad reatum satis superque voluntarius transgressus sufficit),
und man hat durchaus feinen Grund CI, 18, 4.), bei Gott
praeceptum und voluntas identifch zu nehmen, Aber Bie:
led heißt ja von Gott georbuet und wirb von den Pros
*
über die Praͤdeſtination. 101
pheten geweiffagt, was doch den Geboten Gottes entges
gen iſ! 2) Damit fommen wir auf die objective
Brite der Frage und Calvin gibt eine doppelte Antwort:
ı) Inst. I, 18,2: Der Menfch, von Bott getrieben, treibt
glei ſelbſt. Darum aber gibt es keinen Widerſpruch
zad feine Beränderung in Gottes Willen, oder eine Vers
kelung, als wollte er nicht, was er doch will; vielmehr
der Wille iſt in ihm Eins und einfach, aber und erfcheint
ea mannichfaltig, weil wir mit unferem fchwachen Mens
ſchenverſtande nicht faffen können, wie eins und daffelbe
anf verfchiedene Weiſe in Gotted Wollen und Nichtwol⸗
in könne begründet feyn. H, 4, 2: „Daſſelbe Wert ift,
wie wir fehen, Gott, dem Satan und dem Menfchen zus
sefhrieben. Aber die Berfchiedenheit in Zweck und Art
saht, daß hier ohne Schuld Gottes Gerechtigkeit her»
verlenchtet und bes Satan und des Menfchen Bosheit
um Borwurfe fich verräth.” Der Sinn diefer Argumens
tatien if} offenbar diefer: Bei jeder einzelnen Handlung
Keine doppelte Betrachtungsweife zu unterfcheiden, die
erihliche und bie göttliche. Was nun aber fo für die
aılne Handlung gilt, das muß b) auch von der ges
hunten Entwiclelung behauptet werben. Consens. Gener.
6: „Ein Fürſt wird Lob finden, der in gerechtem uud
ichtmäßigem Kriege Gewalt, Raub und Plünderung von
einem Gebiete fern hält. Indeſſen wird er viele Soldas
im bewaffuen, welche, blutdürſtig und zu jeder Art von
Atehheit aufgelegt, gewiß fein Lob verdienen. Ober.
hei andere Heere fchlagen ſich; flieht man bei dem Feld⸗
herrn, der den Befehl in der Schlacht führt, auf feine
tchte Geſinnung, fo muß man ihn, ift er auch ein Sterbs
her, doch freifprechen, während man die Krieger vers
mt, die, Menfchen zu würgen, um nichtöwürdigen -
kehn ihre Hände hergeben. Gott aber, weil er durch
ka Satan wirkt, will man das Lob der Gerechtigkeit
atziehen. So iſt's freilich, daß Nebel, welche die Erbe
102 Bel
ausbünftet, ber Sonne Blanz verdunkeln, fo daß er wicht
bis zu den Augen der Menfchen hindurchdringt. Dennod
bleibt die Sonne nichts deſto weniger Teuchtend; fo Felt
des Menſchen Eitelfeit viele Dünfte in den Weg, bie deu
Aublick der göttlichen Billigkeit hindern, während biefe
felbft ungelegt bie alte bleibt.” Bleiben wir bei dieſen
Gleichniſſen fiehen, fo ift der Hauptnuterfchieb zwifchen
Gott und dem angenommenen Feldheren der, daß dieſer
möglicherweife fiegreiche Feinde mit ihrer Macht ſich
gegenüber hat, Gottes Allmacht aber ihren Rathſchluß
durchführen kann, wie Calvin felbft fagt (939.): inserdam
vel sine mediis, vel contra media Deus agit. Der Kürft ifl
an gewifle Brenzen feiner Macht und an die Schranken
der Nothwendigkeit gebunden. Gott könnte fomit dad
Böfe verhindern, der Fürft nicht, Gott Fönnte es ver
hindern, wenn ed nothwendig wäre, aber — dieß ift das
Entfcheidende — für göttliche Betrachtung ift das Böſe
nur vapor, nur vanum hominum figmentum. 947: „Wie it’
denn möglich, daß Gott ſich ewig gleich und auch in feir
ner Schattirung mwandelbar feyn fol und doch etwas ans
‚ ders will, ald was er öffentlich zeigt? ‚Antwort: das iſt
fein Wunder, wenn Bott im Geſpräche mit Menfchen ſich
an ihr kleines Mäßlein Cmodula) anbequemt. Es if
wahr, er will baffelbe, wie die Verbrecher und Verworfe⸗
nen, aber in verfchiedener Art. So ift jeßt feilzuhalten,
was den Scheine nach verfchieben, fey doch in gleicher
Art Gegenftand feines Wollend.” Hierin liegt ausgefpro-
chen: 1) Bott will das Böfe, aber nicht al& Boͤſes; 2) was
und, humano modalo, als böfe erfcheint, tft ed, nach gött⸗
lichem Maße gemeffen, divino modo, nicht. Für die abs
folute Betrachtung ift das Böſe nur ein Dunft und Re
bel, und Calvin nimmt gern (940.) des Auguſtin Meinung
an, wenn fie auch Vielen als Spikfindigkeit erfcheinen
möge, quodsi Deum spectes , in malo nihil esse positivum.
Denn, wie er felbft fagt (942.), die Hauptfache, aufwelde
über bie Präbeflination. 103
Alles hinauskommt, ik, wenn gleich die Dienfchen wie
wilde Thiere ausſchlagen, fo werden fie doch durch ben
geheimen Zügel alfo gelenft, daß fie nicht einmal. einen
Finger bewegen können, außer im Dienfte der göttlichen
Hoheit. |
2) Die Brädeflination in ihrer zweifachen
Erweifung. Hier ind wir deun wieder bei dem Bes
griffe angelangt, von dem wir andgegangen find. Die
Abfolntheit des göttlichen Willens ift das Einzige unb
Alles iſt nur da ad exequendam Dei maiestatem. Gie ift
der Grundbegriff, auf den alle Fäden zurückführen, der
Mittelpuntt, von dem die ganze Betrachtung ausgeht,
und damit bad PBrincip der Präbdeftination. 902: Wenn
gleich Bott Niemandes bedarf, fo ift ed doch ein thörichter
Schluß, er habe keine Rüdficht auf ſich gehabt, den Mens
ſchen zu feinem Ruhme zu fchaffen, umd diefer Ehre hat -
ex feine Geſchöpfe gewürdigt, "daß er ihnen den ausge:
zeichneten Stempel feines Ruhms aufgedrüdt hat. Calvin
seht fo nicht auf einen Punkt in der Zeit zurück, wie ber
adamitiſchhe Suͤndenfall, ſondern anf die Schöpfung felbft,
und betrachtet das außerzeitliche, das abfolute Berhälts
niß des Schöpfers zum Geſchspfe. Wird nun Diefes metas
phyſiſche Verhaͤltniß genauer entwidelt, fo kommt ber
Unterfchted zur Sprache zwifchen praescientia und
praedestinatio, weldhen Auguſtin vorangeftellt, in
welchem fi aber eine merkwürdige Differenz Calvin's
von ihm offenbart. Das gibt auch er zu, daß Präfcienz
ein weiterer Begriff it, ald Prädeftination. Wenn aber
Angufin die Präfcienz auf ale Menfchen fich erfireden
ließ, Ente und Böfe, und die Präbdeftination auf die Er⸗
wählten befchräntt, fo dehnt Calvin bie Präfcienz auf die
ganze Welt aus in ihrer Geſammtheit und die Prädeſti⸗
Miien bezieht er anf alle einzelnen Menfchen. Der Maß
hab ik fo ein metaphyflfcher, das Verhältuiß des End⸗
lien zum Abfolnten, der Belt zu Gott, nicht der morar
104 Bed
Lifche, nicht das Berhältnig des Sündlichen zum Heiligen
und Gerechten. Ä
Ueber dieled Berhältnig von Präfcienz und Präde⸗
flination it nämlih die Hauptfiele 111, 21, 5: Wird
Gott Borhermwiffen zugefchrieben, fo heißt das, Alles
fey immer geweſen und müfle immer bleiben unter feinen
Augen, fo daß für feine Kenntniß keine Bergangenheit
oder Zufunft gelte, fondern Alles gegenwärtig fey und
zwar in der Art, Daß er nicht bloß eine Einbildung nach
Ideen hat, wie und die Dinge vorſchweben, die wir im
Gedächtniſſe haben, fondern daß er fie gleichfam vor fich
wahrhaftig anfchaut und erblickt, und dieſes Vorherwiſſen
ift auf den gefammten Umfang der Welt und anf alle
Gefchöpfe ausgedehnt. Verordnung, Prädeltination,
heißt Gottes ewiger Rathfchluß, vermöge deſſen er bei
fi, befchloffen hat, was mit einem jeden Menfchen ger
fchehen fol; denn nicht gleich ift die Beflimmung, zu der
Alle gefhaffen werden, fondern ben Einen wird ewiges
Leben, den Andern ewige Verdammniß vorausbeflimmt,
Daher fagen wir, je nachdem Einer zu einem Ziele ge-
fchaffen ift, er fey zum Leben, oder zum Tode prädeftis
nirt. — Alſo die Prädeftination erfiredt ſich auf Ale
und jeden Einzelnen unter den DMenfchen: aber diefe
verhalten fich ja entgegengefegt zum göttlichen Gebots»
willen. Alfo find fie auch entgegengefeßt prädeftinirt.
11,21, 7. wird diefe zweifache Prädeftination alfo
begründet: „Sagen wir, im ewigen und unabänderlicdhen
Rathſchluſſe Gottes fey einmal feſtgeſtellt, wen er eins
mal zur Seligkeit aufnehmen, wen er wieder dem Ber:
berben weihen wolle, fo fagen wir, diefer Rathſchluß fey
in Beziehung auf die Ermwählten in Gottes gnädiger
Barmherzigkeit gegründet, ohne eine Rädficht auf menfch-
liche Würdigkeit, denen aber, die er dem Berderben weiht,
werde der Zugang zum ewigen Leben abgefchnitten nach
gerechtem und untabeligem, aber unfaßlichem Urtheile
+
über die Präbeftination. 105
(hreprehensibili, sedineomprehensibili iudicio).”” Man wen»
det ein: aber es find ja doch Alle berufen! Dagegen tritt
bie Unterfcheidung einer fpeciellen und allgemeis
sen Berufung an ihre Stelle. Cons. Genev. 907:
Bemeinfam wird Beiden Gottes Wort angeboten, daß,
wer innerlich nicht gelehret wird, nur unentfchuldbar
werde. Man macht gewöhnlich die Linterfcheidung, dem
Vermögen nach fey das Evangelium heilbringend für Alle,
nicht nach der Wirkung (potentia, non effectu), aber der
Kuoten wird auf die Art nicht gelöft, weil wir immer
wieder darauf zurüdgetrieben werben, ob Allen gleiches
Bermögen ded Glaubens gegeben werde, Aber ber Geift,
der une die Geheimniſſe des himmliſchen Reichs geoffen-
bart bat, ift auch ein Geiſt der Kindfchaft, die Kindfchaft
aber aus Gnaden, alfo wird auch der Geiſt der Kinds
fhaft and Gnaden gewährt. Nun aber zeigt die Erfahs
rung, daß er nicht Allen zukömmt, alfo ift ein befonderes
Geſchenk der Glaube, durch welchen die Erwählung feft
wird. Aber 1 Timoth. 2, 4! Dagegen 910: „Wie will
er, daß fie zur Erfenntniß feiner Wahrheit kommen?
Beides alfo ift verbunden. Nun frage ich, ob Gottes
Bile von der Welt Anfang derfelbe geblieben oder nicht.
Denn will er Allen feine Wahrheit befannt werden laſ⸗
fen, warum hat er fein Geſetz nicht den Heiden geoffens '
bart?” 929: „Warum hat er nicht Allen ohne Unterfchied
von Aufang der Welt das Evangelium zu verfünbigen
beihloffen? Auh Römer 5, 12. kann nichts für bie
Univerfalität der Gnade beweifen.” 931: „Paulus fagt
sur, der Fluch fey der Gnade nicht glei, weil diefe
überfchwenglich fey. Wenn aber auf beiden Seiten bie
Zahl der Menfchen in Betracht fommt, fo kann Chriftus
sicht mehr retten, ald Adam verborben bat; alfo kommt
Ianli Glaube in Gefahr, wenn nicht gleich eine neue
Belt heraufſteigt.“ Alfo nur qualitativ fol die Gnade
in Vergleich kommen mit der Sünde. Man könnte zwar
106 Bed
fagen: ift fie qualitativ überfchwenglicher ald Die Sünde,
go wirb Fe auch quantitatio nicht zurückbleiben. Einen
ähnlichen Einwand macht ſich Calvin felbit (HI, 23, 11.).
Wenn er Alle fchuldig trifft, fo fol er Alle gleich ſtrafen;
wenn Alle unfchuldig, fo fol er von Allen die Strenge
des Urtheils fern halten; denn wie Alle von Adam in
die Sünde gezogen find, fo ift EChriſtus für Alle der Ur
heber des Heild. Dagegen aber hat er zu erwidern:
„Man handelt gerabe fo mit Gott, wie wenn ihm Barm⸗
- herzigleit verboten würde, oder ald würde er, wenn er
barmherzig feyn will, gezwungen, im Ganzen aufs Ges
sicht zu verzichten; ber Herr kann Gnade geben, wem
. er will, weil er barmherzig iſt, aber nicht Allen, weil er
gerecht if.” Gomit if hier, wie bei Auguſtin, die Ge:
trenntheit der Prädeftination aus der moralifchen Zweis
beit des göttlichen Willens deducirt. Aber in der ſyſte⸗
matifchen Begründung Galvin’d erheben ſich gegen biefe
wichtige Einwendungen. Woher weiß Calvin von diefer
moralifchen Zweiheit des göttlichen, abfoluten Willens?
1) Die Erfahrung zeigt ed! Aber a) muß denn dieſe
Erfahrung jetzt fchon eine in ſich abgefchloffene feyn?, iſt
ed nicht möglich, baß, wie das Geſetz nur für die Juden
gegeben war und dem das Evangelium folgte, welches
für alle Menfchen beſtimmt ift, fo nun diefer Beſtimmung
auch irgendwo noch die Erfüllung nachfolgt? b) kann
Diefe Erfahrung nicht anch ein Schein ber menfchlichen
Betrachtung feyn, nnd wenn für Gott dad Böfe nicht ift,
fol die Strafe des Böfen, der Tod, ewig, d.h. alfo doch
für die göttliche Betrachtung feyn? Doch diefe Zweiheit
tft 2) in dem abfoluten Willen Gottes, in dem aeternum
decretum, in dem überzeitlichen Rathſchluſſe! Sollte aber
nicht gerabe in ber Liebergeitlichkeit des abfoluten Gottes
fidy nicht jede Zweiheit auflöfen, follte wicht bier gerade
der Kanon gelten: quod unum et simplex in eo est, nobis
multiplex apparet?
über bie Praͤbeſtination. 107
Diefen Einwendungen kann nur auf anthropologis
(chem Wege entgegengetreten werben, wo allein bie Er»
fahrung begründet werben Tann. Wollen wir daher bie
caleinifche Prädeflinationsiehre in ihrer ganzen Beben:
tung kennen und würdigen lernen, fo muß ale letzter Punkt
noch hinzutreten zu dem Überzeitlihen Rathſchluſſe das zeit
liche Wirken Gottes.
3) Die Wirkſamkeit der Gnade Zwei Mor
mente find bier zu unterfcheiden: a) ber Menſch vor der
Gnade — Erbfünde und Freiheit müflen bier gur Sprache
Iommen; b) der Menſch und bie Gnade, Betrachtet man
den Menfhen vor der Önade, fo muß ganz nach
dem Bewußtſeyn Der Zeit und den Ideen der Reformation
die Erbfünde voranfichen. II, 1,8: Die angeborne Erb
fünde it eine Schlechtigleit und Verderbniß menfchlicher
Ratur nach allen Theiten, welche fürd erfte bed Zorns
Gottes ſchuldig macht, daun aber Werke in und hervor,
bringt, welche die Schrift (Gal. 5, 19.) dem Kleifche zu⸗
ſchreibt. II, 2, 12: Nach Augufiin waren bie natürlichen
Baden im Meunſchen durch die Sünde verberbt, der über,
ratirlichen wurde er beranbt. Darum aber ift der Menich
xiht zu ewiger Blindheit verbammt, fo daß keinerlei Art
von Erkenntniß zurücgeblieben wäre, denu den Menſchen⸗
geſchlecht iſt eine Art Schnfuht nach Wahrheit
eingepflanzt; ed muß ihm deßwegen eine Erkenntniß im
irdiſchen Dingen zugefprocden, in himmlifhen Dingen
abgefprochen werben. Auf diefelde Weife, wenn wir dem
Bien berücdfichtigen, fo folgt aus der natürlichen Ans
lage des Menfchen zur Gefelligkeit, daß allgemeine
kindrücke einer gewiffen bürgerlihden Eh
barkeit nnd Ordnung im Menfchenherzen find, Beide
Seiten, Verdorbenheit und Empfänglichleit (desiderium
verüstis, naturales impressiones), faßt Calvin zufammen
(,2,19.) mit Beziehung auf den Menfchen im Gleichnifle
vom barmherzigen Samariter : Der Menſch ift nun balbr
108 | Bed
tobt (semivivas) geworden unb unzweifelhaft fleht bie
Wahrheit feft, daß des Menfchen Geflunung fo von Got.
tes Gerechtigkeit entfremder ift, daß er alles Gottlofe,
Verkehrte, Abfcheuliche, Unreine, Frevelhafte in Gedanken
empfängt, begehrt und unternimmt: das Herz ift von
der Sünde Gift ganz angeftedt.
Nach dem Allen kann für moralifche Freiheit wohl
fein Raum gefunden werden. Denn (IL, 2, 1.) wenn wir
auf eigne Fauſt fireiten ſollen, was gefchieht Anderes,
ale daß wir und an einem Rohrſtab erheben, der bald
zuſammenbricht, um und zu Fall zu bringen? Und doc
werben unfere Kräfte noch zu hoch geehrt, wenu wir fie
einem Rohrfiabe vergleichen; Dunft und Raud ill, was
davon die eitlen Menſchen fchwagen. II, 3, 5: Simpliciter
velle hominis est, male autem velle corruptae naturse, bene
velle gratise.. So wäre es am beften, wenn man den
Namen der Freiheit ganz abfchaffte; fol er aber noch bes
ſtehen, jo Tann er nicht anders gelten, als in dem fchon
oben angegebenen Sinne (Il, 2,7 unb 8.) Quia mala volun-
tate agit, non coactione. Eben durch diefe Freiheit aber iſt
ber Menſch 3BeAddovAog peccati. Zur Befreiung davon
bat er die Gnade nöthig, und aus feiner eignen Kraft
kann er auch nicht eine Kleinigkeit dazu beitragen. Biel»
‚mehr (II, 3, 1.) was nicht geiftig it im Menfchen, beißt
in diefer Beziehung fleifhlihd. Wir haben aber nichts
vom Geifte ald durd; die Wiedergeburt, Fleiſch alfo ift,
was wir von Natur haben.
Hiernach ift denn fogleich auch b) das Berhältuiß von
Menfh und Gnade im Werke der Wiedergeburt bes
flimmt. Das allein Thätige kann nur die Gnade feyn.
Doh kann fie auch Hier nicht ald Zwang von außen,
sicht als coaetio wirken, denn der Wille ift ja immer frei
von äußerem Zwange, vielmehr Cons. Genev. 942: „Ebenfo
werden bie innern Bewegungen von Gotted Hand res
giert, wie er bie äußern Handlungen lenkt, und Gott
über die Prädeftination. 109
würde feine Befchläffe nicht durch der Menfchen Hand
ausrichten, wenn er tw ihren Herzen nicht dad Wollen
felbft wirkte, welches dem Werke vorhergeht.“ Die gratia
irresistibilis, wie fie gewöhnlich den Galviniften zugefchrie-
ben wird, ift demnach nicht fo gu verftehen, daß Bott bie
Menſchen wider Willen fortfioße, vielmehr wendet er
innere Mittel an, ut fiant volentes ex nolentibus. Iſt aber
den Erwählten die prädeſtinirte Gnade mitgetheilt, dann
(UL, 21,7.) it ihnen das Heil fo zugetheilt, daß die Gewiß⸗
heit des Erfolgs nicht unentfchleden oder zweifelhaft feyn
kaun. II, 24, 5: Da Ehriſtus uns von Ewigkeit her vom
Vater verordnet iſt, fo haben wir ein hinlänglich feſtes
und deutliches Zengniß darüber, daß wir im Buche des
lebens ſtehen, wenn wir mit Chriſto Gemeinfhaft haben,
und wenn wir ſolche Zuverficht gewonnen haben, dann
bürfen wir uns auch an die folgenden Zeichen, die das
Bert und anbietet, halten.
Faſſen wir demnach dad Nefultat der ganzen Ent-
widelung in kurzen Sägen sufammen, fo find es bie:
ehne Gnade vermag der Menſch durchaus nichts; iſt
fe ihm gegeben, dann ift er mit abfoluter Gewißheit in
iht gegründet, aber daß fie gegeben wird, hängt ganz
alein ab vom ewigen, actuellen, wirkfamen Rathfchluffe
Gottes und feiner hocherhabenen Herrlichkeit, die dem
Einen dad Reben, dem Andern ben Tod zugetheilt hat.
1. Zutherifhe Lehre
Eben mit dieſer ‚nitiesima Dei maiestas iſt die angufli-
niſche Theorie in ihrer Sonfequenz entwidelt, und in dies
kr Beziehung if Calvin's Syſtem ald die Ausbildung des
auzuſtiniſchen zu betrachten. Aber wir hatten auf der
andern Seite bei Auguflin eine praevisio, eine permissio,
Zulaffung, gefunden, und auf diefer Seite nun flellt ſich
uns ebenfalls als eine Conſequenz ded auguftinifchen
Syſtens die Intherifche Lehre entgegen, um bei allem
110 Bd
Beſtehen auf ihrem gemeinfamen Grunde, der Erbſunde,
der menfchlichen Freiheit ein Recht zu vindiciren. Um
jedoch den innern Bang, weichen die Entwidelung genom⸗
men, zu durchſchanen und ben treibenden Hebel des
Fortfchritts zu erkennen, ift ed nothwendig, daß wir die
Intherifche Lehre nicht fogleich betrachten, wie fe als fir
in den Spmbolen niedergelegt il, fondern daß wir auf
die erften Keime surüdigehen, um die Metamorphofe vers
folgen zn können,
A. Uebergang. Euther und Melanchthon.
Mir meinen bier gunächft die urfprüngfichen Anſich⸗
ten von Luther and Melanchthon. Luther fland ber
Tanntlich anfangs auf dem nämlichen Standpunkte, wie
fpäter Balvin, in feinem liber de servo arbitrie =). Er
geht in Ddiefer Schrift von der göttlihen Altssacht ale
höchftem Principe aus, negirt dadurch die Freiheit ımd
beftimmt die Yrädeftination. Wir haben alfe die drei
Momente: 1) bie göttliche Almacht, 2) die moralifche Frei
heit, SI die Präpdeftination, zu betrachten.
Die göttliche Allmacht beftimmt er num theild
an ſich, tbeild in ihrem Berhältniffe zum yerfoniftcirten
MWiderparte Gottes, zum Satan, 1) An fick, fagt'er
(S. 204.), folgt aus dem Zugeſtaͤndniſſe des Vorherwiffens
‚und der Allmadıt mit einer von Natur ummwiderlegbären
Eonfequenz, daß wir durch und felbft weder gefchaffen
find, noch leben, noch etwas thun, fondern allein durch
feine Almadıt, Wenn er aber und als ſolche voraus⸗
gewußt hat, als ſolche jetzt fchafft, bewegt und regiert,
was kann man fid dann noch denken, das m uns frei
wäre, ob ed fo oder anderd gefchähe, als er voraus.
ehe hat und jet wirft: Gottes Vorauswiffen und
—— — — — — —
a) Ad Erasmum. Die wittenberger Ausgabe von 1526 liegt den
folgenden Citaten zu Grunde.
über die Praͤbeſtination. 111
Almadht iſt alſo unferer Freiheit ſchnurſtracks entgegen.
Entweder wird fih Gott trügen im feinen Vorherwiſſen
uud irren in feinem Handeln, oder werben wir getrieben
und treiben nach feinem Vorauswiſſen uud Triebe. Got⸗
ted Allmacht heißt bei mir nicht die, die Vieles nicht thut,
was fie than Tann, fonbern bie wirkliche, actuale, weiche
sädtig wirft Alles in Allen. Ebenſo kennt er leine uns
wirffause oder ruhende Präfcienz. Pag. 23: Gott weiß nichts
anf zufällige LBeife vorher, fondern in feinem unwandel⸗
baren und ewigen unträglichen Willen fieht er vorher,
befchließt und handelt er. Gottes Wille fol unwandel⸗
bar ſeyn, aber feine Präfcienz nicht. Glaubſt denn du,
daf er gegeu feinen Willen vorauswife oder im Un⸗
wiflenheit wolle? Si volens praescit, aeternn est
etimmobilis, quia natura, voluntas; si prae-
sciens vwalt, asterna est et immobilis, quia
hatura, scientis. Alſo Almacht, Willen und Willen
m in Gott durchans nicht von einander zu trennen, er
chen baburch der Abfolute, Daß er Alles abfolmt durch
ſein actuales Willen und Wollen beftimmt: es -gibt in
Gett feine solätaria praesclentia, fein iſolirtes Willen, und
fine potentielle Macht, fondern fein Wille ik productiv
und fhöpferifch, feine Wacht eine actuale, IM fo bie
Abſelatheit aufs höchſte gefaßt, fo tritt ihr auch der
Gegenfag um fo fchärfer entgegen, in der Goncentration
des Endlichen und Sündlihen. 2) im Satan, 40, 55:
„Unferm großen Bott ſtellt ſich ber Gott der Welt uud
unferer Zeit entgegen, als der zweite Herr im Reiche der
Dinge. Denn fichen wir unter dem Gotte biefer Welt,
je werden wir ohne Werk und Geiſt Gottes gefaugen
halten unter feinen Willen; kommt aber der Stärfere
u führt nus als feine Beute davon, fo werben wir
Diederum deffen Knechte ſeyn.“ Hier iſt denn freilich der
Satan inärmior gegen ben fortier zu nennen, doch iſt er
in eigner Perſon, in einer freien und mit Bott gleichen
112 Bed
Herrſchaft dargeftellt, fo daß er mit Gott Krieg führen
Tann. Er fteht alfo Bott als das andere Princip entge⸗
gen. Dieß zeigt noch klarer das unmittelbar Kelgende:
„Des Menfchen Wille ſteht in der Mitte zwifchen beiden,
wie ein Lafttbier oder Zugvieh Ciumentum); reitet Gott,
fo will und geht er, wohin Gott will; reitet der Satan,
will und geht er nach dem Satan, und es liegt nicht in
feiner Freiheit, zu welchem Reiter er laufen, welchen er
fuchen fol, fondern die Reiter felb reiten ſich Aber ſei⸗
. nen Beſitz nnd feine Herrfchaftl.” Go fleht denn der
: Satan hier ald zur Zeit gleichberechtigted Princip Gott
gegenüber, im ihm ift die Freiheit der Welt concentrirt.
Wie aber das mit der Abfolutheit Gottes und der be
haupteten actualen Allmacht zu vereinigen fey, das kann
erft weiter unten Mar werden, wo Luther bei ber Präs
beftination die Bedentung des Böfen zu erllären hat.
So viel zeigt fih fchon bier, der Satan iſt mit aller
Macht doch der Unterliegende, der Ueberwundene ober
zu Ueberwindende.
Aber auch fo viel ift ſchon klar, daß in dieſem Syſteme
von menfchlicher Freiheit nicht die Rebe feyn kann,
wenn der Menfch nur ein Laftthier ift, das fich entweder
von Gott oder vom Satan muß reiten laffen, Luther
hat daher hier nur die Aufgabe, fi mit den gewöhn⸗
lihen Borftelungen von moralifcher Freiheit aus ein⸗
anderzufeten. 58: „Kreier Wille ift ein burchans gött«
licher Name und kann Keinem zulommen, als allein der
göttlichen Majeſtät; fie fann und thut Alles, was fie
wild, im Himmel und auf Erden, Der freie Wille im
Menfchen aber, gibt man ihm auch eine nicht bloß unbe,
beutende, fondern eine englifche, ja, wenn man kann, eine
durchaus göttliche Macht, er ift doch ohne Gotted Gnade
durchaus unwirkfam, oder eigentlich Feine Macht.” Eras⸗
mus hatte dreierlei Meinungen aufgezählt, die dem freien
Willen entgegen wären. Da fagt num Luther (107.), eine
über die Präbeflination. 113
könne härter erfcheinen, ale bie andere, aber in der Haupts
ſache tommen doch alle auf Eind hinans. Hart, doch bei⸗
falöwerth erfcheint Dir die Meinung, daß der Menſch ohne
befondere Gaade das Gute nicht könne wollen, anfangen,
vorwärt® bringen, vollenden; der gibft Du deßwegen
Deinen Beifall, weil fie wenigftend dem Menfchen ein
Etreben und den Aufang laffe, wenn fie gleich nichts Abrig
laſſe, was er feiner Kraft zufchreiben dürfte. Härter er⸗
ſcheint Dir Die Anficht, der freie Wille in und habe nur bie
Madıt zu fündigen, allein die Gnade wirfe in nnd bas
Gute; am härteften ift Dir die Behauptung, die Freiheit
iey ein leerer Name, vielmehr Gott allein wirkte in uns
wie Gutes, fo Böfes, und reine Nothwendigfeit fey
in Allem, was gefchehe. — Aber (110) ich möchte
wien, was denn jenes Streben, jener Anſatz feyn fol,
den die erfie Meinung übrig laffe. Out kann das Streben,
gut der Anfag ohne Gnade nicht ſeyn: alfo gibt ed nur
em böfed Streben, einen böfen Anſatz. Daher find bie
rim der Abhandlung anfgeftellten Aufichten für mich
EI eine einzige und nicht weiter. Steht feit, Daß ber Wille
de Freiheit verloren hat, zur Kuechtfchaft der Sünde ges
mungen iſt und nichts Gutes wollen kann, fo kann ich
wir and diefen Worten nichts Anderes zurecht legen, ale
daß die Freiheit ein leerer Schall für etwas ift, wovon bie
Sache verloren if, eine verlorene Freiheit aber heißt nach
une Grammatik Feine Freiheit, Daffelbe zeigt auch die
Eregefe von Joh. 1, 5. (gab ihnen Macht, Gottes Kinder
zu werden) (5. 165.), und dieſe Stelle ift ein Hammer wider
ale Freiheit, wie faſt das ganze Evangelium Johannis:
ke homo merese passive habet, neo facit quippiam,
wdfit totus. Erasmus hatte weiter bie Freiheit das
dar zu halten gefucht, die untern Seelenvermögen ſeyen
alerdings von der Sünde verderbt, aber die höheren feyen
unveriegt geblieben. Dagegen antwortet Euther (251.):
IR das Höchſte im Menfchen nicht gottlos, verloren und
Tieol, Stud, Jabra. 1847, 8
4114 | | Bed
verbammt, fonbern allein das Fleiſch, d. i. Die gröbern
und niedern Begehrungen, wie wollen wir und denn Chris
find ale nufern Erlöfer deuten? Sollen wir fortan Ehriftus
den Erlöfer weunen, nicht des ganzen Menfchen, fonbern
nur feines geringften Theild, den Menſchen aber fei
nen eignen Erlöfer im edleren Theile? So bringt eö
dad Dogma von dem vorzüglicheren Theile im Menfchen
dahin, den Menfchen über Teufel und Chriſtus zu erheben,
d. h. ihn zum Gott der Götter und zum Herrn der Herrn
zu machen. ber hier erhebt fi ber gewichtigfte Ein⸗
wand: wie kann Freiheit eine Illuſion ſeyn, wenn Bott
felbft in ner heiligen Schrift fig mis Ermaknungen, Gebo⸗
ten und Berheißuugen doch an den freien Willen der Men
fchen wende? Da zieht Luther gewandterweife ben
Semipelagianiomus feines Gegners in fein Sntereffe, weun
er antwortet (128.), es komme biemit nur berand, baß ent
weder deu freie Wie aBein von ſich ſelbſt Alles könne,
was ihm gefagt und geboten wird, oder bie Gebote um-
ſonſt, kücherlich und unzeitig fenen. Das Erſte konnte der
Semipelagianiemus nicht zugeben, alfo bliebe doch nur
dad Andere. SA das nun bloß zer’ Avdgmzov gefagt, fo
geht Luther weiter auf die Prineipien und weift (117.) Ein-
wendungen ab mit dem Grunde: haee sunt argumemte ra-
tiouin humanae und die Gebote Gottes haben keinen andern
AZmar (124.), quam homini ostendi, quid debest, nen quid
possit a). Solche Bebote ud (118.3 ein Spiel, wie Eltern
mis ihren Kindern ſpielen. Hier Liegt die Geneſts ber
Sehre von einem zweifachen Willen Gottes, der fig ge:
radezu entgegengefeßt ift, dem offenbaren und ver
borgenen Willen Gottes, eine Lehre, welche bes -
Tanntlich der Nero für diefe ganze Entwidelung de serve
arbitrio if. 118: „Wie oft fpielen Eltern mit ihren Göb-
. a) Ef. Augustiu. grat. et lib, arb. 16: ideo iubet aliqua, quas nos
. Possumus, ut noyerimus, quae ab eo petere debemas.
über bie Praͤbeſtination. 115
neu, wenn fie fie zu ſich kommen ober das und das thun
heißen, nur darum, um zu zeigen, wie fie 26 nicht fünnen
und die Hand des Baterd darum angehen mäflen.” Die
Einwendung bagegen liegt auf der Hand: den Kindern
wirb es aber nicht als Schuld angerechnet, wenn fie nicht
fommen, weil fie nicht kommen können, Aber wieder
kommt Luther, nachdem er die Freiheit and metaphyſiſchen
uud moralifchen Gründen beftritten, auf Gottes abfolutes
Bollen und Wiſſen hinaus, das höher fey, denn alles
Menfchenwiflen, daher demfelben unbegreiflich und vers
borgen, 141: „Sofern ſich Gott verbirgt nnd von und
nicht gefannt feyn will, geht das une nichts au; deun bier
gilt wahrhaftig das Wort: was über uns geht, geht und
nichts an. Gott ift alſo in feiner Majeſtät und feinem
Beien zu belaflen, denn fo haben wir nichts mit ihm zu
verhandeln, und fo wii er auch nicht mit fich verhandelt
ſehen, fondern fo weit er ſich angethan und kundgethan in
ſeinem Worte, das er und gegeben, haben wir mit ihm zu
verhandeln, was feine Zierde und fein Ruhm if.” 13:
„zweierlei Dinge find Gott und fein Wort, gerade wie
Schöpfer und Gefchöpf zweierlei And. Freilich (151.) wird
bie Bernunft nafeweid und ſchwatzhaft, wie fie ift, fagen,
dad fey eine ſchön erfonnene Ausfluht, daß wir, fo oft .
ums Brände ind Gedräuge bringen, auf feine furchtbare
Najekät und zurückziehen und den Gegner, wenn er bes
ſchwerlich ift, zum Schweigen verweifen. Aber es ift nicht
unfere Erdichtung, fondern wir fagen da ein Gebot, das
ia der Schrift felbft ſteht und beſtätigt if.” Kann eö aber
eine größere Inconſequenz geben, als aus der Schrift, in
der nach der anfänglich voraugegangenen GEntwidelnng
Ales deutlich gefagt feyn ſoll, den Sau heraudzuzichen, daß
die im Worte Gottes geoffenbarten Gebote anf einen ver;
bergenen Willen Gottes zurückweiſen? etwas Ungereimte⸗
186, als ans einzelnen Steffen, die mit allem Ernfte ergrifs
fen werden, beweifen wollen, daß eine ganze Reihe, daß
8 *
116 Bed
die Durchhingehenben Ermahnungen bed Geſetzes, daß bie
beflimmten Zufagen der Gnade nur eitel Schein und Spiel
feygen? Mit welchem Namen foll eine Sonfequenz benannt
werden, die, weil fie die Univerfalität der Gnade nicht
aus der Schrift entfernen und doch eben fo wenig mit ihrer
gefpannten Anficht von der göttlichen Abfolutheit vereinis
gen kann, auf einen verborgenen Willen Gottes zurüds
fommt, der dem geoffenbarten geradezu entgegen if?
Welche Bürgfchaft iſt deun dann gegeben, daß es Gott mit
- feiner Offenbarung in irgend etwas Ernſt feyn könne,
Ernft ſeyn müffe? Nach dem einen will Gott, daß allen
Menfchen geholfen werde, nad dem andern nur Kinigen
das Leben, Audern bie Verdammniß geben. In der Schrift
ſelbſt aber ift kein Anzeichen, welcher diefer Willen den
Borzug verdiene; alfo muß die menſchliche Bernunft in
leßter Inftanz doch entfcheiden, welches denn nur der rechte,
der wahre Wille Gottes fey. Die Vernunft entfcheider,
d. h. eben jene nafeweife, vorlaute, unwiffende Menfchens
vernunft entfcheidet, was der Abfolutheit Gottes gemäß
fey. Und doch muß fie von Anfang vor der Abfolutheit
Gottes ſchweigen. Da ift offenbar ber Punkt, wo ed mit
dem Denken aus ift und die Gedanken Einem flille ftehen.
Das ift ja (52.) des Glaubens höchſte Stufe, an deſſen
Gnade zu glauben, der fo Wenige errettet, fo Viele ver:
damımt, zu glauben an deſſen Gerechtigfeit, der durch ſei⸗
nen Willen mit Nothwendigkeit und verbammlich macht,
"fo daß er ih an den Qualen der Elenden zu freuen und
mehr ded Haſſes als der Liebe werth zu feyn fcheint,
Aber Eine Frage läßt ſich doch nicht abweifen: woher
fommt denn dieſe Entgegenfegung im göttlichen Willen,
woher denn die Prädeflination, die zu Tod oder zu Les
ben von Ewigkeit entfcheidet, woher das Böfe, das
den Tod zur Folge haben muß, woher der abfolute Ges
genfas? Hier fällt die Antwort verfchieden aus, je nach:
dem entweder „abfolut” oder „Segenfag” premirt wird;
über die Praͤdeſtination. 117
in jenem Falle wird die eigentliche Realität ded Böfen
negirt, in diefem wirb ein phyfifcher Dualismus aufges
ftellt, der nahe an Manichäismus fireift und den Flacius
fpäter nicht Rärker betonen konnte. 1) Wir nehmen
suerft die manihäifche Seite, welche dad Böfe zur
Subſtanz der Natur zu machen fcheint, 187: „Was von
der Ereatur im Gottlofen und im Satan iſt, ift ald Ges
fhöpf und Werk Gottes feiner Allmacht und Lenkung ges
trade fo nnterthan, wie alle andern Geſchöpfe. Er wirkt
aber in ihnen fo, wie fle find und wie er fie vorfindet,
dv. i. weil fie verkehrt und böfe find und doch durch die
Bewegung der göttlichen Allmacht fortgeriffen werben, fo
thun fie auch nur Verkehrtes und Böſes.“ Das quales
Ali sunt et quales invenit wird nun aber fogleich weiter
erflärt: „Wie wenn ein Reiter ein Pferd mit zwei oder
drei Füßen treibt, fo treibt er es fo, wie das Pferd ift,
d. h. das Pferd geht fchlecht. Da fiehft Du, daß Böfes
geichieht, DaB aber Bott doch nicht das Böfe thun kann,
wenn er auch Böſes durdy Böfe vollführt, darum, weil
er, felbft gut, Böfed nicht thun kann, aber fchlechte
Berkzeuge gebraucht. Der Fehler liegt alfo in ben
Werkzeugen, bie Gott nicht unthätig feyn läßt, gerabe
wie wenn der Zimmermann mit einem fügenartigen und
gesähnten Beile fchlecht fpaltet.” Woher kommt denn
aber die Schlechtigfeit der. Menſchen? doch nicht aus ih⸗
rer Selbftbeftimmung, denn fie find ja nur Werkzeuge?
woher find die Werkzeuge fchlecht, warum gebraucht
fe Gott in folcher Befchaffenheit, warum ändert er
fie nicht und macht aus fchlechten nicht gute? Denn
vor fchlechte Werkzeuge gebraucht und doch einerfeits ihre
Schlechtigkeit kennt, andererfeitd ihnen davon helfen
löunte, der iſt doch gewiß felbft ſchuld an ber fchlechten
Arbeit. Das kann aber bei Gott nicht fein! er ift ja
get. Affe, müflen wir rückwärts fchließen, muß eine der
Prämiffen falſch feyn: entweder kennt er ihre Schlechtig⸗
118 Bed
keit nicht, — aber er ift ja allwiffend, oder — er kann
fie nicht ändern. Damit wird aber Gottes Almacht auf:
gehoben, und der Gegenſatz volllommen zu einem princis
piellen, rein phyſiſchen Dualidmud. Das zeigt fih am
deutlichſten (163,), wo Luther beweifen will, unfere Thaten
feyen die unfrigen, wenn fie gleid; mera necessitate ge:
ſchehen. Da heißt es denn: „Wenn, was unfer heißt,
auch unfer Werk it, fo haben wir auch die Augen uns
ſelbſt gemacht, die Hände, bie Küße find nnfer Wert, es
müßten benn nur Augen, Hände, Füße nicht unfer heis
Ben.” Die Entgegnung wäre hier wieder Mar: bei Au⸗
gen, Rafen u. f. w. fagt man nicht facere, fondern ha-
bere. Bei den opera aber heißt ed facere, und das weit
zurück auf ein velle. Diefer Linterfihied fol nun aber
eben nicht gelten, vielmehr follen unfere Werke zu unfe:
rem Wefen gehören, wie die natürlichen Gliedmaßen und
natürlichen Sinne. Gerade, wie wenn das Pferd nur drei
Füße bat, fo ift das freilich ein böfes Ding, aber es if
einmal feine Natur, oder, wenn dad Beil mehr einer
Säge gleicht mit feinen Scharten, wer könnte vernänftis
gerweife dem Beile gram feyn? Wollte man fagen, es
gehöre zum Begriffe, zur Natur, zum Weſen eiues Beils,
fcharf und nicht fügenartig zu feyn, und eins, das ſchlecht
fehneide, fey eben darım ein Widerfpruch gegen feine
Idee; fo ſey nun eben auch des Menfchen Natur nicht
die ideelle, wie fie aus bed Schoͤpfers Hand hervorging,
— fo if das Alles ganz recht, nur müſſen wir und über
eine Frage dann Belehrung ausbitten, woher nämlich
diefe Alterirung und Berfchlimmerung, diefer Widerfpruch
gegen die Idee ſtamme. Das gerade ift der letzte Grund,
nm den es fich handelt. 2) Die Freiheit kann diefer nicht
feyn, denn. fie ift, wie oben gezeigt, durch Die actuale
Macht Gottes aufgehoben; Gottes wirkfamer Wille wie
der nicht, denn Bott iſt gus und heilig. Alſo die zwei
Örlinde finden nicht Matt. Run ift entweber die Folge,
über die Präbeflination. 119
bie verfehlimmerte Natur, oder fie ir wicht. Iſt fie, — dann
muß ein anderer Grund für fie eriftiren, und ba wäre
allerdings nadı dem Übigen der Satan ganz in der
Gtelle, dann aber iſt nicht abzufehen, wie Luther den
Manichäismus vermeiden follte. Es bleibt alfo nur die
andere Folgerung: Die Folge iſt nicht, weil fie keinen
Grand dat. Das Böfe iſt nicht, es hat Feine Realität,
es if das non ens. Und das ift die Anficht, Vie durch
den verborgenen Willen Gottes offenbar verlangt iſt und
die kLuther ſelbſt einmal ausdrädlich vertritt (186): multa
sidentur Deo et sunt bona valde, quae nobis
rideutur et sunt pessima.
Radı ad dem läßt fih gewiß nicht fagen, Luther habe
nraufänglich, alfo gerade wie er vom Jatereſſe der Res
formation innigft erfaßt war, eine mildere Prüdeſtina⸗
tionsanficht gehabt, als Balvin. Vielmehr ift fein Reſultat
sch härter, fein Princip aber das gleiche. Bon dent
abfolnten Wiffen und Willen Gottes aus, daB und zum
größeren Theile unerlennbar und verborgen ift, nimmt er
feinen Standpunkt, um die menfchliche Kreiheit mit meta»
phyfifen Gründen aufzuheben, Denfelben Weg fchlägt
Melauchthon in der erfien und zweiten Ausgabe der -
loei 2) ein. Nach dem Bemelfe, daß bie Freiheit nur
noch im Fleifchlichen übrig fey, fährt er fort (c. VIL. Fol.9.):
Endlich nimmt dem Menfchen die Freiheit die göttliche
Prädeftination; denn Alles erfolgt nach der göttlichen
Brädeflination, die iußeren Werle, wie bie inneren Ger
danken in allen Geſchöpfen. Wie alfo? in der Welt fol
ed Beine Zufälligfeit geben! Nichts ift Zufall, nichts Uns
gefähr. Alles erfolgt mit Nothwendigkeit, fo lehrt bie
Schrift: nihili eommentum est dogma schola-
sticum de libero arbitrio. |
Aber in Melanchthon eben haben wir auch ben Wende⸗
a) Ich citire aus ber ſtraßburger Ausgabe von 1528.
120 Ä Bed
'
J
punkt der lutheriſchen Lehre und den Anfang der weite
ren Entwidelung. Wurde, wie bei Calvin und Luther,
das abfolute Wefen Gottes fo gefpannt, fo war es uns
möglich, das Böfe befriedigend zu erflären. Jede Erfläs
rung mußte entweder dem religiöfen Intereſſe für Die
Heiligfeit Gottes, oder dem religiöfen und fpeculativen
zugleich für die Bedeutung des Böſen widerfireiten. Dies
fed Bewußtſeyn war für Melanchthon, wie er nicht der
Mann der zähen Gonfequenz war, entfcheidend, eine
Bermittelung zwifhen Prädefination und
Freiheit anzubahnen, und dieg erflärt er felbft geradezu
in den fpätern Ausgaben (1536 ift der locus de causa
peccati aufgenommen): „Darum ift die Zufäligfeit zu
halten, daß wir Gott nicht zum Urheber oder zur Urs
fache des Böfen machen, und die Freiheit it ein Gefchent
Gottes, oder die Ordnung im Willen.” Hiernach hat er
felbft denn in den fpätern Ausgaben, der augeburger
von 1536 und der leipziger von 1556, die Grundzüge der
künftigen Kirchenlehre gezeichnet 3). An die theoretifche
a) So in ber lehtgenannten, leipziger Ausgabe: locus de causa
peccati et contingentia 69: sunt causae peccati voluntas dia-
boli et voluntas hominum, quae avertunt libere se sua sponte
a Deo, nec volente, nec approbante illam aversionem, et hae-
serunt vagantes extra ordinem in obiectis. 74: aliter deter-
minat Deus ea quae vult, aliter illa quae non vult, aliter
quae a sola ipsius voluntate pendent, aliter quae partim
ipse facit, partim voluntas humana, 82: sic agit Deus
cum voluntate, sustentans et adiuvans ordine agentem, sed
non iuvans ruentem contra ordinem, etsi eam sustentat.
Sodann de libero arbitrio 93: hic concurrunt tres causae bo-
na6 actionis, verbum Dei, spiritus sanctus et humana voluntas
assentiens, nec repugnans verbo Dei. 96: cum promissio
sit nniversalis, nec sint in Deo duae contradictoriae volunta-
tes, necesse est in nobis esse aliquam discriminis
causam. Endlich de praedestinatione 552: causam reproba-
tionis certum est hanc esse, videlicet peccatum in hominibus.
Diefelbe Zendenz fpricht ſich auch aus bei Che mnig (examen conci-
über die Präbeflination. 121
Clanſel, Bott möchte ſonſt Urheber des Böfen werben,
ſchloß ſich nämlich fogleich auch die praftifch wichtige an,
Gott nit zum Urheber, zum abfolntn Grunde einer
ewigen Berbammniß zu machen und dadurch die menfchs
lihe Zurehuung zu zerfiören. Diefe Klippe der Prädes
Rinationslehre hat die Kirchenlehre zu umgehen ſich die
Aufgabe gefege und dieß durch Einführung einer Art von
Zreibeit zu erreichen gefucht. So find wir denn bei der
B. Lutherifhen Kirchenlehre
über die Prädeſtination felbft angefommen. Um aber ben
Erfolg ihres Bermittelungsverfuches zwifchen Prädeflis
nation und Freiheit richtig beurtheilen zu können, müflen
wir und zuvor in die betreffende Stelle bed Syſtems
verfeßen. Dazu ift nothwendig, auf die allgemeinen kirch⸗
lichen Grundbegriffe über das Berhältniß von Gott und
Menfch zurückzugeben. Diefe ftellen fich von felbft unter
deu zwei Geſichts punkten dar. 1) Der Menſch vor der Be:
kehrung; 2) Der Menfch in der Belehrung, und hierauf
Bird dann folgen 3) die Lehre von der Präbdeftination,
dran engen Zufammenhbang mit dem Borangehenden
Melauchthon bezeichnet hat in dem Kanon: non alia causa
praedestinstionis, quam iustiflcationis quaerenda est (AUg8s
burger Ausgabe, de praedestinatione),
Bei der Betrachtung des Menfhen vor der de
kehrung muß bad Verhältniß von Erbfünde und Freis
li Tridentini. Frankfurt 1590. Tom. }. de libero arbitrio p.
%0.): Qauando spiritus sanctus per verbum coepit naturam sa-
bare, accensa aliyua scintilla efhcaciae et facultatis spiritualis,
liget renovatio non statim sit perfecta et ubsoluta, Lunc’ tamen
sec mens, nec voluntas est otiosa, sed habent
aligunos novos motus, quos etiam debeut exercere medi-
tando, orando, conando, luctando. .. Sed ad spirituales actio-
nes in nobis mens et voluntas ex naturalibus suis viri-
bus effective nihil conferunt,
122 Bed
beit im natürlichen Weufchen anseinanbergefeht werben.
Der Menfc if, von diefem Zugeſtändniſſe müſſen wir
audgehen, nach der Formula Goncordise p. 612 a) andy
vor der Belehrung eine creatura ratienalis und nad Ger⸗
hard (loci theologlci. Jena 1615. Tom. II.) de Ilb. arbitr.
32. non voluntate homo, sed voluntatis sanitaie privatus est.
Bernunft und Wille ſind alfo dem Menſchen nicht abhau⸗
ben. gefommen, fomit auch die Kreibeit nicht, vielmehr
fagt Die Apol. Confess. VIII. ausdrüdlid: habet humana
voluntas libertatem in operibus et rebns deligendis, quas
ratio per se comprehendit, potest aliquo modo efficere
iustitiam civilem seu iustitiem operum, potest loqui de Deo,
exhibere Deo certum cultum, externo opere obedire
magistratibus, parentibus, ... in opere externo eligendo
potest continere manus a caede, ab adulterio, a furto.
Cum reliqus sit in natura hominis ratio et Judicium de
.rebus sensni subiectis, reliquus est etiam delectus earum
rerum, et libertas et facultas efficiendae iustitiae ci-
vilis, quamquam tauta est vis concupiscentiae, ut mialis
affectibus saepius obtemperent homines, quam recto iu-
dicio. Hier ift denn die einflußreiche Unterfiheidung im
Begriffe der Freiheit fchon gegeben (vgl. Conf. Aug. XVII.) :
die eine iſt quoad externa, iustitia civilis, Freiheit in
äußeren. Dingen, bürgerliche Gerechtigkeit. Diefe it dem
Menſchen noch jegt immer eigen. Aber etwas Anderes
iſt die Freiheit im wahrhaft fittlichen, religiöfen, inners
lichen Sinne, ober die libertas in rebus spiritua-
libus et divinis. Form, Conc. 656—660: hominis non
renati intellectus, cor et voluntas ex proprüs naturalibus
viribas nihil potest intelligere, credere, amplecti, cogitare,
velle, inchoare, perficere, sgere, operari aut cooperari,
sed homo est ad bonum prorsus corruptus et mortuus,
ita ut in hominis natura post lepsum ante regenerstionem
a) In ber Ausgabe ber ſymboliſchen Buͤcher von Haſe 1887.
über die Präbdeflination. 123
ne scintillula quidem spiritualinn rerum religus
manserit aut restet, quibus ille ex se in gratiam Dei se
reparare, aut oblatam gratiam epprehendere aut eiws gratise
capax per se esse possit, aut se ad gratiem applicare, aut
ıccommodare, aut virikus suis propriis allquid ad convereio-
nem suam vel ex tota vel ex dimidia vel minine parte
oonferre, agere, operari vel cooperari possit. Was aber
die intellectuelle Seite betrifft, fo hat zwar ber
zatürliche Berfiand des Menfchen ein Fünkchen übrig von
der Kenutniß, daß ein Bott fey, aber doch ift die Ber,
annft fo nnwiffend, biind und verkehrt, daß, wenn audı
die geiftreichften nud gelehrteſten Männer in dieſer Welt
das Evangelium vom Sohne Gottes, von der göttlichen
Berheißung, vom ewigen Deile leſen und hören, fie dafs
felbe doch nicht and eigenen Kräften fafen, verfichen,
glanden nnd als wahr anerkennen können. Und, um
Beide, das praktiſche und theoretifche Berderben, zufams
nenzufaſſen, in feinem Willen iſt der Menſch durch bie
&rtfände fo elendiglich verkehrt, vom Bifte der Sünde
argeſteckt und verdborben, ut ex ingenio suo ei ne-
(ura totus sit malus, Deo rebellis et inimicus, et
ad omnis, quae Deus odit, nimium sit potens, vivus et
efficaz,
Wie aber fol nun eine Anknüpfung Gottes an folche
Natur möglich feyn? Hat der Menſch ſolches Berderben
in fih, wie Tann er denn Gottes Gnade auch nur aufs
uchmen? Wie iſt 2) dee Menfch in der Belehrung
su denfen? Hierauf. hat die Form. Conc, 20— 11. zu ants
worten: „Die Predigt und das Hören bed Wortes Gots
tes ſind Die Werkzeuge des h. Geiſtes, mit weichen und
darh welche er wirken, die Menfchen zu Gott befehren
md in ihnen das Wollen und Bollbringen fchaffen will.
Diefed Wort Botted kann ber auch noch nicht befehrte
Menſch, auch der Unwiedergeborene mit feinen äußeren
Ohren hören und leſen. Denn in folchen Dingen hat er
124 Bed
audı nach dem Kalle eine Art’ von freiem Willen.” Mar
unter 1) eine Freiheit in äußerlichen Dingen zugeftanden,
ſo it nun bier das zweite Zugeſtändniß a) auch in geifl-
lichen Dingen eine äußerliche $reiheit, Habet enim lo-
comotivam potentism: darum fann er die Äußeren
Slieder regieren, in die öffentlichen Berfammlungen der
Kirche gehen, das Wort Gottes hören oder nicht hören,
und durch dieſe Verkündigung und Betrachtung des Evans
geliums wird ein Füntchen von Glauben in feinem Her⸗
zen entzlindet. Diefed Locomotivvermögen gibt aber feine
fittliche Zurechnung, vielmehr (662.) non aliquid ex se effi-
cit active aut efficaci habilitate, aptitudine aut capacitate,
sed capacitste tentum passive Dei gratiam in se
acelpit. Run aber folgt b) body eine Bermahrung gegen
ein fogenanntes Mißverſtändniß von Luther’ Ausſpruch,
daß der Menfch in der Bekehrung ſich pure passive vers
halte: er meint damit gewiß nicht, daß die Belehrung
ohne das Wort Gottes gefchehe, fondern er wollte dag,
des Menfchen Belehrung fey nicht nur theilweife, ſondern
durchaus ganz ein werkthätiges Geſchenk und ein Wert
allein des heiligen Geiſtes. Dieß gefchieht jedoch nicht
in der Art, wie wenn eine Bildfänle aus Stein geformt
oder ein Siegel in Wachs gedrucdt wird, wo dad Wache
feine Empfindung, feine Kenntniß und keinen Willen hat.
Hier Inüpft fidy nämlich ein drittes Zugeſtändniß an die
Freiheit an, wenn auch nur ein negatives:. fie kann wis
derfichen: gratia resistibilis. 672: Deus hominem
non cogit, und kurz zuvor: hac ratione dici potest, homi-
sem esse lapidem aut truncum. Sed tamen ad conrversio-
ncm suam prorsus nihil conferre potert et hac in parte
multo deterior est lapide.et trunco, quia re-
pugnat verbo et voluntati Dei.
Wir fehen, beide Seiten follen zu ihrem Rechte kom:
men; der Freiheit werden ber Reihe nach bie drei Zuges
ſtändniſſe der iustitie civilis, locomotiva potestas und gra-
über die Praͤdeſtination. 123
tia resistibilis gemacht. Andererſeito aber iſt doch ber
Menſch mere passivus und die Gnade thut Alles. Dieß
ſind die zwei weſentlichen Momente, durch welche nun
an 3) die kirchliche Lehre von der Praädeſtination
beſtiumt wird und welche bei ihrer zweifachen Seite,
Erwählung und Verwerfung, bie conſtitutive Rorm ab»
geben. Es fol nämlich zugleich im Interefle der menſch⸗
lihen Zreiheit und der göttlichen Heiligkeit die von Ans
gufiin gemachte Linterfcheidung zwifchen Präſtienz und
Prädekination erneuert werden, Dieß gefchieht zunächſt
in Beziehung auf
ı) die Ermwählung. Form. Conc. 798: Gottes
Boranswiffen und Vorherſehen, vermöge deſſen er Alles,
the es gefchieht, vorfieht und voraus weiß, behnt fidh
auf alle Befchöpfe, gute und böfe, aud. Gottes ewige
Erwählung oder Berorbnung zum Seile (welche Begriffe
in der Schrift promiscue gebraucht werben nach Gerhard's
Inteinanderfegung de elect. et reprob, 28.) geht nicht zus
geh auf Gute und Böfe, fondern unr auf die Söhne
Shıme, welche zur Erlangung bed ewigen Lebens erwählt
und verordnet find, ehe der Welt Grund gelegt war.
0: Sein ewiger Rathſchluß ift, Alle, welche wahrhaft
Buße thun und Chriftum in wahrem Glauben ergreifen,
u rehtfertigen, in Gnaden und ald Kinder und Erben
des ewigen Lebens aufzunehmen. Die Präpdeftination hat
üsbefondere die Aufgabe, alles Berdienft auszu⸗
Idließen. F. €. 821: Falſch ik ed und dem Worte
Gottes widerſprechend, daß nicht bloß die göttliche
darnherzigkeit und das einzige allerheiligfte Verdienft
khriti, fondern auch etwas in uud (aliquid in nobis) Ur⸗
fühe der göttlichen Erwählung ſey. Eben fo falfch aber
Mr, dag die Erwählung nur im abfolnten Rathſchluſſe
Gones feſtgeſtellt ſey, vielmehr iſt fie gegründet in prae-
'isione fidel atque intuitu Christi per fidem appre-
bendendi. Dabei aber hat der Glaube doch fein Ber
126 Bed
bienft, fondern (Gerhard 172.) wie wir in der Rechtfertis
gung gerechtfertigt werden durch ben Glauben, wo alle
Kraft der Rechtfertigung und genommen if, fo werden
wir erwählt durch den voraudgefehenen Glauben gra-
tuita electione, non tamen absolute.
Geſchieht aber die Ermählung inteitu Christi, fo ent⸗
fieht confequenterweife bie Frage: da, Ehrifli Verdienſt
univerſell if, it auch die Ermählung eine univerfelle
oder nicht? Die Kirchenlehre antwortet bejahend (804.),
daß nicht bloß Die Prebigt der Buße, fondern auch bie
Verheißung ded Evangeliums umiverfal ſey, d. b. alle
WMenſchen angehe, 805. und diefe Berufung Gottes, ver»
möge der burc dad Wort das Evangelium angeboten
wird, halten wir nicht für erheuchelt und verftellt, fon»
bern wir wollen ald gewiß aneriennen, daß Bott durch
diefe Berufung feinen Willen offenbare, wie er nämlich
in denen, die er alfo beruft, durch dad Wort wirtfam
fey wolle, daß fie erleuchtet, belehrt und gerettet wer⸗
den. 807: Daß aber Biele berufen und Wenige ausder-
wählt find, davon iſt der Grund nicht die göttliche He:
enfung, welche durch dad Wort gefchieht, denn das hieße
Bott entgegengeſetzten Willen andichten, ald ob der, ber
die ewige Wahrheit ift, ſich widerſprechen könnte oder
Andered redete, ald er im Herzen behält. Denn dad wäre
(Gerh. 71.) nidytd Anderes, ale Gott die ſchlimmſte Art
von Heuchelei zumuthen. Aber, diefe Einwendung macht
Gerhard ſelbſt (25.), wenn Bott im Ernfie Alle gerettet
wien wollte, fo würden fie doch auch gerettet werden!
Er antwortet (75.) mit der Unterſcheidung von absoluta
und simplex Dei voluntas. Deun (118.) das Ver⸗
dienſt Chrifti iſt univerfal, wenn man ed an fi, ohne
die Beziehung anf feine Aneiguung betrachtet, aber feine
Aneignung und fein wirkliche Genuß wird durch den
Haß der Menfchen, die die geordneten Mittel verachten,
‚ particular (codio heminum redditur perticularis).
über die Präbeflination. 127
b) So find wir deun zur andern Geite, zur Ders
werfung, binübergetreten, und da giltfomit als 1) erfie
Beſtiumung: die Schuld liegt im Meufchen. Denn,
führt Gerhard fort, mit Irenäud zu reden, hört bad Licht
siht auf wegen derer, die fich felbft geblendet haben,
jondern jenes bleibt, wie es ift, aber die Berblendeten
bleiben durch ihre Schnid in der Finfterniß, und fo (18.)
wird das Wort Gottes, das an ſich ein Wort des Les
ben ik, ex nocidente für Einige ein Geruch ded Todes
mm Tode. Ja ſelbſt in ihrer Verdammung tritt die Unis
verfalltät der Guade au ben Tag (111.): wenn fie das
ram verdammt werden, weil fie nicht glauben au bes
Sohn Gottes, fo folgt, daß auch auf fie das Leiden und
Sterben Ehrifti einen Bezug hat, Sonſt könnten fie ja
als Begächter deſſen nicht verdammt werden, was nad
Gottes Rathſchluſſe fe gar micht angeht. Daraud ergibt
ſich deun (Conf. Aug. XL): quod, tametei Deus ereat et conser-
ılnalurass, tamen causa peccati est voluntaa malorum, quao
aaadinvante Doo avertit se a Deo. F. C. 806:
Br, durch das Wort berufen, dieſes verfchmäht und
dem h. Beifte wiberfizebt und verftodt in der Halsſtar⸗
rigleit beharrt, den hat Gert zu verftoden, zu verfchmär
bea und der ewigen Verdammniß zu übergeben befchlofs
fm, wie Gerhard fagt (30.), veluntate sun &zouivy neu
indielarta. Es wird nämlih an biefer Stelle 2) unter-
ſchieden voluntas antecedens UND comsequens.
Denn (Gerhard 79.) bei der volantas antecodens fommen in
Vetracht die Mittel zur Geligleit, wie fie von Seiten
Getted geordnet find und Allen angeboten werden. Bei
der roluntas conseqguens aber kommen biefelben Mittel
in Betracht, nur fo wie fie von den Menſchen angenom-
wen oder vernachläffigt werben. Diefe Unterfcheidung ift
eine allerdings erft von Gerhard beflimmt gemachte, aber
cher dem Geifte des Syſtems entfprechende, wenn wir
vergleichen 3. B. solid. declar. 818. Der Bater will
128 Bed, über die Präbeftination.
Joh. 6, 44. Niemanden ziehen ohne Mittel, aber er ge
braucht als ordentliche Mittel und Werkzeuge fein Wort
und die Sacramente. Was aber die Unterfcheidung eis
gentlich befagen will, gibt Gerhard felbft deutlich zu er⸗
tennen (159.): der Rathſchluß Gottes ift ein ewiger und
in Einem ganz einfachen Acte hat Bott von Ewigkeit
Alled voraudgewußt, wir aber haben die Ordnung zu
betrachten, welche die Schrift in Anbequemung (ovyxara-
Belvovoc) an unfere Schwachheit befchreibt. Hiernach iſt
nämlich 3) der Begriff Der voluntas consequens offenbar
‚nur eine Accommodation an ben menfdhlichen Verftand, in
Wahrheit aber niche wirklich in Bott, vielmehr gründet
ſich zuletzt doch die Verwerfung in dem abfolnten
Rathſchluſſe Gottes, der (Gerh. 17.) intuitu finalis
impotentlae atque incredulitatis, quam praescivit Deus ab
aeterno, von Ewigkeit feſtſteht.
Se ift denn Gottes ewiger Ratbfchluß zugleich ein
abfoluter und ein bedingter. Um Gottes Heiligkeit zu rets
ten, werden 1) der Freiheit nacheinander folgende Zuge
fändniffe gemacht: Freiheit im Aenßerlichen, im Geiſtli⸗
chen äußerliche Freiheit, Entäußerung der Gnade, ober
justitia civilis, locomotiva potestas und gratia resistibilis;
2) werden in Gott flatuirt eine praevisio fidei und bie
Zweiheit einer voluntas antecedens et consequens,, simplex
et absoluta. Aus Beiden zufammen folgt: 3) die Erlöfung,
an fich univerfal, wird ex accidente particular. Wie aber
dieſes Anfich und diefes Fürfich im höheren Aus und Fürs:
fi) zufammengehe, darüber bleiben wir im Dunteln |
(Der zweite, Eritifche Theil folgt im nächften Hefte.)
|
i
Zifchendorf, der vaticanifche Bibelcoder. 1729
. 3
Nachricht
vom —
vaticaniſchen Bibelcoder*)
Von
Prof. D. Tiſchendorf.
⁊
En Kritiker des neuteſtamentlichen Textes, ber nach
Rom füme und nicht Alles daran ſetzte, ben berühmten
vaticanifchen Bibelcoder zu benugen, der wärbe ſich an
feinem Berufe verfündigen. Sind auch die Urtheile über
feinen Werth nicht .einig, fo wird boch die Anficht wenig
Widerſpruch erleiden, daß bderfelbe nebft feinen beiden
MWahlverwaudten, dem Codex Ephraemi und dem Codex
Alexandrinns , zur Feſtſtellung des urfprünglichen Apoſtel⸗
terteß wichtiger ift ald die Hunderte der Handfchriften,
die nach dem zehnten Jahrhunderte verfaßt worden find.
Allein trotz Diefer Wichtigkeit ſteht es außer allem Zweifel,
daß die bisher von ihm genommenen Bergleichungen
fehr mangelhaft geblieben find, Diefe Mangelhaftigkeit
iR neuerdings am meiften durch diejenigen Arbeiten über
den neuteftamentlichen Text hervorgetreten, ‚die den va⸗
ticauiſchen Eoder zu ihrer Hauptſtuͤtze machten.
Der Zugang zu der geheimnißvollen Urkunde war
wir daher bei meinem viermonatlichen Aufenthalte zu
Re in Jahre 1843 eine Hauptaufgabe. War diefer Zu:
ung auch fchwierig, fo blieb-er doch nicht unerreichbar,
wich vorzugsweife den befonderen Verwendungen eine®
diq feine Wilfenfchaftlichkeit hochberühmten Gliedes des
Hklichen -Fürftenhaufes zu verdanken habe. Von ben
2) Mit einer lithographirten Tafel Barfimile,
Theol, Gtud. Jahrg. 1847,
130 Tiſchendorf
Reſultaten, die mir eine wiederholte mehrſtündige Ein⸗
ſicht des Codexr gewährte, habe ich Freunden in Deutſch⸗
land ſofort durch die allg. Kirchenzeitung Nr. 116. vom
25. Juli 1843 Nachricht gegeben a). Aber Alles, was mir
theild durch die eigenen Augen, theild durch die mir fchrift-
lich gemachten Mittheilungen des Carbiuald Mai, theils
durch die Benutzung der neuerdings ganz überfehenen
parifer Vergleihung von den igenthümlichleiten bes
Coder befannt geworden iſt, glaube ich den Freunden
der neuteftamentlihen Tertkritit um fo weniger noch
länger vorenthalten zu dürfen, da vieled Unrichtige in
den kritiſchen Sammlungen dadurch berichtigt, vieles
Schwanfende entſchieden, vieled Neue bem Alten hinzu⸗
gefügt wird,
Der Mittheilung der Lesarten fchidle ich einige Pas
läographifche Bemerkungen voraus. Bekanntlich hat Nies
mand mit fo viel Sachkenntniß und fo angelegentlih das
Alter der vaticaniſchen Handfchrift unterfucht, als Leonhard
Hug. eine Commeutatie de antiquitate codicis Vati-
cuni 1810 iſt aber längf vergriffen und fehr felten ges
worden; deßhalb ift die Notiz nicht überflüffig, daß Hug
die Handfchrift damals benutzte, als fie mit anderen Klei⸗
nobien der Baticaua in die yarifer Gefangenfchaft ge⸗
rathen war. Bei einem fpätern Beſuche in Rom hat
Hug leider umfonft den Eoder nur zu fehen- gewünſcht,
wie mir der nun heimgegangene Greis im Januar 1843
felbſt erzählt hat. Den Anfichten Hug's über das Alter
der voticanifchen Handfchrift ſtehen aber gegenüber die
Unfichten des gelehrten Dünen Andreas Bird), der Durch
a) Es Fam dadurch nothwendig in Wegfall, was ich zu Pfingften
deſſelben Jahres von Rom aus über meine am 10. Maͤrz ges
nommene Einfidt bes Coder in die Stubien und Kritiken geſchrie⸗
ben hatte. Da mein Auffas erſt im Jahrgange 1844 feine Stelle
fand, fo hätte die den Coder betreffende Notiz füglich entfernt
werben follen,
der vaticanifihe Bibelcober. 131
feine Bergleichung zuerft über den Tert der Handfchrift
ein volleres Licht verbreitete,
So weit mich nun meine eigene Prufung zu einem
Urtheile berechtigt, muß ich Hug gegen Birch beipflichten,
und namentlich vor Allem darin, daß Accente und Spi⸗
rims keineswegs von der erften Hand ſtammen. Aller⸗
dings fchließe ich dabei nicht aus, daß etwaige vereinzelte
Spiritus und noch mehr der zu einer gewiflen Diärefis
dienende Apoſtroph urfprünglich feyn mögen, was eine’
durchgängige fachvertrante Prüfung vielleicht noch zur
Eutfheidung bringen kann. Doch Iäßt fidy beides nur
in derfelben Weiſe annehmen, wie es fih in andern ural⸗
tm Docnmenten vorfinbet, wo ebenfalls von der Accen⸗
tmation noch Feine Spur vorliegt, aber dennoch biöwellen
ein Spiritus aus befondern leicht erfichtlichen Gründen, fo
wie nicht felten Der genannte Apoftroph fteht. Deffen erinnere
ih mich z. B. von dem borgianifchen Pragmenten der
Propaganda and dem fünften Jahrh., aus denen ich uns
ter Anderem o oyAod aufgezeichnet habe, fo wie von dem
älteten der beiden wiener Dioskorides, wohl and dem
vierten Jahrh. Im letzteren ſah ich beſonders häufig,
und zwar noch häufiger als im Codex Friderico- Augustanus
zu keipzig, jenen biäretifchen Apoftroph, wie in Gvgıy’yao.
Zur Streitfeage iſt ferner die Interpunction im vatica⸗
niſchen Goder geworden. Zu Hanpturhebern hat dieſelbe
ebenfalls die fpätern Hände gehabt; vereinzelte Anfänge
lagen jedoch ohne Zweifel fchon von der erften Dand vor,
In meinem eigenen Facfimile von den zwei Stellen, bie
ver Corrector unberührt gelaffen (fiehe die lithographirte
Zefel), findet fich zweimal ein Punkt. Der Codex
Priterico - Augustamus dient hierin zum beften Auffchluffe,
dech une in denjenigen Terteöftreden, die ohne den fpä-
ia Gorrector geblieben find. Da fehlt nämlich der Puntt
mehrere Eolumnen hindurch gänzlich, während er ander»
wärtd vereinzelt ſteht, und zwar befonder6 da, wo eine
9” :
132 | TZiſchendorf
Treunuugsangabe der Wörter, wie bei zuſammeunſtoßen⸗
den Nominibus propriis, fehr erwünfcht zu feyn fchien.
Bon Abbreviaturen kömmt im vaticanifchen Coder,
außer den allgewöhnlichen , fehr wahrfcheinlich auch eine
für xos vor; vielleicht auch noch einzelne andere. Sch
felbft habe daranf nicht hinlänglidy geachtet und bezweifle,
daß die früheren Beobachtungen vollftändig gewefen flud.
Auch im älteften fchon genannten wiener Dioskorides ſtehen
bisweilen xus und ra abbrevirt.
Was die Schriftzüge betrifft, fo freue ich mich fehr,
durch die Veröffentlichung meiner Facſimiles eine richtige
Anficht, und zwar bie erfte richtige, gelehrten Augen da⸗
von gewähren zu können. Blanchini's Facſimile ift keines⸗
wegs fehr fchlecht, aber e6 kann nur zur Veranſchaulichung
der von fpäterer Hand überzogenen und fomit vernnſtal⸗
teten Schriftzüge dienen. Hug hatte mit richtigem Blicke
zwei von den fehr wenigen Stellen ausgewählt, die, da
fie aus Berfehen doppelt gefchrieben waren, vom Cor⸗
rector gemißbilligt wurden und deßhalb ohne Auffrifchung
blieben. Nur diefe Stellen laffen die urſprüngliche Schrift
bes Coder beurtheilen. Allein wenige Buchflaben find
ohne eine wefentlihe Entſtellung in Hug's Facſimile
wiebergegeben worden, So ift durchgängig falſch die pas
Läographifch wichtige Form ded a; ferner durften in den
Buchftaben &, 6, r, y die Endpunkte oder Endhaäkchen
nicht fehlen; auch if die Form von o, ꝙ und x fo gut
wie verfehlt. Dieß Alles wird ſich vollkommen aus einer
Zufanmenftellung meiner Rachzeichnung von Rom. 4, 4,
mit der Hug's von derfelben Stelle ergeben. Ich babe
nicht nöthig zu verfichern, daß ich meines Theile auf jede
Linie und jedes Häkchen forgfältigft geachtet habe.
Im Allgemeinen ift nun der Schriftcharafter im va⸗
ticanifchen Eoder ohne Zweifel dem höchften Alterthume
zugehörig; mit einziger Ausnahme ded Codex Friderico-
Augustanus (vergl. meine Prolegomena dazu) übertrifft ihn
ber vaticanifche Bibelcodex. 133
an Alterthümlichteit Feine einzige der mir befannten gries
chiſchen Pergamenthandfchriften. Mehrere herculanenfifche
Dapyrus, wie ſchon Hug hervorgehoben, ftehen, zumal
mit Hinzunahme der Abwefenheit aller Anfangsbuchftaben
und mit Rüdfiht auf die fonftige Gefammteinrichtung,
in naher Berwandtfchaft zu ihm. (Auch darüber vergl.
die Prolegg. des Codex Friderico- Augustanus.) Alles zu»
fanmengenommen, kann ich nur der Anficht feyn, daß der-
felde um die Witte des vierten Jahrh. verfaßt feyn möchte,
wofür Hung mit Necht noch befondere geltend gemacht hat
die gänzliche Abwefenheit der ammonifchen Sectionen,
die Eigenthümlichkeit der Unterfchriften, fo wie die der
Rapiteleintheilung in der Apoftelgefchichte und in den Brie⸗
fen, die Stellung des Hebräerbriefö und endlich den Ans
fang des Briefes an die Ephefer, wo die Worte ev ayccon
nr am Rande und nit im Texte fliehen.
Nur über den leuten Punkt geftatte ich mir noch eis
nige Worte, da ich darin ganz gegen Hug’s Anficht ftims
men muß. Wäre ev eyeon von der erftien Hand felber
anf dem Rande nachgetragen worden, fo hätte Hug dars
auf mit Unrecht ein fo großed Gewicht bei der Alters⸗
bekimmung des Goder gelegt. Denn dann ließe fih am
einfachſten annehmen, daß der Schreiber den Zufaß in
feinem Borbilde nicht gefunden, aber ald gewöhnlich oder
gar als weſentlich in feiner Abfchrift fofort nachgetragen
hate. Allein Hug's Angabe, dieſe Worte feyen pari ele-
gastia et assiduitate ac reliqua pars operis, sed charactere
pullo exiliori, gefchrieben, muß ich entfchieden in Abrebe
ſtellen. Augen, die der Paläographie fundig find, werben
von ſelber dieſes Refultat aus meinem Kacfimile gewinnen.
sh füge aber dazu noch folgende Erläuterung, Der
ganze Charakter diefer Buchftaben iſt ein wefentlich an-
derer als der der Tertesfchrift. In der Korm de s ift
die fogenansite gefchmälerte Uncialfchrift unverkennbar;
aber auch bei der Heinften Schrift am Ende einer Zeile
134 diſchendorf
findet ſich in den aͤlteſten Handſchriften niemals dieſe ber
fpäteren Zeit angebörige Schmälerung *). Selbft anf den
codex Ephraemi und den codex Alexandrinus leidet bieß
feine volle Anwendung, ber die zahlreichſten Belege bier
tet der codex Friderico- Augustanus; fie liegen in meiner
durchgängig facfimilirten Ausgabe deſſelben Iedermann
vor Augen. Was ferner die übrigen Buchſtaben außer
s anlangt, fo enthalten fie ſämmtlich fichtliche Abweichun:
gen von ber Schrift des Terted, Dad p in der Note
bitte ich mit dem ꝙ in Rom. 4, 4. auf dem Facfimile zu
vergleichen. Die flarte Linie in v iſt gerade da, wo bie
Terteöfchrift durchgängig eine feine Linie hat. Die Buch⸗
ftaben 0 und o entbehren aller Feinheit der urſprüng⸗
lichen Schrift.
Auc liegt ein Analogon von den Schriftzügen dies
fer Note im Eoder vor. Apg. 14, 21. namlich fchrieb die
erſte Hand uad'nrsvon”; die fpätere corrigirte daraus
udmrevoavrss. Hier treffen in dem fpätern Zufage: vraa,
befonders die Buchflaben s und s volllommen mit den⸗
felden Buchftaben in sv syeon zufammen.
Dazu kömmt noch, was von Gewicht iſt, Daß die Tinte
der Note gänzlich mit den aufgefrifchten Stellen überein»
flimmt, obfchon fie offenbar ohne Auffrifchung geblieben if.
Somit hoffe ich, meine Behauptung, daß ev zysco
durchaus nicht von ber erſten Hand bed Coder ftammt,
Har bewiefen zu haben.
Do ich gehe zum Tritifchen Apparate für bie va⸗
ticanifche Handfchrift über. Die beiden Vergleichungen
berfelben, bie eine von Andreas Birch, die andere nach
Thomas Bentley benannt, find längft befannt unb viels
fach benußt worden, Birch machte die erſte Mittheilung
feiner Bergleihung in feiner Ausgabe der vier Evange⸗
— —
a) Siehe daruͤber melnen „neuen Beitrag zur neuteſtamentlichen
Textkritik“, Stud, u, Krit. 1844. Heft 2.
der vaticanifche Bibelcodex. 135
lien von Jahre 1786; genaner aber und umfänglicher
war eine zweite in feinen Variae lectiones zu ber Apoſt el⸗
gefchichte und den Briefen vom Jahre 1796, fo wie zu ben
Evangelien vom Jahre 18601, Die nach Bentley benannte
Collation wurde zum Zwede ber von Richard Bentley
beabfichtigten Ausgabe des R. T. und zwar meiftentheils
von der Hand eines Stalieners gefertigt. Bon Richard
Bentley kam fie an den Geiftlichen Thomas Bentley unb
von ihm erhielt fie Woide, ber Herausgeber des Coder
Alexandrinus, der fie au& dem Novum Testamentum Graece,
Argentorati apud Wolfium Cephalaeum 1524, in die orforber
Ausgabe von 1675 übertrug, So wurde fie dann, zu⸗
gleich mit Berädfichtigung jener ftraßburger Ausgabe,
in der Appendix ad editionem Ni Ti e cod. mr. Alexan-
drino im Jahre 1799 von. Heinr, Kord veröffentlicht.
Beide Vergleihungen nun, die birch’fche und bie
bentley'ſche, ergänzen fich gegenfeitig; doch if im Gans
jen die letztere reichhaltiger, Freilich fagt Birch: Leeti-
ones Lucae et lohannis ex schedis Bentleli exsoriptas amice
eam nobis communicarvit Illustrissimus et Doctissimus Woide,
wonach es fcheinen kann, Bird; habe den Coder in ben
beiden Evangelien gar nicht angefeben. Ju der That
macht Lachmann in feiner größern Ausgabe (Prolegg. XXII.)
diefe Kolgerung ohne Rückhalt: Tantum afuit, fagt er,
at hie certe (Birdy) librum omnium longe antiquissimum
samma et eura et fide excuteret, ut evangelia Lucae et
lehannis ne inspexerit quidem, sed Woidii schedas descri-
bere satis esse duzxerit. Allein diefe Kolgerung möchte
leicht ein zu raſches Urtheil feyn. Denn nachdrücklich
ſprechen dagegen die da und dort in den Bergleichungen
beider Evangelien bei Bird und Bentley vorliegenden
Differenzen. Sch hebe davon nur einige hervor, wäh⸗
rend andere im nachftehenden Apparate ihre Erwähnung
finden. Luk. 2, 37. fehlt axo vor Tov ısgov nur bei Birch;
6,36. fehlt ovv nach Iıvscds nur bei Birch; 8, 40. ſteht
136 Tiſchendorf
bei Bentley: Eytvero sv ds pro Eytusro de ev, während
es bei Birch heißt, daß Eysvsro fehle und dann zv ro Ös
fiehe; 22,30. hat xgivovrss Bentley nadı Yuilac, Birdy
nach sogani; 24,34. hat Bentley: o %o ovras nyEgQn,
und Bird): ouroo nyepön 0 x0 8); 24,49, hat nur Birch
Die Variante staroorsilm für axosssiin. Wollte man
demohngeachtet dabei fiehen bleiben, daß Birch in den
Evv. Euc. uud Joh. den Eober nicht einmal angefehen
babe, fo müßte auf eine auffällige Mangelhaftigkeit in
ber Herausgabe ber bentley’fchen Bergleichung bei Kord
geichloflen werben.
Zu biefen beiden Bergleichungen kommt aber noch
eine britte, Die zwar früher al& die beiden andern unter
nommen, aber, fo viel ich weiß, erft von Scholz für den
textkritiſchen Apparat beuntzt worben if. Sie befindet
ſich in ber königl. Bibliothek zu Paris ale Ar. 53. der
griechifchen Supplemente. Eine Beilage, bezeichnet: Par-
ticola di Lettera del M. R. P. B. Giulio di Sta. Anastasia
al P. B. Henrico di S. Giuseppe, vom 11, Nov. 1669 by,
beweilt, daß Giulio di Sta. Anastasis der Verfaſſer der
Bergleihung if. Auf dem erſten Blatte derfelben hat
eine neuere Hand bemerkt: Cette Ecriture est peut-&tre
de Leon Allatius, eine Bermuthung, die wohl irrig iſt;
denn in Rom wurde mir von dem gelehrten und fehr
ehrenwerthen Monfignore Molza die Auskunft ertheilt,
Daß unter jenem Giulio di Ste. Anastasie der Der:
faffer der berühmten bibliotheca Rabbinice, ehemals Cuſtos
—
a) Beides führt auch Lachmann im Apparate zu ber Eitelle on,
aber in ben Prolegg. fagt er: „non debuimus dubitare; delenda
sunt ille, 0 xugsos ovzaa nyegdn BR” Diele berichtigende Nach⸗
richt bat nämlich darin ihren Grund, daß das Facfimile Blan-
chini's gerabe biefe Stelle darſtellt. Da natürlich Eonnte kein
Zweifel übrig bleiben.
b) &. meinen Auffag in ben Studien 1842. Heft 2: „Zur Kritik
bes neuen Zeftanente”, ©. 510. |
der vaticanifche Wibelcober. 137
der Baticana, Bartolocci, zu verfteben fey. Anus dieſer
Bergleihung fagt Scholz daß er mehrere von Birch aus⸗
gelaffene Barianten ergänzt habe Ci. feine bibliſch⸗kritiſche
Refe, ©. 35.). Dieß fagt er mit Recht; bagegen hat
er aber auch fehr Bieled unbeachtet gelafien uud Anderes
wieder geradezu falich angegeben, fo bag Lachmann wohl
Grund hatte, in feiner Ausgabe von den Lesarten, bie
Scholz angegeben, gar feinen Gebrauch zu machen. (Aus
Ratt defjen mußte freilich Die parifer Quelle ſelbſt benutzt
werden.)
Allerdings ift nun dieſe Bergleichung Bartolocci's,
der birch’fchen und der fogenannten benticy’fchen gegen,
über, überaus mangelhaft; auch ift ihr Gebrauch durch
deu Mangel der Berdangabe erfchwert. Dennoch ift dag,
was ich daraus jur Ergänzung ber beiden erftern gefchöpft
babe a), keineswegs unbedeutend und ich eile, es im Nach»
Rehenden mitzutheilen, zugleich mit dem, was idy theils
mit eigenen Augen im Eoder gelefen, theild vom Cardi⸗
nal Mei fchriftlich erfahren habe,
Matth. 4, 23, lie der Codex nach Bartolocci zus
zegımyev ev 0An ın yalılaıa. So aud) EoberC ... Bent»
ley und nach ihm Lachmann geben an: xaus zegınysv oAn
in yalıkasa.
Matth. 7, 13. nach Bart. useAdere. Alfo richtig Bird, ;
falfh Btl. uasAder:.
Matth. 7, 14. nadı Mai orı orsvn a prima, zı Orevn
a) Zrog ber gewonnenen Ausbeute Tann ich noch Einzelnes übers
fehen haben, dba ich keine vollftändige Abfchrift nahm und mir
die nöthigen Hälfsmittel zur genauen Zufammenftellung mit
Bird) und Bentley nit zur Hand waren. Mein früherer, von
Paris aus eingefandter Beitrag „Zur Kritik des R. T.“, Stu
bien, Jahrg, 1842. Heft 2., hat zu meiner Freude den petersburger
Geiſtlichen D. von Muralt veranlaßt, fid) eine volllommene Abfchrift
ber pariſer Vergleichung fertigen zu laffen, um bavon in einer
eigenen Ausgabe bed R, T. Gebrauch zu machen.
138 TZiſchenborf |
a secunde manu. Alſo richtig Bird. Bti. war unflar und
unrichtig, inbem er angab, der Eoder habe 'Orl di arenı.
Das 'Orl enthält natürlich die Lesart der erften und zu-
gleich Die der zweiten Hand; nur war bei der leßtern das
O zu tilgen ®), ds aber follte zur nächſtfolgenden Rote
gezogen werden, wo zu fagen war, baß der Geber nicht
zpodeyers Ös, fondern wposszsrs hat. |
Matth. 11,16. nach Bart, z000pmvevvrz ToIG ErEgoLG,
wie auch die Codd. CDZ haben. (Rahm. gibt falfch von
C rous sraıpoıs an, obſchon bereitd Wetſtein das Rich⸗
tige referirt hatte.) Alſo richtig Birch; irrig Btl. und
nach ihm Lachm.
Matth. 11, 23, nad Bart. vpodnan, wie Birch;
nicht vyodaen, wie Btl.
Matth. 12,36, nadı Bart. Acanoouoiv; fo auch Goder
C. Lachm. Auinamdıy, e silentio Bch. et Btl. b).
Matth. 13, 9, nach Bart. fehlt axovar, wie ed im
Soder B auch 13, 43. fehlt. An unferer ‚Stelle ſtimmt
Cober L mit B überein.
Matth. 14, 34, nach Bart. yerunsager. Das gedrudte
Collationgeremplar hatte yeruncagsd; darnm bleibt bier
fein Zweifel übrig. Gegen Birch“s ysvunaagss hatte Btl.
yernoagsd, weßhalb Lahm. unentfchieden blieb.
Matth. 16, 6. nach Bart. fehlt æuroio nach sımev.
Btl. und Birch ſchweigen.
Matth. 17, 24. Mai beflätigte bie Lesart Der recepta
ÖLöpaxke.
a) Merkwürbiger Weife hat audy ber ehemals ingolfäbter und jetzt
mündhener Uncialcober, genannt evangeliorum X, an dieſer Stelle
biefelbe Doppellesart. Er fchreibt nämlich örl. Finden ſich in ihm
nody andere ähnliche Beziehungen zum Vaticanus, fo ift feine
Ableitung vom letztern ungweifelbaft.
b) Ich glaube, von diefem Zufage an allen betreffenden Stellen um
fo weniger abfehen zu dürfen, da Lachmann niemals angegeben
bat, ob er ein ausbrüdliches Beugniß der Lesart befigt ober nicht,
ber vaticanifche Bibelcober. 139
Matth. 17, 25. nach Bart. zus sidovrn. Go auch
esd. 1., ähnlich cod. 33. und evangeliariom 27. Richtig
(don Birch ; falfch Bel. und mit ihm Lachm. was sıseAdovra.
Matth. 18, 19. nah Mai und Bart, zalım av.
Richtig Br Birch; falfch Bl. und mit ihm Lachm. am
ohne zaAın
Matth. 21, 46. nad Bart. ı Er 80 Xp0pnenV, wie
anh D nnd L und Drigenes. (Ich babe es in meinen drei
Editionen in ben Tert genommen.) Lach. e silentio Bch.
et Btl. sx&ön.
Matth. 23, 37. Mai beftätigte die recipirte Lesart
KEOXTELVOUGR,
Matth, 24, 48. nach Bart. uov o xvosoc, wie fchon'
Bir und nach ihm Lachm. Falſch Bel. uov xuotos.
Mark. 2, 1. nadı Bart. xaı sed» aim, wie auch
D und L. Dagegen haben Birch und Bil, fo wie Ladım.
ze eanädev mal. Ich vermuthe, daß im Goder eine
Eorrectur und alfo eine doppelte Ledart vorliegt. Ebenſo
möchte fich’8 mit
Mark, 2, 5. verhalten, wo gegen Birch's und Bent»
ley’6 Angabe, apızııas sov, Bart. referirt aysswras dor,
wie auch cod. A und andere lefen. Deßgleichen mit
Markt. 3,7. Hier gibt Bart. an: 7xoAovdndeav, was
wit cod. C und anderen zufammenftimmt, während Birch
und Btl. 7koAovdnder berichten.
Mark. 3, 31. nad Bart. ornxovrsc, wie eod. ©.
Richtig Birch; irrig Bel. sornxowsee. Lachm. entfchieb
ſich nicht.
Markt. 4, 38. nach Bart. sysıgovdıw, Lachm. e si-
katio Bch. et Bil. disysigovaıv.
Mark. 7, 4. nach Bart. ansp sAaßov. Bel. referirt
Haßov für das recipirte zageiaßov, ohne das vorher⸗
gehende & zu berühren,
Mark. 8, 6. nadı Bart. zagayysiicı, wonach Bent⸗
Iey’d zagayysiss zu berichtigen iſt.
140 | TZiſchendorf
Mark. 9, 38. nach Bart. sp avrm o ımavvad, omisso
: Asyav. Andy Cod. C läßt Asyaov weg. Alſo wohl falle
kachm. e silentio Bch. et Bil.
Mark. 14, 7. nad Bart. avroıs zavrors. Auch C
und D haben avroıs. Danadı möchte Lachmann's aurovo
ein Irrthum feyn, obfchon Bentley avrovs zavzors aus-
drüdlich anführt.
Mark. 14, 43. nad Bart. fehlt av fo gut wie in
allen älteften Hanbfchriften. Ueberſehen von Bird und
Bentley; doch z0g Lahm. av in Zweifel.
Marl, 14, 46. nad) Bart. exsfalev ae yugas aurm.
avın haben audy D und L. (Ich nahm's in den Tert.)
Cod. C hat avrov, A hat avrmv = avrov. Demnad;
möchte ich ſowohl Bentley’ sr avrm, dem Lachm. folgt,
ale auch Birch's sw avrov für irrig halten a).
Luk. 1, 78. nah Bart. zwıaxaderas für sxscxeryaro.
Alfo richtig Birch und nad ihm Lachm.; falfh Bel.
EREOKEDETON.
kuk. 2, 38. nach Bart. ausn 7 ooa, wie auch ADL.
Darum wohl irrig Bel,, dem Lachm. folgt, obſchon er
zn avın apa ausdrücklich anführt.
a) Ich wieberhole hier noch, was ich ſchon in meinem „bibliſch⸗kri⸗
tifhen Sendfchreiben”, allgem. Kirchenz. 1843. Nr. 116., vom
Schlufſe bes Ev. Marci berichtet babe. eyoßovsroyag mit ber
Unterfchrift ara gagxov flieht auf der zweiten Solumne und
war ein wenig unterhalb ber Mitte berfelben, Darauf wirb
die dritte Solumne ganz leer gelaffen und das Evang. Euch erft
auf der neuen Seite begonnen, während body anderwärts immer
mit der naͤchſtfolgenden Columne ſogleich bas neue Buch beginnt.
Dieb geichieht 3. B. zu Enbe bes Evang. Zuc., das auf ber
zweiten Golumne ſchließt; benn ſchon mit ber dritten Columne
beainnt das Go. Joh. Beim Ev. Marci ſcheint mir nun ger
fagt zu feyn: bis hieher ſchrieb Markus, aber dem Evangelium
fehlt fein Schluß; vielleicht ſchon mit Rüdfiht auf erfundene
Schlußzuſaͤte, wie fie z. B. im codex L vom Evangelium feldft
noch gefonbert vorliegen. ,
der vaticaniſche Bibelcober. 141
£ul 5, 6. nadı Bart. disoonooero, wie ſchon Btl.
gegen bad disoonoos bei Birch und Scholz hatte,
euf, 5, 9. nach Bart. ızdvov mv avveiaßov. Bil,
und Birch fagen nur, daß das T der recepta im Goder
fehle. ; | E
tut. 6, 7. nad Bart. wa EVEMGLY xærnyoot⸗ (wie
ih in den Tert genommen). Lachm. ſchloß e silentio Beh.
et Bil, zernyogiav.
Lak, 7, 41. Mai beflätigt ansdrücklich esmperksrer
gegen das muthmaßliche zosopassrar.
eul. 8, 3. nadı Bart. dınxovovv avroıs. E silentio
Bch. et Bti. ſchloß Lachm. dumxovovv arm.
euf. 8,12, nach Bart. oı exovdavres, wie auch Eos
der L und andere. Lachm. e silentio Bch, et Bil. o:
RXOVOVEEO.
ent. s, N. nach Bart. oux evsducaro mcriov, wie auch
Coder L a) und einige Minusfelcodices, die regelmäßig mit
Coder B zufammenftimmen (Nr, 3. 131. 157,), Demnad
falſch Bel. und Birch, obfchon fie svsdıdvaxsro ansdrüd.
lich berichten.
Eu. 9, 62. nad Bart, fehlt aurov nach nv 100,
wie auch Origenes und andere Zeugen haben. Birch und
BtL fchweigen davon.
ent. 10, 15. nach Bart. sus rov edov, wie auch L
lobſchon Scholz nichts Davon weiß) und andere verwandte
Zengen, Bird) und Bil. berichten nichts,
tuf. 10, 42. nach Bart. auıne, wie auch CDL.
tadın. e silentio Beh. et Btl, ax œurno.
uf, 11, 29. nach Bart. eye, wie auch AL cich
— — — —
2) Jerthuͤmlich geben Scholz und GSriesbach's editio tertin an, &os
ber L Iefe own avadıd, (d.i. evedıövoxero), während auch Wet⸗
Rein faͤlſchlich euarıow ovx evadvanro referiert hatte, Nur bie
Symbolae Griesbach's enthalten bereits das Richtige.
142 Tiſchendorf
nahm's in den Text)... kachw. e silentio Boh. et Bil.
exiente.
tut, 11, 50. nadı Bart. suesyvusvor, wie audh die
Codd. 33, und 69., beide mit B fehr verwandt. E silentio
Bch. et Btl. Lachm. exyuvvousvorv.
Luk. 12,4. Mai beflätidt ausdrücklich axoxreworron.
Luft, 12,11. nad) Bart, uegspunonse, wie auch LAX,
Drigened und andere Zeugen. (Ich nahm's in den Text.)
. Bir und Bl. notiren uspuundars, was Lachm. mit
Necht in Zweifel zog =).
£nf. 12, 25. nad Bart. znzvv ohne sva, wie auch
D nebft anderen Zeugen, und wie ich in den Tert genoms
men. Schon Bird; hatte dieſe Lesart, während BEL. aus⸗
brüclic, va referirte. Lachm. iſt Btil. gefolgt.
Luk. 12, 33. nach eigener Anficht Baillavaa. Die
gleihe Schreibart ſteht jedenfalld auch in deu andern
Stellen bei Lukas.
Euf, 12,36. wach eigener Anſicht avadven für avarvdsı.
Ueberfehen von Birch und Bel.
Luk. 14, 12, Bart, beftätigt, wenn auch indireet, Birch's
Referat; anders Btl. Der Coder lieft alfo xaı yayıncaz
avrazodoua 004, nicht xaı aysanodoua 60: Yyeyırar.
Luf. 16, 9, nad Bart. und auch Mai orav exlsıın
(Mai fagt noch, daß die zweite Hand sxkıam corrigirt
hat), Danach iſt axlsıunss bei Birch und Bil. zu be
richtigen. |
®) Eigenthuͤmlich verhält fidy’s mit Luk. 12, 15. Birch fagt ausbrüd-
lich, daß für „avrov prius“ alfo für dad aurounady fon, im cod.
B avro fiehe. Mit Griesbach, Schulz und Scholz bin ich ihm
gefolgt. Bentley hingegen bat nur, nachdem er zaone für no
seferirt bat: ausm für aurovu. Daraus erklärt fidy der Wider:
fprud, den De Wette in feinem Commentare zu biefer Stelle
pay-98. (1846.) anführt. Leicht möglich iſt's Freilich, daß Birch
nur vermutbungsweife das ihm von Woide mitgetheilte
avın auf has erfie ausen bezogen bat.
ber vaticanifche Bibelcodex. 143
Lu. 19, 15. nach Bart. dsdoxus, wie Bil. und nad
ihm Lachs. richtig angegeben haben. Falſch Birch, dem
Schulz in Griesbach's ed. tert, und ich in meinen Aus⸗
gaben folgte: dsdmxen.
£ul. 19,15. nach eigner Anfidht ci deszgayuareugavro,
wie auch DL und Origened. Lachm. zıo zı dıszgayue-
sevoovzo, wie es bei Bil. (und Birch) den Schein hatte,
Euf. 20, 27. nach Bart. surgwrav, wie auch einige
mit B verwandte Minuskelcodd. E silentio Beh. et Bil.
tahı. zungwenderv.
Luk. 22, 7. n sd für ev n sd. So au DL, uud
ih nahm's in den Tert. Lachm. e silentio Beh, et Bil,
vn m. ,
Lu, 22, 66. nach Bart. aunyayov; ebenfo D, Dris
genes u.a. Zeugen. Lachm. e silentio Bch, et Btl. aunyayorv.
Yoh.1, 18. nach Bart. OAsos für vos. Diefelbe übers
aus merfwärdige Ledart haben nicht nur ced. L, eod. 33.
und zwei Verſionen, fondern auch Origenes (zweimal),
Irenäus (einmal), Arins (bei Epiphanind und Athana⸗
ſius) und mehrere andere der älteften Zeugen.“ . Rahm.
e silentio Beh. et Bil. referirt vıoo.
Joh. 5, 10. Mai beftätigt Die Uebereinſtimmung mit
der recepta: ovx sbsarıv ohne aa; fo wie and
Soh. 3, 35. ayallsacdınvas, nicht ayakdsadıwar.
oh. 6, 24. nach Bart. wiosa. ziosagıa gab Lachm.
and eigener Vermuthung an; denn Woide fagt p. 58. in
der Appendix: „wiosagie. Sic Editio; an Ms. nescio.”
oh. 6, 40. nadı Bart. zo Beinpa Tov zargod kon
für 70 HeAnpe tov zamyavros us, wie auch CDLT
%03. Lachm. fchloß e silentio Boh. et Bil. bie recepta.
oh. 6, 42, nad Bart. zas vuv Asyaı ori. Ueber
chen von Birch und Btl., daher Lachm. zus vuv Asyıs
ovros ori.
Seh. 6, 58. nach Bart. fehlt co perum, was ich auf
ß ‘
144 - Zifchendorf
die Autorität der mit B verwandten Zeugen aus bem
Texte entfernte, Ueberfehen von Birch und Btil.
Soh. 8, 52. Havaroy ov un Demonen für ov un ya-
oa Davarov. Bil. hatte Havarov ov un Osconon und
ihm hatte e8 Birch nachgefchrieben. Lachm. richtig Havarov.
Joh. 8, 54. Mai beflätigt die recipirte Lesart: or
Osos vamv soxiv.
Joh. 8, 69. nach Bart. fehlen die Worte A Bun
HEdOV avımv xaı Kapınyev ovrad, die ich bereits in meinen
Andgaben aus dem Terte entfernt habe, was gleichfalls
Lachmann in feiner größern Ausgabe that, — und
Btl. ſchweigen.
Joh. 9, 10. nad Mat evemzönden. Lachm. e silentio
Bch. et Bil. avsoydnoav.
Joh. 11, 21. Bart. ausdrüdlich: cs 76 ade pro xvpi£
& n0 omö8.
Joh. 12, 7. nach Bart. rnonos. Bird und Btl. res
feriren enonen.
oh. 12, 25, nach Bart, axoAivsı. Lachm. zweifelte
an der Nichtigkeit des Referats bei Birch und Btl. awodven
Joh. 12, 40. nach Mai sacouas. Lahm. e silentio
Bch. et Btl. sacmuaı.
oh. 16, 23, nach Bart. und auch Mai: Asyc vum
av ri aınöncs ohne ori. Birch hatte ausbrüdlich berich⸗
tet: oTı av ı pro orı oda av, und ihm ift Lachm. gefolgt.
Btl. fagt nur: av ri pro 00« av.
Joh. 16, 27. zapa rov zargos sinidov. So haben
auch C"DLX ıc. Kalfch alfo Bird und Bel. und nad
ihnen Lachm.: zapa zarpos sEnidov. Irrthümlich refe⸗
. riet Lachm., gegen bie Autorität feines Gewährsmannee
Wetſtein, daß anch C den Artikel zov nicht habe,
Joh. 17, 15. nach Bart. fol ıv@ rnendss avrovs Ex
Tov xoduov für wa TnpndnG avrovs 8x Tov zovngov ftehen.
Joh. 19, 12. nach Bart, exgauyasav für sugaLov
ber vaticanifche Bibelcober. 145
Ebenfo D (die urfprünglihe Hand fehlt jeboch hier) und
mehrere häufig mit B ſtimmende Minnskelcodd. Darum
wohl irrig Btl. (und Birch): sugavyaforv.
Joh. 19, 29. nach Bart, uscruv ofove. Alfo wohl
falſch assrov zov ofovo bei Btl. und Birch.
Joh. 19, 29. nad Bart, vooaxw, nicht wie Btl.,
dem Lachım, folgte, vonze.
Apg. 2, 31. nadı Bart. ours 7 dag& avrov, wie auch
ACD n. a. 3. für ovös ıc, Birch und Bel, fchweigen,
Apg. 2, 43, nach eigener Anficht syeıyero ds zuon.
Birch fchweigt, uud Bentley’s Nachricht bezieht fich aller
Wahrſcheinlichkeit nach auf das folgende syıvsro.
Apg. 7, 26. nach eigener Auficht avvnädadsen. Irrig
Birch cuumAlacev und Bil, duvniascev.
Apg. 7, 47. nach eigener Anficht ouxodoundes, von
weiter Hand corrigirt mxodounsev. Die Vernachläſſi⸗
gung dee Augments in oscodoungev, die in nnferer Stelle
auh Eoder D hat, wies ich in verſchiedenen Stellen bes
Codex Ephraemi nach. Siehe Prolegg. p. 21.
Apg. 7, 51. nach eigener Anficht arsgırumsor xagdıaa,
wie auch Birch hatte. Falſch Btl. awegıru. xagdıav.
Apg. 11, 3. nach Bart, orı sianAdsv und xuı Ovvs-
Yayıy avroıc. So berichtet and Bird; (nur fehreibt er
wide); Bil. hingegen behält mit Unrecht ausdrücklich
die retepta ssconAdee bei und verſchweigt Guvepayer.
Apg. 11, 20. nadı Bart. zAdovsso für suasAdovres,
wie viele andere ber älteften Zeugen. Nichte davon bei
dirch und Bil, :
Apg. 11, 22, nach eigener Anficht fehlt dısAdEem gänz-
id, So hatte auch Birch angegeben, auch Bartolocci,
Dagegen beanfpruchte viele Wahrfcheinlichkeit die Nach⸗
ht Bentley's, bie dssAdzw nicht vor, fondern nach zu0
Arioxuas fichen ließ,
Apg. 11, 23. nad) eigener Anficht Betätigung ber
recepta zum Joker.
Tyeol, Stud. Jahrg. 1847. 10
146 Ziſchendorf
Apg. 13, 42. nach Bart. nEıovv Anindnva. Alſo
richtig Virch gegen Btl., der nkov Anindnvas angibt.
Apg. 16, 13. Mai beflätigt die Lesart, die Durch ihre
Keblerhaftigleit Berbacht erregte: ov svonfopsy 2006-
gun EiVal. |
Apg. 16, 17. duch Mai Beflätigung ber recepta:
arayysiAovdıy vv odovV.
Apg. 17, 13. nach eigener Anficht 0 ovv ayvaovvres
suosßsrs rouro £y@ für ou ouv @yy. 5U0. Tovzov ey. Birch
batte nichts gefehen uud Btl. nur covro für vovrov.
Apg. 20, 28. nach eigener Auficht muß ich die Lesart
der recepta beflätigen: zyv suuindıev rova) Osou. Dieß
hatte auch Birch aufangs angegeben in Variae lectiones
ad textum act. app. 1798. p. 49., aber zwei Jahre fpäter
in den Prolegg. zu Var. leett. ad text. apocalyps. 1800.
p- XXXIX. macht er feine Angabe nicht nur zweifelhaft, fons
dern fchließt auch mit den Worten: Cuinam vero, an ty-
pographo an mihi, culps sit tribuende, quod Vat. 1200. h. L
irrepserit, omnino me lstet; sed delendum esse ex supra
dietis apparet. Scholz, der den Coder B für die zecepta
anführt, hatte Birch's Note nicht gelefen; denn Die pas
rifer Vergleichung enthält nichts über die Stelle, und an
einen Schluß e silentio faun Riemand bei derfelben denken.
Apg. 20, 33. nach eigener Auficht zu beftätigen 7 ggvasov.
Birch hatte nicht® dagegen berichtet; bei Btl. konnte es
zweifelhaft feyn, ob der Eoder 7 Jouoiou oder xaı Zgudıov
babe. Daher ift, fo viel ich weiß, Lachmann's Ledart,
wie fie bei ihm ſowohl im Texte ald auch in der Appen-
dir fteht: xovasov (ohne 7 unb ohne xaı), von aller Au⸗
torität entblößt.
| Apg. 23, 7. nad) Bart, swsweos aracıc. Alfo rich⸗
tig Btl.; falſch Bch.: sos.
a) Aus Verſehen fehlt dieſer Artikel in meinem „bibliſch⸗kritiſchen
Sendſchreiben ꝛc.“
ber vaticaniiche Bibelcober. 147
Apg. 26, 12, nad, Mai zrirgoans ry6 Tov apyızpsov.
Alfo hatten Bch. und Bel. Recht, die nur dad zuge ber
recepta fehlen ließen. Scholz, dem ich folgte, da cod. A
8.0.3. feine Angabe wahrfcheinlich machten, hat die irrige
Angabe wohl ans ber Luft gegriffen; wenigftens habe ich
nichts aus der parifer Dergleichung angemerkt.
Apg. 26, 32. Mai beftätigt die recepta: swensxinto.
Apg. 27, 14. nach eigener Anficht: erfle Hand evoa-
zlov, zweite: zuvouxivudov. Go fon richtig Birch,
während Btl. theild unklar, theild irrig war, Scholz und
nad ihm meine leipz. Ausg.: zugoxävdov B**.
Apg.27, 19. nach eigener Anficht sguudav für sppıyar;
doch hat Die zweite Hand das letztere gefeßt.
Apg. 27, 29. nach eigener Auſicht sugovso von erfier
Hand; corrigirt it zuyovro. Auch cod. C m. a. Iefen
EvIOVEO,
Apg. 28, 13. nad Bart. odev wegısiovrse für odev
xtomAMovtss.
Jak. 1, 26. nach Bart, un yaAnvov. Diefe Angabe
möchte richtiger ſeyn als Birch's zarıav und Bentley's
xalıyıov.
Jak. 2, 5. nad Bart, ro nosum für Tov xoduov Tov-
sov. Mangelhaft waren bie Angaben Birch's und Bent,
ley's; Bil: „rw xosum (sic) zovrov”; Birch fagt nur,
daß sovsov fehlt.
Sal. 4, 13. nach eigener Anficht: wogsvoonusde und
20:n60u8v , ſo Wie zuzopsvoousde und xeodndonev. Alfo
hatte Birch and Verfehen gerade bad Begentheil aus drück⸗
lich angeführt, nämlich zogsvamusda, Komemusv, Eumo-
Wende, zsgdncnuev. Bei Bti. blieb die Lesart ungewiß.
at. 5, 11, nadı Bart. vxouswavrao für vxouevov-
td, Ueberſehen von Birch und Bil.
1 Petr. 5, 8. nad) Bart. Entov xaranızıv für Imrov
wa zazanın. Btl. hatte nur die Differenz xarazısıv ver
10 *
148 _ riſchendorf
ferirt; aber ſchon Bch. hatte das Richtige; une haben es
die Editoren des N. T. überfehen oder vermeintlich ver⸗
beffert. Griesbach und Scholz berichten: B rıyd& zaramısiv.
2 Petr. 2, 4. nadı Bart. rngovpsvovs für Ternonus-
vous. Birch hatte rernonusvovs (Bil. nichts); aber Gries⸗
bad: procul dubio rygovusvovs ap. Birch. legendum est.
1Joh. 1, 5. nach Bart. apyslız für sxayyslıa. Weber
fehen von Bird und Btl.
1 30h. 3, 4. nad) eigener Anfidht: 7 vor auaprız fehlt
keineswegs. Auf Grund der zweifelhaften Faſſung der
bentley’fchen Bergleichung glaubte Lachm., daß fehle, und
entfernte es ſogar aus dem Texte.
| Röm, 1, 27. durch Mat Beflätigung der recepta:
OKOLMG TE X.
Nom. 3, 22. nach eigner Anficht dıx zioremo gaıcrov
für dia zıor. i0 Av. Richtig Btl.; Bch. cu. mit ihm Griesb.,
Scholz; u. 9.) hatte angegeben, daß ıncov zaucrov fehle.
Röm, 3, 26. nach Mai zgo0 zuv evöcıkım für zg00 ev-
ösıtiv. Ueberfehen von Bird, und Bti,
Röm. 4, 9. nad) Bart. eAoyısön für or sAoyıcdn.
Bentley’6 Bergleihung :: eAoyısan.
Rom. 8, 2. nad) Bart. sAsudsgmss os für sAsudsg. us.
Falſch Bil, es fehle us; aber richtig Birch.
Röm. 9, 12, und 9, 26, nach Mai a prima m. £90597;
a secunda m. 39070n7. Darüber nichte bei Birch und Bil.
Nom. 14, 8. durch Mai Beflätigung der recepta: zav
Ts azodvn6xmpsv bis.
Röm. 15, 31. nadı Bart. zu 7 dmgoyopıa fürs 20 ıva
ndıaxovın. Daß ıva fehlt, haben Birch und Bel. üÜberfehen.
1Kor. 1,28. Mai beftätigt Die recepta: zu za un ovra.
1 Kor. 2, 13. nach Bart. aAA v dudaxrn zvsuuaroo,
Diele Ledart, wenn fie anders gegründet ift, hat weiter
feine Zeugen für ſich.
. 18or.9, 23. durch Mai Beflätigung der recepta:
vaaomıato. Alſo irrig Wetſtein, Griesbach, Scholz.
R
der vaticanifdye Bibelcober. 139
1 Kor. 11, 15. nach Bart. ansdrücklich bie recepta:
ösdoras aurn.
18or, 13, 3. durch Mai Betätigung der recepta: ov-
dw opelovpen,
1Kor. 14,7. nadı Bart. diasroAnv pdoyyov. Se audı
Bird richtig; Bel. hingegen dıaor. rovpdoyyov, was ihm
infolge Lachm. in den Tert genommen.
1 Kor. 14, 16, suAoyno, wie auch Birch, nicht suAoysso,
wie Btl.
2 Kor. 1,13. nach Bart. 7 « avayıyaonsıs für Al 7
a avayıvodxers. Ueberſehen von Birch und Btl.
2 Kor. 3, 6. Mat beftätigt Die recepta axoxreıveı.
2Kor. 4, 5. Mat beftätigt gleihfalld ara zgıarov
m00UV xvotov. |
2 Kor. 5, 5. nad) eigener Anfiht o dove für 0 zus
dovs. So richtig Bil.; nach Bird; follte nur dova da ſtehen.
2 Kor. 6, 15. nach eigener Anficht Perso für Beiar,
was alfo Bir, Bil. und Bart. überfehen haben.
2 Kor. 11,3. nach Bart. xaı 70 ayvornroo, wie Birch;
nicht, wie Btl., xas 776 ayıornrod.
2 Kor. 11,25. nach Mai sgaßdıchnv für sgoaßdıchnv.
Gal. 3, 23. nadı Bart. svyrisıousvon. Danadı alfo
iu corrigiren Birch's GuyxAssousvos und Bentley's cuylsio-
Bevor. :
Ephef. 1, 1. nach eigener Anſicht: rois ovaıv, omisso
mpeon, von erftier Hand. Die zweite Hand trug auf
dem Rande ben Beiſatz nady (fiche oben).
Ephef. 1, 20. nach eigener Anficht: sv rosa ovpavord,
wie Bti., nicht &v TOO ougavıoıs, wie Birch. -
Philipp. 1, 25. nadı Bart. xaı zapausvo für zaı Gun-
Zaızvoo, ũbereinſtimmend mit allen andern Älteften Codd.
Philipp, 2, 3. nah Mat ift Bentley’s Angabe richtig:
ade xara wevodoksev. Birch hatte: undev xara xevodok.
Koloſſ. 1, 20. nad Bart. fehlt d: auzov nad, rov
Kaygov aurov, Ueberfehen von Bird, und Bil.
150 Tiſchendorf
Koloſſ. 2,7. Mai beſtätigt die recepta: spıoaevovrss
EV œurn EV ESVYaQLOTIE.
1 Theflal. 1, 5. Mai beftätigt gleichfalls die recepta:
sytunon 210 vun, |
1 Thefl. 3, 3. nach Mai vo undsva savscdu: für vo
undeva dawveodas,. Unbeadhtet von Beh. und Btl.
1 Theffal. 4, 9. nach eigener Anficht zıyomev, wie Btl.,
nicht eyouev, wie Bird.
Hebr.2,1. nadı Bart. zepaepvmusv, wie auch. die Codb.
AD und andere. |
Hebr. 2, 8. nach eigener Anficht fehlt auvrm nach uxo-
rakaı. So richtig Btl.; nach Bird (und Scholz) fehlte
avım nach ogmuEV.
Hebr. 4, 2. nach Bart. um ovyxsxspadusvovd. Alſo
richtig Birch, falfch Btl.: un ouxxcxocusvous.
Hebr. 4, 15. nach eigener Anficht zu beflätigen zexaı-
oqcousvov.
Hebr. 8, 6. durch Mai Beſtätigung der recepta: re-
TEUFEV Asırovgyiao.
In dieſem Berzeichniffe neuer Ledarten habe ich nur
Diejenigen Differenzen zwiſchen Birch und der bentley’fchen
Eollation berädfichtigt, die einer wirklichen Berichtigung
bedürftig waren, während ich von denen abfah, die darin
beftehen, daß der eine den andern offenbar vervollftänbdigt.
Für folche Fälle bietet die parifer Vergleihung noch an
vielen Stellen eine Beftätigung bald von Birch, bald von
Bentley. So 53.8. Apg. 21, 22,, wo das nadı axovcovraı
fehlende yag nur von Birch angegeben wird; 1 Petr. 5,2,,
wo nur Btl. bie Weglaffung des smsaxomovvrss bezeugt ;
Sud, 5,, wo Bird) richtig orı ındovs für ori 0 xuvoroo ans
gibt, während Btl, nur ındovs für xugsoo aufgezeichnet
hat. Hicher gehört auch Markt. 12, 20., wo Bartolocci
Ösvrega avın für xaı Ösursga ouoıa advın genau bemerft
bat, was ſich aud) bereit aus Birch's Referat ergibt,
der vaticaniſche Bibelcoder. 151
während Btl. nur ſagt, daß ouore fehlt. Bei meiner Aus
gabe in der ed. Lipa.: „devssga ds aury”, war ich Schni;
in feiner ed. tert. Griesbach's und Scholz gefolgt.
Zuletzt muß ich aber audy einige Angaben Bartolocci’s
aufzählen, wo ich fehr in Zweifel bin, ob berfelbe die
rihtige Lesart ded Coder ntedergefchrieben hat. "Mögen
Andere auders urtheilen; der fichere Auffchluß darüber
faun nicht mehr ferne ſeyn. Matth. 20,17. ſoll nella ds
avaßaıyaıy o ındovo a) fliehen; Mart. 3, 15. fol nur 9z-
paxsvsıv Tao vodovo, aber nicht auch das folgende zu
fehlen; Mark. 11, 13. fol xı fehlen ; Luk. 9, 5. ſoll es heißen:
azorıvaodezrs, wogegen anorıvaocers bei Btl. und Birch;
Lul.12, 15. vro für axo; Lul. 21, 12. exayousvovs; Joh.
6,15, avexagpmasv; Apg. 5, 4. fol ıaxwß gänzlich fehlen;
Apg. 17, 5. ſoll's heißen zapayaysıv für ayayan; Apg,
20,16. xexgıxs yap; 1 Petr. 3,13. IMoOGsi yeynade; LKor.
9, 15. syw ra 0v xe7E. ovdsv ovrav; Eph. 4, 9. orı us
arrow zus nuov. In diefelbe Kategorie gehört vielleicht
auch Joh. 17, 15. ıva rnonosio KUTOVG Ex TOV X00uov, was
ich ſchon oben angeführt habe, und Matth. 13, 36. wo —
wenn ich recht gelefen — 0: uadımaı Asyovreo fiehen fol. -
Radıträglich glaube ich noch eine Erläuterung zu
den Facſimiles geben zu müflen.
Die erften drei Zeilen, Röm. 4, 4.5., fo wie bie fols
genden vier, 3 Kor. 3, 15. 16., find von fpäterer Hand
unberührt geblieben. Die Hafen zu Anfang und zu Ende
jeder Zeile find fpäterer Zufaß ; fle dienen dazu, die Worte
als überflüſſig zu bezeichnen und zu mißbilligen. In ber
a) Bird) und Bentley laflen den Artikel vor ıunsova weg. Gries⸗
bad Hatte (mit welcher Autorität?) uellov ds 0 ındova ava-
Baer. Schulz ſetzte in Parenthefe dazu bie Angabe Birdy’s
und Bentley's; nichts beflo weniger ſchreibt Scholz ohne Weis
teres wie Griesbach,
152 Xifchendorf, ber vaticanifche Wibelcoder.
vierten Zeile ber zweiten Stelle beginnt mit xc bereite
der aufgefrifchte nud accentuirte Tert. - Das aı-über ze-
ousosicas ift von der Hanb eines Correctors.
Das Wort pompmovs, das gleichfalld von fpäterer
Hand unberührt geblieben ift, gehört zur Unterfchrift des
Nömerbriefd: zg00 gmumsovo.
Die lebte Stelle, zwei Zeilen vom Anfange des Ephes
ferbriefö,, ftellt die dem Texte widerfahrene Auffrifchung
und weitere Bearbeitung vor Augen.
Gedanken und Bemerkungen.
1.
Sheologiihe Aphboriämen
von
€ Ullmann).
Aus Beranlaffung einer neuen Auflage der Abhandlung,
weidhe vor bereitd zwei Decennien diefe Zeitfchrift eröffs
nete, der apologetifchen Betrachtung Über die Sündlo⸗
figfeit Jeſu, hat, ſich mir das Bedürfniß aufgebrängt,
den vierten Abfchnitt, welcher die Folgerungen aus den
drei erften enthält, einer ganz neuen Bearbeitung zu uns
terwerfen. Ich hege nicht nur die Hoffnung, daß bie
Schrift dadurch überhaupt wirb gewonnen haben, ſon⸗
dern ich glaube ſogar, fle hat erft jest ihren richtigen,
den Grundlagen entfprechenden Abfchluß erhalten. Meine
Hanptabficht in der neuen Bearbeitung des Abſchnittes
geht dahin: zu zeigen, wie in Chrifto, dem Sündlos-
Heiligen, und nur in ihm, Die Bedingungen gegeben
a) Zugleich Selbftanzeige der Schrift: die Sünblofigkeit Iefu, Eine
apologetifche Betrachtung von D. C. Ullmann, Fünfte, zum
Zheil neu bearbeitete Auflage. Hamburg, bei Friedrich Pers
tes 1846.
156 Ullmann
find, unter denen ſich die volllommene Religion verwirk⸗
lichen Tonnte, wie er aus dem innerſten Weſen feiner
Derfönlichleit heraus der Stifter der wahren, für die
ganze Menfchheit beſtimmten Religion wurde und wer-
den mußte. Und zwar habe ich dieß woruchmlich unter
vier Geſichtspunkten nachgewiefen: inwiefern nämlid
Chriſtus in feiner heiligen Perfönlichleit es war und if,
der 1) Gott vollfländig offenbart und den Menfchen nahe
bringt; der 2) die Menſchen vollftändig mit Gott vers
föhnt, zur vollen Lebendgemeinfhaft mit Gott führt;
der 3) unter den Menfchen felbft die ihrer höchſten Be:
flimmung entfprechende und wahrhaft allgemeine Einis
gung, die eigentliche Menfchengemeinfchaft berftellt, und
ber 4) für diefe Semeinfchaft, fowohl im Ganzen, ale
in ihren einzelnen Mitgliedern, ein ewiges, im immer
höherer Vollendung ſich verflärendes Leben verbürgt.
Zudem ich mir nun erlaube, die beiden letzteren Hanpt⸗
flüde — das eine von Ehrifto ald bem Stifter der
wahrhaft menfhlihen Gemeinfhaft, das ans
dere von Chriſto ald dem Bürgen bed ewigen
Lebens — mit den erforderlich fcheinenden Berändernns
gen hier mitzutheilen, gebe ich mich ber Hoffnung bin, ee
werde diefe Mittheilung für manche Lefer ein Anlaß
werden, diefe Stüde in dem organifchen Zufammenhange,
in welchem meine Schrift ſelbſt fie darbietet, kennen zu
lernen und auch das Uebrige, mit dem fie dort in Ber:
bindung fliehen, einer näheren Betrachtung und Prüfung
zu würbigen. j
Der Menſch wird das, was er feyn foll, vernünftige
Derföntichkeit, zunächft weſentlich durch zweierlei: erftlich
dadurch, daß er ſich in fich felbft zufammenfaßt, ſich ale
Diefen beftimmten weiß und fühle, und von dem Mittel:
punkte des eigenen Seyns aus will und handelt; zwei⸗
theologifche Aphorismen. 157
tens dadurch, daß er fich zugleich auf Andere bezieht,
von dieſen auf fidy wirken läßt und mit ihnen ein Wech⸗
felverhältniß eingeht. Zwifchen diefen Polen dewegt ſich
das Leben ale ein menfchliched. Und zwar tritt und ins»
befondere die Beziehung bed Menfchen auf Andere feines
Gleichen ald etwas fo Nothwendiges entgegen, daß man
fagen mn: nur unter diefer Bedingung wird der Menſch
m Menfchen; als Einzelner und einzeln Bleibender ift
er ſchlechthin nicht zu denken; nur im Berhältniffe zu An,
. deren, die meufchlich auf ihn wirken und auf bie er eben,
fo zurädwirtt, können die Gaben und Kräfte, bie in ihn
gelegt find, fich entfalten unb bethätigen, kann der Bes
griff des Menfchen fich lebendig verwirklichen. So if
der Menſch unveränßerlich auf Gemeinſchaft angelegt,
und dieß macht fich eben fo geltend bei der Bildung, bie
er empfängt, ald bei dem, was er felbf feinen Umge⸗
bungen und der Welt ald Stempel feined Geiftes aufzu⸗
prägen fucht, in feinem ganzen Werben und Wirken,
SA nun der Menfch, ale folcher, zur Gemeinſchaft
beſtimmt, fo muß ed auch eine rein und wahrhaft menſch⸗
lihe Gemeinfchaft geben, d. h. eine ſolche, zu welcher
Feder von uns nicht dadurch, daß er einem befonberen
Berufe ober Lebenskreiſe angehört, fonbern einfach das
duch, daß er Meufch if, einen Beruf hat. Gehört es
aber zugleich zum Seyn des Menfchen im höheren Sinne,
daß er in einem Berbältnifle zu Gott ehe, und mn
dann nothwendig von biefem Berhältnifle aus, als dem
hoͤchſten, fein ganzes Leben Beſtimmung, Richtung und
Drdunng erhalten: fo werben wir auch bie wahre Men-
(hengemeinfchaft nicht anders denken können, denn als
“ie von dem Verhältniſſe des Menfchen zu Bott aus
a Stande gelommene und georbnete, mithin ale eine
religiös» füttliche. Und von folder Gemeinfhaft
behaupten wir, daß fie nur von dem Sündlos⸗
Seiligen zu iften war, in ihm aber auch noth>
158 Ullmann
wendig den fhöpferifhen Örund ihres Ent»
ſtehens fand.
Gemeinſchaftbildend find zwar allerdings alle menſch⸗
lichen Thätigleiten und näheren Berwandtichaftsbezie:
hungen, indem fie ein gegenfeitiged Geben und Rehmen,
ein Handeln und Hervorbringen der Einen, ein auf ſich
wirden laflen und Aneignen der Anderen, ein Zufammens
fhließen des Bleihartigen und ein Ausſcheiden des Un⸗
gleichartigen vorausfegen. So erzeugen fi die Ge
meinfchaften der Kunft und Wiffenfchaft, der bürgerliche,
RRaatlihe und nationale Verein. Allein diefe Gemein⸗
fchaften, fo groß und bedeutfam fie feyn mögen, haben
doch immer ihre beſtimmt bemeflenen Schranten und da:
durch etwas Partisnlares: die Gemeinfchaft der Kunſt
und der Wiffenfchaft verwirklicht fih nur im Kreiſe Der
dafür, productiv oder receptin, befouderd Ausgeflatteten
und Gebildeten; ber bürgerliche Verein hat feine engen
örtlichen Grenzen, der ſtaalliche und nationale die zwar
weiteren, aber doch immer ganz beftimmt fich geltend
machenden bed eigenthümlichen Vollslebens. Nun aber ftellt
ſich auch der Menfchheit an fich eine Aufgabe, die für
alle ihre Mitglieder, welchen Geſchlechte und Volke, weis
dyer Stufe der Begabung und Bildung fie auch angehö⸗
zen mögen, wejentlich diefelbe ift, die reine und allge-
meine Menfchheitsaufgabe, das heißt, die ber richtigen
Stellung des Menfchen zu Bott und ded Menfchen zum
Menfchen oder die des veligiössfittlichen Lebens, in dem
ſich das Ebenbild Gottes im Meufchen, die göttliche Idee
des Menfchen verwirklicht; und da das religiössfittliche
Leben zugleih ein ſolches iR, welches feiner innerften
Natur nach zur Gemeinſchaft drängt und als ein iſolir⸗
ted entweder gar nicht ober nur in verfümmerten und
krankhaften Erſcheinungen exiſtirt, fo erzeugt fih auf
dieſem Gebiete, aber auch wur auf ihm, nothwendig Die
Zerderung, daB eine Bemeinfchaft zu Stande komme,
theologiſche Aphorismen. 159
weiche ohne die Schranken, bie dad Künftlerifche und
Bifeufchaftlihe, das Politifche und Volksthümliche feis
ser inneren Befchaffenheit zufolge ſetzt, alles Menfchliche
umfaffe, alle ihre Mitglieder in das rechte Verhältniß zu
Gert und in das wahrhaft menfchliche zu einander bringe,
die fonfigen Gegenſütze wieder ausgleiche und fo bie
„ee der Allgemeinheit, welche mit der Gottverwandt⸗
(haft und wefentlihen Gleichartigkeit der menfchlichen
Ratar gegeben ift, ins Leben einführe. Diefe Gemein,
ihaft, weil fie die Menfchen im innerlichſten Grunde
iſtes Wefens, in der Wurzel ihres Urſprungs aus Bott
und durch das hierin liegende Band vertnäpft, wird
dann geeignet ſeyn, für jede andere Gemeinſchaft erſt den
schten Rebendgrund zu legen, ihr den tieferen, wahrhaft
emigenden Geiſt und die höhere menfchenwürbige Weihe
zitzutheilen und Das, was fonft die Menfchen naturges
naß fcheidet, nicht zu einem feindfelig Trennenden wer;
ven zn laſſen, ſondern unter den richtigen Geſichtspunkt
des Fureinanderbeſtimmtſeyns, der gegenfeitigen Ergäns
mag und Förderung zu bringen; denn won biefem Staub»
tie aus erfcheint die Menfchheit ale ein großes, gott»
geordnetes Ganze, in welchem die einzelnen Theile die
Sbeutung baden, Glieder zu feyn, unddie einzelnen Ga⸗
den und Thätigkeiten nur darauf gerichtet ſeyn Fönnen,
das Ganze zu fördern und durch ihre Berfchiedenheit und
Iniehungsweife Gegenfätliczkeit die wahrhaft lebensvolle
Einheit, die große geiftige Weltharmonie herv orzubringen.
Cine Gemeinſchaft dieſer vollkommenſten Art Fonnte nicht
atßchen, fo lange das Höchſte und Allgemeinfte, das
dittlich⸗ Meufchliche, mit Geringerem und Befonderem
vermiſcht und dadurch ſelbſt herabgeſetzt, in die Stel⸗
ang einer gewiſſen Befonderheit, in einen Particularis⸗
und gebracht war. Solche Vermiſchung findet ftatt, wo
die Religion wicht rein als folche zum Borfcheine kommt,
ſendern mit anberen Elementen und Gebieten dergeſtalt
160 Ullmann
in Berbindung gebracht wird, daß fie unr vermittelſt
biefer oder im unlödbaren Zufammenhange mit ihnen
fi Eundgibt und wirkt. So war es in ber vorchriſtli⸗
hen und fo tft ed noch in der außerchriftlihen Welt.
Da nehmen wir wahr, daß die Religion, vermengt wit
Naturkunde und Speculation, zu einer heiligen Phyft
oder Metaphyſik wird und dann in der Regel eine prie
fterliche ober philoſophiſche Geheimlehre mit ſich führt;
oder baß fie ſich vorzugsweife in der Kunfifchönheit of
fenbart und ‚dann, flatt das Leben als fittliche Kraft zu
beherrjchen,, in einen geiftigfinnlichen Genuß umfchlägt;
vornehmlich aber finden wir fie mit dem Bürgerlichen,
Nationalen und Politifchen in genauefte Verbindung ge:
fest, und zwar in der zwiefachen Art ber Bermifchung,
deren eine die jAdifche, die andere bie römifche genannt
werben Tann, d. h. entweder fo, daß von dem Religioͤſen
and das Politifche beftimmt wird, woraus die Theokra⸗
tie, oder vom Politifchen aus das Religiöfe, woraus die
Staatereligion entſteht. In allen diefen Erſcheinungs⸗
formen if die Religion und mit ihr das Sittliche an ein
Anderes, Fremdes gebunden, und weil Alled anßer ihr
ein Begrenzted und Beſonderes tft, fo wird fie dadurch
felbft befchräntt und particnlariftiifch, eben damit aber
auch mehr eine Urfache von Gcheidungen und Trennun
gen in der Menfchheit, als eine Brundlage umfafjender
Einigung. In der That konnte der Grund zu einer
wahren, allgemein » menfchlichen Bemeiufchaft nur gelegt
werden, wenn das Religiös, Sittliche, vermittelft deflen
fie allein denkbar ift, unvermifcht mit jedem anderen Ele
mente, rein and vollfländig auf fein eigenſtes Gebiet zu-
rüdgeführt und darin der Punkt gefunden wurde, von
dem aus, wie von einem archimedifchen, freibewegendb auf
ben ganzen Umkreis des menfchlichen Seyns gewirkt
werden konnte. Dieß aber war wieber nur zu bewerl;
Religen durch eine Perfönlichkeit, deren ganze und un
theologifche Aphorismen. 161
getheilte Lebendaufgabe ed war, den Menfchen in feiner
vollommen entiprechenden Stellung fowohl zu Gott,
ald zur Menfchheit, alfo in der vollen Lebens⸗ und Leis
beigemeinfchaft mit Gott und den Menfchen, rein, leben,
dig, für Alle verftändlich und ergreifend, aber auch un,
vermengt mit allem Anderen, ohne Beimifchung nationaler
oder fonft fremdartiger Beftandtheile zur Anfchauung zu
bringen, und von welcher diefe Aufgabe wirklich auch
ganz gelöft wurde. Eine ſolche Perfönlichkeit haben wir
in Sefn, dem Sündlos: Heiligen. Er hat, abgefehen von
allem dem, was er that und was freilich auch nicht fehr
len durfte, die höchſte Bedeutung fchon durch dad, was
er if, Die Manifeftation des volllommen gefunden Ber,
halteus des Menfchen zu Gott und des Menfchen zu den
Menſchen, und wie er das Leben Gottes in menfchlicher
Geſtalt offenbart und die Menfchheit in göttlicher Ver⸗
Närang darftellt, fo tft er, Gottheit und Menfchheit eini⸗
gend, zugleich der fchöpferifche Einigungspunkt für bie
Menſchen unter fich geworben.
Jeſns hatte fchlechthin Feine andere Aufgabe und feine
Erſcheinung hatte feinen anderen Sinn, ald das rechte
VLerhaͤltniß zwifchen Bott und ber Menfchheit herzuftels
Im uud das Göttliche im Menfchen zum klaren und vol-
len Ausdruck zu bringen; fein ganzes Seyn und Wirken
it ein unvermiſcht veligiöfes und fittliches; in ihm und
durch ihm iſt die Religion ganz und ungetheilt auf ihr
tigenſtes Gebiet zurückgeführt: fie kann von da aus in
feier Weife Kunſt nnd Wiffenfchaft erzeugen, fie kann
das bürgerliche und Bölferleben von innen heraus durchs
Ringen, der Gefebgebung und Politik einen höheren Geift
mlößen; aber fie ift das Alles nicht unmittelbar, ſon⸗
dern weſentlich iſt fie nur fie felbft und will auch zunächſt
nichts Anderes, als fich felbft. Genau unterfcheidet Sefus
dad, was Gottes, von dem, was bed Kaiſers ift; fein
Reich ift nicht von diefer Welt, fein BE ift nur
Toeol, Sud, Jahrg, 1847,
162 Ullmann
dad der Wahrheit, und. mit einem Liebeögeifte, der bie
dahin noch in keines Menfchen Herz; gekommen war,
durchbricht er, ohne dabei die göttlihe Ordnung zu ver:
legen, ale Schranken der Kamilie, des Geſchlechts und
der Rationalität und umfaßt zuerft, lebend und fterbend
mit fchledhthin ungetheiltem Gemüthe, Alles, was Menſch
heißt. Durch alles dieß war er, aber auch nur er, fähig,
der Stifter eines an feine Grenzen des Raumes und der
Zeit gebundenen Gottesreichs, der Stifter der alle Mens
fhen zur Einigung rufenden Religion zu werden, und,
infofern wir nur die religiöfe Gemeinfchaft Kirche nen⸗
nen, welche, unvermifcht mit allem Fremdartigen, nichts
feyn will, als religiöfe Gemeinfchaft, aber auch wolle
Selbfläudigkeit in ihrer Sphäre anfpridt, haben wir
auch nur in Ehrifto den Kirchenuftifter im eminenten Sinne
anzuerfennen. Aus diefem Bewußtſeyn heraus fpricht er
das große Wort: Kommet her zu mir, Alle, die ihr müh⸗
felig und beladen feyd; aus diefem Bewußtſeyn heraus
- will er, daß Alle mit ihm und in ihm eing werden, wie
er es ift mit dem Bater und fagt, eben daraus werde die
Welt den Slauben fchöpfen können, daß Gott ihn ger
fandt habe; aus dieſem Bewußtſeyn heran fchaut er fos
gar fehon die ganze Menfchheit ald eine Heerde uns,
ter ihm, dem eiuen Hirten.
Es liegt offenbar auch in der Natur der Sache,
ebenfowohl daß nur in einer heiligen und gottgeeinigten
Perfönlichkeit eine folche Gemeinſchaft zu Stande kom⸗
men fonnte, als daß ‚fie in ihr zu Stande fommen mußte.
Nur in ihr konnte fie zu Stande fommen. Denn, wenn
überbanpt jede lebendige organifche Gemeinfhaft einen
Mittelpunkt bedarf, fo kann eine Vereinigung perfönticher
Geifter nicht einen abftracten, fondern nur einen perfön-
lichen Mittelpunkt haben. Bon der Perfönlichkelt aber,
die diefen Mittelpunft zu bilden allein im Stande if,
werden wir fordern müflen, daß fie ben Geiſt, der in
theologifche Aphorismen. 163
ber Gemeinfchaft Ieben fol, auf das reine und voll
tommenfte ausbrüde und eine ſtets frifche, unerfchöpfliche
Duelle deffelden ſey. Und da ed ſich hier, wenn die
Berbindung eine lebendige und fefte, eine wirklich orga⸗
niſche feyn fol, um die innigfte Vereinigung, gleich der
des Gliedes mit dem Haupte, handelt, fo wird dad Haupt
nur eine Perfönlichkeit von höchſter Vollkommenheit und
Reinheit feyn können, weil nur an eine foldhe, nicht aber
an einen fündigen Menfchen, fich Alle dergeftalt hingeben
Tonnen, daß fie ſich vom feinem Geiſte und Leben durch⸗
dringen laffen und feinen Willen zum Gefeße ihres Dar
ſeyns machen. Und dieß eben finden wir in Ehrifto, in
deſſen Leben fich alles das vollitändig ausdrückt, worauf
eine würdige Gemeinfchaft der Menſchen fich dauernd
sränden kann, befien Geift und Liebe eine Quelle if,
aus welcher Alle jchöpfen können, ohne fie je auszufchöpfen,
und der in feiner heiligen Reinheit ein Gegenfland der
unbedingteften Hingabe für Alle nicht nur feyn kann, fon-
dern auch ſeyn will und muß. In ihm und durch ihn
mußte aber eben darum auch diefe Gemeinfchaft ſich ver:
wirflihen. Denn wenn freilid; die Menfchen unvollkom⸗
men und fündhaft, wie fie find, ſich nicht unmittelbar
und aus fich felbft heraus auf eine gründliche und dau⸗
ernde Weiſe vereinigen, fondern den wahren Einigunge«-
punkt nur in einem Höheren und die vollfländige, ewige -
Einigung nur in dem Höchften finden können, weiches fie
über ihr eigenes Ich emporhebt und fie, indem es fie mit
ih verfuiipft, zugleich unter einander innig und fefl ver-
bindet: fo wird boch auch, fobald ein ſolches Höchſte und
Seilige die Gemüther wirklich ergriffen und burchdrungen
hat, Die Einigung gar nicht ausbleiben können, weil in
dem Wahren, Heiligen und Böttlichen, wenn ed im Leben
auftritt, eine magnetifche Kraft liegt, welche die Geifter
and ihrer Iſolirung heranszieht und mit einem zwar uns
fihtbaren, aber andy ungerreißbaren Bande zuſammen⸗
11*
164 Ulmann
fließt. Diefer geiftige Magnet, diefe unendliche Anzies
hungskraft ift nun in die Menfchheit bineingefegt in der
Derfon des Göttlichen und Keinen, der fi in heiliger
Liebe für und dahin gegeben hat: von ihm muß Seder, der
dafür empfänglich- ift, ergriffen werden, und indem nun
Chriſtus vermittelft des Glaubens, den er wedt, die Em⸗
pfänglichen in fein Leben hineinzieht und mit fich einigt,
durch ſich aber zugleich mit Gott, einigt er fle nothwen⸗
dig auch unter ſich felbft, und zwar durch die vollfom:
menfte und dauerhaftefte Art der Vereinigung; denn es
ift eine folche, die ſich im Höchften vollzieht, bei der fchon
durch die ganze Art, wie fie zu Stande kommt, der
Menſch über fich felbfl emporgehoben und das, was fonft
die wahre Liebesgemeinfchaft hindert, die Selbftfucht, im
Keime ertöbtet wird, Dieß Alles gilt freilich zunächſt nur
von der Bereinigung der von Ehrifto in lebendigem Glaus
ben Ergriffenen; aber diefe follen wieder feyn das Salz
der Erde und der Sauerteig, der allmählich die Maffe
durchdringt. Durch ihre Gemeinfchaft wird eine höhere
Bereinigung der Menfchheit überhaupt angebahnt, oder
vielmehr ihre Gemeinſchaft hat die Beſtimmung, fich zur
allgemein menfchlichen zu erweitern, Allerdings vereinigt
zunächſt nur den Gläubigen mit-dem Gläubigen der in
beiden lebende Ehriftus mit feiner Liebe und heiligenden
Macht; allein darin liegt der Anfang, der erfte lebend
volle Keim, aus dem dann das mächtige Gewächſe des
menfchheitumfaffenden Gottesreiches ſich entfalten fol.
Derſelbe Ehriftus, der zu feinen Apofteln fagt: wer euch
aufnimmt, nimmt mid, auf — fagt auch: wer diefer Ge
ringften einen mit einem Trunke Waflers erquickt, der
bat ed mir gethan; und wer die Kranken, Gefangenen,
Dürftigen auffucht, der fucht mich auf. Hiermit deutet
er an, daß in jedem Menfchen, wenn auch nur im wei⸗
teren Sinne, etwas von ihm lebe, weil in jedem dad Bild
Gottes liegt, welches in feine Reinheit herzuftellen er ges
theologifhe Aphorismen. - 165
kommen war, weil jeder ein menfchlicher Bruder nud
Naͤchſter il. Wir müſſen alfo, ſobald wir den Heiligen
Gottes wirklich in uns haben, in jedem Menfchen etwas
von ihm erbliden, in jedem Nothleidenden, Mühfeligen
uud Beladenen einen Solchen, aus dem der Menfchenfohn
und gleihfam felbft anfleht, in jedem geiſtlich Armen
einen Solcdyen, zu dem der Friedefürft mit feinem himmli⸗
hen Reiche gebracht werden, felbft in jedem Trogigen
und Stolzen einen Solchen, der noch unter das fanfte
Joch bed Gottesſohnes gebeugt werden "fol. So liegt
ia der Perfon Ehrifli, des Heiligen, eine ans innerer
Rothwendigkeit heraus wirkende Bereinigungsfraft, die
zuerſt freilich Die, welche lebendig von ihm ergriffen find,
infammenbringt, dann aber auch diefe zur Gemeinfchaft
nit allem MRenfchlichen überhaupt treibt, weil Allen aus -
dem Geiſte und der Liebe Ehrifti heraus geholfen, eben
dadırdy aber zuletzt auch das Ziel erreicht werben foll,
daß Ale in feine nähere Gemeinfchaft, in die des Gottes⸗
reiches, als Die wahrhaft und allgemein menfchlidhe, hins
eingezogen werben. Wo wäre etwas Achnliches zu fin»
den? Keinem der größeften Weifen, Gefeßgeber und
Staatengründer vor Chriſto fam ed auch nur in den
Sinn, einen Berein zu fliften, der die ganze Menfchheit
umfaffen foflte; und wenn ed auch einem in den Sinn
gekommen wäre, wer fonnte diefen Gedanken ausführen?
Rur der Heilige Gottes konnte ed, weil in ihm bie wirt,
liche Einigungsfraft lag, weil in feiner Perfon das Reich
Gottes fchon enthalten war und fih aus ihm nur zu
etfalten brauchte. Und wenn wir nun in dieſem Zus
ſanmenhauge Ehriftum ben Mittelpunkt der Weltgefchichte
nennen, fo gefchieht ed nicht bloß in dem idealeren Sinne,
nach welchem das frühere Geiftesieben ein Hinftreben auf
in, das fpätere ein Beſtimmtſeyn durch ihn erkennen
läßt und er fo den Angelpunft der höheren Menfchheitd«
entwidelung bildet, fondern es geſchieht in dem höchſte,
166 Ullmann
realen Sime, wonad er ber wirkliche Einigungspunkt,
die fchöpferifche Lebensmitte der Menfchheit ift, das pul⸗
firende Herz und ber befeelende Lebensgeift, vermöge
deſſen erſt die Menfchheit als ein höheres Ganze fidh
organifirt. Auch erfcheint ed gerade in dieſem Zufam-
menhange gewiß ebenfo bedentfam als tiefbegründet, wenn
Ehriftud darauf, daß er die Menfchen duch Einigung
mit fich felbft und mit Gott unter fich einigt, den Glau⸗
ben gründet, Gott habe ihn gefanbt, weil nur vermöge
göttlicher Sendung ein folches Werk, das denkbar höchfte,
zu vollbringen war. |
*
In dieſer durch Chriſtum gebildeten Gemeinfchaft
erhält nun auch Jeder, der ihr lebendig angehört, bie
Gewißheit, daß er an derfelben nicht ein vorüber:
gehendes Glied fey, fondern daß er in Chrifto
Das Leben befige, das aus Bott fammt, das
unvergänglidhe, ewige, und auch dafür liegt eine
Bürgfhaft in der fündlodsheiligen Perſön—
lichteit Chriſti. Wenn nämlich von irgend einer Per⸗
fönlichkeit, fo fann und muß man von diefer fagen: «6
iſt ſchlechthin undenkbar, daß ſie der Zerfiörung durch
ben Tod hätte preidgegeben feyn können; wielmehr tritt
und in ihr die Gewißhelt des ewigen Lebens, ja das
ewige Leben felbft auf eine fo unmittelbare und anfchaus
liche Weife entgegen, daß wir in dem Worte des Apos
fteld, Chriſtus habe Leben und unſterbliches Weſen ans
Licht gebracht, den naturgemäßeften Ausdruck der Sache
finden müflen. Schon von dem vollendeten flttlichen
Kunftwerfe, das ſich und menfchlicherweife in der Pers
fönlichteit Jeſu darftellt, können wir nicht annehmen, Die
ewige Weisheit werde gewollt haben, daß es durch Deu
Tod gertrlimmert werde; und wenn man fonft aus der
im irdifchen Leben ftetd unvolllommenen Realifirung der
theologifche Aphorismen. . 167
fittlichen Ledensaufgabe des Menfchen, zuſammengehalten
wit dem ihm iunewohnenden Triebe nach Vollendung, auf
einen jenfeitigen Zuſtand fchließt, in dem diefer Trieb
auch zu feinem Ziele gelangen müfle, alfo in dem Unbe⸗
friedigenden, Fragmentarifchen des jetzigen Daſeyns eine
Hinweifung "findet auf ein mothwendig einmal zu Stande
fommended Ganzes, fo können wir bier mit größerem
Rechte den umgekehrten Schluß machen: gerade weil ein
befriedigended Ganzes zu Stande gefommen, weil das
Vollendete erreicht it und ſich in einer, Die reinite geiſtige
kebensfülle in fich fchließenden Perfönlichkeit verwirklicht
bat, it um fo weniger der Gedanke zuläffig, dieſe Pers
fönlichkeit in der hbarmonifchen Ganzheit ihrer Bollen-
dung Föune der Auflöfung und Zerflörung anheimgefallen
ſeyn. Nehmen wir aber noch hinzu, daß vermöge ber
fündlofen Reinheit diefe Perfönlichkeit auch in der innigs
Ren Gemeinfchaft mit Gott Rand und aufs vollftändigfte
vom göttlichen Geifte durchdrungen war, fo wird eine
feihe Möglichkeit noch vwiel weiter hinaudgerüdt, ja fie
geht geradezu in Unmöglichkeit über, weil das Göttliche
an fi, das Ewiglebendige if. Bermögen wir uns ſchon
kberhaupt eine perfönliche ewige Liebe nicht vorzuftellen,
welche Weſen nach ihrem Bilde gefhaffen hätte, um fie
de Vernichtung zu überlaffen, und verbürgt und ſchon
überhaupt das Berhältniß der gottbewußten und gott-
tiebenden Perfönlichkeit zu einem Bott, der die Liebe und
das Leben ift, die perfönliche Kortdauer: fo fleigert fich
natürlich dieſe Gewißheit aufs höchfte bei einer Perfüns
lihfeit, welche in einer fo ungetheilten &emeinfchaft mit
Sert fand, daß fie fagen kannte: Ich und der Bater
fund eins; und wer ſich denken könnte, Jeſus habe mit
den Worten: Bater, in beine Hände befehle ich meinen
Bein! — fein Leben für immer in die leeren Lüfte aus⸗
schaucht, der weiß ſchon nichte von dem rechten, leben,
digen Geifte, aber vollends nichtd vou dem lebendigen
168 Ullmann
Gott und von der Lebenskraft bed Gekreuzigten. In
der That find Chriſtus und Vernichtung zwei Dinge, die
wir im Bewußtfeyn gar nicht zufammenfaflen Tönnen, die
fich gegenfeitig ausfchließen. Entweder war Chriſtus ein
ſchlechthin Anderer, als der er im urfprünglichen chriſt⸗
lihen Glauben lebte — dann aber bleibt das ganze
Chriftenthum unerklärt — oder, wenn bad urſprüngliche
Bild Chriſti Wahrheit hat, fo war er aud der in fid
felbft und ewig Lebendige. Und zwar erfcheint und ger
rade in ihm das ewige Leben nicht als ein erft —*
ges, ſondern weſeutlich als ein ſchon gegenwärtiges, nicht
als bloße Hoffnung, ſondern als unmittelbare Gewißheit.
Sein ganzes Seyn iſt von dem Gedanken und den Kräfs
ten der Ewigkeit getragen, fein ganzes Wefen vom Himm-
lifchen durchdrungen; es if die volle Wahrheit und
Wirklichkeit einer höhern Welt, die uns in ihm entgegen
leuchtet, und wie er in feinem ganzen Leben Gott offen:
bart, fo offenbart er eben damit auch die Ewigkeit. Fafr
fen wir nun aber dieß mit dem früher Gefagten richtig
zufammen, fo werben wir es auch weiter ald etwas ganz
Natürliches zu betrachten haben, daß diefe Perfönlichkeit,
welche fchon im irdifchen Daſeyn den Höhes und Mittels
punkt menfhlicher Entwidelung bildet und fi ung ale
das einigende Herz und Haupt der Menfchheit bewährt,
nach ihrer vollen Verklärung durch Leiden und Tob, und
nachdem auch für fie die Schranken des Srdifchen gefals
fen, in einem höheren Dafeyn eine Stelle einnimmt, vers
möge beren fie, über alles Menfchliche erhaben, body für
die ganze höhere Entwidelung der Menfchheit von ber
wirffamften Bebentung und das ſtets geiftesfräftige, le
bendig fich bethätigende Haupt an dem großen Leibe der
Durch fie gebildeten und in —— MWachsthume
begriffenen Gemeiuſchaft iſt.
Aus allem dieſem folgt nun aber u etwas fehr
Entfcheidendes in Betreff derer, die durch ben Glauben
theologifhe Aphorismen. 169
(ebendig mit biefer Perfänlichkeit verbunden find. Trug
nämlich Chriſtus feinem innerften Wefen nach das ewige
Leben in fih, und ift der Glaube wirklich die Aneignung
feines Geiſtes uud Lebens, die Hineinbildung feines We⸗
ſens in das unfrige, fo ergibt fidh von felbft, daß auch
die mit ihm in wahre Lebensgemeinfchaft Getretenen
deffelben unvergänglicyen Lebens theilhaftig find. In bies
fem Sinne fagt er auch felbfi: ich gehe hin, euch eine
Stätte zu bereiten; und: ich will, daß, wo ich bin, auch
die feyen, die du mir gegeben haft. Das letztere Wort
it befonders bebeutfam. Zwifchen Chriftus und denen,
die ihm wahrhaft angehören, findet eine fo innige Einis
gung flat, daß er nicht zu denken ift ohne fie, fie nicht
ohne ihn: er ift der Weinſtock, fie find die Neben, er das
Haupt, fie die Glieder. Iſt nun Chriftus der Ewig⸗
lebende, fo find ed auch die ihm innerlichft @inverleibten ;
iR dad Haupt ein ewig herrfchendes, fo fann ed auch
die Glieder nicht verlieren, die es fidy einmal angeeignet
bat. Zwar man könnte fagen: dad Haupt erhält immer
nene Glieder, auch wenn ihm die alten dahin fchwinden,
wie dem Baume im Frühlinge neue Blätter wachen, wenn
er im Herbfie die alten verloren hat. Aber wie übers
haupt auf dem geifligen Gebiete die Naturanalogieen
nicht in ihrem ganzen Umfange anzuwenden find, fo zeigt
fih dieß bier ald befonderd unpaflend, Schon ein himm⸗
liſches Haupt mit lauter bloß irdifchen Sliedern find zwei
Dinge, die fich nicht zufammenreimen ; vollends aber ein
ewig lebendes Haupt mit Gliedern, die immer wieder
abfaßlen und vernichtet werden, {ft ein wahres Unding.
So wenig man ben Begriff eines Tebendigen perfünlichen
Gottes vollziehen Tann zufammen mit ber Borftelung von
einem ewigen Dahinfchwinden der von ihm hervorgerus
fenen menfchlichen Perfönlichkeiten, fo daß er als der
einzig Lebendige über dem großen Keichenfelde der Menſch⸗
beit Ründe, eben fo wenig iſt der Glaube an einen wirt
170 Ullmann, theologifche Aphorismen.
lich Iebendigen Chriſtus vereinbar mit der Borftellung
von dem ewigen Abiterben feiner Glieder; und wie man
dort mit dem Glanben an perfönliche Fortdauer anch ben
Glauben an den perfönlichen Gott, der die Liebe ift, aufs
geben und fich der pantheiftifchen Lehre von einem zwi⸗
fhen Geburt und Tod raftlod wechfelnden Allleben in
die Arme werfen muß: fo muß auch hier der ewig leben,
dige Ehriftus fich erft in einen bloß dagewefenen, aber
auch bis auf die gefchichtlichen Nachwirfungen gänzlich
vorübergegangenen, alfo in einen im augfchließlichen und
ganz depotenzirten Sinne hiftorifchen, verwandelt haben,
ehe man bdiefelbe Bergänglichleit von feinen Gläubigen
behaupten kann. Rein: entweder müffen wir mit ben
Gläubigen auch Ehriftum der Vernichtung anheimfallend
denken, oder, wenn wir dieß nicht vermögen, mit diefem
auch jene ewig lebend; denn ie Lebeniögeftalt, die Chris
ftud einmal in und gewonnen hat, kann eben fo wenig
vergeben, al& er felbft; und wenn Ghriftus in der That
des vollen Lebens aus Gott theilhaftig war, fo theilt ſich
in ihm und durch ihn auch und das göttliche Leben mit;
auch wir werden, wie ed die Schrift ausdrüdt, Theil:
nehmer an der göttlichen Natur, auch in und wird dad
göttliche Bild hergeftellt, und es ift ebenfo von ung, wie
von ihm zu fagen, daß dieß Alles, was wir zufammen-
faffen in dem Begriffe der gottdurchdrungenen und gott⸗
geeinigten Perfönlichkeit, nicht zerflört werden kann, weil
ed feiner Natur nach ewig iſt. Daffelbe aber, was von
den lebendigen Gliedern Ehrifti im Einzelnen gilt, dag
gilt natürlich auch von feinem Leibe, der fich, ſtets wach⸗
fend, aus diefen Gliedern bildet und in ihnen entfaltet.
Auch das Gottesreih, dad wir in feiner irdifchen Er-
fheinung Kirche, Gemeinſchaft der Gläubigen, nennen,
{ft nur zu denken als ein im höheren Dafeyn ſich voll
fländig verflärendes, ale ein ewig fich vollendendes, an
feinem lebendigen Haupte ſtets wachſendes.
Grimm, üb. d. Evangel. u. den erften Briefd. Joh. ꝛc. 171
2.
Ueber das
Evangelium und den erflen Brief ded Johannes
ald Werke Eined und deflelben Verfaſſers.
Bon
D. ®Bilibald Grimm,
erbentlichem Honorarprofeſſor ber Theologie zu Jena.
Das Evangelium und der erfte Brief des Johannes
ſtinmen bekanntlich fo fehr in Inhalt und Form über;
“in, daß die Identität des Verfaſſers der beiden Schrif⸗
ten feither al& gweifellofe und entfchiebene Thatfache ges
gelten, und Daher Anerfennung wie Beltreitung des
apofolifch » johanneifchen Urfprunge immer auf beide
Shriften fi bezogen hat. Ganz einfam landen Sam.
Bettlieb Lange a) und der leipziger Theolog und
Milofoph Weiße b) mit ihren Anfichten, indem jener
ve Echtheit ded Evangeliums annahm, die des Briefes
über begweifelte, während dieſer den apoftolifchen Ur⸗
Frung des Briefes zugeftand, den des Evangeliums aber,
wenigſtens in Bezug auf deſſen erzählende Abfchnitte, leug⸗
tt, Dagegen hat neuerdings der tübinger Theolog
daur und feine Schule unter den in unferem neuteflas
arntlihen Kanon den Namen des Johannes tragenden
ı) Die Schriften des Johannes überfegt und erklärt (Reuſtrelitz
und Beimar 1795-1797. 3 Bbe.). 3. Thl. ©. 4 ff.
b) Die evangeliſche Geſchichte kritiſch und philofophifch bearbeitet
(Reipjig 1838). I. Bd. ©. 97.
172 Grimm
Schriften nur die Apofalypfe dem Apoftel diefed Namens
vindicirt, dad Evangelium und die Briefe dagegen nicht
nur demfelben abgefprochen, fondern auch ausdrüdlic
verfchiedene Verfaſſer derfelben angenommen und den im
Evangelium und dem erften Briefe niedergelegten Lehr.
begriff für die unter dem reactionären Einflufle des Pan:
linismus entfiandene helleniftifch »idealiftifche Verklärung
des judens chriftlichen Realismus der Apokalypſe erklärt,
dergeftalt, daß der erfte johanneifche Brief und das vierte
Evangelium zwei verfchiedene Entwidelungsftadien jenes
helleniſtiſch⸗ chriftlichen Idealismus in Kleinaſien darftel
len follen. Schon Kö ftlin, beffen „Rehrbegriff des Evan;
geliumd und der Briefe des Sohannes und die verwand⸗
ten neuteftamentlichen Lehrbegriffe” (Berlin 1843) be
Panntlich eine getreue Reproduction von Baur's Anſich⸗
ten über Inhalt und Charakter ber neuteflamentlichen
Lehrbegriffe enthält, machte (S. 276 ff.) hinfichtlich ber
Eichatologie zwifchen dem Evangelium und erften Briefe
eine Scheidung, welche einen Jeden, der bie Discretiond
fchleier zu lüften wußte, in welche der Berfaffer feine
Anfichten über Urfprung und Abfaffungezeit der einzelnen
neuteftamentlichen Schriften einzuhüllen für rathfam befun:
den hatte, feinen Augenblid in Zweifel laffen konnte, daß
bier die Meinung von zwei verfchiebenen Verfaffern im
Hintergrunde lag. Diefe Meinung fprach auch wirklich
bald darauf der Meifter der Schule a) offen und unum
wunden aus, ohne aber für diefelbe einen anderen Grund
anzuführen, als die Behauptung, daß ber Verfaffer des
erften Briefed in Kap. 5, 6. Bönp und alum nicht im
a) Sn der Abhandlung: „Ueber die Gompofition und den Charakter
bes johanneifhen Evangeliums.” In Zeller’s theologiſchen
Sahrbücern. 8. Bd, (1844). 4. Heft. &. 666. Cine von mit
verfaßte ausführliche Kritik diefer umfangreichen Abhandlung
wird naͤchſtens in der neuen jena’fchen Eitteraturgeitung erſcheinen.
56.0. Evangelium umd den erflen Brief des Joh. ic. 173
Sinne ded Evangeliums (Kap. 19, 34.) gebrauche. Hoͤch⸗
iihR befremden muß ed, daß man gerade in demienigen
Werke, welches die rüdhaltlofefte, detaillierte Eonftruction
ver banr’fchen Theorie Über die Entmwidelung des Chris
Renthums in ben zwei erftien Sahrhunderten und die Ein⸗
staung der litterarifchen Erzeugnifle jener Zeit, darunter
andı der meiften neuteflamentlihen Schriften, in jenen
vermeintlichen Entwidelungsgang enthält, id; meine
Shwegler’8 „Nachapoſtoliſches Zeitalter in den Haupts.
uementen feiner Entwidelung” (2 Bde. Tübingen 1846),
sine Erörterung von Inhalt, Urfprung und Zwed der
den Ramen des Johannes tragenden Briefe und folglich
auch des Verhältniſſes des erften dieſer Briefe zum vier⸗
ten Evangelium vergebens ſucht. Dagegen hat ſich über
den letzten Punkt ausführlicher, wenn auch keineswegs
efhöpfend, der geiſtvollſte und gelehrteſte unter Baures
Schulern, Herr D. Zeller, verbreitet a), Derſelbe bes
jihnet die gewöhnliche Annahme ber Identität des Bers
tafferö der beiden Schriften ald eine höchft prefäre, Die
Ichulichleit in Sprache und Gedanken fey unlengbar,
Inne aber aud Rahahmnng zu erklären feyn. „Auch
vr zweite und dritte Brief des Johannes“, führt Herr
Zeller fort, „haben viel Zohanneifches, und die unechten
varlinifchen Briefe treffen mit den echten in Bielem zu,
kmmen. Auch unter den platonifchen Werken befinden
6 mandhe, die nicht durchaus unplatonifch ausfehen und
dech fchwerlich für echt platonifch zu halten find. Eu⸗
denus fchreibt um Weniges anders, ald Ariftoteles,
ad Fichte’ 8 Kritik ift fo ganz in Kant's Geiſte, dag
k nah ihrem Erfcheinen allgemein für ein Werk bes
köteren gehalten wurde,” Nun die Gefchichte der hiſto⸗
%) Inder Abhandlung : „Die äußeren Zeugniffe über das Dafeyn und
den Urfprung des vierten Evangelium”, in ben genannten Jahr⸗
büdern, 4, Bd. (1845). 4. Heft. S. 588 f.
174 SGrimm
riſchen Kritik auf dem Gebiete ber bibliſchen wie profanen
Litteratur lehrt allerdings, daß die Entfcheibung Über
Echtheit und Unechtheit oft fehr fchwer if; und bie
Wiſſenſchaft hätte fich in folchen Fällen wohl öfter, als
es gefchehen ift, mit einem befcheidenen non liquet begnüs
gem follen. Aber im Allgemeinen. läßt ſich Doch ein Kanon
aufftellen, nämlid, der, daß, wenn bie Zahl der Abwei⸗
chungen in Sprade und Gedanken einer in Rebe fichen
den Schrift das Berhältniß der Berwanbdtichaft über
wiegt, wenn die Differenzen gar zu grell find, wenn fid
wohl gar Mifverftändniffe von Ausdrüden und Geban
ten der anerlannt echten Schriften desjenigen Berfaflerd,
dem die zweifelhafte Schrift angehören will, finden, alsdaun
aflerbinge voller Grund zum Verdachte der Rachahmung
vorliegt. Iſt aber dad Berhältniß der Abweichung nar
gering und läßt ſich daffelbe aus der Berfchiebenheit der
Gemüthskimmung, der änßeren Umgebung, der Abfaf
fungszeit, des Zwecks, oder aus veränderter Denkweile
Eines und deſſelben Verfaflers hinreichend erklären, laſ⸗
fen ſich die anfcheinenden Differenzen ausgleichen, ale
verſchiedene Schattirungen einer und berfelben Idee auf-
faflen, oder auf verfchiedene Geſichtspunkte zurückführen,
aus denen Ein und derfelbe Schrififteller die Sache ber
trachten konnte, ſo würde, vorausgefeßt, daß keine Auße
ren Gründe entgegenfiehen, die Folgerung der Unecht⸗
heit höchſt übereilt feyn. Wir wiflen nicht, nady welchem
Maßſtabe Herr Zeller.in Feſtſtellung des Unterfchiedes
von echten, zweifelhaften und unechten platonifchen Schrif
ten verfährt. Sollte e& aber derfelbe feyn, nach welchem
die baur’fche Schule in ihrer Beurtheilung der paulie
nifhen Briefe zu Werke geht (wovon noch Einiges am
Schluſſe diefer Abhandlung), dann freilich verliert Die
biftorifche Kritik allen Halt und Boden. Aber mit Recht
ift dieſes höchſt willkürliche und hyperffeptifche Berfah:
ren ſchon mehrfach als kritiſcher Vandalismus bezeichnet
üb. d. Evangelium und dem erſten Brief des Joh.ꝛc. 175
worden. Was aber dad von Herren Zeller urgirte
Berhältuiß der fichte’fchen Kritik der Offenbarung zu
Kaurd Schriften betrifft, fo urtheilen Sachkundige ans
ders. Ein mit Kant’s und Fichte’ & fchriftftellerifchen
GFigenthämlichkeiten gleich fehr vertrauter Philofoph vers
fcherte wir kürzlich, die Abweichung der fichte’fchen
Kritik von Kants Schriften in Sprache und Darftellung
ud bin und wieder auch in ben Gebanfen fey fo bedeu⸗
tend uud fo nnverlennbar, daß er die Aufnahme bed
Verkes als Fant’fches Erzengniß fih nur aus der
Gleichheit feines Titels „Kritif”, fo wie des Formates,
Papiere, Drudes und Berlegerd mit Kant's Schriften
wu erflären wiſſe. Um endlich unferer vorliegenden Frage
süher zu kommen, fo ftehen der zweite und dritte johan⸗
neiſche Brief hinfichtlich der fprachlichen und einiger ans
deren Eigenthümlichkeiten doch augenfcheiulidy in einem
gan; auderen Berbältniffe zu dem vierten Evangelium,
ald der erfte Brief, und felbft in diefen ihren Eigenthüm⸗
lichleiten möchte ich noch Leinen. zureichenden Grund fin»
ven, fie den Berfafler ded Evangeliums abzufprechen.
Doch Herr Zeller behauptet auch bedeutende Diffe
vengen zwifchen dem erflen Briefe und dem Evangelium
des Johannes ; er will fich jedoch anf das Dogmatifche
beſchränken. Wir hoffen, er wird fich auf die nach fei:
ır Meinung grellſten und augenfälligften Differenzen
kihräntt haben. Gr bemerkt aber Folgendes: höchſt
enffalend fey der Linterfchied beider Schriften in der
kehre vom zufünftigen Bericht und vom heiligen Geifte.
„Ler Brief redet (Rap. 2,18. 28. 3,2.) ausbrüdlich von
er dsyden ago und einem zukünftigen Yavagndizwas
&hriki umd keunt Namen und Begriff des dvrigguoros.
Das Evangelium fpricht nicht bloß nirgends mit-diefer
dchimmtheit von der äußeren Parufle und dem Welt,
mde, fondern es löſt auch jene (Kap, 14, 3. 18 f. 23.
I6, 16. 22.) deutlich genug in die Idee der inneren Pa⸗
176 Srimm
rufle durch ben heiligen Geift auf. Eben dieſes war aber
dem Briefe nicht möglich, weil er die dem Evangelium
eigenthämliche Beſtimmung bed Geiſtes ald eined Principe
fortgehender Entwidelung, die Idee des Paraflet, nicht
bat. Der Parafler it ihm Chriſtus (Kap. 2, 1.), den
Geift kennt er noch nicht ale den dAlos zagdxäntos
(Ev. 14, 16.), fondern erſt ald das zoisua (Kap. 2, 20.
27.), eine Betrachtungsweife, die, dem älteren Jubenchris
ftenthbum geläufig e), dem vierten Evangelium abgeht.
Damit hängt auch die Verfchiedenheit der Darftelung in
Joh. 19, 34. und 1 Joh. 5, 6. zufammen. Denn wäh
rend es in der erfteren Gtelle bad zuvsüue felbft ift, das
als lebendiges Waller vom flerbenden Chriftus aus⸗
ftrömt, während ed alfo diefelbe Idee des Geiſtes, als
des mit dem Tode Ehriſti von ihm ausgehenden Stell⸗
vertreters feiner perfönlichen Gegenwart, andfpricht, wie
Joh. 16, T. u. and. St., fo erfcheint in dem Briefe Der
Geiſt in dem äußerlichen Verhältniffe zu Chriſtus, daß
er durch Taufe und Abendmahl von feiner Meflianität
Zeugniß gibt. Diefe. Differenzen weifen darauf bin, daß
ber Brief einer früheren dogmatifchen Entwidelungsform
angehört, ale dad Evangelium, mag er nun von dem»
felden ſalſo wird bier doch die Identität des Verfaſſers
a) Zur Grhärtung biefer Behauptung beruft fi Beller auf
Schwegler's nadapoftolifches Zeitalter, I. Band. S. 104., wo
aus den Stellen Apoftelgefch. 4, 27. (Inooſsc, d Ayıos mais Heov,
69 Exgıoe) und 10, 38. C’Insoug — — ov Eygıoe d Haöc avev-
parı dylp nal duvaues) und aus bem Ausfpruche Trypho's bei
Iustin. Dial. c. Tryph. c. 49, über bie chriftologifche Anficht
ber Ebioniten (xal 2uol utv doxovcım ol Adyayrıs rüganor
yeyovivaı avröv xal xar' duloyiv nezgieha: xai Xgıoror
yeyovivaı zıdavoregov Alysım' ul ydg nuelg mdvreg Tor
Xgıoröv üvdgnnon EE ardganns wgoadoxuper yarıacadar
xal rön ’Hilav zoo as audrov 2IMovra, gefolgert wird, bie Be⸗
zeichnung der Ausrüftung mit bem heiligen Geifte durch zeiecdn:
fey dem Ebionitismus eigenthuͤmlich gewefen.
üb, d. Evangelium und den erflen Brief des Joh. ꝛc. 177
wit dem bed Evangelinms ald möglich gefett!) oder einem
anderen Berfafler wirklich früher gefchrieben, oder mag
er dem Evangeliſten von einen Solchen nachgebildet wors
den ſeyn, der fich feine eigenthümlichen Anfchaunngen
nicht ganz anzueiguen vermochte” -
Ih traute meinen Augen kaum, im Borfichenben
Dinge zu Differenzen geftempelt zu fehen, die vor dem
mbefangenen Blide durchaus nicht als folche beftchen,
ıder die fi Doch augenbliclich ausgleichen laffen. Nur
ver Brief fol von einer Zoyden ge fprechen. Aber das
Eyangelium kennt ja, was ganz daffelbe befagt, die Jayden
iaige (Rap. 6,39. 40, 44. 54.); es hat bie Lehre von eier
Inlihen Erwedung ber Todten und einem über fie zu
baltenden Berichte durch Ehriſtum; vgl. Die eben angeführ:
im Stellen und Rap, 5,28 f., welche Stellen Herr Zeller
eh nicht etwa mit dem neueflen proteftantifchen Aus⸗
ga, Baumgarten» Erufinus, allegorifch erklären
nid, So Etwas follte bei dem heutigen Stande der
Eregefe nicht muche vorfommen. IR aber die orthobore
Indlegung der genannten Stellen richtig, fo ift in ihnen
direct auch. Die Borftelung von der fihtbaren Wieders
haft Jeſu enthalten, denn ohne biefe Wiederkunft wäre
uf dem Standpunkte des Urchriftenthums jene Erweckung
vr Zodten und das über fie zu haltende Gericht nicht
kaldar, Dat auch der Evangelift nichts über die Zeits
sähe diefer Ereigniffe bemerkt, fo folgt daraus doch nicht,
uf die Vorſtellung ihm fremd gewefen fey a). Gefegt
da, der Evangelift hätte die fichtbare Wiederkunft Jeſu
ht fo unmittelbar nahe gedacht, wie der Brieffteller, fo
nirde das noch fein frigenter Beweis gegen bie Iden⸗
) Befonnener: äußert fih Köftlin a. a. D. S. 276: Im Evan⸗
gelium finde fich Leine Spur, daß das Ende der Dinge in der
nähen Zukunft erwartet. würde, aber aud) „kein beſtimmter
Beweis vom Gegentheile.” K
eol. Stud. Jahrg. 1847, 12
178 Grimm
kität des Berfafferd ber beiden Schriften ſeyn; berfelbe
fönnte ia, wer weiß unter was für Einfläfen, feine Au⸗
ſicht geändert haben, wie manche Theologen, freilich mit
großem Unrechte, vom Apoftel Paulus angenommen has
ben, er rücke in feinen fpäteren Briefen bie ſichtbare Pa⸗
rufle des Herrn in weitere und unbeſtimmte Zeitferne
hinand. Die Berkellung von einer doppelten Wieder⸗
kunft des Herrn aber, der fichtbaren und unſichtharen,
der inneren und äußeren, enthält eben fo wenig- einen
Widerſpruch als die Borfiellung von einer boppelten Lee,
derjenigen, bie ſchon jet ummittelbar durch den Glauben
an den Erlöfer vermittelt wird, und jener, bie den Gläu⸗
bigen er zur Zeit der Parufie zu Theil werben fol,
oder von einer doppelten aplsıg, der inneren, jenem Pro:
cefle der Sichtung zwiſchen Guten und Böfen, ben bas
Evangelium gleih von feinem Eintritt in die Welt au
vollzieht (Kap. 3, 18 ff. u. öft.), und dem abfchließenden
änßeren Bericht am Ende der Tage (Kap. 5, 28 f.).
Es hat ja auch Paulus, wenn auch nicht den AuUsdruck,
ſo boch den Begriff der unfihtbaren Wiederfunft Jeſu
in feiner Vorſtellung einer unfihtbaren Gegenwart
Chriſti in den Bemütheru uud Herzen ber Gläubigen, Des
Agsorög iv Haiv, und ber Wirkſamkeit des heiligen Gei⸗
fted in ihmen neben der Borfieluug von der fihtbaren
Paruſie. Mit dieſer letzteren Borkellung hing aber nad
jüdiſchem und ucchriftlichem Lehrbegriffe der Begriff Des
Antichrifte fo eng zufammen, daß ed grenzenlofe Kühn;
beit verraten würde, wenn man die Kenntmiß beflelben
dem Evangeliften abfprechen wollte. Nirgends wäre eine
argumentatio e silentio gemagter ald hier, da ſich Feine
dringende und zwingende Beranlaffung zur Erwähnung
des Antichriftd im Evangelium nachweifen läßt. Ohne»
dieß iſt der Begriff des Antichriſts im erften johanneiſchen
Briefe fo geiflig gehalten, daß es faſt fcheinen möchte,
als habe fich ber Berfaffer denfelben gar wicht, wie Der
üb, d. Evangelium und den erflen Brief des Joh. ac. 179
Npofalgptifee oder wie der Apoftel Paulus im zweiten
Briefe an die Cheffalonicher, als perfönliches Wefen,
fondern tbeell, als die Spitze und als das Eollectioum
ver dem Ehriſtenthume feindlichen Beflrebungen und
Micte gebacht, gerade fo wie bei Johannes ber correlate
Begriff ded Satan in ähnlicher Schwebe gehalten if
wwifhen der Vorſtellung einer fabftantiellen oder perſoͤn⸗
lichen und einer bloß principielen Macht.
Eine andere Berfchiebenheit zwifchen dem Evangelium
uud dem erfien Briefe liegt nach Heren Zeller’s Be
hanptung in der Lehre beider Schriften vom heiligen
Geiſte. Uber im Evangelium konnte ja der Geiſt ber.
Natur der Sade nad erft für die Zukunft verheißen
verden, für die Zeit feit dem Hingange des Herrn zum
Bater. Nach dem Briefe foll er ſich in der Zeit der
Eutfheidung als dasjenige Princip bewähren, als wel⸗
ches ihn im Evangelium ber Herr den Seinen verheißen
batte, als dad Princip ber Wahrheit, folglich auch ber
krlenutniß des wahrhaft Ehriſtlichen im Gegenſatze zur
Frrlehre (Kap. 2, 20. 27). Was waltet da für ein
Viderſpruch ob? Ob aber Jeſus und mit ihm ber Evans
gelit den heiligen Geiſt ald Princip einer (doch wohl
as Unendlihe?) fortgehenden Entwidelung, ohne
heffaung anf irgend einen Abſchluß in der chriflichen
krkenntniß, fich gebacht habe, läßt ſich durchane nicht
mweifen und möchte mehr ald zweifelhaft feyn, Hätte
Ha aber auch der Evangelift in diefer Eigenfchaft ge-
ht, fe folgt daraus noch nicht, daß er ihn auch im
Briefe Von diefer Seite habe darftellen müſſen. Es wäre
Def ebenfalls eine ganz umberechtigte argumentatio e si-
kstio, da der Briefſteller doch wohl fchwerlich eine er»
Ihöpfende Entwidelung der Idee des heiligen Geiftes
geben wollte, Rein unbegreiflich ift e& aber, wie Herr
3eller den Ausbrud supdsimzos als ſolchen ald Ber
wihnung jenes Principes der fortgehenden Entwidelung
12 *
——— — — — —
180 Grimm
faſſen und darin einen grellen Gegenſatz zur Bezeichnung
bes heiligen Geiſtes als zoicne finden konnte. Beides
find ja bildliche Ausdrücke. Mit zagdsinrog wird
nach jetzt allgemein recipirter Erklaͤrung der heilige Geiſt
ale (unfichtbarer geiftiger) Beiftand, mittel! zoiöpe
aber ale Ausräftung und Befähigung Derer ber
zeichnet, Denen er verliehen wird (nach 2 Sam. 16,13.).
Keiner von beiden Ausdräden begeichnet an ſich ſchon
eine einzelne beftimmte Function bes heiligen Geiſtes an
den Seelen der Gläubigen. Statt „ber Bater wird endı
ben Paraflet verleihen” (Evang. 14,16.) hätte der Evan
gelift unbefchabet des Sinnes auch fagen können: „bet
Bater wird euch mit bem heiligen Geifte falben”; und
fkatt „ihr habt das zoisun” (1 Br. 2, 20.), ober „das
zoisun lehrt euch” hätte der Briefſteller auch fagen koͤn⸗
nen: „ihr habt den Paralleten”, oder „ber Parakiet lehrt
euh.” Grundfalfch ift aud die Behauptung, bie bild-
lichen Ausbräde zoisur und xolsıv vom heiligen Geile
und von der Ausrüſtung mit bemfelben feyen nur ben
Indenchriſten eigenthümlich gewefen, denn 3 Kor. 1, 26.
findet ſich yolsıv in demfelden Sinne Vgl. Meyer
zu d. St.
Endlich fol noch zwifchen Evgl. 19,34. und 1 Brief
5,6, eine fchroffe Differenz ſtattfinden. In Erflärung ber
leßteren Stelle weiht Hr. Zeller von Baur ab, in
dem er Wolf's, Carpzov's mn. A, Erklärung de
alu vom Abendmahle wieder aufnimmt, welche, ale längft
verfchollen, um fo weniger einer ernenten Widerlegung
bedarf, ald Hr. Zeller auch nicht die leifefte Miene! zu
einer erneuten Begründung berfelben gemacht hat. Dar
gegen unterliegt die jetzt immer gangbarer a) werdende Err
a) Unter ben neueflen Auslegern hat fi nur Baumgarten:
Srufius Ctheologifhe Auslegung ber johanneifchen Schriften,
ab, d. Evangelium unb den erſten Brief des Joh. ꝛc. 181
Härung, Jeſus fey ale Mefflas erfchienen und habe ſich
als folcher bewährt durch bie in der Taufe und in feis
sem Tode gefliftete Berföhnung, und ber h. Geiſt gebe
die innere Gewißheit der Berfühuung, wohl kaum noch
einem Zweifel, wie fie denn auch von Baur angenoms
men werben iR. Dagegen tritt Hr, Zeller feinem Lehr
see und Meiſter iu Erklärung von Evang. 19, 34. unbes
dingt bei. Zum befieren Berfländniffe ded von Hr. Zel⸗
let Sefagten bemerken wir, daß nach Baur’s a) Anficht
ver Evangeliſt in 19, 34. die Erfüllung der in Kap. 7, 38f.
sügetbeilten Berheißung, Die durch den Tod des Herrn
keingte Auſsſtrömung des heiligen Geiſtes, berichten will;
dad heraudfließende Waller fol Symbol des heiligen
Geiſtes, das Blut Symbol ded Todes Jeſu, die erzählte
degebenheit aber reined Phantaflegebilde des Evangeliften
ya. Gegen dieſe abfonderliche Erklärung erheben ſich
aber die verfchiedenften Bedenken, Erſtens. Als Erfülr
lung der Berheißung Chrifti in Kap. 7, 38 f. kann der
Coangeift die „Sache fchon darum nicht haben barftellen
nolen, weil dort dad Subject der Blanbende, in unferer
Stelle dagegen der ſterbende Chriſtus if. Hätte er fie
2. Band. ©. 259.) für die Erklärung bes Hdag von der an Je⸗
ſut durch Johannes vollzgogenen Taufe entſchieden. Aber außer
demjenigen, was ſchon Lüde (Bommentar über die Schriften
des Johannes, S. 288.) und de Wette (ereg. Handb. zu Joh.
6. 266.) bemerkt haben, ftreitet gegen diefe Auslegung, daß von
einer Begebenheit, wie die bei der Taufe Jeſu vorgefallene, bie
sur buch ein hiſtoriſches Zeugniß, dasjenige Johannes des
Ziufers, verbürgt war (Evang. 1, 82.), ſchwerlich gefagt wer-
ben konnte, fie werbe durch den heiligen Geiſt bezeugt. Nur in
eigenen inneren Erfahrungen vernimmt man Stimme und Zeugs
niß des heiligen Geiſtes. So vergewiffert derfelbe die Glaͤu⸗
bigen auch nach Roͤm. 8, 16. f. Bal. 4, 6,, vergl. Röm. 5, 5.,
iſtet durch ben verföhnenden Tod Jeſu vermittelten VBerhältnifs
ftö der Kindſchaft zu Bott.
i) Ju 3eller’s theol. Jahrb. 1844, &. 164 ff, und biefelbe Aufı
feflung der Stelle bei Köftlin a, a. O. &, 207,
182 Grimm
aber auch abs folche haben darſtellen wollen, fo würde er
wohl, sach der Analogie von Kap. 18, 9. zu fehließen,
gefagt haben: xal sbdug 3EnAdov zorastol Ödarog &x vis
wesllag adroö, va zAngmdi 6Abyos, Ov zizev. Zweitene.
Die Erwähnung des Blutes wäre unnöthig, ja flörend
geweien. Denn wenn das Wafler aus dem getödter
ten Leibe floß, fo war damit von felbft ber Gedanke ver
finnbildet, daß die Ausflrömung des Geiftes aus ber
Derfon Jeſu durch deren Tod bedingt fey. Run aber
wird das Blnt fogar zuerſt genanıt. Drittens. Wenn
auch fonft der Geiſt und bad Geiftige unter dem Bilde
eines Fluidums und bei Joh. 7,99. befkimmter unter bem
Bilde des Waflers, fowie die Mittheilung bes Geiſtes
anter dem Bilde einer Ausgießung oder Ausſtrömung
oder einer Tränkung (zorigeode: zvsunarı, LXX. zu Ic.
29, 10. 1 Kor. 12, 13.) bargeftellt wird, fo wird bod
nirgends das Wafler fo geradezu, ohne alle nähere Be
ftimmung, ftatt des Geiſtes genannt. Wohl aber ift dal:
felbe im Ev. Joh. 3, 5. geradezu Symbol der Taufe.
So fehwierig nun aud die Stelle 19, 34. ift, burdı
Baur’s Erklärung wird die Dunkelheit nicht verfcheucht.
Es gehoͤrt eine fehr kühne Phantafle und ein flarfer
Muth dazu, das Alles darin zu finden, was Baur hir:
einlegt. Dem durch y&p vermittelten Zufammenhange des
36. Berfed unit dem Borhergehbenden zufolge lag zwar
für den Evangeliften das Hauptmoment in dem Nichtzer
brechen der Beine Jeſu und im Lanzenftiche fchon ale
folchem, weil nach feiner Anficht beide Thatfachen im A. T.
geweiflagt, folglich Merkmale der Meffinnität Jeſu war
ren, Gleichwohl kann ihm das aus der geöffneten Seite
Jeſu herausfließende Waffer und Blut nichts Gleichgül⸗
tiged gewefen feyn, wie Baumgarten» Erufius
meint, denn fonft Hätte er fich mit der einfachen Erwäh⸗
nung des LanzenftichE begnügen können, ohne der Fluida
zu gedenken. Daß er, wie man gemwöhnlid annimmt,
üb. d. Eoangelium unb den erflen Brief bes Joh. x. 183
rue anatomische und phyſtiologiſche Conftatirung ber
Wirklichkeit des Todes Jeſu habe geben wollen, ift durch⸗
and unwahrfeheinlich, da in damaliger Zeit von ben Geg⸗
sera ded Chriſtenthums wohl bie Auferſtehung ef, nie»
wald aber die Bohflänbigleit feines Todes geleugnet oder
zweifelt wurde. Sonach bleibt allerdings nur die An⸗
sehe übrig, daß die Erinnerung des Evangeliſten =)
um typologifchen Intereſſe beherrfcht geweſen fey, daß
a in Bint und Wafler eine ſymboliſche Bedentung ge»
legt habe. Es fragt ſich nur, welche? Daß es die von
Saur angenommene unmöglich geweien feyn kann, has
ben wir gefehen. Wie dunkel auch bie Stelle 1 Br. 5,6.
iR, fie iſt Doch jedenfalls klarer, als die unfere. Was
legt folglich näher, als biefelbe, in Gemäßheit des bes
launten bermeneutifchen Srumbfaßes, bie dunkeln Stellen
ed den klareren zu erklären, zur Aufbellung der unfes
sch zu benugen, folglich nach dem Borgange ded Apol«
linaris b), mit einigen Neueren, wie Weiße c),
Sfrörer, Hafe, Blunt uud Wafler ald Symbole der
2) Denn als Augenzeugen unb als ben Apeftel Johannes fegen wir
ven Berfafler voraus. Das Herausfließen von Wafler und But
entzieht ſich Teineswegs fo fehr ber Borftellung, wie die Gegner
des Evangeliums behaupten, fobald man fich nur die Sache in
bervon Gfroͤrer (das Heiligthum und bie Wahrheit, ©. 335 ff.)
oder Hafe (Leben Jeſu, S. 206. 8. Aufl.) vorgefchlagenen Auf-
feffung denkt,
b) In dem befannten Fragmente bei Ruuth, Beliquiae sacrae 1.
p. 151: das aus ber geftochenen Seite berausgefloffene Blut und
Baffer fenen die beiden zudagsın geweien.
c) Evangel. Geſchichte, II. &. 829 ff. vergl. 1. S. 100 ff., nur
daß Weiße die Stelle bes Briefs in ganz abfonberlidyer Deus
tung als polemiſche Beziehung auf Gerinth foßt und aus einem
Mifverfländniffe derfelben Seitens des von ihm angenommenen
PMeudeiohannes bie Entftehung der Erzaͤhlung in Kap, 19, 34 ff.
ju erfläcen fucht, auch alge faͤlſchlich zunädıft ale Symbol bes
beitigen Abenbmahls, fomit nur mittelbar des Gühnopfertobes
cuffaßt.
184 Grimm
durch Chriſtum geftifteten Berföhnung anfzufaflen, fo daß
folglich jebe anfcheinende Differenz mit 1 Br.5, 6. beſei⸗
tigt wird? Mag eine ſolche typifche Deutung auch gegen
unferen Gefchmad ſeyn, fie war nicht gegen ben Des
Evangeliſten, ber ja auch in Kap. 9, T. feine Neigung
beurfundet, in äußere Erfcheinungen typifche Beziehun⸗
gen anf bie Thatfachen ber Erlöfung zu legen. Taufe
und Tod Sefn werden, aber audy in den zur Erflärung
der beiden johanneifchen Ausſprüche noch nicht benutzten
Stellen (Eph.5,25f. a), Hebr. 10, 22.) b) ale die beiden
* Sühnungsmittel zufammen genannt, fowieinl Kor. 1, 13.
ald die beiden Mittel, durch welche Ehriftuß die Gläͤubi⸗
gen als fein Eigenthum fich erworben habe. Daß in ber
Stelle des Evangeliums das Blut, in ber bed Briefs da⸗
gegen das Wafler zuerſt genannt wird, kaun doch ſchwer⸗
lich ald Widerſpruch angefehen werben. Die Boraufs
Relung des Waflerd war in der Briefftelle durch den
Cwahrfcheinlich eine Beziehung auf Johannes ben Täufer
enthaltenden) fleigernden Gegenſatz: odx dv ra Ddası ndvor,
dir iv co Ddarı xal vo wveuuer, bedingt, Das Waffer
fonnte aber auch voraufgeftellt werden, weil die Taufe
das erfle äußere Moment in der Mittheilung und Aneig-
nung des chriftlichen Heiles iſt; das Blut Dagegen, weil
es fich in der Stelle des Evangeliums zunächſt vom Tode
a) Bel, Harle zu d. St.
b) Daß die Worte: ddhnrrıausro: Tag nagdlag amo ouwsönceng
zovngüs, nicht die fittliche Beſſerung, fondern die Entfündigung
durch den Opfertob Jeſu bezeichnen, unterliegt jegt Teinem Zwei⸗
fel mehr. al. Kap. 9, 18 f. 12, 24. — Zu den Stellen, wo
Taufe und Tod Jeſu als Sühnungemittel zufammengeftellt wer:
ben, würbe au 1 Kor, 6, 11. gehören, wenn bie Deutung
jysachee von der Weihe durch Suͤhnung (wie. Eph. 5, 26.
Hebr. 9, 13.) völlig gefichert wäre. Aber aysabschus bezeichnet
anderwärts auch bie fittliche Läuterung burdy Gottes heiligen
Geiſt (1 Petr, 1, 2, vergl. 1 Theff. 5, 23.), fo daß ſich etwas
Beflimmtes nicht wohl ausmachen läßt.
!
4b. d. Evangelium und den erſten Brief des Joh. ꝛc. 185
Gefn handelte, oder weil der Verföhnnngstod bie objer,
tive Bedingung des Segens der chriſtlichen Taufe iſt,
oder auch, weil beim Herausfließen die Quantität des
Olnted die des Waſſers Überwog. Ob dagegen dem Ber
faffer zugleich auch der Gedanke an die Weihung der
mefatfchen Religiomsanftalt durch Wafler und Blut cHebr.
9,19. 3 Moſ. 24, 5 f.) vorſchwebte, wie dieß Baum»
garten:Erufius in Bezug auf die Stelle des Briefe
behauptet, möchte mehr als zweifelhaft feyn, da Zohan»
nes die beiden Neligionsanftalten fonft nirgends unter
den in anderen neuteſtamentl. Schriften gangbaren Ger
fhtöpuuft zweier Bündniffe mit Gott ftellt =).
Aus Vorſtehendem fieht man, daß Here Zeller in
ver Scheidung des Evangeliums vom erften Briefe bee
Johannes hinfichtlich ihres Urfprunge und Berfaflers
san; nach denſelben willfürlichen Grundfägen verfahren
iſt, welhe Banr und feine Schüler in der Kritik der
panlinifchen Briefe befolgt haben, nuter denen fie bes
lanntlich nur die Briefe an bie Römer, Galater und Jos
rinther als völlig zweifellos panlinifche Werke anerken⸗
an, während fie die fämmtlichen übrigen Briefe eben
[ viel verfchiebenen Berfaflern vindiciren, von denen jes
der wieder ein befonderes Stadium der Entwidelung und
Beiterbildung des urfprünglichen pauliniſchen Lehrbe⸗
griffs repräfentiren fol. Wollte aber die Schule confes
quent ſeyn, fo müßte fie noch weiter gehen und auch uns
ir den vier unangetaftet gelaffenen Briefen eine gleiche
Sihtung vornehmen, fo daß zulegt vielleicht nur ein ein»
nger als wirkliches Erzeugniß des Apofteld übrig bliebe.
Bir wollen für dieſen Behuf nur auf einige Erſcheinun⸗
gm aufmerkſam machen, wie fie fich uns ohne weiteres
Suchen eben barbieten, Im Briefe an die Galater wirb
a) Kuh 2 Moſ. 29, A. 21. kommen Waſſer und Blut als heilige
Reinigungs» und Weihungsmittel nebeneinander vor,
186 Grimm
der leiblichen Auferfichung ber Menfchen und ber ſicht⸗
baren Wiederkunft Jeſn mit keinem Worte gedacht. Im
Br. an die Römer (8, 39 ff.) huldigt der Verfaſſer der
Borftellung von einer Verklärung der fihtbaren Schöpfung
zur Zeit ber Parufie des Geren, während er 1 Kor. 15,
wo er doch feine efhatologifchen Vorſtellungen ausführ⸗
licher entwidelt, davon ſchweigt. — In NRöm.8, 11. wird
der den Ehriften mitgetheilte heilige Geiſt zugleich ale
phyſiſches, ben Leib durchdringendes und zu deſſen Auf
erwedung und DBerllärung befähigendes Princip darge
ftellt, worauf de Wette, Tholud u. 9, die Mei⸗
nung gegründet haben, Paulus denfe ſich die Auferwe
dung als einen Proceß allmählicher Verklärung des
Leibes von innen heraus, während nad) 1 Kor. 15, 52.
die Auferwedung in einem Nu durch den Allmachtöruf
Gottes erfolgen fol. Nah Bal. 3, 29. tft in der Gew
meinfchaft mit Chrifius auch der Unterfchieb zwifchen
Mann und Weib aufgehoben, während 1 Kor. 11, 3. bie
Unterordnung des Weibed unter den Mann gelehrt wird.
Es würbe und auch gar nicht fchwer falten, fprachliche
Differenzen in den vier unangetaftet gelaflenen Briefen
nachguwelfen, doch reicht für vorliegenden beſchränkten
Zwei das in fachliher Beziehung Beigebrachte vollfons
men aus.
Es wird alfo wohl auch in Zufunft dabei fein Ber
wenden haben, dag Evangelium und erfter Brief dee
Sohanned, mögen fie nun edyt und apoftolifch ſeyn ober
nicht, ald Werke Eines und deflelben Verfaſſers gelten.
Es kann fcheinen, als ſey vorftichende Widerlegung Zel
ler’s kein beſonderes Verdienſt, und Hr. Zeller felber
habe fie und gar zu leicht gemacht. Wir geben dieß zu,
namentlid) das Zweite. Aber bei der Keckheit und Zur
verfichtlichleit, mit welcher Baur und feine Schüler ihre
Hypotheſen ald unumftößliche Refultate anzupreifen wil:
fen, kann es nicht unintereffant feyn, in detaillirtem Ein
üb. b. Evangelium und ben erften Brief des Joh. zc. 187
gehen au einem recht eclatanten Beifpiele die Leichtfertig-
fit ud Willkür diefer in weiteren Kreifen noch gar nicht
binläuglich gefaunten und verfkandenen, geſchweige denn
richtig gerwärdigten Kritik in ein recht helles Licht zu
Rellen. Uebrigens if Referent am wenigfien gemeint,
die vielfachen wiffenfchaftlichen Verdienſte Baur’s im
Abrede zu ſtellen oder fchmälern zu wollen; man fan
diefe mit Dank anerfennen, ohne damit die vielen Irr⸗
ange und unwiſſenſchaftlichen Auswächfe feines Principe
der freien Forſchung gut zu heißen.
%
3.
Berfud,
die Bedeutung bes Wortes Up aus der Gefdichte der
göttlichen Offenbarung zu beflimmen.
Son
Paſtor Achelis
in Groͤpelingen.
Su dem Jahre, ba der König Uſia ſtarb, ſahe ich
den Herrn fißen auf einem fehr hohen und erhabenen
ibrone und feine Schleppen fülleten den Tempel. Ges
taphim fanden über ihm, ein jeder hatte ſechs Flügel;
nit zween deckte er fein Angeficht und mit zween deckte
er feine Füße und mit zween flog er. Und einer rief
im anderen: heilig, heilig, heilig ift der Herr Zebaoth,
die ganze Erde tft feiner Herrlichkeit voll. Und es ers
bebeten die Grundfeſte der Schwellen und ber Tempel
ward voll Ranched, Und ich ſprach: wehe mir, ich ver«
186 Grimm
ber leiblichen Auferfichung der Menfchen und ber ſicht⸗
baren Wiederkunft Jeſn mit keinem Worte gedacht. Im
Br. an die Römer (8, 19 ff.) huldigt der Berfafler der
Borftelung von einer Verklärung der fihtbaren Schöpfung
zur Zeit ber Parufle ded Herren, während er 1 Kor. 15,
wo er doch feine efchatologifchen Vorſtellungen ausführ⸗
licher entwidelt, davon ſchweigt. — In Rom. 8,11. wird
der den Chriften mitgetheilte heilige Geiſt zugleich ale
phyſiſches, den Leib burchdringendes und zu beffen Auf»
erwedung und Verklärung befähigended Princip darge⸗
fteßlt, worauf de Wette, Tholud u. 9. die Meir
nung gegründet haben, Paulus denke ſich die Auferwer
dung als einen Proceh allmählicher Berklärnng Des
Leibed von innen heraus, während nad 1 Kor. 15, 52.
die Auferwedung in einem Ru durch den Allmachtöruf
Gottes erfolgen fol. Nah Gal. 3, 29. iſt in der Ge
meinfchaft mit Chrifius auch der Unterfchieb zwifchen
Mann und Weib aufgehoben, während 1 Kor. 11,3. die
Unterordnung des Weibes unter den Mann gelehrt wird.
Es wärbe und auch gar nicht fchwer fallen, fpradjliche
Differenzen in ben vier unangetaftet gelaflenen Briefen
nachzuweifen, doch reiche für vorliegenden befchräuften
Zwei das in fachlicher Beziehung Beigebrachte vollkom⸗
men aus. Ä
Es wird alfo wohl auch in Zukunft dabei fein Bes
wenden haben, daß Evangelium und erſter Brief des
Sohanned, mögen fie nun echt und apoftolifch feyn oder
nicht, ald Werke Eines und deſſelben Verfafferd gelten.
Es kann fcheinen, ald ſey vorftehende Widerlegung 3 el-
Ler’$ kein befonderes Verdienſt, und Hr. Zeller felber
habe fie und gar zu leicht gemacht. Wir geben dieß zu,
namentlich das Zweite. Aber bei der Keckheit und Zus
verfichtlichkeit, mit welcher Baur und feine Schüler ihre
Hppothefen ald unumfößliche Refultate anzupreifen wii:
fen, kann es nicht unintereflant feyn, in detaillirtem Eins
üb. d. Evangelium und den erſten Brief des Joh. ꝛc. 187
gehen an einem recht eclatanten Beifpiele die Leichtfertigs
feit und Willlür dieſer in weiteren Kreifen noch gar nicht
binlänglich gefaunten und verſtandenen, gefdyweige denn
richtig gewärdigten Kritit in ein recht helles Licht zu
Relten. Uebrigens if Referent am wenigften gemeint,
die vielfachen wiflenfchaftlichen Berbienfte Baur’s in
Abrede zu ſtellen oder fchmälern zu wollen; man kamm
diefe mit Dank anertennen, ohne damit die vielen Irr⸗
gaͤnge nud unwiffenfchaftlichen Answächfe feines Principe
der freien Forſchung gut zu heißen.
%
3.
Berfud,
die Bebeutung des Wortes 7 aus der Geſchichte der
göttlichen Offenbarung zu beflimmen.
Bon
Paſtor Achelis
in Groͤpelingen.
Sn dem Jahre, da der König Ufia ſtarb, ſahe ich
dm Herrn fißen auf einem fehr hohen und erhabenen
Throne und feine Schleppen fülleten den Tempel, Ges
taphim fanden Über ihm, ein jeder hatte ſechs Flügel;
mit zween deckte er fein Angeſicht und mit zween dedte
er feine Füße und mit zween flog er. Und einer rief
sum anderen: heilig, heilig, heilig ift der Herr Zebaoth,
die ganze Erbe ift feiner Herrlichfeit vol. Und es er:
bebeten die Grundfeſte der Schwellen und der Tempel
ward voll Rauches. Und ich ſprach: wehe mir, ich vers
/
188 Achelis
gehe, denn ich bin ein Menſch unreiner Lippen und wohne
unter einem Bolle von unreinen Lippen, Denn meine Au:
gen haben den König, den Herrn Zebaoth gefehen. Und
es flog zu mir her einer der Seraphim und in feiner
Dand eine glühende Kohle; mit der Zange nahm er fie
vom Altar und berührete meinen Mund und fprady: fiehe,
diefe berührete deine Lippen und fo ift deine Miffethat
weggenommen und beine Sünde verfähnet. —
Eine file, in fich große Offenbarung, wo der Tem
pel zu Serufalem in dem Glanze ber Herrlichkeit Gottes
erfcheint, wo der Herr einmal ben Himmel zerreißt unb
feinen Snechten offenbart, wie einft die ganze Erde voll
werben wirb feiner Herrlichkeit. In fih ſtill und groß
ift diefe Offenbarung; Jeſaias fchauet den Herren nicht,
wie 1000 mal1000 ihm dienen, 10,000 mal 10,000 vor ihm
fiehen, er fieht nur die Seraphim; der Prophet fchanet
Seine furdhtbaren äußeren Zeichen, wie einft vernommen
wurden, da der Herr ſich auf dem Berge Sinai offen»
barte, er hört nur den Lobgefang nnd doch bie Grund»
fefte des Tempels erbeben, das Hand wird vol Rauch,
der Knecht des Heren ift erfchüttert in allen Tiefen feines
Weſens, er fühlt fich feiner Unreinigleit wegen wie dem
Tode verfallen, Aber der Altar bes Herrn fteht da, mit
einer glühenden Kohle defjelben wird des Propheten Lippe
berührt, und er ift gereinigt, Furcht und Todesangkt ift
von ihm genommen, wie angehaucdht, ja erfüllt mit neuer
Lebenskraft, ſteht er freudig, getroft, felig da in feinem
Gott; ald die Stimme tönt: wen fol ich fenden? Tann
er freudig antworten: fiehe, bier bin ich, fende mid. —
Männer, die alfo gewürdigt wurden, den Deren zu
fhanen, in fo nahe Lebensgemeiufchaft mit Jehova zu
treten, die hatten aus unmittelbarer Anfchauung und Les
benderfahrung, was fie und nun als ein Zeugniß im
Worte darlegen. Das Zeugniß it da, Gott fey Dank,
es ift auch lebendig nnd kräftig. Uber je höher und tie-
über die Bedeutung des Wortes Up. 189
fer eine Lehre ik, deſto weniger läßt fie fih ganz in
Buchſtaben faflen; es ift noch etwas ba in oder über
dem Buchſtaben, der eigentliche Lebensodem; der muß
empfunden werben, der muß unfer Innerfied als ein
Handy bed Lebens berühren, fonft haben wir nur bie
Hülle, die Form.
Achnlih, wenn ein großer Eomponift ein Werk ge
fchrieben hat, fo fieht der, welcher feines Geiftes, feiner
Fähigkeit ift, nicht nur die einzelnen Noten, fondern den
Lebenshauch, der die Noten verbindet, der Zauber ber
Harmonie, der fie trägt, wird von ihm empfunden, er».
fannt; wer aber nicht fähig ift, den Geiſt des Compo⸗
niſten zu faflen, ber mag bie Noten einzeln lefen, er mag
fogar einzelne Säbe mühfam produciren, ber eigentliche
Gehalt des Werkes hat gute Ruhe,
Wir armen Menfchen find nun grob irbifche Natu⸗
ten, nicht wie zarte Saiten, bie von dem leifeften Hauche
des göttlichen Geiſtes in Schwung geſetzt werden, nicht
fo dis ponirt, daß wir, wo ein Wort des großen Poeten
(zomeis) aller wahren und ewigen Harmonie und zum
keſen gegeben wird, gleich in und mit bem Worte die
ganze Fülle bes Lebens vernehmen könnten; es bleibt une
fo leiht ein Wort, das wir buchftabiren, ein Rotenfaß,
den wir nacdflümpern, es will fi und nicht ale Leben,
nicht ald Harmonie himmlifcher Töne entfalten !
Darum hat fi) aber der Herr, unfer Bott, nicht fo
ſehr in Lehre, ald in Gefchichte, nicht fo fehr in Wort
u Buchſtabe, als in Thatfachen offenbart. — Freilich
Rt ım6 danun ein gefchriebened Zeugniß der großen Tha⸗
im Gottes gegeben, aber Gottes Weſen, Gottes Rath
in Gefchichte, in Thatfachen dargelegt, dann iſt die Of⸗
fenbarung nicht zu vergleichen einer Muſik, in Roten ges
fat, die und zum Lefen bargereicht wird, foudern wie
hören das große Halleluja, wie es in mächtigen, ergreis
fenden Orgeltönen an unfer Ohr und Herz fchlägt. —
0 Achelis
Es ſollte viel mehr berückſichtigt werden, wie Gott
gehandelt, wie er in der Geſchichte ſich feinem Volke of⸗
fenbart hat, wenn wir bad Weſen, die Eigenſchaften Got⸗
tes verfichen wollen. — Rad langem Suchen, deu Be⸗
griff der Heiligkeit Gottes zu beftimmen, ſchien mie von
der Gefchichte göttlicher Offenbarung aus ein helles Licht
auf die Bedeutung dieſes Wortes zu fallen. —
Es wurde früher der Begriff: Heiligkeit Sotted, von
dem die Bedeutungen dieſes Wortes in anderer Bezie⸗
hung abzuleiten find, gefaßt ale innere Reinheit, Abges
fchloffemheit gegen alled Sündige, Unreine, oder als die
Eigenfchaft, nach welcher Gott himmelhoch über alle Bes
ſchoͤpfe erhaben iſt. — |
Quenstedt: summa in Deo puritas, munditiem et pu-
ritatem debitam exigens a creaturis. Storr: quateäue na-
tarse propter virtutes, quibus excellent, mague aestimatae,
at comparantur ad Deum, omnes nihili sunt, divina natura
vecstur saneta, hoc est, seiuncta ab omnibus allis et in-
comparabilis sive eius sanctimonia spectatur, sive iustitie,
sive potentia, eive alla quaeque perfeotio. —
Buddaeus: quando Deus se ipsum amore purissime
amere concipitur, ut simul ab omni imperfectione remotus,
secretus, separatus censsatur, amor ille vocatur sanctitas.
— 7,94. Bengel wid; zuerft von diefer Begrifföbeflimmung ab ;
wir wiffen aus feinem Briefwechſel, wie gewiſſenhaft, ja
fehüchtern er dabei zu Werke ging. Illa autem praedicata,
quae simul sumta conceptum Dei quidditatem exhauriunt,
omaia uno nomiae VhTn contineri censeo, quo pacto hoc
ipsum vocabulum, ubi Deo tribuitur, eingulariesimo utigue
et foecundissimo pollere oportet siguificatu. De Deo ita-
que, ubi scripturs nomen illud Um enunciat, statuo non
denotare solam puritatem voluntatis, sed quidquid de Deo
eognoscitur et quidquid insuper de illo, si se uberlus re-
velare velit, oegnosci pessit, adeo ut voecabulum Sp ex
impositione divine vere sit inexhaustae significationis. G.
über die Bedeutung bes Wortes dm. 191
Menten fagt inder Anleitung: „die Heiligkeit Gottes heißt
nicht nur und uicht fo fehr die ganze unerreichbare Boll»
fommenheit und Herrlichkeit Gotted, worin er über alle
Bortrefflichkeit aller Gefchöpfe unendlich erhaben ift, ſon⸗
dern vielmehr wird dadurch Gottes herablaflende Gnade,
Östtes ſich felbft erniedrigende Liebe ausgebrüdt. Hei⸗
ligleit Gottes bezeichnet in der Schrift den eigentlichen
Charakter Gottes, den eigenthämlichen Charakter der
göttlichen Liebe, ed drüdt die Demuth Gottes und die
Selbfterntedrigung Gottes in Liebe aus.” — Nach dem
erfien Sage wäre in dem Worte „heilig,” won Bott ges
brancht, noch mehr als bloß das Eine, die herablaflende
Liebe Gottes, aber nad; dem folgenden Satze und der
weitern Ausführung fcheint Menken doch allein die her-
ablaffende Liebe Gottes darunter zu verftehen.
Menken bahnt, wie mir deucht, den Weg zum redh>
tm Berfländniffe des Wortes, indem er fo recht deutlich
und beſtimmt auf die Thatſachen hinweift, bei denen ſich
Gott der Heilige nennt, fofern nämlich, als er ſich in
Serael offenbart hat; er erinnert an die Gefchichte, wo
fih Gott zuerſt bezeichnet als herrlich in Heiligkeit, da
er nämlich Jorael erlöft, die Feinde vertilgt hat. Aber.
ih glande, wir haben noch eine feftere und breitere hir
ſtoriſche Baſis, auf welcher die Bedeutung des Wortes
„heilig“ in der Schrift ruht; noch viel lebendiger iſt uns
die Offenbarung der Heiligkeit Gottes in die Geſchichte
verwebt.— Das Wort „heilig, Heiligkeit, heiligen” kommt
in den Büchern Mofis, mit Ausnahme des Einen Aus⸗
druckes: Bott heiligte den Sabbath, gar nicht eher vor,
als bis Die Offenbarung Gottes anden Saas
nen Abraham's beginnt, ald bis der Herran-
bebt, dieſes Geſchlecht zu feinem Eigenthume
zu machen. —
Es begegnet uns dieſes Wort, welches ſpäter der
192 Achelis
Träger wird aller Bezeichnungen des Verhältniſſes Ger
hova's zu feinem Volke und des Volkes zu Jehova, in
dem erſten Buche Moſis ganz und gar nicht (ed verſteht
ſich von ſelbſt, daß Gen. 38, 21. hier nicht herge⸗
hört), ja ſolche Verhältniſſe, die ſpäter mit dieſem Worte
regelmäßig bezeichnet werden, werden in anderer Weiſe
audgedrüdt, Wenn ed zu Jakob's Zeitheißt (Ben. 35, 2.):
reiniget ench und ändert euere Kleider, fo heißt es fpäter
immer: heiliget end und ändert euere Kleider, heiliget
euch unb reiniget euch (Ex. 19,10. und 14. 3of.3, 5. 7, 13.
Lev. 16, 19. Rum. 11, 18. 1 Sam, 16,5. — Sobald aber
der Herr fein Werk unter Abraham’d Saamen beginnt,
fobald er erfcheint ald der Bott, der den Saamen Abrar
ham's fich zum Gigenthume erwählt bat, tritt dieſes Wort
ein. Er. 3, 5., ald der Herr dem Moſes erfcheint, heißt
ed: der Ort, darauf du fleheft, ift ein heiliges Land; es
wird dieſes Wort von dem neuen Berhältniffe Israels zu
Bott gebraudyt: heilige mir die Erſtgeburt (Er. 13, 2.).
Diefed Wort tritt aber ganz marlirt, ganz in feiner Fülle,
mit weldyer es fpäter dominirt, in dem Lobgefange Moſis
nach ber Errettung Israels anf.
Der Lobgefang theilt ſich augenſcheinlich in Drei Theile:
B.1—6. ift allgemeines Lob Gottes wegen des Geſchehenen,
B.6—11. Schilderung ber That Gottes gegen bie Feinde,
B,11—18. Schilderung des Berhältniffes Gottes gegen 36
rael. Der Anfang biefer zwei letzten Abfchnitte ift ganz
gleihmäßig und doch wieder markiert verſchieden; B. 6.
beginnt m>2 yın mm ya. Vers 11 beginnt: mm era
en Sum nms m. Sehova hat ſich verherrlicht gegen
die Keinde in Macht, gegen Israel in Heiligkeit. —
Wenn auch vom eilften Berfe an nody wohl gedacht wird
deſſen, wad der Herr an den Feinden gethan bat, fo ift
bier doch Alles in beftimmter Beziehung anf Israels Er:
rettung bargefielt, ia ed wird gleich hier als das Ziel
aller Wohlthaten Gottes genannt: der Herr wird fein
,
über die Bedeutung bes Wortes CP. | 193
Voll pflanzen auf dem Berge feined Erbes, dem Orte, ben
er zur Wohnung feiner Herrlichkeit erwählt hat, bas
Heiigthum, das feine Hände bereitet haben. — Es ift
fehr gu beachten, daß hier, wo zuerft von der Heiligkeit
Gottes die Rede ift, bei dem großen Acte: Jehova har
an Volk mitten aus einem Volke gerettet, zugleich bie
Bohnung feiner Heiligkeit, das Heiligthum
ſelbſt genannt wird.
Gegen ben Begriff der Heiligkeit Gottes, der Erhas
bene, Unermeßliche, der von allem Unreinen Gefchiebene,
ſcheint die gefchichtliche Einführung des Wortes fchon zu
ſprechen; dann müßte vielmehr Gott, der fich auf dem
Sinai offenbart, der Heilige heißen, und biefe Stätte feis
ne Offenbarung müßte der Ort, die Wohnung feiner
Heiligkeit genannt werben. Indeß wird nie von Mofes
der ih auf dem Sinai Offenbarende der Heilige ges
aannt, nur einmal (Habak. 3, 3.) heißt es in der ganzen
Schrift: der Heilige fam vom Gebirge Paran, welches
wahrfcheinlich eine Schilderung der Geſetzgebung enthält;
der Sinai wird nie in der Schrift der heilige genannt,
es fey deun, daß Pf. 68, 18. fo zu nehmen wäre, wie
kuther überfegt bat. Aber der Ort, wo Sehova ſich nun
fort und fort unter Israel offenbaren will, die Wohnung
ſeines Namens, die heißt das Heiligthum, fie ift die
Stätte feiner Herrlichkeit. —
Die Schrift felbft erklärt, weßhalb diefe Stätte das
heiligthum genannt wird, weil nämlich Jehova bafelbft
vehnen will. Mit dieſem Worte wird der Abfchnitt,
wider von der Stiftöhütte handelt, eingeleitet. Er. 25,8:
kt ſollen mir ein Heiligthum machen, daß Ich unter ihnen
xohne, und noch deutlicher am Schlufle diefed Abſchnit⸗
tes (Er. 29, 45.): dafelbft will ich den Kindern Israel bes
kannt werben und ed wird geheiligt werben durch meine
Herrlichkeit. Und ich will die Hütte des Stifted und den
Altar heiligen und Aaron und feine Söhne mir zu Prier
Theol. Stud. Jahrg. 1847. 13 _
1% Achelis
ſtern weihen, und will unter den Kinbern Israel
wohnen nnd ihr Bott ſeyn. — Und ſſe ſollen wiſ⸗
fen, daß ich ſey der Herr, ihr Gott, der ſie aus Urs
gypten führte, daß th unter ihnen wohne,
Sch der Herr, ihr Gott. Ebenſo redet der Prophet He
fetiel von diefer biftorifchen Baſis aus Aber bie gufünf
tige Offenbarung Gottes (37, 26—28.): ich will unit ihnen
einen Bund bed Friedens machen, der fol ein ewiger
Bund feyn mit ihnen, und will fie erhalten und mehren
and mein Hetligthum fol nuter ihnen ſeyn ewiglich. Und
ich will unter ihnen wohnen und wif ihre Gott ſeyn und
fie ſolen mein Volk ſeyn, daB auch die Heiden follen er:
fahren, daß ih der Herr bin, ber Sörael Heilig macht,
wenn mein Heiligthum ewiglich umter ihnen feyawirb. —
Es iſt das Wohnen Gottes unter JIérael, was bie Hütte
zum Deitigthume macht, Das Wohnen Gottes unter Js⸗
rael oder, wenn es noch Türger ansgebrädt wird, Jehova
inter ihnen (Num. 11, 20, 14, 14. und 42. Deut. 6, 15.
Joſuna 3, 10.) iſt der Vorzug Israels vor allen Völkern,
infofern iR Israel ein Eigenthum Gottes, und Infofern
nennt fi der Herr: ich bin Jehova, der euch heiliget.
@r. 31, 18, ev. 20, 8. 21, 8. und an vielen anderen
Stellen ſteht, ſtatt des fonftüblichen „ihr ſollt dieſes oder
das thun, denn ich bin der Herr, euer Gott”, „ich Bin ber
Herr, der euch heiliget,’”’ beides flieht coordinirt Lew, 20,
7-8: darum heiliget euch ımd feyb heilig, denn ich bin
der Herr, ener Gott. Und halter meine Sabungen aub
tyut fie, denn ich bin ber Herr, der euch heilige. Wie
es unter Israel identifch galt: Jehova wohnet unter ung
und wir follen heilig feyn, erheiit aus den Worden ber
Unfrährer: ihre machet ed zu wiel, beim die ganze Ge⸗
meinde ift, fie alle find heilig und der Herr IR miter ih⸗
nen (Rum. 16, 3.). |
- &o, viel fcheint unwiderſprechlich gewiß, der Herr ift
der Heilige in Israel, fofern er amter Israel eine Woh⸗
über bie Bedeutung bes Wortes Up. 195
zung ſich erwählt bat, Diefed Wohnen war aber bie
äußere, fymbolifche Hülle des inneren, wahrbaftigen Ber»
haͤltniſſes; es war freilich zugleich die typiſche Darſtel⸗
lung des zutünftigen..
Wäre ed nun Har, Bott iſt der Heilige, fofern er
ſich Irael nähert, fofern er ſich in der Hätte bes Stif⸗
td offenbart, fo fragt fih weiter: wie bat Gott ſich
denn bier offenbart?
Da. möchte uun freilich Maucher antworten: Jehova
iR der Heilige in bem Sinne, fofern er bort im Dun⸗
fein wohnt, fofern Jsrael ausgefchloflen ik von feiner
Gemeinſchaft, ber Hobepriefter nur im Amte nahen darf,
and dan Doch als einer, der ed nicht werth tft, der es
gewiſſermaßen nicht thut; denn er darf nur hineintreten
mit dem Blute der Berföhnung für die eigne Sünde, er
mmß mit dem Rauche des Räuchwerkes wie mit eimer
Wolfe das Heiligthum verhüllen, damit er den Gnaden⸗
ſtuhl wicht fehe und ſterbe (Rev. 16,13.); man wirb daran
erinnern, vom Heiligthume ging das verderbende Feuer
ans, welches Nadab und Abichu verzehrte; ed war der
eigentliche Schaf des Heiligthums, weldyer einft geſchaut
wurde, die Lade des Bundes, und ed traf Israel eine
große Plage, daB Israel ſprach: wer kann fliehen vor
ſolchem heiligen Bott? Alles diefed möchte angeführt
werden ald Beweis, Bott ift der Heilige als der, welcher
abgefchleffen if von allem Unreinen, ein verzehrendes
Feuer dem Sünder.
Aber diefer Schluß wäre doch voreilig, Wie? war
denn dieſe Dffenbarung Gotted in der Gtiftöhätte bie
gmwöhnliche, alttägliche, ging immer Berderben und Plage
im der Wohnung Gottes aus, ober war das Tägliche
derſöhnen, Helle, Friede⸗, Xrofigeben? War eb
ägentlich” der Zweck der Gtiftöhütte und der Bundeslade,
verzehrendes Feuer zu ſeyn, ober bewies fich der, der
hier wohnt, nur fo an denen, bie feine Site muthwillig
18 *
196 Achelis
verachteten? Wie? offenbarte ſich Bott hier als ber,
welcher abgeſchloſſen iſt von aller Gemeinſchaft mit den
Sündern, ein verzehrendes Feuer dem Unreinen, oder war
vielmehr der ganze Dienft im Heiligthum, dazu eingefeßt,
zu offenbaren, wie der Sünder mit Gott könne verföhnt,
der Unreine gereinigt, der Berlorene gerettet werden?!
Iſt nicht der ganze Gottesdienfi in der Hätte eine ſym⸗
bolifch = typifche Darſtellung, wie ber Menfch, der Erbe
der Sünde und des Todes, mit Gott, dem Lebendigen,
der Quelle des Lichtes und des Lebend, konne wieder in
Berbindang und Gemeinfchaft gebracht werden? — Frei
lich, ed wird auch in der Hütte die negative Seite dar
geitelt, daß ohne Berfühnung, ohne Mittheilung von
Heil, Licht und Leben der Menfch ewig muß ausgefchlof:
fen feyn von Gottes Rähe und Gemeinfchaft, aber die
negative Seite wird doch nur dargeſtellt, damit die poſi⸗
tive, wie der Sünder verfühnt, gereinigt, geheiligt wer
den Bönne, offenbar werde. Und man follte denken, die
Wohnung Gottes, die gerade das Pofitive, die Verſöh—⸗
nung der Sünder, den Weg zur Gemeinfhaft Gottes,
darfiellen fol, habe von ber Negation ihren Ramen;
Heiligthum heiße die Stätte, wo Gott wohnt, wohin
Niemand kommen kann, wovon alle fündige Menfchheit
ausgefchloffen it; Jehova heiße der Heilige als ber,
welcher hoch erhaben ift Über alles Menfchliche!
Wir müflen weiter bedenken, was vom Heiligthum
ausging, wie fi) Gott, der Heilige, vom Heiligthum aus
offenbart. — Die Wohnung Gottes war die Stätte
bed Zengnifjed und des Bundes, wie fie oft ausdrücklich
genannt wird, fie war die Stätte der Nähe, der Mits
theilung Gottes. In die Hütte ging Moſes, wenn er den
Herren wollte fragen (Rum. 7,89.); die Bundeslade wird
bezeichnet ald der Drt, von welchem Bott ihnen zeugen
wolle (Er. 25, 22. 29. 42. Num. 17, 7.); die Hütte dee
Stifte it der Ort, wo man das Augeficht Gottes ſuchen
über die Bedeutung des Wortes Üpr. 197
and ſiaden fol; Berföhnung, Reinigung, Aufnehmen in
den Bund iſt die Bedeutung, der Zwed der Hütte und
ibred Dienſtes; die Hütte des Stiftes ift der Ort, wo
die Herrlichkeit des Herrn ericheint, bald in Onaden⸗
mähe, wie bei dem erſten Opfer, welches mit Feuer vom
Himmel verzehrt wurde, wo alles Bolt frohlockend nieders
Kel (fev. 9, 23—24.), bald erfcheint die Herrlichkeit des
Herrn ald Zeuge und Richter wider ein ungehorfames
Bolt (Rum. 14, 10—16. 19. 35.). In allen diefen Öffen-
barungen aber bewies ſich Jehova ald der Ruhm Js⸗
raeld, daß felbft die Heiden mußten bekennen, welches
große Volk ift, zu dem die Götter alfo nahe fich thun,
als Jehova, unfer Gott, fo oft wir ihn anrufen (Deut.
4, 7.). Und fo möchte ih fagen: Gott ift der Heilige,
wie er fi in Israel offenbart. Es läßt ſich aber diefe
große Dffendarung fchwerlid in Ein Wort, in Einen
Sa faflen, ed läßt fidh alfo auch der Begriff fchwerlich
deſiniren; feine Grenzen find dad ganze Wert Gottes
unter Israel. Der linterfchied von Bengel wäre dann:
Heiligkeit Gottes bezeichnet nicht quidditas Dei, den abäs
anaten Begriff Gotted an fich, fondern was Gott feinem
Bolfe von fih offenbart hat. Freilihd war bie
Hauptiumme des Thund Gotted Gnade und Erbarmen,
Kommen als Heiland feines Volkes, aber dieſes war
doch nicht das Einzige feines Kommend und Thun;
darum kann auch nicht gefagt werben: . Heiligkeit ift feine
kerablaflende Liebe. Es faßt unfer Begriff nicht die
ganze Fülle des Wortes; ed würde fonft Israel nicht
io ſich ausdrücken: wer kann fliehen vor folchem heiligen
dort, und noch weniger Sofua: ihr könnet Gott nicht
bienen, denn er ift ein heiliger Gott und ein eifriger
Gott, der euere Miffethat nicht fchonen wird, Es bedarf
hier wohl faum der Bemerkung, daß diefes Wort nicht
den Begriff der Heiligkeit in fich fchließen müfle, abge»
ſchloſſen feyn gegen alled Sündliche; hat Sofua doch ges
fagt: ich und mein Haus wir wollen dem Herrn dienen,
198 Achelis
Freilich, weil Jehova der Heilige unter Jsrael iR,
der Lebendige, der Nahe, der fich Mittheilende, daher
muß in dem Menfchen, welchem er fich naht, ein fols
cher Sinn feyn, der Gott aufnehmen kann; Jsrael mn
ein Bolt ſeyn, das ſich feinem Bott ergibt, fonft ift das
Kommen, die Nähe des Herrn fchredlich verberbend,
Diefer Bedeutung des Wortes Heiligkeit gemäß fin-
den wir nun in ben Gebeten Israels den Namen der
Heiligkeit Gottes ale etwas gar Frohes, Tröftliches und
Seliged, worin ſich Alles concentrirt, was Israel von
feinem Gott zu Ioben und zu preifen hat. So lefen wir
1 Sam. 2, 12: mein Herz iſt fröhlich in dem Herrn,
mein Horn ift erhöhet in dem Herrn, mein Mund hat
fi weit aufgethan wider meine Feinde, denn ich freue
mid; deines Heild. Es ift Niemand heilig denn Der
Herr; außer bir if Keiner und ift fein Hort ald unfer
Gott. Pfalm 33, 20—21: unfere Seele harret auf ben
Herrn; er ift unfere Hülfe und Schild, Denn unfer Herz
*
freuet ſich ſeiner und wir trauen auf ſeinen heiligen Na⸗
men. Pſalm 63, 526: ſinget Gott, lobſinget feinem
Namen, machet Bahn dem, der in der Wüſte einhergehet,
er heißet Herr, und freuet euch vor ihm. Der ein Vater
iſt der Waiſen, ein Richter der Wittwen, er iſt Gott in
feiner heiligen Wohnung. Pſalm 11, 22: fo danke ich
dir auch mit Pfalterfpiel für beine Treue, mein Gott,
ich Lobfinge dir auf der Harfen, du Heiliger in Israel.
Pfalm 77, 14—16: Gott, dein Weg ift in Heiligkeit; wo
iſt ein fo mächtiger Gott, ald du biſt? Du bift der Gott,
der Wunder thut; bu haft deine Macht bewiefen unter
den Völkern. Du haft dein Volk erlöfet mit deinem Arm,
die Kinder Jakob und Joſeph. Pſalm 89, 16-19: wohl
dem Bolfe, das jauchzen kann; Herr, fie werben über
deinem Namen täglich fröhlich feyn und in deiner Gerech⸗
tigkeit herrlich feyn. Denn bu bift der Ruhm ihrer Stärfe
und durch deine Gnade wirft du unfer Horn erhöhen.
über die Vebeutung des Wortes Up. 199
Denn der Herr if unfer Schild und der. Heilige in Js⸗
rael unfer König. Pfalm 103, 1—3: lobe den Herrn,
meine Seele, und was in mir ift deu Namen feiner Hei⸗
ligleit, lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht,
wad.er Dir Gutes gethan hat; der dir alle beine Sün⸗
deu vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein
leben vom Verderben erlöfet, der dich Frönet mit Gnade
und Barmherzigkeit. — Der Prophet Jeſaias, der Evans
gelift des alten Teſtaments, gebraucht wohl nicht zuerft,
aber mit bemerfungswerther Beftändigkeit den Ausdrud:
der Heilige im Jérael, und er gebraucht denfelben fo, daß
er allen Ruhm, allen Troft, alles Heil Seraeld in diefem
Namen zufammenfaßt. Gef. 1, 4: o wehe des fündigen -
Bolled, des Volkes won großer Miflethat, des boshaftis
gen Saamend, der fhäblichen Kinder, die den Herren
verlaflen, den Heiligen in Israel läftern, weichen zurüd.
12, 1-6: zu derfelben Zeit wirft du fagen: ich danke dir,
Her, daß du zornig bift geweien über mich und dein
Zorn fi gewendet bat und tröften mid. Siehe, Gott
iR mein Heil, ich bin fiher und fürchte mid) nicht; denn
Gett, der Herr, it meine Stärke und mein Pfalm und
men Heil. Ihr werdet mit Freuden Wafler ſchöpfen
aus dem Heilbrunnen und werdet fägen zu berfelben Zeit:
baufet dem Herrn, prediget fein Thun, verfündiget, wie
fin Name fo hoch it. Lobſinget dem Herren, denn er
hat fich herrlich bewiefen; ſolches fey fand in allem Lande;
jauchze und rühme, bu Einwohnerin zu Zion, denn ber
Heilige Israels ift groß bei bir. 29, 18—19: und die’
Elenden werben wieder Freude haben am Herrn und bie
Armen unter den Menfchen fröhlich feyn in dem Heilis
sen Geraeld. 41, 14: fo fürchte bich nicht, du Würm⸗
lin Zalob, du armer Haufe Jsraels, ich helfe bir,
(pricht der Herr, bein Erlöfer, der Heilige in Jsrael.
#8, 17-18: fo fpricht der Herr, bein Erlöfer, der Hei⸗
lige in Iſsrael: ichbinder Herr, dein Gott, der dich Ich»
200 Achelis
ret, was nuͤtzlich iſt, und leitet: dich auf dem Wege, den
du geheſt. O daß du auf meine Gebote merkteſt, ſo
würde dein Friede ſeyn wie ein Waſſerſtrom und deine
Gerechtigkeit wie Meereswellen. 49, T—8: fo ſpricht
Jehova, Israels Erlöſer, ſein Heiliger, zu dem, deſſen
Leben verachtet iſt, der dem Volke Abſchen einflößt, zum
Knechte der Tyraunen: Könige werben ſehen und aufs
ftehen, Fürften, bie werden niederfallen um Jehova's wils
len, der treu ift, des Heiligen in Israel willen, der dich
erwählete. So fpricht Jehova: zur Zeit der Gnade ers
höre ich dich, u. f. w. Wahrlich Sehova ift der Heilige
in Israel, weil er fich unter ihnen zu erfennen, zu erfah⸗
ren gibt, weil von ihm Licht, Heil‘, Leben audgeht auf
fein Bolt, -— Daß aber hier nicht buchftäblich auf Die
Wohnung, die Hütte, den Tempel verwiefen wird, dad
hat feinen Grund in der ganzen prophetifchen Aufchaus
ungöweife, in welcher ja des Tempels, des Dienſtes
darin ſo ſelten gedacht wird. So bezeugt der Herr ja
auch ſelbſt durch dieſen ſeinen Propheten: alſo ſpricht
der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnet, des Na⸗
men heilig iſt: die Höhe und das Heiligthum bewohne
ich in den Zerſchlagenen und Geiſtgedemüthigten, um zu
beleben den Geiſt der Gedemüthigten, zu beleben das
Herz der Zerſchlagenen. Und ſo hat Jeſaias ſelbſt den
Heiligen Israels erfahren. Sa vor ihm, dem Nahen,
Lebendigen, fühlt der Prophet feine ganze Unmwürbdigfeir,
aber Gott offenbart fih als der, welder verföhnt, hei⸗
ligt, fo daß alle Furcht überwunden ift in der Lebens;
gemeinfchaft mit dem Herrn.
Nach ber Bedeutung des Wortes „Heiligkeitꝰ, von Gott
gebraucht, modificirt ſich die Bedeutung dieſes Wortes,
wenn ed von Menſchen oder Sachen gebraucht wird. Das
Wort „heilig, heiligen” ift dad Präbicat, durch welches
das befondere Verhältniß Israels zu feinem Gott dars
geftelt wird, (Er. 19, 6. 22, 31. 28, 2 und 4. 29, 6.
über die Bedeutung bes Wortes ip. 201
20, 35. Si, 14—15. 39, 30. 40, 9 und 18. ev. 10, 10,
11, 44-45. 19, 2. 20, 26. 21,6—8. n. ſ. w.) Man be
kimmt gewöhnlich den Begriff fo: heiligen heißt abfon-
dern von aller Berührung des Gemeinen, Irdifchen; man
führt dafür Gtellen an wie Leo. 20, 26: darum follt
ihr mir heilig feyn, denn ich, ber Herr, bin heilig, der
each abgefondert hat von den Bölkern, daß ihr mein
wäret. Es liegt allerbinge der Begriff des Abfonderne
in diefem Worte, aber dieſes ift nur die Regation; bad .
Dofitive ift, wie die eben angeführte Stelle ausdrücklich
fagt: ihr ſollt mein ſeyn.
Wäre Jehova ein Gedankenbild, wäre feine Erkennt⸗
zig und fein Dienft etwas von Menfchen Erdachtes, Er⸗
fandenes, dann könnte das dem Heren Heiligen nichts
Anderes feyn, als ein Abfondern, Ausfcheiden, alfo etwas,
was der Menfch thut; nun ift aber Jehova der Lebens
dige, er wohnet unter Jsrael, er naher fic feinem Volke,
er theilt fich mit; daher ift das Heiligen noch etwas ganz
Anderes, ed it das Aufnehmen in feine Gemeinichaft, es
it Theilhaftigwerden feines Lichtes und feines Lebens, So
wird Dean auch viel öfterer gefagt: ich bin der Herr, der
each heiliget, oder: id, bin ber Herr, euer Bott, ober: ich
wohne unter ench, als es heißt: ſondert euch ab von ben
Völkern. Go gleich bei dem Staatsgrundgeſetze (Er. 19,
4-6,): ihr habt gefehen, was id) den Aegyptern gethan habe,
und wie ich euch getragen habe auf Ablersflügeln und habe
cah zu mir gebracht. Werber ihr nun meiner Stimme
zgehorchen nnd meinen Bund halten, fo folt ihr mein Eis
genthum ſeyn vor allen Böltern, denn bie ganze Erbe ift
sein. Und ſollt mir ein Königreich von Prieftern und ein
beiliged Volk ſeyn. Lev. 11, 44— 45: denn ich bin der
Herr, euer Gott, darum follt ihr euch heiligen, daß ihr
beilig feyd, denn ich bin heilig. Und follt euere Seelen
uiht verunreinigen an irgend einem Priechenden Thiere,
dad anf Erden ſchleicht. Denn ich bin der Herr, ber euch
202 Achelis
ans Aegypten geführet hat, daß ich ener Bott ſey; Darm
ſollt ihr heilig feyn, denn ich bin heilig. Lev. 19, 2.20,
T—8, 22,32. Rum. 15,40. 16,57. Deut. 7,6. 28, 9-10,
Deut. 236, 11-19.
Sp wird es audı parallel geſtellt, Bott heiligen nud
ihn als den Raben, Wahrbaftigen, ald den Trof und
Helfer Israels erkennen. Rum. 20,12: Darum, daß ihr
nicht gehorfams gewefen feyb; darum, daß ihr mir nicht
geglaubet habt, meinen Namen zu heiligen vor den
Kindern Serael, folt ihre das Bell nicht in das Land
bringeh. .
Wir wollen übrigens nicht lengnen, daß Orrp wit feinen
Ableitungen zuweilen in weiterem Sinne gebraucht wird,
überhaupt nur zu etwas abſondern; die äußerften Ausläns
fer wären dan myıp, TR und Wınn (Gef. 16, 12.). Gchen
wir etwas tiefer ein auf das Verbältuiß ber Delonomie
des alten Teflamentö zu der des neuen Teſtaments, fo er»
klaͤrt ſich andder Bedeutung ded Wortes „heilig” eine fonft
fehr auffallende Exrfcheinung in dem Gebrauche diefed Wor⸗
ted, So oft und beflinnmt nämlich dem Volke Jsrael ges
fagt wird: ihr ſollt ein heiliged Bolt ſeyn dem Heren, ihr
follt heilige Leute feyn vor dem Herrn, fo felten kömmt dies
ſes Prädicat von dem Volke oder von einem Einzelnen aus
dem Volke in der Geſchichte vor, fo daß nun das Bolf
oder die einzelne. Perſon in einem Zeitpuntte des gefchichts
lihen Berlanfes als heilig bezeichnet würde. Das Wort
„beilig” fteht freilich fehr oft in der Intherifchen Ueberſetzung
ber Pſalmen, e6 findet fich aber im Hebräifchen dann immer,
mit Ausnahme von Palm 16, 3. 34, 10. 89, 6—- 8.
das Bert ron, Im neuen Teſtament ift dagegen die
Heiligen, die Geheiligten, die ganz gewöhnliche Bezeich⸗
nung der Ghriften; fie werden fo angerebet, es wird vor»
ausgeſetzt, fie find bie Heiligen (Röm. 1, 7. 8, 27. 12,13.
"18, 25. 26. 81, 16, 2.15. Epheſ. 1, 1.15.18. 2, 19. 3, 8,
18, 4,12, 5,3, 6, 18. u. f. w.). 3a ed war bie Offenbarung
⸗
über die Bedeutung des Wortes vom. 203
Gottes in Jorael ein Kommen and Wohnen deö Herrn, ein
Mittheilen, und doch blieb diefe Offenbarung Schatten
und Bild, und der Weg ind Heiligthum war nod, nicht
geoffenbart. Ehriftus aber tft der Hohepriefler der zu»
fünftigen Güter, durch Ehriftum haben wir Freudigkeit
und Zugang in dad Heilige. Im Ehrifto ift die Gnade und
Wahrheit geworden, das Leben, das ewig ift, if erfchies
nen, und fo werden denn mit Recht, Die Ehrifto angehös
ten, die Heiligen genannt.
Mit der aufgeftellten Bedeutung des Wortes „heilig”
von Menfchen oder Sachen gebraudt: mit Gott in Ges -
meinfchaft getreten, feines Lichtes uud Lebens theilhaftig,
ſtimmt auch ber Gebrauch dieſes Wortes, wenn bie Eugel
heilig genannt werden (Matth. 25, 31. Luk. 9, 26.) nnd
befonderd, wenn der Beilt Gottes, wie er den Menfchen
gegeben, wie er in Ehrifto Aber alles Kleifch iſt ausgegoſ⸗
ſen, immer der heilige Geiſt genaunt wird.
Eine auffallende Erſcheinung im Gebrauche des Wor⸗
tes „beilig”” iſt noch folgende: fo oft dieſes Wort im alten
Tetamente von Jehova gebrandht wird, fo felten kömmt
daffelbe im neuen Teflamente von Gott gebrandt vor.
Mit Ausnahme von 1 Petr. 1, 16., wo eine Stelle des
alten Teftaments citirt wird, und Joh. 17, 7. und Offenb.
4,8, finder es ſich nicht im nenen Teftamente. Statt ber
Bezeichnung Sehova, der Heilige Israels, welche Alles in
ſich ſchließt, was Gott feinem Volke offenbart hatte, hat
dad Volk des neuen Bundes den großen, lieblichen Nas
men: Gott, der Bater unferes Herrn Jeſu Chriſti; dieſer
Rame iſt rraprı des neuen Teftaments. Jeſaias, der Evans
geliſt des alten Teſtaments, der vor allen Anderen zu
itugen hatte von der Gnade und Wahrheit, die in Ehrifto
werden follte, fah den Herrn fiten auf einem fehr hohen
und erhabenen Throne und hörte den Gefang der Sera⸗
phim: heilig, heilig, heilig, if ber Herr Zebaoth, die
ganze Erde iſt feiner Herrlichleit vol, und Johannes, der
204 Achelis
Prophet des neuen Teſtaments, dem Jeſus Chriſtus die
Offenbarung kund machte, die er von ſeinem Vater em⸗
pfangen hatte, ſah ein ähnliches Geſicht und hörte daſ⸗
ſelbe zaisdyıov. — „Danach ſahe ich und ſiehe, eine
„Thür ward aufgethan im Himmel und die erfte Stimme,
„die ich gehöret hatte mit mir reden ald eine Pofaune,
„die fprach: fteig’ herauf, ich will Dir zeigen, was nad
„dieſem gefchehen wird. Und alfobald war ich im Geifte.
„Und fiehe, ein Stuhl ward gefeßt im Himmel und auf
„dem Stuhl faß einer. Und der da faß, war gleih ans
„zufehen ald der Stein Jaspis und Sardis, und ein
„Regenbogen war um den Stuhl, gleich anzufehen wie
„ein Smaragd. Und um den Stuhl waren 24 Stühle
„und auf den Stühlen faßen 24 Neltefte, mit weißen
„Kleidern angethan, und hatten auf ihren Häuptern güls
„dene Kronen. Und von dem Stuhle gingen aus Blitze,
„Donner und Stimmen und fieben Kadeln mit Feuer
„brannten vor dem Stuhle, welches find die fieben Geis
„ter Gottes. Und vor dem Stuhle war ein gläfern
„Meer, gleidy dem Kryftall, und mitten im Stuhl und um
„den Stuhl vier Lebendige voll Augen vorne und hinten.
„Und das erfle Lebendige war gleich einem Löwen und
„das andere Lebendige war gleich einem Kalbe und das
„dritte hatte ein Angeficht wie ein Menſch und das vierte
„Lebendige gleich einem fliegenden Adler. Uud ein jeg-
„liches der Lebendigen hatte ſechs Flügel umber und waren
s,inwendig vol Augen und hatten Feine Ruhe Tag und
„Racht und fprachen: heilig, heilig, heilig-ift Gott, der Herr,
„der Allmächtige, der da war und der da iſt und der da
„kömmt. Und die vier Lebendigen gaben Preis und Ehre
„und Dank dem, ber aufdem Stuhle faß, der da febet von
„Ewigkeit zu Ewigfeit, und fielen nieder die 24 Aelteften
„dor dem, derauf dem Stuhle faß, und beteten an den, der
„da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und warfen ihre Kro⸗
„nen vor den Stuhl und fprachen: Herr, du bift würdig
N
über die Bedeutung des Wortes Dr. 205
„zu schmen Preis und Ehre und Kraft; denu du haft
„ale Dinge gefchaffen und durch deinen Willen haben
„fie das Wefen und find gefchaffen” — Gott ericheint
bier als der, um deſſen Thron her ber Bogen der Gnade
gefeßt if, Menfchentinder find die Nächſten um feinen
Thron; die 24 Xelteften find offenbar Menfchen und fie
haben Kronen auf ihren Hänptern, fie fiten auf Stübs
in. Freilich ale das heilig, heilig, heilig erſchallet, iſt
der Sefrönten Wort und Geberde dad Zeugniß der tief,
Ren Demnth; aber die Offenbarung Gotted an ſich, ber
Herr, der allmädıtige Gott, getragen von ben vier fer
beudigen, umgeben von den 24 Aelteſten, ift Zeugniß
von dem, der ſich nahet, ber in Gemeinfchaft getreten
it, der aus feiner Lichtess und Lebensfülle mitgetheilt
und fündige Menfchenkinder zu Erfilingen feiner Creatu⸗
ren gemacht hat. — Biel mehr tritt diefed noch im fol»
genden Kapitel, welches den zweiten Act diefed Geſich⸗
ted enthält, hervor. Das Lamm Gottes erfcheint mitten
im Stuhle, wie ed erwürgt war; es nimmt das verſie⸗
gelte Buch, nun fingen die vier Lebendigen, die 24 Nels
teftem das neue Lied: „du bift würdig zu nehmen das
„Buch und aufzuthun feine Siegel, denn bu bilt erwürs
„get uud haft und unfgen Bott erfauft mit deinen Blute
„aus allerlei Geſchlecht und Zungen und Boll nnd Heis
„den und haft und unferm Gott zu Königen und Prie⸗
„tern gemacht und wir werben Könige feyn auf Erben.”
Da der Herr fein Werk an dem Saamen Abraham's⸗
ahebt, indem er es zu feinem Eigenthum erlauft,
tritt dad Wort „‚heilig”, von Gott gebraucht, in die Bes
ſhichte ein; wie ſich Bott feinem Volke naht in der
hätte, fo heißt er der Heilige, die Stätte feiner Offen»
barang trägt den Ramen Heiligthum; der Prophet, wels
her vor allen der Bote des zukünftigen Heiles ift, ſchaut
den Herrn, hört das Loblied der Seraphim, fchildert
Bott ald den Heiligen in Israel; Jsrael fol ein heilig
206 Achelis, über die Bebeutung bes Wortes yup-
Volt ſeyn feinem Gott, beun Gott wohnet unter ihnen;
als der Schatten vergangen, das wahre Wefen erfchie:
nen it, da werben die Glieder des neuen Bundes bie
Heiligen; Johannes, der Prophet des neuen Teſtaments,
fhaut den Herrn als den Heiligen, er iſt getragen von
ben Lebendigen, umgeben von ben 24 Aeltefien, Mens
fchentinder Hund die Nächften au feinem Throne und all
Greatur Gottes lobt ihn und das Lamm. Iſt da nicht
die Heiligkeit Gottes in das ganze Wert Gottes verfloch⸗
ten und zwar ald ber Träger bed Ganzen? TR da midt
die Heiligkeit Gottes die Sonne, und feine Güte, Treue,
Gerechtigkeit nur bie eingelnen Strahlen?
Und gewiß bie heilige Gefchichte ift der Commentar
su den Worten der göttlichen Offenbarung; was Gott
von feinem Weſen bezeugt, wird uns erft verſtändlich,
wenn es als Thatfache in bie Sefchichte tritt, wie es
erft dann heißt: Gott ift geoffenbart im Kleifche, als der
Eingeorne des Baterd, der Glanz feiner Herrlichkeit
unb das Ebenbild feines Wefene, als eine geſchichtliche
Derfon umter den Menſchen gewandelt hat. —
&
— 2 2 7 204 N nn
Kecenfionen
1:
Praftifcher Gommentar über die Propheten des alten
Bundes mit eregetifchen und Pritifchen Anmerkungen
von D. Kriedrih Wilhelm Earl Umbreit,
Hamburg, bei Friedrich Perthes. 4 Bände,
1. Bd. Jeſaja 1842; 2, verb. und verm. Auflage
1846; 2. Bd. Jeremia 18425 3. Bd. Hefefiel
1843; 4. Bd. die Meinen Propheten 1844—1846 in 2
heilen,
2 diefer Commentar, dem ber Verf. nach mannich⸗
faltigen Borftudien fünf Sahre feines Lebens gewidmet,
vollendet vorliegt, flieht fidy der Untergeichnete diefes Mal
befonder® veranlaßt, von dem Mechte der Herausgeber
dieſer Zeitfchrift, darin ihre Bücher felbft zur Anzeige
zu bringen, wie diefes auch Nitzſch, Ullmann u. 9.
bisweilen gethan, Gebrauch zu machen. Die theologis
Iden Studien und Kritilen beginnen mit der Er⸗
(heinung gegenwärtigen Heftes ihren zwanzigften
dahrgang. Da nun obiger Sommentar nad) dem theolos
giſchen Charakter, der ihm eingeprägt ift, ber Richtung
dieſer Zeitſchrift nicht zufällig angehört, fondern aus
ihrem Geifte und Weſen recht eigentlich herausgewachfen
iR,wie diefes auch bie Worte in der Vorrede (S. VIIL)
iu erkennen geben, wo ed heißt: „Toll ich sucht meinen
Theol. Sud, Jahrg. 1847,
⸗
210 Umbreit -
bogmatifchen Standpunkt bezeichnen, fo mag man ihn ben
der theologifchen Studien und Kritifen vorläufig nennen”,
fo wirb man ed nicht unpaffend finden, wenn ber Unter⸗
zeichnete als Mitherausgeber dieſes Journales und Ber:
faſſer eines Werkes, das nicht bloß theologiſche Studien
und Kritiken aufweiſt, ſondern in ſeiner beſondern Weiſe
die theologiſchen Studien und Kritiken zu repräfentiren
behauptet, dieſes Heft mit einer Selbſtanzeige derge⸗
ftalt bevorwortet, daß er nur daran erinnert, wie bad
Anfehen feines Sommentares über die Propheten in Wirf-
lichleit jenem voraus ‚gezeichneten Staubpunfte auf dem
Grunde der theologifchen Studien und Kritiken ent
fprehe. Dazu wird es nöthig feyn, jenen Grund von
Neuem zu befichtigen und einen Rädblid auf die Eutfte-
hung gegenwärtiger Zeitfchrift zu werfen, bie nun wohl
die Probe glüdlich beftanden, daß fie Feine planlofe, ſon⸗
bern in der Entwidelung der neuen Theologie dieſes
Sahrhunderts eine nothwendige geweien. Einige ſubjec⸗
tive Belenntniffe in Bezug auf das Verhältniß der beis
ben Rebactoren der Zeitfchrift, weil fie Urfprung und
Richtung derfelden erklären, wird man geflatten müſſen.
Die innere Geſchichte der Freundſchaft ber beiden
Redactoren gehört nicht vor dad Publicum, obgleich ohne
ihren reinsmenfchlichen Urfprung, der zunächſt gar nicht
in einem gleichen theologifchen Syſteme bedingt war, die
‚theologifchen Studien und Kritifen ſchwerlich da feyn
würden, wenigfiend gewiß nicht fo, wie fie jegt vorliegen.
Als ich, von Göttingen nach Heidelberg berufen, im
Herbfie 1830 mit Ullmann, der damals gerabe feine
alademifche Laufbahn begommen, zufammentraf und feine
erſte perfönliche Belanntfchaft machte, fand ih ihn mit
der Ausarbeitung feiner Schrift, die Unechtieit des
zweiten Briefes Petri zu erweifen, befchäftigt; ich brachte
ihm meine eben frifch gedsudte Erklärung bed heben
prolt. Gommentar Ab. d. Propheten d. alt, Bund. ze. 211
kiedes mit. Wer mit oberflächlichem Blide die Außens
feite der fchriftfielerifchen Erſtlingsverſuche der beiden
Freunde betrachtet haben würde — der linterzeichnete
hatte kurz vorher fchon deu Prediger Salomo für unecht
erllaͤrt —, möchte fchwerlich die „Sündlofigfeit Jeſu“ und
„den Knecht Gottes“ im erften Hefte der Studien 1828
verausgefagt haben. Aber innerlich fah ed body andere
und, Beide Freunde waren zwar als Kritifer von Eiſch⸗
beru in die litterärifche Welt eingeführt und ermunternd
begrüßt worden, aber die negirende Kritik hatte in ihrem
Herzen feine Wurzel. Ullmann hatte fchon feinen Bes
ruf, mit ſelbſtforſchendem Blicke in die Quellen ber chriſt⸗
lien Kirhengefchichte zu dringen, in fi erfannt, und
beſonders Neander trat ihm ale Führer entgegen. Als
Zögling der heidelberger Univerfität hatte er bei Ere u⸗
jer den Tieffinn der Deutung der Symbole der Religios
- am der alten Welt eingefogen, zu den Füßen von Daub
Ehrfurcht vor dem Ernfte und der Macht der theologis
ſchen Speculation gelernt und fich von dem milden Lichte
der heiligen Myſtik des einzigen Abegg durchſtrahlen
fen; in Schwarz war ihm das Bild eined demüthig⸗
frommen, befcheidenen Theologen und Menfchen vor
Augen getreten. Aber unfer Freund hatte auch in Tüs
bagen Audirt und dort den wohlgefügten Bau der eher:
un Schugmauer um ben alten Supernaturalismus zu
kenndern Belegenheit gehabt; der Srundfiein des Sy⸗
kemed, der firenge Infpirationsbegriff der Concordien⸗
formel mit feiner nnabweisbaren petitio principli, war
ijn freilich fchon damals verbächtig geworden; während
r dort theologifche Vorleſungen hörte, las er doch
Shleiermacher, und ald er 1819 fich einen Sommer
in Berlin anfhielt und diefem außerordentlihen Manne
nahe kam, feine Predigten und Borlefungen hörte, dabei
an Reanders wahrhaft neuem Leben, an feinem innigs
Rommen und doch freien Sinne fich erquidte und mit
.14 *
212 Umbreit
de Wette, dem eifrigen Lehrer mit dem „reinen und
herrlichen Wahrheitsfinne und dem ernften und firengen
theologifchen Charakter”, wie feinen Eollegen Schleier,
macer in der Debication feines Lukas gezeichnet, ein
feftes Freundfchaftsband knüpfte, da war der Bruch mit
dem alten Supernaturaliömus unvermeidlich gefchehen.
— Sn demfelben Sonmer lebte der, welcher ein Jahr
darauf fein Goflege und Freund werben follte, in Wien,
wohin ihn bie Liebe zur perfifchen Litteratur und der
unwiderftehlihde Drang nach der perfünlichen Belannts
fchaft ihres geiftoollften Befördererds, von Hammer’s,
des Verfaſſers „der fchönen Nebekünfte der Perfer” "ges
trieben; er fchwelgte in dem Blüthendufte feiner beleben,
den und belehrenden Freundfchaft, fchrieb auf der K. 8.
Hofbibliothet einen Adfchnitt aus Mirchond's Ge
fchichtswert ab, ſtudirte Menin ski's türkiſche Gram⸗
matik unter Leitung eines Armeniers und widmete die
freien Stunden der reichen Natur und Kunſt der herr⸗
lichen Kaiſerſtadt. Von theologiſchen Studien und Kri⸗
tiken war damals nicht die Rede, ſondern von Hafis
und Sadi, von Firdufi und Dſchami, aber ohne
Theologie war er dennoch nicht; feine erfte eregetifche
Schrift, die Ueberfegung und Erklärung des Predigers
Salomo’d, die er zwar druden ließ, um ein Buch her»
auszugeben, aber aus innerer Nöthigung feines Gemüthes
verfaßte, war bereits erfchienen, und der Grundton jenes
Buches: „Alles ifteitel unter der Sonne”, womit alle
Theologie anfangen muß, wenn fie die Sonne nicht vers
göttern fol, fondern über fie in den Himmel der Hinrmel
hinaufdringen will, tönte ihm nie lebendiger, als in jener
Zeit, wo ihn das Getöfe der großen Welt ummogte, wie
er fich denn auch nie wieder fo proteftantifch sfti erbaute
wie in jener Keinen Kirche, zu der Fein Glockengeläute
rief. Will man ihn aber über fein bamaliges theologis
ſches Glaubensbekenntniß eraminiren, fo bekennt er offen,
prakt. Sommentar üb. d. Propheten d. alt.Bund.ıc. 213
daß er von Göttingen den eihhorn’fchen Rationalis-
mus mitgenommen, ohne daß fidy derfelbe aber in ihm
confequent vollzogen gehabt hätte; er lag ihm im Kopfe,
aber nicht im Herzen, dad einen lebendigen Gott nicht
entbehren Fonnte und Wunder fuchte, wenn fie der Kopf
beftreiten und wegleugnen wollte, Pſychologiſch merk
würdig mag ed aber feyn, daß er diefed Syſtem, das
eigentlih die Frömmigkeit an ihn gebradt, die Pietät
gegen feinen berühmten Lehrer und väterlichen Freund,
den liebendwürdigen Greis mit dem grauen Haupte, der
faltenlofen Stirne und dem Elaren, harmlos blauen Auge,
and das fchon in feiner Vaterftadt Gotha, wo es ihm zn:
erſt'in der fchärfften und ehrwürdigſten Perfönlichkeit, in
töffler, überwältigend entgegengetreten, gegen feinen
berühmter Nachfolger D. Bretfchneider, als er bei
ihm das Sandidateneramen beftand, rückhaltslos darlegte,
während immer ein gewiffer Widerfpruch dagegen fich in
feinem Geheimften und Innerſten regte. In diefem Zwies
fpalte Teuschtete ihm auf dem Gebiete der Theologie ein
Stern des Troſtes, der ihm in ber Verbindung der oriens
talifchen und theologifchen Studien ein Leitftern wurbe;
ed war Herder, der nie genug zu fchäßende und viels
verfannte. Wenn er ihn lad, vergaß er die Wörter Ras
tionalismus und Supernaturalidmud, die befonderd feit
dem Harmfifchen Chefenftreit einem immer in die Oh⸗
ten gelten. Sah er auch in ihm den Gegenſatz nicht fcharf
geang gelöft, und zerfloß ihm der unausweichbare Streit
in einem orientalifchen Dufte, fo fah er doch zu einem
Himmel vol heiliger Poefle empor und fchaute den Regen:
bogen ber Berföhnung in fieben heiligen Karben glänzen.
Als er von Wien nach Göttingen zurüdgefehrt war, trieb er
vorzugsweiſe orientalifche Studien, ließ fein hohes Lieb
draden und hielt in zwei Semeftern Borlefungen über bie
falomonifhen Schriften und den Sefaja. In dieſem letz⸗
ten Sahre, wo er in Göttingen lebte, wurde er Durch einen
2114 Umbreit
ſeiner lauterſten und edelſten Freunde, der nicht Theolog,
ſondern Juriſt war, aber von einem religisſen Tieffinn
und Ernfte, wie er felten gefunden wird, Einen, von dem
das Wort von Paten gilt, das fih auf Schubert
bezieht: „Einen wahren Zrommen fand ih” — feinen
Namen nenne ich nicht geradezu, weil er ed nicht gerne
fehen würde, aber er fleht im dritten Hefte der Studien
des vorigen Jahrgangs gedrudt — in die romantifche
Schule zuerft eingeführt, da er den Namen Tiek in
den Borlefungen von Bouterwek, bie er wegen ihrer
feinen Abrundung fonft gerne befuchte, nicht ein einziges
Mal hatte nennen hören. In dem mpflifhen Helldun,
tel der grünen Waldeinſamkeit wollten ihm nun vollſends
die weißen Wände des rationafiftifchen Lehrgebäudes
nicht mehr gefallen, und er ward durch Die Poefle mehr
in die Tiefe getrieben. Diefe Stimmung war auch für
fein Leben entfcheidend, daß er den göttinger Wal, wo
er in einem bereitö geficherten akademiſchen Berhältniffe
die Erholungsgänge nadı der Arbeit behaglich hätte forts
feten Tönnen, mit dem heidelberger Schlofle vertaufchte,
das ihn, von einem romantifchen Lichte umlenchtet, uns
wiberftehlich anzog, ald der Ruf nach der fchönften Unis
verfität Deutſchlands an ihn erging. In diefer inneren
Verfaffung langte er an dem Örte feitter neuen Beſtim⸗
mung an.-Er hatte für das erfle Semefter vorzugsweife
Iinguiftifhe Borlefungen angekündigt; ale ibm aber
Schloffer auf einem Spaziergange in feiner Weife
zurief: „damit können Sie hier nichts ausrichten”, ents
ſchloß er ſich noch nachträglich, nachdem dad Semeſter
fhon begonnen, den Propheten Sefaja zu erflärem.
Diefe äußere Anregung war entfcheidendb für feine innere
beftimmtere Erfaffung der biblifch = orientalifchen, infonder;
heit eregetifchen Richtung. Es wurde ihm bald Mar, daß
der reine Drientalift, der den Weg von Kofegarten,
Freitag u. 9. wählen wolle, den Koran eigentlich
prakt. Gommentar üb.d. Peopheten d. alt. Bund. ꝛtc. 215
mehr leſen mühe, als bas alte und neue Teſtament
und dazu batte er zuviel Sinn für die Theologie, ber
beſonders im Umgange mit feinem bald gefundenen Freuude
genährt wurde. Als wir und fanden, flanden wir im
Ganzen anf einem gleichen Standpunkte theologifcher
Entwidelung und Betradytung ber Gegenwart. Er mochte,
wenn man fo will, etwas fupernaturaliftifcher gefinnt
feun, bei mir machten fi noch mehr zasionaliftifche Ele⸗
mente geltend, aber wir förderten und gegenfeitig und
vertrugen und gut, weil wir nicht mit Worten flritten,
fondern und gegenfeitig ind Herz fehen ließen. Darin
aber waren wir einö, daß und weber Reinhard nod
Nöhr helfen könne, obfchon wir auch darin uns voll⸗
fonmen verftanden, daß man: jede die wiflfenfchaftliche
Sonfequenz perfoniftcirende Perſonlichkeit in ihrer Ehren⸗
haftigkeit müſſe gewähren laſſen, wie dieſe Geſinnung
auch Ullmann bei einem ſpätern wichtigen und unan⸗
genehmen Vorfall in Halle, kurz nach ſeiner Berufung
dahin, freimüthig und praktiſch bewieſen, und wie wir
ihn kennen, können wir verſichern, daß er auch jetzt noch
die damals veröffentlichte Schrift zum Schutze ber Ras
tionaliſten auf dem Lehrfiuhle nicht verleugnet. Bir
gingen indeflen unfern ruhigen Bang; er arbeitete ſtill
au feinem Gregor von Nazianz, fein Freund verfenfte
ih ganz in den Hiob. Indeſſen bewegte und Doch der
voffifhscreuzerfche Streit gewaltig, benz er war
uns yon dem philologifchen Gebiet auf das theologifche
gerückt, Da erfhien Schleier mach er's Dogmatik bald
darauf und fie brachte auch auf und beide eine Epoche
wahende Wirkung hervor, die fortbauerte und fpäter
vorzüglich zur Begründung der theologifchen Studien
und Kritifen beitrug. Zwar hatten wir die Madıt bes
gewaltigen Redners „über die Religion” fchon lebendig
erfahren, aber bier num erſchien erft der religiöfe Geiſt
m feinem ganzen und vollen ſpeciſiſch⸗chriſtlichen, ſchar⸗
»
216 Umbreit
fen Gepräge, und doch war und ein weiter, heller Raum
gegönnt, des Vaters Haus mit vielen Wohnungen ; Peine
Schuls und Kirchenformel that und in den Bann. Man
hätte meinen ſollen, Schleiermacder, ben man Hers
dern als dem Oſten wie den Welten in oberflädhlicher
Betrachtung entgegenzufegen pflegt, hätte gerade auf
mich, der ich vom Driente hergefommen und den Ber-
faffer des „Geiſtes der hebräifchen Poefle” mit außer»
ordentlicher Liebe umfaßte, Feine befondere Einwirkung
äußern können, aber ed war nicht alfo. „Gottes ift der
Orient und Gottes iſt der Dccident”, heißt es im Koran,
und ih nahm Flügel der Morgenröthe und weilte am
äußerfien Welten. Wie Herder und Schleiermader
zufammengehören, wenn von dem Anfange und ber Zus
fRandebringung einer neuen Theologie die Rede, die fidy
weder von der Symboltheologie, noch von der Schul»
philofophie die Norm will geben laſſen und body ihre
chriſtliche Glaäubigkeit und poſitive Kirchlichkeit behauptet,
darüber hat einft ſchon Lücke in feiner Hermeneutik (S.
75.) ein eben fo wahres ald ſchönes Wort gefagt. — Die
Ueberzeugung, daß fih eine folde Theologie, wie fie
Herder prophetifch vorhergefehen und angebahnt, in
Schleiermadher und Neander in die Erfüllung ges
treten, auf dem gefammten Gebiete der hriftlichen Wiſſen⸗
fhaft in weiteren Kreifen immer mehr Geltung vers
fhaffen müffe und einem dringend gefühlten Bebürfniffe
beſonders des jüngeren und anwachſenden Geſchlechtes
entgegenfomme, hatte ſich eben auf das lebhaftefte in ung
gefleigert, ale der nun fellge Friedrich Perthed, ein
Mann von feltenen Eigenfchaften, fromm von Herzen
und Far von Blid, dem ich von früher her innigft bes
freundet war und in den Herbfiferien 1825 in meiher
Baterftadt Gotha, wohin er fi von Hamburg zurüds
gezogen, einen Beſuch machte, mir den Antrag zur Her:
ausgabe einer theologifchen Zeitfchrift, die er verlegen
prakt. Gommentar üb, d. Propheten d. alt. Bund. ꝛc. 217
wolle, ſtellte. Bei meiner Rückkehr nach Heidelberg ſetzte
ich fogleich meinen Freund davon in Kenntniß, und wir
befchloffen, den fchon früher öfter® befprochenen Plan, eine -
theologifche Zeitfchrift gemeinfchaftlich herauszugeben, num
in Ausführung zu bringen a). Aber dennoch trat wieder
a) Nach jener mündlichen Beſprechung erhielt ih von Perthes
einen Brief vom 7. December 1825, ber den würbigen und
bochverbienten Verleger der theol. Studien ſchoͤn charakteriſirt.
Einige Hauptftellen ſey mir erlaubt bier mitzutheilen.
„Oft habe ich mich in diefer Zeit Ihrer erinnert, ba aus
mebreren Gegenden des Vaterlandes mir verfciebine Kunde
kam über bie immer fidy verflärkenden veligiöfen Regungen und
Gtrebungen.”
„Mehr wie ie fcheint erfprießlich, daß ein Mittelpunft fich
bilde, wo fi in Eröffnungen durch fromme, ernfte Gemüther
die Zeichen bed Waltens goͤttlichen Geiftes in und durch den
Zeitgeift fammeln, und hinwiederum durch Öffentliche Mittheilung
ih weiter verbreiten.”
„Religion und Theologie dürfen nicht getrennt Teyn, das
religiöfe Gefühl nicht von der Erkenntniß, der Glaube nicht
von ber Wiſſenſchaft. — Wer Drang zur Heiligung befigt,
das Licht des Blaubens bat, der erkennt Gott. im Stillhalten
— will ein folcher aber fein Licht nicht unter dem Gcheffel
halten, fo muß er vermögen, es leuchten zu laflen in Klarheit
der Gedanken und in echtem unb vollen Wiſſen. — Wo alfo
fi fammeln fol, was in ber Zeit zur Ausbreitung bes Reis
ches Gottes gefhieht, da muß zur gebiegenen Weitermittheis
Iung echte theologiiche Wiffenfchaft ihren Sig haben. Dieß ers
fordert biefe unfere Zeit.”
„Die Gintheilung einer ſolchen Beitichrift ſcheint ſich von
felbft anzugeben in Abhandlungen — Krititen unb Anzeigen —
KRadyrichten.”
„Anonymität wäre webennbei ben Abhandlungen, Kritifen noch
Rachrichten zu geftatten. Wer in bdiefer Zeit nicht den Muth
bat, zur Ehre des Herren fich preiszugeben, ober nicht vers
mag, durch den Eifer die Liebe durchdringen zu laflen, her
bleibe von biefem Plage.”
„Parteiwefen fey verbannt; bie Worte: „wer
nit wider mich ift, der ift für mid!” und: „habt
Balz bei eud, und habt Frieden unter einander”
Iheinen mir Alles auszufagen.”
218 breit
eine Berzögerung von einem ganzen Sabre ein, und erſt
ale im Herbſte 1826 mid Perthes bei einer abermalis
gen perfönlichen Inſammenkunft mit ibm von Neuem
ermuntert batte, fchritten wir and Werl. Wir traten
barüber mit gielchgefinnten Freunden in Bonn in Ber-
bindung =), hatten im Frühling 1827 eine Zuſammen⸗
Bunft in Rüdesheim mit Lücke und Nitzſch und ſetzten
daſelbſt Zweck und Titel der zu begründenden Zeitfchrift
fe. Wie wenig wir im Sinne hatten, eine erciufive
Richtung zu verfolgen, und wie wir im Geiſte des Mei⸗
ſters zu verfahren gedachten, ber einen Ruhm barein
feste, Feine Schule im befchränkten Sinne gegründet zu
baben, geht fchlagend daraus hervor, baß wir aud
Gtefeler, der wahrhaftig kein Schleiermacherianer war,
aber ein hiſtoriſch⸗ grünblicher Forſcher und unbefangen»
tächtiger Theolog, zur Mitherausgabe aufforderten, was
er auch freundlich annahm, ohne fi vor der Partei zu
fürchten, die ihm zu fich rechnete. — Dieſes ifl die Ent-
„Freilich bebarf ein Unternehmen, wie ich es meine, fehr
umfidhtige Vorbereitung, und nichts darf übereilt werben, aber
gewiß if’ dazu an ber Zeit, Es würde zur Redaction mehr
wie eines Mannes bebürfen. NRugbar würde ich in mehr wie
eines Hinſicht ſeyn können, da meine Stellung mir das Wer:
trauen vieler wohlgefinnten Männer erworben bat.”
a) Als dieſe Verhandlungen mit ben Breunden in Bonn bereits
angelnüpft waren, wäre ich aus ganz eigenthümlichen Gründen
dem Unternehmen faft abtrünnig geworden. Aber Ullmann
und die Bonner bielten mid fefl. Den Ausfchlag gab ein Brief
von Lüde vom 8. März 1827, in bem mein Freund und eins
fliger Lehrer in Göttingen (1815) fchreibt: „wir Tönnen Sie
wegen bes altteftamentlidhen Faches nidht entbehren. Gerade
Ihre Richtung darin entſpricht der Idee ber Zeitſchrift. Ich
denke, wir geben uns Oſtern, in dem letzten Theile der Oſter⸗
ferien, ein Rendezwous am Rhein ober in Frankfurt und berathen
die GSache genauer. Mündliche Verhandlung wird Sie dann
noch mehr uͤberzeugen, daß wir Sie nicht entbehren koͤnnen und
nicht Loslaffen dürfen.”
pralt. Gommentar üb. d. Propheten d. alt. Bund. 2c. 219
fiehungögefchichte ber theologifchen Studien und Kritiken,
bei deren Darfielung, wenn fie eine innere und lebendige
feyn foßlte, die Auselnauberfegung ber perfönlichen Ver⸗
hältniffe der beiden befreundeten Herausgeber unvermeids
ih war, weil ans ihrem befonderen theologifchen Bil
dungegange und ihrer inmigften Befreundung die Zeit,
fchrift, fo “wie fie geworden, ſich nur erflären läßt,
Wir bringen dad vom 1. Juni 1827 datirte, von
tüde abgefaßte und von fämmtlichen Herausgebern uns
terfchriebene Ankündigungsprogramm denen, bie es vers
geſſen haben, und denen, die eö noch gar nicht Fenuen,
biermis im @rinnernng. Der Borfchlag ded gewählten
Titels der Zeitfehrift ging von Ullmann ans, und es
fhmebten ihm dabei die ehemaligen heidelberger Stu»
dien von Danb und Erenzer vor, bie noch jeßt eis
sen guten und ſchönen Klang in der Litteratur biefes
Jahrhunderts haben.
„Diefe Zeitfchrift hat Seinen anderen Zwed, als theils
der wohrhaft wiflenfchaftlichen Forſchung, theils ber als
lein darauf beruhenden Kritil zu einem neuen Werkzeug
und Förderungsmittel zn dienen. — Die Herausgeber
tragen feine Schen, fih zu dem einfachen biblifchen Ehri-
Renthume zu befennen, daß fie daffelbe für das wahrhafs
tige Wort und Heil Gottes halten. Allein eben deßhalb,
weil fie in dem Evangelium dad Wort der ewigen Wahrs
heit ſelbſt anerkennen, find fie feſt überzeugt, daß daſſelbe
ald Licht und Leben zugleich nicht weniger unfere Er⸗
kenntniß und Wiffenfhaft, als unfern Glanben in Ans
ſpruch nimmt, nnd bag, fo wenig es eine wahrhaft chrif-
lie Theologie ohne chriftlihen Glauben geben kann,
m fo fehr eine die edle Bottesgabe der Vernunft und
Biffenfchaft verachtende Theologie ein Unding ift. Viel⸗
mehr halten wir dafür, daß zumal in der evangelifchen
Kirche, welche nicht weniger durch freie Wiſſenſchaft ale
Iebendigen Glauben geboren ift und befteht, alles wahre
220 Umbreit
Gedeihen der Theologie davon abhängt, daß fich Glaube
und Wiſſen in ihr befreunden und einander Burchbringen,
daß aber das wiflenfchaftliche Element nur in dem Maße
fähig iſt, fich mit dem religiöfen innig zu verbinden, iu
weichem ed, von allen äußeren Keffeln unabhängig, nur
bem freien Gefete der Wahrheit gehorcht, nichts weni:
ger fürchtet, ald die Höhen und Tiefen der Erfenntuiß,
wenn auch durch Zweifel ber Weg dahin führen follte,
nichts fo fehr aber fcheuet und flieht, ald auf der einen
Seite die Knechtſchaft bed Buchftabend und aller falfchen
Autorität, und auf der anderen die Ungebundenheit und
Geſetzloſigkeit des ſchwärmeriſchen Geifted.”
„Durch dieſes offene Belenntnig glauben die Heraus⸗
geber ihr Unternehmen überhaupt bei allen denen recht⸗
fertigen zu können, weldye mit ihnen der Meinung find,
daß es in Reiner Zeit, am wenigften aber in der unfrigen,
der wahren Bermittelungen zu viele geben könne. Es
mangelt in unferer Kirche nicht an theologifchen Zeitfchrifr
ten, und faft müßten wir den Borwurf fürchten, daß wir
die große Zahl derfelben unnüßer Weife vermehren:
allein, wenn es auch jetzt felbft an folchen theologifchen
Zeitfchriften nicht fehlt, welche mit der unfrigen im Als
gemeinen denfelben Zwed haben, fo glauben wir doch, in
ber und befaunt gewordenen Stimmung befreundeter
Theologen Grund zu der Hoffnung zu finden, daß unfe
rer Zeitfchrift, befonderd wegen mancher ihrer Eigenthüm⸗
lichfeiten neben den übrigen noch ein befcheidener Plat
werde aufbehalten feyn.”
„Unfere Zeitfchrift will Feiner der geltenden‘ Parteien
angehören, noch weniger darauf ausgehen, eine neue zu
bilden. Vielmehr will fie, obgleich nicht ohne beftimmte Farbe
und Charakter, vor allen Dingen beftrebt feyn, unter den
Parteiungen der Zeit den freien Standpunkt zu gewin
nen, worauf ed möglich ift, das Gute und Wahre der
verfchiebenen Richtungen der neueren Theologie aufzu⸗
\
prakt. Gommentar üb. d. Propheten. alt. Bund. ꝛc. 221
finden und zur Anerkenntniß zu bringen; ihr höchſtes
Ziel und ihr innigfter Wunſch iſt, gleich weit entfernt von
eflettifcher Berwirrung des Berfchiedenen, wie von ber
Eitelleit willkürlicher Bermittelung, duch treues Kefthals
ten an dem pofitiven Grunde in der heiligen Schrift,
durch freie und gewiflenhafte, fo biftorifhe wie philo-
fophifche Korfchung, fo wie durch Ansübung einer Kritik,
welche unparteitfch eben fo befcheiden und demüthig, ale
muthig und ernft dad Wahre und Gute, wo es ſich auch
finde, anzuerfennen und zu benuten weiß, immer mehr
Vereinigungspunfte unter den Streitenden audzumitteln,
wodurch es der evangelifchen Kirche möglich wird, ber
wahren lebendigen Einheit ihrer Theologie immer mehr
beongt und froh zu werben. In Beziehung auf diefe
offenherzige Darlegung des Zweded und Eharafterd uns
ferer Zeitfchrift tragen wir fein Bedenken, alle diejenigen
Theologen unferer Kirche zum Beitritte einzuladen, welche
bei freiefter Mannichfaltigkeit ber Gaben und Anfichten
fi in jenem theologifchen Brundbelenntniffe mit uns
gerne vereinigen.”
Daß diefe Ankündigung der neuen Zeitfchrift befchets
den gewefen und ohne vieled Geräufch und Gepolter in
die Deffenslichkeit getreten, hätte ihr auch der Feind nicht
abfprechen Fünnen, und daß das darin aufgeftellte Glan⸗
bensbekenntniß kein Pünftlich 'gemachtes, fondern ein in
Vielee Herzen lebendiged war, dad bewies fogleich die
rege Theilnahme der fich zu Beiträgen erbietenden älteren
und jüngeren Theologen. Es wurden zwar hie und da
die befannten Borwürfe von „Lnentfchiedenheit”, dienun,
wie fie leer in fich waren, auch im Leeren verhallt find,
vernommen, aber bie Zeitfchrift, die vor Allem Inder Wahrs
beit wurzelte, trat frifch und frei in das Leben hinaus
und bewies fehr bald, daß fie wohl wiſſe, Entfchiedenheit
in behaupten, wo ed darauf ankomme, ihr Princip zu
bethätigen: Glauben nicht ohne Wiffenfchaft, und Wifs
222 Umpbreit
fenfehaft nicht ohne Glauben, und, wie Schleiermar
her eint Ullmann zugerufen, Studien nicht ohne Kris
tiken, und Kritilen nicht ohne Studien, Schon in den
erften Jahrgängen glänzten die Namen der berühmteften
Theologen verfciebener Richtung, wenn diefe nur nicht
in dem Wahne befangen waren, daß nur im Ertreme die
Manrheit liege, aber befonderd das heranftrebende jün-
gere Geſchlecht begrüßte Die neu geöffnete Bahn, fi aus⸗
zufprechen, zu verfuchen und zu bilden, mit freudiger und
thätiger Theilnahme. Ja, das iſt ed vor Allem, was ben
theologifchen Studien und Kritiken ihr Leben gefriftet und
ihnen von Jahr zu Jahr eine immer ausgebehntere Ver⸗
dreitung gefichert, während anbere Zeitfchriften rechts
und links bald wieder verfchwunben, wie fie gefommen,
daß fie die alte Bundeslade nicht wieber neu machen,
aber auch den neuen Tempel nicht in die Luft bauen wol»
len und, in dem lebendig - biblifchen Glauben wurzeind
und in dem Lichte der freien Wiſſenſchaft wachfend, fich
einen jugendlidhen Charakter bie dahin bewahrt has
ben, indem fie, immerfort in der Entwidelung begriffen,
bad Endziel der neuen Theologie, die noch Feine fertige
IR, redlich nnd aufrihtig ſuchen. — So wuchs denn
unfere Pflanze, begoffen von dem Gegen ded Himmels,
gemährt von ben Kräften gläubiger Wiſſenſchaft in ihrer
unverfiegbaren Fülle, gebeihlid empor und ward zu eis
nem ſtarken, reich verzweigten Baume zwanzigjährigen
Alters, der den Stürmen der Zeit bis jetzt getropt und
noch nicht das Anfehen bat, daß er verborren werbe.
Indem ‚der Unterzeichnete die günftige Gelegenheit
ergriffen, an Geift und Weſen der theologifchen Studien
und Krititen von Reuem zu erinnern, und dabei feinen eis
genen Bildungsgang, der in die Gefchichte berfelben vers
flochten, offen zu verzeichnen veranlaßt war, hat er den
Beurtheilern feined Werfed über Die Propheten den
Maßſtab in die Hand geben wollen, nach dem fie nur
prakt. Sommentar üb. d. Prophetend. alt. Bund. ıc. 223
alein gerecht und wahre über ihn richten können. Ge
weit ihm Kritifen feines Commentared zur Kenutuiß ger
tommen, hat er feine Urſache, fich Aber Ungerechtigkeit
oder wohl gar Aber Boswilligkeit der Recenſenten zu bes
ſchweren. Er tft ja überdieß fchon über die Jahre, we
einen angehenden Schriftfteller, der fich erſt fein Lebeus⸗
verhältuiß zu gründen und feine wiflenfchaftliche Stellung
in erobern hat, eine NRecenfion glüdlich oder unglücklich
machen kounte, laͤngſt hinaus. Im Begentheile, man hat
mit ermunternder Freundlichkeit dad Werk gleich beim
Anfange feines Erfcheinend begrüßt und dem Verfafler
Muth gegeben, es zu vollenden. indem er dieſes fagt,
wird es nothwendig feyn, zu bemerken, daß er bei dem
angefirengteften Bemühen, fich felbii kennen zu lernen,
am wenigften die Eitelkeit in fich gefunden; er if dazu
in ſtolz. Aber enträften kann ihn jeder ungerecdhte Tadel,
ſey er gegen Andere, oder gegen ihn ſelbſt gerichtet, fo
wie ihm das umgekehrte Urtheil das Gefühl einer hör
beren Freude gibt. Daher nenut er hier befonderd zwei
Ramen, die bei zwei von einem ganz verfchiebenen theologi⸗
hen Standpunkte ausgehenden Kritiken ehrenwerth unter,
zeichnet ſind, Deligfh und Reuß, mit aufrichtigem
Danke. Beide gründlich gebildete uud ernft forfchende
Männer haben nicht von dem Berfafler geforbert, was
er nicht leiſten wollte und konnte, fonbern fein Werk aus
ſich ſelbſt kritiſch confiruirt, wodurch feine Tugenden und
Fehler in ihrer wothwendigen Zufammengehörigkeit in das
iht der gerechten Benrtheilung treten. Eine ſolche Res
fon iſt freilich eine Kunft, eine fittliche und eine äſthe⸗
the; fie beruht auf ber Babe der Gelbfientäußeruug
a Wahrheit und Liebe, wie fie einft Goethe in der
Mußerrecenfion über die Gedichte von Voß bewiefen,
Aber ein öffentliches Wort, das in der evangelifchen Kir,
denzeitung den Commentar über bie Propheten gerichtet,
möge um des Gegenſatzes und ber Sache willen hier ges
224 Umbreit
nauer befprochen werden, beſonders aber auch ans
dem Grunde, weil ſich daran der aufgeftellte Sag, daß
der Commentar aud dem Geifte der theologifchen Stw
bien und Krititen hervorgegangen, in dem entſcheidend⸗
ſten concreten Kalle am einleuchtendften wird bewahrhei⸗
ten laſſen. Der Unterzeichnete wird diefes um fo cher
thun dürfen, da, wer jene Beurtheilung gelefen, niht
wird fagen können, daß der BVerfafler Lirfache gehabt,
ſich perfönlich verlegt zu fühlen, denn er wird mit An
Rand und Würde behandelt und ihm fogar das Lob zw
gefprochen, „daß durch benfelben ein heilfamer Anftoß
gegeben worden, welcher wohl geeignet gewefen, Manden
. anf die arge Verwahrlofung des eigentlich theologifchen
Elementes in der altteftamentlichen Exegeſe aufmerkfam zu
machen.” Auch gehört er nicht zu den Gchreiern ded
Tages, die die evangelifche Kirchenzeitung ald den theo
Iogifhen Sündenbod, der in die Wüſte gefchickt werben
müffe, zu ſchelten nicht aufhören, fondern er erkennt ihre
Nothwendigkeit und ihren Werth in der Krifis unferer
Zeit mit Freuden an, aber er kann deßhalb den Heraus
geber nicht wie den Naſi im Tempel Heſekiel's be
trachten. Der Unterzeichnete bat nie feine perfönliche
Belanntfchaft gemacht und fleht auch in keiner brieflichen
Berührung mit ihm, aber er erlaubt fich im Namen Bir
ler, die ihn wahrlich nidht verbammen, aber auch gegen
feine Fehler nicht blind find, den anfrichtig gemeinten
Rath zu geben, das Beimort evangelifch recht genau
anzufehen. So ift es jebenfalld nicht evangelifch,
wenn der Recenfent am Schlufle aueruft: „möchte ed doch
dem vgrehrten Verfafler unter Gottes Beiſtand immer
mehr gelingen, frei zu werben von ben Feffeln des Zeit«
geiftes!” Der Herausgeber ber evangelifchen Kirchen.
zeitung liebt fonft Feine hohlen Redensarten und faßt bie
Dinge und Berhältniffe fharf ins Auge. Was nennt er
im Beſtimmteſten Zeitgeift in feiner Zeitung? —
pralt. Sommentar üb. d. Propheten d. alt. Bund. ꝛc. 225
Doch wohl atheiftifched und pantheiftifches Belüfte, Re⸗
habikitation bed Fleiſches. Iſt davon in der Auslegung
der Propheten nur irgend etwas zu verfpiren? — Sm
Gegentheile hätte der Necenfent mit Gerechtigkeit her⸗
vorkehren follen, daß in dem praltifchen Theile des
Commentares der Berfafler feine Gelegenheit habe vor»
übergehen laſſen, jenem Zeitgeifte mit Wacht entgegenzu⸗
treten, uns Den perfönlich sheiligen Gott, ber als Geiſt
richtet alles Fleiſch und ein verzehrendes Feuer dem uns
bußfertigen Sünder, aber ein befeligenbes Licht bem, der
fih mit wahrer Reue befchrt, mit den Worten der Pros
pheten wie mit eigenen in die Herzen bineinzubonnern.
Und betrachten wir vor Allem unfere Ehriftologie: gibt fie
etwa den jübifchen Meſſias, den weltlichen Kürften, den _
Helden des Krieges? — Steige nicht mittelft der einfach,
ken Erklärung des Tertes das himmlifche Bild des Fürs
ken ded Friedens empor, des Gottesfohnes und Men-
ſchenſohnes, deß Name Wunder, Rather, Gottheld, ewis
ger Bater, der ein ſtets ſich mehrendes Reich der Wahrheit,
Gerechtigkeit und Liebe gründet, das in unvergänglicher
Herrlichkeit alle Bölker der Erde in ſich verſammelt? —
Und ift dieſer Sohn und Herr nicht auch Knecht Gottes,
ſchuldlos leidend anftatt der Schuldigen und fein Leben
bahingebend für die Sünder, rechtfertigend durch feine
Gerechtigkeit Biele und erlöfend durch feinen Tod? —
IR diefer König and Jeſſe's Stamm, das Panier, nady
dem die Heiden fragen, geboren nah Micha in dem
Meinem Bethlehem, der Sproffe, der nah Saharja
am und demüthig auf einem Eſel nach Ierufalem reitet,
Hfhon er die Doppeltrone des Königthums und Hohen»
prieſterthums trägt, und, von feinem Volke durchbohrt,
dann aber unter dem bitterften Chränen der Rene bes
trauert, feine Herrfchaft beginnt, vor der die Welt der
widerfpenftigen Heiden in Ohnmacht niederfintt — iſt
diefer Meffias nicht Ehriſtus Jeſus? — ae biftoe
Toeol, Stud. Jahrg, 1847,
226 Umbei
wifch,e Chriſtus — und habe: idh wich wicht. gegen die
voetiſch⸗ pro phetiſ;e Shealifirung. auf das entichieheniie
ausgeſprochen ? — Hier kaun alfa der Anslegen uuuglic,
„is den Feſſeln des Zeitgeiſtes“ Kegen. Die anugeliidhe
Kirch erzeitung wuß alfo damit etwas Anderes weinen,
was, auch nicht ſchwer zu ſinden iſt. Sie ſieht das Trug⸗
licht ohne; Zweifel: anf. dem Wege, mie der Ausleger zu
jenem theelegifchen, und chriſtologiſchen Ergebniſſe ge
komman iſt, in ſeiner wiſſenſchaftlichen Bexfahruugewaite;
bier wittert fie: Ratianalismus. Was biegt mie as dem
Ramen?-— Borläufig zugegeben, der Berfaffer den Chri⸗
Bolsgie,. deren Bedeutung. ex ſtets hochgeſchaͤtzt, wenn er
ih, auch. gegem ihr, Grundprincip erftänen. mußte, wäre
3% dem Rogmatiich-cziflichen Refultate, in: dem mir beide
eined fürd, anf ſunernaturaliſtiſchem Wege, des Verfaſſer
des preftiſchen Gnmwmentares. üben die Propheten:auf war
tionaliſtiſchem Wege, gelangt, ſollte man. fich darüber nicht
eher freuen, ſtatt, darüber zu ſchelten, ſtuüͤnde deun nicht
dieſes Refultat, quf daſ cin ja dach eigentlich ar. As
Kimmt, deſto feſter, fo nacht. zur. Veſchämung cha des
„Beitgeiflen” aber des Rationalismus, der üben bie
Kinft, zwifchen dem alten: und neuen Teflumeute nicht
inanötänsnt, weiß er: in jewem nun, einen meitlichen Meſ⸗
Bas und. keinen. leibenben Exlöfer füsdet; und in biefem
bany ih wundern muß, wie Jeſus von Nazareth; zu, die⸗
fem. letzteren Begriffe gelangt. fen? — Aber der. Weg,
den der Unterzeichnete gegangen, iſt auch gay. nicht ber
desſs Nationalismus, fo menig es fich dieſes Mutens fchär
men würde, ben praktiſch⸗ tüchtige Ehriſten, die man an
ihren Früchten, exfennt, getragen und woch tragen. Der
Rationaliſt betrachtet die. Weiffagung als. eine Folge, um
es recht fchlicht und einfach zu fagen, der Begeiſterung
des. Seele; dena Gott if nach ber Eonfequenz feines Sy⸗
ſtems trandmundban, und was ber: Prophet Geiſt Bostes
nennt, iſt nur ein. durch bie, Idee non Gott: geſteigertes,
prakt, Gommentar üb.d. Propheten d. alt. Bunb.ıc. 227
poetiſch erregtes Selbſtbewußtſeyn; bie Propheten find
ehrwürdige Sittenichrer und Poeten. Aber das ik der
Standpunkt bed Eommentares nicht, auch nicht der Schrift
über den Knecht Gottes, wo fich ber Berfafler ber dies
fen Punkt ſchon beſtimmt andgefprochen. Er braucht das
Wort Begeifterung, weil es vielfach in der Welt als eine
falſche Manze eurfirt, überhaupt nicht gerne, und wo es
in feinen Propheten vorkommen mag, iſt ed entweber im
emem anderen Sinne zu nehmen, ober e6 if dem Ver⸗
faſſer aus Anbequenung und Gewähnung entſchlüpft.
Die Propheten find freilich Begeiſterte, oder, wie er lie:
ber, um Mißverſtand zu vermeiden, fidyausbrüden möchte,
Begeiftete, aber nicht durch und ans fich felbft, fon»
dern wahrhaft, nicht in orientalifcher Redeweiſe, und
wirklich Durch den Belt Botted. Aber der Geiſt Gottes,
ber ſich ihnen mittheilt, erfaßt Me nicht dergeftalt, Daß er
ihr individuelles Seld ſtbewußtſeyn gänzlich auslsſchte
uud fie, fo zu ſagen, magiſch nöthigte, die feruften Dinge
und zufälligften Ereigniffe zu wahrfagen, was bie Bes
banptung der Ghrifiologie Hengfienberg’s if, ſon⸗
dern er ſchleßt Mich naturgemäß an die Denkgeſetze und
Deufoperation der Schauenden an; bad Mebernatürliche,
nit Schleiermacer zu reden, muß auch bier ein Ras
türliches werden. Deßhalb finb wir weit entfernt, bie
Seher, wie fie mit Recht genannt werben, an bie Logtt
des refleetirenden Denkens zu feſſeln; in der Verbindung
des Geiſtes Gottes mit dem Geiſte ber Propheten liegt
ein mergrundliches Geheimniß, eine myſtiſche Tiefe, Die
mmusfchöpfbar if. Aber da wir bei der Beurtheilung
dieſes Punkted an die gegebenen Weiſſagungen gewielen
ad, fo babe ich auch nidyt Eine finden koͤnnen, welche
die PReiffagung zur Borherfagung im Sinne der heng⸗
ſtenbergiſchen Chriſtolsgie machte, und ich ſtimme über
dad Berhäktwiß. ven Weiffagung und Vorherfagung im
Wefenttichen mit Niufch im Spyſteme der chriſtlichen Lehre
15 *
228 Umbreit :
(5.9.9.5. Anfl.). Immer erfcheinen die Propheten, we
fie in die Ferne blicken und hiftorifche Dinge verkünden,
an die gefchichtlichen Bedingungen ber Gegenwart ger
bunden, deren Horizont fie nicht gewaltfam durch⸗
brechen. Selbft die Verkündigung bed Meſſias bebarf
in dem ganzen Bollgehalte, ber ihr eigen, ber ge
fhichtlichen Entwickelung. Doc. was fireiten wir über
biefen Punkt mit dem Berfafler der „Ehriftologie” 1829
—1835, da er jeßt feld befennt, „wie er damals nod
wenig felbftändig in die Tiefen des A. T. eingedrungen”,
nnd beim 22, Pfalme, in dem er nicht mehr eine directe
und ausfchließliche Beziehung auf CEhriſtum, und nicht
einmal eine typifchsmeffianifche Weiffaguug, fondern nur
die ideale Perfon des Gerechten findet, ſich alfo erklärt:
„denn wie David fein Bewußtſeyn zu dem feines Stam⸗
med erweitern Tonnte, dieß läßt fi [ehr gut den⸗
fen, nicht aber, ohne Störung des Seelenle⸗
bens, ein Ueberſchwanken von der eigenen Perſönlichkeit
zu einer anderen.” Vgl. Sommentar über die Pſalmen,
B.2.1843. 6.7, u. 8. Ebenſo heißt ed (S.323.) bei Pf.
49: „die in ber älteren Zeit fehr verbreitete direct meſſia⸗
nifche Erklärung des Pf. hat. in der Anführung von 2.
79, in Hebr. 10, 5 ff, nur ein fhwached Fundament,
und Behauptungen, wie die im Anfange feiner Laufbahn
von dem Verf. felbft aufgeſtellte: „ed ift keinem Zweifel
unterworfen, daß derjenige, welcher die göttliche Auctor
rität des Briefes an Die Hebräer anerkennt, ſich für die
meflianifche Erklaͤrung entfcheiden muß,” verlieren bei ger
wonnener tieferer Einficht in die Art und Weife, wie das
N. X. und namentlich der Brief an die Hebräer die Aus⸗
prüche des A. X. handhabt, alle Bebentung.” Go
wäre beun Herr D. Heugfienberg als Gommen
tator der Pfalmen auf einen Standpunkt gekommen, auf
bem ihm die Auctorität des Briefes an die Hebräer bei
ber Erklärung bes 9. T. nichts gilt, — ein Bekenntniß,
prakt. Gommentar üb. d. Propheten d. alt. Bund. ꝛc. 229
das bei der fpftematifchen Eonfequenz bed Berfaflers viel
fagen wii — und wenn er fidy auf den früheren Stand:
punlt der Chriſtologie zuräd verfegt, fo muß der alte
Nenſch feinen neuen „in den Feſſeln des Zeitgeifted”
fehen. Aber wir fagen vielmehr: er hat ſich jeßt von ben
Feſſeln des Zeitgeiftes, wo er die Ehriftologie ſchrieb,
losgemacht, d. i. von den Fefleln ber dogmatifchen Vor⸗
ausſetzung und Befangenheit, und athmet freier, nicht „in
den Feſſeln des Zeitgeiſtes,“ fonbern in der frifchen Les
bendluft „Des Geiſtes der Zeit,” d. i. der fortfchreitenden,
undefangen forfchenden Wiſſenſchaft. — Aber irren wir
nicht, ſo galt jener Vorwurf auch weniger der Auslegung
der Propheten, als vielmehr der Kritik, bie der Gommens
tater Abt, und hier flimmt er zu viel mit @efeniug,
Hipig, Ewald u. A.; denn er behauptet noch immer,
If. 40-66. ſey unecht. Bei biefer Behauptung muß er
freilich auch jetzt noch beharren, und wahrlich nicht aus
bogmatifchens Bornrtheile gegen dogmatiſches Vorurtheil,
fondern ans kritiſcher Bewiffenhaftigkeit, und id; meine,
Gewiſſenhaftigkeit müfle man vor Allem vom Chriften und
Theologen fordern und, wenn man fie bei ihm finder,
achten. Ans demfelben Grunde, wird man bemerken, ers
fürt er mit Hengflenberg den zweiten Theil des
Saharja für echt, und gewiß auch nicht aus dogma⸗
them Borurtheile, wie die Anslegung dieſes Propheten
iigen wird. Geſetzt aber, Jeſ. 40-66. wäre doch echt,
fo würde ich das mit Freuden, wenn man mid; über«
zeugte, öffentlich anerfennen und meinen Irrthum einge,
ſtehen; doch bis jetzt bin ich noch nicht überzeugt. Heng⸗
Renberg ſollte fi aber eher freuen, wenn ihm jebt
ver Beweis der Unechtheit jenes Stückes geliefert würde;
un wenn er confequent feyn will, fo muß er zugeben,
„dag es ſich Doch auch nicht gut denken laſſe, wie Sefaja
ohne Störung des Seelenlebens den Cyrus habe Fön»
um gen Babel ziehen ſehen.“ — Sollten diefe Erörte
230 Umbreit _
eungen, die aus Feiner Gereistheit gegen den hochge⸗
ſchätzten Herausgeber der evangeliſchen Kirchenzeitung
gekommen, ihm gegenüber Aberflüffige geweſen ſeyn, nun
fo muß er den gemachten Vorwurf auf ſich ſitzen laſſen
und fich mit Männern tröften, beren ewige Berbieufte
nur blinder Eifer fchmälern kann. Schleiermacher
iſt dann auch „in den Feſſeln des Zeitgeifted” bie zu
feinem Tode geblieben, aber er if in ihnen als frommer
Chrift felig entichlafen. Aber dad, worauf ed nnd hier
allein anlam, tft aus jenen Erörterungen hervorgegangen,
baß der nene Eommentar über die Propheten aus ber
Richtung der Theologie heruorgegangen, welche „bie theo⸗
logiſchen Studien und Kritilen” ind Leben gerufen, bie
fi in dem Grundbelenntniffe bis diefen Tag behauptet
haben: „treues Feſthalten an dem pofitiven Grunde ber
heiligen Schrift, freie und gewiffenhafte, fo hiſtoriſche wie
philoſophiſche Forſchung, Ausübung einer Kritif, welche
unparteiifch eben fo befcheiden und demäthig, ale mu
thig und ernft dad Wahre und Gute, wo es ſich aud
finde, anzuerkennen und zu benntzen weiß.” Diefe aß
feitige Anerfennung des Wahren und Guten, von wo es auch
herfomme, ohne lnterfchied der Namen und Richtungen,
meint der Verfaſſer befonbers in den eregetifchen und kris
tifchen Anmerkungen zn ben Gommentare bewiefen zu
haben. Es hat die Art und Weife feiner Befprechung
mit anderen Auslegern und Krititern ihm aber eine Rüge
in einer Zeitfchrift zugezogen, deren Herausgeber ihm ber
freunder ift und der andy ans ber unfrigen Gelegenheit
gehabt, zu erfahren, wie fehr er ihn zu fchägen wife;
er meint Tholuck's Titterärifchen Anzeiger. Dort wird
ihm in einer ausführlichen, geiftreichen Recenfion feines
Sommentard Belomplimentirung ber verfchiedenen Gelehr⸗
ten vorgeworfen und bie Ermahnung gegeben, den Schein
bed „lob' du mich, fo Lob? ich Dich,” ferne zu halten. Die
fed Wort hat den Untergeichneten wehe gethan, weil es
prakt. Gommentar üb. d. Propletend. alt. Bund. ıc. 234
doch wenigſtens ach ben Sheikh einer ſſttlichen Auklage
enthaft, und da v6 en Öffentliche WoA md nach dem
innerfien nnd betigfien Bewußtfenn des Berf. unbegräms
det iſt, fo kaun er eine öffentliche Erwiberung nicht zus
radhalten, er will ed Aber mit dem Sengniffe eines Aus
deren thun, zu dem er bis jett gar Tein yerfönlidhes
Verhaͤltniß hat, der ihn aber gründlich erkannt; er meint
eine Stelle in ber Recenfion von Delitz ſch in der berlis
ner Zeitfchrift, auf Die er die Lefer getroſt verweiſen
darf. Was kann wohlthuender ſeyn, Ald von eifteie
Nanne, den man hoch achtet, verſtunden zu werben, nenn
mau von einem anderen, wicht minder gefchäßten, ik ſei⸗
nen Innerfien Mefen gänzlich mißverſtanden wörben! —
Aber auch in wiſſenfſchaftlicher Beziehung hat es beit Verf.
wehlgethen, von Delitz ſch in einem Hauptpunkre richtig
anfgefaßt worden zu ſeyn; er betrifft das mehrfach falſch ges
dentete Beiwort praktiſch,“ womit der Fommentar in ſeiner
Eigenthimköckeit auf dem Titel bezeichnet wird. „Un bie Ue⸗
derſegung des prophetiſchen Textes ſchließt ſich eine zuſam⸗
menhähgende, den Sinn deſſelben entrofende Paraphraſe;
die praktiſchen Bemerkangen, mit denen dieſe durchwebt iſt,
zeigen, daß die prophetiſchen Schriften in Umbreit's Augen
nicht bloß Denkmale des Alterthums ſind, Die man mittelſt les
bendiger Bergegenwärtigung der Zeit ihres Entſtehens gu ent⸗
fern bat, ſondern zugleich ein ewig gültiges, nie vers
ſſegendes Wort Gottes, weiches er in das Leben ber
Gegenwart einzuführen und auf das innere Reben jedes
Einzelnen anzuwenden bemüht tft.” Diefed Wort möge
uud als Text zu einer weiteren Erötterung bieten.
* Der Titel bed Buches wurde gemacht, ald es des
worden war, wie ed gleich ins erſten Theile fich gibr;
m der That geworden“; denn die befondere Weiſe der
megetifchen Behandlung der Propheten warb nicht ge
facht und kluglich andgefonnen, fondern fle drang fich dem
Verſaſſer nach dem Eindrucke, den die Propheten aufihn
232 Ambreit
ansübten, von ſelbſt auf; fie war ein unmittelbares Erzeng⸗
niß der vollen Hingebung inihren hohen und erhebenden Geiſt.
Indem nun biefer Iebendige Beift mitber ergreifenden Gewalt
„feiner ewigen Wahrheitden Ansleger erfüllte, blieb ihm freis
lich dad Wort. ded Propheten nicht als ein fremdes -branpen
fieben, ed warb ihm vielmehr ein inwendiges, das zu
einer Auslegung trieb, die von der Einigung zeugte und
fih in der Bezeugung diefer Durchbrungenheit frei ges
ben und gewähren ließ. So warb ihm der hebräifche
Tert das gerade Gegentheil von einer Infchrift des Al⸗
terthums, etwa -einer phönicifchen, die man erllärt. Ale
ihm nun die Auslegung, wie von ſelbſt entſtanden, in Dies
fer Geſtalt vor Augen lag und er fie reflectirend betrach⸗
tete, ward er der lieberzeugung, daß fie bei ihrer Ver⸗
öffentlihung nügen könne, um befonderd jüngere, em⸗
Yfängliche, noch vorurtheilöfreie Gemüther mit deu altem
Propheten, die vor dem Lärme der neuen ſchwer zu Worte
kommen Lönnen, zu befreunden. Aber wie follte er den
Sommentar' nennen und unter welchem Titel ind Publi⸗
cum einführen? Das Kind mußte doch einen Ramen has
ben. Bloß philologifchskritifch war der Kommentar nicht,
obfhon er aus einer felbitändigen philologifchen For⸗
fchung. hervorgegangen und jahrelange linguiftifche Bes
fchäftigung mit dem altteftamentlihen Grundterte voraus⸗
feßte; nicht die Hülle und Form des Worte war Gegen⸗
fand. der Behandlung, fonbern der darin enthaltende Ge»
danke, aber auch diefer nicht in ber gewöhnlichen Weiſe
ber Erklärung, wie etwa in dem Commentare von Ger
fenius über Jeſaja, daß der Commentator feine Auf⸗
gabe gelöft, wenn er den Sinn deutlich gemacht, wobei es
ibm gleichgültig, ob er ihm eine Wahrheit. fey, fondern
ed ſprach fich der lebendigſte Autheil an der felbft erfah⸗
renen Wahrheit bed Gedankens aus, und der unanfhalte
bare Drang, ihn in das volle Richt feiner ewigen.
Gültigkeit zu Rellen. Wie folte der Verf. nun diefe. Ei⸗
proit, Sommentarüb.d. Prophetend. alt. Bund, ıc. 233
genfchaft des Commentars bezeichnen? — Theologiſch?
Aber auch der vorberrfchend philologifche Sommentarüber
bie Propheten wird fi) des Anfpruche nicht begeben, daß
er doch auch immer eintheologifcher fey, nicht minder and
einem theelogifchen Intereſſe entfianden nnd. der Theolo⸗
gie dienen wolle. Aber vorzugsweiſe theologifcd?
— So etwas läßt fih doch auf kein Titelblatt ſetzen.
Bibliſch? — Aber auch biblifch if jeder, obſchon dieſe
Bezeichnung dem einen mehr eignet, ald dem andesen, je
sahdem der Verf. die Auslegung in ihrer Bewahrheitung
nehr and ber Quelle der ganzen heiligen Schrift, ald ans
fih feld ober and einem Anderen, etwa aus Plato oder
Arikoteles, oder aus Spinoza oder aus Kant,
over aus Schelling ober aus Hegel fchöpft; immer
iR jedech auch Diefed Beiwort der Befchaffenheit dem Miß⸗
verſtaͤndniſſe ausgeſetzt, wie esfih au bei DIchaufen’s
bibliſchem Commentar ein gezeigt. Dogmatifch? — Das
iR nun aber der gegenwärtige Commentar am allerwenig»
Ren; denn er ſtellt gar Seine Dogmatifchen Reflerionen am
ad iR nicht bemüht, feine Ergebniffe an irgend ein Doge
natiſches Syſtem anzufnäpfen und feinen Einklang mit
im nachzuweiſen; er gibt nur unmittelbar die lebendige
Dogmatit der Propheten, ohne fie mit einem fpftematis
(den Auge zu betrachten und fie in Beziehung zur dog»
natiſchen Wiffenfchaft zu feben; ja nicht einmal zum Sys
kur der nenteflamentlichen Lehre, obfchon ihm anzufpü-
m, daß er won keinem Juden gefchrieben, fondern von
einem Ehriſten aus heiligfter Meberzeugung und von einem
Ihtologen, der ſich das Wort gemerkt: „ich bin nicht ges
Immen, das Geſetz und die Propheten anfzulöfen, fon
dern zu erfüllen.” Aber er mifcht keine Reflerionen ein, wie
feinden verdienſtlichen Werken von Delisfch, Hofmann
m Dehler am Orte find. Auch in diefer Beziehung
dat Cutſtehung und Beſtimmung des Commentars die evans
Kühe Kirchenzeitung weniger richtig, Deligfch dage⸗
n
234 Umbreit
gen viel richtiger gefaßt. — Et hiſch? — Diefe Beuen⸗
nung würde wenigſtens paflender als die vorher genannte .
ſeyn, da die Fttlichserwedende Kraft der prophetifchen
Mede beſonders und mehr hervorgekehrt M; aber eb if
doch nicht bloß die Weisheit der Propheten ind Licht ge
ſtellt, ſondern auch ihr Anfang, die Furcht Gottes, fühl.
dar gemacht, und nicht bloß das ‚ihr follt Heilig werden,”
fonbern au dad „Ich bin heilig” wird laut genug ver»
nommen. Go wäre auch biefe Benennung wenigſtens
eine einfertige geweſen. — Kirchlich? — Allerdings,
wenn man ben Begriff der Kirche im Gegenſatze zur ums
lebendigen theologiſchen Wiffenfchaftlichleit faßt, der ſich
gegenwärtig immer mehr verliert. Der Commentar weiß
fih im Eintlange mit dem Kläffigwerben des dibliſchen
Glaubens in der chriftlichen Kirche, er ift aus der leden⸗
bigen Gemeinſchaft des Verfaſſers mit feiner Kirche herr
vorgegangen nnd knupft Mich in wiffenfchaftlicher Leben⸗
digkeit an das kirchliche Bewußtfeyn erregend und förberad
an, fo daß er auch in diefer Beziehung den Zuſammen⸗
haug mit der Theologie der Studien nad Kritifen beur⸗
under, bie befonderd von Schleiermacher und Ne⸗
ander den Anſtoß empfangen, Aber kirchlich durfte er
ihn nicht nennen, wenn er nicht Anfloß erregen wollte bei
Golden, denen er nach ihrem ſtreng⸗kirchlichen Begriffe
eben nicht kärchlich if. Run denn erbaulih? —
Der Commentar ift aus dem Blanben gefloffen und mag Den
Gtauben vielleicht bauen helfen; aber erbanlich zu ſeyn, da⸗
rauf iſt er in dem ganzen Tone nicht berechnet, und eine im
Ansdrucke wohlgemeinte Berechnung liegt immer in ber
Schrift, die Jemand zur Erbauung fchreibt, — Aber po⸗
pulär? — Infofern populär dem Gelehrten gegenüber
gefeßt wird, erfchiene diefe Bezeichnung für die Korm bes
Commentares gerechtfertigt; denn bie Auslegung entfaltet
ſich rein für fi, ohne alle Berührung mit ber Gelehrſam⸗
Beit, und ift gar nicht bemüht, ſich als eine ans gelchrter
prakt. Commentar üb. d. Propheten b.alt. Bund. ꝛc. 235
Forſchung entfprumgene anszuweiſen. In dieſer Hinſicht
id ſie für deu Gebrauch der Laien wohl geeignet, tndem
ih unter dieſen nicht bloß die Nichtgeiſtlichen, ſondern
auch die Ungelehrten unter den Nichtgeiſtlichen verſtehe.
Aber die Laien als Ungelehrte theilen ſich wieder in Ge⸗
bildete und Ungebildete, und für bie letzteren eignet ſich
der Ton und Ausdruck des Bortrags anf feinen Kal; im
Begentheile, Der Bortrag if fo befchaffen, daß er ſelbſt
sicht allen denen, die ſich zu den Gebtibeten rechnen,
menden mag, und ed iſt nicht zu erwarten, daß er fi
uuter den Gebildeten überhaupt Popularität verfchaffen
werde. Biele werben namentlich am der ortentalifdy bild»
len Dorfielluugeweife, die freilich Teine gefuchte, ſoudern
eme dem Verf. gebotene und natürliche war, Unftoß neh»
men, „ Ueberdieß erfcheint der Eommentar mit einer ges
Ihrtswißfenfchaftlichen Grundlage unter dem Terte fo zus
ſanmengewachſen, daß diejenigen, welche ſich den Com⸗
mentar nach dem Anshäugeſchilde populaͤr“ verſchrieben,
wider ihren Willen und Nutzen die unbrauchbare Hälfte
bitten mit in Kauf nehmen müſſen. Und fo wäre auch
dieſe Bezeichnung eine mindeſtens täufchende gerwefen. So
fand der Verf. bei dieſer angeſtellten Ueberlegung kein
Vort, das ſeinem Commentare nach Sinn und Weſen
vielen, um feine Befchaffenheit zu bezeichnen, vollkom⸗
um angemeffen gewefen wäre. Der Rath lag nahe, bie
Ienleiter der theologifchen Begriffe ganz zu verlaffen
md den Eommentar einen poetifchen zu nennen; denn
die Propheten feyen ja doch nur Poeten unb der Verf.
rahme fi ja, anf dem Wege Herder’s fortgegangen
in ſeyn; er habe überdieß von früherher nur fchon als
ttviel Poeſie in das alte Teftament hineingetragen, und
er ſey art im Idealiſiren und Herberifiren; oder, da er
ja das hohe Lied einft äfthetifch erklärt, fo könne er,
wenn ihm poetiſch nicht anftändig und vieleicht aumaßlich
uißeine, dafür jenes Beiwort auf den Titel fegen. „Aber
236 . Umbreit
die Propheten ſind ihrem Weſen nach keine Poeten,
wenn ſie auch in der Form der Poeſie geredet haben,
foubern die älteſten praktiſchen Theologen im Dienſte des
Einen lebendigen und heiligen Gottes, nnd ale ſolche
möchte ich ihre ermenertes Studium gerade den jüngften
Berkündigern des göttlichen Wortes befonders empfohlen
haben” (Borr. S. VII). Alſo praktiſch fchien mir das
rechte und einzig mögliche Beiwort der Befchaffenheit für mei-
nen Commentar, das ſich mir auch unmittelbar ohne alle Res
flexion, die ich erft jet anftelle, von felbft anfbrang;
denn wie die Propheten praktifch find, fo iſt es anch ihre
Anslegung. Sie geben eine adgezogene Weisheit der
Schule und kommen nicht and einer folchen her, ſondern
fie find im Leben gebildet, ftehen im Leben und greifen
handelnd mit den Thaten des Icebendigen Wortes ins Les
ben ein. Ihr Ausleger aber betrachtet fie nicht bloß, ers
Härt und beutet fie, bewundert fie höchſtens, ſondern er
einigt fich mit ihnen und redet ans ihnen. Praftifch fteht
dem Theoretifchen entgegen, aber eben nur in der prakti⸗
fhen Yeußerung und Entwidelung; denn es feht das
Zheoretifche gewöhnlich voraus, oder wenn ed genialifch-
praftifch oder unmittelbar thätigs praltifch hervortritt,
wendet ed fich fpäter zur theoretifchen Betrachtung; es
. findet in der Regel zwifchen Beidem eine Wechfelbegiehung
Ratt. Im theologifchen Bereiche wird praktiſch bisweilen
mit homiletiſch vermengt, und diefed würde für un»
feren Commentar wieder gar nicht paflen; benn um Dres
bigtterte and ben Propheten heransfinden zu lernen und
ans einzelnen Stellen unmittelbaren Gewinn für die Kan⸗
zel zu ziehen, dazn if er auch nicht gefchrieben, fo wenig
er an die Homilien des Ehryfoltomus erinnert. Auch Das
Zehnifhfördernde wird öfters mit dem Praktiſchen
verwechfelt; in diefem Sinne iſt der Commentar gerade
das umgelehrte Ding von einem praftifhen. Er erfparı
dem, der ihn bennbt, keine Mühe und Arbeit, daß er
prakt. Gommentar üb.d. Propheten d. alt. Bund. ıc. 237
Zrivialttäten abhanbelte, die fihon hundertmal gefagt
find, einen Andıng and belannten Schriften gäbe, bie
Wörterbücher von Geſenius nnd Winer ercerpirte,
oder bei jeder grammatifchen Form Geſen ius nnd
Ewald eitirte u. dgl., fondern er will namentlich auch
den angehenden Eregeten nöthigen, felbft thätig zu ſeyn;
und fo ift er denn freilich auch auf dem wiffenfchaftlichen
Gebiete wieder praktifch, gerade dadurch, daß er dem
Sraktifchen, wie es leider mit dem Unwiſſenſchaftlichen
häufig identificirt wird, fcharf entgegentritt. Diefe Bes
nerkung führt und zur Betrachtung ber unter dem Terte
der Auslegung befindlichen eregetifchen und kritiſchen Ber
rehungen einzelner, hefonders fchwieriger Stellen. Und
in diefer Beziehung möchte der Commentar in feiner ei⸗
geathümlichen Form fich noch ganz befonderd praktiſch
emweifen, weil er bem rein praftifchen Theologen zur Aus
ſchannng bringt, wie er fich mit der Theorie der Willens
(haft im Iufammenhange zu erhalten habe, den Theores
tler aber erinnert, die Ergebniffe feiner wiffenfchaftlichen
terihung an den lebendigen Geiſt der Kirche anzufuüpfen,
Bad gerade unfere vorherrfchend praftifche Zeit zu vers
langen fcheint. Nachdem ich meine Erklärung feſtgeſtellt,
Wängte ed mich, auch andere Audleger zu vergleichen
ud mich weit ihnen auseinander zu fegen, bald bie Beis
kasung ded Einen oder Anderen bezeugend, bald den
Virerfpruch beleuchtend, mit möglicher Selbftentäußes
ang, weil ich lieber ganz meinen eigenen Weg gegangen,
vie ed auch Ewald zu thun pflegt. „Aber gerade weil
kur worzügliche Ausleger dieſen Weg gegangen, hielt
4 es hoch für nüglich, wenn befonders jüngere Ereges
in auch im die neuefte Litteratur eingeführt nnd zunächſt
in unfere Zeit geſtellt wurden, um etwa beiläufig Freude
an dem Sinne zu: finden, den ich mir zuſprechen barf,
in der Benriheilung verfchiebener Erklärungen gerecht,
müde uud eifach zu verfahren” (Vorr. z. Heſekiel,
238 AUmbret
S. XIIL). Diefe Einfachheit wird mas ſowohl in der iri
Kfchen Behaublung des Terted, in. der niederen, wie iu
der: höheren, als auch in der eigentlichen Gregeſe wahr
nehmen. Bor Allem habe ich die ſchlichte Wahrheit Bert
im Sinne gehabt und ihren mir heiligen Getzote wielfed
den Ruhm der Originalität zum Opfer gebracht, was bei
ber Gitelfeit und Sünphaftigkeit ber menfchlichen Natur
nicht ſo leicht iſt, als man deut: Ginfälle liebe ich in
ber Geſellſchaft, aber wicht: am Gchreibepuite. Hätte ih
mic, von der Phamtafle, wie fie mie Gott gegeben, wols
len keiten laſſen, Hypotheſen zu fpinnen, Eonjecturen zu
machen und. fogenannte neue Erklarungen zu erſinden,
ed wäre: mir ein: Leichtes geweſen, bie gläugenbiken Rafe
ten auffteigen zu laffen und die alten, ehrwürdigen Pre :
phetengeftahten mit einem mobernen Beilkantfenen zu ums |
fyielen, dad: die Augen hätte bienben ſollen. Ahber ber
deiftliche Theolog foR. andy anf: dem Gebiete der Ansle⸗
sung das erfte Gebot feined Meifterd: „entäußere dih
ſelbſt! ſtets vor Augen und im Herzen: haben. Daher
babe: ich: andy eime Erflärung, wenn fie ein Anderer
ſchon begründet, fo aufgefährt, ale hätte fie mir biefer
erſt eingegeben, und es iſt wunderlich, wenn ein Recen⸗
ſent, ich weiß nicht wo, bemerkt, daß ich in ber Audle⸗
gung bes Jeſaja öfters Geſenins beitrete; „beitzete’?
Als wenn ich bie Grflärungen, wo diefes ber Fall, nicht
ſelbſð Hätte finden Tünnen, wie ed. aber Überhaupt gar
nicht fo ik, wenn man nicht einen oberflächlicyen Blick
in mein: Buch hineinwirft; denn ich fhimme vielleicht eben
fo oft mie. Ewald, aber auch olme von ihm abhänsis
zn ſeyn. Wenn ich auf Die vielgeſuchte Priorität: erpicht
wäre, fo. könnte ich in. einem auberen Sinne, ale ich es
bier thne, erwähnen, daß id gweimatüber Jefaja Bor
lefungen gehalten: und die Erflärung ber meiſten Stellen
fhon fo feſtgeſetzt, wie fie jetzt gedruckt ſind, che der
Commentar von Geſenind, ben ich 1882 im den hei
prakt, Gommentarjäb. d.Bienpbetend. alt. Bund. ıc. 23%
delberger Jahrbüchern ber Litteratur mit aller Anerken⸗
nung, aber freimüthig ausführlich befprochen, erfchienen
war. Es follte ſich Einer einmal die geiftreiche Arbeit
vornehmen, zuſammenzurechnen, wie viele Erklärungen,
um nur in der neyeren Zeit fiehen zu bleiben, Roſen⸗
müller von Döderlein und Dathe, de Wette
von Rofenmäller, Gefeniusvon de Wette u.f,w,
angenommen! — „lebexlieferung ift Gnade,” fagt Go e⸗
the, und felbft er wäre ohne Leffing und Winkels
mann, Sophokles und Shafespeare beialler Ori⸗
ginalitär andy nicht dageweſen.
So hat denn unfer Sommentar Über die Propheten
in diefer äußerlich von einander abgefonderten und doch
innerlich wohl zufammengehörigen Form praktiſcher Aus⸗
legung und eregetifch-Britifcher Erklärung nach feiner Bes
Rimmung bei der Veröffentlichung den befonderen Zwed,
das religisäsfistliche uud theologiſch⸗wiſſenſchaftliche Ins
tereſſe gleichmaͤßig in Anſpruch zu nehmen. Bott hat das
Bert mit feinem Segen begleitet, und Ihm allein gebührt
am Schinffe befielben mein Dank. Das, was gutan dem
Werte, gehört dem GBeifte der Propheten, ber mich bes
rubrte unb erhob, und das wird bleiben und Frucht tra⸗
gen; das, was fchledht daran, kommt allein auf Rechnung
des Verfaſſers und wirb verwehen, wie die Spreu vor
dem Winde. Die bald nöthig gewordene neue Auflage
des Gommentared über. Sefaja, der: freilid; am meiſten
von allen Propheten geleſen zu werden pflegt, beweiß,
daß deu befolgte Plan. des Buches Fein verunglädker ges
wen. Es find ſchon viele Gommentare geſchrioben wor⸗
des, und ed werben noch viele geſchrieben werden. aber
jeder Ausleger: merke ſich das Wort des Apoſtels: „es
iR Ein Geiſt, aber es gibs verſchiedene Gaben.“
F. W. € Umbreit.
‚) Te Kiiefoth
2.
1. Theorie des Cultus ber evangelifchen Kirche. Bon
D. Th. Kliefoth, Prediger zu Ludwigsluſt in
Medienburg » Schwerin. — Parchim und Ludwigs;
luft, Berlag der binstorfffchen Hofbuchhandlung.
1844,
2, Ueber das Wefen des proteftantifchen Gultus. Eine
theologifche Unterfuchung von D.&.Lüdemann, or
dentl. Profeffor der Theologie. (Einladungefchrift zur
dritten Secularfeier des Todestages Luther’s.)
„Ein Buch ift eine Pflanze, welde aus dem Boden
ber Geſchichte hervorwächlt; und in dem Maße nur, als
es diefes ift, wird ed einen Samen tragen, der in
die Geſchichte zurückfällt.“ Schon in biefer Aeuferung,
mit welcher dad unter Nr. 1. anguzeigende Buch ans
fängt, liegt auögefprochen, daß daſſelbe einen innern, fütts
lichen Entflehungsgrund hat, baß es ſich als ein dienen»
des Blied in die Entwidelung der Wiffenfchaft, bier der
Wiffenfchaft ded Cultus, bineinftelen will. Der Herr
Verf. befriedigt, wie er erlärt, mit der Entwerfung feis
ner Schrift zsunähft ein perfänliches Bebürfnig. Er
fuchte fich felbft Mar zu machen, was er als Diener bes
Cultus fey und thue. — Weit entfernt, daß hierdurch eine
unwiffenfchaftliche, fubjective Arbeit entftanden iſt, erfcheint
diefer innere Drang die wiflenfchaftlihe Schärfe und
Beltimmtheit vielmehr beförbernd, ja fchlechthin heraus»
forderud. Denn wodurd fol fich der Einzelne über feine
Stellung zu irgend einem Lebendgebiete ar werden, als
dadurch, daß er das adäquateſte Willen deſſelben zu ges
Theorie des Gultus der evangelifchen Kirche, 241
winnen firebt, nur biefem Erfannten fein bisheriges Mei»
nen, Schwanten, Zweifeln und unklares Thun unter:
wirft? Diefelbe Befonnenheit, aus welcher nach der
Seite der perfänfichen Beziehung das Buch entfproffen
it, bewährt fich auch nach der Seite der fachlichen Be⸗
gründung. Der Berf. fragt fich nach ber gegenwärtigen
Stellung bed Gegenftandes, den feine Schrift behandelt,
Die Antwort ift (5.2): „Wie im Dogma, fo haben wir
im Cultus ein theilweife Ausgelebtes hinter und; da6
Reue aber, welches wir im Cultus vor une haben, kann
nicht ohne lebendigen Zufammenhang mit dem Alten feyn.
Das Alte nen zu machen, iſt die Mifflon unferer Zeit,
auch was den Gultus betrifft. Darum liegt für den
Cultus Heil weder in dem ungefchichtlichen Wege eines
überproteftantifchen Zurüddrängene auf die Schrift, noch
in dem ebenfo ungefchichtlichen Wege einer Plane machenden
Theorie. ALS Aufgabe der Zeit erfcheint, was ber ererbte
Cultus ſey, nicht bloß gefchichtlich und nach feiner Heußerlich-
keit, fondern nach feinem Weſen zu erkennen, die Lebens,
mäcte, aus benen er erwuchs, die Gedanken, die er in
einen Formen verwirklicht, Die Zwecke, die er in ihnen
verfolge hat, begrifflich zu erfaffen” (S. 1—9.).
Die Schrift von D. Kliefoth Felt fid demnach
eine ähnliche Aufgabe, wie fie Schleiermacdher für
die Dogmatik ſich vorgegeichnet hat. Anknüpfung an das
Ueberkommene, Begreifen deffelden und darin Borhers
deutung auf die Fünftige Geftaltung, fey diefe eine völlige
Aenderung der biöherigen oder nur eine Modification. —
einer andern Weife ergibt fich für D. Lüdemann
die Aufgabe. Ihm iſt die proteftantifche Kirche in ihren
Rformbeftrebungen ganz befonders auf ihren Cultus bins
gewiefen. Sie darf nicht ruhen, bis hier ein befriedigen
des Refultat gewonnen if (S. 7.) Es handelt ſich
(6. 9.) vor allen Dingen um ein „klares und ficheres
Theol. Sud. Jahre. 1847, 16.
242 aliefoth
Bewußtſeyn der wahren Geſtalt des Cultus im Gegen⸗
ſatze zu ſeiner wir klichen. Ein Bild ihres Cultus muß
der proteſtantiſchen Kirche vorſchweben, worin fe ihn rein
und frei von feinen empirifchen Gebrechen und Mängeln,
in feiner normalen Gehalt und damit in der polen Herr
lichkeit und Schöne erbiidt, in der er die Sehnfucht der
Gemüuther nach fih erwedt und das Ausgeſchloſſenſeyn
von ihm als ein bittered, töbfendes Darben empfinden
läßt.”
Wir haben hier, Klar ausgefprechen, die beiden mög.
lichen Anffaffungen des Eultus, die gefchichtliche und die
fperulative, ein Gegenſatz, der freilich das Element des
Wiſſenſchaftlichen auch im erften Gliede keineswegs and»
fchließt. Diefer Gegenfag liegt in der gefchichtlichen Ent⸗
widelung des Proteſtantismus felbft begründet. Er Liegt
in dem Schwanten der Reformatoren über die Princi:
pien des Cultus; Luther hatte befanntlich ein Bild des
Cultus entworfen, deſſen Princip die Gemeinfchaft der
Gläubigen war; er trug aber bad Bewußtſeyn in fi,
zu einem folchen Eultus noch nicht die rechten Leute zu
haben. Ihm geftaltete fih demnach für die Wirklichkeit
der Sultuß nach zwei Seiten hin, nach der pädagogifhen
und nach der hiftorifchen. Er wollte durch ben Cultus
predigen und lehren, und zugleich mit möglicher Be⸗
wahrung der Weberlieferung dabei zu Werke gehen. Für
die Gegenwart find nun zwei Behandlungsarten möglich:
entweder man entwirft die Theorie des Eultus nach dem
Mrincipe der prieflerlichen Gemeiube, oder man confruirt
den Cultus, wie er ſich gefchichtlich hervorgebildet, in
biefer Gonftruction fowohl kritiſch wie weiſſagend ver⸗
fahrend. Die erflere Berfahrungsart hat den Schein
einer Repriftination, den Schein bed Katholifirene,, ob»
wohl fie in der That eine Sache der Zufunft il und
den Begriff des Katholifhen, ded Allgemeinen, nicht in
den Klerus, fondern in die Gemeinde verlegt, Die zweite
Theorie des Eultus der evangelifchen Kirche. 243
Verfahrungsart trägt den Schein einer Beſchränktheit
an fi, einer bloßen Technit und Anweiſung, obwohl
fie in der That das Amt hat, gerade durch wiſſenſchaft⸗
liche Darſtellung den Befiß der Gegenwart in das klarſte
Bewußtſeyn zu rufen und auf diefe wahrhaft organifche
Weife die Zukunft herbeisuführen. Anf das beflimmtefte
muß fi gegen etwaige Mißachtung der lebtern Methode
eflärt werben, indem nur durch treue Bearbeitung in
gefchichtlich = wiſſen ſchaftlichem Geiſte eine wahre Oriens
tirung im Gebiete des Cultus zu Stande kommen kaun,
indem in&befondere für die Praris vor Allem die richtige
Benugung und Reinigung der vorhandenen Elemente ers
Arebt werden muß.
Eine folche nicht dIoß treue, fondern zugleich auch
Kharfe, mit Wenigem vielfagende, den Stoff mit beſtimm⸗
teſter Klarheit des Gedankens beherrfchende Darftelung
bietet nnd D. Kliefoth in feiner Theorie des Eultus
dar. Es ließ fich dieß von einem folhen Verfaſſer ers
warten. Sein Stoff theilt fi ihm in den Begriff,
in die Gliederung, in die Gonkruction des Cul⸗
nd, Deun er ficht zuerft, wie aus Chriſto basjenige
Then feiner Gemeine entfpringt, welches ber Cultus
beißt; er fragt weiter, wie und nach welchen Gefeben
dieſes Thun ſich zu einer beſtimmten Mannichfaltigkeit
einzelner Thätigkeiten differenziixt, endlich fucht er nach
den Grundgedanken und Grundfäden, nach und an wels
den diefe verfchiedenen Thätigfeiten fich zu dem organi-
ſchen Ganzen, welches der Cultus if, verbinden (8. 11.).
Der erſte Abſchnitt, der Begriff des Eultus, entwidelt
ſih in der Unterfuchung, wie aus Ehriſto die Kirche,
and der Kirche die Gemeinde, aus der Gemeinde ber
Caltus wird. Die Kirche erfcheint fowohl als das Wert
Ehrifi, der gefommen it, in der gottentfremdeten Welt
dem Göttlichen wieder eine Stätte zu bereiten, als auch
als die Summe derer, welche mit der von Chrifto allein
16 *
244 ; Aliefoth
ihnen verlichenen Kraft an ihrer Reinigung und Heili⸗
gung felbfithätig arbeiten. Sie entfaltetihr Leben, indem die
Glieder der Kirche Chriſtum darftellen, was aber zugleich
ein von Chriſto Zeugen if ; je nachdem daffelbe auf die Welt
oder auf die Gläubigen gerichtet ift, entiteht die miſſio⸗
nirende ober die bauende Thätigkeit der Kirche. Diefe
Thätigkeit macht nun die Kirche zu einer gemeinfamen,
und fo hört fie auf,. nur die atomiftifche Summe ihrer
Glieder zu feyn, und wird, über deu Einzelnen fich erhe⸗
bend, die objective gefchichtliche Macht, welche ihre Er»
fheinung in den Symbolen, Kirchengefegen, Kirchen»
inftituten hat und mit bdiefen ihre einzelnen lieder be,
berrfchend umfchließt. Doc hat die Kirche ihre Eriftenz
nur in ihren einzelnen Gliedern; und damit, daß fie, um
die Thätigkeit ihrer Glieder zu einer gemeinfamen zu
machen, fich bie Geſtalt eines ethifchen Organismus gibt,
tritt fie in die Erfcheinung und damit unter die Gefege
biftorifcher Entwidelung und damit wieder in die Bedingt:
heit durch Zeit und Raum. So entfteht die Gemeinde,
Das Mittelglied zwifchen Kirche und Gemeiude ift Lan;
deskirche; fie felbft aber, Die Gemeinde, ift ein Mittels
glied zwifchen der Kirche und ihren einzelnen Gliedern.
Die Thätigkeiten der Kirche wiederholen fi auch in ber
Gemeinde; wie dort, ift auch bier eine Seite gegen die
Welt gelehrt, die andere aus der Welt fidy herausnch-
mend und ſich erbauend zum Tempel Ehrifti.” Die baus
ende Thätigkeit einer Gemeinde, fo weit fie eine gemeinfame
geworden, ift der Cultus. Dad ben Cultus bildende
Thun ift zugleich ein Wert Ehrifi und ein Werk der
Gemeinde; der Eultus ift nicht bloß von der Gemeinde be:
fchaffte, fondern ebenfo fehr ander Gemeinde gefchehende
Thätigkeit. Er erbaut fich aber immer auf deu Grunde
bed Glaubens; der Unbekehrte ift von der Theilnahme
am Eultud ausgefchloffen; auch dient diefer nicht Dazu,
um ſich zu erbauen, fondern wechſelsweiſe Andere bauen
Theorie des Eultus ber evangelifchen Kirche. 245
and von Andern gebaut werben, iſt der Sinn bes Cultus
(5. 15—52.). —
Bir machen bier einen Halt. Unſchwer wird es ſich
erkennen laſſen, daß nach der berührten Darſtellung das
Veſen des Cultus vornehmlich von ſeiner ethiſchen
Seite aufgefaßt iſt. Der Verf. legt das Hauptgewicht
auf dad Thun, zerlegt und conſtruirt dieſes Thun, wie
ed ald ein Thun der Gemeinfchaft erfcheint. Und zwar
insbefondere nach jener Beziehung hin, inwiefern durch
diefed Thun das Leben der Gemeinde ſich vollzieht
und entfaltet, — Diefe Behandlung greift durch das ganze
Buch hindurch. — Niemand wird leugnen, baß es eine
durchaus berechtigte und nothwendige Behandlung iſt;
Jedermann wird fi freien, daß diefe Seite ber Betrach»
tung in vorliegender Schrift meiſterhaft durchgeführt
wird, aber ebenfo wird gefagt werden müflen, daß hiers
mit eben auch nur Eine Seite dargeftellt ift, daß die
Betrachtung vom fpecififchen Standpunfte der Res
ligion zurücktrit. Während mehr danach gefragt
wird, wie die Thaͤtigkeit des Cultus durch die Adern des
Gemeindeleibes hindurchdringt und deffen Gefundheit fürs
dert, it Das Verhältniß der Gemeinde und der einzelnen
betenden Seele zu Gott weniger Gegenftand der linters
hung, als ihre Vorausfegung. Nach der Einen Seite
tritt hierdurch freilich das fpecififh Chriftlidhe
mehr hervor, indem unmittelbar von der Erfcheinung
Shrifti ausgegangen wird; nach der andern Seite aber
wird nicht hervorgehoben, welch ein allgemeines Be:
dirfniß der Religion durch Chrifti Eintreten in die Ges
fhihte erfüllt und wie der chriftliche Gultus hierdurch
aiht bloß das Thun einer chriftlichen Gemeinde, fondern
zugleich die Verwirklichung des Begriffes des Betens
überhanpt iſt. Denn auf den Begriff des Betens ſtützt
ſich doch zuletzt die Theorie des Cultus; das Beten iſt
die Subſtanz des Cultus; es iſt die That der Religion,
246 Aliefoth
und der Cultus erſcheint als die ethiſche Organiſation
dieſer That.
Bon dem Standpunkte des Religiöſen aus unternimmt
D. Lüdemann die Betrachtung über dad Weſen bes
chriſtlichen Cultus. Ausgehend von der allgemeinen Bor:
ſtellung, „der proteftantifhe Cultus fey die nur im
feierlichen Worte und Symbole ſich vollziehende, gemeint
fame umd öffentliche, dem Bekenntniſſe der proteflantifchen
Kirche entfprechende Darftellung der Neligion,” faßt er
zunächſt das erfte Moment diefer Borftellung ins Auge
und begreift den proteftantifchen Cultus als feierlich ſym⸗
bolifirende Darftelung der Religion. Er geht auf den
Begriff der Religion zurüd und hebt hier gerade das
Myftifche in diefem Begriffe hervor, die Anerfennung des
Einen ewigen, abfoluten Seyns als bes abfolut Macht:
und Werthooflen, eine Anerkennung, die nnr aus einem
geheimnißvollen, innern Contacte, einer feelifchen Berüb-
sung, einem plAnua äyıov ded Einen ewigen, abfoluten
Seyns zu erflären ſey. Es ift dem Berf. gerade um den
beſtimmten Linterfchied zwijchen dem Religiöfen und Sitt⸗
lichen zu thun, er weiſt nad, warum in der Religion
das Bedürfniß liege, fich nicht allein im fittlihen kLebens⸗
zufammenhange, fondern in einer beftimmten Sultusgefalt
su offenbaren. Während alfo Kliefoth von dem Bes
griffe der Gemeinde ausgeht, nimmt Lüdemann feir
nen Ausgangspunkt vom Begriffe der Religion, und,
um dieß gleich vorauszunehmen, ed wird demnach Nie:
mand wundern, wenn erfterer feine Beranlaflung findet,
das Kunftelement innerhalb des Eultus befonders gu be-
rüdfichtigen, während letzterer, wenn er fidy auch nicht
näher auf die Betrachtung der Kunſtbeziehnngen einläßt,
doch den Begriff des Symbolifchen, fo wie den ber Ans
dacht ausführlicher behandelt. Auch hier, dünkt ed mich,
liegt im Begriffe bes Gebetd das Zufammsenfchließende.
Das Gebet reicht weiter, ald dad allgemeine religiöfe
Theorie des Gultus der Evangelifchen Kirche. 247
Gefühl; im Geber iſt dieſes ſchon zur beſtimuten That
geworden, ohne feines eigenthümlichen Hauches bes
saubt zu fegu. Dad Geber fließt, wo es in Mitte
Mehrerer ſtattſindet, biefelben zu einer Einheit zuſam⸗
men, gleichwie ed, aus der einzelnen Seele ausftrömend,
sicht minder eine Beziehung anf Alle hat; denn es if
ja der in Allen identifche Lebendgrund, welcher fich in
itm offenbart. Das Gebet fchafft alfo aus einer Mehrs
beit immer eine Einheit, und zwar eine dur Individua⸗
lfrung belebte. Der Cultus iſt mithin allerdings nicht
ein nur Sich⸗ erbauen des Einzelnen, aber auch nicht ein
sur wechfelfeitig Aufeinanderwirken, fondern die Bezies
bung des Thuns im Cultus auf jenes Eine, ewige, abfos
Inte Seyn, wie fie fi im Gebete ausdrückt, hebt biefen
Gegenſatz des einzelnen Selbft zu den Andern auf; indem
cn Feder ſich felbft erbaut, erbaut er auch die Andern,
In der That der Gemeinde fällt das Erbauen des Ein:
seinen wie der Andern, der individuelle Genuß wie das
wechfelfeitige Thun, das Aefthetifche wie das Teleologifche
nfaumen. — .
Der zweite Hauptabfchnitt in der Schrift D. Klier
foth’ 8 behandelt die Gliederung des Cultus nad
den drei Haupifragen: 1) wie die Rollen (?) der Thäs
tigkeit unter den Einzelnen vertheilt werden follen; 2)
was im Einzelnen geihan werden, und 3) wann und wo
8 gethan werden fol. Die Beantwortung diefer Fras
gen gibt die Abſchnitte 1) von den im Cultus tätigen
derfonen, von den Eolenten; 2) von den einfachen
ven Cultus conjtituirenden Thätigfeiten, von den Ele,
senten des Cultus; 3) von ber Bindung des Eultus
an beflimmte Momente — von Zeit und Ort bes
Cultus.
In der Entwickelung dieſer Abſchnitte treffen wir auf
eine Fülle der ſchaͤrfſten und förderndſten Sätze. Wo
der Verf. hingreift, gibt er uns nicht allein in directer
248 Allieſoth
Beziehung auf den Cultus, ſoudern, ich möchte ſagen,
noch viel mehr in Beziehung auf den Kreis der Discipli⸗
nen, die er bei feinen Erörterungen berührt, z. B. der
Lehre von der Kirchenverfaflung, der Homiletik, die Übers
ſichtlichſten und gehaltreichiten Winke.
Der Eultus entwidelt fih dem Berf, (S: 56.) aus
der unbeflimmten Formlofigkeit, in welcher die zuſammen⸗
gefommene Gemeinde gemeinfam handelt, zum firirten
Unterfcjiede des Gebend und Empfaugene Das rechte
Verbhältniß, weldyes im Eultus fäümmtliche Glieder gegen
einander haben follen, ift dag ber Wechſelwirkung; die
Alteration deflelben bringt entweder das hierarchifche oder
das demofratifche hervor (S.60.). Es wird nachgewiefen,
inwiefern der Geiftliche ebeufomohl Diener der Gemeinde
wie Diener Ehrifti il. Das rechte Berhältnig zwifchen
dem Geiftlihen und der Gemeinde wird im Eultus und
durch denfelben dadurch bargeftellt und erhalten, daß der
Eultus in einem Wechfel der dreifachen Acte befteht, zus
exit der Thätigfeiten, in welchen die ganze Gemeinde,
den Geiftlichen mit eingefchloffen, als zufammen handelnd
erfcheint, fodann derjenigen, in denen der Geiftlicdhe ale
der Thätige gegenüber der empfangenden Gemeinde auf:
tritt, und zuleßt derjenigen, in denen zwar der Geiftliche
die Initiative hat, aber auch die Gemeinde. als die thä⸗
tige gegenüber dem empfangendben Geiftlichen erfcheint
(S. 70.).
Diefer Gegenfak von Geben und Nehmen (Empfans
gen) findet fih nun auch bei D. Lüdemann (©. 22.2.
Und zwar, fehr bedeutungsvoll, auf der Baſis des Begrif;
fed der Andacht. „Die Andacht vollzieht fich”, heißt ee
daſelbſt, „theild weil in ihr, wie in allem innern und
äußern Thun, fich die dem Menfchen wefentliche Einheit
von Spontaneität und Receptivität geltend macht, theile
weil ihre Grundelemente, als ſich beziehend auf das ab⸗
folut Macht» und Werthvolle, abfolute Bewunderung und
Theorie des Cultus der evangelifchen Kirche. 249
Genäge And — wefentlich in einem Wechſel von Geben
uud Rehmen, indem der Menich ebenſowohl dem, was
er für Gott empfindet, Raum gibt, ald auch wiederum
an Gott als feinem hödhften Gute ſich weiber.” Der Verf.
gewinnt dadurch den Unterſchied von Vecherrlichung und
Genuß Gottes, von Adoration und Sontemplation, refp.
fecramentliher Sumption, Opfer und GSegnung, —
dienſt und Erbauung (S. 23. 24.).
Es begegnet uns bier. daſſelbe, was ſchon REN als
darakteriftifich für die beiden Darftellungen angedeutet
iſt Derfelbe Proceß, der fich für Kliefoth innerhalb
des Thuns der Gemeinde ergibt, ſtellt fich für Lüdes
mann fchon im Wefen der Andacht felbit dar. Wir
lernen hieraus, daß eine Anfhauung die andere nicht
etwa aufhebe, fondern ergänge; wir fehen, wie eine
Theorie. ded Enltus Iegtlich darauf hinandsgehen muß,
nachzuweiſen, wie die innere Bewegung in der Andacht
in dem Thun der Gemeinde ſich auspräge, wie die Dias
letit der Andacht zur wechfelmirkenden Thätigkeit der
Gemeinde werde. Auf den erften Anfchein' könnte man
weinen, es würde hierdurch dem Geiftlichen durchaus
eine hierarchiſche Stellung angewieſen, indem die Mo⸗
nente des Göttlichen, die in dem Proceſſe der Andacht
vorfommen, natürlich in den Darſtellungskreis des Geift-
ihen fallen. Auch ift nicht zu leugnen, daß aus der
Iertennung der Wahrheit diefes Verlaufes, aus ber
Hypoſtaſirung jener Momente des Göttlichen der heids
he Charakter des Priefters. entfprungen ift, ein Chas
talter, nach welchem der Priefter zugleich den Bott dars
Relt, Aber aus dieſer Verirrung fchaut zugleich die
innere Wahrheit heraus. Denn es darf ja nicht liber-
den werden, daß jener Proceß der Andacht, die Be
tührung des Gottesbewußtſeyns und Selbſtbewußtſeyns,
innerhalb des Menſchen vorgeht, nicht als feine eigene
willurliche That, fondern nach dem innewohnenden Zuge
250 Kliefoth
des religiöfen Lebens ſelbſt. Der Abdruck biefer Bewe⸗
gung der Andadıt, wie fie innerhalb des Menfchen ats
Spontaneität und Receptivität ſich erweiſt, ift eben ber
Enltus der Gemeinde, und fo wird die Gemeinde in ihrem
eultusmäßigen Thun zu Einer großen Perfönlichkeit, Fra⸗
gen wir nun bier wieder nach dem Weſen des Gebets,
fo treffen wir darin die Womente,. ded Gebens und Rehr
mens verwirklicht. Der Betende gibt ih an Gott hin;
er bringt fih dar, feine ganze Eriftenz tritt er an Gott
ab, ebenfo aber empfängt er diefelbe wieder, erneuert,
verklärt, gefördert; er eignet fich göttliche Lebenskraft
an. Es iſt gewiß einfeitig, mit Ebrard (Berf. e. Lie
turg. u. ſ. w. ©. 15. Anmerk.) dad Beten nur ale ein
Nehmen aufzufaflen, wie es die entgegengefette Einfeitig-
feit bleibt, das Beten nur als Dingabe und Opfer zn
betrachten. Stellen wir nun den ganzen Gultus auf die
Baſis des Gebets (freilich gegen Kliefoth, S.79.), fo ers
geben ſich nnd als bie Endpunkte des Gultus, infofern
er verwirklichte Darftellung ded Gebet iſt, die Hin
gabe an Gott und das Empfangen von Gott;
jene ansgedrüdt im Altardienfte (Lobpreifung Gottes,
Sündenbefenntniß, Lection und Credo), diefes im Abends
mahledienfte.
Dieß führt und weiter gu der Darftellung der Ele
mente des Gultus, wie fie Kliefoth gibt. Als folche
Elemente werden Bredigt, Sultushandlungen ımb
Gebet angeführt, Es wird mit Recht als unrichtig er-
Härt, dad Symbol oder die Kunft ald ein drittes ober
vierte® Cultuselement neben die Predigt und die kirchliche
Handlung fiellen zu wollen. Die Kunſt bezieht fich inner
halb des Cultus nie anf den Stoff, immer auf die Form.
Ausdrücklich aber verwahrt fich der Verf. (S. 79.) gegen
ben Berfuch, biefe Dreiheit von Eultuselementen, Prebigt,
Cultushandlung und Gebet, auf eine Einheit fo zurückzu⸗
führen, daß man eined derfelben als die Grundlage der
Theorie des Eultus der evangelifchen Kirche. 251
beiben anbern anfehen müßte, und kämpft befonders ges
gen die Anficht, daß der ganze Cultus Gebet fey. — Ehe
wir anf diefe Anfchauungsweife mit einigen Worten ein⸗
gehen, überbliden wir den Inhalt dieſes Abſchnittes.
Der Predigt gibt nach allen Seiten folgendes Bier-
fache ihre Berimmtheit: „daß die chriftliche Wahrheit,
wie ffe in der Gemeinde Geftalt gewonnen hat, der Ins
halt der Predigt, daß die Gemeinde felbft die predigende,
daß fie ſelbſt auch wieder die hörende ift, und daß fle fo
thut mit der beftimmten Abficht, fich in Chriſto zu fürs
dern und zu bauen” (S. 81.). Damit aber die Gemeinde
ihr ſelbſtdarſtellendes Wort zu einem reinen Zeugniffe von
Ehrito mache, bedarf fie eines Correctivs, an dem fie
fih felber und ihre Predigt meile, und dieſes Gorreetiv
hat fie an der heiligen Schrift. (S. 100.). Im Cultus
fol indeffen nicht bloß die Schrift reden, denn alsdaun
müßte man beim bloßen Borlefen biblifcher Abfchnitte
fiehen bleiben, fondern die Gemeine foll reden ans fidh
und von füch im Lichte der Schrift (S. 103.). So daß
man ſagen kann: bei einer Predigt, bie ift, wie fie feyn
fol, hat die Gemeine an der Entftchung und Vollführung
der Predigt einen andern, aber eben fo vielen Antheil
ald der Prediger, und je mehr biefer die Predigt zu einer
Stimme aus der Gemeinde madıt, um fo mehr ift auch
die Gemeinde an ihr und in ihr mitthätig (S. 104). —
Bas nun die Cultnshandlung betrifft, fo gibt ihr gleich⸗
falls ein Bierfaches ihre Beltimmtheit: „daß Ehriftus und
fein Geift der Grund und Inhalt der Gultushandlung,
daß die Gemeinde die fie übende und auch wieder der
Gegenftand, an welchem fie geübt wird, und daß der
Zweck derfelben das Erfüllen und Heiligen mit der Kraft
des Herrn if” (S. 105.). Eultushandlungen können nur
felhe Handlungen ſeyn, weldhe von der Gemeinde an
Menſchen, welche ihre Glieder find, gefchehen, mit der
beffimmten Abſicht, fie in Chriſto zu fördern (S. 107.).
‚252 Kliefoth
Das Brineip aber, nach welchem bie Gemeinde ans bem
@efammtgebiete defien, was fie zur Pflege ihrer Glieder
thut, Einzelnes ausfondert und als firirte Gemeindehand⸗
Iung in den GEultus aufnimmt, entfpringt aus der Be
trachtung der Grundverhältniffe und Hauptwendepunkte
des menfchlichen Lebens (S. 110.). Solche Hauptwendes
punkte find: 1) die Geburt, 2) der Austritt aud der
‚ Kindheit und Heimath in die Welt, 3) die Schließung
ber Ehe, 4) der Tod. Go ergeben fich die Eultushands
Inngen der Taufe, Eonfirmation, Eopulation und Beerdis
gung (S. 114.). Alle diefe Eultushandlungen find wefents
lich fombolifche Handlungen (S. 116.), deren Unanges
meflenheit und Bieldentigfeit freilich dazu treibt, an das
Zeichen und dad Symbol die Kormel zu fnüpfen (S.118.).
Wenn nun aber diefe Handlungen von der Gemeinde
ausgehen, ſo kann fie, wegen der anllebenden Sünde,
nicht ſicher feyn, ob diefelben Leiter der Kraft EChrifti
oder nidyt vielmehr Leiter der ihr (der Gemeinde) noch
anflebenden fündigen Trübungen feyn werden (S. 120.).
Darum bedarf fie auch für die Sultushandlungen des
Gorrectiveg, und biefed hat fie an den Sacramenten Der
Taufe unb des Abendpmahles (S. 123.), an welche
fie der Ergänzung wegen ihre eigenen @ultushandlungen
anlehnt (S. 124,).
Als drittes Element im Eultus erfcheint das Gebet.
Es liegt in der Natur hriftlichen Lebens, jede That zu
beginnen mit einem Gotted Gnade durch Jeſum fuchens
deu Bittgebet und fie zu fchließen mit einem Dank»
gebete (8. 134), wozu noch eine dritte Art des Gebete
tritt, das anbefehlende Gebet, welches das von Bott
im Leben Gegebene ald Gabe Gottes aufnimmt und wies
der in feine Hand zurüdlegt (S. 135.). Diefe drei Fors
men des Gebetes erfcheinen auch im Cultus, ja der Euls
tus kommt exit durch das SHinzutreten ded Gebet zu
Predigt und Handlung vollſtändig zu feiner Idee (S. 136.).
Theorie bes Gultus der evangeliſchen Kirche, 253
Es liegt aber auch in der Natur der Sache, daß es fein
Predigen und feine Eultushandlung ohne Gebet gibt.
In den Kreis des anbefehlenden Gebets if nur das
bineinzugichen, was wicht bloß das einzelne Gemeindeglied
in feinen weltlichen Sonderintereffen, fondern zugleich bie
ganze Gemeinde in ihren chriſtlich⸗ lirchlichen Beziehungen
mit ergreift a).
Aus dem Gebete, das im Eultus öffentlich und laut
wird, entwidelt fich der Gemeindegefang (S. 141.). Durch
den Bemeindegefang iſt die Poefle, durch das Singen der
Lieder, Gebete und Antiphonieen ift die Muſik dem Enl-
tus Bieuftbar geworden (5.147.), wobei der’ Berf. auf
dad firengfie gegen jeden Kunſtgenuß proteftirt. Die
drage nach dem agendariſch Beftimmten wird im Ganzen
zu Gunften des Firirten entfchieden (S. 144—147.) und
‚um Schluffe des Abſchnitts auf das Gebet des Herrn
bingewiefen, welches, wie die Schrift für die Prebigt, das
Sacrament für die Eultushandlung, fo für das Gebet ,
correctiv fey (5. 149,). Der Raum verbietet und, dem
folgenden Abfchnitt über Zeit und Ort des Cultus näher
u berühren; es fpricht ſich darin, namentlich wa® bie
Arhitettur betrifft, ein fireug proteftantifcher Geiſt
aus, „Im proteftantifchen Cultus gibt's wohl ein Predi⸗
gen von ben Dächern, aber nicht ein Prebigen durch die
Dächer.” — „Eine einzige Predigt und ein einziges Kir⸗
henlied Vol echt proteftantifcher Glaubenskraft ift ein
beſtimmteres und ausdrucksvolleres und darum and Fräfe
ı) Der Berf. fagt: „Die Gemeinde bittet und dankt (in ihrem
Fürbittengebete) zugleich auch für ſich. Sie bittet nicht blog für
die Obrigkeit, fondern auch, daß fie ſich hriftlich gegen bie Obrig⸗
Leit Halten möge; fie bittet nicht bloß, daß Gott die Kranken
erhalte, fondern daß er fie ihr erhalte; fie dankt nicht bloß für
das bem Gebosenen geſchenkte Leben, fondern audy für bas ihr
geſchenkte Glied. Und man kann es nur unrichtig nennen, wenn
felb ft agendariſche Formulare das anbefehlende Gebet zu einem
bloßen Zürgebete verengen.”
254 | aliefoth
tigeres Zeugniß von Chriſto, als ſelbſt ein cölner Dom”
(S. 159.).
Was den eben bezeichneten Abfchnitt betrifft, fo erhe⸗
ben ſich gegen verfchiedene Auffaffungen in demfelben, wie
und fcheint, nicht bedeutungsloſe Gegenreden. Zunächſt
fragen wir, ob fich zwifchen den Hauptabtheilungen, die
Kliefoth madt: „Bliederung des Eultus” und „Sons
ſtruction deſſelben“, in der That ein trennender Unterfchied
ergibt. Die Gliederung des Eultus hat ja nicht etwa nur
die zerfireuten Glieder des Gultus aufzuzeigen, fonbern
fie ift eben dadurch Sliederung, daß fie den Zufammen
bang diefer Glieder erweiſt; nach diefer Seite füllt fie
mit dem Begriffe der Conſtruction faſt zuſammen. Auch
wird nicht gezeigt, warum die Elemente des Cultus nur
Predigt, Cultushandlungen und Gebet find, ob dieß im
den inneren Grunde der bauenden Thätigleit liege, Die
den Cultus conflitmirt, oder in der firchlichen Sitte. Auch
bier erfcheint und die Furcht des Berf., den Cultas aus
dem Einen Grunde bed Gebets herzuleiten, ald die Ur⸗
fache diefes Mangels. Uud doc haben wir oben gefe
ben, daß der Verf. durch die Natur der Sache gebrängt
wird, dem Gebete eine fpecififche Bedeutung beizulegen;
er fagt es ausdrädlich, daß der Cultus erft durch Das
Hinzutreten des Gebets zu Predigt und Handlung voll:
fändig zu feiner Idee komme ©. 141. ſtoßen wir anf
den Sag: „im Gebete werben wir alle drei Formen bes
Enltus Finden; Sefammtihätigkeit der Gemeinde und bes
GBeiftlichen, Alleinthätigfeit des Geiftlichen Namens der
Gemeinde und wechfelöweife Thätigkeit des Geiftlichen und
der Gemeinde.” Alfo ſehen wir, wie auch ber Berf. die
eigenthümliche, den ganzen Cultus durdhgreifende Stel:
ling bes Gebets anerkennt, eine Stellung, die in diefer
Weite weder Predigt noch die heiligen Handlungen theis
len. Was, wenn wir nicht irren, den Verf. vorzugsweife
abgehalten haben mag, das Gebet in diefer Weife zu bes
handeln, ift, daß er feinen Grund fieht, wie bie übrigen
Theorie des Gultus der evangelifchen Kirche. 255
Theile bes Cultus aus dem Gebete hergeleitet werben
können, namentlich weift er die Herleitung der Predigt
and dem Gebete ab. In dieſem letzteren Punkte müflen
wir dem Berf. allerdings Recht geben, und erflären bie
Darstellung, die wir felbft in unferer Theorie des Eultus
(©. 353 f.) gegeben haben, für einfeitig, zu foftematifch
und ber Berichtigung bebärftig.
Des Berf. befchreibt die Predigt als vorzugsweiſe
and der Gemeinde hervorgehend; die Bemeinde predige
ſich felbfi Durd) den Mund des Geiſtlichen, wobei freilich
nicht überſehen werden dürſe, daß, indem die Gemeinde
auch die That Chriſti ſey, der predigende Geiſtliche zu⸗
gleich als Orgau Ehriſti erſcheine. Jede andere Auffaſ⸗
fung der Predigt ſieht der Verf. als eine miffionarifche
an, nicht aber als eine cultusmäßige; die Prebigt, wenn
Be nicht eine miffionarifche feyn ‚fol, hat nicht (nah ©.
82. 83.) won Ghrifto zu erzählen, fondern zu bezeugen,
was die Gemeinde au Ghrifto hat. Zur Erörterung bie
ſes Betreffs fcheinen nun vorzüglich zwei Punkte hervors
gehoben werben zu müflen, einmal die Stellung der Pres
digt zum Eultus überhaupt und fodann das Berhältniß
des Miffkonarifchen und Eultusmäßigen zur Predigt. —
Bas den erfien Punkt betrifft, fo fireitet Die Anfchauung,
weiche die Predigt aus dem Gebete herzuleiten verbietet,
richt minder gegen jene Anficht, nach welcher die Predigt
überhaupt als gleichartig in die Reihe der übrigen
Caltus elemente gefeht wird, Mit ber Prebigt verhält es
fihh auf eine eigene Weiſe. Wir fagen: aller Cultus bes
ruht duf Offenbarung. Derienige Cultus wird nun, ges
wäß dem allgemeinen Lebenögefege, nach welchem, was
den Grund als Seele und Bewußtſeyn in ſich trägt, das
Reiffte ii, der vollendetſte ſeyn, in welhem ber Grund
an zum Bewußtſeyn geworden if. Daraus fließen ihm
fortwährend Kräfte feiner Erhaltung zu; daran hat er
die ſtete Norm feiner Erfcheinuug und Bildung. Diefen
!
256 Kliefoth
zum Bewußtſeyn gewordenen Grund hat der Cultus an
feiner Predigt; die Predigt ruht auf der Offenbarung.
des Wortes, fie ift Bezeugung, Darftelung, man kann es
fagen, Fortfegung diefer Offenbarung ; fle gibt jedem Cul⸗
tus erft fein vollkommenes Recht der Eriftenz, fie ift die
göttliche Legitimation beffelben. Indem fie im Cultus
felbft erfcheint, vom Menfchenmunde mitten in der Ge
meinde audgefprochen, erkennen wir bie Herablaffung dies
fed ewigen Wortes in unfere Mitte, erfahren feine Im⸗
manenz voller Gnade und Mahrheit. Darum barf an
dem Sinne des Iuther’fhen Wortes: „kein Gottes⸗
dienft ohne Predigt,” nichtd gemäkelt ober verändert wer:
den, und wenn man in neuerer Zeit mit einer gewiflen
Berachtung anf das fletige Prebigen im proteftantifchen
Eultus hingeblickt hat, fo fol zwar nicht geleugnet wer
den, daß befonders durch die Schuld ber Perfonen die
ſes Predigen oft in ein fubjectived und fchales Gerede
ausgeartet ift, ed foll ferner eben fo wenig in Abrede ge
ftellt werden, daß nicht jeder Gotteödienft eine menſch⸗
liche Rede nöthig hat, aber darauf muß beftanden werben,
Daß es Leinen Gottesdienft ohne Wort Gottes gibt, fey
dieſes Wort Gottes entweder das einfach wiederholte,
oder durch menſchliche Rede erweiterte" und ausgelegte
Wort der Schrift. — Hiermit hängt nun die zweite Frage
nach der mifflonarifchen oder cultusmäßigen Stellung der
Predigt auf das engſte zuſammen. Seitdem bie Homis
letik mehr nach eigentlich theologifchen Principien behan⸗
beit wird, feitbem erft ift Diefe Alternative entfchiedener herr
vorgetreten. Palmer gibt der Predigt vorwiegend eine
cultusmäßige Unterlage, die neuefte Bearbeitung der Ho
miletik von Ficker eine ausſchließlich miffionarifche. Aber
es muß geſagt werden: iſt denn für die Predigt diefer
Gegenſatz wirklich ein ſo ſtarrer? Die Predigt iſt Zeug⸗
niß von Chriſti Erſcheinung, yon Ehriſti Gnade und
Kraft, von Chriſti Reich. Dieſes Zeugniß wird ausge⸗
Theorie des Gultus der evangeliihen Kirche. 257
ſprochen gegenüber der Welt, damit diefe zum Reiche
Gottes werde, in der gefammelten Gemeinde, damit diefe
immer mehr wachfe in der Erfenntniß Chriſti, in dem
Reihthume der Liebe, in der Ueberwindung der Welt.
Es find diefelden Thatfachen ber ewigen Liebe, durch
deren Verkündigung das ftarre Herz gebrochen, das ges
brochene befefligt und weiter in feiner Erbauung geführt
wird. Wir, die wir fchon in der Gemeinde ſtehen, haben
doch jeden Tag von diefen Thatfachen zu leben. Die
Miffionspredigt hat nicht weitläufige Gründe aufzuzaͤh⸗
in, wodurch der in die Sünde und ihr Elend verfunfene
Menſch zur Ueberzeugung des dhriftlichen Glanbens her»
übergeleitet werden fol, fondern fie hat das Wort der
Gündenvergebung, die Offenbarung der göttlichen Gerech⸗
tigfeit und Gnade zu verfündigen, damit dadurch neues
keben gezeugt werde, fie it Zeugniß. Die Cultus⸗
predigt verkündet auf der Borausfegung des Glaubens
die nämlihen Thatfachen; fie bringt diefelben in Vers
bindung mit unferem ganzen Lebenskreiſe; fie zeigt eines,
theild Die Tiefe der Weisheit, die in diefen Thaten Gots
tes liegt, anderntheils die Weite der Beziehung, welche
diefe Thaten mit unferem fittlichen Zuſtande in allen feis
um Verzweigungen haben. So ergibt fih denn aller
dinge auf Grund der Einheit der Gubflanz eine Ber
Ihiedenheit in der Form von Mifflonds und Eultuspres
die. Diefe Berfchiedenheit drückt fich vor Allem in der
Stellung Der Predigt aus innerhalb des Cultus felbft.
Bir Haben hierüber ein intereffantes Zeugniß von Luther.
In einer feiner Iiturgifchen Arbeiten äußert er, man
wife im Grunde die Predigt dem eigentlichen Gottes⸗
diente vorangehen laſſen. Damit if die Mifffonspredigt
gemeint. Indem nun in unferem gegenwärtigen Eultus
die Predigt in der Mitte flieht, wird bezeugt, daß fie ſich
ans Vorausſetzung bed Glaubens geftalte (wie ja auch
nach urfprünglicher Anordnung ber Predigt das Eredo vor⸗
Theol. Sud, Jahrg. 1847, 17
\
258 . Kliefoth
angeht), dauß fie dabei freilich nadı dem Bebärfniffe der
Gemeinde ihre Berfündigung auöfpreche, da fie bean bald
mehr dem miffionarifchen (erwedenden), bald mehr dem
doctrinellen (banenden) Elemente ſich zuneigt. So wie
die Offenbarung das Beten als innere Grundſtimmung
bervortreibt, fo dad Wort Gottes dad Gebet ald äußeren
Act; wie das Beten nicht bloß ein ſich Hingeben, ſondern
auch ein Aneignen, ein Nehmen ift, fo bleibt der Gottes⸗
dienſt auch micht bei dem bloßen Geben im Altardienfle
ſteheu, fondern ift weiterhin ein Nehmen, ein Aneignen,
was ich im Sacramente vollzieht; zwifchen jened Geben
und dieſes Nehmen ſtellt fich die Predigt in bie Mitte,
gibt jenem Geben das Ziel, zeigt, woher und was zu
nehmen. So werden Offenbarung und Yrömmigleit, in
deren Ineinandergreifen die Religion befteht, im Eultus
ausgedrüdt, der Gultus wird zur Darftelung der Relis
gion in ihrer concreteften und reifſten Geſtalt. Gedenken
wir hierbei des Satzes unſeres Berf., daß die Gemeinde
und ihre Gultuöthat das Werk fowohl der Gemeinde,
wie Chrifti ift, fo geftaltet fidh und diefer Satz nad uns
ferer Auffaffung noch zu einer reicheren Entwidelung,
indem wir fagen: dad Gebet, d. h. der Altarbienft, if
wefentlich That der Gemeinde, die Predigt That Ehriſti,
und im Abendmahle durchdringen fich beide Actionen,
Aber eben mit der Stellung, die ber Verf. dem
Abendmahle im Cultus gibt, können wir und nicht bes
freunden. Es tritt als eine fünfte Cultushandlung zu
den übrigen vier: Taufe, Sonfirmation, Copulation, Der
gräbniß; dieſe Ießteren haben am ihm ihr Eorrectiv,
Hierbei bleibt ed zu verwundern, daß dem Berf. bie Stel⸗
lung , in welche hierburd, die Taufe geräth, wicht aufge
fallen if. Die Tanfe it nach der Fliefotb’ichen Auf:
faffung fowohl Cultushandlung ald Sacrament; fie bat
als Sultushandlung zugleich au ſich, ald an einem Sacra⸗
mente, ihr Eorrectiv. Uns ficht noch immer bie Ueber⸗
Theorie des Eultus ber evangelifchen Kirche, 239
zeugung fe, daß ſowohl durch die geſchichtliche Ents
widelung bed Cultus, als durch feine theoretifche Ber
handlung die Aufgabe fich herausſtelle, nachzuweiſen, ins
wiefern in ber facramentalifchen Feier der Cultus
fh vollende und weiche Stellung darum dieſes Sacra«
mentalifche zum Gultus überhaupt einnehme Die Se
gengrände Kliefoth's haben ung Diefe Ueberzengung nicht zu
erfchättern vermocdht. Befonderd S. 168, ımd 169, finden
wir nämlich die Polemik gegen bie Sinfügung des Abend⸗
mahls in den Organismus des Gotteödienfies, Wenn
ed dafelbft heißt, diefe Einfügung könne nicht dadurch bes
gründet werden, daß man fage, im Wbendmahle fhefle ſich
die Idee der Gemeinfchaft am volllommenften bar, denn
nicht das Abendmahl allein, fondern jeder Aet des Ent
ms fen ſowohl ein Suchen und Werden ber Gemeinſchaft
mit dem Herrn, ald auch eine That der Gemeinde und
fomit eine Bethätigung ihrer Gemeinſchaft —ı fo ſcheint
mir doch hierüber ein faft allgemeines Einverſtaͤndniß ans
genommen werden zu können, daß bie Idee ber Gemein»
{haft in keinem anderen Acte fo fpeeififch ſich ansdrücke,
wie im Abendmahle, daß es der höchſte Ausdruck ber
prieſterlichen Gemeinſchaft fey, die vollendetſte Darſtel⸗
lung des mit feinem Haupte gliedlich vereinigten Leibes.
Darauf geht ja auch die bekannte Stelle des Korinthers
briefes. Das Abendmahl als bloße Eultushanblung in
die Reihe der Abrigen zu ftellen, wiberflreitet dem Bes
grife ſowohhl des Abendmahls, ald auch der Cultushand⸗
Iang; denn, um nur von letzterer zu ſprechen, es ſoll ja
nach der eigenen Definition des Berf. die Eultushand⸗
Ing eine That der ganzen Gemeinde an den Einzelnen
fon; aber, wenn man auch noch fagen kann, die Ger
meinde ift die prebigende, ift fie denn auch bie dad Sa⸗
crament reichende? Gefchieht dieſes nicht kraft ausdrück⸗
licher Einſetzung Chriſti? Findet nicht hier gerade die
That Chriſti an der ganzen Gemeinde, die erwidernde
17 *
260 Kliefoth
That der Gemeinde an Chriſtum flatt? Der Grund,
warum gegen den Zufammenhang bed Abenbmahles mit
dem Gottesbienfte gekümpft wird, entiteht, wie auch der
Verf. angibt, daraus, daß man fich in Beziehung auf
Taufe wie auf Abenbmahl in Berlegenheit befindet, an
weichen Ort biefe Sacramente gehören. Was nun bie
Taufe betrifft, fo if. hierbei nicht zu vergeflen, daß ja
die Eonfirmation mit der Taufe in ber engften Beziehung
fiebt und die Beziehung der Taufe zu dem Gemeinde⸗
gottesdienfte ſich in der Conſirmationshandlung darſtellt.
Bei dem Abendmahle wiederholt fich bie alte Frage, ob
daſſelbe fonntäglih, oder nur zu einer beffimmten Zeit
gefeiert werben folle. Die fonntägliche Feier iſt es ger
wöhnlich, wodurch daſſelbe mehr nur ale ein Anhang an
dem Gottesdienfte erfcheint, fo daß die Idee der Ger
wieinfchaft zurüdtitt. Darum hat [hen Höfling
in feiner „Sompofition des Gemeindegottesdienſtes“ Die
teformirte Anordnung vorgezogen, das Abendmahl zu eis
ner beftimmten, ferner auseinander liegenden Zeit, aber
dann auch als dem ganzen und eigentlichen Gemeindegot⸗
tesdienft zu feiern. Hierbei ift aber nach dem Principe
zu fragen, nach welchem jene Zeit beſtimmt wird, und
bier fcheint es uns verfehlt, wenn, wie ed gewöhnlich zu
gefchehen pflegt, ein nur äußeres, numerifches Berhälmiß,
ſtatt ein inneres, im Organismus ded Cultus liegendeg,
angenommen werben if. Sagt man nämlich, etwa alle
vier Wochen folle dad Abendmahl ald Gemeindegottess
bienft gefeiert werden, fo fragt man billig: in welchem
Berhältniffe ſteht dieſer Line, gewählte Sonntag zu den
anderen? — Es ift ber Cyklus des Kirchenjahres, Der
auch bier wieber maßgebend ift in feinem Berhältuiffe
ber Felle zu den übrigen Sonntagen. Wir fagen: die
Feſttage find auch Die Abendmahldtage, Die Bemeinbetage;
am Feſttage offenbart ſich die ganze Fülle und der In»
halt bed Gultus; hier findet: immer eine neue Darftels
Zheorie bes Gultus ber evangelifchen Kirche. 261
lung und Berlobung der Gemeinde flatt. Die übrigen
Sonntage aber ſind die weiffagenden Borboten zu dem
Felle, oder feine nachklingenden Töne; das Doctrinelle
darf, ja foll hier vor dem Lyrifchen vorwiegen, es find
die durch Erfenntniß fich vollziehenden Borbereitungen oder
die in Erfenntniß fich ausfprechenden Dankfagungen für
die Feſte. Das Abendmahl und feine Keier hängt dem⸗
nach mit der Stellung der Sonntage zu den Fefltagen zu»
fanmen, Man flieht indeifen leicht, daß andere Unterfcheis
dungen, 3. DB. die zwifchen unvollfländigem oder vollſtän⸗
digem, oder die zwifchen Prebigtgottesdienft und Abend»
mahlgottesdienft in diefer Anordnung von feldft zu ihrem
Rechte kommen. Uebrigen® hierauf möchten wir als auf
einenwefentlichen Gewinn der Fltefoth’fhen Darftellung
binmeifen, dag nämlich der Unterfchieb zwifchen Sacras
ment und Benediction entfchiedener hervortritt. Benes
diction ift That der Kirche, Sacrament That Ehrifti,
Die Fathol. Kirche macht daher nach ihrem Begriffe der
Kirhe auch Benedictionen zu Sacramenten, die proteſt.
Kirche ſtellt die Benedictionen zu fehr zurüd. —
Doch müflen wir eilen, den noch übrigen dritten Theil in
kurzen Zügen vorzuführen. Er handelt von der Sonftruction
des Sultus und zwar unter den Abfchnitten: Eultusr
acte, Cultuscyklen und Eultus ald Sache der
kandeskirche. Die Betrachtung der Eultusacte glier
dert ih in die bed Gottesdienſtes und der kirch⸗
liden Handlungen Der Berf. zieht eine Scheis
dungslinie zwifchen dem Gottesdienfte und den Firchlichen
Handlungen und erklärt fih gegen dad Streben, diefe in
den Gottesdienft hereinzuziehen. Daß er hierbei befons
derd gegen die Verbindung von Gottesdienft und Abend»
mahl polemifire, iſt fchon gefagt. Wir verweifen hierüber
auf das vorhin Befprochene. Der Gottesdienft felbft zers
fällt nach S. 173. in drei Gruppen, den Gebetsact
vor der Predigt, den Predigtact und den Gebets⸗
22. Btiefoth
act nach der Prebigt. Die brei nothwendigen Stüde
des Gebetsactes werden (&. 174.) vom Eingangs»
liede, dem Gruſſe und Gegengruffe unddem bit-
tenden Altargebete mit dem Amen ber Gemeine ges
bildet, Die drei nothwendigen Stücke des Prebigtactes
find die Predigt felbft nach ihren einzeluen Stücken
und verbunden mit dem anbefehlenden Gebete [müßte
bieß nicht eine befondere Reihe bilden, nicht zum Gebets⸗
acte nach der Predigt gehören ?] den Hauptliede vor
und dem Berfe nach der Predigt (S. 177.). [IE aber
das Umſchloſſenſeyn der Predigt durch Gefang ein bes
fonderer Act?? Der Gebetsact nady der Predigt ſcheidet
fih in dad dankende Altargebet, deu Gegen und
das Ausgangslied (5. 179) Nun folgt die Dars
ſtellung der Firdhlichen Handlungen (&,183—209.), die wir,
abgefehen, was wir von der Stellung bed Abendmahle
erinnerten, zu den ausgezeichnetftien und förberndften
Partien ded Buches zählen. Wir führen bier nur die
Bellimmungen an, die der Berf. für allen gleichmäßig
zuflommend und für fie gültig erflärt: „Bei allen iſt
ein breifaches Perfonale gegenwärtig, der Seiftliche,
welcher Namens ber Sefammtgemeinde die Haudlung vers
fieht, das oder die einzelnen Öemeindeglieder, an
welchen fie verfehen wird, und das Zeugenperfonal,
Der Ort ift entweder das chriftliche Haus, oder das Got⸗
tes haus (oder der Kirchhof): Das MWefentlihe in der
Begehung tft die fombolifche Handlung mit der fie erpri-
mirenden Formel. Um diefelbe legt ſich aber, um fle zu
einer förmlicdhen Ceremonie, zu einem Cultusacte zu mas
chen, herum erflend das Gebet, das als Bitt- und Danfs
gebet den ganzen Act eröffnet und fließt, und billig nicht
bloß ein vom Geiftlihen allein gefprochenee, fondern ein
gemeinfamer Gefang if. Das zweite, bei allen Hinzu⸗
kommende if die Rede, welche, weil fie vorbereiten ſoll,
nothwendig immer zwifchen das Eingangegebet und bie
Handlung füllt” (5.184). — Die Eultuscytlen nm:
Theorie deö Gultus der evangeliſchen Kirche. 263
fafen ben Eyklus bes Kirchenjahres, wobei der Unter⸗
fhied von Fefigetiesdienfi und Sonntagegottesdienft hers
vortritt. Ausführlich und höchſt geiftwoll wird das Kir,
denjahr entwidelt, wo nur (S. 220,) die Polemik ger
gen die Anfchauung, daß die chriftlichen Kefte eine Ana⸗
Isgie zu dem natürlichen Tahreslaufe haben, zu fcharf
Mund nicht ganz vor der gefchichtlichen Betrachtung bes
ſteht. Schön aber iſt das Wort zum Schiuffe diefes Abs
ſchnittes: Es mögen doch, ehe wir auf fie hören, bie
Erfinder des Cultus des Genius erft etwas binftellen, in
dem fo viel Genius iſt, ale in diefem Baue, den die Ge⸗
seinde Ehrifti fidy gegründet hat” (S. 231.)
Die Beziehung der Eonftruction des Eultus gu ber
Betrachtung des Cyklus des Menfcheniebene tritt nicht
scht Klar hervor, ift auch nadı der eigenen Aeußerung
des Berf. fchon bei der Darftelung der kirchlichen Hands» “
Isngen vorgefommen. Den Schluß des Werkes bildet die
Betrachtung des Eultus als Sache der Landeskirche,
wobei dad Weſen des Gemeindeverbaudes ſowohl wie
des Kirchenregimentes verhandelt wird, — Abfchnitte, die,
wenn fie vielleicht auch nicht firenge ober in folder Aus⸗
führlichkeit in die Theorie des Cultus gehören, doch ims
merhin großes Intereſſe für die unter und noch fo wenig
angebaute Theorie der Kirchenverfaffung zu erregen im
Gtande find.
Die Wege ber Betradytung von D. Lüdemann
mußten ſich der Natur ber Sache nach bald von jenen
D. Kliefoth's trennen. Der erftere verfolgt anregend
und feſſelnd feine Bahn, and der allgemeinen Borftellung
des chriſtlichen Cultus bie einzelnen Momente hervorzus
heben. Den erften Abfchnitt: der proteſt. Gultus ale
feierlich fymbolificende Darftelung der Religion, haben
wir ſchon kennen gelernt. Der zweite behandelt den pros -
tefantifchen Eultus ald gemeinfame und öffent
lide Darfkellung ber Religion. Es wird bas
Behärfuig befchrieben, ans welchem biefe Gemeinſchaft
264 Luͤdemann
ſich bildet, gezeigt, wie die Religionsgemeinſchaft zur
Religionsgefellfchaft wird, hierdurch die gemeinfame Ans
dachtsübung zur öffentlichen. Subject und Object Diefer
öffentlihen Andachtsübung ift die verfammelte Gemeinde.
Das gottesdienftliche Handeln der Gemeinde ift nun ent:
weber einfaches Zeugniß, oder Hinwendung auf ein be⸗
ſtimmtes Dbject. So ergibt ſich in Beziehung auf das
Wort ald Darftelungsmittel der Unterfchied von dem
Monvologifhen und Proslogifchen, das letztere
entweder Gebet oder Anrede. Die verfammelte Bes
meinde vollzieht ihre gottesdienftliche Handlung entweder
in der Geftalt, daß fie, was in ihr lebt, fo, wie es in
Allen lebt, zur Darſtellung bringt, oder fo, wie es in
einem Einzelnen lebt und ſich ‚geftaltet hat. Dieß gibt
»
den Gegenſatz bee Liturgiſchen und Homiletifchen (S. 3T.).
— Bir können nun unmöglich der weiteren Ausführung
in Beziehung auf Gemeindegefang und Agende hier fol⸗
gen, da ein Auszug and der Darftelung Lüdemann’e
nicht wohl möglich if. Aufgefallen ift-und nur, daß der
Berf. nicht entfchiedener an dem Statarifhen und Firirs
ten des Agenbdarifchen feftgehalten hat (S. 46. die Anm.).
Die Nothwendigkeit diefes Firirten tritt ja gerade aus
dem priefterlichen Eharakter der Gemeinde, aus dem in
allen ihren Gliedern Identiſchen entfchieden hervor. Mit
Recht aber hat der Verf. die Eriftenz der biblifchen Rec»
tionen gewahrt. Zufammengefaßt erfcheint der Inhalt
diefed Abfchnittes in den Worten: „In der Vereinigung
bes liturgiſchen und homiletifchen Elements, welche fich
im Gotteöbienfte fachgemäß nur fo geftalten fann, baß
bad Liturgifche der terminus a quo und ad quem des ho»
miletifchen bleibt und daher diefed in feine Mitte nimmt,
gewinnt das religiöfe Gemeindeleben feine fittliche Geſtalt
und fein wahres Gebeihen.” Der Schluß der Abhand⸗
lung betradjtet den Cultus ald dem Befenntniffe der
proteft. Kirche entfprechende Darftelung ber Religion,
wodurch der Cultus zu feiner Vollendung kömmt. Dog⸗
über dad Weſen des protefl. Cultus. 265
matifche Milde, ethifche Tiefe und äfthetifche Kenichheit
werden als die Brundcharaktere bed proteft. Eultus hin,
geſtellt. —
Gewiß wird es nicht entgehen, welche Förderung
durch diefe neuen Bearbeitungen für die Theorie bes Cal⸗
tus und, wir hoffen, auch für feine Prarid gewonnen ift.
Aufs Neue ift ed Mar geworden, daß der Eultus nicht ein
Aggregat einzelner Beitandtheile fey, Daß er einen Orgas
nismnd darftelle, der ebenfo aus den tiefften religiöfen
wie fittlichen Gründen herauswachſe. Aufs Neue ift das
Bedärfniß hervorgetreten, die Befete diefes Organismus
zu erforfchen, den Zufammenhang befielben zu erfennen.
Es fehlt und nichts, aber wir haben es nicht in der rech⸗
tm Ordnung, wir fennen zum Theil unfere Schäte gar
nicht, oder wir verflehen fie nicht zu behandeln. Auf dies
fer Erfenntniß, auch der protefl. Cultus bedürfe eines
aus der Ratur der Sache wie aus der Ueberlieferung
der Sitte herandsgewachfenen Organismus, er fey aber
aach fähig, einen folchen hervorzubringen, muß die Arbeit
weiter geführt werden. Sie wird fich theoretifh vor⸗
uchmlich mit der Frage nach der Stellung ded Abend»
mahld zum Gottesdienfte überhaupt, ſowie nach der noch
fo fehr vernachläffigten Theorie des kirchlichen Ufus, und
praftifch mit der reinen Herſtellung der vorhandenen Ele,
mente, namentlich des Kirchengefanges, zu befchäftigen
haben. Möchte bald die Zeit fommen, wo die Eine Kirche
des gefammten evangelifchen Deutfchlande fich Eines Lie⸗
dverfchages, Einer Agende erfreuen darf! Wir wollen
feine monotone Firirung, aber auch keine vereinzelnde
Zerfplitterung; wir haben ja genug bittere Erfahrungen
gemacht, um endlich einmal dad Geheimniß der Einheit
in der Mannichfaltigkeit, der Mannichfaltigkeit in ber Ein»
beit zu lernen und durch die That zu offenbaren!
D. Ehrenfeudter.
nn —
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Bei Friedrich Perthes in Hamburg iſt erſchienen:
Ullmann, Dr. ©., die Sündloſigkeit Jeſu. Eine apo⸗
logetiſche Betrachtung. 5. zum Theil neu bearbeitete
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Von demſelben Verfaſſer erſchienen bei mir: |
Die Reformatoren vor der Reformation, ——— in
Deutſchland und den Niederlanden. 3 Bände. gr. 8
Thlr. 5. 20 Sgr.
Hiſtoriſch oder Mythiſch? Beiträge zur Beantwortung
der gegenwärtigen Lebensfrage der en = 8.
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10 Sgr.
Ueber den. unterfcheibenden Charakter oder das Wefen
des Ehriftenchums, mit Beziehung anf neuere Auffaſ⸗
fungsweifen und einem Blick auf DEBmaraeN. gr. 8,
geb. 2 Sgr.
Sn Berbindung mit Albert Hauber: Zwei Bedenken
über die deutfch » Fatholifche Bewegung. gr.8. geh. 12 Sgr.
— — — ⸗
Bei Friedbdrich u. Andreas Perthes find erſchienen:
Wis ers, Dr. I Gefchichte der evangelifchen aMen,
sh. U. 2. (Schluß.) Thlr
L 1.1, 2. complet | Thlr. 3. 10 Ser.
Neander, Deufwärbigleiten aus der Geſchichte des
hriftlichen Lebens. gr.8. 3. Aufl. 2.Bd. Thir. 3.14 Ser.
1. uud 2 Bd. Thlr. 3. 14 Sgr.
Helffrich, Ad., Spinoza und Leibnit oder das Wefen
des Idealismus und des Realismus. gr,8. geh. 15 Gar.
An Neuigkeiten in letter Vergangenheit verſandten wir:
‚Dr. P. das Leben Johann Calvins, ein Zeng»
nig für die Wahrheit. Mit dem Bildnig Calvins. gr. 8.
geh. Cin einem Bande). Thlr. 2. 4 Sgr.
Das fehr fchöne Bildniß Johann Galvin’d apart
geben wir in 4. auf chinefifchem Papier ab für 16 Sgr.
Sillebraud, Dr. J., die deutſche Nationallitteratur
feit Leffing bis auf die Gegenwart. ——— compl.
gr. 8. geh. hir. 6. 8 Sgr.
Helffrich, Ad., die Metaphyfif als Grundwiſſenſchaft.
gr. 8. geh. Thlr. 1.
Nüdert, Dr. Emil, Troja’s Urfprung, Blüthe, Unters
gang und Wiedergeburt in Latium, gr. 8. geb.
Thlr. 1, 24 Sgr.
Glaudins, M., Werke; auch unter dem Titel: „Asmus
omnia secum sua portans,. oder fämmtliche ‘Werke des
Wandebeder Boten.” DOrig.Audg. 7. wohlfeile Aufl.
mit vielen Holzſchnitten und Kupferſtichen nah D.
Ehodowiedi. 8 Thle, 16, geh. Thlr. 2. 10 Sgr.
Die größere Ausgabe koſtet Thlr. 4. 25 Sgr.
Meier, ©. U., die Lehre von der Zrinität in ihrer
biftorifchen Entwidelung. 2 Thle. gr.8. Chlr.2.25 Sgr.
Vertbes, das deutfche Staatsleben vor der Revolution,
gr. 8. Thlr. 2.
Adermann, Dr. ©., die Glaubensfätze von Chriſti
Höflenfahrt und von der Auferfiehung des Fleiſches.
16, geb. 6 Sgr.
Schwarz, Dr. Th., der evangeliſche Geiſt im Bunde
wit der heiligen Schrift. kl. 8. geh. 15 Sgr.
Sartung, J. A., die Kehren der Alten über die Dichts
kunſt. gr. 8. geh. Thir. 1. 10 Sgr.
y
Wait, Dr. Th., Grundlegung der Pſychologie. Nebſt
einer Anwendung auf dad Seelenleben der Thiere, bes
fonderd die Inſtincterſcheinungen. gr. 8. geheftet.
Hamburg und Gotha. Fr. u, 3. Perthes. Thlr. 1.
Die Abſicht bes Verf. gebt in bem vorftehneben Buche haupt»
faͤchlich dahin, bie philofophifche Speculation ber eracten Raturfor:
ſchung fo ſehr als moͤglich anzunähern durch den Verſuch, die Pſy⸗
chologie, welche er als Grundlage aller anderen philoſophiſchen Dis⸗
ciplinen betrachtet, auf die Reſultate der neueren Phyſiologie zu
gründen. Die beigefuͤgte Abhandlung über das Seelenleben ver
Thiere fol an einem Beiſpiele die Anwendung ber im erſten Theile
entwidelten Säge zeigen. -
Als einen der wichtigsten Beiträge zum Verständ-
nisse der religiösen Fragen, welche die Gegenwart
bewegen, empfehlen wir die so eben bei uns erschienene Samm-
lung:
Religionsphilosophischer Schriften
von
Johann Gottlieb Fichte.
gr- & xeh. XXXVI. 580 Seiten. 24 Thlr.
Inhalt: Aphorismen über Religion und Deismus. — Ver-
such einer Kritik aller Offenbarung. — Ueber den Grund unseres
Glaubens an eine göttliche Weltregierung. — Appellation an das
Publicum gegen die Anklage des Atheismus. — Gerichtliche Ver-
antwortung gegen die Anklage des Atheismus. — Rückerinnerun-
gen, Antworten, Fragen (ungedruckt). — Aus einem Privatschrei-
ben. — Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Reli-
gionslehre.
Berlin, 1. Juli 1846. Velt & Comp.
Bei ©. H. Reclam sen. in Leipzig ist soeben erschienen
und durch alle Buch- und Kuasthandlungen zu beziehen:
Das wohlgetroffene Bildniss des Königl. Kirchenrathse und
ordent!. Prof. der Theologie zu Leipzig, Ritters etc.
Dr. Georg Bened. Winer.
Gemalt von &. A. Hennig. Lith. von EB, Uber.
Mit einem Facsimile. Preis 4 Thir., auf chin. Papier 4 Thlr.
Wir machen die vielen Verehrer dieses Gelehrten auf dieses
schöne Bild noch besonders aufmerksam.
Erschienen ist: ;
Thesaurus hymnologicus sive hymnorum, canticorum, se-
quentiarum circa annum MD. usitaterum collectio am-
plissima. Carmine . collegit, apparatu critico ornavit,
veterum interpretum notas selectas suasque adjecit Dr.
H. 4. Daniel. Tom. Ill. cont.
I. Delectas carminum ecclesiae graecae curaute R.
Vormbaum.
II. Carmina syriacae ecclesise curante Dr. L. Splieth.
ill. Peralipomens ad tomum primum et secundum.
8. maj. Thir. 27.
und es kostet Tom. I. Thlr. 13. Tom. I]. Thlr. 2.
Joh. Ambr. Barth in Leipzig.
— — um
Bei C.H. Reclam sen. in Leipzig ist soeben erschienen:
Biblisches
Realwörterbuch
zum Handgebrauch herausgegeben
von
Dr. Georg Bened. Winer,
Königlichem Kirchenrath, Professor, Ritter u. s. w. ‚
Dritte achr verbesserte und vermehrte Auflage.
Erster Band, 1stes Heft, die 12 ersten Bogen in gr. Lex.-8.
enthaltend.
Subseriptionspreis 1 Thir.
Diese dritte Auflage erscheint in einzelnen Lieferungen von je
12 Bogen und kann angefähr 100 bis 110 Bogen stark werden. Bis
zur Vollendung des Ganzen gilt der Subscriptionspreis. Der Laden-
preis wird bedeutend höher seyn.
Bei Eduard Weber in Bonn ift jegt vollftändig erfchienen
und durch alle Buchhandlungen zu erhalten:
Origenes.
Eine Darſtellung ſeines Lebens und ſeiner Lehre
von
Dr. © N. Nedepenning,
ordentl. Profeſſor der Theologie zu Göttingen.
In zwei Theilen. gr. 8. 4 Thlr. 20 Sgr.
Drigeneß, ber größte pfttofopsifge Kopf ber griechtſchen Kirche,
der durch feine Schriften und Lebensichidfale auf die gefammte Theo
logie der griechiſchen und felbft ber lateiniſchen Kirche Jahrhunderte
hindurch eingewirkt und ohne deſſen genauere Bekanntſchaft bie
chriſtliche Wiffenfchaft der erſten Jahrhunderte nicht zu verſtehen ift,
bat in dem vorgenannten Werke eine würbige Bearbeitung gefunden.
Mit ausgebreiteter Gelehrſamkeit, mit redlichem Fleiße und mit
einer beifpiellofen confeffionellen Unbefangenheit hat Herr Profeflor
Redepenning eine eben fo nüsliche als fchwierige Aufgabe geldſt.
Sein Werk iſt unentbehrlih für Alle, welche fi ein gründlices
Urtheil über die wiſſenſchaftlichen Zuftände der erften Jahrhunderte
der Kirche verfhaffen wollen, und Tann mit Grunde Geiftlidyen und
Sn Benben: aller Konfeffionen oder gelehrten Laien empfohlen
werben,
Sacob Böhme's ſämmtliche Werke, herausgegeben von
K. W. Schiebler. Scehfter Band, enthaltend:
Psychologia vera; Psychologise supplementum, das um:
gewandte Yuge; de incarnatione verbi; sex puncta theo-
sophica; sex puncte mystica; mysterium pansophicum;
de quatnor complexionibus; theoscopia; de testamentis
Christi; Gefpräd, einer erleuchteten und unerienchteten
Seele, theofophifhe Fragen; Tafeln von den drei
Principien göttlicher Offenbarung; Schlüffel. Mit einer
lithographirten Zafel. gr. 8. Thlr. 3. 6 Sor.
ift erfchienen und der 7. Banb, ber bas Ganze beichließt, unter der
2 e
Die früher herausgekommenen Bände Eoflen: _
1. Band: ber Weg zu Chrifto, 3 Ihlr, 2, Band: Auzora,
Thlr. 14. 3. Band: die drei Principien göttlidhen We
fen, Ipie. 13. 4. Band: vom dreifachen Leben des Menfchen;
von der Geburt und Bezeichnung aller Weſen; von der Gnaben:
wahl, hir. 23. 5. Band: Mysterium magnum, ober Erklaͤrung über
das erſte Buch Mofes, hir. 84.
Joh. Ambr, Barth in Leipzig.
Sn der Palm' ſchen Verlagsbuchhandlung in Erlangen if fo
eben erfchienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
Söfling, Dr. Joh. W. Fr., das Sakrament der
Taufe, nebft den anderen damit zufammen
hängenden Akten der Suitiation. Dogmatifc,
hiſtoriſch, liturgiſch dargeftell. 1. Lief. gr. 8. geb.
Thir. 1. 5 Sgr. oder fl. 2.
Die 2te Lieferung erſcheint zur Michaelis « Meffe.
Bei 6. F. Winter, alabemifdie Berfangspendiung in Heidel⸗
berg, erfcheint:
Schrbuch
Erziehung und des Unterrichts.
Handbuch für Eltern, 2 "Behter und Geiftliche
Dr. W. 3, s. Curtman,
Director bes Schullehrers@&eminars zu Friedberg.
Zünfte Auflage des Schwarz Eurtman’fchen Werte,
Preis, — a 8 heilen, geb ne 2, 12 Sgr. —
a: tr, rhein. — fl. 8. r. E.⸗M.
Das Ga Be {in 6 ——— en — je zwei einen
Band bilden) et der — — iſt für jede Lieferung 12 Sgr.,
42 fr. rbein., ober 35
Es find 2 Lieferungen bereits erſchienen, mithin dee etfle Band
volftändig, und wird der Schluß des Buches bis Ende bes Jahres
1846 in den Händen der Oubfceribenten feyn.
Eines ber trefflichſten Bücher in unferer Literatur. Gefunde
Infihten, klare, * Manne von Bildung verſtaͤndliche Darſtellung,
große Vollſtaͤndigkeit; ſehr ſchoͤn gedruckt und außergewoͤhnlich wohl.
feil; unſere Leſer werden es uns Dank wiſſen, fie darauf aufmerk⸗
ſam gemacht zu haben.
— — — —
Ki Bei Bandenhoeck und Ruprecht in Böttingen find erw
enen:
Vodemann, F. W., Sammlung liturg. Formulare aus
aͤltern und — Agenden. J. Abtheil. liturg. —
lungen. gr. 8. hlr. 1
= — — 2. Abtheil. Gebete, Antiphonien Col
lecten. gr, 8 Thlr.
—— Vegrabnigduchlein (beſonderer Abdrud and —
ſtehendem). 5 Sgr.
— — auderlefene bibl. Erzählungen and dem el und
neuen Teftamente. 3. Aufl. gr. 12. 5 Ser.
Partiepreis für 24 Eremplare Thir. 3
— — diefelben mit Lehren. gr. 8. 10 Sgr.
Partiepreis für 24 Eremplare Thlr. 6.
Meyer, H. A. W., Kommentar über des neue Teata-
ment. 1. Abthl. 2. Heft. Markus und Lukas. Zweite
umgearb. Aufl. gr. 8. Thir. 1. 10 Sgr.
Petri Siculä historia Manichaeorum seu Paulicianorum,
ed. J. C. E. Gieseler. 4 maj. 23, Sgr.
In der Verlagsbuchhandlung von SG. W. Lesle in Darmfladt
it erfchienen:
Jahrbücher
speculative Philosophie
und die
philosophische Bearbeitung der empirischen
Wissenschaften.
Herausgegeben
v
Dr. Ludwig Noack.
Erster Jahrgang.
Erstes Heft.
Preis für den ganzen Jahrgang 6 Thir. pr. C. oder fl. 10.
Die „Jahrbücher für fpeculative Philofophie‘, deren
erftes Heft wir dem Yublitum übgrgeben, haben ſich einerfeits bie
ſyſtematiſche Bearbeitung der philofophifcdhen Disciplinen, im firengen
Sinne bes Wortes, andererfeits die philofophifche Durchdringung ber
emypiriſchen Wiſſenſchaften zum Biel geſeßt. Zugleich werben die
Jahrbuͤcher den welentlichen Intereffen der Gegenwart und dem durch
die Wiffenfhaft organifch umaugeflaltenden Leben ihre Aufmerkſam⸗
keit zuwenden, um fo zur wechlelfeitigen Verfländigung und theil-
weifen Berfühnung ber verfcyiebenen philoſophiſchen Standpunkte und
Richtungen in der Gegenwart und zur geiftigen Durchdringung ber
gegebenen Wirklichkeit, durch ein kraͤftiges Zuſammenwirken der
jugendfrifyen und jugenbflarten philoſophiſchen Kräfte aus allen Ges
genden unfres Vaterlandes, beizutragen. Zür biefen Zweck haben
dem Unternehmen bis jest bereits etliche und fiebenzig Mitarbeiter
ihre thätige Theilnahme zugefagt und Anbere ihre künftige Betheilis
gung in Ausfidht geftellt.
Das erfte VierteljahrsHeft, weldhem die übrigen no im Laufe
des Jahres 1846 nachfolgen werben, enthält außer Dem einleitenben
Programm des Herausgebers: I. Abhandlungen: 1) Noad,
die Idee der fpeculativen Religionswiſſenſchaft. 2) Neiff, über
das Princip der Philofophie und die Idee des Syſtems der Willens
beſtimmungen; 3) Sarriere, Macchiavelli; 4) Oppenheim, über
das Welen des Staatsgefehes und die Schranken ber Gefeßgebung ;
5) Boigtländer, philofophiſche Betrachtungen. II. Krititen:
1) Bimmermann, Ghaleipeare’s Macbeth, von Hiede; 2) Adler,
Michelet's Entwidelungsgefchichte der neueren Philoſophie; 3) Road,
zur Kritit von Wirth's Analyfe bes religiöfen Grunbgefühls, 4)
Micyelet, Georges Metaphyſik; 5) Foͤrſter, Miscelle über beutfche
Philoſophie in England, — Nachtrag zum einleitenden Vorworte
des Herausgebers. |
ee r\ — —
went N Le MM
Be Joh. Auibr. Barth in Leipzig find erſchienen:
Novum Testamentum coptice edidit Dr. M.
@.Schwarize. Parsl. Quatuor Evangelia continens Vol. 1.
unter dem Zitel:
Quatuor Evangelia in dialecto linguae copticae Mem-
phitica perscripta ad Codd. Me. copticorum in regia
bibliotheca Berolinensi adservatorum nee non libria Wil-
kinsio emissi fidem edidit, emendavit, adnotationibus
eriticis et grammaticie, variantibus lectionibus expositis
ugue textu coptico cum graeco comparato instruxit Dr.
. @. Schwartze. Partis I. Vol. I. Evangelia Mat-
ihaei et Marci continens. 4 maj. Thir. 3.
Schott, Dr. H. A., die Theorie der Berodsamkeit
mit besonderer Anwendung auf die geistliche Beredsam-
keit in ihrem ganzen Umfange dargestellt. Zweite nach
dem Tode des Verf. besorgte und verbesserte Auflage.
Dritten Theiles erste Abtheilung.
‚ Auch unter bem Zitel:
die Theorie der rednerischen Anordnung mit besonderer
Hinsicht auf geistliche Reden dargestellt und an Beispie-
len erläutert. gr. 8. Thlr. 12.
Bon diefem mit vollem Nechte fo hoch geſchaͤgten Werke enthält:
Band 1. die philosophische und religiüse Begründung der
Rhetorik und Homiletik. 2. verbesserte A gr. 8.
| r. 2.
Band 2. die Theorie der rednerischen Erfindung , mit
besonderer Hinsicht auf geistliche Reden dargestellt
und an Beispielen erläutert. 2. verbesserte Auflage.
er. 8. Thilr. 24.
and wird deſſelben Berfaflers ;
kurzer Entwurf einer Theorie der Beredsamkeit mit beson-
derer Anwendung auf die geistliche Beredsamkeit. Zum
Gebrauche für Vorlesungen. Zweite verb. und verm.
Auflage. gr. 8. Thlr..1.
hierdurch wieberholt angelegentlich empfohlen.
— —
Bei Joh. Aug. Meißner in Hamburg iſt ſo eben erſchienen
und durch alle Buchbandfungen zu beziehen:
Nedslob, Dr. 8. G. M., Prof. ıc., Die altteſtament⸗
lichen Ramen der — —— des wirklichen und ideas
len Jsraelitenſtaats etymologifch betrachtet. gr. 8. de
Hamburg, im Anguſt 1846, 20 gGr. oder 25 Sgr.
Theol. Sud, Jahrg. 1847, 18
Aus dem Verlage von Herold u. Wahlſtab in Lüneburg if
durch alle Buchhandlungen zu beziehen: :
Das
Predigtamt im Urchriitenthum.
Die Entwidelung bed Predigtamtes zur Zeit ber
Apoftel und apofloliichen Schäler, mit Rüdficht auf
dDeffen Beränderungen und weitere. Ausbils
dung, bargeftellt von Eduard Leopold, Paftor prim.,
Probſt und Snperintendent. 24 Bog. gr. 8. geh. Preis
Thlr. 15 = fl. 2. 42 Pr. rhein.
An der Brodtmmaunn'ſchen Buchhandlung in Schaffhauſen find
erſchienen und in allen Buchhandlungen der Schweiz zu haben:
Predigten über freie Texte.
s V
| Johann Seinrich Seer,
weilandb erftem Pfarrer in Glarus.
Erfter Band, 2te Auflage, fl. 1. 30 fr. — Zweiter Band
ri 1. 30 Ir.
Die literarifchen Blätter für Homiletit und Afcetil, Mai 1845,
Seite 14., fagen über diefe Predigten Folgendes:
„Es erregt ſchon ein günftiges Borurtheil, wenn, bei ben vor:
waltenden materiellen Intereſſen ber jegigen Zeit, ascetiſche Betrady:
tungen eine 2te Auflage erleben. Zum erftenmal erfthienen vorlies
gende Predigten vor 14 Jahren, und ber Verfaſſer beftimmte feine
Vorträge zunächft ber Mehrzahl feiner Gemeindeglieder, weldyen er
ein fchriftliches Andenken gewähren wollte, da er, burdy anhaltende
Körperleiden verhindert, fein Seelſorgeramt nieberlegte und nicht
öffentlich wirken konnte.
Herr Heer hat nun durch die hier anzuzeigenden Kanzelvor⸗
träge ſich ſelbſt ein würbiges und ſchoͤnes Denkmal geſetzt. Seine
Arbeiten verrathen ebenſo viel Bibel⸗ als Menſchenkenntniß, ebenſo
viel Freimuth im Verhaͤltniß zur herrſchenden religiöfen Lauheit, als
Geſchicklichkeit, diefelbe mit rechten Waffen anzugreifen, ebenfo viel
Schmud der Sprache, als Popularität und Faßlichkeit. Auch die
formelle Darftellung ift größtentheils den homiletifchen Anforderungen
entfprecdyend ; nur bei einigen Dispofitionen ift bie Ankündigung ber
Theile zu breit und unbeflimmt. Zu ben gelungenften Reben gebört
die fünfte, oder die Predigt am hoben ober grünen Donnerſtage über
Matth. 37, 50-54, welche das Thema behandelt: „Die Kraft des
Zobes Jeſu“, und dieſe 1) als eine überzeugende, 2) als eine ver:
föhnende, 3) als eine beflernde, 4) als eine Leben und Geligkeit wir:
Tende, darftellt. Dahin rechnet Referent ferner die achte Predigt
über Joh. 1, 52,, mit bem Hauptfage: „Der Chrift fleht mit dem
Himmel fchon auf Erben in fteter und naher Berbinbung;” benn 1)
feiner Erkenntniß und feinem Glauben ift der Himmel enthullet, 2)
in fein der Liebe geweihtes Herz ſenkt er fi mit Kraft und Frieden
berab, 3) an jebem Drte, in jedem Augenblide ſteht er froh harrend
an feinen Pforten. Die temporelle — im Sten Theile war
unnöthig, weil fie fchon im Thema angedeutet iſt, und weil auch bie
übrigen angegebenen Punkte als immer fortgehend gedacht werben
müflen. Noch erwähnt Referent bie eilfte Prebigt, welche nach Pf,
8, 4—7. ben as aufftellt: „Die rechte Betrachtung der Ratur ers
bebt uns, indem fie uns dbemüthigt. Die Ratur bewirkt dieß 1) durch
die Unermeßlichkeit, die in ihren Erſcheinungen, 2) durch die Gewalt,
de in ihren Kräften, 3) burdy bie unmanbdelbare Harmonie, bie in
isren Wirkungen fidy verkündiget und darftellt.” Diefe Rebe gefiel
Referent in Anlage und Ausführung am meiften. Manches Andere,
was noch gerügt werben könnte, übergeht Referent, da er mit Manen
nit gern rechtet.
Im Ganzen enthält der vorliegende 1ſte Band 19 Reden, welde
alle in ihrem Gehalte anfprechen , fo daB auch biefe 2te Auflage man»
dem Semüthe zur Erhebung dienen wird,
Die typographiſche Ausſtattung iſt fchön. —
r. .o.,..% .
Quellenwerk ded Proteſtantismus.
Das Weſen des Proteſtantismus
dargeſtellt von
Daniel Schenkel,
Stadtpfarrer am Münfter, Lic. theol.
In drei Bänden.
Erfter Band, 1—3. Buch, Die theologifchen Fragen.
Dreis fl. 4. 40 Ir. oder Thlr. 2. 18 Nor.
Seit dem Erſcheinen von Plan!’ 8 Geſchichte bes proteftantifchen
dehrbegriffs hat Niemand den Verſuch gewagt, eine ähnliche umfaflenbe
auf Quelleuftudten gegründete Arbeit zu liefern. Der Herr Vers
faffer obigen Werkes barf daher ficher auf die Theilnahme und das
Stadium ſowohl der Gelehrten als der Gebildeten beider Gonfeffionen
rechnen, in fofern feine Arbeit einzig im ihrer Art dafteht, und
ein ähnlicher, zumal fo umfaflender Verſuch einer Gelbftkritit deö
Preteftentismus aus feinen Quellenfchriften noc gar nie gemacht
Serden ift; ja er Tann auch aus dem Grunde auf das ungetheilte
Intereffe des theologifchen Publikums zählen, weiler nicht vermeis
nend (negativ), fonbern im ſchoͤnſten Sinne bes Wortes bejahend
(pofitio) wirken will.
Durch die Ausdehnung bes Werkes bei dem maffenhaft zu über:
windenden Stoffe wirh baflelbe ein Mepertorium für die mans
uichfachen orthodsgen and häretifchen Geiftesrichtungen
m 3 r der Heformation, woburdy es einen bleibenden
Berth ſelbſt für die erhält, weiche mit den Refultaten bes ‚Herrn Vers
faffers ſich nicht einverflanden erklären koͤnnen.
Der erſte Baud behandelt bie weſentlich theologifchen m
des Proteftantismus: 1) von ber Kutorität der Schrift oder des goͤtt⸗
lichen Wortes; 2) von dee Perfon und dem Werke Ehrifli ; 3) von ben
Sakramenten.
Der apa: Band umfaßt die anthropologiſchen Fragen, alle:
von der Suͤnde, vom Slauben, von den guten Werten, und zwar eben:
falls in kritiſch⸗ hiſtoriſcher Entwidlung aus den Quellenſchriften des
Proteftantismus.
Der dritte Band wird ſich mit ben theanthropologifchen, d. h.
mit den fpeziell firchlichen Bragen : von dem allgemeinen Prieſterthum,
ber Kirchenverfaſſung und dem Cultus, befaffen.
Geographifch = hiftorifche
Kirchen⸗Statiſtik
der
katholiſchen Schweiz,
von
einem katholiſchen Geiſtlichen.
Preis fi. 3.
Jedem Staatsmanne, jedem Geiſtlichen, fo wie jedem Freund
der Geſchichte und Statiftil follte obiges Werl, das eine Frucht lang»
jähriger Gtubien und ber —— Prüfung iſt, unter jetzigen
Zeitumſtaͤnden von hoͤchſtem Intereſſe ſeyn. Bis ſegt exiſtirt noch Fein
Wert, das mit gleicher Genauigkeit und in gleicher Ausdehnung bie
tichlichen Verhältniffe dee Schweiz darftellte. Als ein Werk, das bie
äußern Rerbältnifle ber (hweigerifigen atbolifchen Kirche in Zahlen
und flatiftifchen Angaben barfiellt, darf es mit Recht auf ben Beifall
beider Konfeifionen zählen.
Iohann Paul’s ſevana
&rzieblebre.
Eine Zufammenftelung der fchönften und wichtigen
Stellen.
Zweite vermehrte Auflage. Preis 18 Er.
Drudfebhler
&. 192, 3.70, u. I. Una Te.
©. 192, 3.8 v. u. I. rim ram main m.
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für F
das geſammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit |
D. Giefeler, D. Lüde und D. Nitzſch,
herausgegeben
von
D. €. ullmann und D. F. W. €. Umbreit,
Profefforen an ber Univerfität zu Heidelberg.
— — — — —— ——
Jahrgang 1847 zweites Heft.
ö— — — — —
Hamburg,
bei Friedrich Perthen.
18 471.
Abhandlungen
Theol, Stud, Jahrg. 1847. 19
1.
Amalrich von Bena und David von Dinant.
Ein in zur Gefchichte der mittelalterlichen Philofophie
und Theologie.
Bon
D. 3. 9. Krönlein,
HPrivatdocenten an der Univerfität Gießen.
J. Anfange des dreizehnten Jahrhunderts, als bereits
die verſchiedenen gnoſtiſch manichäifchen und rationaliſtiſch
reformatoriſchen Secten jenes Zeitalters eine weite Ver⸗
breitung über faſt die ganze chriſtliche Welt gewonnen
hatten, wurde zu Paris unter dem Vorſitze des Erzbiſchofs
von Sens ein ſcharfes Gericht Aber eine Ketzerſchule ge⸗
halten, welche die Anregungen zu den ſchweren Verirrun⸗
gen in Lehre und Leben, deren fie befchuldigt wurde, Durch
Amalrich von Bena erhalten haben follte. Das tragifche
Geſchick der Unglädlichen, ihr näherer oder fernerer Zus
fammenhang mit den religiöfen und Firchlichen Bewegun⸗
gen der Zeit, ihr Verhältniß zu den Bemühungen ber
damals zur höchſten Blüthe aufftrebenden mittelalterlichen
Philofophie ‚ die gleichzeitigen Maßregeln gegen Jedes,
19*
272 Kroͤnlein
was moͤglicherweiſe zu ähnlichen Häreflen führen könnte:
Alles dieß hat das Intereſſe der Kirchengefchichtfchreiber
wie der Gefchichtfchreiber der Philofophie feit lange in
dem Grade erregt, daß daraus eine reiche Litteratur über
unfern Gegenftand erwachfen ift, deren innerer Gehalt
freilich mit ihrer Weitläufigteit nicht in geradem Berhält
niffe ſteht. — Zunäaͤchſt find hier Eornerng =) und bie
magdeburger Senturiatoren b) zu nennen, welde
die häretifchen Säge aus den Chroniken und fcholaftifchen
Werken bed Mittelalters zuſammenſtellten, fich aber we
niger auf David von Dinant — welcher von den fpätern
Hiftorifern faft durchgehende mit Amalrich und den Amal⸗
ricanern iu die innigfte Verbindung gebracht wird —, ale
auf die legteren einließen. So lüdenhaft auch diefe Samm⸗
Iungen find, die fich bei dem geringen Umfange der vor:
handenen Materialien unſchwer hätten vervollfländigen
laffen, und fo fehr fie aud der Kritik ermangeln, deren
es um fo mehr beburft hätte, als auch bie Quellen fehr
im Argen liegen, fo find doch die meiften fpätern Darſtel⸗
ler, unter denen befondere Jak. Thomafius c), Bud»
deus d), Bruder eo), Eramer f), Tiedemannes),
Tennemann hy) ımb die Verfaffer der franzöſiſchen
Litteraturgefchicdte i) namhaft gemacht werden moͤ⸗
gen, im Ganzen nicht viel weiter gekommen. Zwar be
—
a) Chronic. Corner. ia Eccard. corp. hist. med. aer. Lips. 1598.
I. 840. et 848.
b) Centur. Magd. cent. XIII. cap. 5. p. 558 segg. Bas. 1574.
c) Orig. hist. phil. u. A.
d) Analect. hist. phil. cap. 10. et 11. Aal. 1706.
e) Hist. crit. phil. III. p. 688 seqg. Lips. 1748.
f) Fortſetzung von Boſſuet's Ginleitung in die Geſch. d. Welt, VII.
@. 10% — 110, Leipz. 1786.
8) Geiſt der ſpecul. Philoſ. IV. S. 327 — 330. Marb. 1795.
bh) Geſchichte der Philoſ. VIII. Abth. I. ©, 821 ff.
7) Histoire lit. de France, XVT. p. 686 — 591.
Amalrich v. Bena u, David v. Dinant, 273 |
mähten fie fich theilweife, der Sache baburch eine höhere
Bedeutung abzugewinnen, daß fie diefelbe alö eine ber
auffallendften Erfcheinungen jener an zeligiösd kirchlichen
Geſtaltungen fo reichen Beit, ober ald einen ganz eigens
thümlichen Sproß_ der mittelalterlihen Philofophie, oder
gar der philofophifchen Idee überhaupt aufzufaflen ſtreb⸗
ten; doch konnten derartige Deutungen natürlich nur fchief
und ungenügend ausfallen, fo lange die elementare Ars
beit nicht gründlicher vorgenommen war, Dazu bat im
neuerer Zeit Engelhardt a) infofern eine Art Aufang
gemacht, als er wenigſtens Die Quellen befler, wenn gleich
immer noch nicht vollfiändig genug, audgefchrieben, ohne
jedech David von Dinant zu berüdfichtigen.
Ss etwa war der Stand der Sadıe, ald ich vor
mehreren Sahren den Begeuftand aufgriff und ihn auf
dem Grunde der erforderlichen Quellenftudien in einer las
teinifch gefchriebenen Abhandlung b) einer weiteren Bears
beitung unterwarf. Da fie als afademifche Gelegenheits-
Ihrift eine faft nur Iocale Verbreitung fand, fo würde dieß
ſchon die gegenwärtige Wiederaufnahme defjelben rechtfertis
gen, wenn nicht Überdieß noch zwei ſeitdem neu erjchienene
Darkelungen mich im Beſondern dazu veranläßten, —
die von H. Ritter nämlich in dem fiebenten Theile feis
er Befchichte der Dhilofophie c) und von @.U. Hahn
in der vorliegenden Zeitfchrift 3. Der erftere hat unver»
kennbar fchärfer gefehen, als die meiften feiner Vorgän⸗
ger, ohne jedoch überall die wöthige kritiſche Sorgfalt
anzuwenden, abgefehen davon, daß auch er feine neuen
—
ı) Engelhardt, kirchengeſchichtl. Abhandlungen. Erlang. 1882. ©.
253 — 262.
b) De genaina Amalrici a Bena eiusque sectatorum ac Davidis de
Dinanto doctrina. Giss. 1842,
c) Dder Geſch. ber Hriftl, Philof, III. &. 625 ff.
d) Zheolog. Studien und Keititen, Jahrg. 1846. I. Bd. I. Heft.
274 Krönlein
Materialien beigebracht und fich ohnehin nur in Kürze
über unfere Aufgabe verbreitet hat. Bei Hahn, welder
fi, übrigens bloß auf Amalrich und feine Schule einließ,
finden wir, troß einem anzuerfennenden Gtreben nad)
Gründlichkeit, die beregten Mängel in noch höherem Grade.
Indem ich deßhalb meine vorfiehend erwähnte Abhandlung
in den nachfolgenden Blättern ihrem wefentlichen Inhalte
nach wiebergebe, mögen nur diejenigen Modiftcationen
in Auffaffung und Behandlung eintreten, die mir in Folge
der neueften Darftellungen, wie einer nochmaligen Durchar⸗
beitung des Stoffed nothwendig geworden zu ſeyn fchienen.—
Die nachftehenden Ausführungen fondern fich in drei
Abfchnitte, fo zwar, daß zunächſt von den gefchichtlichen
Verhaͤltniſſen der bezüglichen häretifchen Erfcheinung und
dann von den in ihr gehegten Lehrmeinungen bie Rede
feyn wird, woran fich endlich einige allgemeinere hiftorifche
und Pritifche Betrachtungen zur Würdigung des Ganzen
anreihen.
Aus dem Leben Amalrich’s a) wiffen wir nur fehr
wenig. Rad; einer Angabe des Rigordus wurde er zu
Bena in der Diöcefe Chartres geboren und Iebte ge
gen Ende des zwölften und im Anfange bed dreizehnten
Jahrhunderts zu Paris, wo er, eingetreten in den geiſt⸗
lichen Stand, Vorlefungen über Logik und andere Bil:
fenfchaften der mittelalterlichen Schulbildung an der Uni
a) Die Zeitgenoffen und fpäteren GSchriftftellee nennen ihn Amel-
ricus, Almaricus, Elmericus (Elmenicus), Amauricus und Amor-
ricus. Da er jebod in dem parifer Synodalbeſchluſſe Amanricos
und von den Franzoſen Amaury genannt wirb, fo heißt er ohne
Zweifel Amalricus. Daß er ein Maure geweien und Ghrift ge
worben fey, oder wenigftens aus einem maurifchen Geſchlecht
abftamme, wie Grevier (hist. de !’ univers. de Par. p. 309.)
meint, entbehrt aller hiſtoriſchen Beglaubigung.
Amalrich v. Bena u. David v. Dinant. 275
verität hielt. In der Kolge ganz zur Theologie überges
gangen, erregte er durch feine audgebreitete Gelehrſam⸗
feit und die Schärfe feiner Dialektit Auffehen a) und ers
warb fich fogar die Gunſt des Kronprinzen Ludwig b).
Bie viel Schlimmes ihm auch von fpätern Schriftfiellern
uachgefagt worden ift, fo Tiegt doch feine Thatfache vor,
die feinen Charakter in einem nachtheiligen Lichte zeigte,
Auch feine Rechtgläubigkeit fcheint erft Furz vor feinem:
Tode in Frage gefommen zu feyn, ald er nämlich mit
der Univerfltät über feine Behauptung, Jeder müßte
glauben, er fey ein Glied Chriftt, in Streit ges
rieth, welcher dahin führte, daß er fich perfünlich an den
Papft wenden mußte. Innocenz Il. entfchied gegen
ihn, und darauf hin wurde er, nach Paris zurüdgelehrt,
von der Univerfität zum Widerrufe feiner Meinung gend,
thigt. Er verftand fid; dazu, jedoch nicht aus Ueberzeus
gung, und verfiel, wie man fagt, aus Scham und Ber
druß, in eine fchwere Krankheit, an der er ſtarb. Aus⸗
geföhnt mit der Kirche, erhielt er ein ehrliches Grab in
der Nähe ded Kloſters zum heil. Martin des champs c).
a) Fuit eo tempore Almaricus Curnotensis philosophis et catholi-
cis quaestionibus singularis. Frasquet. chronograph. ap. Bul.
hist. univ. Paris. tom. III. p-674. Paris. 1665. — Eodem anno
— — — Almaricus Carnotensis litteris apprime eruditas cum
apad Parisios non parvam doctrinae opinionem obtineret, cett.
— Rob. Gagain. rerum Gallicarum aunal. Francof. ad M.p.100.
b) Item sciendum, quod iste magister Amalricus fuit cum Domino
Ludovico, primogenito Regis Francorum, quia credebatur vir
esse bonae conversationis et opinionisillaesae. — Chronic. Ano-
nymi Laadan. Canon. bei Bouquet (Recueil des historiens des
Gaules et de la France. Par. 1818). &, Hahn a. a. O. ©. 185.
ce) Fuit in eadem sacra facultate studens quidam clericus Amal-
ricus nomine de territorio Carnotensi, villa, quae Bena dicitar,
oriundas, qui, cum in arte logica peritus esset et scholas de
arte illa et de aliis artibus liberalibus diu rexisset, transtulit
se ad sacram paginam excolendam; semper tamen suum per
se modumdocendi et discendi habnit et opinionem privatam et
276 Aroͤnlein
Da das päpftliche Urtheil nach Hurter im Jahre 1204
erfolgte, fo dürfte fein Tod in baffelbe oder in das fols
gende Jahr zu feßen ſeyn. — Er feheint nichts gefchries
ben zu haben; wenigftens läßt ſich mit Sicherheit Feine
Schrift namhaft machen, die er verfaßt hätte a).
Zweifels ohne ftammte die Secte der Amalricaner
von unferm Amalrich ab, wie auch immerhin das Ber
bältnig geweſen feyn mag, in weldgem fie zu ihm fland.
Schon die gefchichtlidhen Umftände würben diefe Behaup⸗
tung rechtfertigen, wenn fie von den Berichterſtattern auch
nicht ausdrüdlich ausgeſprochen worden wäre b). Sie vers
iadieium quasi sectum et ab aliis separatum. Unde et in ipsa
theulogia ausus est constanter asseverare, quod quilibet Chri-
stianus teneatur credere, se esse membrum Christi cett. — —
Cum igitur in hoc ei ab ommnibus oatholicis universaliter con-
tradiceretur, de necessitate accessit ad summam pontihicem,
qui, audita eius propositione et ‚universitatis scholarium con-
tradictione, sententiavit contra ipsum. Rediit ergo Parisios et
‚ compellitur ab universitate confiteri ore, quod in contrariam
praodictae opinioni suae sentiret; ore dico, quia corde nun-
quam dissensit. Taedio ergo et indignatione affectus, ut dici-
tur, aegrotavit, et lecto incambens decessit in brevi et sepul-
tus est iuxta monasterium $. Martini de Campis. Rigord. bei
F. Duchesn. hist. Francorum scriptor. V. p. 50.
a) Slaubwürdige Berichte erwähnen nirgends eine amalridy’fde
Schrift, eben fo wenig das fogleidy anzuführende Decret ber
parifer Provincialſynode, in welchem body andere mit ber Hi
xefie in Beziehung gefegte Schriften namhaft gemacht und ver
dammt werden. Nur Martinus Polonus und andere [p%
tere Chroniften fchreiben Amalrich ein Bud unter dem Zitel
„Pifion” zu. Wenn nun Engelhardt und nad ihm H. Ritter
vermuthen,, daß diefes Buch kein anderes, als bas bes Job.
Scotus Erigenazagl Yucsag (periphyseos ober periphyseon,
i. e. de divisione naturae) fey, fo habe ich nur zu fagen, daß
hierüber gar kein Zweifel obwalten kann, und daß offenbar bie
Vermiſchung beflen, was Amalrich und was Scotus Grigena an⸗
geht, ſich ſogar bis auf biefen Buchtitel erftredt.
b) Magister Almenicus, qui praeglictae pravitatis Magister erat —
Amaltih v. Bena u. David v. Dinant. 277
breitete fi; im kurzer Zeit über einige Diöcefen, zählte
mehrere Beifkliche und Mönche in ihren Reihen und fand
auch bei Frauen Auklang. Wie viel Wahrheit den ſchwe⸗
ren Anfchuldigungen , bie gegen das Leben umd die fitt-
lichen Grundſätze der Häretifer von Beiten der Ehroni-
Ren vorgebracht werden 3), zu Grunde Iiege, if nicht
auszumachen; doch möchten vielleicht einzelne unter ihnen
allerdings won Fanatismus und WANRTHTAUME Ertravaganz
nicht frei zu fprechen ſeyn.
Die Secte blühte mehrere Jahre im PEN die
fie, durch die Unklugheit eines ihrer Mitglieder entdeckt,
vor Bericht gezogen und graufam unterdrädt wurde. &äs
far von Heiſterbach, welcher in feinen miraculofen
Geſchichten, die er wenige Jahre nach dem Ereigniffe fchrieb,
hierüber umfländlich berichtet, erzählt, daß einft der Amal⸗
ricaner Wilhelm der Goldſchmidt zu Raoulvon
Nemours gefommen fey, fich für einen Bottgefandten
ausgegeben und ihm folgende Sätze vorgelegt habe: „ber
Bater hat unter gewiffen Kornen gewirkt, nämlich unter
denen des Geſetzes; ebenfo der Sohn unter gewiflen For,
men, 3. B. in dem Bacramente des Altars, der Taufe,
— Caesar. Heisterbac. hist. mem. Lib. V. cap. 22. s. f. Colon.
1591. — Praedictum autem haeresisrcham Amalricnm, quia
plane constitit sectam illam ab eo originem habuisse — —
Rigord. l. Ce
a) Post mortem eius (Amalrici) surrexerunt quidam venenosa eius
doctrina infecti, qui eo sabtilius plus quam oportet sapere sa-
pientes, ad exsufflandum Christum et ad evacuandum N. T.
sacramenta, novos et inauditos errores et inventiones diaboli-
cas confinxerunt. — — — Unde et stupra et adalteria et alias
corporis volaptates in charitatis nomine committebent. Mulie-
ribus, cum quibus peccabant, et simplicibus, quos decipiebant,
impnnitatem peccati promittentes, Dominum tantammodo bof
Burn et non instum praedicantes, Rigord. l. c. — — Unde et
fornificationem et alia nefanda occulte sub charitatis specie
deceptis simplicibus committebant. Frasquet. ap. Bul. 1. c.
278 Krönlein
und andern, Wie die Gefebesformen mit der Erfcheinung
Ehrifti gefhwunden find, fo werden jett auch die For
men fdywinden, in weichen der Sohn gewirkt hat, und bie
Sacramente werden wegfallen, da fich nunmehr der heil.
Geiſt deutlich denen offenbaren wird, in welchen er fid in»
carnirt. Vorzugsweiſe wird er ſich Durch fieben Männer
(von denen er felbfl einer zu feyn behauptete) ausſprechen.
Raoul, lifig und verfchlagen, wie er war «), ſtellte
ſich von der Wahrheit diefer Sätze überzeugt, entlodte
dem Goldfchmidte die Namen von vierzehn andern Amal⸗
ricanern und hinterbrachte Alles den Bifchofe von Paris,
Peter von Remourd, von dem er fofort die. Weifung
erhielt, die Sache näher audzufpüren. In Begleitung eis
ned andern Geiftlichen durchwanderte er nun die Dice
fen Paris, Langres, Troyes und Sens, wo ed
ihm vermöge feiner Verfielungskünfte gelang, nicht nur
Alles zu erfahren, was er wiffen wollte, fondern fi fos
gar die Freundfchaft und das Bertrauen der Anhänger
Amalrich's in dem Grade zu erwerben, daß fie ihn voll
Rändig für fi gewonnen zu haben glaubten. Er eilte
jedoch nach Paris zuräd und theilte dem Bifchofe ben
ganzen Erfolg feiner Miffton mit. Diefer ließ alsbald,
unterftüßt von dem königlichen Vicekanzler Warin, die
Denuncirten feſtnehmen und gefangen nady Paris brin:
gen, wo eine Synode unter dem Vorſitze des Erzbifchofe
von Send, Peter von Sorbeil, zufammentrat, welche das
Urtheil füllte, va Amalrich ercommunicirt, feine
Gebeine aus dem Grabeherausgenommen und
in ungeweihtem Boden verſcharrt, daß ferner
dreizehn ſeiner Lehre ergebene Prieſter und
Mönche, fo wie der genannte Wilhelm der
Goldſchmidt degradirt, zehn von ihnen der
Bm — 22 De u ve}
®
8a) — Radulphus articulosus et astutus et vere catholicus. Ri-
gord. a. a. O.
Amalrich v. Bena u. David v. Dinant. 279
weltlihen Macht überliefert und eznige anf
Lebenszeit feſtgeſetzt werden ſollten a). Franen
und minder Gravirte wurden gefchont b).
Der König Philipp I. Auguft, weicher zur Zeit
der Synode nicht zu Paris anweſend war, ließ nach feis
ner Zurückkunft unverzüglich neun oder zehn von bem
Berartheilten verbrennen. Bei der Erecution entftand ein
beftigeö Unwetter, in welchem das Volk den Zorn felbft
des Himmels über die Frevler erblidte c). Sie fand wahrs
a)
b)
)
Decreta magistri Petri de Corbolio Senobensis archiepiscopi
et aliorum episcoporum Parisiis congregatoram super haereti-
eis comburendis et libris non catholicis penitus destruendis.
Bei Marten. et Durand. Thes. nov. Tom. IV. p. 166. — Cor-
pus magistri Amaurici extrahatur a cimiterio et proiiciatur in
terram non benedictam, et idem excommunicetur per omnes
ecclesias totius provinciae. Bernardus, Gailelmus de Arria
aurifaber,, Stephanus presbyter de veteri Corbolio, Stephanus
presbyter de Cella, Iohannes presbyter de Oocines, magister
Wilhelmus Pictaviensia, Dado. sacerdos, Dominicus de Trian-
gulo, Odo et Elinans clerici de S. Glodoardo; isti degraden-
tur, penitus seculari curise relinquendi. Urricus presbyter de
Lauriaco et Petrus de S. Clodoardo, modo monachus 8. Dio-
nysii, Guarinus presbyter de Corbolio, Stephanus clericus de-
gradentur, perpetuo carceri mancipandi.
— Mulieribus autem et aliis simplicibus, qui per maiores
fuerant corrupti et decepti, pepercernunt. Rigord. a. a. O.
— — Quorum perfidia hoc ordine detecta est. Praedictus
Wilhelmus aurifaber venit ad magistram Radulphum de Na-
muntico, dicens se esse missum a Domino, et hos infidelitatie
articulos ei proposuit: „pater sub quibusdam, formis operatus
est in veteri testamento, scijlicet legalibus, et filius similiter
sab quibusdam formis, ut in sacramento altaris, baptismatis
et aliis. Sicat ceciderunt formae legales in primo Christi ad-
ventu, ita nanc cadent omnes formue, quibus filius operatos
est, et cessabuut sacramenta, quia persona spiritus sancti clare
manifestabit se, in quibus incarnabitur,, et principaliter per
septem viros loquetor (quorum unus ipse Wilhelmus erat).
His auditis magister Radolphus interrogavit, si aliquos habe-
ret socios, quibus ista fuissent revelata. Qui cum respondisset:
habeo multos, supradictos viros nominans, perpendens immi-
280 _ Lroͤnlein
ſcheinlich im Jahre 1200 und zwar den 19. November
ſtatt d).
nens pericalum ecclesiae, et se solam ad investigandam eorum
nequitjam eosque convincendos non posse suflicere, ex qua-
dam simulatione dicebat sibi esse revelatum a Spiritu sancto
de quodam sacerdote, qui cum eo praedicare deberet sectam
eorum. Et ut famam suam servaret illaesam, nuntiavit haec
abbati sancti Viotoris et magistro Ruperto et fratri 'Thomae,
cum quibus adiit episcopum Parisiensem et tres magistros le-
gentes de theologia — — —. Qui territi valde iniunxerunut
praedicto Radolpho in remissionem peccatorum suorum et al-
teri sacerdoti, ut se fingerent esse de illorum consortio, do-
nec scientias omnium audivissent et plenius omnes articulos
incredulitatis sorum explorassent. Magister vero Rudolphus
et sacerdos socius eius in executione huins laboris cum ’ipsis
haereticis circuierunt episcopatum Parisiensem , Lingonensem,
Trecensem et Archiepiscopatum Senonensem in tribus mensi-
bus, et quam plurimos de eorum secta invenerunt. Ut itaque
ipsi haeretici plene de ipso magistro Rudolpho confiderent,
quandogue vulta elevato se spiritu in caelum raptum simula-
bat et postea aliqua se vidisse dicebat, quae in conventi-
culis eorum narrabat, et publice eorum fidem de die in diem
se praedicaturum spopondit. Tandem reversi ad episcopum
visa et audita enarraverunt, quo audito episcopus praedictus
per provinciam pro eis misit, eo quod non essent“in civitate,
excepto uno Bernardo. Qui cum essont in custodia episcopi,
congregati sunt ad eoram examinationem.vicini episcopi et ma-
gistri theologi, supposita sunt eis supradicta capite, quae qui-
dam ex eis in praesentia omninm attestabantur, quidam vero,
cum resilire vellent et se convinci viderent, cum caeteris sta-
bant in eadem pertinacia neo negabant. Tanta audita perver-
sitate, consilio episeoporum et theologorum ducti sunt in cam-
pum et coram universo clero et populo degradati et in ad-
ventu regis, qui tunc praesens non erat, exusti. Qui mente
obstinata nullum ad interrogata dabant responsum , in quibus
in ipso mortis articulo nullum perpendi poterat poenitentiae
indicium. — — — — — Qustuor ex eis fuerant examinati, sed
non sunt eombusti, videlicet magister Guarinus, Ulricus sa-
cerdos, Stephanus diaconus, qui perpetuo reolusi sunt carcere.
Petrus vero prae timore monachus eflectys est. Magister Alme-
nicus, Qui praedictae pravitatis magister erat, eiectus est de
Amalric) v. Bena u. David v. Dinant. 281
Die ölumenifche Lateranfynode vom Sahre 1215 vers
dammte abermals die Lehre Amalrich's, ohne jedoch feine
häretifchen Säte näher zu bezeichnen a). Dürfte man übri⸗
gend einzelnen Andeutungen fpäterer Schriftfteller (unter
denen anch Berfon) Glauben ſchenken, fo hätten fich Ueber⸗
tete der amalrich’fchen Secte noch lange im Geheimen
forterhalten. — —
Die pariſer Provincialſpynode verdammte überdieß
—
coemiterio et in campo sepultus. — — — Sicque per Dei gra-
tiam haeresis exorta excisa est. — Caesar. Heist. Hist. illustr.
mirac. p. 866 sqq. Colon. 1591. Ganz ähnlidy erzählt Rigor⸗
was den Hergang a. a. D.
d) Kigordus, welder gleichzeitig mit Amalrih zu Paris lebte,
fo wie das Chronicon Antidiss, (vgl. Launoyus de varia Arist.
ia academ. Paris. fortuna, p. 128.) fegen die Synode und bie
Hinrihtung der Amalricaner ins Jahr 1209, Damit flimmt
auch Caͤſar von Heiſterbach infofern übetein, als er erzählt,
es fey von den Weiflagungen Wilhelm's des Bolbfchmibts inner⸗
halb dreizehn Jahren, d. h. bis zur Zeit, wo er fchrieb, nichts
eingetroffen. Gr hat aber fein Buch im Jahre 1222 abgefaßt,
wie aus einer Stelle deſſelben (X. c. 43) hervorgeht. In bem
Synodaldecrete bei Martene und Durand ift bloß der Tag anges
geben (XII. calondas Dec.), an welchem bie Hinrichtung der
Unglädlichen erfolgte; am Bande fteht die Jahreszahl „1210”
beigedruckt. Sie fcheint mir jebody eine bloße, nach vorftehenden
Bemerkungen irrige Angabe der Herausgeber zu feyn. Auch ihre
Bermuthung , daß ein anderes, dem erfteren beigedrucktes Decret
des Königs „ad laicas potestates super modo captionis et reten-
tionis elericoram’” fi) auf die Mmalricaner beziehe, entbehrt
eben fo fehr der näheren Begründung, als die Anſicht der Ber:
foffee ber histoire lit. francaise (XVI. &, 189 ff.), nad
welcher die Synode vor Oſtern 1210 flattgefunden haben und.
zwiſchen dem GSynobdalurtbeile und dem Tage der Hinrichtung
eine Zwifchenzeit von mehreren Monaten verfloffen fegn fol.
a) Reprobamus etiam et damuamus perversissimum dogma impii
Amalrici, cuius mentem sic pater mendacii excoecarvit, ut eins
doctrina non tam haeretica censenda sit, quam insana, heißt
das Urtheil der allgemeinen Synode. ©. Mansi Sacror. Conc,
nov. et ampl. coll. Venet. 1778. XXI. 8. 982,
282 Srönlein
noch einige häretifche Schriften, unter denen fich auch eine
von David von Dinant befand, weldhe in dem Synos
dalbefchluffe „Quaternuli,” von Albertus Magnus an
mehreren Stellen „tomi, h. e. de divisionibus,” genannt
wird a), und ba ihr Ariftoteles ald die Quelle dieſer und ans
derer möglicher Irrlehren erfchien, fo verbot fle zugleich dad
Studium feiner naturphilofophifchen Schriften b).
a) Quaternuli magistri David de Dinant infra natale episcopo Pa-
risiensi afferantur et comburantur, nec libri Aristotelis de na-
turali philosophia nec commenta legantar Parisiis pablice vel
secreto. Et hoc sub poena excommunicationis inhibemus. Apud
quem invenientur quaternuli magistri David a natali domini in
antea pro haeretico habebitar. — — A. a. O. Davon, daß auch
das Buch Erigena’s de divisione naturae auf ber parifer Synode
verdammt worben fey, leſen wir zwar nichts in dem Gyn»
dalbeſchluſſe, aus dem bie eben angeführten Worte entnommen
find, aber ver Papſt Honorius III. erzählt ausdruͤcklich in eis
nem 1221 gefchriebenen Briefe, „archiepiscopum Senonensem (mel;
der, wie bemerkt, die Synode pyäftbirte) in provinciali con-
cilio iusto Dei indicio eum (Erigenam) reprobasse, und Hen⸗
ricus DOftienfis behauptet baffelbe. S. Gerson. de concordia
metaph. cum log. — Opp. IV. p. 826. Ed. Du Pin. Hagz.
com. 1728. j
b) £aunojus behauptet (de var. Arist. fort. p. 130.), daß auf bie:
fer Synode alle ariftotelifdhen Schriften verdammt worden feyen,
und die Gefchichtfchreiber pflegen ihm dieß faft durchgehende bis
auf den heutigen Tag nachzuſchreiben. Er ſtuͤtzt ſich biebei ein»
zig auf die Autorität des Rigordus, welcher am meiften Blau
ben verdiene, „quam $. Dionysii monachus esset et regis me-
dicus Luteciae degeret, et, quae viderit, ipse monumentis con-
siguaverit suis.” Aber Rigorbus ſpricht „de libellis solum
quibusdam de (ab) Aristotele compositis, qui docerent meta-
physicam,” unb fügt hinzu: „iussi sunt omnes comburi et sub
poena excommunicationis cantum est in eodem concilio, ne
quis eos de castero scribere et legere praesumeret, vel quo-
cungae modo habere.”’ Rigordus behauptet bemnady keineswegs,
das alle Schriften bes Ariftoteles verdammt worden ſeyen. Es
ift übrigens nicht ſchwer zu beweifen, daß felbft feine Angaben
nicht ganz zutreffen. Gäfar von Heiſterbach nämlich, fo wie
Hugo, ber Kortfeger des Chronio Antidiss., erzählen, daß nur
Amalrid v. Bena u. David v. Dinant. 283
Ben David von Dinant behauptete man bis zum Er⸗
feinen meiner Abhandlung, — und felbft noch Ritter
widerfpridgt nicht entfchieden, — er fey ebenfalls Ans
bänger Amalrich's geweſen. Einen hiſtoriſchen
die „libri naturales oder de philosophia natarali” des Ariſto⸗
teles, unb zwar auf drei Jahre, verboten worben feyen, wels
ches Legtere jedoch unrichtig fl. In bem in der unmittelbat
vorhergehenden Rote mitgetheilten, Alles erklärenden Werte des
Synodalbeſchluſſes, welcher bloß de philosophia natarali libro s
et commenta des griechiſchen Philoſophen verurtheilt, if von ei’
ner Zeitangabe nicht die Rede. Daß ſich aber die Sache fo verhalte,
erfehen wir zum Ueberfluß aus einem Schreiben des Papſtes
Gregor IX, vom Jahre 1281, in welchem er, von biefer
Gymobe ſprechend, gelegentlich erwähnt, es ſeyen durch biefelbe
Ne axiſtoteliſchen Schriften „‚de naturali philosophia” verdammt
worben.
Sourbain kommt in feinem mit Recht geichägten Buche:
recherches critiques sur l’age et sur l’origine des traductions
latines d’Aristote (Pur. 1819), auf daſſelbe Reſultat hinaus,
aus bemerkt er, daß damals die ganze Metaphyſik des Ariſtote⸗
les überhaupt noch nicht bekannt gewefen fey, fonbern nur ein.
jelne Abſchnitte daraus, und daß auch nicht deffen ganze Raturs
philofophie verdammt worben fey, ſondern nur einvon einem Zuben
verfestigter Auszug aus berfelben, oder einige Abhanblungen des
Avicenna und Algazel, weldye bamals als ariftotelifch ges
golten hätten. S. ©. 214.
Bald darauf (1215) wurden nicht allein die naturphilos
ſephiſchen, fondern auch bie metaphyfifchen Schriften des
Urtfkoteles verboten, dagegen aber das Studium feiner „dia
lektiſchen“ Ciogifhen) Schriften geboten, — eine Maßregel,
die der Gardinal Rob. Sourcon traf, welder vom Papfle’
den Auftrag hatte, die parifer Yiniverfität zu reorganiſiren. Gre⸗
gor IX, erneute biefe Anordnung, jedoch mit der Mobification,
deß die durch den Gardinal verbotenen Schriften fo lange nicht
gebraucht werben follten, „donec a suspicione haereseos liberati
essent”.
Diefe und ähnliche Verbote hatten jedoch gerade die ent-
gegengeſegte Wirkung; man las und fludierte die verpönten Buͤ⸗
cher um fo eifriger, bis endlich die Kirche die Sache ganz fal⸗
len ließ,
cheol. Sud. Jahrg. 1847, | 20
284 Krönlein
Grund hat man dafür nicht angegeben, und es liegt zu
Tage, daß, da wir faum etwas Weiteres über feine Der:
fönlichkeit wiffen, ala was in dem bereits mitgetheiften
Synodaldecret enthalten ift, ein ſolcher auch nicht ange
geben werden kann. Danadı war er.eben Magifter und
hatte die genannte Schrift gefchrieben, Die gleichzeitige
Verurtheilung berfelben mit den Amalricanern mochte zu
der irrigen Vorausſetzung über feine angebliche Beziehung
zu Amalrich, wie zu der fonft nicht näher begründeten
Notiz bei Buläus a) Veranlaffung geweſen feyn, daß er
im Anfange des 13. Jahrhunderts zu Paris Philofopbie
und Theologie gelehrt habe. Wahrfcheinlid war er zur
Zeitder mehrerwähnten Provincialſynode ſchon geſtorben. —
Daß man auch keine innern Gründe für die Ab⸗
hängigkeit David's von Amalrich habe, wird die ſpätere
Unterfuchung zeigen. Den fpärlichen Fragmenten gemäß,
die und von Andern über feine Lehre mitgetheilt werden,
war er ein kühner Dialeftifer, welcher fi für feine Zeit
ungewöhnlidy in die ariftotelifche Philoſophie und in die
alte Philofophie und Fitteratur überhaupt hineinftudiert
hatte. Ebenfo möchte die Eigenthümlichfeit feiner Lehre
zu der Annahme berechtigen, daß er eine für die Umftände
ungemeine Unabhängigkeit Dee Eharafterd und der Ge⸗
finnung beſaß.
Auch David fcheint eine Säule begründet zu haben;
fo nennt Albertud Magnus einen gewiffen Balduin,
den er ausdrücklich als einen Anhänger des Dinanters
Beacinet b). —
m — — —
a) Bul. hist. aniv. Paris, Ill. p. 678.
b) Alb. Magn. summ. theol. II. tract. 1. quasst, 4. eu 8. Rach
einer andern, fpäter anzuführenden Stelle bei Alb, Magn. gab
e& „quidam haeretici,“ welche biefelbe Dentweile verfolgten, wie
David, Auch von Thomas von Aquin werden ‘„guidam mo-
derni philosophi” als Anhänger david'ſcher Jrrthuͤmer bezeichnet,
in sec. sent. lib. dist. 17. quaest. 1. art. 1. solut,
Amalrich v. Bena u, David v. Dinant, 285
Richt leicht dürfte fi ein ähnliches Beifpiel finden,
wo an fich verfchiedene philofophifche Elemente fo fehr
dur einander gewirrt würden, wie man folches bei als
len frühern und noch bei den meiften jüngern Hiſtorikern
gewahrt, welche diejenigen Häreflen, die gemeinfam durch
die mehrerwähnte pariſer Provincialſynode verurtheilt
worden find, darftellen. Selbft Engelhardt und Ritter,
die forgfältigften unter ihnen, haben das Einzelne noch
keineswegs fo recht als Unterfchiedliches erfannt und nad)
Gebühr auseinander gehalten. Um dem Srrthume nicht
nene Nahrung zu geben, foll in den nachfolgenden Ent:
widelungen zunächft von der Lehre des Meiftere, dann
von der feiner Schüler und endlich von der bavid’fchen
Zheorie bie Rede feyn. Durch die möglichſt fcharfe Uns
terfheidung der einzelnen Beitandtheile diefer allerdings
in mehr ald einer Weife zufammengehörigen häretifchen
Erfheinung wird natürlich die Einficht in das Verhälts
niß, in weldyem fie zu einander felbft, wie zur wiflens
(haftlihen und religiöfen Entwicdelung der Zeit ftehen,
um fo richtiger vermittelt werden können.
a) Die Lehre Amalrih’e.
Die Berwirrung, welche ſich die Darfteller der amal⸗
tich' ſchen Lehre, — und unter diefen noch Hahn fo gut
wie die frühern, — haben zu Schulden kommen laſſen, ift
eine zweifache, indem fie nämlich
1) die Anfihten Amalrich's und feiner An-
bänger mit einaudber vermifchen, und, —
was hier von befonderer Bedeutung if, —
2) feine Zehrmeinungen mit denendes Joh.
Scotus Erigena verwedfeln.
Dem erften Fehler kann nur dadurch begegnet werden,
daß Amalrich nichts zugefchrieben wird, was ihm nicht
fraft unwiderfprechlicher Zeugniffe zufommt, follte dieß
0 *
286 Krönlein
auch, wie es freilich der Fall feyn wird, auf ein Minis
mum rebucirt werden müflen. Der andere aber fordert
um fo mehr zur Vorſicht auf, ale die Gonfuflon ſchon in
den Quellen ihren Sig hat.
Die Quellenfchriften über Amalrich’d mehr angebliche,
als wirkliche Lehre find alle, fo weit fle und zugänglich
find und den bisherigen Darftellungen zn Grunde liegen,
fecundärer Art, indem fie, ſämmtlich nicht von Zeitgenof-
fen des Häretiferd abgefaßt, auf früheren Mittheilungen
beruhen. Dahin gehören einige Ehronifen und hiftorifche
oder biographifche Werke, 3. B. von Martinusd Po:
lonus a) (welder etwa hundert Jahre nad Amalric
fehrieb), von Kranz Pipin b) und bem unbekann⸗
ten Biographen Innocenz III. bei Muratori co) u. A.,
befonders aber eine Stelle in der Abhandluhg Gerſon's
(} 1429) ‚de concordia metaphyesicse cum logica” d), bie
ſich ihrerfeitd wieder auf Martinus Polonus und auf
Heinrih von Oſtia ſtützt. Heinrich von Oſtia iſt um
ſo wichtiger, als er der Zeit nach Amalrich am nächſten
ſteht und aus einer directen Quelle geſchoͤpft hat. Um ſo
mehr muß ich bedauern, daß ich gerade ſeiner Schrift
(welche, ſo viel ich weiß, Briefe über die päpſtlichen De⸗
cretalien enthält e)) trotz aller aufgewandten Mühe nicht
habhaft werden konnte und mich deßhalb mit dem bes
gnügen muß, was Gerfon und Tennemann (in feiner Ger
fchichte der Philofophie) daraus mitcheilen. Dieß reicht
jedoch vollfommen zu dem auch anderweit noch zu lägen
a) Mart. Polon. chronic., dem chronographiſchen Buche des Marianus
Scotus beigebrudtt. Basil. 1569,
b) Chron. Patris Fruncisci Pipini, Bonor. ord. Praed., bei Maratorii
rerum Ital. script. Mediol. 1723. IX.
c) Die betreffende Stelle in ber Biographie Innocenz IM. ift im
Ganzen nur ein fehlerhafter Auszug aus Mart. Polon.
d) Op. omn. tom, IV. Edit. Du Pin. Hag. comit. 1728.
e) &, Fabricii bibl. Lat. med. aev. voc. Henric. a Segasio.
\
Amalrich v. Bena u. David v. Dinant. 287
den Beweife zu, daß alle andern Oxellenfchriftfteller und
nach ihnen die früher ſchon namhaft aufgeführten Hiflos
rifer in einem argen Irrthum über Amalrich’d Lehre bes
faugen find.
Die Sache verhält ſich nämlich fo, Heinrich von Oftia
berichtet „ daß das Bud Erigena’d de divisione naturae
dach Die parifer Theologen (auf der vielberegten Pros
sincialfyrnode) wegen der Sjrrthümer verbammt worden
ſey, weldye Amalrich aus bemfelben gefhöpft habe. Od o⸗
der Kanzler der parifer Univerfität, habe die einzelnen
barerifchen Sätze aus dem Buche ausgezogen und vers
dammt, uud von diefem Odo habe er felbit diefelben a).
Diefe Säbe nun, welche hiernach ausdrüd
lid Exrigena zugefhrieben werden, haben die
fpäteren Schriftfieller aufgegriffen und bie
aufdieneuefllezeitfür die verurtheiltenLehr⸗
neinangen Amalrih’sausgegeben. Daß fie aber.
wirklich und zwar meiſtens wörtlich ausgeſchrie⸗
⸗ —
a) Impii Amalrici dogma istud colligitur in libro magistri Joannis
Scoti, qui dicitur „periphysica i. e. de nalura,’” quem secutus
est iste Amalricus, de quo hic loguimur. Sed et dictus loannes
in eodem libro auctoritates cuiusdam Graeci, nomine Masimi,
istrodacit. Jo quo libro, qui et per magistros damnatus fait
Parisiis, multae haereses continentar (bie fofort aufgezählt wers
den. Es find biefelben, welche in ben naͤchſten Roten folgen).
Hesricas Ostiensis ad lib. I. tir. 1. cap. 2. decretalium de tri-
nitate et ide catholica. $.reprobamus. Vgl, ZennemannGeld.
d. Phil. a. a. O. — Ponitur alius articulus de Theophano, et hic
est contra Joannem Scotum in libro, qui dicitur „periphyson
i. e. de natura,” contra quem scripsit Hugo „super coelesti
hierarchia”, qui liber (Scoti), ut dicit Hostiensis, damnatas
fait per magistros Parisienses propter alios errores, quos ab
illo sumpsit dictus Amalricus.. — — — — — Praedictus insuper
Odo Tosculanus, qui fuerat cuncellarius Parisiensis, notaverat
et damnaverat errores dicti libri, et ab hoc Odone dicit Ho-
stiensis se praedictos errores accepisse. — Gers, op. tom. IV.
p- 826.
288 Krönlein
bene Stellen ans dem genannten Buchelrige
na’s find, davon hätte ein einziger WBli in das letztere
überzeugen können. Uebrigens beginnt die Berwechfelung
fhon mit Martinus Polonus, welcher von den fraglichen
Säten, die auch er mittheilt, zwar bemerkt, fie feyen
and der. Schrift Erigena’s, fie aber nichts defto weniger
alle auch Amalridy beilege. Woher er felbft fie hat, habe
ich nicht ausfindig machen koͤnnen. Jedenfalls war wohl
Heinrich von Oſtia feine Quelle nicht, denn er führt mehr
Säbe auf, als diefer, und weicht in Ausdrud und Ans
ordnung mehrfadh von ihm ab, — fo weit nämlidy aus
den Gitaten bei Gerfon und Tennemann zu erfehen if.
Auch darüber finde ich Feine Andeutungen, woher die an:
dern Ghroniften ihre Notizen haben.
So fümen wir ſchon vorläufig zu demRefultate, daß
wir in dem, was bisher hauptſächlich ale Theorie Amals
rich’& gegolten hat, nur einzelne, aus dem Zufammenhange
geriffene Sätze Erigena’s zu fuchen hätten, über die wir
geradezu mit Stilfhweigen hinweggehen Fönnten, wenn
es nicht einerfeitö erlaubt wäre, Doch wieder einen ge
wiffen mittelbaren Gebraudh von ihnen zu machen,
und wenn ed andererfeitd nicht Darauf anfäme, die Rich⸗
tigkeit der eben entwidelten Sachlage noch weiter durch
die Zufammenftellung der verurtheilten Kehrmeinungen mit
den bezüglichen Terteöftellen aus dem Buche Erigena’s zu
erhärten. Ich ftelle fie daher in diefer Weife in den Ro:
ten neben einander und hebe bier nur hervor, daß fie
die Identität®ottedund des Allsder Dinge»),
— — — —— ——
a) Hierher kann man nachfolgende fünf Saͤtze zählen:
a) Quod omnia sunt Deus. Henuric. Ostiens. bei Tenne⸗
mann u. Gerfon a. a. DO. ©. Erig. dedic. ad Max. Schol. —
ita, ut et Deus omnia sit et omnia Deus sint. Vergl. De di-
vis. nat. III. 17. und I, 74. Der gewöhnlichere Ausdrud Grige
na's ift freilih: omnia sunt in Deo.
Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 289
fo wiedie mit dieſer (idealiſtiſch) pantheiftifchen Grundanficht
zuſammenhängende Borfiellungvonderfchöpferifchen
Selbfiverwirflihung der göttlihen Ideen»)
und von der Erfenntnißmöglichleit Got
b) Motum Deo dare non possum, cum in ipso sint omnia
et cum ipse sit omnia. Henr. Ost. daf. — ©. Erig. — Mo-
tam Deo dare non possum, quia solus immutabilis est, nec
habet, quo, vel ad quid se moveat, cum in ipso sint oınnia,
immo cam ipse sit omnia. De divis. nat. I, 74.
c) Non facile posse negari, creaturam et creatoremidem esse.
Mart. Pol. p.211. ©. Erig. — M. „Qnid, si creaturam creatori ad-
ionxeris, ita at nil alind in ea intelligas, nisi ipsum, qui
solus vere est ? nil enim extra ipsum vere essentiule dicitur,
quia omnia, quae ab eo sunt, nil aliud sunt, in quantum sunt,
nisi participatio ipsius, qui a se ipso solus per se ipsum sub-
sisit. Num negabis creatorem et creaturam unum esse.” —
D. „Non facilenegarim, huic enim collectioni resistere videtur
mihi ridiculosum.” De divis. nat. lib. II. c. 6.
d) Sicut alterius naturae non est Abraham, alterins Isaac,
sed unins atque eiusdem, sic omnia esse unum et omnia esse
Deam. Mart,. Polon. a, a, DO. — S. Erigen. „Quid enim?
numqguid duo nomina a se invicem sono, non sensu discre-
pantia in ana eademque natura intelligi non valent,, cum Abra-
bam et Isaac, patrem videlicet et filium, unam naturam signi-
Gcare videamus ? Non enim alterius naturae nomen est Abra-
ham, alterius Isaac, sed unius atque eiusdem.” — De divis.
nat. lib. I. c. 14.
e) Deum esse essentiam omnium Creaturarum et esse
omnium. Martip. Polon. a. 0.0. — ©. Grigen. „Fieri si qui-
dem aestimatur in creaturis suis universaliter, dum in eis non
solum intelligitur esse, sine quo esse non possunt, sed et
eorum essentia est. Esse enim omnium est, superesse autem
divinitatis, ut s. ait Dionysius.”’ De divis. nat. lib. I. cap. 73.
a) Secundus (error) est, quod primordiales causae, quae vocan-
tur ideae, i. e, forma sen exemplar, creant et creantur. —
Henric. Ost. a. a. DO. Oder, wie Martinus Polonud a. a. DO,
den Gedanken ausdsüdt: Almaricus asserit, ideas, quae sunt
io mente divina, creare et creari, quum secundum Augustinum
aihil visi aeternum atque incommutabile sit in mente divina,
290 ** Kroͤnlein
tes in ber Creatur e), ferner die eigenthümliche Mei⸗
nung Erigena’d von der Generation der Menſchen
nnd ihrem gefhledhtlihen Verhältniß üben
haupt ald Folge dererfien Sünde db), nud endlich
Aus den zahlloſen Stellen bei Erigena, welche dieſen Gedanken
ausſprechen, hebe ich nur folgende aus: universalis itaque ne-
turae — — ea forma socunda enitet, quae creat et creatur, et
non nisi in primordialibus causis rerum, ut-aestimo, intelli-
genda est; ipsae primordiales rerum causae a Graecis „proto-
typa”, h. e. primordialia exempla vel prourismata vocantur; —
item — ideae quoque i. e. species vel forma cett. De dirvis,
nat. II. c. 2. — Martinus bat in dem Rachſatze „quum secun-
dum cett.’” wahrſcheinlich bie in ber mittelalterlihen Philoſophie
häufig eitirte Stelle aus der Schrift des heil. Xuguftinus de di-
vers, quaestionib. lib. 88. quaest. 46. im @inne.
a) „Dixit, quod, sicut lux non videtar in se, sed in aöre, sic Deus
b)
nec ab angelo neque ab homine videbitur in se, sed tantum
in creaturis.” Mart. Polon. a, a. O. — Die Originaiftelle bei
Grigena ift wohl folgende: „absente luce aör est obscurus, so-
lis autem lumen per se subsistens nullo sensa corporeo com-
prehenditur. Cum solare (solis) lumen aöre miscesatnr, tunc
incipit apparere; ita vero, ut in se ipso sensibus sit incompre-
hensibile, mixtum vero aeri, sensibus possit comprehendi.”
Bol. dazu: „at per hoc intellige divinam essentiam per se in-
comprensibilem esse, adiunctam vero intellectaali creaturae
mirabili modo apparere, ita, ut ipsa divina, dico, essentia io
sola creatara intellectaali videlicet appareat ,” — — — ferner:
— „ut Deus, qui per se ipsum incomprehensibilis est, iu cres-
tara guodammodo comprehendatur.” De divis. nat. lib. I. c. 10.
Daß dieß auch von dem Schauen ber Engel gelte, wirb bort
weiter ausbrüdlidy ausgeſprochen.
„Asseruit, quod, si homo non peccasset, in duplicem sexum
partitus non fuisset nec generasset, sed eo modo, quo sancti
angeli multiplicati sunt, multiplicati fuissent et homines. Et
qaod post resurrectionem utriusque sexus adunabitur, sicut
(at asserit) fuit prius in creatione. Et talem dixit Christus
fuisse post resurrectionem.” Mart. Pol. a. a. DO. — ferner:
„Tertius (error) est, quod post consummationem secnli erit
adupatio sexuum sive non erit distinctio sexus; quam aduna-
tionem in Christo asserit incepisse.” Henr. Ost, a, a, D. —
Amalrich v. Vena u. David v. Dinant. 291
die bereinfige Rückkehr aller Dinge in die
untbeilbare und unwandelbare Einheit des
göttlihen Seyns nnd Wefens betreffen a).
Zu den Amalrich untergeichobenen biöher befannten
Sägen füge ich bier darum zwei von mir nenanfgefundene
binze, weil fie, wie bie meiften andern durch das Mes
diam der gerfon’fchen Auffaffung hindurchgegangen, ihm
gleichfalls nicht mit Sicherheit zugefchrieben werben dür⸗
fen. Nach ihnen hätte er gelehrt, daß der menſchliche
GSeiſt, wenn er fih zur wahren Bernänftig-
feit erhebe und von der kiebe zu Bott voll,
fommen dDurchdrungen fey, in feine ewige, gött⸗
Bel. folgende Stellen bei Erigena: „Nam si primus homo non
peccaret, naturae suae partitionem in duplicem sexum non pa-
teretur, sed in primordialibas suis rationibus, in quibus ad
imaginem Dei conditus est, immutabiliter permaneret; — —
— — homo namque solummodo esset in simplicitate suae na-
turae creatus eoque modo, quo saucti augeli multiplicati sunt
istellectualibus numeris, multiplicaretur.”” De divis. nat. lib.
ll. c. 6. p. 49. — cf. ib. c. 9. — „Quae divisio in Christo
adupestionis sumpsit exordiam, qui in seipso humanae naturae
restauretionis exemplum veraciter ostendit et futurae resur-
rectionis similitudinem praestitit.” Ibid. lib. IT.c.6. — — — „et
quoniam post adunstionem hominis, h. e. duplicis sexus in
pristinam naturae unitatem, in qua neque masculus neque ſoe-
mine, sed simpliciter homo erat, confestim orbis terrarum
adenatio ad paradisum seguitar.” Ibid. lib. II. c. 8.
a) Dixit etiam, quod ideo finis omuinm dicitar Deus, quia omnia
reversura sunt in eum, ut in Deo immutabiliter quiescant
et uaum iadividaum atgque incommutabile in eo permanebant.
Martin. Pol. a. a. O. — Bergl. Erig. — — quoniam vero nd
eandem causam (omnium) omnia, quae ab eo procedunt, dum
ad finem pervenient, reversura sunt, propteren finis omnium
dicitar et neque creare, neque creari perhibetar. Nam post-
quam in eam rerversa sunt omnia, nil ulterius ab ea per gene-
rationem loco et tempore, generibus et formis procedet, quo-
sam in ca omnia quieta sant et unam indiriduum atque in-
commutabile manebunt.. De divis. nat. II, c. 2,
292 Krönlein
lihe Idee zurückkehre und fogar bie göttliche
Wefenheit felbft annehme, fo daß er keine
Creatur mehr fey und Bott nicht mehr in der
Creatur fhaue und liebe, fondern in Gott
ſelbſt umgewandelt werde, in Folge beffen
dann menſchliche und göttliche Erkenntniß und
Liebe zuſammenfielen ).
Sind daher die vorſtehend citirten Stellen nicht als
Ausſprüche Amalrich's ſeldſt anzuſehen, fo berich⸗
ten doch alle Gewährsmänner einſtimmig, daß er ſich in
ſeiner Denkweiſe auf Erigena baſire, und es bleibt dem⸗
nach fo viel ſicher, daß fie eine der erigena'ſchen ähm
lihe war. Es kann nun nicht darauf anfommen, wie
das Syſtem Erigena’s überhaupt aufzufaffen ſey, — wor:
über befanntlich bi zur Zeit noch geftritten wird b), —
a) Fuerunt enim qui dicerent spiritum rationalem , dam perfecto
amore fertar inDeum, deficere penitus a se ac reverti in ideam
propriam, quam habuit immutabiliter ac aeternaliter in Deo
oe... — Dicunt ergo, quod talis anima perdit so et esse
suum et accipit verum esse divinam, sic, guod iam non est
creatura, Dec per creaturam videt aut amat Deum, sed est
ipse Deus, qui videtur et amatur. — — — Hanc (insaniam)
etiam nisus fuit pouere Almaricus haereticus ab ecclesia con-
demnatus — —. Gers. de myst. theol. specul. consid. 41. op.
Tom. III. p. 8%. — — — — ac perinde segnitar, quod
similitudo , adducta per qualemcungue doctorem de infusione
guttae aquae in dolium vini fortissimi, ad unionem animae
contemplautis cam Deo, tanquam sit omnimoda similitudo, re-
pudianda ost prorsus, tanquam habens errorem, immo insa-
niem Almarici condemaati, ponentis creaturam verti in Deum
et in suum esse et principium ideale, sicut notat Hostiensis
super illud oapitulum: „damnamus cett.’” Gers. op.tom.I. p. 80.
b) Man vgl. hierüber u, A. befonders bie Vorrebe zur Ausgabe ber
Schrift de divis. nat. von &. B. Schlüter (Münfter 1838),
wo bie hauptſaͤchlichen gegenfäglichen Anfichten Älterer und neue
rer Gelehrten über das Syſtem Erigena's entwickelt und kritiſch
beleuchtet werden, Berner: Staubenmaier, Job. Stot. Eri⸗
Amalrid) v. Bena u. David v. Dinant. 293
fondern vielmehr, wie Diejenigen es aufgefaßt haben, von
denen feine wie Amalrich's kirchliche Berurtheilung ausge⸗
gangen if. Darüber aber gewährt und gerade die Her,
vorhebung der als häretifch bezeichneten Säbe aus der
Schrift de divisione naturae den nöthigen Aufichluß, denn
ed it Fein Zweifel, daß fie darin (myſtiſch) idealiſtiſch
pamtheiftifche Irrichren gefehen haben. In diefem Lichte
muß ihnen nun wohl auch die religiöfe Anfchauung Amals
rich's erfchienen ſeyn.
Daraus würde es ſich denn auch erklären, warum
diejenige Behauptung, von welcher wir allein mit Sicher⸗
heit wiſſen, daß ſie von Amalrich ausgeſprochen worden
if, für häretiſch gehalten werden konnte. Er lehrte näm⸗
lich, jeder Chriſt müſſe glauben, er ſey ein
Glied Chriſti und könne nicht ſelig werden,
wenn er daran nicht eben fo gut glaube, wie
andie Gceburtund den Tod des Erlöferg,oder
an andere wichtige Slaubensartilelea). Ja er
dehnte nach dem Zeugniß eines Chroniften feine Anficht
fo weit aus, daß er von Jedem zu glauben verlangte,
er habe als Glied des Leibes Chriſti gemein
fam mit ihm am Kreuze gelitten b). Hätte er der
gena und die Wiffenfchaft feiner Zeit. Frankf. 1834, u. beffen:
die Philofophie des Ehriſtenthums od. Metaphyſik der heil. Schrift
1. ©. 536-593. ®ieß. 1840,
2) Unde et in ipsa theologia ausus est constanter asseverare, quod
quilibet christianus teueatur credere, se esse membrum Christi
nec alignem posse salvari, qui hoc non crederet; non minus,
quam si non crederet Christum esse natum et passum, vel
alios fidei articulos, inter quos articulos ipse hoc ipsum au-
dacter audebat dicere annumerandum esse. — Rigord. ap. Du-
chesn. Tom. V. p. 50.
b) — — — Amalricus — — — — palam docuit quosque chri-
stianus membra Christi corporis esse et, dum a ludaeis Chri-
stas pateretur, una cum ipso dolorem atque afflictiouem gpisse
revera perpessus, Rob. Gaguin. rerum Gallicarum anırpeg. 100.
294 Krönlein
an ſich apoflolifchen Lehre von der Kirche als Leib Ehrifi =)
nicht eine frembdartige Bedeutung untergefchoben, fo würde
er ficher deßhalb nicht angefochten und verurtheilt wor:
den ſeyn. War aber dieß ber Fall, fo liegt die Annahme
am nädhflen, daß er fie von dem Gtandpunfte einer ers
ceffiven Immanenziehre aus deutete, fo daß man hierin
eine Sonfundirung des göttlichen und menfchlichen Gei⸗
tes ſah, eine Annahme, die um fo wahrfcheinlicher wird,
wenn man fid; von dem Geifte der Lehre feiner Anhänger
auch nur den leifeften Rückſchluß auf den feiner eigenen
erlanbt. Go würde es denn zugleich begreiflich, wie
man feine Lehre kirchlicher Seite nicht bloß einfach ale
häretifch verwarf, fondern fogar als eine „Insana” bezeich⸗
nen mochte, und es fände die obige, mehr auf hifkorifchen
Gründen beruhende Bemerkung über feine wiflenfchaft-
lihe Srundanfchauung auch von diefer Seite her wieder
ihre Stüße.
Wie weit nun Amalrich feine Principien ausgeführt
hat, ob er auch in andern Punkten merklich von dem or⸗
tbodoren Glauben abgewichen ift, ob über dad Ber
hältniß feines Standpunktes zum poſitiv chriftlichen doch
auch wieder ähnliche Gontroverfen möglich wären, wie
über den feines Führers Erigena: darüber ift eine ber
ſtimmte und zureichende Antwort aus dem einfachen Grunde
uicht möglich, weil ed über den weitern Inhalt feiner
Lehre ganz und gar an Mittheilungen fehlt, — und wohl
für immer fehlen wird; denn ich erlaube mir auf dem
Grunde meiner Nachforſchungen die Behauptung, daß hier,
über etwas wefentlich Neues und Zuverläffiges nicht mehr
zu finden ift, wenn nicht etwa (was jedoch nicht einmal
wahrfcheinlich if) in den Schriften Odo's, welche noch
ungedruct in der vaticanifchen Bibliothek liegen follen b).
— — — — — —— — —
a) öm. 12, 4, 5. — 1 Kor. 12. — Eph. 14, 6.
b) Ueber Odo (Tusculanus) vgl, Fabric. bibl. Lat. med. aer. V.
J
Amalrich v. Vena u, David v. Dinant. 295
Uebrigens fcheint er ſelbſt fonft nicht allzu fehr zum Aus⸗
Ihweifenden fortgegangen zu feyn. Wie hätte er doch zu
feiner Zeit niht nur dem Geruche der Keberei bis kurz
vor feinem Tode entgehen, fondern felbft zu hohem Ans
ſehen gelangen können, wenn er z. B. den Pautheismus
fo plump gelehrt hätte, wie er in den ihm untergefchobes
nen Behauptungen liegt? Wenn Erigena in der Ent-
widelung feiner fonft unftreitig großartigen Weltaufchan»
ung Anfichten andgefprochen hat, die fidh nicht wohl mit
der Kirchenlehre vereinigen laffen, fo mochte er dazu durch
die neuplatonifche Grundlage veranlaßt worden feyn,
von ber er ausging, ohne daß fogleich anzunehmen wäre,
er. habe abfichtlich dem chriftlichen Glauben zu nahe
treten wollen, — denn für den Sachverfländigen braucht
nicht erft bemerkt zu werden, daß aus den oben ange»
führten Sitaten der fpecififhe Charakter feiner Lehre nicht
su erfehen iſt. Vielleicht dürfte daſſelbe auch für Amals
rich gelten.
Wie dem aber andy fey, fo glaube ich wenigſtens,
die fchlimmen Nachreden über feine fittlihen Princi⸗
pien und Lehren um fo cher als unbegründet abweifen
zu können, als fie bloß von fpätern Chroniſten vorge⸗
bracht werden, während bie früheren Berichterflatter ders
artige Anfchuldigungen bloß gegen feine Auhänger ers
beben =),
p. 466. unb Oudin. de script. eccles. III. p. 200. Lips. 1722.
Aud) die Quellen, welche Hahn zuerft benust bat, find nicht
primärer Art und enthalten kaum eine einzige, das Verſtaͤndniß
der Sadye wirklich fördernde Notiz. |
a) Fait eo tempore Almaricas Carnotensis philosophis et catho-
licis quaestionibus aingularis, qui doctrina perversam confin-
gens charitstem sic respondebat, quod id, quod alias pecce-
tum, si in charitate fieret, peccatum non esset, unde et
foraificationes et alia nefanda occulte sub charitatis specie
deceptis simplicibus committebat. loaan. Frasquet. ap. Bul.
296 Krönlein
b) Die Lehre der Amalricaner,
Daß die Lehre des Meifterd und der Schule wohl
auseinander gehalten werden müſſen, ift oben ſchon bes
merft worden. Mögen fie in noch fo naher Beziehung
zu einander geitanden haben, fo müſſen wir an der Ver:
fchiedenheit beider in fo weit feflhalten, ald es von Sei:
ten der Quellen felbft gefchieht. Diefe aber, fo fehr fie
auch darauf beftehen, daß die häretifhe Secte durch
Amalrich bedingte worden fey, fprechen doch von den
nachfolgend zu entwickelnden Anfichten als von Anfidys
ten der Schule und nicht ihres Urhebers. Wohl
wäre ed möglih, daß fie in den Vorträgen Amalrich’e
nur die ihnen zufagenden Principien gefunden und fie
dann auf ihre Weife weiter geführt und audgebeutet
hätte.
Ueber ihre Härefien haben wir ziemlich nmfländliche
Berichte. Außer den weitläufigen Erhibitionen bei Ris
gordus und Cäſar von Heifterbach befigen wir noch ein
Actenſtück, — den fchon erwähnten Befchluß der parifer
Provincialfynode nämlich =), in welchem ihre vorzüglichs
ſten Lehrmeinungen einzeln aufgeführt werden. Dabei
bleibt freilich die Mißlichkeit, daß alle dieſe Mittheilun-
gen von gegnerifchen Theologen und Hiftoritern herſtam⸗
men, die, weit davon entfernt,nach dem wiffenfchaft-
— — — — —
hist. univers. Paris. Tom. III, pag. 674. — Dixerat etiam
(Almaricous), quod in charitate constitutis nullum peccatum
imputabater, Unde aub tali specie pietatis eias sequaces
omnem turpitudisem commatabant (committebant). Mart. Polon.
chronic. p. 211. — &igorbus und @äfar von Heiſterbach, weldye
body die Sache beſſer Eannten, legen biefe Lehre ausdruͤcklich
bloß den Schülern bei.
a) Sr findet ſich bei Martene (thesanr. anecdot. IV. f. 169) und
führt den Titel: Hae aunt haereses, pro quibus quidam sacer-
dotes et clerici Parisiis igue examinati et consumti sunt, quia
vonta est in illis inignitas. — Ex MS. Viconicasi. 1210,
Amalrih v. Bena u. David v. Dinanf. 297
lichen Berthe oder Unwerthe der verurtheilten Anfichten _
ju fragen, darin nur den Ausdrud eines erorbitant uns
gläubigen und gottlofen Sinnes ſahen. Doc, haben wir
auch feinen biftorifchen Grund, an der Wahrheit dee und
einkimmig Ueberlieferten zu zweifeln, zumal aus einzels
nen Spuren zu erhellen fcheint, daß es ficher Überfpannte
Köpfe unter ihnen gab. ben fo mögen fie vielleicht
auch vom fittlihen Verirrungen nicht ganz frei geblieben
ſeyn, wie fie in verfchiedenen religiöfen Kreifen jener Zeit
dänſig genug vorgelommen find. Nicht zu überſehen .ift
jedoeh, Daß das officielle Document, — der Synodalbe⸗
ſchluß, — der Secte gerade in leßterer Beziehung nichts zur
kaſt legt.
Dem allgemeinen Charakter nach ift die Theorie der
Amalricaner pantheiftifch; doch verfolgten fie nad
den und Gberfommenen Zeugniffen den Pantheißmus kei⸗
neswegs in rein philofophifchem, fondern vielmehr in
praftifchem Intereſſe, d. h. nach gewiſſen hiſtoriſchen,
dogmatiſchen und ethiſchen Beziehungen. Bon dem Glau⸗
ben ſich gänzlich losfagend, fuchten fie die Wahrheit auf
dem Wege ded denkenden Bewußtſeyns a) und geftal-
teten fo eine Art Rationaliömus auf pantheifti>
der Grundlage, mittelft deffen fie die Hauptfäße
der chriftlichen Dogmatif ausdeuteten oder — wie Ris
gordus fich ausdrückt — ausleerten.
Daß es dabei auf eine gründliche Durchbildung des
dantheismus nicht hinauslaufen konnte, iſt begreiflich,
deßwegen wird denn auch der Satz: Alles iſt Eins,
und was ift, it Bott b), weder näher begründet,
3) item semetipsos iam resuscitatos asserebant, fidem et spem ab
eorum cordibus exciadebant, se soli scientiae mentientes sub-
iacere. Decret, ap. Mart.
b) Omnia uoum, quia quidquid est est Deus, und darauf folgt:
„uodo geidam eorum, nomine Bernardus, ausas est affirmare,
se nec posse cremari incendio, nec alio torqueri supplicio, in
298 Krönlein
noch beflimmter gefaßt. Nichte deſto weniger iR die
idealiftifche Färbung ber ganzen Brundanfchauung
nicht zn mißlennen. Abgefehen nämlich davon, daß fle,
nach einer, freilich hiſtoriſch nicht allzn feſtſtehenden, Rotig bei
Thomas von Aquin, in Gott das Formalprincip aller
Dinge gefehen haben follen =), fo kundigt fich Die bezeich⸗
nete Richtung auch im ihren anderen Lehren au, 3. B,
in der von der göttlichen Dreieinigleit. Das Dogma von
der Dreieinigkeit, fagten fie, bedeute nichts Anderes, als
drei DOffenbarungeformen und Stadien der Gottheit In
der Geſchichte, und daranf hin feyen drei univerfalger
ſchichtliche Perioden zu unterfcheiden. Die erfte fey
Die Zeit der Herrfchaft des Baterd ohne den
Sohn nud ohne den heil. Geiſt, — die Zeit
des alten Teſtaments, der Aeußerlichkeit des
Geſetzes und der religidfen Inflitutionen.
Sie habe gedauert bis zur Incaruation Des
Sohnes, wo eine neue Ordnung der Dinge
entkauden fey, in welder die meiften alten
situellen Formen abgefhafft worden wären.
Run aber ſey and die Periode des Sohnes
su Ende und es beginne das Reich des heil.
Geiftes, in welhem alle äußeren Bermitte:
Iungsmomente zwifchen Gott und den Mens»
quantam erat, quia in eo, quod erat, se Deum dicebat. Tum
Deus visibilibus iadutus erat instrumentis, quibus videri pote-
rat a creaturis ot accidentibus corrumpi poterat eztrinsecus.”
Deor. ap. Mart.
a) Alii dixerant Deum esse principium formale omnium, et haec
dicitur faisse opinio Amalriauorum. Thom. Aquin. Summ.
theol. 1. Quaest. 8. Art. 8. Wäre diefe Angabe zuverläffig ge
nug, fo würben die Anhänger Amalrich's hierin, wie in mehre⸗
ven anderen Punkten, mit ben fpäteren Begharden überein:
ſtimmen. Diele behaupteten ebenfalld: quod Deus sit formaliter
omne, quod est. — Mosheim de Beghardis et Beguinabas.
Amaltich v. Bena u. David v. Dinant. 299
(den wegfallen müßten, indem nunmehr das
Serhältnig zwifchen ihnen ein rein innerli-
ed und unmittelbares fey, Wie der Bater
in Abraham und der Sohn in Maria incars
niet worden fey, fo werde fortan bis ang
Ende der Zeit der heil. Geiſt in einem Jeden
incarnirta), und wirfe Alles in Allemb). Die
Incarnation ber Gottheit bedeute aber nichts
Anderes, als ihre Erfcheinung in fihtbaren
Formen c), Ä =
Wenn nun fo Alles in den Geiſt verlegt wird, fo
leuchtet die ideatififche Tendenz der Sectenlehre von felbft
aa, und darin befunder ſich wohl die erigena’fche und
amalrich’fche Unterlage. Die weitern Parthien berfelben
ſind meiſtens nur Ausdeutungen chriftlich dogmatifcher
Lerſtelungen von dieſem Standpunkte aus. So lehrten
fe, unter der Auferſtehung der Todten ſey
ı) Auctoritas s. sic loquitar: opera trinitatis inseparabilia. Hi e
contra: pater a principio operatus est sine filio et spiritu s.
usque ad eiusdem filii incarnationem. Item auctoritas: solus
flias incarnatus. Hi e contra: pater in Abraham incarnatus,
flias in Maria, spiritus s. in nobis quotidie incarnatur. De-
eret. . c. — — — Item filias usgue nunc operatus est, sed
spiritaus s. ex hoc nunc usque ad mundi consummationem in-
choat operari. ibid. — Inter alios corum errores impudenter
astruere nitebantur, quod potestas patris duravit, quamdiu vi-
guit lex Mosaica. Et quia scriptum est: novis supervenienti-
bus abiicientur vetera, postquam Christus venit, aboleverunt
omnia T. V. sacramenta et viguit nova lex usque ad illud
tempus. In hoc ergo tempore dicebant T. N. sacramenta fi-
nem habere et tempus s. spiritus incepisse, quo dicebant con-
fessionem, baptismum, eucharistiam et alia, sine quibus
salus haberi non potest, locum de caetero non habere, sed
unomqnemque tantum per gratiam spiritus a. interius sine actu
aliquo exteriori inspiratam salvari posse, Rigord. I. c. —
b) Ille (spiritus s.) operatur omnia in omnibus. Caes. H. |]. c.
e) Item: Glius incarnatus, id est visibili formae subiectus.. — — —
Deeret. 1. c.
Test. Stud. Jahrg. 1847. 21
300 Krönlein
nur die unmittelbare Selbftoffenbarung des
heil, Geiſtes im menfhliden Bemwußtfeyn zu
verfiehen, die ſich anf deffen Incarnation
im Menfhen gründe. Natürlich fahen fie ſich ſelbſt
ald Auferſtandene ana), Mit dieſen Grundvoraus—⸗
ſetzungen hingen auch die beiden anderen Behauptungen
zuſammen, daß Chriſtus nicht mehr Gott gewe—
fen ſey, als irgend Einer aus ihnen b), und
daß Gott ebenfowohl in Ovid geredet habe,
als im heil. Auguftin co).
So wird es zugleich von felbit Mar, wie die Anhaͤn⸗
ger Amalrich’ö alle äußeren Beranftaltungen zur Vermitte⸗
Iung Gotted und der Menfchheit negiren mochten. Sie
beriefen fich nämlich auf dad innere, unficktbare
Band, durch welches fie mit dem heil. Geiſte verknüpft
feyen, in Kolge defien fie die Sacramente und die
religiöfen Gebräuche entweder ganz verwarfen, ober
ihnen einen anderen Sinn unterfchoben d), Sie fagten
confequent, daß Niemand, weldher in der Im
manenz des heil. Geiſtes ſtehe, fündigen könne,
a) Item spiritus s. in eis incarnatus, ut dixerunt, eis omnia reve-
labat et haec revelatio nihil aliud erat, quam mortuorum re-
surrectio. Item semetipsos iam resuscitatos asserebant — —
— — — — Decret. 1. c.
b) Item filius,incarnatus, i. e. visibili formae subiectus: nec aliter
illum hominem esse Deum, quam unum ex eis cognoacere Yo-
luerunt. Decret. 1. c. Unde concedebant, quod unusgaisgne
eorum esset Christus et spiritus s. Caes. Heist. I. c. che:
lich die WVegharden: „item credunt se esse Denm per naturam
sine distinctione. Quod sint in eis omnes perfectiones diri-
nae, ita quod dicunt se esse aeternos et in aeternitate.” Mos-
heim, de Begh. p. 256,
c) Deum locutum esse in Ovidio sicut in Augustino. Caes. Heist.l.c-
d) — — — Hoc siquidem errore decepti, corpus Christi ante
verborum prolationem visibilibus panis accidentibus subesse
conati sunt affırmare,
Quod sic exposuerunt: id, quod ibi fuerat prius formis visi-
Amalrih v. Bena u. David v, Dinant. 301
da dieſer ja Alles in Allem wirke a). Deßmegen leug⸗
neten fie auch bie Säünbenfchuld und behaupteten, Gott
fey bloß gut und niht gerecht b).
Ihre weiteren ethifchen Ueberzeugungen anlangend,
fo deuteten fie nach Caſar von Heifterbach die bezüglichen
oberften Gegenfäte auf rein theoretifhe Berhältniffe,
Himmel und Hölle, fo berichtet er, hätten fie für bloße
Zuſtände des religiöfen Bewußtſeyns gehal-
tn; Jeder nämlich hättenachihrer Anficht die
bimmlifche Befeligung, welcher das wahre
Öottesbewußtfeyn befiße, — wer aber (deffels
ben entbehre und alfo) eine Todfünde habe, trage
die Hölle in fich, wie einen faulen Zahn im
Munde —.c),
bilibas, prolatione verborum subesse ostenditar. — — — Item
de meritis praesumentes, gratiae derogantes mentiti sunt bono-
rum baptismatis non egere parvulos ex eorum sangninibus pro-
pagatos, si suae conditionis mulieribus carnali possent copula
commisceri. Decret. I. c. — Dicebant non aliter esse corpus
Christi in pane altaris, quam in alio pane et in-qualibet re.
— — — Altaria sanctis statui et sacras imagines thurificari
idololatriam esse dicebant; eos, qui ossa martyrum deoscula-
bautor, subsannabant. Gaes. H. 1. c.
a) Si aliguis est in spiritu s., aiebant, et faciat foruifhicationem
aut aliqua alia pollutione polluatur, non est ei peccatum, quia
ille spiritas, qui est Deus, omnino separatus a carne non pot-
est peccare et homo, qui nihil est, non potest peccare, quam
dia ille spiritus, qui est Deus, est in co. Ille operatur omnia
in omnibus. Caes. H. 1. c. Aehnlich die Begharden: quod
homo magis tenetur sequi instinctum interiorem, quam verita-
tem evangelii. Mosh. p. 258,
b) — — Dominum tantummmodo bonum et non iustum praedi-
cantes. Rigord. |, c.
c) Negabant resurrectionem corporum, dicentes nihil esse para-
disum neque infernum, sed qui haberet in se cognitionem Dei
(quam habebant), haberet in se paradisnam; qui vero mortale
peccatum, haberet infernum in se sicut dentem putridum in
ore. Caes, H. ]. c.
21”
302 Krönlein
Damit wäre denn Alles zuſammengeſtellt, was von
dieſer für ihre Zeit eben fo verwegenen, als in fich felbkt
rüdfichtölod confequenten Theorie in zerſtreuten Notizen
auf und gefommen if. Nimmt man hinzu, daß bie Amal⸗
ricaner auch gegen die beflehenden kirchlichen Zuflände
heftigen Tadel erhoben haben «), fo bedarf e& nach der
bisherigen Darftelung kaum der befondern Erinnerung,
daß die ganze Schule weſentlich auf dem Boden des res
formatorifchen Strebens jener Zeit überhaupt ſteht, wel
ches fich in ihren Anfichten infofern gleichſam wie in eir
nem Brennpunkte fammelt, als fie wenigſtens den Anlauf
zu einer principiellereun Kundamentirung berfelben genom:
men zu haben fcheint. —
c) Die Lehre David’d von Dinant.
Wenn die Amalricaner zu einem förmlichen Wider
fpruche gegen das beſtehende religiöfe und kirchliche Sy⸗
ſtem fortgingen, fo trat David von Dinant in ein
nicht minder feindliches Verhältniß dagegen, nur daß er
nicht wie jene das dogmatifhe und praftifch kirchliche,
fondern vielmehr das rein philofophifche, oder
näher, das metaphyfifche und fpeculativ theo»
logiſche Intereffe verfolgte Und zwar hat er diefe
oppofltive Richtung mit einer Entfchiedenheit augzubilden
gefucht, wie man fie wohl bei feinem anderen Philofopfen
ded chriftlihen Mittelalterd wiederfindet. Leider ift von
feinen eigenen Aufzeichnungen nichts auf und gekommen,
und die fpärlichen Notizen: Anderer, meiftens ans einzel
nen und zufammenhangslofen Argumentationen beftchend,
reichen kaum zu, feine Weltanfhauung auch nur in ihren
allgemeinften Beziehungen erkennen zu laffen, ob es mir
gleich gelungen ift, durch Auffindung neuer Fragmente
a) Dicebat (dicebant) enim, quia Papa esset Antichristus, et Roma
Babylon. — Du Plessis (collect. Iudic.) 3. f. 180.
Amalrich v. Bena u, David v. Dinant. 303
die begüglichen Materialien um mehr ald um bad Doppelte
ju vermehren.
Man findet die einzigen Mittheilungen über feine Lehre
nur bei Albertus Magnus und Thomas von
Aquin, welde in ihren weitläufigen Schriften, zumal
in ihren Summen der Theologie und in ihren Commen⸗
taren zum Magifter Sententiarum, bie und da einzelne
Anfichten des Häretikers vorgebracht haben, um fie zum
Gegenftande ihrer Polemik zu machen. Da die firchlich
angeordnete Einlieferung und Berbrennung feiner Schrift
ın das Jünglingsalter Albert’d (geb. 1193) fiel, fo wäre
ja fragen, woher biefer berühmte Theolog feine Kennts
nid von der david'ſchen Philofophie hatte. Jedenfalls
Reht feft, daß er mit einem Schüler des Dinanterd, Na⸗
mens Balduin, über eine der oberfien Schlußfolger
rungen des Meifterd disputirte; die Vermuthung Liegt
deßhalb nahe, daß er auf dem Wege der Disputation
auch noch weitere Erfahrungen über die Lehre deflelben
sachen fonnte, Wenn dagegen Tennemann meint, ed
müßten wohl einzelne Eremplare des verurtheilten Buches
der Vernichtung entgangen feyn und von bdiefen eines
Albert vorgelegen haben, fo wäre an eine Stelle zu er»
innern, in welcher der leßtere nad, einer längeren An⸗
führung david’fcher Sätze fagt: „et haec sunt fortiora,
que de errore isto (d. h. von der Philofophie David’s)
ad me pervenerunt a),“ woraus hervorgeht, daß, wenn
sr auch fchriftliche Ueberbleibfel vor ſich hatte, dieſe nicht
die ganze Schrift des Häretikers ſeyn konnten. — Tho⸗
mad von Aquin hatte wohl Feine unmittelbare Quellen;
die wenigen Kragmente nämlich, die man bei ihm findet
und die nichts Neues enthalten, hat er zweifeldohne aus
den Schriften feines Lehrerd Albert entnommen.
a) Summ. theol. part. I.
304 Krönlein
Aus allen uns erhaltenen Sägen drängt fidh offenbar
als Mittels und Zielpunft der verurtheilten Lehre der
Gedanke von der Identität alles Wirklichen im
Abfoluten hervor. David iſt unerfchöpflich an Argus
mentationen zur Begründung diefer Anficht, wobei er
feinen ganzen Scharffinn und die ganze, ihm zu Gebote
ftehende ſyllogiſtiſche Kunft und Gelehrſamkeit aufbietet.
Er unterſchied nach einigen Stellen die Dinge in
brei Sattungen, in materielle oder körperliche,
immaterielle oder fpirituelle, und göttliche
oder, wie Thomas von Aquin die letzteren nennt, ewige,
(von allem endlichen Dafeyn) getrennte Subftans
zen. Für jede der drei Gattungen nahm er ein allger
meines, untheilbares und einfaches Princip an,
und führte fo die Sörperlichen Dinge auf die Materie
(materia, 54n), die fpirituellen auf den Geiſt (spiritus,
mens, voös) und bie göttlihen auf Gott zurück. Bei
der Abftractheit nun, mit der er ben Begriff des Prin-
cips felbft faßte, lag der Gedanke nahe, baß ben vor
außgefegten Principien vermöge ihrer abfoluten Einfach⸗
heit Feinerlei unterfcheidende Charaktere zufommen Eönn-
ten, und daß fie darum in ihrem Weſen daffelbe ſeyn
müßten a). — In anderen Stellen wiegt mehr eine Di»
— — nm.
a) Sunt quidam haeretici dicentes Deum et materiam primam et
vods sive mentem idem esse. Quod sic probant: quaecungue
sunt et nullam differentiam habent eadem sunt. Idem euim
est, ut dicit Aristoteles 7. top., quod non differt differentia.
Deus, sovg et materia prima sunt et nullam differentiam ha-
beut, ergo. eadem sunt. Quod autem haec tria sint et plura
principia rerum, ex hoc volebant probare, quod res sint tri-
plices, scilicet materiales, spirituales et divinae nec ex uno
principio proprio formabiles. Primum ergo principium forme-
tionis materialium est materia, ut dicunt, et primum princi-
pium formationis spiritualium, in quibus principium vitae cst,
.dicunt, quod est sovg, sive mens. Dicunt enim, quod omnis,
Quae sunt in uno genere, ex uno aliquo principio simplici for-
Amalrih v. Bena u. David p. Dinant. 305
ch oto miſche Unterfcheibung vor, indem bier ber ges
tremten Subflanzen feine Erwähnung geſchieht und
Gott gleichſam als die dem Materiellen und Geifligen zu
mantor, ut patet in omnibus generibus entis, sciliott substantia,
guantitate, qualitate, et sic de aliis. Similiter divinum esse
multiplex est, ut dicunt, et necesse est, quod ex aliquo uno
formetur principio, et hoc dicunt esse Deum. Haec ergo Iria
sunt simplicia prima, et si sunt simplicia, nullam differentiam
kabent; quaecunque enim habent differentias, sunt composila.
Et sic suam volunt probasse intentionem. Et in hoc errore fuit
David de Dinanto. — Albert. M. summ. part. J. tract. 6, quaest.
29. art. 2, — — Quoramdam antiquoram philosophorum er-
ror fuit, „quod Deus esset de essentia omniam rerum.” Po-
nebant enim omnia esse unum siimpliciter et non differre, nisi
forte secundum sensum vel aestimationem, ut Parmenides dixit.
Et illos etiam antiquos philosophos secuti sunt quidam mo-
derni, ut David de Dinanto. Divisit enim rcs in tres partes,
in corpora, anımas et substantias aeternas separatas. Et pri-
mem indivisibile, ex quo constitunntur corpora, dixit „GAnv,”
primum autem indivisibile, ex quo constituuntur animae, dixit
„s009’”’ vel mentem, primum aatem indivisibile in substantiis
aeternis dixit „Deum,’” et haec tria esse unum et idem, ex
quo iteram consequitur esse omnia per essentiam unum. —
Thom. Aq.insecund. sentent. libr. dist. 17. quaest, 1. art. 1. solut.
Man vergleiche damit folgende Stelle bei Albert. Magnus:
Discipuloe autem eius quidam Balduinus nomine, contra me-
ipsam disputans, talemlicet vijlem indaxit rationem: quod quee-
cunque sunt et nullo modo differunt, sunt eadem. Deus et.
materia et 90% sunt et nullo differunt, ergo eadem sunt.
(Noög antem Graece, Latine sonat ‚„mens’”.) Et volebat, quod
ita se huberet voog ad intellectum et intelligibilia, sicut se
khabet YAn ad sensibilia. Qnod autem nullo modo difierant,
sic nitebatar probure: quaecangue nullam diiferentiam habent,
nullo modo differunt. Dicit, enim Aristoteles in VII. top.
quod idem est, a quo non differt differentia. Simplicia autem
prime nullam differentiam habent, quia, si differentiam habe-
rent, composita essent, Deus, Un, vodg simplicia prima sunt;
ergo nullam habent differentiam; ergo nullo modo differunt,
et sic per consequens eadem sunt. Et hoc est propositum
ipsias. — Summ. theol. II. p. 63. cf. de caus. et proc. un. IV,
5. p. 556. b.
306 roͤnlein
Grunde liegende Einheit angeſehen wird. Und ſo wird
es jetzt ſchon begreiflich, wie auch hier wieder der Satz
zum Vorſcheine kommt, Alles ſey eins, und das
Eine ſey Bott). —
Mit dem letzten Satze hat natürlich David keine
ihm eigenthümliche, ſondern nur eine allen ſonſt noch
ſo verſchiedenen pantheiſtiſchen Syſtemen gemeinſame An⸗
ſicht ausgeſprochen, und da die nähere Bedeutung, die
er bemfelben unterlegte, auch aus der vorangehenden
Beweisführung nicht deutlih und vollfländig genug zu
erfehen ift, fo hätten wir und noch nach weiteren Be
bauptungen umzufehen, wollten wir den fpecififchen Cha:
rakter feiner Lehre im Unterfhiebe von anderen Identi⸗
tätslehren kennen lernen. Freilich ift ed wegen ber Unde⸗
Rimmtheiten, Schwanfungen und Widerſprüche, denen
man in ben wenigen und zufammenhangslofen Aeuße:
rungen, die noch vorhanden find, begegnet, ungemein
fchwierig, auch nur mit einiger Sicherheit zum inneren
Berftändnifie der Sache vorzudringen,
Sogleich tritt ung die Behauptung Albert’3 entgegen,
der Dinanter babe in Gott dag materielle Princip
von Allem gefehen, und darauf hin hat man ihn im der
Regel kurzweg in die Reihe der Materialiften ge
ſtellt. Er fol nämlich gefagt haben, die materiellen
Dinge wären aus der erften Materie, und die fpirituellen
aus dem Geiſte gebildet, — die erfie Materie und der
Geift wären demnach die urfprünglichen bildbaren Prins
cipien. Was aber in eine Mannichfaltigkeit
von gleihartigen Dingen bildbar fey, dad
nenne man nach eineh ariftotelifhen Grund,
fage „Materie” oder wenigftend „materiels
les Princip.” Dieſes vorausgefchidt, käme «6
a) Omnia esse unum, et hoc unum dizit esse Deum. Vergl. ein
fpäter beigubringenbes Gitat,
Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 307
baranf an, ob bie erfte Materie und der Geiſt verſchie⸗
den wären ober nicht. Wären fie verfchieben, fo müßten
fie ein gemeinfamee Drittes haben, von welchem
die Berfchiedenheit ausginge, nnd biefed Gemeinfame
wäre dann das zu dem Berfchiedenen Bilbbare und in»
fofern die Materie deſſelben. In diefem Falle aber
würde der erſten Materie eine Materie vorausgeſetzt,
was (denn fo mochte er doch wohl die Sache angefehen
babe»), da die leßtere doch wieder eine erfte Materie
jue Borausfegung habe, zu einem Kortgange ins Un⸗
endliche führte. So bliebe denn nur die Annahme übrig,-
daß die erfie Materie und der Geift im Weſen daſſelbe
wären. — Bermittelft derfelben Argumentation wird dann
auch die Identität beider mit Gott nadhgewiefen a).
a) Alexander etiam in quodam libello, quem fecit de principio in-
corporeae et corporeae substantiae, quem secutus est quidam
David de Dinanto in libro, quem scripsit „„‚de tomis, h, e. de
divisionibus’”’” dicit Deum esse principium materiale omniam.
Quod probat sic: quia vodg, h. e. substantia ınentalis, primum
formabile est in omnem substautiam incorpoream. Primum au-
tem formabile in res alicuias generis primum materiale est ad
illa; soUg ergo primum principium est ad omnes incorporeas
sabstantias. Materia autem possibilis ad tres dimensiones pri-
mum formabile est in omnes corporales substantias ; ergo est
primom materiale ad illas. Quaero, si vovg et ınateria prima
differunt an non? — Si differunt, sub aliquo communi, a quo
illa differentia egreditur, differunt, et illud commaune per diffe-
rentias formabile est in utrumque. Quod autem unum forma-
bile est in plura, materja est, vel ad minus principium mate-
riale; propter quod in IX. primae philosophiae dicit philoso-
phus, „„,qauod quaecungue sunt in geuere uno, eorum est materia
una.”” Si ergo dicatur una/m) materiu(m) esse materiae
primae et »00g, erit primae materiae materia, et hoc ibit in
iehnitum. Relinquitur ergo, quod 909g et materia prima sunt
idem. — Similiter Deus et prima materia et vyoug aut dillerunt,
aut non. Si differunt, oportet, quod sub aliquo communi, a
quo differentiue illae exeuut, .differant, et sequitur ex hoc,
quod illad commune genus sit ad illa, et quod hoc genus ma-
308 Rrönlein
Die waterialiftifche Deutung, bie bier ber Begriff
des Abſoluten erfährt, beruht, wie man ſieht, darauf,
dag eine gemeinfame Einheit des Berfchiebenen angenoms
men und darin das bloße Object der Korm gefunden
wird. Diefer Dentweife lagen offenbar gewiſſe Beſtim⸗
mungen bed Ariftoteled über die erſte Materie zu Grunde,
ans denen David auch noch andere aufgriff, um feinen
oberften Lehrfag zu erhärten. So madıt er 3. B. daranf
aufinerffam, daß bei allem Entgegengefehten etwas ans
genommen werben müfle, welches, felbft Feines der Ent:
-gegengefeßten ſeyend, ober dem einen oder dem anderen
von ihnen entgegengefeßt, als ihr gemeinfames Subſtrat
anzufebhen fey. Da nun an der Mäterie und dem Geifte,
oder an dem Leibe und der Seele die Gegenfäge des Ac⸗
tiven und Paffiven zum Borfcheine fämen, fo müßte auch
eine neutrale Unterlage voraudgefegt werden, in weldyer
fie zufammenfielen 9. Und außer Wriftoteled beruft er
terialis principii sit notitia ad ille, et quod primorum materia-
lium sit materia, quod inconveniens est, sicat prios habitum
est. Et ex hoc videtur relinqui, quod Deus et vovg et materia
prima idem sunt, secandam id, quod sunt, quia quaecunque
sunt et nulla differentia differunt, eadem sunt. Deus autemet
voög et materia prima sunt et nulla differentia differunt, ut
iam probatum est; ergo eadem sunt, dicente Aristotele in IX.
top., quod idem est, a quo non differunt differentia. Summ.
theol. ]. tract. 4. quaest. 20. membr. 2.
a) — — Omne passibile per contrarias formas est passibile etnon
per subiectum, quod substat contrariis. Et hoc probatur per
hoc, quod subiectum in passivis omnibus neutri contrariorum est
contrarium. Anima et Öln passibilia sunt, sentire enim et in-
telligere pati est. Inde procedunt sic: quod subiectum non est
passibile nec activum; hoc ideo est, ut dicit philosophus, „‚quia
in omnibus unum.”’ Anima et #4n sunt duo subiecta, actionem
et passionem suscipieutia ; ergo propter hoc activa non sunt
in invicem, quia in omnibus agentibus et patientibus sunt idem
nullam habentia contrarietatem. Ergo iutellectus et #4n sunt
idem in substantia. — Alb. summ. theol, II. tract. 12. quaest. 72.
Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 309
fh auch noch auf mehrere andere Philoſophen bes Alters
thumd, wobel ed faum der Bemerkung bedarf, daß bie
bier zu Tage treiende Kenntniß der antiten Philofophie
ih, vom Standpunkte unferer heutigen Einficht in die
Geſchichte der Dhilofophie aus angefehen, freilih unzu⸗
länglich und unfeitifch genug ausnimmt a).
Scheint demnach unfer Metaphyſiker die abfolute
Identität im materialiftifchen Sinne verftanden zu haben,
membr. 4. art. 2. — Man vergleiche weiter: Secundo inducit
(David), quod Aristoteles dicit in J. phys., qued antiqui phi-
losophi dixerunt unum solum esse id quod est et illud esse
iodivisibile et immobile, et hoc esse vn sive primam mate-
sam. Unum autem, quod est indivisibile et immobile, dicit
non posse conrenire, nisi Deo; et sic Deum et materiam pri-
mam dicit esse idem. — Tertio pro se inducit versus Orphei,
in quibus, ut dicit, Deum universum esse affırmat; et cum con-
stet universum esse in forma diversum et unum in materia,
arguit, quod hoc non potest esse, nisi Deus et materia prima
sint idem. Dicit etiam, quod ipsos versus Aristoteles inseruit
cuidam libero sao, in quo sermonem facit de Deo. Daſ.
a) Deinde quaeritur de erroribus Epicureorum et maxime de anti-
quo errore Anaximenis, qui nuper per quendam David de Di-
nanto renovatus est, qui dixit Deum et materiam primam esse
idem, inducens super hoc antiguum Anaximenem, qui dixit,
omnia esse unum (ut dicit Aristot. ia I. prim. philos.) et hoc
unum dixit esse Deum. Et illud unum David interpretatur esse
matersam, eo quod nihil secundum eum verum est, nisi mate-
ria; formas enim non dicit esse nisi secundum 'sensum. —
Ioducit etiam discipalum Anaximenis Democritum, qui compul-
sus segui sensum duo dixit esse, unum scilicet secundum ratio-
nem et alterum secundum sensum. Dicebat enim, qnod omnia,
quae sunt unum, sunt indivisibile eo, quod, omni forma ablata
a materia, substantia indivisibilis est. Indivisibile autem, in
quo omnia fandantar et tenentur et quod in omnibus est, non
esse nisi materiam primam, de qua dicit Plato, quod est sicut
matricula concipiens omnia, Qquae in natura formata suut, et
de qua Aristot. dicit in fine I. phys., quod est parens in totam
naturam. Et hoc dixit esse Deum, qnia hoc, quod omnia tenet
et in qao omnia fundantur, ut in esse permaneant, non potest
esse nisi Deus. Daſ.
310 Krönlein
fo befißen wir doch zugleich wieder einige feiner Aeuße⸗
rungen, die entweder nichts davon enthalten, oder gar
zu einer Art ivealiftifher Tendenz hinneigen. Man
könnte dahin fchon eine Argumentation rechnen, der ich
an verfchiedenen Orten begegnet bin, in welcher er, aber:
mals zur Bewahrheitung feines Hauptfabes, feinen Aus⸗
gang von geiftigen Motiven und Beziehungen nimmt.
Das Erkennen nämlich, fo raifonirt er bier, gebe nur
in Kolge einer Affimilation des Berftandes zu dem zu er-
fenuenden Gegenſtande vor fih. Die Affimilation aber
ſey entweder accidenteller oder fubftantieller
Art, Die erftere beftehe nämlich darin, daß der erken⸗
nende Geift die Korm von dem zu erfennenden Ge
genftand abflrahirte, — was natürlich nur bei ge:
formten Gegenftänden (cd. h. bei denen, welche in das
Bereich der endlichen Welt gehörten) angehe. Da nun
Gott und die Materie als abfolute Einfachheiten der
Form entbehrten und doch durch den Berftand erkannt
würden, fo finde bier nicht Die accidentelle, ſondern Die fub-
ftantielle Affimilation flat. Das Refultat jener fey eine
bloße Berähnlihung ded Subjectiven und Objectiven,
das Reſultat diefer dagegen die völlige Sdpentität,
welche nur auf dem Grunde der vorauszufeßenden Iden⸗
tität des Weſens möglich ſey. Daraus folge dann die
Einerleiheit von Geiſt, Materie und Gott in der Sub⸗
ftanz von felbft a).
a) — „Intellectus intelligit Deum et Hin» sive materiam, sed ni-
hil iutelligit intellectus, nisi per assimilationem ad ipsum;
oportet igitur, quod assimilatio sit intellectus ad Deum et HAnr.
Haec autem assimilatio vel est per identitatem vel per simpli-
cem assimilationem, Sed non est per simplicem assimilatio-
nem, quia assimilatio non fit, nisi per formam abstractam ab
eo, quod intelligitur, YAn autem et Deus nullam habent for-
mam. Si ergo intelliguntur, oportet, quod per identitatem,
quam habent ad intellectum, intelligautur. Intelleotas igitur et
Amaltih v. Bena u. David v, Dinant. 311
Auf derſelben Dentoermittelung beruht ed wohl auch,
wenn er ſich den ariftotelifchen Gedanken aneignet, daß
das thatfächlich erfennende Subject und das wirkliche
Erkennen und Wiflen mit feinem Gegenftande identifd)
fey a). Ta, er fchließt fih gar denjenigen an, welche in
Gott den „Weltgeift” b) (mens universi), oder auch bie
„Weisheit und Bernunft ſehen, durch welche
Alles hervorgebracht, geleitet, getragen und
verfnüpft werde” c). Denn dieß fcheint Doch, minde⸗
sn et Deus idem sunt in substantia.” Alb. Summ. Il.tract. 42.
quaest. 72. membr. 4. art. 2. — Hanc argumentationem Alber-
tus alibi ita refert: „intellectus intelligit Deum et 9477 ; Brgo
oportet, quod habeat similitudinem cum Deo et #in, vel sit
idem cam illis, quie nihil intelligit intellectus, nisi per con-
iunctionem intelligibilis ad ipsum. Sed non sunt, nisi duo
modi coniunctionis, scilicet accidentalis et substantialis. Acci-
dentalis facit similitudinem, substantialis vero identitatem. Ergo
necesse est, quod intellectus YAny et Deum altero istorum mo-
dorum accipiat. Non autem accipit per similitudinem eorum,
quia per similitadinem nihil intelligitur, nisi quod habet for-
mam, quae potest abstrahi ab ipsa, sed talem formam non ha-
bet Deus nec Jin. Ergo non hoc modo accipiuntur, ergo
sccipiuntur per identitotem, et ita intellectas et Dens et v4n
idem sunt.” — Summ. de creaturis part. II. quaest. 5.art.2. —
Cf. Thom. Ag. in II, sentent, lib. dist. 17. quaest. 1. art. 1. no. 4.
a) Quod scientia secandum actum est res scita; und an einer an⸗
deren Stelle: Omnino autem intellectus et intelligens secun-
dum actum est res intellecta. Daf.
b) Quinto inducit pro se Senecam sic dicentem: quid est Deus?
et respondet: mens universi.. Quid est, quod vides totum?
totam ubique est; opus suum in terra et extra replet; cuide-
mam magnitudo sua redditur, quo nihil maius excogitari pot-
est. Haec omnia intelligi vult de materia prima (?), et quod
haec sit Deus (?). Daf.
e) Ad hoc etiam indacit versus quosdam, qui scripti leguntur in
templo Palladis, apud eos, qui Palladem dixerunt esse Deam
sapientiae. Per sapientiam autem et providentiam
etomniaproducunturetregunturet continentur.
Hoc autem dixerunt esse materiam-et Deum (?). Sensusautem
312 Kroͤnlein
ſtens geſagt, ſeltſam, daß er, wie Albert behauptet, unter
dieſen Idealitäten wiederum nichts Anderes verftanden
haben ſollte, als die erſte Materie.
So hätten wir denn in einigen Sätzen den Materia⸗
lismus, in anderen den objectiven Idealismus gefunden.
Run fehlt ed auch nidht an Spuren, in welchen fi fo
gar eine Dritte Rihtung vermuthen liege. Dahin
gehört außer anderen mehr oder minder bedeutfanen Aen⸗
Berungen vornehmlich ein Fragment, in welchem in dem
Begriffe des Abfoluten alle möglichen concreteren
Beftimmungen, fogar die der Materie un,
fin darf hinzufügen, des Geiſtes ausgetilgt wer
dew, fo daß alfo nur die rein abftracte (logiſche)
Subfiantialität ale ſolche übrig bleibt «). — —
versuum iste est: quod Pallas est quidquid fuit, quidquid est
et quidquid erit, nec aliquis homo detexerit peplum, quo fa-
cies eius velabatur. — Dicit etiam, quod refert Plutarchus,
quod vetustissimi philosophorum interpretati foerunt illud
faisse dictum de Deo, qui peplo tectus est, quia omnes eum
ignorant et omnes nihil sliud, quam ipsum vident. Peplum
autem, quo ipse tectus est, videtur esse sensus, qui est in anima
et forma, guae est in corpore, quibus Mobus circumscriptus,
ab anıma et corpore apparet ipse Deus in propria sui natura. —
'Quarto pro se inducit, quod longo tempore post (Aristotelem)
Lucanus eosdem versus operi suo inseruit, dicens:
„Seimas et hoc melius nobis non inseret Hammon.
„Haeremas canctis saperis temploque tacente ;
„Nil agimus, nisi sponte Deum ... .
Et post pauca:
„Estne®Dei sedes nisi terra, pontus et aër?
„lapiter est, quodcungue vides, quocunque moveris.” Daf.
a) „Quod etiam haec duo idem sint cum Deo, sic probat Darid:
idem est, a quo non differt differentia, sicut dicit Aristoteles in
VII. topicorum, et dat exemplam, quod punctum est principium
continui et unitas principium discreti, et non differunt in eo,
quod prima sunt, sed differunt in hoc, quod punctum hsbet
positionem continui et unitas discreti ordinem. Si ergo abstra-
hantur ab eis istae differeutiae (cum idem sit, a quo non differt
Amalrich v. Bena u. Davib v. Dinant. 313
Haben wir fonac drei verfchiebene Richtungen in
der Lehre David's anzunehmen oder nur gegenfägliche
Beſtimmungen, die fich doch wieder unter einander aus⸗
gleichen laffen? Gehen wir noch einmal auf den bereg-
teu Materialismus zurüd, fo briugen Albertus Magnus
und Thomas von Aquin fortwährend dagegen vor, daß
die Materie ja doch nur die ftoffliche Vorausſetzung ber
Form, oder genauer nad, einem arifotelifchen Auobrucke
dad „primum patiene” oder „suscipiene” fey. Sie übers
fehen jedoch, daß der Dinanter außer den negativen und
abfiracten Prädicaten der Einfachheit, Unterfchiedlofigkeit,
Neutralität, Untheilbarfeit und lnbeweglichleit gerade
die von ihr ausſagt, daß fie fey dad „Bildbare”
(formabile) und (ausdrüdlich) das erfte „Empfäng-
lide” (primum suscipiens), Fällt alfo diefe Einrede
differentia), punctum et unitas erunt idem in substantia. A
simili Deus et materia et intellectus sive mens sunt prima, unum
qaodgue in ordine suo, et (sicut dicit) non differunt in eo,
quod prime sunt (aliter esset idem principium convenientiae et
differentiae), sod in hoc, quod Deus est primum efficiens et din
primum suscipiens. Si ergo abstrahatur ab his diflerentiis, idom
erunt.: Una ergo substantia est, quae est Deus, Hin et intelle-
ctus.“ Daſ. — Dean vergleihe damit folgende Gtellen:
manifestum est igitur unam solam substantiam esse non tantum
omuium corporum, sed etiam omnium animarum, et hanc nihil
aliud esse, quam ipsum Deum, quia substantia, de qua sunt
omnia corpora, dicitur 47, substantia vero, de qua sunt omnes
animae, dicitur ratio vel mens. Manifestum est igitur Deum
esse substantiam omnium corporum ei omnium animarum. Pa-
tet igitar quod Deus et 84n et mens una sola substantia sunt.
Daf. Und: In omnibus resolutionibus sic est, quod contingit de-
venire ad unum simplicissimum, quod ulterius non resolritur, et
in quo non differunt ea, quae resolvuntur. Sed constat, quod
corporalia ad hoc deveniunt, quod in 9479 resolvuntar, spiritua-
lia resolvuntur in mentem sive vods in Graeco; et si deducatur
resolutio, non stabit nisi ia simplicissimo, et hoc non potest
esse, nisi Deus. Cum ergo omnis resolutio stet in his tribus ut
in ultimis, oportet, quod haec tria sunt' unum in substantie.
Daf,
314 Kroͤnlein
von ſelbſt weg, ſo bleibt doch der allgemeine Grund der⸗
ſelben inſofern ſtehen, als nicht abzuſehen iſt, wie denn,
wenn ed nur ein Bildbares und Empfängliches gäbe,
und nicht zugleich ein Bildendes und Kormgeben
Des, welches ſich des erfteren bemächtigte, überbanpt
etwas werben und feyn könnte. Dem Daß er etwa,
den Eleaten ähnlich, felbft auf die Gefahr, zur Mannich⸗
faltigteit ded Wirklichen feinen Uebergang zu finden, feis
nen Identitätsſtandpunkt habe ausbilden und fefthalten
wollen, — dem widerfpricht der ganze Charakter feiner
Philoſophie, das wiſſenſchaftliche Intereffe, welches er
verfolgte, und die ganze gefchichtliche ——— von
der er ausging.
Müflen wir deßhalb ſchon vorausſetzen, er werde ſich
noch nach weiteren Principien umgeſehen haben, um das
Daſeyn zu erklären, fo findet dieſe Vorausſetzung ihre
Betätigung in feinen eigenen Aeußerungen. So ſpricht
er in den bereits angeführten Stellen von einem „Les
bensprincipe, welhesdem Beiftigeneinwohne”
(— spiritualia, in quibus principium vitae est), ja er ber
zeichnet Gott geradezu mit dem ariftotelifchen Terminus
des „erften Bewirfenden” "(primum efficiens). &o viel
frheint alfo doch richtig, daß er die Begriffe der Bilbbar-
feit oder Kormempfänglichkeit, wie der Lebenskraft und
erſten Wirkſamkeit gleihmäßig ald Prädicate des Abfoluten
angejehen habe, woraus dann von felbft folgen wärde,
daß ihm wohl die Seßung bloß desk@inen oder
bed Andern ale Subject nit als ſtatthaft
erfhienen feygn fünnte Damit wären wir in bie
jenige Sphäre der Betradhtung vorgefchritten, von wels
cher aus allein, wie mir duͤnkt, die Antwort auf die oben
geftellte Frage ertheilt werden muß.
Menn man bedenkt, wie unfer Metaphufiter nicht
nur alle Hebel feiner Dialeftif in Bewegung febt, um bie
Realität der Alleinheitsidee überhaupt zu
Amalri v. Bena u. David v. Dinant. 315
beweifen, fondern in feiner Speculation von ber leßteren
fo fehr beberrfcht wirb, daß alle feine Argumentationen
darauf gerichtet find, — man vergleiche nur die jedes⸗
maligen Schlußfäbe oder lebten Urtheile berfelben —:
fo verſteht es ſich von ſelbſt, daß er, wollte man nicht
annehmen, er habe eine boppelte ober dreifache und ſich
widerfprecheude Philofophie gelehrt, jede Vorſtellungs⸗
weife von ſich abgewiefen haben wird, die irgendwie auf
ein Dualiftifche® hinausliefe. Solches wäre aber offenbar
der Zall, wollte man z. B. in feinem „Bildbaren” eine
qualitãtsloſe, corpusculare, träge Mafle fehen, an welche
bad „erſte Thätige” von außen heramträte, ganz ab»
gefehen davon, daß damit die Annahme des thätigen
Principe infofern wieder überhaupt in Frage geſtellt
würde, ald ja auch bie fpirituellen und fogar die gött⸗
lihen Dinge auf das bloße Bildbare zurüdgeführt
werden. Ueberdieß kann fchon darum die plumpe Aufs
faffung des Materiellen bei ihm nicht gut vermuthet wer⸗
den, weil er wefentlich von ariftotelifchen Beſtimmungen
ausging, Die zwar von ben arabifchen und chriſtlichen
Philoſophen des Mittelalters oft nicht zureichend erfannt
und verfchieden anufgefaßt, kaum aber jemals zu einer,
ihrem urfprünglicdhen Sinn fo ganz widerftrebenden Ber
deutung verkehrt worden find.
So ſcheint deun nur die Annahme übrig zu bleiben,
David habe allerdings bie oberfien Begenfäge des Wirk,
Iihen in ber abflracten Einheit bed Abfoluten aufgeho⸗
ben, ihnen jedoch ihre relative Geltung in Abficht auf
die mannichfachen, gewiflen von einander verfchiedenen
Kreifen angehörigen Eriftenzen und Entwidelungen wohl
vindicirt. Erinnert er doch ſelbſt an eine von Ariftotes
led vorgebrachte Analogie. Das Aehnliche, fagt er, finde
bei der Einheit und dem Punkte flatt; wie nämlich beide
darin einerlei feyen, baß fie den Charakter bed Anfängs
lihen überhaupt hätten, darin aber sinne, baß die
Theol. Stud, Jahrg. 1847,
316 - Keönlein
Einheit den Anfang des Didcreten, ber Punkt aber ben
Anfang des Sontinnirlichen bilde, fo feyen Materie, Geiſt
und Gott auh nur nad näheren concreten de
zie hungen von einander verfdieden, inſofern aber
identifch, ald man von den legteren abfehe.
Wenn es damit den Anfchein gewinnen könnte, ale
habe unferm Philofophen Die Idee eines rein ſubſſtan⸗
tiellen Pantheismue vorgefhwebt, etwa wie fie
mehrere Jahrhunderte nachher Spinoza (freilidh auf
feine Weife) ausgeführt hat, fo ſtehen doch einer fol-
hen Annahme, — und dieß muß ih gegen meine
eigene frühere Auffaffung bemerten, — vor:
nehmlich zwei Punkte entgegen. Einmal nämlich wird
das Geiflige im Ganzen fo wenig in feiner wefenhaften
Bedeutung hervorgehoben und zum Bellimmungsgrunde
bes Wirklichen gemacht, das Materielle dagegen wicht
bloß im Bereiche des Natürlichen,, fondern felbft des hör
bern Daſeyns fo fehr ‚vorangefteft, daß bie david'ſche
Grundanfhauung deßhalb unverkennbar einen naturas
liſtiſchen Strich an fi trägt. . Dann aber erfcheint
das Lebendige und Kraftthätige in einer Weile
als herrfchendes Princip, daß man fich, wie gezeigt wor-
den, zur Borausfegung berechtigt halten darf, David
habe darin ein Urattribut aller Dinge gefunden. Und fo
kaͤmen wir enblich zu ber Anficht, feine ganze Theorie
Taufe auf eine Alleinslehre von recht eigent-
lich naturaliſtiſch Dynamifher Färbung hin
and, in welcher freilih der Nachweis der blos
Ben abfoluten Jdentität alsſolcher vor Allem
erſtrebt werde.
Wie er ſich nun anf dieſem Grunde und Boden das
Verhältniß der letzten Principien im Nähern und Beſon⸗
dern gedacht, wie er ſodann von feinem Standpunkt aus
die Wirklichkeit erlärt haben mag, ob er in der weiteren
Entwidelung feiner Lehre doch wieder die höhere Digni⸗
Amaltih v. Bena u. David v. Dinant. 317
tät des Geiftigen hervorhob, wozu ihn gerade die ariſto⸗
telifche Philofophie forttreiben konnte, ja ob er nur über
die bloße Grundlegung feines Syſtems hinausgelommen
it: — dieß Alles find Fragen, auf welche wegen bes
Mangeld an Nachrichten nicht geantwortet werden fan.
Vielleicht würbe er in den ung vorliegenden Mittheilun-
gen feiner Gegner, deren Mängel unfchwer genug zu
erkennen find, nicht einmal überall feine Grundgedanken
wiederfinden =).
Um ſchließlich noch einnlal auf Amalrich und feine
Schule zurückzukommen, fo braucht nach biefen Ausfüh-
tungen kaum daran erinnert zu werden, daß David eine
von ihnen durchaus unabhängige wiffenfchaftliche Stellung
einnimmt. Während ſich Amalrich an Erigena anfchloß,
ſo nahm der Dinanter feinen Ausgang möglichit von ber
ariftotelifchen und antiken Philofophie and Literatur über»
hanpt b); während jener mehr die myſtiſche Anfchaunug
ur Dermittelung der Wahrheit angewendet zu haben
— —
a) Zur Begründung dieſer Bemerkung hebe ich nur einiges Haupt⸗
fählihere hervor. — Man begegnet bei Thomas von Aquin
mehreren Stellen (7. B. contr. gent. J. c. 17.), in welchen in
der Weife ber zuerſt angeführten Argumentation bie Identität
Gottes und der erften Materie bewiefen wird, ohne-daß bes Gei-
fies, als bes dritten Principe, auch nur Erwähnung geſchaͤhe.
Gleichmaͤßig Hätte filh auch, mit Uebergehung der erſten Materie
die bloße Identitaͤt Gottes und des Geiſtes zur Begründung bes
GSpiritualismus beweifen laflen, Und Aehnliches wäre von einigen
bereits angeführten Gitaten aus den Schriften Albert’s zu Tagen.
— Benn ferner von ber Materie gefagt wird, fie fey das „indivi-
sibile, in quo omnia fundantur et tenentar et quod in omnibus
est”, fo beißt es ähnlich von ber abfoluten Weisheit und Provi⸗
benz: „per quam omnia producantur et reguntur et conti-
nentur.”
b) Wollte man an die Achnlichleit des Zitels der Schrift David’s
„de tomis, h. e. de divisionibus,,” mit dem des erigena'ſchen
Buches „de divisione naturae” denken, fo ift doch baraus nichts
weiter zu folgern.
22°’
318 Krönlein
fcheint, fo bediente ſich dieſer überall der Syllogiſtik, und
während der erftere vorzugsweife dogmatiſche Beziehungen
im Auge gehabt zu haben fcheint, fo richtete der letztere feine
ganze Aufmerkfamkeit auf die oberften Fragen der Metaphyſil
and fpecnlativen Theologie. Durch den zuletzt hervorgeho⸗
benen Punkt, durdy die ganze Richtung feiner Philofophie
und durch den wiffenfchaftlicyen Ernft überhaupt unterſchei⸗
det fih David danı auch von den Amalricanern, welde,
außer der Ausbildung eines, wie ed fcheint, ganz ober
flächlichen Pantheismus, hanptfählich die Dogmatik zu
sationalifiren und die Kirche zu reformiren beftrebt wa.
ven. Iſt auch das Ipentitätäftreben bei Allen ein gemein
fames, fo geht doch auch dieſes fogleid wieder audein-
ander, iufofern auf der einen Seite bad idealiſtiſche
uud auf der andern das naturaliftifche Element vorwiegt.
Haben wir, wie früher fchon nachgewiefen, keinen bis
orifhen Grund, David in perfönliche Verbindung zu
Amalrich zu bringen, fo liegt alfo am Tage, daß ein folder
auch aus ber Lehre ſelbſt nicht genommen werden kann >»).
III.
Es mag auffallend feyn, wenn man in der mitte:
alterlihen Philofophie, deren Grund, Träger und Ends
punft die chriftliche Idee war, einer häretifchen Erſchei⸗
‚nung, wie bie vorfichend gezeichnete, begegnet, welche,
ausgegangen von einer, wie es faſt fcheint, unbemußten
und unbeabfichtigten Abweidhung von ber pofltiv religiö
fen Weltanfchauung, bis zu einer entfchiedenen, Durch alle
Mittel der Dialektif erfirebten Negation derfelben fort
gefchritten ift, zumal wenn man bebenft, daß fle über
dieß noch gerade in jene Zeit fiel, in welcher fich die
a) Einer einzigen Stelle bin ich bei einem unferer Bewährsmänner
begegnet (Thom. Aq. Samm. I, quaest. 8. Art. 8.), im welcher
David von Dinant und die Amalricaner zufammen erwähnt wer⸗
den, ohne daß fie jeboch in innern oder hiftorifchen Zuſammenhang
unter fich felb gebracht würden,
|
Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 319
Hierarchie unter Innocenz II. (reg, 1198—1216) zum
Höhepunkte ihrer Macht emporfhwang und mit der
graufamflen Strenge über die Reinerhaltung ber Kirchen»
Ichre wachte. Und doc enthält fie nichts, was fich nicht
aus dem Gange der wiflenfchaftlihen und religiöfen Ents
widelnng, aus welcher fle herausgewachfen ift, zufammen»
gehalten mit der äußern Rage der Dinge, erklären ließe,
Bon Amalrich und feiner Schule leuchtet dieß, nach
dem bereitd hierüber Befagten, unſchwer ein. Was den
erfteren anlangt, fo ift ed mir freilich mehr gelungen,
die Rebel zu zerftreuen, womit die fpätere Zeit ihn um⸗
geben, und dasjenige von ihm abzufcheiden, was nidht
jweifellog auf ihn perfönlich bezogen werden barf, ale
auf dem Grunde erheblicher neuer Thatſachen feinen Cha⸗
rakter und feine Lehre ausführlicher zu fchildern. Immer
bin aber reichen die beigebrachten Züge zu, und mit einer
gewiffen Sicherheit wenigftend im Allgemeinen die wiſſen⸗
(haftlihe Richtung erkennen zu laſſen, bie er auszubils
den bemüht war. Sie war wohl eine myſtiſche nad
Ärt der erigena’fchen, bie er fi zum Borbilde nahm a),
wobei der häretifhe Einſchlag in der Erklärung eines
dogmatifchen Punktes befonderd aufgefallen feyn mag.
Dadurch dürfte fich feine religiöfe Betrachtungsweife wohl
a) Im zwölften Jahrhunderte finden ſich merkwürbigerweife Teine
Spuren von einer Einwirkung der Schriften Joh. Scotus Griges
na's, während fie im Anfange bes breizebnten fehr eifrig ſtudiert
worden zu fein ſcheinen. Ausdruͤcklich nämlich fagt ber Papft
Honorius 311. in einem Briefe vom Jahre 1225, der Biſchof
von Paris habe ihm angezeigt: inventum esse quemdam librum,
qui periphysis tituletur, tot scatentem vermibus haereticae pra-
vitatis, ut in provinciali Senonensis archiepiscopas concilio iuato
Dei iudicio eum reprobaverit; Aunc autem librum claustrales
nonnullos et scholasticos viros studiose legere. Bruck. Ill. p.
690. — Uebrigens haben wohl andere zweideutige Ericheinungen
auf dem Gebiete der Wiffenfchaft jener Zeit, 5.8. die eines St
mon von Zournay (T 1227) keine Beziehung zu Grigena.
30 . Krönlein
auch von der chriflichen Myſtik im. engeren Sinne, wie
fie durch den heil. Bernhard und Hugo und Ri
‚hard von Gt. Bictor angebahnt und fpäter durd
Bonaventura, Gerfon u. N. weiter. ausgeführt
worden ift, unterfcheiden, und er wäre gleichfam ein
neues Anfangsglied jener (feit Erigena unterbrochenen)
Reihe von Myſtikern, bei welchen die an fich chriftliche
Lehre von der Immanenz aller Dinge in Gott und Bots
te in der Welt eine pantheifirende Deutung
gewinnt, wie man fie zunächſt in mehr oder minder
erceffiver Weife bei einigen Gecten ded 13. unb 14.
Jahrhunderts, 3. B. bei den Beghbarden und den
Brüdern und Schweſtern bes freien Geiſtes,
in großartigerer aber unb mitunter felbit ſehr edler
Durhbildung beidem Meifter Efhart, Ruysbroed,
dem Berfafler der beutfchen Theologie und vielen
Andern bie auf Jakob Böhme herab gewahrt.
Der Richtung wegen, welche die Schüler Amalrich's
einfchlugen, und wegen der Art, wie fie diefelbe zu ver
breiten fuchten, meint H. Ritter =) annehmen zu müſ⸗
fen, der Meifter habe wohl noch eine Geheimlehre ge:
habt, deren er ſich zum efoterifchen Gebrauche bedient
hätte. Es bedarf jedoch diefer Annahme nicht, um es
möglich zu finden, daß eine Anzahl von Perſonen in
einer fo fehr mit religiöfen Gährftoffen erfüllten und zum
Ercentrifchen geneigten Zeit von feinem Standpunkte
aus zu den oben gefdilderten Anfichten fortgehen konnte.
War die Lehre Amalrich's eine der erigena’fchen ähnliche,
fo durften fir nur mit Weglaſſung der theiftifchen Ele
mente den pantheiflifchen Einſchlag einfeitig hervorkehren,
— etwa wie ed auch zu einem andern Zwede die yarifer
Provincialfonode gethan hat, — um eine zureichende
Unterlage für den Fortbau zu haben, deu fie unternab:
a) Geſchichte ber Philof. VII. 625.
Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 321
men, Die Oppoſition gegen bie Kirche und ihre Lehre
theilten fie ohnehin mit ben zahllofen Secten der dama⸗
ligen Zeit (Katharer, Pateriner, Albigenfer, Waldenfer
u. 9.), die gerade um fo üppiger hervorzumuchern fchies
zen, je mehr der Einfluß ber Hierarchie wuchs. Unter
ihaen gibt es zugleich Einzelne, welche ſich einer ähn⸗
lihen rationaliftifchen Denkweiſe ergaben, — ja «8 fehlt
nicht an Spuren, welche beweifen, daß mitnnter in jenen
häretifchen Kreifen der font bominirende guoſtiſch⸗mani⸗
häifhe Dualismus zu Gunſten einer pantheiftifchen Welt:
onficht verworfen worden ift »). Anch zu andern ihrer
Eehrmeinungen, fogar zu den auffallendſten, bieten fich
Bergleichungspuntte aus der früheren Zeit b).
Ihr Standpunkt fcheint Übrigens kein wiflenfchaftlich
befonder® durchgebildeter geweſen zu feyn, am wenigften
der rein philofophifche Theil deſſelben. Nichts defto
weniger ift er fchon infofern intereffant, ald er uns
ein, zumal für jene Zeit überrafchended, Beifpiel gewährt,
wie ih ber Pantheismus der chriftlich Dogmatifchen Vor⸗
ſtellungen bemächtigt, um fie mit felbftbewußter Feder
Sewaltfamteit in fein Profruftesbett zu zwingen. Merk;
wärbigerweife ließen fich fogar mancherlei Analogien
zwiſchen einzelnen Anflichten unferer Häretifer und einer
neneften Religiousphilofophie aufweifen, wobei ich nur
an ihre Deutung dogmatifcher, ritueller und ethifcher
Berhältniffe auf bloße Borgänge des Bewußtſeyns er»
inneen will. —
a) Giefeler, Lehrbuch der Kirchengefch. II. Abth. 2. (2. Aufl.)
556. ©. Rot.
b) Dabin gehört z. B. ihre Anficht von ben drei Weltaltern, worüber
fi) in ähnlicher Weile der Abt Joachim von Kloris gegen
Ende des zwölften Jahrhunderts in feinen apofalyptiich phanta⸗
ſtiſchen Prophetien ausgefprocden bat. S. der Abt Joachim und
das ewige Evangelium in Engelhardi's kirchengeſchichtlichen
Abhandlungen. Erlangen. 1832,
322 Kroͤnlein
In dem gleich unmittelbaren Rapporte zu den Zeit⸗
ſtrebungen wie die Amalricaner ſteht nun zwar David
von Dinant nit, auch wollte er nicht reformirend und -
geftaltend in derſelben Weiſe wie fle auf die Dogmatil
oder gar auf die kirchlichen Verhältniſſe einwirken, un)
dennoch ruht auch feine Anſchauungsweiſe auf einem
Compiler von vorgefundenen wiffenfchaftlichen Beziehan⸗
gen. Schon der pantheiftifche Standpunkt überhaupt, —
und dieß gilt in anderer Weife auch für Amalrich und
feine Schule —, war rüdficytlich der biöherigen Entwicke⸗
[ungen der Philofophie Fein fo unmöglicher, ale es auf
den erften Blick feinen könnte Man durfte nur ges
wiffe Ausläufe der frühern chriftlichen Speculation haupt
ſächlich ins Auge faffen und das Unbeſtimmte, Schwan:
fende und Zweibeutige derfelben mit Abfehen von den
orthodoren Borausfegungen auf die rein logifche Beben
tung und den bloßen Wortverftand zurüdführen, um in
diejenige Sphäre gu gerathen, in welcher zumal unfer
Dialektiler fi bewegte. So negirte fchon ber heil.
Auguftin in der Idee Gottes alle qualitativen Beftim:
mungen, erhob fie in ihrer Allgemeinheit über bie ganze
Summe der untergeordneten Begriffe und gewann damit
die Vorftellung einer ganz abftracten abfoluten Wefenheit
(essentia, ober auch substantia, wie er fie denn doch
auch nannte), bie er wieder mit der Totalität des Wirk,
lichen in eine fo nahe Verbindung feßte, daß feine bezüg-
lichen Aeußerungen eine vollftändig pantheiflifche Auffaffung
zuließen, wenn man nicht wüßte, daß fle wenigſtens feiner
Intendion zuwiberliefe 2). Seine Anfichten haben aber
a) Ut sic intelligamus Deum, si possumus, sine qualitate bonum,
sine quantitate magnum, sine-intelligentia creatorem, sine situ
praesentem, sine habitu omnia contineotem, sine loco ubique
totum, sine tempore sempiternum, sine ulla sui mutatione ma-
tabilia facientem nihilque patientem. Quisquis Deum ita cogi-
Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 323
auf die mittelalterliche Philoſophie den bedeutendſten
Einfluß geübt, wie man 3. B. den unten angeführten
Stellen faſt überall begegnet. In einer ähnlich abftracti»
von Weife faßte Anfelm von Canterbury die Got⸗
teöidee. Sie Iöft ſich ihm nad einigen Stellen faſt ge,
radezn in das allgemeine Seyn oder den allge
meinften, weiter niht beftimmbaren Begriffauf,
gegenüber weldhem der relativen Wirklichkeit kaum eine
ſeldſtſtändige Eriftenz zugeſprochen wird «). Und noch
ſchärfer drückt ſich bei ähnlicher Anfhauung Abälard
bie und da Über die allgemeine Subftantialität Gottes
und ihres Berhältnifies zur Welt aus b). Auch Gilbert
tat, etsi nondum putest omuino invenire, quid sit, pie tamen
cavet, quantum p@fest, aliquid de eo sentire, quod non sit. Est
tamen sine dubitatione substantia vel, si melias hoc appellatur,
essentia. De trinit. V. c. 1842. — Deus est quaedem sub-
stantia, nam quod nulla substantia est, nihil omnino est. In
psalm. 68. (tom. VIII. p. 722. Bas. 1569.). — ferner: scien-
dum est, gaod Deus, immutabiliter semper in se ezistens, prae-
sentialiter, potentialiter, essentialiter est in omni natura sive
essentia sine sui delinitione, et in omni loco sine circumscri-
ptione, et in omni tempore sine sui mutabilitate, et praeterea in
sanctis spiritibus et animabus est excellentius per gratiam inhabi-
taus. Epist. 57: substantialiter est Deus ubique diffusus. G.
Ritter, Geſchichte der chriſti. Philoſ. 17. G. 272 ff.
a) Bei. bei. Monol, 8. und 18. 19. 28. Damit hängt audy fein
ontologiicher Beweis für das Dafeyn Gottes aufs genauefte zus
ſammen.
b) Patet divinam substantiam omnino indiridaam omninoque in-
formem perseverare ; atque ideo eam recte perfectum summum-
que bonnm dici et nulla alia re indigens, et sibi ipsi sufhiciens,
omniaque a se ipso habens, nec ab alio quidpiam accipiens.
Theol. christ. ap. Marten. thesaur. anecd. tom. V. col. 1264 seq.
— Haud absurde de his omnibus, quae efficere possumus, Deam
potentem praedicamus et omnia, quao agimus, eius notontiae
tribaimus, in quo vivimus, movemur et sumus quique omnia
operatur in omnibus. ÜUtitur enim nobis ad efficiendum ea,
quae vult, quasi instrumentis, et sio id quoque facere aliquo
324 Kroͤnlein
be la Porrée bob dadurch bie Idee Gottes aus dem
Kreiſe aller andern Vorſtellungen heraus, daß er den lo⸗
giſchen Begriff des Seyns ohne Präbicate auf ihn über,
trägt, womit er aufs innigfte die negative Beflimmung
der abfoluten Einfachheit verknüpft a).
. Als dann Peter der Lombarde in feinen Mas
gifter Sententiarum — biefem dogmatifchen Coder
der fpäteren Theologie — diefelbe Betrachtungsweiſe vor,
gebracht und durch theologifche Autoritäten geſtützt hatte,
pflanzte fie fich in den Ausführungen feiner zahlloſen Er-
klärer fort b). Daß fie ohnehin dem Realismus mit feis
ner Derallgemeinerungstendenz befonberd zufagen mußte,
obfhon fle ihm nicht allein angehört, mag nur beiläufig
bemerft werden. Zulegt verdient noch der geiftreiche
Alain von.Lille (Alauus ab iusulig) , ein Zeitgenofle
modo dioitur, quod nos facere facit, et posse omnia dicitur,
quia sive per se sive per subiectam creaturam omnia, quae vult
et quomodo vult, operatur. Ibid. col. 1351. Wenn v. Eou-
fin (Oeuvres I. p. 192. Bruxell. 1840.) bemerkt, daß Amals
sich und David Abälard gefolgt wären, fo Tann von einer Abs
haͤngigkeit derfelben allerhoͤchſtens in der oben angebeuteten Weile
die Rebe fegn.
a) So fagt er 2. B.: Id vern, quod est Deus, quod est, non
mndo in se simplex est, sed etiam ab his, quae adesse sub-
sistentibos solent, ita solitarium est, ut praeter id unum pro-
prietate singulare,, dissimilitadine individuum, quo est, aliud
aliquid,, quo esse intelligatur, prorsus non habet. In Boeth.
I. p. 115%. — Gott wird dann wie bei den Fruͤheren ossentia
und uneigentlich auch substantia genannt. Won der essentia fagt
Gilbert: Essentia est illa res, quae est ipsum esse, id est,
quae non ab alio mutuat dictionem et ex qua est essc, id
est, quae caeteris eandemquadam participatione extrinseca com-
munscat. Daf. I. p. 1140.
b) Mag. sentent. I. dist. 8. und alle Erklärungen zu biefer Stelle.
Hierher gehört ferner noch das ftehende Kapitel de simplicitate
Dei in allen Summen ber Theologie jener Beit, S. u, a. bie
von Wilhelm von Paris II, p. 867.
Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 825
Amalrich’d, Erwähnung, weicher in feinen unſern Gegen⸗
Rand betreffenden Marimen oft nahe genug an das
Yantbeiftifche auſtreift ®).
SR es da unbegreiflic, wenn endlich ein Philofoph,
ich bloß an die Sache felbit haltend und alle fonflige
Rüdfiht, die ihm ungerechtfertigt vorkommen konnte, bei
Seite ſchiebend, bei den abfiractiven Bellimmungen ale
ſolchen fliehen blieb? Und dieß bildete ja den Angelpunkt
in der Dialektik David's, daß er vor Allem auf bie Ans
erfennung der oberftien, allgemeinften und nur negativ
befimmbaren logiſchen Kategorie drang, in welcher alle
andern als in ihrem Prädicate verſchwänden, und daß er
demzufolge das Göttliche ale die oberfte, allgemeinfte und
nur negativ beftimmbare Weſenheit feßte, in welcher alle
untergeordneten Wefenheiten aufgingen. Alle einzelne Er»
wäguugen, alle fyllogiftifchen Operationen, alle Ausſprüche
alter Weifen, die er herbeizieht, betreffen, wie fchon früs
ber erwähnt, zulegt fo fehr nur den Nachweis biefer
Grundanficht, daß die näheren Beziehungen feiner Lehre
gleichfam bloß beiläufig von ihm vorgebracht werben.
Bar fo die Totalanfhauung David's in der frühes
ren chriſtlichen Philofophie ſchon vorbereitet, fo muß dafs
felbe, wie auch H. Ritter bemerkt, falt noch mehr von
den einzelnen Elementen gefagt werden, aus denen er fie
a) Deus est sphaera intelligibilis, cuius centrum ubique, circum-
ferentia nusquam. — Regul. (de sacra theulogia) 7. — Deus
est, cui quidlibet, quod est, est esse omne, quod est. Reg.
8. Solus Deus vere existit, id est simpliciter et immobiliter
ens, cetera autem vere nou sunt, quiua nuuquam in eodem
statu persistunt. Reg. 19. Sola forma informis est, qnia for-
mae non est furma. Reg. 18. Omnes affhırmationes de Deo
dictae incompactae, negationes vero verae. &elbft das est foll
von Bott nicht eigentlich ausgefagt werben bürfen. Reg. 89, Vrgl.
Ritter, Geld. der Phil. VII. &, 595.
326 Krönlein
conftruirt hat. „Die drei Principien ber neuern Platoni⸗
fer” (der platonifirenden Theologen des zwölften Jahr⸗
hunderts), fagt der eben genannte gründliche Geſchichts⸗
forfcher mit Recht, ‚Die Vorausſetzung, daß alles Beſon⸗
dere im Allgemeinen gegründet fey, die Anwendung der
Begriffe von Form und Materie hierauf in der Weife,
daß diele das Allgemeine, jene dad Beſoudere bezeichnen
fol, alled dieß find Gedanken, die und fhon oft genug
in Berlauf unferer Gefchichte begegnet find, Auch daß
David von Dinant, weiter gehend als feine Vorgänger
im Platonismus, nach dem linterfchiede zwifchen erfter
Materie, Geiſt und Gott fragte, denfelben nach denfel»
ben Grundſätzen wie alle übrigen Unterfchiebe behanbelt
wiffen wollte und, ald er einfah, daß dieß nicht angehe,
dieſen Unterſchied überhaupt verwarf, wird Feiner neu
eingeführten Ueberlieferung zugefchrieben werben müflen ;
Dazu liegt es zu natürlich in der Berfahrungsweife, wie
fie damals in den logifchen Schulen herrfchte, und unter
fcheidet den David von andern feiner Zeitgenoflen nnr
dadurch, daß er bie logifchen Regeln auch auf Gott uud
- die Übrigen Principien anwenden wollte, ohne durch die
Lehre von der Ueberfchwenglichfeit diefer Dinge ſich zu»
rückſchrecken zu laflen” =).
Rur darin kann ich Ritter nicht beiftimmen, daß er
David wegen ‚ber angegebenen Motive und wegen der
Verbindung, in welche er ihn mit den Amalricanern, „ſei⸗
nen Zeitgenoflen,” mit Joh. Scotus Erigena ſetzen möchte,
überhaupt den Platonikern anzufcließen geneigt ift und
ed geradezu in Abrede ftellt, daß Ariftoteleds oder die
arabifche Philofophie feinen Pantheismus veranlaßt habe.
Nach den bisherigen Auseinanderfegungen kann es mir
nicht in den Sinn fommen, den Einfluß feiner platonis
a) Geſch. ber Phil, VII. ©. 631.
Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 327
firenden Borgänger auf fein Denken in Abrede ftellen zu
wollen, wohl aber ſcheint mir die Nahrung, die er aus
der arifkotelifchen Philofophie, und was damit zufammens
hing, zog, keineswegs fo-gering angefchlagen werden zu
dürfen, als Ritter meint, Beruft er fidh doch fortwähr
rend anf Ariftoteled, und nicht bloß auf die Tängft ber
kannten und benußten logifchen Schriften, fondern auch
anf feine Metaphyſik und Phyſik! Dann adeptirt er vors
zugsweiſe deflen techniſche Sprache (prima materia, ÖAn,
sublectum , voüg, primum suscipiens, primum efficiens),
und der materialiftifche Anfchein, den feine Lehre hat,
dürfte vor Allem durch ariftotelifche Begriffsbeſtimmun⸗
gen veranlaßt worden feyn. Rechnet man noch hinzu,
daß die parifer Synode die naturphilofophifchen Schrifs
ten des Ariſtoteles höchſt wahrfcheinlich deßwegen verbor
ten bat, weil fie in ihnen die Quelle ſeiner Keberei fand,
fo it faum zu zweifeln, daß Nitter’d Meinung nnflatt-
haft if. Vielmehr fheint er fich vorzugsweiſe
an Ariftoteled gehalten zu haben, und damit
wäre erder &rfte, welder diefer Autorität
der fpäteren Scholaſtik in — Grade
gehuldigt hätte.
Was von ſeinem vermeintlichen —— mit
Seotus Erigena zu. halten ſey, iſt oben ſchon erörtert
worden. Der Grundcharakter der Syſteme beider if
ein gleich fehr nach Inhalt wie nach der Methode vers
ſchiedener, und ein biftorifches Band zwifchen ihnen
fanı ohnehin nicht nachgewiefen werden,
Fragt man nun, auf welchem Wege David mit Aris
Roteled bekannt geworben fey, fo koͤunte die arabiiche
Philoſophie immerhin die Bermittelung übernommen ha⸗
ben. Gibt ja doch Ritter felbft die Möglichkeit feiner
Belanutfchaft mit derfelben zu und bemerkt ausbrüdlich,
daß das gleichzeitige Verbot eined gewiſſen Rauriting
328 | Krönlein
Hispanne anf arabifhen Einfluß gedeutet werben
könnte a). Für meine Anficht fpricht zugleich der Um:
ftand, baß er fi auf Auaximenes, Demokrit, Plutarch
und Orpheus beruft, auf welche die arabtfchen Philos
fophen oft zurüdgelommen find, obgleich er die geringen
Notizen über die beiden erften auch Direct aus ben
arifistelifchen Schriften haben konute. Wohl wäre es
nicht unmöglich, daß er felbft durch mancherlei verwandte
Elemente der arabifchen Ariftoteliter fich hätte beftimmen
offen, 3. B. durch. die naturalikifche Richtung eines
Avicemdron, den bald nad ihm — Magnus
fo häufig erwähnt. — |
Bon dem Vorwurfe des Materiolismus hat fchon
Jac. Thomafine unfern Philofophen dadurch zu reinis
gen gefucht, daß er die Bermuthung ausſpricht, er fey
im Ganzen berfelden Anſicht wie Amalrih und feine
Schule geweien und habe ſich nur einer crafleren Aus:
drucksweiſe bedient b). So wenig nun diefe Einrede aud
zureicht, fo fehr muß doch darauf beftanden werden, daß
es für den plumpen Materialidömus noch keineswegs ents
ſcheidend ift, wenn ſich der Begriff des Materiellen in
den erhaltenen Bruchftüden feines Syftemd etwas ftarf
hervordrängt. Findet doch das Aehnliche auch bei ande:
ren Philofophen des chrifilihen Mittelalters ftatt, ohne
dag fie bed Materialismus beſchuldigt worden wären,
z. B. bei dem unbelannten Berfafler ded aus dem zwölf
ten Sahrhunderte ſtammenden Buches über die Battum _
gen und Arten (de generibus et speciebus), welches
ohnehin noch manche andere Analogien zur Lehre Dar
vid's bietet. Nichte defto weniger ift ed nicht zu mißfen-
a) Daf. ©. 632.
b) &. Brucker. hist. crit. phil. III. p. 699. Freilich iſt Thomafius
ſelbſt über unfere Haͤretiker nur ſchlecht beichrt.
Amalrich v. Bena u. David v. Dinant. 329
nen, daß die phyſiſche Auffaffung in feiner Specnlas
tion dominirt, nur daß fle ſich, den früheren Erwägun:
gen gemäß , doc wieder zu einer Art dynamifchen
WVeltbetrachtung verflärt.
Das Unausgeführte, Zufammenhanglofe und Willlürs
lihe in den Gedanken des Dinanterd und das Formali⸗
Kifhe und Unbehülfliche in feiner Methode liegt fo offen
in Tage, daß es hier feiner weitern Kritik bedarf. Schon
Albertus Magnus und Thomas von Aquin haben eins
jeine Punkte auf das fcharffinnigfte gerügt. Ich kann es
mir nicht verfagen, wenigſtens eine Bemerkung aus der
Kritik des letzteren beraudgzuheben. Die david'ſche wie
jede andere ähnliche Weltanfchauung, fagt der berühmte
Theolog, beruhe auf einer falfchen Berobjrctivirung der
rein logifchen Seite des Denkens; was nämlich in der
Allgemeinheit bed Gedankens sufammenfalle, werde hier
andy als in dem gegenftändlichen Weſen zufammenfallend ans
gefehen, nnd da der allgemeinfte Begriff des prädicatlos
fn Seyns afle andern unter fidh befafle, fo werde au
eine allgemeinfte und qualitätsiofe Realität geſetzt, in
weicher alle andern Realitäten aufgingen a).
In der That ift damit Grund und Urſprung aller
a) Horam omnium errorum et similium unum videtur esse prin-
eipium et fundamentum, quo destructo nihil probabilitatis re-
manet. Plures enim antigquorum ex intentionibus intellectis
indicium rerum naturalium sumere volunt: unde quaecungue
inreniuntar conrenire in aliqua intentione intellecta voluerunt,
quod commanicarent in una re. Et inde ortus est error Par-
menidis et Melissi, qui, videntes ens praedicari de omnibus,
locuti sunt de ente, sicut de una quadam re, ostendentes ens
esse unnm et non multa — — — —. Ex hoc etiam deriva-
tur opinio, quae dicit unam essentiam generis esse in omni-
bus speciebas re, non tantam secundum rationem. Thom. Agq.
in fl. sentent. lib. dist. XVII. quaest. 1. art. 1. solut.
330 Amalrich v. Vena m. David v. Dinant.
Alleinslehren, zugleich aber anch der Fleck genau bezeich⸗
net, wo zunächſt ber kritifche Hebel gegen fie eingeſetzt
werben muß. In neuerer Zeit ift man befanntlich wieder
auf diefen fhon damals vorgebrachten Gedanken von ver
fchiedenen Seiten ber aufmerkſam geworden und hat
bavon gegen die jüngeren Geftaltungen des Pantheismus
die fruchtbarfte Eritifche Anwendung gemacht.
Nirgendewo fieht man die Geneſis der fpeculativen
Bereinerleiung ber Dinge deutlicher bervortreten, als bei _
unferem Metaphyſiker, weldyer durch fortgefegtes Gene⸗
ralifiren, durch immer weiter getriebenes „Abftzahiren”
(abstrahere) und „Auflöfen” (solvere) auf jened „Aller
einfachfte” (simplicissimum) gelommen ift, welches er, |
nachdem er alle pofitiven und concreten Beflimmungen in
ihm auögetilgt hatte, ald bie abfolute Wefenheit aller
pofltiven und concreten Eriftenzen auſah.
Bei allen Mängeln feiner Philoſophie jedoch darf
nicht vergeflen werden, daß wir unfere Kenutniß uud
anfer Urtheil über diefelbe doch nur auf theils fehr ger
zingfügige, theild ganz unkritifche Mittheilungen Auderer
gründen müſſen. Vielleicht würde die an ſich fchon fo
intereffante Geſtalt David's ungemein an Intereſſe ge
winnen, wenn wir weitläufigere und genauere Berichte
über ihn hätten, oder wenn und gar feine eigenen Schrifs
ten erhalten worden wären, —
2.
Ueber die
Praͤdeſtination.
Die auguftinifche, calviniſche und Jutherifche Lehre aus
den Quellen dargeftellt und mit befonderer Rüdficht
" Schleiermacher's Erwählungslcehre comparativ
beurtheilt
: von
C. Bed,
Repetenten am theol. Stifte au Tübingen,
(Schluß.)
Zweiter, kritiſcher Theil.
Nachdem wir die drei hauptſächlichſten Theorien ber
Prädefination eine jede für fich in ihrem organifchen Zus
ſammenhange darzuftellen verfudt haben, ift und jetzt
die Aufgabe geftedt, fie in den Hauptmomenten der Frage
nebeneinander zu fielen und fie nach dem, was fle ger
wolt und was fie erreicht, vergleichend zu beurtheilen —
ein Gefchäft, bei welchem Schleiermacher durdy feine Er⸗
wählungsiehre und vielfach den Weg bezeichnet hat.
Um und nämlich zuerfi im Allgemeinen zu oriens
tiren, ift ed nothwendig, daß wir und die Standpunkte
and Principien zurückrufen und klar machen, auf welden
jede dieſer Theorien ſich auferbauen will. Unſere Frage
bat zwei Seiten, deren Bereinigung oder Gegenfag von
entfcheidendem Einfluffe feyn muß, eine metaphyſiſche
und eine ethifche, oder, wenn man lieber will, eine obs
iettioe und fubjective, die theologifche und anthros
pologifche. ine geht von oben herab, die andere
Theol. Stud, Jabra. 1847, 23
332 | Bed
von unten herauf; bie eine bewegt fich' um das ewige
Weſen Gotted, die andere um bie zeitliche Natur des
Menſchen. Nach der einen kommt die Präbeftination zur
Betrachtung, wie fie im ewigen Rathſchluſſe Gottes feſt⸗
ſteht, nach der anderen, wie fie in der Menfchenwelt
ſich realifirt. Es ift aber Mar, daß in der Idee beide
Wege zufammenfühnen, einander entgegentommen müflen
und nicht auseinander gehen, nicht einander wiberfprechen
fönnen. Die Bereinigung beiber wäre ſomit das Problem der
denfenden Vernunft. Run ift ed aber 1) der gewöhnlice
Gang der Entwidelung des Begriffe, beide Momente,
die fich fpäter zu einem Gegenfage ausbilden wollen, in
verhüllter, unmittelbarer Einheit, in naiver Bereinigung
erfcheinen zu laflen; es findet ſich eben hier, wenn gleid
auch dad Eine oder Andere überwiegen mag, doch nod
feine wirkliche Entgegenfegung, fo wenig, als eine wirt
liche Einheit, die fich erfi Dur den Gegenſatz vollziehen
fann. Diefe unmittelbare Einheit nun kommt im
Spfieme Auguftin’s zur Darftellung Bei ihm fprin
gen beide Betradhtungsweifen, die metaphyſiſche und die
ethifche, in einander über, ohne daß fich eine gegen bie
andere beflimmt abfchließen lönnte. Sein Audgange
punkt iſt die Allgemeinheit der Erbfünde, aus welder
die Nothwendigkeit der Gnade fidy ergibt: bier nimmt
er feinen Standpunkt im Subjekte. Die Gnade aber,
um wirklich als Gnade ſich zu zeigen, foll nicht allge,
mein ſeyn: dieß führt auf die Entgegenfehuug ber Ge
rechtigleit und Barmherzigkeit im göttlichen Wefen, eben
damit auf die metaphyſiſche Unbegreiflicyleit Gottes, die
er fo oft lobpreift, zurüd, — alfo auf den entgegenges
feßten, rein objectiven Standpunkt. Diefe Unbegreif-
Iichleit Gottes aber ift hinwieberum von der Art, daß
durch fie die ganze Entwidelung der Welt und des Men⸗
fhengefchlechts nothwendig bedingt feyn muß; biefe Ent
widelung felbft aber wird nicht in der Nothwendigfeit
über die Praͤdeſtination. 333
ibred Weſens, fondern in der Zeitlichleit ihres Verlaufs
betrachtet, fie muß irgend einen zeitlichen Anfangspunkt
haben. Dies iſt der Sündenfall, und fo wird von der
Gnade, die jet allen Menfchen nothwendig ift, zurüd-
gegangen auf die Freiheit bed erften Menichen — dieß
wieder das fubiective Moment und doch in einer für und
jenfeitigen, transfcenbenten,, rein äußerlichen, objectiven
Form. So fliehen denn beide Seiten neben einander: bie
unerforfchlichen Gerichte Gottes, die Alled befiimmen,
und die Freiheit bed erfien Menfchen, deren eine That
von entfcheidendem Einflufle auf die ganze Weltentwicke⸗
lung bleibt. Beide fliehen neben einander, fordern einans
der, fpringen in einander Über, ohne in wahrer Verei⸗
nigung ihre Ruhe zu finden.
2) Salvin aber hält eben dad Eine Moment, das
metaphyfiiche, das objective des Jinendlichen, feft, um
von dieſem Principe and jenes andere, ethifche, fubiective,
das des Endlichen, durchaus beftimmt werben zu laffen,
und fo wird denn die Differenz, die auf der fubjectiven
Seite der Ethik ſich ſindet, der Unterfchieb von gut und
bö6, durch die abfolute Betrachtung ausgeglichen. Hier⸗
aus erflärt fi die in die Augen fpringende Differenz
milden Auguftin und Calvin über den Sünben-
fall. Diefer iſt bei Auguftin der Ausgangspunkt für das
Verhaͤltniß von Gott und Menſch, bei Galvin nur ein
Beifpiel von dem Berhältniffe der Freiheit zur göttlichen
Ordnung. Bei Augufin fängt gerade mit dem Sünden:
falle die Prädeftination erſt an, bei Calvin aber ift aud)
diefer (chem durch die Prüdeflination geordnet. Aber ale
eine Gomfequenz\ biefer einfeitig objectiven, diefer ſoge⸗
nannten abfoluten Betrachtungsweife fteflt fich der Mans
gel heraus, daß das Moralifchböfe einmal nichtd Anderes
ſeyn fol, ald eine Negation, das andere Mal aber eben
ſoll feſtgehalten werden als ein dem Guten ewig gegen»
überichender Gegenſatz, daß alfo ber abfolute Stand»
23 *
334 Bed
yunft, ber dad Ganze beherricht, bald zu viel, bald zu
wenig premirt iſt.
3) Calvin nahm von Auguftin die Abfolutheit Got⸗
tes; die Intherifhe Lehre die Linterfcheibung von
praescientia und praedestinatio. Sie ftellt ſich fo auf die
fubjective, ethifche Seite der Freiheit. Schon ib:
ren Ausdgangspunft hat fie mit Auguſtin gemein: es if
die Erbfünde. Diefe ift die fubjective Erfahrung des
chriſtlichen Bewußtſeyus. Alle Menfchen find in moras
lifhem und geiftigem Tode gebanut, alle in elender
Kuchhtichaft gehalten und können allein dad Leben gewin-
nen von dem, der ber Urquell alled Lebens if. Daß
aber nicht Allen dieſes Leben zu Theil geworden, ift all:
gemeine fubjective Erfahrung. Darum wird deun jet
der Schluß gezogen: die Schuld muß vom Bubjecte her
rühren, das die Gnade nicht will. Iſt ed aber fo, fo
muß es die Freiheit des Subjects gewefen feyn, denn
fonft fiele ja der lirfprung des Böfen, bed Gegenſatzes
in das Abſolute. Es ift, wie die obige Darftellung ge:
zeigt hat, fichtbar, wie bie Kirchenlehre im Jutereſſe,
den ethiſchen Unterfchieb ded Guten und Böſen fer und
zugleidh vom heiligen Bott ferne zu halten, die menſch⸗
liche Kreiheit zu retten bemüht it, am fichtbarften eben
in dem im erften Hefte zulegt angegebenen Punkte der gratie
resistibilie. An diefem Punkte wird aber auch ihr Wider
fprudy offenbar, daß fie auf ihrem ethifchen Boden eine
Freiheit geben will, und es doch nur zu einer äußerli⸗
hen, d. h. zu gar Feiner Freiheit bringen fann. Dem
eine Kreiheit, die nur nach einer Seite fid) neigen kann,
ift Peine, und während zuerft mit ber Erbfünde allge
meine Knechtfchaft. gelehrt ift, wird mit bem resistere eine
Freiheit eingeführt, bie aber doch wieber feine if, fon
dern Unfreiheit. So können Calvin und die Kir:
chenlehre beide ihr Ziel nicht erreichen: ihre Conſe⸗
quenzen führen manchmal zuſammen, aber ihre entſchie⸗
‘
über die Präbeftination. 335
dene Tendenz iſt gerade die entgegengefebte. Calvin will
das Abfolnte, die Kirchenlehre die Freiheit zu ihrem
Rechte bringen. Dan wende nicht ein, bie Kirchenlehre
thue ja das im Intereſſe einer würdigen Vorſtellung von
Gott. Denn das ift gerade dad Bezeichnende, wenn fie
in Gott zurückgehen, fo hält Salvin das rein objective
Moment des Unendlichen, die Allmacht, fell, die Kirchen:
lehre aber will daß fubjective Moment, die Heiligkeit Gottes,
vor Allem nicht verlieren. Das Intereſſe aber, welches
fie Hierzu treibt, iſt einmal der ethifche Unterfchieb, welchen
fie im Subjecte worfindet, und dann, fo wenig man ed
auch mag Wort haben wollen, das Interefie der gläubis
gen, wie ber menfchlichen Vernunft, die ſolchen Gegen⸗
fat in Gott felbft nicht als principiell zu firiren vermag.
Puther hat auf calviniſchem Boden in der Schrift de servo
arbitrio einen zweifachen Willen Gottes unterfchieden:
den Nachdruck hat ber verborgene, der fih vom Sub»
ircte abkehrt. Die Iutherifhen Theologen auf dem Bo⸗
den der Formula Concordise wiffen auch von einem dop⸗
pelten Willen Gottes: die Dauptbedeutung hat für fle der
nachfolgende Wille, welcher fich dem Subjecte zukehrt.
Wir fehen fomit, ed handelt fich bei al dem in letz⸗
ter Inſtanz um dad Verhältniß des Endlichen und Uns
endlichen, mit dem es zunächft Die Philofophie zu thun
hat, und es mag daher erlaubt feyn, eine Parallele _
aus der Gefhihte Der Philofophie herbeizus
ziehen, welche geeignet feyn bürfte, das Verhältniß der
drei Prädeftinationglehren in ein’ Mares Licht zu feßen.
Auguftin iſt auf dem Gebiete der Dogmengefcichte der
Schöpfer der Anthropologie, ber fubjectiven Dogmen; auf
dem Gebiete der Philofophie iſt der Vater der Subjecti-
vitätsphilofophie Carteſius.
Wir vergleichen nun das — ——— Spftem
mit dem des Gartefiug, das calvinifhe mit
336 Bed
dem des Spinoza, das Iutherifhe Dogma
mit dem Syſteme bes Leibnik.
Wieder Kundamentalfaß ber carteftianifchen Phl
lofophie, in welchem das Priucip der neueren Philofophie
auftrat, war: de omnibus est dubitandum, fo ift die
ganze auguftinifche Anthropologie gegründet in ber Ber
zweiflung an allem Berdienfte, im Zweifel an aller menſch⸗
lihen Kraft. Wie bei Carteſius als feſter Punkt aufge
ftellt wird: cogito, ergo sum, fo bei Anguftin die Gewißr
heit! credo, ergo sum electus, und wie bei Gartefind
unmittelbar im Bewußtfeyn das Seyn liegt, fo liegt in
der Prädeftination unmittelbar auch dad donum perseve-
rantise. Ferner bei Garteflus ift die res cogitans nur eine
Seite des Gegenfaßes; neben diefe tritt ald bad Zweite
die res extensa, und boch gehört eigentlich nur bie erfte
auch dem Wefen Gottes an. Achnlich ſtehen bei Auguſtin
den Ermwählten gegenüber die Nichterwählten, zu denen
fich eben Gott in feine weitere Beziehung ſetzt. Endlich,
wie Gartefluß, um dad wirkliche Princip aller Wahrheit
zu finden, von dem fubjectiven Standpunkte des Sch zu
Gott überfpringt, der doch in fich Feine Tebendige Ber
mittelung der Gegenfäße iſt, fo geht Auguflin von fei-
nem ethifchen Boden auf den metaphyfifchen-über, auf
dem das Höchfte gerade der verborgene Rathſchluß Got:
tes bleibt. |
Die Aehnlichfeit des Calvin mit Spinoza fpringt
in die Augen. Wie bei Spinoza nichts ift, al& die Sub⸗
fang Gottes, fo ift bei Calvin nichts, als Gott in feiner
altissima maiestas; wie bei Spinoza an der Subftang zwei
Accidentien hängen, fo hängen nach Calvin von höcdften
Rathſchluſſe Gottes zwei Seiten der Prädeilination ab,
die Ermwählten und Verworfenen. Endlich, wie Spinoza
erſt ausdrüdlich die res cogitantes und extensae ale Die
zwei Accidentien einander gegenübergeftellt hat, bie bei
Carteſius noch nicht fo beſtimmt auseinander treten, fohat
über die Präbeflination. 337
erſt Calvin die Berwerfung, bie bei Auguftin nur als
Kehrfeite der Präbeflination nebenher ging, zu der bes
Rimmten zweiten Seite der Prädefination gemacht.
Die Freiheit, wie fie im Intherifchen Syfteme vers
treten iſt, erinnert an da6 leibnitz'ſche Syſtem ber
Monaden in ihrer freien Selbfibefiimmung. Ale Einzel:
monaden aber fchanen auf Bott als die Centralmonas,
von der fie Effnigurationen find: gerade fo geht im Ius
therifchen Syſteme die Univerfalität der Gnade von Gott
auf Alle aud. Aber nicht alle Monaden werden von
Gott Iebendig bewegt, vielmehr find die einen dormitan-
tes, in ſich felbft verfchloffen und gleihfam verhärtet:
die Berworfenen der Kirchenlehre! Dort it präftabilirte
Harmonie, hier praescieutia et praevisio fidei; die präs
Rabilirte Harmonie aber ift nur von außen gefeßt, nach
der jede Monade ſich in eigener Freiheit richtet: ähnlich
it in der Kirchenlehre die Gnade von außen her gegeben,
und die Menfchen können fie aufnehmen, oder unbewesgt
an ihrer Stelle bleiben.
Gehen wir jeßt mit diefen allgemeinen Bemerkungen
au das Befondere der comparativen Beurs
thetlang und nehmen aus dem Bisherigen eben die
durchgreifende Unterfcheidung der beiden Momente her;
über, des metaphufifchen oder objectiven und bes fubjec-
tion oder ethifchen, fo haben wir eben hiernach zwei
Punkte der Unterfuchung: 1) die göttliche Saufalität; 2)
die menſchliche Empfänglichleit. Bei dem erften handelt
es fi um NRothwendigfeit ober Freiheit, bei bem zwei⸗
tan um Univerfalität ober Particularität der Gnade.
1) DObjective Seite: göttliche Banfalität, Noth-
wendigfeit oder Freiheit?
Diefe Frage muß hauptfächlich in drei Punkten zur
Entfcheidung gebracht werden: 1) in dem beflimmten eins
jenen factum ded Sündenfalls, wo alfo die Sünde erft
einzugreifen anfängt, muß der Charakter ber göttlichen
338 Beck
Drduung beſonders Har fi erkennen laſſen. Nachden
aber die Sünde da iſt, alſo eine Störung der anfängli⸗
dien Ordnung, handelt ed fid 2) überhanpt von dem
Berbältniffe der göttlihen Berfehung und Vorherver⸗
fehbung und 3) um die Bedeutung des Böfen in ber götte
lichen Weltordnung.
a) Leber den Sündenfall, um auf biefen jet
noch näher, als früher bei ber allgemeinen Darfiellung
des Syſtems möglih war, einzugeben, fagt Auguſtin
in ber fchon oben theilweife angeführten claſſiſchen Stelle
de grat. et corrept. 10: Quid de ipso primo homine sen-
tiamus? Certe sine ullo vitio factus est rectus; eum enim
peccasse et desertorem boni fuisse veritas ciamat; non
ergo hshuit in illo bono perseverantiem, et si non habuit,
utique non accepit. Quomiodo enim accepisset perseveran-
tism et non perseverasset? porro si propterea uon hebuit,
quia non accepit, quid ipse non perseverando peccavit?
Neque enim dici potest, ideo non accepisse, quia non est
discretus a masse perditionis gratiae largitate, nondum
enim erat in genere humano haec perniciei massa, ante-
quam peccasset, ex quo tracta est origo vitii. Quapropter
saluberrime confiteamur Deum, qui creavit bona omnia
valde et mala oritura esse praescivit et scivit magis
ad susm potentissimsam bonitatem pertinere
etiam de malis bons facere, quam mala esse
non sinere, sic ordinasse hominum et angelorum
vitam , ut in ea prius ostenderet, quid posset eorum libe-
rum arbitrium, deinde quid posset suse gratise beneficium
iustitiaeque iudicium. Hiermit ift nun ausdrücklich von
einer ordinatio Gottes die Rede und zwar mit Beziehung
auf den Sündenfal. Es ift nämlich Far, wenn Gott
zeigen will, was des Menfchen Freiheit vermöge, fo if
der Menfch allerdings feiner Freiheit überlaffen, aber es
it zum Borans Mar, daß nichts damit herauskommen
fann und nichts herauskommen darf, fol anders bie
über die Präbeflination. 339
göttliche Drbunng ihrem wrfpränglihen Plane getreu
bleiben. Weiter aber: der Menfch kann mit feiner Kreis
beit nichts ausrichten, alfo iſt er auch nicht eigentlich
frei. Endlidy ift der Fall geordnet, damit ſich eben Got»
ted Gnade und Gerechtigkeit ins Licht fegen kann, er ift
alfo zugleidy georbnet mit dem Rathfchiuffe der Erlöfung,
der doch, wie die Schrift fagt, von der Welt Grundle⸗
gung gefaßt il. Was faun nun Augufiin Dagegen haben,
wenn wir aus dem Allen den Schluß ziehen wollen, ber
Sündenfall fey demnach prädeſtinirt. Zunächſt offenbar
richte. Aber hier fommt 2) Die praescientia herein: homo
per liberum arbitrium Deum deseruit, Deo quidem
praesciente, tamen nom ad. hoc cogente, Wenn
et daher oben gefagt, zur Zeit bed Urſtandes nondum
füisse jn genere humano perditionis massam, fo wird das
weiter jegt erflärt durch die Unterfcheidung von ber prima
etsecunda gratia (c.11.) undihrem adiutorium. 12: aliud est
adiutorium, sine quo aliquod non fit, et aliud est, quo fit.
Hätte der Menſch gewollt, fo hätte er eben bie prima
gratia behalten, durch die er hätte beharren können, Aber
quod noluit, de libero deacendit arbitrio, quod tunc ita li-
beram erat, ut bene velle posset et male. Damit wird ofs
fenbar der Pelagianismus, der nach dem Sündenfalle abs
gefchnitten werben fol, vor demfelben eingeführt, und
was nachher dem Menfchen abgefprochen wird, dem Ur⸗
menfchen zugefchrieben: war er doch fo frei, ut bene velle
posset et male, und der Sündenfall wird ja gerade darum
feine Schuld geheißen, weil er im entgegengefegten Falle
die secunda gratia verdient hätte, qua fieret ut vellet a),
&o wäre alfo hier gwifchen Auguftin und Pelagius nur
a) Accepisset illam merito huius permansionis beatitudinis ple-
nitadinem, grat. et corrept. 10. und kurz zuvor: quia et non
mori et non miserum fieri in sua potoestate esse sentie-
Bat. 12: illi data est, cum qua est conditus voluntas
libera, et eam fecit servare peccato,
340 Bed
der Unterfchied, daß das Berbienft des freien Willens
vom Einen dem erften Menfhen, von Pelagiud aber
allen Menfchen ohne linterfchieb zugefprochenwird. Wolte
man aber fagen, der Urmenſch hätte die secunda gratis
nur durch das ediutorinm ber prima erreicht, fo iR wicht
abznfehen, was für ein Unterfchied denn noch feyn fol
zwifchen dieſem adiutorium, das Adam von der Sc
pfung her haben fol, und der pelagianifchen gratia cre-
ans et concreate. Es bleibt alfo rein nichts übrig, ale
zu fagen: vor dem Sündenfalle hat Anguſtin die Freiheit
im vollen Sinne des pelagianiſchen liberum arbitrium,
da® aequilibrium arbitrii behauptet. 3) Das hat man
denn auch zugegeben, aber gerade hierin eine Inconſe⸗
auenz bed Syſtems gefunden, wiewohi als ein ſchönes
Zeichen der Herzensgüte des Gründer, ber wenigſtens
bier die Freiheit, die doch Bedingung alles fitrlichen Les
bend und Zurechnens ſey, feſtgehalten habe. Sch glaube
aber, man wird D. Baur a) alled Recht geben müflen,
wenn er von einer Inconfequenz ba nichts finden zu kön⸗
nen gefleht, wo eben zwei einander biametraf entgegens
gefeßte Betrachtungeweifen unmittelbar neben einander
geftellt werden. Das eben gehört ja zum Eharafter des
anguftinifchen Syftems, fo wie wir ihn oben auffaffen
zu müflen geglaubt haben, daß die zwei Betrachtungs⸗
weifen neben einander fiehen und in einander Übergehen.
Noch mehr! das aequilibrium arbitrii tft Dennoch im Sinne
des Auguſtin — und das macht einen beftimmten Unter⸗
fchied gegen Calvin — nicht mit dem Wefen und der
Ratur ded Menfchen an ſich unvereinbar, fondern nur,
wie es eben jebt einmal nach dem Sündenfalle if. Die
Freiheit wird dem Menfchen nicht als dem Enblichen,
fondern als dem Sündlichen abgefprochen, nicht ſowohl
aus metaphpfifchen, ale aus ethifchen Gründen. Geine
— —— —
a) Gegenſat u. ſ. w., zweite Ausgabe, 130-187.
über die Präbeftination. 341
Unfreiheit geht nicht ans feinem Berhältutffe zum Welt⸗
ganzen, fondern aus feinem eigenen Innern, wenn man
will, aud feinem Berhältniffe zum Menfchenganzen her⸗
vor; fie ift nicht eine Schwädje, eine Unvollkommenheit,
fondern eine Knechtſchaft. Darum ift gerade die Freiheit
ald aeguilibrium arbitrii in Adam nothwendige Forberung
des Syſtems; und nut and ihr kann der reatus der Erb⸗
fünde für jeden Einzelnen genügend erklärt werden.
Denn der Unterfchied zwifchen Adam und feinen Nach⸗
fommen liegt nicht in der Natur, fondern in ihrem vers
Ihiedenen Zuflande Ale Menfchen haben Theil an dies
fer freien Selbſtbeſtimmung a), — eben durch bie Selbig»
keit der Ratur, zu welcher alfo das aequilibrium eigentlich
gehört —: nur iſt zwifchen ihnen und Adam der Unter⸗
ſchied, daß die Freiheit, die wir in Adam gehabt und
verloren haben, für unſer Einzelbewußtſeyn eine trans⸗
ſcendente ift, gerade wie im Ganzen ber status integrita-
is für das Bewußtſeyn der Gattung etwas Trangfeen,
dented hat. Man darf darum dem Auguftin keine In⸗
confequenz zufchreiben, daß er den freien Willen hinge⸗
ſtellt hat ale ein voodusvov, daß über die yawwdusvar hin»
aus and denfelben trangfcendent ift, fo wenig ald Kanten,
weil er außer den Dingen ber Erfcheinung das Ding an
ih poftulirt. Das iſt gerade fein Syftem: die zwei
Betrachtungsweiſen gehören in feinem Sinne weſentlich
infammen. Freilich aber, wie oben gefagt, iſt das andy
iin Mangel, daß er fie, wie im verborgenen Willen
Gottes, fo bier nur auf eine trangdfcendente Art zufams
mengebracht hat, und diefer Punkt hat etwa biefelben
Schwierigkeiten, wie in der neueren Naturphitofophie,
wo eben die Bedeutung des Böſen erfannt werden foll,
die trandfcendenten Gelbfibeftimmungen des Sch, durch
a) Peccaverunt in eo uno omnes, corrept. et grat. 6., und das be:
fannte in lumbis Adamıi.
342. Beck
weiche die menſchliche Freiheit auf die Art gerettet wird,
baß der Menſch vor feinem Bewußtſeyn fich ſelbſt grund»
wefentlidh beftimmt haben fol a). Eine unbewußte Selbſt⸗
befiimmung aber (fl feine freie. linb doch war nach Aus
gufin Adam futuri sul casus adhuc ignarus (corrept.
etgrat. 10.) and wäre (ebendaſ.) erft hernach certissimus ge»
worden! Durch einen Act feiner Freiheit alfo, die, weil
feine bewußte, auch Beine wirkliche war, foll er fich feir
ner Freiheit beraubt haben — das iſt ein Widerfpruc,
aber feine Inconfequenz !
Bei Calvin cvergl. Cons. Generv. 913. 916.) ift die
claffifche Stelle Inst. 3, 23, B: Cadit homo Deipro-
videntisa sic ordinante, sed euo vitio cadit.
Hier fichen allerdings auch beide Momente unmittelbar
neben einander und wir dürfen auch nach dem Geiſte des
Syſtems nicht fogleich fagen, dad zweite Moment fey
von dem erfienabforbirt. Aber wir bürfen eben fo wenig eine
mechantfche Einheit beider annehmen, denn die Berfuchung
kommt beim erſten Menſchen nicht von außen, fonderu
hat ihren Grund in der Freiheit des Menfchen. Diefe
eine, wefentliche Freiheit wird von Calvin dem Menſchen
nicht abgefprocdhen, aber fie ift verfchieden von bem aus
guftinifchen liberum arbitrium. Sie ift die Kreiheit von
änferem Zwange. Cons. Gener: 933: causelur Adem, ut
velit, se datae sibi a Deo mulieris illecebris esse dece-
ptum, intustamen mortiferum infidelitatis vi-
rus etc. Go fcheint denn mit Diefer Freiheit als innerer
Selbſtbeſtimmung das Näthfel gelöft werden zu follen,
aber es tft nicht zu überfehen, daß infidelitatis virus, cou-
sultrix ambitio, diebolicum audaciae flagellum ſchon In
Adam bei der Sünde vorausgefeßt worden, und fo konnte
Calvin hierbei nicht fliehen bleiben. 3, 23, 7: quasi idem
ile Deus, quem scriptura praedicat fatere, quaecanque
a) Siehe Bufap.
über die Praͤdeſtination. 343
rult, ambiguo fine eondiderit nobillssimam ex suie creatu-
rie. Liberi arbitrii esse dicunt, ut fortunam sibi ipse
Adam fingeret, Deum vero nihil destinssse, nisl ut pro
merito eum traciaret, Tam frigidam commentum si re-
epitur, abi erit iila Dei omnipotentia, qua secun-
dam arcanum consilium, quod alinnde non pendet, omnia
moderstur. Decretum quidem horribile, fateor, in-
fitiari tamen nemo poterit, quin praesciverit Deus, quem
exitum esset homo’ habiturus, antequam ipsum conderet,
et ideo praesciverit, qula decreto suo sic ordinave-
rat. So if denn zugleich einerfeitö der Sündenfall von
Gott georbnet, andbererfeitd ber Menſch suo vitio gefallen.
Wie beides zufammenhänge, das deutet von ferne Calvin
anl, 15, 8: habebat Adam flexibilitatem ad utram-
que partem, poesse non peccare et perseverare non ha-
bebat. Diefe Aexibilites (unbeflimmte Möglichteit, zu
unterfcheiden von aequilibrium, das ſchon eine gewefene
Bewegung der Wage vorausſetzt) hatte Adam von Bott
durch bie Schöpfung , fle gehört mithin zu feiner Ratur,
und fie ift in diefer flexibilitas von Gott georbnet, welche
dad posse non peccare nicht hat. Diefe flexibilitas aber
iR zugleich vitium. Wie kann nun beides vereinigt wers
den? Mir fcheint die einzige Bereinigung eben in dem
metapbyfifchen, abfolnten Staudpuntte gefunden werben
in Können, daß alled Enbliche mit einem Mangel behaf⸗
tet fey. Das aber wäre daun eben feine Schuld, daß
es dem Mangel feiner Ratur gerne nachhängt.
b) Im Bisherigen war ſchon Implicite die Krage enthals
ten, mitweldher wir uns jeßt noch ausdrädlich zu befchäftigen
haben, über dad Berhältnig von Verſehen unb
Borberfehen in Gott. Die caloinifche und auguſti⸗
niſche Anficht hierüber ift genau beſtimmt, aber die Iutherifche
kehre, da fie Auguſtin nach feinen Andeutungen ſyſtema⸗
tiſch zu erweitern unternommen hat, bedarf einer weis
teren Anseinanderfegung. Auguſtin hatte nämlich, wie
ZA Bei
er Gottes Rathſchluß und die Freiheit neben einander
beftehen läßt, den Begriff der Zulaflung, permissio, und
Den einer praescientia non praedestinans zugegeben: den.
persev. 6: nihil ft, nial quod aut ipse facit, aut .ipse heri
permittit, Und doch auf ber anderen Seite praed. samt.
20, fagt er: agit Deus quod vult in. cordibus. homisum
vel sdiuvando vel iudicando. oorrept. et grat. 12: zubven-
tum est iufirmiteti voluntatis humamae, ut divina gratla
indeclinabiliter et inssperabiliter ageretur. ibid.
11: liberum arbiteiumn ad malum suffick, ad bonem autem
nihil est, nisi adiuvetur ab omnipotenti bono.
Diefe Grundzüge hat ſich nun die lutheriſche
Lehre ſyſtematiſch auseinanderzuſetzen, befonders in der
Korm. Conc. die Aufgabe gemacht. Der Punkt, um ben
es ſich einfach handelt, war, Best nicht zum auetor pec-
oati werden zu laffen, wie dieß fogleich in der Con. Ay.
art. II., vergl, witart. 2., an den Tag tritt. Dieß hat denn
weites in der resistibilitas gratiae feinen bogme-
chen Ausdrud gefunden. Hierdurch aber if im ber
har nichts gewonnen. Denn — und bieß haben wir
jegt nachzuweifen, — einmal if die Freiheit gu hoch ger
hatt und dann wird fir eigentlich negirt. 1) Der Frei⸗
heit wird zu viel Recht eingeräumt. Denu bei ber
Wahl des Böfen, wenn der Menfch der Gnade wider
irebt, reluctatur, fteht er gerade auf eigenen Füßen,
für das Gute aber bedarf es einer änßerlichen Unter
ſtützung. Die erfle Freiheit iſt aber offenbar mehr ſitt⸗
Ude That, als die zweite. Weiter iR die ganze Natur
des Menfchen vom Berderben fo ergriffen, daß (Ger:
hard 189.) Alle ber göttlihen Gnade eutfremdet fcheinen.
Es würde alfo confequent feyn, es müffen Alle re-
lustari, und nicht, es können Einige widerſtreben. Offen⸗
bar haben die Gegner mit ihrer Einwendung nicht fo
Unrecht (Gerh. 188.): Wenn die Urſache bee Derwerfung
im Meufchen liegt, fo muß auch bie Urſache ber Ermäh-
über die Präbeftination. 345
lung in ihm liegen. Das Letzte iſt falfch, alſo auch bad
Erſte. Gerh. entkräftet die Einwendung damit, daß er
jagt, finalem impotentiam causam meritorism esse damna-
tienis, oriri autem ex corruptae nostrae naturae vitio,
geippe in qua nihil pater, nihil flios, nihil epiritus sanctus
operetar. Damit ift man aber ind entgegengefette Ex»
tem übergefprungen; benn 2) ed.findet eigentlih gar
feine Freiheit Ratt, demnach auch Beine Möglichkeit,
in ihr ben Urfprung des Böfen unterzubringen. Damit
hatte Melanchthon freilich gang Recht 111, (96.): cum
premissio sit universalis, mec sint in Deo duse contrarise
voluatates, necesse est in nobis esse aliquam dis-
criminie causam, cur Saul abliciatur, David eligatur.
Dem aber wird von der Kircheniehre entfchieden wis
der ſpro chen (Form. Conc. 821,). Oder, wenn Gerhard
de lib. arb. III., ehe er von der Freiheit nach bem que-
draplex status hominis anfängt, ein velle naturale aufftellt,
als veluntati essentiale neque post lapsum amissum , Daß
velle naturale aber offenbar nichtd Auderes feyn kann, als
die volnutas ſelbſt, — was kann gemeint feyn, als das
reine Wollen, der Wille im formalen Sinne? Dieß hat
kuther de serro arbitrio All. nicht mit Unrecht ein merum
fgmentum dialeoticam genannt. Soll aber das velle na-
tarale wirklich eine reale Bedeutung haben, fo kann es
nichts Anderes feyn, ald dad aequilibrium arbitrii, bie
ibertas rectitudinis, wie fie dem erſten Menfchen zuge⸗
(hrieben if. Aber dieſe wird den Menfchen nad dem
ale abgeſprochen und fo kaun nichts Anderes übrig
bleiven, als die libertas a iustitie. Wie weit aber biefer
in der That ber Rame Freiheit gehöre, hat Luther de
setvo arbitrio 105. auselnandergefegt: Si enim aliquis id
ibi likerem euse diceret, quod sus virtute nonzisi iu alte-
ram partem poseit, scilicet in malam, in alteram vero, nempe
in boaam partem passit quidem, sed non sus virtute, imo
ulterius duntaxat auxilio, possisetiam risum tenere, amice?
346 Bed
Nam sic lapidem aut truncum facile habere
obtinebis liberum arbitrium, utqui et sursum et
deorsum vergere potest, sed vi sua nonnisi deersum, alte-
rius vero auxilio sursum. Daflelbe haben Calvin und
Schleiermacher geltend gemacht. So Calvin (p. 900.): si
hoc speciale electis, reliquos ad interitum aptatos esse,
quia naturse suse relleti: certo exitio devoti sunt, vergl.
II, 4, 3. 5, 3. Schleiermacher aber fagt: wenn Einer be
ftimmt wiffe, einerfeitd, daß ohme feine Hilfe Jemand
fiher in den Abgrund Hürze, andererfeitö, daß er heifen
könnte, und wenn er nun doch nicht helfe, fo könne das
nicht Anderes feyn, ald daß er deſſen Untergang gewollt
babe, und fo könne denn das göttliche Vorherwiſſen kein
müßiged, unthätiged, fondern nur ein wirkfames feyn,
nicht die Zulaffung der Berwerfung, fondern die ae
werfung felber.
c) IR aber fo, wenn der Menfch nur wie ein lapis
oder truncus von der Gnade vorgefunden, wenn nicht
einmal eine capacitas activa, fondern nur passiva, Feine
Empfänglichkeit, fein desiderium als innere Ergänzung
der Außerlichen locomotiva potestas, ald Autnüpfunge-
punkt der Gnade zugegeben wird, die Freiheit in ber
That aufgehoben, fo Eehrt die Frage mit ihrem ganzen
Gewichte wieder, die noch nicht gelöft ift: wer ift denn
nun auctor mali, welches die causa peccati, weldhe Br
deutung hat das Böfe überhanptinder Welt
entwidelung? Gchleiermacher faßt den Stand der
Frage fo zufammen (Ermwählungslehre 467. «)): „Wenn
einmal gefagt tft, alles Wirkliche müfle durch den fchafr
fenden Willen Gottes gefebt feyn, und dann wiedernm,
Gott dürfe nicht Urheber des Böfen feyn, fo ift Beides
nur auf die eine Weiſe zu vereinigen, wenn man fagen
a) Schleiermachelr, ſaͤmmtliche Werke, Erſte Abth. zur Theologie.
2, Band.
über bie Präbeflination. 347
kann, daß in Beziehung anf Bott das Böfe gar nicht
it. Diefe unvermeidliche Formel aber, man mag fiennn
auflöfen, wie man will, und auf welche Art immer zu er:
klären verfuchen, wie das Böfe für une fo feyn Fönne,
daß ed weder durch Gott, noch für Gott iſt, indem näms
li dasjenige daran, was wirklich ift, die frei wirkende,
fittliche Kraft, nicht dasjenige ift, wovon Bott nicht Urs
beber feyn kann, badjenige aber, wovon Gott nit Urs
beber feyn könnte, nämlich das Begentheil des Suten,
nicht wirklich ift, Doch aber die Nothwendigkeit der Er,
löfung auf demjenigen, was davon wirklich ift, beruht,
und diefe zugleich dasjenige, wovon Bott nicht Urheber
feyn könnte, in dasjenige auflöſt, wovon er allein Ur⸗
heber feyn kann, nämlich in bad Gute: diefe Formel, fage
ih, kann auf Feine Weife in die Differenz der calvinis
hen und Intherifchen Lehre verflochten feyn und alfo
uüflen die Auflöfung derfelben, wenn fie nur erft gefun⸗
den wird, auch beide Lehrmeinungen fich aneignen können.“
Die Löfung felb aber hat Schleiermacher felbR befannts
ih im F. 81. der Glaubenslehre (S.451.) alfo verfucht,
daß er, um neben der Freiheit die göttlihe Allmacht uns
beihräntt und unverlürzt zu erhalten, behauptet, „bie
Sünde, fofern fie nicht Fönne in göttliher Urſächlichkeit
gegründet ſeyn, fey infofern auch nicht für Bott; fofern
aber das Bewußtſeyn der Sünde zur Wahrheit unferes
Dafeyns gehöre, alfo auch die Sünde wirklich fey, fey
fie ald das die Eridfung nothwendig machende von Gott
geordnet.” Berftchen wir die fchwierige Formel und ihre
koͤſung (oder vielmehr Schürzung) durch zwei „Sofern”
richtig, fo Tiegt darin: die Sünde ale rein Negatives iſt
nicht für Gott, aber fie ift von Bott geordnet, ald noth»
wendig ſeyend am und nothwendig führend zum Pofis
tiven, An fich, abfolut betrachtet, iſt fie nur dad Nichts
feun, das dem Seyn anhängt, aber zur Wahrheit unferes
menfchlichen Weſens und Bewußtſeyns, de Begriff uns
Theol, Stud, Jahrg. 1847,
348. Bed
fered Geyas gehört eben bad Ineinander von Poſitien
uud Negation a). Wir hätten alfo zweierlei zu unterfchei-
den: 1) das Böfe als etwasrein Negatives, 2) die Säude
ald Bermittelung ber Erlöfung.
Auf die enfte Seite, Die reine Negativität dee
Böfen, ſtellt fich Calbin (Inst. 1, 18, 3.): Dei voluntas
quum una et simplex in ipso sit, nebis multiplex apparel,
qnis pro mentis nostrae imbecillitate, quomedo idem diverse
mode nolit fieri et velit, uon capiemus. Der Grund aber,
warım Bett dad Böfe will, ift eben, weil im Böfen zugleich
etwas von Realität, etwas von Poſitivem iſt. 2) So iftnadı
Anguſtin das Böfe nothwendig zur Bermitteluug bes Guten,
nam nisi esset hoc bonum, ut essent et mala, nullo mode sine-
rentnr ab omnipotenti Deo. Wollte man aber das Boͤſe
zum Mittel der Erlöfung machen, fo wirb das von
Schleiermacher getabelt, denn das hieße nur die göttliche
Allmacht durch das Böſe befhränft ſeyn laſſen. Es
ſcheint mir ſomit kein anderer Ausweg zu bleiben, als
dem Böſen, wie ed nicht bloß etwas Negatives
iſt, ſondern immer eine Poſition, wenn auch eine verkehrte,
— dem Böſen, ſage ich, eine poſitive Bedeutung in der
abſoluten Weltentwickelung zuzugeſtehen: es iſt geordnet,
wenn auch als ein immer nothwendig verſchwindendes,
ſo doch als ein weſentliches Moment der Entwickelnng.
Es ſcheint mir nicht zu genügen, was J. Müller b)
wiederholt premirt und was in neuerer Zeit mannichfach
behauptet wird, bas Böfe fey möglich, aber nicht nothr
wendig, oder nothwendig fey feine Möglichkeit, aber
nicht feine Wirklichkeit, als das wefentlich Grundloſe fey
ed auch feiner Erflärung fähig. Denn dann müßte «6
ald das abſolut Grundlofe auch vom Abſoluten ſelbſt
a) Vergl. $. 48. Die Lebenshbemmungen find eben fo ſchlechthin
von Gott abhängig, als die Lebensfoͤrderungen.
b) Lehre von der Sünde, exfle Ausgabe, Band 1, 469-474.
über bie Praͤdeſtination. 349
nicht zu erfennen feyn, vielmehr außer ihm ſtehen: eben
im feiner Unerforſchlichkeit Hände es als abfolut Gott ge⸗
genäber, und wenn die Bernunft darauf nie verzichten
kann, nady dem Weſen Gottes zu forfchen, und dem
Ehriften die Ausſicht nicht verwehrt feyn darf auf den
Geiſt, der alle Dinge erforfcht, felbft die Tiefen der Gott⸗
heit, fo wärde ja das Böfe, wenn es nicht foll zu er⸗
gründen feyn, in feiner Grundloſigkeit noch höher hinauf⸗
geftellt, ald der abfolnte Urgrund in Bott. Diefe Uner-
grümdlichkeit des Böfen kann daher nicht, wie behauptet
werden will, eine abfolute feyn, nicht an ſich, fondern
tar eine relative für und Das Lebtere ift fie denn aller,
dinge, denn noch immer ift der Grund des Böſen ein
Problem des Wiffend, aber, wenn auch noch Problem,
fo doch Problem, was es im anderen Falle vernünftiger»
weife nicht feyn Bönnte! Da das Böſe bis jetzt immer
in der Welt fortwirkt, fo muß in Gott felbft ein genil-
gender und pofltiver Grund für feine Exiſtenz aufgefuns
den werden Fönnen. Und da weiter dad Böfe alfo noths
wendig durch feine Eriftenz anf die Entwidelung der Welt
einwirft, fo muß ed umgekehrt auch in derfelben, als ein
weſentliches Moment, gegründet feyn. J. Müller will
war durchaus nur die Möglichkeit der Sünde, keines⸗
wegd irgend welche Nothwendigkeit berfelben ſtatuiren.
Aber er gibt doch zu, daß „von einer Freiheit des Wils
lens nur infofern die Rede feyn kann, ald er von Ans
fang und vor feiner erftien That nicht fchon ein beftimmter,
jendern ein ganz unbeftimmter ifl.” Weiter aber fagt
a: „Es find Beſtimmungen für ihr da, aber in
ihm können fie nur dadurch ſeyn, daß er durch Selbſt⸗
entſcheidung, aus urfprünglicher Nichtentfchiedenheit her⸗
austretend,, fie felbft annimmt. Daran ergibt ſich denn
allerdings, daß es unzuläffig ift, dem Urmenſchen einen
anerfchaffenen, pofitiv guten Willen beizulegen. Der
Wille der perfönlichen Creatur kann von Anfang übers
24 *
350 Bed
haupt weder gut noch böfe feyn, denn er Faun beides
nur durch feine That werben. Anbererfeits if freilich
der Wille nicht wirklich außer uud vor der That; dar
zum verfleht es fidh, daß dieß wor aller That und Selbſt⸗
entfcheidung nicht als ein wirklicher Zuftand (vom
Berf. angeftrichen), als eine erfte Stufe des bewußten
perfönlichen Lebens vorangeſtellt werden darf” Es fol
dieß aber auch nicht ein’ aequilibrium voluntatis ſeyn, —
denn dieß würde ſchon „eine Macht des Böfen im Men
fchen, eine Sünde vor der Sünde vorausfegen. Eine
folhe Macht aber hat von Anfang an nur das Gute”
Der Wille ift fomit urfprünglich weder gut noch böfe,
aber „vom Guten gelodt, zur Bereinigung mit ihm fols
licitirt, Denn von Anfang an find in feinem Geifte die
heiligen Mächte des Gottesbewußtſeyns und bes fittlichen
Bewußtſeyns wirkffam und in der Negion feiner natürs
lichen Individualität ift nichts, was diefen Mächten hem⸗
mend in den Weg träte; hier ift urfprünglich Mlles in
ungeflörter, wenn gleich noch unentfalteter Harmonie; in
zwiefpaltlofer Unfchuld und Unverdorbenheit, nicht voll⸗
fommen, aber rein und gut. — Dennod hat der
Wille gleich vom erften Momente des erwachten fittlichen
Bewußtſeyns an die Macht, fich dem Gehorſam gegen
die göttliche Norm zu entziehen und fich dadurch mit feir
nem eigenen Weſen zu entzweien. Das freilich if ein
trauriger Irrthum, der dem Geifte die wahre Bedeutung
ber urfprünglichen Freiheit ganz verhüllen muß, daß ber
erſte Gebrauch, den der Menſch von derfelben gemacht
babe, die erfte Beſtimmung, die der Wille fich felbft ge,
geben, Sünde hätte feyn müffen. Es iſt der plat⸗
tefte Pantheismus, der ſich vorftellt, daß der Menfch fid
von dunkler Naturabhängigfeit und Paſſlvität nicht hätte
emancipiren und feiner Selbfiheit nicht hätte inne werden
können in der Gemeinfchaft mit Gott und im Gehorfam
gegen feinen Willen, fondern nur im Ungehorfam und in
über bie Präbeftination. 351
der Losreißſung von Gott — wodurch deun die Willkür
und dad Böfe zur nothwendigen Vorausſetzung der wirk⸗
lichen Perfönlichkeit erhoben und die Alles ſich unterwer:
fende und Alles durchdringende Bemeinfchaft mit Gott
ju einer blinden Raturgewalt herabgefeßt wird.”
Bis hieher fomit nur die Möglichkeit des Böfen.
Run aber weiter (471.): „„Diefe Uebereinftimmung konnte
doch nur eine halbbewußte ſeyn, eine kindlich ums
fhuldige Anfchließung an Gott ohne klares Bewußtſeyn
von der Bedeutung ded Gehorſams im Gegenſatze gegen
den Ungehorfam. Eben barum hatte fie auch noch nicht
die Macht, den Willen in der Richtung auf dad Gute
zu fihern und zu befefligen.” Hierzu fommt die Anmer:
fung: „Um ſich Kraft ausftrömend, zur Nachfolge anres
gend Anderen mitzutheilen und fie vor Abirrung und Kal
bewahren zu können, muß fie (die Uebereinſtimmung bes
Willens mit dem h. Willen Gottes) fich erft dem Gegen»
fage gegenüber behauptet (Hebr.2, 18.5, 8. 9.) oder aus
dem Gegenfate wieder hergeftellt haben (Zul. 22, 32.).”
Weiter unten im Zerte: „Das bloße Bewußtfeyn eines
Willensgeſetzes, wiewohl diefes Soll für den fhon
geftörten Zuftand auch unmittelbar das Innewerden eines
Auchanderskoͤnnens mit fich führt, reicht nicht hin für die
unentzweite Unfchuld. Das Geſetz mußte ihm in der bes
Rimmten Richtung einer Schranke entgegentreten, —
alde negative, verbietendes Geſetz, — bamit die
latente Selbſtheit offenbar würde und ſich felbft überwände
und verleugnete ... im Gehorfam und durch den Gehor⸗
fam gegen das Verbot.” Daß aber (473,) „fich der Menſch
für das Böſe entfchied, it nichts Geringes; es iſt ver⸗
fehlt, wie Marheineke thut, dieſe Freiheit als die ſchlechte
zu bezeichnen. 434: „Es iſt die unermeßliche Energie und
Ziefe des Selbſtſeyns in der Perfönlichkeit.”
Ih kann mich nicht Überzengen, daß mit dem letzten
Abfage nichts weiter deducirt feyn fol, als eine pure
+
352 Bed
Möglichkeit des. Bäfen. Die Unſchuld, dad wirb zugege⸗
ben, ift nur eine halbbewußte. Deßwegen ift eine Schrante
nöthig, damit mit der objectiven Möglichkeit des Böſen
zugleich auch das Bute ind. Bewußtfeyu, alfo aus bem
„nicht wirklichen Zuftande” zur Wirklichkeit käme. Alfo
die Nothwendigkeit eined Gegenſatzes, einer Regation —
Berf. feldft hat 472, „negatives, verbietenbes Sefeh” uns
terftrihen — iſt gegeben. Der Menſch ift au fih gut
d. h. er iſt weder gut noch böfe, aber dad Gute ift doch
zugleich der eigentliche Begriff feines Weſens. Dieß fol
ihm zum Bewußtſeyn kommen. Dody, ohne Ich kein Du,
ohne Du Bein Sch: ohne eine Seite des Gegenfabes Fein
Bewußtfeyn der anderen. Uber bad Oute fol zum Be:
wußtfeyn kommen, alfo — muß auch die andere Seite
des Gegenfates feyn. Die Möglichkeit! wird man ents
gegnen, aber bad Gnte fol ja auch nicht bloß möglid,
bleiben, es fol wirklich werden. Doc fol die Möglich-
feit ded Gegentheild ja nur vorgeftellt werden in ber Idee,
in dem negativen Geſetze. Das wahrhaft Gute wird fo,
mit dem Geifte gegenüber geftellt in dem Geſetze, als
Ueberwindung des Böſen. Denu das Gute ald Geſammt⸗
bild, als Idee kann noch nicht in den Geift fommen,
fondern nur in einzelnen Beftimmungen. Diefe, heißt ed,
müffen als negativ, als Berbote erfcheinen. Warum?
ift nicht gefagt. Ich glaube, die Sache verhält fich fo.
Das Gute ald Willensgeſetz, ald Idee iſt dem Geiſte noch
nicht bewußt; ex kann ed nur in einzelnen Bekimmungen,
alfo fucceffiv kennen lernen. So aber, wie fie nach und
nach an ben Geift fommen, kann er fie noch nicht ale aus
feinem eigenen Weſen hervorgegangen erfennen, fie er:
feinen ihm als fremd, als negativ. Uud nicht nur er-
ſcheinen fie ihm fo, fle find es ja auch wirflih. Das An
und Für ſich des Geiſtes ift dem An fich eben fo auch eut-
gegengefegt, als mit ihm eins. Jenes iſt ja das Bermittelte,
dieſes das Vermittelte, Unmittelbare. Das Unmittelbare
über die Poaͤbeſtination. 353
kann aber nur in ber Sphäre des Einzelnen erſcheinen
Die einzelnen Beſtimmungen bed: Geiſtes nun — bieß if der
natürliche Berlauf, Böunen ihm nur als Beſchrünkungen
des allgemeinen, erſt im der Ahnungsdämmerung begriffe-
uen Wefens erfcheinen, in deuen er ſich noch wicht fine
den Bann. Go weit ift dad Böfe ein formell ald nothwen⸗
dig auftretendes Montent.
Run aber hat der Geiſt den Anftoß zur Entfcheibung.
Er fängt jetzt an, ſich ans fich felbft zu beftimmen. Aber
jene Beſchränkungen waren ihm das Nichterfelbfi; fo
wird das Rochnicht jegt unmittelbar zu einem Nichte
mehr. Der zuvor erft äußere Gegenſatz des Geſetzes
it jeßt zu einem inneru geworden. Denn fobald durch
die Entfcheibung der Ratärlichkeit die ſittliche Entwickelung
ald eine bewmußte begonnen, fobald das Einzelne ald ber
ſtimmt ſich ſixirt hat, tritt uun bad Allgemeine dagegen
im Bewußtſeyn auf, mit der jet exft wirklich geworde⸗
nen Sünde des Bewußtſeyns des Böfen (Gen: 3,5.
Röm. 7, 7.). Diefe Entſcheidung ift allerdingd nichts Ges
riuges. Es if: ja die Macht des Willens, der eben damit
feine bewnßte Eutwidelung beginnt, aber fie ift doch ein
Act der ſchlechten Freiheit; denn es ift ja eben fo noch
eine formale Freiheit, Willkür, fie fteht noch entgegen
dem wahren Weſen des Geiſtes. Es iſt Willkür des
Einzelnen, in ſich ſelbſt ſo, wie er iſt, das Maß des Ge⸗
ſetzes ſinden zu wollen... Aber es iſt dieß zugleich der
große Schritt zum Guten: lieber für etwas Böfed ent⸗
(heiden, als gar nie (Apok. 3,15.). Das’ ift freilich wahr,
daß dieſes Böſe zuerft nur objectiv gegenkbertritt, ehe ee
Inbjectiv wird; das iſt eben das Näthfelhafte des Ans
fange, daß der erſte Schritt als nnumgänglich erfcheint
md doch als Willkür, num auch ald Schub gewußt
wied, indem eben bie Entfcheibung des unmtttelbaren Sch
für das Einzelne, Natürliche erft dad Bewußtſeyn des
Bahren und Allgemeinen hervarraft. Das Natürliche
354 | Bed
an ſich if fo niht Sünde, fonderu nur fofern es im
Gegenfage gegen deu Geiſt fich behauptet. Es iſt Folge
der Enblichkeit, daß beide auseinander treten müſſen, um
durch ihre Einigung die wahre, reale Freiheit gu vermit-
teln, aber gerade darum iſt ed auch zugurechnende Sünde,
auf ihrer Entgegenfegung zu beharren. Daß der Menſch
überhaupt ein Sünder fey, ift nothwendig — bieß und
nichts Anderes kann die Kirchenlehre von der Erbfünde
befagen wollen —, aber dieß kann nie einen Grund ab»
geben, ſich für eine einzelne Sünde, für einen beflimm-
ten Act des Herzens oder der That, oder für eine Reihe
folcher Acte zu entfcheiden, denn das Gewiſſen treibt ja
eben, von der Sünde hinwegzutommen und fih im All⸗
gemeinen, im Geifte, in Gott zu willen: das Böfe tft
nicht Natur, fondern Selbfibeflimmung.
Dieß wäre ein Verſuch, das Böfe ald nothwendig
dufzuhebendes, aber doch wefentlihee Mo
ment der Entwidelung zu faſſen. Man mag barüber
denken, wie man will, fo fcheint mir doch im Allgemei-
nen der Sat von biefer oder einer derartigen Bedeutung
des Böfen nicht aufgegeben werden zu können, und es
ſcheiut mir nothwendig, eben die beiden herausgehobenen
Punkte in Eins zu faffen. IR es nicht ein nothwendig
aufzubebendes Moment — fo ift die Heiligkeit Gottes,
ift ed nicht ein wefentliches — fo ift die Alled beſtim⸗
mende Allmacht ded Abfoluten negirt, Nur fo endlich
fcheint mir fich ein wahrer Begriffder Freiheit zu
ergeben. Derfelbe ift von Auguftin (don. perser. 17.) und
Calvin (inst. 2, 2,6.) angebeutet, wenn fie meinen, es fey
feine Gefahr, ne sibi nimium sdimat homo, dum recupersn-
dum in Deo discat, quod eibi deest. Bor Allem if feſt⸗
zuhalten, daß der Menſch nach Gottes Bild gefchaffen
fey, d. h. ein.Abbild des göttlichen Geiſtes, feine wahre
Natur der göttlichen verwandt: Belov yvovs Zouiv (Apg.
17.), Yelag YpUosag uiroya (2 Petr, vgl. Sal. 3, 9.) —
über bie Präbeflination. 355
ber fabjective Geiſt mit dem obfectiven und mit bem
abfolnten wahrhaft im innerften Grunde eind. So kann
die menfchliche Natur nie durch und durch von der Erb⸗
fünde angefreffen werben, nie zur gänzlihen Abwendung
umgewandelt feyn, vielmehr muß eben darum immer eine
Sehnſucht zurüdbleiben nach dem, was die wahre, eigents
liche Natur des Menfchen it, eine Empfänglichkeit für
diefe nene Schöpfung, der Zug des Vaters zum Sohne.
Diefe Beſtimmungen haben aber entfernt nicht bie Abſicht,
ein menfchliche® Berdienft einzuführen, denn die Sehnfucht
wird ja eben aus jener Natur geboren, welche fich Nies
wand als fein Geſchenk und Werk zufchreiben kann, ohne
durch die hoͤchſte Anmaßung fein fubjectived Ich über
das abſolute und objective zu feten, oder, wem wollte
ed einfallen, wenn ein Kranker fich nadı dem Arzte fehnt,
ju fagen, Daß entweder feine frühere Gefundheit, oder
feine erfehnte Geneſung damit als fein eigen Werk ber
jihnet werde? Hieraus folgt aber weiter, wenn ber
Menſch die Idee ded Allgemeinen in fich trägt, fo kann
das Boͤſe nicht unergründlich feyn, denn das Boͤſe wider⸗
Arebt nicht einer Außerlich allein an ihn herfommenben
Realität, fondern verfchrt eben die Ordnung der Idee,
die er in fidh trägt, und firebt gegen fein eignes, wahr»
haftiges Weſen. So muß denn diefer Widerfpruch, ber
in feinen eignen Eingeweiden wüthet, entweder zur Ueber,
windung treiben, oder durch feine eigne Widerſetzlichkeit
iu runde gehen. Diefe Erhabenheit der Idee, die ba
Alles beherrfcht, was fich gegen fle verfchließen und auf
feiner Ichheit ſtehen will — fie iſt die wahrhaft göttliche
Ordnung; wer mit diefem Gotteswefen eins wird, wird
wahrhaft frei; denn ererfaßt feine eigenfte Natur, weldje
aus Gott und zu Bott ift.
Wir haben und der Eonfequenz nicht entziehen kön⸗
um, daß auch dem Böſen eine Stelle in der Entwidelnng
der göttlichen Orbnung zufomme. Gehen wir von dem
336 Dei
Böfen auf die Böfen über, fo entßeht num bie Frage,
ob ihre Berwerfung im ewigen Rathſchluſſe Gottes ger
gründet ſey oder nicht, Dieß iſt der zweite. Hauptpunkt
unferer Kritik: Lniverfalttät oder Particularität der
Bunde, ober, da wir und nadı dem Obigen jest auf bie
fsbjectine Seite zu ftellen haben, die Frage: fünnen alle
Menſchen zur Gnade gelangen oder nicht?
2. Subjective Seite: menfchlide Empfänglic;
feit: Univerfalität oder Particularität
der Erlöfung.
a) Für die reine Particnlarität fprachen fich,
wie aus dem Biäherigen zur Genuge hervorgeht, entſchie⸗
den aus Auguflin und Calvin. Bon Auguflin mag
baber bier nur eine Stelle fiehen (praed. sanct. 8.) : gratia
ea, quae honos discernit a malis, non ea, quae communis est
bonis et malis. Non enim omnium est fides, cnm fidem
posse habere sit omnium (vergl. don. persev. 14.). Aber bei
ihm iſt die Berwerfung nur eigentlich die andere Seite,
bie. Kehrſeite der Erwählung, eben ein Nichtthun Gottes,
etwas Privatived. Beſtimmt pofitive Bebentung hat fie,
als das gerade Gegentheil der Ermählung in den Prä⸗
deftinationsrathfchlnß aufgenommen, bei Galvin. Cr
meint, Dei providentiam, quum ad omnes promiscae ex-
tendatur, quam maxime extenuari. Darum (Cons. Gen.
906.) non aliter omnibus praedestinata salus, quam ei in
prima origine perstareut; non perstare autem divino consilio
erat ordinatum ; itaque non ommibus praedestinata est salus,
Die gewöhnliche Unterfheidung einer potentiellen und
actualen Univerfalität des Evangeliumd wird von ihm
verworfen: non enim, qualis eit Christi virtus, vel quid per
se valeat, nunc quaeritur, sed quibus se fruendam perhibeat,
und da fomme man am Ende auf die Frage zurüd, ob
Allen gleiched Vermögen zu glauben gegeben: werbe, —
was einmal nach der Erfahrung. zu verneinen ſey. Sein
Syſtem iſt fo coufequent durchgeführt bei Gerhard 54. qued
x
über die Präbeflination. 357
Deus non tantum ad. damnationem, sed etiem ad causas
damnationis praedestinaverit, quaecunque libuerit, m
sus ebdoxig.
Die Iutherifhe Lehre dagegen hat die Tendenz,
diefe reine Particularität der Gnade von der Hand gu
meifen durch die LUinterfcheidung von Präfcienz und Präs
deftination, ober, nach ihrem Dogmatifchen Ausdrucke, von
voluntas consequens und antecedens, Gegen
die Haltbarkeit dieſes Unterfchiedes aber hat ſich haupt»
ſächlich Schleiermacher (Erwählungslehre 441 ff.) mit
Erfolg ausgefprochen. In Gott gebe es feinen Unters
ſchied des Vorher und Nachher. Auch helfe die Begrüns,
dung nichts, welche ben antecedens der Guade und den
consequens ber Gerechtigkeit Gottes zufchreibe, denn das
heiße den göttlichen Willen theilen, überdieß werden auch
die Gläubigen nur erft durch den mittheilenden Willen
Gottes felig, wie die Ungläubigen unfelig, fo daß alfo
der beabfichtigende antecedens unwirkfam ſey. Sodann
wäre auch die Befeligung ein Werk der göttlichen Ges
techtigkeit zu nennen, als bie Erfüllung der Verheißungen,
und nur bie Gerechtigkeit, nicht die Barmherzigkeit könnte
die Gläubigen und Ungläubigen fcheiden. So wäre benn
abermals der voramgehende Wille unwirkfam, und wenn
ja body Borher und Nachher in Gott zufammenfalle, fo
wäre das Unwirkſame identiſch mit dem Wirkfamen.
Auch die weitere Unterfcheidung des göttlichen Gebotes
ald eines Unwirkſamen und des göttlichen Willens ale
des Wirkſamen führe zu nichts, denn das erſte, als uns
wirkſam, fönnte eben gar nicht Gottes Wille feyn. Wollte
man die Unterfcheibung begründen durch den Gegenfak
ded Allgemeinen und Befondern und fagen, ber voran⸗
gehende Wille habe ben Menfchen ald Menfchen zum Ges
genftande , der nachfolgende den Verworfenen ald Ders
worfenen, fo wäre dagegen zu fagen: nichts geſchieht am
Menfchen ald Menfchen allein, Allgemeines und Befons
358 Bed
deres fällt eben in Gott zuſammen; verwirft er ben Ber:
worfenen, fo begnadigt er den Gläubigen ald Gläubigen.
Wollte aber ein halber Wille Gottes ſtatnirt werben,
defien andere Hälfte das Wilfen wäre, dann ginge das
Wiſſen Gottes über fein Hervorbringen und diefed wäre
durch ein anger ihm Begebenes befchränft.
Daher meint Schleieemacher (Erwählungslichre 429.),
„daß nicht alle Menfchen durch Ehriftum wiederhergeftellt
: werden , fondern einige begnabigt werden, andere verlos
ren gehen. Diefed nimmt die Iutherifche Kirche eben fo
gut an als die calvinifhe. Ed kommt alfo nur baranf
an, wie Bott berechnet hat. Wenn wir nun einmal von
der verwirrenden Borftellung eines befondern göttlichen
Nathichluffes in Bezug auf die einzelnen Menfchen ab-
fehen und und nur an die unftreitig von Gott verorb»
nete Art halten, wie das Evangelium verbreitet werden
follte, und an die ebenfalls von ihm verordnete Art, wie
vorher fichdie menfchl ichen Dinge geftaltet hatten, fo
müffen wir wohl fagen, aus beiden zufammen, alfo aus
dem göttlichen Rathſchluſſe folge nothwendig, dag nicht
Ale, an welche dad Evangelium erging, ed annehmen
konnten. Das Judenthum hätte nicht beftehen können ohne
Eiferer, welche die übrige Mafle zufimmenhielten, und
unter den Eiferern für eine unvolllommene Sache mußte
ed auch falfche geben, Eben fo mußte unter den Heiden
die gewaltige Mafle des Verderbens feyn, wenn einige
ſich an ein fonft fo verachtetes Volk wie die Juden ans
fchließen follten und fo das Ehriftenthum an das Heiden
thum übergehen. Aber unter jener Maſſe mußten dann
auch die Verächter des Chriftenthums feyn. Alfo fcheint
bier der gute Erfolg nicht anders ald mit dem Mißerfolg
auf der andern Seite zugleich berechnet zu feyn.” Go
kommt denn auch die Kirchenlehre, wenn fich der Unter:
fhied eines zweifachen Willens nicht halten läßt, fondern
in Einen Rathſchluß der göttlichen Weltordnung auflöf,
über die Prädeflination, 359
in ihrer Sonfequenz; mit Augufin und Calvin zufammen,
daß, si reete rem intelligas, verbum Dei sit universale,
spiritus autem sancti efficacia sit — parti-
ceularis,
b) Und doch ſprechen auf der andern Seite für bie
Univerfalität der Gnade fo gewichtige Gründe!
1) eregetifche, welche Gerhard gründlich entwidelt hat:
a) die Allgemeinheit des Verdienſtes Ehrifti: Röm.
5,8. Joh. 1, 29. 4, 42. 1 oh. 2, 2. Gal. 2, 9, Pf.
14, 2. 3. Rom. 3, 11. 12. 1 Kor, 18, 11, Röm. Al, 32,
Gal. 3, 22. Luk. 19, 41; b) die Allgemeinheit der Bes
rafung: Marl. 16, 15, Matth, 11, 38. Apſtg. 17, 30,
züss zavrayod, Röm. 10, 18. Nach allen diefen Stellen
fann kaum widerfprochen werden, daß eine einfältige
Eregefe die Allgemeinheit der Gnade in der Schrift ans
zuerfeunen nicht wohl werde umhin können. Hiezu kom⸗
men auch philofophifhe Gründe. Schleiermacer
argumentirt in der Glaubenslehre ($.118.) alfo: Um die
Ausichließung eines Theild von dem ewigen Reben zu
begreifen, könne man entweder 1) das Zufammenfeyn
von Gleichheit und Ungleichheit zwifchen uns und Andern
sn rechtfertigen fuchen, oder 2) Gleichheit oder Ungleich⸗
beit für Schein erklären. Im erfien Kal koönne dieſes
Zufammenfepn gegründet werben auf die a) urfprüngliche
Einrihtung der menfchlichen Natur. Dann aber müßte
diefe getadelt werden, was feinen Sinn hat, denn wäre
fie nicht, fo wären auch wir Menſchen nit. Auch kann
die Ungleichheit, welche durch die Dazwiſchenkunft Chrifti
entfteht, nicht urfprünglich feyn, — was vielmehr auf
Pelagianismus führte. Oder b) die göttliche Heilsord⸗
nang. Dann liegt diefer eine fchlechthinnige Willeus⸗
befimmung zu Grunde, alfo Willkür. Hiemit werben
die Andgefchloffenen ein Gegenftand des Mitgefühl und
in unfere Seligkeit ſchleicht fich ein Gefühl der Unſelig⸗
kit ein. Sagt man, an den Einen müſſe Gott feine
360 Bed
Gerechtigkeit, an den Andern feine Barmherzigkeit bewei⸗
fen, fo find die göttlichen Eigenschaften getheilt, während
fie doch in einer und derfelben Beziehung ſich äußern
müffen. Im zweiten Falle ift a) die Ungleichheit eben
einmal in der Erfahrang des chriftlichen Bewaßtſeyns
gegeben; b) die Gleichheit. aber wäre Schein in dem
Falle, wenn es eine urfprüngliche Ungleichheit der menſch⸗
lihen Natur gäbe, dann aber würde ihre Einheit zerrifs
fen und die Conſequenz des Manichäismus wäre nicht
zu vermeiden. Das Refultat der ganzen Argumentation
ift fomit, daß die Angfchließung vines Theild von dem
ewigen Leben nicht zn begreifen feyn würde,
c) So fprechen für beibe Theile gewichtige und nicht
zu verachtende Gründe, und doch find fie einander dias
metral entgegengefett. Welcher Ausweg der Bermitt-
Iung kann fih da noch darbieten? Kein anderer, glaube
ich, ald der, welchen Schleiermacher durch die Einfüh⸗
rung bes Begriff der Entwidelung bezeichnet hat
und den wir farz im logifhen Schluß ausdrücken kön⸗
nen: 1) Es follen Alle felig werden — Univerfalität.
2) Aber es find dieß nicht Alle — Particnlarität. Alſo
3) müffen fie ed noc werden können! Ju der That
fcheint ſchon Calvin daran geftreift zu haben (910. und
929.). Die Particularität vertheidigt er hier durch Auf
werfung der Frage, cur etiam ante Christum Deus legem
suam non publicaverit et gentibus et cur non ommibus in-
differenter praedicari evangelium ab initio mundi voluerit ?
So Inst, 3, 21, 7: externa invitatio abrque interiorie gra-
tise efficacia, quae ad homines redimendos valida est, me-
dium est quiddam inter abiectionem totius generis
humani et electionem exigui piorum numeri. Diefe Ent»
widelung aber ift fo aufzufaſſen, daß im Anfang Allee
eingefchloffen it und wieder ein jedes Glied der Ent-
widelung auf den Anfang zurückweiſt. So muß denn der
Rathſchluß Gottes nnd feine Realifirung in der Welt fich
über die Yrädeflination. 361
gegenfeitig fordern und befiiurmen; vergl. Auguſtin (prued.
sanct, 5.) Christus in mundam venit, quum Deus fide eum
ab hominibus acceptam iri praescivit, sed tum Christum
per Adean acoeptum fri praevidit, quum tempus esset im-
pleten ji. e. autem venisset tempus, quo eum in mundum
mittere ab zeterno decreverat. Beide Momente, die prae-
rise fides und Bas göttliche Wohlgefällen, fordern ſich nach
Schleiermacherꝰs Glaubenslehre 6. 120. gegenfeitig. „Denn
das erfte, einfeitig genommen, wlrbe den Blauben im
Menfchen - unabhängig von Gott vorausfeßen: Pelagiar
nienus. Das zweite erfcheint nur zu leicht ald ein aus»
dradlihe® Beginftigen und Zurüdfeken. Alles Einzelne
aber bedingt einander gegenfeitig und das Ganze in ſei⸗
sem ungetheilten Zufammenhang tft vermöge bed gött⸗
lichen Wohlgefallens, fo wie es if.” Ermählungdichre
44: „Stand wir einmal darüber einig, daß, damit die
Belt vollſtaͤndig ſey, ancdı das menfchlige Geſchlecht da
ſeyn mußte, fo können wir unmöglich mehr fagen, es
ſey eine grundlofe Willkür, Daß Bott das menfchlidhe Bes
ſchlecht, wenn gleich er vorausgefehen, daß ed fündigen
and fallen werde, erſchaffen habe, da es ja nothwendig
mit eingefhloffen if in die Eine Alles umfaflende That
der Weltfchöpfung. ragen wir aber, warum Bott und
gerade zu Menfchen gemacht und nicht zu Engeln, fo
vergeffen wir nicht nur, baß wir eben fo gut fragen könn⸗
tea, warum nicht auch zu Thieren, ſondern wir fpielen
an die Frage dahin, wo nichts mehr zu fragen ift, und
fragen alfo, eigentlich gefagt, auch gar nicht: wenn wie
nicht zu Menſchen erfchaffen wären, fo wären wir gar
sicht erfhaffen. Eben fo aber müflen wir auch fagen:
fol das menfchliche Geſchlecht volftändig ſeyn, fo müflen
auch für das Gute empfänglichere und unempfänglichere
Menſchen von allen Abfkufungen neben einander
ſeyn; denn erfi and dem Zuſammenſeyn aller möglichen
Compiieationen höherer und nieberer Bermögen und Ans
362 Bed
lagen und aus dem Borhandenfeyn aller möglihen Ent⸗
wickelungs⸗ unb Sättigungspuntte entiteht jene Bollftäns
digkeit, in ber allein die Gattung befleht.” So ift (458.)
„der fündige Menſch zwar in das allgemeine geiftliche
Leben des menſchlichen Gefchlechte® aufgenommen, fofern
ein ſolches beſteht, Perfonen aber im religiöfen Sinne
find folche, weil es ihnen an der religiöfen Selbfibeftim-
mung fehlt, noch nicht, fondern das werben fie erſt
burch die Wiedergeburt ... Bor der Wiedergeburt aber
find fie indgefammt den Wiebergebornen gegenüber bie
massa , weil fie aud der Maffe noch nicht belebe find,
nicht weil fie etwa niemals belebt würden. Diefe Bele⸗
bung nun vergleicht Schleiermacher (wie ſchon Melauch⸗
thon iu der Ausgabe von 1536) ald die zweite Schöpfung
mit der erften. So muß fidh eben deßwegen auch bie
geiflige Schöpfung auf bie ganze Menſchheit beziehen, ed
war ja (476) „von Anfang an Gottes Gutdünken, nicht
einzelnes Seyn und Leben zu erfchaffen, fondern eine
Melt, und fo wirft auch der Geiſt Gottes als eine welt⸗
bildende Kraft und es wird durch ihn nicht einzelne,
ordnungslos entfichendes, geiftiged Leben, ſondern bie
geiftige Welt.” Bon denen daher, bie noch außerhalb der
Semeinfchaft mit Ehrifto fiehen, miffen wir (Glaubens⸗
lehre 8. 119.) weiter nichts, als ihr dermaliged Berhälts
niß zu Chriſto. In jeder Zeit find Biele berufen, Wenige
anserwählt, werden mithin Einige von Gott überfehen
oder übergangen. Gie find noch ohne geiflige Pers
fönlichteit mitten in die Maffe des fündlihen Geſammt⸗
lebens verfentt, aber darum doch als in berfelben gött⸗
lihen Borherbeftimmung mit uns befaßt anzufehen.” Er⸗
wählungsichre 461: „Das Wahre ift fomit, daß man
nur Einen göttlichen Rathſchluß annehmen kann, welder
Alles umfaßt, nämlich den Rathſchluß Über die Orbnung,
in welcher bie des geiftigen @inzellebens fähige Maſſe
allmählich belebt wird,” oder Glaubenslehre $. 119: Es
über die Praͤdeſtination. 363
gidt Eine göttliche Vorherbeſtimmung, nad
weiher aus ber Sefammtmaffe des menfchr
lichen Geſchlechts die Geſammtheit der neuen
Creatur hervorgerufen wird.
Nun aber iſt es Erfahrung, daß Einige außer der
Gemeinfchaft mit Chriſto ſterben! Wie ſteht's hier mit
dem göttlichen Rathſchluſſe? Es gibt hier nur drei moͤg⸗
liche Faͤle: 1) der Eintritt in Chriſti Gemeinſchaft iſt
ihnen nicht mehr moͤglich, aber ſie ſind doch nur Ueber⸗
ſehene, nicht Verworfene — ſo iſt das nur denkbar, ſo⸗
fern fie zugleich, weil keine geiſtige Perſönlichkeit, als
niht daſeyend betrachtet werden. Dieß fcheint Schleiers
macher's Anficht, und dann ift die Gefammtheit fo
groß als die Befammtmaffe 2 Der Eintritt if
ihnen verwehrt, dann find fie nach calvinifcher Lehre
Berworfene und die Geſammtheit ift kleiner ale
die Oefammtmaffe. 3) der Eintritt ſteht ihnen noch
offen; dann wird die Gefammtheit gleich der
Seſammtmaſſe.
Der erſte und zweite Fall, die ſchleiermacher'ſche und
calvin'ſche Anſicht treffen in dem Erfolge zuſammen, daß
Chriſtus nicht für Alle iſt, aber dieß ſcheint mir die Iden⸗
tität der Gattung aufzuheben und an der ſchleiermacher'⸗
ſhhen Anficht hängt überdieß der Grundſatz von der Ne⸗
gativität des Böfen und die Ertermination der Freiheit,
wodurch der Menfch nur ald Ratureremplar der Gattung,
nicht als individuelle flttliche Perfönlichleit in Rechnung
genommen if. Kür den dritten Fall fpräche die Selbig-
kit der Gattung, bie Bedeutung der Perfönlichkeit und
die Agemeinheit des Verdienſtes Chriſti. Dazu aber
wäre dann freilich nothwendiges Refultat die Mögliche
fit einer weitern Kortentwidelung nach bem Tode, fo
daß Ale allmählich in das Neich Gottes gefammelt wür⸗
den, ein Refultat, Das Calvin, als es Georgius gegen ihn
vorbrachte (Cons. Giener. 882,), für eine ——— erklärte,
Tool, Stud. Jahrg. 1847.
364 Bed
das bie Kirche mit der dzoxarderasıg zavrav verwarf
(conf. Aug. 17.) und dad bie mobernfpecnlative Abneigung
gegen alle Transſeendenz und Eichatologie zu überwin⸗
den hätte, So bleibt denn nur übrig, den Schluß in das
Dilemma sufammenzufaflen:
Entweder unbedingter Particularismud ber Er
wählung, oder Wiederbringung aller Dinge!
Die Eutſcheidung kaun Keinem, je nach dem Kreife feiner
Beltanfchauung, zweifelhaft ſeyn.
zufaß.
Dem Berf. if inzwifchen Gelegenheit geworben,. audı
die zweite Auflage von J. Muller's „chriſt⸗
liher Lehre von ber Sünde, zwei Bände,” zu
durchlefen; er bat fi aber dadurch nicht bewogen finden
können, von feiner im Voraugegangenen entwidelten An
fiht abzugeben. Denn was die zeitliche Erfcheinung
des menfchlichen Weſens und Geſchlechtes betrifft, fo
kommt Müller auch auf die NRothwendigkeit ber Süude
und felbit bed erften Sündenfalls. Wenn er 5. B.I,
523. vom Urſtaude fagt:,, So begünfiigte und erbeichterte
im Urſtand Alles die Folgſamkeit gegen ben oberen
Zug der menfchlichen Natur und vor Allem gegen bie
Antsiebe des Gottesbewußtſeyns und des göttlichen Ge⸗
ſetzes. Es bedurfte einer beſondern Verſuchung, um die
Selbſtverkehrung, mit welcher der Wille auch in nuferen
Stammelsern auf urfprüugliche Weife behaftet war, aus
ihrer verſchloſſenen Tiefe hervorzulocken,“ — fe fehe id
nicht ein, wie, die zeitliche Entwidelung ind Auge
gefaßt, diefe Anfiht von Supralapſarismus und von der
Beftimmung des menfchlichen Weſens als einee am fich
böfen ſich unterſcheiden fol, zumal Mäller (5236 fi.) im
Sündenfall Gen. 3, nicht die Gutfichung, ſondern nur dad
über die Praͤdeſtination. 365
Hervorbrechen finden wil. Die wmefentliche Unterſchei⸗
dung iſt freilich Die außerzeitlihe Entfheibung
der gefhaffenen Perſönlichkeit, woburdher (©.
486 ff.) die Bereinigung der. beiden Säge: „alle Men⸗
ſchen find Sünder” und „wo Sünde if, da iſt Schuld”
bewerkſtelligen wid. Ich muß geftehn, daß ich in dieſer
Anfiht nur ein neues Räthſel und keine Löfung zu fin,
den vermag. Mir fcheint vielmehr, was auf der Bühne
bed Weltdrama’s fich für den Berftand nicht löſen will,
nur dadurch abgemacht, daß es hinter die Euliffen zus
rüdgefchoben wird; denn noch ift ed meine Anficht, die
ja auch Müller immer nur beftätigt, zur Freiheit gehöre
Bewußtfeyn, eine unbewußte Freiheit fey Leine. Aber
wenn wir von einem Freiheitdact fein Bewußtſeyn has
ben, fo haben wir auch in demfelben Feines. Eine wer
fentlihe Mopification der früheren Theorieen von einer
intelligtblen That gibt Müller freilich darin, daß der Zus
fand vor der zeitlichen Entfcheibung fein höherer, kein
idealer feyn foll, wie 3. B. Schelling gewollt habe (204.).
Aber eben hierin finde ich 1) den erften Anſtoß. Es ift
nicht (207.) „die volle Wirklichkeit in biefer zeitlofen Exi⸗
Renz, fondern nur eine halbe” 205: „Dieſes ftille zeit
loſe Schattenreich iſt gleichfam der Diutterfchooß, in dem
die Embryonen aller perfönlichen Weſen befchloffen lie⸗
get” Wenn aber Müller (S. 95.) fagt, gegen die Ans
nahme eines individuellen Sündenfalld bränge ſich die
Frage anf, „ob ed denn überhaupt denkbar ift, daß in
die ſchwache Hand des Kindes die höchſte Entſcheidung
über die Geftalt des fittlichen Lebens gelegt wäre” —
und dieſe Annahme ald unmöglich verneint, fo muß ich
befennen, daß mir die Sache nicht an Denkbarkeit gewon⸗
nen hat, wenn nun diefelbe Entſcheidung ftatt in die Hand
eines Kindes in die „eines Embryonen” gelegt feyn folk.
2) Das Berhältniß diefer zeitlichen Entſcheidung zum
Uebergang in bie Zeitlichfeit iſt nicht näher dargelegt,
25 *
366 Bed
darum aber eben die zeitlofe Entfcheidung in den Nim⸗
bus einer gewiffen Nebelhaftigkeit gehüllt. Es fcheint,
aber man weiß ed nicht gewiß, daß, wenn die Entſchei⸗
dung eine zeitlofe feyn fol, etwa alle Menfchenfeelen zus
fammen, die auf die Erbe kommen follen, auf einmal
biefe Urthat vollbracht hätten, alfo dann offenbar vor
aller Zeit. Kommen fie aber dann mit diefer Entſchei⸗
dung, etwa eben mit Adam, in die Zeit herab, oder bleis
ben fie nun von ber geitlofen Urthat bis zum Cintritt in
die Zeitlichkeit zeitlos, ober fällt die Urthat immer bei
jedem Einzelnen gerade vor die Geburt? — darüber fehlt
uns alle Anfchanung. Und doch ift die Frage nicht ohne
Intereſſe. Denn 3) benugt Müller (S. 500.) die Angelor
und Dämonologie zu Bunften feiner Hypothefe. Damit
eben fey die Freiheit gerettet; in der Urthat haben ſich
nur Einige verfchuldet, Andere aber die Möglichleit bes
Böfen abgewiefen und den Einklang mit Gott vorgezos
gen. Diefed beweife eben, daß ben Borftellungen von
Engeln und Teufeln etwas Reales zu Grunde liegen
müfle. Auf den erften Anblick freilich fcheint bier zur
Begründung der Angelologie etwas gewonnen, um fo mehr
aber ift jedenfalls für bie Dämonologie verloren. Denn
was follen dann Teufel feyn? Sol ihre verfchuidende
Urthat etwa quantitativ ober qualitativ von der ber
Menſchen verfchieden ſeyn, oder find nicht eben am Ende
wir Menfchen allein die Teufel? Aber auch für bie
Engel gibt ed noch eine Schwierigkeit. Unzählige Wefen
derfelben Ordnung mit und follen ſich gegen das Böfe
entfchieden haben, gerade auch folche, in denen fich „der
Begriff des menjchlichen Geiſtes nach feinen Grundrich⸗
tungen realifirt.” Aber die empirifche Leiblichfeit mit
ihrer Materialität, dad oüue zoixdv ift (503—507.) nicht
ein Gefängniß für den Geift, fondern als die Raturbafie
nothwendig zu unfrem Wefen gehörig. Sollen wir nun
auch den Engeln oder den guten zeitlofen Menfchen
über bie Präbeflination. 367
auch ein ompa zoisov zufchreiben, wenigſtens für ben
Anfang? Das kann freilich nicht ſeyn, denn der Anfang
ald eine Zeit ift durch die Zeitlofigkeit ausgeſchloſſen.
Damit it aber eben gefagt, daß das oma zoindv ald
etwad in die Zeit Fallended nur und, die wir wirklich
Menfchen find, angeht, die Audern aber find Daun eben
bewegen feine wirklichen Menſchen, gehören auch nicht
in unferem Gefchlechte, da die Zeitlichleit zur Wahrheit
unfered empirifchen Weſens gehört. Die Butgebliebenen
find alfo wefentlid von unferem Gefchlechte gefchieden,
und wad zu unferem Gefchlechte gehört, das hat ſich durch
feine Freiheit Alles zum Böfen entfchieden. Warum?
Diefe Frage führt und geradezu auf den status Integer
des gangen Probleme zurüd, wie es (S. 486.) beim Ans
fang des vierten Kapiteld im vierten Buch durch Die
jwei widerfprechenden Säße ausgebrädt if. Endlich
aber, auch die überzeitliche Urthat zugegeben, gelten 4)
für die Zeitlichkeit in gewifler Art doch wieder alle Ein
wendungen, welche Wüller gegen die kantifche Theorie
von &, 106, an macht. Er feht zwar — und dieß ift
eine zweite Mobiflcatiou feiner Theorie — die Urthat
nur ald Entfcheidung für die Möglichkeit des Böfen,
nicht für das Böſe felbfl. Aber doch fagt er ©. 534:
„wegen der uranfänglichen Selbftverfehrung des Willen
iR anzunehmen, daß alle Nachkommen Adams an feiner
Stelle bei hinreichend flarker Verfuchung gefündigt haben
würden, wie er.” Das Böfe ift fomit jetzt jedenfalls
nicht mehr bloß möglich, fondern in Adam ift es wirt,
lih geworden — ja, nad) den obigen Worten, in dem
Menfchengefchleht auf Erden mußte es wirklich werben.
SR nun das, fo läßt fich nicht einfehen, wo nach der Ur⸗
that noch eine Umkehr in der Zeit möglich feyn fol. Denn
(5, 502.) „die Entwidlung fann Ihr eignes Princip nicht
aufheben, die Grundrichtung, die ihr durch daſſelbe gege⸗
368 Be über bie Präbeftination.
ben ift, nicht in bie entgegengefebte ummwanbeln, ſondern
alle ihre Bewegungen und Veränderungen aus ihr ſelbſt
gefchehen in dieſer Grundrichtung. Die Befreiung des
Menſchen it nur dadurd möglich, — dag Bott fich feiner
annimmt.” Sf, was Müller an Kant tabelt, die Umkehr
vom boͤſen Leben nad folcher unzeitlichen Enutfcheibung
nicht Doch abgefchuitten, ift nicht, wa6 Müller (S. 7-49.)
ald nothwendig halten wollte, die formale Freiheit,
hiemit doch wieder aufgehoben? —
Gedanken und Bemerkungen.
1.
Die Sünden ber Wiedergeborenen.
Bon
- &, Braune,
Dfarrer in Zwethau,
Die Sünden der Wiedergeborenen — ift ein Lehrſatz,
bei dem entgegengefegte Anfichten und Urtheile nicht etwa
bloß innerhalb der Lehrbücher bis in die neuefte Zeit ſich
berausfteflen, fondern felbft innerhalb der fymbolifchen
Bücher; das gefchieht mit Beziehung auf die heilige
Schrift. Diefer Streitpunkt betrifft aber auch das Indis
vidnellfte im Leben des Ehriften. Darin liegt, daß diefe
Auseinanderfegung ein Recht hat, unter Vorausſetzung
bed Begriffs der Sünde, ber gegen Wider, oder Undhrifts
liches vor Allem zu firiren feyn würde, zunächſt und zus
meiſt den Begriff der Wiedergeburt in feinen einzelnen
Momenten recht Mar hinzuftellen. Das iſt ja offenbar,
wenn- der Begriff der Wiedergeburt fo abgefchwächt und
beruntergefegt wird, daß biefelbe mit Erweckung oder auch
der Bekehrnng zufammenfiele, fo muß es fid mit den
Sünden der Wiedergeborenen anders verhalten, als wenn
die Wiedergeburt im Begriffe fo überfchaut würde und
372 Braune
| .
fo überfchwenglich gefaßt, daß fie wäre bie Heiligung in
ihrer möglichfien Bollendung innerhalb dieſes Lebens.
1) Das Wort „Wiebergeburt” gibt und die Schrift
Matth. 19, 28. Tit. 3, 5. Souſt finder fi noch das
Zeitwort zddıv ylvecdaı bei den LXX. Hiob 14, 14: id
harre täglich, dieweil ich fireite, bie daß meine Verän⸗
derung fomme Oman ann), Die Ueberfeßung meint
bie Fortfeßung des Lebens nach dem Tode, obgleidy der
Grundtert davon nichts fagt. Die LXX. haben das Zeit⸗
wort in einem Sinne gebraucht, der ganz und gäbe war.
Hefychius fagt: zaAıyysvsche vd du devrigov dvayavın-
Hnvar N dvaxuvıodıvar. Bon den Pythagoreern ift be
kannt, daß fie das Wort wadıyysvsce ald Bezeichnung
der Seelenwanderung gebrauchten, und die Stoiker nanu⸗
ten die Erneuerung der Erbe im Frühlinge ziyw zegiodı-
av zahıyysveclav vov ölav (Marc. Ant. XI, 1), Gicero,
fo war das Wort geläufig, bezeichnet die Einfegung in
feine Würden nach dem Erile hanc zaAıyysveciav nostram
(ad Att, 6, 6.), ohne hinzuzuſetzen: wt ita dicam. Die
Reuplatoniler wenben das Wort an, wo fie anf bie
Wiederbelebung thierifcher Körper hinweifen (Longin.3, 4:
be Davdrov zalıyyevecde). Joſephus (Ant. Il, 3,9.) redet
von der zalıyyevscle vus waroldos nach dem Erile. Dazu füge
id noch, daß Olympiodor (bei Coufin, journal des savans,
1834, p. 488) fagt: zalıpyevscia sig yvoadsaıs darıy 7
dvduvnas. Das Wort alfo iſt bei den Griechen fo haͤu⸗
fg gebraucht und fo frei angewendet, daß man über feine
Grundbebentung gar nicht zweifelhaft feyn kann. Es
gibt das Wort eine Veränderung zum Befleren an, freis
lich innerhalb der finnlichen Erfcheiuung. Nur beim Aym⸗
piodor iſt ed, freilich in bildlichem Ausdrucke, auf geiſti⸗
ges Leben ausgedehnt. Aber das beſchränkt die Beden⸗
tung des Wortes innerhalb der chriftlichen Sprachweiſe,
bie ja immer von der Denkweiſe und Denkungsart ab»
hängig, ja fogar bedingt ift, durchaus nicht. Es kam
die Sünden ber Wiedergeborenen. 873
ber außerbibliihe Sprachgebrauh nur als Borrathes
kammer angefehen werben, aus welcher der göttliche Geiſt,
der iu der heilenifchen Bildung innerhalb bed römifchen
Reiches durchbrach, die Gefäße entichnte, in welchen er
feine Anfchauungen darreichte. Maaßſtab für den In⸗
halt, die Bedentung irgend eined Wortes innerhalb ber
heiligen Schrift ift nur der biblifche, näher der neuteſta⸗
mentlihe Sprachgebrauch, der nur in äußerer, nicht in
der inneren Anknüpfung an den außerbiblifchen gu begreis
fen if. Das fpringet in die Augen, wenn man Woͤrter,
wie oapk, zveöüne, Gen, Ddvaros und dergl. ihrem bibli«
(hen Gehalte nach vergleicht mit dem Inhalte, den fle
außer der biblifchen uud von diefer unabhängigen Denk⸗
und Sprechweife haben. Die Macht des Geiſtes Chrifti
erweiſt fich auch hierin, daß er in die Wörter ber vor,
Iommenden und ſchon vernommenen griechifchen Sprache |
feine, die Welt verändernden Bedanten ergießen konnte; es
it das bie Herrlichkeit feines Geiſtes, die auch hier, wie
fie in Kana Waller in Wein, ein Altes, Natinliches in
ein Reed, Geiſtliches verwandelte. Die neuteflamentliche
Sprache ift eine wahre Palingenefle der heflenifchen.
Darum hat man fich zur Begriffebeltimmung ber
Biedergeburt auf das RN, T. zu befchränten. Bei Mats
thaͤns ift ed Palingenefle des Mafrofoemusd, beim Paur
Ind des Mikrokosmas. Es reden ja das N. T. wie von
einem neuen Himmel und nener Erde, fo au
von einem neuen Menfhen Warnm aber ift. nicht
vielmehr dvaysvınaıs flatt zarıyysvecie genommen wor⸗
den? Jenes Wort deutet auf die Zengung, biefes auf
die Geburt; jenes Wort hebt alfo die Vorbereitung und
Vorausſetzung ber Beränderung, die dieſes bezeichnet,
hervor, and hat noch gar keine Beziehung auf das Ein-
greifen der Veränderung in dad Gange der Perfönlich-
keit und die Geftaltung ihrer Berhältniffe, wie ed in dem
Vorte zurıpysvsche gefchieht. Wie aber mag denn ein
37% Braune
und daffelbe Wort einmal auf bad Univerfum, das anbere
Mal auf das Individuum bezogen werben können, unb
noch dazu in Demfelben Sinne? Die Stelle Röm. 8. wo
von der feufzenden Creatur gehandelt ift, gibt einen Auf⸗
ſchluß, und dann liegt es in der Tendenz des Chriſten⸗
thums, den Einzelnen nur im Ganzen ans uud aufzufaflen. —
Bom Grlöfer felbft iR Joh. 3. die Wiedergeburt dem
Sinne nad genau geung beſtimmt, fo genan, daß man
das Wort nicht ald eine nur bildliche Bezeichnung, die
durch einen eigentlichen Ausdrud vertreten werben müßte,
anzufeben hat. Wenn daher Panlus in ber zweiten Stelle
Wiedergeburt und. Erneuerung verbindet, fo fol das
zweite gewiß nicht nur ber eigentliche Ausdruck des erfte-
ren als des bildlichen feyn; ud ift alfo nicht erplicatio zu
faffen. In diefer Berbindung iſt gerade ein Fortfchritt
von bem einen zu dem anderen Momente bed Begriffe,
alfo gerade ein Linterfchied zwifchen beiden Ausdrücken
gegeben. Aber welcher? Wiedergeburt ift wie jebe Ge
burt ein Uebergang und zwar aus einem unfelbändigen,
niederen, befchränuften Lebenskreiſe in einem freieren, höhe⸗
ren, weiteren; ein Uebergang, den man mehr erfährt,
als ausführt. Die Wiedergeburt führt alfo in einen neuen
Lebenstreid, der feine angemeſſene Lebensweife hat. Diefe
ift aber nun nicht etwa nur äußerlich und graduell, ſondern
innerlich und [pecififch eine andere geworden, fie tft nichteine
Reparatur, Beine Verkleidung, auch nicht bloß eine Verbeſſe⸗
rung, fondern eine völlige Erneuerung, da bed Geiſtes
Richtung und Haltung, feine Nahrung und feine Gründe
von allen den im vorigen Leben nach väterlicher Weile
ganz anders geworden find. Das Lebeneprincip ift nicht
mehr bie Welt, fondern Bott ift es geworben. Nicht
Berbeflerung, fondern Beränderung ift die Erneuerung
ber Wiedergeburt. Palingenefie weiſt alfo auf die Form
der Erneuerung, Erneuerung aber auf die Aufgabe
ober Tendenz der Wiedergeburt, Ganz natürlich führt
über die Sünden ber Wiebergeborenen. 375 -
aber das Hauptwort auf das Zeitwort, die Stelle bei
Paulns auf des Erlöferd Wort Joh. 3, 3. 5. zurüd.
dvoadem if durchaus von oben her zu faflen; das
verlangt der Ausdruck in dem anderen Berfes dx zveuuaros,
der ald Erflärung fich gibt, der gemäß Johannes in ſei⸗
nem erften Briefe (3, 9.) des Meifterd Wort durch dx
deoũ beftimmt. Daran ergibt fich als drittes Moment dee
Begriffes der Wiedergeburt die Kraft, durch welche fie
vollzogen wird. Daranf weil aud, went man der Er⸗
neuerung nachgeht und auf des Paulus Wort trifft: iſt
Jemand in Chriſto, fo iſt er eine neue Creatur. Abs
gefehen von dem dv Xoıara sivas, iſt ja einexamn xrlsıg
aur möglich durch Botte Kraft. Natürlich, der Menſch
erzengt und gebiert fi nicht ſelbſt, eben fo wenig als
er ſich felber Schaffen fann. Das drängt aber auf ein
Bierted, Denn obwohl der Menfch ohne feinen Willen
bat von Bott gefchaffen oder geboren werden können, fo
kann doch Gott ihn ohne oder gar wider feinen Willen
niht eriöfen. Es muß alfo eine Bermittelung ber
Wiedergeburt gedacht werden, welche eben fo geſchickt ift,
die Kraft Gottes anf den zu ernenernden Menfchen wirs
fen zu laffen, als fie abgewiefen werben fanı. Am nas
türlichten wäre es innerhalb der Schrift und für unfere
Anseinanderfeßung am bequemften, wenn gleich der Glanbe
ausdrücklich ald diefe Bermittelung bezeichnet wäre. Daß.
thut aber nun fo offenbar feine Stelle. Doch weilt der Er⸗
löfer ſelbſt (Joh. 3.) auf eine Vermittelung der durch Bots
tes Kraft zu vollziehenden Wiedergeburt, indem er 2E Ddarog
mit dæ zvsdnerog verbindet. Man kann um fo weniger
abgehalten werden, an die Taufe zu denken, je Marer
Pauline mit feinem Aouroou zalıyyevscias zal dvannıvaseng
darauf fich bezieht. Eben fo ſtark dringt 1 Petr. 1, 23.
darauf, da die Chriſten wiedergeboren genannt werden,
siht aus vergänglichem, fondern aus unvergänglichem
Samen, nämlich dus dem lebendigen Worte Gottes, das
376 Braune
da ewiglich bleibet. In der Tanfe tritt ja das Wort zum
Waſſer, ſchwebt gleichſam über demfelben, es zu heiligen.
Das Wafler deutet darauf, der Menſch folle sacer, das
Mort darauf, er folle sanctne werden. Das im Mens
fchen lebendig gewordene Wort ift der lebendige Glaube,
weicher nur innerhalb der Kirche ficher und kräftig ge
beiht, mit dem Worte und Sacramente zugleich. Diefes,
bad Sacrament, verbindet mittel des Worted mit dem
Erlöfer, bildes eine Lebendgemeinfchaft mit ihm und Diefe
ift der Ausdruck des Glaubens, deffen Weſen Aneignung
it. Der Glaube aljo muß gelten ald die Bermistelung
der Geburt des natürlichen Menſchen aus Gott.
Die Wiedergeburt ift nun der Wendepunkt im Leben
des Chriſten — denn bie Geburt febt die Zeugung voraus
— in welchem er der Ainnlichen Befchränftheit, der ohn⸗
mächtigen Vergänglichkeit, der fündlichen Weltlichkeit, wo:
rin er als natürlicher Menfch gefangen war, woran er
aber fchon Unluſt zu fühlen begann, ale werbender Ehrif,
entichieden abfagt and eben fo entfchieden der Freiheit
des Geiſtes, der Macht der Ewigkeit und der Heiligkeit
Gottes ſich zuwendet; fie ift alfo ein Ereigniß, das zu
Stande kommt, in dem Gott, das Urbild, in Chrifto,
feinem Cbenbilde, den Menfchengeift, das Abbild, ans
leuchtet und biefer in dieſem Lichte fich erhebt zu einem
neuen Leben vor Gott und in Gott, Die Wiedergeburt
umfaßt alfo Alles, was den Act vollendet, der in ber
Belehrung vorbereitet, in der Heiligung aufgenommen
wird, Der Wiedergeborene iſt nun nicht der in der Wie⸗
bergebart fich befindenbe; ift Doch der geborene Menſch
auch nicht der in der Geburt fich Befindende, ſondern ber
in dem Leben ſich befindet. Der Wiedergeborene ift alfo
der in der Heiligung ſich Befindende. Daher hat Schleier,
macher in feiner Blaubendicehre mit vollen Mechte von
den Sünden der Wiedergeborenen unter dem Lehrftüde
der Heiligung gehandelt, Rur das bleibt bei dem Wie
die Sünden der Wiedergeborenen. 877
dergeborenen al& unbeftimmt feſtzuhalten, wie weit er im
Gebiete der Heiligung vorgebrungen if,
2) Um aber das Gebiet des Begriffes Wiedergeburt
gehörig überfchauen umd nach Der gegebenen Defcription
ein einfache Definition geben zu können, muß man auf
feine Berwanbdten und lintergebenen innerhalb des N. T.
das Augenmerf richten. Go wird fi dann auch am
dentlichften nachweifen laffen, was innerhalb des Gebietes
der Wiedergeburt und im Selbſtbewußtſeyn bes Wieder,
geborenen vorkommt und vorkommen kann. Hierher ges
hören Die folgenden Begriffe des N. 7. und cheiftlichen
Lebens: Imssurgopf, pezdvorn, üysadpös, Lori, Örmelmeıg,
zuerclkeyf;, vloßresla, xowmvia toü Agıosod und x. od
zysögerog, auch sAijaıs, pwrıduös, zegızoun Tüg wugpölag,
Diefe Begriffe ſind nun in Beziehung mit dem Bes
sriffe der Wiedergeburt zu ſetzen and haben danach ihre
Stelle einzunehmen.
Mas vom hebräifchen Staudpunkte aus Insorgogpı,
eourersio, dad heißt vom heilenifchen and usrdvoıa,
resipiecentia, sspientia post fectum. Die ueravore. jüdifch
befchrieben, iſt Diezugzoun vg xapdlag. Jene, Euıargopt,
begeichnet Die Veränderung dee. bisherigen Lebens in Folge
eines erfannten und anerfannten Outes, das als Ziel,
dem wir nachfireben, vorgehalten wird. Das Leben iſt
derWanbel; da ift das Leben in feiner Aeußerlichkeit gefaßt.
Die perdvora bezeichnet Diefe Veränderung innerhalb des
Selbſtbewußtſeyns in Folge reinerer Erkenntniß; da If
das Leben die Geſinnung, alfo in feiner Innerlichleit ges
faßt. Weide Begriffe ordnen ſich mit innerer Nothwen⸗
digfeis unter, finden in ihr erf ihre völlige Reinheit und
Kräftigkeit, find alſo ald Boransfegungen derfelben ans
zuſehen. Galvin fagt daher Cinst. III, 3, 9.): uno verbo
poenitentiam interpretor regenerationem, nicht recht; es tft
das eine Bermifchung, die in ber kurz zuvor gegebenen
Definition der poenitentia (serdvose) recht Har hervor⸗
378 Braune
teitt: est vera ad Deum vitae nostrae conversio, a sincero
serioque timore profeeta, quae carnis nostrae veterisque
hominie mortificatioue et epiritus vivißicatione constet; da
meint man doch vielmehr die Erklärung ber Wiedergeburt
su haben, welche nach der Vergangenheit hin mortificatie,
nach Gegenwart und Zukunft vivificatio il, Die aolida
declaratio (III, 16 ff.) wehrt mit Grünblichfeit der Ber
wifchung diefer verwandten Begriffe und gibt an, wie
regeneratio nicht bloß pro sanctificatione et removatione
genommen, fondern auch mit conversio verwechfelt werde.
Hatte ja doc ſchon die Apologie (V, 44. 46.) conversio
und poenitentia, conversio und renovatio mit sea verbun:
den. Hier gilt gewiß eben fo fehr, was Calvin in Ber
zug auf epes und fides fagt: quanquam perpetuo inter se
vinculo cohaerent, magis tamen coniungi volunt, quam
comfundi (isst. III, 3, 5.). |
Diefer Ausſpruch Calvin's ift feflzuhalten, wenn wir
nun andie dıxaladss, instificatio, herantreten. Denn in
der Apologie (II, 72) heißt es: instificari siguificat ex iniu-
stis iustos effici seu regenerari. Die Rechtfertigung bes
zeichnet doch nur ein Berhältniß des Gläubigen zu Bott,
und zwar innerhalb des Urtheils in Bott. Das iſt das
Gepräge des Bildes, aber dad Gepräge der Währung
iſt die zaradiayr, die eben anch das Berhälmiß bes
Bläubigen zu Gott bezeichnet, aber innerhalb des Selbſt⸗
bewußtfeyns in den Berföhnten. Die Wiedergeburt weift
auf die neue Lebensform, die in unmittelbarer Folge je⸗
ned Verhältniſſes eingetreten if. Darum muß man
Schleiermacher beiftimmen, ber ald die zwei Hauptſtücke
der Aneignung des Helles in Chriſto die Wiedergeburt
und Heiligung ſetzt. Jene benennt den Wendepunft, in
welchem die Stetigkeit ded Alten aufhört und Die des
Renen zu werben beginnt, diefe aber das Wadsthum der
Stetigkeit des Neuen. Da ordnen fich ale wirkliche und
natürliche Stufen des chriftlichen Lebens bie Buße, mit
\
die Sünben dee Wiedergeborenen. 379
der Reue und. Sinnedänderung, und der Slanbe der Ber
fehrung unter, und biefe mit ber gleichzeitigen Nechtfers
tigung bildet dad Geſammtgebiet der Wiedergeburt. Der
Wiedergeborene hat feinen Sinn geändert, ift befehrt,
gerechtfertigt und verföhnt; dad, muß man fagen, find
die Vorſtufen oder Vorbereitungen der fih vollziehenden
Wiedergeburt.
Die viodscla ift ein Zuſtand, in den bad Ber
hältniß des Gerechtfertigten zu Gott, wie ed bie Wieder,
geburt, die Geburt aus Bott, geftaltet hat, verfegt;
der aud Gott Geborene iſt Gottes Kind. Zunächft freilich
beißen wir nur Gotte Kinder. Aber die Realität
diefed Zuftandes drückt die zoıvmvla Tod Xgscroö und
roũ zvsdparos and. Der Geiſt macht, daß wir rufen:
lieber Vater! denn der Sohn Gottes lebt in uns. Diefe
tebendgemeinfchaft, die innere Seite jenes Kindesvers
hältniſſes als eines Standes, ift die Erfüllung der Kind⸗
(haft, und darım Fundament, Gpige oder Kern des
Blaubens zu nennen. Denn führt der Glaube in die
Gemeiufchaft mit dem Erlöfer, fo führt er in die Ge
meinfchaft mit feiner Vollkommenheit und mit feiner Ses
ligleit, Davon muß der Wiebergeborene doch einzelne
Erfahrungen haben; zu einem ununterbrochenen Zufams
menhange ift ed noch nicht gekommen, aber er findet fich
doch mehr oder weniger dem fi annähernd.
Run iſt ed der aysadudg, der den Kortfchritt vom
Üebergange an bezeichnet. Die Heiligung betrifft Gemüth
mit dem Willen und deſſen Aeußerung in dem Leben.
In Bezug auf die Erfenntnig if ed yoarıouds. Wie
ih vor der Wiedergeburt Zmıorgopt und usrdvom zu
einander verhalten, fo nach berfelben dyıaouds und
Yarıopds, fo daß die Emsarpopn durch die Wiedergeburt
zum dpaspös und peravom ebenfo zum poriopög ſich
vollendet, Die fer it das in der Wiedergeburt und
Heiligung zu gewinmende Beben; ed iſt Ziel und Weg in
Theol, Stud, Jahrg. 1847. 26
380 , Braune
Einem; anf ber gewonnenen, erlangten Eon, mit ihr
fchreitet der Chriſt weiter zu ihr, in fi. Darum bat
Chriſtus, der die Goy ift, auch won fich fagen koͤnnen, daß
er fey Weg, Wahrheit und Leben, Das if aber intereſ⸗
font, daß das bei Johannes und Paulns fo häufige £5v
in ber prägnanten Bedeutung meiſt mit ben Begriffen:
wiedergeboren und geheiligt werden, fich\zufammenlegen
läßt, und zwar fo, daß im Liv huf bie dritte Geburt
im Tode bingewiefen wird, als auf dad Ereigniß, bas
erſt in das völlig freie göttliche Leben einführt.
Der exfte Anfang if die sAndıs, vocatio. Tu ihe liegt
ein Zwiefached : die Thätigfeit Gottes und die Empfäng⸗
lichkeit des Menſchen. Wie dieſes Doppelte im Anfange
liegt, fo iſt es auch dad, was im Forigange auch immer
wieder kommt, bis zu dem felgen Ende, wo der em
pfängliche Geiſt des Menſchen als nicht zu fcheiden vom
erlöfenden Geiſte Chriſti gedacht werden muß.
3) Noch einmal wollen wir Die beftimmmte Abgrenzung
des Begriffes Wiedergeburt ausfenen. Denn es kaun ihr
nur Vorſchub leiten, wenn wir nach dem biblifchen erft
noch den kirchlichen Standpunkt einnehmen und von ba
and bie ardo oder oecomomia salutis überſchauen. Die
Grundzüge dazu gaben die Reformatoren ſelbſt und bie
Symbole, Freilich waren neben der vocatio ihre Earbis
nalbegriffe fides und iustificatio. Diefe wurden “or Allem
jgergliebert neben dem ber camvrersio, Hierin nun Liegen
die Stamina der erft fpäter auf Veraulaſſung der Pieti⸗
fen audgebildeten Heildordnung. Deren Bildner muß man
proteftantifche GScholaftifer nennen. Dad verräth ihr
Berl Quenſtedt, der am vollendeiften bie proteſtantiſche
Dogmatik in ihrem fcholakifchen Schematiemus gibt,
ordnet fo: vocalie, regeneratie, conversio, iustißestie,
poenitentia, unio mystica, aanchicatie. Dawirb ikkuminstio,
&e bei Luther (cat. min. II, 6.) durch ben Zufat suis de-
nis und die Stellung zwiſchen voestio and sanckificatio
bie Sünben ber Wiebergeborenen. 381
viel reicher und tiefer gefaßt war, vor conversio gefeht,
ohne der iustifientio zu gedenken; fie iſt dadurch um ihre
fittliche Macht gebracht und in einfeitiger Beſchraͤnkung
anf ben Verſtand gefaßt. Regeneratio und conversio, bie
durch jene als ihre Spite vollendet wird und In die saneti-
fiestio übergeht, Pommt da vor Austificatio zu fliehen, fo
dag auch nicht einmal ber pelagianifhe Anftrich fehlt.
Poenitentia ift nach ber Austificatio geftellt, was ohne
Birfennung ber Momente de6 Begriffes Wiedergeburt
gar nicht gefchehen feyn Tann. Ammon hat auf bie Ein»
fachheit der Reformatoren zurüdgeführt; er fegt ale
Helldordunng (summ.ed.IV.p.265.): ut vocati credemns,
credentes coram deo insontes et iustl habeamur, iusti autem
deelarati ad meiorem in dies vitae sanctitatem progrediamer.
Die Berufung fommt an den, der außerhalb des Reiches
Gottes che; im Glauben folgt er dem Rufe, tritt wit
der Rechtfertigung Aber die Srenze und bie Heiligung if
fein Wandern innerhalb bed göttlichen Reichsgebietes.
Rur das iſt auffällig, daß bei der erften Station, wie
fie bezeichnet tft, zunächſt die göttlihe Thätigkeit, bei
der zweiten mit Ades Die menſchliche, dann wieder mit
instiientio Gottes Urtheil und endlih wit der sanctifl-
atio die durch Hulfe des göttlichen Geiſtes mögliche
Thätigfeit des Menfchen in dem bezeichnenden Ausdrucke
hervorgehoben iſt, alfo ein Wechfel herrfcht, und ein
Ueberfpringen von Gott auf Menfch und von ihm wie,
der anf Bott. Soll die Heildordnung beftimmt werden,
jo it «6 nothwendig, fle entweder von der Thätigfeit
Gottes oder von den Erfahrungen des Menfchen ans zu
dezeichnen. Darum Tann man ficher mit Schleiermacher
bei den zwei Stufen, der Wiedergeburt und Heiligung,
wohl ſtehen bleiben, zumal die erfte gegliedert ift in Bes
fehrung und Rechtfertigung, jene wieder in Buße und
| Glauben, und die Buße in Neue und Ginnesänderung.
Ganz gut bilder die Nechtfertigung den Uebergang zur
B *
382 Braune
Vollendung oder zum völligen Eintritteber Wiebergebnrt.
Dabei aber, baß der Glaube einen Fortfchritt in der Ent⸗
widelung der Wiedergeburt, einen Entwidelungstnoten in
den Wachsthume des Gläubigen bilden fol, faun id,
mich nicht zufrieden geben. Soll der Glaube der ans
dere Theil der Bekehrung feyn nach und neben der Buße,
fo ift nicht6 dagegen zu fagen, fobald man mit Calvin (inst.
IN, 3, 5.) den Glauben fo faßt, als fey feine summe, ut
a nobis demigrantes ad deum convertamur. Jedoch gehört
Diefe Befchreibung der erbaulihen Nede an, und: man
bat ihn vielmehr mit der Apologie, in Uebereinftimmung
mit Saloin (ebend. 2,8.), al$notitia, assensus, fiducia zu fafr
fen. Dann aber erkennt man ihn nicht fowohl als ein
Moment einer Station in der Heildorbnung, als viel
mehr als die Baſis an, breit genug, bas ganze Ge:
bäude des Heils zu umfaffen, aber auch tief genug, es
zu tragen, bid ed in. der unio mystica und glorificatio ſich
vollendet. Der Ausdruck Bafis, Fundament rechtfertigt
fi durch Die biblifche Bezeichnung unferer Erlöfung ale
einer Erbauung. Im Sinne fagt jener Ausdruck daffelbe,
was die Concordienformel (S. 584.) in dem Gage aus⸗
fpridht: confitemur solam fidem esse illed medium et
instrumentum, quo Christum salvatorem et ita in Christo
iustitjam, quae coram iudicio dei consistere potest, appre-
hendimus. Der Glaube ift die Bermittelung des Geis
fted Chrifti und feines Heiles mit dem hülfsbebärftigen
und des göttlichen Geiftes einpfänglichen Menſchengeiſte.
Darin liegt nothwendig zweierlei, einmal, baß er eben
Sache ift des ganzen Menfchen nach feinem intellectuellen
wie nach feinem fittlichen Vermögen, und fodann, fo
fehr er auch Sache des Menfchengeiftes iſt, doch in ſich
haben muß als das Wefentliche die Beziehung auf dad
Göttliche. Ohne jened aber entbehrte er der aneignenden
Kraft in Bezug auf die Erlöfung, die weber bloß eine
intellectuelle, noch eine bloß fittliche iR; wäre aber das
die Sünden ber Wicdergeborenen. 383
Andere nicht, fo fehlte der jeher Verbindung zum Grunde
Hegeude innere Zug. Iſt aber der Glaube wefentlich eine
Beziehung auf das Böttlidhe, das doch das recht eigent-
lich Lebendige ift, fo muß man andy fagen, daß der Glaube
eben fo fehr Botted, als des Menfchen Werk it, da
Bett nicht ergriffen, ihm nicht gemaht werden kann,
wenn. er nicht ergreift und fi naht. Das ftellt den
Glauben ald die Bermittelung zwifchen Gott und Mens
hen fell. Das if die Form feines Weſens. Das Mer
fen des Glaubens aber ift Zuverfiht (Hebr. 11, 1.), nicht
Uebergeugung, die nur innerhalb der Erfenntniß liegt,
fondern eine gewifle Zuverficht, eine zweifellofe, verwe⸗
gene Gewißheit innerhalb des Selbſtbewußtſeyns, das
von feiner Richtigkeit und Beichränttheit weiß, auf Grund
der Ewigkeit und Unendlichkeit Gottes, zu deffen Bilde‘
ded Menfchen Geiſt gefchaffen iſt. Der Glaube ift alfo
völige Gewißheit des perſonlichen Beiftes im Menfchen
von dem Unendlichen, von Gott; ber Gläubige ift der
in Gott erhobene und mit Gott erfüllte Menſch. Voll⸗
lommen ift Gott, aber nicht die Erkenntniß und Erfaſ⸗
fung Gottes im Menfchen. Darin liegt die Möglichkeit
uud Nothwendigkeit der Vervolllommnung des Glaubens.
Und dieſe Vervollkommnung liegt nicht ſowohl in der Ver⸗
Rärkung der Gewißheit bed Glaubens, der ja völlige
Gewißheit ift, als vielmehr einmal in der Sicherung der
ununterbrochenen Stetigleit innerhalb des den Störungen
und Strömungen ded Lebens unterworfenen Selbfibes
wußtſeyns, und zweitens in der Bewirtung. immer grös
ßerer Neinheit und Wirkſamkeit des Gottesbewußtſeyns.
Darin befiebt dad Wachsthum ded Glaubens, der, ob»
wohl von Anfang an Glaube an das Göttliche, doch
noch nicht Glaube an Bott in Chriſto if. So iſt der
Glaube bleibende Baſis für Aneiguung des Held und
wird eö immer mehr.
Der Blid in den Bang ber Heildorbuung weiſt uns
Die Wirklichkeit dieſer Wahrheit. Der Meunſch if zuerſt
der Berufene, mag der Ruf fo ober anders an ihn
fommen. Der Ruf kommt von Bott, befien Worte eben
fo fehr Thaten find, als feine Thaten Worte werben —
für den. Bläubigen, ber in feinem Glauben bie ſich Bett
öffuende Empfänglichkeit hat. Dieſer Glaube If bei aller
Gewißheit noch unbeftimmt in feinem Gehalte. Bon bie
fee Uubeftimmtheit löſt ihn Die Annahme des Rufes. Im
diefer Annahme nimmt er etwas Beſtimmtes an, das er
auf fi wirken läßt. Die Werke der Schöpfung küunm
ibm ein Ruf werben, und das Göttliche gilt ihn
nun ale Schöpfer; ober bad Bewiflen vernimmt den
Nuf, und das Göttliche wird nun als Befeggeber
gefühlt; oder aus der Gefchichte ertönt der Ruf und das
Gsttliche wird erfaßt ald der Herr; oder aus ber hei
Ugen Schrift redet Bott zu dem Menfchen, und dad
@öttlihe teitt als heiliger, erziehender Bater
zu ihm. Leberwiegt hier im Glauben zunädhlt das Mer
ment, das in der Kirchenlehre notitia bezeichnet iſt, fo iR
doch eben, weil diefe motitie uur ein Moment des gewiß
fen Glaubens if, eine fittlidde Bewegung Dabei, wie fie
ein assensus und durch ihn als llchergang auch Aidaca
if, Uad das um fo mehr, ba ber ganze Menſch, der
denken wollende und bad Wollen denfende Gel, ber
Geiſt des dad Denken und Wollen verbindenden Gemü⸗
thes, im Glauben angeregt if. Es kann nun ber Menſch
nicht anders, ald eine Bergleichung feines Wandels mit
dem Walten Gottes in der Natur und in der Gefchichte,
nach dem Gewiſſen, der Stimme, und nach der Schrift,
dem Worte Gottes, anzuftelen, Die Genauigkeit diefes
Bergleiches if abhängig won dem burch bie Berufung
mehr oder weniger beftimmten Olauben, von dem größe:
ren oder geringeren Gewinn an Beflimmtheit in Folge
des Rufes. Diefer Vergleich reflectirt auf das vergan
bie Sünden bes MWBirbergeborenen. 383
gene Beben, auf das Ziel, das bisher verfolgt, auf die
Thaten, die bisher vollbracht, auf die Motive, die bis⸗
ber geleitet, auf den Zuſtand des Gemüthes, der id
biöher gebildes, auf deu Charakter, der ſich biöher ents
widelt. Und je mehr Dad am deutlichſten redende Bots
tedwort in ber Schrift, in dem lebendigen Worte, in
Chriſtus, Map und Licht Darreicht, befto Deutlicher und
befimmier wird Das Ergebniß. Weſentlich wird es darin
beſtehen, daB gu dem Beifalle an dem erfaunten Gott
Misfallen an dem eigenen Wefen, wie ed ift, tritt. Bei⸗
des zuſammen if die Reue, und indem fie wahr und
kräftig if, muß fie ein euer feyn, bad die anf einem
guten Grunde anfgefchichteten Stoppeln, Hen und Holz
verzehrt, und in die Sinnesaͤnderung fchlägt nochwendig
die Reue um, indem fie auf bad Bergangene ficht und
and der Gegenwart fick dev berenende Glaube nach dem
Zutünftigen ſtreckt. Beides, Rene und Ginnesänderung,
machen die Buße and. Durch die Buße wird der Glaube
in feiner fistlichen Beziehung eben fo ſehr verſtärkt, ale
er darch Die Berufung in der intellestuellen Beſtimmtheit
gefördert war. So weit if far, daß der Blaube noch
nicht der eigentlich chriſtliche, der Blaube an Ehriftum
iſt. Den fittlichen Proceß auch außerhalb bes Chriſten⸗
thuus vermittelt ach fo der Glanbe. Gben fo Mar if
aber auch, daß der Glaube in feiner Gewißheit von dem
unendlich Börtlichen neben dem Drängen nach größerer
Beſtimmtheit, in Bezug anf ben Gegenſtand, gugleich
das Drängen nach fittlidh geheiligter und intellectwell ers
lenchteter Perfönlichleit hat. Darin liegt ald.ihm inhäs-
rirend Die Beziehung anf folche Perſönlichkeit. Diefe iR
und gegeben in Ehrifto, daher auch außerhalb ber chriſt⸗
lichen Gemeinfchaft fo viel Hinweife auf Ehriftus, ale
Spuren des Glaubens ſich finden. Auf die bezeichnete
Perföntichleit Dräugt num der durch die Berufung und
Buße in feiner Unbeſtimmtheit anfgehobene und zur Ber
386 | Braune
ftimmtheit weiter geführte Glaube, der eben weſentlich
auf Bildung ber wahren Perfönlichkeit ausgeht, der Per,
fönlichkeit, die vor Bott gefällig if, Daher der Aufching
an Ehrifind, das Ebenbild Gottes, den Menfchen, wie
er ſeyn fol, den Urmenfchen, den Gottmenfchen; das
innigfte Anfchmiegen an Chriſtus, ber lebendigſte Um»
gang nnd Verkehr mit ihm. Da wird die Gewißheit bes
Glaubens eine Gewißheit von Gott in Ehriſto, und Daß
Gottes Wahrheit und Gnade in Ehrifto offenbar gewor⸗
den if. So geht der Glanbe mit dem, der ihn hat, in
die Rechtfertigung und Berföhnung, und dur und mit
diefen in die Wiedergeburt ein, mit ber ein neues Leben
beginnt, das ſich in der Heiligung fortfegt und vollendet.
Der Glaube bleibt die Vermittelung; er vermittelt Die
Rechtfertigung und Verföhnung; er vermittelt die Wie⸗
dergeburt, er vermittelt die Heiligung. Cine Aenderung
in feiner Gewißheit erfährt er nicht, aber wie fein Ge
genftand beflimmter und näher -erfaßt wird, fo wird nun
um ber allgegenwärtigen Allmacht der Liebe des heiligen
Gottes in Ehrifto willen die Gewißheit des Glaubens im
Menſchen vor lnterbrechungen bewahrt und der Den
Glauben habende Geift vor Trübungen und Verſtimmun⸗
gen gefhüpt, fo daß gleichmäßig mit dem Objecte das
Subject ded Glaubens völliger erfagewird. Darum kann
man fagen, baß der Glaube felbft völliger wird, und
daß er es nur wird durch die Stufen, auf die er erhebt,
muß man dazu fegen. Darum if ber Slaube die Baſis,
nicht aber eine Stufe des Hell, obgleich fi) nachwei⸗
fen läßt, daß ber durch die Buße gereinigte und bie
Rechtfertigung vermittelnde Glaube ber eigentliche chrifts
liche, der fellgmachende, der Glaube an Ehriftus gewor⸗
den feyn muß.
4) Run läßt ſich der Begriff der Wiedergeburt Mar
und fcharf faffen. Sie ift der Act, den ber Ölande an
den Erlöfer ald unmittelbare Folge der Rechtfertigung
über die Sünden der Wiedergeborenen. 387
und Berföhuung vollzieht, alſo ein Act des recht⸗
fertigenden Gottes und des verföhnten Menſchen, ein
Sc, in welchem Ehriſtus entfchieden Princip bed neuen
Lebens wird, — alfo dad Princip der Sündloſigkeit if
im Wiebergeborenen. Durch die Wiedergeburt geht ee
ja zur Heiligung, fo wie ed aus der Rechtfertigung umd
der Berföhnung in die Wiedergeburt ging. Diefe Stellung
der Wiedergeburt macht die Stellung des Wiedergebore⸗
zen zur Sünde unzweiftihaft und weit darauf bin, daß
ein fündlofes, heiliges ‚Princip in ibm mächtig umb ges
fhäftig geworden ift. Allein die Wiedergeburt iſt feine neue
Schöpfung. Die menfchliche Natur bleibst, bie bisherige .
Geſtaltung des Lebens bleibt; wie die Beftimmtheit als
Menſch, welche gar nicht weggefchafft wird und werden
jol, fo danert auch bie fo und fo gewordene Beſtimmt⸗
heit des einzelnen Menſchen; diefe aber foll innerhalb je,
ner eine andere, eine neue werden. Man kann mit Hin⸗
bit anf die Wiedergeburt die Berufung ald Zengung,
die Belehrung ale die erſten Lebensregungen anufehen, fe
daß Die Wiedergeburt die Vollendung des in Berufung
und Belehrung Borbereiteten if. Darum ift ber Wieders
geborene den alten, Menfchen los geworben, aber nicht
die menfchliche Natut. Der alte Menſch if weſentlich
Bezeichnung des unter der Herrichaft der Sinnlichkeit und
unter der Macht der Bünde Stehenden. Diefe Herr,
haft und Macht it gebrochen, und aus der Knechtſchaft
der Sünde if eine Feindſchaft wider fie geworben durch
die Wiedergeburt. Der Wiebergeborene, vorher Knecht
der Sunde, feit der Berufung aber ein unwilliger Knecht,
iR nun ein Diener der Gerechtigkeit geworden. Es tritt
aber nicht der volkommene Dienk der Gerechtigkeit ein;
diefe Vollkommenheit bewirkt erſt ber Fortſchritt in der
Helligung. Der Dienft der Gerechtigkeit, intenfio noch
nicht vollkommen, Tann bei dem Wiedergeboreuen aber
auch noch nicht extenſiv fletig, im unnnterbrochenen Zus
\
306 Braune
ſammenhauge ſeyn. Was jene Volllommenheit noch zus
rũckhalt uud dieſe Stetigkeit noch unterbricht, iſt daſſelbe, die
Nachwirkung jener gebrochenen, unterbrochenen Kuechtſchaft
der Saͤude. Der Wiedergeborene fündigt alſo noch, aber im
Dienfte der Gerechtigkeit. Das gibt ein Zwicfaches, das
feRgehalten werben muß. Das Nochfündigen ſpricht
aus, DaB die früheren Sünden fih wiederholen, alfe
neue Reihen von Sünden nicht entichen, wiewobl bie
alte Sünde den Anfang in neuen Richtungen verfuct,
bei dem Heftigen im Zorne wider fehlende Brüder, beim
Ehrgeigigen in geiſtlichem Hochmuthe, beim Zrägen in
Sicherheit; und daß 06 im Diese der Gerechtigkeit ger
ſchieht, macht Mar, daß der Wiedergeborene nicht als
ſolcher, alſo nicht ald Diener der Sünde bie Sünbe
thut, fie alfo eigentlich nicht thun wii, ſobald er fie
alfo gethau, ſich ſchmerzlich berührt und ersegt fühlen
wird.
Daher ſagt Sohannes (1. Br. 3,9.) mit Recht: za
6 yaysvunplnog ix od BEod apagrlav ol zasi, — wei od
Odvaseı dungrevsw, Ors da vo Bsod yeyivugsas. Damit
zu vergleichen it, was Bere 6. gejagt if: zäs 6 dump-
schvev oby Eagumev adrov, abös Eyymmıy absov. Aber
Johannes gibt in beiden Berfen die tiefere Einheit für
feine Behauptungen, indem er bad aivam ivadıa ald Ber
dingung ſetzt. Se hat fchon Chriſtus gefagt (Ioh.15, 6):
äkv mei vis uelon dv ipol, Eßirin Ein, og vo Ama, sei
iinedväy nal auvdyovay avek wc eig zug Bdllove: zei
zelsraı. Johannes, ber Apoſtel der Liebe, welche bleibt,
wenn der Glanbe im Schauen aufgeht. und die Hoffnung
zur Erfüllung wird, Rebt auf einem fo hohen idealen
Standpuntte für feine religiöfe wie fittliche IBeltanfchau-
ung, wie fein anderer Apoftel, Lind wie. hier Ansfprüche
vorliegen, welche die Höhe feines idealen religiöfen Stand⸗
puuftes angeben, fo haben wir ein Maß für die. Höhe
in Bezug anf feinen fittlichen Standpunkt in dem, daß
n
über die Sünden ber Wiebergeborenn. 380
er fagt: Wer feinen Bender haft, der if ein Todtſchla⸗
ger. Und boch zicht er das „Bleiben in Ehriſto“ ald Ber
dingung herein, fo daß man bie Wahrheit Dex Idee,
welche er gibt, durchaus nicht ald ig Widerfpruche mit
der Wirklichkeit des Lebend fehen kann.
‚Can; anders tritt die Meinung ber Wiedertäuferis
fhen auf, weiche auch behaupten, daß die Wiedergebors⸗
nen nicht zum Tode fündigen. Luther macht damit bes
faunt (Art. Sehm. HL, 42,); er führt ihre Meinung au:
Alle, die einmal den heiligen Geiſt ober Vergebung der
Gäuden empfangen hätten und gläubig geworben wären,
blieben doch, auch wenn fie fündigten, im Glauben uud
ihnen ſchade die Sünde nicht. Daher ihr Gefchrei: thu,
was du will; glaube nur; ed fchabet nichts; Der Blaube
hebt alle Sünde auf, Goldye nennt er sootarıi uud insani
komines, die er. zur Zeit des Banernkriegs kennen gelerut
habe. Die Concordienformel nennt ſolche Behauptungen
(sol. deei. IV, 81.) false et Episures opinio, ja pestilen-
tiecias persunsie. Hiermit ift ein Extrem gegeben, in dem
Grundanſicht it, der Blänbige, der Wiedergeborene era
halte mit und im feinen Sunden doch das Heil und bie
Geligkeit. Diefe ertreme Behauptung iR wie jedes Er⸗
trem, ift wie bei der Pendelſchwingung ein Außerfted, von
m abs und zurüdgegangen werden muß. Das geichieht
ganz einfady durch Die Formel, daB man fagt, der Wie⸗
dergebosene verkiere Glauben, Rechtfertigung und Gnade
nicht trotz bee Sunde, zu Der er ja immer die Berges
bung durch. Bußfertigkeit bringe,
Johannes faßt im Zuftaude des Wiedergeborenen bie
Macht ded göttlichen Principe ind Auge, ohue das Ber»
derbliche der Sünde zu überſehen; die Wiedertäufer aber
überfehen es, da fie wonnetrunken fich im Aufchauen ber
Herrlichkeit der Wiedergeburt verlieren. Der Apofel
feht Die Sünde der Wiedergeborenen ale im Abnehmen,
im Verſchwinden, nud faßt feine Behauptung vom Stande
⸗
890 Ä Braune
penslte bed Glaubens und des gewiffen Sieges aus. Das
su bat er fein guted Recht. Man faßt barum das Res
fultat bis hieher ficher und um fo lieber mit Auguſtin
und Calvin, ale diefe eben auf Botted Wort fich, ihr
Leben und ihre Lehre gründeten; ber leßtere fagt Cinst.
BL, 3, 11.): Praestat hoc quidem deus, sues regenerando,
at pecsati regnum in ipsis abolestur ; sed regnare tantum,
non etiam habitare desinit.
So ift die Wiedergeburt, in Rüdficht auf dad Ber
hältwiß des Wiedergeborenen zur Sünde, der Uebergang
von ber Herrſchaft der Sinnlichkeit und der Macht der
Sünde in den Dienft der Gerechtigkeit mit völliger Euts
fchiedenheit des Geiſtes, eben. fo Har in der Erkenntniß
als fer in. der Willensrichtung.
5) Wir mögen nun anknüpfen, wo wir wollen —
an dem chriftlichen Idealiomus des Johannes, oder an
dem unſittlichen Fanatismus der Wiedertänfer, au ben
Audfprüchen der größten Theologen bed Abendlandbes
oder an. der Ansdeinanderfegung des Begriffes der Wie⸗
dergeburt, darüber ift fein Zweifel, bag Wiebergeborene
noch fündigen. Das aber wird in Frage geftellt, ob fie
durch ihre Sünde wieder aus der Gnade und Wahrheit
der: Wiedergeburt fallen können.
Worauf weift die Schrift? Genau genommen, gibt
ed. mehr als eine Stelle, die entfcheibeube Antwort gibt.
Sm Briefe an die Hebräer ift einmal (10, 26.) die Rede
von Solchen, weldye Sxovalmg auagrdvous:, nadıdem
fie die Erkenntniß der Wahrheit empfangen hatten (pex&
sd Aaßsiv chv iulyvacıw vg dA.). Sind die unter 1. und 2.
gegebenen Stellungen uud Nuseinanderfegungen richtig,
fo iR bier von Wiedergeborenen die Rede. Auch auf das
Gleichniß von dem Menfchen, von dem ber böfe Geiſt
ausgegangen ift, fo daß er ein olxog dssapmudvos und
xexogunutvog und sgoAdtaw)(das ifl: bereit, den heiligen
Geiſt aufzunehmen, nicht aber, wie Luther überſetzt: müs
die Sänden ber. Wiedergeborenen. 391
Big) genannt werben kann, kann man ſich beziehen. Frei⸗
lich in bed Erlsſers Beſtimmungen liegt nicht die Begeich-
nung der Wiedergeburt ale vollzogen, nur alö der vor»
bereiteten. Aber Petrus beftinnmt feines Meiſters Rebe
dahin (2. Br, 2, 20.), da er auf Grund dieſes Gleich»
niffed, wie Bibel erflärend, von Solchen redet, die wohl
daopvyöwrss ck meddpera od xösuov find und zwar
By inıyvaassı Tod xuglov jur zul aeijgog’ Indoü Xgıorod,
und doch wieder äumiandwrss todroıg werden, fo daß fie
befier av 6809 zig dinaoadvung gar wicht kennen gelernt
hätten. Hier nun abgefehen von der Zxwlyvadız, beren
Object freilich vom Petrus noch beflimmter augegeben
if, als im Hebräerbriefe, fo daß man fieht, er meine bafs
ſelbe, was wir oben mit dem Principe bed neuen Les
bens von ber Wiedergeburt an bezeichnet hatten, — fo
it hier der Begriff dıxasosdvn wichtig, welche nur wirt
lich it im Gerechtfertigten und Berföhnten, und von deren
6dös unr die Rebe feyu kann beim: Wiedergeborenen,
Bor Allem wichtig und entfcheidend iſt Hebr. 6, 46.
Da find genannt Yarıadivrss, yavddısvor zus dmgsäs
rüg dmiovgavlov, uiroyoı yerndivres avsduarog dylov,
zaldv ysuodpsvor Dsod bnua Öuvadnsız cs ulAAovrog alöwog.
Wenn hier nicht Wiedergeborene bezeichnet find, fo find
ſie's nirgends. Und trog aller Präbdicate, die auf eine
gefunde und gefegnete Wiedergeburt‘ hindeuten, wirb ans
genommen, daß jene doch nicht etwa nur dunprdvovreg,
fondern zagansodvrss werden Fönnten.
Dazu nehme ich noch die Gollectioftelle aus Paulus
Briefen an den Timotheus: deflen wiarıs dvuzöagıros
(II, 1, 5.) erfreut den Paulus; er nennt ihn fein yurjarov
tixvov dv alarsı (I, 1, 2.) und erinnert ihn, dvafosvpsiv
rò ydpıspa sod Beoü, das in ihm fey (II, 1, 6.). Diele
Babe if ber heilige Geil. Timotheus gilt dem Paulus
als Wiedergeborener, und dennoch bittet er beufelben, des
Zengniffes von Jeſus ſich nicht zu ſchämen (II. 1,8.) und
392 | Braune
fi zu bewahren bie Zulage durch den heiligen Beift, ber
in ihm wohne (ebend. 14.); er fchreibt ihm, daß Viele ab»
treten würden vom Glauben cl, 4, 1.), und ermahut
yäterlich andringend, ja feſt an ſtehen.
Die Möglidyleit, daß der Wiedergeborene nicht allein
fhubige, fondern auch and dem Gnabenſtande heraus—⸗
falle, it innerhalb des neuen Teſtaments gefetzt. Wäre
das nicht, fo wäre ed undenkbar, wie die Kirchenlehyrer
dazu gelommen wären, peccatam mertale auch in ben
renatio zu finden uud bie Sünde wider den heiligen Geiſt
in homine adulte, regenito, setis illuminato (Duenftebt)
au fegen. Noch weniger aber wäre denkbar, Daß bie Kirche
zwifchen den Wieder⸗ und noch nicht Wiedergeborenen In
Bezug auf Sacrament, Wort und Gebet keine Unter⸗
fchiede gefeßt haben follte. Die Taufe ik Sacrament des
Ghriiwerdeng, das Abendmahl das bes Ehriibieis
bend. Wiebergeborene Ehriften, bie zu jeder Glinde
nothwenbig, ebemweil file Wiedergeborene find, Buße unb
Bergebung bringen würden, könnten die vorbereitende
Beichte nicht in demfelben Sinne gebrauchen als Unwie⸗
Dergeborene. Des Worted der Schrift zur Abllärung,
Berförtung und Befekigung könnten fie eben fo wenig
im demfelben Sinne als die noch nicht Wiedergeborenen
bebürftig ſeyn, uud mit der fünften, fechöten und fieben-
ten Bitte würde es ſich ebenfo verhalten. Der Glaube
wärbe ja bei ihnen als ein perpetaum mobile wirfen und
bei folcher Wirkſamkeit müßte es ein andered Bewußtfenn,
ein anderes Berhältniß für die Wiedergeborenen geben,
als die Kirche mit ihren Inflitntionen vorausſetzt. Schrift
und Kirche ſetzen gleihmäßig die Möglichkeit nicht bloß
der "Günde, fondern auch ber Todfüube ber Wiederge
dorenen, oder ed wird nicht bloß der Kampf wider bie
mehr und mehr verfchwindende Sünde in dem Wieder⸗
geborenen angenommen, fondern auch bie Möglichkeit der
Nieberlage. Diefe Möglichkeit aber wirb von Einigen
die Sünden bee Miedergeborenen. 393
für eine Unmöglichkeit bei dem wahrhaft Wiedergeborenen
ober ald Beweis einer Täufchung in Bezug auf die Wie⸗
dergeburt feſtgehalten.
Worin fol das liegen, daß die Günbe ber Wieder⸗
gebogenen nicht von ber Art ſeyn ober werden könne,
fo daß die Wiedergeburt wieder aufgehoben fey? Im
dem Wiedergeborenen ober in ber Sünde? Iſt der letzte
Grund Davon, daß der Wiebergeborene durch feine Sünde
ben Guadenſtand verliert, in der Sünde gm fuchen, fo
bat man nachzuſehen, wie. fi die Sünbe, bie Anßerlich
oder innerlich ald That hierbei zu faffen iR, zu bem vers
hält, der fie thut; denn auch ale Zuſtand ift fie, fohern
fie nicht völlig überwunden, noch nicht todt, alfo leben⸗
big if, nicht ohne durchbrechende Thätigleit zu begrei⸗
fen. Daher der Proteſtantiosmus dem Kathelicidmus
gegenüber , ber beflimmte Sünden als Todfünden nam⸗
baft macht, ertlärt, ſolches nicht zu vermögen, und er
kann denn Anlagen, als fey das Beweis feiner linfitts
lichfelt, ruhig entgeguen, daß darin vielmehr feine Mittliche
Strenge, die Strenge inneser Gittlichleit ſich beweiſe,
da ja fogar Unwahrheit, ganz abgefehen won ber Form,
in weicher fie auftritt, Todſünde ſeyn kaun. Auf Das
beſſere Wiffen und Gewiſſen fommt es an, gegen welches
wit Bewußtfeyn gehandelt wird. Daher Tommi man,
dad Gebiet der Sünde angefehen, auf die Behauptung
von der Wleichheit der Sünde. Und wie das Wort wahr
R: was wicht and dem Blauben kommt, it Sünde, fo
iR wahr auch, bag Die Sünde nicht aus dem Glauben
fommen könne. Die Sünde ift ale nicht aus dem Blaus
ben, alſo auch wider den Glauben zu faflen. Denn wie
der Glaube eine Sünde Aberwindende Macht if, fo iſt Bie
Eünde eine den Glauben hindernde, vertilgende Gewalt,
Eiehiuun das feſt, daß Wiedergeborene noch fündigen, fo
wird, da in ihnen der Glaube an Chriſtud, dad Pringip der
Gändlofigkeis, bebendig geworden HR, angenommen, Bo
394 Braune
noch etwas im ihmen fey, das nicht Glaube it, vom Glan⸗
ben noch nicht ergriffen und überwunden if. So viel
dem Glauben noch entgegenfteht, fo viel fehlt ihm noch.
Der Kampf des Glaubens mit der Sünde iſt alfo im
Wiedergeboreuen gefeht, und mit dem Kampfe auch bie
Möglichkeit der Riederlage. Die einzelne Sünde if nur
die Erfcheinung der Sundhaftigkeit, and es heißt nicht,
daß fie nnd, fonbern daß wir ihr abfterben follen. Dafr
ſelbe Ich, das den Glauben des Wiebergeborenen hat,
bat auch dad Bewußtfeyn der Sündhaftigleit und thut
die Sünde. Die Wahrfcheinlicyleit des Sieges mag anf
dad Höchfte gefpannt werden, aber mit dem Kampfe ifl
immer noch die Möglichkeit der Niederlage geſetzt. Wie
eben in Bezug auf Sünde bie fatholifche Unterfcheidung
abgewiefen werben mußte, fo gilt es auch, die Fatholifche
Faſſung des Begriffes Wiedergeburt zu verwerfen. Die
Katholiken fehen die Wiedergeburt ale eine übernatür-
lihe Eingießung der göttlihen Gerechtigkeit
an. Es heißt (coucil. Trid. ses. VI. cap. 7.): Iustificatie
ılon est sola peccstorum remissio, ned et sanctißeatio et
renovstio interioris hominis per veluntariam suseeptionem
gratise et donorum: unde hemo ex iniusto fit insims etc.
Die einzige formale Urſache ift institis del, qua nes justos
facit, qua — vere. iusti nominamur et sumus, iustitiem in
nobis reoipientes. Wit ihnen flunmen hierin Quäler und
Mennoniten überein. So aber wird die heilige Schrift,
und das Leben wie das Selbfibewußtfeyn der Wieder⸗
geborenen Lügen geftraft. Es if keine rhetorifche Exagge⸗
ration, wenn Augnflin dem Hieronymus fchreibt (opp. Il,
166.): quis denique amicus nou fermidetur quasi futurus
inimicus, si potuit inter Hieronymum et Ruflnum hoc quod
plangimus exoririt O misers et miseranda conditie! O
iafida in voluntatibus amicorum scientia praegentiem, ubi
nulis est praescieutis futurorum! Sed quid hoc alteri de
altero gemendum putem, quande nec ipse gaidem sibi homo
die Sänden der Wiebergeborenen. 395
notus est in posterum? Novit enim utcunque, vix forte,
nunc qualis sit; qualis autem postes faturus sit, ignorat.
Neben der Gewißheit, mie Bott verföähnt, vor ihm ges
sechtfertigt zu ſeyn, iſt ab und zu Sorge um dad Heil,
Gurt vor Ber Günbe, Ungewißheit und Gchwanfen.
Uud wie iſt's denn, wenn die Wiebergeboruen zu ihren
Sünden die Bergebung bringen? Doch nicht ohme dem
Schmerz der Reue, in dem Doch bie Gewißheit der Ber»
gebung noch nicht fofort mit enthalten ſeyn kann, ber fi
nur in biefe verliert durch die Bermittelung des Erloͤſers
und feined Wortes; denn hier id Ende des Geſetzes nnd
ber Drohung und Grund deB Evangeliums und ber
Verheißung. IR die Neue wahr, dann ift aber auch das
Gefühl der Unwürdigkeit dabei, und es ift im Wieder,
gebornen gleichfam eig Schrei, wie bei jenem Bläubigen:
Herr, ich bin wiebergeboren , hilf mir zur Wiedergeburt!
Er fühle, wie die Sünde, die gleihfam den Einfchlag
des das neue Leben webenden Glaubens bilden möchte,
manchen Faden zerreißt, der ind ewige Leben reicht,
Sollte denn aber bad decretum iustificationis in deo mutabile
ſeyn? Wie Gott die Wiedergeburt vorausfieht, fo auch
den Berinf und die iirnenerung, wie's fommt, Die Wahr
beit der Idee kommt dach in ber Wirklichkeit nur in
Bruchtheilen vor, und mit ber Wirklichkeit des Menſchen,
wie er iR, und ber Macht des Böfen muß man ed eben
fo genau nehmen, ale man fi hüten muß, die Kraft
Gottes und Macht Ehrifti in dem Wiebergeborenen unter
den Begriff eine® perpetuam mobile zu ftellen, das immer
noch nicht vealifirt if.
Als Reſultat möchte ich wohl in Schletermacher’s
Sormel (der chriſtl. Glaube G. 111.): die Sünden derer
im Staube der Heiligung bringen ihre Vergebung immer
ſchon mit ſich und vermögen nicht bie göttlihe Gnade
der Wiedergeburt aufzuheben, weil fie fhon immer ber
Theol, Stud, Jahrg. 1847. 27
396 Nupprecht
rampft werden — bie Wahrheit der Idee ſinden, um
der Wirklichkeit willen aber fo fagen, daß bei aller Wahr,
fcheinlichteit des Sieges doc; bie Möglichkeit ber Nieder⸗
lage gefegt werden muß, und die Sünden ber Wieder
geborenen den Gnadenflaud nicht aufheben, fofern fl
ſofort befämpft werben.
2.
Die Parabel von den Arbeitern im Weinberge.
Matth, 20, 1- 16. |
Von j
Sobaun Matthäus Nuppredt,
Pfarrer zu Kroͤgelſtein in Bayern.
Su den ſchwierigſten Parabeln gehört wuflreitig Die
Parabel von den Arbeitern im Weinberg, mad es hat
dieſelbe fehr werfchiebenartige Deutungen erfähren, ohne
daß jeboc ein befriebigended Reſultat erzielt worden
wäre. Möge die nachfolgende Betrachtung derfelben ale
ein Verſuch gelten, das Berkändnig der Parabel feinen
Biele näher zu führen!
Es geht derfeiden das befannte Geſprüch Ehriſti
mit dem reichen Süngling voraus, ber fich am Ende trans
rig entfernte, weil er fi um ſeines Reichthums willen,
der fein Herz gefeffelt hatte, nicht zur Nachfolge Ehriki
entfchließen konnte, mit welcher die vollſtaͤndigſte Selbit-
verleugnung und Verzichtleitung anf alle irdifchen Güter
verbunden war. Diefem gegenüber richtete Petrus bie
die Parabel von den Arheiternim Weinberge. 397
Srage an den Heren: Giche, wir haben Nies verlaffen
und And dir nacgefolgt: was wird und dafür? Die
Autwort anf biefe Krage findet ih Kap. 10, 28. in fper
ciellee Begichung auf die Apoftel, und V. 29, in Bezie⸗
tung auf Wille, welche ſich zur Gelbfiverleugnung und
unbedingten Rachfolge Chrifti eutichließen können. Die
Jünger Chriſti waren aber damald noch in einem Zu⸗
Rande großer Unvollkommenheit und konnten fehr leicht
in die Gefahr ded Rück⸗ und Abfalld fommen, wie ſich
davon ein Beifpiel Ich. 6, 66— 71, findet und wie
Iſchariot wirklich fpäter von den Zmölfen ausſchied, ober
6 konnte bei ihrer Nachfolge wenigftend noch etwas fehr
Unreined mit unterlaufen, wie die gleich (B. 20 ff.) fol-
gende Unterredung mit den Kindern Zebebäi, fowie manche
andere Stelle beweiſt, and ber hervorgeht, daß felbft Die
Apoſtel immer an irbifche Herrlichkeit dachten, und wie
endlich auch jene Frage bed Petrus nicht von Selbſt⸗
gefälligleie und Eigennutz frei gewefen zu ſeyn ſcheint.
Daher ſetzte Chriſtus feiner Antwort die warnenben
Worte bei: woAlol di Esovras zgW@ro: Eayaroı, xal Eayaroı
zone. Was wollen diefe Worte fagen? Es beficht
eine Anficht, nach welcher zoAlol die Bedeutung von
„Rlle” haben fol, und dieß wirb damit gerechtfertigt,
daß der Gegenſatz V. 30. ſchon allgemein heiße: Und die
teten werden die Erften ſeya; daß V. 16. auch der 2.
20. ſch ein bar beichräntend ausgedrädte Sau allgemein
gefaßt werde; daB im Gleichniß auch alle Erften die
Resten werden; daß nah Wahl nodlol auh Alle
heiße, wie Matth, 20, 28. 26, 28. Aber — um mit dem
Renten anzufangen — diefe Auffaflung von zoAlol ift
keineswegs ſprachlich zu rechtfertigen; denn nicht einmal
ol xoaaoi heißt Alle (vgl. Winer’d Gr. 4. Aufl. S.96.),
geſchweige das Wort ohne ben Artikel, Auch an den bes
zeichneten Stellen behält es feine gewöhnliche Bedeutung
: 97 *
398 Ruppredht
Biele, da ſich dort keineswegs eine Andentung findet,
wie weit fi die Kraft des Erlöfungstedes Ehrifli ers
firedden werde, und wollte man bieß angebentet finden,
fo würde gerade an diefen Gtellen dem Worte feine ge:
wöhnliche Bedeutung zu vindiciren feyn, ba ja keineswegs
die verfühnende Kraft des Blutes Ehrifti ſich über Alle er-
ſtreckt, fondern nur über die Gläubigen (Joh, 3, 16. Gal.
3, 21.). Ebenſo iſt auch an nnferer Stelle nicht von
dem Quantum die Rede, fonbern bloß der Gegenſatz,
der zwifchen den vielen Berufenen und wenigen Auder-
wählten ftattfindet, zu berüdfichtigen. Was fobann Die
Parabel betrifft, fo verfteht fich von ſelbſt, daß in derſel⸗
ben alle Erfien die Leiten werben, da ja nur ein Bei
fpiel gegeben werben follte, wie die Erften die Legten
nud die Lehten die Erften werben können, alfo von einer
Ausnahme in der Sleichnigerzählung gar nicht die Rede
zu feyn braucht, Daher iR auch der Ausfprud V. 16,
keineswegs dem Sinne, ſondern nur deu Morten nad
von B. 30. verfchieben, und iſt eben fo geſtellt, weil er
fidy ganz eng an die Parabel aufchließt, in weicher bloß
von folhen Erften die Rebe ift, welche wirklich die Letz⸗
ten mwurben, und umgefehrt. Es kann alfo der Siun
von B, 16. nur ber feyn: So faun und wird es geſche⸗
hen, daß die Letzten, d. i. Solhe, welche gegen Andere
als die Leuten betrachtet werden müſſen, Erſte feyn wer,
den, nnd umgekehrt. Was endlich ben Gegenſatz oder
das zweite Glied iu B. 30. betrifft, fo iſt Har, daß aus
dem erften Gliede zoARol hinzugedacht werden muß, wie
auch im Deutfchen, wenn wir fagen: Biele Erſte aber
werden Letzte feyn, und Lebte Erſte. Und dieß iſt auch
der einzig richtige Sinn diefer Worte, wie ſich auch aus
der Bergleihung diefed Ausſpruchs bei Lukas (13,
30.) ergibt, eine Stelle, au welcher nach dem Gonterte
noch mehr als hier der Ausſpruch im allgemeinen Sinue
bie Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 399
zu erwarten wäre, und wo er bennoch in diefer Form
Reht: zul I80B, slaiv Fayaroı,, ot Esovrzs zgwroı, xel clot
zg@r0:, ol Edovras Eoyaroı, denn wenn auch bei Lukas
biefer Ausſpruch bei anderer Gelegenheit gebraucht ift,
fo flieht er doch in feinem andern Sinne, und dient daher
fehr zur Erflärung des Sinnes, den diefe Worte an uns
ferer Stelle haben. Dieß wird auch Mar, wenn wir bie
Beziehung dieſer Worte an unferer Stelle ind Auge
faffen. Es find nämlich diefelben mit deutlicher Bezie⸗
hung auf die Apoſtel gefprochen, welche ald die Erften
in der Nachfolge Ehrifti erfcheinen, und fomit als dies
jenigen, weldye das erfte Anrecht auf die ausgefprochenen
Verheißungen hatten, und auf den Jüngling, der ja auch
noch ſeine Liebe zum Neichthume verlieren und zur Theils
nahme am Reiche Gottes gefchict werden konnte, fo daß
er dann, wenn bieß wirklich gefchah, gegen die Apoftel
als Einer der Zayaroı angefehen werden mußte, während
er bei der Ertheilung des Lohnes unter die zpwroı fon
men kounte =). Papt für diefe Beziehung der Worte
auch noch die Bedeutung Alle für zoAol? Mit welchem
Rechte man aber diefe Hoffnung in Beziehung auf ben
ı) Wimmer in feiner trefflihen Abhandlung über Matth. 19,
16-22. in den Stud. u. Arit. 3. 1845 H. I. fagt hierüber:
„Infofern aber der Vorſchlag Jeſu auch in den Charakterfehlern
des Jünglings Grund und Halt fand, mußte er einen Stachel in
der Seele deſſelben zurüdtaffen, durch den feine bisherige Selbſt⸗
jufriedenbeit zerſtoͤrt und fo die Möglichkeit einer künftigen Eins
nesänderung vorbereitet ward, daher ſich auch ber Züngling nicht,
wie es fonft zu gefchehen pflegt, wenn fidh Jemand eben gegen bie
Mahnung bes Buten für bas Beharren in feinen Fehlern entichieben
bat, in @rbitterung und Haß ober mit Spott unb Hohn, fondern
betrübt von Jeſu entfernt, ein fichtliches Zeichen, daß mit der
Verwerfung bes Buten ber Kampf in feinem Innern noch Feines»
wege geenbigt war.”
400 Rupprecht
reichen Jüngling unefprechen darf, wie wenig er troß
feiner Liebe zum Reichthume dem Reiche Gottes ferne
ftand, das beweift feine fihtlich ernft und redlich gemeinte
Frage; das beweilt feine Traurigkeit, ald er eine Bedin⸗
gung hörte, deren Erfüllung zur Erreichung feines Wun⸗
fches ihm unmöglidh fchien; das liegt endlich in dem
Ausdrude: Aydımdev adrdv, welchen wir von ber Stims
mung Jeſu gegen diefen Süngling in der Paralleiftelle
Marl. 10, 21. finden, fo wie in den Worten: xzapk di
ed advra Övvord (B, 26.) — advra, alſo auch die Herzen
zu Ienfen, von den Banden, die fie gefangen halten, zu
befreien und für das Himmelreich gu gewinnen.
An jene Worte der Warnung nun fchließt fidh deut:
lih die Parabel ald Erläuterung an, wie aus dem
ydo V. 1. (vgl. über die Bedeutung deſſelben Winer’s
Gramm. 4. Aufl. $.57,4.6. 414. und ©. 417.) und aus
den Schlußworten V. 16. obrooç — Eayaroı hervorgeht;
und indem wir an die nähere Erklärung des Inhalts
ber Parabel im Einzelnen gehen, müflen wir und das
Necht vorbehalten, die parabolifche Erzählung an und
für fich ohne genaue Ausdentung der einzelnen Züge zu
betrachten, wie dieß auch bei andern Parabeln, 3.8. bei
der vom ungerechten Haußhalter, nöthig if.
Es wird und ein Hausvater vorgeftellt, welcher mit
Tagesanbruch (&ua goal) ausging und um einen ber
flimmten Lohn Arbeiter in feinen Weinberg miethete,
Später ging er wieder zu verfchiebenen Tagedftunden
aus, fand jedesmal Leute müßig fichen und fchidte fie
auch in feinen Weinberg, jedoch bloß mit dem Verſpre⸗
chen, ihnen zu geben, was recht fey; denn dem ganzen
Taglohn konnten fle ja nicht mehr erwarten, da fie nicht
gleih am Morgen in die Arbeit eingetreten waren. Daß
fie ohne Widerrede der Aufforderung folgten, beweilt,
daß es ihnen darum zu thun war, Arbeit zu befommten
die Parabel von den Acheitern im Weinberge. 401
(Or obdsig Aus iscdaisaro) nnd baß fie Dem Worte
bes Heren trauten und erkannten, daß fle keinen Anfprach
auf den Taglohn zu machen hätten. Als der Keierabend
kam, befahl der Herr des Weinberge, daß zuerſt biejenis
gen ihren Lohn ausbezahlt erhielten, welche zuletzt in die
Arbeit eingetreten waren, und ließ ihnen ben ganzen
Zaglohn ansbezahlen. Da nun die Erfien an bie Reihe
famen, welche den ganzen Tag gearbeitet, meinten fie,
fie würden mehr empfangen, und murrten ber ben
Handherren, da fie ſahen, daß fie auch nicht mehr em⸗
pfingen, als jene. Der Herr aber fagte ihnen, daß ihnen
nicht Unrecht gefchehe, da fie ja den ausgemachten Lohn
erhielten; überdieß flehe es ihm ja frei, fein Eigenthum
zu verfchenten, wie er wolle, und er fey vielmehr für
feine Güte zu preifen, als für ungerecht zu halten.
Der Hauptgedanke, der durch diefe Parabel verans
fhaulicht werben fol, ift der, daß in Beziehung auf bie
Theilnahme an den Gütern nnd Gegnungen des Hims
melreihd vor Gott Fein Verdienſt gelte, fondern daß
Alles, was an den Menſchen gefchieht, ein Werk ber
freien Gnade Gottes fey,
Es werden nämlich bier die Menſchen nach ihrer
Beziehung zum Reiche Gottes, und infofern
fie für diefen ihren himmliſchen Herrn thätig
oder unthätig find, dargeſtellt. Im erfteen Kalle hei»
Ben fie Zpydraı iv cm duzsiamı, im audern Kalle sarürss
tvrd dyopg apyol. Unter dem „Warkte” ift demnach nicht
die Welt zu verfichen, da andy bie in weltlichen Dins
gen fleißigſten und. eifrigften unter dieſe Mäßiggänger
gehören können, fondern der Markt ift vielmehr nur im
Allgemeinen Bezeichnung ded Orts, wo bie müßigen Leute
berumfichen, und die Redensart iaravaı dv ij dyogd
Gpyods ald Bezeichnung derer zu faffen, welche in Ber
jiehung auf Das Himmelreich noch nichts gethau
402 Aupprecht
haben, noch von rein weltlichen Sefluuungen voll ſind,
noch für rein weltliche Zwede leben, gegenüber den Ars
beitern im Weinberg, d. i. denen, welche fich bereite dem
Dienfte Gottes ergeben haben, bie eine göttlihe Gefln-
nnng in fih tragen und fih auch in dem zeitlichen Bes
eufögefchäften burch Diefelbe leiten laſſen, alfo in dem
Sinne fi dem Himmelreihe zugewendet haben, der fich
in Stellen ausgedrückt findet, wie Matth. 6, 10 11. 38.
Phil. 3, 20. 1 Thefl. 5, 17.
Run zeigt fih die Gnade ſchon in der Berufung
zur Arbeit im Weinberg. Zwar ift hier von einem gu-
08000da: der erften Arbeiter die Rebe; aber bie widers
ſpricht diefer Annahme nicht. MicDodcdea: heißt: um Lohn
miethen oder pachten. Wie geichah das? Der Hausherr
bot den Leuten, die er fand, Arbeit an, uud verfprach ihnen
einen befimmten Lohn dafür, welcher Antrag dann von
denfelben angenommen wurde (Ovupunicag xri. B. 2.).
Wir fehen fo in dieſem Ausdrud einen deutlichen Fin-
gerzeig auf jene Frage des Petrus und deren Beautwor⸗
tung 8. 19, 27—29. Bir fagen nun zwar nicht: „bie
erftberufenen Arbeiter find Die Apoftel”, denn im ſtreng⸗
fin Sinne wäre auf fie dad moddcacsdeus nidt ans
wendbar gewefen; aber wohl behaupten wir, daß, durch
jene Frage veranlaßt, der Herr ein Gleichnig wählte, von
dem die Apoftel die Anwendung auf ſich maden konnten;
denn fie hatten ja auf die Frage: Was wird und dafür?
die Verheißung eines beſtimmten Lohues erhalten. Damit
ſteht aber nicht in Widerfpruch, wenn wir fagen, daß bie
Berufung der Apoftel felbft ein Gnadenwerk war, denn es
hatte ja auch die Berheißung des Lohnes keinen Grüund in
einem, weun anch erſt zu erwerbenden, Berdienfle, wie ber
Ausgang der Parabel zeigt und wie — was wir gleich
al& weitere Anwendung des &EsAHsiv des Hausvaters ans
geben können — alle diejenigen befeunen, welche bie auf
die Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 403
den heutigen Tag wahre Blieder bed Himmelreichs gewors
den find, indem diefelben wohl wiſſen unb zugeben, Daß
fie une durch Gottes Gunade geworben find, was fie ſiad
(1 Kor. 15, 10. Job. 6, 44. 65. ıe.); und daß ihnen Bott
feinen Lohn ſchuldig if, daß fie vielmehr nur ihrer urs
fpränglichen Beftimmung gemäß Ichen, wenn fie „Arbeiter
im Beinberg” find, und daß vielmehr fie foldhe Arbeit
dem Herrn, ihrem Sort, ſchnldig find. Dieß tritt
befonder® bei denen fiark hervor, welche unter die fpäter
Berufenen gehören, denn Soldye müfjen ed ald eine beſon⸗
dere Gnade betrachten, daß fie nur noch gerufen wurden,
und alfo noch einen Lohn erhalten follen, den fie um fo
mehr der Gnade Gottes anheimftellen werden, je fpäter
fie in die Arbeit im Weinberg eingetreten fiub, je länger
fe ald „Müpiggäuger am Marfte geftanden” hatten, je
weniger fie alfo im Stande find, fich ein Verdienſt zuzu⸗
meflen — 5 iv 4 dlumov, den Suiv (B. 4). Wer find
aber die fpäter Berufenen? oder mit andern Worten:
was haben wir unter ber Bernfuug gu ben verſchiede⸗
nen Stunden au verfichen?
Dier müflen wir und gleich von vorn herein gegen
jede Annahme alttefamentlicher Zeitperioben verwahren,
da die Baaıkela row obgavav (B.1.) im nenen Teflanente
nie und nirgends anders, als mit der Erfcheinung Chriſti
anf Erden beginnend gedacht wird, und alle Gleichniſſe,
welche ſich auf Diefelbe beziehen, von dem durch Chris
Rum gegründeten Reich Gottes, nicht von ber Zeit
der Borbereitung anf Daffelbe zu verfichen find. Sollen
aber beſtimmte Zeitmomente für jede der genannten Tages⸗
Aunden angegeben werben, fo wird eine ſolche Angabe, fo
lange wir bei der hiftorifchen Beziehung der Parabel bleis
ben, nicht möglich ſeyn, fowdern wir werben vielmehr aus
nehmen müſſen, daß zwar diefe Angabe beflinmter Gtuns
den in ber parabolifchen Erzählung nothwendig fey, bei
404 Rupprecht
der Buwenbung aber aus im Algemeinen auf Die zwiſchen
ben Beginn der Arbeit (agad) und das Ende Derfelben
oder den Eiutritt der Lohnertheilung (dıblag Yyavonduns)
fallende Zeit gebentes werde, ohne daß gerade eine gewiſſe
Anzahl und beflimmte Zeitmomente angenommen werden
müßsen, indem eben nur von foldyen Menſchen Die Rede
fey, welche nicht fo frübzeitig als die Apoftel, fondern erft
ſpätet fi dem Neiche Gottes zuwandten oder zuwenden
würden. Und daß dann auf Solche das Wort des Herrn:
6 div I Olzasov, dcr Upiv — anzuwenden ift, kann bloß
in dem Begenfage zu jenem beftimmt ausgeſprochenen
Lohne (K. 19, 28.) feinen Grund haben.
Es fragt fih aber, ob man überhaupt diefe hiſto⸗
riſche Beziehung beibehalten dürfſe. Thut mau dieß näms
lich, fo entfliehen Schwierigkeiten, deren Löfung nicht wohl
möglich feyn möchte. Jedenfalls muß dann die Zeit, in
ber dad V. 8 ff, vorgeht, auf den jüngfien Tag bezogen
werben. Hierbei entficht aber zunächft dad Bedenken,
daB ja die Apoſtel nicht bie zum jüngften Tage in ihrer
Wirkſamkeit ſtehen, fondern längſt fchon von ihrer Arbeit
abgerufen find, was auch von jeder Gattung der fpäter
Berufenen gilt, während doch nach der Parabel Alle bie
zum Abend arbeiten. Sodann iſt gar nicht abzufeben,
inwiefern ein Uinterfchied, wie ber in des Parabel an⸗
gebeutete, swifchen jenen erften und zwilchen fpäter le»
benden Jüngern flattfinden könnte. Es muß alfo eine
andere, als die rein hiftorifche Beziehung geſucht werben.
Da wirb nun einerfeitd angenommen a), „baß die
frühere oder fpätere Berufung nur Rebenfache und Hülle
einer darin verborgenen Wahrheit” fey, indem man
„nicht fowohl den Außeren Linterfchieb einer längeren oder
fürgeren Gemeinſchaft mit Jeſu, als vielmehr das lirtheil
a) So von Fisco, die Parabeln Jeſu.
die Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 403
ber Menfchen über ſich felbft, Ihren Werth und ihre Ver⸗
dienklichkeit zu verfichen” habe, woraus Dann freilich wit -
Rothwenbigkeit die oben beſprochene Bedeutung des
z0Mol, für „Ale, folgen würde, da in denen, welde
zuerft in den Weinherg eintraten, alfo am längſten ars
beiteten, „der Mangel an Berteauen und Anſpruchloſig⸗
feit,”” in den zuletzt berufenen Arbeitern „bad Vorhanden⸗
ſeyn diefer Tugenden dargefiellt wäre. Aber abgefehen
davon, daB dann die mittleren Stunden völlig müßig da
ſtänden, werden auf diefe Weiſe diefe fo ſtark hervortre⸗
tenden Züge des Bildes gar zu fehr in den Hintergrund
geheft und, man möchte faft fagen, verflüchtigt, ale daß
man fich zu diefer Annahme ohne Zwang entfchließen
könnte. Auch wird dann nöthig, „anch die Austheilung
des Lohnes ſelbſt nur ale Hülle einer Wahrheit” zu bes
trachten, und ed wäre diefelbe „und die dabei vorkom⸗
menden Reden nur Form, durch welche offenbar werben
fol, welche Gefinnung dem Herrn des Weinbergs an
feinen Arbeitern am meiſten gefällt, welche er vorzugs⸗
weife begnabdigt, und wie gerecht und gütig er dabei vers
führt.” Wollen wir aber auch die Annahme einer folchen
„Form' oder „Hülle einer Wahrheit” in Beziehnng auf
die bei der Austheilung des Lohnes vorkommenden
Reden gelten laſſen, fo ift doch ber Ausdruck dblag
de yevonkung zu begeichnend und ſtark hervortretend, ale
daß er bloße Ausmahlung der Erzählung feyn, und nicht
eine Hindeutung auf einen beſtimmt eintretenden Zeit⸗
punkt enthalten foflte, fo wie wir auch die Austheilung
des Lohnes nicht ald Hülle einer Wahrheit zu erkennen
vermögen, fondern vielmehr darin die Hinweifung auf
eine wirklich eintretende Thatfache fehen. IR doch auch
in jener Berheißung (19, 28.), mit der unfere Parabel
in fo enger Verbindung flieht, eine wirkliche Lohnerthei⸗
lung zugefagt und ein beflimmter Zeitpunkt angegeben,
28 Buppredht
und feibſt B. 29., wo die Worte: SInarovrauiaulove
Adbsras, zu dem Lohne gehören können, ben „jede Thä-
tigfeit für Gott in feinem Weinberg unmittelbar mit fü
führt nnd den alle feine Knechte ſchon anf Erden ſchme⸗
den”, befonderd wenn man bie Barallele Marf. 10, 30.
und uf, 18, 30. damit vergleicht, wo ausdrücklich dv zu
suoc vovzo babei fieht, fehlt doch nicht die Hinweifung
auf deu zu einem beſtimmten Zeitpunkt eintretenden Lohn
in den Worten: xal form aldwıov zAnpovounias (vergl.
die Yarall.: xal iv ro alämı rö koyontvo Gary aldwıov).
Eben fo mißlich ift aubererfeitd die Annahme, daß hier
die Berfchiedenheit ber Zeit angebeutet fey, in welcher
die Berufung zur Gemeinichaft Ehriki an ganze Voͤlker
ergebe, da hiervon bie fchon gemachte Bemerkung gilt,
daß ia in diefem Kalle in der früheren oder fpäteren Bes
rufung fein rund eines Borzugs oder einer Zurückſetzung
läge, und auch offenbar nicht von gauzen Maſſen, fon
dern von einzelnen Menſchen bier die Rede iſt; oder daß
anf die Kindheit, die Tugend, das Mannes und bed Breis
“ fenalter hingedeutet werde, denn wollte man auch ben
Eintritt deffen, was von B. 8. angefagt ift, auf die Zeit
des Todes beziehen, (was ja in diefem Falle gefchehen
müßte, da hier auch ben verfchiebenen Stunden wieder
ihre beftimmte Beziehung gegeben: ift), fo müßten ja noths
wendig alle Berufenen das Greiſenalter erreichen, da fonft
wieder eine große lingleichheit heraus kaͤme und nicht von den
Erkkbernfenen gefagt werden lönnte, fie haben den ganz
zen Tag, und ihnen gegenüber von den ketzten, fie haben
nur eine Stunde gearbeitet!
Diefe Erflärungen alle laſſen fi fo wenig halten,
als die rein hiftorifche Beziehung der Parabel. Wir wen-
ben un® daher zu folgender Betrachtungsweife.
Petrus hatte gefagt: Wir haben Alles verlaffen und
find dir nachgefolgt, d. h. wir haben bir aflen unjeren
Beſitz aufgeopfert und unfer ganzes Leben dir geweiht:
die Yarabel von ben Arbeitern im Weinberge, 407
was wird und bafür? unb der Herr hatte ihm ſammt
den Äbrigen Jüngern eine herrliche Belohnung zugefagt.
Eine Hinweifung darauf haben wir bereitö im Aufauge
unferer Parabel gefunden, Run fagt der Herr weiter:
Andere kommen erſt fpät zu dieſem Entichlufle, erſt im
der dritten, fechöten, nennten ober gar elften Stunde —
der Weltzeit? oder des Menfchenalterö? Nein, der
Lkebenszeit! Denn wir verfiehen das nicht im ber eben
- ah zurüdgewiefenen Weiſe von allgemein gültigen. Zeit
befimmungen,, ſondern wir laflen für die verfchiebenen
Zageöflunden nur eine relative Beſtimmung au, je nach
der Lebensdauer der Einzelnen. Als Auhaltöpunkt dient
und dabei die elfte Stunde, welche nad der damaligen
jüdifhen Tageseintheilung bie nächſte vor ber lebten
Stunde, alfo in Beziehung auf die Lebensdauer eine
Menfchen die nächfle Zeit vor dem Tode it, fo baßalfo
z. B. der befehrte Schädher am Kreuze unter die Glafle
ber Arbeiter gehörte, welche bid zur elften Stunde mäßig
am Markte geftanden hatten. Hieraus gebt freilich her⸗
vor, daß Riemand willen kann, auf weldhe Stunde der
Zeiger feiner Lebensnuhr weifet; aber befto erwecklicher if
eben für Seben diefe Bleichnißrede, da ja Niemand wife
fen kann, ob nicht feine elfte Stunde fchon geichlagen
hat, Auch iſt eine genaue Berechuung und Beſtimmung
der übrigen Lebendftunden nicht nöthig, da Die genannten
Stunden nur beifpielöweife angeführt And, indem eben
fo gut die zweite, fünfte, flebente Stunde genannt ſeyn
könnte, ohne daß der Sache dadurch Eintrag gefchehen
wäre, Nur bei diefer- Annahme iſt es möglich, eine paſ⸗
fende Anwendung ber einzelnen Züge des Gleichniſſes zu
finden, welche, weun fie auch feine genaue, bis ins Ein»
jelne gehende Ausdentung zulaflen, doch gewiß ihre
beſtiumte Bedeutung haben, Zwar fcheint bei biefer
Auffaffung das Apa zgmi, welches offenbar eine hiſtoriſche
308 Kupprecht
Beſichung hat, nicht im dAs rechte Berhältwiß gu den
Darauf folgenden verfchiedenen Stunden zu treten,
wenn dieſe verfchiebene Momente der Kebendgeit bezeich-
nen follen; «ber man bedenke nur Folgendes: Zuerſt
mußte nothwendig mit der Erfcheinung Ehrifi dad Him⸗
melreich gefchichtlich im die Welt eintreten; nachdem es
aber ba war, trat eö außer feinem gefchichtlichen Fort⸗
fehreiten auch gu jedem Einzelnen in Beziehung, ber ſich
4m zuwaudte, was in Den verfchiebenften Lebensperioden
geicheben konnte. Ja wir ldanen fagen, feitbem das
HSimmelreich in wie Welt eingetreten ift, bezwedt bie Dre
digt des Evangeliums gerade, ed da und dort den Ein⸗
zelnen nahe zu beingen, welche dann als Einzelne ober
durch befondere Guadenwirkung Gottes in größeren Maſ⸗
fen in den verſchiedenſten Tebensaltern fich demſelben zu:
wenden. Nachdem nun Ehrikus, der auch ſchon Kap. 19, 29.
neben den Apoſteln feine fpäteren Nachfolger ins Auge
gefaßt hatte, im Blicke auf diejenigen, welche gleich bei
der erfien möglichen. Anerbietung des Herrn Folge
geleiſtet hatten (Kap. 19, 27.), und dem reihen Iünglinge
gegenäber das öbsideiv äua om zri. des Hausherren aus⸗
geſprochen hat, führt er, an diefed Aue zgwl antuüpfend,
die paraboliſche Erzählung dadurch weiter fort, baß er
4m Bhide auf den reichen Jungling und fpätere Nachfol⸗
ger auch Meätere Tagesſtunden erwähnt, ohne daß diefe
eine weitere hiftorifche Beziehung zu haben brauchen, fon»
dem fo, daß darin nur praktiſch anwendbare Winke für
alle diejenigen enthalten find, an weiche auch noch ber
Ruf zur Urbeit im. Weinberge ergehen würde, ber aber
andy, wie e6 bei jenem reichen Jünglinge der Fall war,
das erſte Mal und wohl audı öfter ohne Folge bleiben
fann, in weldem Falle dann die Parabel nach die er:
weiterte Anwendung zuläßt, daß der Ruf bes Herren audı
m ein und daſſelbe Individuum wiederholt, zu verſchie⸗
die Parabel von ben Arbeitern im Weinberge. 408
denen Stunden (der Lebenszeit deö Gerufenen) ergehen
fann, bie ihm endlich Folge geleitet wird, Diefe Auf⸗
faſſung der verfchiebenen Tagesſtunden wirb auch begün⸗
ſtigt durch Die Art, wie bie fpäter noch in den Weinberg
Eingetretenen bezeichnet werben, indem er ſie £ararag
ev vjj dyood deyods nemmt, was doch unmöglich von Sol⸗
chen gefagt werben kann, welche fpäter als bie Apoſtel
lebten, wohl aber vom denen, die ſich erſt in ihren
fpäteren Lebensjahren dem Reiche Botted zuwandten.
Ein ſolcher Wechſel des Bebentung der Bilder einer Par
rabel findet fich auch Kap.22. und Eut.14; denn Matth. 22,
10 €. und Ent. 14, 21 ff. verliert ſich fihtlich die hiſto⸗
tifhe Beziehung, welche in ben vorhergehenden Verſen
unleugbar vorwaltet.
Es Bleibt nun noch die Frage übrig, ob bei Der
praktiſchen Anwendung ber Parabel nicht auch das Ay
008 feine Stelle finde. Died kann allerdings gefchehen,
wenn wir es nach der biöher befolgten Erflärungsweife
von ber erſten Zeit des Lebend, der früheſten Kindheit
verfichen. Wir werben es dann auf Solche beziehen mäf
fen, welche etwa dem Samuel oder Johannes Dem Täus
fer gleichen, die von Kind anf Diener des Herrn waren,
der dem Timotheus, wenn man nach 2 Tim, 3, 14, 16.
auf deſſen geifligen Zuftand, wie er von Kindheit an
war, fchließen darf; oder, um aus der neuern Zeit Bei⸗
fpiele zu nennen, auf Beute, wie Zinzendorf und Gpener,
von denen man fagt, daß fie nie aus der Taufgnade ge
fallen feyen; oder auf Solche, welche fehr frühzeitig ſtar⸗
ben, aber fon von ihren früheften Kinberjahren an
deutliche Beweiſe außerordentlicher Gnadenwirkungen an
ihrem Geiſte und Derzen gegeben hatten, an weicher Art
Beifpielen es nicht fehlt. Wollte man dabei bas uıchd-
6e6dm urgiren, fo’ tönnte die wohl — in ähnlicher
Weiſe, wie die Anwendung davon auf die Apoſtel ſchon
410 uppreiht .
gezeigt wurde — auf die mit dem erſten Eintritte ins
Himmelreich verbundenen Berheißungen bezogen werben,
wie folche in dem Gacramente der Taufe liegen, während
auf diejenigen, weldhe aus ber Taufgnade fielen und
erft nachher, früher oder fpäter durch Buße und Glau⸗
beu wieder erneuert wurben, ber Ausdruck: 8 die Z Öl-
zaov, dose Guiv — feine paffende Anwendung fände.
Wir wenden und nun zur Betrachtung des zweiten
Theils der Parabel, der von der Lohnertheilung handelt.
Wir haben bereitd die Worte oͤplag yavopkung anf bie
Zeit des Todes bezogen, da ber Feierabend des Lebens
eintritt, und unterflüpen dieſe Anficht noch mit 2 Tim.
4, 7. 8. Apot᷑. 14, 13. (dadovs), Enl. 16, 22 ff. 23, 43.;
und fiher deutet audy die Stelle Matth. 25, 21. 23. 30. zu:
nähft auf dieſen Zeitpunkt bin, was um fo glaublicher
erfcheint, als dort bloß von dem, was die Einzelnen
zu erwarten haben, die Rede if. Den bier erzählten
Borgang auf den jüngken Tag zu verlegen, iR nicht nur
durchans kein zwingender Grund vorhanden, fondern
nach unferer biöherigen Betrachtung erfcheint diefe Ber
ziehung auch nicht einmal ald angemeflen. Dieß erhellt
noch mehr, wenu wir und der Frage zuwenden, ob bie
erfigesnfenen Arbeiter nach der Darficlung V. 10 ff. ale
vom Himmtelreiche ausgefchlofen betrachtet werden müfs
fen. Diefe Frage erledigt fich von felbfi, wenn wir bes
benten, daß hier von lauter wirklichen Arbeitern im
Weinberge die Rede if, allo von Leuten, welche die Ver⸗
beißung eines Lohnes haben und ihn al6 Arbeiter auch
empfangen müflen, während nur Diejenigen von jedem
Antheile am Lohne ausgeſchloſſen bleiben können, welche
bis zum „Ubend” mäßig am Markte fiehen dlei-
ben. Es ik daher bier nur von einer Ertheilung des
Lohnes die Rede, und feine Spur von einer Scheibung
su finden, wie file am jungſten Tage eintreten wird. Auch
die Parabel von den. Arbeitern im Weinberge. 411
in Ösays (V. 13.) liegt dioſe Ausſchließung nicht, welches
ſ. v. a. daögovcs vöv modöv aurav (Kap. 6, 2.) ſeyn Toll,
wie fchon die Bergleichung mit B. 4, zeigt, wo bafleibe
Wort in demfelben Sinne wie hier, bloß vom Weggehen,
Sichentfernen, gebraucht wird. Eben fo Kap.16,23, und
4, 10., wo die Üble Nebenbedentung nicht im Worte liegt,
fondern durch dalsn uow ausgedrüdt iſt. In Umayps liegt
alfo hier bloß die Abweifung des Unzufriedenen.
Wenn nun aber nit von einer Ausſchließung von
Himmelreiche die Rebe ift, fo fragt fih, was man. fidh
bei önmeigso» zu denken habe, und wenn wirflich Seber
feinen Lohn empfing, worin denn ber Unterſchied zwiſchen
den Erften und Letzten lag. Ein dnvdosov war ohue
Zweifel der damals gewöhnliche Tagelohn. Wir deuten
nun diefe Münze fo wenig aus, als andere einzelne Züge
der Parabel, welche wefentlich zum Ganzen ber Erzähr
lung gehören, fondern finden bloß im Allgemeinen den
Lohn dadurch angedeutet, und ſagen: fo wie in trdifchen
Verhältniffen der Arbeiter nach der Arbeit feinen Lohn
bekommt, fo hat auch der, welcher fein Leben dem Dienſte
Gottes‘ weiht, die Berheißung eines Lohnes, wenn feine
Arbeitözeit aus if. Und worin befteht derfeibe? Im
Allgemeinen ift die Antwort fhon Kap. 19, 29. gegeben;
wo al& dieſer Lohn das Erben bed ewigen Lebend ger
nannt iſt; denn bad vorhergehende Sxarovraxiaciove
imbsras, welches. nach Bergleichnng mit den Parall. mit
Beziehung auf Das zeitliche Leben gefagt if, können wir
niht dazu rechnen, da hier von dem Lohne die. Rebe
it, der nad) vollendeter Arbeitszeit erft eintritt, Und
diefen Lohn ſollen Ale, auch die Erfien, die zu Lege
ten gemacht wurden, eshalten? Allerdings, weil fie Alle
Arbeiter im Dienſte des Herrn waren; aber doch mit
Unterfchied. Ein Uinterfhied in diefer Belohnung im
ewigen Leben if fchon Kap. 19,28, 29. —— — Ein
Theol. Stud, Jahrg. 1847,
e.»
412 Rupprecht
folcher findet fig auch an anberen Stellen. Man vergl.
3. B., wad Kap. 10, 41.42., Kap. 25,28. 29. gefagt iſt. So
befonder® 1 Kor. 3, 14, 15. Hier heißt eö von dem Eis
nen: noddv Ayyara, von dem Anderen: Insmdnissscs,
adrög 05 sadııasru, obroo O wg dk wvodc. Es iſt Mar,
baß B. 14. von einem befonberen Lohue die Rede ift,
ben der Aubere verlieren wirb Cinmaodressar), während
doc) beide mit einander gemein haben, baß fie dad ewige
Leben haben ſollen (sodrceıras). Zwar könnte man ſa⸗
gen, diefer Lohn, ben der Erſte vor dem Anderen voraus
bat, trete fchon in diefer Zeit ein; aber abgefehen Davon,
daß dirfer Verluſt dem Anderen durch dem einigen Ge⸗
nuß des ewigen Lebens reichlich wieder erfegt wird, weiſt
doch B.13. und der Ausbrud zavsi (B.14.) gar zu Deuts
lich darauf bin, daß bier von einem Lohne die Rebe ift,
Der wit dem jliugften Tage eintritt, deſſen Genug alfo
ind ewige Leben fällt, Es mäflen Daher nothwendig bie
jenfeitigen Zuſtände verfchiebene Stufen ober Grade ha;
ben, oder wenn das nicht wäre, ſo müßte wenigſtens ein
und derfelbe Zufand für die verfchiedenen Individuen ein
verfchiedener feyn, je nad ihrer verfchiedenen geifigen
Individualität. Doc erfcheint dieß Lebtere weniger an,
nehmbar, ald das Erftere, da ja dann für die Einen der
Genuß der Seligfeit ein unvollländiger, getrübter, alfo
kein wirklicher Genuß der Seligleit wäre, während bei ber
eriteren Annahme keinem Theile an feiner Seligkeit etwas
abgeht, indem Jeder in feiner Sphäre volllommen felig
feyn kann, Seder an feiner Stelle zur Berherrlichung bee
Herren beitragen fann, ganz analog ber Berfchiebenheit
ber Stände und Berufdarten in den bieffeitigen Berhält-
niffen; denn Reid und Mißgunſt und Selbſterhebung fällt
ja dort ganz weg, Liebe nnd Demuth befeelt Alle auf
gleiche Weile. Auf eine Berfchiebenheit in den jenfeitigen
Verhältuiffen deutet offenbar auch das bin, was wir ale
die Parabel von ben Arbeitern im Weinberge, 413
Aenßerung des Herrn gegen bie Söhne Zebebät (Matth. 20,
23.) und in ben Berheißungen Apok. Kap.2, und 3. leſen.
Ja unferer Parabel if das freilich nicht mir Beſtimmt⸗
beit ausgefprochen, aber es if doc, angebeutet, indem
die Letzten zuerft belohnt werden — wodurch theile bie
Bevorzugung berfelben, theild die Gnade ded Herrn
deſto ſtärker und bentlicher hervorgehoben werben konnte,
da hierdurch das darauf folgende Geſpräͤch veranlagt
wird — und indem fie gleichen vollen Taglohn mit den
Erſten erhalten, welcher ihnen offenbar mehr war, ale
den Anderen, wie fich bieß auch in ber Aeußerung umb
Klage (B. 10-12.) ausprädt.
Fragen wir nadı dem Srunde, auf welchem biefe
Zurädfegung ber zuerſt berufenen Arbeiter beruht, fo iſt
derfelbe im ihrer Gemuthsbeſchaffenheit zu fnchen. Das
eizev Ept abräv (B, 13.) weiſt dentlich auf die Frage des
Petrus zuräd, welcher der Stimmführer für bie Abrigen
Apoftel war, uud was wir bei der Betrachtung jener
Frage ale Vermuthung andgefprochen haben, daß unter
derfelben wohl Eigennu und Gelbfüberhebung, bem
reihen ZJünglinge gegenüber, verborgen gewifen feyn
mag, das wird hierdurch zur Gewißheit. Wie fchon bie
Berufung zum Himmelseiche und bie Berheißung eines
kohnes ein Werk der göttlichen Gnade it, fo auch bie
Ertheilung des Lohne, Wie die Annahme der Berufung,
diefelbe mag früher oder fpäter erfolgen, kein Berdienk
begründet, fo ift and der Lohn Feine Belohnung eines
Berdienfles, das man fi durch die Arbeit erworben
hätte, fondern Gnadenlohn. Wie daher der Herr einen
Kinderfinn als Bedingung der Thellnahme am Himmels
reihe verlangt, fo wird Jeder, der fich demfelben zuge.
wandt hat, deſto mehr Werth vor Bott haben, je Heiner
er in feinen eigenen Augen geworben. Go exfcheint jene
Frage des Petrus in einem ganz anderen Lichte, als daß,
2*
414 Rupprecht
mas dem Mofes zum Rode nacgefagt wird, wenn ed
von ihm (Hebr. 11, 26.) heißt: dæéasat yüo eig rim
pioßanodoclev, denn dort finden wir den reinen Dlid
auf den Lohn, weicher den treuen Kucchten beö Herrn
verheißen ift, gegenüber dem glängenden, aber eiteln und
vergänglichen Lohne, welchen der Geuuß der Belt und
Sünde bietet, während Petrus fich mit Selbfterbebung
jenem reihen Sünglinge gegenüberfichte, der fidy noch
nicht zu dem entfchließen konnte, was die Jünger längf
gethban hatten... Das if es auch, was durd das Ges
ſpräch des Hausvaterd mit den erfiberufenen Arbeitern
dargeftellt werden fol, und ed wird nur noch ald Mo⸗
tiv dieſes Berfahrend angegeben, daß ja der Hausherr
mit feinem Eigenthume nach freiem Belieben zu handeln
das Recht habe, und als Folge, daß demnach vielmehr
feine Blüte zu preifen fey, wenn er unverdiente Wohl⸗
thaten erweife, ald daß man gu benfelben fcheel fehen
bürfe,
Nach diefer Darkkellung erhellt, daB man unter den
murrenden Arbeitern (B.11.) nicht eigentlich Selbſtge⸗
rechte und Werkheilige zu verfiehen habe, da ja ſolche
gar Seinen Lohn mehr zu erwarten haben ( .. .. modor
ovx Eysrs zapd TO zarpL Uuhv ch Ev rois oügevoig und
dxsyovdı röv ucddv auriv, Matth. 6, 1.2.5.16.). Es
it vielmehr in diefer Darftellung bloß eine Warnung
vor felblgerehten Gedanken enthalten; und fol
len dieſe Arbeiter ja gewiffen Menfchen in der Wirklich
feit entfprechen, fo find es vielmehr wahre, aber noch
ſchwache, noch nicht bie zur völligen Demuth durchge⸗
drungene Chriften, wie die Apoftel damals waren (vgl.
V. 20 ff. mit Mark. 10, 35 ff. 18, 1 ff. Luk. 22, 24 ff.).
Somit finden wir in biefer Parabel eine Korderung ber
Demuth und einen Preis der göttlichen Gnade.
Nun bleiben aber noch die Schlußworte: zoAlo! yap
bie Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 415
sic, aAzol, dAlyos.öb Exiexrol — zu betrachten übrig.
a Diefen Worten fcheint auf den erften Blick eine Wis
derlegung der bisherigen Erklärung zu liegen, benn fie
fcheinen der Annahme, daß die erfibernfenen Arbeiter
auh Theil am Himmelreiche haben, zu widerfprechen,
Und wirklich kommen biefe Worte audı Kap. 22, 14. in dem
Sinne vor, daß die dxdzxrol nur diejenigen find, die
wirklich Theil haben, die Anderen aber, obgleich xAnzol,
doch ausgeſchloſſen bleiben oder werden, Da aber bie‘
angegebenen Gründe hier die Annahme einer völligen
Ausſchließung nicht zulaffen, fo bleibt nichts übrig, ale
anzunehmen, daß dieſe Schlußworte eben nicht überall in
einem und demſelben Sinne fiehen, fondern jedesmal nach
dem Eontert erflärt werden müſſen a). Derfelbe Fall
findet ja auch mit den Worten: zoAAol Esovraı zoeüror
Eoyaros ara. ftatt, indem bei Luk. die Eayaroı im erften
Gliede diejenigen find, melde aus den Heiden zur Ge:
meinde Chriſti im Himmelreiche gefammelt werden, und
im zweiten Gliede diejenigen, welche, urfprünglich dem
Reihe Gotted angehörend, aus demfelben audgeftoßen
werden (Uuds ÖE Exßailoutvovg Eo, B. 28.), weil ed
dort der Bontert fo fordert. Demgemäß müffen wir auch
in Beziehung anf die Schlußmorte fagen, daß nur dies
jenigen unter den xAnroig als geradezu vom Himmelreiche
ansgefchloffen betrachtet werben können, welche die Bes
tafung ganz ausfchlagen, oder die nothwendige Bedingung
nicht erfüllen, welche zur Theilnahme am Himmelreiche
befähigt, wie beides Kap. 22. (V. 6f. u. V. IIf.) der Kal
it, dergleichen aber in unferer Parabel nicht vorkoms
a) Bat. Bengel in Gnom. ad h. voc.: Videtur hocloco, ubi,pri-
mum occurrit, non omnes sulvandos denotare, sed horum ez-
cellentissimos.
416 Rupprecht, Die Parabel v. d. Arbeit, im Weinberge,
men. Wir könden daher biefe Worte nur fo verſtehen:
Denn Viele find zwar berufen (und haben ber Berufung
auch Folge geleiftet), aber unter biefen Berufenen find
Wenige anderwählt, zoüros zu feyn (ſ. das letzte Glied
der dieſen Schlußworten vorhergehenden Sentenz), weil
ſich Wenige vermöge ihrer geiſtigen Beſchaffenheit dazu
eignen, wodurch noch am Schluſſe der ganzen Rede je
nen, den Apofteln zur Warnung gefagten Worten (Kap. 19,
30.) ein befonderer Fräftiger Nachdruck gegeben wird,
Recenfionen
1.
Das Wefen des dhriftlichen Glaubens vom Staudpunkte
des Glaubens dargeftelt von W. M.L. de Wette,
Doctor uud Profeffor der Theologie. Bafel, Schweig⸗
häufer’fche Buchhandlung, 1846.
Sa einer Zeit, bie dad nonum prematur in annum im⸗
mer mehr zu verlernen fcheint, in ber die Brofchürens
litteratur zur Alles verichlingenden Sündfluth zu werben
droht, aus eben diefem Grunde aber gediegene, zumal
Ipftematifche Werke immer feltener werden, — muß in
der theologifchen Wiffenfchaft jedes Erzeugniß ernften
Sleißes und gründlicher Beobachtung willfommen feyn.
Berdanfen wir ein ſolches Überdieß noch einem Manne,
dem die Wiffenfchaft fchon längft den Ehrenfranz um das
Haupt gewunden, der nach den verfchiebenften Richtuns
gen hin Bedeutendes und Treffliches geleiftet, der fein
ganzes Leben ernfter Korfchung und nie raftender Thä⸗
tigfeit geweiht hat, — dann haben wir in unferer Zeit
ein doppelte Recht, daffelbe mit Freuden zu begrüßen.
Dad Werk, dem wir diefe Anzeige widmen, fcheint und
in vollem Maße einer folchen Begrüßung werth. Der
Berfaffer deffelben hat einen allzu wohlbegrändeten theor
logifhen Ruf, ale daß der Neid felbft ed wagen dürfte,
denfelben anzutaften. Seit mehr als dreißig Jahren hat
er auf den verfchiedenften Gebieten des theologifchen
Wiſſens mit unermüdlichem Eifer geftrebt und gearbeitet.
420 De Bette
Als ein Mufter des Fleißes, ber Ausdauer und wiſſen⸗
ſchaftlichen Eraftes hat er uns Jüngeren vorangeleuchtet,
und felb da, wo ihm nur Wenige gefolgt find, hat er
vielfach angeregt und beiehrt. Beine Eritifchen und exe⸗
getifchen Urbeiten legen das rühmlichfte Zeugniß ab, wie
er nie flille geflanden, fondern das docendo discimus ſich
zum Lebendmotto gewählt hat. Eine Darlegung feiner
ſyſtematiſchen Anfhauung vom Chriftenthume hatte er
and feit längerer Zeit verſprochen; und wer follte nicht
mit Bergnügen und Ausficht auf reiche Belehrung nad
einem Werke greifen, das die Refultate dreißigjähriger
Dentarbeit in fi faßt und gleihfam die Summe aller
biöherigen Leitungen darftellt ?
Aber nicht nur, weil dad anzuzeigende Werk ben
theolegifchen Lebensgang einer andgezeichneten Perfdus
lichkeit gleihfam abfchließt, fondern noch mehr, weil es
in die religiäfen Bewegungen der Zeit unmittelbar bins
eingreift und *ben fo fehr dem kirchlichen Leben ale
der theologifchen Wiſſenſchaft angehört, — nimmt ed
unfere volle Aufmerkſamkeit in Auſpruch. Es feheint
überhaupt bie Zeit immer mehr hinter nnd zu liegen,
weiche die Wiflenfchaft ale etwas Abgefondertes vom Le⸗
ben betrachtete nnd der einen bienen zu können glaubte,
während man das andere kaum beachtete. Das theolo-
gifche Wiſſen und das kirchliche Leben find ſich gewiſſer⸗
maßen gegenfeltig zum Bedürfniſſe geworben; bie
Refultate der Wiſſenſchaft wollen von der Kirche aner-
Saumt feyn; die Kirche will ſich ihrer Lebenswahrheiten
immer mehr theologifch bewußt werben. Das vorliegende
Werk dient in der That beiden Zweden. Ohne allen
wiſſenſchaftlichen Apparas iſt ed im runde fireug willen
fchaftlich gehalten und kann auch, der fchönen und flie⸗
Senden Darftellung ungeachtet, nur von wiſſenſchaftlichen
Theologen ganz verfkanden nnd geuoſſen werden, ohne
darum für gebildete Laien unzugänglich zu feyn. Geinem
bad Weſen des chriſtlichen Glaubens x. 421
oberfien Zwecke nach aber will ed ber Kirche dienen,
oder noch genauer audgebrädt: ed will den Aufbau einer
neuen. proteftantifchen Kirche mit herbeiführen helfen, mach
weldyer die edelften Menfchen der Begenwart fich ſehnen.
Seinem Brundcharafter nach gehört dieß Werk mithin
jener Vermirtelnden theologifhen Richtung
an, weiche, durch den modernen Ratioualiönnd und Or⸗
thodoxismus gleich unbefriedigt, wiflenfchaftliche Tiefe
und kirchliche Frömmigkeit zuſammenzufaſſen firebt and
weniger eine Partei als eine Befinnung repräſen⸗
tirt, Referent bekennt fidy gern als einen Geſinnungs⸗
verwandten, womit nicht gefagt ſeyn fol, daß er in als
lem Einzelnen mit dem Berfaffer Abereinftimmt, fondern
nur, daß er in der Brundrihtung mit ihm eins iſt und
eine höhere Bermittelung zwiſchen den Anſchauungen der
Wiffenfchaft und den Bedürfniffen der chriftlichen Froͤm⸗
migfeit für die unerläßlihe Bedingung einer fchöneren
kirchlichen Zukunft hält.
Das vorliegende Wert hat demzufolge bei den relis
giöfen und irreligiöfen Parteimännern unferer Tage auf
wenig Gunſt zu hoffen. Es wird den einen nicht gläus
big genug, nnd ben anderen viel zu gläubig feyn. Die
einen werden fagen, es made dem Rationalismus ges
fährlidhe Gonceffionen, die Anderen, es verrathe bie
Wiffenfchaft an den Glauben. Entweder — oder: if das
Kofungswort der Parteimänner, und wer fich ihnen nicht.
ganz verfanft, den wollen fie gar nicht,
Verſuchen wir ed zuerft, das Verhältniß dieſes
Werkes zum Rationalismus mit deffen Nebenläufern,
dem Pantheſsmus, Rihilismus u.f,w., darzuftellen. Der
Berfaffer unterfcheidet mit Recht zwifchen dem „alten
verflahenden” und dem „neuen auflöfenden
Rationaliemud” (Vorwort), Zum erflieren hat er fein
Verhältnis (F. 10.) ganz deutlich anseinandergefegt. Ins
dem er Röhr nad Wegfcheider als feine Bewährsmänner
422 de Wette
nennt, bezeichnet er ihn als eine im beutfchen Volke fehr
verbreitete dogmatiſche Dentweife, die weniger durch die
neueren Richtungen Rberwunden, ale zum Stilſſchwei⸗
gen (9) und aus der Mode gebradit fey. Sehr gut wird
dann ald Hauptfehler deffelben bemerklich gemadıt, daß
er mit „anderwärtsd entlehnten Grnndſätzen und einer
fhon abgefchloffenen Leberzeugung von dem, was Wahr⸗
beit fey, an das Ehriftenthum gehe.” Sagt jedoch ber
Berfafler: die meiften anderen rationaliftifchen Irrthümer
entfpringen aus einer einfeitigen, zu weit getriebenen Durch⸗
führung der natürlihen Anſicht: fo möchten wir
umgelehrt fagen, biefe einfeitige natürliche Anficht ents
fpringe aus jenem Hauptirrthume. Well der alte Ratios
nalismus Natur und Vernunft zur primären, die Schrift
zu einer bloß fecundären Offenbarungsquelle macht, fo
muß daher die natürliche Anficht bei ihm vorherrſchen.
Gegen die letztere Einfeitigkeit erflärt fich der Verfaſſer
entfchieden, und er macht neben oder vielmehr über
der matürlichen eine andere höhere übernatürliche
Anficht geltend, die er die „gläubige” nennt. Darin
ift er aber auch wieder gerecht gegen den alten Rationa⸗
lismus, daß er die natürliche Anficht nicht verwirft, ſon⸗
dern ihr ebenfalls ihre Berechtigung zuerfennt. „Beide
Anfichten,” fagt er (S.61.), „müffen anerfaunt und audı
der natürlichen im Bewußtfenn des Gläubigen eine Stelle
gefichert werden, weil diefed mit dem übrigen Bewußt⸗
feyn in Einklang fliehen fol und unfer Geiſt auf beide
Anfihten angewielen if.” Gewiß fehr richtig! Nur möch⸗
ten wir hier noch auf eine Schwierigkeit aufmerffam mar
chen, welche der Rationalismne dem Berfafler entgegen
halten wird. Wo fängt nämlich Die Übernatürliche Ans
fiht an, und wo hört die natürliche auf? Und fönnen
überhaupt fcharfe Grenzen zwifchen der einen und der
anderen gegogen werden ? Haben wir den Berfafler rich,
tig werftanden, fo läßt dDerfelbe Gegenſtand ſowohl die
das Wefen des chriftlihen Glaubens ꝛc. 423
natärliche,, ald die übernatürliche Anficht zu. Der Ratio»
naliemus ift noch in der alten bualikifchen Weltanficht
befangen, welche Gott und Welt zu Widerfprüchen macht.
Da if dans das liebernatürliche der Widerfprud des
Ratürlihen, und aus eben diefem Grunde unglaublich,
Wenn ed and) der Ratioualidmud nicht gewagt hat, die
Möglichkeit Übernatärliher Einwirkungen zu leugnen,
fo ſucht er ſich doch anf jegliche Weiſe der Anerkennung,
daß ed wirkliche gebe, zu entziehen. Es fcheint und
ein großer Schritt zur Bermittelung zwifchen der alten
und modernen Weltanficht gethan, wenn eingeflanden
wird, daß „natärlich” und „übernatürlich” gar feine Wi⸗
desfprüche, fondern die Kormen bed Gegenſatzes find,
unter dem alles Wirkliche zur Erfcheinung kommt. Denn
ſtreuge genommen, reicht bie natürliche Betrachtungs⸗
weife nirgends aus, und nur der hausbadene Verftand,
der jedes höheren Intereſſes entledigt it, kann ſich mit
der Anficht begnügen, daß etwas. nach der hergebrachten
Regel gefchehen fey. Der Berfafler bemerkt fehr fchön,
„daß von jedem Punkte der Natur und deren natärlis
her Betrachtung zur übernatürlichen Anfiht, von der
Erfenntniß der Mittelurfachen zum Glauben an eine uns
mittelbare göttliche Urſache aufgefliegen werden müſſe.“
Rihte kann ſich der religiöfen Betrachtung entziehen,
airgends finden wir und durch Die bloß verfländige bes
friedigt. Wir müſſen den Lefer felbft auf die Auseinan⸗
derfegung dieſer Anficht beim Verfaſſer verweilen; es
fheint und aber wichtig, daß der Satz von der Identi⸗
tät des Ratürlichen und Uebernatürlichen recht gewürs.
digt werde. Vielleicht hätte, da der Berfafler an einer -
anderen Stelle noch anf den Deismus zu ſprechen kommt,
die Berwandtfchaft deffelben mit dem alten Rationalids
mus nachgewiefen werden können. Denn wenn and) die
Rationaliften nicht „ale gefehichtlichen und kirchlichen
Hälfsmittel und alle Gemeinſchaft verfhmähen,” wie dieß
424 be Bette
der Berfafler (S.373.) den Deiſten vorwirft, fo befchräns
fen fie ſich doch gewöhnlich auf deu deikifchen Glauben
„an Bott, Unfterblichkeit und ſittliche Bergeltung ,” und
die große chriftliche Idee der Gemeinſchaft wird won ib»
nen nicht gehörig anerlaunt. Das Abftraete, Leere, Un⸗
befriedigende, Egoiftifche der deiſtiſchen Weltanfiche if
von dem Berfafler trefflich gezeichnet.
Wie aber der Berfafler ſich entichieden von dem al
ten Rationalismus losſagt, fo erklärt er ſich eben fo ent»
ſchieden gegen den „Nihilismus von Gtranß u. |. m.”
(Borwort), gegen den modernen Rationalidmnd und
die falfhe Zeitphilofophie. Der moderne theologifche
Radicalismus betrachtet befauntlich die Religion als eine
bloß untergeorbnete Stufe des Denkens, das ih mod
nicht zu Begriffen erheben kann, fondern bei bloßen Vor⸗
fteßlungen ftehen bleibt. Gonfequenterweife muß biefe An»
ſicht baranf dringen, daß die untere Stufe durch bie
höhere allmählich verdrängt werde und bie Menſchen ſich
in Philoſophen verwandeln. Denn wozu im Rebel ber
Meligion herumtappen, wenn man e6 im Sonnenfdheine
der Philoſophie fo gut haben kann? Es it gewiß fehr
erfreulich, daß der Verfaſſer das vwielbefprochene Berhälts
niß von Philoſophie und Religion ebenfalls einer Bes
ſprechung unterwirft ($. 3.) und die Anſicht, daß „eine
philoſophiſche Erkenntuiß und Lehre von Bott den Glau⸗
beu entbehrlich mache, oder höher fiche ald diefer ,” ver
wirft. Nach dem Berfafler kann die Aufgabe der Philo⸗
fopbie Feine anbere ſeyn, ald das Begebene zur Haren
Erkenntuiß uud zwar für den Verſtand zu bringen.
Sudem fie mit dem Berftande für den Berflaud arbeis
tet, erbebt fie ſich nicht Aber den Glauben, fondern res
fleetirt nur über deufelben, ober hebt ihn iu das ver
Rändige Bewußtfeyn hervor, Weit entfernt alfo, daß
der Berfafler dem Glauben im Berhältnifie zum Denken
eine untergeorduete Stufe anmiefe, weiſt er demſelben
daB Weſen des chriſtlichen Glaubens ıc. A425
‚vielmehr eine übergeordnete au. Im Glauben ift ber
religiöfe Inhalt gegeben; der Glanbe ift das fchaffende
und bauende Element, Die Philofophie dagegen zerſetzt
und „vermeint;” denn, fagt ber Berfafler, „die phi⸗
loſophiſche Gotteslehre geht nicht nur nicht über den Glau⸗
ben hinaus, fondern erreiht ihn nicht einmal;
beun ihre Erkenntniß il nur verneinend, falfche Bors
Relungen abwehrend, die Wahrheit reinigend; bie Glau⸗
benserkenntuiß hingegen if beiahend, die Wahrheit ſelbſt
einfhließend.” Mit Recht warnt jedoch der Berfafler vor
dem Borurtheile, daß Die Philofophie nur anf verneinende
Ergebniffe führe; aber er Aimmt darin vollommen
mit den Reformatoren überein, daß, wenn Die Philoſophie
die Grenzen ihres Wiſſens und Korfchend überfchreite
und Alles mit dem Berflande ausdenken und umfaflen
weil, daun ihre Wirkung eine gerftörende werbe, Der
Verfaſſer fcheint and hiernach ber Philoſophie in relis
giöſen Fragen eine bloß formale Bedeutung beisulegen
und ihre Thätigleit ſtreug hierauf beſchränken zu wollen.
Damit erklärt er aber ber modernen gottfchöpferifchen
oder vielmehr geottvernichtenden Weltweisheit offen dem
Krieg. Auch wird ihm kaum ein Philofoph irgend einer
Richtung beipflichten wollen. Die Philefophie wird bie
gegen einwenden: auf eine bloß formale Mirkſamkeit dem
Glaubensinhalte gegenüber befchränft, würde fie alle
Selbſtändigkeit verlieren und wieder zur Schleppträgerin
der Theologie werben. Deun die moderne Philofophie
ſucht ihren hoͤchſten Ruhm darin, bauend und fchaffend
su ſeyn und fie zählt ihre Emancipation von ber Theo⸗
logie zu iheen gelungenften Waffenthaten.
Nichts deſto weniger beruht die Auſicht des Berfafs
ferd auf Erfahrung. Die Xheslogie darf fih von der
Dhilofophie nicht meiftern laffen, am allerwenigfien son
der Philoſophie der Fleifchesemancipation und bed „Ef⸗
ſens, Trinkens und Badens.“ Diejenigen philofophifchen
426 be Mette
Anfchaunungen, welche Die neuere Zeit beherrfchen, find
(mehr populär) beiftifcher oder (mehr mit wifjenichafts
lichen Anſprüchen) pantheiftifcher Ratur. Beide find
durchaus widerchriſtlich, weil fie nicht nur die Erfcheis
nungsform des Ehriſtenthums aufheben, fondern auch die
chriſtliche Geſinnung vernichten. Bon dem Pantkeidnnd
fagt der Verf. fehr richtig (S. 374.), „daß er faſt gar
feine Wurzeln mehr im Chriſtenthume habe und auf einer
demfelben ganz entgegengefeßten Deuts uud Gefühle:
weife beruhe.” Eben fo richtig ift feine Bemerkung, daß
der Pantheismus fehr leicht zu einer gäuglichen firtlichen
Zügellofigkeit führe, weil er alles perfönliche Bewußts
feyn, aled Gemüthsleben durch feine auflöfende Dialektit
zerftört.
Wir künnen ſchon hieraus entnehmen, daß der Ber
fafler feinen Standbpunft im Ölauben felbf nehmen
will, und dadurch ift auch ber Titel bed Buches, wos
nadı das Wefen des chriſtlichen Glaubens vom
Staundpunkte des Slaubens aus dargeftellt wers
den fol, volllommen gerechtfertigt. Der Berfafler bat
fi die Aufgabe geftellt, die fupranaturalififche Anſicht
zu vertreten, ohne ihre Eiuſeitigkeiten und Befchräntt:
beiten zu theilen; ber Glaube ift ihm Hauptfache, das
Weſen der Religion; nur müſſen wir darüber einig ſeyn,
was der Berfaffer unter Blauben verſteht.
Daß er mit dem Blauben nicht den Begriff der äl-
teren Örthoborie und den neuern Orthodoxismus vers
bindet: das läßt und fchon Die vermittelnde Richtung
erratben, welcher der Berfaffer angehört. Schon im
Borworte fpricht er fi gegen „den wieder ermachenden
Scholaſticismus aus, welcher den glänbigen Gemüthern
wieber alte, längit überwundene Menfchenfabungen und
nufruchtbare Spihfindigfeiten aufbringen und den uufeli
gen GSonfeffiondftreit von neuem anfachen wolle” Das
bin gehört auch die Klage, „daß manche Prediger eifrige
!
\
das Weſen des chriftlichen Glaubens ꝛc. 4727
und heftige Neugläubige ſeyen, bie das alte Lutherthum
oder den alten Calvinismus wieder verfündigen” (S.
364.). Ueberdieß hat der Berfaffer das Bedürfniß gefühlt,
feinen Glaubensbegriff gleich in ber Einleitung zu feinem
Merke zu entwideln. Die Berirrungen anf dem Gebiete
der Religton nach der orthodoren Seite hin liegen ihm
namlich hanptfächlidh darin, „daß der Glanbe einfeitig
ale Sache der Erkenntniß geltend gemadt, für das
Gemüth und das fromme Leben in der Kirche dagegen
unfruchtbar wurde.” Diefer Borwurf trifft unftreitig die
alte Orthodorie in vollem Maße. Der Berfaffer ſetzt im
Gegenfaße hiezu fehr einleuchtenb andeinander, daß der
Glaube Herzensfrömmigkeit, Hingabe ded ganzen
Menfchen mit Erkenntnis, Willen und Herz an Ehriftum, den
Schöpfer des neuen Lebens, den Stifter des Reiches Gottes
(8.7.), fey. Er zeigt fo fhön und wahr, wie der rechte
Glaube im Herzen feinen Sig habe, eine Geſinnung
und nicht bloß eine Erfenutniß fey (OS. 8),
dag Ref. hiezu nur feine unbedingtefte Beiſtimmung ger
ben fan. Dabei unterfcheidet der Berfaffer jedoch einen
tbeoretifhen, einen praftifchen und einen ge
ſchichtlichen landen. Ohne die Nichtigkeit ber Unters
(heidung im Allgemeinen in Anſpruch nehmen zu wollen,
ſchien e6 nnd dennoch, ale ob fie einigermaßen verwirs
ten könnte. Nach der Definition des Berfaflerd muß der
Glaube eigentlich immer ein „praktiſches Gefühl” feyn,
und er felbf gibt zu, daß der gefchichtliche nichts Ander
res al6 Die Bollendung des praftifhen Glau—
bene fey. Die Anlage des Werkes brachte ed mit ſich,
daß der Berfaffer vom Glauben fprechen mußte, che von
den gefhichtlihden Heilsthatſachen die Rede
ſeyn konnte, nnd mit bdiefer Anlage hängt auch jene
Unterfcheidung zuſammen. Allein vom chriftliihen Glau⸗
ben Tann doch wohl das Bemwußtfeyn der gefchichtlichen
Heldthatfachen nie. hinweggebacht werden, wenn nit
Theol. Stud. Jahrg. 1847, 29
428 de Wette
zationaliftifche oder gar deiſtiſche Abwege zu beforgen
ſeyn follen. Der chriftliche Glaube ruht auf der Heil
thatfadhe der Erlöfung iu Chrifto, weßhalb uns
auch die (S. 7.) gegebene Definition bed Glaubens die
vollkommen entfprechende fcheint.
Bemerkenswerth ift, daß des Berfafler im gefchichte
lien Glauben ‚einen idealen nnd einen realen
Beftandtheil umterfcheidet, Der Berfaffer will damit fas
gen, ed mühe dem, was als gefchichtlih wahr geglaubt
wird, immer eine allgemein gültige Idee zum
Örunde liegen, und daher mäfle etwas nicht ſowohl bars
um Gegenftand des Glaubens werden, weil ed gejchehen,
als weil es in ſich felbft wghr und heilbringend fen. Es
liegt gewiß etwas fehr Richtiges in diefer Unterſcheidung.
Dennoch fcheint dem Ref, hier einige Gefahr zu liegen,
Die Bedeutung der gefchichtlihen Realität etmad zu vers
kennen. Der Berfafler bat bieß felbft gefühlt, und jeder
Strung dadurch vorgebeugt, daß er fagt, «6 würbe zum
Heile nicht binreichen, wenn das, was das Evangelium
über Gott und dad Berhältnig bes Menſchen zu ihm
lehre, nur au und in fich wahr wäre; erfi dad gebe dem
Blauben die Vollendung, daß in einem Dienfchen Die
Einheit der Gottheit und Menfchheit wirflihe That
face geweien fey. Rur möchten wir ed vorziehen, aus
ftatt die idealiſtiſche Glaubensauſicht von der realiſtiſchen
zu trennen, beide Unfichten zu vereinigen. Die evange
liſche Geſchichte ik zugleich ideal and real; fie faun
nie eined ohne das andere feyn. Das ift gerade das
Geheimniß des Chriſtenthums, daß alle feine Ideen
Thatſachen geworden find, und alle feine
Thatfahen fih für den Blanben wieder in
Ideen umfeten laffen.
Vielleicht könnte einiger Tadel dagegen erhoben wer»
ben — es ift dieß aber, wie fchon bemerkt, in ber Ans
lage bed Werks begründet — daß ber Begriff bes Glan—⸗
dad Wefen des chriſtlichen Glaubens x. 429
bens noch einmal im zweiten Abfchnitte des zweiten
Haupttheiles befprochen wird (S. 385 ff.). Der Berf.
unterfcheidet, wie oben den theoretifchen, praktifchen und
gefchichtlichen landen, fo hier den Offenbarungsglauben,
den Erlöfungsglauben und den Glauben an die Perfon
Ehriſti. Auch hier Liegen fich vielleicht Zweifel erheben,
ob Diefe Unterſcheidung nothwendig oder rathſam ſey.
Kann man den Glauben ſchöner definiren als (S. 885.)
„die gaͤnzliche Entfchiedenheit des innern Menſchen mit
Üebergeugung und Gefiunung für das göttliche Leben,
wie ed im Ghrifto erfchienen if,” und liege in diefer Des
ſinition nicht Eriöfungsglaube und Glaube an die Perfon
Chriſti mit inbegriffen? Dabei möchte Ref. in Beziehung
auf ben Glaubensbegriff des Verfaſſers befonders das
auerfennend hervorheben, daß er die Liebe hinzunimmt.
Im Berlaufe feiner Korfchungen über das Zeitalter der
Reformation iſt es dem Berf, recht Mar geworden, daß
der Proteftantisnus einen Mipgriff begangen hat, ale
er die Begriffe ded Glaubens und der Liebe von einans
der ausſchied und das Heil einfeitig von einem mit
der kLiede in keiner nothwendigen Einheit. ſtehenden
Glauben abhängig machte. Dadurch gewann eben jener
falte Erfenntmißglaude die Oberhand, der die fromme
Geſinnung and der Kirche allmählich verbrängte und die
Reaction des Pietiomus zu einer Wohlthat machte. Der
Berfaffer fagt trefflih von dem Glauben an die Perfon
Jefn Ehriſti: „Dieſer perfänliche Glaube ift eigentlich
erft der rechte Blaube, der üder alle Verſtandesbegriffe
und ſomit andy Aber alle Zweifel erhaben ift; er iſt ganz
Sache des Herzens, immer Entfchiedenheit, mächtiger
Zug der Seele; er fliftet ein Iebendiges Lebensverhältniß,
tnupft Geiſt an Geiſt, vermählt die Seele dem Bräutis
gam. Erik eins mit der Liebe zu Jefu; denn
bei aller Liede, auch der menfchlichen, ift das Bertrauen.
Indem wir ihn als den Wahrhaften, den Reinen, dem,
29 *
N
430 de Wette
der die höchfte Liebe bewiefen hat, lieben, vertranen wir
ihm auch, und unfer Vertrauen ift das hödhfte und ums
bedingte, Glaube zu Bott felbft, weil wir die höchfle
Liebe zu ihm haben und uns ihm ganz in Liebe binge-
ben” (S. 395). Mit Freuden unterfchreiben wir ben
Ausdruck, in den der Derf. feinen Glaubensbegriff zuletzt
sufammenbdräugt ald „die vertrauensvolle, liebende, ans
eignende Hingabe bed ganzen innern Menfchen an Ehri⸗
flum, den Wiederherfteller und zweiten Stifter der Menſch⸗
heit” (S. 396.).
Mit diefer Darftellung des Glaubensbegriffes hängt
nun aber die Anficht des Berfafferd von der heiligen
Schrift genau zufammen, zu welcher wir deßhalb über-
gehen müflen. Iſt der Begriff des Blaubens einmal ent-
widelt, fo kann man der Frage gar nicht entgehen, wos
ber der Glaube denn entfpringe, worauf er ruhe. Daß
ed gefchichtliche Heilsthatfachen find, auf welche der
Glaube feigegründet ift, bat unfer Verf. bereits audges
fprohen. Woher haben wir aber von dieſen Thatfachen
Kenntniß? Die einfache Antwort auf diefe Frage lau
tet: aus der h. Schrift. Infofern, fagt nun andy der
Berf., könnte ed fheinen, „ald ob wir anfern gefchicht-
lihen Slanben aus der Schrift zu fhöpfen hätten, wie
die Rechtöfundigen die Geſchichte des römifchen oder
eined audern Rechtes aus Geſchichtsbüchern fchöpfen”
(S. 33.). Diefe Frage fteht aber wieder mit einer au
dern in der genaueften Berbindung: ob wir in den Bür
ern der h. Schrift (oder auch nur des N. T.) die
Quelle der Blaubendwahrheiten, oder bloß den Ka
non (eine Regel, Richtfchnur) für biefelden befiten.
Nef. muß diefe Frage für eine änßer wichtige halten,
und erlaubt fich, dem verehrten Verfafler gegenüber feine
Anficht offen mitzutheilen, Mit vollem Nechte befämpft
der Verf. eine Anfchauung von ber Bibel, die der. prote
Rantifchen Grundanſicht und dem ganzen Geifte der Bi-
dad Weſen bes chrifilichen Blaubens c. 431
bei wiberfpricht, die unhaltbar geworben ift und nicht
mehr herrfchend werden kann, wenn nicht alle Erfolge
der Wiſſenſchaft ungefchehen gemacht werden können. Der
Berf. nennt dieſelbe (S. 48.) „eine übertriebene und
falfch gewendete Borfiellung vom göttlichen Anfehen der
Bibel, welches, deutlich gedacht, darauf hinaus komme,
daß wir nicht an Gott und Ehriſtum, fondern an bie
Bibel zu glauben hätten” Daß es falſch ift, eine foldye
abfiracte Autorität der Bibel für dad gläubige Bewußt⸗
feyn zwingend madyen zu wollen und auf etwas als uns
trüglihe Wahrheit zu verpflichten, weil es in der
Bibel ſteht: darüber ſollten fih die Gläubigen in uns
ferer Zeit verfländigen können. Wir räumen alfo dem
Verf. ein, daß nuſer Slaube „wicht auf den gefchriebenen
Evangelien und deren unbedingter gefchichtlicher Glaub»
wärdigfeit beruhen kann” (S. 34.), daß nicht einmal die
vollkändige evangelifche Geſchichte Gegenſtand bes
Glanbens ift (©. 35.), daß „auf Forſchung und Nachden⸗
fen beruhende Vorſtellungen von dem Berhältniffe einzels
nen Natnurdinge zu einander nicht (unmittelbar) zur Glau⸗
benswahrheit gehören können” (S. 15.) Wir räumen
ein, daß unfer Seelenheil keineswegs davon abhängig ift,
wie ſich Die „bibliſchen Schriftfteller” das Himmels⸗
gewölbe mit darüber befindlihem Wafler u. f. w. vor»
ſtellen. Wir find alfo in wefentlichen Dingen mit dem
Berf. einig. Allein deffen ungeachtet fehen wir nicht ein,
warum die Schrift nicht in gewiffem Sinne mit gollem
Achte Duelle der Glaubenswahrheit heißen kann.
Quelle fcheint uns nämlidh alles bad zu feyn, woraus
ein Anderes für und abgeleitet wird, Der Verf. bemerkt
ganz richtig, daß der ältefte Chriftenglaube auf münd⸗
licher Ueberlieferung beruht habe, vweiewohl die Einwirs
fung des alten Teſtaments auf benfelben nicht gar zu
Hein angefchlagen werden darf. Allein für uns if die
mündliche Ueberliefernng zurücdgetreten, und der Protes
432 de Bette
ftantiömud hat der Tradition gar keine kanoniſche Auto
rität zuerfannt. Wir haben wohl auch die mündliche
Predigt des göttlichen Worted, den mündlichen Religiond-
unterricht u. ſ. w., allein ber Prediger und Lehrer if
barauf angewiefen, ben Inhalt feiner Mittheilungen aus
der h. Schrift als and feiner Duelle gu fhöpfen.
Uebrigend glaube man ja nicht, der Berfafler, wenn
er die Schrift nicht ald Quelle der Glaubenſwahrheit
gelten laſſen will, wolle darum ihre Autorität herabſetzen.
Er nennt die Kritik eined Strauß rückſichtslos, diejenige
eined Bruno Bauer fredelhaft (S. 34.). Rur if er der
Anficht und glanbt, hierin mit allen ihrer wahren Stel
Iung bewußten Kirchenlehrern einig gu gehen, daß ber
Schrift einzig und allein die Geltung einer Rorm, des
Kanon, der Richtſchnur und Regel der Blaw
benswahrheit zuerfaunt werden dürfe. Nach diefer Aus
fiht wird der Glaube fhou als vorhanden vor
ausgeſetzt, und nur gefordert, daß er nad der Schrift
gemeflen, beurtheilt und nöthigenfalls berichtige werde
(S. 50,). Mehr dürfe von nus nicht verlangt werben,
ale „daß wir unfern Glauben dem Weſen und Geile
nach mit den oberften Regeln und Grundſätzen der heil.
Schrift in Einklang bringen, daß wir und den ehr:
inhalt derfelben in freier und lebendiger Weiſe nad
Maßgabe unferer Faſſungskraft und Dentart zu eigen
machen.” Wir mäflen and bier dem Berfafler in einer
Beziehung vollkommen Recht geben. Die heil. Schrift
in der Weiſe zur Quelle der Glaubenswahrheit zu mar
chen, daß man „über die Kluft ber Jahrhunderte hinweg⸗
fhreitet und die Lehre ber apeoftolifchen Zeit mit allen
ihreu einzelnen Beftimmtheiten ſich aneignet“, iſt ein
burchaud verwerflidged Beginnen. Es hieße das, den alten
Irrthum Carlſtadt's und der von Luther fo derb gezüch⸗
tigten „Schwarmgeifter” vwieberholen. Allein und will
foheinen, dieſer Irrthum ſey noch viel mehr da zu be
dad Weſen bes chriſtlichen Glaubens ꝛc. 433
fürchten, wo wan bie Schrift zum Kauon, als wo man
fie zur Quelle ber Glaubenswahrheit macht. IR näms-
lid Kanon fo viel ald Maß oder Richtfchnur nad muß
alled Andere nad einem vorhandenen Maße gemeflen
werben, fo kommt ed nur darauf an, ob man ed mit
dem Maße genau oder ungenau nimmt Ju dem Bes
griffe des Kanons liegt es gar nicht, daß man un.
fern Ölanden nur dem Weſen und Geifte nad
mit der h. Schrift in Eiuflang zu bringen ſuche. Es if
leicht möglih, daB Jemand den Bucftaben der
Schrift für kanoniſch hAft, und dann wehe dem
Weſen und dem Geiftel Noch mehr: der Berfafler felbft
gibt zu, daB in der h. Schrift ſowohl Kanonifches ale
Nichtkanoniſches enthalten fey, und mithin iſt ed nicht
einmal richtig, die Schrift Kanon zu nennen, indem viel⸗
mehr gefagt werden müßte, in der Schrift befinde fich
der Kanon. Denn kann 3. B. das alte Teftament Richt
ſchnur für nufern Slauben feyn?
Biel weniger Schwierigleiten find mit der Annahme
verbunden, daß die Schrift Duelle des Glaubens fey.
Denn es liegt nicht im Begriffe der Quelle, daß man fie
ganz andfchöpfen muß, oder daß, mern das Waſſer trübe
geworden feyn follle, es nicht gereinigt werden dürfte.
Und wenn die Schrift nicht Quelle if, wo follte denn
diefe Quelle fich finden? Die Tradition, wie ſchon ges
fagt, bat unfere Kicche verworfen; unmittelbare Einge⸗
bangen gibt es nad, ihr auch nicht, und wo fidy Einzelne
ſolcher rühmten, ind fie auch meiſt fehr zweideutigen Ur⸗
forungs gewefen. Wo fol unfer Blaube denn Rahrung
finden, woraus fol er Kraft und Fülle ziehen, wenn
nicht immer wieder aufs neue ans dem Worte Got⸗
tes, das nach dem Berf, (S. 357.) den Kanon bildet?
Und bier ſtimmen wir nun wieder mit dem DBerf.
völig überein, wenn er, feinen früheren Satz, Daß die
Schrift Kanon fey, näher befiimmend, dad Wort Gottes
434 be Wette
von der Schrift unterfcheibet.- Freilich unß auch bier
verhütet werden, daß dieſe Uinterfcheidung nicht abſtract
und fpröde vorgenommen werbe. Sie ift fo alt ale aus
fere Kirche, und der genfer Katechismus hat fie ſchon
(vergl. meine Schrift: das Wefen des Protehantismus,
Bd, L ©. 132.). Allein nie haben unfere Theologen es
fih recht Far gemacht, worin die Unterfcheidung beſt ehe
und wie fie durchgeführt werden könne. Die Gchrift
gleichfam auseinauderbrödeln und fagen: die ſes Stück
it Wort Gottes, und jenes iſt's nicht u. f. w., ſchiene
dem Referenten fchon deßhalb unzuläffig, weil bie Bibel
ein Organismus If und man dem organifchen Leben
fein Glied entziehen kann, ohne ihm Nachtheil zuzufügen.
Entzieht mar ihm gar ein edles Blied, fo kann der Ber,
Iuft Icbensgefährlich werden. Mef. ift der Anfiht, daß
auf die echt reformatoriiche Anſchauung zurüdgegangen
werden muß (ſ. die o. a. Schrift, Bd. I. ©. 225 f.),
wonach Chriftud der Mittelpuntt und concrete Inhalt
der Schrift ift und alled das Quelle des Glaubens (oder
Kanon) für und feyn muß, worin fid) Chriſtus offenbart.
Auch hierin treffen wir mit dem Derf. wieder auf ungefuchte,
höchſt erfreulihe Weife zufammen, indem dad vierte
Hauptflüd des erften Abfchnitted im zweiten Theile feines
Werkes überfchrieben if: „Chriſtus in der heil.
Schrift” (S. 355.) Allerdings hätten wir hier ges
wünfdt, daß dieſer Ehriftus in der Schrift wo moͤglich
bis ind Einzelne nachgewieſen werben wäre, Wir ſtim⸗
men mit dem Berf. auch darin überein, daß er eine
Schriftausiegung nad) der „fogenannten Analogie des
Glaubens“ (S. 56.), und nicht nach den fogenaunten
Drincipien der Dernunft fordert, die bekanntlich am meis
fien im Gebiete der Exegeſe ſchon viel Unvernünftiges
zu Zage gefördert hat. Allein die Analogie des Glau⸗
bene ift noch ein fehr vager Begriff und von der ſub⸗
jectiven Anficht des Auslegers noch fehr abhängig. Da
dad Weſen des chrifllihen Glaubens ıc 435
der Verfaſſer nun auch, mach unferer Anſicht, im volls
tommen richtigen Beſitze des Auslegungsprincipes unfes
ser Kirche fidy befindet, fo hätten wir gewänfdht, berfelbe
hätte ed ald das hriffologifche ausgeſprochen. Das
mit wäre zugleich einem Mißverfländniffe geſteuert wors
deu. Der Berf. fpricht irgendwo vom Fanonifchen Ins
halte der Schrift fo (S. 50.), daß Unkundigere meinen
könnten, «6 fey darunter nur ber Rehriuhalt der
Schrift zu verfichen. Ehriſtus Dagegen iſt der Lebens
inhalt der Schrift. Gerade darum ift und die Schrift
auch Quelle für unfern Glauben, weil fie ihrem chriſto⸗
logiſchen Kerne nad) etwas ganz Auderes als Lehre, weil
fie Geiſt, Leben, Kraft, Weisheit und Wahrheit
Gottes if.
Die Frage nadı der Autorität der Schrift fann aber
natürlich nicht vollſtändig beantwortet werben, ohne daß
die Frage nach ihrer Infpiration mit in Betracht ges
zogen wird, womit überhaupt das Berhältniß der
Kritik zum Schriftinhalte im Zuſammenhange
ſteht.
Der Verf. tadelt ed mit Recht am Rationaliömus,
daß er bei der bloß natärlihen Anſicht von ber
Schrift ſtehen geblieben ſey (S. 63.). Die Übernatürliche
Anfiht anf Jeſum anzuwenden, werde uns nicht bloß
der Glaube der Apoftel und die Kirchenlehre, fondern
unfer eigened Gefühl mahnen. Allein in welchem Zur
fommenhange ſtehen nun die Schriften der Apoflel, die
Evangelien u. f. w. mit der übernatürlichen Anficht ?
Bei Diefem Anlaffe haben wir und gefrent, die Entbedung
iu machen, daß diefe Schriften dem Berf., ungeachtet feis
ned Proteſtes dagegen, dennoch Quellen für den Glau⸗
ben find; denn er nennt fie unmittelbare Quellen
des apoflolifchen Ehriftenthums, und weil Diefes die Ans
eignung und Wiederherporbringung der Offenbarung ſey,
mittelbare Quellen der Offenbarung ſelbſt
436 | be Wette
(S. 357). Daß ber Berf, die alte Iufpirationsichre
ganz bei Seite legt, müſſen wir volllommen billigen,
Seit die reformirte Kirche in der formula consensus die
Sinfpiration der hebräifchen Vocalzeichen als nnträglichen
Blanubensfag für alle Zeiten feſtſtellte: welche Erſchutte⸗
rungen bat biefer Lehrfag erlitten! Was hat und ber
Rationalismus von Infpiration noch übrig gelaffen ?
Daher ift ſchon das Beltreben, deu Begriff nur irgend»
wie wieder wahrhaft ins Leben zu rufen, ihm einige Gel⸗
tung‘ zu verfchaffen, auerfennenswerth. Der Berf. hat
das redliche Beftreben, das zu thun, wenn ed ihm audı
noch nicht vollfommen gelungen feyn follte. Allerdings
ift in feinen Säpen ein gewifles Schwanken bemerklich;
allein wer wollte auf einem Boden nicht ſchwanken, dem
alle Stuben abgegraben worden find? Die Annahme,
daß die nenteftamentlichen Schriftfteller (von den alt»
teftamentlichen iſt gar nicht die Rede) beim Schreiben
einen befondern Beiltand des h. Geiſtes erfahren und
dadurch noch mehr als im Leben vor allem Irrthume bes
wahrt worden feyen, fcheint er zu verwerfen. „Ge
win” — fo lautet fein Urthell — „war ihre Geift beim
Schreiben mehr gehoben und gefammelt als im
andern Uugenbliden des Lebend.” Wenn aber der Berf.
gleich beifügt: „Achnliche® erfahren wir fefbft. Der Au⸗
genblid, wo wir zu reden, zu fchreiben, zu haudeln has
ben, erhebt und mehr, ald wir uns felbft zugetraut has
ben; die Gewalt der Sache, bie wir vertreten, ergreift
und erhebt und Über und ſelbſt. So fühlten ſich auch
die neuteſtamentlichen Schriftfieller, wenn fie fchrieben,
von der Gewalt der göttlihen Wahrheit mehr ergriffen
und gehoben ale gewöhnlich” — fo möchte fi doch das
gläubige Gemüth hierdurch nicht ganz befriedigt fühlen.
Das gläubige Gemüth fühlt fi gedrungen, nicht nur
eine Steigerung ber gewöhnlichen Seelenträfte, fondern
eine ganz andere Seelentraft in den biblifchen
dad Wefen bed chriflliden Glaubens ꝛc. 437
Schriftſtellern vorauszufegen, ein Vorherrſchen bed heili⸗
gen Geiſtes, wie dieß bei andern Menfchen nie mehr
ber Fall war. Diefe ſpecifiſche Eigenthüämlichs
keit des infpirirten Zuſtandes fcheint und von dem Berf.
nicht genng berädfichtigt, und daher if die ſchwierige
Frage burch feine, wenn auch noch fo trefflichen, Bemer⸗
fangen nicht zum Abfchinffe gefommen. Une ſcheint: es
muß in dem infpirirten binlifchen Schriftfiellern allerbing®
eine befondere Thätigleit des h. Geiſt es angenoms
men werden, woburd fi allein Die ſpeeiſtſche Eigen⸗
thüämlichleit ihrer Schriften und ihre Tanonifche Autorität
erklaͤrt.
Dagegen find wir mit dem Verf. ganz einverſtan⸗
den, daß durchg angige „Unfehlbarkeit” nicht ale eine
Wirkung diefed Geiſtes vorausgeſezt werben kann, Die
Infpiration kann nicht weiter audgebehnt werden, ale der
religiöfe Inhalt der heiligen Schriften geht, und wir
müſſen dem Kanon des Berf. Recht geben, baß, „je weis
ter etwad von den Principien abfieht und in das Mittels
bare, Abgeleitete, Angewendete, Befondere fällt, deſto
mehr Recht und Grund vorhanben if, das frei prüfende
Urtheil darüber ergeben zu laflen”, und daß, „was vol
lenbs außer dem glänbig» fittlihen Bebiete Liegt wie
Namen, Zahlen und andere Gebächtnißſachen, gerade wie
bet andern Schriftſtellern angefehen und beurthetlt wer,
den muß” (5. 358.) Nur fcheint und auch bier davor
gewarnt werden zu müflen, daß man den Mittelpunkt
nicht zu fehr einenge, die Peripherie nicht zu fehr aus⸗
dehne. Der Mittelpunkt der Schrift — Jeſus Chriſtus
— dringt mie den feinften Strahlen feines Lichte auch
bis nach der Peripherie, und nur in wenigen Fällen möchte
von vorne herein ausgemacht werden fünuen, daß bier
fin Zufammenhang mit dem gläubig sfittlichen Gebiete
Ratthabe. Daß ed aber unterfhiedlihe Grabe
und Stufen in der Inſpiration gebe, das haben ſchon
438 be Wette
bie Reformatoren, zumal Luther, anerkaunt, unb nur bie
alte abfiracte und barum unmwahre Inſpirationslehre hat
alle Theile der Bibel für gleich infpirirt erklären
Fönnen. So wenig alle Theile eined Organismnd gleich
wichtig, fo wenig find alle Theile der Bibel gleich
infpirirt. ’
Bon hier aus fey nus vergöunt, noch einen Blid
auf das Berhältnig zu werfen, welches. der Verf. zwiſchen
altem und neuem Teflamente vorandfegt, Seiner
Darftellung nach könnte ed leicht fcheinen, als ob er bie
Snfpiration auf die Schriften des neuen Teſtamentes bes
fhränfte. Doc räumt er ein, daß die altteftamentlichen
Bücher in einem gewiffen Sinne kanoniſch feyen.
Im neuen Teſtamente liege nämlich der Kanon, nad, welr
chem wir bas alte Teſtament gu meſſen haben, unb das⸗
jentge fey in diefem kanoniſch, was dem Kanon des neuen
Teſtaments entſpreche (S. 366.) Damit fcheint und
jedoch die felbftändige Eigenthümlichkeit des alten Teſta⸗
mentes etwas zu fehr zurüdgefeßt; auch will und bedün⸗
fen, der Sag laſſe ſich nicht wohl Durchführen, daß bad
nene Teſtament ber Kanon des alten Teſtamentes fey.
Wir können uns wohl beufen, wie das vorangehende
Urfprüngliche, 3. B. das apoflolifche Ehriftenthum, Kanon
für alles Nachfolgende feyn kann. Der Höhepunkt einer
Entwidelung ift Kanon für jeden künftigen Fortſchritt
auf demfelben Gebiete. Wie aber die Fracht Kanon ſeyn
konn für die Blüthe, ift weniger deutlich. Im alten Te
ftamente fcheinen uns die Blüthen und Keime des neuen
Teflamented. Es ift noch Alles umentwidelt, vorbildlich,
“ Ahnung und Hoffnung. Ehriſtus ift noch verhält unter
den Wollen des Eeremonialgefeges; ber Geiſt des Zorned
ſcheint den Geiſt der Liebe gleihfam zu bannen. Das
alte Teftament fcheint und, organifch gewärbigt, eine
große gebeimnißvolle Weiffagung anf den,
der da kommen follte, den Rath Gottes zu erfüllen. Sur
dad Weſen bes chrifllichen Glaubens ı. 439 i
fofern hält es den Vergleich mit ber Erfüllung auf Tel
nem einzelnen Punkte aus, fo wenig bie Morgendämmes
rung den Bergleich mit der vollen, Haren Mittagefonne
aushält. Der bämmernde Morgen muß als etwas für
fih betrachtet werben; er hat feine eigenthämliche jung:
fräulihde Schönheit, Diefe moͤchten wir auch dem alten
Teſtamente zuerfannt wien. Das Studium des alten
Teſtamentes ift auch wie ein Wandeln im Frühroth bes
Morgens; man ahnt dad Werden des Tages und bie
Nengeburt einer Heildzufunft. Das Heil ift aber nirgends
ſchon da, und das war ein Fehler und eine Uebertreibung
der alten orthodoxen Schule, daß fie die fpecififche Eis
genthämlichleit des alten Teſtamentes verfaunte und es
mit dem neuen zufammenwarf. Wir bringen auf nichts
Anderes, ale daß dieß Eigenthümliche anerfannt, in feiner
organifchen Schönheit und feinem höheren Zufammens
bange mit dem neuen Teflamente gewürdigt werde, Dars
um möchten wir allerdings die Juſpirirtheit des alten
Teſtamentes nicht auf die gleiche Stufe mit derjenigen
des neuen Teſtamentes ftellen, wie ja auch die Morgens
dämmierung nicht fo viel Licht von fi ſtrahlt als bie
Mittagsſonne.
Mit der Frage nach der Antorität der Schrift über⸗
haupt iſt diejenige nach der Kritik unb Echtheit
ihrer Bücher aufs Nächſte verwandt. Kein wiſſen⸗
fhaftlicher Theologe wird dem Gap des Berf. zu wider
fprechen wagen, daß diefelben „mit ihrer Sprache umd
ganzen übrigen äußern Geſtalt in das große Gebiet des
Schriftſtellerthums und der alten Sprach» und Schrifts
tunde (Philologie) fallen uud der Grammatik, Kritik
und Auslegung unterworfen werben müflen” (S. 359.).
Allein eben fo wenig verkennt der Berf., daß bie Bücher
der h. Schrift nicht nur vom natürlich en Standpuufte
and geprüft und ausgelegt werden können. Die große
Berirrung des Rationalismus in Beziehung auf Exegefe
>
240 de Wette
und biftorifche Kritik beſteht in nichts Anderem, ale daß
er diefe Bücher wie audere litterarifche Erzenguiffe ber
handelte und fih bach Aber fie erheben zu dürfen
meinte, anflatt fih in Diefelben zu vertiefen. Der
Rationalismus hielt und Hält es noch für vernünftig,
feinen Maßſtab an die h. Schriften mitzubringen und
ihren Juhalt nad demfelben zurechtzulegen; wir halten
ed für vernünftig, dieſen Mapftab aus den h. Schriften
ſelbſt zu entnehmen und fie in dem Geiſte anszulegen,
der ihnen eigenthümdlih if. Der Berf. fagt hierüber
fehr ſchön und wahr: „Das allgemeine und zwar höchſte
Gefet der Auslegung, daß jeder Schriftſteller aus ſich
felbR und aus dem Beifte feines Volkes und feiner Zeit
esttärt werden muß, bringt in feiner Anwendung auf Bie
nenteſtamentliche Auslegung die Forderung mit fi, Daß
der Undleger diefer Schriften ſich mit deren Berfaffern
in geiflige Beziehung und Verwandtſchaft ſetze und fich
durch innige Bekanntſchaft mit ihnen den Brit aueigne,
in dem fie lebten und fchrieben” (S. 359.). Wir möchten
und dabei erlauben, auf eine Regel ber Uudlegung aufs
merkſam zu maden, bie vielleicht in den Morten des
Berf. mit enthalten ift, aber andy verdient, noch deſon⸗
ders hervorgehoben zu werben. IE nämlich die Lieber,
jeugung won der Jufpirirtheit der bibliſchen Schriften vor»
handen, fo, fcheint uns, hat der Audleger vor Allem den
Beik der Demuth nöthig. Auch der Ausleger vom
Drofanfchriftitelern kaun diefen Geiſt nicht ganz entbeh⸗
zen, weil er fon leicht in oberſlaͤchliches Abſprechen vers
fat. In viel höherem Maße bebarf jedoch des biblifche
Undleger deſſelden. Deun er geht an die Auslegung von
Shriften, bern Geil er ſich mit dem Herzen und ber
Geſinuung zu unterwerfen hat, die er nicht nach Belieben -
uud Willlar modeln darf, in Denen er bie höchſte mittel-
bare Offenbarumgsquelie Gottes verehren fol, Wäre die
Andlegung immer mit biefem bemüchigen Geiſte au die
das Wefen des chrifltichen Glaubens x. 441
heiligen Schriften heramgetreten, fo hätte bad Leben Jeſu
eined Strauß und die Evangelienkritik eined Br. Bauer,
von anderen Prodnucten eregetifcher Hoffart nicht zu ſpre⸗
chen, nie in Ber Art entfichen können, wie wir eö erlebt
haben.
Was nun die Kritik der Echtheit der bibli
fhen Schriften betrifft, fo behält auch hiex der Ver⸗
faffer mit vollem Rechte der Wiflenfchaft dad Recht ber
- Prüfung vor. „Diefe Prüfung”, fagt ee (S. 360.), „iR
ſchlechterdings nothwendig, wenn wir uns die Wahrheit
der Geſchichte unſeres Glaubens und unferer Kirche ver»
hen und und nicht einem blinden Ueberlieferungs⸗
glauben bingeben wollen.” Go wahr dieß ik und fo
wenig Ref. die Kritik fchent oder fürchtet, fo glaubt er
doch, daß bie Mefultate berfeiben eine Zeitlang in der
evangelifhen Kirche überfhäßt worben find. Bis auf
dieſen Augenblick iſt es nicht gelungen, von irgend. einem
biblifchen Buche nachzuweiſen, daß es feiner Stelle in der
Sammlung kanoniſcher Schriften nuwürdig fey; und weis
den Eindruck würde das auf das chriftliche Bell hers
vorbringen, wenn die Wifenfchaft der Kische zummthen
wollte, auch nur das Eleinfte und unbebeutendfte diefer
Bücher aus deu Kanon zu flreihen? Der Verf. ſieht
das ſelbſt vollkommen Kar ein, und wir möchten die allzu
fenrigen Verehrer der biblifchen Kritik um fo nachbrüds
licher auf defien Urtheil verweifen , ald er mit Recht bet
erke biblifche Kritiken unſerer Zeit genauut zu werden
verbient ; ben keiner hat mit ber größten Schärfe und
Feinheit des Urcheild eine folche Umficht und Befonnens
heit verbunden, wie bieß beſonders in den leuten Ads
gaben der bibkifchen Einleitungsfchriften des Verf. her»
vortritt. Er fagt nämlich (S. 360 F.): „Wie and das
Ergebniß der Mrisifchen linterfuchung Aber Berfafler und
Entſtehnugszeit einer nenteflamentlichen Schrift ausfallen
möge, immer bleibt ihr der Wersh einer Hervorbringung
442 . de Wette
bed apoſtoliſchen Zeitalters und einer Darftellung des Ur⸗
chriſteuthums und der Befchichte beffelben; nur baß fie
vieleicht der Dffenbarung nicht fo nahe zu ſtehen kommt
al& nach der gewöhnlichen Anſicht. Keine diefer Schriften
ift verwerflihh oder ihrer Stelle in der heil. Sammlung
unwördig.” Dagegen möchten wir diejenigen einigermas
Ben in Schuß nehmen, die eine gewifle Scheu oder Furcht
vor den Anftrengungen haben, welche die Kritik in unferer
Zeit macht, um ben neuteflamentlichen Schriften möglichf
die Baſis ihrer gleichzeitigen Entſtehung mit ben Heils⸗
thatfachen felbft gu entziehen. Bor der Wahrheit haben
wir und gewiß niemald zu fürdıten, aber vor der Ent
fellung der Wahrheit. Und daß es für das chriſt⸗
liche Bewußtſeyn gleichgültig fey, ob die heiligen Schriften
Producte der apoftolifhen Zeit ober des zweiten Jahr
bunberts nach Ehrifto feyen, köunten wir niemald zugeben.
Es ift fehr wahr, wenn der Verf. fügt, „der chriſtliche
Glaube fey nicht, wie ber jüdifche, ein Schriftglaube,
fondern ein Geifteöglanbe” (S. 300.. Der Berf. fühlt
fih aber auch gebrungen, hinzuzuſetzen, der chriſtliche
Blaube fey ein gefhidhtiiher Glaube, ber auf That
fachen berube. Es kaun daher für die Eutſtehungögeſchichte
unfered Blaubend nur von großem Werthe feyn, zu wiſ⸗
fen, daß diefelbe durch Augenzeugen ober gleichzeitige
Nachrichten une verbürge ift, und jeder Ehrift ift bei der
Unterfuchung über die Echtheit der biblifchen Schriften
in diefem Sinne mit feinem Glauben betheiligt. Das Br
ſtreben einer jungen theologifchen Schule, gerade biejeni«
gen der neuteflamentlidyen Schriften, bie für die Glaub⸗
würdigkeit der evangelifchen Thatſachen von größter
Wichtigkeit find, ale Producte des zweiten Jahrhunderte
nachzuweifen, Tcheint und „anf dem Standpunkte bed
Blaubens” ein nicht ungefährliched. Sollte ed dieſer Schule
gelingen, mit ihren Anfichten durchzudringen, fo würde
bie gefchichtliche Glaubwürdigkeit des Chriſtenthums ger
: dad Wefen des chrifllichen Glaubens ꝛc. 443
fhwädt, und diefe zn fchwächen, liegt auch in ihrer Ab⸗
fiht, Dadurch müßten ber Kirche wenigftend vorüber,
gehende Berlegenheiten bereitet werben, Allerdings nur
vorübergehende. Denn wir müflen dem Geiſte der Wahrs
heit, der und von dem Herrn verheißen ift (Joh. 14, 26),
vertrauen, und infofern die Befürchtungen der Ortho⸗
dorie einen Mangel an Glauben burchbliden laffen, find
fie zu verwerfen. Jedoch möchten wir auch bier an uns
fern Kanon von der dDemüthigen Scriftansiegung
erinnern. Geit Jahrhunderten hat die Kirche die heiligen
Schriften anerlannt; wir fagen nicht, dieß fey ein bins,
läungliher Brund, um ſie auch ferner anzuerkennen,
aber ein bonum praeludiclum muß eine ſolche Jahrhunderte
lange Zuftimmung dennoch erweden, und würde dieß
auch ſchon auf dem bloß juriftifchen Gebiete. Darum
möchten wir auch den Glanben nicht unter jeder Bebins
gung „biind” nenuen, ber in ber Firchlichen Ueberliefe⸗
rung einen Grund für bie Glaubwürdigkeit der biblifchen
Schriften findet. Das chriftliche Bolt wird immer fo
glauben, da man ed dem einfach Gläubigen nicht zus
muthen Bann, biblifcher-Exeget und Kritiker zu werben.
Und auf der anderen Seite hüte man ſich aud vor einer
Hyperkritik, die eben fo blind, eben fo leidenfchaftlidh
eingenommen für ihre angeblihen Refultate werben kann
ald die Hyperpiftid. Wir glauben, and) im dieſer Bezie⸗
bung dem Berfaffer aus dem Herzen zu fprechen, ber
ſelbſt am „Heften bewiefen hat," daß man Kritiker jeyn
kann, ohne Hyperkritiker zu werben.
Die Antorität der Schrift wird aber in unferer Zeit
nicht nur binfichtli der Außeru Glaubwürdigkeit in
Anfpruch genommen; beinahe noch wichtiger möchten die
Einwärfe feyn, welche man von Seiten ihrer innern
Glaubwurdigkeit gegen fie- erhoben hat. Es muß unfere
Theilnahme erweden, zu wiſſen, wie fich der vermittelnde
Glaubensſtandpunkt des Berfaflerd auch in eieier Bezie⸗
Theol. Stud. Jahrg. 1847.
444 be Weite
hung geltenb macht. Befonderd die neuere Natur
wiffenfhaft, nicht zwar in allen, aber in den meiften
ihrer Bertreter, iſt in einen bedenklich fcheinenden Con»
fliet mit der heiligen Schrift getreten. So tft z. B. bie
Schöpfungsgeſchichte vielfach von der Naturwiflenfchaft
angefochten worden, mwiewohl in neuerer Zeit die bibltfche
Borftelluug wicher namhafte Bertheidiger gefunden hat,
Der Berf. hält es für unnöthig, die Schöpfungsgefcdhichte
zu einem Gegenflande der Apologetik zu machen. „ Denn,”
fagt er (6. 87.), „Alles, was von diefer Art iſt, was die
Berhältwiffe der Naturgegenkände zu einander, Die Weifſe,
wie fie einander bedingen, ihre frühere oder fpätere Ent⸗
ſtehung bettifft, ſchlägt in die Naturwiſſenſchaft ein;
and über Bas Wahre oder Falſche in diefem
Gebiete entfcheidet allein bie au der Hand
der Erfahrung gehende Forſchung.“ Aus die
ſem Grunde fügt der Berf. im Weiteren: „Wir mifchen
und in diefen Streit nicht, den das Intereffe bes
Glaubens nichts angeht, ba ja diefer feiner Ra
tur nad zwar an und mit Raturerfeuntnig zum Be
wußtfenn Tommt, aber von dieſer ſelbſt verfchieden if.”
Gewiß hat darin der Verf. Recht, daß der heil. Schrift
Keller nicht den Zweck hat, Naturkunde zu Ichren, fondern
die hohe und ewige Glaubendwahrheit zur Aufchauung
beingen will, daß Gott der Schöpfer von Allem fey. Ber
fonders damit aber berührt er einen wichtigen Puublt,
wenn er bie Jugendlehrer davor warnt, den Zwiefpalt
zwifchen dem Glauben und Willen gu pflanzen und zu
nähren, inbem fie bad, was in die Naturkunde einfchlägt,
als göttliche geoffenbarte Wahrheit geltend machten und
dadurch ihre Zöglinge im Die Sefahr brädkten, einfk, wenn
fie Naturwiſſenſchaften findierten,, an der h. Schrift irre
zu werden. Nur könnte hierauf erwidert werden, daß
biefer Zwiefpalt in unferer Zeit nichts Gemachtes, fon
dern etwas Gewordenes ift und in noch tieferen Urſa⸗
das Weſen des chriftlichen Glaubens ꝛec. 445
hen begründet liegt. Allein immerhin iſt es bedenklich,
wenn man den Gläubigen in unfeser Zeit allzu große
kaſten aufbürdet, und felbft Männer wie Thierfch haben
neulich warnen zu müfjen geglaubt, daß man die Bew
pflichtang sum Glauben nicht allzuweit ausdehne. Wir
lönnen und zwar einen Slauben denten, dem auch bie
Schöpfungsgefchichte in der erzählten Form Glaubendr
gegenftand geworden ift, und es wird fogar ſchwer hal
ten, im Volke einen andern ald diefen Glauben zu pflaus
gen. Für unsichtig muß es aber immerhin ‚gelten, wenn
das Heil der Seele oder die Seligfeit von dem Glauben
an Außere Naturereigniffe abhängig gemacht wirb, und
fehr gut fagt der Berfaffer, „man koönne deu Phyſikern
für ihre Erforſchung der Entftehung der Dinge, der Erde
u. ſ. w. freien Lauf laſſen und doch den Glauben au
den Schöpfer ungekränkt erhalten” (S. 89 ff.). Deunoch
find wir aber der Anficht, daß die Naturwiſſenſchaften
vom Standpunkte bed Glaubens aus eine audere Mes
haubiung erfahren ald von demjenigen des Unglaubens
aus. Auch möchten wir es der Theologie nicht gang ver⸗
denfen, wenn fie zu manchen Naturforfchern Fein unbe⸗
dingtes Zutrauen hat. Wer die Bibel von vorn herein
für ein Erzeugniß des bloß menfchlichen und natürlidden
Geile hält, wird ihre Ausſagen über die Natur und das
Berhältnig derſelben zum Geifte weit geringfchäßiger bes
urtheilen , ald wer fie ald ein Werk des göttlichen Geis
ſtes kennen und verehren gelernt hat. Und das wirb
leider eingefiauden werben müflen, daß fehr viele Natur⸗
forfcher fich Über die natürliche Anficht der Dinge nicht
erheben und am allerwenigiten die {bee der göttlichen
Immanenz, die unferem Berf. fo viel gilt, zu würdigen
verliehen. Wenn wir daher die Refultate der Naturs
wiffenfhaft nicht verbammen wollen, follten fie auch von
der Bibel abweichen, fo wollen wir es doch sben fo wenig
80 *
46 de Bette
loben, daß die Raturforfchung im Allgemeinen religiös
indifferent geworben ift.
Der Stanbpuntt des Glaubens fann aberdieß auf
einem Punkte nicht ausweichen, mit dem mobernen
Standpunfte der Naturwiſſenſchaften in Conflict zu kom⸗
men. Wir meinen dad Wunder. Lieber keinen Gegen⸗
ftaud ded Glaubens bar dad moderne Bemußtfeyn rück⸗
fihtelofer den Stab gebrochen, als über diefen, und man
Fönnte in einem gewiflen Sinne fagen, bie gauze religiöfe
Gtreitfrage komme im Grunde baranf hinaus, ob «6
Wunder gebe oder.nicht. Man erzählt von Mirabeam,
er habe in feinem fiebenten Jahre, ald davon die Rebe
war, ob Bott auch Diuge machen Lönue, bie ſich wider,
fprechen, wie 3.8. einen Stod, der nur ein Eude hätte,
gefragt, ob nicht ein under ein Stod mit einem Ende
wäre. Go kindiſch wie von dem fiebenjährigen Mira,
beau wird von dem modernen Standpunkte über das
Wunder geurtheilt. Es ift fehr erfreulich, daß der Berf.
dem modernen Bewunßtfeyn bier furchtlos entgegentritt,
wo ed feine mächtigſte Waffe gefchmiebet zu haben glaubt.
Neben dem gewöhnlichen Schaffen Gottes innerhalb der
beitehenden Naturordnung nimmt er nämlich auch noch
Fälle an, „wo wir theild durch die nnaureichende Kennts
niß der Mittelurfahen, theild durch das Ungewöhnlidye
und Außerordentliche einer Erfcheinung in der Natur
und Gefchichte uns bewogen fühlen, mit Ausfchluß ober
doch Befchränfung oder Befeitigung der uatürlichen Ans
fiht und der nach ihr zu erfennenden oder vorauszu⸗
fegenden gewöhnlichen Mittelurfadhen, an Gottes freie
Shöpferthätigkeit allein zu denken, ober eine anßerors
deutliche menfchliche Geiſtes kraft als Urfache außerorbents
licher Wirkungen anzufehen und das, was man Wunder
nennt, zu glauben” (5. 90.) Allerdings beſchränkt der
Derf. feine Anſicht dadurch, daß er dem Wunderglauben
die Anerkennung feiner Allgemeingültigkeit verfagt nnd
dad Weſen des chriflliden Glaubens x. 447
als Regel fefthält, daß Gott fi der Mittelurfachen ber
diene. Die einzige Art von Fällen, mo er Wunder ans
nimmt, gehört ihm in die Gefchichte der Offenbarungen
Gotted. Er nimmt alfo an, daß Ehriftus und die Apo⸗
fill Wunder gethan, oder vielmehr daß Gott dergleichen
au ihnen, für fie und Durch fie gethan habe,
Es fcheint une der Berf. befonders darin den volls
kommen richtigen Weg eingefchlagen zu haben, daß er
von dem geiftigen Wunder ausgeht und hieran dem
Sad knüpft, daß, wer die geifligen Wugber annehme,
wegen des innigen Zufammenhanges zwifchen bem Geiſte
und der Natur and zur Annahme von phyfifchen Wun⸗
dern geneigt ſeyn werde (S. 91.) Wir dürfen uns
das Wunder niht anders als durch den Geiſt
vermittelt Denken. Der gegründetfie Einwurf, den
das moderne Bewußtfeyn gegen das Wunder madıt, bes
ſteht darin, daß ed Gottes unwürdig fey, die gewöhn⸗
Iihe Naturordnung durch Wunder geftört, aufgehoben,
flilgeftellt zu denken. Der Berf, verwirft auch, und mit
vollem Rechte, diefen falfhen Wunderbegriff gänzlid. Er
fagt hierüber: „Der Ausichluß von gewöhnlichen Raturs
3. B. Heilmitteln iſt noch Leine Störung der Naturords
nung; die Auferwedung vom Tode kann, ohne einen ges
wöhnlihen Scheintod anzunehmen, fo gedacht werden,
daß in dem erflorbenen Organismus doch noch ein Les
benskeim fchlummerte, der wieder angefacht wurbe u. f. w.“
Sp dent ſich der Berf. die Auferweckung Jeſu Chriſti
als einen „höheren Lebensproceß“, mithin als etwas in
höherer Weife Natürliches, den gewöhnlichen Naturvers
lauf nicht Durchbrechendes, fondern Ermweiterndes, was
im Zufammenhange mit der großen, durch und in Ehrifto
gefchehenen geiftigen Bewegung und fittliheh Entmwidelung
der Menfchheit zu denken fey (S. 92 ff.).
Damit hängt nun aber aufs genauefte bie Frage
zaufammen, welche Bebeutung bem WBunderglauben auf
248 ri be Wette
dem Glaubensſtandpunkte des Berf. zukomme Man
muß nun gefteben, daß diefe Bedeutung nicht hoch ans»
gefchlagen wird; denn ber Verf. wünfcht, daß ber Wun⸗
derbeweis für die Göttlichkeit des Chriſtenthums von Der
Apologetik jegt ganz aufgegeben werden möchte (S.30T.).
„Er bat,” fagt er, „an fi wenig Werth, weil ber
Wunderglaube wenig Werth hat; jegt aber, wo er eher
dem Zweifel, ald der Empfänglichkeit begegnet, kann
er gar nicht mehr fLattfinden. Was dem Zweifel
bloßgeſtellt iſt, kann nicht zur Befeftigung des Glaubens
dienen, welcher das Zweifellofefte von Allem feyn fo.”
Der Berf. erinnert hierbei an die allerbinge nicht zu vers
fennende Schwierigkeit, die philofophifchen Zweifel gegen
die Möglichkeit der Wunder zu entfräften und die Glaub⸗
mwürdigfeit der evangelifchen Berichte bie ine Eine
zelne hinein ficher zu ſtellen. „Und auf einen fo unſi⸗
hern Erfolg,’ vuft er aus, „wollt ihr ten Glanden
gründen, deffen Werth und Kraft allein darin beficht,
daß er das Gemüth feſt und ruhig macht?”
Man ſollte demnach meinen, der Verf, fpreche dem
Wunderglauden für unfere Zeit alle Bedentung ab.
Das tft aber nicht der Fall. Auch könnten wir allerdings
den Sat bed Verf, daB, wad dem Zweifel bloß⸗
geftellt fey, nicht zur Befefigung des Glau⸗
bend dienen könne, nicht für zuläſſig halten, Die
Zweifelfucht hat in unferen Tagen Leinen einzigen Glau⸗
bensſatz verfchont; fie bedroht dad ganze Ehriftenthum
mit Vernichtung; was vor hundert Sahren noch für uns
antaftbar galt, ift jebt Gegenſtand des Zweifels, ſelbſt
bed Spotted geworden. And doch gründen taufend Ges
mäüther den Krieden ihred Herzens, ihre geitliche und
ewige Hoffnung darauf, und dad, wad Andere mit dem
Zweifel benagt und aufgelök haben, ſteht ihnen fe wie
die Berge Gottes. Es gehört zu dem merkwürdigen
Gegenfaße, der unfere Zeit zerfpaltet, dog, während
dad Weſen des chrillihen Glaubens ı. 449
man den Einen durch Aufbrangen bed Munderglaubens
noch den letzten Reſt ihres Chriſtenthums rauben, man
den Audern durch Auflöfen des Wunderglaubene bie Voll⸗
traft ihrer chriſtlichen Ueberzeugung zerſtören würde.
Dieſes Letztere darf man zumal vom „Standpunkte des
Glaubens“ and nicht unbeachtet laſſen, und wir erken⸗
nen darin die Umſicht und edle Gewiſſenhaftigkeit des
Verf. daß er ſelbſt ſagt: „Demungeachtet hat der Wun⸗
derglaube ſelbſt in nuſerer Zeit, für unſer Bolt und ſo⸗
gar für die Gebildeten und Denker nicht alle
Bedeutung verloren, und anf die an letztere ges
richtete Frage, ob fie wollten, daß die Evangelien eine
Bunder enthielten, dürfen wir ficher eine verneinende
Autwort erwarten. Mad wären das doch für heilige
Urkunden, in denen Alles fo natürlich herginge, wie
etwa in der Geſchichte Eatber’s?” (5. 308.).
Wir können ſchon aus letzterem Grunde mit dem
Verf. nicht recht Übereinkimmen, daß der Wunderbeweis
für unfere Zeit alles apologetifche Intexefle verloren habe,
und und will fcheinen, mit dem Ausſpruche, daß zum
Begriffe Heiliger Urkunden das Wunder gehöre, habe
der Berf. felbft Die apologetifhe Bedeutung bee
Wunders anerkannt. Bei manchen Zweiflern mag
der Zweifel zunächſt aus dem Mahrheitöfinne entſprun⸗
gen ſeyn; bei fehr Bielen hat er einen weniger fitts
lihen Urfprung. Warum geben fi die Gegner des
Chriſteuthums fo viele Mühe, den Wunderbegriff aufgus
iöfen und befonders die von Ghrifto erzählten Wunder
ig Mythen zu verwandeln? Wenn ed fich hier nicht
darum handelte, ein Bollwerk des Glaubens zu ſtürzen,
würde man fo viele Mauerbrecher ber Dialektik in Ber
wegung feßen? Der Berf. hat nadı unferem Dafürbals
ten ganz das Richtige getroffen, wenn er ſich dahin aus⸗
fpriht, mit der Anflöfung des Wunderbegriffes in den
heiligen Urkunden würde benfelben ber Charakter des
450 de Wette
Uebernatürlichen, Goͤttlichen, Geheimnißvollen entzogen,
Es fagt und eine innere Stimme — diejenige einer ex»
leuchteten Bernunft —, daß neue Sottedoffenbarungen au
die Menfchheit fih nicht an deu gewöhnlichen Naturver⸗
lauf anfchließen können, fondern über denſelben
hinausgehen müffen. Rur wer überhaupt au feine
außerordentliche @ottesoffenbarungen glaubt, wer Die
natürliche Weltanfiht für die einzig mögliche hält, wer
völlig auf alle religiöfe Weltbetrachtung verzichtet hat,
wird auch das Wunder für unmöglich erklären Aus
dDiefem Grunde fcheint dem Ref. die Frage nach ber
Möglichkeit und Wirklichkeit ded Wunders eine ber wich⸗
tigften theologifchen Zeitfragen. Auf den Wunbderbegriff
verzichten, fcheint ihm fo viel zu beißen, als auf eine
übernatärliche Weltanficht verzichten.
Bon hier aus iſt die Beantwortung der Frage leicht,
ob der Wunderbeweis auch für unfere Zeit noch ein apos
logetifched Intereſſe habe. Dem Ref, nämlicd, fcheint er
das apologetifche Intereſſe im höchſten Orade iu Anfpruch
zu nehmen. Das Wunder muß gegen bie Angriffe des
philofophifchen Zweifels vertheidbigt werben; dieſe Bers
theidigung unterlaffen, hieße fo viel ald die Schwäche
bed Wunderſtandpunktes eingeſtehen. Der Berf. madıt
übrigens auf treffende Weiſe die Urſache bemerklich, was
sum das philofophifche Zeitbewußtfeyn für den Wunder
beweid unempfänglich if. „Der philofophifche Stand»
punkt,” fagt er, „if nicht der gläubige, und ber Philes
foph als folcher befinder ſich nicht in ber gläubigen
Gefühlsſtimmung, welche zur Beantwortung der Wun⸗
derfrage erforderlich if” CS. 00.). Die Apologetik ſcheint
Ref. hiernach zuallervörderſt die Aufgabe zu haben,
dem Dhilofophen die Einfeitigkeit feines Standpunk⸗
ted nachzumeifen unb ihm begreiflich zu machen, daß
ihm ald wahrem Philofopben auch die Pflicht obliegt,
ſich auf den religiöfen Standpunkt zu verfegen und in
daB Weſen deö chriſtlichen Glaubens ꝛc. 451
dieſen hineinzugehen. Sind wir doch über die Vor⸗
Relung hinweg, daß die Philoſophie die Welt erſchaffe;
ik es doch genug, wenn fie die ſeyende Welt nur bes
greift und ihrer bewußt wird. Zum Begreifen und Bes
wußtwerden gehört aber, daß man über die Dinge nicht
abfpricht, nicht mit Borurtheilen an fie herantritt, fons
dern mit Liebe fich in fie verfentt und mit dem inneren
Sinne fie fih aneignet. Darf man der berrfchenden
Philoſophie nachrähmen, daß fle das mit dem Wunder
gethan hat? Oder ift fie nicht vielmehr — die angeblich
vorausfeßungelofe — mit der Borandfegung an das Wun⸗
der gegaugen, daß daffelbe etwas Unmögliches ſey
und darum um jeden Preis vernichtet werden müſſe?
Gerade der Berf. fcheint nnd auch hier der Apolo⸗
getik die richtigen Fußtapfen vorgezeichnet zu haben, und
weru er einerfeitd die Zwedmäßigleit ded Wunderbewei⸗
ſes für die Apologetif beftreitet, fo hat er fie anderer,
ſeits durch die eigenen apologetiſchen Grundfäge,
weiche er aufftellt, wieder beftend empfohlen. Er gebt
sämlih davon aus, daß „die Offendarung der Erfcheis
nung Jeſu Ehrifti ale des ſündloſen, untrüglichen, voll⸗
fommenen Menſchen dad erfte und Hauptwunder fey,
von weichem alle anderen abhängen” (S.308.). „ Dabei,”
fährt er fort, „„entfcheidet ed fi, wer mit uns hält, und
wer nicht. Wer nicht an diefed Wunder glaubt, wit
dem laſſen wir und gar nicht auf den Glauben an Zefa
Bunder ein, fondern fuchen ihn allererfi wo
möglich zu überzeugen, daß er an ihn felbft und
feinen heiligen Eharakter glaube” Iſt es dem Apolos
geten gelungen, bier feſten Pofto zu faflen, fo ift ed auch
nicht mehr fo fchwierig, weiteres Terrain zu erobern,
Ehe wir aber bie den Wunderbegriff ded Berf. bes
teeffende Prüfung weiter fortfeßen, müffen wir und ums
jehen, auf welchen Punkte wir angelangt find. Unſtrei⸗
tig hängt, von hier aus betrachtet, die Frage nach dem
452 ve Wette
Wunder mit einer höheren: nach der Perſon Ehriki
überhaupt zufammen, amd es iſt unmöglich, die erſte ohne
bie zweite zn erledigen. Es fragt ſich alfo, welchen Bes
griff der Verf. mit Jeſu Perſon verbinde, In dieſer
Beziehung mäflen wir eine Eigenthumlichkeit des Verf.
darin finden, daßerSefu wahre und volle Menſch⸗
beit old den Hauptpunkt des ganzen chriftlichen
Glaubens, die Bermittelung und Verwirklichung
der höchſten Ideen darſtellt (S. 200.). Damit gibt ber
Derf. felbft zu, daß die natürliche Anficht, die er
font immer neben der übernatürlichen geltend macht, iu
diefer Beziehung für den Glauben ſelbſt nothwendig, je
ein Theil von ihm werde. Daß das wirkliche Menſch⸗
ſeyn Jeſu Ehrifi den Gnoftitern alter und neuer Zeit
gegenüber mit aller Kraft geltend gemacht werden muß,
darin hat der Berf. vollkommen Recht; in einem gewil:
fen Sinne möchten wir ed fogar der katholiſchen Kirche
ded Mittelalters zum Hauptvorwurfe machen, daß fie
Ehriſtum nicht ald wirklichen Menfchen zu begreifen ver
mochte und aus diefem Grunde allmählidy den geſchicht⸗
lichen Zuſammenhang mit dem apoftolifchen Chriſten⸗
thume verlor. Dagegen fcheint und aber der Begriff
der Menſchheit Ehrifti dennoch zu dürftig uud wohl
zur Abwehr des Gnoſticismus, aber nicht des Ebioni⸗
tismus in der Kicche geichidt. Das fühlt der Verf. ſelbſt,
wenn er zugibt, daß Manche mit feinem Satze ſich widt
zufrieden geben werden. Auch ift der Berf, keineswegs
einer ebionitifchen Anſchauung von Ehrifti Perfon zugethan,
indem er felbfi drei Punkte hervorhebt (die Erzeugung —
die Wunder und die Auferfiehung), in denen Ghriftus
über die Natur, das Bermögen und Loos der Übrigen
Sterblihen binausgehoben erfcheine (S. 902.) Diefe
Anficht des Berf. von der reinen Menſchheit Chriſti
hängt Übrigens damit zufanımen, Daß er im Chriſten⸗
das Weſen bes chriflichen Glaubens ꝛc. 453
thume überhaupt bie Brfcheinung ber reinen Menſch⸗
lichkeit erblicdt (S. 248.).
Wir verfemen die Gründe gar nicht, welde den
Berf. auh vom Glaubenéſtandpunkte aus vermocht has
ben, auf den Begriff der Menfchheit Ehriſti ein fo gros
ßes Gewicht zu feßen. Es ift immer mehr Hinneigung
in der Kirche vorhanden gewefen, die Menfchheit Ehriftt
anf Koften feiner Gottheit zu verkleinern und zu ſchwä⸗
hen, ald umgekehrt, was am beften die lutherifche Lehre
von der communicatio idiomatum beweift. In unferer
Zeit verhält es fich aber andere. Der Glaube fehr Vie⸗
ler ift bis zu einem fehr dürftigen Ebionitismus abges
ſchwächt, und es fehlt unferer Zeit an jenem Organe,
das fih in die Tiefen der Gottheit zu verfenten weiß.
Tiefem Schwacdglauben gegenüber haben die Starfgläus
digen nicht Unrecht, wenn fie den Begriff der Gottheit
Ehrifti betonen, fie haben aber darin nicht Recht, daß
fie dieß gewöhnlich auf Unkoſten feiner Menfchheit thun.
AS wahrer Menſch ift Jeſus Chriftus auch noch feine
Duelle des Trofted und der Berföhnung für und, Der Troft
liegt in dem Glauben, daß Gott Menfh geworden
fey, nicht daß ein wahrer Menfch gewefen fey;
Gott und nicht der Menſch bleibt das Subject der
Erlöfung, der Menſch ift nur das Prädicat derfelben.
Darum fcheint und der Ausdruck Gottmenſch das
Wefen der Perfon Chriſti am treffendften zu bezeichnen,
und daß der Verf, diefer Anfchauung gar nicht abgeneigt
iR, beweift er am beften bamit, daß er die Berfähnung
eldeine zugleich menfhlihe und göttlihe That
ſchildert.
Dennoch ſcheint uns der Verf. den Begriff der
Gottmenſchlichkeit Chriſti nicht in feiner ganzen
Fälle entwickelt zu haben. Er hebt, wie bemerkt, drei
Punkte and dem Leben Jeſu heraus, die über den na⸗
tärlihen und menfchlichen Standpunkt hinansgehen, Als
⸗
45& de Wette
Iein wir Tönnen doch kaum dafür halten, daß bie Mei⸗
nung des Berf. dahin gehe, nur in diefen drei Bezie⸗
bungen laſſe fih dad Leben und Weſen Ehrifti als ein
gottmenfchliched nachweilen. Wir müſſen darin der Kir
chenlehre vollfommen Recht geben, daß fie die Einheit
Der Derfon durch alle Momente bindurchführen wollte,
wenn fie anch mit ihrer Abficht an praftiihen Schwie
rigfeiten gefcheitere if. Die ganze Perſoͤnlichkeit
Chrifti fcheint uns ale eine gottmwenfchliche aner
fannt werden zu müflen, worin fich allerdings eine ſpe⸗
cififche Verſchiedenheit feiner Perſon im Berhältnifle gu
allen anderen, felbit zum erften Menfchen ergibt. Diefe
it aber gerade durch feine übernatürliche Erzeugung ans
gedentet und ruht mithin felbft auf einer phyfifchen Ba-
fi. Die Auffaffung der Perfon Chrifti ald des wahren
Menfchen erflärt fidh beim Verf, ohne Zweifel am beften
aus feinem Urtheile über die Firchliche Lehre von den
zwei Raturen, die er eine unbiblifche, untheologifche
und unmiffenfchaftliche nennt (S. 329.). Gewiß ift diefe
Rehre in ihrer alten fpröden Form durchans ver
werflih und einer Umbildung bedbürftig; das Urtheil deö
Derf. fcheint und aber dennoch etwas zu hart. Unmwils
ſenſchaftlich ift fie, unbibliſch und nntheologifcdh aber nur
ber Form, nicht dem Wefen nach. Wir verbinden mit
dem Begriffe Natur die Borftelung eines wefenhaf
ten Seynd; bie Natur eined Gegenftandes iſt das, wo⸗
durch er befteht und fi von anderen Gegenſtaͤnden uns
terfcheidet. Die alte Theologie irrte darin, daß fie dad
Weſen Gotted und das Weſen des Menfchen als etwas
fich gegenfeltig Widerfprechendes faßte, dieſe zwei ver
meinten Widerfprüche in die Einheit der Perfon Ghrifli
aufammenfaßte, den Widerfpruch alfo durch einen Macht
fpruch, aber nicht wiflenfchaftlich löſte (f. dad Welen
des Proteftantidmus, a.a.D., S. 357.), Daswird aber
ugegeben. werben möüflen, daß das Weſen Gottes und
dad Wefen des cheifllichen Glaubens x. 455
dad Weſen des Menfdien ja etwas Befondered, Eigen⸗
thümliches ift, und daß diefe beiden Befouderheiten in
Chriſto fi harmoniſch zufammenfdloffen und eine Pers
fönlichleit hervorbradjten, an welche auch nach des Berf.
Anficht Feine andere menfchliche hinaufreicht. Der Berf.
bat unbedingtes Recht, dagegen zu protefliren, daß Chris
Rus Gott und Menfch geweſen fey, und fowohl wenn
wir von einem Botte, als einem Menſchen Ehriftus reden,
fo reben wir uneigentlich und müſſen und mit bem zwiug⸗
liſchen Lehrfage von der „Alloiofie” heifen, Im Begriffe
des Gottmenfhen if die Weſenseigenthümlichkeit
Botted und ded Menſchen als in einer höheren Einheit
enthalten. Ä
Der Berf. Hat ſich die volle Aneignung des Begrifs
fe6 der Gottmenſchlichkeit allerdings dadurch erfchwert,
dag er Ehriftum nur in feiner gefchihtlichen Erſchei⸗
nung zu erfennen fuchte, Im Begriffe des Gottmenfchen
liegt allerbings etwas, das über alle Geſchichte hinaus⸗
geht. Allein der Verf. fühlt fich auch felbft wieder ge,
nöthigt, Den gefchichtlihen Boden zu verlaffen und fi
zu einem Urbilde von Chriſto aufzufhwingen, das
jenfeitö der Grenzen bloß gefchichtlidher Korfchung liegt.
„Der gefchichtliche Glaube der Chriftenheit,” fagt er im
diefer Beziehung, „hat fich nicht in dem engen gefchichte
lihen Grenzen gehalten, und founte e6 feiner Ras
tur nah als Blaube nicht, weil fein Gegenftand
zugleich gefchichtlich und urbildlich it” (S. 323.) Und
gerade über die Urbildlichkeit Chriſti fpricht fich der Verf.
fehr fhön aus. „Das göttlihe Keben,” fagt er, „das.
in feinem irdifchen Leben erfchienen, war durch feinen
Tod nicht vernichtet, hatte fih vielmehr thatkräftig und
fiegreih in ihm felbft und außer ihm durch Pflanzung
des gleichen Lebens in der Menfchheit bewiefen, und
tchrte nun zn feinem Urquelle, dem Bater, zurüd, aber
nicht, um in biefen zurädzufließen und in anderer Weife
. 456 be Wette
wieber audgefirömt au werben (nach pauth eiſtiſcher Au⸗
ſicht) — Der Endlichkeit und dem Kampfe diefer Erde
entrüdt und zu Gott emporgehoben, entfaltet Chriſtus
dort die ganze Sieges herrlichkeit; Die Herrfchaft, die
ihm als Stifter und König ded Reiches Gottes gebührt
und bie er hinieden noch nicht empfängt, indem bie Sei,
nigen, und in ihnen feis Geift, noch mit der Welt gu
fümpfen haben, fällt ibm in der urbiidlichen
Ewigkeit ganz zu.” Allein fo ſchön dieß ik, fo
beherzigenswerth pantheiſtiſcher Verflüchtigung gegenüber,
fo befriedigt es dennoch das gläubige Gemüth nicht ganz.
Der Verf. treunt das Geſchichtliche und das Urbildliche in
Chriſto von einander; er will, daß man ſich vom Ge⸗
ſchichtlichen zum Urbildlichen er hebe (S. 329.) De
Glaube will aber Beides zuſammenfaſſen, er wil
Gott und Menfch zuſammen fchauen; und ed ſcheint und,
man könnte hier wenigftend mit einigem Rechte an dem
Berf, audfegen, daß er Gott nicht geuug Menid
werden laffe. Das Geheimniß, daß Gott Menſch ge
worden, ift freilich für unferen Verſtaud unergründlid,
eine ungeheure Thatſache, vor der und dag Denken ver
geht. Der Berftand wird und muß immer fragen: „wie
konzte eine abfolute göttliche Perſönlichkeit, wie konnte
Das ewige Wort, das durch die ganze Welt geht und
fid; überall fort und fort außfpricht, in einem menſch⸗
lihen Leibe eingefchloffen feyn?” Nur ift zu be
merken, daß die Kirche das Lebtere niemals behaupte
hat. Höchſtens in der chriſtologiſchen Anſchauung der
Brüdergemeinde finden ſich Spuren einer fo unver:
nünftigen Vorſtellung. „Gott ift Menfch geworden,”
und „Bott ik im Menfchen eingefchloflen ,” find grund
verfchiebene Ausſagen, und bürfen ja nicht mit einander
verwechfelt werben. Der Berf. it der Anficht, wenn bie
Speculation Die urbildlihe Anficht von Chrifto weiter
verfolgen wolle, fo müſſe fie einen anderen Weg, ale
das Wefen des chriſftlichen Glaubens ıc. 457
den ber Tirchlichen Lehre einfchlagen (G. 330.) Darin
fheint und ber Verf. zu weit zu gehen. Die kirchliche
Lehre bedarf der Umbildung; dad Prädicat „Menfch ges
worden” ift von ihr nicht genug anerkannt; Ref. traut
aber der kirchlichen Lehre, wenn fie fich felbft mehr bes
greift, die Kraft gu, auch Anderen fid, begreiflicher zu
mahen, und würde fie fo lange nicht aufgeben, ale fie
ſich nicht völlig unfähig dazu gezeigt hat.
Jetzt erſt iſt es und möglich, unfer Schlußurtheil
über den Wunderbegriff des Verf. abzugeben. Steht
derfelbe nämlich mit dem Begriffe von der Perſon Chriſti
in unzertrennlicher Berbindung, fo muß Ach auch die
Sedeutung des Wunders nad, derjenigen der Perſon
Chriſti richten. Wo noch die alte abfiracte Auſicht „won
der Gottheit Ehrifti? herrſchend iR, da find auch die
Bunder numittelbar göttliche Kraftwirfungen, vos
einer Stillſtellung der gewöhnlichen Mittelurfacken bes
gleitet. Wo dagegen bie mehr ebionitifche Anficht Geltung
hat, werden die Wunder mehr als natürliche oder dem
Ratärlichen verwandte Vorgänge aufgefaßt werden, Daß
der Berf., um die Möglichkeit ded Wunder denkbar
ju machen , nicht einfeitig auf Chrifti göttliche Natur zu,
rüdgeht, tft gewiß yollkommen richtig; weniger können
wir ed billigen, wenn er fagt: „Hat Chriſtus wirklich
und wahrhaft Wunder gethan, fo hat erfie als Menſch
gethan; deun das Wirkliche an ihm if eben
menfchlih” (S. 309) Wir müſſen hierauf entgeg»
zen, daß Bott wirklich in Ehrifto Menfd ger
worden, daß alles Wirkliche in ihm mithin gott,
meufchlic war. Und gerade darin, daß ber DBerf.
einräumte, die Wunder ſtellen Chriſtum über bie Stufe
des Ratürlichen hinaus, if von ihm fekbft ein Zeugniß
abgelegt, Daß dad Wunder mehr als menfchlich ſey.
Deßhalb fcheint uns der Begriff des Wunders auch et
was zu eng, wenn berfelbe als „unmittelbare (menſch⸗
458 de Wette
lihe) Einwirkung der Geiles; und Willenskraft anf bie
Ratur” gedacht wird (S. 800.). Die proteftantifche Theo»
logie hat die Fortdauer des Wunders als eines kirchli⸗
hen Charisma geleugnet, weil fie in ihm mehr ale bloße
Einwirkung des menfchlichen Geiſtes und Willens ſah.
Wir müflen uns Bott im Wunder auf eine Weiſe gegen»
wärtig denken, wie er in einer anderen Raturerfcheinung
nicht gegenwärtig ift, und and ber Menfchheit Sein als
kein, will und bedünfen, Iaflen fich feine Wunder nicht
erklären.
Der Berf. unterfcheidet übrigend von der Möglichkeit _
und Nothwendigkeit der Wunder Jeſu deren Wirklich»
Leit, und nimmt dem firaußifchen Skepticismus gegen
Aber in dieſer Beziehung in der That einen gläubigen
Standpunkt ein; denn er entfcheidet fich für diefe Wirk,
lichkeit. Nur hält er die evangelifhen Wundererzählun⸗
gen theild für ungenau, und theild für übertrieben. Ei⸗
nen „befonnenen, gemäßigten Skepticismus“ will er aud
dem „gläubigen Schriftforfcher” erlauben, und er fieht
eine ungefunde, Mangel au Bildung uud Geiſtesfrei⸗
heit, fo wie an Liebe verrathende Empfindlichkeit darin,
wenn viele Gläubige ſich hierdurch verlegt fühlen. Wir
geben dem Berf. darin ganz Recht, daß Jemauden and
der hriftlichen Gemeiuſchaft ausfchließen, weil er einen
entfchiedenen Wunderglauben beſitzt und dem Skepticis⸗
mus hier einigen Ranm läßt, eben fo unverfländig ald
lieblos wäre (S. 311.); wir halten aber dafür, daß bie
Gegner des Wunderglaubens dieſe Liebloſigkeit, die wir
nicht billigen wollen, einigermaßen felbft verfchuldet has
ben. Sie haben mit roher Hand das glänbige Gefühl
angetaftet, den hiftorifchen Sinn nicht einmal verfchont,
den Glauben an alles Ueberuatürliche im Chriftenthume
verhöhnt, dadurch gereist und eine gerechte Reaction
hervorgerufen. Ueberhaupt, wer einmal an bad Wunder
aller Wunder, an den im Kleifhe erſchienenen
das Weſen bes hriftlichen Glaubens ꝛc. 159
Gottmenfchen glaubt, dem wird ed gar nicht mehr
fo ſchwer, die einzelnen Wundererzählungen mit gläubis
gem Gemüthe zu erfaflen. Wie fchön und treffend fagt
doch der Berf. ſelbſt, man dürfe nie vergeflen, daß das
hiſtoriſche Intereſſe bier dem gläubigen untergeorbnet
ſey; daß hier gar nicht dad Bedürfniß vorhanden, fich
einer jeden einzelnen wunderbaren Thatfache als einer
durch gefchichtliche Kritit genau geläuterten und geſicher⸗
ten bewußt zu werben; daß es dem glänubigen Chriften
gar nicht daranf ankomme, genau zu wiſſen, wie es mit
der Berwandlung des Waflers in Wein, mit ber Aufs
erwelung des Lazarus eigentlich zugegangen; baß end»
Ih die Betrachtung der WBundererzählungen in den an,
daͤchtigen Berfammlungen der Ehriften feru von allem In⸗
tereſſe der gefchichtlihen Forfchung zu halten fey (S. 312.).
Und warum ſollte der „gläubige Standpunkt?” bei einzel-
nen Bundererzählungen fo ängftlich feyn, ba er bie Thats
fahe der .Leiblichen Auferftehung für „gewiß und ans
jweifelhaft” hält (S. 317.). Nur will und fcheinen, auch
die Auferftehung Ehrifti, welche der Verf. mit der Him⸗
melfahrt zufammen als eins betrachtet, unb deren
Schwierigkeit vom Fritifchen Standpunkte aus er gar
siht verhehlt, würde als noch zweifellofer dem glänbis
gen Gemüthe dargeftellt werden können, wenn der Ber
geil der Bottmenfhlichleit Jeſu mit derfelden vers
bunden würde. Denn infofern nur die göttliche Als
wacht dabei wirfend gedacht, die Auferſtehnng mithin ale
ein göttliche Allmachtswunder gefaßt wird — wird fie
für den menſchlichen Standpunkt nicht begreiflih. Dann
wird fie ed erſt — wenn die Perfönlichkeit Jeſu ale dei
Sottmenfhen die Berwefung feiner leiblichen Hülle gar
richt zuließ, wenn auch nach der leiblichen Raturfeite
zwiſchen ihm und deu andern Menfchen eine fpectfifche
Berfchiedenheit beftand,
Die Lehre von der Perſon Chriki führt me von *
Teol. Stud. Jahrg, 1847,
J
460 de Wette
auf des Verf. Anfichten von Chriſti Werke. Die letzte⸗
ren hängen aber aufs genauefte mit dem Begriffe zuſam⸗
men, den der Berf. von ber Sünde aufſtellt. Sünde
und Erlöfung find Eorrelate und bedingen ſich gegenſei⸗
tig. Je mehr der Begriff der Sünde pelagianifch abges
fchwächt wird, deſto mehr wirb auch ber Begriff der Ers
löſung ſich ebionitifch verflächtigen; wirb der Begriff
der Sünde in voller Kraft gefaßt, fo wird auch derjenige
der Erlöfuug ein vollkräftiger ſeyn. Wir müſſen dem
Berf. zuvörderſt Dad Zeuguiß geben, baß er es mit dem
Begriffe dee Sünde ernft nimmt. Es thut dieß auch in
unferer Zeit außerordentlih noth. Keine Lehre if vers
derblicher, als daß der Menſch von Ratur gut fey;
daß ihm nur Fehler und Schwachheiten anerzogen wer:
den; daß die Hunft bier gleichfam das Werft der Natur
verkümmele. Der Erfinder einer foldhen Lehre konnte nur
ein Menfch feyn, ber, wie Rouffeau, flatt feine eigenen
Kinder zu erziehen, fie ins Fiundelhans warf und dafür ans
deren Leuten gute Rathfchlägeüber Erziehung und Bildung
gab. Der Berf. ftellt die Lehre von der Erbfünde
allerdings nicht in den Bordergrund, in Gemäßheit der
Anlage feines Werkes, wonach er fi immer zuerfi an
das Geſchichtliche und Wirfliche, alfo bier an die wirk⸗
liche Sünde hält. Allein er erkennt die Erbfünde an und
geht infofern auch über die zwingli'ſche Anficht hinaus,
die in neuerer Zeit einen geiftreichen Berfechter gefunden,
ale er die Zurechenbarkeit der Erbfünde behauptet. Bir
freuen und herzlich dieſes Refultates und gehen nur da
ein mit dem Berf, nicht einig, daB er das Wefen der
Erbfünde in einen „[fünbhaftsfinnlihen Hang”
feßt, deſſen ein Feder fidh bewußt werde, der durch Ger
wohnheit fidy verflärfe und in diefer Berftärfwg ſich
fortpflanze (S. 195.). Ref. erinnert fih noch gar wohl
der Zeit, is der es ihm vollkommen einleuchtete, daß die
Sünde ein Prodact der Sinnlichkeit fey und ihren
das Weſen des dheiftlichen Glaubens ꝛc. 461
Urſprung in einer Privation geiſtiger Energie genommen
babe, iu Folge welcher die Sinnlichkeit ſich eine unwür⸗
dige Herrichaft über das Beiftedleben angemaßt. Seit⸗
dem bat er ſich überzeugt, daß diefe Auficht zur Erfläs
rang der Sünde nicht genügend ift und doch mehr oder
weniger dem Beltreben, ben Begriff ber Sünde abzu⸗
ſchwäͤchen, ihre Eutſtehung verdaukt. Die Sinnlichkeit
erfcheint naͤmlich bei der Sünde doch immer nur ale
aeceſſoriſch. Eine Sünde, mit verftärkter Siunlichkeit ber
gangen, iſt Träftiger, energifher, als weun bie
finntihe Beimiſchung fehlt. Allen auch die Tugenden
bedürfen, wenn fie Fräftig auftreten und durchgreifen ſol⸗
len, finnliher Beimiſchung. In dieſer Beziehung gilt
jenes ſchöne Wort Haman's, daß bie Leibenfchaften das
rum, weil fie Gefäße der Unehre ſeyen, nicht aufhören,
Waffen der Maunheit zu ſeyn. Die Tugend und bad
after, beide werben durch die Sinnlichkeit verſtärkt.
Shen daraus folgt, daß die Wurzel der Sünde nicht
in der Sinnlichkeit liegen Tann; ſonſt müßte eine Hands
Inng um fo fündlicher feyn, je mehr ihr Sinnlichkeit bei⸗
gemifcht wäre. Das ift aber nicht im geringfien der
Fall; es gibt einen Heiligen Zorn, der den Böfennie,
derichmettert und ver ſich ohne gewaltige Mitwirkung
finnlicher Elemente’ gar nicht denken läßt. Die Borftel-
Iung, daß Sinnlichkeit Sünde fey, hat auch wirklich zu
den abentenerlichften Borausfeßungen verleitet. Man hat
;. B. den Zorn, ben Eifer, bad Feuer, bie Wärme, die
Begeilterung, Geelenzuftände, die ihre Kraft ſaͤmmtlich
aus dem Boden der Sinnlichkeit ziehen, nicht mehr ale
ſittlich wollen gelten laſſen und war auf dem Ziege,
die Grundfäbe ded Stoicismus für die herrliche Moral
bed Chriſtenthums einzutaufhen. Man bedenke ferner,
daß diejenigen Sünden, bei welchen die Siunlichkeit die
Hauptrolle übernimmt, wie 3. B. die Fleifhesfünden,
nicht die argſten find, fondern erſt dann bie Argflen wer⸗
8 &
462 de Wette
den, wenn ber raffinirte Berftand fie für feine Zwede
auebentet. Aufgeregte Sinnlichkeit gilt fogar nicht
ohne guten Grund bei dem weltlichen Richter für einen
Milderungsgrund des Verbrechens. Wer mit Falten
Blute einen wohlüberdachten Mord begeht und ihn mit
klarer Berechnung ausführt, iſt ohne Zweifel weit firaf-
barer, aldö wer in der Dite bed Streites ohne Ueberle⸗
gung in blinder Aufwallung einen Menfchen erichlägt.
Des Berfafler halte es und demnach zu Gute, wenn
wir der Kirchenlehre, die die Wurzel der Sünde in ben
höheren Geiſtesvermögen — dem Herzen, Verſtande
und Willen — auffucht, den Verzug vor feiner Auſicht
geben. Das hauptfächlichite Moment für die letztere Ans»
ſicht findet ſich allerdings im N. Teſt. felbit, in der pau⸗
Iinifchen Lehre vou der odpf. 3. Müller hat aber fehr
. gut gezeigt, daß diefer pyanlinifche Ausdruck ſich an Haupt⸗
fielen mit der Bedeutung „Biunlichkeit” nicht vertrage
(die hriftliche Lehre von der Sünde, neue Ausarbeitung,
Bd. J. 8,380 ff.). Und warum follte denn Herz, Ber;
ſtand und Wille beim Sündenfalle von der Bünde
unberührt geblieben feyn? Geradèe unfere Zeit fcheint
dem Ref. ein fprechendes Zeugniß dafür, daß die Sünde
den Berfiand verborben hat. Man darf nur eine ober⸗
flähliche Kenntniß von ber Tageslitteratur, zumal von
der Journaliſtik befiden, um einzufehen, daß der Ber
fand ber große Sophiſt ift, der die Wahrheit in Lüge
verkehrt. Nicht die Lügen, die in Aufwalluug und Leir
beufchaft zu Papier geworfen werben, — find bie ſchlimm⸗
ſten. Die fchlimmften find jene falten, berechneten, dos⸗
haften, wohlüberlegten, zu denen bie Sinnlichkeit gewiß
‚dad Wenigfte beiträge. So if gewiß auch der Wille
durch die Bünde verkehrt. Der Verf. nimmt wohl
eine „vielen Kindern angeborene Schwädhe des Willene”
an, wir haben aber Gelegenheit zu erfahren, daß uufer
angeborener Wide nicht nur ſchwach im Guten, fow
das Weſen bes chriſtlichen Glaubens ꝛc. 463
bern oft auh ſtark im Böfen if, was fi fchon Durch
den Eindifchen, manchmal bis zum lnerträglichen geſtei⸗
gerten Eigenfinn befätigt.
Im Uebrigen weicht auch hier die Anſicht des Berf.
von der unfrigen nicht fo weit ab, daß nicht Verſtändi⸗
gung zu hoffen wäre. Der Berf, gibt felbft zu (S. 189.),
daß und Bott als finnliche Geiſtesweſen gefchaffen habe,
dag Sinnlichkeit an fih nicht Sünde fey. Da
mit ift wenigſtens mittelbar zugegeben, daß die Sünde
im Beifte ihren Sig haben müfle Das Abweichende
des Berf. von unferer Anficht befteht nur darin, daß er
ald das Fehlerhafte im Geifte eine bloße Schwäche
vorausfegt, während wir an 'eine Verkehrtheit bes
Geiſtes dur den Sünbdenfall glauben, Tritt aber
der Verf. im: Grunde nicht felbft unferer Anficht bei,
wenn er bei Anlaß der Bosheitsfäüände (S. 180.)
fagt: „Bei der Bosheitsſünde fehen wir nicht bloß wie
bei den biöherigen Sünden ben fittlichen Trieb vor dem
finnlihen zurüdtreten oder fich abflumpfen, fondern
fogar fih vertehren und in Gift verwans
dein”? In der That fieht man nicht ein, wie man zur
Erflärung diefer Sünden fidy mit der fogenannten pri⸗
vativen Anficht helfen will, da die Bosheit nicht Pris
vatton, fondern Poſition im eminenteſten Sinne des
Wortes if. Hier ift es und auch nicht recht klar gewors
den, wie der Berf. „zuletzt Alles aus der Schwäche bee
Willens”? erklären zu können glaubt. Damm müßten ja
die willensfchwächften Charaktere gerade bie boshaftelten
feyn, während fidy mit der Bosheit gewöhnlich eine aus
Berordentlihe Kraft und Ansdauer des Willens vers
bindet.
Wir möchten gegen die Anfiht, daß der Siß der
Sünde in der Sinnlichkeit fey, endlich noch auf die biblis
fhe Erzählung vom Sündenfalle felbft und berufen. In
derfelben it wohl keine Spur davon zu finden, daß ber
⁊
464 be Wette
finnliche Trieb Irgendwie durch den Fall verkkärkt worden
ſey. Schließt fich der Berf. doch ſelbſt an die Anficht
von Kant und Sciller an, dag mit dem Sündenfale
die Eultur, die ein Erzengniß der Berftandesdilbung und
Willensentwidelung if, ihren Anfang genommen habe.
Auch deutet fihon der „Baum der Erkenntuiß” daranf
hin, daß der Berfland der Sünder war in Berbins
dung mit dem Herzen und Willen, indem er werben
wollte wie Gott und wiffen, was gut und böfe if
a Mof. 3, 5). Daß die Luk nadı dem finnlidhen
Gennffe des Apfels ald Quche des BSündenfalld
angegeben werden wolle, wird wohl fein befonnener Ere
get mehr behaupten. Der Anfang der Sünde If viel⸗
mehr der Inglanbe an Gott, bad Heraustreten and dem
Gentrum der göttlichen Liebe, die Berirrung nach der
Deripherie ber Selbfifuht, Schön nennt in diefer Ber
ziehung der Berf. (5. 185.) den Unglauben „die legte und
tieffte Quelle der Sünde” Bielleicht könnte man andı
gegen die Annahme, daß der unbewußt unfchuidige us
fand ber erften Menfchen vor dem Sündenfalle Fein
fittlicher gewefen ſey (S.198.), einige Einfprache erheben.
Diefe Annahme ſcheint nämlich die auch bei Zwingli vor
fommende Borftelung in fich zu fchließen, daß Die Sünde
nothwendig gewefen fey, gewillermaßen das einzig
mögliche Eulturmittel der Menfchheit. Der Verf. ſelbſt
aber macht den Sündenfall nicht als eine That der Noth⸗
wenbigfeit, fonbern der „‚fittlichen Wilfär” geltend (S. 197.).
Auch fcheint ed dem Ref. eine Herabwürbigung Gottes
zu feyn, wenn man den Menſchen aus feiner Hand als
ein unbewußted Naturweſen hervorgehen läßt, welches
das Gute ohne alle Freiheit that.
Kalfch iſt die poſitive Anſicht von der Sünte ge
wi nur dans, wenn fie in Flacianismus anszuarten
droht und die fittlihe Freiheit des Menſchen lengnet.
Daß nach dem Falle gar nichts Gutes, nicht einmal
N
das Weſen des chriſtlichen Glaubens ꝛc. 485
die Empfaͤnglichkeit für das Gute, in ben Menſchen zu⸗
ruckgeblieben ſey, if eine gefährliche Uebertreibung. Der
Sundenfall iſt eine Träbung und Verkehrung, nicht eine
totale Berfinfterung und Vernichtung bes Gottesbewußt⸗
ſeyns im Menſchen, und die kirchliche Lehre bedarf in
Diefer Beziehung gewiß einer zeitgemäßen Reviſion.
Erſt jebt, nachdem wir bed Berf. Anficht von dem
Weſen der Sünde kennen, iſt ed uns möglich, feine Ans
fihe vom Werte Jeſu und Har zu madhen Zu dem
Werke Jeſn gehört ohne Zweifel feine ganze Lebens⸗
erfheinung. Durd; die treffliche Schrift Ullmann’
über die Sündloſigkeit Jeſu wurde das Wert bed Herrn
zum erften Male auf umfaflende Weife unter dieſem weten
Geſichtspunkte beleuchtet, indem es als die Erfcheinung
eines volllommen reinen Lebens aufgefaßt wurde,
Unfer Berf. hat fchon in feiner chriftlichen Sittenlehre
die Schwierigkeiten geprüft, weldhe mit der Annahıne
einer völligen Suündloſigkeit Jeſu verbunden find. Vom
Standpunkte des Glaubens in biefem Werke brüdt er
fih (was auch Ullmann in der fünften Auflage feiner
Schrift anerfennt, &. 148.) jedenfalls entfchiedener und
poftiver aus. Chriftus hatte, nach feiner Unſicht, nicht
nur das reinfte und tieffle Bewußtfenn von ®ott, ſon⸗
dern auch das göttliche Reben felbft in ſich; die Einigung
ber Menſchheit mit Bott erfannte er nicht nur, fondern
vollzog fie auch wmirftiih in feinem Thun und Leiden
(S. 259.). Er betrachtet daher das Wert Jeſu nicht
als fein Wert, fondern ale das Wert Gottes, und
ihn als den, mit welchem und in welchem ®ott war.
Die Anertennung einer göttlichen Leitung und eines götts
lichen Beiſtandes, fügt er bei, reiche jeboch nicht ang,
fondern man möäfje in ihm eine inuerlihe Wirkſamkeit
und Gegenwart Gottes annehmen (S. 260). In feinem
Leben erkennt ex ferner eine vollfommene Reinheit von
aller Selbftfircht oder eine vollkommene Selbſtverleug⸗
nung und Dingebung an den Dienft Gotted. „Auch ber
466 de Wette
Uebelwollendſte, fagt er, kann ihm nicht vorwerfen, daß
er in dem, was er unternahm und trieb, etwas für ſich
gewollt habe. Er ging über bie Erde wie ein höheres
Wefen, das fie kaum mit den Füßen berührt” Daß id
nirgends ein Flecken an feinem Charakter gezeigt, könnte
und freilich noch nicht bewegen, an feine Sünblofigkeit
zu glauben. „Aber,” fährt er fort, „zu jener Reinheit von
aller nahweisbaren Sünde kommen noch die uns
zweidentigſten Beweife einer Zartheit und Tiefe des ſitt⸗
lichen Gefühles, welche jede Unlauterkeit des
Herzens ausſchließt. — Es kann für denjenigen,
der fid dem Eindrude, den fein Leben macht, ohne vors
gefaßte Meinung bingibt, fein Zweifel feyn, DaB er der
erhbabenfte Eharafter und die reinfte Seele
it, weldhe die Geſchichte aufweik.” Mit allem
Dem ift freilich die Unmöglichkeit zu fündigen für Jeſum
nicht erwiefen. Und eine juriftifche oder mathematifche
Gewißheit wird auch in diefem Punkte nie erhältlich ſeyn.
„nen Einwurf,” fagt der Verf., „wie Einer, der durch
die Geburt mit der fündigen Menfchheit zuſammenhing,
babe ſchlechthin ſündlos, auch frei ven Erbfünde ſeyn
können, vermögen wir nicht mit gefchichtlicdyhen Beweis,
gründen abzufertigen. Hier gilt ed zu glanben und
nicht zu vernünfteln” (5, 273.)
Diefe Anerkennung des gläubigen Staubpunttes
und feines Bedürfniſſes iſt fehr ſchön. Rur-will und
fheinen, daß fo lange dem Ölauben etwas zu viel zu-
gemuthet werben dürfte, als die Sottmenfchlid keit
Jeſu nicht ganz uud völlig auerfannt wird. Einen ſünd⸗
lofen Menſchen können wir und nicht denken; wir kön⸗
sen uud wohl entichließen,, an einen folchen gu glauben,
allein der Zweifel, den niederzufchlagen nicht in unferer
Wilkür fteht, wird unfern Glauben unaufhörlich ſtören.
Den Gottmenfhen können wir und dagegen
nicht anders als ſündlos denken; denn wie follte
bad Wefen des chriflichen Glaubens x. 467
die Güude da mod, beſtehen können, wo das göttliche.
Weſen mit dem wmenfchlichen wirklich und wahrhaftig
eins geworden it}
Das Wert Jeſu Tann nur dann begriffen werben,
wenn wir ihn ale den füändlofen Gottmenfhen
gegenüber der fündigen Menfchheit denken. Der
Berf. hat fich an die kirchliche Eintheilung von den brei
Aemtern angefchloffen, nur mit dem Unterfchiede, daß er
das königliche dem priefterlichen Amte voranftellt. Gerade
das prophetifche Amt Chriſti befteht dem Verf. eigentlich
in nichts Anderem ald dem Offenbaren der Sündlofigr
keit. Chriſtus iſt darum nicht bloß Lehrer der Wahrheit,
wie dieß anch die Propheten waren, fondern die Wahr»
heit feloft (S. 284.). Die Darftelung dieſes prophetis
fhen Amtes hat und beim Verf. befonderd angefprochen.
Der vulgaire Rationaliömus, and) wie er in neueren Er,
fcheinungen wieder auftaucht, ift darin weit überflügelt.
Aber auch bier find wir der Anſicht: Ehriftus Fönne die
Wahrheit nur dann feyn, wenn er Gottmenſch fey.
Wie follte denn die Wahrheit in einem Menfchen, und
wäre er auch der erhabenfte und reinfte, perſönlich
geworben feyn?
Dagegen hat ed uns fcheinen wollen, ale ob das
königliche Amt einigermaßen mit dem prophetifchen zu»
fammenfiele. Es werden darin zwei Momente unters
fhieden: erftend das negative der lLieberwindung der
dem Willen Gottes widerfirebenden Sünde; zweitens
das pofitive der vollen lebendigen Erfüllnug diefed Wil⸗
lens. „Beides, fagt der Berf., leiftete Jeſus nicht blog
durch feine Lehre, fondern dadurch, baß er ein von Sünde
seines heiliges Reben, wie er es forderte, ſelb ſt in fich
darftellte, felb erfüllte, und Borbild ward” (©.
260.). Drüdte fih nun der Berf. ſchon bei Darftellung
ded prophetifchen Amtes dahin aus, daß Ehriftus als
Prophet nicht bloß Lehrer der Wahrheit, foudern die
468 be Wette
Wahrheit ſelbſt fey, fo flieht man nicht recht ein, wie er
ſich als König von fih ald Propheten unterfcheiden fol,
zählt der Berf. zu dem Föniglichen Amte den geheimen
unmittelbaren Einfluß, dem ein großer, reiner Menſch durch
das Ichendige Wort, durch Gefichtsausbrnd und Geber⸗
Den, durch feine ganze Erfcheinung auf Andere ansüben
mußte: fo hat ed doch den Anfchein, ald ob das gerade
zu der Ausübung des prophetifchen Amtes Jeſu gehörte.
Dadurch, daß er lehrte, indem er Borbild war, und im
Leben darftellte, was er im Bewußtſeyn hatte, vollbrachte
er allerdings „durch die höchſte fittliche That uud dem
thatkräftigen fittlichen Geift die Befreinng der Menſchheit
von der Sclaverei der Sünde, die Entfeflelung des gebun⸗
denen Willens, die Aufhebnng der fleifchlihen Schwäche”
(S. 289.),
Die Schwierigkeit, dad prophetifche vom königlichen
Amte ſcharf und genau auszufondern, ift bei diefem Ans
laffe dem Nef. wieder recht Mar geworden. Die Refors
matoren wußten von biefer dreifachen Eintheilung noch
nichts. Sie gingen bei Darftelung des Amtes Chriſti
von der „leidenden Genugthuung” (satisfactio passive)
aus, auf welche fie den weitaus meiften Nachdruck legten,
und Daneben entwidelte ſich allmählich bie Lehre von ber
„thuenden Genugthuung” (satisfactio activa), die wir bes
Fanntlich in der Soncordienformel fchon ausgebildet trefs
fen. Diefer Sintheilung würde Ref. um ihrer großen
Einfachheit und Natürlichkeit willen den Vorzug geben.
Was ihn noch weiter dazn beflimmen würde, will er fo:
fort auseinanderfeben.
Die ganze Lehre von der Erlöfung bewegt fich um
zwei Punkte: Sündenvergebung und Sünden
tilgung. Wir tönnen uns die eine nicht ohne die an⸗
dere deufen. IR die Sünde getiigt, aber nicht vergeben,
fo ift fie eben darum nicht wirklich getilgt; ift fle verge⸗
ben, aber nicht getilgt, fo iſt ie eben darum nicht wirk⸗
das Weſen des chriſtlichen Glaubens x. 469
lid vergeben. Run iſt aber gewiß die Gündenvergebung
das Erfie, was dem Sünder in Chriſto von Geiten
Gottes zu Theil wird, und es will und and die
fem Grunde 'nicht völlig richtig fcheinen, daß das
priekerlihe Amt Jeſn die leßte Stelle einnehmen ſolle.
Das führt uns auf die fchwierige Frage von der Ger
nugthnung überhaupt, von der Art und Weife, wie Ehri⸗
find an unferer Stelle für uns genug gethan, und mit
Gott verföhnt und und Sändenvergebung ermwirkt habe.
Diefe Frage ift einfach auf die Alternative zurückzufüh⸗
ren: ift Die flellvertretende Genngthunng Ehrifti bloß als
ein fubjectiver Borgang im Menfchen oder als eine
objective Thatſache in Gott felbft aufzufaffen. Der
Berf. neigt ſich durchaus zur fubjectiven Auffaffung bin.
„Das Sühnopfer Ehrifti”, fagt er, „iR für und nichte
ohne den Glauben. — Der Blaube ift das Ber
föhnende; denn Berföhnung ift ja nichts, ale der
durch das Bertrauen auf Gottes GOnade gewonnene ins
nere Friebe” (S. 292.). „Demjenigen, der und den Weg
der Wahrheit gezeigt hat, ja die Wahrheit felbft if, dem
gerechteften, liebevollſen Menfchen, dem Gefandten,
dem Sohne Gotted, der und Bott als den liebevollen
Bater fennen gelehrt und ihn mit Vertrauen nm
Sündenvergebung zu bitten gelehrt hat, — glauben wir
gern bie mit feinem Tode beflegelte Verficherung, daß
Gott nicht will, daß die Welt verloren gehe, fondern
felig werde” (S. 293.). Hier läßt nun aber der Verf,
das priefterlihe Amt mehr oder weniger in bas konig⸗
liche übergehen. „Chriftue”, fagt er hier, „erlöfte und
vom Uebel und Tode theild Dadurch, daß er deren Grund,
Die Sünde, tilgte, theild dadurch, daß er im Leiden
und im Tode felbft die göttliche Liebe "zur Erfcheinung _
und Verwirklichung brachte, theild endlich dadurch, daß
er den Glauben an ein ewiged Leben in feinem Tode
befiegelte und durch feine Auferfiehung nicht nur ſelbſt
70 de Wette
ale Sieger des Todes bewährt wurbe, fondern and
den Glaͤubigen ald diefer Sieger erfchien und feine
Auferftehungslehre bekräftigte.” Der Tod Iefu oder fein
Sühnopfer fcheint und aber, wenn wir bei den brei
Aemtern ſtehen bleiben wollen, aud ale Sühne gefaßt
werden zu müffen, während die Darfielung des Berf.
den Begriff der Sühne hier fo ziemlich audfchließt, das
gegen denjenigen ded Sieges, der Erhebung über dem
Tod ſtark hervorhebt. Der Tod fcheint hier mehr nur
die fubjective Bedeutung zu haben, durch „Anfhaunng
nud Erfahrung” die Menfchen zu belehren nnd au trös
ften, weil dieß durch Worte und Begriffe weniger moͤg⸗
lich if (S. 295.).
Jedoch fpriht es der Verf., mit dem wir oft unvers
hofft wieder gufammentreffen, noch felbft aus, daß der
Verföhnungstod Jeſu wirtlich ein Sünd⸗ und Sühn⸗
opfer fey. Nur mit feinem Begriffe von „Sühne” möch-
ten wir und nicht ganz einverfianden erflären. Erkennt⸗
niß der Sünde und Reue, d. h. Beflerung, zu weden,
iſt nach ihm der Zwei des Sühnopferd. Diefen Zwed
können wir aber nicht für den primären halten. Der
eigentliche Zwed der Sühne war gewiß Audgleichung und
Wiederherftelung der durch die Sünde verlegten Har⸗
monie bed Guten. In diefer Beziehung hat die anfels
mifche Genugthnungslehre ihre unmiderleglihe Wahrs
beit. Anfelm hat nur darin geirrt, daß er die Genug
thuung in dad Gebiet eines gewöhnlichen Rechtshandels
herabzieht und fo einen ünftlichen, aus der Procefiuas
liſtik hergenommenen Rechtsfall aus ihr gemacht hat.
Daß aber die beleidigte Gottheit wieder ausgeſöhnt wer⸗
den müſſe, das halten wir für die Grundlage aller Res
ligion. Der Berf. fagt, Chrifti Büßen verföhne uns
(S. 297.); nad ded Nef. Dafürhalten ik es aber
Bott, der mit und verföhnt werden muß, uud
Chriſti Tod ift demnach eine wirkliche Sühne, eine Ans⸗
das Weſen bed chriftlichen Glaubens c. 471
gleichung und Wiederherſtellung der durch die Sünde zers
flörten Harmonie ded Guten in ber Welt. Immerhin
geben wir dem Berf. gerne darin Recht, daß es falfch
fey, die Berfühnung nur ale einen Vorgang in Gott
begreifen zu wollen, wie es falfch if, anzunehmen, daß
fie nur iu und mit dem Menfchen vorgebe. Biels
mehr muß die Berföhuung fowohl in Gott als auch
im Menfchen vorgeben, bie Sünde muß fowohl von
Seiten Sotted vergeben, ald im Menfchen durch deu
Glauben getilgt werden; und das kann, wie die kirch⸗
liche Lehre alleiu confequeut ansdeinanderfeht, nur
durch einen E ottmenfchen geichehen.
Die Berföhbnung if ein Geheimniß, in dem
für den menfhlihen Berfianb die göttliche Liebe mit der
göttlichen Gerechtigkeit zu flreiten fcheint. Dieſes Ges
heimniß fuchte Anfelm mit feiner Theorie gleichfam zu
zergliedern, in feine Theile aufzulöfen; und es iſt ihm
nicht gelungen. Warum follten wir dad Geheimniß nicht
mit dem Glauben anerfennen, da es dody unferem
innerſten Bedürfniſſe entfpricht ꝰ Und wir müſſen es
auch hier an dem Verf. wieder ehren, daß er die Ergeb⸗
niſſe feines ſubjectiven Denkens gern vor der großen,
geheimnißvollen Thatſache der Erlöſung und Verſoͤhnung
in Chriſto zurlicktreten läßt. Dieſe Demuth und Bes
fcheibenheit an einem Manne, von dem D. Lücke mit
Recht gejagt hat (götting. gel. Anzeigen vom 9. März
1846), daß er einer der vornehmfien Begründer der heu⸗
tigen Theologie ſey, hat etwas ungemein Wohlthuendes
in fih und kann und nur mit der größten Achtung vor
demfelben erfüllen. So bellagt er es felbft, daß in unfes
rer Zeit, in welcher ber menfchliche Geiſt alle Gebiete
des Lebens mit feiner burchleuchtenden und ordnenden
Kraft zu durchdringen und fich Alles zu unterwerfen bes
mäbt fep, die heilige Scheu vor dem Geheimnißvollen
und Böttlichen immer mehr gefchwächt und dadurch dem
472 de Wette
Unglauben Borfchub gethan werbe, während biefe Ber
ſtändigkeit zugleich dem irdifchen, weltlichen Sinne und
der Selbſtſucht ſchmeichele und der uneigennüßigen Liebe
für das Höhere feine Anregungen und Antriebe durch
große Charaktere mehr zu Hülfe kommen (S. 396.). Be:
fonderd fhön iM auch die Stelle, in welder der Berf.
den Gemüthszuftand des Gläubigen fchildert. Und wie
wahr ift es für unfere Zeit, daß nur Wenige den Frie⸗
den mit Gott in feinem vollen Sinne kennen, umd ihn
wohl Niemand in feiner ganzen Bolllommenheit hat, Wir
glauben aber, daß diefer Friede nur im hingebenben
Glauben an den Gottmenſchen zu finden il, nnd zwar
nicht nur in der ſubjectiven Aneigunng defielben, fondern
in einer objectiven Bermittelung mit demfelben durch die
Kirche.
Der Proteſtantismus hat ben Begriff der Kirche
während feines erften Entwidelungsftabiumd aud natärs
lichen Gründen zurüdgefest. Brit dem bisherigen Be:
griffe der Kirche war er im Kampfe. Es galt damals,
bad Recht der Subjectivität zu retten und auf dad uns
mittelbare Gottesbewußtſeyn zurückzugehen; and dem
Felſen Petri mußte die Ruthe mener Propheten wieder
lebendige Quellen fchlagen. Seitdem hatte die Subjectiv
vität fi eine Herrfchaft über alle Gebiete des Zeit
lebens, zumal auch über ‘das religiäfe angemaßt, welde
allen Autoritäten, und auch derjenigen. der Kirche, ein
Ende zu machen drohte. Eine proteftantifche Kirche hat
es überhaupt nie gegeben; denn die fogenannte „unficht-
bare Kirche” iſt nur die Idee, nicht aber die Wirk:
lichkeit der kirchlichen Gemeinſchaft. Das fühlten bie
Reformatoren wohl, wenn fie fo ernſtlich Anfpruch dar
auf machten, aus der wahren katholiſchen Kirche
nientald ausgetreten zu ſeyn. Es ift aus diefem Grunde
ein natärlicher und geſunder Trieb unferer Zeit, dab
zeligiäfe Leben nach feinem Wiedererwachen auch kirchlich
das Weſen bes chrifllichen Glaubens cc. A473
ordnen und feſtſtellen zu wollen. Als Schleiermacher dem
Gegenfap zwiſchen Katholiciömus und Proteſtantismus
fo faßte (Dogmatik, Bd. I. S. 145.), daß erflerer das
Berhältuiß des Einzelnen zu Chrifto abhängig mache von
feinem Berhältnifie gur Kirche, letzterer dad Verhältniß
des Einzelnen zur Kirche abhängig mache von feinem
Berhältuiffe zu Ehrifto: fo bezeichnete er mit dieſer For⸗
mel nicht nur den Bortheil, fondern auch den Nachtbeil,
in welchem der Proteſtantismus zum Katholicismus ſteht.
Es ift fehr wahr, daß der Einzelne erfi dann ein wah⸗
zes und lebendiges Glied der Kirche iſt, wenn Chriſtus
in ihm lebt; es wäre aber fehr falich, zu verfennen, daß
nach bem gefchichtlichen, von Bott felbft geordneten Ders
gange ber Einzelne zuerſt Glied der Kirche wird, che er
zu Chriſtus fommt, und daß die Kirche daher gleichfam
Die erziehende Muster ift, die ihre Kinder zu Ehrifto führt.
Durch ſich felbk kann ja der Einzelne nicht zu Ehrifte
fommen; an unmittelbare göttliche Eingebungen zu glau⸗
ben, verbietet uns die Erfahrung und das proteftantifche
Bekeuntniß. Nur der Hyperproteflantiömus, wie er bes
fonders im Rationalismus feinen Ausbrud fand, konnte
darauf ausgehen, das Heil von der Bermittelung durch
die Kirche ganz unabhängig zu machen, und es mußte
in der Entwidelung des Proteſtantismus daher eine Zeit
fommen, welche das Bedürfnig nach Sicherftelluug des
Begriffes der Kirche außer allen Zweifel fegte und im
möglichft Vielen zum Bewußtfeyn brachte,
Bon diefem Bebürfniffe ift auch unſer Verf. durch"
derungen. Es muß uns wichtig feyn, noch die Stellung
zu betrachten, welche er zu ben kirchlichen Verfaſſungs⸗
und Gultusfragen unferer Zeit einnimmt. Daß er die
unmittelbare Geiſtesgemeinſchaft mit Ehriflo und den
Ehriften für das höchſte Ziel und Ergebniß bes chriſt⸗
lichen Lebens hält, — wollen wir gar nicht tadeln (©.
418.). Allein ex ſelbſt beiennt, daß im ſtreugſten Siune
474 | be Wette ö
feine ganz unmittelbare Gemeinſchaft flattfinde,
weil dad Berhältmiß der Chriften unter fidy und zu Chriſto
gefhichtlich vermittelt fey. Ja er geht felbft fo weit,
ſich eines möhler’fchen Ausdrudes zu bedienen und die
Berwirkiichung des chriftlichen Lebens in der Gemein
fhaft — eine zweite Menſchwerdung des ewigen
Wortes Gottes zu nennen (5. 343.). Richtödeftoweniger
fieht er jedoch in der Unterfcheibung zwifchen unficht-
barer und fihtbarer Kirche eine der ſtärkſten Waffen des
Proteſtantiomus gegen den Katholicismus. Seine Gründe |
find: 1) der Grundſatz, daß die unmittelbare Gemein
fchaft das wahre Ziel des Glaubenslebens nnd für einen
jeden Ehriften die Möglichleit und das Recht vor
handen fey, zu ihr zu gelangen, fihere und vor der Au
maßung der rönifchen Hierarchie, vor der Annahme, es
gebe keinen aubern Weg, zu Ehrifto zu gelangen, ale burd
die Bermittelung der Priefter ;.2) geflatte er dem Gläu⸗
bigen, wo die Benußung des öffentlichen Gottesdienſtes
nicht ohue Berlegung der Gewiflen gefchehen könne, oder
wo ein evangelifcher Gottesdienſt gar nicht beftehe, auf
die äußere Kirchengemeiufchaft zu verzichten und ſich auf
den Troft, den das Bewußtſeyn der innern gewähre, zu
befchränten; 3) fey er. ein Schußmittel gegen Schein
und Werkheiligkeit und todted Gewohnheitsweſen; 4)
liege in biefem Brundfage, der auch⸗ ſo ausgedrückt wer
den fönne, Daß alle Formen unwefentlih feyen,
das Heilmittel gegen alle in den kirchlichen Orgauismus
eingedrungenen Berberbnifle, fo wie die Berpflichtung
und Berechtigung zu einer nach Maßgabe ded Beduͤrf⸗
niffed von Zeit zu Zeit vorzunehmenden Reformation der
firchlichen Kormen.
Niemand wirb befireiten, daß in biefen Sägen zu
Gunften der „unfidhtbaren” Kirche fehr viel Treffendes
und Ginleuchtendes enthalten if. Dennoch gehört Ref.
zu denjenigen, welche ben Begriff einer „unfichtbaren
das Weſen bes chriftlihen Glaubens ꝛc. 475
Kirche für einen verfehlten halten und ber Anficht find,
daß innerhalb des Proteſtantismus viel Mißbrauch mit
bemfelben getrieben worden ifl. Sobald wir den äußern
Organismus der Kirche, ihre Formen, Ginrichtungen,
Beamten, Dienfiverrichtungen u. f. w., für unmwefentlich
"erklären, fo pflanzen wir ben kirchlichen Indifferentismns
und entbinden befonderd bie Gebildeten ihrer kirchlichen
Pflichten, die gemäß ihrer focialen Stellung, ihren dogs
matifchen Unfichten und ihrer Mtlichen Weltanfhauung
theilweife fehr gern mit einer unfihtbaren Kirche und
einem Gottesdienfte im reinen Geiſte fih begnügen.
Was der Verf. zu 1) fagt, trifft nur die Geiftlichkeites
kirche; wer wird aber diefe für die wahre fihtbare Kirche
halten? Was der Verf. zu 2) fagt, ift nur auf feltene
Ansnahmen anwendbar; aber auch dann kann der Haus⸗
gottesdbienft zu Hülfe kommen. Und follte denn ;u 3)
nicht die befte Abhälfe gegen Schein» und Werkheiligkeit
in einer lebendigen kirchlichen Gemeinfchaft liegen,
die ihr Heil nie in tobten "Formen fuchen wird. Die
äußern firchlichen Formen aber zu 4) für unweſent⸗
lich zu erflären, erfcheint und mehr als bebenflih. Es
kann doc, nichts unmwefentlich feyn, was Chriſtus felbft
angeordnet hat.
Freilich hängt das Urtheil hieräber ganz von ber
Anficht über das Weſen des Gottesdienſtes ab.
Gicht man den Gottesdienft nur als eine religiöfe Unter,
weifung für die Zurücgebliebenen unter ben erwachfenen
Ehriften an, für ein Surrogat deffen, was die Schule in
der Jugend zu wenig geleiftet hat, fo ift ſich nicht zu
verwundern, daß man hie und da an ein Schließen der
Kirchen gedacht hat, zumal feit bie Emancipation der
Volksſchule fo feurige Vertheidiger gefunden hat. Der
Berf. if von dieſer Anfidyt weit entfernt, und er bat den
Begriff der Predigt, die nun einmal den Mittelpunkt
des proteftantifchen Gottesdienſtes bilder, u und ſchön
Theol. Stud, Jahrg, 1847,
476 de Wette
gefaßt, wenn er fie als „das leute, fruchtbarfte Ergebniß
der Aneignung und Wiederhervorbringung ber Dffen-
barung, dad Zeugniß des zur concreten, individuellen,
Wahrheit gewordenen Glaubens und ale das Erweckungs⸗
mittel deffelben Glaubens für die Gemeinde, überbanpt
als die Bläthe und Frucht des lebendigen Schriftverſtänd⸗
niſſes“ fchildert (S, 425.) Nur möchten wir bann bie
Prediger nicht.ald Beämtete oder Diener der Be
meinde (S. 420.) begsicdhnet wiffen, eine Bezeichnung,
die nnd auch neben vielem trefflich Geſagten iu der Theo
rie ded Cultus von Kliefoth mißfaflen hat. Der Pre
diger fol, nach unferer Anficht, nie der Diener eines
Menfchen oder irgend einer menſchlichen Gemeinſchaft
werden; er fol ein Diener Ehrifti, des göttlichen Wor⸗
tes, ein Botfchafter an Ehrifti Statt feyn (2 Kor. 5, 20.).
Es ift andy nicht richtig, daß der Prediger den Glauben
feiner Gemeinde predigen folle, was man jeßt fo oft gewiſſen
Tagesmeinungen zu lieb fordern will, Der Prediger foll
Bad Evangelium, das Wort Gottes, den Glauben an
Chriftum predigen, habe feine Gemeinde einen Glauben,
was fie für einen wolle. Hat fie den rechten noch nicht,
fo fol der Prediger denfelben in ihr auferbauen. Scheint
der Verf. voraudzufeßen, daß „nur ber größte Theil der
Ehriften” des Gottesdienſtes bedürfe, daß es alfo auch
manche gebe, welche benfelben nit nöthig hätten (S.
420.), fo find wir auch hierin nicht ganz feiner Meinung.
Für jeden lebendigen Ghriften, fey er hochgebildet
oder ungebildet, muß der Bottesdienft ein Bedürfniß ſeyn
aus eben dem Grunde, den ber Verf. fo unvergleichlich fchön
bervorhebt: weil der Sottesdienft Die fortwäh—⸗
rende „Wiederhervorbringung der Offenbas
rung” if. In der von Gott felbt angeordneten Er:
fcheinungsform offenbart fich uns in demfelben das Ge
heimnig der Eriöfung und Berfühnung. Im Gotteds
Dienfte bekennen wir uns zu biefem Geheimniffe, eignen
$
bad Wefen des rifllihen Glaubens ꝛc. 477
uns baffelbe an, ſtimmen ein in die Lob» und Danklieder
zum Preife des Heren. Manche Prediger erkennen freis
lich in unferer Zeit ihre hohe Aufgabe noch nicht genug.
Auch hierüber hat der Berf. Treffliches gefagt. „Unſere
Prediger”, bemerkt er nämlich, „‚fInd entweder unbelebte
Altgläubige, vder kraft: und charakterlofe Rationaliften
oder zu eifrige nnd heftige NReugläubige, die das alte
Eutherthum ober den alten Calvinismus wieder verkündi⸗
gen, oder Rationaliften einer neuern Art, die noch ſchlim⸗
mer ift ale die altes; aber erleuchtete Prediger, die fich
den lebendigen Geift des Evangeliums angeeignet haben
und mit aller Kraft ded wahren Glaubens und der Be
geiſternug eine Buße predigen, wie wir fie nöthig haben,
und wofär die Befleren aller Stände Empfänglichleit und
guten Willen hätten, wenn ihnen nur ber Weg gezeigt
wärde, und die zugleich mit ihrem Charakter und Wandel
vorleuchteten — foldyer gibt ed wenig” (S. 384). Allein
die Chriſten follten bedenken, daß der Gottesdienſt noch
andere Beftandtheile ald die Predigt hat, und daß nicht
gerade ausgezeichnete, fondern nur ernfle, treue unb
fromme Prediger und noch thun, deren ed doch an vie⸗
in Orten gibt.
Der Gotteödienft hat aber noch ganz andere Bes
Randtheile als die Predigt, und das darf Niemand vers
geffen, der fi um der ungenügenden Predigt willen von
bemfelben dispenfirt glaubt. Wir kommen damit auf den
ymbolifchen Charakter des Gottesbienfted zu fpre-
hen. Raum wird in unferer Zeit mehr ein Urtheils⸗
fühiger beftreiten, daß der Proteſtantismus auf diefem
Gediete zu viel zerſtört und zu wenig aufgebaut habe.
Der Rationalismus mit feiner nüchternen, vernünftigen
Religion hat der Eirchlichen Symbolik noch. den Todes
ſtoß gegeben, un® hätte confequenterweife fo weit gehen
mäflen, als die Wiedertäufer im Zeitalter der Reforma⸗
tion, die ihre Gottesdienfte im Freien abhielten. Lnfer
32 *
478 de Wette
Berf, zeigt auch in diefem Punkte, wie fche er wit der
Zeit fortzufchreiten weiß und ihre religiäfen Bebürfnifie
verfieht. „Es iR”, fagt er treffend, „nur aus der ein⸗
feitig dogmatifchen und verfländigen Richtung bed Protes
ſtantismus erfläriich, daß nach Abthnu aller katholifchen,
sum Theil allerdings verwerflichen Gebräuche, die ſich
an die hohen Hefte aufchloffen, die Feier derfelben bie
jegt auf die gewöhnlichen fonntäglich wieberlehrenden
Formen bed Gebets und Geſangs befchränft geblieben
fl. Ueberhaupt fehlt ed und an heiligen Ge⸗
bräuchen, indem die alten abgefchafft find und dem
kirchlichen Leben burd das Liebergewicdht des Begrifs
fes und Dentens bie Kraft, neue hervorzubringen, wer
nigftend bis zur Stunde gelähmt ift” (S. 427 ff.). Mit
vollem Rechte beklagt es der Berf., dag in der reformir⸗
ten Kirche der finnreich angelegte Cyklus bed Kirchen,
jahres aufgegeben wurde, unddverlangt Wiederherfiellung
deſſelben mit zwedmäßiger Berbeflerung. Sehr fhön bes
mertt er: „Die drei hoben Feſte mit ber Leidenswoche
‚ Scheren in ihrer tieffinnigen, ewig jungen Symbolik jährs
lich wieder, und bieten der SÖffentlihen Andacht einen
unerfchöpflichen Reihthum von Anktnüpfungspuntten.”
Es war natürlich, daß in der proteftantifchen Kirche das
dogmatifche Intereffe mehr als billig vorherrſchte; dafs
felbe fol auch von dem kirchlichen nicht verfchlungen
werben, und in diefer Beziehung behält Schelliug in
feiner vielbefprochenen Borrede zu Steffens nachgelaſſe⸗
nen Schriften Recht, daß es ein Unglück wäre, wenn ber
Proteftantismus in erneuerten Verfaflungsformen Erfag
für dogmatifche Weiterentwidelungen zu finden hoffte;
allein gewiß iſt auch wahr, daß das dogmatiſche
Denten feinen höchſten Ausdrud im kirchlichen
Leben erhalten muß, fonft wirb da& Chriſtenthum aus
einer Lebensgemeinfchaft eine Schule, oder zerfällt viel⸗
mehr in eine Anzahl von Schulen.
das Weſen des hrifllichen Glaubens x. 479
Unfere ganze Firchliche Symbolik befchräutt fich, wie
der Berf. richtig angibt, auf-die beibehaltenen zwei Sa»
cramente: bie Taufe und dad Abenpmahl. Ohne
Zweifel wären auch diefe vom Proteſtantismus aufgegeben
worden, wenn fle nicht biblifch fich hätten begründen laſ⸗
fen. Der Ansdruck GSacrament wird darum auch hente
noch von Menfchen in Anfpruch genommen, die ihm vor⸗
werfen, daß er nicht biblifch fey. Der Verf, thut bieß
nicht; er fcheint von dem Bedurfniſſe nach kirchlichen
„Myfterien” durchdrungen, dergleihen alle Religionen
hatten, und bie fhon darum eine Nothwendigkeit find,
weil die Religion felpft der Ausdruck für bie ewigen, nus
erflärlichen Geheimniſſe if. Dagegen muß man es aller»
dinge mit ihm beflagen‘, daß innerhalb der proteflantis
ſchen Kirche „eine zwiefpältige Theorie des Sacramentd,
indbefondere des heil. Abendmahles aufgeftellt worden
iR” (S. 428). Nur find wir darin nicht ganz feiner
Meinung, daß er diefen Zwiefpalt nur aus „falfchem
dogmatifchen Wiflenstrieb und der Sucht, Alles in haar⸗
fharf bekimmte Begriffe zu fallen” (S. 428.), herleiten
will, Es if bier nicht der Ort, auf den tief principiellen
Gegenfaß des lutheriſchen nnd reformirten Pros
teſtantismus einzugehen; fo viel ift aber außer allem
Zweifel, daB diefer Gegenſatz ans guten Gründen in der
Lehre vom heil. Abendmahle am fchärfften hervorgetreten
iR. Der Verf. felbit wirft Zwingli vor, daß er „das
Zerglieberungsmefler etwas zu tief habe einfchneiden laſ⸗
fen”, nnd räumt von Luther ein, daß er „an dem gläus
bigen Gefühle fegehalten habe, im Abenbmahle etwas
Wirkliches und Wefenhaftes von Chriſto zu em⸗
pfangen.” Gewiß ging Luther darin zu weit, daß er die
zwingli'ſche Anficht nicht mehr als eine chriftliche wollte
gelten laffen und die brüäderlihe Gemeiufchaft mit den
Neformirten wegen der Abweichung in der Sacraments⸗
lehre anfhob. Der Gegenſatz lag aber eben tiefer, Zwingli
280 de Wette
ließ fein Zerglieberungämefler nicht nur im ber Sacra⸗
mentslehre zu fehr einfchueiden, fonbern ging überhaupt
von einer andern hriftologifhen Grundanfhanung
aus, ald Luther. Ref. hat an einem andern Orte (We⸗
fen des Proteſtantismus, Bd. I. ©. 325 ff.) nachgewie⸗
fen, daß Zwingli die menſchliche Ratur Chriſti mit der
göttlihen gar nicht ald eins zu denken vermochte und
an feine rechte Menfhwerdung Gottes in Ehriſto
glaubte. Sein Gottesbegriff blieb immer ein jenfeitiger,
abftracter. Luther war dagegen in den umgelchrten Feh⸗
ler verfallen unb hatte die menfchliche Ratur Ehrifli im
feiner göttlichen untergehen und verfchwinden laſſen (We⸗
fen des Proteſtantismus, Bd. I. ©. 313 ff.) Darum
fiel es ihm micht fchwer, eine gegenwärtige Leiblichkeit
Shrifti im Abendmahle anzunehmen, da ihm der (feinem
Begriffe nach aufgehobene) Leib Chriſti überall war, wo
Ehriftus feiner Gottheit nach. «lieber beide Neformatoren
wird man milder urtheilen und ihren vermeintlichen Ei⸗
genfinn richtiger würdigen, wenn man bedenkt, daß fie
von verfchiedenen theologifchen Brundanfchauungen aus⸗
gingen.
Nach unferer Anficht bedarf ſowohl das Intherifche
ald das reformirte Dogma in der Abendmahlslehre der
Umbildung. Den Fehler des Intherifchen Dogma deckt
der Berf. richtig darin auf, daß Luther einen falfchen
Begriff vom Leibe und Blute bed Herrn mitbrachte, das
heißt, daß er die Reiblichleit, dad Seyn des Herrn
(Matth. 26, 26.) für ein localesd nahm. Er überfab
dad Symboliſche ded Abendmahled. Der Berf. fagt
ganz wahr: „Gegenſtand und Inhalt der Aneignung if
hier nicht ein Stoff oder eine Subftanz in ihrem Seyn
oder Befiehen, wie der Leib Ehrifti an fich gedacht wird”
(S. 433.). Dagegen flimmen wir mit dem Verf. nicht
überein, wenn er ber Anficht zu ſeyn fcheint, Gegenſtand
und Inhalt der Aneignung fey nicht etwas, das außer⸗
dad Weſen des chriſtlichen Glaubens x. 481
halb des Bläubigen fey. Was im Abenbmahle augeeid-
net wird, ift etwas weientlih DO bjectives, etwas, das
außerhalb des Genießenden if. Darin hatte Luther ges
gen die Neformirten ganz recht. Hätten wir das Object
bes Abendmahles {hen in und: fo fieht man nicht ein,
warum wir zum Abendbmahle gehen follten. Den Glau⸗
ben, das fubjective Gefühl zum Adenbmahlsinhalte mas
hen, ift irrig, und diefer Irrthum ift Schuld daran, daß
viele Ehriften, welche wenigftend die Predigt noch befus
den, fi vom Genuſſe des Abendmahls losgeſagt haben.
Chriſtus — der wirkliche gekreuzigte Chriſtus — If
dad Dbject des Abendmahles, und derfelbe ift und im
Abendmahle auf eine Weife gegenwärtig, wie ſonſt
nirgends. Diefe Gegenwart Chrifti in der fombolifchen
Anfhauung und dem fymbolifchen Benuffe if das My⸗
Rerium des Abendmahles. Der Berf. gibt die
aunch wieder felbft zu, wenn er die ganze Abendmahls⸗
handlung einen chriftlichen Bemeinfchaftsact bilden läßt,
„in weichem Ehriftus, unabhängig vom Blauben
des Einzelnen, thatſachlich gegenwärtig ſey,
jo daß auch der bloße Zufhauer fagen müßte, er ſey
gegenwärtig” (S. 435.), Damit geht der Berf. fogar
über den reformirten Standpunkt weit hinaus, ja er
ſchließt fi dem entfchteden Iutherifchen an, wenn
er nicht nur die Unwürdigen, fondern felbft die Uns
gländigen daffelbe, was der Würbige und Gläubige,
nur aber in einem ihm verderblichen Begenfage vermit⸗
telſt des Abendmahlsgenuſſes empfangen läßt. Denn das
war befanntlih der nnerledigte Streitpuntt zwiſchen
Butzer und Luther geblieben, daß ber erſtere nur zugeben
wollte, die indigni, aber nicht die impii genöffen im Abend»
mahle den Leib und das Blut ded Herrn. Zu hart end»
lich fcheint uns das Urtheil des Verf. Aber bie Abend»
mahldichre Galvin’d. Mit der „umfchriebenen” Perföns
lichkeit Ehriſti im Himmel rettete er die perfönliche Selb⸗
—
482 de Wette
fländigkeit Ehriſti gegen bie Intherifche Ubiqwirätsichre,
dagegen lehrte er die wirkliche und wefenhafte Ge
genwart Ehrifti im Beifte, die er freilich für den Verſtand
, nicht begreiflich machen Tonnte, Er nahm eine durch ben
Geiſt vermittelte Einwirkung des Im Himmel befiudlichen
Fleiſches Ehrifi an, und wollte damit die reformirte mit
der Intherifchen Borftellung verföhnen, ein Beftreben, das
wie jedenfalls ehren müflen.
Entfchieden müßten wir dem Verf. widerfprechen,
wenn er in dem Sacramente der Taufe nur eine „Weihe
der in die chriſtliche Gemeinſchaft Eintretenden” fehen
wollte. Das iſt die alte zwingli'ſche Vorſtellung, die aber
anch in der reformirten Kirche ziemlich allgemein aufge
geben if. Ref. hat an einem andern Drte entwidelt,
daß die Taufe ſchon den Neformatoren das Sacrament
der Gündenvergebung war, mithin eine fymbolis
ſche Bezeugung oder Befiegelung, daß im Tode Jeſu dem
Täuflinge Gündenvergebung zugeſichert ſey. Faßt man
die Taufe ald Sacrament der Wiedergeburt, wie
dieß, beſonders durch die Stelle Tit. 3, 5. veranlaßt,
Biele thun, fo hat man eine fchwere Stellung gegen die
MWiedertänfer, welche die Taufe ald eine ſymboliſche Ber
zeugung, daß ein Menſch wiedergeboren fey, geltend
machen und darum anch erft dann ertheilen, wenn fie
von ber flatthabenden Wiedergeburt des Täuflings
überzeugt find. Bon bier aus läßt fih die Kinder
taufe mit dem beften Willen nicht rechtfertigen, audger
nommen mit der abentheuerlichen Annahme mehrerer Rer
formatoren, daß der b. Geiſt die Wiedergeburt ſelbſt in
nugebornen Kindern bewirken könne, wofür dad Beifpiel
Johannis des Täufer angeführt wird. Der Berf., wel
cher die Wiedergeburt ebenfalls für „‚den Begenftand und
Gehalt des Taufacted” hält (S. 437.), fucht fidh dadurch
zu helfen, daß er jene für etwas Fließendes, einer Ab
fiufung und einem Gradverhältniffe Unterworfenes er
das Wefen des dyeiftlihen Glaubens x, 483
Härt, für etwas, das in der Taufhandlung nicht ſchlecht⸗
hin vollendet und abgefchloflen,, fondern auch nach ders
felben noch fortgefegt und immer mehr zur Vollendung
gebracht werben mäfle. Damit fchiene und aber der Bes
griff der Wiedergeburt in den der Heiligung Üüberzugeben,
and wir glauben, zwifchen einem wiedergebornen und
einem unwiedergebornen Menfchen fey nicht nur ein flies
Bender, fondern ein fefter Unterſchied, wenn fi aud
sicht in jedem Menfchenleben der Anfangepunft der Bes
fehrung genau und gleihfam mathematiſch nachweifen
läßt. Alle diefe Schwierigkeiten löſen fi, fobald man
die Taufe ald Gacrament der Sündenvergebung faßt,
was auch ihr urfprünglicher Begriff war. Denn es läßt
ſich aus dem neuen Teftamente durchaus nicht nachweifen,
daß die Taufe nur Wiedergebornen ertheilt worden wäre,
and der Verf. fagt in diefer Beziehung ganz richtig,
bei manchem Täuflinge möge im apoftoliichen Zeitalter
die (religiöfe) Seibfkthätigkeit nur erft in einem fehr ges
tingen Grade vorhanden gewefen feyn (S. 431.). Jeder
Menfch bedarf der Sündenvergebung; denn Gott will,
dad alle Menfchen felig werden. Warum follte alfo
dad Pfand derfelden unmändigen Kindern verweigert
werden? Ihnen dagegen ein Pfand ihrer Wiedergeburt
zu ertheilen, das fchien dem Ref. immer zum mindeften
eine unbegräudete „Prolepfie.’ |
Unftreitig find nun auch noch bie Anfichten des Berf.
über Kirchenverfaffung unferer befonderen Anfmerk⸗
famteit werth, nm fo mehr, als die Kirchenverfaflunges
frage eine fogenannte Zeitfrage geworden ift. Wenn jebt
Manche von einer freien Kirche fchmärmen und in
beſter Abficht völlige Trennung der Kirche vom Gtaate
herbeiwünſchen, fo ift der Verf. ein viel zu tiefer Deus
ter, viel zu umfichtig und zu erfahren, ale daß er in dies
ſen Wunfch einftimmen könnte. Er vertennt und verhehlt
zwar Die Mängel unferer Staatöfirche nicht, die den Or⸗
438 be Wette
ganismus des kirchlichen Lebens in feiner Ausbilbung
bemmte, bie Kirchenzucht abſchwächte und zuletzt aufläfte
und bie Gelbfithätigkeit der Gemeinden lähmte; aber er
verfennt eben fo wenig die „unendlich wichtigen Vor⸗
theileꝰ (S. 441.), die mit dem Beſtehen einer Staatskirche
verbunden find. „Wenn das Ghriftenthum nichts als
Sadıe der Einzelnen und der frei gewählten chriftlichen
Befelfchaften wäre”, fagt er vollkommen richtig, „fo fände
die Möglichkeit ftatt, daß ein großer Theil der Staates»
bürgerichaft nicht chriftlich, entweder jüdifch, oder deiſtiſch,
oder naturaliftifch wäre, daß fomit aller chriflihe Ger
meingeift aufhörte und an defien Stelle der Ungeiſt der
Selb » und Gewinnſucht träte”, Die Regierung würde
ihren chriſtlichen Charakter verlieren und bald keine ans
dern Grundfäge mehr. al& die der weltlichen Gerechtigkeit
und des Nutzens haben, die Aufrechthaltung und Pflege
einer wiflenfchaftlichen Theologie würbe ihr entriffen, und
das chriflliche Leben möglicherweife der Unwiſſenheit,
dem linverflande und Uberglauben preis gegeben. Die
norbamerikanifchen kirchlichen Zuflände, die nur ein Uns
wiflender für Rormalzuftände der Kirche halten Tann,
und die Riemanden zuträglicher find ald der römifchen
Kirche, die einen feſten kirchlichen Organidmus bat und
mit dieſem die Seeten überwindet, legen das ſprechendſte
Zeugniß für die Wahrheit des vom Berf. Sefagten ab.
Dem Unglauben und dem kirchlichen Radicalismus wäre
allerdings die Trennung der Kirche vom Staate fehr
erwänfht. Das Lofungswort zur kirchlichen Auflöfung
wäre damit gegeben. Die Kirche würbe ſich zwar audı
in biefem Falle nicht gänzlich auflöfen, fondern nur nen
gehalten, und der Staat müßte mit der Zeit auf biefe
oder jene Weife mit der Kirche, die er nicht entbehren
fann, wenn er nicht fein innerfted Lebendband zerſtören
will, wieder ein neued Bündniß fchließen.
das Wefen bes chriftlichen Glaubens ꝛc. 485
- Bogu aber eine gefährliche, möglicherweife für ben
Staat ſelbſt verderbliche Kriſe herbeiführen, wenn auf
dem milden und verfländigen Wege der Reform viel
Beflereö erreicht werben Tann? Der Berf. fchlägt zum
diefem Ende die Repräfentatios oder Synodalverfafs
fung vor, der für die Gemeinden Presbyterien zu Grunde
liegen müßten. Die Preöbpterien hätten im Befonderen,
die Spnoden im Ganzen das Kirchenregiment zu
führen; die Geiſtlichen würden als diejenigen Mitglieder,
weldhen die lebendigere Theilnahme und die befiere Ein⸗
fiht beimohnt, den Haupttheil der Kirchlichen Vertretung
bilden; jedoch müßten auch Laien, welche durch ihren
firchlichen Sinn und ihre Einfiht das Zutrauen des Bols
kes befüßen, hinzugezogen werden, und bie Negierang
mäßte in den Synoden durch Commiffarien vertreten ſeyn.
Bir erfennen hierin allerdings die Grundzüge einer orgas
nifcheren, Icbendigeren Kirchenverfaflung, die in ber refor⸗
mirten Kirche auch hie und da ſich ausgebilder vorfindet,
während dagegen auf bie in Deutfchland und zum Theile
felbR in der Schweiz an vielen Orten beftehende Gonfis
Rorialverfaflung von dem Berf. gar feine Rüdficht ges
nommen wird. Darand entfieht der Uebelſtand, daß, obs
wehl der Verf. die Staatskirche beibehalten wünſcht, ex
dennoch den Regierungen zu wenig Einfluß auf das Kirs
henregiment einräumt. Eine zweckmäßige Verbindung bed
Synodal⸗ und Eonfiftorialfpftems fchieue dem Ref. befons
derö anzurathen; denn rein demokratiſche Formen
fönnten der proteftantifchen Kirche diejenige Feſtigkeit nicht
geben, weldyer fie zumal der römifchen Hierarchie gegen,
über bedarf. Auch ift ed uns einigermaßen anfgefallen,
daß der Berf. gar nicht in Betracht gezogen hat, ob bie
Eyiffopaiverfaflung, welche Melanchthon fo gerne der
deutſchen Kirche erhalten hätte, mit dem Principe dee
Protefantismud unter gewiffen Boransfehungen nicht
erträglich "wäre.
66 de Wette
Mit allem dem, gibt aber ber Verf. felbft zu, wäre
die Kirche immer noch zu einer bloßen „Anftalt für
hriftlihde Erziehung und Erbauung herabge
funten” (S. 441.). Das fittlihsthätige Leben. bliebe
fomit faR ganz vom Kirchenleben ausgeichloffen (S. 443.).
Abhülfe hievon erwartet der Berf. allein vom chriſtlichen
Bemeingeifte und in der freien Bethaͤtigung beffelben
dar hriftliche Vereine. Damit ift nichts Anderes
gefagt, ald daß die Staatskirche durch die freien Ber
eine reformirt werden müſſe, was auch die feſte Leber
jeugnug des Ref. iſt.
Es ift gewiß wahr, daß die Mitglieder foldyer freien
Vereine die beften Ehriften find (S. 379.)5 aber in
vieler Beziehung auch wahr, was der Berf. au ihnen
ausſetzt, daß fie meiſtens zu engherzig find, zu viel Bor
urtheile gegen die Wiffenfchaft haben , fidy die Offenbas
zung nicht lebendig geung anzueignen vermögen (S. 380.).
Auf der anderen Seite find aber viele weitherzigere Chri⸗
fen hieran ſelbſt Schuld, weil fie feinen Sinu und feine
Theilnahme, nicht einmal ein Bedürfniß für das freie
Gemeindeleben haben und gleich Pietismus und „DMuder
zei” darin wittern. So weit als der Berf. würden wir
jedoch nie gehen, welcher dad Predigen und die Wahl
der Prediger den Conventikeln überlaflen und tim öffent
lichen „Gottesdienfie” das darftellende ſymboliſche Ele⸗
ment dergeftalt zum Uebergewichte erheben würde, daß
die regelmäßigen Andachtsübungen auf bibliſche Borle-
fung, Gebet und Geſang befchränkt, die Predigt aber
auf die hohen chriftlihen Feſte und befondere Bettage
aufgefpart bliebe (S. 444). Wird jekt zu viel gepre
digt, fo wollen wir wenigfiend nicht in das andere Gr,
trem verfallen und zu wenig predigen, was gerade zu
dem, vom Berf. fo fehr verwünfchten, änßerlichen Gere
moniendienfte führen koͤnnte.
dad Weſen des chriſtlichen Glaubens x. 487
Daß ſich die Kirche einſt vollenden werde, das
iR die große Weiſſagung des N. Te. Der Verf. ers
wartet diefe Vollendung in der Zeit in einem neuen gros
den Siege des chriftlichen Geiftes der Wahrheit und Ges
techtigleit (ES. 449.) Wahrhaft vollender fidh die Kirche
Chriſti aber erft in der Ewigkeit. Der Berf. hat an bie
Stelle einer unperfönlichen Unfterblichkeitdichre, die ganz
dem modernen, mit dem &lauben zerfallenen Bewußtfeyn
angehört, wieder bie kirchliche Lehreder Auferfiehbung
von ben Todten gefeht. Dagegen hat er alles vors
wigige Grübeln darüber fern gehalten, wie der Proceß
der Auferfiehung vor fich gehen werde, Auch die Frage,
warum der einzelne Gläubige nicht fogleich nadı dem
Tode zur Vollendung gelange, und welches ber Mittels
zuſtand fey, den er durchzugehen babe, weiſt er ale ans
Gelbſtſucht entfpringend zurück. „Es ift der Wille Gots
tes ſelbſt,“ fagt er, „daß wir Über diefe Dinge in Uns
wiffenheit bleiben follen. Linfer Erfenntnißvermögen ift
fo eingerichtet, daB wir über Allee, was jenfeitd dieſes
irdifchen endlichen Lebens liegt, nichts Gewiſſes und Bes
Rinmtes wiſſen können” (©. 459.). Es ift auch pfychos
logifh fehr wahr, was der Verf. noch fpäter bemerkt,
daß diefe Unwiſſenheit wohlthuend für uus ſey. „Wäre
uns ein Willen über diefe Dinge möglich, fo hörten fie
auf, Begenflände des Glaubens und der Hoffnung zu
fon, und dem Geiſte wäre das Geheimniß geranbt,
defiem er bedarf, um feine höchfte Schwungfraft zu Üben”
(8. 460.).
Der Berf. fchließt fein Werk ſelbſt mit einem Ges
heimniffe, demjenigen der Dreieinigkeitslehre.
Bir können nnd nad) dem Standpunkte des ganzen ers
kes wohl vorftellen, daß er die Lehre von ber fogenanns
km immanenten Dreieinigkeit verwirft und fich nur
an die Dffenbarungsdreieinigkeit hält, welche auf
die dreifache zur Erfcheinung gefommene Geoffenbartheit
488 be. Wette
Gottes ald des Vaters, des Sohnes unb des h. Geiſtes
gurüdgeht. Die Abneigung gegen die immanente Drei
einigteitöichre war fchon unter den Reformatoren, zumal
den reformirten, fehr groß und Galvin hätte fich ſchwer⸗
lich jemals wieder zu ihr zurdgeflüchtet, nachdem er fie
fhon völlig verlaffen hatte, wenn ihn nicht Servet durch
feine Oppofltion vom Standpunkte des naturaliftifchen
Mantheitmus aus erfchredt hätte. Dennoch iſt die im:
manente Dreieinigfeitsichre nicht fo ganz verwerflich;
denn wenn Unterfchiede aus dem göttlichen Weſen in
der Geſchichte des Reiches Gottes hervortreten, fo
müſſen dieſe Unterfchiede in dem göttlihen Weſen felbk
ihren Grund haben. Das hat der Chriſt ald ein uner⸗
forfhlihdes Gcheimniß glänbig anzuerfen
nen; „die fcholaftifche Speculation aber in das göttliche
Weſen felbft hineinzuverfegen” (S. 492.), dazu fehlen
dem Menfchen alle Bedingungen, nnd die Firchliche Lehre
bedarf in diefer Beziehung heute noch der Neviflon, die
von den Neformatoren an die Hand genommen, aber
wieder aufgegeben wurde.
Mir können nun unfere Bemerkungen über das treff⸗
liche und inhaltreiche Werk des Verf. nicht fchließen, ohne
noch einen Blick auf die ganze Anordnung und Eintheis
Inng deflelben zu werfen. Daß wir dieß erft jeßt thun,
hat darin feinen Grund, daß und der Stoff des Buches
wichtiger ale die formelle Behandinng fchien, und bie
leßtere erft dann recht verftanden werden fann, wenn ber
Stoff felbft befanne if. Auch wird in der formellen dw
handlung zumal eined dogmatifchen Syſtems immer eine
gewiſſe Freiheit eingeräumt werben müffen, zumal in ei
ner Zeit, die in den Brundprincipien fo fehr hin und her
fhwantt. Im Allgemeinen hat der Berf. den von Schleier:
macher zuerſt betretenen Weg eingefchlagen und nad
Boranftellung einer Reihe von einleitenden Säßen, welche
von der Ratur und Darſtellung ded Glaubens handeln,
zuerft die urfprängliche, aber geflörte Einigung der
bad Weſen des chriſtlichen Glaubens ꝛc. 489
Menſchen mit Bott, dann in einem zweiten Theile bie
durch Ehriſtus wieder hergeftellte Einigung der Mens
fhen mit Bott behandelt. Diefe Anordnung bat ihre
großen Bortheile, die ſich hier aufs Reue wieder beftätiget
haben. Ihre großen Nachtheile hat fie aber auch. Diefe
liegen darin, daß die ganze Dogmatif auf diefem Wege
nicht genug objectiven Hintergrund hat, daß ſich die
einzelnen Sätze aus dem fubjectiven chrifllichen Bewußt⸗
ſeyn gleichfam herandfpinnen, aber nicht auf ben großen
gefchichtlichen Heilsthatfachen ruhen. Dem Ref. fcheint
ed mißlich, vom Glanben reden, feinen Begriff entwidels
u müffen, ebe nur vom Objecte bes Glaubens,
vou Chrifto, irgeubwie die Rede feyn konnte. Und doch
handelt die ganze Einleitung vom Begriffe des Glaubens.
Diefe Anordnung führt aud den Nachtheil mit fidh, daß
jmeimal vom Berf. ber Begriff des Glaubens entwis
delt wird: einmal in der Einleitung, und dann wieder
im erften Hauptflüde des zweiten Abſchnittes des zweiten
Theile® bei der Lehre von der Heilsordnung. Leberhaupt
ſcheint dem Ref. der dhriftlihe Glaube immer Dffenbas
rungsglaube zu feyn, und diefer kann doch erft dann
unvorgreiflich eutrwidelt werden, wenn bie Thatſachen
der Offenbarung begründet find. Diefer Vorwurf trifft
aber Schleiermacher zunächſt, und das ift auch ein Haupt⸗
grund, warum Ref. bei aller Verehrung wor dem herr,
lichen Manne fich dennoch durch die fchleiermacher’fche
Dogmatik nicht befriedigt fühlt.
Auch in Beziehung auf die Lehre von Gott ift
der Berf. in Schleiermacher’d Kußftapfen getreten und
hat die göstlihen Cigenfchaften von einander getrennt
behandelt. Ref. hat die fchleiermacher’fche Gotteslehre
immer für einen der fchwächften Punkte feined Syſtems
gehalten. Wozu dieß Zerreißen und Zerpflüden des Eis
nen, untheilbaren, ewigen Gottes bei Entwidelnng feines
Begrifea? Der Begriff fol dad Weſen darfiellen, und
wo es recht eigentlich zum Weſen gehört, ein unzertrenn⸗
490 be Weite
lihed Ganze zu feyn, da follte audy ber Begriff nicht
trennen, Ref. hat bei Darftelung des Weſens des Pro⸗
teſtantismus unwilllürlih das Bedürfniß gefühlt, die
Gotteslehre mit der Ehriftologie zu verbinden. "Nur in
Ehrifto haben wir den wahren, lebendigen. Gott, der die Liebe
ſelbſt it. Gewiß ift Die Methode der alten Dogmatiler
eben fo verwerflich, die den locus de Deo der Ehriftologie
ooranfchiden, ja gar an die Spite des Syſtems flellen.
Da befommen wir wohl abfiracte, fcholaftifche Formeln
über das, was Bott nicht ift, aber Das, was Gott
it — und dad macht doc fein Weſen aus — hat und
erft der Sohn Fund gethan: Bott if der Bater.
Dahin gehört dann auch die Lehre vonder Dreieinigfeit,
und nicht wohl an dad Ende des Syſtems, wohin
Schleiermacher diefelbe in einer Art von Verlegenheit ver:
wiefen. zu haben fcheint, ba er fie fonfl nirgends unter
zubringen wußte.
Die Stellung, weldhe der Berf. der heiligen
Schrift in feinem Syfteme einräumt, fcheint und eine
zu 'untergeorbnete zu feyn. Man hat biöher zwei Prin⸗
eipien des Proteflantiämud geltend gemacht: das foge
nannte formale und materiale. Unter dem erſteren
verfiand man die heilige Schrift. Ref. iſt der Anficht,
daß es unrichtig iR, fo zu unterfcheiden, und daß ein
rein formales Princip ein Unding wäre. Allein wenn
auch die Schrift fein Princip, fo it fie doc eine Macht
im Proteftantismus, und ale folche iſt fie nicht mehr an-
erkannt, wenn fie ihre Stellung im Syſteme unter dem
Titel: „Ehriftus in der heiligen Schrift,” einzunehmen
hat. Die Lehre von der heil, Schrift gehört, nad) ber
Anfiht des Nef., vor die Lehre von Chriſto, weil wir
zunächft aus der Schrift-von Chriſto wiflen.
Daß der Lehre von der Kirche im zweiten Abfchnitte
des zweiten Theiles, wo von ber Aneignung bed Heild
gehandelt wird, ihre Stelle angemwiefen wird, könnte
bad Wefen des chrifllichen Glaubens ꝛc. 491
ebenfalls in Anfpruch genommen werden. Damit wirb
die Kirche als ein Gnaden⸗ oder Heildmittel betrachtet,
Sollte fie aber auch im Sinne des Verf. nicht eine höhere
Aufgabe zu löfen haben? Bezeichnet ber Verf. nicht felbft
bie Gemeinfchaft als eine zweite Menſchwerdung Gottes?
Und will fcheinen, die Lehre von der Kirche hätte zum
nindeften einen eigenen Abfchnitt, wo nicht einen befons
deren Theil bilden ſollen. Sie tft eigentlich bie Frucht
des ganzen von Bott in Ehrifto befchloffenen und vollen,
deten Heilswerkes — die thatſächliche Erfcheinung Gottes
anf Erben, die Verwirklichung feiner Offenbarung in der
Menfchheit. Die Lehre von der Kirche bietet nach der
Anſicht des Ref. für jede Dogmatif die geeignetften Schluß»
punkte dar. Denn waß ift fchöner, ald mit dem Zubels
rufe der trinmphirenden Kirche zu fchließen ?
Aller der Ausftellungen aber ungeachtet, zu denen fidy
Ref. hie und da bewogen fühlte, trägt er kein Bedenken,
biefes Merk für eine der [hönften und wid»
tigften Jiterarifchen Zeiterfheinungen zu
halten, Wer wollte auch in unferer Zeit eine Dogmas
tik ſchreiben, in welcher nur zwei felbftändige Theologen
durhaud einig gingen? Die dogmatifche Einförmigkeit
gehört überhaupt nicht zum Wefen bed Proteflantigmus,
und jeder Verſuch, eine foldye erzwingen zu wollen,
müßte zum größten Nachtheile für unfere Kirche ausfal⸗
In; er würde nur eine‘ allgemeine Zerfplitterung in Sec,
ten zur Folge haben, Unſere Zeit bedarf verfchiebener
theologifcher Bauleute, aber auf dem Einen Grunde, aus
ber dem Fein anderer gelegt werden kann (1 Kor. 3,11.)
Rad; unferem Dafürbalten ift das Werk des Berf. auf
diefen Einen Grund gebaut, und auch an Silber, Gold
und Edelfteinen fehlt es nicht, die das Werk feldft fchmär
den. Und wenn nichts Anderes daran wäre, als bad
Gold der Wahrheitsliebe, fo wäre das fchon ger
ung. Der Verf. will keiner Partei dienen, undD. Lüde
Theol. Stud, Jahrg. 1847, 83
492 de Wette, dad Wefen des chriſti. Glaubens xx.
hat darum mit Recht dem Buche das Prognoſtikon geſtellt,
Daß es von Bielen rechte und links werde verworfen
werden. Aber eben fo wahr if, daß es auch Vielen will
tommen ſeyn muß und daß kein Unbefangener daffelbe,
ohne neue Anregungen erhalten und den Berf. ſelbſt aufs
neue achten gelernt gu haben, bei Seite legen wird.
Nef. wird wenigftens die Stunden nie bereuen, die er
auf ein grändbliches Studium dieſes Werkes verwende
hat; denn für biejenigen, die nur einigen geiftreichen
Schaum von den Büchern abfchöpfen wollen, ift es nicht
gefchrieben. Wir fchließen mit dem herzlichſten Dante
gegen den Berf. für den großen Dienft, ben er der Wil
fenfhaft und der Kirche mit feinem Werke geleiftet hat.
Möchten die Gleichgeſinnten nicht unter eines Menfchen
Fahne, aber unter dem Paniere der chriftlihen Bahr:
heitsliebe fich immer näher zufammenfchaaren, um einer
fett dem wiebererwadhten ftabilen Scholafticidmus, an
dererfeitd aber befonderd dem frivolen Sanschlottid
mus zu wehren, der auf den Trümmern der Theologie
und der Kirche die Religion einer Riebe aufrichten wi,
Die nichtd glaubt, und eines Geiſtes, ber Fein, heiliger
Geiſt if. Denn um zur wahren Bermittelung zu
- gelangen, müflen die falfchen Gegenfäbe Abermunden
werden, und daß das Wert ded Verf. einen außerordent⸗
ich wichtigen Beitrag zu dieſem fchönen Zwecke liefert,
das werden ihm alle diejenigen danken, welche in unferer
Zeit der Wahrheit, und nur diefer, zu dienen entſchloſ⸗
fen find. -
Schenkel.
Ki
rchliches
88*
Ueber die Nichtannahme des koͤnigsberger
Deputirten, D. Rupp, auf der berliner
‚Generalverfammlung ded Guſtav⸗
7 Adolph = Vereins.
Aus dem göttinger DeputistensBerichte mit Erweiterungen
. von
D. Friedrich Lüde.
Audiatur et. altera pars!
— — Ich brauche nicht erſt zu fagen, daß ber Einbrud,
den Die Dießjährige Hauptverfamminng auf mic gemacht hat,
— fehr verfchieden von dem nur erfreulichen: Eindrude
ber göttinger und fluttgarter, — ein höchſt betrüben⸗
der geweſen if. Gleich im Anfange leidenſchaftlicher
Darteiftreit, wie ein Keuerbrand in eine ftille, harmloſe
Friedenswohnung geworfen, — ein Streit auf Leben und
Tod des Bereind —, was kann Betrübenderes für ein
Chriftenherz gedacht werden?
Indeſſen fehlte ed auch in der berliner Verſamm⸗
lung sicht an allem Bruude zur Freude und Hoffnung.
Richt nur iſt manches einzelne Heilfame einftimmig dort
beihloffen worden, fondern im Ganzen muß man auch
bad fagen, daß die urfprünglichen Bande der Liebe, des
Friedens und der Berfähnlichleit, worauf der Berein ger
gründet ift, ſich dort noch ftärker und mächtiger gezeigt:
haben, ald die eingebenngenen zeriörenden Mächte des
Haderd. Mir iſt es fchon etwas Großes, daß der Ver⸗
ein die berliner Berfammlung überlebt hat und an bem
böfen Zwiſte nicht gleich und gänzlich zr Grunde gegan⸗
gen it. Omen accipio. —
496 Luͤcke
Was in dem geſchichtlichen Hergange der Zeit nach
das Erſte war, die vorberathende Verſammlung am 7.
September Abends und die hier in ſchlimmer Mitter⸗
nachtsſtunde beſchloſſene Abweiſung bes D. Rupp, — iſt
zugleich dasjenige, worauf jeder Freund des Vereins am
meiſten geſpannt ſeyn wird, und es liegt in der Natur
der Sache, daß mein Bericht bei dieſem Vorfalle am
meiſten verweilen wird, zumal da die öffentlichen Ankla⸗
dei gegen bie, welche mie ich in dieſer Augelegenheit ger
flimmt haben, mic, nöthigen, in die Sache genauer eins
zugehen.
Als wir am 1. Sept. Nachmittags in dem eine halbe
Stunde von Berlin beiegenen Luftorte Tivoli zur erften
Begrüßung zuſammenkamen, Deputirte und übrige Mits
glieder des Vereins, auch nengierige Zufchauer aller Art,
— war ed nicht bloß die brüdende Schwüle Des Tages,
fondern weit mehr die bange Sorge für den Verein und
die eventuelle Löfung der durch die Tageöblätter ſchon
vielfach befprochenen und auch fchon zur Demonſtration
gemachten vupp’fchen Frage, — was bei aller Freude
ded Wiederſehens und erſten Begegnens eine bange Miß⸗
ſtimmung und ein Unbehagen erzeugte, welchem ſich Rie⸗
mand entziehen konnte.
In dieſer unbehaglichen Spannung ging man an
bemfelben Luftorte zur vorberathenden Sitzung in das
dazu befltimmte Verſammlungszimmer, welches wohl für
die allein berechtigte Verſammlung der Deputisten geräumig
genug fchien, aber für die mit einfirömende Menge meiſt
nengieriger Berliner weder Platz noch gefunde Luft hattet.
Indeffen wurde bei allem Gedränge die Verſamulung
von dem Vorſitzenden des Gentralvorftandes, Superinten
benten D. Großmann, mit Gebet eröffnet. Aber auch das
Gebet vermochtenicht, ber Berfammlung die nöthige Stille
unb Weihe zu geben. Mit Mühe etrangen mehrere Des
putirte ihren Sitz an dem Tifhe. Als die umfiehende
&b. die Nichtann. des Eönig6b. Dep. D. Rupp ıc. 897
Menge anfing, bie Ruhe ber Beratkung vielfach durch
Zeihen und Worte des Beifalls uud Mißfallens zu ſtö⸗
sen, unb ed das Anfeben gewann, ale follte die Berfamms
lang eine Art von tobender Vollsverſammlung werben,
drangen mehrere Deputirte entfchieden darauf, daß der
Saal von allen Richtdeputirten geräumt werden möge,
was denn auch, aber ziemlich allmählich, gefchah, zum
Berdruß Einiger, welche in dieſer heilfamen Ordnung
einen bedauernswerthen Rückſchritt zur Unfreiheit und
Unöffentlichfeit fanden.
Das Erſte in den vorberathenden Berfammliungen war,
wie immer, die nach F. 25. der Statuten geordnete Prüs
fang and Abnahme der Vollmachten der Deputirten von
Seiten des Abgeorbnneten des Centralvorſtandes, des Sur
perintendenten D. Großmann,
Als Diefer anf die Bollmadht des einen königsber—
ger Abgeordneten, ded D. Rupp, kam, erllärte er, daß er
biefelbe file fich weber annehmen noch zurückweiſen könne,
daß, da fie von mehreren Seiten beanftandet worden
fey, er ſich nach gefchehener Berathung mit dem Cen⸗
taloosftande für verpflichtet halte, die Krage darüber
an die Generalverfammlung zu bringen. Er müſſe jedoch
wünfcgen, daß, da vor Allem zuerft ber Borland ber
biefjährigen Beneralverfammlung gewählt und biefe ſelbſt
förmlich conftitnirt werden müſſe, D. Rupp fich einſtwei⸗
im feiner Vollmacht enthalten möge, bie zur beſchließen⸗
den Berfammlung am 9, Sept, au weldye dem D. Rupp
ber Regreß freiftehe, und in welcher die gewiß ſehr
(hwierige Frage ruhig und vollfländig erwogen und er⸗
ledigt werden könne.
Alein auf dieſen, wie mir fchien, billigen Wunfd
wollten fi) D. Rupp und ſeine Freunde nicht einlaffen. Es
bieß, auch wicht einmal die Wahl des Präͤſidiums könne in der
Berfammiung rechtlicher Weife vorgenommen werden, fo lans
ge die fegitimationen nicht in Orduung und vollendetfeyen.
498 Lüde
Nach laugem Hius und Herbisputiren, wobei man hie nnd da
eine auch fonft fchon bemerkte Ciferfucht auf die Macht
des Centralvorſtandes deutlich wahrnahm, ging man am
Ende auf dad Berlangen ein, die Frage noch in bie
fer vorberathenden Berfammlung zu enticheidben. Uns
ftreitig aber :wäre ber Auffchub viel heilfamer gewefen,
als die Beeilung einer Frage, welche mehr als bloß Aus
Berlich: formeller Art war, und auf welche au biefem
Abende die wenigften Deputirten und Die unbefangeniten
gerade am wenigften vorbereitet genug waren. Bei ger
ftattetem Auffchube hätte man ſich unterbeffen beffer mit
einander berathen, unterrichten und verffändigen können,
and eine ruhige Berathung an bem ftillen heiligen Orte
der Kirche würde, was auch das Ergebniß geweſen wäre,
die Gemüther lange nicht. fo aufgeregt haben. Auch
hätte man ben großen Bortheil gehabt, bie Hauptver-
fammlung nicht gleich mit einem feindfellgen Zwiefpalte
anzufangen. Allein fo eifrig waren die Freunde Rupp’s
auf rafche Entfcheidung, daß fie, als zue Wahl des Prä⸗
ſidiums der neuen Generalverſammlung gefchritten wers
den follte und darüber Streit entftand, ob D. Rupp bei
biefer Wahl ſchon mitſtimmen könne, nicht einmal dieſe
augenblidliche Euthaltung ded D. Rupp von feinem De
putirtenrechte einräumen wollten. Indeſſen half über
dieſe geringere Schwierigkeit nady mehreren andern Vor⸗
ſchlaͤgen Geheimerath Kransnid von Berlin ſchnell hinweg
durch den von ber Mehrheit und auch von D. Rupp augen
bli@lich angenommenen Vorſchlag, das Präfibium möge,
wie ſchon öfter geſchehen, durch Acclamation gewählt
werden, und zwar vor Allem möge man zum Präffdenten
den würbigen Dann wählen, der auf allen biäherigen Gene
ralverfammiungen das Präfidium zu allgemeiner Zufrieden
beit geführt habe. Nachdem hierauf Superintendent
D. Großmann zum Präfidenten ausgerufen worben war,
befiitumte man anf gleiche Weiſe zum Bicepräfldenten
db. d. Nichtann. des koͤnigsb. Dep. D. Rupp ıc. 499 .
den Geheimerath Krausnick, und eben fo wurben durch
Acclamation auf den Borfchlag des Bräfibenten die Se⸗
cretaͤre des Praͤſidiums gewählt.
Hierauf begann die Erörterung der rupp'ſchen Voll⸗
macht. 7
An der äußern Korm wurde Fein Mangel befuuden.
Was war alfo Bedenkliches daran?
Aid D. Rupp von feinem Hauptvereine zum Depus
tirten gewählt wurde, war er gerade Mitglied ber allge
meinen preußifchen Landeskirche, fein Mitabgeordneter
dagegen, D. Wechfler, Mitglied der fogenannten freien Ges
meinde in Königsberg, welche aud dem Nexus der preus
filhen Landeskirche herausgetreten iſt. Zwiſchen der
Wahl aber und der Ausfertigung der Vollmachten hatten
beide ihre Stellungen zur Landeskirche vertaufcht. Wechſ⸗
ler war, weil, wie erzählt wurde, Rupp ale Hauptfüh⸗
ser der freien Gemeinde zu orthodor gefchienen, zur fans
deöfirche, die ihm wohl am Eude freier bedünkte, zurück⸗
getreten, Rupp dagegen hatte fich förmlich, wie es laus
tete, von der evangelifchen Kirche, vulgo Landeskirche, los⸗
gefagt und war geiftlicher Zunctionär, Prediger derjelben
geworben.
Mar erft mit der vollzogenen Bollmadıt die Wahl
förmlich vollendet, fo fchien es in. der Ordnung, ſich bei
der Prüfung an die notorifchen kirchlichen Verhältniſſe
ber beiden Deputirten zur Zeit der Ausſtellung ihrer Voll;
macht zu halten. Und fo ift es feltfamer Weife ger
fommen, was aber ganz in ber Ordnung war, daß, wäh»
rend D. Wechſler's Vollmacht von Niemand beanftandet
wurde, die des D. Rupp Anftand fand.
Es entftand nun eben die Frage: Kann D. Rupp
als notoriſches Mitglied der freien Gemeinde, welcher
ih mit Diefer von feiner evangelifchen Landeskirche förm⸗
lich losgeſagt hat, als rechtmäßiger Deputirter zur Ges
neralverfamminng augefehen werben?
500 Luͤcke
Die evangeliſche Kirche Preußens hat weder den
D. Rupp noch feine freie Gemeinde in einer Art von
Ercommunicationdgewalt von ſich ausgeſtoßen, ſondern
beide haben ſich in leidenſchaftlicher Aufregung gegen die
beftehende kirchliche Ordnung von derſelben mehr losgeſagt,
unb zwar in Folge von Streitigkeiten, im welden bie
firdyliche Behörde wiederholt erlärt, daß fie eben nm
die Aufrechthaltung der kirchlichen Ordnung wolle, daß
fie öffentliche Berunglimpfung eines in der gefanmten Kirdye
noch allgemein beftehenden öfumenifchen Symbolums von
Selten des D. Rupp auf der Kanzel vor einermit dem Gegen
ſtande nicht vertrauten und zur Erbauung verfammelten @e
meinde, fo wie bie Damit verbundenen Angriffe auf ben chriſt⸗
lichen Charakter der beſtehenden evangelifchen Kirche wicht
dulden tönne, daß ſie aber weit entfernt fey, Dem D. Rupp ir,
gend einen Bekenntnißzwang anfzulegen, — und außer
dent fich-einmal Über das andere zu frieblicher Berkänbis
gung erboten hatte, Die Gemeinde will eben als freie von
allem geordneten Kirchenregimente unabhängig nud antono»
mifch feyn in. Berfaflung und Lehre, eine indbependentis
ſche Diffentergemeinde & l’Anglais, dabei aber nicht ohne
den Aniprud und den Verſuch, ſich in ben übrigen evans
gelifchen Kirchen Dentfchlande der preußifchen Landes
tirche gegenüber Aubang und Anerfenmung zn verſchaf⸗
fen; was ihr aber bisher, außer bei einzelnen verwand⸗
ten Parteibimmen, nit gelungen if, felbft bei denen
nicht, welche die Freiheit der Lehre und bie Entwidelnng
einer freien Berfaflung der Kirche hoch anfchlagen, So
lange diefe Gemeinde uud ihr Kührer Rupp die Princis
pien der evangelifchen Kirche nicht gerabezu verleugnen,
wird man fie zur evangelifchen Kirche im weiteſten
Sinne rechnen Tönnen, aber doch nur ale eine Secte ober
Separatiftengemeinde, und zwar als eine eben erſt lei⸗
denfchaftlich entfiehende, der ed zur Zeit noch an aller
öffentlichen und förmlichen Anerkennung fehlt, und von
üb. d. Nichtann. d. koͤnigob. Dep. D. Rupp ıc. 501
der man gar nicht fagen Tann, wie fie fich in ihrer weis
teren Entwickelung zur evangelifchen Kirche poſitiv vers
halten und ſtellen werde. Schon verlautet, daß Rupp
und feine Bemeinde das Gacrament der Taufe für be:
ledig Halten; ein Zeihen, daß fie nicht eben auf dem
beten Wege find, ſich mit der allgemeinen evangelifchen
Kirche wieder organifch zu vereinigen. Hiernach wärde
alfe die Frage beftimmter fo zu faflen feyn: Beruht der
Buftav s Adolphverein auf der pofitiven, öffentlich aners
tannten, zu Recht beftehenden evangelifchen Kirche
Dentſchlands, fomit auf den georbneten Randesfirchen,
in denen bie deutfche ewangelifche Kirche zur Zeit allein
ihre hifkorifche Wirklichkeit hat, fo daß die Mitgliedfchaft
des Vereins und die Deputationsfähigkeit darin durch
die notorifhe Mitgliedfchaft geordneter öffentlicher Kir
hen bedingt ift: ober umfaßt der Berein zu gleicher Bes
rechtigung Alles, was fich felbit irgendwie zur ewanges
liſchen Kirche in abstracto beliebig, mit Recht oder lin»
recht rechnet, fomit auch alle Secten, weß Namens und
welcher Art fie auch feyn mögen, fhwärmerifch behaups
tende oder Falt leugneriſche, — wenn fie nur aus der
evangelifchen Kirche äußerlich hervorgegangen find, fagen,
daß fie dazu gehören, und nicht gerade ſchon beſtimmt
in die römifchlatholifche oder griechifchorthodore Kirche
übergetreten find?
Eine Frage, welche an ih, beſonders aber in den
gegenwärtigen religiöfen und kirchlichen Bährungen zu
den fchwierigften Kragen der Zeit gehört und eine eigent-
lihe Lebensfrage nicht bloß des Vereins, fondern der
dabei fehr betheiligten Kicche iſt. Eine folche Frage for⸗
dert die forgfältigfte und gewiſſenhafteſte Erwägung von
allen Seiten, und fann am wenigſten in tumnitnarifchen
Parteiftreitigkeiten und im aufgewühlten Staube der Tas
gesblätter und tobender Volksverſammlungen durch irs
gend welches Zauberwort eined allgemeinen Begriffes,
502 | Lucke
weder durch das Zauberwort der Kirchlichkeit noch durch
das Zauberwort der Freiheit und Gleichheit, geloͤſt wer⸗
den. Se ſchwieriger Die Frage gerade in praktiſcher Bezie⸗
hung ift, deſto mehr hätte es ſich geziemt, fie in gegenfeitiger
Gerechtigkeit und Liebe gemeinfam zu ‚löfen. Aber kaum
war die Frage entfchieden, ald man diejenigen , welde
gegen Rupp geſtimmt, und doch wohl fo gut ihr Br
wiffen haben, wie Andere, als zelotifche orthodoxe Glau⸗
bensrichter,, welche eben kein hriftliches Gewiſſen be;
ben, zu verfchreien anfing. Es verdient in dieſer Bezie-
bung gleich hier bemerkt zu werben, daß eben fo vice
Rationaliſten als Snpranaturaliften gegen Rupp ent
fchieden haben »). Wenn ohne Unterfchieb der theologi-
fchen Richtungen, vornehmlih die erfahrenen Freunde
ber kirchlichen Drbnung, zum Theile die zuhigften und
milbeften Männer, entfchiebene Freunde freier theologi:
fher und kirchlicher Entwidelung, die dafür zu ihrer Zeit
und an ihrem Orte, wo Andere fchwiegen, ihren Mann
geftanden, — gegen Rupp flimmten, je nachbems fie ben
Fall der kirchlichen Ordnung für gefährlich hielten, fo
it es eine reine Wiberfpenftigkeit gegen das nuwider⸗
ftehliche Faetum und eine baare Berleumdung, wenn manbie
Enticheidung der Majorität als ein Glaubensgericht einer
beſonderen theologifchen Partei ansfchreit.
Es wäre viel darum zu geben gewefen, wenn bie
fritifche Lebensfrage gerade der berliner Berfammlung
hätte erfpart werbeu können, einmal, weil fie überhaupt -
a) Wenn unwiffende, ſich erhigende Beitungsfchreiber die ganze
Majorität für einen fogenannten orthoboren Belotenhaufen halten,
fo thun fie, was fie nicht laſſen koͤnnen; man iſt es nicht beffer
gewohnt. Aber was foll man fagen, wenn felbft würbige und
wiflende Männer, wie Prof. D. Theile, fih die ganze Ger
ſchichte von vorn heraus nad) ben verbrauchten Kategorien
(etwa aus Reinhardts Zeit) von Rationalismus und Guprana-
turalismus zurecht ftellen ?
x
üb. d. Nichtann. d. Eönigeb. Dep. D. Rupp ıc, 503
daranf nicht vorbereitet unb infiruirt genug war, fo»
dann aber und vornehmlich, weil bie gegenwärtige poli⸗
tifche und Eirchliche Aufregung in Preußen der Frage in
Berlin eine Bedeutung und Beziehung gab, welde fie
an fich nicht hat, und wodurch in die Verhandlung gleich
von Anfong an eine leidenfchaftliche Bitterfeit gemifcht
wurde, welche wie tödtendes Gift gewirkt hat. Es war,
ald hätten die feindlichen Parteien nur auf die günftige
Gelegenheit in dem freien Guſtav⸗Adolphvereine gewars
tet, nm eine aucd für andere Verhältniſſe entſcheidende
Schlacht zu fhlagen. j
Der Eentralvorftand ift einfichtig und vorfichtig genug
gewefen, die Gefährlichkeit der Frage gerade für die
berliner Berfammlung zu erfennen und zu würdigen.
Ald die erfie Kunde von Rupp's Wahl zum Depus
tirten auf die Beneralverfamminng fich verbreitete, und
zwar gleich mit deutlichen Dinweifungen in Zeitungen
und Broſchüren auf die gegenwärtige kirchliche Krifis
in Preußen, weldye in der bevorfiehenden Berfammlung
ded Bereind aud ganz Deutfchland eine Entfcheidung zu
Gunſten Rupp’d und feiner freien Gemeinde erhalten
werbe, — hatte ber Gentralvorftand ſich alfobald bemüht, -
dad drohende Unheil abzuwenden. Er hatte an fein
ordentliched Mitglied in Königsberg gefchrieben, um wo
möglich entweder eine freiwillige Verzichtleiſtung des D.Rupp
ober eine Abänderung der Wahl herbeizuführen. Allein
die Briefe kamen zu ſpät. Rupp war bereitd nad
Dentfchland abgereift und der königsberger Berein glaubte
fi, wie zu erwarten war, nicht veranlaßt ober anfßer
Stange, auf die Bitte des Eentralvorftandes einzugehen.
Noch wenige Tage vor jber berliner Verſammlung
hatten indeß zwei Mitglieder ded Eentralvorftandes, der
Hofprebiger Zimmermann aus Darmſtadt und Kirchen»
rat) Schulz aus Wiesbaden, den D. Rupp auf der Reife
anfgefucht, glücklich getroffen und ihn dringend gebeten,
504 | Laͤcke
dem Vereine ben tödlichen Kampf zu erſparen. Aber
vergebens. Am Tage der Verſammlung in Berlin hatte
der Centralvorſtand, nachdem er mit Ausnahme wen. zwei
Mitgliedern die Annahme Rupp’s für bedenklich, ia un:
thunlich erllärt, biefen durch eine ehrende Depmsation
von vier Mitgliedern befchidt, um ihn zum freiwilligen
Rücktritte zu bewegen. Allein er befand auf feinem Rechte
und foll erklärt haben, daß er fich berufen fühle, dem
Vereine durch feinen Eintritt zu feiner wahren freiheit
zu verhelfen. Gelbigen Tages am Nachmittage werfucte
D. Zimmermann nochmals auf meine befondere Bitte, ein
guted Wort bei D. Rupp einzulegen, auch in meinem
Namen. Allein aud dieß gute Wort fand Feine gute
Statt
Als die Debatte eröffnet wurde, dachte ich in fillen
Kriedendgedanfen und wünfdhender Sorge für ben Berein,
ed werde vielleicht nod möglich feyn, die Sache irgend
wie zu umgeben oder uufchädlich zu befeitigen. Allein,
ale und die Mittheilung gemacht wurde, daß ein Zweig
nereiun des Lönigäberger Hauptvereind, ferner der mün⸗
ſterſche Hauptverein und eben fo ber Abgeorbuete des
deſſauer Hauptvereins gegen die Rechtsbeſtaändigkeit der
Wahl und die Aufnahme des D. Rupp als Deputirten
Reclamationen eingereicht, die von Dem Gentralworflande
doch nicht verſchwiegen oder befeisigt werben konnten,
ba verfhwand für mich auch dieſe leute Friedens hoff⸗
nung. |
Gleichwohl verfuchte ich noch einmal, ale die Debatte
fhon in vollem Gange war, mit D. Zimmermann und
Kirchenrath Schulz ein gemeinfames Wort der iebe.
Mir wendeten und noch einmal an den gegenwärtigen
D. Rupp mit der dringendften Bitte, im Angefichte der gras
Ben Gefahr, in der er ſelbſt den Verein ſchweben jeher
auf fein formelle äußered Recht mit edler, ſchonender
Liebe zu verzichten. Aber auch biefer letzte Verſuch
66. d. Nichtann. d. konigb. Dep. D. Rupp ıc. 505
mißlang , befonberd mit daburdh, daß ein Deputirter nes
ben wir unfere dringende Bitte einen moraliichen Zwang
nannte und ein anderer im heftigen Echo erflärte, er
werde D. Rupp verachten, wenn er fein unveräußerliches
Recht aufgebe, was denn freilich ein moralifcher Zwang
anderer Art war. |
Sa, dachte ich, bie Liebe zwingt wohl, aber indem
fie wahrhaft frei macht. Gewiß gibt es Fälle, wo das
Recht unveräußerlich ift und die Gerechtigkeit feiner Liebe
weichen darf. Aber war bier ein folder Kal? Wenn das
innere wefentlie Recht, wie hier, einem edlen Bereine
gegenüber mehr und weniger zweifelhaft ift, wenn man ferner
mit feinem äußeren formellen Rechte ben Bruder Ans
ſtoß gibt, da gilt nicht Fiat iustitia et pereat nundas!
fondern nad 1 Kor. 8, 8 ff. allein die edelmüthig ents
fagende Liebe. Diefe war in dem Augenblide die
einzige Pflicht des D. Rupp gegen den Verein. Hätte er
dieß erfaunt! Er hätte feinen echten evangelifchen Sinn
nicht beffer bewähren koͤnnen, felbft wenn er den Muth
oder Stofz gehabt hätte, diejenigen, weldhe an feiner
Deputirtenmitglienfchaft Auftog nahmen, fchwache Bräs
der zu nennen.
Die Würfel waren geworfen nnd die unvermeidbliche
Frage mußte zur Entfcheibung gebracht werben.
Bei dem Mangel an Vorbereitung und Infirnction
der meiften Deputirten wäre, um bie vorauszuſehende
firliche Aufregung im beutfchen Volke zu vermeiden, viel
leicht rathſam gewefen, wenn die Verſammlung eben wer
gen mangelnder Inſtruction von Seiten der Hauptver⸗
eine fich fchlechthin für incompetent erklärt hätte, Wirk
lich dachte ich während der Berathung einen Augenblid
daran, allein ich erfanute auch augenblidlich die Unmäg»
lichleit davon.
Bielleicht aber denkt noch jetzt Mancher fo, wenn er
den gefchehenen Schaden befieht, uach dem alten Spruche,
506 Läde
daß man klüger vom Rathhanfe herunter geht, als
hinauf. Aber wenn auch die Kiugheit in höchſt eigner
Derfon hinaufgegangen wäre, — den Klugen will id
fehen, der bei dem heftigen, wohlbedachten Drängen ber
Gegenpartei auf Entfcheidung einem folchen ablehnenden
oder anffchiebenden Borfchlage Eingang hätte verſchaf⸗
fen tönuen. Und in der That, recht überlegt, — die
Berfammlung hatte, einmal in die Frage gebrängt,
nicht nur das Recht, fondern auch die Pflicht, zu ent
ſcheiden, wie bei vielen anderen Fragen, worauf bie
Deputirten auch nicht vorbereitet und infiruirt waren.
Als der würbige Präfidentfeine Meinung für die Richt:
annahme Rupp's in aller Ruhe und Milde barlegte, hob er
unter anderen auch die Rüdficht auf die hohen Schuß»
herren des Vereins hervor. Er meinte bamit ſämmtliche
Regierungen, weldhe, wie er fagte, ben Verein unter
ber Vorausſetzung, daß er die kirchlichen Ordnungen
der Landeskirchen inne halten und in keiner Weiſe ſtören
werde, beftätigt und unter ihren Schuß genommen.
Mie viel Wahres darin auch liegen mag, — was auch
fpäterhin Bifchof Reander fehr klar entwidelte, — wobei er
auf die Bertragsverlebung aufmerkfan machte, welcher fih
der Berein fchuldig mache, wenn er jeßt den Begriff der
evangelifchen Kirche in einem anderen Sinne nehme, als
in welchem bie paciscirenden Regierungen bei der Geſtattung
des Bereind nach den vorgelegten Statuten benfelben ver:
fanden hätten: — fo muß id) ed doch bedauern, Daß dadurch
eine Rädficht gleich in den Vordergrund trat, welche bei
weiterer Erwägung der Folgen, aber nicht gleich in der erſten
Erörteruug der Gründe ihre Recht hatte. Es entktand,
wenn ich nicht irre, dadurch gleich eine Art von politis
fcher Bezüglichkeit, welche freilich ber Frage fchon von
ben Freunden Rupp's in den Zeitungen gegeben war,
allerdings in einer ganz entgegengefehten Art, welde
aber in jeder Weife der Berathung nadıtheilig wurde
üb, d. Nichtann. bes koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 507
und wie ein Funke in daliegenden Zunder fiel. — Dage⸗
gen muß ich zur Steuer ber Wahrheit erklären, daß ich
meined Theils von irgend einer unmittelbaren oder mit-
telbaren Einwirkung der prenßifchen Regierung, ober
auch, wie man gefabelt hat, der koͤnigl. fächfifchen, auf
bie Berfammiung auch nicht dad Mindeſte verfpürt habe.
Eine ſolche Einwirkung wäre hoͤchſt unklug gewefen; fie
wärbe gerade dad Gegentheil bewirkt haben. Was hat
ten auch namentlich ausländifche Deputirte von ber preußis
ſchen oder fächfifchen Regierung zır fürchten oder su hofs
fen? Eben fo wenig hat irgend ein verfländiger ausläns
diſcher Mann daran gebacht, er Werbe von ber eigenen
Regierung übel augefehen werben, wenn er für D. Rupp
Rimme. Man bat erzähle, daß in einen Lande, wo
bie Furcht vor der Gefahr eines demagogifchen corpus
evangelicorum ben Guſtav⸗Adolphverein länger gurüdhielt,
bie für Rupp flimmenden Deputirten von ihrer kirchlichen
Behörde ausdrucklich belobt feyen. Die Conſequenz ift zu
bewundern. Aber ob wohl dieſelbe Belobung erfolgt
wäre, wenn Rupp, ein firenger Oyperorthodor, mit jener
Behörde in Zwift gelebt hätte? Wenn ferner ein preußis
cher Geiſtlicher ſich in einem Zeitungsartikel Darauf etwas
su Gute gethan hat, daß unter ben Gegnern Rupp's nadı
Verhaͤltniß fehr wenig Preußen und die meilten Auslän⸗
der gemwefen, was foll man zu biefer verwirrten hochmü⸗
thigen Rede fagen? Sind wir Ausländer firchlich gebuns
dener, unfreier, ald die Preußen? ur Parteiftreite ff
es leider fehr gewöhnlich, den Geguern außerhalb der
Sache und des Gewiſſens liegende Motive unterzulegen,
aber es ift allegeit ungerecht und unedel. Darum will id)
auch bei jedem Gegner gernein freied Gewiſſen vorausſetzen
und mir nicht einreden laffen, was id) wohl gehört habe,
bie nus vorgeworfene Furcht habe auf der anderen Seite
gar fehr ihre Rolle gefpielt, freilich im anderer Weiſe.
Über wenn neulich D. Rupp felber gefagt hat, er fey in
Berlin nicht fowohl ber religiöfen Intoleranz, die doch noch
Cheol, Sud. Jahrg. 17, 84
8 Luͤcke
etwas Religisſes geweſen wäre, als ber kirchlich⸗biplometi⸗
ſchen Theologie unterlegen, ſo ſollte er in ſeinen Buſen greifen
und ſich erinnern, daß er unter lauter kirchlich und theor
logifch s Diplomatifchen Demonſtrationen, freilich anderer
Art, nach Berlin gegangen it. Gewiß, bad erkläre ich franf
und frei, wäre 23 im höchſten Grade unedel, ja mpflt-
lich gewefen, den leidenden und in wieler Beziehung fehr
achtungswerthen D. Rupp feinem Kirchenregimente zu
opfern, aber für eben fo unebel und nuſittlich muß ich eß
balteu, den Guſtav⸗Adolphverein zu oflenen Demonfratier
nen gegen irgend welche kirchliche Regierung zu mißbrauchen.
Ich will jett Turz angeben, was mic in meinen
Gewiſſen nach längerer reiflicher Weberlegung der ſchwie⸗
rigen Frage beRimmt hat, mit gegen D. Rupp’s Aufnahme
su Rimmen. ben sur diefe meine perfönliche Ueberzen⸗
gung, nicht irgend welche Partei, habe ich zu verant-
worten. Ich habe in der Kirche und Theologie nie
einer Partei gedient unb werde es uie, Ich will ein
freier Mann bleiben, auch im Vereine. Habe ich mit meinem
Votum bie herrfchende Meinung meines befonderen Bereind
nicht getroffen, ich kann es nicht ändern. Niemand kann
und fol etwas wider fein Gewiſſen thun. Snßrnetionen
für Die rupp’fche Frage babe ih vonz B
ber fie mir zu geben gehabt hatte icht
nicht verlangt, Die ganze —
felhaft und ee iſt unse A
gen Fälle ausreichende, Inſt
nehmen. Man hat bie &
Deputirten, welche
Rupp entfchieben
Aber ich hat
ald rechtſ
Gewillen
würbg
i
—*
—
BR“
üb. d. Nichtann. bes koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 609
ſolchen Auſpruch gemacht, aber bei aller Beſcheidenheit
hat weine Ueberzeugung fo gut ein Recht gehört zu
werden, als jebe audere.
Das Erſte, worauf man bei der rupp’fchen Angeles
genheit kommen mußte, war die Frage, ob in den Sta⸗
tnten irgend etwad über bie rechtmäßige Mitgliebfchaft
des Vereins nnd der Deputirtenverfammliung -insbefons
dere beftimmt außgebrüdt fey, wonach man den gegens
: wärtigen Ball entfcheiben koͤnne.
Wenn ed F. 1. der Statuten heißt, der Berein fey
eine Bereinigung aller berienigen Glieder der evangelifchs
: proteftantifchen Kirche, welchen bie Noth ihrer proteftan=
* tiihen Glaubensbrüder zu Herzen geht, fo Liegt darin,
3 ba der Berein auf der noterifchen Mitgliebfchaft der
" ewangelifchen Kirche beruht. Wenn wohlwollende Katho⸗
; lifen oder, wie Einige auch gefagt. haben, wohlthätige
Sfraeliten dem Vereine Gaben geben, fo wird man fie
hiernach ald Wohlthäter des Bereins betrachten müffen,
: aber nicht als eigentliche Mitglieder deffelben. Man muß
aber einräumen, daß in jenem Statnte der Begriff der
wangelifchen Kirche im weiteften Sinne gefaßt ift, ohne
ale nähere Beltimmungen. Nur das-fleht Jeder, Die
liche, beftcehende evangelifche Kirche iſt gemeint, nicht
| Zufunftöfirche. Vergleichen wir die Anlage
Eintuten, nach welcher die Beſtimmung ber
Die Bertheilung der Depntirten auf
Berhältniffe der deutfchen evangelis
Segrlinder ift, fo ſcheint auch hieraus
Der Verein von Anfang an feinen
eten und zu Recht befiehenden
Dem entfpricht auch die bis⸗
Inbem verfelbe fi von Aus
Siiebern der beftehenden grös
örper gebilder und erhalten
Fantifchen Secten bat er bis⸗
Ten und aufgenommen, keine
8 *
510 Luͤcke
Herrenhuter, keine Altlutheraner, geſchweige denn alt
oder neugläubige Iſraeliten. Allein ich gebe zu, daß der
Fall, daß ein Gectenftifter oder irgenb eine Secte in
der evangelifchen Kirche zum Bereine tritt und auf volle
Mitgliedfchaft Anſpruch macht, im $. nicht vorgejehen
worden if. Dan hat auf ber frantfurter Generalver:
fammlung auf eine beftimmtere Faſſung diefed $. in bier
fer Beziehung angetragen. In feiner fugendlihen Un
fhuld und Sorglofigfeit hat der Berein damals den
Antrag abgelehnt. Wer aber die Zeichen ber Zeit recht
“beobachtete, Tonnte fchon damals willen, daß das Ber
witter der rupp’fchen Frage gleich mit dem Vereine herr
aufzog.
Man hat gefagt, $. 2. beftimme in feiner unzertrenn⸗
lichen Berbindung mit F. 1. die kirchliche Mitgliedſchaft
des Bereind mäher. Indeſſen ift hier unmittelbar bie
Rede nur von ber wohlthätigen Wirkſamkeit des Bereind,
und diefe wird befchränkt auf die firchenrechtlich beftehende,
. wirkliche Iutherifche, reformirte und unirte Kirche, fo wie
auf diejenigen Gemeinden, welche ihre Uebereinſtimmung
mit der evangelifchen Kirche fonft glaubhaft nachweiſen.
Wie unbeſtimmt auch dieſe glaubhafte Nachweiſung ger
Iaffen feyn mag, fo viel geht aus allen bisherigen Ber
einsverhandlungen über den Sinn und die Praris diefes
6. hervor, daß der Berein in keiner Weife willens ik,
irgend welche die evangelifche Kirche zerſtückelnde und
anflöfende Sectenrichtungen durch feine linterflügungen
zu begünftigen. Dan ift deßhalb in Frankfurt anf der
Generalverfammlung fogar bedenklich geweien, die Wal
benfergemeinden zu unterfiügen. Davon ift man aller
Dingd mit Recht zurückgekommen, da die Waldenfer ald
ber durch ebled Martyrehum hiſtoriſch bewährte mittelalter:
ihe Stamm und als die angeborene Schutzverwandt⸗
fchaft der evangelifchen Kirche anzufehen find. Als Aber
in Stuttgart die Frage aufgeworfen wurde, ob man anch bie
eben entfteheuden beutfchsfatholifchen Gemeinden unter
üb. d. Nichtann. d. koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 511
flüben wolle, wurde diefe Frage, fo viel ich weiß, gang
einftimmig verneint, weil nicht nur aller glaubhafte Nach⸗
weiß ihrer proteffantifchen Mitgliedfchaft fehle, fondern
auch diefe Gemeinden und ihre Führer gar Feine Protes
Ranten feyn wollen.
Stehen nunD. Rupp und feine freie Gemeinde anf ei:
nem wefentlich anderen Standpunkte? Ich fage: Rupp
und die freie Gemeinde. Beide find in der Frage unzers
trennlih, wiewohl auf der Berfammlung vielfach vers
füaht worden ift, D. Rupp eben als einzelnen Deputirten
feined Vereins von feiner Beziehung zur freien Gemeinde
zu trennen, ba der Berein ihn nicht als Mitglied biefer
Gemeinde gefendet habe. Das fragte fich aber eben.
Aber betrachten wir D. Rupp einen Augenblid an
und für ſich, ift er ein wirkliches Mitglieb der evangelis
hen Kirche im Sinne ded Vereins ?
Er gehörte urfprünglich zur evangelifchen Kirche
ald ordinirter Beiftlicher, aber nachdem er aus dem ges
fhichtlichen Nexus feiner evangelifchen Landeskirche, die
doch wohl eine wirfliche evangelifche Kirche ift, ausge⸗
Ihieden, zu Reiner anderen wirklichen, geordneten und
anerfannten evangelifchen Kirche Übergetreten, auch von
keiner folchen als ein ihr zugehöriges Blied öffentlich ans
erkannt worben ift, fteht er doch handgreiflich zur Zeit
außerhalb aller wirklichen Mitgliedfchaft der beſtehen⸗
den evangelifhen Kirhe. Er mag, und wenn daß
Sinn haben fol, muß man fagen, er und feine Gemeinde
mögen, wie es verlautete, die aflgemeine ewangelifche
Kirche der Zukunft im Keime repräfentiren wollen, —
ih meines Theiles babe freilich andere Vorſtellungen von
den Bildungsgefegen und Bedingungen der Zukunftskirche,
als ih in D. Rupp's Theologie und Gemeinde finde, —
aber was hat der Guſtav⸗Adolphverein mit folchen plas
tenifchen oder nichtplatonifchen,, immer aber phantaflifchen
Kirchenidealen für die Zukunft zu thun? Sein Blick ift
auf die wirklichen» Roth» und Leidensflände der wirk⸗
e
512 Lüde
lichen Kirche gerichtet. Wenn man aber fagt, der ſoge⸗
nannten unfichtbaren evangelifchen Kirche gehören doch
D. Rupp undfeine Gemeinde gewiß an, fo will ich Das gern zw
geben, ber man veriteht dieſen Begriff ſehr ſchlecht,
wenn man daraus nicht augenblicklich bie nothwendigt
Kolgerung gelten läßt, daß dann der Berein feine Mit:
gliedfchaft über alle Kirchen bis an das Ende der Erd
erfiredt. Gewiß hat er eine folche unfichtbare, ftille, ni»
kodemusartige Mitgliebfchaft, wohl auch in der katholiſchen
Kirche; aber ed handelt ſich hiervon ber fihtbaren, wirt
lichen, offenbaren. Wird alfo dadurch zu viel bewiefen,
fo weiß ein Jeder aus ber Logif, daß damit nichts be»
wiefen if.
Kehren wir zu $. 2. der Statuten und feiner Der
bindung mit $. 1. zurüd, fo folgt doch auf jeden Fall
daraus, daß die volle Mitgliebfchaft des Vereins ß. 1.
einen eben zu dem Anfpruche berechtigt, von dem Ber,
eine für diejenige Kirche oder Gemeinde, der er ange
hört, wenn fie leidet, Unterflüßung zu fordern, Diefem
zwingenden Schiuffe wird fi Niemand entziehen koͤnnen,
und D. Rupp wird ed am wenigfien wollen. Wie nun?
Wurde Rupp ald voßberechtigter Deputirter in Berlin
anerkannt, fo war es nicht bloß das unfruchtbare formelle
Recht, was ihm ad hune actum gegeben wurde, ſondern
die reale Eonfequenz für den Verein war unvermeidlich,
jedem etwaigen, Durch die Roth und Bedrängniß der Geinigen
motivirten Antrage auf linterftägung feiner freien Gemeinde
zu willfahren. Was bedarfin einem ſolchen Kalle ber Verein
weiter Zeugniß, oder der fonfligen glanbhaften Nachweifung,
ſitzt doch das Haupt der nothleidenden Gemeinde ald volllom
men berechtigter Deputirter mitten ia der Berfammlung ? Bei
ber gegenwärtigen religiöfen Kriſis, insbeſondere beidım
überhand nehmenden reizbaren Uebermuth und Leichtfiun,
fi von dem beſtehenden FKirchenregimente bei irgend wel
her Widerfeglichkeit gegen feine Ordnungen loszuſagen,
und bei der pridelnden Eitelkeit Bieler, aus Bexanlaflung
%
üb, d. Nichtann. d. koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 513
irgenb einer Zwoiſtigkeit mit der kirchlichen Behörde fchnell,
wie Aber Nacht, freie Bollögemeinden, Kirchen, zu flifs
tn, wenn auch enhemere, — werben wir foldyer Fälle
bald mehrere haben. Es wurden fogar in Berlin auf
der Stelle welche in Ausſicht geſtellt. Und fo werben in
natürlicher Eonfequenz des erſten Falles Feine padr Jahre
vergehen, und der Guflan »Adolphverein wird ſich gens⸗
thigt ſehen, in feinen Unterſtützungsrollen zwei Elaffen
von nothleidenden, bedrängten Gemeinden und Geiſtlichen
su machen, einmal wie biöher, die Claſſe ſolcher Ge⸗
meinden, welde, von Katholiken bedrängt, ohne Schuld
Roth leiden, fobann die Elaffe der fogenannten Diſſen⸗
ters oder freien Gemeinden, welche mitten im Schooße
der evangelifhen Kirche, in Folge von irgend einer Wis
derfeßtichkeit gegen die Kirchliche Orbnung, fich von ber
esangelifchen Kirche dort oder hier für bebrängt halten.
Unter den gegemwärtigen Eritifchen Verhältniſſen kann die
Zahl folcher Bei dem Vereine Unterſtützung fuchenden
proteftantifchen Diffentergemeinden mitten. in der Kirche
fo wachſen, daß fle einen großen Theil unſerer Unter⸗
füyangögelder in Anfpruch nehmen und dabei das Näher⸗
recht mit Mecht geltend machen. Daß aber dann ber edle
Berein feinem urfprünglichen innerften Weſen und Zwede
nach gerftört iſt, leuchtet von felbft ein. Bisher anf
Etdanung, Verbindung, organifche Ordnung der evan-
gelifchen Kirche deutſcher Nation gerichtet, wie dazu ges
Rifter, wird er fortan dazu dienen, aller Aberniäthigen
Zerſtackelung and leichtfinnigen Auflöfnung ber Kirche Chor
und Thür zu Öffnen. Und wie es denn nicht anders
feyn fann, er wird uns fortan alle Jahre in feinen Gene⸗
talverfammiungen das widrige Schaufpiel geben, daß er,
Ratt die Roth der wirklich ſchuldlos bedrängten Gemein⸗
den zu beforgen, fi vor Allem als ein Oberappellationds
gericht oder auch als kirchliche Jury conſtituirt, vor
weicher die unterdeflen vorgefommenen kirchlichen Scans
dale Einzelner oder ganzer Haufen verhandelt werden,
514 | Läde
aber jede fogenanute freie Gemeinde, wenn fie es nur
dahin zu bringen weiß, aus ihrer Mitte einen formell
bevollmächtigten Deputisten eines Hauptvereins in bie
Berfammlung zu bringen, im Voraus ficher iſt, gegen
das geordnete Kirchenregiment Recht zu befommen. Bei
den Berhandlungen darüber wird ed dann, ba es nicht
an allem Widerfpruche fehlen wird, erft recht zu einem Glau⸗
bene» und Kebergerichte kommen, zu dem fchneliften und
fchlimmften, welches nach einigen Stunden lebhafter Par⸗
teidebatte ohne alle Acten, ohne allen geordneten Pros
ceß per maiora entfcheidet, verfieht ih, von vorn her:
aus gegen die beſtehende Kiche zu Gunſten der verhei⸗
Bungsvollen Zukunft der Secten.
Wie, wäre das zu ſchwarz gefehen? Muthete man
und doch in Berlin an, für Rupp darum zu entfcheiben,
weil er von dem koͤnigsberger Gonfiftorium ungerecht ber
han delt worden ſey. Mag feyn, antwortete ich, wiewohl noch
neulich D. Kling in der jenaiſchen Litteraturzeitung in
feiner Recenſion von Jakobſon's Schrift über Rupp ganz
anders urtheilte, und Generalfuperintendent D. Bödel in
Didenburg, ale ein erfahrener, befonnener Kirhenmann, fein
Urtheil fuspendirt haben wollte, bid er die Acten fähe,
— wer hat und zum Oberappellationdgerichte Darüber ber
let, welches ohne Acten aus freier Hand entſcheidet?
Bedenke id das eudlofe Unheil und Berberben, wel:
ches jene unvermeidliche Conſequenz mit ſich führt, fo
muß ich Gott bitten, daß er davor den Berein, die Kirche
und unfere ohnehin fchon vielfach zerriffene Nation in
Ouaben bewahren möge. Aber was hilft es, um diefe
bewahrende Gnade gegen jene Conſequenz zu bitten, wenn
man ben erſten Schritt gefchehen läßt und den Bere
von feinem urfprünglidyen, allein ficheren Boden ber far
tifchen firchlichen Ordnung losreißt und ihn unbarmherzig in
den wirren religiöfen Parteiftreit der Gegenwart hinein
ſtürzt. Das lodgelaffene Walzwerk wird ihn unwiderſteh⸗
lich zermalmen,
db, d. Nichtann. d. koͤnigob. Deput. D. Rupp ıc. #15
Aus dieſen Gründen babe ich nach Pflicht und Ges
wien nnd ohne alle Furcht vor irgend Jemand gegen
bie Annahme ded D. Rupp ſtimmen zu müflen geglaubt,
und ich lebe fortwährend der feften Leberzeugung, daß bieß
allein im wahren Beifte und Sinneder Statuten gehandelt it.
Die Abftimmung iſt ehrlich und ordentlich den Sta⸗
tuten gemäß gefchehen, wach vielflündiger, freiefter Der
batte. Um fo mehr mußte man bie maßlofe Leiden,
fhaftlichleit, — um nicht mehr zu fagen, — bewunbern,
mit welcher ein Bertheidiger Rupp's die Entfcheidbung
der Majorität augenblidlih für den Ausfpruc eines
Kepergerichtd fchmähend erklärte Das böfe Wort bat
ein noch nicht verhallendes, vielftimmiges Echo gefunden,
Man hat es nachher fogar im geiftlichen Ornate von eis
ner breslauer Kanzel hören müſſen, und Pafter Uhlich hatte
gleich nach feiner Rückkehr nichts Eiligereö zu thun, ale
feinen lieben Magdeburgern in der dortigen Zeitung zu
verfändigen, daß in Berlin gegen Rupp ein Kebergericht
gehbt worden fey. Das ift wohl fein Fanatismus, keine
Verketzerung ?
Zur weiteren Rechtfertigung meiner Anficht gegen
einige Einwürfe noch Kolgendes:
. 1) Bel der gegenwärtigen Reizbarteit des religiöfen
Lebens in der beutfchen Nation, fowie bei der leider fehr
verbreiteten und durch manche betrübende nulengbare Er⸗
iheinungen des kirchlichen Zelotiömns, auch unbebachte
Mißgriffe, mehr und weniger mit Recht erregten Furcht
vor Beichränfung und Beſchadigung der religiöfen Kreis
beit und vor willfürliher Hemmung des lebendigen Forts
ſchrittes in der Kirche, — wiewohl oft meit mehr Ges
ſpenſtiſch es, was man fich macht, als Wirkliches gefhrchtet
wird, — finde ich es erflärlich, daß die Ausfchließung
des D. Rupp bei der erfien Nachricht auch bei vielen
tedlihen und verfländigen Mäunern die Kurcht geweckt
514 | Läde
aber jede fogenaunte freie Gemeinde, wenn fie ed nur
babin zu bringen weiß, aus ihrer Mitte einen formell
bevollmächtigten Deputirten eined Hauptvereins in bie
Berfammlung zu bringen, im Voraus fidher if, gegen
das geordnete Kirchenregiment Recht zu befommen. Bei
den Berhandlungen darüber wird ed dann, da es nicht
an allem Widerfpruche fehlen wird, erft recht zu einem Blau»
bens⸗ and FKebergerichte fommen, zu dem fchnellften und
fchlimmften, welches nach einigen Stunden lebhafter Par⸗
teibebatte ohne alle Acten, ohne allen georbneten Pros
eeß per maiora entfcheidet, verſteht fih, von vorn her:
aus gegen die befiehende Kirche zu Gunſten ber verhei⸗
Bungsvollen Zukunft der Secten.
Wie, wäre das zu fchwarz gefehen? Muthete man
und doch in Berlin an, für Rupp darum zu entfcheiden,
weil er von dem koͤnigsberger Gonfiftorium ungerecht be
bandeltwordenfey. Mag ſeyn, antwortete ich, wiewohl noch
neulih D. Kling in der jenaiſchen Litteraturgeitung in
feiner Recenfion von Jakobſon's Schrift über Rupp gan
anders urtheilte, und Generalfuperintendent D. Bödel in
Dldenburg, als ein erfahrener, befonnener Kirchenmann, fein
Urtheil fuspendirt haben wollte, bie er die Acten fühe,
— wer hat und zum Oberappellationdgerichte darüber ber
ſtellt, welches ohne Acten aus freier Hand entſcheidet?
Bedenke ich das endloſe Unheil und Berderben, wel
ches jene unvermeidliche Conſequenz mit ſich führt, fo
muß ich Sott bitten, daß er davor ben Verein, Die Kirche
und unfere ohnehin fchon vielfach gerriffene Nation in
Buaden bewahren möge, Aber was hilft ed, mm biefe
bewahrende Gnade gegen jene Conſequenz zu bitten, wenn
man den erfien Schritt gefchehen laͤßt und dem Berein
von feinem urfprünglichen, allein ficheren Boden der far
tifchen firchlichen Ordnung losreißt und ihn unbarmherzig in
den wirren religiöfen Parteiftreit der Gegenwart hinein
ſtürzt. Das Iodgelaflene Walzwerk wird ihn unwiderſteh⸗
li zermalmen.
db. d. Richtann. d. koͤnigob. Deput. D. Rupp zc. 515
Aus dieſen Gründen babe ih nach Pflicht und Ges
wien und ohne alle Furcht vor irgend Jemand gegen
bie Annahme des D. Rupp ſtimmen zu müflen geglaubt,
.. und ich lebe fortwährend der feften Lebergeugung, daß dieß
allein im wahren Beifte und Sinneder Statuten gehanbelt if.
Die Abftimmung iſt ehrlich und ordentlich den Sta⸗
tuten gemäß gefchehen, nach vielflündiger, freiefter Des
batte. Um fo mehr mußte man die maßlofe Leidens,
fhaftlichleit, — um nidyt mehr zu fagen, — bewundern,
mit welcher ein Bertheidiger Rupp's die Entſcheidung
der Majorität augenblidlih für den Ausfpruc eines
Kepergerichtd fchmähend erklärte Das böfe Wort bat
ein noch nicht verhallendes, vielſtimmiges Echo gefunden,
Man hat ed nachher fogar im geiftlichen Ornate von eis
ser breslauer Kanzel hören müflen, und Paſtor Uhlich hatte
gleih nach feiner Rückkehr nichts Eiligeres zu thun, ale
feinen lieben Magdeburgern in der dortigen Zeitung zu
verfändigen, daß in Berlin gegen Rupp ein Kebergericht
gehbt worden fey. Das ift wohl Fein BeHSUnNg, feine
Verketzerung ?
Em ee
Zur weiteren Rechtfertigung meiner Anficht gegen '
einige Einwürfe noch Kolgendes:
. 1) Bei der gegenwärtigen Reizbarfeit des religiöfen
kebens im der dentſchen Nation, fowie bei der leider ſehr
verbreiteten und durch manche betrübende unlengbare Er⸗
ſcheiunngen des kirchlichen Zelotismus, auch unbebachte
Mipgriffe, mehr und weniger mit Recht erregten Furcht
vor Beichräufung und Befchädigung der religiöfen Frei⸗
beit und vor willfürlider Hemmung des lebendigen Forte
ſchrittes in der Kirche, — wiewohl oft meist mehr Bes
ſpenſtiſches, was man fich macht, als Wirkliches gefürchtet
wird, — finde ich es erllärlich, daß die Ausfchließung
des D. Rupp bei der erfien Nachricht auch bei vielen
tedlihen und verfändigen Männern die Furcht geweckt
916 Luͤcke
dat, der in kirchlicher Freiheit und zar kirchlichen Freiheit
geſtiſtete Berein werde fe länger je mehr zu allerlei
Glanbens » und Bewiffensbefränfangen gemipbraudt
werden. Nur das wilde Betergefchrei über die gelotifche
Glaubendtyraunei auf Der berliner Verſammlung finde ich
weder erklaͤrlich, noch entſchukvbbar. Haben die Berliner
Tyrannei und Jelotismus geübt, die Schreien des Tages
haben fie in der lideralſten Weiſe weit Aberhoft,
Mas aber jene Furcht der Berfländigen betrifft, über
bie allein werth ift gu reden, fo kann fie eben bei Ber
Rändigen doch nur fo lange anhalten, ale fie den Her,
gang nnd bie rein praktiſche Lage der Dinge noch nicht keunen.
Das Protofol der Sitzung bezeugt, daß gerade bie
Maforttät wiederholt die Geneigtheit der Gegner zu dogs
matifchen @rörterungen und Cntfcheibungen iiber ben
Glauben des D. Rupp abgewiefen. Während jene für
D. Rupp ex tempore ein Glaubensbekenntniß formulirten,
am zu Deweifen, daß er ein wahres Mitglied der evan⸗
geliſchen Kirche ſey, hat vie Meajorität ſich eiufach am
das conſtatirte Factum gehalten, daß D. Nupp fi no»
torifch förmlich vor feiner Behörde von ber evangelifchen
Kirche, vulgo Landeskirche losgeſagt hat. Diefer factifche,
Firdyenrechtlihe Standpunkte fiyert allein den Berein vor
der tödtlichen Gefahr, eine Blaubensanatomie, ein thev⸗
logiſches Spruccollegium für Deutfchland gm werben,
und zwar das fehlechtefte von der Welt, weldied and
anterwelilen ohne alle Theologie uud Theologen über
Theologie und Banden reſpondirt. Mauche Haben frei⸗
kich gemeint, auch bieſer factifche kirchenrechtliche Staud⸗
puntt enthalte noch zu viel Befchräntung der Freiheit;
der Gentralvorftand fammt der Generalverfammiung
hätte ſchlechthin jeden formell mangellos bevollmächtig⸗
ten Deputirten ohne Weiteres aufzunehmen; die kirchliche
Mitgliebſchaft des Deputirten habe Ber Hanptverein allein
and founerain zu verantworten. Aber abgefehen davon,
Ab. d. Richtann. des Fönigdb. Deput. D. Rupp ꝛc. 817
daß dann die ganze Bolmachtöpräfuug eine wichtige
Form wird, fe würde eine foldye Damit ansgeſprochent
Gonveraimität der Hauptvereine jedes innere organiſche
Auſanmenwachfen des Bereind auch in anderer Begiehung
unmöglich machen. Wäre bie evangelifche Kirche im ges
fanden Zuftunde und jeder Hauptverein im vollen Ber:
Kändaiß von dem Geiſte des eben erfl werdenden Bereind,
fo möchte es feyn. Jetzt aber, we die Kirche von allerlei
bedenktichen umd zerſtörenden Tendenzen und Krifen durch⸗
sogen if, fordert der gefunde, gefahrlofe Fortgang bes
Bereins , daß das Gentrum und bie Repräfentatien bee
Ganzen dad Reit haben, aud die erforderliche kirchliche
Disgitedfchaft des Deputirten, wenn fie zweifelhaft if,
gu yrüfen, d. h. eben nach der Noterieiät darüber gu ent⸗
fiheiden. D. Rupp erBlärte freilich, obgleich notoriſch aus
der eoangelifchen Landeskirche angetreten, gehöre er
doch noch wirklich zur evangelifchen Kirche. Meinte ſer
Yamit die wirklich beſtehende, geordnete, und nicht bie
ideale zulünftige oder unfidhtbare, wie ſollte dieſer fabtile
Widerſpruch von der Verſammlung ohne tiefere theologi⸗
ſche oder dogmatiſche Unterſuchnng auders gelöſt werben,
als dadurch, daß mau ſich an das objective notoriſche
Faetum hielt? Oder ſoll man künftig auch jedem moder⸗
nen Humanitäts⸗Judenchriſten, der notoriſch die Taufe
nicht empfangen hat, wenn er geſchickt wird, ohne Wei⸗
tere& glauben, er fey ein Glied der ewangelifchen Kirche,
weil er es eben fagt und ein Berein ihn ſchickt?
3) Alein man hat nicht ohne Gchein gefagt, ber
Berein habe durch Rupp's Ansſchließung fein ſchönſtes
Privilegium, womit eu geboren ſey, aufgegeden, nämlich
die allgemeine freie deutſche evangeliſche Kirche in ihrer
Unabhängigfeit von den befchräntten Landes⸗, refp.
Staats⸗, ja, wie Jemand im Zorne gefagt hat, Polizei⸗
tirchen zu repräfentiren.
Ein foiched Privileginm hat der Verein allerdings;
daß ich es zu würdigen weiß, babe ich in meinem Berichte
; F
518 Lüde
über die göttinger Generalverſammlung in den Studien
uud Kritifeun dentlich ausgeſprochen. Bott gebe, daß er
dieß Privilegiem treu bewahrt! Allein ich kann es nur
fo verfichen, daß er die allgemeine, freie, aber reale
Liebes⸗ und Wohlthätigkeitskirche in den wirklichen evangeli⸗
ſchen Landes; und Nationalkirchen barfielt. Wider Die recht⸗
Itchen Drbnungen der Lanbesliechen, — die freilich Ihre
firchliche Polizei haben müflen, wenn Ordnung ſeyn uud
keine kirchliche Pöbelherrfchaft entfliehen foll, und die mit
dem Gtaate nicht wie mit einem verabfchenten Heiden
ober rein Indifferenten, fondern als mit dem lebendigen
chriſtlichen Staate freundlich zuſammenleben mäflen, —
zur Zerfiörung ihrer inneren und äußeren Einheit und
Banzheit, zur Auflöfung und Entmächtigung ihrer kirch⸗
lichen Yucteritäten, jene abflracte and, wie fie auch
dialektiſch formulirt werden mag, auf den Winben und
Wellen seitende allgemeine freie evangelifche Kirche dar»
ſtellen zu wollen, — ein foldyed Desorgantfationg, oder
Zerrbildungspriotlegium ‚gegen die gefchidztlich beſtehende
Kirche hat der Verein nie gehabt und Tann ed nie haben
wollen, wenn er ſich nnd bie Kirche recht verſteht ud
nicht ind Blaue oder Wilde bineinlebt. —
Jenes edle Ziel ainer in den kirchlich organifieten
kandeslirchen — ich fage nicht Staatekirchen, ſich leben⸗
dig dDarfiellenden, aus ihnen organifdı erwachſenden allge⸗
meinen deutſchen Nationalkirche mit gehöriger, aber ges
ordneter Freiheit, ohne Tyrannei gegen die berechtigten
Eigenthümlichleiten der befonberen Lanbedtirhen, — dieß
Ziel kann nad meiner Auficht nur auf dem Wege einer
treu und unverdroſſen fortarbeitenden Theologie, fo wie
einer ruhigen, befonnenen Berfaffungsbilbung der Landes»
firden nach einem gemeinfamen Typus in Predbpterien
und Synoden erreicht werden. Einen anderen unmittel⸗
baren Weg fenne ich nicht. Der Guſtav⸗Adolphverein
hat die ſe Beſtimmung unmittelbar nicht; er kann
durch gegenfeitige: Berührung deu dentſchen Kirchen in
üb. d. Nichtann. bed koͤnigsb. Deput. D. Rupp ꝛc. 919
einem gemeinfamen Liebeswerke mittelbar dazu beitragen,
Aber, wenn er fich beikommen läßt, durch Begünftigung
firhlicher Oppofitionen, endlofer Gectenftiftungen und
jämmerticher Religionsmengereien feinerfeitd unmittelbar
jur Erreichung jenes Zieled etwas beitragen zu wollen,
fo it er irr und wire geworden und fpricht ſich in dem
Augenblicke feiber das Todesurtheil. "
3) Ein ehrenwertherwürtemberger Deputirter, der für
Rupp’9 Aufnahme geftimmt, aber in edelfter Weiſe das Ge⸗
wiffen Audersdenkender reſpectirt, hat gemeint, Rupp's Fall
mit dem der jüngft entfiandenen freien fchottifchen Kirche
Parallelifiven zu müflen, welche doch Jedermann für eine
wahre wirkliche evangelifche anerkennen werbe. Aber wie
ed immer bedenklich if, Audländifched unmittelbar auf
Dentfched auzuwenden, fo darf man nur Sydow und Ead
anfmerkſam Iefen, um den großen Linterfchieb zwiſchen
der feetirerifchen Bewegnng der freien koöͤnigsberger Ge⸗
meinde nnd der nad) jahrhundertiangen Kampfe endlich
erfolgten nnd im edelften Kirchenfiyl ausgeführten Katar
ſtrophe in Schottland zu ertennen,
4) Jeder Freund des Friedens und bed Bereind muß
über den in Berlin entfiandenen unfeligen Hader, der
den Verein an den Grund des Abgrundes gebracht hat,
den tiefften Schmerz empfinden, und ed wäre wünfchenes
werth und ein guted Zeichen, wenn diefer Schmerz Durch
ganz Deutfchland Tant und Öffentlich ansgefprochen würde,
Aber wenn zugleich dabei gerichtet und geflagt wird,
daß es der berliner Berfammlung an der wahren chrift-
lihen Liebe nnd Kingheit gefehlt habe, und ihr vorge,
worfen wird, daß fie nicht klug und liebevoll genng bei
dem rein formellen VBollmachtörechte des D. Rupp fliehen
geblieben fey, fo kaun ich biefen Borwurf, der doch am
Ende vorzugsweife die Majorität trifft, wicht gelten laſ⸗
fen. Das gedrudte Protokoll ergibt deutlich, daß es auf
der Berfammlung auch in ber Maforität weder an Klugheit
noch an Liebe gefehlt hat, Wenn aber von der Gegenpar⸗
520 Lade
tel ſcharf umb eutfchieben auf das echt beſtauden wird
uud zwar nicht bloß auf das formelle Recht an fich, ſon⸗
den, weil, wer A fagt, auch B fagen muß, auf alle
feine realen Gonfequengen, da bift keine ausweichende
nnd bejeitigenbe Klugheit und Liche. Reine, baare Ger
rechtigkeit wurde von D. Rupp gefordert, feine Büte
und Liebe, Da half e6 auch nicht, nm der Liebe willen nad
giebig das formelle äußere Recht zu gewähren und gegen alle
realen Eonfequenzen hinterbrein zu protefiren. @imfolder
Proter würde ben Zwiſt nur noch heftiger gemacht haben.
Der Prediger fpricht: Wer Wind ſäet, wirb Sturm
ernten. Der tobende Gturm geht bereitd durch gaxı
Dentſchlaud in der für den Verein zerſtörendſten Weile.
Stärmifche Berfammlungen der Bereine, mit zum Theil
eben erft ad hune sctum für den niedrigfien Beitrag ein
getretenen — auch wohl geworbenen Mitgliedern, welche
bis dahin fein Ohr und Herz für den Berein hatten,
decretiren ohne alle gemauere Kenntnißs des Bergange
und der Sache a) mit mehr und weniger Majerität für
Nupp's Aufnahme gegen ben Geutralvorftanb uud die
berliner Majorität, und interpretiren die Statuten wit
‚ dem Minfpruche auf Unfehlbarkeit. Es war Schlimmes
vorausznfehen, aber eine folche tumnituarifche Behandlung
der ſchwierigen praftifchen Frage, einen ſolchen Sieg
des leidenſchaftlichen Vornrtheils, der Unklarheit und Ver⸗
wirrung der Begriffe über Kirche und freie Vereine haben
wohl nur Wenige vorausgefehen, nicht gu gedenken ber
fehamlofen Entfteliuugen und Verhetzungen in ben Parteigeis
tungen, weldye auch die ruhigſte, einfachſte Berichtigung der
s) Mir iſt glaubhaft erzählt worden don Mitgliebern eimer foldhen
Berfammiung , weldge gemeint, man mäßte für Rupp ſeyn, ba
er die Symbole verwerfe, und zwar mit Recht, benn bie Sym⸗
bole taugten nichts und feyen von ber preußifdyen Regierung
gemacht. Allerdings der aͤußerſte populäre Refler ber Berwir⸗
zung! Aber bergleidken immt body mit,
'
üb. d. Richten. bes königab. Deput, D. Rupp ıc. 321
Angegriffenen nicht aufnehmen. — Jndeſſen wird die Ber
weguug in der einmal herrſchend gewardenen Richtung
durch ganz Deutfchlaud gehen; die Ruhigen, Veſonnenen,
die Kenner der Sache werden vorerfi in der Minorität
bleiben, und die leider, troß aller Warnung, ſchon auf
nachſtes Jahr angeſetzte barmfläbter Tagesſatzuug wird,
wie ich fürchte, überwältigt von ber berrfchenden Volls⸗
seinung das berliner Majeritätsurtheil caſſiren. Was
davon die Folge ſeyn wird? Zunächſt ein neuer
Sturm durch die Kirche, aber ein folder, der deu
Stamm bed Vereins aus den Wurzeln reißen wird,
während der dießmalige mehr bärres freuhed Gezweig
braufend bewegt. Ob dann weiterhin, wie in Ausficht
geſtellt if, ein do ppelter Buftav« Adolphuerein ent⸗
Rechen wirb, ein confervativer und ein liberaler, ein
schter und ein linfer, und dann vielleicht gar noch ein
dritter in gerechter Mitte? Gott behüte! Gewiß aber
R dieß, daß der Verein, wenn nicht noch zur rechten
Zeit verföhnliche, vermittelnde, verkändigenbe Elemente
chriſtlicher Weisheit und Liebe Das Mebergewicht erbalten,
in Darmiladt zu Grabe getragen werben wird, zum ent
ſetzlichſten Zeugniſſe won der unglaublichen Zerriffenheit
unferer Kirche und zum Hohngelächter ihrer geborenen
uuverföhnlichen Feinde, ‚
Wer dat nun den Wind zu diefem zerſtoͤrenden Sturme
geſäet? Doch gewiß nicht die zur Entſcheidung wie
bei dem Haaren herbeigegogene berliner Verſammlung,
insbeſondere die Maforität, welche nach ihrer Ueberzen⸗
gung deu Kal im Geiſte und Sinne ber Statuten des
Vereins fo enticheiden zu müffen glaubte, — fonbern die
jenigen, welche unbefonnen und keck mit freweluder Hand
den’ Feuerbrand in den Berein geworfen haben.
Schweigen auch noch jebt die Einfichtigen und Ges
rechten, — es wird eine Zeit kommen, wo der Nation
und dem Vereine die Augen darüber aufgehen werben,
auf weicher Seite die wahre Schuld liegt, Dan hört ſchon
922 Läcke, üb. d. Richtann. des D. Rupp ıc.
von Anträgen, welche den Muth haben, den Fönigeberger
Berein und D. Rupp wenigfieus eben fo fehr in Anlage
fand zu feßen, als den Gentralvorfand und bie Bene
rafverfamminng, und jenen ald eigentlichen Streiturheber
gur Berautwortäng zu ziehen. Aber bid Alle Klar in
der Sache fehen und gerecht urtheilen und handeln wer
den, wird es vielleicht ſchon zu fpät feyn, und man wird
vielleicht fchon binnen Zahresfrift figen und weinen auf
den üben Trümmern des Bereind. Gott aber fey Dant,
daß nicht bloß die Furcht, fondern auch die Hoffnung
, und der Blanbe ihr Vieleicht haben!
Was aber auch kommen möge, fey und bleibe nur
jeder feiner Ueberzengung gewiß. Wie fehr ich and mit
der meinigen in der Minorität ſeyn und bleiben mag,
e& fol mich Feinen Angenblid irren. Mau muß mit fei-
uer woblerwogenen Ueberzeugung auch ganz allein ftehen
konnen vor Bott und feinem Gewiſſen. So lange indeffennod
unbetheiligte und einfichtige Männer, freie, erfahrene, ges
lehrte Theologen, wie D. de Wette, D. Gieſeler,
D. Ullmann und D. Rothe u. N. anf meiner Seite
fichen und fich dazn bekennen, kann ich andy menſchlicherweiſe
getroft ſeyn und die weitere Entwidelung ruhig abwarten.
Der Berein ift von Anfang an, wohl in jeber groͤ⸗
Geren und Pleineren Berfammlung, in vielen herzlichen
Gebeten der heiligen Obhut Gotted empfohlen worden.
Gottes Segen iſt auch bis jetzt ſichtlich mit ihm geweſen.
Hoffen wir alfo, daß der, welcher bie Winde zu feinen
Boten und die Feuerflammen gu feinen Dienern macht,
anch bdiefen Sturm und dieſe Feuerflamme nach feiner
Weisheit gebrauchen werde — nicht zur Zertrümmerung,
— ſondern zur Befeſtigung, Bewahrung und Rünterung
des biöher von ihm gefegneten edlen Vereine.
Mit diefer getroften Hoffnung und biefer zuverfiht-
lichen Bitte zu Bott fchließe ich diefen Bericht und biefe
Rechtfertigung meines Votums.
Mitte Novembers 1846.
. Ein Wort über benfelben Gegenftand "
von
D. C. Ullmann.
Mein theurer Freund Lüde hat gewünfcht, ich möchte
feiner Erörterung ein begleitendes Wort beifügen. Nun
haste ich mir allerdings über die Sache, fobalb fie zur
öffentlichen Streitfrage geworden, meine Gebanfen ge
bildet, ja großentheild aufgezeichnet; auch hatte ich mit
meiner Anficht gegen Riemanden, der fie fenuen wollte,
ein Hehl; aber zur öffentlichen Rede in diefer bald fo
ſtürmiſch unb wild gewordenen Debatte verfpürte ich
wenig Neigung. Da ich jeboch fehe, wie die waderften,
mir befreundeten Männer aud dem Kreife ber berliner
Majorisät mit jeder Art von Schmach überhäuft werden,
will ich, obgleich perſönlich nicht entfernt betheiligt, kei⸗
nen Augenblid zögern, meine llebereinftimmung mit ihnen
au vor Jedermann zu befennen und die Schmach, wo
ed.nöthig wäre, mit ihnen zu theilen. Auch gibt mir viel«
leicht meine Theiluchme am Guſtav⸗Adolphverein und mein
Schmerz; über das Ereigniß, das ihn betroffen, ein
Recht zur Rede; denn wie‘ich früher von demfelben viel
Gutes gebofft habe auch für die Kirche im Ganzen, fo
erfüllt weich jegt nicht etwa bie einzelne Thatſache, ſon⸗
dern der ganze Sompler deſſen, was ihr verurfachend
voranging, was ihr jegt fchon gefolgt if und was noch
weiter ale unvermeidlihe Wirkung aus ihr entfpringen
zu müflen fheint, mit tiefer Beträbniß, und wenn Andere
mit dem Gegenflande, als einer unvermeiblichen Krife,
fo leicht fertig werden und ſich vieleicht u freuen,
Theol, Stud. Jahre. 1847,
524 Ulmenn
daß das gelommen ift, was doch nicht ausbleiben konnte,
fo kann ich das nicht von mir rühmen, weil ich glaube,
daß die Sache allerdings gar wohl zu vermeiden war.
Indem ich alfo meiner Ueberzengung und meinem Schmerze
Worte gebe, fey ed auch nur, um das dixi et galvarl
animam geübt zu haben, will ich mich nicht ängftlich bes
mühen, folche Geſichtspankte, die mein Freund ſchon bes
rührt hat, die fidy mir aber auch ganz unabhängig von
ihm dargeboten hatten, zu übergeben, fete aber zugleich
das von ihm Ansgefprocdhene als befannt voraus und
werde die Frage auch von anderen Seiten beleuchten.
Ich habe vor Tahren vom Guſtav⸗Adolphyvereine ges
fagt, wenn er auch nicht einen eigenthämlichen Stand»
punlt über den gewöhnlichen Parteien einnehme, fo ſtehe
er doch auf neutralem Gebiete außerhalb der Parteien,
und habe damals zugleih die Hoffnung ausgeſprochen,
ed werde ſich die zunächlt Außerliche Berbiabung mehr
und mehr zu einer lebendigen, innerlichen Gemeiufchaft
vertiefen a). Das konnte auch eine Zeitlang als wahr
gelten, Aber raſch, wie durch ein ploͤtzlich aufgeſtiegenes
Gewitter, it ed anders geworben, Richt mehr and nar
außerhalb der Parteien fteht der Verein, fondern er if
mitten in ihren Kampf bineingeriffen, ja für Die nächſte
Zeit ein Hauptgegeuftand des Parteihaders geworden.
Nicht mehr iR auch nur mit einiger Wahrfcheintichkeit gu
hoffen, die äußere Bereinigungsform werde ſich mehr und
mehr mit innerem Einheitsgeiſte erfüllen, ſondern «6
droht vielmehr die hervorgetretene innere Veruneinigung,
auch die äußere Bemeinfchaftöform auseinander zu
fprengen.
Wie war dieß möglich? Aus dem natürlichen Ent
wickelnugsgange des Vereins konnte es nicht kommen.
Auf der letzten ſtuttgarter Verſammlung herrſchte mod
a) Stud. m, Krit. 1844, 2. &, 555 u. 554.
üb. d. Nichtann. bed koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc.. 525
der fchönfte Sinn der Einigung in dem gemeinfamen Lie,
deszwecke; Geber, der ihr unbefangen beimohnte, empfing
wohlthuende, ja erhebende Eindrücke; Bad Ganze war
von einem chrißlichen, aber auch freien Sinne getragen;
ed war da weber etwas Einengendes und Erclufives,
noch trat eine Erfcheinung hervor, die den gefunden kirch⸗
lichen Geiſt hätte verlegen können; und obwohl Mäuner
ber verfchiebenken Richtungen neben einander faßen:
Rationaliften und Orthodore, Hegelianer und Pietiften —
fo zeigte fih doch nicht nur Peine Mißſtimmung, fondern
man konnte auch keine Ahnung davon haben, daß man
ſchon von der nächften Berfammlung nach Jahresfriſt fo
niedergefchlagen, theilmeife fo erbittert nach Haufe gehen
würde. Der Berein felbft in feiner naturgemäßen, freier;
wählten Thätigfeit:gab dazu keinen Anlaß; diefer konnte
ihm nur. von außen, nur mit einer gewiffen Gewaltfam:
feit anfgedrungen werden.
Und fo war ed aud. Den Wählern des Fönigeber
ger Vereins iſt es auf eine höchft betrübende Weife ges
Iungen , in die berliner Berfammlung eine kirchliche Prin⸗
cipienfrage, welche mit den Intereſſen des Vereins fchlechts
bin nichts zu thun hat, hineinzumwerfen und fle gu deren
wenigſtens indirecter Löfung zu nöthigen. Dan kann ſich
ſchwerlich enthalten zu glauben, daß dieß, wo nicht bei
der Wahl, fo doch dei der Belaffung des D. Rupp als
Deputirten beabfichtigt war. Oder follte D. Rupp in
ganz harmlofer Weife, ohne Rüdficht auf feine eigen,
thämliche kirchliche Stellung, bloß wegen feiner Berdienfte
um den dortigen Provincialverein gefandt worden feyn ?
Niemand wird ihm dieſe Berdienfte fchmälern wollen.
Aber, wer erwägt, daß bie wirklichen Sntereffen des Ber,
eine, fo weit fie auf Unterſtützung armer proteftantifcher
Bemeinden gehen, gewiß nit untrennbar an bie Perfon
des D. Rupp geknüpft waren, baß vielmehr diefelben von
eines nicht geringen Zahl würdiger Männer vollfommen
8 e
526 J Ullmann
eben fo gut vertreten werben konnten; wer bie religiöfen
und Kirchlichen Sympathien ber betreffenden Wählerfchaft
in Anſchlag bringt; wer fid vor Allem erinnert, wie Mor
nate lang vor der berliner Berfammiung in Brofdüren
und Zeitungen zu lefen war, alle Welt fey nun auf bie
Zufammenfunft des Guſtav⸗Adolphvereins gefpannt und
gegen dieſes Intereſſe trete das für die Reichsſynode
völlig in den Hintergrund — nicht etwa, weil man be,
gierig war zu fehen, was doc die Deputirten für ben
eigentlichen Zwed des Vereins, die Unterflügung bebräng-
ter Gemeinden, thun, fondern nurwegen ber einen Frage,
wie fie fich gegen D. Rupp verhalten würden — wer
das Alles bedenkt, ber müßte felbft eine Harmloſigkeit der
feltenftek Art befigen, wenn er glauben follte, die Sen⸗
dung Rupp's fey nur ein Act naiver Abſichtloſigkeit ges
wefen und bloß im Hinblide auf die Wohlthätigfeites
zwecke des Bereind gefchehen. Nein, Jedem mußte ſich
eben fo unwillfürlich, al& unabweisbar der Gedanke aufe
drängen: Rupp wurde ald Deputirter gewählt oder bod)
beibehalten, nicht bloß ungeachtet, fondern weil er
aus dem Verbande der Laudeskirche ausgetreten war, und
der Guſtav⸗Adolphverein ſollte ihm die Anerkennung des
Bürgerrechted in ber evangelifch » profeftantifchen Kirche
zu Theil werben laffen, welche ex zur Zeit von dem kirch⸗
lichen oder weltlichen Regimente noch nicht hatte erlan
gen können; das Ganze hatte den Charakter einer De
monftration und der Guſtav⸗Adolphverein war dabei
mehr Mittel, ald Zwei, Wollen wir aber auch, fo ent
fhieden ſich jedem der Berhältniffe Kundigen diefer Ge⸗
danke nahe legt, ihm doch nicht fchlechthin Raum geben,
weil über die Abfichten zulegt nur Gott urtheilen
kann, fo bleibt doch fo viel außer Zweifel: man mußte
auch in Königsberg willen, daß die Sache ale eine De
monftration genommen und daß damit ber Beneralver
famminng in Berlin eine ſchwere Berlegenheit bereitet
*
üb. d. Nichtann. d. koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 527
werde; man fah, wenn man die Angen nicht abfichtlich
verfhloß, die gefährliche Alternative, in die der Verein
dadurch kommen werbe, voraus und wollte ihm biefelbe
nicht erfparen.
Die Würde bed Vereins hätte nun allerdings gefor⸗
dert, ſich in ſolcher Weiſe als Mittel nicht gebrauchen zu
laſſen und die Demonſtration, von wem ſie ihm auch zu⸗
gedacht ſeyn mochte, von ſich abzulehnen. Aber eben dieß
machten die Berhältniffe wieder unmöglich a). Alle Ver⸗
ſuche, die Sache gütlich. beizulegen dadurch, daß man
bie Wählerfchaft D. Rupp's beftimmte, dad Mandat zus
rädzuzichen, oder ihn ſelbſt, freiwillig darauf zu verzich⸗
ten, waren vergeblich; fie fcheiterten theild an den Um⸗
fänden, theild an der unbeugfamen Entfchiebenheit,
womit D. Rupp allen, auch den infländigften und feier,
lichten Bitten gegenüber, auf feinem formellen Rechte
befand, Und da nun auch fchon anbererfeitd Proteflar
tionen gegen feine Befähigung zur Mitgliedfchaft einges
laufen waren, fo konnte eine Eintfcheibung nicht umgan⸗
gen werden, nnd hierbei, weil dem Bereine, fey ed auch
aur indirect, eine Firchliche Principienfrage anfgenöthigt
war, mußte freilich ber innere Diffenfus zum Borfchein
fommen, ber in ihm fchlummerte, der aber auf dem rich,
tigen Wege der Thätigkeit für die wahren ——
nie hervorgetreten ſeyn würde.
Es ſteht jedem Theilnehmenden frei, bie der Gene,
ralsBerfammlung vorgelegte Frage auch feinerfeitd einer
Prüfung zu unterwerfen. Bevor wir dieß thun, haben
wir jedoch noch einige vorläufige Inſtanzen zu erlebigen.
a) Die PYräliminarien ber Sache, auf bie ich bier nicht im Ein⸗
zelnen eingebe, find ausführlich erörtert in dem vorläufigen Bes
richte über die 5. Hauptverfammlung von D. K. Großmann,
den auch die Männer von ber entgegenftehenben Seite nidht un»
gelefen Taflen ſollten. Ohnedieß gibt auch fon Lüde vieles
bierher Gehoͤrige.
⸗
28 Ä Klmass
. Man bat erfilich bemerkt, das die Vollmachten yrd-
fende Mitglied bed Centralvorſtandes bätte die Sache
einfach gefchäftlich abthun follen und wärbe damit bie
ganze Schwierigkeit befeitigt haben. D. Rupp war von
einem berechtigten Vereine orbnungsmäßig gewählt und
hatte feine richtig ausgefertigte Vollmacht; war diefe m
Augenfchein genommen und fein formelles Recht feſtge⸗
fließt, fo hatte er ohne Weiteres Sig und Gtimme.
Allein ich weiß nicht, was die Prüfung der Vollmachten
heißen fol, wenn mas diefe auf das mechanifche Geſchaͤft
der bloßen Befihtigung eines Papiers befchränft. Bei
allen vertretenden Körperfchaften will die Präfung der
Wahlen etwas Mehreres befagen. Sind bie Wahlcorpo«
rationen nicht fchlechthin irrthumdfrei — und das wird
die Fönigäberger nicht von ſich behaupten wollen — fo
töunen fie auch einen Fehler im Materiellen der Wahl
begeben; fie können auch einmal eine Perfon wählen,
bie ihrer Befchaffenheit nach nicht wählbar war. Go
in folchen Fällen die Generalverſammlung nichts Anderes
feyn, ale eine paffive Waffe, die ſich von den fonveräs
nen Einzelvereiuen unbedingt Jeden muß zuſenden laflen,
ohne zuzufehen, ob er auch nur die Qualification zu eis
nem Depntirten hat? Wein, wenn bie Prüfung der
Bolmachten Sinn und Bedeutung haben fol, fo muß fie
fih auch auf das Materielle der Wählbarkeit erfireden.
Und im vorlisgenden Falle waren von vorne herein Zwei⸗
fel gegen diefe Wählbarkeit geltend gemacht warden.
Das die Vollmachten prüfende Mitglied des Central⸗
vorftandes aber entſchied nicht für fich felbit, fonbern
legte die Frage dem Gentralvorftande vor und biefer
binwieberum ber ganzen Deputirten«Berfammlung: alles,
wie es die Wichtigkeit bes Gegenſtandes forderte, in
befter,, billigfter Ordnung.
Aber, bier fagt man bann zweitens: die Geueral⸗
üb. d. Nichtann. d. koͤnigsb. Dep. D. Rupp ıc. 529
Berfaumiung war zur Eutfcheibung ber Frage gar nicht
competent, weil in den Statuten Feine Beſtimmung vor⸗
fommt, die fie ermächtigte, ſich über die Zulaſſung eines
Deputirten beflimmend auszuſprechen. Das Lektere iſt
richtig, allein darand folge nicht das Erftere. Denn
wenn wan ſchon überhaupt ber General, Berfammlung
das Recht nicht wird abfprechen können, über wichtige
unb dringliche Fragen, auch wenn fie nicht ausdrücklich
in den Statuten vorgefehen find, eine Entſcheidung zu
geben, fo am wenigften in dieſem Falle. Kommt nämlich
auch zunächſt nur dem dazu beflimmten Mitgliede bes
Gentrals Berfiandes das Recht zu, die Vollmachten zu
prüfen, fo ſollte doch Diefem bamit gewiß nicht die ſou⸗
veröne Gewalt gegeben werben, Deputirte, die er etwa
nicht für gehörig legitimiert hält, nach bloßem felbfieiges
nen Ermeflen von der Verſammlung auszufchließen, ſon⸗
dern er wird ber Natur der Sache gemäß dem Fall vor
die ganze Berfammiung bringen. IR damit dann auch
noch der Depntirte, deffen Legitimation beanftanbet wor«
ben, einverftanden, fo kann die Sache vollends feinem
Zweifel unterliegen. Und fo verhielt eö fi hier. Einer
feitö war von dem Deputirten bed Gentrals Borkandbes
nad von biefem in Befammtheit die Competenz der Ge
nerals Berfamminug anerkannt, andererfeitd war von
D. Rupp ſelbſt aufs Entfchiedenfie an dieſelbe appellirt
worden: wie hätte fie ſich alfo nicht ermächtigt halten
ſollen, eine Entfcheibung zu geben? „Und hätte fie
dennoch, ohne in die Verhandlung der Sache felbfk
einzugehen, fich für incompetent «erklärt, fo würde fie
Ah mit rund dem Borwurfe ausgeſetzt haben, unter
dem Borwande einer Incompetenzerflärung: feige und
ſchwach ſich einer Pflihterfülung zu entziehen, flatt in
Gemaͤßheit des von D. Rupp an fie gerichteten Berlans
gend offen und muthig in eine Prüfung der Frage ein:
530 . Mlmann
zugehen und fie nach vechtlicher Ueberzeugung zu eut⸗
fcheiden” a).
Run aber die Streitfrage ſelbſt, worauf bezog biefe
fh? Nun und nimmermehr anf den Blauben, die theos
logifhe Denfart, bie Dogmatik Rupp’s, fonbern rein
nnd allein auf feine Firchliche Stellung. Die perfönlichen
Ueberzengungen Rupp's Tenne ich felbft nicht genau ger
nug, um darüber ein anthentifches Urtheil zu haben;
ader baran zweifle ich feinen Augenblid: der Theologe
Rupp konnte unbedenklich im Guſtav⸗Adolphvereine ſei⸗
nen Platz einnehmen. Längft ſchon hatten in den Ber:
fammlungen beflelben die verfchiedenften Richtungen ibre
Stelle und e8 fiel Riemanden von ferne ein, auf biefem
Sebiete den Keberrichter fpielen zu wollen. Auch jebt
Sam es gar nicht darauf an, ob ein Mann mehr von
der Denfart, als deren Bertreter D. Rupp gilt, in den
Reiben faß, da ohnedieß viele Andere von berfelben Ges
finnung da waren; und wenn fich das Bedenken hierauf
bezogen hätte, fo wäre es ja wahrhaft kindiſch geweſen,
and biefer- Reihe. gerade den D. Rupp, ben in feiner
Richtung nicht einmal am weiteften Gehenden, herauszu⸗
greifen und die Uebrigen aufznfordern, mit über ihn zu
Gericht zu fiten. Auch if nicht nur nichts in biefem
Sinne geltend gemacht worden, fondern mau bat fid
aufs ausdrädlichite gegen Motive der Art gewahrt, nar
mentlich von Geiten berer, bie ich in ber Kürze bie
Dofitisgefinnten nennen will. Alfo nichts von Glanbens⸗
gericht, fondern Löſung einer kirchlichen Frage, die
ſich die BeneralsBerfammiung des Guſtav⸗Adolphvereins
nicht felbft freiwillig anfgeweorfen hatte, fonbern bie
/
a) Worte des frankfurter Deputirten, Schöff D. Harnier, de
" überhaupt diefe Sompetenzfrage fo volftändig erledigt, daß ich
biee gaͤnzlich auf feine Erörterung verweiſe. S. Protokoll der
frantf. Hauptverfammiung v. 4. Nov. 1846. ©. 7. u. 8.
!
6. d. Nichtann. des koͤnigeb. Deput. D. Rupp xc. 53T
ihr wider Willen und trotz Bit: Widerſtrebens aufger
mungen war.
Die Frage felbft aber war einfach die: kann ei Sol⸗
cher, der eingeſtandenermaßen aus dem Verbande der zu
Recht beſtehenden evangeliſchen Kirche, reſpective Lan⸗
desfirche ausgetreten und nicht in eine zur Zeit anch ger
feßlich anerfannte evangelifchsproteftantifche Gemeinfchaft .
eingetreten ift, vollberechtigteds Mitglied des Guſtav⸗
Adelphvereind und indbefondere Deputirter deſſelben auf
feiner Beneral»Berfammiung feyn ?
Und auf diefe Frage muß auch ich in ruhiger and
fiherer Ueberzeugaung mit nein antworten, ebenfowohl
vermöge der Statuten, ald im Hinblide auf die ganze
bisherige Stellung und Entwidelung des Vereins.
Was die Statuten betrifft, fo bezeichnet bekanntlich
der erfte Paragraph ald zur Theilnahme am Bereine bes
rechtigt: „Mitglieder der evangelifch » proteftantifchen
Kirche, welche u. f. w.” Schon hierbei wird jeber lin»
befangene‘, jeder durch die vorliegende Gtreitfrage nicht
ſchon Beirrte, an die wirkliche, gegenwärtige, fihtbare
und rechtmäßig befehende evangelifche Kirche denken,
und es ift offenbar fophiftifch, wenn man fagt, daß um
diefen realen Beftand zu bezeichnen, nicht der Singular
„Kicche”, fondern der Plural „„Kirchen” hätte gebraucht
werden müflen, weil die rechtlich beftehende evangelifche
Kirche ſich nur in einer Mehrzahl von Kirchen darſtelle.
Denn jeder Berfländige weiß ja doch, daß man auch die
Summe biefer einzelnen Landedfirchen unter dem Ger
fommtbegriffe der enangelifchen „ Kirche” zufammenfaßt,
und ed wäre in der That fonberbar gewefen, wenn ber
Guſtav⸗Adolphverein, ftatt fi dieſer ganz gangbaren,
populären Anfchauung zu bedienen und dafür einen vol,
lig unmißverfändlichen Ausdruck zu gebrandyen, gleidy
in der erſten Zelle feiner Statuten an die Setheiltheit
der evangelifchen Gemeinſchaft in Landeskirchen erinnert
532 Ullmann
und bamit gleichſam im erften Worte eine Parobdie auf
fein Streben nach Einigung audgefprochen hätte. Wide
tiger in der Einwurf, daß ber evangelifche Proteſtantis⸗
mus nicht in diefen rechtlich beſtehenden Bemeinfchaften
aufgehe, fondern daß man unter evangeliſch⸗ proteſtanti⸗
ſcher Kirche auch etwas Allgemeineres verfiehen könne:
deu ganzen Compiler der Parteien nämlich, die fich auch
außerhalb der anerfannten Kirchen im Gegenſatze gegen
die roͤmiſch⸗katholiſche oder griechifch » orthodoxe Kirche
aus dem proteflantifchen Principe bereits entwickelt ha⸗
beu ober in Zufnuft noch vollſtändiger entwideln werben,
alfo ben allgemeinen, idealen. Proteftantiämus, wohl
auch die proteflantifche Kirche der Zukunft, Nun weiß
freilich Jedermann, bag man in der Kirchengeichichte und
auch fon vielfältig von einem Proteſtantismus in dieſen
weiten, idealen, meinetwegeu auch propbetifchen inne
foricht; aber ich denke, wenn man Statuten macht, alſo
einen einfach praltifchen Zweck im Auge bat, fo wird
san nicht einen fo ſchwebenden und zerfließeuden Bes
eriff gu Grunde legen‘, fonbern einen ganz beſtimmten,
klaren und wohl begremzten. Und daß man bieß in ber
That beabfichtigte, geht noch weiter aus Folgendem
bervor. |
Im zweiten Paragraphen beißt es zunächft: „Die
Wirkſamkeit des Vereins umfaßt Iutherifche, reformirte
und unirte Gemeinden.” Hier iſt doch deutlich genng
von beflimmt abgegrenzten, rechtlich befiebenden Kirchen
die Rede und zwar um fo ungweifelhafter, ald diefe Be
ſtimmung aus Beranlaffung einer Discuſſion über bie
Frage entiiand, ob auch die proteflantifhhen Gecten in
den Bereich ber Bereinsthätigleit aufzunehmen feyen.
Man glaubte, bei der pofltiven Bezeichnung der Sache
(Istherifche, reformirte, unirte Gemeinden) Reben bleiben
zu können, weil darin von felbft auch die negative (Aus⸗
ſchließung des Secten) gegeben fey. Allerdings bezieht
ſich dieſe Beſtimmung direct nur auf das Object der Un⸗
üb. d. Nichtann. des koͤnigob. Dep. D. Rupp ıc, 533
terſtützung, nicht anf dad Gubject; ed wird damit Die
Grenze für die zur Unterftägung berechtigten Gemeinden
gezogen, nicht für die Befähigung zur Mitgliebſchaft am
Vereine, Aber indireet if auch diefed darin enthalten,
Denn wenn irgendwo, fo gilt Boch wohl hier der Schluß
vom Geringeren auf dad Größere. Darf vom Bereine
nur unterKüßt werden, wer zus Iuthertfchen, reformirten
oder unirten Sonfeffion gehört, fo wird Doch wahrhafs
tig anch nur einem Solchen das weit wichtigere Recht zu⸗
fommen können, bei ben-Berathungen und der Repräſen⸗
tation deſſelben eine entfcheidende Stimme zu haben; unb
läßt man einen zur Intherifchen, veformirten oder unirten
Kirche Ricdytgehörigen zur Repräfentation zu, fo ift nicht
einzufehen, wie man vernünftiger und billiger Weife die
Gemeinfhaft, der er angehört, von der Unterſtütung
zurückweiſen kaun. Aus irgend welcher nichtkirchlichen
Bemeinfchaft einen Deputirten annehmen, dieſe Gemein⸗
fhaft ſelbſt aber als Gegenſtand ber Liebeschätigkeit aus⸗
ſchließen, wäre nicht nur ein innerer Widerſpruch, fon»
dern auch eine Inhumanität uud bieße mit ber einen
Hand geben, was man mit der andern reichlich wieder
nimmt. &o bedingt bier nach der pofltiven, wie nach
der negativen Seite der Kreis derer, weldye Unterkügung
empfangen, zugleich (mit Ausnahme ber fogenannten „Wohle
thäter” des Bereind) den Kreis derer, weiche als vollbe⸗
rechtigte Mitglieder des Bereind diefelbe geben; und ale
in Granffurt die Aufzählung derienigen, die an bem Berein
als ſtimmberechtigte Mitglieder theilnehmen Tönnten, bes
antragt wurde, unterblieb dieß laut der amtlichen Berichte
über die zweite Danptverfammiung and dem runde,
„weil für Sehen hinlänglich gefagt ift, weiches Bekennt⸗
niß die Unterkügenden haben, fobald angegeben ift, wel⸗
ches Belenutniß die zu ENSerRÜBEnDen Bemeinden haben
müflen” a),
a) 8, Großmann vorläuf, Bericht, S. 12,
534 Ullmann
Indeß die Beſchränkung anf Intherifche, veformirte
und umirte Gemeinden if ja nicht abfolut; der zweite
Paragraph läßt auch Solche gelten, „bie ihre Ueberein⸗
Rimmung mit der evangelifchen Kirche ſouſt glaubhaft
nachweifen können.” Bekanntlich ift diefer Zufat mit be
fonderer Beziehung auf die Waldenfer gemacht worden,
und gewiß mit dem volleften Rechte hat man dieſe wahrhaft
evaugelifchen Borläufer der Reformation, die natürlichen
Schutzverwandten bed Proteſtantismus, bie zugleich mit
der reformirten Kirche in der nlchiten Belenutniß- umb
Lebendgemeinfchaft ftehen, in den Bereich der. Liebesthäs
tigkeit des VBereined gezogen. Aber gerade, dag man mit
befiimmter Beziehung auf fie eine Ausnahme machte, bes
weil beutlih, daß man fi fonft um fo entfchiedener
inuerhalb der kirchlichen Grenzen halten wollte. Exceptio
üirmst regulem. Doch — die Kormel: „die ihre lieber
einftimmung mit der evangelifchen Kirche font glaubhaft
nachweifen können“ — Täßt in ihrer Allgemeinheit and
noch Anberweitiged zu. Hier ift ein Punkt, der auch nod
ferneren Anerfennungen Raum gibt und we auch die for
genannte freie Bemeinde, welder D. Rupp angehört,
Fuß faflen tönnte, zunächſt als Object ber Unterfiägung,
baun, wenn man confequent feyn wollte, auch ale zur Ders
einsthätigleit berechtigt. _E& füme darauf an, daß fie
ihre Uebereinftimmnng mit der evangelifchen Kirche auf
eine glaubhafte Weife nachwieſe. Aber diefe mußte fie
doch offenbar, bevor eines ihrer Mitglieder ale Depu⸗
‘tieter ded Guſtav⸗Adolphvereins erfcheinen konnte, ſchon
glaubhaft nachgewiefen Haben. Oder erwirbt man eine
Berechtigung fchon damit, daß man fie zu haben behanp-
tet? Beginnt man die Nachweiſung eined Rechtes damit,
daß man es ausübt und troß aller Widerrede auf beflen
Ausübung beſteht? Und bei wem folte bie Nachweiſung
‚gefchehen? Bei der General, Berfammiung des Guſtav⸗
Adolphvereins? Aber war diefe über die Sache anch nur
\
üb. d. Nichtann. des koͤnigsb. Deput. D. Rupp x. 535
fo infruire, um irgenb gründlich entfcheiden gu Fönnen?
Und wenn fie es gewefen wäre, if fie ein kirchliches
Anerkennungötribunal? Gicht man nit, daß man bem
Berein, wenn man ihn dazu machen will, in äußere und
innere Gonflicte flürgt, durch die. er unvermeidlich zu
Grunde gehen muß? Endlich aber mußten Doch, wenn
in irgend einem Berflande von glaubhafter Nachweiſung
der Uebereinſtimmung mit ber enangelifchen Kirche die
Rede feyn follte, dafür zureichende Beweismittel beige⸗
bracht werden. Es Tam auch hierbei wieder fchlechthin
nicht auf die individuelle LUebergeugung bes D. Rupp,
auf ihn als evangelifchen Ehriften oder Theologen, fon
dern einzig und allein auf das Bekenntniß der Gemein,
ſchaft au, deren Glied er ift. Dieſes Belenutnig beſteht
laut öffentlichen Angaben nach feiner thetifchen Seite le⸗
diglich darin, „daß fie die heil. Schrift ald Grundlage
ihres Glaubens an die Einheit Gottes anerkennt; daß
fie in Derfelben die höchſten fittlihen Normen für ihr
Berhältniß zu ihren Nebenmenſchen findet; daß fie bei
der Erforfchung der Schrift das fortfchreitende fittliche
und vernunftgemäße Bemwußtfeyn der Bemeinbe zum
Grunde legt, und daß fie die Taufe und bad Abendmahl
beibehält”” Darf ich mir nun unter denen, welche biefe
Zeilen lefen, Solche denken, weldye mit der Reformatich
und ihren Brundgebaufen, mit der evangelifchen Kirche
und ihren Belenntniffen befannt find, fo würde ich diefe
£efer in der That zu beleidigen glauben, wenn ich ihnen
erſt ausführlich anfchaulich machen wollte, wie durch die,
ſes Belenntniß, welches nicht ein Wort für die Perfon
Chrifti hat, welches von Sünde und Erlöfung und
von der ganzen chriftlichen Heildorbnung nichts weiß,
weiches mit der unzmweidentigften und barum löblichen
Dffenheit nichts Anderes ale den einfachen Deismus dar⸗
legt — wie durch ein ſolches Belenntniß ein Beweid für
Die liebereinfiimmung mit der evangelifchen Kirche ent
fernt nicht gegeben feyn kann; mag man meinetwegen
N
536 Ullmann
das Bekenutniß für das allervortrefflichſte, ja einzig rich
tige halten, für übereinkimmend wit dem ber evangeli⸗
ſchen Kirche wird ed Niemand halten können, ber irgend
objectiven Sinn hat, uud zwar braudt man babei gar
wicht an bie formnlirten Bekenntniſſe unferer Kirche, fon:
dern nar an bie Hauptpriucipien, an bie Weſensgrund⸗
lagen ber Reformation zu denken. Allein, könnte man
fagen, diefe freie Gemeinde, gu der D. Rupp gehört, ik
ia noch im Werden, fie faun ſich in ihrer Beweglichkeit
dem Wefenbaften der evangelifchen Kirche ja auch am
„ähern und innerlid wieder mehr mit ihr zuſammen⸗
wachſen. Gut. Sch fehe auch, daß die Zuſtände bdiefer
freien Bemeinden noch embryonifche und in der Entwide
kung begriffene find; aber eben weil fie dieß find, wolle
sau fie auch nicht als fertige und volllommene behan⸗
deln. Kein Billiger wird fein Urtheil über eine ſolche
Gemeinde ein, für allemal abfchließen. Aber fo lange die
Bade noch fo umreif iR, noch fo ganz in den erften
Gtadieu der Entwidelung fi befindet, muß mau es je
denfalls voreilig und zudringlich finden, wenn von ba
and Anſprüche erhoben werden, bie ſich mar auf bie ber
veitd erwiefene und anerkannte Uebereinſtimmung mit ber
evangelifhen Kirche gründen können, und wirb man das
sin, daB ſich die Generals Berfamminng bed Guſtav⸗
Adolphoereins in ihrer MWajorltät diefen Anfprüchen wir
Derfegt bat, nur eine natürliche Wahrung der Gtatuten
des Vereins erkennen.
So verhält ſich die Sache meines Dafürhaltend nad
dem Worte der Statuten. Noch mehr aber ſcheint wir
die ganze Stellung und biöherige Entwidelung des Ber
eines für das zu forechen, was wir behaupten.
Der Guſtav⸗Adolphoerein ik zwar nicht ein Firchlicher
Berein im engeren Sinne des Wortes: er iſt nicht um
mittelbar in den Zixchlichen Organismus eingefügt, legt
nicht ein beſtimmtes kirchlich firirted Bekenutniß zu Grunde,
üb, d. Nichtann. d. koͤnigeb. Dep. D. Rupp ıc. 337
bewegt ſich nicht in Feten kirchlichen Formen und wird.
nicht nothwendig von firchlich beamteten Männern geleis
tet; er iſt vielmehr ein freier und vermöge der zahlrei-
hen Laien, die er nicht bloß ald gebende, fondern auch
als mithandelnde nnd leitende in ſich faßt, ein weſentlich
vollöthämlicher Verein. Aber zugleich IfE er von Haus
aus umd war biöher umbeſtritten ein folcher freier und
vollöthämlicher Verein, der ſich in lebendiger und ver
ttauensvoller Verknüpfung an die Kirche anſchloß, ber
die Kirche gu feiner natürlichen Boransfeßung und Bas
ſis hatte. Aus Liebe zur evangelifhen Kirche geboren
und von ihr freudig begrüßt, wirkt er für ihre Zwede,
Recht mit Dem Kicchenregimente und mit den Lehrern ber
Kirche In fortwährender fördernder Beziehung, begicht
die und da einen Theil feiner Mittel aus kirchlichen
Coflecten, verfammelt ſich in evangelifchen Kirchen und
geht, foweit feine Verſammlungen gottesdienftlich find,
durchaus im die Formen bed evangeliſch⸗kirchlichen Enltus
ein, genießt auch des von ihm machgefuchten Gchußes
und der shätigen Theilnahme der Träger des ewangelis
ſchen Kicchenregimentes und hat fich felbfk feine äußere
Drganifation „auf dem Grunde der politifch « kirchlichen
Eintheilung” a) gegeben; er if, mit einem Worte, eine
freie Genoflenfchaft imerhalb der evangelifch-protekantis
(hen Kirche nud auf deren natürlihem Grund und Bor
den. Und bei allem dem ift nie die Rede geweien von
idealer, unbeftimmt allgemeiner, werbeuder Kirche, four
bern immer won der fchon gewordenen, wirklichen, ges
genwärtigen; denn nur zu biefer paßte das Alled, was
wir eben berührt haben. Läßtnun der Guſtav⸗Adolphverein
ale vollberechtigte Mitglieder. und Repräfentanten Solche
su, die ſich offen von dieſer wirklichen Kirche losgeſagt
haben, fo gibt ex unzweifelhaft feine bisherige Baſis
a) $. 10, der Statuten und Beilage A.
538 uullmann
auf; er loͤſt das Band, das ihn, wenn auch nicht durch
einen ausdrücklichen Pact, ſo doch thatfächlich, mit der
Kirche verknüpft hatte, und adoptirt ein Priucip, ver
möge deſſen er ſich außerhalb der Kirche ſetzt. Ich will
nun keineswegs behaupten, daß nicht der Verein auch in
dieſer außerkirchlichen Stellung, wenn ex ſich dabei nur
einen guten chriſtlichen Geiſt zu bewahren vermoͤchte,
noch ein chreuwerther und wohlthätig wirkender ſeyn
könnte: gibt ed ja doch fehr wohlthätige und auch chrif-
lich wohlthätige Bereine, die ganz von allem Kirchlichen
abfehen und felbft den Gegenſatz des Katholiſchen und
Protefantifchen ignoriren. Allein erſtlich wäre es doch
ſonderbar, wenn ſich gerade ein für kirchliche Zwecke wir⸗
kender Verein grundſätzlich außerhalb der wirklichen
Kirche ſetzen wollte; zweitens flünde eben in dieſem Falle
fehr zu befärditen, daß das Außerkirchliche alsbald in
das Widerkirchliche und ſelbſt Kirchenzerfiörerifche um⸗
ſchlüge, und drittens, was für und hier das Nachſte,
wäre es daun nicht mehr der alte, der urfprängliche und
bisherige Guſtav⸗Adolphverein, fondern ein principiell an,
derer, der ſich auch eine neue Grundlage und Berfafr
fung geben müßte. Und fo hat, dünkt mich, die berliner
Majorität ganz aus dem Erhaltungstriebe bes Bisherigen
gehandelt, wenn fie Die kirchlichen Grenzen wahrte, ins
werbalb deren fich der Berein von Anfang an aufge
baut hat.
Daſſelbe ergibt ſich and; noch von einer anderen Seite
ber. Der Guſtav⸗Adolphverein hat fich verbunden zu einem
Werte der Liebe an ben Genoflen nnferer Kirche; er will
forgen für die, welche der Mittel des Firchlichen Lebend
entbehren und deshalb in Gefahr find, der Kirche verlor
ven zu gehen 0). Seinem Zwede gemäß wirkt er nicht
zunähft und unmittelbar für den Glauben, fondern für
a) $. 1. ber Statuten.
üb, d. Nichtann. bes koͤnigob. Deput. D. Rupp ꝛc. 539
die iußerlichen Bebingungen des kirchlichen Lebens. Zwar
ruht das gefunbe Wirken der chriftlichen Liebe auf dem
Glauben ‚and fördert denfelben; und das hat auch beim
Guſtav⸗Adolphvereine nicht gefehlt: im Glauben begonnen,
hat er denfelben auch nach innen belebt. Aber fein eigents
liches Thun ift doch nicht Auf das innere des Glau⸗
bend gerichtet, fondern er baut demfelben Kirchen und
Schulen, er gibt ihm leibliche Mittel und überläßt es
vertrauensvoll andern Kräften, das, was er nicht unmit⸗
telbar vermag, gu leiften, So ift er ein Inſtitut, „welches
dem Gebiete der äußeren Kirchenorganifation angehört” =)
und feine Stellung durchaus in der fichtbaren Kirche und
deren voller Wirklichkeit einnimmt. Aus dem natürlis
hen Gefühle diefer Stellung heraus hat er von Anfang
on anf nähere Blaubenebeftimmungen verzichtet, und wo
Berfuche gemacht wurden, den Verein zu einem beſtimm⸗
teren Bekenntniſſe binzubrängen, da find Diefelben von der
Mehrheit feiner Bertreter mit einem, wie mir fcheint,
durchaus richtigen Tacte zurldigewiefen worden. Damit
aber hat der Verein zuverläfftg nicht ausfprechen wollen,
daß er gegen das Bekenntniß fchlechthin indifferent ſey
und in das völlig Allgemeine zerfließen wolle, fondern
er hat zugleich ausdrücklich erflärt, ed genüge die Ber
Rimmung, daß fich feine Thätigkeit auf die evangelifch-
proteftantifche, d. h. Iutherifche, reformirte und unirte
Kirche beziehe, daß er ſich alfo innerhalb der Grenzen
derfelben halte. Je weniger nun der Verein — und feis
nem Charakter gemäß mit Recht — ſich auf dad Dogma
eingelaffen, je weniger er felbfi bei der Beftimmung des
Kirhlihen das Bekenntniß hervorgehoben hat, deſto wich,
tiger und nnerläßlicher ift es für ihn, will er nicht völlig
charalterlos werden, daß er den kirchenrechtlichen
a) Ban vergleiche eine weitere, fcharffinnige Nachweiſung biefes
Geſichtspunktes in der züricher Zeitſchrift: Zukunft der Kirche
vom I5ñten Detober 1846.
640 Allmann
Standpunkt behaupte und anf bie äußere Abgrenzung
der evangelischen Kirche das Gewicht lege, welches feine
Statuten ‚fordern. Thut er dieß nicht, dans gerade
wird er umausbleiblich in das verfallen, worüber man
jet fo unermeßlich lärmt, in Glaubensrichterei. Denn
alsdann wird er ſich nicht befchränten auf das äußere
rechtliche Berhältuiß des Inbividunmd oder der Ge
meinde zur Kirche, ſonders er wirb nothwendig das im,
nere ind Auge faſſen müllen. Es fey denn, daß mau
ſchlechthin und überall gar keine Grenze mehr anerken⸗
nen wolle, Aber baun wirb man, fo wie biefe Gemeinde»
oder Sectenbildungen fortfchreiten, unerbittlich von Stufe
zu Stufe weiter. gezogen werben: von denen, bie ned)
kaufen, zu denen, die nicht mehr taufen, vom CEhriſten⸗
thume zum bloßen Menfchenthume, vom Deiömud zum
Pantheismus — — und der Verein wird aufhören, nicht
bloß em kirchlich begrenzter, fondern aud ein chrifts
licher zu feyn, Will er aber doch irgendwo inne halten
und Schranten giehen, dann eben wird er fid) auf Dog»
ma und Speculation einlafen mäfen und zum Berichte.
hof in Blaubendfachen werden. Denn es Sam „ar
nicht fehlen, wenn fich die darmſtädter Verſammlung für
Rupp audfpriht, daß weitere ähslicdhe und anch noch
grellere Fälle vorkommen, and dann werden wir es orler
ben, daß die General» Berfammlungen , ſtatt daß fie bie»
her ein ewhebendes Zufammenfeyn in thätiger Liebe mar
ren, zu ben unerquicklichſten Stätten theologifchen und phi⸗
logophifchen Haderd werden, und falls es dauun andı
noch eine Majorität für irgend eine Audfcdliefung geben
follte, fo wird diefe bei ihrer Zurücktunft von den öffent
lihen Blättern mit deufelben Salven begrüßt werden,
wie die jeßige berliner.
Alles dieß will man indeß nieberfchlagen, indem
man den Unterfchied macht zwifchen Kirche und Landes»
firhe: D. Rupp, fagt man, ift ausgetreten amd ber preu⸗
Bifchen Landeskirche, noch lieber Couſiſtoriallirche, aber
\
&b. d. Nichtann. des koͤnigab. Deput. D. Rupp ıc. 541
nicht ans der Saugeliſch⸗ proteſtautiſchen Kirche an ſich.
Das iſt jetzt das Meduſenhaupt, vor dem Alles erſtarren
ſoll. Aber wenn ich mich nun, wie ein aus dem Traume
Erwachender, nach der evangelifch:proteflantifchen Kirche
umfehe, die nicht Landeskirche wäre, fo finde ich fle nicht.
Deun entweder iſt das wieder ber allgemeine Proteftan-
tismus, der in Firchlicher Beziehung etwas Zerfließendes
it, oder, wenn ed bie wirkliche proteftantifche Kirche
feyn fol, fo muß man fagen, daß biefe nahezır Überall
nur in Landesfirchen zur Erfcheinung fommt und nur in
bem feit der Neformation begründeten Berhältnifle zum
Staate ihren realen Beſtand hat. Das Argument von dem
Landeskirchen {ft nicht viel anders, ald wenn wie Jemand,
ber fein Bürgerrecht nachweiſen follte, verficherte, er
fey zwar nicht Bürger eines beffimmten Staates, wohl
aber ded Staates an fih. Run will ich zwar hier gerne
befennen, daß auch für mich diefe Landeskirchen im
Verhältniſſe gu den gegenwärtigen Bedürfniſſen feine Ide⸗
ale der Vollkommenheit find und daß nach meiner Ueber⸗
jengung insbefonbere ihre Stellung zum weltlichen Res
gimente einer -Berbefferung bedarf, auch bin ich herzlich
gern bereit, nach meinen geringen Kräften dazu mitzus
wirten, daß dieß auf ordentlichem Wege anders werde. Aber
nur der Guftay » Abolphverein fcheint mir durchaus nicht der
Ort, wo diefe Dinge audgefochten und ind Meine ges
brasıt menden können und follen; der hat Anderes zu
beforgen, und wenn wir ihn mit biefer Aufgabe verwirren
wollen, fo werden wir der Kirche nichts nüßen und dem
Bereine fhaden. Sch kann es indeß auch nicht verſtän⸗
dig und reblich finden, wenn man den Unkundigen jeßt
einen fo großen Schred und Schauder vor bem Landes⸗
ticchenthume beizubringen fuccht, namentlidy in Betreff des
Guftav » Adolphvereind. Denn, was dieſen betrifft, fo kann
er gewiß auch innerhalb ber Landeskirchen feine ganze Kraft
entwideln und feinen wahren Zweck aufs vollfländigfte
36*
542 - Ullmann -
erreichen und es wird gewiß feinem Kirchenregimente
einfallen, ihn fammt der Kirche, auf bie er ſich ſtützt,
Über Nacht zu einem andern machen zu wollen, ald der
er felbft feyn will. Und was die kandeskirchen am ſich
angeht, fo verbreitet fih ja gerade jeht immer allgemeis
ner die Ueberzeugung, daß fie der Erneuerung und Be:
lebung bedürfen, und die erleuchtetſten Kürften und Staats⸗
_ Ienter bieten felbft dazu Die Hand. Hat dieſes Streben glück⸗
liche Refultate, fo werden fie andy dem Guſtav⸗Abolphvereine
zu gutefommen. Bill ſich aber ber Guſtav⸗Adolphverein un.
mittelbar in dieſe Dinge mifchen und g. B. Fragen erledigen,
die nur auf georbnetem kirchlichen Wege erledigt werben
Föunen, fo wird man ihm einfach fagen, daß dieß nicht
feines Amtes fey, und es wird ein Bortheil feyn, wenn
er am Ende nur fich felbft gefchadet hat und nicht andy
noch Anderem hinderlich geweien iſt.
Indeß — der Würfel ift nun einmal gefallen. Der
Guſtav⸗Adolphverein hat fich ber firchlichen Principienfrage
nicht zu erwehren vermocht und eine Entfcheibung gegeben.
Der fpaltende Keil if in den Verein hineingetrieben.
Was erbitterte Keinde nicht beffer hätten ausfiunen kön⸗
nen, ift dem Bereine von übereifrigen Kreunden angethan
worden, und bie Gegner werden fi Babe vergnäglid,
die Hänbe reiben.
Und was iſt feit dem fatalen 7. — nicht
Alles geſchehen? Ich will nur einiges Hervorſtechende in
allgemeinen Zügen berühren.
Erſtlich: die Frage, über die man in Berlin disca⸗
tirt hatte, ift eine unverkennbar fchwierige; fle kann nicht
vollſtaͤndig durch den einfachen Wortlaut der Statuten
entichieden werben, fie it von ber Urt, daß — wir ger
fiehen es gerne — bei geſundem Berftand und reblichem
Willen verſchiedene Ueberzefigungen möglich And. Unter
denen, welche die Majorität bildeten, finben wir Ramen,
die in ganz Deutſchland befaunt find und dem beſten
üb. d. Richtann, des konigab. Deput. D. Rupp ıc. 543
Klang haben, ſittlich ehrenhafte, felbfkäubige Männer, gebie-
gene. Theologen, zum Theile um ben Guſtav⸗Adolphver⸗
ein insbeſondere hochverbient; fle hatten für ihr Votum
Gründe; man konnte wiffen, daß fie nicht durch firenge
Gymbolglänbigleit ober ſonſtige Parteifympathien bes
ſtimmt wurden ; ber Act ber RichtanertennungRupp’6 wurbe
von ihnen nicht mit Triumph, fondbern mit unverkennba⸗
rem Gchmerze vollzogen. Was wäre einer folchen Frage
und folchen Männern gegenüber das fittlich Rechte ger
weſen? Dffendar nur dieß: man hätte Davon auszuge⸗
ben gehabt, baß es für beiderlei Art zu votiren Gründe
geben müſſe; man hätte eine tüchtige Widerlegung durch
Gründe, aud) um bed Vereines willen eine Berftändigung
anftreben müflen; man hätte dabei mit aller Scärfe
verfahren mögen, aber man hätte auch Anſtand und fitt-
lihe Würde behaupten follen. Es durfte auch erwartet
werden, daß Unparteiiſche, felbfi von der Gegenſeite,
ein Wort der Mißbilligung Über die unheilvolle königs⸗
berger Wahl fagen würden. Im einzelnen iſt dieß auch
gefchehen und namentlich habe ich mich in diefem Sinne,
obwohl ich mit dem Inhalte nicht einverfianden bin, am
dem in .fo anftandsvofler Haltung durchgeführten Aufſatz
in den Ergänzungsblättern ber allgemeinen Zeitung «)
erfreut. Aber im Ganzen: wie hat man augefangen und
bis heute fortgefahren? Mit Verbächtigung, Hohn und
Schimpf, mit einer förmlich terrorificenden Bearbeitung
der öffentlichen Meinung; diefelben Männer, die noch vor
einem halben Jahre gepriefen worden, waren jetzt Dun«
kelmaͤnner, Dfaffen und Muder, und wenn man einen
Mann moralifch abthun wollte: was bedurfte man weir
ter Zeugniß wider ihn, wenn er nur auch über Rupp das freus
sige ihn! ansgerufen hatte? Dieß kann nicht zum Guten
führen und wird auch dem Bereine keinen Gegen bringen.
Zweitens: die Sache war in Berlin durch Majoris
a) Rovemberbeft 1846.
Sa = Ulmamı
tät entfchiebeh Wörsen. Mochte dieſe Majorität nid
nahe an Stimmengleichheit grenzen, es wat hoch immer
eine Moforität. Nun gilt in allen Vereinigungen dieſer
Art die Maforität als entfcheidend. IM man damit wicht
zufrieden, fo hat man bei der nächſten ordnungsimäßigen
Gelegenheit auf Entgegengefeßted-anguträgen, Hiet aber
begann man fogleich mit Proteflätionen und Verwerfun⸗
gen; ja theilwelfe mit förlicher Widerſetzlichkteit; man
ſchlug einen Weg ein, welcher, weiter verfolgt, alle Ord⸗
nung im Vereine auflöfen muß; und ich möchte einmal
Hören, wenn die Maforität auf der andern Seite gene
fen wäre und die kirchlich Geſinnten hätten fo proteſtirt,
welches Gefchrei darüber erhoben worden wäre! Und
wie ging es mit diefen Proteftadenen? Sie erfolgten,
während doch nicht die geringfle Gefahr Keim Verzuge
war, Halb über Kopf, che Protokolle und Berichte da
waren, che man fich irgend gründlich unterrichtet Yaben
Fonnte, nur frifh auf Sympathie und Autipathie bin:
fie gefchahen zum Theile durch Mafjsritäten von Solchen,
welche, Biäher ohne Sntereffe für die Sache des Vereines,
nur für den Zweck des Mitſtimmens in Biefem befonde,
ren Falle eingetreten waren: Wahrlich, wenn die Män:
tter der berliner Majorität auf ihren damaligen Gieg
nur mit Schmerz hinblicken Ponnten, fo iſt kaum andere
zu denfen, als daB Manche aus der Minoritär Über den
Sieg, der ihnen jetzt zu Theile und über die Art, wie er
errungen wird, erfchreden müffen, und daß fie, auf eine
gute Zahl der Gehülfen und Anrufer dieſes Sieges
blickend, ſich des goeche’fchen Wortes erinnern: „ihr
Beifall ſelbſt macht meinein Herzen bang”.
Drittens: man ift aber auch noch weiter 'gegamgen.
Bereitd haben fihoh viele Zweig- und Haupwereine,
weiche in ihret Majoritat gegen die Ausfchliegung Nitdp’s
find, definitiv beſchloſſen, wie ihr Deputirter zur näch⸗
ſten General⸗Verſammlung ſtimmen ſolle. Dieß hat na
türlich zur Folge, daß nur ſolche, die damit Ubereinſtim⸗
üb. bie Richtann. des Länigäb. Dep. D. Rupp ec. 545
men, das Mandat Überuchmen können. Da nun zur Zeit
bie für Rupp ſtimmenden Zweig⸗ und Hauptvereine bie
große Mehrheit bilden, fo wirb die nächſte Generals
Berfammiung weit überwiegend. aud Männern von Dies
fer Seite zuſammengeſetzt ſeyn. Died aber wirb ihr
nicht une den Charakter der Einfeitigkeit aufprägen, fone
bern es wird noch etwas anderes Bedenklicheres daraus
estforingen. Gemmı befehen, werden nlmlich in Betreff
ber Carbinalfrage, die dort verhandelt werden fol, nicht
ſowohl Porſonen nah Darmfadt kommen, ale viels
mehr nur JInſtruction, db. h. nicht Perfunen, die noch
ſelbſtäͤadig handeln und fEimmen können, ſondern folche,
bie ſchon gebunden find, nach einer vorher beſtimmten
Richtung bin fich zu entfcheiden. Hiermit aber iſt die
Dis cuſſion überfiäffig gemacht, alle Berkäntigung abge⸗
fchnisten, und bie Sache fchon im voraus fertie. Will
man dieß nicht, will man der BerKkämdigung noch irgend
einen Raum ılafen, fo muß man von den ZweigsDereinen
zus Landeſ⸗Hauptverſammlang und won biefer zur liche
ſten Generalverſammlung freie Deyutirte ſchicken, d. hi
ſolche, vie nicht ſchon inſtructionsmäßig gebunden, fons
derna, als Manner des Vertrauens, auf ihr beſtes Wiſſen
wu Gewiſſen angewiefen find. Beharrt man dagegen
anf: jenem andern Wege und geht auf demſelben fort,
fo erhalten allerbings bie Einzeluvereine eine Bedeutung,
wis fie Diefeibe dioher noch nicht gehabt, aber eine foldhe,
wodurch die Bedeutung der Befammtheit, namentlich die
der Haupt, und Gmeral: Berfammlungen verloren geht,
anf welche man dann, wenigftens für wichtige Kragen, nicht
mehr Menfdren, fondern nur Papiere zu ſenden brauchte.
Bisrtend: als wor Fahren die Altlutheraner Fitchlich
und politifch bebrängt waren, als fpäter die Ucheber Der
freien Kirche in Schottland eine Trennung von der ſtaat⸗
lich legisimirten Kirche mit großartiger Hingebung mb
Energie veizegen, als neuerlich eine refpectable Zahl von
Geiſtlichen des Wanbtlandes der Ehre der Kirche und
6 ... Wim. u 2a
der Würde bes Prebigtantes ihre Stellen zum "Opfer
brachte, ba war bie Theilnahme ber öffentlichen Meinuug,
inöbefondere der Preffe, entmeber fehr mäßig,: ja geving,
oder man gefiel ſich ſogar Darin, bieWebrängsen: umb: Die,
weiche ich ihrer annahmen, wißliehig zu behandeln.
Raum aber werben gegen einen Maan, der offentaubigeans
der befiehenden .evaugelifchen Kirche ausgetreten if, ganz
einfach die Statuten eines Vereines in Anwendung gebwadt,
fo erhebt fih für ihn, wie für einen. ſchmer: Berlehten,
ein braufenber Sture ber Thetlnahme. Weinen : wir
an; es ſey ihm wirklich Unrecht geſchehen, er fey num
feiner guten Ueberzengung willen verfolgt, fo haben wir
dort wie bier uuſchuldig Bedraͤugte, kart: wie. bier für
ihre Ueberzeugung Leidende.
Aber warum bat man nur Eifer für. den Einen und
hatte ihn nicht auch fir bie Anderen 79. Ich glaube, bie
Antwort ‚wird ſich wohl Jeder leicht geben können: jone
wollten ein Mehr des Kirchlichen, dieſer will sein Werniger
oder. Menigſtes; jene ſind mehr aber wwsuiger arthodor
und opponiren von dem Grunde eines fehr hefkinkuten
kirch liches Bekenutniſſes, dieſer opponirt gegen und Arch»
liche Bekenntniß ſelbſt. Alſo die Sympachie der. öffent
lichen Meinung iſt auf der Seite ber Oppofition: gegen Dad
Kirchliche; dieſes hat für einen fehr großen Theil den Zeitr
ges oſſen feine Bedeutung ſchlechthin verloren, und wo ein
Konflict zwiſchen dem Kirchlichen uad der Oppofition dage⸗
gen enutſteht, da hat es die letztere von vorne hereingemauuen
beider Maſſe derer, die im Yugenblide das.: Wort führen.
So ſteht eb, Aber wie fol cd werden: "
Bei der nächlten General-Berfemmiang- iu Davamfiadt
iſt dad Doppelte möglich: der berliner Majoritätäbefcituf
wird entweder beflätigt oder . umgeworfen; . biefeibe er⸗
klart ſich, auch wenn die Perfon des D. Napp Dabei gar
nicht mehr in Frage läme, für das Princip entweder ber
berliner Majorität oder. ber Minorität..
&b. d. Nichtann. d. koͤntgeb. Dep. D. Rupp ꝛc. BR
Der erſte Fall IR nach al ben Beftunungs » Maike
Retiouen, die bereits hervorgetreten find, höchſt unwahr⸗
ſcheimich, ja faſt unmbglich; der zweite kann ſchon jet,
wen nicht ganz Unvorhergefehenes dazwiſchen tritt, alß
nahezu gewiß bewachtet werben. Tritt ber erſte Fall ein,
fo darfte nsohl bein Zwetfel ſeya, daß Alle, die in der
Richt zule ſſuug Rappio eine Verlehung der: proteßanti⸗
ſchen Freiheit fehen, Sofort and dam Vereine ſcheiden.
Tritt der andere: Fall ein, fo werben, da 06 ſich hier am
vie eutſcheidende Principienftage haudelt, die lirchlich
Grflunten wentgſtens in den Berrinen ; wo bie Majori⸗
tät gegen⸗ fie iſt, ſich durch Lchergengung und Ehre ger
wöthige ſehen,: jodenfalls vos den. Aemtern zurückzutre⸗
ten; dann wird dieſe Seite uuuerhältmigmäßig ‚gering vor
praſendirt ſeyn und dieß wird ein, wenn auch allmähliche®
Ablafſen derſelben vom Meveine zum Folge haben. Mag
dad Eine oder bad: Andere geſchehen, ſo vüllt der Guſtav⸗
Ndoiphuwerein von ſeiner urſpruuglichen Ider ab; er: ver⸗
liert die innere Badentung, die er fürr die evangeliſche
Kirche gehabt hat, eine Darſtellung ihrer Gemcinſambeit,
ein verbindender Mittelpunkt für ihes verſchiedenen bs
theiluugen und. Parteien, ein neutraled Grbiet Der Aunös
herung, Berfiänbigung und Befreundung zu:feye. Ja
er fchtägt, wie das in feichen Fällen immer geſchieht,
ind gerade Begenthel um: er wird feld ein Stein bes
Anſtoßes, eine Parteiſacht nud ein. Yruud moch ſchärferer
Trennung deu Parteien. Aber freilich. wiirde in beiden
Fällen die Art der Wirkung eine ſehr verfihiebene fepn.‘
Behielte Die berliner Majorität auch in Darmfant
die Dberbaud, fo würde — darüber darf man ſich nicht
tauchen — der: Berein bedentend zufammenfcrummpfen,
feite Einnahme würbe Ach um ein Gutes verringern,
feine äußeren Zwecke würden nicht mehr in dem Umfang
erreicht werden: Eöunss. Dieß wird, wenn fid die ber⸗
linse Minorisdt is eine Darmfäbter Majerität verwan⸗
beit, nicht in dem Bude dar Gall ſeyn; ja ed: if Denk,
bar, aß darſelbe Parteleiſer, ber fich biäher in auderer
Meiſe thaͤtig gezeigt: hat, in der nächkten Zeit Die Mitte
nicht une erfebt, fondern mehr als aufet, welche durch das
Uinsfcheiden ber Entgegengeſetzten etwa: in Wegfell kommen.
ber, Ihe befseundeien Männer der hisherigan Minorität,
glaubet nicht zu raſch au den Gewinmm, den Ihr Damit machet!
Ein zuhiger Meohlthatigkeits verein nähert ſich mid
von aufloderndem Parteleifer, ſondern von ausbanenn:
dem Aufopferungefinne. Die, weide zu einem ganz ber
ſtimmten Zwecke Euch jcht beigetzeten find. werken deu
Berein entweder wieder. verlaffen, went. Diefer Zweck ar
reicht: it, ober, ‚wenn fie bleiben, fo wird das :nämlüuhe
Jatereſſe, welches fie in den. Verein getrieben hat, fie
auch treiben, in dem Vereine nach eier beftimmten Rich
mug bin fort gu handeln; dieſes Jutereſſe bezieht fi
aber nicht auf Die leidenden swungelifchen Brüder in der
Ferne, ſondern auf die vreligisſen und kirchlichen Sertitfra⸗
gen in: der Nähe; und Ihr werdet fehen, wie bamit. das
Ariucip. der Uaruhe, der Tageöbemegeung, ber Tinchlichen
und fonfiigen Dppoſition mitten im ben Berein hineinge
pſtanzt ik. Mehrere der biöher gehaltenen Berfamminns
gen laſſen derctlich genug ertenuen, was daun gu erwat⸗
ton ſeyn wird. Und aunch in anderen Beziehung werden
fi die Gonfequenzen unerbittlich vollgiehen und br Ben
ein wird feinent Geſchicke nicht entgehen. Denn es iſt doch
ſonnentlar: wenn Mitglieder einer amd der Kirche an
getwetenen Bemeinfchaft Sie und Stimme im Beseine ha⸗
ben, fo kaun diefelbe Gemeinſchaft auch Auſpruch auf bie
Unterſtühung ded Vereined machen; wenn man ihr dad
Höhere geſtattet, fo kaun man ihr mis feinem vernünftigen
Grund dus Beringere. verweigern. Run find aber ge
rade.dirfe nen fich bildenden Gemeinfchaften von firchlichen
Mitteln enıblößt, uud ed wäre som Wereine, fobald et
ſich einme. auf jeum ideal proteſtautiſchen Gtandpnaft
geftellt Hat, in der That hart, ihnen dieſe nicht gewaͤhren
sis wollen. Auch melden Ad; ſolcher freien Gemeinden
ab. d. Nichtann. d. koͤrigob. Deput. D. Rupp ıc. 048
in machſter Zakunſt vorandflihtli noch manıhe zufeit
menthun und zwar vor verſchiedenſter Art Unkerſtützt
fie aber der Bertin, wie er conſequent nicht anders kann,
fo it die Folge, daB derſelbe Verein, ber gefitftet war,
um wieftich nothleidenden kirchlichen Gemeinden in las
tholiſchen Ländern zu helfen, feime Mittel wenigſtens
theilweiſe auf ſolche Gemeinſchaften verwendet, die ſich
von der eigenen Kirche losreißen; daß derſelbe Verein,
weicher für die ſorgen ſollte, „die in Gefahr find, der
Kirche verloren zn gehen” «), für Solche forgt, weiche bie
Kirche ſeldſt für verloren halten und fie in ihrer Grund
lagen bekümpfen; mid einem Worte: v6 iR die Foige, daß
der Verein ſich im fein eigenes Begentheil verkehrt.
Und was foR nun gefihehen? Die Sachen ſtehen fo,
daß dieß fchwer zu fagen if. Meint man, die Geueral⸗
Verfanmlung ſolle ed fortan unbdedingt und he jeben
Rückhalt ven Einzelvereinen überlaſſen, welcherlei Depu⸗
tirte ſie ſenden mögen, und es ſolle zut Legitimation bie
formelle Richtigkeit der Vollmacht ımter allen Umſtünden
genügen, ſo aumt man din Special⸗Vertinen eine Gew
verainitaͤt ein, dit fortwährend das Ganze bedrohen muß,
und erlennt ihnen eine Fehlloſigkeit zu, welche etwas
rein Fingirtes iſt; denn allerdingo könnten anter den je
digen Umfänden Wahlen getroffen werden, die ſich nach
weniger rechtfertigen ließen, ale bie königsberger. Will
man, die nüchſte Generals Berfauniung möge erflärm,
unter evangeliſch⸗proteſtantiſcher Kitche 9. 1. fepen nicht
die Landeskirchen gu verfiehen, ſondern — — ja eben
diefed „ Sondern” wäre dann ſchwer zu fagen, and for
mit wäre ber Verein wieder ganz ind Unbekimmte geſtellt
and das Ganze wäre nar eine Interpretanion des Para⸗
graphen im: Sinme der berliner Minvritaͤt. Blaubt man
dirß poſitiv dahin beſtimmen zu follen, der Verein möge
Jeden für ein Mitglied der evangeliſch⸗proteſtantiſchen
a) Statuten F. 1.
(1 7 ‚Ullmeasn'
Kirche halten, der fich ſelbſt Dafür erklärt, (0 geſteht man,
_ba$ es für das Gehören zur enangelifchen Kirche gar
feine objertine Merkmale gebe, und wird allerdings fehr
auffallenden Erklärungen entgegeugnufchen haben. Wünfcht
man enblich, daß zwifchen der einfachen Mitgliebfchaft
und der leitenden, repräſentativen Chätigkeit im Berein
eis Unterihied gemacht und die Berechtiguug zu jener
ohne Ausnahme jedem fi als Proteflanten Bebenden,
die Berechtigung zu diefer nur ben Angehörigen der
rechtlich beiiehenden Kirchen zuerkannt werde, fo wäre
dieß eine -linterfcheibung, die auch erſt in die Statuten
eingeführet werben müßte, und zugleich eine ſolche, bie
doch eigentlich ber Natur des Bereind, der wefentlid
gleichheitlichen Stellung aller feiner Mitglieder wider
ſtrebte.
Ich weinestheils kaun nur recht nnd wünſchenswerth
finden, daß der Verein feiner urſprünglichen Anlage und
bis herigen Eutwickelung, fo. wie feinen vielleicht noch etwas
genauer zu faſſenden Statuten getren bleibe und ſich
ohne irgend welche abſchließende Engherzigkeit innerhalb
der kirchenrechtlichen Greuzen halte; daß er bemgemäß
sollen Raum habe für alle Parteien, die innerhalb Der Kirche
fisd,, nicht aber für die, welche außerhalb derſelben find
and erflärtermaßen außerhalb berfelben ſeyn wollen. Ich
verhehle mir aber auch nicht, mit weichen Schwierigfeiten
zur Zeit Diefer Grundſatz im Vereine zu fampfen haben
wird‘, und welche Folgen fein Sieg haben dürfte. Darım
bitte ich Euch, denen wirklich die Sache am Herjen
liegt: beſinnet Euch, fo lange es Zeit ift! Ueberleget ernf,
rnbig und liebevoll! Trotzet nicht auf Majoritäten, fon
dern faflet den Verein ſeldſt, die evangelifche Kirche und
Eure eigene verantwortungsvolle Stellung in diefer ern
ften Zeit ins Auge! Vielleicht gibt es noch einen Rath,
der heifen und zufammenhalten kann; wer ihn bringt,
fol herzlich willkommen ſeyn.
Anzeige-Blatt.
Bei Friedrich Perthet von Hamburg Tommt in ben naͤch⸗
fen Tagen zur Verſendung:
Keander, Dr. A., allgemeine Geſchichte der chriftlichen
Religion und Kirche. Neue Aufl. Ar Bo.
wodurch das Werk bis zum 10ten Bd. wieber volßändig zu haben iſt.
Hierbei made ich nochmals darauf aufmerkfam :
CZ daß ber 1e und 2e Band ber neuen Auflage den gleichen Zeit⸗
raum wie I. 1. 2, 8. der alten Auflage, ebenfo ber Se u, 4e
Band den gleiden wie 11. 1. 2. 3. enthält, fo daß * IT,
oder 7. ber alten Auflage fi an ben 4en Band der neuen
anfdhließt, und alfo ein 5r u. 6r Band gar nicht vorhanden
Berner iſt durch das Erſcheinen von
Umbreit, Dr., praftifcher — über de Propheten
des Alten Bundes. IV. 2. gr. 8 27,6
seite Wert vollſtaͤndig ee er halt des ganzen
Ir Band: Commentar zum Iefaiad . aut, un Sgr.
— zum. u 1 or.
er Abihl. 1te Hälfte. Hoſea, Soc" — —*
br
MH Mia, Nahum, Beat,
Zephanja. 1 Sgr
de o „ Haggai, Sacharja, Des
Sgr
Der Preis des ganzen Werkes iſt Thlr. 7. , Sgr.
Bei Friedrich und Andreas Perthes find erſchienen:
Geijer, Srik Guſtav, Auch ein Wort über die religiöfe
Trage der Zeit. gr. 8°. gebeftet. 12 ar.
salarie füc die Archive Deutfchlands. Beſorgt von Be.
Tr. Friedemann. 18 Heft. gr. 8°. geheftet. gr.
‘
Bildniffe deutſcher Könige und Baier, von Karl dem Großen
bi8 Marimiliaen, von Schneider u. So a 37
Portraits und 45 Bogen Fer gr. Lexikon Thlr. 4
Dieſes vaterländifche Wert ift jett vollfkändig erfchienen; jede
Buchhandlung hat geheftete und elegapt in Gallicot gebundene Crem⸗
plare vorräthig.
Bei Carl Winter in Heibelberg iſt erfchienen:
Das
Leben Ielu
nah den Evangelien dargeftellt
von
Dr. Zob. Veter Lange,
Drofeflor in Züri.
18 Buch broſch. 2 FM. 30 Er. oder 14 Nithr.
13 Fl) 41 Shell 8 fl. 2%, „ 8 „
28 Id 8r [3 6 fl. „ „
u „Bi „ Af.0 ie „ Ro N)
Zür die gelehrte und re Shriftenheit wird wohl Diefes
fo eben erſchienene Werk das wichtiafte und bebeutfamfte fein,
bas dies Jahr bringen duͤrfte. (Aus einer Recenſion.)
Preisermäßigung.
In Folge mehrfacher Xufforderung haben wir die Jahrgänge
845, 1844, 1845
er Chrifsterpe,
Taſchenbuch für chrißt. Eefex, herausgeg. von A. Esapp. Mit Kupferz,
von dem bisherigen ERBEN von fl. 8. 42 ir. oder 5 Shlr.
für unbeftimmte det uf . ». . u > 6», „32: m
und jeden biefer Jahrgänge einzeln auf „ 1.
berabgeiegt und hoffen, dadurch die Anfchaffung diefer reidgpaltigen
. Bammiung geiſtooler Kufföge und Poefien zu erleichtern, weiche enthält:
Mehrere Biograpdien von G. 9. v. Schubert. — Drei Gr:
lungen von Dr. Chr. Barth. — Monologen. — Züge aus bem
eben Ludwig Hofackers von X. ee — und eine Reihe poeti⸗
ſcher zen profaifher Beitraͤge von €. Arndt, ©. Beder,
— Biaromsly, A. Bräm, ©. A. Döring, E. Eyth,
ziet B. A. 813140 C. B. Zug, a. Knapp, 3.
Kein P. Lange, Landfermann, W. Meinhold,
Fr. Notter, F. Piper, H. Pucht«, Bieter Strauß, BWap
ner von Laufenburg, H. R. Bullfchlägel unb mehreren
Ungenannten.
Univ.sBuchhanblung von Sarı Winter in Heidelberg.
Bei Bari Winter in Heibelberg IR exflgbenen:
Die Geſchichte der Welt vor und nach Chriftug,
mit RAückſicht auf bie Gutwidelung bes Lebens in Bieligion und Pos
tif, Kunſt nad Wiffenfchaft, Handel und Induſtrie der welthifipri-
Shen Böker. Kür das allgemeine Bilbungsbebürfaiß in vier
Bänden dargeftellt
von
Dr. Heinrih Dittmar.
Erfter Band. 40 Bogen gr. 8. 2 fl. 42 Er. ober 13 Rthlr.
Zweiten Bandes erfte Lieferung, 2O Bogen, 1 fl. 21 Tr. oder I Mthlr,
Das vorliegende Merk bat ben Zweck, in mäßigem Umfang eine Dar:
ſtelung ber Wellgeſchichte für ſolche Lefer zu liefern, melde vom Stanbpuntte
ver hriftlliben eltanfhbauung aus u einer tieferen, aufammenbin:
genden Kenntnif 14 gelangen münfden.
„Neben ber Meiſterſchaft über ben umfangreihen Stoff und feiner Ver:
„drautheit nicht mur mit den alten — ſondern auch mit ben neue:
„Ren Forſchungen und Ergebniffen jtebt dem Verfaſſer auch ein Ädht Pünfkle:
„EN Zalent ber Kudwahl, Anorbnung und @eftaltung bes Stoffs zu Gebot.
„Gelne durchaus edle, gebildete Darftelungsmweife gibt durch ihre Einfadhheit
„und Naturlichkelt dem Leſer ben Eindruck, ald wenn bie Sachen von Haus
„auß Bar baldigen und fo unb nicht anders fein fönnten....... Werbaber
ut Me ——— eine reichhaltjgere Schrift wüuſcht, als bie
ewoͤhnlichen hrbücher fein konnen, dem müßten wir keine beffere anzura—
„then, al& bie vorliegenbe u. f. wm.’ Kus einer Recenfion,
Wichtiges theologiſches Werk.
Bei Orell, Füssli und Comp. in Zürich ist so eben
erschienen und durch slle Buchhandlungen zu beziehen :
Die Glaubenslehre
der
evangelisch-reformirten Kirche,
daygestellt und aus den Quellen belegt
von Dr. Alexander Schweizer
Zweiter Band, zweite Abtheilung, Das nun vollatändige Werk
kostef geh. 7 Rthlr. 15 Ngr. oder 11 fl. 15 kr. rhein.
Eipe Dogmatik der reformirten Ganfession ist seit 100 Jah-
ren nicht erschieuen, eine aus den Qnellen belegte gibt
es noch gar nicht ia der theologischen Literater. Diese Lücke
auszufüllen und die bedeutenden Schätze des reformirten Systems
wieder zugänglich und verständlich für unsere Zeit zu machen, ist
die Aufgabe dieses für Theologen und Stadiroade wichtigen Werkes.
» von X. ber Weed in N
wien ÜB erfenen und In’oden Bucandlungen ju haben:
Sammfung fombolifäer Bäder der reformirten
Kirche , beraudgegeben von Meß, Kirchenrath und
erner. Pfarrer in Neuwied. Des dritten ober legten Bandes
deine oder Schluß⸗Lieferung. geh. Preis > SE vr
tr. rhein
Diefe ‚Lieferung enthält:
Das Niederländiihe ———— — Die Polniſchen
Glaubensbekenntniſſe. — Die Ungariſche Confeſſion. —
Außerdem einen nbang, welcher die Gorref ponbenz der
evangeliſchen Städte in der Schweiz mit Dr. Lutber
in Betreff der Wittenberger Concordia (Union) enthält.
Der 1e Band, die helvetifchen onl. neuen enthaltend , koſtet
DM Sgr. = 1 FL 12 &r. rh.
Der 2e Band, die ae SonieN ionen ailbaltend, koſtet
0 Sgr. = 2 Fl. 24 Kr. rh.
Des In Bandes 1e Eng enthält die Bekenntniſſe der
engl. u. fchottifhen Kirchen à 10 Sgr. — 36 Kr.
Des In Bandes ?e Lieferung enthält das Glaubensbekennt⸗
niß-der franzoͤſiſchen Kieche und den Teen ie en (Galvin’s)
Katehismus Sgr. — 3 Kr.
Das ganze Werk zuſammen genommen wird für 25 Thlr.
oder 43 Fl. abgegeben.
Ya der Riegel’fihen Buchhandlung (Heint und Stein)
in .. — de a am if fo eben erfchienen und durch alle Buchhandlungen
su be; :
Thomas Arnold.
Aus feinen Briefen und aus Nachrichten feiner Freunde
genen rei nach dem Engliſchen des A. P. Stanley,
A. vonKarl Heintz, Hülfsprediger bei der Domlirde
zu Berlin.
(255 Bog.) ar. 8°. geb. 14 Thlr.
Das Bud gibt eine treue Darftellung von bem Leben eines
Mannes , befien vielfache und bedeutende Leiftungen im Gebiete der
Abeologie, — und Geſchichte nicht bloß unter feinen Landé⸗
leuten, fondern felbfk unter den Deutichen die größte Aufmerffamteit
erregten. Wenn überhaupt Biographien großer Männer geeignet find,
zur NRacheiferung Anderer zu wirken, fo bürfte bie vorliegende befon-
bers dazu befiimmt fein, welche Herr Profeſſor Dr. Reanber in
einer befonderen Broſchuͤre über bas Originalwerk „The life of
Thomas Arnold by Stanley” jungen Theologen vorzugswelfe
als ein in dieſer Beziehung hoͤchſt anregendes Werl empfiehlt. Die
DOriginalsXusgabe dieles Buches wurde in Sngland mit fo großem
Intereſſe entgegen genommen, daß in einem Zeitraum von zwei Jah⸗
zen bereits die Gte Auflage nöthig wurde. Da nun ber Herr LUebers
feger bei der Bearbeitung namentlich bie deutſchen Verhältniffe be»
südfidhtigt , fowie auch vieles Neue hinzugefügt hat (wozu ihm ein
längerer Aufenthalt in England, fowie nähere Verbindungen mit
Freunben und Schülern Arnold’s Gelegenheit gaben), fo glauben
wir, zur Smpfehlung biefes Buches kaum noch binzufügen zu braus
chen, baß zugleich audy der Preis ein bebeutenb ermäßigter ift, in⸗
* Er an den ſechſten Theil beträgt von dem Preife der englifchen
usgabe.
Im Berlage von A. D. Geisler in Bremen tft erſchienen
und in allen namhaften Buchhandlungen Deutſchlands vorräthig :
Nagel, W. (teformirter Prediger zu St. Remberti_ in
Bremen), Erbauungsftunden. Zufammenflelung von Pres
digten. gr. 8. geb. Thlr.
Die beſte — giebt wohl der Ruf des Verfaſſers und
ber reihe Inhalt des Werkes, als: Die Predigt. — Die Waffen⸗
räftung. — Das neue Teftament. — Die driftl. Gemeinde. — Die
Bernunft. — Die Erlöfung. — Die Berföhnung. — Die Rechtfer⸗
tigung aus dem Blauben. — Die Gnade Gottes in Shrifte. — Der
Ruhm der chriſtl. Gemeinde. — Der Gruß des Paulus. — Der
Kern der Religion Jeſu. — Der Friebe Gottes. — Das Leiden ber
Zugend. — Web Geiftes Kinder? Eliaͤ oder Jeſu? — Das Maaß
der Lebensforge. — Das Bater Unfer. — Gprüde der WBergprebigt.
— Der Gottesdienft. — Das Abendmahl. — Weihnachten. — Die
Paffion. — Der Weg zum Siege. — Die Verläugnung des Petrus,
unfere eigene Gerichte. — Das Bild der Welt. — Was wir hofs
fen. — Der Grund der Gemeinde. — Der innere Menſch.
So eben erſchien in unferm Verlage:
Sünf Bücher Der Pſalmen.
Auslegung und Verdeutſchung
von
Br. Eäfar vou Lengerke.
gr. 8°. 2 Bände. (51 Bogen.) Preis: Thlr. 3. 6 Ser.
Königsberg, November 1846. |
Verlagsbuchhandlung der Gebr. Bornträger.
Theol. Sud. Jahre. 1847. 8%
Am Berlageder Deder’ ſchen Geheimen Ober⸗Hofbuchdruckerel
be ie ift fo eben erfchienen und in allen Buchhandlungen zu
aben :
Berhbandlungen
der
evangel. General⸗Eynode zu Berlin 1846.
Nebſt den Commifjions - Gutachten und vor⸗
bereitenden Denkſchriften.
(Amtlicher. Abdruck.)
- 95 Bogen in body Royal Ato Format, im Umfchlag
brofchirt. B — ö 3 Thir. 2 ©gr.
Fruͤher erfchien in demfelben Verlage:
Protokolle der im Jahre 1844 in den oͤſtlichen Provinzen
der Preußifchen Monarchie abgebaltenen Provinzial
Spnoden nebft den dazu gehörigen Beilagen. (Amts
liher Abdrud.) 2 Hefte, 3 Zhlr. 10 Ser.
In der Kößling’fhen Buchhandlung in Leipzig
. ift fo eben erſchienen und in allen Buchhandlungen vorräthig:
Dietzſch, C. F. v., Dekan und GStiftöprediger in Deh⸗
ringen, PredigtsSfizzen. Ir, 3 Band. ?te ver
beiferte Auflage. Ieder Band 2 Athlr.
Mit diefen eben in 2ter Auflage erſchienenen Bänden iſt dieſes
Werk, beftehend in 6 Bänden, beren jeder einzeln abgegeben wird,
wieder vollftändig zu haben.
Der Name bes würdigen Herrn ale ſpricht für ben
Werth des Werkes felbfi, und wir find demnach jeder weitern An
preifung überhoben.
Im Verlage von Joh. Aug. Meifsner in Hambarg er
schien so eben:
Novum Testamentum graece, ad fidem codicis principis
Vaticani edidt Kdnardus de Muralto. Editio
minar. Gr. 16. Geb. 1 Thlr.
Dieser Text-Ausgabe folgt zu Ostern 1847 ein Commentar,
zu dessen Bearbeitung dem Herrn Verfusser, kaiserl. Bibliothekar
in St. Petersburg, die noch wenig benutzten und reiche Ausbeate
gewährenden Schätze der Bibliotheken des russischen Reichs su
Gebote standen.
Hamburg, im October 1846.
Im Verlag von ©, ©. in Stuttgart b
erſchienen und m allen — gart iſt ſo eben
Entwicklungsgelchichte |
Der Zehre von der Perfon Chriſti
von den Klteften Zeiten
bis auf die nenefte Dargeftellt
von
Dr. J. A. Dorner.
Zweite, ſtark vermehrte Xuflage in zwei Sheilen.
Erfter Theil
Die Schre von der Perſon Chritti in den selten
vier Jahrhunderten.
1129 unb XXX Seiten. gr. 8, Druck⸗Velinpapier. Preis biefes erſten
Aheils in 8 Abtheilungen 54 Thlr. — fl. 9. 24 Er, rhein.
Es wird wohl nur der vorftehenden einfachen Anzeige bedürfen,
um auch der, lange erwarteten, zweiten Auflage eines jo bedeuten»
den und anerkannten Werkes, in weldem die Fruͤchte einer tiefen
und gewiffenhaften Forſchung über das wichtigfte Dogma niederge⸗
legt find, eine ungewoͤhnlich günftige Aufnahme zu fihern; die Ver:
lagshandiumg hat nur noch zu bemerken, daß für die Käufer der
en Auflage (1889), in weldyer die vier erfien Jahrhunderte nur
kurz behandelt werden Eonnten, ber oben angekündigte Theil, mit
einem befondern Zitel verfehen , aud) einzeln abgegeben wird,
In allen Buchhandlungen iſt zu Haben:
Vom
Leben und Wirken, von der Gefangennehmung,
Verurtheilung und Verbrennung
des Maͤrtyrers
Johannes Gufs.
Eine aus Urkunden entnommene Darftellung.
(Auszug aus „,Iohaunes Huf,” vom Verfaffer des Armin.)
Preis: 21 fr. = 6 Nor,
— —
87 *
Bei Julinus Klinkhardt in Leipzig erſchien fo chem:
Hirtenftimmen
an die
Gemeinde im Haufe des Herrn
| Eine Sammlung
von Entwürfen zu Advents«, Faſten⸗ Bußtagss und Wochens
predigten, heraudgegeben von Robert Zlorey,
Paftor zu Auerswalde. Erſtes Bändchen.
. Aud unter dem Zitel:
Schriftgemäße Prebigtentwäürfe über Texte eines vollftändigen
Kirchenjahres, Bearbeitet von drei befreundeten Geiftlichen,
berauigegeben von Mobert Florey. Siebentes Baͤnd⸗
chen. 8. broch. 4 Zblr.
Die fo günftige Aufnahme ber bereits nad) zwei Jahren ihres
Erſcheinens in zweiter Auflage herausgegebenen erften ſechs Bändchen
ber „Schriftgemäßen Prebigtentwürfe” veranlaßte den im Fache ber
homiletiſchen Biteratur rühmlich befannten Berfaffer zur Bearbeitung
von Entwürfen zu Prediaten in ber Abvents⸗ und Baftenzeit, on
Buß: und Wochentagen. Es bilden demnach biefe „„Dirtenftimmen”
ein Ganzes für fi, augleih aber auch den fiebenten Theil ber
„Sihriftgemäßen Prebigtentwürfe”, unb es fol zur Wervolftändigung
bes ganzen Werkchens nächſtes Jahr noch ein Bändchen Entwürfe
zu Neujabre:, Erntefeft-, Kirchweihfeſt-⸗, Sylveſter⸗ und Schulpre⸗
digten erjdjeinen, mit welchem das Ganze geſchloſſen iſt. Ale die,
welche bisher diefe Arbeiten recht zu würdigen und au benugen
mußten, werden aud) in diefem Bändchen geiftige Anregung und Bes
dantenfülle, verbunden mit Iebendigem Schriftglauben, finden und
baffelbe nicht ohne Genuß aus ber Hand legen.
Bei ©. D. Bädeker in Eſſen iſt neu erfchienen und in
allen Buchhandlungen gu haben:
| Expeetoratiouen
das Studium der Theologie.
Vade mecum
für
meinen Hermann
und für Cheologie Studirende überhaupt.
Bon
Zmil Wild Rrummader,
Yaftor an der Gt. Salvater⸗ und Marienfiche gu Duisburg.
Preis 225 Ger.
allen en Eſſen ik nes erſchienen und in
Grundzüge
der
&hriftliden Neligionslehre
für den Unterricht
in der oberften Klaſſe gelehrter Schulen.
I — —
Gyanafium a Duitturg.
Dreis 12 Bor.
Brocdhans in Leipzig erſchlen und iR in allen
ei F. A.
———— zu erhalten:
Füllebornu(sS. 2),
Zwei Abhandlungen:
1) Der Einheitstrieb als die organiſche Quelle der
Kraͤfte der Natur.
2) Das Poſitive der von dem Kirchenglauben geſonderten
chriſtlichen Religion, durch die Einheitslehre anſchau⸗
licher gemacht.
Nebſt einer die — ind als — aa
&.8. Ge. 1 bir.
* Das Softem bes Werfaffers, das auf keins ber bisherigen
eg anne ſich gründet, se aus dieſer Schrift, bie in
einer jedem Gebildeten verſtaͤndlichen Sprache geſchrieben, vollſtaͤn⸗
dig zu entnehmen. Kauſe — — hie und die Regeln
der Natur ſtehen nach diefem Syſteme in vollkommenem Einklang.
——
Bürger, E. M., evangeliſch⸗lutheriſcher Prediger * Buf—
falo, Sendſchreiben an die en ee
rifhe Kiche, zunähf in Wisconfin
fouri, Preußen und Sachſen. 20 MR a
i In meinem Berlage if eridgienen ‚unb duch alle Buchhand⸗
Iungen zu beziehen:
Lutber’S Beben.
Erfte Abtheilung:
Kuther von feiner &eburt bis zum Ablafsftreite
(1483 — 1517).
Von
Karl Jürgens.
Zweiter Band,
Gr. 8 Geh. 2Thlr. 15 Ngr.
Der erfie Band wurbe zu Anfang dieſes Jahres ausgegeben und
’ bat —82 —5 *
E im Geptember 1846,
en 5.0. Brockhaus.
Duck alle Buchhanblungen und Poftaͤmter iſt zu beziehen:
Zeitſchrikt
fuͤr die
| - biftseifche Theologie.
In Verbindung mit der ‘son C. %. Illgen gegründeten
biftorifch » theologifhen Gefellfchaft zu Leipzig
herausgegeben von
Dr. €. W. Niedner.
Jahrgang 1846.
Sr. 8. Preis 4 Zhlr.
Dieſe Beitpähife erſcheint jept in meinem Verlage in vierteljährlicen
Heften, von denen bas erfte und zweite ausgegeben find.
Leipzig, im September 1846.
= $. A, Brockhaus.
6. Blemming ift erfchienen und in allen Buchhanb⸗
—— zu haben:
Medicina pastoralis et ruralis.
Gin Hand» und — fuͤr Seelſorger, Aerzte, Lehrer und Men⸗
ſchenfreunde. Nach dem neueſten Standpunkte der Wiſſenſchaft uns
Erfahrung und nad ben beften Quellen bearbeitet von Dr. E.
Hofner, prakt. Arzt, en ln 46 Bogen.
er. 8. ge Ir
So eben erſchienen bei uns in Sommiffion und find durch alle
Buchhandlungen zu beziehen:
bericht d läã
——— ——— —3— —S—
eitſchrift der Den > morgenländifchen Ge⸗
it Erfter * rgang. Erſtes Dot: ! reis des
Jahrgangs von 4 Heften 2 Thlr. 20 Near.
Auch find die Statuten derfeiben fortwährend von uns gratis
iu erhalten. ı
Leipzig, im December 1846.
Brockhaus u. Avenarius.
In der Oftander’fchen Buchhandlung in Tübingen iſt er⸗
(dienen und in allen Buchhandlungen zu haben : *
Das
Evangelium Marcions
und das
kanoniſche Evangelium des Lucas.
Eine kritiſche Unterſuchung
von
Dr. Albrecht Ritſchl.
gr. 8. br. 1 Rthlr. 8 Ggr. — 1 Rthlr. 10 Sgr. — 2fl. 15 Er. rhein.
Gotha, Denk der Engeifarb » Reyper'igen Deftagarmirrel,
Theologiſche
Studien un Kritiken.
Eine Zetitſchrift
für
das gefammte Gebiet der Theologie,
in Berbindung mit
D, Gieſeler, D. Lüde und D. Nitzſch,
berauögegeben
von
D. C. ullmann und D. F. 8. C. Umbreit,
Profefloren an der Univerfität zu Heidelberg.
184%.
Bwanzigfter Jahrgang.
Zweiter Band.
Hamburg,
bei Friedrich PYerthes, .
1847.
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für
das geſammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit
D. Gieſeler, D. Luͤcke und D. Nitzſch,
herausgegeben
von
D. ©. ullmann und D. F. W. ©. Umbreit,
Profeſſoren an der Univerfität zu Heidelberg.
Sahrgang 1847 drittes Heft. g
Hamburg,
bei Friebrich Perthes.
1847.
v 02
..
Abhandlungen
Theol. Stud, Jahre, 1847, 38
—XR
1.
Zufäße zu meinen allgemeinen Betrachtungen über
den Begriff und den Verlauf der chriftlichen
Philoſophie.
"Bon
HH Ritter.
(In Beziehung auf Prof, v. Baur’s Abhandl.: der Be⸗
griff der, chriftlihen Philofophie und die Hauptmomente
ihrer Entwidelung mit Rückſicht auf Ritter’d Geſchichte
der chriftlichen Philoſophie. 3, Artikel in Zeller’s
theol. Jahrb. 1846. 1. n. 2. Heft.)
Die in der Ueberfchrift genannten allgemeinen Be:
trachtungen haben vor 13 Jahren in diefer Zeitfchriftihre -
Stelle gefunden. Sie wird auch wohl einigen Zufägen
die Anfnahme nicht verfügen, welche mir nöthig fcheinen,
nachdem andere Gelehrte gegen meine Auffaflung ber
Sache Bedenken geäußert haben. Zuleut und am ausführ-
lichſten ift die von Baur gefchehen,, deſſen Einwärfe ich _
daber auch ausdrücklich berüdfichtigen werbe.
I. Begriff der chriſtlichen Philofopbie.
Er vereinigt zwei Begriffe in fich, welche zu ben
ſchwierigſten gehören, den Begriff der Philofophie und
den Begriff des Chriftlihen. Es wäürbe mich nicht fehr
wundern, wenn gegen meine Ausſaͤgen über biefelben
+
398 . der
Mandyed mit Grund fi einwenden ließe; beun, um eb
furz zu fagen, der Wit aller Philofophen und aller Theolo⸗
gen hat ſich bis jet vergebens bemüht, fowie den einen,
fo den andern zu erfchöpfen. Dieß fol uns num nicht
davon abhalten, nach genauer Bellimmung berfelben zu
fireben, und ich wurde es daher auch fehr gern annehmen,
wenn und Baur einige gute Weifungen über fie geben
Fönnte. Aber leider muß id von vorn herein geſtehen,
baß feine Aenßerungen mir nicht einmal die Schwierig:
feiten der Sache richtig zu würdigen fcheinen.
1. Den Begriff der Philofophie berührt er ausdrück⸗
lich gar nicht, Er fcheine zu meinen, daß, nachdem
Hegel fein Syſtem der Philoſophie eutworfen habe, über
ihn kein Zweifel feyn könnte. Sollte er von biefer Bor:
audfegung ausgehen, fo hätte er fie nur ausſprechen
folen, und ein Seder würde gewußt haben, daß es
meiner Geſchichte der chriftlichen Philofophie, welche nach
diefem Mapftabe nicht zugefchnitten if, wur übel ergehen
könne, wenn fie nach ihm gerecht und befchnitten wer:
den fol,
Nur einen Punkte im Begriffe der Philoſophie findet
er doch nöthig näher zu beftimmen, nämlid, den Unter⸗
fhied zwiſchen Philofophie nnd Dogma Er hat von
jeher mandherlei Schwierigkeiten für die Geſchichte der
Philoſophie, befonderd aber der chriftlichen Philoſophie
gemadt. Baur wirft mir im dieſer Beziehung vor, was
id auch von anderer Geite nicht felten habe hören müſ⸗
fen, daß ih Gefchichte der Philofophie und Dogmenge:
fchichte entweder gar nicht, ober doch nicht genug zu
unterfheiben gewußt hätte, Um fich felbft von diefem
Schler frei zu halten, geht er daranf aus, Dogma und
Philoſophie und die Geſchichte beider begriffämäßig zu
fondern,
Dad uun gurrfi die Borwärfe, welche mir hierüber
gemacht werben find, im Allgemeinen betrifft, ſo muß
üb, d. Begriff w. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 559
ih beienuen, daß fie von der einen Seite ſchwer abzu⸗
lehnen find, von der anderen Seite aber nur anf einer
fehr naiven Boraudfeßung zu beruhen fcheinen.
Was dad Erſte betrifft, fo habe ich die Befchichte
der Philofophie immer als einen Theil der Geſchichte
der Wiffenfchaften und wefentlicd, auch der Litteratur bes
handelt. Wie eng aber Wilfenfchaften umd Literatur
mit Meinungen zufammenhängen — und Dogmen, welche
nicht wiflenfchaftliche Lehrfäge find, alfo auch bie reli-
giöſen Dogmen, find Meinungen — weiß ein Jeder. Daher
habe ich auch vermeiden weber können noch wollen, die
philefophifche Entwidelung mit den Dogmen, fey es ber
alten, fey es der neuen Welt, in ihrer natürlichen Ber-
bindung barzuftellen, nub mein Bemühen ift nur darauf
gegangen, jene aus dieſen gleichſam beramszufchälen.
Daß mir dieß immer gelungen wäre, daß ich nicht zus
weilen ein Dogma für ein Philoſophem und ein Philo⸗
fophem für ein Dogma gehalten hätte, das möchte ich
wohl von mir rühmen, aber, wie tollfühn ich auch wäre,
ih vermag ed nicht. Ich denke, wir begnügen und das
mit, unfer Moͤglichſtes zu thun und übrigens die Philo⸗
fophie in ihrer Berbindung mit dem Dogma zu zeigen,
wie man benm auch nicht vermeiden fan, in die Staa⸗
tengefchichte die Geſchichte ber Kirche und umgekehrt zu
verflechten.
Wie ſteht ed denn aber in biefer Beziehung mit der -
Gefchichte der Dogmen? Gewiß ift es von ihrer Seite
nicht eben leichter, die Örenzen zu bewahren, und eben
daranf beruht die naive Vorausſetzung, Über welde ich
zuweilen bei den erwähnten Vorwürfen zu lächeln mid)
nicht habe enthalten können. Denn follte ihnen nicht die
Vorſtellung zum Grunde liegen, daß bie theologiſche
Wiffenfchaft, welche man Dogmengefchichte neunt, wiſ⸗
fenfchaftlih gauz feſt ſtaͤnde und ihre ficheen Grenzen
hätte, bie Geſchichte des Philofophie aber nit? up
560 Ritter
ja, wir kennen ja wohl die vielen Lehr, unb Handbücher
und die dogmengefchichtlihen Werke, in welchen ber
fihere Beſtand diefer Wiſſenſchaft feit Jahren anerkannt
worden ift, fo daß es mnter den Theologen für eine
Ketzerei gelten würde, wenn man biefe Beftalt der Ger
fchichte bezweifeln ‚wollte, und fo begierig bin ich nicht
nad) ketzeriſchem Beruche, daß ich eö unternehmen möchte,
dad gute Recht der Theologen, fie von anderen theologi-
fhen Wilfenfchaften abzufoudern, zu beflreiten. Aber
bie, welche anf die althergebradte Eintheilung der
theologifchen Wiſſenſchaften gar zum ſicher ſich verlaflen,
am über meine Neuerung, welche unter den Dogmatifern
auch eine Philoſophie fucht, kurzweg den Stab zu bres
hen, mögen mir nur erlauben zu fragen, ob wohl die
religiöfen Meinungen oder Blaubendichren, welche man
mit dem Namen der Dogmen vorzugsweiſe bezeichnet,
von den philofophifchen Erkenntniffen, die unflreitig eine
nahe Berwandtfchaft mit ihuen haben, immer fiher nnd
ohne Kehl abzufcheiden feyn möchten. Haben fie nie
mals von der Meinung gehört, daß alled Wahre im der
hriftlichen Dogmatik nur eine verfappte Philoſophie fey?
Richt einmal dad Recht des Altbergebrachten werden fie
für fih in Anfpench nehmen können; denn die, welche
wir jetzt Dogmatifer zu nennen pflegen, fie haben fih
. wohl eben fo oft Philoſophen ald Theologen genannt.
Freilich wäre bie Unterfcheidung, welche wir ſchwer
finden, für den Theil der Dogmengefhichte und der Ge
fchichte der Philofophie, welcher hier befonders In Frage
fommt, für die Befchichte der Kirchenväter uud des Mit:
telalterd, nicht zu verfehlen, wenn bie Recht hätten,
welche behaupter haben, es gebe in dieſen Zeitränmen
gar keine Philofophie, fondern nur religiäfe Dreinungen,
und ihnen ſtimmen auch einige, ich fage nicht alle, Aen⸗
Bernsigen Baur’ bei. Go wie Viele, welche den Geiſt
der Scholaſtiker nicht zu begreifen vermocht haben, Magt
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 561
er über ihren geiftlofen Formalismus, welchen er als dem
äußerten Brad_geifliger Knechtſchaft anfieht (S. 59.3;
feitdem die griechifche Philoſophie aufgehört, meint er,
habe die Productioität der Philofophie auf viele Jahr»
hunderte der Gefchichte Leinen weitern Stoff geliefert,
und der Strom ded immanenten, felbfländigen Denfene
feine fich viele Jahrhunderte lang wie in eine bürre
Sandwäfte verloren zu haben, bi gu ben Zeiten des
Sartefind (S. 62.); erft zu diefen Zeiten fey die Philos
fophie wieder in die ſelbſtändige Bahn ihrer Geſchichte
eingetreten (S. 61.), ja, es fey nun erft ihre Aufgabe
geworden, zur wahren chriftlichen Philoſophie zu wer,
der (S. 64). Wenn wir diefen letzten Satz wörtlich
deuten, wie wir nicht anders dürfen, fo würden wir
fhliegen müſſen, Baur nehme an, bie auf Carteſius,
oder, wie er fih auch ausdrüädt, wenn man wolle, bie
zur Wiederherſtellung der Wiffenfchaften (©. 59.) fey
feine wahre chriftliche Philofophie gewefen, und die vors
bergehenden Sätze laffen nicht daran zweifeln, daß er
auch feine unchriſtliche Philoſophie in diefen Zeiten ans
uehme, mit. Ausnahme etwa der arabifchen, welche er
ald eine bloße Nachwirkung und Nachbildung ber grier
hifchen zu betrachten geneigt iſt (S. 53.)." Genug, nach
biefen Aeußerungen ift ed faum zu bezweifeln, daß er in
den Schriften der Kirchenväter und der Scholaftifer nur
religisſe Meiungen, aber keine Philoſopheme finder.
Andere feiner Aeußerungen fcheinen dagegen barauf hin»
andzulaufen, daß jene Zeiten nur eine verfappte Philos
fophie getrieben hätten, wie wenn er behauptet, bie Ge⸗
Ihichte der chriftlichen Philoſophie hätte daffelbe Gebiet,
wie die Geſchichte der chriftlichen Theologie; beide hätten
es mit demfelben Begenftande zu thun (©. 48. 64.).
Aber eben dieß ift es, was ich befireiten muß. Nicht
allein, weil ich in vielen Theologen nichts Merktwürbiges
für die Geſchichte der Philofophie zu finden weiß, wie
562 Ritter
wir benn Baur eine Reihe foldher Männer vorgerechnet
hat, welche von mir Üübergangen worden wären, obgleich
fie in Seiner Geſchichte der chriſtlichen Dogmen fehlen
dürften (S. 49.), fondern noch bei weiten mehr, weil
ih ed, aufrichtig gefagt, faft unbegreiflich finde, wie
Mäuner, welche die patriftifche und fcholaftifche Littera⸗
tur keunen — uud zu ihnen gehört Baur, wenn aud
nicht alle meine Gegner in diefem Punkte — nur baran
zweifeln können, daß in den Kirchenvätern und Scholar
ftilern Dogmen und Philofopheme mit einander gemifcht
and von uns zu unterfcheiben find. Sollte es vielleicht
boch bewegen ſeyn, weil fie ihr Augenmer! von vorn
berein auf bie theologifch wichtigen Sätze geſpaunt ha
ben nnd darüber bie philsfophifc wichtigen Lehren über;
fehen? Sollte es fogar gefchehen, daß fie, was bei dem
großen Umfange diefer Litteratur fehr verzeihlich wäre,
nur bie theologifch wichtigen Schriften Iefen, die philo⸗
fopbifch wichtigen aber nicht? Sonſt würde man dod
wohl faum zu verfenuen im Stande feyn, daß z. B. die
fruheſten Schriften des Auguſtinns faſt rein philofophifc
find uud keineswegs nur erborgte Philoſopheme ausfüh⸗
ren. So iſt es auch mit auderen Schriften der patriſti⸗
ſchen Litteratur. Nun aber gar der ſcholaſtiſchen! Bon
Baur habe ich in meiner Geſchichte der Philoſophie bes
merken mäAflen, daß er auffallenderweife die Schrift des
Gilbertus Porretauus de trinitate nicht zu kennen fcheine,
Eben fie if faft ganz philofopbifh. Baur wundert fih
auch, daß ich in meiner Auseinanderfegung der Lehre
des Athanaſius mich „uicht einmal an bie das Trinitätd-
dogma betreffenden Haupifchriften” deſſelben, fonbern
„eigentlich nur” an bie beiden sufammengehörenden Bü⸗
cher contra gentes uud de incarnatione verbi gehalten habe.
Wie Tönnte er fich darüber wundern, wenn er dieſe
Schriften mit jenen reiflich verglichen hätte? Die letzte⸗
sen Schriften enthalten das philoſophiſche Syſtem des
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 563
Athanaflus, wie lädenhaft ed auch feyn mochte; die er»
teren find Hauptidhriften nur für die Theologie, nur
vom theolsgifchen Standpunkte genommen. Es thut mir
leid, ſolche Dinge bier berühren gu müflen; aber bei der
befannten theologifchen Gelehrſamkeit meines Gegners,
welche Audere für feine hiſtoriſchen Behauptungen leicht
einnehmen könnte, muß ich ed wohl fagen, daß biefe
und andere Proben derfelben Art mir einen Zweifel ers
regt haben, ob er nicht auch, gleich vielen Anderen, in
feinen Studien über Kirchenväter und Scholaftifer auf
den gewöhnlichen Wegen theologifcher Leberlieferung gar
zu unbeforgt einhergegangen feyn möchte, wobei es ihm
denn freilich leicht begegnen konute, in ber Litteratur der
Dogmatil nur auf den Heinften Theil ihrer Philoſophie
zu floßen.
Doc; das möge. dahin geftellt feyn. Betrachten wir
die Sache von einem allgemeiuneren Standpunkte. Meis
nungen und Philoſophie pflegen viele gemeinfchaftliche
Berührungspuntte zu haben; denn gewöhnlich geht die
Wiſſenſchaft, ehe fie zur Reife gedeiht, durch die Stufe
der Meinung hindurch, und nicht ganz mit Unrecht hat
man gefagt, die Philofophie hätte die Aufgabe, bad,
was in der allgemeinen Meinung ber Zeit liege, zum
wiflenfchaftlichen Bewußtfeyn feiner Gründe zu erheben,
Aber dennoch beden ſich die Gebiete der Meinungen und
ber Philofophie nicht vöhig. Vielmehr die Meinung zus
exit geht immer über die Wiffeufchaft hinaus, indem fie
Manches ale richtig ahndet, was bie Wiffenfhaft noch
nicht zu ergreifen vermag, Alsdann aber eignet auch bie
Wiſſenſchaft Mandjes in ihren Erfindungen ſich an, was
die Meinung weunigſtens in ihrer allgemein verbreiteten
Geſtalt aufzunehmen nicht im Stande ik. Wenn wir
num eine Gefchichte der religiöfen Meinungen eines Bols
kes oder einer Zeit unternehmen, fo werben wir unftreis
tig wicht Alles einzumilchen haben, was von ben wiſſen⸗
564 Ritter
fchaftlich @ebildeten in diefer Zeit oder dieſem Volke ger
dacht worden if, fondern nur das iſt Gegenſtaud ber
Dogmengefchicdhte, was in der allgemeinen Meinung wirt,
fan geworden ifl. Bon diefer Regel it man in der Bes
handlung ber chrifllihen Dogmengeſchichte gewöhnlich
ausgegangen nnd wir werden feinen Grund haben, von
{he abzuweichen, Daher find denn auch in den Zeiten
der Kirchenväter und der Scholaftifer die Gefchichte der
Dogmen und die Befchichte der Wiffenfchaften, beſonders
aber der Philofophie von einander zu trennen, wenn
anders in biefen Zeiten es wirklich eine Philofophie ge⸗
geben hat, welche die allgemeinen Meinungen der Kirche
zu fichten und zu fichern unternehmen burfte. Hierzu
habe ich in meiner Gefchichte der chriſtlichen Philofopbie
zahlreiche Belege gegeben, welche namentli von Baur
zu wenig gewürdigt worden find. Nur einige derfelben
will ich anführen, da, Alles zu erfhöpfen, hier nicht Ranım
fegn würde. Sollten wohl die Beweife für das Dafepn
Gottes, welche Kirchenväter und Scholaftifer unabhängig
vom Glauben und der Schrift geführt haben, der Dog.
mengefchichte oder ber Befchichte der Philoſophie ange,
hören ? Der ontologifche Beweis z. B., von Angufin ange:
deutet, von Anfelm ausgeführt, wird in der Geſchichte
ber Philoſophie, fo wie ihn Carteſius gebrancht, nicht zu
Üdergeben feyn; warum follte er bei Kirchenvätern und
Scholaſtikern nicht feine philofophifche Natur behanpten?
Das cogito, ergo sum wird gewöhnlich in der Geſchichte
der Philofophie, fo wie ed Carteſlus aufſtellt, als epoche⸗
machend angeführt; ich habe nachgewiefen, daß es ſchon
Auguftin dem Zweifel entgegeniftellte und daß es feitdem
nicht in Bergeffenheit gerathen if. Was haben bie Strei⸗
tigfeiten über die Trüglichfeit der Sinne, über bie
Grenzen oder- die Unbefchränftheit des Verſtandes, über
die Stufen, auf weldhen man fi zur Anfchauung Got»
tes, d. h. zur Erkenntniß der Wahrheit erhebt, über bie
üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriftl. Philofophie. 469
Kräfte der Seele, über das Verhäliniß zwiſchen Vers
hand und Willen, Fragen, welche in fehr fcharffinnigen
Theorien von Kirchenvätern und Scholaftifern erörtert
warden, mit der allgemeinen Meinung zu thun? Ober
gehört vieleicht die Lehre von der Erziehung der Menſch⸗
beit, welche viele Neuere für eine Erfindung Leſſing's
angefehen haben, in ihrer genaueren Ausführung, fie, in -
weicher die erſten Verſuche zu einer Philofophie der Ge,
(dichte gemacht worden find, der Dogmengefchicdte an?
Gewiß die, welche mir vorwerfen, die Grenzen der Ges
fhichte der Philofophie nicht bewahrt: zu haben, fie würs
den noch weniger die Grenzen der Dogmengefchichte innes
halten, wenn fie diefe Unterſuchungen ihr einverleiben woll⸗
ten. Ich darf doch wohl nicht daran erinnern, daß noch
ein Unterfchied zwifchen Dogmengeichidte und zwifchen
Geſchichte der Dogmatik ift, und daß diefe vwiel tiefer in
die Gefchichte der Philofophie eingreifen muß, ale jene.
Aur einen Vorwand fehe ich, welchen meine Gegner
gebrauchen könnten, wenn fie fo viele Lehren, die offen»
bar philofophifches Charakters find, nicht der Geſchichte
der Philofophie, fondern der Dogmengefchichte zueignen
wollen, nämlich das abgenugte Gerede, daß die Philos
lophie der Kirchenväter und Scholaftiter nur im ber
Sclaverei des Kirchenglaubens und alfo nicht wahre
Philofophie, d. h. freies Denken gewefen fey. Wird dies
ſes Borurtheil gegen die Haren Thatfachen fich immer
noch behaupten Tonnen? Auch Baur benußt es für feine
Zwede und fucht mir fogar Widerfprüche nachzuweiſen,
in welche ich gezathen wäre, weil ich jene Selaveret
nicht hätte zugeben wollen. Ich mag die einzelnen Säge,
welche zuir hierbei vorgerüdt werden, nicht ned; einmal
durchſprechen. Möglich, daß ich jenem Vorurtheile zus
weilen gu lebhaft widerfnroden habe. Um Borurtheile
in fällen, braucht man derbe Schläge, Aber es kommt
nicht auf einzelne Worte, fondern anf ihren Sinn im
566 Ritter
Zufammenhange an, Den werde ich auch jetzt noch ver
treten koͤnnen. Keine Philofophie iſt ganz mabhängig
von der Meinung. Man muß aber eine boppelte Abs
hängigleit derſelben unterfcheiben. Die eine läßt fi von
Jerthümern der Meinung fangen und darans lönmen zur
Beſchraͤnktheiten, Einfeitigleiten der Philoſophie hervors
gehen, weil Irrthümer dad Denten unfrei machen. Die
andere dient der Philofophie zur Anleitung, zu der Bor-
Rbung, ohne welche die Bernunft nicht zu ihrer Reife
gelangen faun; fie macht den Philofophen nicht unfrei,
fondern gibt ihm nur feine natürliche Richtung auf das
Wahre und fpannt feine Aufmerkſamkeit auf die Erfin-
dungen , weiche die Meinnng in voraus ahnden läßt;
mit ihr iſt daher freied Denken und wahre Philoſophie
vereinbar. Durch Die Erregung meiner Anfmerkſamkeit
werde ich der Freiheit meines Denkens wicht beranbt,
eben fo wenig, als ich dadurch aufhöre, philoſophiſch
zu denken, daß id einen guten Lchrer hatte, der mir
die rechten Wege oder auch nur das rechte Ziel wies,
Die erſte Art der Abhängigkeit hat der Philofophie der
erſten chrifllichen Jahrhnuderte nicht gefehlt; daher iſt
fie auch in vielen Stüden von Borurtheilen befangen
gewefen; baß aber auch bie andere ihr zur Seite geflans
den habe, davon geben die oben erwähnten Lehren ein
Zeugniß, wenn wicht alle, fo doch einige, weiche fie weder
ans der griechiichen Philofophie, noch aus dem allgemeis
nen religiöfen Meinungen des chriktlichen Glanbens ent»
nehmen Tonnte.
Doh Baur ſelbſt theilt bie gewöhnliche Meinung
sicht, daß den erſten chriſtlichen Jahrhunderten alle Phi⸗
Iofophie gefehlt habe. Wiewohl es in Widerſpruch mit
feiner oben vernommenen Aenßerung, daß erſt nach Wie⸗
derberftelung ber Wilfeufchaften die wahre chriftfiche
Philoſophie beginne, zu fliehen ſcheint, nimmt er doch
eine chriftliche Philoſophie andy in der Zeit der Kirchen-
üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 567
väter und der Scholaftiter an, follte ed auch eine falfche
ſeyn. Rur fehe verborgen muß fie ihm zu liegen fcheir
nen, denn nur durch eine Kolgerung verwidelter Art
weiß er fie heranszubringen. Er befennt, was gewiß
fehr zu billigen ift, daB durch das Chriſtenthum bie
Dentweife der Menfchen im Allgemeinen nmgeändert
wurde, und daß auch die Philofophie von ihm ergriffen
werden mußte (S. 43.); nun finde fih aber vor der
chriſtlichen Offenbarung fchon eine Philofophie und in
der neueren Zeit wieder eine Philofophiez dieſe beiden
Perioden ihrer Geſchichte könnten nicht Durch einen Ice
ren Zwifchenraum unterbrochen feyn; nachdem einmal
die Philofophie fich ergeben habe, könne fie dem Geifte
nicht wieder verloren gehen; baher hätten wir auch iu
den Zeiten bed Mittelalterd eine Philofophie anzuneh⸗
men, wenn gleich eine folche, welche fich felbft entäußert
und in Religion verloren habe; die Philofophie fey da
Religionsphilofophie geworden (S. 62.).
Man wird nicht verkennen, daß biefe Anficht von
der Gefchichte der Philofophie dem hegel’fchen Schema
entfpricht. Die Philofophie in ihrer Gefchichte muß den⸗
felben Gang gehen, weldyen dad Syſtem und der Geift '
durchzumachen haben. Nachdem fie aus ihrer abftracten
Allgemeinheit herandgetreten, muß fie fich befondern oder
entänßern und zulegt zu fich felbft in ihrer concreten
Allgemeinheit zurückkommen.
Sehr fhwer würden biefe Analogien aa; zu begreis
fen feyn. Wenn fie nur wahrer wären. Aber mit ihrer
Anwendung flodt es überall, und wenn man mit Ges
walt fie durchfeßen will, fommt man zu den unnatürlidy-
ten Berrentungen. Baur’ Conftruction der chriftlichen
Philofophie gibt davon ein nicht verächtliches Beiſpiel.
Afo indem „der Geift fich feiner ſelbſt entäußert,” ges
langt er in bie Periode der Religionsphilofophie. Baur
führt dieß Thema noch recht erbanlich a indem er
Theol, Stud, Jahrg, 1847.
568 Ritter
bemerkt, wie der Geil in feiner Knechtsgeſtalt erſtarke,
in Demuth und Zucht bed Glaubens feine Kräfte euer:
gifcher fammile, um alsdann feine Bande, die er ſich ſelbſt
angelegt, zerbrechen zu können (S. 62 f.). Das mögen
recht fhöne Worte feyn, aber mit der hegel’fchen Philo⸗
fophie ſtiumen fie nicht; denn fie belehrt nnd, baß die
Entäußerung des Geiſtes nicht die Religion, noch wenis
ger bie Religionsphilofophie iR, fondern die Natur.
Wenn der Geiſt zur Religion gelangt, iR er ſchon längſt
wieber in fich gurücigefehrt ; wenn er feine Kräfte ge
fammelt bat, ift er nicht mehr ander fi. “ Aber nun
gar die Meligionsphilofephie, fie it doch mit der Re
ligion nicht zu verwechſeln. Wer fie haben fol,
muß die Logik, Phyfl und den größten Theil der Philos
fophte des Geiſtes durchgemacht und fie nicht wieder
vergeffen haben. Wie iR damit eine folche Knechtſchaft
des GBeiftes zu vereinen, wie Baur fie im feiner patris
ftifchen und fcholaflifhen Philoſophie annimmt? Ziehen
wie auch ein wenig die Erfcheinungen jener Zeiten zu
Nathe, fo werben wir wohl fagen mäflen, daß fie zu
einer freien Entwickelung der Religionsphilofophie nichts
weniger als reif waren. In der Metaphyſik, in ber
Pſychologie bewegen fich ihre linterfuchungen; zwar haben
fie ed auch mit der Religion zu thun, aber ſtecken viel
gu tief in einer Form der chriſtlichen Religion, um ein |
unparteiifches Urtheil Über das Allgemeine des CEhriſten⸗
thums, gefchweige anderer Formen ber Religion, zu ha
ben. Im Abfchen gegen ben Götendienft konnten fie
feine Bedeutung nicht würdigen. Bon der Religions:
philofophie muß man aber doch wohl erwarten, daß fit
in einer Form der Religion, und wenn ed and bie
chriſtliche ſeyn ſollte, nicht völlig verfunten fey. Baur
fcheint eine andere Anficht von der Religionsphilofophie
zu haben, als Hegel nnd ich; wie es fcheint, verficht er
umter diefem Ausbrude eine Philofophie, welche in Reli⸗
üb. d. Begriff u. d. Verlauf ver chriſtl. Phifofophie. 569
sion fich verloren hat; aber fo gefaßt, hat feine Reli⸗
gionsphiloſophie mit dem, was biefen Namen verdient,
nur noch den Namen gemein.
Gehen wir noch etwas genauer in Baur’s Annahme
über das Berhältnig der Gefchichte ber Philoſophie zur
Dogmengefchichte ein. Wir lefen darüber (6. 53.) Kolgenr
des: „Sol fich der Begriff (der chriftlichen Philoſophie)
in feiner felbftändigen Bebentung behanpten, fo muß
zwar nicht ber quantitative Uuterfcyied- bed größern ober
geringern Umfangs, aber der qualitatins bes Algemeis
nen und Beſoudern gemacht werben. Die Philofophie
hat ed mit dem Allgemeinen zu than als dem wefentlis
hen Inhalte des Denkens; auch ihre ®efchichte muß da»
her vor Allem diejenigen Momente hervorheben, in weils _
hen ber allgemeine Proceß des denkenden Geiftes fich
entwidelt ; fle fragt wicht fowohl, was diefed oder jenes
Individunum gedacht und gejagt, als wielmehe, wie in
biefem oder jenem eine allgemeine Form des Bewnßtfeynd
ihren Ausdruck gefunden Hat. Eben dieß mnß daher
auch die Aufgabe der Geſchichte der chriftlichen Philofor
phie ſeyn, ihr eigentliche Object koöͤnnen nur die allger
meinen, Den zeitlichen Beräuderungen zum Grunde lie
genden Denkbeſtimmungen ſeyn, während die Dogmen-
gefchichte diefed Allgemeine zwar auch zu ihrem leitenden
Geſichtspunkte machen muß, aber dabei noch bie beſon⸗
dere Aufgabe hat, den verfchiedenen Mobiftcationen des
Dogma in ihrer fpeciellen gefchichtlichen Geſtaltung nadır --
ingehen.””
Bor allen Dingen müflen wir und verfidern, daß
wir richtig gelefen haben. Freilich möchten ung einige
Wendungen in den Unterfuchungen Baur’s irre machen,
aber im Ganzen finden wir doch das hier Befchriebene
beſtatigt. Baur will im den vorliegenden Abhanbluns
gen die Geſchichte der chriſtlichen Philoſophie zur Leber,
ht bringen; er I&ßt fich aber doch in viele Beſonder⸗
89 *
570 Ritter
heiten ein, welche er ber Dogmengefdjichte in den obigen
Säben vorbehalten hat. Sogar über eine [ehr ſpecielle
Stelle ded Gregor von Nyfin belehrt er mich, wofhr id
ihm meinen Dank abflatte; über die angebliche Schrift
des Abalarb de generibus et speciebus läßt er ſich herab
Die Frage von Neuem als fraglich hinzuftellen, und man
könnte ſolche Befonberheiten noch mehr anführen. Aber
bierin iſt er wohl feiner Aufgabe nur nich ganz getren
geblieben und, weil ex fhon lange als Dogmenhiſtoriker
fi) bewährt hat, einmal wieder in feine alte Gewohnheit
gefallen. Dieß werde ich ihm um fo weniger verargen,
fe lieber ich ihm immer auf dem Felde befonberer Unter⸗
fucdhnngen begegnet bin und da Wanched von ihm ge
lernt habe, je mehr er mir feinen eigenen Verdienſten
zunahe zu treten fcheint, wenn er die befondern Unter⸗
ſuchungen auch über Individnen und individnelle Mei
nungen mit Berachtung von fi weit (S. 49.). Dder
ſollte er einige Befonderheiten ausuchmen, welche dod)
der Geſchichte der Philofophie angehörten, während fie
nur meiftend mit bem Allgemeinen zu thun hätte? Faſt möchte
ed fa fcheinen, wenn wir feine oben audgefchriebenen
Worte genauer erwägen. Wenn es da heißt, die Ge⸗
ſchichte der Philofophie müßte „vor Allem” diejenigen Mor
mente hervorheben, in welchen ber allgemeine Proceß
des denkenden Geiftes ſich entwidelt, fo dürfte man ver
muthen, ed wäre die Meinung, daß fie doch wenigſtens
nebenbei auch mit andern Momenten fidy befchäftigen
dürfte, Wenn gefagt wird, bad „eigentliche? Object
ber Geſchichte der chriftlihen Philoſophie Lönnten nur
die allgemeinen Denkbeſtimmungen feyn, fo fcheint «6,
als ſollten ihr zu ihrem nneigentlichen Objecte doch auch ber
fondere Denkbeſtimmungen vorbehalten werben. Man könnte
alfo vermuthen, in diefen ſchwankenden, unbeftimmten And
drüden würden Hinterthliren offen gelaflen, ganz geeignet
dazu, alle beliebige Befonderheiten , weldye man eben zur
üb. d. Begriff u. d. Berlaufder chriſtl. Philofophie. 571
Hauptthür hinausgetrieben hatte, durch die Hinterthür
in die Geſchichte ber Philofophie wieder hineinfchlüpfen
zu laſſen.
- Doc alle diefe Zweifel über den Sinn der ange,
führten Stelle verfchwinden gegen bie ſtarken Züge der
Polemik, mit welcher Baur meine Weife, die Geſchichte
der Philoſophie zu behandeln, angreift. Da ift nicht allein
davon die Rede, daß ich über die vielen Einzelheiten ben
Ueberblid verlöre (S. 72 f), und von dem Ungenü⸗
genden der Methode, die Gefchichte der Philofophie nur
an ben einzelnen, der Reihe nach auftretenden Individuen
darzufteflen, was nur zn unnäten Wiederholungen führe
(S. 210.) , fondern Baur fcheut ſich fogar nicht, im heis
ligen Eifer gegen meine Berfahrungsweife dieſes Lafter
der Wiederholungen felbft auf fih zu nehmen und immer
wieder Darüber zu Magen, daß ich fo gar viele Einzels
heiten and unbedeutende Individuen in meiner Gefchichte
der Philofophie aufführe. Je mehr diefe Geſchichte in
dad Einzelne eingehe, um fo mehr gerathe fie in Gefahr,
dad Allgemeine aus dem Auge zu verlieren. Welchen
Berth könne es doch für eine Gefchichte der Philofos
phie haben, die theologifchen Lehren und Vorftellungen
eined Juſtin, Athenagoras, Theophilus, Tatian, Irenäus
u. f, w. wiederzugeben? Nur die Wendepunfte der Ges
fchichte follen berüdfichtigt werden (vergl. ©. 66; 72 ff.
u. ſonſt).
Gewiß, wenn mich Baur tadelte, daß ich oft zu
weitläufig geworden wäre, manches Fremdartige oder
weniger zur Sache Gehörige eingemifht, daß ich das
gegen die allgemeinen Geſichtspunkte für die Entfcheis
dung der Sachen nicht heil genug hätte hervortreten
laffen, ich würde den Tadel geduldig aufnehmen; ſolche
Schwächen meiner Arbeit muß ich leider wohl zugeben
und kann fie nur dadurch entfchuldigen, daß die Sachen,
welche ich in den vier erken Bänden meiner Gefchichte der
572 Ritter
chriſtlichen Philoſophie behandelt habe, zu wenig, ua
mentlich den Philofophen zu wenig befaunt find, daß es
mir daher nöthig fchien, auch manche Außerlihe Berbälts
niffe, unter welchen die Philofophie fich entwidelte, ge⸗
nauer audsuführen, als es der Gegenſtand an fidh er-
heifchen wärbe. Uber die Klagen und Forderungen
Baur’d gehen weiter; nach ihm fol die Geſchichte der
Philoſophie des Befondern ſich entfchlagen und nur das
Allgemeine der Sedantenentwidelung anführen. Gie ers
innern mich an einen Recenfenten meiner Befchichte der
alten Philoſophie, welder, auch and der hegel’fchen
Schule hervorgegangen, vor Jahren an mich die Aufor⸗
derang ſtellte, ich hätte mit einem Worte oder in einem
Sedanten angeben follen, was der Jnuhalt der folratis
fhen Philofophie ſey. Wie vortrefflih wäre ed, wenn
id} dergleichen vermöcte. Aber ich bin zu fchwadh.
Warım mühen ſich doch jene göttergleihen Deuter,
welche folhe Dinge fordern und unftreitig auch vermös
gen, um die Schriften eined Menfchen, welcher fo wenig
eö ihnen gleich zu thun vermag ?
Wie ich aber eben bin, kann ich nicht anders, ale
Schirm mir fuchen gegen jene Sonne der allgemeinen
Einficht, weiche mid wie ein concentrirted Licht nur
blenden wärde. Und fo fey ed mir erlaubt, meine Mes
thode gegen Baur’ Einwürfe zu vertheidigen, ale eine
Methode, welche mir und meines Gleichen doch wohl
erlaubt werden bürfte, wenn fie auch der allgemeinen Ein⸗
fiht meiner Gegner nicht gewachfen feyn ſollte. Baur
alfo, muß ich bemerken, vermißt Lieberficht in meiner
Geſchichte der chriftlichen Philofophie, und ich geſtehe, eine
volfommene lieberficht noch nicht gewonnen zu haben.
Aber ich meine auch, Daß mehr Weberficht in meiner Gefchichte
it, ald Baur darin gefunden hat, denn zu meinem Leid⸗
weſen bat er fie an falfchem Drte geſucht. Er fucht
danach in meinen Einleitungen zur Geſchichte der chrift-
üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſti. Philofophie. 573
lichen Philoſophie Kberhanpt und im Befoubern der patrikis
fhen und wittelalterlichen Philoſophie (vergl. befonbers
6.183), hat aber nicht bemerkt, daß ich diefe Einleitungen
nur dazu beſtimmt habe, eine vorlänftge und äußere Lleberficht
über die einzelnen Perioden meiner Gefchichte zu geben.
So fchien es mir nöthig, weil ich den kleinern Theil, die
Geſchichte der Philofophie, aus dem größern Ganzen
der Geſchichte Überhaupt herandzuheben und babei mid)
umsufehen hatte, weldye Stellung die Philofophie in der
einen und der andern Periode behaupten mußte.
Das find Borkberlegungen, welche noch nicht in dad
unerfte ber Befchichte, welche ich behandeln wollte, eins
führen follten ; von dieſem ſtehen wir in der Einleitung
noch fern, wie jeder Lefer wohl von feibk fi fagen könnte.
Es gehört nur zu den unnützen Weitfchweiftgleiten, von
welchen meine Gefchichte der Philofophie fich nicht frei
weiß, daß zuweilen ausdrüdlich bemerkt worden, in dies
fen &inleitungen folle nur dad erörtert werden, was
vorläufig und von außen her, d.h. von ben allgemeinen
Berhältuiffen der Geſchichte aus, über ben Gang der Phi»
Iofophie in einer beflimmten Periode fich vermuthen laſſe.
Sol ich nun fagen, Baur, welcher für die Wiederho⸗
luugen und unnützen Weitläufigleiten meines Buches fo
gute Augen gezeigt hat, hätte doch dieſe nicht fehen kön⸗
nen, oder er hätte fie nicht fehen wollen? Bewiß hat er
fie nicht fehen fönnen. Denn gu widerfiumig ift ihm eine
folche Methode erfchienen, wie ich fie beobadhte, ale daß
er ich hätte vorflellen können, ein Anderer bielte fie für
zwedmäßig und möchte fidh zu ihr bekennen. Mau febe
fh nur in die Rage eined Mannes, der dad Ganze
einer Gefchichte Üüberfieht, gleich beim Eingange berfelben,
ohne nur in die Einzelheiten ihres Verlaufs ſich einge-
laſſen zu haben, ob ſich der wohl wirb benten können,
dag ein Anderer fo befchränft feyn werde, biefe @efchichte
mit vieler Mühe erft von außen und gleichfam von Weis
574 Ritter
tem ſich zu betrachten, nur darum bemüht, einen Cinganz
in fie zu finden? Wenn es fo mit Baur beichaffen KK,
kann ich mid, eben nicht darüber wundern, daß er meine
Methode für ungenügend hält. Er Tann nichts daraus
lernen ; denn gleich, zu Anfang oder noch vor dem Ber
ginne weiß er. Rur das wundert mich, daß er nid ber
dacht hat, meine Methode möchte wohl nicht für ihn,
fondern für eine ganz andere Art von Leuten berechnet
ſeyn. Sol ed nicht auch ſolche kleine Leute geben,
welche, ehe fie eine Sache begriffen haben, fih in fie
bineinarbeiten müflen?
Sol es nnn wohl nod erlaubt feyu von meinem
Standpunfte die Apologie meiner Methode gu unterneh:
men? Ich denke mir Lefer, welche, wie ih, in bie Ges
ſchichte der chriftlichen Philofophie mit Mühe eindringen
möchten und nicht gleich von Anfang an den Begriff ih⸗
res allgemeinen Weſens durch irgend eine fanle Anfchau:
ung befigen. Denen würde nur wenig damit geholfen
feyn, wollte ich ihnen plößlich eine allgemeine Leberficht
über dad Ganze geben, weldye fie nur auf guten Blaus
ben annehmen könnten, fondern bei unferm gemeinfamen
Wege würden wir nicht anders können, ald der gemeinen
Methode uns bedienen, die befondern Thatſachen fo gut
oder fo fchlecht, als fie die Ueberlieferung darbieten mag,
zu unferm Ausgangspunkte zu nehmen und von ihnen aus
dahin zu fireben, dad Allgemeine zur Ueberficht zu brin⸗
gen. Man kennt, denke ich, biefe Methode unter dem
“ Ramen der Indnction ald die Berfahrungsweife, in wel:
her alle gefchichtlihen Willenfchaften auferbaut werben,
und ed wird ſich nun ermeſſen laffen, daß wir im diefer
Methode zur allgemeinen Ueberficht erft dann gelangen
föunen, wenn wir das Einzelne und Befondere fo forg-
fältig als möglich erforfcht haben. Es wird mir ed daher
Baur auch wohl nit ale Hartnädigfeit auslegen kön⸗
nen, wenn ich, feine andere Methode für die Geſchichte
db. d. Begriff u, d, Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 575
kenuend, es nur bebaure, daB ich wicht noch mehr Eins -
jelbeiten, ale ſchon gefchehen ift, habe zufammenbringen
können, um meiner Subuction die breitefte und ficherfle
Grundlage zu geben. So gehen wir dem gefchichtlichen
Fortſchritte der Sache nach, auf welche Berfahrungsweife
ia an Baur (S. 49.) großen Werth legt; denu ges
ſchichtlich entwidelt fih die Sache doch wohl nur, in»
dem fie Einzelnes an Einzelnes reiht, von einer Zeit zu
der andern übergeht und erſt zulegt eine ganze Periode
zum Abſchluß und zur Ueberſicht bringt.
Aber freilich, ed hat etwas gar Niederſchlagendes,
wenn man neben Andern in feiner befoudern Methode
einherläuft, ohne im Stande zu feyn, mit ihnen fich zu
verländigen, um wie viel mehr, wenn biefe ſich rühmen,
eine viel beffere und leichtere Methode zu haben. Gar
in gern möchte man auch derfelben theilbaftig werden.
Laßt uns fehen, welche Hülfsmittel Baur zu unferer
Verfländigung und darbietet. Wir ehren alfo zu feinen
oben angeführten Sägen wieder zurüd. Freilich find fie
und räthfelbaft; dad mußten wir erwarten; fo gut wie
möglich muſſen wir ihnen beizufommen fuchen. Die Ge⸗
{dichte der chriftlichen Philofophie, hörtenwir fchon, und
die Dogmengefchichte hätten es beide ganz mit demfelben
Gegenftande zu thun (5. 48.), die erfte aber, lehren die
obigen Säge, fol das Allgemeine dieſer gefchichtlichen
Entwidelung zur Erfenntniß bringen, die andere ihre Bes
fonderheiten auseinander legen. Alſo, ſchließen wir, beide
verhalten ſich wie Allgemeines und Befondered zu einans
der, Falſch geſchloſſen; Baur beichrt uns fogleich in
unfern Säben, daß die Dogmengefchichte auch das Als
gemeine zu ihren leitenden Gefichtöpuntte machen folle,
Afo man würde annehmen müſſen, daß die Dogmenges
ſchichte Alles in fich enthielte, was bie Gefchichte der
Philofophie, nur noch Einiges mehr; daß diefe nur ein
unaudgeführter Entwurf, jene dagegen eine forgfältig in
576 Kitter
allen Einzelheiten andgearbeitete Wiffenfchaft wäre. Aber:
mals falfch geichloflen; denn damit will es wicht ſtimmen,
daß mir herbe Bormürfe gemacht werben, der Geſchichte
der Phllofophie nicht treu geblieben zu feyn, fondern aus
der Dogmengefchichte allerlei fremdartiges Material her
beigerafft zu haben. Das würde ja keineswegs zu tas
bein ſeyn, daß id; bei der Skizze nicht ftehen geblieben
wäre, fondern 'eine recht andführliche Geſchichte geliefert
harte. Genug Baur will für die Gefchichte der Phile:
fophie ein Allgemeines, weldes mit bem Befonbern
fih nicht gemein macht, es vielmehr won fidy ausitößt
wie eine Verunreinigung. Dad gewahren wir nidt
minder, wenn wir Baur’d Worte beachten, baß die
Gefchichte der Philofopbie zu ihrem eigentlichen Dbjecte-
nur die allgemeirien Denfbefimmungen habe, welche ben
zeitlichen Veränderungen der Dogmen zum Grunde liegen.
Alſo Das Nicht» Zeitliche, den ewigen Proceß der Gedau⸗
ten ſollten wir in der Gefchichte der Philoſophie zur
Erkenntniß bringen, gleichfam den einen innerſten Kern einer
überfinnlichen, nicht gefchehenden Gefchichte, um welche
fih das Zeitliche wie eine äußere Schale der Zufällig
keiten aufeht und dad Wehen nicht fowohl offenbart ale
verhält. Da nun aber diefer Kern auch zugleich das Allge⸗
meine feyu fol, dürfen wir nun wohl folgern, daß Baur
ben wahren Grund des zeitlichen Verlaufs im Allgemei-
nen erkennt? Noch eiumal fehen wir und getänfct.
Benn Baur aus dem Allgemeinen die zeitlichen Erſchei⸗
. augen der Individnen ableiten wollte, fo wärbe er den Pla»
tonifern fidy anfchließen , welche die universalia ante res bes
hanpteten. Aber eben biefen Standpuntt der frühern
Scholaftiter bezeichnet er an vielen Stellen feiner Ab:
handlung als einen untergeordneten.
Mir meinen Berfuchen zu veritehen bin ich zu Enbe.
Man rechne nur nad, was in den wenigen Worten ber
oben ausgefchriebenen Stelle enthalten if. Die Dos:
üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philoſophie. 577
mengefchichte fol ed nur mit dem Befonbern, bie Ge⸗
fhichte der Philofophie nur mit dem Allgemeinen zu
thun haben, ber es fol and die Geſchichte der Philos
fophie nur zu ihrem eigentlichen Objecte dad Algen
meine haben nnd nur vor Allem die allgemeinen Mos .
mente des Denkproceſſes hervorheben und die Dogmens
gefchichte dagegen foll aucd das Allgemeine gu ihrem lei»
tenden Gefichtöpunfte machen und nur dabei auch auf
das Befondere ihr Augenmerk richten, ohne doch das zn
leiten, was von der Geſchichte der Philofophie gefor-
dert wird. Hebt bier nicht ein Rur immer wieder bad
andere auf? Bermehren die Befchränkungen, welche in
dem Eigentlichen und in dem Bor Allem liegen, nicht
noch die Berwirrung? Dat ed die Dogmengefchichte nur
mit der Schale oder auch mit dem Kerne, Die Geſchichte
der Philoſophie nur mit dem Kerne oder auch mit der
Schale zu: thun, und wenn die eine oder wenn beide es
mit beiden zu thun haben follen, warum fol nicht die
eine die andere umfaffen, oder worin befteht ihr Uns
terfchied ? |
Dod nein, wir woßen noch einen Berfuh gu
deuten machen. Bielleicht ſollen die hin und her ſchwanken⸗
den Ausſagen nur andenten, daß auf die eine Seite ein .
Mehr, anf die andere Seite ein Minder des Allgemeinen
und bes Befondern falle. -Bergebend. Auch diefer Aus⸗
weg ift abgefchnitten. Gleich zu Anfange find wir be,
Ichrt worden, es dürfe hier nicht der quantitative Un⸗
terfchieb des größern oder geringern Umfangs gemacht
werden, auf den qualitativen Uinterfchteb bed Allgemeis
nen und des Befondern komme es an.
Ein neues Räthfel. Aus welcher Logik, müflen wir
fragen, hat Baur gelernt, daß der Unterſchied zwiſchen
Algemeinem und Vefonderm nicht-auf dem quantitativen
Unterfchiede zwifchen größerem und kleinerem Umfange ber
Begriffe bernhe?
578 Ritter.
Vielleicht würde ich eine mildere Einfleiduug meiner
Frage gewählt Haben, wenn nicht Baur felbft dazu auf
forderte, ihn an bie Logik gu erinnern, indem er nict
aufhört, auf feine Logik zu pochen, und die Gelegenheit
herbeizieht, feiner Berachtung gegen das unlogifche Bers
fahren Anderer Luft zu machen. Eine Stelle feiner Abs
handlungen habe ich hierbei befonderd vor Augen, in
welcher er „die befannten Darftellungen der: Kirchenhir
Roriter” erwähnt (©. 81.), „welche in ihrem begriffsiofen
Berfahren ed nicht einmal zu einer logifchen Slaffiftcirung
der verfchiedenen Kormen der Gnoſis gebracht haben.”
Es ift eben ein halb erlannter logifcher Irrthum,
welcher durch bie vagen Aeußerungen Baur’s über Ger
fhichte der Philofophie und Dogmengeſchichte hindurch⸗
blidt, der Irrthum nämlich, daß man Allgemeines und
Befonderes willenfchaftlich von einander fcheiden Fönne.
Man follte meinen, dieſer verlodenden Meinung wäre
nun fchon binlänglich durch fo manche philofophifce
Lehre begegnet worden, wozu auch noch neuerlicd, bie
Lehre Hegel's gekommen ift, daß nur durch die Beſon⸗
derung hindurch das Abflract » Allgemeine feinen wahren
Gehalt gewinne und zum Goweret s Allgemeinen werde.
Aber es ift wie ein Zauber, daß man immer. wieder zu
dem Abfiract-Algemeinen fid) gezogen fühlt und bie gute
Fährte zum GoncretsAllgemeinen und alfo auch zum Be⸗
fondern hinter fid) zurüdläßt. Daher flammen die Kla
gen Aber die Ratur, welche in Aeußerlichleiten, in zufällige
Einzelheiten fich verliere und den Begriff nicht feſtzuhal⸗
ten vermöge, über das Bedeutungsloſe der Erfiheinun
gen, über den Wuſt der empirifchen Gelehrſamkeit, wel
he nur Unnüged und Übgeflorbenes zu Tage bringe,
ald wäre irgend etwas abgeflorben, irgend etwas unnütz
oder ohne Bedeutung anßer nur in dem Wahne befien,
welcher fein Fortleben und Kortwirken, feinen Nupen
und feine Bedentung, weil er fie nicht zu durchblicken ver
\
ab. d. Begriff u, d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 579
mag, zu leugnen ſich vermißt. Bon ſolchen Klagen hat
auch Hegel ſich nicht zurüdzubalten vermocht; was fols
in wir und wundern, daß Baur in fie einſtimmt? Aber
die vielen Beifpiele und das Anfehen berühmter Philoſo⸗
phen, welche er für feine nicht rühmliche Flucht vor bem
Befondern anführen könnte, werden ihn doc nicht abhal⸗
ten dürfen einzugeftehen, daß es zur Aufgabe der Willens
haft nicht minder gehört, das Befondere, ald das Allge⸗
meine, und beide in ihrer ungertrennlichen Verbindung
u erfennen, da er hierzu nicht allein durch das Bedärf:
niß empirifcher und befonderer Wilfenfchaften, fordern
dur die Philofophie ſelbſt gezwungen wird, welche ihm,
wie ed fcheint, unwillkürlich das Geſtaͤnduiß abnöthigt,
daß fie des Befondern nicht entbehren kann und baß
wir das Leberfinuliche und Ewige nicht mit dem Allge-
meinen zu verwechfeln haben. Aber folche unfreiwillige
Delenntuiffe bezeugen eben unr, daß wir von Baur,
welcher ſie ablegen muß, wohl fchwerlich gu erwarten
haben, er werde in klarer und unzweibentiger Rebe
über den Begriff der Philofophie und ihrer Linterfchiebe,
ſey ed vom chriftlichen, fey ed vom heidniſchen Dogma,
und eine fichere Auskunft geben können.
2. Wenn einem chriklihen Theologen der Begriff
der Philofophie auch nur in unbeflimmten Zügen vors
ſchweben follte, fo wird er doch wohl über den Begriff
des Ehriftlichen beffern Befcheid geben können. Ueber
diefen erflärt fi Baur auch ausdrücklicher. Wir wollen
fehen, was er darüber zu fagen weiß,
Er wirft mir zuerſt (CS. 36) vor, baß ich durch die
Bevorwortung, es laſſe fich Fein völlig genügender Aus»
drud finden, welcher den Geiſt des Chriſtenthums be⸗
jeichnete, gern der Aufgabe ausweichen möchte, über das
Weſen des Chriſtenthums und feinen Unterfchied in ber
Philofophie mich zu erklären. Wenn nun auch hierim
fein genauer Ausdruck meines Gedankenganges in jener
580 Ritter
Bevorwortung liegt, fo muß ich Doch eingefichen, daß ic
nicht eben vafch zu der Erflärnug über das Weſen oder
den Geiſt bed Ehriftenthumd mid gewendet habe. Bid
rafcher als ih iſt Baur, und lüme es bei foldhen Sachen
anf einen fchnellen Entfchiuß nnd ein fchuellee Wort au,
wie unbedenklich würde ich ihm das Felb räumen mäflen.
So ſchnell if er (S. 80) mit feiner Erklärung fertig, das
Ehriſtenthum fey wefentlih die abſolute Dffenbarung,
weiches daranf beruhe, daß Gott ſelbſt Menfch gewer-
den in ihm.
Sehr gut. über folten wir nicht hier ein glänzen
des Beifpiel von jenen Formein haben, vor weichen ic,
wie Baur hätte bemerfeu Tönnen, von vorn herein mid
verwahrt. habe, als könnten fie genügen, den Geiſt des
Ehriftenthums auszubräden? Ich meine vor jenen For-
mein, weiche oft nur halb verkandene Worte an bie
Stelle des Begriffe fegen, oder, wenn es hoch kommt,
nm eine begel’fche Kormel zu leichterer Berflänbigung
zu gebrauchen, für das GoncretsAllgemeine dad Abſtract⸗
Allgemeine geben, durchaus würdig jener Phitofophie,
‚weidye beim Aligemeinen Reben bleiben und das Beſon⸗
dere verfchmähen fol,
Daß die Erklärung Baur’d zu der zweiten Urt der For:
mein gehöre, daran kaun Bein Zweifel feyn, wenn man bie
Aufgabe fennt, an weiche ich nur mit ber Erinnerung ge
gangen bin, daß fie nicht vollſtändig ſich Iöfen laſſe.
Das Ehriftenthum ift eine Bberfinnlich waltende Macht,
welche vor mehr ald achtzehn Jahrhunderten fich fühlbar zu
machen begonnen und ſeitdem Religion, Sitten, Familien⸗
weien und Staat umgeflaltet, die Kirche gegründet, in
Kun und Wiſſenſchaft einen neuen Geil gebracht hat.
Baur ſeibſt ſagt, es habe dem Bewußtfeyn der Menſch⸗
beit einen eigenthümlichen Charakter gegeben und die
Philoſophie nmgewandelt. Und die Bedeutung dieſes
CEhriſtenthums follte in jenen abfiracten Formeln von ab⸗
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der hriftl. Philoſophie. 581
foluter Offenbarung und vom Werden Gottes im
Menſchen genügend ausgedrückt feyn? Nimmermehr.
‚ Dergleihen Ausdrüde mögen genügen, um eine vorläu⸗
fige Vorſtellung vom Ehriftenthume gu geben, das belebende
Bewußtſeyn, bie Kraft feines Geiſtes theilen fie nicht mit.
Ich behanpte darum nicht, daß fie falſch wären.
Es läßt ſich bei ihnen vielerlei denken; die Ausdrücke:
abfolut, Offenbarung, Gott, Menfch, find bekannt, aber
auch vieldentig; der Eine denkt fich dabei etwas Anderes
als der Andere; es würde ſich viel darüber Rreiten lafr
fen, wer ihre Bedeutung richtig und ob irgend einer
fie vollſtändig gefaßt hätte. Aber daß fie und nicht far
gen, wie das Chriſtenthum im Befondern gewirkt, was
ed ald das wahrhaft Göttliche ins Menfchen hervorge⸗
bracht, wie es bie wahre Lehre entwidelt, das Leben
umgefaltet habe, kann Niemand fich verbergen und das
ber kann auch Niemand in diefen Formeln einen genüs
genden, erfchöpfenden Ausdruck für dad Weſen bes
Chriſtenthums zu befigen meinen, es müßte denn feyn,
daß er das Befondere verachtete und am Abftract-Allges
meinen fein volled Genuge fünde.
Ich fage auch nicht, daß folche Formeln unnüg wä⸗
ren. Bielmehr babe ich ſelbſt ähnliche Formeln aufge
fncht, weil ich ihren methodifchen Werth und ihre Nothr
wenbigfeit wohl begreife. Nur iſt mit ihnen immer nur
der erſte Schritt zur Löfung der Aufgabe geſchehn, und
was ich von der Unmöglichleit ihrer völligen Löfung
gefagt habe, wird dadurdy nicht im Geringften erfchüttert.
Denn was das Chriftenthum in feiner ganzen heilſamen
Wirkſamkeit für die Menfchheit feyn fol, das, meine ich,
iR bis jetzt zu Reiner Zeit und in feines Menfchen Seele
offenbar geworden. Noch immer ift feine Heildorbnung
in Streit gewefen mit den Mächten des Böfen und nur
einen Theil defien, was es im Leben und in ber Wiffen»
Ihaft vermödhte, hat es bisher und zeigen können, ein
582 Kitter
anderer Theil deffelben liegt noch verborgen in ber Zus
kunft. In der Offenbarung ber befondern Zeiten wer:
den wir Daher auch.erwarten müflen, daß fih uns allmäh:
lich die ganze Bedeutung des Ehriſtenthums enthällen
werde, vorläufig aber mögen wir und begnägen, in ab»
firacten Formeln fo viel als möglich zuſammenzufaſſen,
ale was der chriftliche Geift fi) und bisher offenbart hat.
Stellen wir aber ſolche Formeln auf, fo mögen wir
wenigften® dafür forgen, daß fie richtig verſtanden wer
den und nicht ber erſten von den oben bezeichneten Ar
ten angehören, welche nur halb verftandene Worte an
die Stelle bes zu erflärenden Begriffs ſetzen. Wie leicht
gefchieht es nicht, daß tönende, aber dunkle Worte für
Gedanken gelten follen, Kormeln, welche mehr der Leber:
lieferung als eigenem freien Berfländnifle angehören,
zur Erllärung von Begriffen dienen follen. Die Ger
fchichte der Meinungen, der Dogmen weit davon unzäh:
lige Beifpiele auf. Aber Baur wirb vor diefem Fehler
fih gehütet haben, er, welcher in den Dogmen ber Kir⸗
chenväter und Scholaftifer nur eine Selaverei des Gei⸗
ſtes fieht und das Bilden und Erklären dieſer Dogmen
nur mit der Arbeit der Penelope zu vergleichen weiß (S. 57).
Wenn man nur nicht manchesmal ſchon gefehen hätte,
daß die, welche gegen Abhängigkeit vom allgemein ver:
breiteten Dogma waren, um fo fchmählicher in ben Baus
den eined befondern Schuldogma lagen.
Mich natürlih muß eine Furcht befallen, daß es
mit Baur fo beftellt feyn möchte, da er meben feinen
Formeln die meinigen nicht anertennen will. Seiue Aub-
drüde, daß Gott ſelbſt Menſch geworden und fo fid
uns abfolut offenbart habe, fo nahe fle dem gewöhnlichen
Dogma fiehen, fo fehr bedürfen fie auch einer näheren
Erklärung. Für die philofophifche Verftändigung wenigſtens
bieten fie wenig oder nichts dar. Daher mußte ich andere
Ausdrüde an ihre Stelle fegen, wenn ich zeigen wollte,
\
üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chrifll. Philofophie. 583
was bie Philofophie durch dad Ehriftenthum gewonnen
habe. Daß aber meine Kormeln nicht daſſelbe ausfagen
wollten, was jene dogmatifchen Formeln, wenn fie richtig
verftanden werben, davon müßte ich noch durch befiere
Gründe überzeugt werden, ald Banr vorbringt.
Sn meinen Kormeln habe id an die Berbeißungen
des Chriſtenthums mich gehalten, die Verheißungen dee
ewigen Lebens oder der ewigen Seligfeit, und habe
ansdrädlicdh hinzugeſetzt, daß in ihnen auch bie Bollens
dung aller Dinge und die Befreiung von allem Uebel
eingefchloffen ſey. Baur bagegen behauptet (S. 37.),
dieg wären Beſtimmungen, welche zum Begriffe der Reli⸗
gion Aderhaupt gehörten und alfo das fpecififche Weſen dee
Chriſtenthums nicht ausbrüden könnten. Abgeſehen da:
von, daß in der abfoluten Offenbarung ja wohl liegen
müßte, was in allen befondern Dffenbarungen liegt, möchte
ed ihm auch ſchwer werden, zu beweifen, was er behaups
tet. Denn es iſt ziemlich bekannt, daß manche Religionen
von der Berheißung des zukünftigen Lebens faſt gar nichts
wiffen, andere daſſelbe nur als ein zeitliche unb unvoll⸗
fommenes uns. hoffen lafien, noch andere ed nur mit
der Aufhebung unferer Perfon, alfo nicht für und vers
ſprechen. Nur das Ehriftenthum verheißt und, daß wir
voffommen werben follen, wie unfer Bater im Himmel
vollfommen ift, und dieß habe ich auch bisher für die Beben»
tung ded Gates gehalten, daß es die abfolute oder voll,
tommene Offenbarung fey, und ‚Daher geglaubt, daß meine
Formel mit der von Baur aufgeftellten auf daffelbe hin-
anslaufe, nur daß ich es für uunsthig hielt, die Bezie⸗
bung der cheifllichen Berheißung auf Ehriftus hinzuzu⸗ \
fügen, weil fie nur einen Eirkel in der Erklärung abger
ben würde. Sollte dagegen Baur in der vollfommenen
Offendarung nicht bie Verheißung des ewigen Lebens
und den Anfang feiner Verwirklichung, oder follte er in
ihr mehr, die Verwirklichung ſelbſt fchon ausgeführt
Theol, Stud, Jahrg, 1847, 40
584 Slitter
finden, fo würbe ich im erften alle fagen müflen, daß
ihm der Begriff der abfoluten Dffenbarung eine leere,
unverflandene Kormel geblieben fey, im andern Falle, daß
er einen falfchen Begriff von ihr habe.
Daß Irrthumer oder Unklarheiten über dieſen Punkt
bei ihm obwalten, darin kann es mich nur beſtaätigen,
daß er Aber bad Verhältniß ber chriſtlichen zur vorchriſt⸗
lichen Denkweiſe mancherlei Anßert, was zwar nicht neu,
aber verworren und einfeitig ifl. lieber diefed Berkält
niß muß man vor Allem ſich verkändigt haben, wenn
man den Unterſchied zwiſchen chriftlicher und vorchriftli⸗
cher Philoſophie feſtſtellen wii,
in meiner Geſchichte der Philofophie habe ich andr
einandergefeßt, warnm ich Auſtand genommen, bie Ph
loſophie der alten Völker heidniſche Philoſophie zu nen,
nen. Es beruht dieß weſentlich Darauf, daß die Philo⸗
ſophie zur heidniſchen Religion ein viel weniger inniges
Verhaͤltniß hat, als zur chriktlichen, wie dieß Leicht bes
greiftich ft, wenn man bedenkt, daß jene in den JIrrthü⸗
mern des Polgtheismus verſtrickt war, biefe Dagegen
den wahren Gott und fein Verhältniß zur Welt keunen
lehrte. Deßwegen ſtand die alte Philoſophie faſt beſtän⸗
"Dig in einem offenen oder verdeckten Streite mit dem
Volkoglauben und entwidelte ſich auch erſt in ben Zeir
ten, als der alte Glaube feine probuctioe Kraft, welche
er in der Erfindung religiöfer Mythen bewiefen hatte
au verlieren und damit fich aufgulöfen begann. Diefem |
Drocefie der Auflöfung angehörig, hat die Philoſephie
ſelbſt nicht wenig dazu beigetragen, ihn gu fördern, nad
ift beßwegen auch von den Kirchenvätern als Zeugin
der Wahrheit aufgernfen worden und wir dürfen fie mit
Recht als eine der weltgeſchichtlichen Mächte betradıten,
welche das Chriſtenthum vorbereiteten. Uber dennoch fleht
fie nicht auf dem Standpunkte des Ehrikenthums, wel
cher eben erſt durch eine innere Umkehr des Menſchen
—
üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 585
gewonnen werben kounte, fondern gehört nur den Ueber⸗
gängen aus der heidmifchen in die chriftliche Deutweife
an, Daher durfte ich wohl fagen, baß fie noch befchränft
fey durch Die religiöfen VBerurtheile des Alterthums, und
es liegt hierin fein Widerſpruch, wie Baur (S. 34.) fagt,
mit meiner Annahme, daß fie bemüht war, von jenen
Borurtheilen ſich Iodzmarbeiten, und im Streite gegen bie:
felben ſich entwickelte. Wenngleich die alten Philofophen
den Polytheismus befämpftien und nur einen höchſten
Gott zuliegen, fo waren fie doch nicht abgeneigt, Mittel:
götter auzunehmen und nur ein vermittelte Verhältniß
des Menfchen oder wenigſtens feines Körpers zu dem
höchſten Gotte anzuerkeunen; wenngleich fie nicht mehr
meinten, daß die Götter neidifch wären, fo wagten fie
doch nicht zu behanpten, daß Gott in der Welt feine
volle Herrlichkeit offenbart habe; -fie meinten wohl, er
wäre allmächtig, aber doch nicht im Stande, ben UnvoRs
tommenheiten der Welt abzuhelfen.
Auf alle diefe Punkte, fee ich num aber, legt Baur
kein Gewicht; zum Theile beftreitet er fie fogar. In meis
uen Bemerkungen über die Lehre des Arius habe ich
audeinandergefeßt, daß fie wefentlich auf die Vorſtellungs⸗
weife ber alten Philoſophen zurüdgehe, welche annoh⸗
men, ber oberfie Bott, ein volllommenes Weſen, könne
fih nicht verunreinigt haben mit ber Hervorbringung
eines fo unvolllommenen Dinges, wie biefe finnliche
Melt fey, und welche deswegen Bildung und Regierung
ber finnlichen Welt niedern Göttern, Göttern zweiten
Ranges, übertrugen. Baur fragt mich Dagegen (5.102.),
welche Heiden fi zu dem Gedanken eines folchen ober
Ren Gottes erhoben hätten, indem er dafür hält, daß
diefe Idee und die daraus hervorgegangene Lehre der
Alerandriner vom Adyog nur durch Vermittlung der alts
teſtamentlichen Bottesidee entflanden wäre. Diefe Frage
klingt mir in der That fjeltfam und räthfelhaft. Denn
40°
586 Ritter
id kann ed nicht Über mich gewinnen, meinem Geguer
eine Unwiſſenheit zuzutrauen, welche gar gu fchälerhaft
wäre, weil fie den Platon und bie ganze Reihe der Leh⸗
ren vergißt, welde, vow ihm in verfchiedener Geſtalt
andgegangen, zwifchen den oberften Bott untere Götter
oder die Ideenwelt, oder die Weltfeele, oder die Seelen
ber Geſtirne eingefchoben haben, nm durch deren Bermitte,
Inng die Welt bilden zu laffen. Kaum daß Banr biefe
allbefannten Dinge im Eifer der Polemik einen Angen»
blick vergefien haben follte, kann ich mir denken, und
doch, wozu konnte allzu großer Eifer nicht verleiten?
Denn fonft, ſollte man glauben, würde Baur doch wohl
bemerft haben, daß die Lehre vom Adyog, wie fie Phi⸗
Ion vorteug, zwar ihre Anknüpfungspunkte auch im
4.8. fand, aber nicht miuder mit der fpätern Geſtaltung
des Heidenthume, welche ben Polytheismus durch den
oberfien Gott der Philofophie zu ergänzen fuchte, im Zur
fammenhange ſtand. —
Oder ſollte Baur vielleicht jenen oberſten Gott
der Philoſophen für keinen rechten Gott zu halten ge⸗
neigt ſeyn ? Einige feiner Aeunßerungen könnten zu die⸗
fer verzweifelten Annahme verleiten, obwohl die chriſtli⸗
chen Lehrer der erften Jahrhunderte und felbft Paulus
von einer folchen Uuterfcheibung des philofophifchen Bots
te6 und des Gottes bes Ehriften nichts wiſſen. Gchon
die Form feiner Frage, welche Heiden zu der Idee eines
ſolchen oberften Botted fih erhoben hätten, Tönnte
den Berdacht einer folchen Reigung erwecken. Noch
mehr beftärtt in ihm die Aenßerung (S. 44 f.), daß erſt
der lintergang des Außern Lebens, wie es in der alten
Zeit geblüht hatte, zur Zurüdziehung des Geiſtes in ſich
geführt und dadurch bie Wiedergeburt hervorgebracht
habe im Umfchwunge and ber Subjectivität in das Ob⸗
jective, im Umfchwunge zur Objectioität ber abfolnten
Gottesidee.
t
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 587
Wir müflen etwas weiter ausholen, um dieſe Ans
fiht Baur’s zu verfiehen und zu prüfen. Seiner Meis
nung nach wäre es, wie er fich zuweilen ausdrädt (S.
64.), in der alten Philofophie nie zum eigentlichen Bruche
zwiſchen Subject und Object, Geift und Natur gekom⸗
men; doch ift dieß freilich nur eine von den unklaren
Darſtellungen feiner Gedanken, welchen wir oft begeg»
nen; wie wir aus anderen feiner Aeußerungen fehen,
wi er nur behaupten, zum Bruche zwifchen Geift und
Natur wäre ed. wohl gefommen, aber nicht zur Bers
föhnung zwiſchen beiden, welche nur dadurch hätte ge»
wonnen werben können, daß bie Ratur dem Geifte uns
terworfen worden; aber genug, auch bei diefem unei⸗
gentlichen Bruche hätten die alten Dhilofophen zur Idee
Gottes als des abfoluten Geiſtes fich nie erheben ‚kön
nen, vielmehr trüge ihre Lehre auch in ihrer reinften
Geftalt immer noch den Charakter einer Naturphilofophie
an ih (S. 66.). Deßwegen im Bewußtfeyn ihrer Un⸗
fähigkeit, den Gegenſatz zwifchen Geift und Natur zu
übetwinden, wäre ihr zuleßt nichts übrig geblieben, als
die Zurückziehung des Subjects in fich felbft, in feine
alles Objective aufhebende, inhaltsleere Subjectivität,
womit fie am Ziele bed von ihr durchlaufenen Weges
gewefen fey (5. 64). Wenn wir ed nicht anderswoher
ſchon wäßten, fo fönnten wir es (S. 43.) erfahren, daß
mit diefem Ziele der griechifchen Philofophie der Step»
ticismus gemeint ift, in deſſen Leugnung aller objectiven
Erkenntniß Denken und Seyn, Subjectived und Objec⸗
tives gänzlich auselnandergefallen wären, womit die
alte Philoſophie in der Subjectivität ihres Standpunftes
sulegt in ſich felbft fich aufgelöft hätte. Zu unferm Trofte
wird alddann noch hinzugefeßt, daß biefer Skepticismus,
weicher nach ber gewöhnlichen Anficht nur der Verfall
der griechifchen Philofophie gewefen wäre, vielmehr ale
die Epoche einer neuen Form des Bewußtfeynd, ber Um⸗
ſchwung bes Geiſtes aus der Subjectivität bes Bewußt⸗
988 Ritter
ſeyns in die Dbjertivität des Seyns betrachtet werben
müßte und daß aus dieſem geifligen Proceſſe das größte
Refultat, das Ehriftenthum ſelbſt, hervorgegangen wäre,
Wir hoffen, Berzeihung zu erhalten für die allerdings
nicht fehr erquidlichen Irrwege, Behauptungen und Leng
nungen, durch weldhe wir unfere Lefer haben führen
mäffen, wenn fie nun mit uns diefed erfreuliche Ender⸗
gebniß erreicht haben. Freilich Bruch und Nicht Brud
von Subject und Object, von Geil und Natur, ‚Feine
reine Geiftesphilofophie, fondern der Charakter einer
Naturphilofophie, aber endlich Alles in Gubiectiwität,
db. h. in Geiſt, aufgelöflt und dennoch nicht ben reinen
Geiſt gewonnen, das find Winkelzüge, welche und wohl
über Die Sicherheit unferer Bahn irre machen könnten;
aber wer wird nicht folhe Dämmerungen ſich gefallen
laffen, wenn er nur zuletzt durch das überrafchende Licht
des Gedanfend, daß aus dem Skepticismus das Ehrir
ftenthum hervorgegangen fey, fein Auge eranidt fieht?
Uns könnte die Frage einfallen, welcher Skepticis⸗
mus gemeint ſey, der pyrrhonifche, der neunfadenifche
oder der erneuerte, für deffen Bollender Sertas Empi:
ricus gilt; — wahrfcheinlich meint Baus doch den lebte
ren, auch hierin Hegel’d Anweifung folgend; auch ent
halten wir und der Frage, wie er in diefem alle die
Entftehung des Chriftentbums aus dem Gtepticidmus
chronologifch rechtfertigen könne; der Fleine Anachronis⸗
mus von 200 Jahren würde in fo großen Rechnungen,
wie er fie mit der Weltgefchichte abhält, kaum der Rebe
werth ſeyn; er würde auch vielleicht irgendwie, den Step»
ticismus verfrühend oder dad Chriſtenthum verfpätend,
jene 200 Jahre eingurechnen wiflen; foridera nur Die
Hanptfache macht und Sorge, ob der Skepticismus eine
folche weltgefchichtliche Wichtigkeit behaupten könne, wie
fie Baur ihm zuſchreibt. ’
Richt ohne Gewicht für die vorliegende Frage wird
es feyn, daß der Skepticismus keineswegs zuerft im bem
üb. b, Begriff u. d. Berlauf der hriftl. Philofophie, 589
Seftalten, welche er zwei Jahrhunderte vor und zwei
Jahrhunderte nach Ehriſti Geburt annahm, unter dem
Griechen auftrat. Schon um ˖die Zeiten des Sokrates
hatten die Sophiften einen ähnlichen, nur noch fiärler
ausgeprägten Skepticismus verbreitet. Alſo war aud
damals fchon ber Bruch zwilhen Subject und Object
eingetreten, welchen Baur als das reiffte Ergebniß der
alten Philofophie zu betrachten fcheint. Nach ihm hatten
fi aber erft bie reifften Früchte der griechiichen Willen»
(haft in der folratifhen Schule ergeben, weldje jenen
Bruch nicht etwa voruchm überfah, fondern zu über:
winden wußte, wir wollen nicht fagen ganz, aber doch
theilweife. Man follte meinen, dieß wäre ein deutlicher
Beweis, daß der Skepticismus nicht Die äußerſte Spitze
befien gewefen, was die griechifche Philoſophie zu leiften
wußte.
Freilich hatte der. Skepticismus der Sophiften nicht
buchdringen können. Wie wichtig er auch für Die grier
chiſche Befchichte feyn mag, eine welthiftorifche Bedeu⸗
tung im vollſten Sinne des Wortes wird man ihm doch
kaum zugefichen können. Aber hat denn ber fpätere
Skepticismus eine folche in Anfpruch zu nehmen? ift er
durchgedrungen, auch nur in feiner Zeit? Bergeblich
ſuche ich nach den Spuren, welche in der Gefchichte der
menfchlihen Bildung darauf führen könnten. Durchge⸗
derungen in ihrer Zeit, herrfchende Dentweife geworden
find die Lehren der Skeptiker weber vor, noch nad
Chriſti Geburt. Die neueren Akademiker, fle haben nur
eine därftige Entwidelung, eine fehr befchräntte Schule
gehabt, über deren gänzlidhe Unbedeutendheit für das
keben, über deren GSchulflügelei Polybins mit Recht
Motte. Uber dennoch ift ihre Schule noch eine glän»
sende gegen die Schule der eigentlichen Skeptiker zu nen»
nen, welche fat Fein für das Allgemeine bedeutender
Schriftkeller des Alterthums erwähnt. Es waren einige
Aerzte, welche fich den Anfprüchen einer voreiligen Spe⸗
590 Kitter
ceulation in den Naturwiſſenſchaften entgegenfehten, welche
hauptfächlich die empirifche Methode in ihrer Kunft ge
gen den Dogmatismus anderer Aerzte zu vertheibigen
fuchten und nebenbei auch die Hebungen ber praktiſchen
Kunſt gegen die Theorien der Mathematik, der Gramma⸗
tik und ber übrigen fieben freien Künfte durch ihre Zwei,
fel in Schuß nahmen; diefe belegt man wit dem Namen
der fleptifchen Schule. Weber die Philofophen oder Ge:
Iehrten der Griechen und der Römer, mit Ausnahme
einiger Aerzte und derer, welche über bie philofophifchen
Secten fchrieben, noch die chriſtlichen Theologen haben
es für werth gehalten, ihrer groben Einwürfe gegen bie
Wiffenichaft, weiche fie von Anderen meiſtens zufammen-
Roppelten, nur Erwähnung zu thun. Wir würden von
ihnen fo viel wie gar nichts wiffen, wenn nicht bie
Schriften eined Arztes ihrer Secte von fehr befchränkten
Gaben, des Sertud Empiricus, ſich erhalten hätten,
weldye man zu der Zeit bewunderte, ald alle erträglide
oder fchwer verfländliche Werte des Alterthums für
Meifterwerke galten und als überdieß der Skepticismus
befonder® beliebt war, und welche nun Hegel und Baur
für den Gipfel der alten Weisheit, für ihr letztes und
höchſtes Product, für ihren Außerften Fortſchritt halten.
Zu den Behauptungen diefer Art hat nur Die vers
kehrte Anſicht führen können, daß in der Wilfenfchaft
das Leute immer bad Beſte ſeyn müßte. Aber wollten
wir dieſe Anficht auch gelten laffen — und ein gewiſſes
einfeitiged Recht dürfte fie wohl mit Beſchränkungen in
Anfpruch nehmen —, fo würde dennoch die daraus ge
zogene Beurtheilung bed Skepticismus für durchaus
partelifch gelten müflen. Denn man läßt dabei die philo⸗
fophifchen Erzeugniffe, welche dem Skepticismus gleid:
zeitig find, ganz unbeachtet. Man will Alles im einer
Spige fehen, was nur in einer Kläche verläuft. Gleich⸗
zeitig den Sfeptifern waren die Vorläufer der Neu⸗Pla⸗
toniter, unter welchen Rumenius faft Alles befaß, was
üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 39
fpäter dem Plotin zum Ruhme gerechnet wurde, Doc
darf ich Baur gegenüber mich wohl nicht auf biefe Män:
ner berufen; er wird fagen, wie bem Philen und ben
Keu » Dlatonitern hätten fih auch ihnen jübifche und
wohl gar chriſtliche Denkweiſen beigemifcht; nicht ganz
mit Unrecht, obwohl ich meine, daß bie neuen Erzeug⸗
niffe, welche ihre Lehre brachte, noch immer bem gries
hifchen Alterthume angehören. Doch um fireitiged Land
fo lange ald möglich zu vermeiden, berufe ich mich lies
ber anf den Stoiciömnd, welder vor und noch zwei
Jahrhunderte nach Chriſti Geburt die herrfchende Lehre
unter Griechen und Römern war, bie theologifchen Ideen
bed Heidenthums umgeftaltete, andı der fpäteru Zeit in
neuen Gedanken ſich anzupaflen wußte, zur Bertiefung
des Geiſtes in ſich antrieb,' dem fittlichen Bewußtſeyn,
fo wie eine allgemeinere Richtung, fo auch eine innigere
Färbung gab, Biel ſtärker haben diefe ftoifchen Lehren
auf die Borbereitung der Geifter für das Chriftenthum
eingewirkt, als der bürftige Skepticismus; überall bes
gegnet man ihnen, bei dem Philon, bei den Bnoflifern,
bei den Kirchenvätern bid auf ben Origenes herab und
ihn mit eingefchloffen, während über die fleptijchen Ge⸗
meinpläge bei allen diefen tiefes Schweigen ift.
Wenn man aber den Einfluß der Stoiter auf die
Vorbereitung für die chriftliche Dentweife in Betracht
sieht, fo ift es nicht allein eine negative, fondern auch.eine
pofltive Einwirkung, was uns entgegenteitt. Und eben
hierin beruht der Irrthum Baur's, daß er in der alten
Dhilofophie nur eine negative Vorbereitung finden will.
Aus feiner eigenen Auffaflungsweife fann man ihm dars
thun, daß nicht minder pofitive Erregungen in ihr
lagen.
Nicht mit Unrecht bemerkt er (S. 44.), baß Juden⸗
tbum und Heibenthum dem Particnlarismus huldigten
und erft das Chriftenthum, indem es zur Univerfalität
592 | Ritter
fi erhob, die abfointe Religion verbreitete, Aber es
hätte ihm hierbei einfallen follen, daß ſchon ber Steifer
‚ Zeuon in fosmopolitifcher Beflunung vom Particularis⸗
mund ſich lodfagte, auf die gleichmäßig waltende, gerechte
Herrſchaft eines Gottes über alle Völker dringend, und
daß auf ihn Philon uud Plutarch in derſelben Geſinnung
ſich fästen,
Wenn ferner Baur (5. 44.) fchildert, wie in der
alten Welt and dem Lintergange des äußeren Lebens,
aus der Bernidtung alles Rationalen und Individnellen,
and der ganzen ungöttlichen, unflttlichen und vechtlofen
Welt, wie fie bei Entftehnng ded Chriſtenthums gewefen
ſeyn fol, der Geift immer mehr fich in ſich zurückgezogen
babe, um burch biefe Berinnerlichung und Vertiefung in
ſich ſelbſt fich zu verjüngen, fo hätte er allerdings wohl
ben Skepticismus in feiner allgemeinften Bedeutung ale
ein Ergebniß jenes verzweifelten Zuſtandes betrachten
mögen, aber er hätte nicht vergeflen follen, daß bie por
fitive Seite dieſer Zurüdziehung in fi am ſtärkſten und
mit dem vollfien Bewußtſeyn von ben mweueren Gtoifern,
einem Muſonius, einem Epiktet, einem Marc Aurel, and
geſprochen worden ift.
Wie wenig aber jene Erflärungsweife aus der ne
gativen Richtung der Skeptiker genüge, wirb man erſt
recht gewahr, wenn man fragt, warum benn bie Ber:
sweiflung der alten Welt, welche Baur fchildert, einge,
treten fey. So völlig, wie er ed ausſpricht, war doch
nicht alles Gute und Schöne vernichtet, ale das Chriſten⸗
thum zum Troſte der Welt erfchien, ſondern in feinen
angeführten Säben ſind bie rebnerifchen Uebertreibun
gen nicht gu verkennen. Noch blühten Fünfte, Willen:
fchaften, Gemeinweſen; bas Privatrecht bildete fich erſt
jest recht gründlich aus; im Genuſſe biefer Dinge hätte
man ſich wohl bahinhalten könuen. Die Berzweiflung
entipringt weniger aus bem Mangel, ale aus dem Be
üb, d. Begriff u. b. Verlauf ber Hriftl. Philofophie. 393
wußtfeyn eines bringenben, unabweislichen Bedürfuiſſes,
weiches man nicht zu befriedigen weiß. Finden wir nun
bei den Skeptikern ein foldyed Bewußtſeyn auch nur mit
einiger Lebhaftigkeit ausgeſprochen? MWenigſtens beim
Sertus Empiricus regt fih davon nichts. Vielmehr
möchte er den Menfchen auf die dürftigkte praktiſche Be:
friedigung feiner finnlichen Beduͤrfuiſſe befchränten, ihn
überreden, damit zufrieden zu feyn, dag bie Erfcheinuns,
gen ihm erinnernde Zeichen darbieten, an welchen er
ſich halten Pünnte, um die Abhälfe der drohendften Uebel
zu finden. Dagegen zeigen unter ben Philofophen dieſer
Uebergangszeiten die Stoifer vornehmlich das Iebenbigfie
Bewußtfeyn der geiftigen Bebürfuiffe, deren Befriedigung
wir fuchen follen. Es ift ihr Ideal des Weifen, welches
fie aufregt, diefed Weiſen, in weldhem man nicht mit
Unrecht ein Borbild Ehrifii gefunden hat, wie es bie
Meffiasidee bei den Juden war. Sie möchten dieß. Ideal
verwirklichen , indem fie und an die Tiefen unſeres Geis
fled erinnern, an den Gott in und verweilen, welcher
über alle Schläge des Schickſals erhaben fey, in dem
Bewußtfenn nnd dem Rathe der Borfehung lebe, Ges
wiß, wenn feine Gehnfucht nach Ehriſto in der. Welt
gewefen wäre, würbe Ehriſtus nicht in die Welt gekom⸗
men feyn; aber eine Sehnſucht nad ihm bat auch bie
Heiden auf feine Ankunft vorbereitet.
Und nun find wir wieder bei dem Punkte angekom⸗
men, wo wir früher Baur's Behauptungen über die
Gottloſigkeit der alten Melt haben fallen laſſen. Wir begreis
fen es wohl, wie er die Meinung hegen kann, daß bie
alte Philofopbie zu der Idee Gottes ſich nicht erhoben
babe, wenn er ben höchften Gipfel ihrer Eutwidelung
im Skepticismus erblidt. Er überfieht ihre poſitiven
Ergebniſſe; nur anf das Negative, welches ihm die Bes
dingung des dialektiſchen Fortſchreitens iſt, richtet er
fein Auge, Sonſt würde er gefunden haben, daß dem
594 Bitter
%
heibnifchen Alterthume fo wie bie religiöfe Sehnſucht nad
dem wahren Gott, fo aud der Gedanke an ihn nicht
gefehlt habe, ja er würde noch mehr gefunden haben,
daß nämlich anch die Hoffnung und der Glaube auf und
an eine Offenbarung diefed Gottes in den Heiden vor;
handen waren uud baß dieſe Regungen des göttlichen
Triebes in der menfchlichen Seele nur immer lebendiger
geworben, wie im Judenthume, fo im Heidenthume, bie
fie ihre Befriedigung gefunden. Das ift der Funken der
Gottheit, der auch in der Finfterniß leuchtet, der Game
bed Adyos, ber osspouarındg Adyos, beffen Begriff die
Kiechenväter von den Stoikern entnahmen.
In der That völlig kann and Baur biefen Zumten
nicht verfennen. Er müht fich und winbet fich in dun⸗
Bein und gezwungenen Dhrafen, um die Behauptungen
der Schule, an welche er glaubt, gegen feine beſſere
Kenntniß der Thatfachen fiher zu fielen. Da läßt er
fih (©. 45 f.) folgendermaßen vernehmen: „In ber un
wittelbaren Einheit des Seyns und ded Denkens, des
Dbjectd nnd Subject, die man mit Recht ale bie
Unbefangenheit der griechiſchen Philofophie bezeichnet,
verhielt fie fidy and; zur Idee Gottes nodj völlig voraud:
feßungslod. Es war vor ihr ucch zu feiner ſolchen
Trennung des Subjeetd und Objects gelommen, daß die
dee Gottes dem Bewußtſeyn des Subjects gegenüber
dad fchledhthin gegebene Object feyn Fonnte Was für
bie chriſtliche Philoſophie das Erfte und unmittelbar Gr
gebene ift, lag für bie griechifche immer erft am Enbe
ihre Weges, wenn fie das Abfolute, auf das fie kam,
um aus ihm als ihrem hödhften Principe die Einheit dei
Denkens und des Seyns zu begreifen, nur ale Gott
präbiciren konnte und ihm dadurch auch eine Beziehung
anf das religiöfe Bewußtſeyn geben mußte.” Da erfahr
sen wir denn zuleßt doch, daß wenigfiens am Ende ih-
res Weges die griechifche Philofophie zur Idee Gottes
N
üb. d. Begriff u. d. Verlauf det chriftl. Philofophie. 595
fam oder, wie bieß bier ausgebrädt wird, das Abfor
Inte als Bott begreifen founte and nicht, wie es früher
fhien, ganz ohne den höchften Bott blieb. Zmweibeutig
aber bleibt ed in diefer Ansfage, ob hier von ber gries
chiſchen Philofophie Überhaupt oder von ben einzelnen
Syfiemen berfelben die Rede iſt. Jenes anzunehmen,
ſcheint gwar bie ganze Haltung ber Stelle zu rathen,
weil fie von der gefchichtlichen Entwidelung der griechis
hen Philofophie handelt; aber das eingefchobene Immer
fheint doch eine mehrmalige Wiederholung deflelben Pro⸗
cefled vorauszufegen unb daher für die zweite Annahme
u ſtimmen, und überdieß, wenn das Erfte gelten follte,
mußte da Baur feine Behauptung, daß der Skepticismus
das Ende der griechiſchen Philoſophie ſey, wicht wieder
vergeflen haben? Jedoch welcher Annahme wir auch fols
gen mögen, richtiger find dieſe Säge wohl, als die vor,
ber befprochene Behauptung, baß die griedifche Philoſo⸗
phie zur Idee eines oberiten Gottes ſich gar nicht erho⸗
ben hätte, aber falfch find fie doch. Falfch iſt jene Meis
nung, um zuerſt die erſte Auslegung zu berückſichtigen,
von der linbefangenheit ber griechifchen Philofophie, in
weldher von der unmittelbaren Einheit des Seyns und
bed Denkens andgegangen worden fey, ohne Bruch bes
Enbjectd und des DObjertd, wie fie denn auch fogleidh
von Baur felbft befchräuft werden muß, indem er zwar
einen Bruch beider angibt, aber doch keinen folchen
Bruch, daß bie Idee Gottes dem Bewußtſeyn bed Sub⸗
iectd gegenüber das fehlechthin gegebene Object hätte feyn
können, eine Befchräntung, welde doch nicht ausreicht,
weil, wie die Skeptiker richtig bemerkt haben, Elemente des
Zweifeld durch bie ganze griechifche Dhilofophie hins
durchgehen. Falſch if nicht minder die Meinung, daß die
griechifche Philoſophie zur Idee Gottes noch völlig vors
ausſetzungslos fich verhalten habe. Davon kann Baur
fih Überzeugen, wenn er die Proceffe Über den Atheis⸗
396 Ritter
mus der Philoſophen, wenn er bie Lehren bes Thales,
ber Pythagoreer, des Herallit, ded Empebofles und wie
vielen Anderer! überbenten, wenn er die Stellen des
Ariſtoteles nachfehen wi, welche die philsſophiſchen Un⸗
terfuchungen bis anf die alten Theologen und Poeten
surädführen. Er wird ans allen diefen Dingen, welde
viel unummwundener ſich ausfprechen, als feine zweiden⸗
tigen Süße, abnehmen können, Daß ed nie eine Philo⸗
fophie gegeben bat, welche nicht mit theslogifchen Bor
ansſetzungen zu fchaffen gehabt hätte. Gollte das ber
Vorzug der hriftlichen Philoſophie feyn, was ſchen in
den indifchen Lehren deutlich genug vorliegt? Raum mag
ih unn noch Worte darum machen, daß die Behauptuns
Banr’s and im Sinne der zweiten Auslegung falfch ſeyn
würde. Denn wenn, wie gezeigt, die griedpifchen sicht
anders als bie chriftlichen Philofophen von theologiſchen
Boransfepungen ausgingen, fo hätten nur methobiice
Nädfichten fie dazu beſtimmen können, wenn fie immer
erft am Ende ihred Weges den Begriff Gottes aufge
wiefen hätten; im Berborgenen würde er doch allem id»
ven Philofophiren zum GOrnnde gelegen haben. Doch auch
diefe Annahme IR unbegründet. Denn bie. Anorbuung
der griedhifchen Syſteme, welche von ber kLogik zur Phy:
ft und Ethik fortfchritten‘, ‚geftattet es nicht, ben Ges
banken Gottes zu Ende ihrer Lchren zu fegen, ba er
vielmehr in der Logik oder in der Phyſik feine Stelle ſin⸗
den mußte.
Das Bisherige wird hinlänglich gegeigt haben, wir
wenig die Yielbentigen Aeunßerungen Baur's das Richtige
treffen. Was an ihre Stelle zu ſetzen märe und wie
Baur's Meinungen zur Wahrheit ſich verhalten, wollen
wir noch kurz anzudeuten verfuchen. Weit gefehlt, dap in
der alten Philofophie, welche der, alten Dentweife nur
entfprehen fonnte, fein Bruch des Gubjectd mit dem
Dbjecte Rattgefunden hätte, war berfsibe vielmehr ſchon
üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philofophie. 307
im graneften Alterthume gefchehen unb von Anfang au
in dee Philoſophie vorhanden und um fo fchärfer mußte
er in ihr fi amsbräden, je mehr ihr die Verſoͤhnung
bed Menfchen mit Bott und der Weir fehlte, und biefe
ſollte ext das Ehriſtenthum bringen. Mit Gott und ber
Welt fage ich, weil, ohme mit Bott ſich zu verfähnen,
der Menfch mit ber Welt nimmermebr einig werden kann.
In ihren Grfcheinungen herrfcht nmerbittlicher Streit,
auf ihren tiefien Grand muß man zurädgehen, wenn
man wit ihr in Frieden leben will. Wer aber mit Bott
verſoͤhnt if, wird anch mit feinen Werken zufrieden
ſeyn und wit der Welt, fogar wenn fie ihn anfeindet,
in Frieden leben. Daher konnte erſt in der chriftlichen
Philsſophie eine verfähnende Anſicht von allen weltlichen
und göttlichen Dingen fi anebilben und ſelbſt in ihr
konnte fie nicht fogleich in ficherer, ausgebildeter Geſtalt
hervortreten, weil bie Anfichten ber alten Wiſſenſchaft
noch lauge nach der Berbreitung bed Chriſtenthums anf.
die wißfenfchaftlihe Denkweiſe ber Zeiten einen leitens
den Einfluß ansübten. In ber alten Philoſophie dage⸗
gen war wohl eine Ahndung, aber doch wech nicht eins,
mal eine Hoffunug des Friedens, viel weniger ein zu⸗
verfidktlicher Glanbe an bie Verſöhnung ber in der Welt
Rreitenden Gegenſaͤtze. Jene Ahndung des Friedens jes
doch muß man als ein wmefentliched Element ber alten
Dentweife und ihrer Philoſophie anerkennen, weil auf
ihr die Vorbereitung der Heiden auf das Chriſtenthum
und ihre Empfänglickleit für bafjelbe beruht. In ihr bes
wies ſich chen, daß im Gotzendienſte der göttliche Fun⸗
In im Dienfchen nur vwerfchättet, nicht erſtickt, nicht völs
lig unwirkfam, vielmehr bemüht war, feine Umhüllung
ju durchbrechen. Denn bie Gnade Gottes iſt auch im
den Heiden noch lebendig. Die Arbeit des Geiſtes, weis
her die Banden ded Heidenthums zu Durchbrechen bes
mähs iſt, bewies fich nun eben in den Zeiten am maͤch⸗
598 ‘ Ritter
tigſten, welche ber Vorbereitung des Ehriſtenthums vor:
hergeben. Das find Zeiten des Uebergangs, in. welchen
wenig Glängendes oder aucd nur Abgerundeted voll⸗
bradıt wurde, troß ihrer nicht unfenchtbaren Uirbeit, in
welchen bagegen die Klage über die Uebel ber Welt al,
gemein und bitter war. Da fommt der menfchliche Geik
oft zum Spotte Über Ach ſelbſt, ja nahe an die Ber
zweiflung, und ein Zug ber Entfagung auf das Bee,
- welche man als den Zwed der Bernunft erfennt, aber
doc, nicht zu hoffen wagt, ift über diefe Zeiten verbreis
tet. Auch der Steptieiömug, in welchem Banr den Brad
erft gefchehen läßt, anftatt zu ſagen, er habe ihn nur ohne
Hoffnung auf Berföhnung und ohne Ahndung des Be
dürfniffes einer folchen ausgefprochen, iR ein Zengniß
dieſer Zeiten, Baur durfte ihm ald einem ſolchen feine
Bedeutung fichern , aber er mußte beßwegen nicht in bie
Irrthümer verfallen, welde er über ihn andfprict.
Diefe find hauptfächlih doppelter Art. Auf ber einen
Seite beruhen fie darauf, daß Baur den Bruch zwifchen
Denfen und Object bed Denkens, d. b. zwifchen dem
Menfchen und der Welt, weldher durch die ganze alte
Philoſophie hindurchging, erfi im Skepticismns fich voll:
ziehen läßt; auf der anderen Seite haben fie ihren Grund
darin, daß er nur eine negative Vorbereitung auf dad
Chriſtenthum in der heidnifchen Philoſophie anerkennen
will, weil fie nur im Skepticismus liege.
Man wird hieraus ermefien Tönnen, wie wenig bie
Anſicht, welche Baur von ber alten Philofophie hat,
bad Verhältnig derfelben zum Ghriftenthume zu beim
men geeignet ift, und eben dadurch uuß ihm auch ein
bedeutended Moment zur Schäbung bed Ehriftenthumd
in feinem Berhältuiffe zur frühern Zeit entgehen. Der
Bruch, von welchem wir reben, ift von Banr nicht gamj
erichöpfend bezeichnet worden. Er kann im Allgemeinen
als der Grund der Dentweife angefehen werden‘, welde
üb, d. Begriff u. d. Verlauf d. chriftl. Philofophie. 599
wir Dualidmns nennen. Dualismus aber im weiteften
Sinne des Wortes geht durch die ganze alterthümliche
Borftellungsweife hindurch; felbft im Judenthume findet
er fih, nur nicht in theoretifcher,, fondern iu praßtifcher
Richtung ausgebildet; denn der Particularismus, von
welchem ſchon oben die Rede war, ſetzt praktiſchen Duas
lismus voraus; bei den Inden iſt der Begenfag zwiſchen
dem Bolle Bette und den Heiden der Ausdruck biefes
Dualismus. Wenn nun in der parfifchen Religion die
Spitze des Dualismus zu fehen if, fo muß man bagegen
anerfennen, daß der Polytheismus der Griechen. ſchon
eine mildere Form defjelben darftellt, weil bie Spannung
des Gegenſatzes fih fhwächt, fo wie er über mehrere
Glieder vertheilt wird. Auf eine foldhe Milderung , ja
auf Ueberwindung deſſelben ging auch die griechifche
Wiffenfhaft aus. Denn der Wilfenfchaft ift ja über-
haupt dad Dringen auf Einheit natürlich, und fo ift
auch die griechifche Philofophie ſogleich auf Monotheis⸗
mus gerichtet. Nur ift dabei ein dualiftifche® Ueberbleib⸗
ſel, welches von der griechiſchen Philofophie nicht Übers
wunben werden kann, obgleich fie in einem fortfchreitens
den Beftreben if, ed möglichſt zu befeitigen. Dieß fehen
wir befonders an ben Lehren der Alten von ber Materie.
Wir müſſen bei der Beurtheilung derfelden Davon aus⸗
gehen, daß der Gedanke, weicher dem materialiftifchen
Dualismus der Griechen zum Grunde liegt, eine Befeitis
gung der Härten des urfpränglichen Dualismus anfirebt.
Deun wenn diefer einen Kampf entgegengefeßter Prin⸗
tipien feßt, fo fpricht er die volle Gewalt der Entzweis
ung aus; diefe aber war fchon gebrochen, als bie künſt⸗
lerifhe Seele der Griechen den Gegenſatz unter den
Prineipien fo auffaßte, daß auf die. eine Seite die Fünfts
lerifch bildende Kraft des Geiftes, auf die andere Seite
nur noch eine leidende Materie zu fichen fam. Hier bas
ben wir eben bad, was Baur fordert, daß se Geiſt als
Theol. Stud. Jabrs. 1847,
600 Ritter
das herrſchende Princip ſich erweiſen ſoll, und wir ſehen
dewilich, daß die griechiſche Philoſophie fortſchreitend
dahin ſtrebte, Dem Geiſte mehr uud mehr die Herrfſchaft
zu gewinnen: Wenn auf dem Wege ber äfthetifchen An⸗
ficht der Dinge, welcher die Griechen vorherrfchend zu-
gewendet waren, die endliche Berföhuung ber Begeufäbe
häatte gewonnen werden können, fo würden fie bie GSrie⸗
den wohl gewonnen haben. Denn immer höher flrigert
fih ihr Ideal eined künſtleriſch dildenden Geiſtes, immer
tiefer ſinkt ihnen die Macht ber Materie herab. Hierin
haben Platon und Ariſtoteles das Wichtigſte gethan, in⸗
dem fie die Materie aller Qualität entlleideren,, fo daß
fie ganz der bildenden Gewalt bed Geiſtes unterwer
fen werden konnte. ie drangen dabei bid zu bem Ge,
danken vor, dab bie Materie nur das Nicht⸗Seyende
fey; d. 4. nur em Princip blieb ihnen in Wahrheit übrig,
das andere Prineip, welches die Wrühern und bie ger
meine Borftelung: vorausgeſetzt hatten, verſchwand ihnen
: anter den Händen, indem fie meinten, Daß ed mir bie
negative Seite an dem Werte Bottes, an dem Ban
des Weltalls, in weichem er feinen kuünſtleriſchen Geil
verfünder habe, bedeuten konate und dürfte. Die Gpw
ren des Dnalismus merkt man biefer Lehre freiticd in
ihrer Form noch at; vom Dualismus if fie hergelom
men, daher ſetzt fie ſcheinbar zwei Principien; wem fl
aber erfiänt, dad eine fey nur das Nichts Geyende, die
Beraubung an den weltlichen Dingen, fo könnte man
wohl glauben, der Inhalt der Lehre habe dieſe Form
&bermältigt und die duagaliſtiſchen Meile zu eines bloßen
Sache der Darfielung gemacht. ber fo iſt es bed
nicht völlig. Wenn die Meinung berrfcht, die Werke
Gottes müßten eine -Beraubung in ihrer materiellen Ro
tur an ſich tragen, als Werke der Kunſt müßten fie doch
unter dem Künftler bleiben, fie fländen daher unte
einer deſchränkenden Nothwendigkeit, welche ihre Bol:
üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. hriftl. Philofophie. 601
kommenheit nicht zuließe, fo wird man hierin nodı eine
Nachwirkung des Dualismus erfennen müſſen, wie felten
man auch dieſe Erfcheinungen in ihrem rechten Lichte
erblit haben mag. Beim Platon find die Gedanken in
Diefer Richtung noch fo mächtig, daß er, ihnen nachgehenb,
nnter den weltlichen Dingen bie nieberen Grabe bee
materiellen Daſeyns für unwürdig erllärt, unmittelbar
aus der Hand des göttlichen Künftlerd hervorzugehen,
und daher ihren Urfprung auf bie gewordenen Götter,
die Seelen der Geſtirne, zurückzuführen für nöthig hält.
In ähnlicher Weiſe drückt fich dieſer duakiftifche Gedanke
beim Ariftoteled aus, wenn er die unregelmäßige Bewe⸗
gung unter dem Monde nicht unmittelbar vom Bewegen
ded Himmels, fonbern von den allmählid, zum lnvolls
fommneren herabfleigenden Himmelöfphären ableitet. Was
nun noch die Stoifer betrifft, fo Tanı man es ihnen
nachrühmen, daß fie die dualiſtiſche Form der Lehre übers
wanden md, ohne die Kortichritte der fofratifchen Schule
aufsugeben, doch zu der monetheiftifchen Lehrweiſe zu⸗
rückkehrten, welche fchon beim Beginne ber’ griechifchen
Dhilofophte aus dem Polytheiomus heraus fich zu bilden
gefucht Hatte. Doch gewannen fie ben: Gieg fiber die
dbualiftifche Form nur dadurch, daß fla. Die Materie in
Bott ſelbſt verlegten und fie ald deu Lebenskeim im ſei⸗
nem künſtleriſchen Gelfte betrachteten, welcher ihn aus
fih felbft neue und neue Welten‘ zu bilden antriebe,
Daß diefe Lehre nun dennoch ein dualiſtiſches Uebetbleib⸗
ſel im fi bewahrte, fann um fo weniger verfannt wer:
den, je gewöhnlicher fie bei Alten und bei Neueren für
baaren Dualidmnd gehalten worden if. Daher entſprach
auch die Form ihrer Lehre nicht ihrem Inhalte, und man
mag hierin einen der Gründe finden, weßwegen fle bem
Skepticismus, welcher fich neben ihre in verfchiebenen
Formen ausbildete, eine reiche Nahrung gab. NIE diefe
verneinende Seite am den pofltiven Lehren der alten
41*
602 Ritter
Philoſophie begeichnend, haben wir ihn anzuerkennen;
den Bruch aber zwiſchen Menſchen und Welt, welder
in der alten Zeit berrfcht, faßt ee nur oberflächlich,
faft nur von theoretifcher Seite, und ift weit entfernt von
der Ahndung, daß eine Leberwinbung deſſelben durch
dad Streben der Bernunft nach ihrer Vollendung uns
gebeten feyn könnte,
— —
II. Entwickelungsgang der chriſtlichen Philoſophie.
Da wir, Baur und ih, Philoſophie der Alten und
Shriftenthum in ihrem Berhältniffe zu einander fehr vers
fihieden benrtheilen, fo iR es nicht zu verwunbern, daß
unfere Anfichten über den Berlauf ber chriſtlichen Philo⸗
ſophie fehr von einander abweichen. Um nicht zu weit,
läufig zu werben, kann ich nur einige Hauptpunkte her
vorbheben,
Drei Hauptperioden habe ich umterfchieben, Die
erſte, welche Patriſtik und Schsolaſtik umfaßt, hat rine
vorherrſchend theologiſche, die andere von der Wieder⸗
herſtellung der Wiſſenſchaften bis auf Kant eine vorherr⸗
ſchend weltliche Richtung; von der dritten, welche in
unſerer neueſten beutfchen Philoſophie ihren Sitz hat,
meine ich aunehmen zu dürfen, daß fie darauf ausgeht,
die einſeitigen Richtungen Ber —— erſten Perioden
aus zugleichen.
Davon bin ih nun freikich weit entferat, meine Uns
fiht über die dritte Periode als eine ummſtößliche be
baupten zu wollen, Ich babe es nicht verſchwiegen,
baß mir jedes allgemeine Urtheil Über eine Zeit, in deren
Neigungen und Abneigungen wir noch verflodgten find,
unficher und yarteiifch erfcheine. Aber ich weiß nicht,
wie ich verfchulder haben möge, daß Baur mir vorwirit,
nach meiner Anficht folge nur Einfeitigkeit auf Einſeitig⸗
keit, weil ed nun einmal fa fey, daß die eine Zeit dem Ue⸗
üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. chriſtl. Philofophie. 603
berfchwenglichen der Theologie ſich zuwende, die andere
lieber mit Phyſik und Ethik ſich befchäftige und an das
MWeltliche halte, und wenn ed auch endlich zu einer Aus;
gleihung der Einfeitigfeiten komme, man doch nicht eins
fehe, . wie dieß anders gefchehen könne, ala fo, daß
jest zwei Einfeitigkeiten neben einander wären und burdy
ihren Gegenfaß fich gegenfeitig befchränften (S. 72.)
Wo habe ich dergleichen von der dritten Periode behaup⸗
tet? In meinen kurzen Audfagen über fie Liegt vielmehr
das Begentheil, Aber Baur hat fie entweder nicht verftchen
wollen oder nicht verftehen können. Sogar von der zweiten
Periode habe ich im Allgemeinen zugeftanden, daß fie weniger
einfeitig die weltliche Richtung in den Wiffenfchaften vertrete,
als die erfte die theologiſche; alfo muß ich wohl eine allmäh⸗
lihe Ausgleichung der einfeitigen Richtungen annehmen.
Daß fie nicht eflektifch fey, fondern unter einem Prins
cipe ſich vollziehe, hätte ich das hinzufegen follen ?
Schr erbaulich führt mir nun Baur zu Gewiſſen,
ein Gefchichtfchreiber follte nicht tadeln und alfo auch die
Einfeitigfeiten nicht rügen, die ja freilich überall vorhan⸗
den feyn möchten (S. 11.). Noch dankbarer aber würde
ic ihm für diefe Zurechtweifung feyn, wenn er mir zu⸗
gleich durch fein Beifpiel gezeigt hätte, wie man Einſei⸗
tigfeiten , ohne fle zu tadeln, als das bezeichnen Fönnte,
was fie find. Aber wenn ich fehe, wie er in feinen Ab»
handinngen, welche doch neben ihrer kritiſchen auch eine
biftorifche Abſicht haben, ſich nicht enthalten kann, über
patriftifche und fcholaftifhe Philofophie recht derb ta⸗
deind fich audzulaffen, wie er ihnen Unfreiheit, geiftlofen
Formalismus, die unfruchtbare Arbeit der Penelope,
Geiftlofigkeit vorwirft, eine dürre Sandwüſte in ihnen
findet, wie er behauptet, man müffe noch immer diefelbe
Meinung von der fcholaftifchen Philofophie gegenwärtig
haben, welhe man von ihr faßte, ald man in Pos
lemif über fie hinwegkam (S. 183,), fo muß ich wohl
\
604 Ritter
bemerten, daß ihm tabeln leichter wird, als befler mas
hen. Wir wollen uns über unfere Schwächen mit eins
ander gemeinfam tröften und auf einen Dritten hoffen,
welchem es befler gelingt, als und beiden, auf bie par
teilofe Höhe des Geſchichtſchreibers fich emporzuſchwin⸗
gen. Oder follte es nicht mit diefer Höhe eine eigene
Bewandtniß baden? Wie ed doch fo ſeltſam ift mit ben
Gemeinplaͤtzen, weldye alle Welt im Munde führt und
die Wenigſten recht verftehen. Der Geſchichtſchreiber fol
fein Urtheil nicht einmifchen; aus den Thatfadhen fol «6
hervorgehen, von felbft fol es die Ergebniffe an dad
Licht bringen. Dieß ift feine Kunft, hinter den Gegen
fänden, welche er darſtellt, ſich ſelbſt verfchwinden zu
Iaffen. Er hat fie zu üben, damit er nicht beftändig den
Zufammenbang feiner Geſchichte unterbreche und von den
alten Zeiten auf feine neue Perfon verweife. Aber wird
fein Urtheil dadurch ausgeſchloſſen? Ohne ein folches
würde er nicht im Stande feyn, Wichtiged hervorzuhe⸗
ben, minder Wichtiges zurücktreten zu laffen, Unwich⸗
tiged gu verfchweigen. Nicht einmal die Thatſachen
würde er ald das bezeichnen Förinen, was fie find. Wenn
er nun fo überall bei feiner Geſchichte fein Urtheil im
Stillen hegen muß, follte es da ein großes Verbrechen
feyn, weun er ed aud einmal lant auefpricht? Ein Ber:
brechen vielleicht für feine Kunſt, für feine Wiſſenſchaft
aber nicht. Und auch nicht immer für feine Kunſt. Es
gibt Wendepuntte in der Gefchichte, weiche und unfer
Urtheil gleichſam abnöthigen, bei welchen ed wie una
türlihe Theilnahmloſigkeit erfcheinen würde, wenn es
nicht herporbräde. Nun will ich nicht behaupten, daß
ich in allen Zählen, wo ich mein Urtheil eingemifcht habe,
ed nadı den Regeln der Kunft rechtfertigen fönnte. Aber
gerade da, wo Baur meinen tadelnden Urtheilen nad»
gegangen ift, glaube ich fie am leichteften rechtfertigen
zu können, in den Ueberſichten nämlich, welche ich mei⸗
üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. chrifll. Philofophie. 605
ner Gefchichte vorangefchicht habe. Im Verlaufe ber Ger
ſchichte werdeu fie freilich auch micht fehlen; aber auch
bierin dürfte wohl der Gefchichte der Wiſſenſchaften ein
andered Maß zu geflatten ſeyn, ald manchen anderen
Arten der Geſchichte; dach habe ich im Gange der Er⸗
sählung ſelbſt dahin geſtrebt, meiſtens, wo es ohne zu
große Weitlänfigkeit gefchehen konnte, dad Urtheil aus
den Thatſachen felbft heroorgehen zu laſſen. Dagegen
mit den Weberfidhten über den allgemeinen Verkauf ber
Geſchichte if ed ein Anderes, Im ihnen darf man nicht
unterlaffen,, aus den Hauptzägen im Gange der Entwis
delung Stärten und Schwächen im Charakter der Zeiten
herooszuheben und fo Lob und Zabel zu geben; denn
nur anf diefe Weile fann man zeigen, wo und worin
die Wendepuntte der Geſchichte liegen. Die Rothwendig-
feit hiervon fühlt ein Jeder, welcher mit allgemeinem
Blicke die Befchichte der Menfchheit zu umſpannen fucht;
gegen fie werden die Gemeinplätze, welche Baur gegen
das Urtheil des Gefchichtfchreibere aufruft, ſchwerlich
irgend eine Kraft beweifen können.
Sonderbar, ic) muß Baur’d Methode gegen Baur
ſelbſt vertheidigen. Denn fo wie er fordert, daß Die
Gefchichte der Philofophie nur auf das Allgemeine ger
richtet ſeyn follte, hat er es eben auf eine Gefchichte ber
Philofophie nur in großen Leberfichten, gleichſam im
Lapidarſtyle abgefehen. Dergleichen wird. ſich aber nur
durch ein ſtark hervortretended Urtheil des Geſchicht⸗
ſchreibers ausführen Laflen, welches wie mit einem Fe⸗
derfiriche der Genfur alle minder bedeutenden Lehrweiſen
befeitige und nur dem Allerwicdhtigfien eine Gtelle in der
Gefchichte verſtattet. Liege darin kein Tadel? Sollte
Baur nicht wiſſen, was die Eonftruction der Gefchichte
bebentet, nämlich eine Beurtheilung derfelben vom Stand
punfte bed Gefchichtfchreiberd, und daß Pie negatine
Seite, weiche Hegel und Baur für beu Kortfchritt in der
606 . Ritter
Philoſophie fordern, einen Tadel im fich ſchließt? Es
it, als hätte Baur meine eigenen Grundſätze, welde
dei der Eharakterifirung der beiden erflen Perioden in
der Gefchichte der chriftlihen Philofophie zur Anwen
dung gefommen find, ausdräden wollen, wenn er
(S. 114.) fagt, ed ſey der natürliche Gang des denken⸗
den Bewußtſeyns, daß es von der einen Seite auf die
andere getrieben werde, fobald ed einmal angefangen
hätte, feiner Einfeitigkeit inne zu werden.
Es wird fih Banr hierbei wieder über die Biber:
fprüche in weinen Behauptungen wundern. Gegen
die Conftruction in der Geſchichte hade ich manches
Wort verloren und nun billige ich fie doch, Ich denke
aber, das Eine thun und das Andere nicht Laffen. Die
Vergangenheit können wir nur aus unferem gegenwärt-
gen Standpunkte begreifen, und das will die Conſtruction
der Gefchichte; aber die Gegenwart Föunen wir audı
nur aus der Vergangenheit begreifen, und daͤzu gehört
mehr ald Conftruction der Geſchichte.
Daß aber meine Eintheilung der Sefchichte der chrifl:
lichen Philofophie aus dem Standpunkte, welchen mei
nem Urtheile nach gegenwärtig die Philofophie einnimmt,
heroorgegangen ift, habe ich auch nicht verfchwiegen.
Nur verwechsle ich dieſen Standpunkt nicht mit ber
Lehre einer der Schulen, welche ſich fo eben bie Herr
fchaft fireitig machen, Um fo verbädhtiger wird mein Urtheil
ben Anhängern diefer Schulen ſeyn und beſonders folchen,
weiche nad Baur’d Urtheil meine, Kenntniß der neuefen
Philoſophie abfchägen.
Gh muß etwas weiter auöholen, um die Verſchieden⸗
heit feiner und meiner Meinungen über diefen Punkt in
das rechte Licht zu feßen.
Selbfl denen, welche nicht eben ſehr fcharfficktig un
fere Zeit zu muftern pflegen, bat es nicht entgehen kön⸗
nen, wie allmählich die religiöfen Beweggründe mit wach⸗
üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. chriftl. Philofophie. 607
fender Macht um ſich gegriffen haben. Rur über den
Anfang bdiefer Bewegungen kann Berfchiebenheit ber
Meinungen berrfchen. @inige find geneigt geweſen, ih⸗
ren Grund in der Zuchteuthe der franzöftfhen Revolus
tion oder, wenn von und Dentfchen befonders bie Rede
it, in dem Auffchwunge unferes voltöthümlichen Lebens
nach unfern großen Niederlagen zu fuchen; noch Andere,
weihen alled Heil aus der Speculation zu fommen
fheint, haben geineint, erft bie neuere Pbilofophie,
weiche fie anf Hegel oder Schelling zurädführen,, hätte
diefe Wirkung hervorgebracht. Ihnen gehört allem Aus
[heine nach Baur an. Mir dagegen, wenn id mich auf
unfere deutfchen Zuftände beſchränke, fcheint es, ale
müßte man bie religiöfen Bewegungen etwas weiter zus
rück verfolgen. Wenn ich mir den Berlauf unferer Littes
ratur vergegenmwärtige, fo finde ich neben dem äfthetifchen
Intereſſe, welches ihn leitete, auch ein religidfes fehr
lebhaft vertreten. Um nur an einige Männer, bie
es zu erfennen gaben, und zwar in fehr verfchiebener Art,
bier zu erinnern, nenne ich Leffing, Hamann, Herder,
3. H. Jacobi. Sollte unfere Bhilofophie, die nur ein
Theil unferer Litteratur ift, nicht auch hieran ihren Ans
theil gehabt haben? ch glaube zu bemerken, daß es in
einem höhern Grade der Kal gemefen ik, als man auf
den erften Anblick vermuthen möchte. In biefer Meinung
habe ich geltend zu machen gefncdt, daß von ben Zeiten
Kant's an und vorzüglich durch fein Bemühen die Phi:
Iofophie wieder eine mehr theologifche Richtung genom⸗
men habe, indem Kant das Berdienft in Anfpruch neh⸗
men dürfe, den Blick Über dad Gebiet der Erfahrung
und Erfheinung hinausgetragen und auf das Tranfcen,
dentale gerichtet zu haben.
Segen diefe meine Anſicht fann nun Baur feinen
Unwillen nicht laut genug zu erkennen geben. „Mau
traut,” fagt er (S. 70.), „feinen Augen kaum, wenn man
608 Ritter
eisen Gehrer und Geſchicheſchreiber der Philoſophie über
die kantiſche Philofophie ſolche Behauptungen aufkellen
fieht, an deren Stelle das gerade Begeutheil zu ſetzen
il. Der Urheber der Eritifchen Philofophie fol den Blid
über die Erfahrung hinaus erhoben haben, er, ber alles
Wien der theoretifchen Veruunft auf die Erfahrung be⸗
fchräntt wien wollte, berfelbe foll der Korfchung wieder
eine theologifche Richtung. gegeben haben, er, ber alk
Religion und Theologie in Moral umſetzte, das Daſeyn
Gottes zu einem bloßen Poftulate der praktifchen Ber
munft machte, deflen natürliche Conſequenz ber fichte'ſche
Atheismus war ?”
Baur fügt diefen Worten noch die Bemerkung bei,
daß ich wohl mit gutem Grunde es ablehnte, meine Ge⸗
fchichte der Philofophie bis auf die neueften Zeiten fort:
sufenen. Wenn num auch ‚diefer Zuſatz wur eine unge
nane Erklärung meiner Aeußerungen über biefen Punft
enthält, fo beflärkt er und was ihm vorhergeht mid
dach nur in meiner Meinung, daß eine beurtheilende Ge⸗
ſchichte der philofophifehen Bewegungen, in welchen wir
noch fämpfen, ein Unternehmen mebr der Noch ald eine
freudigen Befonnenbeit und im beſten Falle mehr ber
Polemik als der wiflenfchaftlichen Kritik angehört. Deun
es ift eben der Eifer des Streites, welcher meiner Bei:
nung nach es unmöglich macht, eine reine Geſchichte bier
fer Bewegungen au geben, weil wir weder Freund nod
Feind unpartelifch zu beurtheilen vermögen, und Partei
Schriften geben Feine Geſchichte. Kaum aber hätte ic
mir gedacht, daß die Feindfchaften, welche ja freilich
oft und leibenfhaftlich genug unfere beutfchen Philoſe⸗
phen entzweit haben, noch gegenwärtig fo Karte Epuren
eined gehäffigeu Urtheild zurückgelaſſen hätten, wie fe
bier in Baur’ Bemerkungen gegen Kaut's und Fichte's
Philoſophie vorliegen. Kaum kaun man fagen, daß ee
hier nur um die Beurtheilung philoſophiſcher Gedanken
fi) handle, vielmehr bie Thatfachen ſelbſt werden entſtelll.
üb. d. Begriff u. d. Berlauf d. chriſtl. Philofophie. 609
Mit welcher Stira wagt man wohl heute noch uns
das Mährchen vom fichte’fchen Atheismus anfzuwärmen ?
Bor nun fait einem halben Jahrhunderte mochte ed wohl
aufgeregten Theologen, weldye den Zufammenhang der
fichte'ſchen Lehre nicht durchdrungen hatten, nöthig fcheis
nen, das Anathem über ben jemaifchen Neuerer zu
rufen ; aber ſollte es jeßt noch verzeihlich fcheinen, berglei:
hen Unmwahrheiten nachzufprechen, nachdem der Sinn
der Wiſſenſchaftslehre Jängft Fein Geheimniß mehr iſt?
Freilich bat Fichte Bott die moralifhe Weltordnung
genannt; aber fein Berfuch, das Publicum zum Berfländ»
niffe zu zwingen, muß wohl an fo hartnädigen Gegnern,
wie Baur if, gefcheitert feyn, wenn fie feine deutliche
Unterfcheidung zwiſchen ordo ordinatus und ordo ordi-
nens nicht haben begreifen koͤnnen.
Wir können und darüber nicht mehr wundern, wenn
wir das noch viel größere Wunder fich begeben fehen,
daß auch die fantifche Lehre in dieſelbe Verdammniß dee
Atheismus verwidelt wird, weil fie confequenterweife
anf Die fichtefche Lehre führe. Die alles möchte wohl
ein befonnener Korfcher, welcher die wefentlichen Unter,
fhiede beider Syſteme bedenft, nur mit Erſtaunen dar⸗
über hören, wie weit die Lehre von der nothwendigen
Evolution Der phbilsfophifchen Syſteme aus einander
derbienden könne.
Die Berwunderung über den kantifchen Atheismus
wird nur badurdh etwas gemildert, daß Baur doch wer
nigſtens die Gründe einigermaßen durchfehen läßt, wars
um ihm die Lehre Kant's über Bott wie Atheismus ex,
ſcheinen will, Iſt es nicht ein Frevel, daß Kaut der
theoretifchen Bernunft fo wenig, der praftifchen Vernunft
fo viel vertraute? Einem ſolchen Menfchen, „der alles
Wiſſen der theoretifchen Bernunft auf die Erfahrung bes
Ihränft wiffen wollte,” darf man nicht zugeſtehen, „den
Blick über bie Erfahrung hinaus erhoben zu haben;”
610 Ritter
„er, der ale Religion und Theologie in Moral nmfebte,
das Dafeyn Botted zu einem bloßen Poftulat der prakt:
tifchen Vernunft machte,” darf nicht „der Korfchung
wieder eine theologifche Richtung gegeben haben. ”
Aber find denn alle diefe Folgerungen Banr’s nur
einigermaßen haltbar? Man braucht nicht eben ein Ber
ehrer des Poſtulats der praftifhen Vernunft zu ſeyn,
um in demfelben doch einen Haltpunkt zu entdecken, welcher
Kant's Lehre gegen alle die angeführten Vorwürfe Baur’e
fichert, Freilich ift ed ein ſchiefer Ausdruck Kant's, der praltis
fchen Bernunft Erkenntniffe verdanken zu wollen, welche
doch nur durch Die theoretifche Vernunft in ihrer Unter
fuchung ber ypraftifchen gewonnen werden Tönnen; aber
auf folhe Mängel in der Darfiellung der Gedanten
dürfen wir nicht zu großes Gewicht legen, am wenigſten
Baur, deffen fchiefe Audlegungen noch bei MWeitem die
unbeholfenen Wendungen ded königsberger Weilen
überbieten. Wenn Kant in feiner Kritik Der reinen
Bernunft den ffeptifchen Standpunkt fo lange als mög-
lich feftzuhalten fich entfchloflen zeigte, wenn er daher von
den Formen unferer finnlichen Anfchauung und unferee
Dentens annahm, daß fie, wenn auch keineswegs and
der Erfahrung ſtammend und felbft zu tranfcendentalen
ideen der Bernunft führend, doch ald Mittel zw den
Zweden unferer Erfahrung angefehen werden könnten,
fo wird ihm dieß ausgelegt, ale hätte er alles Willen
der theoretifchen Vernunft auf die Erfahrung befchrän
fen wollen. Als wenn nicht feine Kritif vielmehr dar
auf ausgegangen wäre, zu zeigen, daß die Erfahrung
ihre Borausfegungen a priori hätte und daß man, um
die Erfahrung beurtheilen zu Fönnen, ihre Bedingungen
feunen müſſe. Da mußte er benn wohl feinen Blid
über bie Erfahrung hinaus werfen; fein Verſuch, fie zu
benztheilen, mußte auf die Einficht in ihre Gründe fid
ſtützen. Aber er fragte freilich auch zugleich, ob dieſen
üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. hrifll. Philoſophie. 611
Gründen noch eine andere Bedeutung beiwohne außer
eben nur ber Erfahrung zu dienen und zweifelnd
und wieder zweifelnd ließ er ed zuletzt unentfchieden,
was die theoretifche Vernunft betrifft, ob die auf den»,
felben Gründen beruhenden Ideen ber Vernunft, zu
welchen auch die Idee Gottes gehört, dazu beftimmt
wären, und auf ein Seyn zu verweifen, welches außerhalb
dem Gebiete unferer Erfahrung liegt. Heißt nun eine
folhe fteptifche Vorſicht Atheismus? Oder weil fie. zus
weilen mit Atheismus verbunden geweſen if, barf man
darum annehmen, daß fie nothwendig zum Atheismus
führen müſſe? Solche Folgerungen in Bezug auf die fautis
fche Lehre zu ziehen, möchte man noch für erlaubt halten,
wenn miche Kant, laut genug feine Freude Darüber ger
äußert hätte, daß die Gründe der Erfahrung und ger
Ratteten, ja aufforderten, außer ber finnlichen eine übers
finnliche Welt anzunehmen, in Llebereinftimmung mit dem
Fordernugen, welche die praftifche Vernunft als vernünfs
tig anzuerkennen uns nöthige, An diefe Forderungen
(hließt num Kant allerdings : die gilgemeinfien Grunds
füge an, melde nnfere Religipn billigt, auch die ſoge⸗
nannte Lehre vom Dafeyn Gotted. Aber ‚heißt dieß alle
Religion und Theologie in Moral umfegen und das
Dafeyn Gottes zu einem bloßen Poſtulate ber prakti⸗
(hen Bernunft machen? Die legte Formel würde die
Annahme gulaffen, daß die praftifche Forderung, es fey
Gott zu denken, aus theoretifchen Gründen zurückgewie⸗
len werden müßte, und dieß würde mit der Meinung
Baur's ‚Übereinkimmen, daß die Tantifche Lehre con⸗
leguenterweife auf Atheismus führe; mit der Lehre
Kant's jedoch ſteht dieß nicht in Einklang. Noch wenis
ger iſt es die Meinung Kant’d, daß alle Religion und,
Theologie nur auf Moral hinauslaufe, vielmehr hat
Kant ſelbſt fich deutlich genug darüber ausgedrückt, daß
Religion und Theologie nicht in Sittenlehre, auch nicht
612 | Ritter
m ſittlichen Leben berube, fondern in der Erkentriß,
daß die Gebote der Sittenlehre Geſetze Gottes find.
Ic follte meinen, der Unterfchied wäre handgreiflid.
Frage ih mih num, warnm Baur in ben Lehren
Kant's und Fichte's die theologifche Richtung fo gar
nicht anerkennen will, fo finde ich Feine andere Antwort,
als weil er feine andere Theologie zugeben möchte ald
Die fpecnlative und weil er, das Speeulative im Gegen⸗
faße gegen das Prattifche faflend, auch eine jede Theolo⸗
gie veradhtet, welche von praktiſchen ober moraliſchen
Ueberzeugungen ansgeht. Was nicht fpeculative The
logie ift, fondern aus praftifhen Beweggründen fein
Webergeugungen: von Gott fihöpft, darin will er amt
Athelsmus erbliden. Bon diefem Geſichtspunkte aus
konnten ihm denn freilich Kant’d and Fichte's Lehren
über Bott nur als Berlengnungen der wahren Theolo⸗
gte erfcheinen. Deun fie bezeichnen beide den Stand⸗
puntt einer Zeit, welche, von dem eingewurjelten Zwei:
fel gegen die Theologie zurückkehrend, die ſtärkſten Ueber⸗
jengungen des Menſchen, feine fittlichen Leberzeugungen,
fein Gewiſſen, gegen biefgn Zweifel aufrufen zu wählen
glaubte. Schon an anderen Gtellen habe ich aufmml
fam gemacht auf bie Aehnlichkeit dieſes Uebergangs in der
Philoſophie De nenern Zeit mit ber Epoche in der alten
Philoſophie, wo Sokrates gegen bie Zweifel der 6"
phiften auf das fittliche Bewußtfeyn der Menſchen ſich
zu berufen für nöthig hielt. Aber wie ed dem Sofrated
gegangen IN, fo müſſen au Kant und Fichte es jebt er
fahren. Wan har jenen befchuldigt, auf demſelben Stand
punfte mit den Sophiften zu ſtehen; Diefe fen es Ad
aefallen Laffen, mit den frangöflichen Atheiften in eime
Elaffe geworfen gu werden.
Bon diefem Punkte aus durfte ſich Licht verbrei-
ten über die Berfchiedenheiten der Meinung, weiche Baur’
und mein lrtheil Aber die Befchichte der Philofephie
ab. d. Begriff u, d. Verlauf d, chriſtl. Philofophie. 613
trennen. Seiner Meinung nad ift die Geſchichte wer
fentlidh eine Entwidelung der fpeculativen Idee, d.h, ber
theoretifchen Vernunft. Dagegen kann ich nicht leugnen,
daß ih die Entwickelung ber Philoſophie nur ale einen
Zweig der Geſchichte ber Vernunft überhaupt betrachte,
welcher, weit davon entfernt, bie übrigen Beſtrebungen
ver Menfchen gu beherrfchen, vielmehr nur in der Wech⸗
felwirfung mit ihnen begriffen werden kann. Die Sefchichte
der Menſchheit iſt mir ein firtlicher Borgang,. der unter
Naturdedingungen fi vollzieht und daher auch jebe Rich⸗
tung der vernünftigen Thätigleit in gleicher Weife in
Infprach nimmt; in biefem Borgange kann ich Die Phi⸗
loſophie, ja die Wilfenfchaft überhaupt uar ale einen
Theil Der fittlichen Güter betrachten, welche wir gewin⸗
nen foflen.
Diefe Brundverfchiedenheis unfever Aufichten macht
fh naturlich auch In unferer BVeurtheilung der nenern
Dhilsfophle vor Kant bemerklich. Baur tabelt mich,
daß ich zur GSharakterifirung meiner zweiten Periode
hanptſaͤchtich auf ihre Ausgänge, anf den fenfualikifchen
Atheismus des vorigen Jahrhunderts bei Englänbern
und Branzefen verwioſen habe. Doch meineich darin nur ben
Graupfap befolgt zu haben, daß man wicht allein ein⸗
zelne Menſchen, fonbern auch ganze Zeitraäͤnme an ihren
Früchten erlennen fun. Wir wollen aber fehen, ob
Baur aus der Mitte diefer Periode etwas beizubringen
im Staude if, wad gegen die antitheolegifche Richtung
ihrer Philoſophie, welche ih behaupte, entfchiedenes
Zeugniß ablegte. Behr kur; und feined Sieges durch
den bloßen Schrei! der Namen gewiß, führt er (S.68f.)
den Gartefius, den Spinoza und befonders unfern Leib»
niz an, befien angelegentlihes Beſtreben geweſen fey,
Glauben und Wiffen mit einander zu vermitteln. Soll⸗
ten diefe großen Ramen uns nicht fchreden? Im Ges
614 Ritter
gentheile, fie forbern uns zu einem freimüthigen -Urtheil
auf.
Daß die Theologie ded Carteſins äußerſt dürftig
war, bedarf kaum eines Beweifed. Das Suterefle ſei⸗
ner Forſchung führte ihn nicht nach diefer Seite zu.
Wenn er auch glaubte, von Bott anfangen zu mäflen,
um feine vagen Zweifel gegen die Wahrhaftigkeit unferer
Borftellungen zu widerlegen, wenn er dabei auch den
Gedanken äußerte, daß die volllommenfte Erkenntniß Alles
von Gott ale der erften Urſache ableiten follte, fo fprtugt
er doch alsbald von diefem Wege ab, indem er erinnert,
daß wir endlich find und daher das Unendliche nicht zu
erfennen vermögen, vielmehr der Offenbarung in allem,
was unfern Verſtand überfleigt, glanben and unfer Nach⸗
denfen zurüchalten follen von der vergeblichen Erforſchung
des Uneublien (de princ. phil. I, 24 q.). Ber
kennt hierin nicht den wiflenfchaftlichen Indifferentismus
gegen das Theologifhe? Diele andere einzelne Sätze
ded Gartefiud beweifen ihn. Dann und wann führen
ihn Lehren Auderer oder fein eigenes Nachdenken auf theo⸗
Iogifhe Süße zuräd, 3. 3. auf dem berühmten Gag, daß
Gott die einzige Subflanz im eigentlihen Sinne fey,
aber fie blieben unfruchtbar, weil er fie ‚nicht verfolgen
ag. Außer der Lehre von der höchſten Vollkommenheit
Gottes, welche zum ontologifchen Beweife bieut, und von
feiner Wahrhaftigkeit, welche zur Behreituug des Zwei⸗
feld gebrandyt wird, finde ich, daß er mis Vorliebe nur bei
einem Punkte verweilt, bei der Lehre nämlich, daß Gott
fogleich bei Schöpfung der Welt in fie die ganze Quan⸗
tität der Bewegung gelegt babe und diefelbe durch alle
Zeiten unveränberlih bewahre (de princ. phil. II, 36.).
Diefe Ausnahme beftätigt die Regel. Denn diefer durch⸗
aus willkürliche Sat, er wirb von Gartefius nur dep
wegen vertheibigt, weil er die Grundlage feiner durchaus
mechanifchen NRaturesSlärung bilder, welche das eigent-
üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philofophie. 615
liche Ziel feiner Philoſophie, ja dad wahre Interefle aller
feiner wiffenfchaftlichen Beftrebungen ausmacht. Hierin fteht
Cartefius mit feinem Zeitgenoffen Hobbed, welchen Baur
ſchwerlich als Zeugen der theologifchen Richtung in der
Philofophie diefer Zeit wird aufführen wollen, auf ganz
gleichem Boden, nur daß er, weniger folgerichtig ale
diefer, zwar die Thiere, aber nicht die Menfchen für
Mafchinen erflärt. Eben diefe mechanifche Richtung ſei⸗
ner Raturlehre macht ihn zum würdigen Vorgänger der
Männer, welche den Menfchen nicht allein mit den Dflans
zen, fondern audy mit Mafchinen und Uhrwerken vers
glichen; le bildet die Grundlage des neuen Atheismus
von feiner bogmatifchen Seite, indem fle eine einfeitige
Raturlehre verbreitete, welche, wie auch Carteſlus that,
von der Erforfhung der Endurfachen ſich abwendete
uud dadurch die Phyſik fo viel ale möglich außer Zus
fammenhang mit der Ethik fegte. Wenn ich hierin ein
Zeichen ihrer antitheologifchen Richtung fehe, fo wird
wir Baur wahrfcheinlich nicht beiftimmen, weil er in
ähnlicher Weiſe geneigt ift, das Theologifche fo viel ale
möglich von der Moral abzufondern.
Was ferner Spinoza betrifft, fo ift er freilich ein
Krenz nicht allein der Philofophen gewefen, fondern noch
gegenwärtig der Befchichtfchreider. Wie fein Leben
nur in Farger Mittheilung verlief, fo flieht auch feine
Philofophie einfam da, ohne ihres Gleichen in ihrer Zeit,
faft unverflanden und nur durch fparfame Fäden mit
den Richtungen feiner Zeitgenoffen zufammenhängend. Wer
fle nur flüchtig eingefehen hat, dürfte vieleicht geneigt
ſeyn, ſie eher einer Uebertreibung als eines Mangels ber
theologifchen Richtung zu befchnldigen. Denn in ber
liebe Gottes findet fie alle Tugend und alle Seligfeit,
in der Erkenntniß Gottes alle wahre und adäquate Er-
kenntniß. Eben die Säge zieht fie hervor, welche Gars
tefind als unfrachtbar bei Geite ——— hatte, daß
Theol. Stud. Jahrg. 1847.
616 Ritter
Gott die einzige Subſtanz und bie einzige Urſache fey
und der Menfch Alles in Bott erfennen ſolle und koͤnne.
Dennoch wer eine fruchtbare, für bad Leben heilfame
Theologie fucht, wird vou feinem Pantheiſsmus fich ab»
geitoßen finden und wohl nicht weniger von faR allen
den Käbden, durch welche berfelbe mit der Philoſophie
feiner Zeit zufammenhängt. Wenn man da belehrt wer
den fol, daß Alles in Ausdehnung und Denken beftcht,
daß die Ausdehnung nur in einer Reihe von medani-
fchen Bewegungen verläuft, die nothwendig die eine bie
andere verurfachen; wenn mit biefem mechantfchen Zu
famnmenhange der Körperwelt der Zufammenhang der
geifligen Bewegungen in Bergleich geftellt wird, um zu
eigen, daß die Freiheit unferes Willens nichts fey; wenn
Epinoza die Endurfachen verwirft, bie allgemeinen Be:
griffe für verworrene Einbildungen erklärt und die Zu
genden fittliher Gemeinſchaft, welche Staat und Kirche
verbinden, nur auf Jutereſſen der Selbſtliebe zurüchn⸗
führen weiß: fo fann man nicht andere als urtheilen,
daß feine Philofophie den wefentlichen Bebingungen der
wahren Theologie nicht entfpreche. Sein tiefered Gemäth
weiß ſich aus diefem Irrſale feiner Lehre nur dadurch zu
retten, daß ed die Welt aufgibt und in Entfagung auf
alled Handeln nur in leidenfchaftälofer Erkenntniß Gotted
feite Tugend ſucht. Es it wohl möglich, daß Baur in
dieſer Lehre, welche allem Praktiſchen abgeneigt iſt, um
der Speculation unbedingt fih zu ergeben, einen mäd-
tigen Fortfchritt der Theologie fiehtz ic) dagegen kaun
ihn darin nicht erbliden,, auch abgefehen von der Feind
fchaft des Spinoza gegen alle pofltive Religion, in wel
cher er ein Borlänfer der Freidenker war und ben Ruf
eines Atheiften fich 3ug0g.
In diefem wie in andern Punkten war nun frellic
Leibniz faſt das volle Widerſpiel des Spinoza. Aber
eben dieß kann darauf aufmerkſam machen, daß es für
die Beurtheilung der Philoſophie des fiebzehmten und
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 617
ber erſten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts faft gar
nicht auf das theologifche Bekenntniß der Philoſophen
ankam. Ihre Philoſophie und ihre Religion waren zwei
Dinge, welche mit einander wenig zu thun hatten, weil
ihre Philoſophie nicht theologifh umd ihre Theologie
nicht philofophifh war. Man, könnte dieß jedoch von
Leibniz bezweifeln, weil er gelegentlich auch mit theolos
giſchen Händeln, wenn auch nur in Verſuchen, Frieden
zu fliften, ſich abgab und dabei auch philofophifche
Gründe nicht verfhmähte, wenn man die weitfchichtige
Thätigkeit diefes Mannes nicht in Anfchlag zu bringen
wüßte, welche ihm mit gar mandherlei Dingen zu fchafs
fen machte, ohne dag dabei mehr ale die Formeln, auch
bad Herz feiner Philoſophie im Spiele geweien wäre,
Weis man den Grundgedanken feiner Lehre von mancher:
lei Anhängfeln, welche er ihm im Spiele feines beftändig
befchäftigten Geiſtes gegeben hat, zu unterfcheiden, kennt
man den Grad einer nur ffizzenhaften Ausführung, wel⸗
he er ihm zu Theil werben ließ, fo wird man der Bes
hauptung Baur's gegenüber, welcher diefen Philofophen
zu einem Haupthelden der neueren Theologie machen
möchte, nur erftaunen fünnen, wie wenig feine Philofos
phie das theologifche Gebiet berührt, wie flüchtig, unzus
fammenhängenb, geiftreich freilich, aber auch wiſſenſchaft⸗
lich roh feine Aenßerungen über Gott und fein Berhälts
nis zur Welt ind. Wird man etwa daraus große Weis⸗
heit fchöpfen können, daß er Gott den Ardyiteften des
Reiches der Natur und den Monarchen des Reiches‘ der
Gnade nennt, oder daß er will, wir follen ihn als die
Monade der Monaden bdenfen, d. h. die einfache
Subflanz, welche dennoch eine Bielheit einfacher Sub⸗
Ranzen in fih umfaßt? Oder daß er den Gedanken
Gottes herbeiruft, um biellebereinftiimmung zwifchen den
einzelnen Monaden, welche in ihm 'präſtabilirt feyn fol,
% 43 *
618 Ritter
erklären zu können? Oder daß er, wie Thomas von
Aquino, ihn wählen läßt unter den vielen möglichen
Welten, damit die beſte Welt gefchaffen werde, melde
zwar nur unvolllommene Dinge, aber dod andy nur bie
möglichft Pleinfte Summe des Unheild in fich enthalten
fol? Oder follen wir es für mehr als flüchtig hinge
worfene Bilder halten, wenn er fagt, die Befchöpfe waͤ⸗
ren Kulgurationen Gottes, und indem Gott rechne, werde
die Welt? Unftreitig, wenn man in das Berfländniß der
leibnizifchen Lehre eindringen will, bat man nicht von
diefer Seite unzufammenhängenber @infälle und nur für
eine vorläufige Verftändigung berechneter Yeußerungen
außzugehen, fondern muß mit feiner Lehre von den ein
fachen Subftauzen und von ihrem Zufammenhange unters
einander beginnen. In ihr fuchte er felbft den Kern
feiner Philofophie. Was finden wir nun bier ald bad
Charakteriftifche feiner Lehre? Sie geht wefentlich dar
auf aus, die VBerworrenheit der finnlichen Erfcheinungen
aufzulöfen durch Zurüdführung auf das Einfache, und
hofft, in dieſer Weife Alles in verftändliche Begriffe aufs -
zulöfen. Dadurch verfchwindet ihm die förperliche Ma⸗
terie, Alles wird auf die Analogie der Seele und ihrer
inneren Entwidelung zurückgebracht, Alles fol ſich aus
den angebornen und in der Seele fi entwidelnden Bes
. griffen des Verftandes erkennen laſſen. Diefe angebor-
nen Begriffe und apriorifchen Erkenntniſſe findet nun
Leibniz mit feinen Zeitgenoflen vornehmlich in der Mar
thematil. Wo man die Erfcheinungen in die Begriffe
von Figuren, Zahlen und Bewegungen auflöfen faun,
da iſt ihrer Erklärung Genüge geſchehen. Selten wird
man bei Leibniz, deſſen fchillernder Geiſt freilich in gar
bunten Karben fpielt, eine Erörterung über die Erklaͤ⸗
rung der Erfcheinungen- finden, in welcher nicht dieſe
Berufung auf die Mathematik eine Rolle fpielte; in ſei⸗
ner Monabologie und feiner Erklärung der Berbindung
ib, d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Ppilofophie. 619
unter ben GSubkanzen iſt fie Mittelpunkt feiner Lehre,
Ale Monaden entwideln fi innerlih, In Bewegungen,
welche für eine jede einzelne ansihrer innern Natur hervor⸗
gehen; die eine Bewegung treibt die andere hervor, fo
wie in der Körperweit die folgende eine mechanifch noth⸗
wenbige Folge ber früähern ifl; der Wille ift nur die Ten⸗
denz von dem einen Bewußtfeyn zum andern; das früs
here Bewußtſeyn erzeugt das fpätere und .ift der zurei-
chende Grund deffelben, fo wie aus den Örundfägen bie
Folgerungen nothwendig fid) ergeben; es hängt hier Al:
led gufammen wie in dem verwidelten Bewegungen einer
Mafchine, und nur hieraus läßt es fich erklären, daß bie
Subſtanzen, obgleih nur innerlich ſich entwidelnd und
in feiner Wechfelwirtung unter einander, democh in
einer befändigen Harmonie find, wenn man vorangfeßt,
daß fie im erfien Womente ihres Daſeyns in einer fols
hen Harmonie waren, denn die nothwendigen Folgen in
den Bewegungen zweier oder mehrerer Mafchinen müfs
fen einander entfprechen, wenn bie erſten Zuftände berfelben
einander entfprochen haben. Wenn man diefe Hauptpunfte
ber Eehre von den Monaden und ber präftabilirten Hars
'monie vor Augen bat, fo wird man nicht daran zweifeln
können, daß Leibniz derfelben Betrachtungsmweife angehört,
welche die Lehre der nenern Dhilofopbie bis Kant, fo weit
fie dogmatifch it, im Ganzen beberrfcht hat und welche
weſentlich darauf ausgeht, burch eine von der Mathemas
tit erborgte Erklärungsweife alle Erfcheinungen nad
mechanifchen Gefegen zu begreifen. Damit häugt es
auch zufammen, daß die leibnizifche wie die carteflanis _
ſche Schule die Methode der Mathematik der Philoſo⸗
pbie aufbringen wollte Ob aber eine foihe Mechanik
der Natur und des Beiftes der Theologie zufagen könne,
diefe frage möge fidh ein Jeder felbft beantworten. Ber
in der Religion noch etwas Anderes als Theorie fucht,
wird nicht leicht darüber in Zweifel feyn können.
Wenn ichı'num dennoch nicht begweißele, daß Diele
neuere Philoſophie in der carteflantfchen und leibutzifchen
und nicht minder in der lodefchen und condillacſchen
Schulte noch den Entwidelangen ber Philoſophie im Fort⸗
fchreiten bes chriſtlichen Geiſtes angehört, fo beruht dieß
auf meiner llebergeugund, daß allerdings der Ausbildung
der Lehrweife, wie fie bie dahin Rattgefunden hatte, eine
ſtarke Erfchütterung wie in fleptifcher, fo in dogmati⸗
fcher Richtung nöthig war. Die Brände hiervon Hegen
in der Geſchichte der patriftifchen und Ber mittelalterlis
chen Philofopbie, befonderd auf der einen Seite in ihrer
einfeitigen theologiſchen Richtung, auf der andern Geite
in der Beimifchung bdualiftifcher Lehrpunkte, weiche ihr
son der alten Philofophie Überlommen waren. Wie jes
ner bie ganze neuere Philoſophie entgegenarbeitete, if
einleuchtend genug; daß fie aber. auch diefer ſich entges
genfegte, geht daraus hervor, daß die mechanifche Ras
turerflärung der neuern Philoſophie, hierin wefentlicdh
werfchieden won Ihnlichen Richkuugen der alten Bhilofer
phie, Alled anf ein Princip der Bewegung zurückpubrin⸗
gen .firebte. Wie abſtract und todt daffelbe auch aufge,
faßt werden mochte — man glaubte ed zulegt in der
Gravitation gu finden —, ein Gegengewicht gegen dem
Dualismus gab ed doh ab. Sogar daß es meiftend
sur im der Naturerflärung geltend gemacht wurde, wußte
zur Schwächnng, wenn auch nicht zur Ueberwindung des
Dualiemus dienen, weil diefer in dem ethiſchen Segen
fage zwifchen Gutem und Böfen feinen ſtärkſten Helt
findet.
Da ich nad Weife der Conftruction der Geſchichte
von unfern Zeiten räfwärtd auf die Bergangenheit ge
führt worden bin, fo würde mir nur noch obliegen, über
die patriſtiſche und mittelalterliche Philofophie das Nö⸗
thige zu fagen. Doc mag ich nicht Die Einzelheiten von
Baur's Kritit durchgehen, aus Furcht, zu weit geführt
üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 621
zu werden. Dad Meiſte if fchon im meiner Gefchichte
biefer Theile der Philoſophie, wie ich glaube, hinreichend
erörtert; über die vorherrfchend theologifche Richtung in
der patrißifchen und mittelalterlichen Philofophie ift auch
Schon hinreichend gefprochen worden; nur über die duas
liſtiſchen Lehrpuntte, welche aus ber alten in bie fpätere
Philofophie eingedrungen waren, glaube ich noch etwas
hinzuſetzen zu müſſen.
Anch Baur erkennt ſie an. Doch muß ich befürch⸗
ten, daß wir auch in ſolchen Punkten, wo wir gemein⸗
ſchaftlich ſie finden, nicht gleicher Meinung find, weil
wir eine verfchiedene Anfiht vom Dualiömus haben.
Daher wird e6 unerläßlich, über deſſen Begriff uns zu
verftänbigen.
Die Berfchiebenheit unferer Meinungen über biefen
Punkt kommt bei Belegenheit meiner Eintheilung der
guoftiichen Syſteme zur Sprache, Ich habe fie nämlich
in dualiftifche und ibealififche eingetheilt. Banr fagt
dagegen (5. 75.), Dualidmus und Idealismus bildeten
feinen Gegenſatz. Das iſt richtig; ed kann auch einen idea⸗
liſtiſchen Dnalismus, and) einen materialifiifchen Monis⸗
mus geben. ber mir kam es begreiflicher Weife nicht
darauf au, alle Möglichkeiten in einer ſchulgerechten Slafr
ſiſteation zu erfchöpfen, fondern nur die geſchicheliche
Wirklichkeit hatte ich vor Augen und da fand ich zwei
Arten der Gnoſtiker, folche, welche dem Dualismus unbeforgt
folgten, und folche, welche ihm zu entgehen ſuchten, ins
bem fie den ibdenliftifchen Weg einſchlugen. Genauer
hätte ich nun wohl fagen können: moniſtiſch⸗ idealiſtiſche
Gnoſtiker; aber das wäre eine Genauigkeit gewefen,
weiche Leſer von gar zu geringem Berftändutffe voraus:
gefeßt hätte, Vielleicht, wenn ich fo gethan hätte, wurde
mich Bauer der Pedanterie befchuldigt haben.
Der Borwurf aber, welchen mie Baur über diefen
Punkt madıt, trifft and) die Hauptfache gar nicht. Diele
622 Kitter
beruht vielmehr darauf, daß ich von vorn herein erklaͤrt
habe, ich würde von Dnalismus nur da reden, wo zwei
entgegengeſetzte Urweſen augenommen werben, Baur
dagegen (S. 76.) meint, der Dualismus ſetze in der Mas
terie ein von Bott unabhängiges, das Weſen Gottes bes
fchräntendes Princip, die Befchränfung aber bleibe die⸗
felbe , ob die Materie außer Gott oder in Bott fen;
Gott fey gebunden an fie, durch fie befchräntt, und koͤnne
ihred Gegenſatzes fi nicht erwehren, auch wenn bie
Materie nur als der unwiderfichliche Hang, ſich zu ma
terialifiren, in Gott gefebt fey.
Diefe Meinung bat ihren guten Schein; ums aber
zur Wahrheit zu werden, bedarf fie der Beichräufungen,
nadı welchen fie auch in Uebereinflimmung mit meiner
Ausdrucksweiſe ſich wird erklären können. Zuerſt kommt
es beim Dnalismus nicht darauf an, daß eben die Mas
terie ald das Gott entgegengefehte Princip angefehen
wird, fondern ed läßt fich auch ein idealiflifcher Dualis-
mus denken, wie ich fhon bemerkte und wie Baur felbk
zusngeben fcheint, wenn er das zweite Princip für denl-
bar erflärt als einen unwiderſtehlichen Hang Gottes,
fih zu materialifiren, alfo doch wohl als einen geifligen
Hang. - Diefer Punkt ift nicht unbedeutend für Baur’s
Anfiht vom Dualismus. Alsdann, wie fol man das
verfiehen, daß Baur zuerft meint, der Dualismus ver
lange ein von Gott unabhängiges und ihn befchränfen-
bed Princip, nachher aber body Dualismus auch noch da ſin⸗
den will, wo dieſes zweite Princip in Bott ſelbſt ale ein nuwi⸗
derſtehlicher Hang feines Geiſtes angenommen werde,
alfo feineswegs unabhängig von Gott, andy nicht ihn
befchräntend, fondern nur eine Entwidelung in ihm her:
bringend? Denn in foldyer Weife werben wir ja wohl
den Hang Gottes zu denken haben. Man wird hieran
wohl bemerten, daß Baur felbft ſchwankt zwifchen meir
ner und, ich glaube auch, ber gewöhnlichen Anficht vom
üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philoſophie. 623
Dualismus und zwiſchen dem vagern Sprachgebrauche,
in welchem die hegel'ſche Schule das Wort Dualismus
genommen hat. Auf jeden Fall wird man ſagen müſſen:
es gibt einen ſtrengern Dualismus, welcher zwei ur⸗
ſprünglich von einander geſonderte Principien annimmt,
und einen weniger ſtrengen, welcher von einem Principe
zwar ausgeht, in ihm aber ein doppeltes Princip ver⸗
birgt und miſcht. Weun unn Jemand fagte, wie ich es
geſagt habe, er wollte nur jenen ſtrengern nach dem
gewöhnlichen Sprachgedrauche Dualismus nennen, den
andern aber nicht, fondern ihn ale ein gemifchtes Syſtem
betrachten, würde der deßwegen Tadel verdienen?
Wenigſtens daß er fich offen über feineu Gebrauch
bed Wortes erflärt hätte, würde man ihm nicht abfprechen
können. Dagegen ift der Sprachgebrauch, welchen ich
den vagen genannt habe, der Sprachgebrauh Baur’
und der begel’fhen Schuie, in ber That nicht offen nud
ehrlich, fondern von der polemifchen Natur, welche dem
Öegner gern etwas unterfchieben möchte und ‚welche man
mit dem Namen ber Gonfequenzmacherei bezeichnet.
Wenn da Jemand Bott ale das alleinige und gute Prins
cip befennt, nachher aber.in ber Welt dad Böſe findet
und es mit der Güte Botted nicht vereinen kann, fons
dern meiht, es möchte hervorgegangen feyn aus irgend
einem Hange der Gefchöpfe zum Böfen, welden fie ohne
oder gar wider Gottes Willen in ſich genährt hätten, fo find
die Auffpärer des Dualisſsmus bereit, ihm nachzuweiſen,
er nähme da ein doppeltes Princip an, Gott und den
Yang, welcher die Geſchöpfe zum Böfen führe, nnd
müßte daher zu den Dualikien gerechnet werden. Ober
wenn Jemand beiden vorher gefeßten Annahmen verfucht,
ben böfen Hang in den Gefihöpfen auf irgend einen
Hang in Gott zurüdzuführen, fo muß er nicht minder
ein Dualiſt heißen, wie eng er auch diefen Hang mit der
Einheit Gottes verflochten haben möchte, weil feine
624 Ritter
Lehre in Bott ſelbſt ein doppeltes Priacip ſetzt, dab,
welches zum Guten, und das, welches zum Böſen führt.
Nach dieſer Auſicht ſind Die Stoiker und Leibniz eben
fo gut Dualiſten, wie Anaxagoras und die Manichäer.
Ja ſollte es nicht irgend einem Schalte einfallen, audı
bie Lehre Hegel’6 des Dualismus zu geihen, weil fle ja
auch einen Hang Gottes ſetzt fi zu befondern und bie
materielle Welt hervorzubringen ?
Ader find diefe Folgerungen auf Dnalismus nicht
richtig gezogen? — Ich beftreite fie nicht. Nur zu einer
bifligern Beurthetlung möchte ich rathen. Wenn die Ma
terie, wie Baur fagt, ober, wie ich erweiternb und bes
richtigend hinzufete, wenn das Princip der Materie in
Gott geſetzt wird, fo erfennen bie, weiche hierzu fich ger
drungen fühlen, einen wichtigen Satz ber Wiſſeuſchaft
an, welder von den Dualiften, das Wort in meinem
Sinne genommen, verkannt und verleuguet wird, den
Satz nämlih, daß Wlled, von wie verfchiedener Natur
ed feyn möge, anf einen Grund zurüdgeführt werben
müfle, damit es als Gegeufland einer Wiſſenſchaft er
kannt werden koͤnne. Und in fofern ift ihre Lehre Mor
nismus. Wenn fie nachher in ihren weitern Unterſu⸗
chungen auf entgegengefehte Begriffe geführt werben,
weiche fie mit der Einheit ihres Principe nicht zu verei⸗
nigen wiflen, wenn fie nun Berfuche machen, diefe Ein
heit wieder zu theilen, fo find das Folgewidrigkeiten und
Ueberbleibfel ded Dualismus, welche ihr moniſtiſches
Princip noch nicht überwunden hat. Man foll aber je
bed Syftem nicht nach den Folgerungen ans ſolchen Fol
gemwidrigleiten,, fondern nad, feinem Principe benennen,
font würde man einem und demfelben Syſteme gam
entgegengeſetzte Namen zu geben haben. Deßwegen
würde nian auch fehr Unrecht than, wenn man Leute,
welche in der vorher gefihilderten Weife verfahren, Dua⸗
liften ſchelten wollte, Es würde dieß bie Unbilligkeit in
üb. d. Begriff u, d. Verlauf ber hrifll. Philofophie. 625
ſich fchließen, daß man ihmen die Erkenntniß abfpräche,
weiche den Monismus vom Dualismus fcheibet, Die
Erfenntuiß, daß Alled aus einem Principe abgeleitet wer⸗
den müſſe.
Dieß iR num freilich eine fehr abfiracte Erkenntniß,
und man würde fagen können, daß fie wenig werth
wäre, wenn fie bei dem abfiracten Satze fichen
bliebe. Aber fie bleibt auch gewiß nicht Dabei fichen,
wenn im Syſteme irgend ein Leben ift, ſondern die Fol⸗
gerungen bed Monismus geben fid in manderlei Be,
fhräufungen der Ueberbleibfel ded Dualismus und in
einem beftändigen Kampfe mit ihnen zu eriennen.
Diervou zeugt die Lehre der idealiſtiſchen Guoſtiker,
der Balentinianer, welche zu diefen Bemerkungen Berans
laſſung gegeben hat, anf eine fehr merfwürdige Weife,
indem fie ben Begriff der Materie, des böfen Principe,
von Bott ganz entfernt hält, keineswegs, wie Baur fidh
ausdrückt, einen Dang zu ihr in Gott annimmt, fondern
nur vermittelt einer langen Reihe von Emanatiouen
dad Böſe ald möglich ſich denkt und die Materie erfl
aus dem Böfen herleitet. Dabei wird die Materie von
biefer Lehre auch als etwas völlig Richtiges betrachtet;
denn nur in einer Berirzung ber Geiſter, in ihren bar>
aud hervorgehenden Leidenfchaften foll fie beſtehen und
ebenfo fol fie auch wieder verfhwinden vor der wahren
Erkenntniß des @efebes, weiches Die niederen Geifter mit
Sort verbinder. Baur weiß dieß Alles, aber benunsd
behauptet er (S. 81.), der wefentlihe Mangel der gnos
Rifchen Syſteme überhaupt fey der unvwermittelte Gegen:
fat der beiden Principien Geiſt und Materie, in wels
chem ihre Syſteme, dba es ihnen an einer innern Ders
mittelung jener Principien und eben beßwegen an der
Einheit ded Principe fehle, immer wieder audeinander
felen. Nur feine vorgefaßte Meinung, welche ihn ans
treibt Die gefchichtlichen Thatfachen unter das Schema ſei⸗
626 Ritter
ner Eonfruction zu zwingen, fan ihn zu ſolchen Be:
bauptuugen hinzeißen. Meberbleibfel des Dualismus find
bei den Balentiuianern freilich nicht zu leugnen; fie lie
gen in ihrer Emanationdlehre, weldye den Abfall vom
Buten als eine natürliche Entwidelung erfcheinen läßt;
aber das Princip ihrer Lehre ift moniſtiſch.
Eben fo gewaltfam wie den DBalentiniauern wird
auch, dem Drigenes der Dualismus von Baur aufge
derungen. Er gefteht ihm zwar zu, daß er eine Vermit⸗
telung bed Gegenſatzes zwiſchen Geiſt und Materie ver
fucht habe, und hierin wird fein wefentlicher Linterfchied
von den Bnoftitern geſucht (S. 81.), aber feine Lehre
über die Freiheit der Geifter fol ſchlechthin dualiſtiſch
feyn. Obwohl nicht gelengnet werben kann, daß Orige⸗
ned die Kreiheit der Geifter als abhängig von Gett,
als eine Gabe Gottes betrachtete, behauptet Baur doc,
er habe fie als ein zweites Princip Gott zur Seite ge
fielt. Das bekannte Schwanfen des Origenes wird hier
. au8 abgeleitet (&. 84.) , und anftatt in Diefem Schwan
Sen ein Zeichen zu fehen, daß die Lehre deſſelben kein
reines, fondern ein gemifchted Syſtem war, wird zu
Bunften feines Dualismus angenommen, er fey doch in
feinem Schwanten der Annahme geneigter gewefen, daß
die Freiheit der Geiler ganz nnabhängig von Gott
fey a). Baur gebt hierin fo weit, zu behaupten, die Mar
terie und die Welt würden nad) dem Origenes durch die
Freiheit der Geifter (S. 83.), eine Lehre, welche man
wohl den Balentinianern, aber nicht bem Origenes bei
legen darf, welcher ausbrädlich den Geiſtern alle ſchoͤpfe⸗
a) Anbere Punkte, welche eben fo mwilllürli von Baur in ber
Lehre des Drigenes angenommen werben , übergebe ich, doch
will ich bemerken, daß auch die Lehre bes Drigenes, Bott ſey
kein &zsıporv, auf Dualismus gedeutet wird (S. 85.). Br
kanntlich lehrte audy Parmenides fo, gewiß nicht in bualifi-
ſcher Abfict.
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriftl. Philofophie. 627
rifche Macht abfpricht und nicht einmal wegen der Freis
heit, fondern nur wegen des Abfalld der Geiſter vermit⸗
telft ihrer Freiheit von Gott die Materie und die finnlis
he Welt fchaffen laͤßt. So entſtellt alfo Baur die Lehre
ded Origened, um ihren vermeintihen Dnalismus im
ein recht grelles Licht zu fegen. Dualiftifhe Ueberbleib⸗
fel find allerdings in ihr nachzuweifen und fichen auch
mit feiner Freiheitslehre in Verbindung. Sie beruhen
darauf, daß er den Abfall der Geiſter von Gott vermits
telſt ihrer Freiheit nicht allein ale möglich, fondern in
ber That als nothwendig ſetzt; Denn immer wieder,
wenn fie auch zurädgelchrt find zu ihrem Urgrunde, follen
fie abfallen; es liegt im ihrer Natur abzufallen. Diefe
Nothwendigkeit hängt aber damit zufammen, daß Driges
nes einen Abftand der Geifterwelt von Gott für nöthig
hält oder — wenigftend in dieſem Gebanfentreife —
den Adyog, die Ideenwelt, für geringer hält als Gott,
und dieſe Anficht hängt wieder mit feiner Neigung zur
Smanationdiehre zufammen, welche alle Ausflüffe Gottes
für geringer anfleht ale ihm felbft. Daher find dualiſtiſche
Elemente aus der Emanationdicehre auf den Origened
übergegangen und hierin ſteht er mit den idealiftifchen
Snoftitern auf gleichem Boden. Nur in einem Punkte
erhebt er fich Aber fie, darin nämlich, daß er jene Aus»
geburt einer fchwärmerifchen Phantafle, die Lehre von
einer Reihe von Emanationen, verwarf, welde uns in
eine weite Ferne von Bott ſtellt. Dieß ift der wefents
lihe Kortfchritt, welcher die Lehre des Origenes in th»
rem Verhaͤltniſſe zum idealiftifchen Gnoſtieismus charakte⸗
riſirt umd die bualiftifchen Ueberbleibfel in der Emana⸗
tionslehre mildert.
Einen der wichtigften "Fortfchritte zur Ueberwindung
der dualiſtiſchen Nefte machten nun die griechiſchen Kir,
henväter, welche von Athanaflus an bie orthodore Tri»
nitätdjehre ansbildeten. Was Baur über den Gegen.
628 Ä Bitter
fa gwifchen der arianifchen unb athauafianifchen Lehre
fagt (©. 101 ff.), if viel zu unbeſtimmt gehalten und
läuft zu fehr auf einen Unterfchied nur dem Ueberge⸗
wichte nach hinaus, ald daß es die Bebentung jene
Fortſchritts andı nur von fern bezeichnen könnte. Arine
foll dem Uebergewichte nach auf den linterfchied, Atha⸗
wafus dem Lebergewichte nach auf bie Einheit des Ba
terd und des Sohnes, und beide zu fehr, gedrungen has
ben. Ich will nur Far; angeben, was für bie Philoſo⸗
phie das Wefen dieſes Streites if. Arins ſtand ned
auf dem Staudpunkte der alten Anſicht, daß Gott nichts
gleich ſeyn koͤnne, was von ihm ausgegangen, nnd ſah
daher auch die Offenbarung Gottes in der Welt für us
vollkommen an. Er ſtimmte hierin mitder Emanationslehre
überein. Athanaſius dagegen behanptete die Volllon⸗
menheit der Offenbarung Gottes durch feinen Sohn und
daher auch in der Schöpfung und Erlsſung der Welt.
Er verwarf damit bie Meinung der Emanationslehre,
daß jeder Ausfluß Bottes des Baters geringer ſeyn wäfle,
als Gott der Bater fell. Wenn er daher auch ber
Formeln der Emanationdichre fidh noch bediente, wie ft
lange nachher in der chriftlichen Kirche noch ohne Schen
gebraucht worden finb und felbft in unfern Symbolen
ihre Stelle gefunden haben, fo befeltigte er doch in
Wahrheit das dualiflifche Element, welches in ihr liegt,
nämlich Die Meinung, daß Gott fih nicht vollklommen offenbar
zen könne und alfo infofern befchräntt fey in feiner Offen
barung eder unter einer befchräntenden. Nothwendigkeit
wie unter einem andern Principe che. Daß die Kor
mein ded Athanaflus weit mehr als bie Darkellunge
weife der Arianer an die Emanationslehre erinnern, darf
und in der Erfenntniß ihrer Bebeutung nicht fkören.
Wenn aber durch die orthodore Trinitätslehre die
dualiftifchen Elemente der frühern chriftlichen Philoſophie
von metaphyſiſcher Seite beflegt waren, fo behanpteien
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 629
fie fi doch noch von ethifcher Seite. Hierauf bat man
zu achten, wenn man bie. Bedeutung der auguftinifchen
kehre richtig würdigen will. Aber gerade dieß hat Baur
niht gethau. Er tadelt mich (S. 95 f.), daß ich das
Poſitive in dem anfcheinenb negativen Begriffe des Bo⸗
jen beim Anguftinud nicht bemerft hätte; doch habe ich
08 wohl bemerkt (Geſch. der chriſtl. Phil. &.357 ff.), nur
nicht ganz in der Welfe, in welcher Baur es geltend
macht, um auch den Auguſtin bes Dualiömns zu zeihen.
Er meint nämlich, ed finden zu können in dem Willen des
Menfchen, welcher von Bott oder vom Guten fich abs
wende. Hierbei konnte ich nicht ftehen bleiben, weil eben
diefer Begriff nur eine verfappte Verneiuung barbietet.
Denn dad Abwenden befteht nur im Sichenichtchinwen.
den, d. h. in dem Mangel der Anerkennung, daß Alles,
was wir aus und entwideln, nur Babe und Gnade
Gottes if, wie Auguftinus fehr gut wußte. Daß Baur
dagegen mit jener verfappten Verneinung ſich begnügen
lann, fcheint darauf zu beruhen, daß er dad auguftinifihe Sys
Rem, wenigſtens von der einen Seite, im hegel’fchen Sinne
deuten möchte. So fagt er (8. 97.): „Das Böfe ſei⸗
nem negativen Begriffe nach ift das Princip ber Welt⸗
entfiehung und Weltentwidelung. Die Welt kann ale
Offenbarung Gottes die Vollkommenheit bes göttlichen
Weſens nur dadurch in fich darftellen, daß fie in ihrer
Unendlichkeit eine unendlich getheilte if. Das Böfe
trägt daher felbft zur Bollfommenheit und Schönheit des
Weltganzen bei, als weſentliche Bedingung deffelben,
da Schönheit und Vollkommenheit nicht möglich if,
ohne daß ed auch verfchiedene Grabe des Seyns, ein
Plus und Minus, einen Mangel an Nealität gibt.
Sol nun aber diefer negative Begriff des Böfen confes
Auent fefigeftellt und durchgeführt werden, fo mußte aud)
das fittlich Böfe als die Negation ded Guten genom⸗
men und als nothwendig zur Vollkommenheit der Welt
630 > Ritter
betrachtet werben. &8 fehlt beim Augufin nicht an ein
zeinen Andeutungen diefer Art. — — Allein er it auf
diefem Wege nicht weiter fortgegangen und fein Begriff
der Sünde macht ed ſchlechthin ihm unmöglich, das ſittlich
Böfe nur ald die Negation des Guten aufzufaffen.”
Daß ich diefe Anficht feiner Lehre nicht hervorgehoben
habe, wird mir. jum Vorwurfe gemadt. Run will id
‚ nicht behaupten , daß Anllänge der hier entwidelten Aus
fiht beim Auguſtin fich nicht finden laflen, aber ich mn$
leugnen, daB ihnen für dad Wefen feiner Lehre ein bes
deutendes Gewicht beigelegt werden dürfe Denn weit
entfernt davon, daß Anguſtin der Meinung geweſen
wäre, bie einzelnen Dinge ber Welt müßten ihrem Be:
griffe nach eine Berneinung, einen Mangel, ein Böfes
an ſich tragen, ift er vielmehr von ber Ueberzengung bed
Ehriftenthums, welche bie Lehre vom heiligen Beifte zu
wiffenfchaftlicher Einficht entwidelt hatte, um fo mehr
durchdrungen, je mehr er ſelbſt dazn beigetragen hatte,
fie nicht allein zu verbreiten, fondern auch tiefer zu bes
gründen, daß die vernünftigen Gefchöpfe dazu beſtimmt
wären, vom heiligen @eifte befeelt, Chriſtum nnd in ihm
Gott ungetheilt und ohne Mangel in ſich zu tragen und
volfommene Abbilder des Vollklommenen zu feyn. Hierin
beſteht der Kortfchritt, welchen die Trinitätslehre ger
bradıt hatte und welcher nun von Augufiinus auch auf
die Lehre von der Freiheit und vom fittlichen Leben au:
gewenbet wurde, indem er zeigte, daß feine wahre Kreis
heit im Sinne der Pelagianer feyn könne, weiche nicht
zugleich Wirkung Gottes und Wert feiner Bnade wäre.
Aber eben daß Auguſtin hiervon durchdrungen if
und nicht abläßt, die Allmacht des heiligen Geiſtes zu
verfünden, macht ed fchwer begreiflich, wie er ſich num
doch entfchließen kann, dem Reiche ded Guten eine
Schranke in dem Reiche ber. Berdammten zu feßen. Au⸗
üb, d. Begriff u. d. Verlauf ber chriftl. Philofophie. 631
guſtin's Lehre von der Freiheit fchien Die alte Quelle des
Dualismus verfiopfen zu müflen, aber hier öffnet ſich
eine neue. Die Erklärung dieſer Erfcheinung fucht Baur
(&. 92.) in Auguftin’d Haß gegen das Böfe, welcher ihn
dazu verleite, Guade und Gerechtigkeit Gottes wie zwei
Principien von einander zu trennen, und er nennt deßwe⸗
gen auch das amguftiniiche Syſtem eine neue Form des
Dualismus, welche die entgegengefeßten Principien in
Gott ſelbſt verlege. Hieriu iſt diefelbe Uebertreibung,
welhe ſchon öfter gerügt wurde. Nur von Ueberbleib⸗
feln des Dualismus in einem moniftifchen Syfteme durfte
geiprochen werden. Auch iſt es nicht richtig gefagt,
wenn Baur behauptet, Gnade und Gerechtigkeit ftänden
in Gott unvermittelt einandbeg entgegen, vielmehr flieht
Anguftin beide nur ald verfchiedene Aenßerungen ber
göttlichen Güte an, welche gegeu Gute anders ſich vers
halten müſſe, als gegen Böſe. Aber hiervon abgefehen,
fühlt Baur felbft, daß feine Annahme, dieſe Denkweife
bernhe anf dem Haffe gegen das Böfe, doch eine gar zu
tin pſychologiſche Erklärung gibt, und er führt daher
(8, 93.) jenen Haß auf die befannte Quelle zurüd, auf
die Rachwirkang der manichälfchen Weltanficht im Geifte
des Auguſtinus. Warum aber, muß id nun fragen,
macht er ed mir zum Bormurfe, daß ich in den Irrthü⸗
mern Auguftin’s über biefen Punkt Nachwirkungen heid-
niſcher Dentweife fehe? Baur wird doch wohl nicht
leugnen wollen, daß der Manichäismus felbft auf folchen
Rahwirfungen beruhe. Alfo würde man nur fagen kön»
nen, ich wäre anf ben eutfernteren und allgemeineren
Grund zurüdgegangen, während er den nähern, aber
auch mehr befondern Grund angebe. Und follte ich nicht
gute Gründe haben, hierin von Bayr und ber gewöhns
lien Darftellungsweife abzuweichen? Auguftin hatte
unftreitig den Manichäißmus theoretifch hinter fich, ale
er feine Lehre über die unbebingte ae. ent⸗
Theol. Stud. Jahrg. 1847,
632 Hitter
wickelte; was nun beunod von ben Sugenbeinbräden
des Manichäismus im feiner Seele bamals noch zuräd:
geblieben feyn mochte, wer Lönnte das fagen? Wer nur
siychologifche Gründe für eine Lehre von weltgeſchicht⸗
lichen Erfolge aufzuſuchen liebt, ber mag barüber feine
Muthmaßungen fich bilden. Aber eben den weltgeſchicht⸗
lichen Erfolg feiner Lehre und feine Brände zu erforfchen,
darauf müflen wir es abfehen, und ihm aus ſolchen mar
nichätfchen Reminiecenzen abzuleiten, das hieße von per
fönlichen Beziehungen eines Mannes gar zu viel abhän
gig machen. Seltfam, daß ich meinen Gegner hieran
erinnern muß, ihn, welcher aus der Geſchichte der Phi
lofophie alles Individuelle ausgefchieben wiffen wollte.
Aber er bat das Unglück, ebaß ihm das Rechte, welche
er weiß, nicht immer an ber rechten Stelle einfällt.
Machen wir einen Berfuch, das Räthfel in ber Deal
weife Auguftin’s aus allgemeineren Beweggründen, weit
im Bildungsgange ber ganzen Menfchheit liegen, und
zu erllären, Den Manichäismus überwand Augufin
dnrch den Idealismus ber nenplatonifhen Schule uud
durch ihn gingen bie Lehren der griechiſchen Philoſophie
auf ihn Aber, wie Platon und Ariſtoteles fie ausgebildet
hatten. In ihnen fand er zwei Punkte hanptfählid,
durch welche ex ſich überrebete, daß die Allmacht Gottes
mit der Nothwendigkeit bes Böfen vereinbar fey, bie
Lehren von ber Gerechtigkeit Gottes und von ber Schöw
heit der Welt. Beide bildeten Vorurtheile ber alten Welt,
welche auch burd das Ehriſtenthum nur allmählich ber
fiegt werden Tonnten. In welchem hohen Anſehen bie
Tugend ber Gerechtigkeit bei den Alten fland, weiß ein
Seder. Gie durfte Gott nicht abgefprochen werben. Es
ift aber eine alte Lehre der griechifhen Philofophen, von
Platon und Nriftoteles befonders ausgebildet, bap bit
Gerechtigkeit in ber richtigen Berthellung der Nemter und
Baben nach dem Werthe eines Jeden ſich bewähre Sie
üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philofopbie. 633
fett voraus, daß ber Werth derer, unter welchen zu
vertheilen iſt, verfchieden fey. Eine folche Berfchieden-
heit nimmt auch Auguflin als nothwendig an, nicht allein
unter Steinen und Pflanzen, Thieren und Menfchen,
fondern befonderd auch munter ben‘ Iekteren nad bem
Grade ihrer Würdigkeit. Er forbert fie, damit Bett
feine Gerechtigkeit in ber Bertheilung erweifen könne.
Mit diefer Anficht verknüpfen fidy aber auch die Leber,
bieibfel der dualiſtiſchen Vorſtellungsweiſe, welche zwei
Reiche theilen, das Reich der Guten und bad Reich der
Böfen, oder, wie bie griedhifchen Philofophen nach ih⸗
rem gemilberten Syſteme es faßten, der zur Gerechtig⸗
keit und zum politifchen Leben Befähigten, d.h. der Gries
hen, und der nicht zu ihm Befähigten, d. b. der Bars
baren. Allen diefen Annahmen folgte Auguftin, nur mit
einigen Wbänderungen , welche bie Predigt des Chriſten⸗
thums am alle Böller gebet. Denn Gott hat nicht biefed
oder jened Volk ſich erwählt, ſondern er. hatfeine Erwähls
ten unter allen Bölfern Im feiner Schrift über den
Staat Gottes, d. b. in feinem Hauptwerke, ſtellt uns
nun Auguftin dar, wie der Staat ber Gerechten und der
Staat der Ungerechten mit einander geftritten haben und
Rreiten werden bis zum Ende aller Dinge, beide unter
der Regierung Gottes, beide zu einer Ordnung vereinigt,
um uns Dad Schaufpiel der Weltgefchichte zu geben und
der eine bie Gnade, der andere die firafende Gerechtig⸗
feit Gottes zu offenbaren. Wer kann hierin die alter»
thümliche Färbung feiner Gedanken verkennen? Nicht
minder, glaube ich, leuchtet fie daraus hervor, daß Aus
‚gufiin die Nothwendigfeit des Guten und des Böfen
auch aus der Schönheit der Welt herleite. Der Ges
danke der Schönheit ift auf das tieflte allen feinen Leh⸗
ven von Gott eingeprägt. Er hört nichtauf, feine Schön»
beit zu preifen. Gott ift bee Schönfte, der Grund aller
Schönheit; daher hat er zu feiner Offenbarung auch Alles
45 *
63% Ritter
nad) Maß und Zahl georbnet; deßwegen mußten in der
Welt verfchiedene Dinge feyn, andy Gegenfäße, weil
ohne fie nichts fchön feyn würde. Und nun bemerkte man,
wie bei den Alten Gutes und Schönes für gleichbeben:
tend gelten. Auch hierin ift Auguſtin der alterthämlichen
Denkart treu geblieben. Bon ihr and fordert er, daß bem
Guten audı Böfed beigemifcht ſeyn müſſe, weil, wenn Allee
gut wäre, Alles einförmig feyn und nichte hervorgläw
gen würde Wie nachdrücklich bringt er darauf, daß
durch ſchwarze Stellen die Schönheit bed Gemaͤldes gehoben
werden müfle, daß ein Kleiner Schler eine große Schön
heit abgeben koͤnne, daß die Tugend, num zu glänzen,
zu ihrer Folie das Lafter verlange! Dieß find bie als
gemeinen Gründe, durch welche Anguſtin nicht allein bie
Möglichkeit des Böfen, fonbern in der That feine Roth:
wenbigfeit ſich befchönige, Sollte ich irren, wenn ih
bierin eine Nachwirkung der alten heibnifchen Denkweiſe
und Philofophie zn erkennen glaube?
Die Berfchiedenheit meiner Meinung von der, melde
Baur vertritt, läuft auch bier wieder darauf hinaus,
daß diefer nur die metaphpfifchen Beweggründe hervor
heben und fie durch eine freie Deutung dem Auguſtin
aufdrängen möchte, während ich den ethifchen Beweg⸗
gründen ihre Recht zu bewahren fuche.
Daflelde gilt für unfere Benrtheilung ber mittelal
terlichen Philoſophie, über welche ich noch einige Bewer⸗
tungen hinzufügen wid. Es geht daran hervor, daß
Baur bei der Meinung Tennemann’s beharrt, welche in
bem Gtreite zwifchen Nominalismus nnb Realismus dad
bewegende Princip der fcholakifchen Philsſophie ſucht
(5. 203,), während ich biefen Streit zwar keineswegs
für unwichtig halte, ihm aber doc; nur eine untergeord-
nete Bedeutung beilegen kann, indem er erft bein Ber
_ falle der theologifchen Syſteme eine enticheidende Role
übernimmt. Meine Anficht von ber mittelalterlichen Phi
üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 635
lofophte läuft Dagegen daranf hinans, daß ich in ihr bie
Entwidelung eined theologifhen Syſtems fehe, weiches
das religiöfe Leben im firengfien Begenfaße gegen das
weltliche. Leben faßt. Eben hierin trägt fie den Keim eis
nes unerträglichen Zwieſpalts in ſich, weicher, zur Ents
widelung gekommen, göttlihe und weltlide Weicheit
von einander abzulöfen firebte und Dadurch auch zur Aufs
Iöfung des Syſtemes felbft führte,
Wenn ich nun durch einleuchtende Thatfachen dars
gethan habe, daß der Rominalidömus vor bem 14. Jahrh. nur
eine ſehr unbedeutende Erfcheinung in der Philofophie
des Mittelalters war, fo fucht dagegen Baur allerlei
Beweife zufammen, welche ihm eine größere Wichtigkeit
beilegen follen, @r verräth aber dabei in der That eine
gänzliche Verwirrung über die Begriffe des Nominalis⸗
mus und Des Realismus, wie fie im Mittelalter gefaßt
wurden. &. 191, findet er einen Widerfpruch darin, daß
ih einmal dem Joh. Scotus eine idealiftifhe Lehre zus
ſchreibe, ein andermal behaupte, er ſey entſchiedener Ders
fechter des Realismus. Als wenn der Realismus des
Mittelalters, die Behauptung der Wahrheit der allge
meinen Begriffe, nicht mit dem Idealismus auf das befte
beftehen könnte. Baur verwechſelt hier den Realismus
bes Mittelalterd mit dem, was in nenerer Zeit fo ge⸗
nannt worben ift, Um ben vermeintlichen Rominaligmug
Abalard's zu vertheidigen, dba er nicht leugnen kann,
daß er den Realiömusd behauptet babe, unterfucht er
(S. 196.), ob ed nicht eine Form ded Realismus geben
könne, welche vom Rominalidmnd nicht verfchieden fey,
und findet eine folche in der Lehre von der Realität des
Allgemeinen in den befonderen Dingen (universalia inre).
Wenn dieß wäre, worauf liefe der Streit zwifchen beis
den Anfichten hinaus? Der Nominalisſsmus beftreitet eben
bie Wahrheit des Allgemeinen auch in den Dingen; es
iſt ihm nur im abfirahirenden Verſtande; nach feiner
636 | Ritter
Meinung HibE es mır Beſonderes. Daher iſt denn and
die Behanptung Baur’s (S. 208.), baß dee Gegenſatz
zwifchen Nominalismus uud Realiduns, wenn mau weis
ter zuruckgehe, anf den Unterſchied zwifchen ariftotelifcher
und platonifher Philofophie zurückführe, für ierig zu
balgen. Die Ariftoteliter, welche die unlveraslia in re be:
haupteten, gehören nicht weniger den Realiften an, ale
die Platoniker, welche die universelle ante rem a
nahmen; bie Nominaliſten dagegen lehrten, daß es nur
aniversalia post rem gebe, db, h., daß jeder allgemeine
Begriff nur nachher im Berfiande, a posterlori entftehe,
nachdem die einzelnen Dinge vorher geweien und durch
ihre finnliche Erfcheinung zur Bildung bed allgemeinen
Begriffes und erregt hätten. Daß diefe Lehre auf ari⸗
ſtoteliſche Satze zurückgeführt wurbe, berechtigt ums nicht,
fie dem Ariſtoteles beizulegen.
@den fo irrig iR das, was Baur bei dieſer Gele
genheit Aber den Einfluß der platonifchen und ariſtoteli⸗
fen Philoſophie auf die Theologie des Mittelalters
ſagt. Er möchte die alte Meinung von der durchgehen⸗
den Belanntfchaft der Scholaftiter mit ber ariſtoteliſchen
Phäloſoßhie aufrecht erhalten und beruft fich. dafür auf
die Durch das ganze Mittelalter verbreitete Kenntniß des
Porphyrius und Boethins, auf die Schriften des Abä-
bard, des Seh. von Galiöbury, fo wie auf die dialek⸗
tiſcht Methode der Scholaftifer. „Alles,” fagter (5. 207.),
„was man hauptfäclich zur artftotelifchen Methode zu
rechuen pflegt, die Definition, die Induction, der SyUo⸗
gismus, gehört weientlich zum wiſſenſchaftlichen Verfah⸗
ren der Scholaftifer. Daß fie auf diefem Stanbpumkte
der logiſchen Abſtraetton und Meflerion ficken, iM für
ihre Verhultniß gur ariſtoteliſchen Philoſophie weit charak⸗
teriſtiſcher, als die Ueberrinſtimmung mit Lehren nad
Principien der ariftotelifchen Metaphoſtt, bie fich etwa
bei ihnen nadyweifen IAßt.”
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 637
Ich mag nmicht von Nenem wicberholen, was ich über
digen Punkt an einer anderen Stelle (Schneidewin’s
Philologus. 1846, ©. 61 ff.) gejagt habe, mu aber doch
Einiges gegen diefe Beweisführung bemerken. Sie läuft
fat gänzlich auf die Iogifche Verwandtſchaft der Scholas
ſtiker mit dem Ariftoteled hinans. Denn Porphyr und
Boethind, wie die Schriften bed Abälard, welche bier -
gemeint find, auch Joh. von Galiöbury größten
theils betreffen nur die. Logik des Ariſtoteles. Wenn
nun hierauf dad Hauptgewicht füge, warum bemüht
fh Baur, vom Anfelm zu zeigen, daß ee Platoniker
gewefen (S. 204 f.)? Denn aud er bedient ſich ber
oben begeichneten Methoden. Baur kann doch gegen
meine Angaben nicht leugnen, daß es viele Plasonider im
Mittelalter gegeben; fle alle aber gebrauchten dieſelbe
Methode. Ja, was noch mehr ift, Platon felbfi ges
braucht ſte; die Induction und die Definition hatte er
beim Sokrates Bennen gelernt und ſollte er ſich des Syllo⸗
giomus enthalten haben? Das wäre sun wohl ein gar
zu grober Anachroniömud, wenn wir ihn bewegen einen
Arikkoteliter nennen wollten. Gebranchen wir nicht noch
immer alle diefe Methoden? Was Baur den Stand»
panft Der logifchen Abftraction und Reflerion neunt, die
meiften oder alle neuere Philoſophen stehen auf ihm in
ihren linterfachungen zuweilen oder immer. Und nicht
anders iſt es bei den Scholaſtikern. Sind deßwegen jene
wie diefe Ariſtoteliker? Man fieht, Baur hat entſchie⸗
denes Unglütk, wo ev auf das Gebiet ber. Logik ſich ver»
irrt. Es wirb wohl bei meiner Behauptung bleiben, daß
es nicht auf die. Logik, fondern auf die Metaphyfil an»
fomme, wenn vom linterfchiede der Platoniker und Arie
Rotelifer im Mittelalter die Rebe ift.
Baur ſelbſt kann nicht umbin, die Metaphyſik herbeis
zuziehen, wenn er dieſen Unterfchied erörtert, Wenn er
den Plateniomus des Ich. Scotus (S. 192.), des Ans
638 | Ritter
felm (S. 204. barthun will, hat er es mit metaphyſiſchen
Begriffen zu thun; obenſo, wenn er behauptet, daß ‚pie
Grundauſchauuug bed Thomas von Aquino platoniſch
ſey (S. 218.). In den beiden erften Fällen hat er Recht,
im dritten Kalle würden feine Behauptungen großer Be⸗
fchränfungen bebürfen. Ich führe diefen Fall beſonders
an, um bemerflich zu machen, wie Baur in feiner Be
artheilung auch der fcholafifchen Syſteme mit der größs
ten Gewaltſamkeit verfährt. Er überficht ed ganz, daß
Thomas in der Form feiner Lehre überall an den Ari
ſtoteles ſich anfchließt, mehr als alle frühern Scholaſtiker.
Die Grundanſchauung feiner Lehre findet er darin, daß
Gott ald das Seyn gedacht werde. Daß Thomas Bott
ald actus, ald Urfache, ale Schöpfer durch feinen Willen
denkt, darin findet er nur Widerſprüche mit feinem Prin-
cipe. Wenn Thomas die Richte Ewigkeit der Welt für
einen Glaubensartikel erklärt, fo findet Baur darin einen
Beweis feiner platonifchen Grundanſchauung, troß dem,
daß biefe Behauptung. überall auf die Lehre des Ariſto⸗
tele® fich beruft.
Noch einen Punkt muß ich berähren, in welchem
Baur meiner Anficht über die Philofophie des Mittelal:
ters Aviberfprocken hat. Sich finde nämlich den Unter⸗
fchied zwifchen patriftifcher und mittelalterlicker Philos
fophie darin, daß jene überwiegend polemiſch, Diefe
überwiegend foftematifch if. Baur wirft. mir Dagegen
von der Seite ber Kirdyenväter den Origenes und ben
Auguflin, von der Seite der Schslaſtiker den Anfelmus
ein (S. 186,), Er hätte wohl beffere Beiſpiele finden
können. Dad Schwanken des Origenes macht ihn zu
einem fchlechten Syſtematiker und bezeichnet die Natur
feiner Lehren als polemifd, Eben fo überwiegend if
beim Auguſtin die Entwidelung feiner Gedanken im
Streit. Vom Anfelm habe ich bemerkt, wie feine ein:
einen Abhandlungen fi zu einem Syſteme zuſammen⸗
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 639
fchließen wollen unb er noch an feinem Ende daran
dachte, dieß Syſtem abzurunden. Solche Einzelheiten
entfcheiden jedoch die Sache nicht; ed Tommt auf .den
allgemeinen Charakter diefer Zeiten an. Da wird man
aber wohl kaum verkennen fönnen, wie mißtrauiſch das
Zeitalter der Kirchenväter gegen die Syſteme der alten
Philoſophie it, wie ed nur einzelne Lehren berfelben ſich
aneiguet umd nur im Gtreite gegen die aus der Philos
fophie eingebrungenen Keßereien feine Dogmen ausbil⸗
det. Das Mißtrauen gegen die alte Philoſophie hatte
die Zeit im Allgemeinen in Bergeflenbeit gebracht; unter
den nenern Bölfern fühlte man das Bebürfniß, neben dem
chriftlichen Glauben anch die alte Wiffenfhaft der Grie⸗
hen und Römer nicht ausſterben zu laſſen; bas Mittel»
alter ift zwar zum Streite der Nenern gegen Reuere ger
neigt, gegen das Alterthum aber ift es gläubig; es fühlt,
daß ed zu lernen bat; in feiner trenherzigen Meiſe gibt
es fich den Lehren des Platon, des Arifteteled bin, wo
ed derfelben habhaft werden kann. Diefer Dogmatismus
mußte das Spftem bervortreiben, wie es denn mit wadır
fender Macht der Gemüther ſich bemteifierte. Skeptiſch,
kritifch, polemifch it der Sinn dieſer Zeiten im Allge⸗
meinten nicht; es bedurfte fehr Marker Gegenſätze, um fie
aus ihrem Blanben an das Spflem der Wifleufchaft herr
andzntreiben. Diefe Gegenſätze fehlten aber freilich auch
nicht und die Eatwidelung berfelben muß man beobadıs
ven, wenn man den Kortichritt diefer Zeiten begreifen
will. Baur fireites nur mis einem Schatten, wenn er
Wlaubt, meine Meinung zu treffen, indem er erinnert,
daß aus dem Kampfe ſolcher Gegenfäße der Fortſchritt
in der Entwidelung hervorgehe (S. 188), nur darin
muß ich ihm widerfprechen, daß der bewegende Gegens
fa in den Lehren des Nominalismus und‘ des Realie-
mus gelegen habe (S. 203.). Auch hierin beweilt Baur
feine Vorliebe für das fpeculative Element in der Theo⸗
642 Ritter
+
ihre Unerträglichleit den Umfchwung in eine uene Zeit
herbeiführen mußte.
Da ich nur in kurzen Zügen den wenig befannten Gang
in ber Philofophie ded Mittelalters hier fchildern konnte,
habe ich andy nur der groben Züge mich bedienen kön⸗
nen; erft durch eine feinere Ausmalung würbe das Bild
fein Leben und feine volle Wahrheit erhalten Tönnen,
Möge fi Niemand an die Eden flogen, welche geblier
ben find; daß gegen bie Richtigkeit derfelben Einwen⸗
dungen gemacht werben könnten, wird ber Wahrheit der
Zeichnung keinen Abbruch thun. Um nicht zu weitlänftg
zu werben, muß man mandye Regel zu allgemein aus⸗
drüden,
Ich fchließe mit der Bemerkung, daß meiner Auficht
nach in den. Entwidelungen der chriftlichen Philofophie
auter den Kirchenvätern und Scholaftitern bis auf bie
neuere Zeit, was ihre Beziehungen zum Dnalismus ber
teifft, ein fehr verfländlicdher Plan if. Wir haben früher
bemerkt, daß vor der Entwidelung bed Monotheismus
-in feiner gangen Strenge und mit der vollen Hoffnung
auf Erlöfung das Gefühl des Webeld ſich fchärfen, fo
wie bie idealen Forderungen ſich fleigern mußten. And
jenem Gefühle des Uebels drangen die dualikifchen Bor:
ftelungsweifen auch in dad Chriſtenthum ein, fogar im
ber groden Geftalt, welche wir noch ‚lange Zeit in ben
manichätfchen Seeten nachwirken feben. Doc wurbe dies
fer grobe Dualiomus bald als ketzeriſch erkannt. Nicht
fo ſchnell gelang bieß mit den Leberbleibfeln des Dualis-
mus, welche in ber Emanationdichre mit polytheiſtiſchen
Borkellangsweifen fidy verfegt Hatten. Wir haben ge
fehen, wie fie in der Lehre ber Balentinianer in gröbe⸗
zer, in ber Lehre bes Drigenes in feinerer Geſtalt ſich
erhielten, zuletzt aber durch die orthodore Trinitätslchre
überwunden wurden. Diefer Sieg bed Monotheismus
in der metaphyſiſchen Anficht ber Dinge konnte aber doch
N
üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 643
die praßtifche Geſinnung, welche den Völkern des Alters
thums innewohnte, nicht völlig brechen, In der Lehre ber
Pelngianer, welche eine von Gott unabhängige Freiheit
ſuchte, hatten ficy noch andere Nefte bed Dualismus er⸗
halten. Gie wurben durch Auguftin befiegt, aber in einer
Weiſe, welche wieder den Gegenfag in der Vorherbeſtim⸗
mung Gottes nicht andzufcheiben wußte. Er wurde
für nothwendig gehalten wegen der Gerechtigkeit Bottes,
wegen der Schönheit ber Welt. In folder Weife famen
Ueberbleibfel ded Dualidmus auch auf die neueren Böls
fer des Mittelalters, bei welchen fie in bem fchroffen
Gegenfage zwiſchen Firchlichem und weltlichen Leben ſich
feſtſetzten. Auch diefer Gegenſatz wollte fih ausleben.
In feiner höchſten Steigerung führte er dazu, daß bie
Wiſſenſchaft und die Kunſt des Alterthums, welche mit
dem Chriſtenthume zu vereinigen die Aufgabe war, dem
weltlichen Leben zugezaͤhlt und mit dieſem für nichtig und
unbeilig gehalten wurben, Die neuere Zeit hat die Auf⸗
gabe gehabt, das Weltliche wieder zu Ehren zubringen;
fie har aber aud hierin nicht Maß zu halten gewußt;
anftatt es Durch feine Berfhmelzung mit dem Kirchlichen
in heiligen, hat fie es zu ihrem Abgotte gemacht. Die
Einheit, weiche fie fuchte, hat fie in der Natur zu fin,
den geglaubt und dadurch den Idealen der Vernunft Ab:
bruch gethan. Wenn wir feit etwas länger ald einem
halben Jahrhunderte von diefen Abwegen zurüdgelommen
find, fo ftehen wir doch, bünft midy, noch eine ziemliche
Weite von der. Bereinigung des Weltlichen und bed
Geiſtlichen ab, welche wir gewinnen möchten, wie im
praftifchen Leben, fo in der Wiffenfchaft.
2.
Rebukadnezar.
Eine Unterſuchung über das Verhältniß der Perſer zum
babyl. Reiche, mit beſonderer Berüdfichtigung der Schrift:
The times of Daniel, by George Duke
of Manchester.
Bon
Prof. A. Ebrard.
Es hat biäher im Allgemeinen als eine unbehrittene
geichichtliche Boransfegung gegelten, baß vor der Sräus
bung bed perfifchen Reiches durch Cyrus ſchon zwei
größere Reiche in dem Gebiete ded Enphrat nnd Tigris
beftanden hätten, erſt dad affyrifche unter Phul, Tig⸗
ladpilefar, Salmanaflar, Sauberib u. f. w,, ſodann das
babyloniſche unter Rabopalaflar, Rebuladuezarn. |. w.
Schon Joſephus erzählt fo, und feit Joſephus iR — mit
geringen Ausnahmen — NRiemanden in den Sinn ges
kommen, bie Richtigkeit dieſer Anfchauung in Krage an
ſtellen.
Ein jeder Zweifel mußte auch verſtummen, da ſelbſt
Manetho (bei Los.c. Ap.) in einem uud demſelben Frag⸗
mente berichtet, Nebnkadnezar habe Jeruſalem zerftört
und Eyrus die Erlaubniß zum Wieberaufbaue gegeben.
So wird ja die Erzählung der a, t. Bücher (2 Chrom.
Esr. Neh.) aufs glänzendfte beätigt. Und daß der „Ko-
vefch” diefer Bücher und der „Cyrus“ des Manetho
eben jener berühmte Gründer bed perfifchen Reiches ſey
— wer in aller Welt wollte ed anders vorausſetzen?
Freilich könnte ed auffallen, Daß Herodot eines fo
großen und mächtigen Reiches, wie bad babylonifche
Nebukadnezar. 645
nach den Berichten bed A. T. geweien feyn muß, gar
feine Erwähnung thut. Indeffen auch diefer Umſtand
bat im Ganzen die kinmal feftfichende Heberzeugung nicht
wankend zu machen vermocht.
Jetzt aber hat biefelbe plöglich einen gewaltigen Stoß
erhalten. Es ift, ale ob das fiegreiche Albion, nicht zus
frieden, die Meere und Küften der Gegenwart in einem
Umfange zu behersfchen, in welchem die Sonne nicht un
tergeht, num auch feine Eroberungen in bie graue Bers
gangenheit ausdehnen und uralte Weltreiche, die biöher
in den Archiven der Wiflenfchaft ruhig und unanugefoch-
ten nebeneinander lagen, libereinander ſtürzen und ihnen
ganz andere Pläße anweiſen wollte Doch Scherz bei
Geite, fo muß man wohl zugeſtehen, daß auch auf Dies
ſem Felde mit einem NReichthume von Subfivien nnd eis
ner Umſicht und einer Entfchloffenheit gefochten wird,
welche einem Herzog ans dem glorreichen englifchen Könige:
hanfe zum Höchften Ruhme gereicht, und daß biefer willen»
fhaftlihe Feldzug fich den irdifchen Waffenthaten feiner
Ration getroft zur Seite ftellen kann,
Der Herzog Georg von Manchefter hat in dem1845
iu London bei James Darling erfchienenen Werte:
„The times of Daniel, chronological and prophetical, exa-
mined with relation to the point of contact between sacred
and profane chronology," ſich zunädft die Aufgabe ger
Rellt, über die fiebenzig Jahre der Gefangenfchaft, fo
wie über bie fiebenzig Jahrwochen bis Chriftus ausführ⸗
lihe Unterfuhungen anzuftellen, ausgehend von ber
Hoffnung, daß der theopneuftifche und prophetifche Cha⸗
rakter fänmmtlicher biblifcher Bücher fih auf wiffenfchafts
lihem Wege werde rechtfertigen laſſen. Seine Unterfns
chungen felbft find, wie wir fehen werben, vorurtheile,
frei; er macht den Berfuch, wie weit man komme, wenn
man fürerft einmal die Ehronologie der h. Schrift für
fih behandle, ohne fogleich im voraus Bergleihungen
646 Ebrard
mit der Profangeſchichte einzumengen, und dann erſt bie
letztere mit in Rechnung ziehe. Wir nehmen keinen Ans
ſtand, dieſe Methode als eine ſehr vorzügliche und wahr⸗
haft wiffenfchaftliche anzuerkennen; wiffenfchaftlicyer, als
wenn man, ehe man noch die zufammengehörigen Mo»
numente ber fitteratur eines Einzelvolkes in ihrem Zu⸗
fammenhange geprüft hat, fogleich den Kreis diefer Mos
nnmente felbft Durch vorfchnelle Kritik zerreißt. Die ger
nane Durchforfhung des kritiſch zu beurtheilenden Ob⸗
jected in feiner Ganzheit muß der Kritik des Eingelnen
vorangehen. Es ift dieß, wie und fcheint, die einzig
mögliche Art, eine im guten Sinne vorausfeßungslofe
Wiffenfchaftlichleit mit dem gläubigen Bertrauen, daß
die h. Schrift fi als Wahrheit bewähren werde, zu
vereinigen. Und daß ein ſolches Bertrauen weder mit
ber größten Gelehrſamkeit, noch mit dem feiuften Scharf:
finne unvereinbar fey, bat der erlauchte Verf. thatfächs
lich bewiefen,
Er faßt jene beiden Fragen nicht ifolirt anf; er
gründet feine Linterfuchungen über die 70 Jahre und 70
Jahrwochen vielmehr auf eine ungeheure Subfiructiom,
weiche im Grunde die gefammte biblifche und profane
Chronologie von Salome bis auf Ehriftud umfaßt. Uns
fere Abſicht war anfänglich, ſaͤmmtliche Abtheilungen feis
ned reihen Werkes zu. verfolgen; allein um bieß in
gründlicher Weife thun zu Pönnen, müßten wir faft ſelbſt
ein didleibiged Werk liefern. Go wollte ed paflender
fheinen, eine Hauptpartie aus dem liebrigen herauszu⸗
beben: die Unterfuhungen über das Berhälts«
niß des perfifhen Reihes zu Babel. Diefe
bilden faft die Hälfte des Buches und dienen allem Fol⸗
genden, nämlidy der eigentlichen Frage nach den 70 Jah»
ren und Jahrwochen, zur Subfiruction. Daß wir nun
gerade jene Partie herausheben, hat einen dreifachen
- Grund, Erſtlich bilder fie ein felbändiges Ganzes für
Nebukadnezar. 647
ſich und liefert ein Reſultat von ſolcher Bedentung und
Wichtigkeit, daß, wenn daſſelbe Anerkennung findet, das
durch eine Revolution in der Gefchichtöforfchung der
älteften Zeit hervorgerufen wird, ‚nicht minder groß,
als die Revolution, welche Copernieus in der Aſtrono⸗
mie bervorbrachte. Sodann fcheint mir dieſes Reſultat
in fich geficherter, als das ber darauf weiter gebauten
Unterfuchungen über die 70 Sabre und Jahrwochen, unb
jenes kann ſtehen bleiben, wenn auch biefed ſich ale uns
haltbar erweifen ſollte. Endlich eriftirt in Bezug auf
letzteres bereitd eine fehr gründliche Beurtheilung von
Wiefeler Cin den gött. gelehrten Anzeigen v. J.), wähs
rend auf bie Unterfuchungen über Babel und Perfien
dafeldft wenig Rückſicht genommen ift, fo daß wir jene
Anzeige durch dieſe Blätter zu ergänzen hoffen.
Anfichtlid, fielen wir das Nefultat des Verf. über
Babel und Perfien nicht im voraus vor die Augen un⸗
ferer Leſer, fondern folgen dem Gange ber Unterſu⸗
hung, durch welchen ber Berf. auf fein Refultat ger
führt wird.
Er beginnt im 2, Kap. mit eine Berechnung
der Zeit von Salomo bis zum Erile, welche wir,
obwohl fie nicht in engerer Bezichung zu unferm Haupt⸗
objecte fteht, doch in Kürze verfolgen müflen, um den
Faden nicht zu verlieren. Scharffinnig ift die Vorbemer⸗
tung, daß die Negierungszeiten der Könige des Zehn,
ſtaͤmmereichs häufig nah Jahren und Monaten,
die der jüdischen Könige aber (mit Ausnahme des Zebes
tab) immer nur nad Jahren angegeben werden.
Daraus laſſe fich fchließen, daß die letzteren nadı der
Abſicht der bibl. Schriftfteler eine fortlaufende chron-
Reihe zu bilden beftimmt waren, mit anderen Worten,
daß die allfäfig nöthige Ineinanderrechnung überſchüſſi⸗
ger oder fehlender Monate fhon vom bibl. Autor
Theol. Stud, Jahrg. 1847, 44
648 0 Me.
ſelbſt beforgt fey, der Die Regierungézeit her jüb. Kö⸗
nige auf die Sahre einer abfoluten, fortlaufenden Nera
redueirt habe, Diefe Bemerkung if gewiß um fo wid.
tiger, wenn man fich erinnert, daß es die Weife ber
ganzen a. 6, Geſchichtſchreibung iſt, ſich am Fader firer
chronologiſcher ober genealogifch= chrouologifcher Reihen
fortzubemegen, Damit ift dann aber allen Conjecturen
von Snterregnid und Synarchien im Reiche Juda ber
Meg abgeſchnitten.
Die einzelnen Fälle, wo man folcdhe GSonjecturen
machen zu müuſſen -glanbte, behandelt der Verf, ſehr
gründlich. Daß erfilih 2 Kön. 15, 30. Hoſea's Regie⸗
sungsantritt, nbgleih nach Jotham's Tode flattfindend,
dod nach Jahren Jotham's und nicht nach Zahren bes
Ahas berechnet wird, erflärt ex (nach dem Borgange von
de Vigunled und vielen Anderen) einfach und richtig dar⸗
aus, daß 2 Kin. 15, der Name Ahas Überhaupt noch
niet genannt wosrben war. Schwieriger finb aber zwei
anbere Fälle.
Der eine betrifft die Regierungszeit Amazie’d mu»
Serobeam’d I. Amazia warb König im zweiten Jahre
nach Dem Negieruugsantrittg bed Joas von Ifrael und
regierte (a Kön. 14, 1.) 39 Sahre lang, alfo bie zum
31. Jahre nad isnem Regierungsantritte, (Wir wollen
her Bequemlichkeit halber die Jahre von jenem Autriste
Des Joas am ald eine fire sera lonain betrachten.) Auf
bafleibe Jahr 31 a. I. wird ber Tod des Amazia verlegt
ig der Stelle 2 Fön. 14, 17., wo nämlid; gejagt wird,
Amazia habe den Joas (der 16 Jahre regierte) um 15
Sabre überlebt O6r15 = 31). Go regierte alfe
Amazia 2—31 a. I. — Jerobeam ward König im 15.
Sahre des Amazia (17 a. I.) und regierte (nach 2 Kön.
14, 23,) 41 Sabre, alfpo: Jerobeam 17—58 a. I.
Ufa wurbe im 27. Jahre bed Jerobeam König und
vegierte 52Jahre (2 Kön. 15,1), alfo Uſia 4 — 6 a.Il.
\
Nebufadnezar. 649
Sacharja beſtieg im 38. Jahre des Uſia ben Thron, alſo:
Sacharja 82 al.
Hier fallen alſo in Juda zwiſchen Amazia und Uſia
die leeren Jahre SL — 44, in Iſrael zwiſchen Jerobeam
und Sacharja die leeren Jahre 66 — 82. Wirklich nah⸗
men Lightfoot, Hales u. A. zwei Interregna an. Aber
ein ſolches Interregnum müßte irgendwie erwähnt oder
angedeutet ſeyn; die Stellen. 2 Kön. 14, 21.; 2 Chron,
26, 1. fchließen vielmehr jede Möglichkeit aus, und ge
beu deuntlich zu verſtehen, daß der Nachfolger dem DBorr
Hänger unmittelbar fuccedirte. Der Berf. hält deßhalb
die Aunahme einer Tertcorruption mit Recht für willen,
ſchaftlicher, ald jene gekünftelten Oppothefen, Er gewinnt
folgenpermaßen sine Gorrection. Bon dem Tode bes
Ufa, der unzweifelhaft mit dem eriten Sabre des Pela
sufammenftel, rechnet er die Negierungszeiten ber ifr.
Könige aufwärts (ohne zwiſchen Serobeam und Sacharja
ein Interregnum anzunehmen); nun war (2 Rön, 14,23.)
das 18, Jahr des Amazia gleid dem 3. des Jerobeam
und (nach 2R5n.15,2.) gleich dem 1. des Ufla, Daraus
ergibt fich, daß Uſia im 18. 3. des Amazia (20a. I.) defr
fen Nachfolger wurde, und bie beiden Stellen 2 Kön,
14, 17.; 15, A. müflen corrupt ſeyn.
So fehr wir hier gerade die kritiſche Freiheit des
Berf. anerfennen, können wir doch nicht mit ihm über,
einkimmen. Es if wirklich noch ein Weg ber Ausglei⸗
hung vorhanden, der wenigftend geprüft zu werben vers
dient. Beachten wir, daß (3 Kön. 14, 13.) Amazia von
Joas nicht etwa getödtet, fondern in Gefangenſchaft
gefegt Cem), Ierufalem gefchleift (V. 21.) und fein
Sohn Ufia vom Volke zum Könige gemacht wird, und
daß es ferner (DB. 17.) beißt: Amazia lebte (midht: res
gierte) noch 15 Jahre) Hiernach fcheint uns Die Sache
folgendermaßen zu ſtehen. Joas führte den Amazia ge⸗
44 *
.650 Ebrard
fangen; ſogleich damals muß fein Sohn Ufia
zu einer Art von Herrſchaft nuter ephraimis
tifher Botmäßigkeit gekommen feyn, denn
Joas nahm Geißeln (marmı2) mit; Geißeln nimmt
man aber nur zur Gewähr für eine von einem Andern
dauernd Üübernommene Pfliht, Setzte Joas einen ephrais
mitifchen Bogt in Serufalem ein, fo bedurfte er Feiner
Geißeln. Nah Joas Tode lebte Amazia (B. 17.) no
15 Sahre, und zwar nun nicht mehr in Gefangenſchaft,
fondern (anfänglidy wenigſtens) (B. 19.) in Serufalem.
Er muß alfo wohl nach des Joas Tode feine Freiheit
wieder erhalten haben. Er ward alfo wieder Kö
nig. Rurfoerklärtfich, wie fein eigenes Volk (V. 21.)
ihn verjagen und den Ufla zum Könige machen Fonnte.
Diefe zweite Entthromung muß von ber erflen ver.
fchieden feyn; denn das erfie Mal war ed nicht das
Bolt, welches ihn verjagte, fondern Joas, der ihn ges
fangen fegte. Wir haben Freiheit, diefe zweite Entthror
nung in das 18. J. ded Amazia (20 a. I), alfe drei
Sabre nach Joas' Tode, zu ſetzen. Amazia lebte nun
zu Lachis (noch 12 Jahre, denn 3 + 12 = 15), Wenn
felbt dorchin ihn eine jüdifche Verfchwörung verfolgt
und ihn dort töbtet, und wenn ferner Ufla (2 Ehron.
26, 2 — 6.) nach feines Baterd Tobe fi vor Allem gegen
philitäifhe Angriffe, gegen Angriffe von dorther,
zu wappsten bat, fo liegt bie Bermuthung nahe, daß
Anazia von dort aus Jeruſalem nnd den Thron feines
Sohnes beunruhigt haben müffe. Noch immer fland ins
zwifchen Juda im Zinsverbältniffe zu Iſrael, bie zum
27.%. des Jerobeam (44 a.1.), wo Uſia (2Chron. 26,9 ff.)
Jeruſalem befefligte und fein Volk frei machte. — So
fimmen nun alle Angaben zufammen. Bon 44 a. 1.
an wirb 2 Kon. 15, 1. fein Regiernngsantritt
im vollen Sinne gerechnet, während bie 52 Regie
Nebulabnezar. 651
rungsjahre ebendafelbfi vom Jahre 20 =. I. an zu
zählen find «).
Die zweite Schwierigkeit betrifft den König Hoſea.
Dela regierte 20 Jahre. (Wir rehum die Jahre von
feiner Thronbefleigung an wieder ale abfolute sera Peca-
sis.) Sotham regierte von 2 — 18, Ahas vom Jahre 18
an; über Hofea aber bifferiren nun bie Angaben. Nach
2 Kön. 15, 30, regierte er vom 20, Jahre nach os
tham's Regierungsantritte, d. i. vom 4. Jahre des Ahas
(21 ser. Pec.) an; dagegen nach 2 Kön. 17, 1. vom 21.
Yahre des Ahas (30 ser. Pee.) an. Der Herzog von
Manchefter löſt diefen Widerſpruch, indem er 2 Kön. 17, 1.
Po ald Pindquamp. Überfegt. Allein dann wäre ed allein nas
türlih, die V. 2 ff, erwähnten Negierungsjahre des
Hofen für identifh mit den V. 1. erwähnten (ben
Sahren 21 — 30 zer. Pec.) zu halten. Da dieß nicht
angeht, weil ja fonft die B. 6. erwähnte Zerftörung
Samaria’d in das Jahr 30 fiele, während fie doch nad
18, 10. in das fehle Jahr des Hiskia Calfo39 a. P.)
fallen muß, fo ift es wohl einfacher, 17, 1. nicht mit
dem Plusquamp. zu überfegen, fondern fchon hier die zweite
Reunzahl von Regierungsjahren Hoſea's erwähnt zu
finden, Das Refultat (dag nämlich Hofen 2x9 Jahre,
von 21 — 30 und von 30 — 39 regiert hat) if übrigens
das gleiche. Ein doppelter Negierungsantritt wird 2 Kön.
15, 30,; 17, 1. in jedem Kalle erwähnt, unb derfelbe er»
Härt fi fo, daß Hoſea anfangs den Afiyrern zinsbar
a) Amazia regiert 2 — 16, iſt gefangen 16 — 17, regiert wies
der 17 — 20, lebt in Lachis 20 — 31. Uſia ift ephraimitis
fer Satrap 16 — 17, iſt König unter ephraim, Oberherrfchaft
» — 31, macht fidy frei und regiert unabhängig Bi — 72.
— Serobeam regiert 17— 58, Sacharja befleigt den Thron
im 88. Jahre nach Ufia’s erftem Regierungsantritte, d. i. 58,
alfo nad Jerobeam's Tode.
652 Ebrard
war, dann Hder mit ägyptiſcher Hülfe das Joch anf
eine freilich nur kurze Zeit abfchättelte.
Es ergibt fih nun von Rehabeam's Regie:
rungsantritt bis zur Zerflörung Samaria s
ein Zeitraum von 248 Jahren.
Die folgende Zeit vom fehflen Jahre des Hi
fia bis zur Zerfiörung Jernſalems wird ge
wöhnlich auf 134 Sabre berechnet. Die Richtigkeit die
fer Rechnung ſteht oder fällt mit der Lesart „zwei” in
ber Angabe der Regierungsiahre des Amon (2 Kön. 21,
19.). Die LXX. (cod. Vat.) leſen „zwölf,” und der Berf.
bemerft, daß andy Arm., Eus. (in den von Mai ebirten
Kragmenten), Ricephorne, Barhebräus, Profper und Sfr
dor „zwölf” lafen. Der Berf. unterfügt biefe Lesart
„zwölf” mit brei Argumenten, wovon aber nur eine
ftichhaltig iſt ).
a) Die beiden andern beruben auf einer willtürlichen Auslegung
zweier propbetifcher Stellen. 2 Chron. 86, 21. weiffagt Jere⸗
mias bem Volke einen 70jährigen Straffabbath. Dieſem, fagt
der Verf., mußten ſechs flebzigjährige Sündentage, alfo 420
GBündenjahre vorangeben, und ba ber Gtraffabbath mit ber
Berfiörung des Tempels beginne, fo müfle die Suͤndenwoche
von der Ginweihung bes Tempels an (275 3. vor Galomo’s
Tode) gerechnet werben. Won da biß zur Zerfiörung bes Tem:
pels feyen nur dann, wenn man bem Amon 12 3. gebe, 4280
Jahre. — Ezechiel rede 4, 5. von 890 Günbentagen Sf
zaeld und 40 Sündentagen Yuda’s. „Das Baus Sfrael” be
zeichne ftets alle 12 Städte zufammen. Die 390 Tage bürften
alfo nicht mit dem Abfalle ber zehn Stämme, fonbern mäßten
mit dem 3. Jahre Hehabeam’s, wo auch Juda fünbigte
(2 Ehron. 12, 1.), begonnen werben. Bon ba bis zur Zerſtoͤ⸗
sung Serufalems feyen nur dann 890 Jahre, wenn Amon 129.
regiert babe. (Die 40 Zage Juda's erflärt er von ber Zeit von
Chriſti Tod bis zur Zerfiörung durch Zitus.) Dieſe Interpre
tation bebarf nün kaum der Widerlegung. Daß die 890 + 40
Zage nicht (mit Calv., Lightf., Vitr., 3. D. Mid. Rofenm. u. 2.)
von den Sahren der Verſchuldung erflärt werben bärfen,
bat neuerbings der felige Haͤvernick dewieſen (vergl. f. Comm.
©. 66.).
Nebuladbntzar. 653
Dieſes deruht auf einer Berechnung der Sab⸗
bath> und Jubelyerioden Hierzu dber bahnt
nun fhon eine hdronologifthe Parallele det
legten jud. Könige mit Nebnkadnezar den Weg,
Das Reſultat diefer Parallele, wie ed aud den verglichenen
Stellen unwiderſprechlich hervorgeht, ift folgendes. Ne⸗
bufabnezar beftieg gegen Ende des 4, Regierungsjahres
von Jojakim den Thron und ärzte Jojakim in deffen 11.,
feinem 7. Jahre. Da nun Jechonjah's dreimonatliche Re⸗
giernng gerade mit dem jüdifchen Jahreswechſel enbigte
(2 Ehron. 36, 9 fi), fo wurde Jojakim alfo drei Monate
vor dem Schluſſe bed judb. Jahres geſtürzt (und der
Anfang feiner Regierung wird um Öftern, nicht mit Uſher
und Eradock in ben Herbft zu ſetzen ſeyn, weil im letz⸗
‘tern Kalle nur 10 J. 3 M. anftatt beiläuflg 11 Jahren
berausfämen). In den drei Monaten zwifchen dem
Sturze Jojalim's und dem des Sechonjah begann das 8.
Jahr Nebukadnezar's; Diefer bat alfo gegen Ende dee
hd. Jahres zu herrſchen angefangen. — Zedekiah begann
im 8. 3. des Nebnkadnezar feine Regierung (vergl. Ser.
82, 1.), aber erft im 5. Monate ded 8. Jahres, alfo erft
ein paar Monate nach Jechonjah's Sturze. — Wenn Dan.
1, 1 f. Jojakim's Entthronung in fein drittes Jahr ges
ſetzt wird, fo ift das dritte Jahr nach feiner Wiederbe:
freiung and feiner erflen Gefangenſchaft (vom Anfange
des 2, bid zum Anfange des 5. J. des Nebuk.) gemeint.
Nun wendet fich der Herzogben Sabbafhperioden
zu (Kap. 4.), und legt hier eined der glänzenbfien Zeug:
niffe feined durchdringenden Scharffinnd ab. — Die Zeit,
angabe Ez. 1, 1: „im dreißigſten Jahre,” weldhe von Sca⸗
liger, Rofenm. n. 9. unhaltbarerweife, als eine einer
(fingirten) nabopalaffarifchen Wera angehörige Iahrzahl
betradytet worben ift, wird jebt won Ideler und Häver-
nid nad dem Vorgange von Grotius und Piscator vom
Jahre der joflas’fchen Reformation an gerechnet. Mit
654 Ebrard
Recht wendet der Verf. dagegen ein, daß von einer ſol⸗
chen Neformationsära ſich ſonſt nirgends auch nur bie
leiſeſte Spur finden laſſe, und fo erflärt er nach Kimchi's,
Jarchi's und Hieronymus’ Vorgange jenes 30. Jahr ale
das 30, einer IZubelperiode. Daß man nadı Tubelpe
zioden wirflich gerechnet habe, wird nad) Wiefeler’d Ber
merkungen über dad odßBarov devsspdzgmrov Chrom. Syn.
©.225 ff. und 353 ff.) ohnehin fehr wahrfcheinlich. Der Berf.
feinerfeit® unterftüßt feine Anficht noch durch eine ſcharfſin⸗
nige Bemerkung. Ez. 40, 1. erflärt er au un nicht wie
gewöhnlich als „erftien Monat,” fondern als „Tahresan:
fang,” und überfegt: „im 25. 3. der Gefangenſchaft,
„beim Sahresanfange, nämlich am 10. Tage des Mu
„nate.” Am 10. Tage eined Monats begann aber kein
andered Jahr, ale das Jubeljahr (nach Lew. 25, 9.
am 10. Tage des 7. Monate des gewöhnlichen Jahres).
Daß der fiebente Monat nicht befonderd genannt wird,
kann nicht auffallen; jeder Lefer des Ezechiel wußte ja,
in weldhem Monate ber 10. Tag den Anfang eined neuen
Jahres bildete. Daß „der erfie Monat” nie mit Ua
raeirı gegeben wird, und daß jene Weiffagung Ez. 40 ff.
fi) befonderd gut für die Zeit eines Tubeljahres fchidkt,
dient der Anſicht des Verf. zur Beflätigung. Am wich—⸗
tigften nnd merkwürdigſten it aber, daß die beiden
Stellen Ez. 40, 1. und 1, 1. ein übereinftimmens
des Refultat liefern. Nah Ez. 1, 1. waren im 5. Jahre
nah Jojakin's Deportation 30 Jahre feit dem letzten
Subeljahre verfloffen; das nädhfifolgende Jubeljahr muß
alfo 20 Jahre fpäter, alfo ind 25. Jahr nad der De
portation gefallen ſeyn. Und wirklich befagt nun bie
andere Stelle (Ez. 40, 1.), daß im25. Jahre der Deportation
ein Zubeljahr anfing. So unterfügen fidy die Erflärungen
beider Stellen allerdings auf eine aller Beachtung wür⸗
dige Weife,
Nebukadnezar. 655
Wie ficht ed unun mit den Sabbathiahren?
Das „vierte Jahr” (er. 28, 1.), das erfte bed Zedelich,
erlärt der Berf. auf analoge Weife ale das 4. Jahr
eines Sabbatheyklus und ſtützt dieſe Erklärung damit,
daß Hananjah (V. 3.) ſagt: „Wenn die zwei Jahre
um find,” nämlich die noch übrigen bis zum mächften
Sabbathjahre. Damit fiimmt überein, daß (Jer. 34,
8—11.)da6 zehnte Jahr dee Zebeliah wieder ein Sabbath»
jahr war. Nämlich das erfte des Zedelich war das vierte
nach dem Sabbathjahre, alfo das dritte des Zedek. das fie»
bente nach dem Sabbathjahre, alfo felbit ein Sabbath»
jahr; fo war alfo 7 Jahre fpäter, d. h. im 10. bed Zede⸗
fiah, wieder ein Sabbathjahr. — Auch biefe beiden Stel⸗
len (3er. 28. und 34,) fügen fich alfo gegenfeitig.
Das ganze Refnltat erhält nun aber den hoöchſtmoög⸗
liheu Grad von Feſtigkeit dadurch, daß diefe Sabbath⸗
und diefe Tubeljahre felbft wieder gegenfeitig überein,
Rimmen. Rad der richtigen Erklärung von Lev.. 25,
8 f. war je das 49, Jahr ein Sabbathjahr und das
daranf folgende ein Jubeljahr; vom 5L. wurde dann
wieder ein Sabbathcyklus angefangen (fo daß je zwei
Subelperioden ein Sahrhundert ausmachten). Ganz dafs
felbe Refultat ergibt fi num and obigen Datid. Das
25. Jahr nad) Jojakim's Deportation war ein Subeljahr
(nach Ez. 40, 1.). Hiernach müflen dad 24., 17., 10,, 4.
Jahr nach jener Deportation — oder, ba biefe won Ze⸗
befiah’8 Thrombefleigung nur um Monate vwerfchieden
war, das 4., 10., 17., 24. J. ded Zedekiah Sabbath»
jahre gewefen feyn. Und eben bad ergab ſich ja aus
Ser. 28, 1.5 4, 8— 11!
Hieraus ergibt fih nun auch der Beweis, daß
Amon 12 5. regiert haben muß. Nah 2 Kön.
19, 29. muß das 15. Jahr des Hiskia ein Jubeljahr
gewefen ſeyn. Diefed Jahr kann alfo nur SO oder 100
656 Ebrard
oder 150 ober 200 u. ſ. w. Jahre vor dad 25. Jahr nach
Jvjakim's Deportation gefallen ſeyn. Dat Amon nun
12 Jahre regiert, fo ſiel das 15. Jahr des Hiskia wirt:
li} gerade 125 9. vor die Deportation, alfo gerade
150 % vor das Jubeljahr Ey. 40, 1. Hätte aber
Amon nur zwei Sabre regiert, fo würde das 15. 3. des
Hiskia, dieſes Jubehjahr, nur 140 J. vor dad Jubeljahr
@}. 40. fallen, was unmoͤglich if. Alſo muB Amon
13 3. regiert haben, und die Zeit von der Zerſtoͤ—
rung Samaria’d bis zur Zerſtörung Jeruſa—
lems beträgt 144 Jahre.
Nach diefen Borunterfuchhnngen wenden wir und nun
mit dem Berf. zu dem Punkte, der und für anfern Zwed
die größte Wichtigkeit hat.
Welche perfifhe Könige werden über»
baupt in der h. Schrift erwähnt? — Der erfe
it „Darius der Meder” (Dan. 5, SL), welcher nad
Dan. 6. nicht ein Bafall des „Koreſch,“ fondern ein
ſelbſtaͤndiger König war, wie denn auch (Kap. 10, 1.; 12,1.)
die Reiche beider unterfchieben werden. Darins Aha
vers kann nicht mit Darius dem Weber identifh feyn;
denn unter ihm iſt Serafalem fchon gebant, nur der Tem⸗
pel noch nicht (vergl. Dan. 9, 7 und 17. mit@sr. 4, 12.;
Sad. 1, 12. and Hagg. 1, 4). Er war alfo vielmehr
ber auch bei Era, Hagg. und Sacharja erwähnte Rady
folger des Korefch, deffen zweites Jahr das Jahr ber
Ruckkehr der Erulanten iſt.
Darius ber Meder zählte 62 Jahre, als er Bas
bel eroberte, wird alfo nicht fehr lange mehr über Ba:
bei regiert haben, Auf ihn folgte Ahasver (Eſth. und
Dan. 9, 1.), was ein wirftiher Name und wicht (wie
Haled vermuthete) ein Dynaſtientitel iR, da fon bie
©relle des Daniel fo wie das ganze Buch Eſther rein
finnlos würde. Diefer Ahasver kann nicht nach
Nebuladnezar. 657
Korefd regiert haben. Die ergibt ſich and einer
unbefangenen Betrachtung von Eſth. 2, 5 — 71. Der
Relatiofaß: „welcher mit Jechonjah fortgeführt war,’
fan vernünftigerweife nur auf Marbohai, nicht auf
Kis bezogen werden, ſchon weil das folgende m (3. 7.)
nur anf jenen gehen kann. (Kis aber ift ber befannte
Bater Sanl's, auf welchen Mardochai’d Befchlecht durch
Eimei zurädgeführt wird.) So hat fchon der gried.
eberfeßer, fo haben die Targırmiflen, fo Abenedra und
Jarhi, fo Lyra, Bullinger, Brenz, 8. Lavater u. 9. bie
Stelle verftanden. "Die ganze Regierung Ahabs
vers fammt der Geſchichte Eſther's fällt alfo
vor Korefch, fäl lt ins Eril. Man wird einwen-
den, der Ahasver der Efther Fönne allerfrüheftend Xerres
feyn. Wir bitten, diefen Einwand einftweilen zu fnöpen-
diren; wer weiß, ob nicht auch wir berfelben Anficht
find !! Einſtweilen mifchen wir die Profangefchichte
nicht ein, fondern halten und ganz an die Frage, ob
„Ahasver” gleichzeitig mit oder ob er nach dem Erile
regiert habe. Das Buch Efther, natürlich ertlärt, weift
ihn in Die Zeit vor Korefch, in die Zeit des Exils. Mars
dochai war noch von Nebuladnezar ſelbſt Deportirt worden;
nach der Rückkehr (Eur. 2. Neh. 8, T.) kömmt wieder ein
Mardochai, vielleicht derfelbe, vor. Jedeufalls ift aber
gewiß, Daß die ganze Geſchichte der Eſther nur und als
lein während des Exils vorgefallen feyn kann; benn nadı=
ber waren die Juden weder in fo ungeheurer Zahl im
Oriente vereinigt wie Eſth. 7, 4., noch fo hart gefan⸗
gen und gebrüdt wie Eſth. 4, 8., fondern lebten ale
vereinzelte, freiwillig gebliedene, Endlich wird andy Dan.
9, 1. ein „Ahasver” erwähnt, der ald mebifcher Kö:
nig ter Ehaldäa herrfchte, und deffen Sohn am Ende
des Exils felbft wieder Söhne hatte.
Auch das hätte der Herzog noch anführen können,
daß nicht nur im a. t. Kanon das Buch Eſther fo mit
658 Ebrard
Daniel, Esra und Nehemia zuſammengruppirt ik, daß
es unter diefen die erfte Stelle einnimmt, fondern daß
auch in den LXX., wo die Gefchichtöblächer chronologiſch
geordnet find, Efther den Borrang vor Esra und Rebe
mia erhalten hat.
Auf Ahasver folgt der perfifheKönig Koreſch,
der ben Juden bie Rückkehr erlaubte (Esr. I, I.). Gleich⸗
zeitig mit ihm wird einArtahfchafta erwähnt (Eer. 4,
7— 33), ein >> Do a). Auf diefen folgt ein Darja-
wefc oder Darius, der oben fhon befprochene Das
rius Ahasveri, und nad biefem foll, nad; der Aw
fiht bes Berf., Er. 7 ff. und Neh. 10.ff. noch ein
zweiter Artachſchaſta erwähnt ſeyn, was wir einſtweilen
dahingeſtellt ſeyn laſſen.
Nach Dan. 11, 2. regierten nach Koreſch noch vier
Könige, wovon der letzte durch Macedonien beſiegt wer⸗
den ſollte. Dieſer letzte muß mit „Darius dem Perſer“
(Neh. 12, 22.) oder Darius Codomannus identiſch ſeyn.
Hiernach ergäbe ſich im voraus folgende Parallele ale
wahrfcheinlich :
Darius der Meder Darius Hyſtaspis.
Ahasver Kerres.
Koreſch u. Artachſchaſta Artarerres 1.
Darius Ahasveri Darine Rothus.
ee Artarerres II.
N Ochus.
Darius der Perſer Darins Codomannus.
Hiernach wäre Ahasver wirklich fein Anderer ale
Kerred. . Und der Koreſch der h. Schrift wäre ein Su
trap feines Nachfolgerd Artarerres geweſen. Der Berf.
zieht indeffen diefe Paraflele noch nicht fogleich , fondern
beginnt nun erſt eine einläßliche Unterfuchung über die
a) Ger. 4, 6. hält ber Verf. wohl mit echt für ein Gloſſem. Bis
werben fpäter barauf zuruͤckkommen.
Nebuladnezar. 659
Gefchichte jedes einzelnen diefer Könige, eine Unterfus
hung, die ihn aber Schritt vor Schritt anf daſſelbe Res
fultat führt.
Darius der Meder it Darius Hyſtaspis.
Beide erobern Babylon, Beide führen zuerft ein Be
Reuerungefpftem ein «), Darius Hyftaspis erobert nach
Herodot Indien, und ber Nachfolger Darind dee Mebers
bericht (nah Eſth. 1.) wirflid über Indien. Gieben
Bürften erheben den Darind Hyſtaſspis auf den Throm
nah Herodot, und fieben Fürften umflchen den Thron
im Buche Efther. Ahasver, der Sohn Darins des Me:
ders, reſidirt in Sufa, und nah Plin. 6, 37. war
Sufa von Darius. Hyſtaspis erbaut. Diefe Anficht fin
det fih fchon bei Porph., Tert., Cyr., Hier. und Maxi-
mus Martyr (Petan, Uranologie, S. 312 f.) und wirb
betätigt durch ein Fragment des Megafthenes, welches
folgende Königsreihe enthält: 1) Baltaffar; 2) Gyrns
und Darius; 3) Eyrns allein; 4) Artarerres Ahasver, Sohn
des Darius (alſo iſt Darius Hyſtaspis gemeint); 5) Ey⸗
rus Artabanesd und Darius Longimanus, ber erftere
ale bloßer Prätendent; 6) Darius Nothus; 7) Urtarers
red Darius Mnemon, Ebenſo nenut ein merkwürbdiges
Fragment Philo’s einen Cyrus ald Nachfolger deb
Darius Hyſtaspis und führt dieſe Tradition auf die
„70 Aelteften” (den Sanhedrin? bie Berff. der LIX,.9
zurück, und diefe Tradition ift um fo glaubwärdiger, da
Philo fi nicht auf fie beruft, fondern fie anführt, um
fie zu widerlegen.
Daß Herodot den Dar. Hpft. einen Perfer nennt,
fpricht nicht gegen feine „medifche” Rationalität, die dem
„Darius dem Meder” in der Bibel beigelegt wird; denn
6, 94. nennt er den Neffen ded Darius, Datis, ſelbſt
a) Mit Dan. 6, 2. vergl. Herod. 8, 89., Gtrab. 15. Unter
Ahasver und Artachſchaſta beſteht ſchon die MWefteuerung
(vergl. Er. 10, 1.5 Sir, 4, 17.)
669 brarb
einen Weber, und daß zur Zeit des Dar. Hyſt. der
wediſche Stamm ber herrſchende im perſiſchen Reiche
war, fagen außer Herodot (4, 144 und 165,) auch Thuc.,
Ktef., Pauſ. und Diod, Siculus. Jene fieben Gonfpirato-
ren fcheinen felbft Meder geweien zu feyn.
Ahasver if Terres. Beide berrfchen von In⸗
dien bis Aethiopien, beibe refibiren zu Suſa. Die Efih.
3, 13, erwähuse Kinrichtung der Länfer ift nach Dero-
Dat eine perſiſche. Die Identität des Ahasyer mit Kerr
sed iſt denn auch von den Meiften auerlannt.
Darius Ahasveri iſt Dariud Nothus, umd
nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, Darius Hy
ſtaspis. Der letztere kann unmöglich fchon vor feiner
Thronbefteigung das Belühde gethan haben (los. Ant.
3,3, 1.5 Ger. 4, 43.) Jernſalem zu bauen; wohl aber
if} dei Darind Rochus, wenn er der Sohn eben jenes
AhaßsersKerres von der Eſther war, ein ſolches Geläbde
fehr begzeiflih und hat wiele Mahrſcheinlichkeit. Das
sind Hyſtaspis konnte feruer nicht „im zweiten Jahre
feiner Herrfchaft ein Faſten „von Indien bis Aethiopien
aneranen,” ba er Judien erſt fpäter eroberte; Darius
Rochus konnte ed, begreiflih, da Indien fchon drei
Menfchenalten vor ihus erobert war. Auf Darius Hy⸗
Baspis paßt nicht, was Dan. 9. und Sach. 1. und Esr.
4 ff, erzaͤhlt wird, wo er nämlich fchon vom Anfange
feines Regierung an Über Babel herrſcht; denu jener bat
Babel erſt nadı mehrjährigem Kampfe erobert; auf Da⸗
rius Nothus paßt. natürlich Allee. Endlich: da Dar.
Hoſt. zuerfi das Beſtenerungs ſyſtem eingeführt hat, uns
ter Artachfchafa die aber fchon beficht, Artachſchaſta
alfo «in Nachfolger bed Dar. Hy. war, fo kann er
nicht zugleich der Vorgänger des Dar. Hyſt. geweſen
feygn, was body der Kal feyn müßte, wenn Darius
Ahasveri mit Dar. Hyſt. identifh wäre. — Daß er viel⸗
Nebuladrezar. 661
mehr mit Darius Nothus identiſch ſey, ushmen fchen
Zert., Sulp.&ev. und unter don Neueren Strauchins an.
Es verſteht ſich uun von ſelbſt, Daß jener
Koreſch“ ober Eyrus, der nach Eſsr. 26hron.
und Manetho den Iſraeliten die Rückkehr
nach Serufalem erlaubte, nicht jener hero—
dotiſche Eyrus, der Oründer des perſiſcher
Reiches, fondern ein Satrapdes Artarerres
war.
Es wird un auch begreiflich, wie dis Geſchichte der
Eher im Exil und gleigwohl unter Kerred fpielen
fauı «); denn das ganze Erilrüdt num tief bis
in Die Zeiten des Darius Hyſtaspis, Kerres
und Artarerreö herab.
Eine aber fcheint vielleicht minder begreiflich. Wo
könmt der Dlas für. Cyrus, Kambyfes und
Smerdis Hin? Bon Nebukadnezar bis in die Zeiten
des Arsarerred hinein follen nur 30 Sahre ſeyn!
Der fharffinnige Berf. antwortet anf diefe Frage
wit einer Gegenfrage: Wer war überhaupt Re
bufabnezar
Sonderbar it ed doch, Daß Herobot von Nabopalaſſar
uud Nebukadnezar gar nichts weiß. Sollte er fie etwa
dennoch erwähnen, nur unter anderen Ram? Wir
werben fehen. Aber vor Allem zellen wir ber Freiheit
und Kühnheit, mit weicher unfer Herzog fich von ber
traditionellen Combination der biblifchen usb yrofanen
Geſchichte loßreißt, unſere Bewunderung, uud wir fchör
pfen Athem und Muth zu dem Entfchlufle, ihm nun aud
in die überraſchendſten Bahnen, die er bricht, zwar prü⸗
a) Die wichtigften Ginwürfe gegen bie Glaubwürdigkeit biefer Ger
ſchichte fallen nun von felb hinweg.
662 Ebrard
fenden Blicks, aber unerſchrocken zu folgen und unfern
Blick nicht im vorand durch die Schen vor Reuem und
das Borurtheil für das Gewohnte umdüſtern zu laffen!
Es muß zwei Nebnkadnezar'é gegeben haben;
mit diefem Sage begiunt er fein fiebented Kapitel. Ber
zieht man Allee, was von bem Namen „Rebufaduezar”
erzählt wird, auf eine einzige Perfon , fo lafien ſich die
acht Jahre, die von der Vorherſagnug feiner ebenjähri-
gen Krankheit au (Dan. 11, 18.) bis zum Ende diefer
Krankheit gerechnet werben müflen, nirgends unterbrin⸗
gen. Die Zeiten uämlih von feinem 1. bis 8., fo wie
von feinem 16. bi 20. Jahre find ohnehin mit Thaten
andgefält. Zwifchen das 8. und 16. Jahr, und zwar
- ine 11. fält die Aufnahme Daniel's an den Hof (Dan.
1, 19.), welcher im 7. Sabre Nebuladnezar’s mit Jojakim
deportirt war, und deſſen breijährige Ausbildungszeit
(Dan. 1, 5.) alfo mit dem 10, Jahre Nebuladnezar’s en⸗
digte. Ohnehin aber muß ja bie Weiffagung jener Krankheit
in eine fpätere Zeit fallen. Bom 20. bis 38. J. des Neb.
it wieder Fein Pla für biefelbe; denn in dieſer Zeit ber
fagerte er Tyrus, und wäre er da fieben Jahre lang
wahnfinnig gewefen, fo wäre die Belagerung ſchwerlich
fortgefept worden. In Die Zeit von feinem 35. 3. an
bis zum Ende feiner Regierung (10 I. fpäter nach Ser.
3, 31.) muß der Zug nach Aegypten fallen, der in feinem
35. 9. geweiſſagt wurbe. Dauerte diefer Feldzug and
nur zwei Sahre, fo blieben von ben 10 Jahren nur knapp
die geforderten 8 Jahre übrig, aber keine Zeit mehr für
die Wiedergenefung.
Schon dieß zeigt, daß nicht alles von „Rebufabnegar”
Erzählte auf Ein Individuum geben kann. Es ift aber
ein noch viel beflimmtered Datum vorhanden. Dasier
nige „zweite Jahr des Nebuladnezar,” wovon Dan. 2, 1.
Die Rede ift, und in welchem Daniel fchon eine Stelle
unter den Magiern einnahm, kann nicht das zweite Jahr
— u m ne na 0 wi -
nm, U
Nebuladnezar. 663
des Nebnläbnegar geweien ſeyn, der erft in feinem
fiebenten Sahre den Daniel ald Knaben nad Babel
führte. Man hilft fich hier gewöhnlich mit der Conjectur,
bad „zweite Jahr” (2, 1.) werde nidt vom Regie,
rungsantritte, ſondern von dem Antritte ber „Lniverfals
monardyie” an gerechnet. Mit Recht weil der Berf.
diefe Sonjectur als eine haltlofe zurück; denn die „mis
verfalmonarchie” Nebukadnezarꝰs wurde ja nicht (fo etwa
wie ein nened Kleid) an Einem Tage fertig, fonbern bis
an fein Lebensende vergrößerte Nebukadnezar fein Neich
fortwährend unb machte ed immer univerfefler.
Es gibt alfo einen Doppelten Nebukadnezar a). Der
ältere ift identifch mit dem „Rabopalaffar”
bed Joſephus. Gegen Affyrien war Neo gezogen;
vier Jahre fpäter, im 4. Sabre des Jojakim, zieht „Ne⸗
bufadnezar” (der Erſte) in feinem „erfien Jahre” gegen
Necho (9er. 46, 23.) und fchlägt ihn. Das flieht fo aus,
ale ob dieſer Nebuladnezar im Dienfle bed affyrifchen
Reiches geftanden hätte. Darans, bapihn Jeremias Damals,
als er Die Gefchichte Diefed Krieges niederfchrieh, einen
„König von Babel” nennt, folgt noch nicht, baß er, ale
jmer Krieg geführt ward, fon König von Babel
wor. Diefe Bermuthung wird aber dadurch unterſtützt,
baß jener Nebuladnezar (der Erfte) im „erſten Jahre”
feiner Regierung (Ser. 46, 2.) fchon ein großes Heer
fchlagfertig ſtehen hat, und daß der Kal des aſſyriſchen
Reiches, welcher unter Sofa noch zukünftig war (Jer.
6, 22.5 2 Kon. 23, 39.) mit der Thronbefteigung dieſes
Nebukadnezar I. ohne Weiteres zufammengefallen feyn
muß, weil fortan Aſſyrien nicht mehr erwähnt wird,
a) Der Verf. hätte ale wichtiges Beugniß noch das Fragment bes
Berofus (os. Ant. 10,11.) anführen können, wo Berofus aus»
drüdtich zwei Nebucdyobonofor’s , Water und Sohn, König und
Mitregent, unterfcheibet.
Theol. Stud. Jahrg. 1847, 45
664 Gbrasd
Hiernach ſtellt fich folgender Hergang ald wahrſcheinlich
heraus. Nebnkadnezar k war affyrifher Feld⸗
herr und Gatvap und wurde (im 4. Jahre des
Jojakim) an dgefaunbi gegen Neo, ſchlug bie
fen, ufurpirte aber aldbann ben Thron und
eroberte fpäter Babel. So erllärt es fich, wie das
Jaht, wo ex Necho flug, das „erfie feiner Regierung”
genannt merden kann. Go erflärt es fih au, warum
Nebukadnezar, ald er dann Jeruſalem zerſtörte, von
Norden ber fam (Ser. 1, 14) — Nun erzähle aber
Alexander Polyhiſtar ) von Rabopalaffer genan die⸗
felbe Geſchichte. Er fey aſſpriſcher Feldherr geweſen
und habe den Thron ufurpirt und dann Babel erobert.
Ganz übereinffimmend hiermit nennen Abydenns b) und
Beroſus c) den Zerfiöger Jeruſalems Nabopalaſſar.
Welches iß uun Das hronolsgifdge Ber»
bälstniß Der beiden Rebukadnezar? — Das 2
J. Rebufaduygar’d I. (Das. 2, 1.) fiel nicht vor das
11. feines Vorgängers (denn erſt in beffen 0. Sabre
war Dauniel's Erziehung vollendet) und uicht nad
dem 15,5 benn vom 16. bis 19, war „ber König von
Babylon“ in oder hei Serufalem, und von da an iſt
Daniel ſchon anderweitig in die Geſchichte des Könige
verwidelt.
Beſtimmteres ergibt fh aus er. 51, 60. Der
dort erwähnte Brief wußte burch irgend ein bedentendes
Ereigniß veraulaßt ſeyn, nach des Berf. Bermuthung
Dusch den Megieruugsantritt Nebulaunegar’s II, welchet
wiederum nach Ser. 51, 59. in das 4. Jahr ded Zebe
kiah fiel, IR diefe Vermuthung gegründet, fo fing Re
a) Im chron. bes Euſ. S. 59.
b) Sm chron. des Guf. ©. 64.
c) Bei Ios. o. Ap. 1, 19. unb in Eus. praep. er.
Nebaladnegar. 605
bußadnesar D. im 4. Jahre des Zedekiah, bi i. im 11.
Rebulapunezar’s L gw:vegieren am
Aber war ba Rebuladnezar I. ſchon top? Es wird
vielmehr ein 25. Jahr feiner Regierung erwähnt. Wie
derum kommt Abydenns und zu Hälfe mit der Nachricht,
bad Rabopalaffar Lalfo eben Nebulabnezar kK), ale er
Babel erobert hatte, feinen Sohn dafelbft zum König
einfeßte.
Welchem Stamme gehörten beide Nebu⸗
kadnezar's an?. Gie waren nicht Babylonier, ſon⸗
dern Chaldäer Diefer urſprünglich arwenifche Stamm
war (ef. 23, 18.) von den Affyresn nach Babylonien
verpflangt worden und bilbete hier eine eigene Kaſte.
So redete Rebuladnegar mit den chaldäiſchen Magiern,
ats feinen Stammverwandten, feine chalbäifche Mutter»
ſprache, und darım wird ed (Dan, 2, 4) ale etwas
Befondered erwähnt, daß die Magier mis bem Könige
in der aramäifchen, ber Sprache der Ufiyrer (ber biplo:
matichen Sprache zwifchen den Sraeliten unb ben öſt⸗
lichen Herrſchern) reden,
Mer waren aber diefe Chaldäer? Wels
dem Bolle der Brofangefhichte eutfpreden
fie? Warum, wenn fie ein fo ungeheured Neid) erober⸗
ten und beherrſchten, hat Herodot fie wicht erwähnt?
Oder befier: warum ſind wir gerade baranf verfeffen,
fie füy ein. beſonderes Bull neben den bei Herodot ers
wähnten zu halten? Die Sprache der Ehaldäer, bie
und noch in. weirigen @igennarken erhalten iſt, war: ei
medsperfifcher Dialelt. Der Verf. gebt nur einen
Heinen Schritt weiter und beweifl: fie war Die per»
ſiſche Sprade ſelb ſt e),
a) Wir fügen feinen Bemerkungen noch die hoͤchſt wichtige bei,
daß auch zwei chaldaͤiſche Appellativa uns erhaften find, welche
zein perfifh find. Die Oberftatthalter im Reiche Rebukad⸗
45*
666 Ebrard
Wo find wir? — Ueberwinden wir unfern unwill⸗
fürlihen Schreck, werfen wir Tühnlich einen Blid auf
die großartige Ausficht, die fiih eröffnet, und veruchmen
wir das Refultat: Die Ehaldäer der Bibel find
Die Perfer der Profaugefhidhte; das dal:
daiſche und das perſiſche Reich find iden»
tif.
Wir könnten fogleich biefem Reſultate des Verf. die
eigene Bemerkung beifügen, daß in der Esr. 5, 12 — 13,
mitgetheilten alten Urkunde, bie jedenfalls einen hoben
Werth hat, Nebukadnezar und Korefch ald zwei „Koͤ⸗
nige zu Babel” fo ohne Weitered zuſammengeſtellt wer:
den, daB man wohl dentlich flieht: der wit Koreſch
gleihzeitige Schreiber jener Urkunde fah beide
Zürften für Herrfcher eines und deſſelben Reiches an.
Der Berfaffer der Urkunde nennt biefed Reich „Babel”;
der Berfaffer bed Buches Esra nennt baffeibe Reich
„Derfien” (Esr. 4, 5 — 17.). Esra 4, 15. fchreiben die
Samarier au Artarerres, daß Jeruſalem daram zerſtoͤrt
worden ſey, weil die Juden fich gegen „feine Bäter”
anfgelehut hätten; auch hier gelten Rabopalaffar und
Nebuladuezar ohne Weiteres. ald die Borgänger in bem
vos. Artarenred beherrſchten Reiche.
Wir könnten noch durch mehrere bergleichen Bemer⸗
fungen die Airgumente des Berf, unterfiügen, Doc hör
ren wir füreft ihn felbfl. Er richtet feinen Blid vor:
nehmlich auf die Mythologie. Der Rame des chutitifchen,
d. i. nach Ios. Ant. 9, 14, 3. und der allgemeinen An-
nahme bed perfifchen Botted Nergal (2 Kön. 17,90.)
tchrt im Ramen der Söhne Nebukadnezars (Jer. 39,3.)
nezar’s (Dan. 8, 2. u. a.) heißen ups aim, im perfi-
Then Rede (Eſth. 8, 12.; 8, 9.) heißen fie — ebenfe.
Die Unterftattbalter beißen dort (Dan. 8, 2. u. a.) yır=,
bier (Eſth. 8, 18.5 8, 9.5 Reh. 2, 17.) — ebenfo.
Nebulabnezar. 667
wieder. Auch Bel war (nach Agathiae) ein perfifcher
Bott. In „Meſech“ Liegt der Name der (nadı Strabo)
yerfifchen Gottheit Schech, die an fünf fefllichen Ta=
gen verehrt wurde. Dagegen bieß die Gottheit der bas
bylonifchen Autochthonen: Snchothsbenoth (2 Kön. 17, 30.),
Es entfteht nun die weitere Frage: Mit welchen
ber bei Herodot genannten perfifhen Kös
nige find Rabopalaffar und Nebulabnezar
identifh? Bis zu Darius Hyſtaspis hinauf find die
Plaͤtze fchon beſetzt; weiter oben aber ift Raum.
Die nähere Unterfuchung knupft der Herzog an das
goldene Bild Dan. 3. Diefed Bild wurde anfgerichtet
nach dem Traume Dan. 2. (da 3, 12. Sadrach und
feine Freunde fon hohe Beamte find) und vor dem
Wahnfinne. Findet ſich nun etwas Achnliches in der Pro:
fangefchichte des perfifchen Reiches ? Um die Einführung
eines neuen Cultes fcheint ed ſich Dan. 3. zu handeln,
und fo ift man bei Nebukadnezar II. an Eyrus zu denken
verfucht, welcher nach Strabo den Dienft der Schech
und zugleich das S65tägige Jahr einführt. War viel
leicht Schech die Göttin der Zeit oder der die Zeit re;
genden Sonne? Dann Hegt die Vermuthung, baß das
Bild Dan. 3. ein Schechbild geweſen, noch näher; denn
ed will fcheinen, als ob Nebukadnezar biefed Bild im Ge⸗
genfabe zu dem Ausfpruche Daniel’6 (Kap, 2, 39.) ale
ein Symbol der Unvergänglichkeit feines Reiches aufges
richtet hätte,
Doch find wir nicht genöthigt, gerade Nebukadnezar II.
mit Cyrus zu identiftciren. Auch Nebukadnezar I. lebte
ja noch, und jener war vielmehr nur Bicelönig Wenn
alfo nah Strabo unter ber Herrſchaft bed Eyrus ber
Schechdienft eingeführt wurde, fo verſteht man barunter
wohl befier Rebuladuezar I.
668 Ebrard
NRebulapnezar I (Nabopalaſſur) iſt Cyrnðö.
Dafür bieten ſich folgende weitere Spuren dar. Die
foäteren Perſer fchreiben dem Dſchemſchid die Erfin:
dung des S6Stägigen Jahres au, welche Strabe dem Ey⸗
eu 8 zuſchreibt. Ebenſo nennen fie dad von Eyrud ers
baute Perſepolis „Tekti Dfchemfchid,” Thron Dichem:
ſchid's. Der Dfchemihid der perfifchen Sage ift alſo
Cyrus der Befchichte, oder auch fein Mitregent Kambyr
fe. Run aber: wird von biefem Dfchemfchid weiter
berichtet, er habe ſich feibft anbeten und biejenigen,
welche deflen ſich weigerten, ind feuer werfen laſſen.
Da haben wir die Befchichte (Dan. 3.) von Nebukadne⸗
zar I. (Kambyfed) wieder. Kerner heißt ed, Dſchem⸗
ſchid ſey ein Herrfcher., mächtig wie Alexander, geweſen
und gleidygeitig mit Thaled und Pythagoras. — Die
felbe Geſchichte (Dan. 3.) ehrt aber in der Sage von
Zerdudfch wieder. Diefer fol nach altperfifcher Sage
ein frommer Einſtedler gewefen feyn, den einft Flammen
umhüßkten, aus deuten er unverfehrt hervorging, worauf
der perfifche König ſich vor ihm geneigt und ihn erſucht
babe, bei Gott für ihn zu bitten. Zerbubfch aber kann
sicht vor Cyrus und nicht nach Darius Hnft. gelebt
haben,
Nebnladuezar ll. ik Kambyfes Nah Euf.
(praep. I. 13.) fam Pythagoras nach Babel, „ale die Ju⸗
den nadı Babel und Aegypten wanderten 5” nach Cie. de
lin. 5. fam er unter Kambyſes nach Babel. Jene
Wanderung fiel nun in dad 19. Jahr Nebukabuezars.
Mar Darius der Meder Darins Hpftaspis, fo fiel ja
ohnehin Die Zeit Nebukadnezar's I. in die Zeit des
Kambyſes.
Aber herrſchte dieſer Dichemfchid-Rambyfes zu Bas
bei? Ibn Haukal neunt wenigftend Babel die Glorie
Jraus, und das Zendaveſta befchreibt eine Stadt „Ber,”
die Dſchemſchid erbaut habe, fo, daß Alles auf Babel
Nebukabnezar. 669
paßt, — Nebnkadnezar⸗Kambyſes blieb als Vicekoͤnig in
Babel, während fein Vater Nebukadnezar⸗Cyrus weitere
Eroberungen machte.
Wir erhalten nun alfe folgende Königsreihe:
Rabopalaffar oder Nebukadnezar J. Cyprus.
Nebukadnezar II. Kambyſes.
Darins der Meder Darins Hyſtaspis.
Ahasver Zerreß,
Artahfchafta Artarerres I.
Darius Ahasveri Darins Nothus.
— Artarerres II.
—_— Ochus.
Darins der Perſer Darius Codomannus.
Es iſt jetzt nichts weiter übrig, als dieſe Hypotheſe
durch weitere Beweiſe zu unterſtützen. Der Verf. grün⸗
det dieſe Beweiſe theils auf die Specialgeſchichte
der einzelnen einander entſprechenden Herr
fher, theild auf die Keilfchriften und Gemmen,
theils auf die perfifchen Sagen, theild auf ander,
weitige gefhihtlihe Spuren. Wir werden noch
einen vierten Beweis, der fih aufdie Geſchichte won
Eöra und Nehemia gründet, hinzufligen.
Die Geſchichte des Cyrus entfpricht wirklich in ihren
einzelnen Zügen der Geſchichte Nebukadnezar's I. Nach
Herodot war ed Eyrn®, der durch das troden gelegte
Flußbett in Babylon eindrang; Berofus fagt, Nebu⸗
fadnezar habe Babylon fo befeftigt, „daß Fein Fünfe
tiger Eroberer mehr den Steom fo leicht ſollte troden
legen können.” Died. Siculus läßt den Cyrus bie hän⸗
genden Gärten zu Babylon anlegen; Berofus nennt fie
ein Wert Nebukadnezar's. Amynthas nennt den Eyrug,
670 Ebratd
die h. Schrift den Nebukadnezar J. den Eroberer von
Ninive. — Nach Alex. Polyh. eroberten Meder und Per⸗
fer unter Ahasver und Nebukadnezar Ninive; He⸗
rodot nennt den Meder Eyarared; den Anführer ber ber
gleitenden Perfer nennt er nicht, aber Strabo ergänzt
ihn, wenn er die Niedermeßelung der Scythen und
Maffageten vor Ninive und (an einer andern Stelle)
diefed Blutbad anf Befehl ded Cyrus gefchehen
läßt. Nach Hales „verwechfeln die perfiichen Schrift
fteller die Eroberung Syriens durch die Babylonier mit
der durch die Perfer.” Sie thun wohl fehr recht daran!
Es hätte fhon lange auffallen follen, daß in den Tha⸗
ten der erften perfifchen Könige nichts ald Donpletten
der Thaten zum Borfcheine kommen, welche die h. Schrift
den Babyloniern zufchreibt! Aber freilich, nach Colum⸗
bus kann Jeder das Ei auf den Kopf ftellen; uud der
Herzog von Mancheſter hat und nichts übrig gelaflen,
als die Anerkennung, daß er zuerit fchärfer fah, ale wir
Anderen.
Gehen wir zu Kambyfes, fo erzählen die h. Schrift
(Ser. 43.), Beroſus a), die perfiichen Autoren und nad
Syncellus aud die phönicifchen von einer Eroberung
Aegpptens durch Nebuladnezar (den Zmeis
ten), wiflen aber nichts von einer fpäteren Eroberung
durch; Kambyfes. Herodot wiederum und Diod. Siculud
nebft ihren ägpptifghen Gewährsmännern laflen Aegyp:
ten durch Kambyſes erobert werben und wiſſen nichts
von einer früheren Eroberung durch Nebukadnezar. Die
Identität jener und biefer Eroberung, folglich auch jenes
und dieſes Eroberers ift fomit ſchon an fich wahrfcheinlic ;
fie erlangt aber den höchſten Grab von Gewißheit da
a) In jenem Fragmente (los. Ant.10.), wo er bie beiden Rabucho⸗
bonofor unterſcheidet.
Nebukadnezar. 671
durch, daß die Specialitäten beider Keldzüge dieſelben
find. Nach Ger. erobert Nebnkadnezar Taphanches (Das
phnä Pelufiä). Ebendafelbft hatte nach Herodot 3,10.)
Pſammetich fein Lager gegen Kambyſes aufgefchlagen,
Ebenfo flimmt die Befchreibung Ser. 46, 21. mit Her.
3, 11.; ferner Ser. 43, 11.5 &. 30, 10. u. 18. mit He
tod. 3, 14. u. 27. Hier wie dort dienen Miethfolda-
ten unter den Aegyptern; hier wie bort werben bie
Männer getödtet, die Weiber in Sclaverei geführt.
Endlich ift Ser. 46, 25. mit Herod. 3, 29—37. zu vergleis
hen, nämlich die Art, wie Kambyſes mit den ägyptis
fhen Tempeln und Göttern verführt. Auch der heftige,
leidenfchaftliche Charakter des Kambyſes ſtimmt in allen
feinen Zügen, wie er bei Herodot erſcheint (z. B. 3, 80.),
auffallend mit dem Bilde überein, welches im Buche Da⸗
niel von dem Charakter Nebukadnezar's II. entworfen
wirb (Dan. 2, 5—8. u. 15.; 3, 13. u. 19.)
Am auffalleudfien find endlich noch die genenlogifchen
Berhältmiffe. Herodot und Xenophon flimmen darin über,
ein, daß ein Kambyſes der Schwiegervater bes Aſtyages
war. Sie laffen von diefem Kambyfes erſt wieder Cyrus
den Großen, den Vater Kambyſes des Großen, erzeugt
werden:
Aſtyages Cyrus 1.
Mandane Kambyſes I.
Syrus II, der Große.
Kambyfed der Große.
Einfacher macht Kteflad Cyrus den Großen felbft zu
einem Schwiegerfohne des Aftyages:
Aftyages
Amytis Eyrus.
En —
Kambyſes.
672 Ebrard
Merkwuͤrdig iſt es nun, daß Wer. Polyh. ben Nebu⸗
kadnezar (den Zweiten) als Schwiegerſohn des Aſtyages
neunt:
Aſtyages Nabopalaſſar
Amytis Nebukadnezar.
— u un —
Dieß wird die richtige Genealogie ſeyn. Herodot
und Zenophon irren, iudem fie den Cyrus und Kambyſes
verdoppeln.
Kur Ein Einwurf bleibt. Iſt nicht Ser. 50 — 51.
von einem Sturze bed chalbälfchen Reiches durch bad
perſiſche die Rede? Werden nicht alfo hier beide Reiche
deutlich unterfchieden? Mit nichten. Nur bie worgefaßte
Meinung der Eregeten hat jenen Sinn hineingetragen.
In Wahrheit it die Rede von einem Sturze der bie das
bin berrfhenden chaldäiſchen Dynmaftie durch einen
mebifchen, wohlgemertt: mebifhen Stamm (Ser.
51, 28.). Richt Ehalbärr von Perſern werben unterfchie
den, fondern bie (mit den Perſern identifchen) Ehaldäer
von den Medern. Das hat aber auch volllommen feine
Richtigkeit. Pſeudoſmerdis, weicher den Perfer Kamby⸗
ſes (d. I, den Chaldäer Nebukadnezar IL) ſtürzte a), war
wirftiih das Haupt ded medifhen Stammes, mit wel:
chem Kambyſes ftetd verfeindet gewefen war,
Die Keilfchriften hat der Verfaſſer nicht fo be
nußt, wie er gelonut hätte. Wenn er darauf einen gro
Ben Werth legt, daß in den babylonifchen Ruinen die
felbe Schriftart wie in. Perfepolid und in beiden fein
älterer Name ald Darius Hpfiaspis vorkomme, fo iR
a) Diefe Annahme wirb fpäter noch eine wichtige Gorrectur er
leiden,
— — Sy um wm wıa&
Nebukabdnezar. 673
ja damit noch immer wicht bie Moͤglichkeit ausgeſchloſſen,
daß vor dem Palafte zu Babylou, deffen Trümmer noch
Rehen und Darins ald Erbaner nenuen, nicht fchon ein
früherer, von einem babploniſchen Könige erbauter
Palaft könnte eriflirt haben, welcher eben bie auf ben
Grund gerkört worden wäre. Go ft alfo hiermit anch
noch nicht die Möglichkeit eines befonderen babylonifchen
Reiches vor dem perfifihen abgefchnitten.
&ben fo wenig firingent ift, was der Berf. über die
babylonifchen Ringe unb Gemmen cHeeren, S. 191.) ſagt,
deren Embleme anf den von Dſchemſchid (Eyrus) in Pers
fin eingeführten Ormuzddienſt weifen, Könnte nicht Diefe
Sitte, ſolche Ringe zu tragen, erft mit Darius Hyſt. im
Babylon eingewandert feyn? Folgt darand irgend etwas
gegen die Möglichkeit, daß vor den Perfern ein babylos
niſches Reich in Babel befland? Kolgt daraus irgend
etwas für die urfprüngliche Identität der Ehaldäer
und Derfer ?
&o wenig aber biefe, vom Herzoge angeführten Um⸗
ſtände eine Beweiskraft haben, fo fehr kann allerbinge
aus den Keilfchriften, nach dem, was Weltergaard und
Botta neuerdings entdedt haben, ein wichtiger Beweis
für feine Anficht gewonnen werden »), Wir beachten
nämlich das Factum, daß von Kerres bie Artarerres TI.
bie Orthographie und Form der Keilfchrift ſich verändert
bat; ferner, daB an dem Einen Orte Perfepolis drei
Schriftarten vorfommen, zwei ältere unentzifferte und
eine neuere. Die neuere erweiſt fih ale aus der Zeit
ded Darind und Xerxes. Die beiden älteren müſſen alfo
älter feyn, als Darins, können aber nicht älter feyn,
ald Eyrus, da Perſepolis erft durch Eyrus erbant ift,
a) Berge. Spiegel, „WUeberficht des gegenwärtigen Standes ber
Forfchungen über die Keilfchrift,” in der ball, Litt.»Zeit, 1845,
Kr, 251 — 253,
674 Bbrard
Diefe beiden älteren Schriftarten ind alfo ebeufalld per⸗
ſiſch. Nun finder ſich aber bie eine biefer älteren
Schriftarten fehr zahlreich in Babylon wieder (neben der
jüngeren aus der Zeit ded Darius). Wir haben alfo bie
Thatfache, daB die Bandenkmale Babplons perfifche In⸗
fhriften aus der Zeit des Cyrus und Kambyſes tragen.
Eine andere Schriftart aber, eine ſolche, die fich zu
Derfepolis nicht wiederfände,, bie man alfo für eine von
der perfifhen Schrift verfchiedene, chaldäifche zu halten
berechtigt wäre, fömmt in Babylon nicht vor. Schon
das ift wichtig, wenn auch nur ein negativer Umſtand.
Run hat aber Botta zu Chorſabad, in der Gegend bes
alten Ninive, Scuipturen von Sphinren entdeckt, welche
alle ohne Ausnahme genau mit den perfepolitanifchen
übereinflimmen. Nach der gewöhnlichen, hergebrachten
Anſchauung der Geſchichte jener Reiche iR es gerabezu
unbegreiflich, fowohl wie perfifche Sculptur nach Rinive,
als wie ninivitifhe nach Perſepolis gefommen feyn follte.
Schon vor ber Gründung des perfifchen Reiches fol ja
— fen ed Nabopalaſſar von Babylon, ſey ed Cyaxares
von Medien (Herod. 1, 106.), fey es, beide mit einander
— Rinive zerftört haben. Nach der manchefter’fchen Ans
ſicht und Eombinationdweife wird Alles begreiflih. Jener
Rabopalaffar, welcher Rinive einnimmt, ift Cyrus ſelbſt,
nnd er nimmt Ninive nicht ald Eroberer, fondern als
Ufurpator, ale aflprifcher Feldherr. Nun wirb es gan;
begreiflich, daß Eyrus bei der Erbauung von Perfepslis
Kormen nintoitifcher Sculptur anwandte. Das aflyrifce
und das perfifche Reich liegen nicht mehr um Sahrhun
Derte auseinander, fonbern berühren ſich aufs engfte. — So
erflären fi) dann auch die Negergeflalten anf den Ruinen
von Chorfabad. Bor Kambyfed kamen jene Gegenden
mit Afrika in Feine Berührung. War aber Cyrus ber
Uferpator Cnicht ber Zerfiörer) von Rinive, fo läßt ſich
Nebukadnezar. 675
eine productiv⸗friedliche Thaͤtigkeit feiner uud ſeines Soh⸗
nes in Ninive wohl denken.
— — — — —
Es finden ſich nun auch ſchon in alter Zeit Spuren
dieſer ganzen Anſchauungsweiſe. Daß Joſephus (ant. 10,11.)
ſagt, Diokles erwähne des: Nebukadnezar in feiner Ges
ſchichte des perſiſchen Reiches, hat inſofern einige
Bedeutung, als die perſiſche Geſchichte wenig Veranlaſ⸗
fung zur Erwähnung Nebukadnezar's gegeben hätte, wenn
diefer lange vor Eyrns ald König eined anderen Reiches
gelebt hätte. Weit wichtiger ift das Zeugniß des Heca⸗
tänd von Abdera (bei Tos. c.Ap. 1,22.), daß „die Der,
fer die Juden im die babylonifche Gefangenfchaft führten,”
und das des Eebrennd, ber von „300 Sahren perfifcher
Herrſchaft fpricht, „wovon 70 der jüdifchen Gefangene
Ihaft angehörten.” Auch 2 Makk. 1, 19. wird die bar
bylonifche Befangenfchaft ohne Weiteres als Deportation
nah Perſien bezeichnet.
Das aler. und orient. Chronikon erflären beide, Kam⸗
byſes, der Sohn bed Eyrus, fey von den Juden Nebu⸗
fadnezar genannt worden; Euſebius vollends verfichert
(im chron.), diefen Ausfpruch bei vielen Hiftorikern ger
funden zu haben; Suidas (u. Judith) citirt den Afri»
canus als Gewährsmann für biefelbe Meinung Die
Gefchichte der Judith fpielt in Perfien (Jud. 16,10. und
ber yerfifche Rame Holophernes), und zwar zur Zeit
des Kambyſes (denn Aegypten ift unteriocht) ; der Herr,
her aber wird Nebufabnezar genannt. Daß er als Kö
nig von Aſſyrien befchrieben wird, flimmt ganz zu der
Annahme, daß fein Vater Ufurpator der affyrifchen Krone
und das dhaldälfche cd. i. perfifche) Reich nur eine Er;
weiterung des affyrifchen unter einer neuen, chaldätfchen
(d. i. perfifchen) Dynaftie war. — Endlich erinnern wir
no einmal an jene uralte Urkunde im Buche Esra, wo
676 EGEvrard
Nebukaduczar, der Aufaäͤnger, und Koreſch, ber Beender
des Exils, ald Kürften in einem und demſelbes babyloni⸗
ſchen Reiche genannt werden, und wo danu der Berfaf:
fer des Buched Esra daflelbe Reich das perfifche nennt.
Nach ſolchen Zeuguiften Sanı man dee Uinficht dei
Herzogs von Mancheſter wicht mehr. eine Hopotheſe“
nennen. Alle alten, ber Geſchichte jener Länder nahe
chenden Zengniſſe vereinigen fi für dieſelbe; ſelbſt
was biöher unlösbare Schwierigkeiten dem Ferſcher in
ben Meg warf, z. B. die Geſchichte der Eher, bie der
Subich, wird nun auf einmal licht umb buuchfichtig. Es
wäre eine wunderliche Aunahme, daß eine Audit falſch
ſeyn follte, welche, wohm man blidt, überall ſich ale
paſſend erweiſt, nirgends auf Schwierigfeiten oder Abs
furda führt. Es wäre bieß um fo wunderlicher, als bie
entgegenfichenbe , traditionell gewordene Auficht auch nicht
ein pofitived Zeugniß für fi hat, ſondern eben nur
su» allein auf der blinden Borausfehung be
ruht, daß das chaldäifche und perfifche Reich verſchieden
feun müßten, ‚obgleich alle Quellen, die von biefem er:
sählen,. von jeuem ſchweigen, uud umgelchrt, obgleich
hie Geſchichte des einen lediglich eine Wiederholung der
Geſchichte des andern feyn müßte, obgleich endlidg biefe
ganze traditionelle Anficht auf allen Punkten in Schwie⸗
zigfeiten verwidel.
Sonderbar tönnte ed nur erfcheinen, wie eine fo
verfehrte Auficht fidh babe bilden uud allgemeine Geltung
erlangen können. Auf diefe vom Berf. nicht aufgewor⸗
fene Frage antworten wir ftatt feiner. Diefe Thatſache
erklärt ſich fehr Teiche. Joſephus if der Urheber der
traditionellen Auficht; ihm folgten Die chriftlichen Kirchen⸗
väter (mit jenen wenigen oben angeführten Ausnahmen),
weil fie bekanntlich der hebräifchen und der orientalifchen
Sprachen überhaupt uicht kundig waren, uad fo wurde
die Anficht des Joſephus allgemein, Joſephus aber kam
4
Nebubabnuszar. 677
auf feine falfhe Combination einfach dadurch, Daß :er
glaubte, jener Koreſch, welcher den Juden die Räckkehr
erlaubte, fey der berühmte Cyrus. Bon bem fpAteren
Satrapen des Artarerreds wußte er entweder nichte,
oder ed lag (wohl unbewußt) in feinen Interefie, : ben
Römern gegenhber einen. mächtigen . Weltherrfcher ald
Begänfliger der Juden nennen zu können.
Auch die pyerfifhen Sagen bei Merihond und
Ferdouft unterwirft der Verf, (im 8. Kapitel) einer gruud⸗
lichen Unterfuchung. Hier ift freilich ein unficherer Bes
deu, und es laſſen fich auf fle Beine ſichern Schkäffe bauen,
fondern böchftend Unterflübungsgründe gewinnen. Sch
will deßhalb auch nur in Kürze das Reſultat feiner Uns
terfuchung anführen. — Die perfifchen Sagen erzählen
von einem Kaikoſru eine ähnliche Sugendgefchichte, wie
Herodot von Cyrus a); dagegen nennen fie einen fpäte
ten „Korefh” als Befchüter der, Juden. — Kofrn
iſt Cyrus. Ein Feldherr Baltnaffar (verſtümmeiteds
„Nebukadnezar“), der Jeruſalem zerſtört und Aegypten
erobert haben fol, entſpricht dem Kambyſes. CDiefer
könnte bei der Zerftörung Serufalemsd feinem Vater ge:
bolfen haben. Doch kann ihn auch die perfifhe Sage
mit feinem Vater confundirt haben.) Ein König Loho⸗
rasp gelangt durch Wahl anf den Thron; Kondhemir
und der Verf. des Lebtarifh nennen ihn einen Zeitgenofr
ſen des Jeremia, Daniel und Cara, Wir finden in ihm
Darins Hyflaspis wieder. Sein Sohn Guſchtasp führt
die Religion des Zerdudſch ein, prägt zuerft Goldmün⸗
a) Hat Nebukadnezar 1. ale affyr. Feldherr ben Ahron feines Kir
nigs ujurpirt, fo verträgt fih dann auch die Geſchichte, die He⸗
rodot von ihm (nämlich dem mit ibm identiſchen Gyrug) er⸗
zählt, gar wohl mit dieſer Thatſache.
678 Ebrard
gen‘, hat einen feiner Miniſter hängen laſſen, und war
der Mann einer Jüdin, die von Saul abitammte. Hier
haben wir bie fpecielien Züge and der Gefchichte uns
fered Kerreds Ahasver, Sein Nacfoiger Behmen
führt den Beinamen Darazsdaft, d. h. der Langhändige.
Ohne Zweifel Artarerres I. Longimanus. Erfeht
den Sohn Baktnaſſar's in Babel ab und den Kureſch,
einen Sohn (Bd. h. wohl Nachkommen) des Lehorasp
und einer Jüdin, an deffen Stelle, und beftehlt dieſem,
den Juden die Rückkehr zu erlauben. — Solche Befätis
guagen hätte wohl fein Lefer erwartet, — Wir erhalten
nun folgende vergleichende Ueberſicht:
H Schrift, Herodot, Perſer.
Nebukadnezar 1. Syrus Koſru.
Nebukadnezar II. Kambyfes — Baltnaffar,
Darius der Meder Darius Hyſtaspis Lohorasp.
Ahasver Xerxres Guſchtasp.
Artachſchaſta Artaxerres Longim. Behmen
Darazdaſt.
(Satrap: Koreſch) (Satrap:
Kureſch).
Darius Ahasveri Darius Nothus Darib.
— Artarerres II. —
— Ochus
Darius der Perſer Darius Codomannus Darib.
Eine Bemerkung, die dem Herzog entgangen iſt,
finde hier noch eine Stelle. Belannt ift die orientalifche
Sitte, dem Enkel den Namen bed Großvaters zu geben.
Darius der Meder oder Lohorasp heißt bei Herodot ein
‚Sohn des Hyſtaspes; Hyftaspes iſt mit Guſchtasp (ober,
wie er daneben heißt, Kifchtaep) offenbar identifc.
Wenn biernady. der Bater des Kohorasp ebenfo wie der
Sohn deffelben Kiſchtasp hieß, fo hat dieß um jener
Sitte willen die höchfte innere Wahrfcheinlichkeit.
Nebulabnezar. 679
Wir wenden und nun zur Schlußbetrachtung. Wir
wollen zeigen (was ber Berf, übergangen hat), daß auch
die Gefhihte von Esra und Nehemia einen ins
directen Beweis für feine Anficht enthält. Diefe Ger
fhichte verwidelt den Eregeten in unfägliche Schwies
rigfeiten, welche fich bei jener Anficht aber plöglich Lös
fen. Ich erinnere nur an Eine Hauptfchwierigfeit. Kos
red (Kap. 1, 1. 4, 5.) fol nach gewöhnlicher Annahme
Cyrus feyn. Nun wird (Kap. 4, 5.) Darius als fein
Nachfolger genannt, und V. 24. wird derfelbe Darius ale
Nachfolger bes Artahfchafla genannt. Wienun? Ber
ſteht man unter Darius (wie gewöhnlich) den Darius
Hopſtaspis, fo war biefer weder ber Nachfolger ded Ar»
tarerred, noch des Cyrus, und man muß nun entweder
unter Ahasver und Nrtadfchafta den Kambyfed und
Smerdis verfichen, was ein Verzweiflungsſtreich if, oder
man verficht unter Artachfchafta (mit Kleinert) den Ars
tarerre®, unter Darius den Dar, Hyſt. und muß nun
gewaltfame Umftellungen annehmen, oder endlid, man
muß den 5. Vers künftelnd fo deuten, ald werde Darius
ald mittelbarer Nachfolger des Korefch aufgeführt.
ketzteres ift aber gegen den offenbaren Wortfinn. „So
lange Kores lebte,” ruhte der Bau. Und wiederum: „bie
sur Herrfchaft ded Darius” ruhte ber Bau. Iſt Damit nicht
offenbar gefagt, daß Kores bis zur Herrfchaft des Da»
rius lebte? Und kann überhaupt Darins auf Artadı-
ſch aſta gefolgt feyn? Wird nicht (Kap. 6, 14.) Artach⸗
ſchaſta noch neben Darius als Beförderer bed Baues
genannt ? Nach unferer Anficht ift Alles fehr begreiflich.
Kores ift nicht Cyrus, ſondern ber babylonifche Satrap
bes Artachfchafta, alfo mit biefem gleichzeitig. Der Ban
ruht auf Befehl des Artarerred (Er. 4, 17 ff.) durch
Vollziehung bed Kores. Wie Kores flirbt, wird Darius
Rothnd (der nachherige Nachfolger des —
Theol. Stud, Jahrg. 1847,
680 Ebrarb
von Artarersed zum Satrapen in Babel eingefeht; Dar
rind, der Sohn bed Zerresd nnd der Eſther, it den Ju
den günflig und erwirkt nun von Artarerred bie Er⸗
neuerung der ein von Kores gegebenen Erlaubuiß
zum Tempelbane, fo daß „der Bau von Statten ging
„auf Befehl bed Kores, Darius und Artahfchafta” (Esr.
6, 14.).
Nicht allein aber diefe Schwierigkeit loͤſt ſich, ſon⸗
dern ein ganzes Net vom analogen Schwierigkeiten.
War nämli Darius Ahasveri oder Nothus anfangs
nur Gatrap bed Artarerred, und lebte biefer noch fort,
fo ſteht num nichts im Wege, unter dem Artarerres
Esr. Tf. denſelben Artarerredl.zu verfichen.
Daun werden Esra und Nehemia zu Zeitgenoffen
des Zofua und Gerubabel, und die ganze Ges
fhichte der Ruckkehr gewinnt eine andere Geftalt und
eine Schaar von Widerfprücen verfchwinbet.
Sehen wir dieſe Widerfpräche näher an. Einige
berfelben haben Veranlaffung gegeben, beiden Büchern
alle Glaubwürdigkeit abzuſprechen; andere find noch gar
nicht gehörig beachtet,
Erft aber vergegenwärtigen wir und die Boranss
fe&ung , unter”welcher jene Widerſprüche entftchen.
Esr. 1—6,. foll von einer er ſten Ruckkehr ber In⸗
den unter Zofua und Gernbabel, Er, 7 ff. und im
Buche Nehemia von einer fpäteren Rückkehr einer
Schaar von Nachzüglern unter Edra und Nehemia bie
Rede feyn. Das erftemal fey der Tempelban unter
Eyrud begonnen und unter jenem Darius vollendet
worden; die Stadt fey aber noch unbefeRigt gewefen.
Das zweitemal fey die Stabt mit Mauern umgeben
worden.
Ader ſchon das erftemal muß (nach Neh. 1.) ein
Befeſtigungsverſuch gemacht worden feyn, ber aber for
gleich wieder zerſtört warb,
Nebukadnezar. 681
Die Anwohner, die Nehemia (Kap. 1.) in Serufas
lem findet, follen die Nachkommen der unter Joſua zus
rückgekehrten Erulanten fepn.
Nun entftehen folgende Widerſprüche. Bor Als
len zwiſchen Neh. 7, 73— 8, 1. und Eöra 2, 70—3, 1.
Eine im Buche Esra enthaltene Urkunde (2, 1 ff.) ſchließt
nämlich mit den Worten: „Alfo festen ſich Die Priefter
„und Die Leviten und die Menge des Volks und bie
„Sänger und Thorhüter und Nethinim in ihre Städte,
„und alles Iſrael in feine Städte” Es ift von der _
Einwanderung des Joſua und Sernbabel die Rebe,
und Kap. 3, 1. folgt die Nachricht, daß diefe beiden Männer
im fiebenten Monate defielden Jahres eine große Volks⸗
verfammlung religiöfen Charakters hielten. Nehemia 7.
wird nun wörtlidy dieſelbe Urkunde (ein Berzeichniß der
mit Joſua Eingewanderten) mitgetheilt und mit berfels
ben Notiz, daß „die Priefter, Leviten u.f.w. u. ſ. w. ficher
in ihren Städten wohnten,” abgefchloflen, und bann
wird ebenfo (Kap. 8, 1) die Rachricht angefchloffen, daß
am fiebenten Monat ein Feſt gefeiert wurde, aber bei
dbiefem Feſte fungiren nun Esra und Nehemia.
Nach der Borausfegung, daß Edra und Nehemia mehr
als ein Menfchenalter nach Joſua und Serubabel erft
einwanderten, ift dieß nun natürlich ein ungehenrer
Widerſpruch, und man ficht ſich zu ber Annahme ger
nöthigt, Daß der Berf. des Buches Nehemia in grenzen,
Iofer Unwiffenheit die Geſchichte Edra’d und Nehemia’s
mit der Joſua's und Gernubabel’d sufammengeworfen
babe, Daß er dieß gethan hat, iſt unleugbar und
durch Peine Künfteleien wegzubringen; anf weldyer Seite
die Unwiſſenheit fey , ift aber freilich eine audere Frage.
Wir bemerken nämlich, daß noch an mehreren Stel»
ien folhe „Widerfprüche” (nämlich Widerſprüche gegen
die traditionelle Boranusfegung!) wiederfehren, db. h. mit
andern Worten, daß noch Mehreres hier dem Joſua und
46*
682 Ebrard
Serubabel, dort dem Esra und Nehemia zugeſchrieben
wird.
Nach Esr. 3, 1 — 4. iſt in der Zeit des Joſua, im
2. Jahre des Koreſch, ein Laubhüttenfeſt gefeiert
worden, nnd B.6. leſen wir die Notiz, daß damals der
Tempelbau noch nicht begonnen war. Dieß Laubhätten:
feft fchließt fih eng an jene oben erwähnte Volksver⸗
fammlung Sofua’s& „im 7. Monate” Run fchließt
fi aber Nehem. 8. an die Volksverſammlung
Edra’d und Nehemia’s „im 7. Monat” ebenfalls
ein Laubhüttenfeft (Neh. 8, 15 — 19).
Mehr noh: Er. 2, 63. tritt auf dem Laubhüt
tenfette Joſua's eine Perfon ermahnend auf, melde
ohne Weitered anna genannt wird, und Neh. 8, 9. tritt
auf dem Laubhüttenfeſt Eöra’d Nehemia fels:
der in der nämlichen Weiſe ermahnend anf, und damit
ja kein Zweifel über die Identität Nehemia’d mit jenem
„chirfhata” bleibe, fo heißt ed bier (Neh. 8, 9):
den Hanptanführern der unter Korefch zurückkehrenden
Erulanten wirklich neben Joſua und GSerubabel ein —
Nehemia genannt!
Nun fteht die Sache fchon nicht mehr fo, Daß bloß
das Bud, Nehemia die Einwanderung bed Joſua umd
Serubabel mit der ded Esſsra und Nehemia in Eine Zeit
zufammenwirft, fondern das Bud, Era und bad Bad)
Nehemik fichen bier für einen Mann. Wenn wir nım
aber auf der einen Seite fo beflimmte Zeugniffe für bie
Gleichzeitigkeit jener vier Männer haben, follten wir uns
dann nicht billig fragen, welches denn bie Gegengründe
feyen, die und veranlaffen, folchen Zeugniffen entgegen
zwei confecutive @inwanderungen vorauszufegen und
hinterher die Bücher Esra und Nehemia für confus uud
fabulo6 zu erflären?
=
—
Nebukadnezar. 683
Dieſe Gegengründe, fie rebnciren ſich lediglich dar⸗
auf, daß Joſna und Serubabel unter Koreſch, Edra und
Nehemia aber unter Artachfchafta eingewandert find, und
dag Korefch der alte Cyrus ſeyn fol! Sowie aber ein,
mal feſtſteht, daß Korefch ein Gatrap bes Artachfchafta
war, fo — fällt die ganze Vorausſetzung in nichts zus
fammen. Dieß aber fteht ohnehin fe, aus den früher
angeführten Gründen, es fteht ferner fell aud dem über
Esra 4. Bemerkten; ja endlich verwandelt fi der Um⸗
ftand, daß fo auch unfere jet befprochene Schwierigkeit
ſich loͤſt, in einen neuen Beweis für die mandheiter’fche
Anficht.
Doch ed mag Leute geben, bie ſich fo ſchnell nicht
beruhigen laſſen. „Findet denn nicht Nehemia (Kap. 1.)
„Ihon Jeruſalem bewohnt? Findet er nicht das Ders
„zeihniß der. früher Eingewanderten Kap. 8, 5 f.) ale
„eine Antiquität vor?” Das ift eben die Frage. Weil
man Alles durch die Brille jenes einmal gefaßten Bor»
urtheil® betrachtete, glaubte man, bieß in den Torten zu
finden; aber wir werben fehen, daß, fobald jenes Bors
urtheil hinweggeräumt ift, Alles ſich auf eine weit natürs
lihere Art erflärt.
Faffen wir die Gefchichte der Bücher Edra und Ne⸗
hemia in eine kurze vergleichende Ueberſicht zuſammen!
Um drei Punkte gruppirt ſich Alles, um die Rückkehr,
den Tempelbau und die Excommunication der
Ammoniter und Moabiter.
Korefch, wie wir wiffen, ein Satrap des Artarerresd
Longimanus, erlaubt in feinem erften Regierungsiahre
— es wird nicht gefagt, auf welche Veranlaffung hin —
ben Inden die Rüdfehr (Er. 1, 1., vergl. 6, 3. und 2
Ehron. 36, 22f.), Zofua, Serubabel und Nehemia, der
lettere ald Thirfata, ale königl. Statthals
ter (Esr. 2, 2 und 63., verglichen mit Neh. 8, 9.), ziehen
mit 42,560 SIfraeliten (Esr. 2.5 Neh.7.) nah Sudän.
684 Ebrard
Im 7. Monate wird" zum erftenmale feierlih Opfer ger
bracht und dad Lanbhüttenfeft gefeiert, wobei Nehemia
dad Volk ermahnt und ihm das Geſetz verlieft (Esr. 3.;
Reh. 8.).
Näheres über die Beranlaflung jener Erlaubniß und
über die Bewerkſtelligung der Rückkehr finden wir Reh.
1 ff. Nehemia lebte in Sufan am Hofe Bed Sonuveraind
Artarerre J. Da erhielt er Kunde, wie elend es feinen
Brüdern in Indäa gehe (Neh. 2, 1). Wan trägt bier
das Borurtheil hinein, daß diefe Brüder in Judäa bie
unter Joſua Zurücgelehrten feyn müßten. Man hält die
Worte: „die Manern Jeruſalems find gebrochen und ihre
„Thore mit Feuer verbrannt,” für eine dem Nehemia neue
Nachricht von einer feit Joſua's Rückkehr erfolgten
abermaligen Zerfiörung der Stadt ober wenigſtens
ihrer Wähle, Allein das Particip nzyen befagt zunädk
nur: „bie Mauern liegen noch zerbrochen,” und das fol,
gende ms iſt jedenfalls nur Fortſetzung des in namsc
begonnenen Gedankens. Wir finden auch nicht, daß Res
hemia (B.4 ff.) Über eine nee Gewaltthat jammert oder
den König um Beftrafung ber llebelthäter bittet, ſondern
er gedenkt Iediglidh daran, daß Bott dem Wolke burch
die Propheten Berfireuung unter bie Heiden gedroht,
aber die Berheißung beigefügt habe, es wieder zu fa
meln, wenn es fich befehre. Hier ift von einer bereits
gefchehenen Rückkehr aus dem Erile keine Rede. Und wie
der König feine Traurigkeit bemerft (Kap. 2, 1 ff.), bit
tet er um Erlaubniß, „die Stadt, wo feine Bäter be
„graben feyen, wieder bauen zu dürfen” (B. 5.)
Keine Spur, daß diefe Stadt mittlerweile fchon wider
gebant und nur ihre Befelligungen aufs Reue gefchleift
waren! Und wie nan Nehemia nad Serufalem fommt,
findet er bie Zerfiörung noch fo vollftändig, daß (B. 14.)
da, wo einft dad Brunnenthor war, „fein Thier nicht
Ranm fand zu gehen” Wie wunderlich wäre bad ge
Nebulabnezar. 685
weien, wenn Sernfalem wieder gebaut und bemehnt und
nur die Feſtungswerke aufs Reue gefchleift geweien wä⸗
ren. Würden ba die Bewohner nicht allerwenigſtens
an den Thoren den Schutt fo weit weggeräumt haben,
daß ein Maulthier ein, und ausgehen Tonnte?
„Aber war Jernſalem nicht dennoch bewohnt?
„ragt nicht Rehemia (Kap. 1, 2.), wie eö zu Serufalem
„ginge®” D ja, er fragt, ob noch gar kein Anfang ges
macht fey, die Stadt zu bauen; er feht voraus, daß
vieleicht Andere fchon einen Anfang gemacht hätten.
„Wie war dieß aber möglih, wenn nicht eine Schaar
„von Exulanten vorher ſchon zurückgekehrt war? Rebus
„kadnezar hatte ja Alle, auch das gemeine Bolt deportirt
Eine Schaar brandıt eben nicht zurückgekehrt zu feyn,
wohl aber können und werden gegen Ende des Exils,
befonder® als Kerres durch Efiher den Juden günftig ges
Rinmt wurde, Einzelne ohne Auffehen und Hinder⸗
niß fih nach und nad in dad Land gezogen baben.
„Aber findet Nehemia nicht Prieſter und Oberſten in Je⸗
„enfalem, die fon „an dem Werke arbeiteten?”
(Neh. 2, 16.) Go hat allerdings Luther Überfeht. Aber
naxber yes heißt fonft allgemein: „den Dienft thun,”
und der Sinn ift der, daß Nehemia den ihn begleis-
tenden Öberften, Prieſtern und Bedienfteten den Zwed
feiner Reife nicht fagte, fondern (V. 12.), ald er nahe zu
Jeruſalem kam, ſich Nachts von ihnen trennte, drei Tage
allein mit wenigen Begleitern unter den Trümmern weilte
und feinen Gefühlen fich überließ, und alddann erft den
Zwed feiner Sendung fund that.
Das Erfie, was nun geſchah, war deun auch wichte
Anderes, als daß die im Lande umber gerfireuten
Inden gefammelt und beim Baue angeftellt wurden;
und was man wohlmweislih zu allererſt (und nicht
nady der traditionellen Aunahme zu allerlegt!) baute,
waren bie Mauern (Kap.3.). Hierbei find denn Juden
aus Theloa (B. 5.),7Gibeon nnd Mizpa (V. 7.), Sar
686 Ebrard
noah (B.13.) u. ſ. w. thaͤtig. Wozu dieß, wenn die Stadt
ſchon gebaut und Einwohner an Ort und Stelle waren.
Daß einzelne der Kap. 3. erwähnten Perſonen „neben
ihren Däufern” bauen, iſt (wenn wir Neh. 7,4. vwergleis
chen) fo zu verftehen, daß Nehemia nadıher dard
Diefe Angaben den Platz, von wo an und wie weit fie
gebaut haben, bezeichnen will. Uebrigens entſtanden auch
wohl gleichzeitig mit der Mauer ſchon Häufer und Stra:
Gen; die Bauenden mußten doch ein Obdach haben. —
In 52 Tagen (Reh. 6, 15.) wurden die Mauern fertig.
Mittlerweile hatte Artarerred dem Koreſch Bes
fehl gegeben, den Erulanten die Rückkehr zu geftatten.
Diefe famen nun an, und bei Nehemia werden fie im
5. Kap. zum erftenmal erwähnt. Es erhob fih (2. 1.)
ein Streit zwifchen dem „Volke“ und den „Juden,“ weil
(wie natürlih) Mangel au Rahrung entſtand. B. 8.
fagt Rehemia: „Wir haben unfere Brüder, bie Juden,
„iosgefauft, die unter bie Heiden verkauft waren, und
„ihr wolt eure Brüder, die wir erfauft haben, wieber
„verkaufen?“ Hier ift der Gegenſatz zwifchen den früher
Angefiedelten und ben fo eben nen Angelommenen Deutlich.
Daß wirklich die Ordnung dieſe ift, daß erft Nehe⸗
mia die Stadt baut, und Dann bie Erulgnten unter So:
fua binziehen, it aud, Esr. 1, 2. angedeutet a). Denn
wo Korefch die Erlaubniß zur Rückkehr ertheilt, handelt
es fich nicht mehr darum, die Stadt wieder aufzubanen,
fondern nur, „in Serufalem in Iuba dem Herrn ein
„Haus zu bauen. —
a) Jene Urkunde (Esr.2.; Neh. 7.) wirb nun nicht mit B. 78., fon:
dern ſchon mit B.64. (Est. 2, 62.) fhließen ; 8.65. (Esr. 2, 63.)
wird ja etwas erzählt, was Nebemia ſelbſt weiter vornahm;
bier fährt alfo der Schriftſteller frei zu erzäbten fort. Daf
er auch bier noch mit Esra oft wörtlich übereinflimmt, erklärt
ſich fehr einfach fo, daß biefer jenen benugt bat. Esr.2, 68 —
8, 4. iſt ein kurzer Auszug aus Reh. 7,65 — 8, 18,
Nebukadnezar. 687
Wir wenden und nun zum Tempelbane Die
Rüdkehr fand flatt im 1. Jahre des Korefch (Esr. 1, 1.),
d. i. im 20. des Artarerred (Neh. 1, 1. 2, 1.).
Gm 2. Jahre nach ber Rüdtehr (Eör. 3,8—13,), alfo
im 3. des Korefch, im 22. des Artarerred, wurde der
Grund zum Tempel gelegt. Nun verfuchten ed (4,1— 65.)
die „Widerſacher,“ d. i. ohne Zweifel Tobiad und Sans
ballat, die ſchon den Bau der Mauern angefeindet hats
ten (Neh. 3 ff.), nicht mehr mit Gewalt, ſondern mit
eift, die Juden zu hindern, und gaben dem Kores beu
„Rath ” der Tempelbau fey ftantögefährlich, und fo
mußte, fo lange Kored lebte, der Bau ſtille flchen.
B. 7 ff. wird näher befchrieben, wie die Wiberfacher es
anfingen =). Sie wandten fi an Artarerred, und auf
deffen Befehl verbot Kored den Ban.
Kap. 5. wird erzählt, wie es kam, daß ber Bau
nach dem Tode des Korefh, im 2. Jahre des Darius
Nothus (Esr. 4,24.), wieder beginnen durfte. Die Pros
pheten Daggai und Sadharja mahnten zum Baue; ba
fingen im 2. Jahre des Darius Nothus (Sad. 1, 1;
Hagg. I, 1.) Serubabel und Joſua auf eigne Kauft wie
der zu bauen an, ohne Zweifel in der doppelten Hoff»
nung, daß der neue Satrap Darius nichts von dem als
ten DBerbote wiflen werde, und daß er als Sohn ber
Eſther den Juden günftig feyn werde, Wirklich bedurfte
es erſt einer Anklage des Landpflegerd Tatnai bei Das
rind (Esr. 5, 3,), aber die Juden baten biefen, in dem
Archive, „das zu Babel if,” nachforfchen zu laffen, ob
a) 8. 6. fehlt in den LXX. und iſt ent weder ein Gloflem, das
dem Wifverftande feinen Urfprung dankt, indem man unter
Kores (8.5.) Cyrus, unter Darius (WB. 5.) ben Darius Hyflaspis,
unter Artachſchaſta (V. 7.) Artarerres verftand und zwiſchen
beide den Xerres einfliden zu müflen glaubte, oder eine (echte)
Parenthefe, die auf den Vorfall Eſth. 3. zuruͤckweiſt. Erſteres
it mir wahrſcheinlicher.
588 | Ebrard
ſich nicht das alte Erlanbwißedict bes Koreſch (Esr. 1, 1ff.)
ſinde. Es fand ſich wirklich, wenn auch nicht zu Babel
(Er. 6, 2.), und Darius erlaubte, mit Genehmigung
Des Artarerred (DB. 14.), welcher zur’ Zfoyke „ber
König von Babel” genannt wird a), den Bau. Darius
war alfo damals nur noch Satrap. Daß übrigens dieſe
Satrapen, befondberd wenn fie Prinzen vom Beblüte wa
ren, andy (secundo ordine) den Titel „König führten
(Er. 7, 12.), und daß bie Satrapen überhanpt ſehr
felbftändig in ihrer Herrſchaft daftanden, ift befannt
(vgl, Herod. 1, 192.).
Sm 6. Sabre des Darius Nothus cd. h. feiner Sa⸗
trapie) wurbe ber Tempel vollendet und eingeweiht. —
(Run begreifen wir auch, warum Nehemia, nachdem er
bie Kap. 11. die Erzählung feiner Thaten fortgefekt
hat, Kap. 12, die Namen der mit Joſua Eingewander:
ten aufzählt. Darum, weil er und Sofua gleichzei⸗
tig wirkten) —
Wir gehen zur Ausſchließ ung der Ammoni⸗
ter. Eöray9f. und Neh. 18. wird noch dieß fpärere Fac⸗
tum berichtet. (Daß der Stelle Esr. 9, nicht Neh. 9, 1.
fondern Neh. 13. entfpricht, iſt deutlich. Ebenſo, daß die
frühere Reinigung ber Gemeinde (Neh. 9,1.) von der fpür
teren, wichtigeren (Neh. 13,13.) verfchieben iſt. Denn
dort war Nehemia anwefend; hier iſt er abwefend,)
Nehemia war im 20. Jahre des Artarerres, im 1.
bed Kored, zum erftienmale nad Jeruſalem gekommen
(Neh.1,1.) und war Laudpfleger gewefen bie zum 32.9.
des Artarerred (Neh. 13,6.). Bon da au lebte er längere
Zeit am perfifchen Hofe. In diefe Zeit fällt die And:
fohließung der Ammoniter und die Einrichtung eines Tem⸗
pelkaſtens (B.5.), die er hernach bei feiner Rückkehr alt
eine unpaflende abfchaffte (V. & ff.).
a) Bgl. Er. 7, 12: „ber König aller Könige.”
Nebulabnezar. 689
Wie verhält ſich nun aber hierzn das Esr. 7. Erzählte?
Eora 7. beginnt mit den Vorten: „Rad, biefen Befchichten”
(nämlich der Einweihung bed Tempels im 6. Jahre des
Darius) „im Königreiche des Artachfchafta.” Daß dieß
noch immer der alte Artachfchafta und nicht etwa Arta⸗
rerres II. iſt, wiſſen wir nun; wir wiſſen, daß Darius
ald Satrap der Nachfolger ded Satrapen Koreb
geworden war; wir wiſſen auch aus ben Profanfchrifts
hellern, daß Artarerres 41 Jahre regiert hat. Nun heißt
es @er. 7., Esra fey mit einem Geleitsbriefe des Arta-
serred im Driente umhergereift, habe die dort noch ber
findlichen Juden anfgefordert, nach Jeruſalem zu ziehen,
und ſey mit einer Schaar (die von der frühern Esr.2.
ganz verfchieden ift) nad Jeruſalem gekommen; der Tem⸗
yel war (8, 33.) damals fchon gebaut. Nach feiner Ans
Eunft habe er die Ammoniter ausgefchloflen.
Offenbar fühlt diefe fpätere Reife Esra's a) in bie
Zeit nach dem 32. Zahre ded Artarerres, in die Zeit,
wo Rehemia abwefend war. Sonderbar iſt deßhalb die
Zeitangabe Esr. 7, 7: „im fiebenten Jahre des Artas
serred.” Sollte die Stelle corrupt ſeyn? Mir fcheint
der Schiäffel der Erflärung in dem ebenfalls fonderbaren
Zufage zu liegen: eb myaun no wen. Iſt der Tert
incorrupt, fo ift diefer Zufaß ein reiner Ueberfiuß. Ich
glaube, das Negierungsjahr des Artarerres iſt corrupt,
der Zufaß richtig. Der im Zufage genannte 2 wird
der den Juden zunächktfiehende Satrap, ihr Satrap,
feyn, d. h. Darius.
Nun war Rehemia im 6. Jahre des Darius, bei der
TZempelweihe, noch in Serufalem (Neh.12,40.); im 7.
Jahre, wo Esra kommt und die Ammoniter ausfchließt,
war er ſchon abweſend (Reh. 13, 6.). Da er nun (Neh.
a) Run erklaͤrt fi) audy der Ausbrud ruenn Reh. 7, 5f. Wie
Rehemia ſchrieb, war die fpätere Einwanderung zur frühern
fon hinzugekommen.
686 | Ebrard
ſich nicht das alte Erlanbuißedict bes Koreſch (Eör. I, Iff.)
finde. Es fand ſich wirklich, wenn auch nicht zu Babel
(Er. 6,2,), und Darius erlaubte, wit Genehmigung
des Artarerres (DB. 14), welder zur äfoyhw „der
König von Babel” genannt wird a), den Bau. Darius
war alfo damals nur nod) Satrap. Daß Übrigens biele
Satrapen, befonderd wenn fie Prinzen vom Beblüte wa
ren, auch (secundo ordine) den Titel „König” führten
(@ör, 7, 12.), und daß: die Satrayen überhanpt fehr
felbftäudig in ihrer Herrfchaft daſtanden, iſt befaunt
(vgl, Herod. 1, 192.).
Im 6, Jahre des Darius Nothnd ch. h. feiner Su
trapie) wurde ber Tempel vollendet und eingeweiht. —
(Run begreifen wir auch, warum Nehemian, uachbem er
bis Kap. 11. die Erzählung feiner Thaten fortgefekt
hat, Kap. 12, die Namen ber mit Jofua Eingewanber:
ten aufzählt. Darum, weil er nnd Joſna gleichzei-
tig wirkten) —
Wir gehen zur Ausſchließung der Ammoni—
ter. Eöray9f. und Neh. 18. wird noch dieß fpätere Fac⸗
tum berichtet. (Daß der Stelle Esr. 9. nicht Neh. 9, 1.
fondern Neh. 13. entfpricht, iſt deutlich. Ebenſo, Daß die
frühere Reinigung der Gemeinde (Reh. 9,1.) von ber fpü-
teren, wichfigeren (Neh. 13,13.) verfchieden if. Dem
dort war Nehemia anwefend; hier iſt er abwefend.)
Nehemia war im 20. Jahre des Artarerred, im 1.
des Kores, zum erfienmale nach ernfalem gekommen
(Reh.1,1.) und war Laudpfleger gewefen bis zum 32.2.
des Artarerres (Neh. 18,6.). Bon da an lebte er länger:
Zeit am perfifchen Hofe. In diefe Zeit fällt die And
fchließung der Ammoniter und bie Einrichtung eines Tem
pelkaſtens (B.5.), die er hernach bei feiner Rückkehr ali
eine unpaflende abfchaffte (V. & ff.).
a) Vgl. Esr. 7, 12: „ber König aller Könige.”
Nebulabnezar. 689
Wie verhält ſich nun aber hierzn dad Er. 7. Erzäblte?
Esra 7. beginnt mit denWorten: „Rad; dieſen Geſchichten
(nämlid der Einweihung ded Tempels im 6. Jahre des
Darius) „im Königreiche des Artachichafta.” Daß dieß
noch immer der alte Artachfchafta und nicht etwa Arta⸗
rerre® IT. ift, wiffen wir nun; wir wiflen, daß Darius
ald Satray der Nachfolger bee Satrapen Kores
geworden war; wir wiflen auch aus den Profanfchrifts
ſtellern, daß Artarerres 41 Jahre regiert hat. Nun heißt
es Esr. 7., Eöra fey mit einem Geleitöbriefe des Arta-
serred im Oriente nmhergereift, habe die dort noch bes
findlichen Juden anfgeforbert, nach Jeruſalem zu ziehen,
und fey mit einer Schaar (die von der frühern @er.2.
ganz verfchteden ift) nach Jeruſalem gekommen; der Tem⸗
pel war (8, 33.) damals ſchon gebaut. Nach feiner Ans
Eunft habe er die Ammoniter ausgefchloffen.
Dffenbar fäht diefe fpätere Neife Esra's «) im die
Zeit nach dem 32. Jahre ded Artarerres, in die Zeit,
wo Nehemia abwefend war. Sonderbar ift deßhalb die
Zeitangabe Esr. 7, 7: „im fiebenten Jahre des Artas
serred.” Sollte die Stelle corrupt feyn? Mir fcheint
der Schiäffel der Erklärung in ben ebenfalls fonderbaren
Zufage zu liegen: eb myaun no wer. Iſt der Tert
incorrupt, fo ift diefer Zufag ein reiner Ueberfluß. Ich
glaube, das Negierungsiahr des Artarerres iſt corrupt,
der Zufaß richtig. Der im Zufage genannte 5% wirb
der den Juden zunächfifiehende Satrap, ihr Satrap,
ſeyn, d. h. Darius.
Nun war Nehemia im 6. Jahre des Darius, bei der
TZempelweihe, noch in Serufalem (Neh.12,40.); im 7.
Jahre, we Esra kommt und bie Ammoniter ausfchließt,
war er ſchon abmwefend (Reh. 13, 6.). Da er nun (Neh.
— — — — — —
a) Run erklaͤrt ſich auch der Ausdruck N Neh. 7, 5f. Wie
Nehemia ſchrieb, war die fpätere Einwanderung zur fruͤhern
fhon binzugelommen.
6“ Ebrard
13,6.) vom 32. Jahre des Artaxerres an abweſend war,
fo muß dieß mit dem 7. Jahre des Darins zuſammen⸗
fallen a). Dieſe ganze Combination hat übtigens die
böchfte innere Wahrfcheinlichleit. Kür bie Abreiſe Rebe:
mia’d war der Augenblid nach der Vollendung unb Eins
weihung bed Tempels ein fehr paflender. Ebenſo begreift
man, wie gerade da, wo ber biöherige Thirfata abtrat,
ein neuer iu ber Perfon Esra's nöthigwurde. Daber bie
Ankunft Esra's unmittelbar anf bie Abreife Nehemia's folgt.
Mar das 7. Jahr des Darius das 32. bed Artach⸗
ſchaſta, fo fiel der Tod des Kores und Antritt des Das
rind in das 27. Jahr des Artarerred. Die Reihenfolge
der Begebenheiten iſt biefe:
Artarerr.| Koreſch.
20. 1. Mehemia fammelt die Inden in Judäa
und baut SSerufalem,
Korefch erlaubt den Erulanten bie Rück⸗
fehr.
Sm 7. Monate: Volksverſammlung. —
Laubhättenfefl unter Esra und Res
hemia.
23. | 3. MAnfang des Tempelbaues. Unuterbre
Ä dung.
Darius,
27, 1. |%od des Korefh. Darins Batrap
von Babel.
23. | 2. IWiederanfang bed Tempelbaued.
31. 6. Tempelweihe. Nehemia reiſt nach Per⸗
ſien.
33. 7. Esra kommt dafür nach Jeruſalem zu
rüd. Ausfchließung der Ammoniter.
(d Mäckehr des Nehemia,
a) Esr. 7,7. wäre alfo zu lefen: im 32. Jahre des Artachſchaſta.
Nebukadnezar. 691
Wir waͤren nun am Ende. Aber eine Frage kann
man uns noch entgegenhalten: Sind denn vom 11. Jahre
Nebukadnezar's J., d. h. des Cyrus, bis zum 20. Jahre
des Artarerres J. ſiebenzig Jahre? Cyrus begaun
feine Herrſchaft 559, Artarerres die feine 465. Bon 552
bie 445 find 107 Sabre, alfo 37 Jahre zu viel. Der
Herzog von Manchefter hat viefen Punkt wohl ind Auge
gefaßt. Seine Antwort läßt ſich auf brei Punkte re
duciren.
a) Wiffen wir fo gewiß, daß die Chronologie Hero»
dot's fo ficher iR? Gerade wenn man Eyrus und Kam⸗
bufed als Borgänger bed Darius Hyſtaspis betrady»
tet, entficht die befannte Schwierigkeit, daß Eröfus nady
Herodot zugleich ein Zeitgenofle des Cyrns und zugleich
wieder ein Zeitgenoffe des mit Darius noch gleichzeitigen
Piſiſtratus gewefen feyn fol (eine Schwierigkeit, an ber
ren Löfung fih J. M. Schulz, Volney, Bentley, Karcher,
Bouhier, Clinton und neueftend Vomel genugfam abges
arbeitet haben), Wenn man fämmtliche Data des Heros
dot zufammenftellt, gelangt man zu dem fonderbaren Res
Iultate, daß Darius fogar 9 Jahre vor Cyrus feine Res
gierung müßte angetreten haben a). Go unficher wie
Herodot iſt auch die Chronologie des enfebianifchen und
ptolemälfchen Kanon, wie das der Herzog weitläufig und
mit ſtupendem Scharffinne nnd Gelehrſamkeit barthut.
Die Hauptverwirrung in biefen beiden Kanone entficht
dadurch, daß der Rabopalaflar des Joſephus, welcher,
wie früher bemerkt, mit Nebuladnegar I. identifch ift, in
den Kanoned mit Sardanapal und Afarhabdon identifi⸗
eirt wird.
a) Die Hauptdata find folgende: a), Aftyages wird (Her. 1, 46.
u. 75.) von Cyrus geftürgt unmittelbar vor dem Sturze von
Sardes. Alfo fiel diefer ganz in den Anfang des
Cyrus (Her. 1,71. erfcheinen die Perfer noch in Belle geklei⸗
det), und zwar wohl zwiſchen bas 2, u, 4, Jahr bes Cyrus, da
69 Ebrard
b) Wir ſind nun alſo gewiß, daß ber Eyras und
zwiſchen bie erfte Orakelbeſchickung des Gröfus und feinen Stun,
etwa 8 Sabre fallen. — b) Die Drakelbeſchickung fiel
in die 8, Tyrannei des Piſiſtratus. Herod. 1, 64. if
von diefer bie Mede, und Kap.65. beift eb: roug ur vun 4
Omvalovg rosaura zöF 290909 roüro» Envsdarero 6 Kgoice
xarkgovra (ald er den Krieg mit Eyrus begann). Die küntt
lien Erklaͤrungen, bie das rosasra auf die erfte Herrſchaft
des Piſiſtratus beziehen wollen, find nur aus Verzweiflung ent
fanden, um ben Eyrus höher hinauf zu rüden. — c) Gröfst
muß fogar bis nahe an den Tod bes Pififtratus ge:
berrfht haben. Miltiades, im Kriege mit Lampfacus ge
fangen, wird von Gröfus befreit (Her. 6, 37.) unb regiat
nachher, wie aus der Erzählung beutlicdy hervorgeht, nicht mehr
ſehr lange in Cherſonnes. In diefe nicht ſehr Tange Zeit fült
die Ermordung feines Vetters Simon, und damals war Pile
ftratus fchon tobt (Her. 6, 103.). Alſo farb Piſiſtr. nicht ſeht
lange, nachdem Miltiades von Gröfus befreit war. Der Herjoz
beweift durch fcharffinnige Combinationen, daB Gröfus hoͤchſtent
4 Zahre vor dem Tode bes Pififiratus kann geſtuͤrzt work
feyn. — d) Hippias regierte hoͤchſtens 4 Jahre, während welcher
der jüngere (berühmtere) Miltiades in ben Gherfonnes kom.
Von da bis zum ioniſchen Aufftande find (Her. 5, 55. 6, 40.)
vier Jahre, von ba weiter bi zur Sinnahme von Milet 6 Jahre
(der, 6, 81.), und von da bis zur Schlacht bei Marathon (mit
aus Bgl. von Her. 6, Kap. 31, 41, 43, 46, 61, 62, 95, 10:
unmwiberfprechlich hervorgeht) 3 Jahre. Sonach fällt bie
Sinnahbme von Sardes hoͤchſtens 19 Jabre vorbit
Schlacht von Marathon, und die Hnpothefen,- wide
tbeils von der Vertreibung des Hippias bis zur Schlacht a
Marathon 20 Jahre rechnen, theilß die 36 Jahre der Pike»
tiven (Ser. 5, 65.) erft von der dritten Herrfchaft des Pififre
tus an zählen, werben von bem Herzoge ſchlagend widerlegt. —
e) Das 4. Jahr bes Cyrus fiel alfo 19 Jahre vor die Schlacht
bei Maratbon, feine 2Yjährige Regierung begann alfo 4 Zahıt
früher ; er regierte 513 — 484. Die Schlacht bei Marathon fiel
in das 82. Jahr der S6jährigen Regierung bes Darius; biefe
regierte alfo 522— 486. Beide waren alfo gleidyzeitig. (So
ftellen fidy die Regierungsjahre beider nach Hero dot. Es wird
dieß Mefultat fpäter eine Correctur erleiden aus ben genaueren
Datis ber h. Schrift.)
Nebulabnezar. 693
Kambyſes des Herodot den beiden Nebüukadnezar's ber h.
Schrift, und der Darius Hyſtaſspis bes Herodot dem
Darius dem Meder entſprechen Woher aber wiſ⸗
fen wir, daß bie Nebnkadnezar's Borgänger
des medifchen Darius waren? Bon Herodot.
Aber Herodot macht mittelbar den Cyrus wieder zum
Zeitgenoflen ded Darius! Werfen wir doch nach fo wies
in Borurtheilen auch noch dieß lebte, nämlich jene pers
ſiſche Koͤnigsreihe, die wir in unfern Schulbücdern ges
lernt haben, hinweg! Befragen wir wieber zu allererfi
die biblifchen Autoren für ſich allein!
Wird Darius der Meder je ein König von Ehaldäa
oder ein Chaldäer genannt? Wird nicht vielmehr Dan.
9,1. fein Sohn Ahadver (Kersed) ein König der Meder
genannt, der „Über dad Reich der Ehaldäer König
ward”? Werben nicht diefe beiden Reiche, das (mit
dem vulgo „perfifchen” identifche) Haldäifche und das
medifche, unterfchieden?
c) Der Herzog führt nun auf vollfommen befriebis
gende Weiſe den Beweis ans vielen gefchichtlichen Documen⸗
ten, die wir nicht anführen können, wenn nicht Diefe Abhaud⸗
lang zum Buche werden fol, daß Nebukadnezar J. (Ey⸗
ne), der perfifche Coder chaldälfche) König von Babel,
gleihgettig warmitdem medifchen Könige Darius
Hyfkaspis von Sufa, und daß Nebukabdnezar II.
(Rambyfes) gleichzeitig war mit dem mebifchen Könige
Terres. So und gerade fo wird bie Chronologie Hero»
dot's gerechtfertigt a).
Der gefchichtliche Verlauf beider Reiche war diefer.
Nebufadnezar I. (Eyrus, der Rabopalaffar des Joſephus,
der Koſru der Perfer) ufurpirte bie Herrichaft über Ni:
—
a) Im Detail erzählt alfo Herobot (wider Willen!) richtig. Seine
Gelfammtanfhaunng, als habe Eyrus vor Dariusgeherrfcht,
beruht auf einem Irrthume.
694 Ebrard
nive. Mit Darius Hyfkaspis von Medien (dem Arphach⸗
ſad des Buches Judith, dem Aphraſiab der perſ. Sage)
verbündet, zog er gegen Tomyris in feinem eilften Jahre,
und fein Sohn Nebukadnezar II. war unterdeffen in Ba
bei Bicefönig. Es fcheint, daß fchon von da an Rebu
kadnezar I. eine Art Suprematie ded Darins anerkamt
bat. Sein Sohn, Rebuladnezar IL, hatte eine Tochter
ded Darius zur Gemahlin und von ihr den Belfazar
zum Gohne.
Im zwölften Jahre bed Rebulabnezar J. im zweiten
feines Sohnes, hatte diefer den Traum Dan.2. Ju 18.
Sahre bed erfteren ftellte diefer das Bild Dan. 3, auf.
Belſazar fheint während der Krankheit fei-
ned Vaters (die 75 I. nach feinem Regierungsantritte,
d. 5. dem Tode feined Vaters, begann) an deſſen Statt
regiert zu haben. Er wurde ermordet, vielleicht auf Ber
anlaflung der Meder hin, die nad dem vollen Befike
des chaldäifchen (perfifhen) Reiches trachteten, Seu
Bruder Evilmerodach folgte ihm. Nach feiner Wieder:
herftellung unternahm Nebukadnezar II. ( Kambyſes), un
fi) zu rächen, den Zug nach Aegypten, und als er iu
rückkam, hatte Korefch den Thron ufurpirt, und da
durch warb zugleich dem medifchen Herrſcherſtamme die
Suprematie in dem chalbäifch» perfifchen Reiche. Dens
nicht um den Kampf zwifchen einem medifchen und einem
chaldäifchsperfifchen Reiche handelte es ſich, fondern—
echt orientalifh — um den Kampf zwifchen verſchiedenen
Satrapendynaftien in dem durch das anfängliche Zufam
menwirten von Cyrus und Darius entfiandenen Einen
Weltreihe. Wir müflen und die Stellung 5. B. eines Kor
vefch zu einem Artachfchafta oder eines Kambyfes zu einem
Kerres etwa fo denken, wie die des Mehemed Ali zum
türfifchen Sultan.
Was nun die fpecielle Chronologie betrifft, fo find
die Hauptrefultate folgende:
695
Nebukadnezar.
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47
Theol. Stud. Jahrg. 1847.
‘
098 Eher -
Die erſte Hälfte diefer Nefnltate ergibt ſich aus dem
umftändlichen Unterfuchungen des erlauchten Berfaffers
der Times of Daniel, die andere Hälfte aus bes Ref.
obigen Unterfuchungen über die Bücher Esra und Nehe:
mia, Durch bie leßteren wird noch ein wefentlicher Bor
theil gewonnen. Der Herzog ift genöthige, zweierlei 78
Jahre anzunehmen, erſtlich 70 Jahre der Gefaugenſchaft
(503 — 437), die aber gar keinen Abſchluß finden (danad
feiner eigenen Rechnung auf 437 gar Fein Ereigniß fäht),
und dann noch 70 Jahre ber Berwüflung (492 — 423), in
dem er das zweite Jahr des Darius für das zweite ſei⸗
ner fouverainen Regierung hält. Wir dagegen erhalten
eine einfache Zahl von 70 Jahren, die mit der große
Deportation Jechonja's und der Verwüſtung bes Tem
peld (2 Kön. 24, 13.) beginnt, im Jahre 505 — 504, und
mit dem MWiederaufbaue des Tempeld (435 — 434) endet.
Im 2. Jahre des Darius Nothus waren die flebenjig
Jahre um (Sad.1,12).
Wir fließen bier unfere Mittheilungen und find
und, befonderd was den lebten Theil derſelben, Bie Gleich⸗
zeitigfeit des Cyrus und- Darius, betrifft, wohl bewußt,
daß wir. hier nur Refultate referirt haben. Ar |
die Abficht mar auch hier vorwiegend bie, die Blicke der
deutſchen Geſchichtaforſcher und Theologen auf jenes eng⸗
liſche Werk hinzulenken und zur Berüdfictigung deſſel⸗
ben anzuregen, nicht aber.feine Lectüre Überflüffig zu machen
Auch was. den früheren Theil der Unterſuchungen betrifft,
fa glaube Niemand, den Hergog son Mancheſſter wider
legt gu daben, wenn er etwa deſſen Epitomator und Refe
renten wiberlegt hat. Ref. ſchreibt ſich wicht im entfern
teften die Gelebrſamkeit zu, welche nöthig iſt, um als Ber:
treter und Sachwakter der mancheſter'ſchhen Anficht it
Deutſchland auftreten zu fönnen; obwohl ex geſteht, da}
befonders der erſte Theil der Unterſuchungen einen valis
üÜbergengenben Einfluß auf ihn ausgeübt hat, fo wil er
IE iu,
Nebukadnezar. 697
doch in dieſer Sache lediglich das Verdienſt eines Col⸗
porteurs in Anſpruch nehmen, und ſelbſt dieß würde er
gerne gefchidteren Händen überlaffen haben, wäre er
nicht perfönlich darum erfucht und freundlich ermuthigt
worden. So viel hofft er bei jedem Lefer erreicht zu
haben: das Zugeftändnig, daß diefe Hypothefe der ger
naueften Prüfung und Berüdfichtigung werth fey. Nur -
zu oft find wir Deutfche geneigt, uns in unfern Grenzen
abzufchließen und die großartigen Leiftungen, die anderen
Nationen, auf dem Gebiete der Theologie aber vor allen
den Engländern zu verdanken find, zu verfennen ober
zu ignoriren. Und doch wäre gerade das Studium ber
engl. Theologen uns fo heilfam; und, die wir fo gerne
uns in formelle Dialektik und eitle Hypothefen einlaffen,
das Studium von Theologen, deren Art es ift, erft den
ganzen erdrüdenden Reichthum von Material zu fanımeln,
und dann erft nicht ſowohl Hppothefen, als Anfichten
fih zu bilden; uns, die wir fo gerne bei der erften
Schwierigkeit, die in einem bibl. Buche und aufftößt,
dad ganze Buch um ein paar Jahrhunderte hinabwerfen,
das Studium eined Autors, der die eiferne Beharrlichkeit
befißt, mit unermüdlicher Geduld erft die ganze Reihe
der bibl. Bücher unter einander und dann mit ſämmtli⸗
hen anderen Gefchichtöquellen zu vergleichen, und dem
es auf dieſe Weife gelingt, zu einem Refultate zu gelans
gen, welches, wenn es ſich weiterhin erwahrt, mit vols
lem Rechte ein panharmoniſches genannt zu wers
den verdient,
47"
Gedanken und Bemerkungen.
—— — U
1.
Sieben Blide in dad erfte Kapitel
der Geneſis.
Bm —
F. W. 6, Umbreit. |
ko
Don Neuem ben Anfang aller Dinge in dem Aufa
ded Wortes der heiligen Schrift betrachtend, werde äch
von einziger Bewunderung, in anbetender Ehrfurcht
durchdrungen. Ich möchte die Feder gleich wieder ie
derlegen, wo fie verfuchen Wil, Die Macht Des Einbruch
iu bezeichnen, darzuſtellen, ober gar zu fchilberu, ben
die Gchöpfungögefdjichte in das Gemüth‘ hineinwirſt:
ine Macht iſt eine Uebermacht! — Wohl it es zuerſt
dad Gewäth,; dieſe innerlichfie und heiligfte Stätte des
enpfangenden und zengenden Seiſtes, bie flille Pforte,
weiche ſich den Dffendarungen Gotted äffnet, welches
von dem erfien aller Worte: „ed werde! und ed ward,”
getroffen, erfüllt nub bewältigt wied. Aber bee fragende
und beobachtende Verſtand AAHt ſich fein angeſtammtes
Recht auch hier nicht nehmen.
Wie ſollen wir dich nennen, größter Schöpfer des
größten Schöpferwortest — Derfaſſer? — D des allge:
meinen und gemeinen, Falten, widerlich Plingenden Bor:
tes, dad dich mit einem Male in die breite umd weite
Mafle großer und Feiner, guter uud fchlecdhter Schrift
fteller bineinbannt! — Dichter? — Mit diefem Namen
biſt du genug gepriefen und gefcholten worden. 9a,
deine Rebe tönet ald ber erhabenfte Geſang, dem wir
feinen anderen an die Seite zu fiellen wagen; denn ber
Begenftand, den du beſingſt, ift felbft der erhabenſte;
er führt und über Erde und Himmel hinaus zu Dem,
ber beide fchuf und fonderte, und dein Wort, das dieſe
erſte und hoͤchſte Geſchichte erzählt, ift ein uumittelbarer
Abdruck ihrer Erhabenheit. Aber dem „Dichten” find
wir einmal gewohnt unwillärlich ein „er hinzuzufeßen,
und eine „Erdictung” haft du wahrlich nicht geben mol:
len , fondern reinſte, 5öttliche MWahrheit, ein Gedicht alſo
Der urfprünglichften Wahrheit, dir zugefloffen aus dem
Munde Deffen, der ſprach: „ed werde Licht!” Doc, we
gen biefes immer leicht möglichen Mißverſtandes mögeR
du auch wit einem folch’ zweidentigen Ramen verfchont
bleiben. — Künftler — und im Befonderen „Mealer!”
— Man hat ja häufig genug heine Darfellung der Ent
ſtehung Himmels nud; der Erdr ein Schoöpfuugsgemäalde
genannt, nud biefed .Eöunteh Au dir ſchon cher gefaßen
laſſen; denn in der That, wir fchawen uiehrieig BR,
8: aß wir Iefen ein Gedicht. Aber laͤßt du nicht auf
bem Vordergrunde deinen. emäldes Das Licht ſchon aufı
Senchten, bevor: du nach Den Simmel aufgefpanut ud
ihn mit Gone, Maud und Sternen gefehmädt? —
Berführt alfo ein Künſtler, der Mann der Befonnenkeit
and feinen Ueberlegung ?:—: Zwar haben wir: Dich längfl
von jenem uniberlegten. Borwurfe frei geſprochen, abe!
wir möchten Dir gerne einen Nanten geben, dem bir Ar
ner, auch gar Keiner abfprechen könnte. Mit der Kanfl
geht: es Überbieß,. wie mit der. Dichtung; leicht trägt
man auch in fie sinen Begriff hinein, der ſicher dir fremd
fieben Blicke in das 1. Kapitel dev Benefit. 703
war, den wir weder zu deinem Lobe, noch zu beinem
Tadel auf dich anwenden wollen. — So verlaflen wir
denn. dad Gebiet von Poefle und Kunft, und fuchen nad
einem anderen Namen; denn einen wirft bu doch haben.
Sollen wir bir den vornehmſten geben, mit dem fi
Mancher fo groß gedünkt auf dieſer Erde, obfchen er
feiner Bedentung nach ein gar befcheidener iR — Philo⸗
ſoph? — Wohl haft du die Weisheit geliebt, die höchſte
nud herrlichſte, die von Gott dir zugelommen, und von
diefer Liebe ift dein Wort erfüllt von Anfang bie zu Ende.
Aber die Philofophen ‚ wenigftene wie fie geworben und
wir eine ber Erfahrung entaommene Vorſtellung von ih»
nen haben, begnügen ſich nicht mit ber Liebe zur Weiss
heit, fondern fie wollen die Weisheit aus ihrem Denken
ergründen und mit Formeln, die mit Rothwenbigkeit
fih aud einander entwideln und mit unleugbarer Folge⸗
rihtigleit an einander fich fetten, die Weisheit beſtimmen
und fegen. Lücheln müßte ein foldher Philofoph, woll⸗
ten wir feinen Ramen bir leihen. Zwar einen „Specu⸗
Iatteen” könnten wir nach gehöriger Vorherverſtaͤndigung
immer: Dich nennen; denn erfchaut haft Du von Der höch⸗
hen Warte des Denkens den Anfang aller Speculatiom,
Gott und fein erſtes, lebendig fchaffendes Wort; und du
haft: nicht nur den Grund aller Speculation in das Wort
„Bott? gelegt, fondern du haft auch biefen Urbegriff in
fpeeniativer Weiterfhauung zu Geil, ſich ſelbſt beſtim⸗
menden Willen und zum Leben gebracht. Aber du vermits
telſt die einfachen Brunbtöne deiner Speculation nicht Durch
Zwiſchentoͤne, bu verbindet hie zeugenden Gedanken nicht
durch Reflsrion und Argumentation, fondern deine Rede
febt Mich heraus in der reinften und unmittelbarften Form
reiner und bloßer Berficherung. Und biefe Berficherung
koͤmmt fo gar nicht and dir ſelbſt; in der Weife, wie du
fe ausſprichſt, erſcheint nicht die leiſeſte Spvur, daß fie
geißig erarbeitet ſey, aus einer logiſch⸗nothwendigen
708 - .. "Mabweit.
Schluß folge der Bedanten entſpruugen; du gibt um,
wad bu mit dem Ohre deines Geiſtes vernommen, und
wie follen wir biefe unmittelbare That deiner Rede aus
ders begeichnen, als mu dem ſich feibft bezengenden, bie
immerlichfte Gewißheit der Ueberzengung beiunbenden
Worte „Offenbarung? — Aber and weicher Quelle bir
diefe Offenbarung zugefloflen, davon haſt bu auch wieder
keine pſychologiſche Rechenſchaft abgelegt, obſchon du fie
im dem Namen aller Ramen audgefprochen, in dem bir
ber Anfang aller Diuge gegeben war: Bott! — Ge
wirft du dir deun auch licher den Ramen eines „Theo
logen” wählen, ald ben Rolgeren eines Philefophen, ber
ſich in der Erforfchung der göttlichen Dinge der Voraus⸗
fegungstofigkeit zu rühmen pflegt; denn von biefer weißt
du nicht, fondern du ſteheſt fe anf der erſten aller
Berausfenungen, auf dem Bewußtſeyn von Bott. Aber
> wie bir dieſes Bewußtſeyn zum Bewiffeflen geworben,
zur Wurzel deines Deukens, das ſagſt du wieber nicht;
du glaub au Bott, und biefer Glaube if bir offenber.
Diefer Blanbe if die Leuchte, welche bie die durnklen
Urgewüfler. erhellt, ja dich über fie Hinans in die über
ſtauliche Region Hinberlritet, we ber Ewige, von Raum
und Reit geſchieden, in feiner Einſamkeit das Wort fprach:
„es werde? — Doch vergeffen wir über biefen weinen
aller Gedaunken, der wie der Geiſt Gottes ſchwebet über
der Materie, räumlich ud zeitlich in höchſter Freiheit,
verfuchend, erhebend und. bildend Die Dentktaft des him
wielwärts: aufgerichteten. uud forſchenden Menſchen, wicht
bie Form feines Ausdrucks, auf die es uns hier vorzug⸗
lich anlömmt, Ueberblicken wir noch einmal alle die Ber»
ſache, den Meiſter dieſer Form zu benamen, fo will und
leiner gefallen. Und beſimnen wir und Aber den allge
meinſten Grund der Verwerfung, fo möchte verſelbe wicht
fdhwer zu finden ſeyn. Kein Rame genügt, weil der
Berfaffer namenlos geichzieben, bad heißt aber in unfe
fieben Blicke in das 1. Zapitel der Geneſis. 705
sem Sinne, weil fen Subject fo ganz und gar purück⸗
tritt, und wir anf ein Werk der vollendetſten Objectivi⸗
tät: bien. Daher And wir gewiß: Tönnten wir dich
fragen, welchen Ramen du dir wünſchteſt, alter Meier
des objectiven Wortes, bu würdet feinen anderen ver:
langen, aks ben befdribenften, "nd, d. i. „Schreider” oder
„Erzählee”, — „Der Himmel erzählet die Merrlichteit
Gottes, und bie Befte verfänder bad Wert beiner Hände.”
2. z
Epiſch Haben wir die: Darftelluag in :bem erſten Ka⸗
pitel ver Geneſis genannt. Ja, ed if darin enthalten
dad alteſte und erhabenkie Epos von der Schöpfung und
Bildung Himmels und der Erde. Die erzählende Rede
entfaltet fih won felbft in der reinften Weife, in der
hachſten Unſchald des befchreibenben, nicht beurtheilen-
ben Wortes. fo doch Poeſte? — Allerdings! in ber
wahrſten Bedeutung diefes hohen Wortes. Wie Bott
ſelbſt in dem unmittelbarſten Bewußtſeyn, daß das, was
er ſchaffe und mache, gut ſey, das allmächtigees werbe !”
als nothwendig folgende That vohbringt, fo zeichnet ihm
der Briffel des Schreiber, den er dazu erwählt hat,
dad wunderbare Werk feiner Weltpoefle mit der naivſten
und kindlichſten Treue nad. Und wie Gott nicht bloß
den nranfänglichen Weltkoff ordnet und bildet zur voll
endeten Schönheit des Dafeynd, ſondern biefen and
ſelbſt heroorbringt, fo hat auch unfer Poet den Stoff
zu feinem Epos nicht vorgefunden, fondern er hat ihn
durch Eingebung empfangen. Deus woher hätte er ihn
doch entmehmen follen, da wir anerkannt die Echte von
eine Schöpfung and Nichts in allen Schöpfungeberichten
der alt» aflatifchen Welt nirgends gewahren? Run, fv
hat er ihn aus dem alten Teſtamente entlehnt, in wel⸗
heit wie durchgängig auf dieſem Grundſteine bed reiwften
Glandens an einen heiligen Bett, . Schöpfer Hinmels
206 Umbreit
und ber Erde, das fefle Gebünde der Theologie gegräu
det fehen? — Als wem ver.nicht ber Erfie hätte feyn
Bönuen, der diefen nennen Gedanken der altteflamentlichen
Gotteslehre audgefprochen nnd eingefleidet! — Wenn «6
boh Mofesd gewefen? — das hocdhgewürdigte Wert.
und NRüfzeng göttlicher Offenbarung?! — Doc wir wol
len bier weder em kritiſch mindeftend gweifelhaftes Ur⸗
theil vorausfeßen, noch und hinter eine dogmatiſch⸗thes⸗
logifhe Redeweife verfieden, fondern immerhin zugeben,
anfer Erzähler habe aus einer vorgefundenen Quelle ge
fhöpft, To floß ihm dieſe doch nicht in ber Fremde,
fondern in der urfpeänglichen Heimath feined nationalen
Bewußtſeyns von dem unbedingten Gott, von dem Schs⸗
pfer in dem unbefchräntteften Begriffe der Freiheit, und
ſo if er wenigſtens, volksthümlich betrachtet, auch ein
originefler , felbfifchöpferifcher Port. Und fo fällt bier
auf eine fehr bedentende Welfe Theologie und Boefle in
: dem höchften und allgemeinften Begriffe der Eingebung
nud Offenbarung zufammen. Wir wollen jedoch, um
Anſtoß zu vermeiden, den bedenklichen Vergleich wid
weiter fortfeben, fondern, wie wir bereitd gethan, den
Schöpfer des Scöpfuugsberichted nicht einen Dichter
nennen, wenigftens nicht in Bezug auf ben Zuhalt feiner
Urkunde. Aber bie Form, in die er ben Geiſt der ibm
offenbar gewordenen Wahrheit gegoſſen, verfündet ihn
ficher ald einen Dichter.
Richten wir zunüchſt nnfern Bli anf die Wahrheit,
die uns enthält wird, fo befteht fie in ber wunderbar
Ren aller Berficherungen, daß Bott die Welt aus Nichts
geſchaffen und allmählich zu der gemeffenen Schoͤnheit
entwidelt babe, in der wir fie vor uns fchen. „And
Nichts geichaffen!” Ein Wort, bad dem au die Erfah
zung gewielenen Verſtande entfchieden Hohn fpricht und
®
fieben Blicke in das 1. Kapitel der Benefit. 707
anf dem erfien Blatte ber heiligen Schrift bie Prebigt
der Demuth beginnt, welche burch Die ganze Bibel ges
hört wird. Wir können und nicht verhehlen, und follen
ed auch nicht, daß, wir mögen und mit pbilofophifchen
Formeln drehen und wenden, wie wir wollen, in jenem
Worte für den denfenden Menfchen ein Widerſpruch ent
balten if, Uber hüten wir uns, einen ſolchen der Un⸗
ſchuld der Urkunde felbft anfzubärden, Ihr Anfang if
„im Anfang”, und wit biefem unfcheinbaren und doch
vollommen. wefenhaften Worte hat fie den Gedanken,
daß Gott Leinen Stoff neben fich gehabt, aus ihm bie
gegenwärtige Welt zu bilden, fondern ihn felbit hervor,
gebracht, viel reiner, ja fo rein ausgedrückt, ale irgend
eine Sprache ed nur vermag. Es fteht dieſes „Im Aus .
fang” fo ganz allein, ohne allen Beifab, ohne irgenb
ein Objeet, von dem ber Anfang ber Anfang fey; nur
mit dem „Scaffen” felbk iſt es in die unmittelbarke
Verbindung gefeßt; dieſes Schaffen war ein uranfängli
ches. Das Wort wa allein, wenn das nruwya im Terte
fehlte, könnte dem Borurtheile, ald ob von einer ur⸗
fpränglichen Hervorbringung ber Materie in unferem Ka⸗
pitel Beine Rede fey, immer noch einige Nahrung geben,
obſchon wir unfererfeits lexikaliſch dieſe Meinung nicht
von ferne theilen, aber fo mit neun verbunden, fdhlägt
es jeden Widerfprud für den, bet den guten Willen
bat, zu fehen, nieder. Freilich haftet an ihm etymolo⸗
gifch Der Begriff des „Sonderns”, aber die zunächſt aus
finnlihen Eindrüden und Erfahrungen gebildete und zur
fammengefegte Sprache bot unferem Schreiber kein ans
deres dar, da ber Menfch, wenn er andy das reinke
Schaffen denkt, nun einmal von dem „Trennen” nicht
lodfömmt; darum hat er mit feinem „im Anfang” auch
der leiſeſten ſinnlichen Auffaſſung recht eigentlich vorge⸗
baut. Indeſſen zeigt ja auch das rıyy, das „Machen”,
weiches er fpäter immer gebraucht, wenn er das folgende
N
706 rmbreit
„Bilden und Formen” bezeichnen will, daß er Dad wa
von ihm beſtimmt unterfchieben haben wall, wie bean
auch ‚die darſtellende Mede im A. T., we in manchen
Stellen dieſes Wort bezichungs« und verbindungsweiſe
gebraucht iR, klar beweiſt, daß ber Gedaunke das finw
liche Element in demſelben überwunden habe. ber Bas
‚Schaffen feht ein Subject voraus, und dieſes folgt uns
mittelbar auf wyg es iſt wriin, es if der Rame der um
bedingten, freien Almadıt, es ift Bott; in biefem Na
men, ift er einmal gefunden, iſt der ummittelbarfte Beweis
der Möglichkeit, ja Nothwendigkeit einen Schöpfung aus
Nichte gegeben, und fo liegt der veine Theiomus, das
A nub das D des alten Bundes, iu den drei erfien Wor⸗
ten einfach, tief und Nar enthalten. Daß nun Bas Ob⸗
jest der Schöpfung fchen Himmel uma Erde in ihrer
Getheittheit genannt mird, widerfpricht dem in den drei
enfben Worten gefundenen Örmndfinne keineswegs; demm
die altteſtamentliche Sprache hat für „IBelt” alt allum;
fallende Nüwneikdyleit in Der hier näthigen Bedentung fein
befondares Wort; obs verfinnlicht die unendliche Zeitent⸗
vickelung, wie fie freilich in Die Anfchasung bed Raumsed
eingefchloffen if. Es iſt aber überhaupt kein Gruud vor⸗
hauden, einen anderen Ausdruck, als den gegenwärtigen,
zu wünſchen, da ſchwerlich der erfie Ders unferes Ka⸗
potele die befomdere: Lehre aueſprechen wollte, daß Gott
Den nogeformten Meltſtoff hervorgerufen ; vielmehr, mens
wir uns in feine naive Ainfchauung verfeßen, konnte er
nur bepeugen wollen, daß Alles, was in unfere Sinne
fällt, alfo nach ber natürlichſten Betrachtung von einem
Shen und Unten, von Gott urfprünglich gefchaffen wor⸗
ben. Irmnerlich, in Gott felbfi, war der Schöpfungsact
mit einem. Male, ohne nur Ein Zeitmoment in ihn hinein⸗
zutragen, fo vollbsacht, daß die vollendete Schöpfung,
Simmel und Erde, fertig war, wie wir beum, begriff
lich. gefaßt, Gott Heinen Augenblick ohne Welt denken
4
fieben Blicke in dad 1. Kapitel der Benefit. 709
können, bärfen und foßen.: Unſere Urkunde hat ed aber
nur mib der Welt ber Erfcheimung zu thun, und fie bes
fchreibt: der zweite Ders in ihrem erfien Zukanbe ale
eine finfiere, verworrene, müſte Waſſermaſſe, die ſich
nad; dem gefaltenden Willen des Allmächtigen in einzel
nen Epochen zu einer lichten, wohlgeorbneten und bes
lebten Schönheit entwickelt.
4.
Es iſt bewumberungswürbig , wie die Schoͤpfungs⸗
welunde gleich im Anfauge mit den einfachften und präg⸗
nantefien Worten ben Grund zur monstheiflifchen, rein⸗
fen Gotteslehre des A. T. gelegt; wir erbliden hier die
in beiliger Stille treibenden Keime, weldye der ſpäter in
die Erfchrinung tretende Prophetengeiſt zu ber herriichen,
frifch grünenden Saat entwidelt hat, in der «8 raufcht,
wie auf dem Libanon. Der Gott, der zu Mofes ge
ſagt: „ich bin Der, der ich bin”, welcher die. Propheten
mit feinen Geiſte erfüllt und mit feinem Worte erweckt
und durchdrungen, bezeugt fich bier zuerſt in feiner gan⸗
sen elgenthümlichſten Weſenheit. In feinen höchſten, nur
ihm gehörenden Machtvollkommenheit tritt der Ewige
Lkebendige in dad Leben der Dinge. Der umnbebimgt
Seyende, der, weldser ifi, der er iſt, bekundet ih ala
unmittelbare That der lebendigen und Leben ſchaffenden
Stärke; der Jehova ik der Elohin, oben wird es hier
vielmehr im der für den Menſchen nur zeitlich zu begrei—⸗
fenden, oder richtiger , vorſtellbaren Schöpfung. Schen
in Dem Namen Jahoe, wie wir eigentlich ansfprechen
müſſen, iſt Dad ewige Seyn als ein Iebenbiges und uns
mittelbar lebendig machendes geiegt, und fo gehört bad
Schaffen ins nothwendig zu. Wir vermögen im zeinen
Denken ben Irhova feinen Augenblick als Nicht» Elohim
Ju begueifen; der Ewig⸗Lebendige iſt die ewige, unaus⸗
geſegt ſchaſſende Macht; kein Etohim iſt denkbar in öder
110 Umbreit
Einſamkeit ohne Welt, Wer bie Welt iſt nicht Bett,
foudern in Ihm feloft unterfchieben von ihm; darum hat
fie auch einen Anfang in ihrer räumlichen und zeitlichen
Entfaltung, Er aber nicht; er iſt, fie wird; und fo if
das hochbedeutende rim ein unentbehrlicher Anfang
für die Schöpfung in ihrer gefonderten Betrachtung von
dem Schöpfer. Es liegt mehr Phitofophie in der Poefſe,
ald man gewöhnlich fieht, wenn Himmel nud Erde, ma:
mentlich die leßtere, auf weiche wir vorzüglich hinge
wiefen find , in unferer Urkunde, beſtimmter noch in bem
ibe entfprechenden 104. Pfalme, ſchon als ein gleich ferti-
ged Kunſtwerk vor Gottes Bingen liegt, aber erſt mit
einem Schleier verhüllt iR, der binweggegogen wird,
und. nun beim Jauchzen aller Morgenflerne die höchſte
Schönheit hell und freudig in bie Augen leuchtet.
5.
Bei einem fchärferen Hinblicke auf das Weſen Ber
tes, wie uns fein Bild im beftimmten Gruublinien vor:
gehalten wird, gewinnen wir nicht bloß eine dunkel ſchaf⸗
fende Kraft, eine lebendige Allmacht, aus der alle Dinge
hervorgegangen, ein Zengenbes, jondern, worauf es vor
Allen ankömmt, eine Perfönlidyleit, ja eine Perſon, bie,
für ſich feyend, denkend hervorbringt, das Gedachte vers
wirflicht und fich ſelbſt bewußt von ihm unterfcheiber.
Gottes Bei reget ſich Über der wüſten, finkeren Tiefe,
“ud Er ſpricht: „ed werde Licht!” — So iſt ber Ger
und das Wort ewig bei Gott. Offenbaren fie fidy auch
erft bei der Befaltung der Welt zu ihrer harmoniſchen
Entwickelnug, fo find fie doch ſchon in Bott, ale er von
Ewigkeit ſchafft; fie können nicht ruhend in ibm gedacht
werben, fondern, weil fie denkend Lebendiges wirken,
‚find fie ewig denkend lebendig in ihm, und fo haben wir
allerdings ſchon in den drei erfleu Berfen des alten Te⸗
flaments eine Dreiheit des göttlichen Weſens — Bett,
fieben Blicke in das 1. Kapitel ber Genefis. 711
Geiſt, Wort — aber auch eine beſtimmte, unb zwar auch
immanente Dreieinigkeit nach der biblifch-heiligen Pſychv⸗
logie. Deun erriba, rm und 27 können nicht getrennt den»
kend und wirkend von einander gebacht werben, fonbers fie
find in einander, zwar in Unterfchiebenheit fich erfennend,
aber doch in abfoluter Einheit zufammenhaltend und ſich
bethätigend. Wir haben fo von Anfang keine, von ber
Welt zwar getrennte und bdiefelbe fchaffenbe, doch immer⸗
bin für die Begriffserfaffung dunkele Potenz Gottes, fon»
bern eine lebendige und denkend⸗wollende Perfönlichkeit,
die ſich als folche vorzüglich durch das Sprechen bezeugt,
fo dag da6 Wort bei der Erfhaffung der Welt recht
eigentlich zum Hauptbegriffe Gottes wirb, mit vollem
Rechte, da: Gott ohne Welt undenkbar if. Nur eine
ſolche Perſonlichkeit Gottes kann ein „es werde!’ aus⸗
ſprechen, dem ein „ed ward” nothwendig folgt; Die
Schöpfung ift Feine Evolution oder Emanation Gottes,
fondern er fegt in höchſter Freiheit feines Denkens und
(haffenden Wollend die Welt und bleibt dabei ein We⸗
fen für fih. Hier liegt in dem Gottesbewußtſeyn des
Dffendarungsgläubigen ber unterfcheidende Hauptpunkt
von aller anderen rein philofophifchen, namentlich pan⸗
theiftifchen Denkweiſe; die theologifche Speculation trennt
fih au diefer Stelle fcharf und unerbittlich von ber phi⸗
loſophiſchen; ohne das abfolute „es werbel” und „es
ward!” fein reiner Theismus. Das Schaffen bes Einen
für fich feyenden Gottes iſt ein etwas außer fid Ser
ben, ohne von ſich etwas zu geben oder zu verlieren.
Zuerſt wird das Licht, aber Bott iſt nicht ſelbſt. das
kicht, fondern Licht if nur fein Kleid (Pſ. 104, 2).
6.
Betrachten wir das ganze Kunſtwerk ber Schöpfung,
wie es ſich in feinen einzelnen, harmoniſch nach einander
hervortretenden Bebilden unferen Augen —— ſo feſ⸗
Theol. Stud. Jahrg. 1847,
712 Umbreit
felt dad letzte und höchſte derfelben unfern Blid. Der
Menſch, Die Vollendung der göttlichen Arbeit , exrfcheint.
Indem der Rachzeichner ded lebendigen Schöpfungöge
möldes zu feiner Erfchaffung übergeht, gefaltet ſich die
Rede fo, als habe fih Gott bei der Verwirklichung der
befchleffenen Bildung deſſelben in ſeiner ganzen Macht⸗
volllommenheit zuſammengenemmen: „Wir wollen Adam
machen 1’ Die ale Vielheit im Namen Elohim bezeichnete
Fülle des göttlichen Weſens macht ſich nachdrucksvel
auch im Berbum geltend, und es find gewiß nicht in bad
„Mir“ Die zur Berathung hinzugezogenen Eugel mit
anfgenotumen; denn, wie der vorurtheiläfrei anfgefaßte
Ausdruck lautet, hätte biefe Bott wicht zur Berathung,
fondern zur Theilnahme. an dem Machen bes Menfchen
ſelbſt aufgefordert, was gegen bie unbefchräntte, fich ſelbſt
genng feyende Gchöpfungstraft des Einen Elohim verſto⸗
Gen würde, worauf doch ſonſt Alles in dieſem erften Ka⸗
pitel geſetzt ift; auch wlrbe es unbegreiflich ſeyn, warum
die Eugel, wenn fie auch nur zum Geheimenrathe Ber
tes gezählt werben follten, nicht fchon im Borhergehem
den genmmt wären, ba fie doch nach einer foichen Wär:
digung Höher fichen müßten, als der Menſch. Aber ti
iR überhaupt fehr merfwärbig, daß über bie Eutfichum
ber Engel das tiefſte Stillſchweigen herrfcht; fie ſud im
u T. da, [on Kap. 6, 2 kommen fie zum Vorfcheire,
aber wie, wo und wann fle geworben, davon weite
feine Audentung, ald daß fie „Söhne Gottes” gewann!
werden, woraus alfo nur fo viel geſchloſſen werben bürftt,
daß fie unmittelbar von Gott gezeugt und einen ambertä
Bildungsſtoff ald der Adam gehabt; Ihre Entfehung
müßte demnach als eine vormweltlihe angenommen wir:
Den, wo und aber alled Denken über das Wie, Wo und
Wann gänzlich andgeht und ein Begriff fchlechterbinge
unmöglich wird. Die Spechlation irrt bier in einem u"
durchbringlichen Nebel umher, der fich bei der erſten de
fanntfchaft mit ihnen nur noch mehr verdichtet. Sie
fieben Blicke in das 1. Kapitel der Genefis. 713
laſſen fi zu ben Töchtern der Erbe herab, weil fie dieſe
ale ſchoͤn erkannt, und erzeugen mit ihnen ein altes Ries
fengefchlecht auf Erden. Wollen wir bei biefer wie ver:
loren klingenden Erzählung nicht die unvermerkt hervor⸗
dringende Nachwirkung einer vorandgegangenen mythifche
polytheiſtiſchen Beitanficht geftatten, was für bie Annahme
einer reinen Dffenbarumg Gottes im A. T. wenigitens
eine große Bebenklichkeit hat, da ylöglich in das heile
Licht der Einheit wieder ber trübende Schatten einer
Bielheit, wenn auch une vorübergehend, hereinträte, wie⸗
wohl in dem Bewußtfeyn des Erzählers felbft der. Ber
griff des Einen Botted, der erzürnt ik, daß fin Geiſt
durch die Vermifchung der Engel mit den Erbentöchtern
Fleiſch geworden, viel zu beftimmt hervortritt, ale daß
wir unferexpeitd einer ſolchen Anſicht beitreten könnten, fo
ſetzt dieſe Stelle dach immer ein Belüfte in den Gottesſöhnen
nach dem Fleiſche voraus, und fie find ale folche nicht mehr
gut, fonbern böfe geworden. Aber wie iſt dieſes gefches
ben, und wie iſt der Fall der Engel gefommen? — Wir
gelangen nothwendig zu einer Befchichte vor diefer Welt,
und Doc ift nad unferm Berichte diefe, und nur biefe
im Anfange, alfo vor aller Zeit, allein gefchaffen. — Wen⸗
den wir und daher der beſtimmten und lichten Geſtalt
bed Menfchen zu, wie fie, mit dem Bilde Gottes geſchmuͤckt,
die Krone der Töniglichen Herrichaft über alle. Geſchöpfe
der Erde trägt. Wenn dad ganze Kapitel, in Ferm umd
Darftellung, den Eindrud der erhabenſten Poefle auf uns
macht, fo ſchwingt fich Hier die Rede zn emenr kurzen
Srendengefange empor, und wir begegnen jum eriten
Male in dem „Gott fohuf den Menſchen in feinem Bilde,
im Bilde Gottes fchuf er ihn,” dem vielbefprocdenen Pa-
rallelismus membrorum in feiner einfadıften und erhebend-
fen Weiſe. Buchen: wir zunächſt Alles zu vergeſſen,
was die Ansleger von den Atteften bis in die neueſten
Zeiten in bas Ebenbild Gottes hineingelegt, fo werben
48%
71% Umbreit
wir wohl zuerſt eben das „Ebenbilb” zu vermeiden ha
ben; denn da wir mit biefem Ausbrude wenigſtens im
deutfchen Reden und Denken die Borftellung, daß ein
Gegenftaud, einem andern nachgebildet, dieſem voͤllig gleich
fey, zu verbinden pflegen, fo verlaffen wir den Text,
wenn wir alfo überfegen. Das Wort dx bedentet im
mer nur „Schattenbild,” und der Schatten trägt wicht ba6
volle Leben deffen, der ihn von ſich wirft, in ſich. Es
ft von vorne herein auch gar nicht gu erwarten; daß der
Menfch, leiblich oder geiflig genommen, ald Bott völlig
gleich gedacht werben folles auch das zur weitern Erkla⸗
rung binzugefügte m. darf zu einer foldyen Vorſtel⸗
lung nicht verleiten; im Gegentheile das » fcheint den
Begriff des 2 cher zu verringern, als zu verfkärken: im
Bilde Gottes fol der Menfc in die Erſcheinnng treten,
aber immer nicht in abfoluter Weſensgleichheit mit dem
Bilde, fondern nach dem Bilde; ro ift das Bild Get
tes, das fich in dem nbx, aber nur in dem chatten of⸗
fenbart und abfpiegelt; im folgenden 27. Verſe bleibt
denn auch diefer Infau hinweg und es wird nur auf bad
nachdrudsvolfte hervorgehoben, daß Bott den Menſchen
wirklich im feinem Bilde gefchaffen habe, und zwar is
der gefchlechtlichen Lnterfchiebenheit von einem Männil
hen und Weiblihen. Da der Menſch, worauf fein
Name ir deutet, offenbar als aus Erde geformt ge
dacht werden fol, fo kann er ja endlid um dieſes
Stoffes willen nur als ein Schatten Gottes vorgeftell
werden; denn die Geſtalt Gottes kann doch im Sime
unferer Urknude nimmermehr eine irdene gewefen ſeyn.
Daß wir aber bei der Gottdildlichkeit des Menſchen zu⸗
er die äußere Geſtalt deſſelben ins Auge faffen fohen,
tanz nicht in Abrede gefiellt werben; denn fie if dech
nichts: Zufaͤlliges, fondern der nothwendige Abdrud und
Ansdrud feines ihm eigenthümlichen Weſens; auch geht
dieſes ficher aus Kap. 5, 3. hervor; nur würden wir ir⸗
ren, wenn wir es mit biefer Bezichung bes Bildes Got
fieben Blicke in das 1. Kapitel der Geneſis. 715
ted auf die Leiblichkeit des Menfchen zu genau nehmen,
oder fie wohl gar nur allein in Betradıt ziehen wollten.
Das Erfiere iſt deßhalb nicht zuläfſig, weil wir nach der
gefchlechtlichen Theilung des Menfchen in ein Männlicyes
und Weiblihed do nur dad Beidem Gemeinfame in
dem göttlichen Nachbilde fefthalten dürfen, alfo die Schön,
heit der Form, und vor Allem den anfrechten Bang ; das
Letztere verbietet die einfache Beobachtung, daß doch der
Geiſt des Menſchen, der erft feine körperliche Darſtel⸗
Iung bebingt, und wodurch er ſich vor allen Geſchöpfen
ald eine wirklich neue Breatur auszeichnet, die Haupt⸗
fache ifi._ Daher wird aud dem Menfchen unmittelbar,
nachdem feine Gottbilblichkeit berichtet worden, die Herrs
fhaft über die Thiere zuerfannt, woraus aber keines⸗
wege folgt, daß nur in ihr allein, oder wenigſtens vor»
herrfchend der Begriff von jener zu Inden fey. Diefe
Herrfchaft if, fo zu fagen, nur der finnlichite, am meiften
in die Augen leuchtende Beweis, baß der Menſch, zwar
ein Adam, aus Erde geformt, wie alle anderen Gefchöpfe,
doch im Bilde Gottes gefchaffen fey, die Bebentung die⸗
fed Bildes iſt aber ‚tiefer zu ſuchen und hat fidh ficher
auch der fchlichteften Beobachtung anfgedräng, Man
kann ed auffallend finden, daß weder hier, noch im fol⸗
genden Kapitel der Sprache, diefer Iauttönenden Belnns
dung ber öniglichen Erhebung bes Menfchen über die hier»
welt, im Befonderen gebacht wird; nur wieim Borbeigehen
wird fpäter erwähnt, daß Adam den ihm vorgeführten Thie⸗
ven Namen gegeben, alfo auch dort die Gabe zu reden
voraußgefeßt. Aber es if eben die Sprache die noth⸗
wendige, ſich von felbft ergebende Borausfegung bes im
Bilde Gottes Geſchaffenſeyns, fo beflimmt, daß gerade deß⸗
halb diefes prägnantefte Zeichen der menfchlichen Gottbild⸗
lichkeit nicht ausdrüdlich hervorgehoben zu werden brauchte.
‚Bir aber, wenn wir den Begriff des Bildes Gottes in
feine Elemente zu zerlegen gebrungen find, müſſen die
Spracbefähigung ale das erſte heransitellen. Denn was
716 | Umbreit
aus Bett ſelbſt, wie er fih ald Schöpfer offenbart,
vorzüglich und recht eigentlich lautbar wird, iſt eben fein
Sprechen; dad Sprechen aber iſt eben das unmittelbare
äußere Zeugniß bed Denkens. Gott iſt vor Allem ein
denkendes, fich feiner ſelbſt bewußtes, ſich von der Welt
und ſich felbft unterfcheidendes Weſen, und fo auch de
Menſch, infofern er das Bild Gottes trägt. Und fo iR
das GSelbfibewußtfeyn, die Bernunft, das Wert in ſei⸗
nem tiefftien Sinne, die Bottbilblichleit des Menſchen.
Indem fich aber der Menfch in Bergleich mit allen aw
deren Gefchöpfen der Erde ſtellt, erkennt er feine Unter⸗
fchiedenheit von ihnen befonders in ber Freiheit, fraft
deren er fi über fie im Denken zu erbeben_vermag;
und diefed Bewußtſeyn der Freiheit im Gedanken macht
ihn doch nur allein zum wahren Deren der Thiere, zum
Könige der Erde, ja zum Gebieter über die Natur.
r T.
Ueberfchauen wir zulegt noch einmal die Form, in
welche ber Dffienbarer des Uranfangs aller Dinge und
ihrer zeitlich geregelten Bildung und Ordnung feine
göttliche Gedankenſchöpfung gegoflen, fo ſteht fie wirklich,
wie wir eben dieſes leute Wort mit leberlegung gewählt,
als das herrlichite Gußwerk in harmoniſch⸗ſchönſter Voll⸗
kommenheit vor unſern Augen. Dieſe Form gehört zur
Poeſle und ſoll nad ihres Meiſters Willen auch wur
als folche angefehen werden; aber es ift eine heilige
Doefle: die Welt erſteht in ben ſechs Arbeitötagen der
mofatfchen Woche und ift vollendet am fiebenten, heiligen
Tage der Ruhe. Daß der Dichtermweife felbft keinen
bogmatifchen Lehrfat von den ſechs Tagewerken be
Schöpfung im eigentlichftien Sinne habe geben wollen,
verräth er auf dad naivſte für den Unbefangenen da
durch, daß er erft am vierten Tage, fo zu fagen, den
Tag entftehen Iäßt. Denn, wenn auch jener längf vor
gebrachte Einwurf, daß Das Licht vor der Senne dage⸗
fieben Blide in da8 1, Kapitel ber Benefit. 717
wefen, ein nichtiger ift, infofern ja das Licht ald das
Erfte, Urfprünglichftie und Nothwendigſte vor aller weis
teren Ansbildung des gegenwärtigen Kosmos betrachtet
werden fol, Sonne, Mond und Sterne hingegen ale
ma, d. i. als einzelne große und kleine Lichtörter ober
Lichtgefäße, an dem Himmel zu leuchten beftimmt find,
hauptſächlich um zu trennen zwifchen dem Lichte und der
Finfterniß, fo kann doch jedenfalls feit dieſem Schöpfungss
werte nur erft von einem Tage die Rebe feyn. Der
Erfhaffung der Leuchten des Himmels konnte aber nicht
eher gedacht werben, bis biefer felbft nach dem erften
großen Trennungsact in der Sonderung des Lichtes von
der Finfterniß durch den zweiten in ber Berdichtung einer
Bee inmitten des Waſſers ind Dafeyn gerufen worden.
Der Belebung des Himmels durch Lichter mußte nun auch
noch bie Belebung der Erbe, bie nadı der Scheidung
der unter ber Befte befindlichen Gewäſſer erſt hervor
treten fonnte, durch Kräuter vorangehen, und fo fonnte
alfo ber erſte Tag nur am vierten Tage zum Borfcheine
Iommen. Die bier und da geänßerte Meinung, daß cr im
unferem Kapitel ald Schöpfungsepocdhe genommen werden
könne, wird an ber einfachen Bemerkung zu Schanden,
daß Bott am fiebenten or, alfo an einem eigentlichen
Zage, geruht habe. Und fo ift ed denn keinem Zweifel
unterworfen, Daß der Dichter — dem von einem folchen
haben wir in biefem Punkte das Recht zu reden — Die
allerdings in einzelnen Epochen in anffteigender Regel⸗
mößigfeit zur vollendeten Schönheit durch den Geiſt Got»
ted ſich eutwickelnde Welt in die hebräifche Woche künſt⸗
leriſch eingefchloffen, woburd, ihm zugleich der Bortheil
erwuche, dem bereitd eingeſetzten Gabbathe feine heiligſte
Bedeutung fogar durch das Ruben des Schöpfers beis
äulegen.
718 Steffenien
2.
Ueber Matth. 13, 45. und 46,
Mit Beziehung auf Wächtler’d Erklärungsverfuch in ben
Stud. u. Krit. 3. 1846. 9. 4. ©. 939 — 946,
Bon
H. Steffenfen,
Paſtor in Sarau.
Der in der Ueberfchrift genannte Auffag des Pfarrers
Wächtler hat es ſich zur Aufgabe geftellt, einer neuen
Erklärung der befannten Parabel von der töftlichen Perle
beim theologifchen Publicum Eingang zu verfchaffen.
Diefe Erklärung verfieht unter dem Perlen fuchenden
Kaufmanne den Heiland, und unter den Perlen, ein
fchließlich der Einen Föftlichen Perle, die Menſchenſeelen,
wie fie fowohl Zwed feiner eriöfenden Liebe, ale aud
zngleich wiederum Werkzeug neuer Gewinnung find.
Mas deu Berf. bewogen hat, die in Rebe ſtehende
Erflärung ber biöher üblichen vorzuziehen, läßt ſich anf
folgende Punkte zurückführen. Zuvörderſt glaubt er fchon
aud der Analogie der unferem Gleichniffe im genannten
Kapitel des Matthäus. vorhergehenden und nachfolgenden
Parabeln beweifen zu können, daß ber fuchende Kauf⸗
mann und nicht die gefundene Perle ber Hauptbegrifi
fey, von dem die weitere Deutung ausgehen mäfle, und
fodann glaubt er, aus B.37. entnehmen zu können, daß
derjenige, der in diefem Kapitel unter dem Himmelreiche
zu verſtehen, Fein Anderer fey, al& der Herr felber in
feiner erlöfenden Thätigkeit.
Der Schluß, den der Berf. macht, iſt alfo wefent:
lid) dieſer: 13 weil in ben übrigen Bleichniflen dieſes Kap.
über Matth. 13, 85. u. 46. 719
immer der Hauptbegriff dem suola Zariv 7; B. z. oög. im
Dative nachfolgt, fo muß auch hier in diefem Gleichniſſe
nicht die „Löfliche Perle,” fondern der Kaufmann als
Hauptbegriff betrachtet werben, und 2) weil. in einem
früheren Gleichniffe ein ſolcher Hauptbegriff vom Herrn
felber auf fich gedeutet ift, fo muß auch der in dieſem
Gleichniſſe vorkommende Hauptbegriff auf den Herrn ges
beutet werben.
Es iſt in der That kaum abzufehen, wie ber Herr Verf.
ed hat über ſich gewinnen können, eine fo gewonnene
Erflärung für wohl begründet zu halten. Muß denn fo
ohne Weitered die Deutung des SHauptbegriffe in dem
Einen Gleichniffe ald normgebend für die Deutung aller
Hauptbegriffe in allen Parabeln deſſelben Kapitels anger
ſehen werden? Mir fcheint das eine Aunahme zu feyn,
die allen Regeln der Hermeneutik fchnurftrade wider
Rreitet. Freilich hat der Verf, um feiner Annahme mög»
ih zu Hülfe zu kommen, den Lefer daran erinnert,
daß es überhaupt bei näherer Bellimmung des Begriffs
der Bacılzle durchaus nöthig ſey, jedesmal von dem
Herrn ald dem Nepräfentanten und Inhaber dieſes Rei⸗
ed auszugehen u.f. w. Herr Pfarrer Wächtler fcheint
aber, als er dieſe Bemerkung nieberfchrieb, überfehen
zu haben, baß es fich bier noch gar nicht um eine nähere
Beſtimmung bed Begriffe der BacıAsla z. odg. handelt, fons
bern einfach um die Frage, ob unter dem „drd'gazog
Enzogog” — der Heiland zu verfichen fey oder nicht.
Die obige Bemerkung kann gern zugegeben uud babei
doch die Deutung bed dvdg. Eur. auf ben Heiland bes
Rritten werden.
Aber gefeßt auch, ed wäre dem Berf. bie Begrüns
dung feiner ErHärung aus B.3T. mißlungen, fo könnte
ja doch der ganze Sinn der Parabel ſich bei feiner Deus
tung fo leicht and natürlich ergeben, daß fie dadurch fich
jelbft genugfam vor andern empföhle — Sehen wir denn
iu, ob das der Fall if.
720 Steffenfen
- Der Herr Berf, bat felb gefühlt, daß bie Haupt:
ſchwierigkeit bei der von ihm vorgefchlagenen Erklärung
in dem zoAdzıog uugyagleng beſteht, in deſſen Erwerbung
wir augenfcheinlich das eigentliche punetum saliene deo
Bleichniffed zu fuchen haben. — Was er aber a. a D.
fagt, um diefe Schwierigkeit zu heben, bat wohl Je
dem, der dad Gleichniß unbefangen betrachtet, die Un⸗
haltbarkeit diefer Deutung Far machen müſſen. Die Eine
koͤſtliche Perle ſoll nämlich die Seele bezeichnen, die fähig
oder empfänglich If, den Heren ganz in ſich aufzunch⸗
men. Der Sinn des Bleichniffed würde alfo der ſeyn:
Mie der Kaufmann für jede gute Perle einen Theil fei-
ner Güter bingibt, aber für Eine koͤſtliche Perle Alles,
was er hat, fein ganzes Eigenthum, fo gibt and der
Heiland jeder nur in irgend welhem Maße empfängli-
den Seele etwas von feinem Eigenthume bin, aber wo
er einer völlig empfänglichen Seele bei feinem Suchen
uad Seelen begegnet, da gibt er ihr fein ganzes Gut,
den ganzen Reichthum feiner Gnade und Wahrheit zu
genießen. —
Wer fühlt aber nicht, daß diefe Deutung an zwei
wefentlihen Mängeln leidet? Einmal kommt das äve
dabei nicht zu feinem Nechte, denn bieß deutet offenbar
barauf hin, daß unter dem zoAdr. uapy. ein Gut muß
zu verfichen ſeyn, das einzig in feiner Art ift, während
ed ja doch hoffentlich mehr ale Eine Seele gibt, die
empfänglich ift, den Herrn ganz in fi aufzunehmen. Fürs
Zweite aber ift bei der in Rede ſtehenden Deutung ganj
davon abgefehen, daß der Kaufmann fein But nicht den
Perlen fchenkt, fondern bem Beſitzer der Perlen alt
Kaufpreis bezahlt. Wäre alſo unter dem Kaufmanne
Jeſus zuverftchen, fo müßte gefagt werden: wie ber Kauf
mann für gute Perlen einen Theil feiner Güter bezahll,
für die köſtliche Perle aber Alled, was er hat, fo de
zahlt Jeſus auch für die einzelnen Geelen je mad, ihrer
Bortrefflichkeit entweder einen Theil feiner Güter, oder
über Matth. 13, 25. u. 46. 721
Alles, was er hat. Das wärde aber befunutlic, ber con»
fRanten Lehre der h. Schrift von dem gleihmäßig für
Alle bezahlten Köfegelde ſchnurſtracks widerfprechen, weß⸗
halb der Berf. willlürlich von dem zizpaxs unb ydpusen
ganz abfieht nnd fo thut, als ob da nicht von einem
Verkaufen und Kaufen, fondern von einer Mitteilung,
einer Hingabe ganz im Allgemeinen die Rebe wäre. Ein
foiche® Berfahren dürfte fidh aber fchwerlich rechtfertigen
loffen, um fo weniger, da das GBleichniß nad) der ges
wöhnlichen Audlegung bie vermeintlihen Schwierigfeiten
gar nicht darbietet, die der Berf. dabei findet.
Es verhält ſich nämlich gar nicht fo, daß durch bie
übliche Erklärung der grammatifchen Wortverbindung
Gewalt angetban wärde. Sondern, auch wenn man un⸗
ter dem &vßgmzog Euzogog den ſuchenden Menſchen und
unter dem zoldrınog napyap. den Herrn in feiner Gnade
und Wahrheit als das Centrum bes Himmelreiches vers
ſteht, braucht man gar nicht, wie der Verf. ed darftelt,
in erllären, ald ob da flünde: zdAm duola Zueivs; Badı-
ksle t.00g. Evi zoAvrluo napyaglın, Ovd.E. sbgnausv eto.—,
vielmehr wärbe darch eine folche Wortfiellung der Sinn
unferes Gleichniſſes gänzlich verrüdt worden feyn.
Vergleichen wir nämlich die unmittelbar vorhergehende
Parabel vom Schage im Ader mit der vorliegenden von
der köſtlichen Perle, fo wird zwar in beiden ber unver»
gleihlich hohe Werth des Himmelseiches ald ded Gutes
der Güter gefchildert. Während aber im erften Gleich»
aiffe gezeigt wird, wie das Himmelreich fich fofort auf
den erften Blick ald das Gut der Büter darftellt, fo fol-
len wir aus dem zweiten Gleichniffe lernen, daß wir
nicht eher aus der Unruhe des Suchens nadı allerlei
Gütern heraustommen können, ald wenn wir das Gut
der Güter in Chrifto gefunden haben. Berhält es fich
aber fo, dann ergibt fih von felbft, warum im erfien
Bleichniffe der gefundene Schag, im zweiten aber ber
fuchende Menfch vorangeftellt wird.
722 Gteffenfen über Matth. 13, 45. u. 46,
Uebrigens bemerke ich noch, daß in allen Gleichniß⸗
reden, die mit den Worten: dpola äarivr; Bacılsla v.odg.
etc. , eingeleitet werden, nie bloß der zunaͤchſt folgende
Hanptbegriff, abgelöft von der zu ihm gehörigen Erzäh-
Inng, fondern immer der durch biefe Erzählung näher
befinggte und erweiterte Hauptbegriff ald dem Himmel⸗
reiche verglichen anzufehen if. In unferem Gleichnifle
it das auch grammatifch dadurch angedeutet, daß die
ganze Erzählung in einem und demfelben Babe fortgeht.
Wäre dieß von dem Herrn Berf. des befprochenen Er
klaͤrungsverſuchs beachtet worden, fo würde es ihm wahr
fcheinlih nicht eingefallen feyn, an der bisher Üblichen
Erklärung diefer Parabel Auftoß zu nehmen. Diefe Er
Härnung tritt aber erſt dann in das rechte Licht, wenn
wir unfere Parabel mit der vorhergehenden auf bie oben
angedeutete Weiſe sufammenhalten. Wenn es ſich hier
um eine vollßändige Durchführung dieſer Vergleichung
handelte, fo wärbde ich namentlich auch noch darauf auf⸗
merkfam machen, daß, während ber Heiland in beiden
Bleichniffen zeige, bad Himmelreich müfle als das nu
vergleichlich koͤſtliche, werthvolle Sut gefunden wer:
ben, er im erſten daranf binweife, dieß Finden könne
dem Menfchen ohne fein Zuthun als unmittelbare Got
tedgabe zu Theil werben, und im zweiten, ed werbeaber
Manchem erfk nach längerem oder kürzerem Guchen, da
rum aber nicht weniger als Snabe, befchieben.
Recenfionenm
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1.
Theologiſche Ethik von D. Rihard Rothe.
Erfter und zweiter Band, Wittenberg 1845.
I)
Erftter Artikel.
Die theologifche Ethit von Rothe, derm dritter
Band, die Pflichtenlehre enthaltend, noch zu erwarten iſt,
begrägt der Einfender ale eine bebeutenide Leitung, welche
für das ethifche Gediet wiederum eine allgemeinere Theil⸗
nahme erregen wird. Sind wir and nicht im Stande,
das Werf felbft zu beurtheilen, ehe bie Yllihtenichre ex»
fhienen iR, fo können wir boch die Grundlegung
vollfommen überfehen und andzugeweife vorführen, wm
die Bedentung ded Ganzen aufzuzeigen.
Der Titel ſchon läßt eine eigenthümlich weue Behand
lang der Ethik erwarten, wenn ja Ethit eine fpecnlas
tive Wiſſenſchaft bezeichnen fol, während man unter
Sittenlehre cher eine empirifche verficht; wenn ferner
nicht ohne Abſicht ſtatt hriftiiche theologiſche Ethik
geſagt wird. Der Verfaſſer ſchiebt voraus, „nichts Mes
ſentliches, was man gewohnt ſey, in einer theologiſchen
Moral zu ſuchen, werde hier vermißt werden, ohne daß
das Viele, was darüber hinaus dargeboten werde, als
am unrechten Orte ſtehend erſcheine, obgleich es zum ſehr
großen Theile nach dem gangbaren Sprachgebrauche mehr
76 Betbe-.
dogmatifcher als erhifcher Ratur fey. Obwohl er fid
gerne an eine der beſtehenden Schulen angefchloffen hätte,
habe ihm bieß doch nie gelingen wollen; flatt deſſen fey
ihm nach und nach ein Gebäude von theologifchen Saͤtzen
entftanden, das ihm eigenthämlich zugehöre, In eimer
Zeit, da alle theologifchen Standpunkte von Verlegenhei⸗
ten umflridt feyen, möge ein Zeugniß, daß für nen
Bahnen nody Raum fey, immerhin abgelegt werden.’ —
„Diefe theol, Ethik enthalte nichts won Philofophie, for
dern ledigli Theologie oder genauer Theofophie, und
obgleich ihr Beachtung von Seiten der Philoſophen zu
wäünfchen fey, mache ber Berf. doch ſchlechterdings kei⸗
nen Anſpruch, etwas von Philoſophie zu verfichen; iw
dem er fie ald Dilertant benuße, denke er, fie wenig
ſtens nicht zu mißbrauchen.“ — Diefe Aeußerung if of
fenbar zu beſcheiden; es wäre fehr zu bebamern, wenn
unter ben Theologen jetziger Zeit ſelbſt diejenigen, welche
mit Geſchick und Einficht die der Philoſophie und Theo
logie gemeinfamen Gegenflände bearbeiten, wirklich nur
Dilettanten in der erftexn ſeyn wollten, und wenn irgen
Theologen . außerhalb der hegel’fchen Schule ein Wort
mitzufprechen haben in philofonhifchen Dingen, fo dürfte
der Berf.. unter ihnen eine ausgezeichnete Stelle be⸗
haupten.
„Auf andere theol. Bearbeitungen ber Ethik nehm
er fehr wenig Bezug; die fo ganz abweichende Anlage
feined Buches geftatte es nicht anders, obgleich ed in
Manchem durch jene ergänzt werde, namentlich is dei
Pflichtenlehre. Defto reichlicher habe er Schleier:
macer benutzt; obgleich deſſen Lehre nicht die feinige
ſey, fo ‚möchte er Doch einige der großen ethifchen Brand.
anfihten Schleiermacher's in algemeinern Gute
bringen.” — Hier berührt der Berf. eine Schattenfeite
der Ethik. So wenig eine traditionelle Einerleiheit ſcho⸗
laſtiſch feftfichender Methode den theologiſchen Diecipli
theologiſche Ethik. 727
nen heilſam ift, fo kann doch nicht erwänfcht feyn, daß
in der Ethik mehr ald in irgend einer anderen Disci⸗
plin Jeder feinen eigenen Weg geht. Dieß aber if
zur Zeit noch der Fall; feit Schleiermacher im Gebiete
der Ethik anfgeräumt hat, ift es nicht möglich, ihm und doch
and den Andern zu folgen; man muß entweder & dh lei:
ermader zum Grunde legen, ober neue Bahnen verfus
hen. Der Berf. hat Beides gewollt, treu und gewiſſen⸗
haft die Forderungen, welche diefe Wiſſenſchaft S chlei«
ermacher verdankt, aufgenommen, aber auch in bebeus
tenden Puukten ihn zu ergänzen und zu berichtigen ges
ſtrebt. Die Beurtheilung der rothe'ſchen Ethik wird wer
fentlich in der Beurtheilung ihres Verhältniſſes zu Schlei⸗
ermadjer Liegen. Diefe können wir am einfachften zu
Stande bringen, wenn wir die reichhaftige @inleitung,
in weicher die Gonftruction der theologifchen Ethik ges
‚geben wird, Schritt für Schritt verfolgen. Rur ift es
kaum möglich, bei der mufterhaften Präcifion des Aus⸗
drucks, welche dieſes Werk auszeichnet, den Kern zus
fammenzudrängen,, ohne daß viel von biefem Borzuge
verloren geht.
Die Einleitung zerfällt indie drei Hauptſtücke: 1)
Allgemeiner Begriff der theol. Ethik, 1 — 5. 2) Grund
legung der theol. Ethik, S.6— 87. 3) Methode und Eins
leitung der theol. Ethik F. 88 — 2. Es erſcheint alfo
das mittlere Hauptſtück nach Ausdehnung und Inhalt
fo ſehr als das eigentliche Hauptſtück, daß bie andern
beiden gar nicht verdienen, in gleicher Form neben die⸗
ſem Hauptſtücke hervorzutreten. Nicht bloß die äußere,
auch die innere Symmetrie ift beffer heraudgebildet in der
Art, wie Schleiermacher in feinem Entwurf eines
Soſtems der Sittenlehre die allgemeine Einleitung dies
ponirt hat. Die Ungleihmäßigfeit würde freilich weg»
fallen, fobald man auf anerfannte Sätze anderer Wifs
fenfchaften bauen könnte, flatt daß jetzt en vorerfl in
Theol, Stud. Jahrg. 1847,
128 Both
Einleitangen zur Ethik große Mchiete anberer Didi
plinen bergeRellt werden müflen.
Das Erfte alfo, was ber Verf. eröztert, iſt der alls
gemeine Begriff der theologiſchen Ethik,
8.1 fie fey „die MWillenfchaft von dem Bittliden, wie
es Beides, das Sittlich⸗ Gute und das Sittlich⸗Böſe, un
ter ſich befaßt.” Diefe Definition will die ſchleiermacher⸗
ſche erweitern, indem auch bad Sittlich⸗Boöͤſe mit in den
darzuftellenden Begriff des Sittlihen aufgenommen wird.
„Scleiermacher zuerſt habe einen beſtimmten Ber
oriff des Sittlichen überhaupt gegeben, fo wenig aud
dieſer ungeheure Fortſchritt beachtet worden fey ; aber
er babe den Gewinn wieder vereitelt, da er das Sittlid:
. Böfe nicht wit aufgenommen. Wenn freilich das Eint-
ſeyn der Bernunft und der Ratur das Sittlide
ſey, fo könne es ein Sittlich⸗Boſes Überall nicht geben,
bad Böle ſey dann allerbings fein wiflenfchaftlic com
firuirbares , fonbern nur ein empirifched.” — Die Dife
renz beider Definitionen ift zum Theile eine nur fchein
bare, zum Theil «ine tief begründete. Nur fdaeinbar
wenn Schleiermarher gar Feinen Begriff des Bit
kichen kennen fol, als nur den des Sittlidy« Guten; aud
ex ja redet von dem Sittlichen sensn medio, woöo er DH
Sphäre der fittlihen Weſen von der bloßen Res
tur unterfcheidet; im diefem Sinne ift ibm die ſittlicht
Sphäre das @indfeyn von Bernunft und Natur im menſch⸗
lichen Organismus bei gegebener Potenzialität der Ber
nuuft; aber ber eigentlich fittliche Proceß begiunt nur
erſt mit der Thätigkeit Diefer in Einheit mit der Natur
gegebenen Vernunft. Tief gegründet if nun die Die
senz beider Sittenlehrer, wenn Schleiermacher im
fittlichen Proceffe ſelbſt bloß das Bunte, die Bernunftihd
tigleit von ber Idee aus, d. bh. fpeenlativ, eonſtruirer
wii, Rothe aber fpeculetio d. h. von der Idee anf
aud die Negation des begriffämäßigen Thuss, auch
theologifige Ethik. 729
dad Böfe ale ein In Den Begriff des Sittlichen zu fetzendes
mit confiruirt. Wir werden [hou von hierans erwarten,
daß Rothe anf Den Begriff der Selbfibefiinmuug zur
rüdgehen, dieſen Begriff seneu medie faſſen wirb,
Shleiermacer aber, bei dem Begriffe der Belleität,
Willensmägigkeit, als eines höheren Grades von Lebens
digkeit fiehen bleibend, ben Organismus der Perſoͤnlich⸗
keit nur ald den Ort und die Form anfehen wird, im
weichen die Vernunft ald das eigentliche agens das Sitt⸗
liche wirkt.
Hören wir deu Berf. weiter an G.2,: „Die Theoles
gie könne den Begriff des Sittlichen nicht von ber Phi⸗
lofopie zu Lehen nehmen, fie müſſe ihn ans eigenen
Mitteln erzeugen auf dem Wege theologifcher Specula⸗
tion; denn neben der hifkorifchen und praktiſchen gebe es
eine ſpeenlative Theologie, und nur von diefer aus lafle
fh zu einer theologifchen, d. h. gleich fehr religiöfen und
wiſſenſchaftlichen, Ethik gelangen.” Es wird nun entwis
delt, was Speculation fey, „ein Ausgehen von etwas
unmittelbar Gewiſſem, deſſen unbebingte Gewißheit für
und die abfolnte Bedingung des Denkens äberhanpt ſey.
Dieß fen das menfchliche Bewußtſeyn ſelbſt in feiner ab»
foluten Reinheit d. h. nach vollſtaͤndiger Abſtraction von
jedem beftimmmten Object und Inhalt; ſomit bad rein
fubjective Selbſtbewußtſeyn. Aber wie fann ed nun nes
ben der philofophifdyem eine theologifche Specnlation ges
ben, da nur eine VBerfchiedenheit der unmittelbaren
Urdata des Selbſtbewußtſeyns diefe Doppelte Speculatis
ondart begründen könnte? Der Berf. antwortet: „Dad
fubjeetive Selbſtbewußtſeyn ſelbſt ſey wefentlich nicht
bog Selbſtbewußtſeyn als ſolches, fondern auch
religiss beftimmtes, d.h. GSottesbewußtſeyn; fo ent»
ſtehe eine philofophifche und einetheologifche Speculation.’”
Diefer Gap ift zuzugeben, fofern das religiäfe Beſtimmt⸗
ſeyn des Selbſtbewußtſeyns nach dem reinen Selbfibes
49 *
730 Rothe
wußtfeyn, bei vollſtändiger Abſtraction won jebem ber
ſtimmten Object und Inhalte, augehört und Die religie
als innata angefehen wird ; auch dann aber entſtände die
Frage, wie von diefer Vorausſetzung aus das reine Selbſt⸗
bewußtſeyn bald einfeitig nur ale ſolches, bald aber au
wieber einfeitig nur ald Gottesbewußtſeyn thätig ſeyn
und dort die philofophifche, bier die theologifche Specu:
lation erzengen könne. Dieſes zugeflanden, würde fd
jedenfalld eine fpeculative Theologie uur ale Die eine
Seite der Philofophie ergeben; denn Speculation fol
ja nur vom reinen Selbfibewnßtfeyn ausgehen Fönnen,
fomit theolegifhe nne vom reinen Gottesbewußtſeyn.
Wenn aber „die theologiſche Speculation für jebe eigen
thümliche Frömmigkeit eine weſentlich verſchiedene ſeyn
fol, weil der Ausgangspunkt das eigenthämlich be
immtefrommeBewußtfepn fey” ; wenn ed „eine hrik
liche, weiterhin eine confeffionell, 3. B. evange
liſch protekantifch beſtimmte Speculation” geben
fol, mag immerhin beigefügt werden, „fie ſey nicht ge
bunden am bie gegebenen Dogmen, fondern heteroder ia
ihrem Begriffe, obgleich die h. Schrift als der auchentifche
Ausdruck des chriftlich frommen Bewußtſeyns ihr Kanon
bleibe” : fo entſteht dach das Bedenken, ob diefe Theologk
noch Speeulation, d.h, Sache ded reinen, von jeden
Object und Inhalte voAfändig abſtrahirenden Selbſtbe⸗
wußtſeyns bleiben koͤnne. Denn mag immerhin das Gelb
bewußtfeyn von den Dogmen abftrahiren, wenn es die
chriſtliche und proteſtantiſche Gigenthämlid;feit deuned
behalten ſoll: fo. heißt das, die empirifche Einwirkung der
Kirche erſt hinterher wegbenfen, nachdem bereits das
reine Selbſtbewußtſeyn oder Gottesbewußtſeyn dem vol
len Eindruck diefer Empirie in fich aufgenommen bat.
Sagt doch der Berf. felbk, „der Ausgangspunkt dieſer
chriſtlich ewangelifchen Speculation fey das inbivibuch
fromme Bewußtfepn, in welchem fich das kirchliche Ge
meinbewußtſeyn reflectirt.” Kurz, die Empirie wird nur
theologiſche Ethik. 731
äußerlich abgelehnt, innerlich aber aufgenommen; fo aber,
fommen wir nicht zu reiner theologifcheer Speculation,
fondern nur zum fdyleiermadger’fchen evangeliſch chriftlis
hen Selbſtbewnßtſeyn, von: welchem Ausſagen ald Dog»
men, wicht aber fpeculatige Säge angehen: können. Der
Recenfent kann daher das Bedenken nicht uuterdrüden,
daß unfer Berf, zwar den : Begriff der Specnlation ganz
richtig beftimme, eben darum aber eine intiwibudl-chrift«
lich evangelifche Speeulation nicht ableiten: fänne.: Was
er fo nennt, if vielmehr daß Sichbefinnen des ſchon
chriſtlich und evangelifch: befimmten :religiöfen Selbfibe«
wußtſeyns Aber die aufgenommene Beſtimmtheit, aller:
dings ein-Neflertiren von innen heraus. &ber. die innen
res Moment gewordene Einwirfung: und kirchliche Er»
fahrung, eis :Sichvertiefen der chriſtlichen »Empirie in
ihr inneres Weſen, aber immerhin ein Abbängigbleis
ben won Empirie, Gtatt wahrer Speculation. wird bei
dieſem Verfahren nur ein analptifcher, von der: Sinheit
jur Bielbeit ihrer Momente, vom runde zu den Erzeug⸗
niſſen fortfchreitenbeg. Proceß fich ergeben.
Mit dieſem Bedenken hängt das andere zufanımen,
ob denn wirklich der Begriff des Sittlichen ‚als ſolcher
nicht and der Philsfophie zu eutlehnen, ſondern von der
theologiſchen Speculation and eigenen Mitteln gu cons
ſtrniren fey. : Soll diefer Begriff in ber Bhilofophie feinen
Drt haben und Doch Mit. Sgnerirung davon auch bie
Theotogie ihm erſt nen erzeugen, fo würde diefe Zweis
fpaltigfeit des wiſſenſchaftlichen Verfahrens durch Alles
bindurchgeführt werden müffen. Es gäbe eine Rhetorik,
weiche man ganz zu igneriren hätte, um eine Homiletik
aufzufteßten; eö gäbe den Begriff der Geſchichte, welchen
man er ignoricen müßte, am den ber Kirchengeſchichte
zu erzeugen; es gübe eine Auslegungswiſſenſchaft, welche
man zu ignoriren hätte, um die theologifche Eregefe
zu erzeugen, u. f. w. Der NRecenfent hält es hierin mit
Schleiermacher, der die im Allgemeinen. von der chriftlis
7323 Roche
chen Theologie ſchon vorgefunbenen Begriffe dad
den Standpuntt des Ehriſtenthumd näher beſtimmt wer
den läßt, aber file aufnimmt. Auch glaubt ex, die Auf
ſtellung des Ethiſchen aus eigenen Mittein der Theele⸗
gie ſey um fo weniger wöthig, da der Verf. doch gem
sichtig_ wider Inlins Müller (6. 86 Anmerkg. 4)
die relative Unabhängigfeit ber Stttlichkeit von der Krim
migfeit behauptet.
In 9.3, wird num „bie theobogiſche Ethil ven
der philofephifchen fo untesfchleden, wie bie theo⸗
Iogifche Specnlation von der philoſophiſchen Ach umter
fcheide, durch Bir verfchiebenen Dorausfebungen, von ber
nen fie ausgehen; dieſe vom fittligen Wewußtfepn rem
als folchem,' jene van: dem fittligen Bewnßtfeym, wie es
in dem der beflimmten Kirche angehörigen chrifttiche⸗
Individnum ale religiös eigenthümlich beſtimmdes that
ſaͤchlich vorhanden iſt, und von bem geſchichtlich gegede⸗
nen Ideale ber Sittlichteit in der Erſcheinung des Er⸗
löfers. ne
Daß chriſtliche und philoſophiſche Ethik ſich unter:
ſcheiden wie chriſtliche Theologie and Philofophie, iR un
befireitbar; aber von fpeculattver theologifcher Ethil
Tann nur im fofern die Rede feyn, ale es im Sinne dei
Berf. eine chriſtliche Speculation gibt; wie fehr fie je
doc von Empirifchem beftimmt wäre, geigt gevade and
das ftehen bleibende Ydeat im gefchichtlichen Ehriins, wel
her als ſittliches Ideal Übrigens nur ſehr uneigentid
gerade der Erlöſer ift, weit wir, ob nod fo fehr dem
Ideal uns annähernd, darum Boch keineswegs nah und
nad felbit and Eriöfer würden. Das Berhättniß der
beiderlei Ethik zu erledigen, iſt nicht leicht. Cine abſe⸗
lute Verſchiedenheit beider hat auch der Verf. nicht ge
ſetzt; „innerhalb der chriſtlichen Welt mäffen vielmeht
die Philoſophie und philoſophiſche Ethik eigentlich eine
chriſtliche ſeyn; aber ein relativer Gegenſad von deider⸗
theologiſche Ethie. 233
kei Eihif trete em in den Maße, ald die Menſchheit,
welche philsfophist, noch nicht ſchlechthin vom Chriſten⸗
hume durchdrungen iſt; danm ſey aber die chriſtliche Ethik
and Theologie auch noch nicht vollkommen wifftuſchaft⸗
lid. Bären beide vollendet, fo würbden--fie materiell eim.
ander decken und bei Einheit ver Muterien in beren
Ordmang umterfchisden bleiben” Bei S:chbeiernes
her iſt dieſer Gas fehr einlenchtend, weill.die chriſttiche
Ethik ihtr eine euwpirifche ıft, empiriſche une ſpernlative
Behanslung aber vei ganz deuſelden Mäaterion motho diſch
serfchieben bleibt. Weniger einleuschten® wird dieſer Satz⸗
wenn auch die chriſtliche Ethik die ſpetulative Wet lab,
Methode Haben fol. Dem Netonſenten ſcheint bie Buyn
fhiedenheit von beiderlei Ethik ganz etfuch darauf zu
suben, daß Das Ghriftenitum : immer nod urd wohl im
mabfehbarer Zukunft hinaus nach feiner hifkorifchen Por
Atioieät hin ale eine eigenthimliche und befondere Weis
Reörigtung danr allgemeinen Bewußtfeyn gegenüber ge⸗
elle wird; vesfchwinden Tönnse ber Begenfag nur dan)
wenn Bas cheiſtliche umd die begriffemaäßige Volendung
des menſchlichen Bewußtfeyns überhaupt znfainmmnrfieler,
Se lange das nicht iſt and neben den Dewaißfihrungen,
weile im Ehrikenthume die abfolute Weligion des menſch⸗
lichen Geiſtes felbft aufzeigen, immer auch das Antereffe
da if, dad Ehriſtenthum als eine befondere Geiſtesrich⸗
tung feRzuhalten: fo lange wird bie gunge Weltdnfiche
als chriſtliche und außerchriſtliche ſtch geltend madiem,
ſomit auch die Ethik. Aber wahrhaft und rein ſpeeulatto
würde die cheiſtliche Ethik eben: erſt, wenn ſie als bie
des vollendeten rain menſchlichen Bewußtieyns ſelbſt TI
begriffen hätte; vorher wird ſie, wie alles Poſitive, dem
empirifchen Sharufter nicht: ablehen Iönnen. In diefem
Stadium ſteht die Theologie neben der Phitofophie, aber
beide ſuchen is mit einander zu vermitteln, bie Theolor
gie in der Apelogetik, die Philoſophie in der Religions⸗
73% Naothe
philofophie; denn Apologetit iſt eine theolsgifche Dieci⸗
ptin nnd fol die Printipien der Theologie für Die Phi⸗
loſophie zu erhaͤrten ſuchen; dieſe aber hat in der Res
ligiensphilofopbie von ihrem Baden and dad Chriſten⸗
thum zu begreifen.
- Dis thesiogifihe Ethik im Sinne bed. Berf. erfcheint
daher dem Necenfetten nicht vollkommen gerechtfertigt.
Man könnte mit gleichem Rechte fonft gar vielerlei Ethi⸗
fon ‚neben einander anbauen, eine vom menſchlichen "Be:
wußtfenn überhaupt aus, fpeculativ oder tmpirifch, eirt
won religiös beſtimmten Gelbfibemußtieygn überhaupt
andı, femit fpecnlativ, eine. von den geſchichtlich gegebe⸗
nen religiöfen Gemeisfchaften durch Fritiiche Bergleihum
aus, fomit empiriich; dann erſt eine vom :chwilid be.
ſtimmten Gotteübemußtfegn aus, .wieber ſperulirend, d.h.
analiysifch, oder ewpiriſch, d. h. ſynthetiſch; endlich von
proteſtantiſch beſtimmten chriſtlichen Bewußtfeyn aus eben
fo; und wohin wärbe das führen, wenn doch gar nicht aut
Die: Ethik, fondern auch andere MWiſſenſchaften im biele
Bielgefkaltigkeit. einträten ?. Thegisgifche Ethek des Auf
lich enangelifchen Typus im fpeculativen Shaualter führt!
zur Vermengung des reinen religiöfen Selbſtbewußl⸗
ſepns mit. dem poſitinchriſtlich deſtimmten, zur Ver⸗
miſchung der reinen und der poſitiven Theologie. So
wunig bie Rechtslehre einer gegebenen Volkogemeinſchafl—
obwohl dieſes individualiſirte, nationale Recht dem Is
divihnuam nicht: blos äußerlich gegenüber ſteht, fenbern
auch. als. eine Beſtimmtheit in fein Rechtsbewußtſeyn
felbit eingegangen if, Darum eine fpeculative, Redhtölchse
biefen Nation werden Tanz fo wenig. können wir Die
hriftliche, proteftantifche Ethik ald eine ſpeculative gelten
loffen. Eine doppelte Behandiungsweife, kann zwar im
wer vorlommen, man kann mehr won dem äußerlich Ge⸗
gebenen zufammenfellend und ſichtend amsgehen, obt
man kann vom innern Weſen diefer inbinituelen Poſiti⸗
theologäfige Ethik 735
vitäs auögehen und Bad einzelne Gegebene aus ihr ablei⸗
ten und begreifen; aber dieſer Unterſchied ließe ſich eine
facher durch die Bezeichnung einer Sittenbefchreibung
und einer Süteniehre,. einer fonthetifchen oder analyti⸗
fheu Methode veranfchauliden. Cine wahrhaft ſpecnla⸗
tive theologifch chriſtlich proteftantifche Ethik läßt ſich
nicht halten. GE wird ſich zeigen, daß die bed Verf.
eben doch nichts Anderes werden founte, als eine chriſtliche
Sittenlehre in derjenigen Methode, welche den gegebenen
rifiidh,. proteſtantiſchen Typus von innen heraus dar⸗
legt, nicht son außen herein. Darum find wir mit bies
for Ethik einverſtandey, nur nennen wir fie nicht eine
foeculatine oder Damm. wit eine —— Reine Pros
teftantifche. .
Mit diefem Urtheil iR von selb das Meise ge⸗
geben über die F. A. folgende gegenfeitige Abgrenzung
ver sheologifhen Ethik umd der Dogmatit.
_ „Beide laufen einander durchaus nicht parallel, ſondern
jene gehöre dex ‚jpetnlattwen:- Theeiogie an, dieſe der bis
Rosifchen; nicht ber Gegenſtand beider fey verfchieden,
fondern .die wiflenfchaftliche Behanbinug; Dogmatik fey
die hikorifche Miſſenſchaft von den gegebenen Dogmen;
die theologifche Ethik aber habe es nicht mit Den Dogmen
zu thun, fie müſſe vielmehr rein ſpeculativ verfahren.’
Hier trist die originelle Anficht dee Verf. vollends her⸗
vor, ir werden einräumen mäflen, daß. Dogmatib
und Moral biäher ſelten genügend und begriffämäßig uns
terſchieden werden find, fo wenig als die .ensiprechenden
beiden Gebiete iu der Philoſophie. „Muh Schleier
macher habe. diefes nicht geleiftet, wenn er fage, bie
Degmasif frage: was map feyn, bie Moral: was
muß werden, weil 2er religiöſe Bemüchägufktand ba if ẽ
Aber die. Dogmatit umfaſſe Bieles. der leiter Art, z. B.
im Abſchnine von ber Heiligung, weiche, im Detail aus⸗
geführt, immer Tupend rund Pflichtenichre werde. Grs
T36 .. "Rebbe
bennen ud Hanbeln fönne bie beiten Wiſſenſchaften nicht
unterfcheiden, Senn dad Erkennen ſey ſelbſt ein Handeln,
Theoretiſches und Praktiſches ſey freilich ein ÜBegenfah,
aber Ethik und Dogmatik vertheilen ſich wicht nach Diefem Ber
genfaße.” Die hergebrachte Anficht wire alſo vom Berf.ge
rade umgekehrt; Dogmatik fell wie bei Schleiermadyer eine
hiſtoriſche Wilfenkhaft feyn, und num foll Der zweite
Schritt folgen, daß hingegen bie Moral ats fpeexiatise
Wittenfchaft. gefaßt werde. Eihit als fpeculativ kernen
wir zwar ven Spino za her und.bei Schleiermaden
aber nur die phileſophiſche und durgaus wicht in ber
Meinung, daß ber nicht ethifche «ber Dogmatik autfpres
chende) Thell der Philoſophie darum 'empixifch geſchicht⸗
lich ſeyn fol. Wohl zum erſtenmale treffen wir hier anf
die Anſtcht, dag die Dogmatik eine hifivrifche, die Erhit
aber eine fpermiatio theologiſche Miſſenſchaft fey über
einerlei Gegenſtand, mag er auch‘ nur für bie empi
riſche Wiſſenſchaft in deu Form von Dogmen gegeben
feyn. Eine tief liegende Nothwendigkrit, in der Theelo⸗
gie Dogmatif und Moral zu trennen, gibt ed betammtlih
wicht; hat man aber beide doc auch. unterfchleben, fr
wird ſich ein anderes Trenmungemistel kaum finden laf-
eu, ald das alte, von Schleiermacher nur genamt
fosmulirte. Der dognatiſche Abfchuitt von der Heiligung
trägt in feinen. Begriffe die Schuld au der Einmengung
von Eiifchem nicht, dena Heiligung ift ald fortſchreitende
Wiedergeburt gun; und gar noch zur von Gott gewir:
ben Antigung des Heilslebens ‘gehörte, iſt fich weiter ver⸗
wisflichenbe Belehrung. Faßt mun bie Heiligung als
bie aus Danfbavfeis hervorgehende Antwort des Bekehe⸗
sen, als die von ihm nun ausgehende That, fo verwen⸗
beit man vermöge eines fehr verbreiteten Mißverſtänd⸗
nified den dogmatiſchen Gocus in einem ethifchen. Dieſe
Berwechfelung. if. aber eiufach zu corrigiren; dam bleibt
e6 dabei, von Ariklichen Gemüthe puſtund aus zu zeigen,
wie er von Gottes Gnade gewirkt worben fey, iſt Dog⸗
theologiſthe Ethik. 737
matil; zu zeigen aber, wie er nun, ab noch fo ſehr Durch
Kraft der Gnade, das Leben beftimmt und wirkſam iſt,
bad bat bie Moral zu zeigen. Deide haben Einer Ge⸗
genftand, aber jede nach einer andern Geite.
Es zeigt ſich auch hier wieder, wie der Berf. zu
einer völligen Zwiefachheit aller Wiſſenſchaften fortgetrie⸗
ben muubeg fo wie er eine befoudere theologiſch ſpe⸗
entatine Ethik fordert neben: der philofophifch ſpeeulati⸗
ven nnd: nebe ber emmmirifchen, weiche wirderum bie
algeniein menfehliche oder die poſitiv chriſtliche ſeyn
am: ſo maß er nun, da her Ethik die Phpfik coordinirk
iſt, auch eine theologifch chriſtlich ſpeeulative Naturwiſ⸗
ſenſchaft, Kosmologie, Anthropologie fordern neben der
phsfo mifchen; dann ader warum wicht auch ebenſo eine
doppelte Mechtswiſſeaſchaft, Heilkunde, Botanik: u. ſ. w.
Wir geben es zu, daß, fo lange die Wiſſenſchaft nicht
die eines froumen Bewußtſeyns, das fromme Bewußt⸗
ſeyn aber nicht rede wiſſenſchaftlich iſt, von beiden Stand⸗
punkten aus, ein verſchiedener Gharakter ſich jeder wiſ⸗
ſenſchaftlichen Operation mehr. oder weniger aufdrücken
wird; aber darf man, darum, als ob jede dieſer Gimfein
tigketten berechtigt wäre, geradezu ein Doppeig ebände
der Miſſenſchaft fordern 9 Es ſcheint vielmehr, daß Jeder/
weicher das eine oder andere Verfahren ald en ein
ſeitiges -Buschfchaut, verpflichten if, beim Bufbaue ber
Wiſſenſchaft diefen einfeitigen Eharafter zu durchbrechen.
Nicht. aid ob Die fcholakifehe Bermifchung von Philoſo⸗
phie und Theologie Das Berechtigte wäre, aber doch wird
die förmliche Trennung wur für Diejenigen Gebiete ein⸗
treten, in denen fie unabweisbar ſich geltend macht.
Dear Berf. beſtimmt 5. 5 das Derhbältnig der
evangelifhtheolegifhen @thbilzur Schrift,
„Gte ſey nicht har Weideres identiſch mit der praftiichew
kehre der h. Schrift; dem eine biblifche Sittenlehte gebe
es ſo wenig aid eine bibkifche Dogmatik; wohl aber gebe
N
738 Rothe,
es eine bidlifche Religionslehre mit praktiſchen Ermah⸗
nungen, und die Bibel normire auch Die Ethik umbebingt,
and zwar Die ganze Bibel, auch das A. T., wegen bes
gefchichtlichen Verhältniſſes der Vorökonomien zum Chri-
ſtenthume. Aber die bibtifche Bewährung Ber ethiſchen
Sätze gehöre nit im bie Ethik felbft mittel einzelner
Eitate; theils ließe fich ein.fohkhes Berfahren doch nicht
vonftianig durchführen ‚ thelld: würde es ben fpeculatiom
Charabter⸗ der Ethik ſtören. Die VBewährung ſolle alle
ſeym eine Zufammenhaltung der Ethik abs eines Ganzen
mit der bibliſchen Religloöndolehre, welche ein Theil der
hiſtoriſchen and zwar der exegetiſchen Aeelogie iſt, gleich⸗
falls als eines Sangın.”’ -
.&6 fohr wir ed loben. — daß ver. Nerfoſſer
bie ältere:, mechaniſch⸗atumiſtiſche Bewährung bes kirch⸗
Kıhen dehrſätze an herausgenommenen Stellen der Bibel
entichieben verläßt und mit Schletermacher eine
geiſtigere Bewährung des Lehrgeblrudes am Geiſte nad
den weſentlichhen Tendenzen des in: der Bibel’ ausgeſpro⸗
denen Ehriſtenthums, vorzieht; fo. gerne wir ferner bei⸗
ſtimmen, daß. in die Ethik ſelbſt dieſer ganze Bewährungd
proceß weniger eintreten folle, als in die Dogmatik, fo
hatte doch Diefe letztere Forberung bei Schleierma:
or seinen :einleuchtenden Brund.für ſich, welcher hin
gegen: für nufern Berf. nicht vorhanden ik. Schleier⸗
mwacher, welchen die Dogmatik Grundlage if, aus
welcher, die Sittenlehre reſultirt, kann fagen: wenn ic
die bogmmtifchen Hauptfäge.biblifch bewährt habe, aus
ihnen aber bie ethiſchen übe von ſeibſt hervorgehen, fo
ift eine aparte Bewährung biefer ılepteren nicht mehr
nöthig, wenigſtens viel gleihgältiger. Bei nuferemBerf.
aber follte man bas Umgekehrte erwarten; wenn Die the:
logische Ethik eigentlidy der Grund legende, begrändend:
hell den Theologie if, weichen. zwar ans dem nun ein⸗
mal ewangelifchschrifllichen Selbſtbewußtſeyn herauns feine
theologifche Ethik. 739
Säge ſpeculativ ableitet, fo muß es höchſt wichtig ſeyn,
diefe Güte dann ale wirklich mit der Bibel zuſammen⸗
treffend aufzuzeigen, Diefe Bewährung, ungefähr in ber
Weife wie in Schleieemacher’d Glaubenslehre, könnte den
ſpecnlativen Charakter der Ethik nicht ſtören; denn der⸗
jeuige wahrhaft ſpeenlative Charakter, welcher allerbings
durch ſtete Bezugnahme auf die Bibel geflört würde, if
nicht wirklich vorhanden; der wirklich vorhandene aber,
Deduction aus dem chriftlichsenangelifchen Selbſtbewußt⸗
ſeyn, wärde hei einiger Borficht durch dieſe Bewährungs⸗
operation nicht geftört. -
Faſſen wir zufammen, was über dieſes erſte Haupt,
Räd der Einleitung bemerkt wurde, fo vereinigt ſich Als
les in dem Bedenken, ob der Berf, denn wirklich eine
eigentlich fpeculative Ethik erreichen könne, wenn er doch
dad evangeliſch⸗ chriſtlich beſtimmte religiöfe Selbſtbe⸗
wußtſeyn zum Ausgangspunkte haben muß; ob es nicht
angemeflener ‚wäre, nur dasjenige Speculation zu nen⸗
nen, was vom reinen Selbſtbewußtſeyn oder vom
reinen Gottesbewußtſeyn ausgeht. Begeben ift diefes
freilich auch, aber eben‘ zein gegeben, während ber
chriſtliche Gemüthszuſtand erworben, durch empirifche Eins
wirfung in und gefegt werden muß. Auch fo aber if
es verdienftlich, die chriftliche Ethik nicht aus zuſaumen⸗
gelefenen biblifch ober. kirchlich vorgefundenen Gägen
zu conftruiren, fondern, ähnlich wie Schleiermader, aus
dem jeßigen chriftlicken Selbſtbewußtſeyn zu bebuciren.
Wir werden fehen, daB der Verf. doch eigentlich dieſes
ketztere geleiftet hat.
Das zweite Hauptflüd der Einleitung gibt die Grund»
legung der theologifchen Ethik, ein bedeutender
Abſchnitt, der für fich allein ſchon das Buch zu einem
werthuollen Buche macht.
Ganz parallel mit Schleiermacher in ber philo⸗
fophifchen Ethik ſucht der Verf. den Begriff des Sitflis
740 Kothe
chen zu gewinnen, und pwar durch tcheologiſche Specr⸗
lation. „Dieſer Begriff ſey m früheren Theilen der
ſpeeulativen Theologie zu ſuchen; da diefe aber niegende
allgemein anerkannte Refultate aufzumelfen Babe, fo
Fünne man wicht bloß einen Lehrfau ans ihmen herüber⸗
nehmen, man fey genöthigt, die vorher gehenden Theile
der fyecnlativen Theologie fo weit zu verzeichnen, bi
der Begriff des Sitrlichen herausſpringe. Söwmäffe alfo
zuerfi die Theologie im engeren Sinne, dank die Ko
mologie Burchgegangen werden, bie dahin, wo diefe, die
zuerft Phyſik fey, in die Ethik umfchlage.” Hier zeigt
es fih nun, welche Menge von befonberen kheologiſch⸗
ſpeculativen Wiffenfchaften der Berfafler fordert neben den
phitofophifchen , eine befondere Gotteslehre oder Theolo⸗
gie, eine befondere theologifhe Kosmologie, Phyſik, An
thropologie; aber fo vollkommen er hiermit Schleier
macher parallel argumentirt, hat er Loch eine viel
miplichere Stellung gewählt; denn die von Schleierma⸗
cher zur Ableitung der philofophifcken Ethik vorhn
durchgefehenen anderen Wiflenfchaften, die foecnlatie
VNaturwiſſenſchaft und die Dialektik (Metaphyſit und Le
gik in Einem), Haben doch eriftirt, mögen fie auch fehr
wenig allgemein anerkannt und in allen Schulen gleid
beſtinute Güte aufweiſen; hingegen dieſe theologifd
chriſtlich⸗ evangeliſche fpeculative Theologie, KRosmeolegie
und Anthropologie eriflirt noch gar nicht und der Berl.
muß fie erſt aufftellen. Das thut er nun guf eine hödk
intereffante Weife und entmwidelt religionsphiloſophiſche
Säge, die nur den Wunfch übrig laffen, es möchte ber
Bert, aus diefem Material eine förmliche Dis ciplin and
führen und dieſelbe ohne Abertriebene Beſcheid enheit ge
radezu als ein Gebande der Religionsphiloſophie dar
geben; denn was er ſo intereſſant entwickelt, iſt ohne
Zweifel nicht dloß das proteſtautiſche fromme Bewußtſeyn,
theologiähe Eihil. 0721
fondern bad reine Bewußtfeyn, zu weldkem das Gottes⸗
bewußtſeyn ſchon gehört.
„Der ſchlechthin feſte Punkt,” heißt es 8. 7., „von
welchem bie fpecuintine Theologie ausgeht, ift laut $.2.
dad fromme Bewußtſeyn, für uns Theologen nicht erſt
zu beweifen, vielmehr alled Theologiſche erſt begründen,
nur daß wir ed Keinem, welcher außerhalb der Cheole⸗
gie feinen Standpunkt nimmt, aufbrängen.’ Gel das
heißen, Die fubjectin empfundene Wahrheit genügt dem
Theologen fo volllommen, daß er auf den Nachweis all
gemein gältiger objectiver Wahrheit dieſes Sottesbewußts
ſeyns verzichtet, fo bebanert der Recenſent ungemett, Daß
ein Theologe, welcher fo wenig nöthig hätte, in ber Phi⸗
lofophie nur Dilettane feyn zu wollen, fo leicht die Er⸗
weißbarfeit des Ausgangspunktes dahingeſtellt ſeyn läßt.
Aufdrangen wollen wir freilich die Anerkennung des Got⸗
tesbewußtſeyns Niemand; Jedermann aber und gerade
den feine Berechtigung angreifenden Philofophen follten
wir diefe beweiſen. Schleiermacher hat zwar in ſei⸗
ner Zeit gute Brände gehabt, die Dogmatik (nid
aber die ganze Theslogie) als eine fhon um der geger
benen frommen Gemeinſchaft willen zu eriftiren berech⸗
tiste Disciplin aufzuzeigen und in feiner ironifchen Weiſe
und gu geben, wie ficher er fich auf Dogmatifhem Ber
den fühle, obgleich er in demfelben ohne philoſophiſch⸗
objestiye Beweisfährung fich bebelfen müſſe; ja er naunte
ſich nit ungerne auf dogmatifchem Boden Einen, ber
von der Philoſophie nichts verſtehe und ihre Einmifchuug
hier ſich verbitten mäfle. Uber andere Theologen, weide
ſich an ihn anfchliegen, haben diefe Ironie nur gar zu
buhräblih genommen und gewiffermaßen ein Verdienſt
darin .gefucht, von der Philofophie ferne zu bleiben, um
ja nichts in ihr zu verfichen. So war esbei Schleier,
macher deun Doch nicht gemeint, und wenn er auch ſich
große Mühe gegeben, nach dem Zeitalter eines alled Mög⸗
ı
Mr Rote ° =
ice in die chriſtilche Lchre zuſammenwerfenden Rationa-
liömud, vorerft dad chriftlide Gemuth anf feinen reis
chen Inhalt ſelbſt zurädzufüheen und das fubjectine
Vertrauen auf feine eigne Frommigkeit und deren Bor-
ausfegung zu beleben, fo hat er bach in den bie Dog⸗
matik einleitenden Lehrfägen aus der Apologetik, Eihif
und Neligtonsphilofophie die Aufgabe anerkanut, daß
die Principien und Grundvorausſetzungen des chriftiich
Krommfeynd doch vor dem allgemeinen und philoſophi⸗
fhen Bewußtfenn gerechtfertigt werben müſſen und füns
nen. Es ift fehr zu bedauern, daß er felbft feine eigent-
Ihe Religionsphilofophte oder, da er biefe als eine
fritifche Religionskande zu faſſen fchien, keine Apologe⸗
tik ausgearbeitet hat. Dieſe Aufgabe nicht zu löfen,
kann doch unmöglich ein theologiſches Verdienſt ſeyn.
Viele ſcheinen es aber zu glauben und die bloß ſubjec⸗
tive Begründung der chriſtlichen Wahrheit für ein blei⸗
dended Palladium zu halten. So ift ed denn dahin ge
kommen, daß die Theologie fich immer mehr won aller
fonftigen Wiffenfchaft trennt, und fo lange dieß bauert,
die Philofophen verächtlich auf jene herabfehen, Berdie
nen wir ed nicht, wenn wir unfere Wahrheit bloß fo
begränden, wie der Mahamedauer die feinige etwa und
behanpten faun? Im Zufammenhange wit dieſem von
Schleiermader, der gerne ſtark auf die leichtere
Seite ded Schiffes herübertrat, veranlaßten Mißver⸗
fändniffe flieht das Beftreben, im Chrikentkume immer
nur die „eigenthämliche Beitimmtheit des frommen Seldſt⸗
bewußtſeyns, die befondere und für draußen Stehende
nicht weiter zu begrünbende Beiftesrichtung” geltend zu
machen, ale ob man einfach zu fagen hätte: wir bier
find nun einmal individuell fo geftimmt, ihr Anderen Iris
der nicht; Darum bleibt nichts übrig, als die Hoffunng,
daß auch ihre noch im diefe unfere individuelle Stimmung
eingehen werdet! Wenn bie Theologen, was für Laien
theologifche Ethik. 743
angehen mag, bloß diefe Stellung einnehmen, provoci⸗
ren fie es nicht, daß unterdeſſen die philofopbifchen Köpfe,
welche ſich mit der chriftlichen Religion befchäftigen, ent»
weder biefelbe ald ein bloß untergeordneted Phänomen
in der Entwidelung des Geiſtes aufehen, oder bie Idee
der abfoluten Religion fchlechtbin ftatt des gegebenen
Ehriſtenthums aufzuftelen ſuchen? So fiellt man das
Chriſtenthum ald bloße Erfcheinung und das Ghriften-
thum als bie von der Kirche ganz verfchiebene relis
giöfe Idee einander entgegen, Gerade ald einen bes
deutenden Verſuch, diefem fchlechten Stande der Dinge
ein Ende zu machen, begrüßen wir bie fo fcharf- als
tieffinnigen religionsphilofophifchen Eutwidelungen bie
fer theologifhen Ethik. Rothe darf es wagen, in ber
Erfcheinung des Chriſtenthums empiriſch aufgefaßt bie
fpecnlatio deducirte Idee der vollendeten Religion felbft
aufzuzeigen, d.h. das Weſeun der chriftlichen Religion ale
objectiv wahr darzuthun und die ſchwächlich ſuhjective
Begründung zu Überfchreiten. Seine Leiftung wird hofs
fentlih den theologifchen Muth beleben, zumal feine ganze
Religionsphilofophie für unfere Zeit naturgemäß fowohl
Schleiermadher, ald Hegel durchgearbeitet und
beide zu benugen geftrebt hat. Diefes hohe Intereſſe,
welches der Abfchnitt in Anfpruch nimmt, macht ed dem
Neferenten zur Pflicht, bier den Gang ber rothe’fchen
Speculation moͤglichſt vollftändig darzulegen, um badurch
das Studium des Buches ſelbſt zu veranlaflen.
Der Anfang ift zwar nicht fo gehalten, wie wir ihn
wänfchten. „Das fromme Bewußtfeyn,” heißt es ($.7.),
„it Gottesbewußtſeyn, fo daß fein ſchlechthin primitives
Object Gott ift, in welchem implicite erft alle übrigen
Objecte legen. Deßhalb erkennt es alle Objecte mittelft
der Erkenntniß Gottes.“ Dieß ift offenbar ein zu raſches
Fortſchreiten. Das fromme Bewußtſeyn (Gottesbewußt⸗
ſeyn) ſoll ja Selbſtbewußtſeyn ſeyn; ohne ze wird
Theol. Stud. Jahrg. 1847,
744 Rothe
ed als erkennendes, ein Object auffaffendes , ſomit obiec⸗
tives anfgeführt. Weiterhin geht es eben fe raſch vor
wärts.
„Es verhält ſich cbenfo mit dem frommen Bewußi⸗
feyn des evangeliſchen Theologen. Da fey bie Erkenm⸗
niß Gottes nicht mehr bloß gefühlsartige Ahnung Get:
sed, fondern zugleich verſtandesmäßiger Gedanke Gottes.
Das fromme Subject befinde fich hier ſchon im Beide
ded Gedankens Gotted, wie ed immer dazu gefommen
feyn mag; nur fey diefer Gedanke noch nicht wirklich
in gedantenmäßiger Korm gegeben, fondern in ber Zorn
bloßer Borfiellung.” Wir fehgn, der Verf. geht den ph
nemenologifchen ‘Weg in der Weife Hegel’. Schlei⸗
ermacher würde diefed Ausgehen vom noch verwerten
gegebenen Bewußtfeyn am wenigfien Speculation, ehen
Kritik nennen. Wir meinen, auch für unferen Berf. liegt
nichts vor, das ihn nöthigt, dieſe Gottes vorſtellung ge
zade dem chriſtlich⸗ oder gar dem enaugelifch » frommen
Bewußtſeyn fpeciell abzunehmen. Er künnte fie eben fe
gut ald allgemeines frommes Bewußtſeyn geltend machen.
„Die Unangemeffenheit der Korm wolle aufgehoben, dit
Berftellung von Gott. Begriff Botted werden durd
Dialeftifche Reinigung des Gottesgedankens, wie er iM
religiöfen Bewußtſeyn des Theologiſirenden unmittelbat
vorkommt. In der unmittelbaren Vorſtellung ſey der
Gedanke Gottes als der des Unbedingten, des Abſoluten,
und mit einer Vielheit beſonderer poſitiver Beſtimmtheiten
behaftet. Beides neben einander widerſpreche ſich; ſie
ſollen ſtatt neben vielmehr in einander gedacht werden,
alle als abſolute; dann befchränfen ſie an ſich die Adſe⸗
lutheit nicht. Im Begriffe Gottes muß die Abfelut
heit und die Vielheit der beſonderen Beſtimmtheiten wit:
gefeßt ſeyn.“
$.8, „Unverrüdbare Grundbeſtimmtheit ſey die Ab⸗
folutheit, in diefer liege die Afeität fchon, das Be
dingtſeyn ſchlechthin durch fich feld, Auch die Ewig:
theologiſche Ethik. 745
keit ſey nichts Anderes, als die Abfolutheit, namentlich
wie fie Afſeität it; auch Die Einheit, da eine Mehrheit
von Abfolutem nicht denkbar iſt. Alle befondern Beſtimmt⸗
heiten, die der Abſolutheit wiberfprechen, müffen, fo
wie fie unmittelbar norliegen, audzuftoßen und auf ihr
reined Subſtrat zurückzuführen feyn.”
„Go gelangen wir zum Gedanken Gottes ald dem
abfoluten, reinen Seyn, d. h. dem Abfeluten unter ber
Form des reinen, d. h. ſchlecht hin beRimmumnge»
loſen Seynsz weiter läßt ſich das Negiren nicht fort⸗
ſetzen. — Gott iſt ſeyend, nicht etwa daſeyend,
oder etwas ſeyend, er iſt weſendes Seyn, bad ab⸗
ſolute Weſen, das göttliche Weſen, abſolute Sub⸗
ſtanz ohne alle beſondere Beſtimmtheiten. Auf poſitive
Weiſe kann es nicht gedacht werden, obgleich ed bad
Poſitive im eminenten Sinne iſt; denn Denken iß ein
Unterſcheiden. Gott als das häöchſte Wefen iſt der
ſchlechthin verborgene Gott für und und flr ˖ſich ſelbſt;
aber diefer Begriff Gottes iſt ein nethwendiger, fomit
ein wahrer.”
6. 9. „Ein wahrer, aber noch nicht Ber wahre Bes
griff Botted. Der Bedankte des abfolusen, reinen Seyns
it der des abfoluten Seyns als abfoluter Negativisät. —
Es it das abfolute Nichts, nicht — abfolute Auf,
fondern abſolutes Nicht et was, abfolute Fülle des Seyns
als nicht etwas, Beftimmted, Beſonderes. Es if ſchlecht⸗
hin, aber es iſt nur, es iſt nicht irgend etwas. Der
Begriff Gottes faßt ſich alſo urſpruͤnglich in der Formel,
daß Gott ſey das abſolute Seyn unter der Form des
Nichtetwas. Darin liegt 1) das Nichtetwas ſeyn, 2) aber
an dem abſoluten Seyn geſetzt, nicht an dem Nichtſeyn.
Es wird am Seyn das Etwasſeyn negirt, — das Nicht⸗
ſeyn des Etwas, welches das abſolute Seyn iſt, nicht
ein Defeet des Seyns, ſondern abſolute Fülle des Seyns.
— Darm muß auch das Etwasſeyn in ihm ſchlechthin
50 *
746 Rothe
mit enthalten ſeyn, aber auf rein negative Weiſe, ald
nicht geſetztes, nicht dafeyendes, nur in ihm enthalten;
es ift in ihm, aber nicht ba, nicht wirklich, d. h. nur
als mögliches, aber ale ſchlecht hin mögliches, po-
tentia, ald Macht, die reale Möglichkeit des abſoluten
Eiwas, die abfolute Potenz, Macht, rein al
folche gedacht.”
„Diefe abfolute Macht, rein als ruhende, if ein Bis
Derfpruch, über den das Denen binaus mug. Die
Macht Tann nur wirkſam gedacht werden als Kraft.
So kann ber Begriff von Bott ald dem göttlichen We
fen, d. h. ale dem abſolut reinen Seyn, nur ale ein fih
ſelbſt negirender gefegt werben, der über ſich hinausgeht;
abfolute Potenz muß als fich abſolut actualifirende Macht
gedacht werben.”
6. 10. „Gott iR zu denken ald das göttliche Wefen
ober abfolut reine Seyn, welches fi feld zum Wer:
den befiimmt. Da aber diefed Werden das abfolute,
mithin fein Refultat, das Seyn, mit ihm felbft geſeht
ik, fo it Bott ald Werden unmittelbar zugleid das
Seyn, abfolute Einheit des Seyns und Werben, d. h.
Leben, das abfolute Leben; er ift ber abfolute Proceh,
ber Proceß feines ſich ſelbſt Actnaliſirens, Lebens
proceß.“
F. 11. „JIndem Gott, ſich ſelbſt actnaliſirend, die
Form ſeines Seyns als göttlihed Weſen überſchreitet,
tritt er aus dieſer heraus, nicht in dem Sinne, daß er
fie abthäte und aufhöbe; er hält fie deunoch feſt. Das
Sichaufſchließen des abfoluten Weſens ift nicht ein Sic:
aufheben; indem er fchlechthin actuell ift, hat er die Pr
tenzialität in fich ſelbſt als durch fich felbft gefegte cansı
sui, Er if der immanente Lebensproceß.”
$. 12, „Bott ale das abfolute reine Seyn und alö
ſolches die reine abfolute Potenzialität actualifirt ſich
heißt: er ſetzt das potentia ruhend in ihm ſeyende adfo
theologifche Ethik. 747
Iute Etwas actu oder als wirklich, Er hebt feine numit-
telbare abfolnte Identität mit fich felbft, feine abfolnte
Einfachheit nnd Innerlichkeit auf, unterfcheidet fi von
ſich felbft, d. b, feinen Inhalt, das abfolute Seyn, von
feiner Form, der abfelnten Reinheit, d. i. Beſtimmungs⸗
loſigkeit, dadurch, daß er das in ihm beſchloſſene abo»
Inte Etwas fi vorftellt, ſich bewußt macht, ed, und
damit ſich ſelbſt, denkt. Er beftimmt fein Seyn zu ber
neuen Beftimmtheit einerfeitd als Gedachtes, anderer,
ſeits als Geſetztes. Das geſetzte Seyn iſt das Dafeyn,
das gedachte Seyn iſt der Gedauke, Reales und Ide⸗
elles, beide bier als ſchlechthin in einander ſeyend, ba
dad Gegen und das Denken abfolut find, Er febt fich
ale das fchlechthin Gedanke feyende Dafeyn oder als den
ſchlechthin daſeyenden Gedanken, als das ideelle Reale
und reale Ideelle, als abſolute Einheit des Dafeyns und
des Gedankens. Dieß ift der Begriff des Geiſtes. Gott
beftimme ſich als Geift, fein actuelles Seyn ift fein Geiſt⸗
feyn.” 6.13. „Und zwar ald den abfoluten Geiſt.“
6. 14. „Inden Gott feinen abfoluten Inhalt den⸗
kend fegt und fegend denkt, unterfcheidet er fich in fich
von fich ſelbſt, dirimirt die in ihm verfchloflenen Unter»
fhiede, entläßt fie als Beftimmtbeiten des abfoluten
Seyns ans feiner abfoluten Innerlichleit. Die immer
volftändigere Entfaltung Gottes ale des abfoluten Geis
ed aus fi heraus in feine befondern Beflimmtheiten
if ein Entwidelungsproceh ohne alle Beſchränkung.“
6. 15. „Die fo herausgeftellten Unterfchiede find
Beſtimmtheiten des Geiſtes, denn indem er fie durch
feßendes Denken und dentendes Segen fchlechthin in Einem
ans feiner reinen Iunerlichleit heraufführt, beftimmt er
fie eben hiermit ale Geil, Es muß feyn eine fchlechthin
volftändige Diremtion in die implicite in ihm liegenden
Unterfchlede, nicht fo, daß fie aus einander fallen und
endliche würden, fondern er vollzieht in dieſer Discretion
/
748 Aothe
wieder ihre Sontretion zur Einheit und in dieſer ſeine
abſolnte Sdentifkt mie ſich febft als vermittelte, wieder
hergeſtellte. Er ſelbſt iR es, den er ſetzend denkt und
Ddenkend ſetzt. Indem er die Beſtimmtheiten ſeines We⸗
ſens ausbreitet, hebt er zugleich ihre Gefchiebenheit auf,
Diremtion iſt zugleich Eoncrefion. So abfolut wieder in
Yie Einheit zurüdgenommen, find die beſonderen Be
Smmtheiten nicht bloße Beftinnmtheiten, fondern Bo
mente, d. h. nicht ruhende Beſtimmtheiten, ſondern bie
eined ald Proceß feyenden Seyns. Alſo Bott if ale
der abfolute Geiſt die abſolut einheitliche abfolute Tote:
tität des abfolnten Geiſtes.“
S. 16, „Die Form dieſes fidh in feinen Momenten
vollſtaͤndig erplicirenden abfolnten Geiſtes, wozu er fid
aus der Potenzialität actualifirt, iſt beſtimmt gedachtes
md geſetztes Seyn, nicht ſelbſtdenkendes und ſelbſt⸗
ſetzendes; ſomit iſt es für ein anderes, es denkendes und
es ſetzendes Seyn, für Gott, werkzengliches und organi⸗
ſches Seyn. Nur gebachtes und geſetztes Seyn if der
Begriff Natur. Gott beſtimmt ſich in dieſem immanen:
ten Proceß zur organiſchen Natur als einheitlicher To
talität, d. h. zum abſolut geiſtigen Naturorganismus.
Neben dem erſten Begriffe, dem göttlichen Weſen, ergibt
ſich ein zweiter, dem zufolge Gott der abfolnt geiſtige
Naturorganismus if, die göttlihe Natur, natura von
nasci im Gegenfaße von factura, Machwerk, alfo von
innen geworden, Materialität ift kein Merkmal der Ra
tur an uud für ſich; das meint aber, wer eine Natur in
Bott nicht zugibt.”
$. 17. „Auch hier bleibt das Gott denfende Deuter
nicht fiehen, Der Immanente Lebenſproceß hat noch eine
Seite. Wenn Gott fi gur abfoluten Natur beſtimmt,
zur Bellimmthelt des Gedankens uud des Daſeyns oda
Des Gedachten und des Gefegten in Einem, fo beftimmt
er fih dadurch auch zum Denkenden und Gegen
theologiſche Ethik. 749
ben in Einem — Sctzenddenken und Denfeubiehen, er
fabiectisirt ſich ſelbſt, indem er ſich objectinirt, beſtimmt
ih zum Subjecte”
G. 18. „Kr nimmt ja die Diremtion in die Einheit
zurück, vollzieht feine GelbRreflerion in fich felbfi und
befimmt fi zum ſich ſeloſt [ubjiectivirenden ob;
jectiven Geiſte, zum ſich ſelbſt denkenden Gedanken,
gam Ideellen und Reellen. Dieß if das Gelbfibe-
wußtſeyn — Gedanke als ſich ſelbſt denkender. Das.
Bewußtſeyn gebt in fein Objest als in fein eignes Sub⸗
jet zuräd. Ju feiner Vollendung üt ed die Bernunft,
Andererfeitd if das Geſetzte ale fich felbft ſetzendes Die
Selbſtthätigkeit. In der Vollendung if dieß die
Freiheit: Sich ſelbſt denkend ift er feiner ſelbſt ſich
fhlehthin bewußt — abfolute Vernunft, und fih
ſeibſt ſetzend will er ſchlechthin fidy ſelbſt — abfolute
Freiheit, beide in abſoluter Einheit, d. h. fein Sich⸗
ſelbſtbewußtſeyn iſt Sichfelbfifegen und umgelchrt. So
find beide die abfolute Perfönlidhfeit, abfolutes
Inſichzurücknehmen des Bntfalteten. Damit ift die gätt:
lihe Natur der abfolnte ——— ——— Indivi⸗
duation Gottes.”
6. 19. „Perſonlichkeit iR einerfeits ber wefenslidhe
Abflug der göttlichen Natur, amndererfeitd eine nene,
für id) feyende Form des Seyns Gottes. In der Pers
föntichfeit ift Gott Aber feine Natur hinaus bei ſich ſelbſt.
Dieß dad Seyn Gottes unter dem Modus der Perfüns
lichkeit.“
F. 20. „Die göttliche Perfönlichleit hat die gött⸗
lihe Natur gu ihrer Caufalität. Beide haben reales
Seyn, feine für fich allein ift das wahre actuelle Senn
Gottes. Eoncentration zur Einheit und. zugleich vollftän-
dige Entfaltung zur Mannichfaltigkeit it die ſchlechthin
einheitliche Doppelform. Gottes actuelled Seyn kann nur
gedacht werden als Geiftfeyu unter der Form der Natur
750 Rothe
and der Perfönlichleit, als beibes feyend, Alles nud
Eines, jened in Form der Entfaltung, diefed ber Con⸗
centration.”
6.21. „So hat fih der Begriff eines dritten Mo
dus des Seyns Gottes heransgeftellt, der des perfänlis
hen Geiſtes, der abfoluten Perfönlichkeit. Bott iR zw
shdgegangen in die nun vermittelte abfolate Iden—
tität mit fich ſelbſt, die abfiracte Einfachheit if eoncrete
Derfönlichkeit, lebendige Individuität.”
6. 22. „Das Verhaltniß der beiden Modi oder Kor
men bes. actuellen Seyns oder des Geiſtſeyns Gottes,
der göttlichen Natur und der göttlichen Perföntlichkeit, iR
das der abfoluten Wechfelwirfung ; dieß if die con:
crete Lebendigkeit Gottes, Einsſeyn von Judividni⸗
tät und NRaturorganismud.’
6. 23. „Als die abfolnte Einheit der göttlichen Re
tnr und der göttlichen Perſönlichkeit iſt Gott Perſon,
die abſolute Perfon, der offendare Gott. Mit dieſen
Begriffe ($.24.) iſt der Begriff Gottes gefchloffen. Der
($. 25.) volle Inhalt des frommen Gotteögebanfene if
wieder in den Begriff Gottes anfgenommen; die befon
deren Beftimmtheiten Gottes haben ſich als folche, zu
denen er fich felbft beflimmt, ausgewieſen und werden
nun als folche auch gedadyt. Somit ($.26.) gibt es eine
breifahe Form des Seyns Gottes: 1) bad
göttlihe Wefen, 2) die göttlihe Natur, 3) die gött⸗
liche Perſönlichkeit, jede ein reales, wicht bloß
modaliſtiſch. Nur indem Gott wefentlich dieſes Dreies
if, ift er das abfolute Wefen, alle drei ewig, jeden Zeit:
verlanf ausfchließend, ohne alle Priorität des reinen
Modus. Die fey nicht der kirchliche Trinitätébegriff,
aber dennoch ein wirklich teinitarifcher Gottesbegriff;
nicht drei Perfouen in Gott, noch drei Subjecte.’’
6. 27. „Aus dem biöher entwidelten Gottesbegriffe
ergibt fi eine Gruppe von Eigenfhaften Gottes,
theologiſche Ethi. 781
d. h. von eigenthümlichen Modalitäten feines Seyns,
aber rein immanente, anf dem Verhältniſſe Gottes zu
ſich ſelbſt beruhende, auf dem Berhältnifle, in welchem
in Gott fein perfönliches Selbſtbewußtſeyn zu den im⸗
manenten Brundbeftimmtheiten feines Weſens fteht, d. h.
zum göttlichen Wefen, zur göttlichen Ratur und zur götts
lichen Selbfithätigleit. 1) Das göttlihe Wefen reflec⸗
tirt ſich im göttlichen Selbſtbewußtſeyn ale die Allge⸗
nugfamkeit, Beflimmtheit Gottes, causa sui zu feyn,
Afeität als im Selbfibewußtfenn gefeßte; fofern Gott fidy
weiß als fich felbit fchlechthin bedingend und von nichte
Anderem bedingt, genügt er fich fchlechthin. 2) Die gött⸗
liche Natur reflectirt fih im göttlichen Selbſtbewußt⸗
feyn als die Seligkeit, Beſtimmtheit Gottes, einen
abfoInten Naturorganismus zu haben, als im Selbſtbe⸗
wußtfeyn geſetzt; Gott weiß ſich als fchlehthin Seele
ſeyend, d. h. als ſchlechthin angezogen mit einem fchlecht-
bin befeelten Leibe, er ift felig; Seligkeit Gottes if feine
abſolnte Lebendigkeit, ald im Selbſthewußtſeyn geſetzt.
3) Die ‚göttlihe Selbſtthätigkeit reflectirt fih im
göttlichen Selbſtbewußtſeyn ale die Herrlichkeit, Bes
ſtimmtheit, abfolut felbfithätig und frei zu feyn, als im
Gelbfibewußtfeyn geſetzt.“ —
Hier können wir flille fiehen und auf diefen erften
Theil der religionsphilofophifchen Entwidelung zurück⸗
fehen, Die bialektifche Bewegung iſt einfach und klar;
fie mit der der hegel'ſchen Phänomenologie genauer zu
vergleichen, Tönnen wir hier nicht beabfichtigen.. Bon
der im theologifisenden, d. h. fih über den Inhalt ber
Frommigkeit befinnenden Frommen wird ausgegangen,
wie fein Bewußtſeyn den Gedanken Gottes fihvors
Kelle. Gedanke und Borfteflungsform find aber ein Wi⸗
derfpruch,;die Borftellung will Begriff werden. In
der Borftelung iſt der Gedanke Gottes der des Abfolus
ten, Unbebdingten, und doch mit einer Bielheit befonderer
752 Rothe
Beimmungen behaftet. Diefe beiten Setzungen wider
ſprechen ſich, der Wiverfpruc muß aufgehoben werden
in ben Begriff Gottes. Grundbeſtimmtheit war bie
Anfolutheit Gottes und muß Baſis bleiben, indem ale
ihr widerfpeechenden Beftimmtheiten aus dem unmittels
baren Gottesgedanken anögeftoßen werden. Durch bie
fed Berfahren kommen wir zum Gedanken von Gott als
dem reinen, ſchlechthin beſtimmungslofen Seyn. Gott
IR das Seyn, ohne etwas zu feyn, er ift das göttliche
Weſen, das Nichte im Sinne von Nicht; Eiwas, wichts
Befonderes, nichte Beſtimmtes, aber nicht als Null, fon
dern als Seyn. — Die dialektiſche Reinigung des vor⸗
gefundenen Gottesgedankens in ihrem erften Stabium
dehrt alfo Gott ald das göttlihe Wefen, ald dad
Seyn ſchlechthin erfennen. — Hier kann man nicht chen
bleiben, denn im Gedanken des abfolusen Seyns als
des Nichtetwasſeyns liegt das Allerpoſitivſte in der ne
gatioken Form. Man muß alfo die pofitive Form bafür
fuchen unb befimmt ed als die Fülle alles Seyns, ſo
daß au dad Etwasſeyn, Objectfeyn, in ihm ſchlechthin
enthalten feyn muß, aber auf rein negative Weife, als
ein nicht dafependes, ale ein nur mögliches, als
Potenz und Macht. Gott ift das abfolute, reine Seyn
beißt alfo, poſitiv ausgedrückt, er iſt die abfolute Macht
rein als ſolche. Hier haben wir den innern Widerſpruch;
:abfolnte Macht rein als folche, d. h. unwirkſam, iR ein
nicht fefzuhaltender Begriff; fomit wird die Madıt ale
Kraft befiimmt, der abfiracte Gedanke von Gott als
dem göttlichen Wefen Creinen Seyn) geht über Mich ſelbſt
hinaus in den der ſich abfolut actualifiremben
Macht. — Das reine, abfolnte Seyn beſtimmt fich alie
zum Werden als abfolutem. Einheit ded Seyns und
Werdens ift das Leben, Gott der abſolute Erben
proceß, aber ald immanenter. Im dieſem Lebensprocefe
actualifirt fi Gott, fett das potentia in ihm enthaltene
theologiſche Ethik. 753
abfolnte Etwas actu, ſtellt es fich vor, denkt ed und da»
mit fich ſelbſt. Er befiimmt dadurch fein Seyn als Ges
dachtes und Geſetztes, als Gedanke und Dafeyn ſchecht⸗
bin in einander. Er ſetzt ſich als dad Gedanke feyende
Dafeyn oder dafeyenden Gedanken, kurz ald Geift, ale
den abfoluten eilt. Indem Bott fich actualifirt, ſtellt
er die Bekimmtheiten des Geiſtes heraus und nimmt fie
doh auch in fich zurück, bleibt bei ſich ſelbſt; er felbft
iſt's, den er fegend denkt und denkend ſetzt; dieſes Ge⸗
dachte und Geſetzte iR die göttlihe Ratur, der gött⸗
lihe Raturorganiemud Go gelangen wir vom erfteu
Begriffe, vom göttlihen Wefen, zum. zweiten, gur
göttlichen Natur, Setzt aber Gott ſich SFeibk,
fo beſtimmt er ſich ald feßender und denkender, ins
dem er ſich objectivire, beflimmt er fih zum Gubs
jecte, Selbfibewußtfeyn, Bernunft; er felbft
thut das, ift Selbftchätigkeit und Freiheit, Perſön⸗
lihfeit. So gelangen wir zum dritten Stadinm des
Suttedbegriffe : Bott ift die ap folnte Perfönlichkeit,
und damit hat fich der volle Inhalt des frommen Be:
wußtſeyns vermittelt wieder hergeftellt. Allerdings ift
das Reſultat Fein anderes, als das von der frommen
Borftellung gemeinte; diefe Dialektik hat den Werth ei:
ned innern Sichfelbflläuternd des unmittelbaren Gotteös
gedankens; fie zeigt, daß deffen Widerfprüche keine feft
bleibenden Widerfprüche find, logiſch und dialektiſch ſich
befriedigend entwickeln laffen. Die dialektiſche Läuterung
unfered Gottesgedankens wirb als Eins mit der dialekti⸗
fchen Entwidelung Gottes felbft gefeht, was nur dadurch
möglich wird, daß man die wefentliche Identität des
menfchlichen und des göttlichen Geiftes anertennt. Die
von Segel hergenommene Dialektik würde zum bloßen
Spiele, wenn nicht auch das Grundprineip Hegel's mit
vorhanden if. Der Berf. hat fih über fein Verhält⸗
niß zu Hegel nicht ausdrücklich erklärt, es liegt indeß
$. 34 — 38, angedeutet vor. Möge er in einer Religions»
75% Rothe
pbilofophie weiter zurücd gehen und aus dem Weſen des
Geiftes felbft die Rothwendigkeit der Gottesidee darthum,
d. h. objectio wiffenfchaftlich erweiſen.
Wir laffen ben zweiten Theil feiner Entwidelung
folgen, welcher bemüht ift, zu zeigen, wie Bott, bie
ber in feinem immanenten Lebensproceffe aufgezeigt,
transeunt wird und die Welt hervorgehen läßt. Es
it wohl zu beachten, wie forgfältig der Berf. die ganze
Gottesidee zu Stande zu bringen gefucht hat, ohne dazu
der Welt zu bedürfen, fo baß Gott rein an fidh ſelbſt,
nicht erfi an der Welt ſich dasjenige Object feßt, ohne
welches er nicht Subject und Perföntichkeit feyu fan.
Damit will fi der Berf. desjenigen Pantheismus ers
wehren, ber mit dem frommen Bewnßtfeyn im Wider⸗
ſpruche fteht.
6,238. „Mit dem fich zur abfolnten Perfönlichkeit
Beftimmen ſchlie ßt Bott feinen immanenten Les
bensproceß ab. Er ſetzt ſich zugleich die Rothwen-
digkeit einer nah außen gehenden Wirffamkeit,
durch die er außer ſich etwas Neues wirkt, d. b. eine
Welt fhafft. Die Schöpfung if mit dem ſich ſelbſt
zur Perfönlichkeit Beſtimmen gegeben. Indem er ſich als
Ich beſtimmt, denkt und feßt er fein Rihtich, ein Aus
dered, weiches Richtgott if. Zwar entfieht dad Ich
durchs immanente LUnterfcheiden von Subject umd
Object, aber hiermit iſt zugleich der Gedanke feines
Nichtich mit gegeben; jenes kann nicht feyn ohne dieſes;
das Nichtich if Bedingung des fih ald Ich Setzens. Aber
mit dem Geben und Denken des realen Nichtich iſt Got⸗
tes Abſolutheit aufgehoben, das Nichtich iſt Schrante
Gottes. Er muß aber feine Abfolutheit wieder herſtellen,
indem er das bloße Nichtich ſeyn des Nichtich anf
hebt, indem er es ald wefentlich zugleich Erſelbſt denft
und ſetzt, als fein Nichtich, in welchem er feld ik. So
it ed von ihm unterfchieden, aber nicht fein Begenfaß,
theologifihe Ethik. 755
er ift in ihm als feinem Andern fchlechtbin bei fich ſelbſt.
Er gibt dem Richtich die Beftimmtheit der Adäquatheit
für ibn und der Einheit mit ibm, fo daß er au
ihm immer noch fein Nichtich, ein wirlliched Richtgott
bat, aber nur ein Nichtih, in welchem er ſelbſt fein
Seyn bat, d. h. fein anderes Ich. Diefer Proceß, im
welchem Bott, indem er feine eigne Perfönlichleit voll⸗
sieht, zugleich einerfeitd fein Nichtich, audererfeitd aber
ſich ſelbſt in diefem Nichtich ſetzend denkt und denkend
ſetzt, iſt der Proceß der Schöpfung, und jenes Nicht⸗
ih bie Welt. Nicht Vorausſetzung, ſondern Productt
des Ich ift das Nichtich des abfoluten Geiſtes. Nicht die
Perföntichheit, nur die endliche hat ihr Nichtich rein au⸗
Ber fih, die abfolute Perſönlichkeit kommt fchon durch
den immanuenten Proceß heraus; wird doch auch das
endlihe Ich nicht durchs Nichtich, fonft wäre das Thier
ein Ich; aber das Thier kann die Welt nicht als fein
Nichtich von fich uuterfcheiden, weil es fich felbft nicht
ale Ich befigt.” |
6. 29, „Die Rothwendigleit fchöpferifher Wirkfams
feit Gottes, einer Selbftmittheilung an Anderes, ift bie
Liebe, in Bott keine bloße Eigenfhaft, fondern eine
immanente, wefentliche Beftimmtheit, das die immanenter
und trandennten verfnüpfende Band. Allgenugfamkeit,
Seligkeit, Herrlichkeit — und dennoch Liebe.”
6. 0. „Die Schöpfung ift freilich ein ſchlechthin
nothwendiger Act Gottes; fo wahr Bott Bott if,
muß er Schöpfer feyn ; daß er die Schöpfung auch hätte
unterlaffen koͤnnen, ift die falfche Vorftelung von Will⸗
für, ine perfönliche, moralifche Nothwendigkeit, aber
die Freiheit bejahend, nicht ausfchließend. Er ſchafft
nothwendig, aber dieſe Nothwendigkeit if für ihn eine
innere, abfolute Freiheit; in der Liebe liegt die Einheit
von Nothwenbigkeit und Freiheit. Nur nehme man biefe
Nothwendigkeit nicht im pantheiftifchen Sinne, d. b. als
756 NRothe
Mowent des Selbſtoo Lendungaͤpreceſſes Gottes, ſondern
als eine notwendige Wirkſamkeit des in feinem Seyn
ſchlechthin durch ſich ſelbſt vollendeten Gottes. Es gibt
keinen Gott ohue die Welt, aber Bott iſt er nicht duch
die Welt. Sich ſelbſt genug ik Bott, aber wefentlid
infofern, als in ihm ſelbſt die Möglichkeit und Nothwen⸗
digkeit der Welt mitgeſetzt if.”
6. 31. „Der Begriff der göttlidgen Weltichöpfung
iM, daB Sort fein Nichtich febt, die Welt, fo zwar, daß
ex dieſes fein Auderes fi felb adäquat ſetzt. Ein Nicht
ich Gottes, in melden er fein Seyn hat, if denkbar
nur ald ein wer dendes, aber ein nicht abfolutes Wer⸗
den, ein Werben, das nicht abfolgt mit dem Seyn iden⸗
tiſch iſt. Die Schöpfung iR ein in der Zeit ih vol
ziehender , ſucceſſiver Act Gottes.”
F. 32, „Indem Gott, die Welt als fein Nichtid
ſetzend, fie ich felb adäquat ſetzt, ſetzt er fie als das,
was er ſalbſt iſt. Er ift etwas nur unter den Modis
feined actuellen Seyns, feines Seyns ale Geiſt, d. i.
alt göttliche Natur und Perfönlichleit, Unter dem Mo
dus feines rein potenziellen Seyns als das goͤttliche We
fen ift er nichts; dieſem erſten Medus feines Seyns kann
er alfo die Welt nicht adäquat ſetzen, foudern nur des
beiden andern Modis; er feßt die Melt nur, fofern er
actu iſt, Geiſt if; als göttliched Weſen aber behält er
fein reines Seyn abfolut außerbaib der Welt.”
6 33. „Die Welt oder Greatur if als Nichtgott,
ale das Andere des abfoluten Seyns, jedeufahe Nicht⸗
fegn, zugleidg aber ein Seyn, ſomit ein ale Seyn ge
ſetztes Nichtſeyn, Sepn unter der Form ded Nichtſeyns.
Das Nichtſeyn ale Beſtiumtheit am Seyn ift das Ende,
Grenze, begrenztes, endliched Sepn; aber ale dieſes wil
fie doc, dem abfoluten Seyn Gotted adäquat gedacht
werden, bad kann fie nur ald unendliche. Die Urend⸗
lichkeit it eine eben ſo wefentliche Beſtimmtheit der Erea⸗
theologiſche Ethik. 737
tur, als bie Enblichleit, Die Kreatur ald Welt if ein
unendliches eundliches Seyn, unendliche Vielheit
von endlichem Seyu. Als Welt endlichen Seyns iR fie
dad Andere Gottes, als eine unendliche Welt eublichen
Seyns kann fie Gott adäquat ſeyn und bie Fülle feines actuel⸗
im Seyns in fi aufnehmen; fie if unter der Beſtimmt⸗
heit dee Enblichleit, was Gott unter der Beſtimmtheit
der Abfolntheit. Unendlichkeit iſt nicht Abfolutheit, nur
ihr Analogon innerhalb der Sphäre des Relariven.”
5. M. „Bott fegt dieſes unendliche endliche Seyn
als das, was er felbft nstu ift, als Geiſt, als eudli⸗
hen Seift, wenn vollendet, dans ald unendlichen end⸗
lichen Beil. Im creatürlihden Beifte kann Gott fein
Seyn haben, die Geiſter können in einander feyn un⸗
befchadet ihrer Selbfländigkeit devyaszog, ddsmekrag.”
6. 35. „Da Gott der abfolute Geiſt ik .unter ber
Beſtimmtheit der göttlichen Natur und göttlichen Perſön⸗
lichleie, fo ſetzt er den enblichen Geiſt unter der Bes
Rimmtheit der Natur, d. i. der einheitlichen Totalität
des aus ſich ſelbſt heraus werdenden, nur gedachten und.
gefeßten werkzeuglichen oder organifchen Seyns in ber
voßftändigen Ausbreitung feiner Momente; audererfeitt
der Perſsnlichkeit, d. i. der vollfländigen Concen⸗
tration biefer feiner ‘Momente zu einer ſelbſtdenkenden
und fegenden concreten @inheit, fo daß wie in Gott
jedes des andern Ganfalität ift ald Werchfelwirtung. Die
Welt ($.36.) in ihrer Vollendung ift der unendliche end»
liche Geift unter dem doppelten Modus des Seyns, ale
Ratur und Perfönlichkeit zur Ginheit verknüpft. In dies
jer Welt ($.37.) hat Bott ale göttliche Natur und Pers
fönlichleit fein Seyn, als jene in der creatürlichen (geis
Rigen) Natur, als diefe in der creatürlichen Perſön⸗
lichkeit, fo daß fein innerweltliches Seyn ald göttliche
Kater und SPerfönlichkeit ſchlechthin Eins find. Inner⸗
halb unferer irdifchen Weltfphäre iſt dieſe ereatürliche
Perſon der Menfch, ber geiftige Menfch ale Menfchheit.”
758 Rothe
F. 358. „Schöpfung iſt Weltwerbung Gottes, dee Gei⸗
ſtes, einerfeitö creatürliche Raturwerbung ber göttlichen
Natur, anbererfeitd creatürliche Perfönlichleitwerbung
der göttlichen Perfönlichleit, — creatürliche Perfouwer;
bung Gottes, bed Geiſtes, innerhalb der irbiichen Schoͤ⸗
pfuugsſphaͤre Menſchheitswerdung. Dieſer Proceß ($.9.)
muß ein ſich vollendender, ſein Ziel vollſtaͤndig erreichen⸗
der ſeyn, zugleich ein ſchlechthin unvollendbarer, unend⸗
licher. Dieſe Antinomie führt auf organiſch⸗ einheitliche
Vielheit von concentrifchen beſonderen Schöpfungsfrei-
fen, die fih aus einander beraudgebären, in denen, ein
jein betrachtet, der Proceß wirklich abfolnt zu Stande
kommt unter einer eigenthümlichen Bebingung , fomit res
lativ; ſucceſſiv unter immer vollommneren Bedingungen,
aber ein Reſt von Inadäquation bleibt unendlich.”
F. 40. „Endlos ift die Schöpfung aud) anfang%
los zu denfen, benn wenn Bott feinen Anfang hat and
als ewig in feinem inneren Lebensproceſſe vollendet gedacht
werden muß, Damit aber zugleich feine ſchöpferiſche Wirkſam⸗
keit nothwendig mit gegeben iſt, ſo muß die Schöpfung eben
fo aufangslos feyn, wie Gott felbkl, jeder einzelne
Puunkt des -cseatürlichen Gepnd hat zwar einen Anfang,
nicht aber die Schöpfung ; der fhöpferifche Act ſetzt den
Anfang bed Seyus, dieſes Segen felbft aber hat feinen
Anfang.”
Mit dieſem Punkte der religionsphilofepbifcen
Debuctionen hat der Verf. wieder eine Station erreicht,
den Schöpfungspegriff, und wir können einen
Ruͤckblick auf diefe Debuction werfen. Das alte Problem,
wie aus Gott bie Welt hervorgehe, it mit großer Klar⸗
heit wenigſtens fo befriedigend als ſonſt irgendwo geloͤſt.
Die dialektiſche Berisrung, Bott erſt an der Welt und
durch die Welt und von ihr abhängig Bott werden zu
laſſen, ift forgfältig vermieden, indem ſchon der immas
nente Lebensproceß in Bott das Subject» und Perfäw
— 72 . —>T z u RM.
m m I, = 2
A —
theologiſche Ethik. 7159
Iichleitfegn erreicht hat. Der Berf. finbet gerabe in ber
göttlichen Perfönlichkeit den Begriff, in welchem ber im⸗
manente Lebensproceß mit bem emanenten oder trands
eunten ſich vermittelt. Es läßt fidy nur fragen, ob nicht
die fon angewandte Art ber Dialektik confequenter
fagen würde, im Begriffe der göttlichen Perfönlichkeit fey
felb noch eine aufzuhebende Zweiheit enthalten, theils
das bei fich felbft Seyn und die birimirten Momente wier
der in fih Zufammennehmen, theild aber doch auch das
Verhaͤltniß zu einem zu feßenden Nichtich. Statt beffen
wählt der DBerf, eine etwas andere bialektifhe Form;
die abfolute Perfönlichkeit habe das voraus, ſchon
abgefehen vom Nichtich im immanenten Proceffe zu Stande
zu fommen, nur die enbliche Perfönlichkeit hingegen fey
in ihrem Zuftandefommen abhängig vom Nichtich. Das
rum heißt es dann weiterhin, mit diefer immanent fchon
vollendeten Perfönlichkeit ſey zugleich gegeben bie Noth⸗
wendigkeit einer nach außen gehenden Wirkſamkeit. Zwar
entftehe das {sch durchs immanente Unterfcheiden von
Subject und Object, aber das könne nicht zu Stande
fommen, ohne daß in Folge davon Gott zugleich ein
Nichtich von fich unterfcheide. Nicht Borausfeßung, fon»
dern Product des Sch fey das Nichtich bed abfoluten
Geiles. Diefe Prärogative bed abfoluten Sch wird aber
doch wieder etwas limitirt durch die Andentung, daß
auch das endliche Sch, genan betrachtet, nicht Product
bes Nichtich ſey, fondern ſich potentialiter fchon als Sch
befige, und darum dann actu fich Dem Nichtich gegenüber
als Ich unterfheide. Es fragt ſich nun, ob dieſes Zur
ſtandekommen der Perfönlichkeit Gottes fchlechthin nur
durch den immanenten Proceß wirklich fo fireng müfle
behauptet werden, oder ob der Verf. nicht eben fo viel
erreichen fünnte, wenn er wenigſtens die ideale im Dens
ten Gottes geſetzte Welt als Nichtich Gottes mitwirken
ließe zum Vollendetwerden ber göttlichen —————
Theol, Stud. Jahrg. 1847,
760 Rothe
Bleibt ja doch der Unterſchied immer fliehen, daß nur
das unendliche Ich fein Nichtich felbr ſetzt, alfe auch ſo
fich felbft zur Perfönlichkeit beftimmen würde, Diefe Lehr
form erſcheint am fo angemeflener, da die Schöpfunge:
action nicht als eine zeitlich aufangenbe, fondern ale
gleich ewig wie der immanente Proceß gedacht wirt.
Wie der Berf, dei biefer Lehre von der mit Gott, aber
von ihm immer ſchon gefeßten Welt dennoch fehr be
flimmt die Abhängigkeit der Welt von Gott gewahrt hat,
fo dürfte ein aualoged Berfahren die ideale Welt mit ei⸗
Moment nennen im Zuſtandekommen ber göttlichen Per:
fönlichkeit, ohne daß ja darum Bott erft durch die Wei
geſchichte zu ſich ſelbſt kaͤme und in feinem Bottfeye von
der Welt abhängig würde, wie der fchlechte Pantheismus
behauptet. Sollte diefe Bemerkung unrichtig feyn, ſe
wäre wenigftend dem gerügten zugleich eine dem gan:
zen Gange der befolgten Dialektik angemeſſenere Fors
zu geben. — Zu biefer Bemerkung gehört eine ander.
Der Berf. hebt fchön hervor, wie Bott, obgleich in fi
ſelbſt allgenugfam, felig und herrlich, dennoch die Welt
ſchaffe, und findet das beide Seiten Verknüpfende in der
Liebe. Aber ob dieſes als rein begrifflider Gedankt
Stich halte, oder mehr nur ein für dad fromme Be
wußtfeyn erhabener und fchöner Gedanke fey? „Sichfelt
mittheilen an Anderes” fegt ja bad Andere fchon irgend
wie voraus, daher denn Schleiermader in rein be
grifflicher Lehre den Ausdruck Liebe nicht von Bott andı
fagen wollte. Der Berf. kann das freilich, fofern Gottet
ewige Greationsthätigkeit ewig Gegenftände der fie:
hat, aber wo von dem Dafeyn biefer Gegenflände neh
abfirahirt wird, Tann die Liebe nicht verwendet werben.
Diefe Doppelbemerkung trifft freilich nicht den Bel
ſpeciell, fofern feine Debuction der Schöpfung jedem
anderen Verfuche, dieſes Problem zu Löfen, ſich an dit
Seite fielen darf; fie gilt der Schwierigfeit des Broblemd
theologifhe Ethik. 761
ſelbſt, und will nur andeuten, wie wir bier das abfolnt
Befriedigende immer nur fuhen. Sehr klar find die
Erörterungen über die unverweigerliche wiflenfchaftliche
Pflicht, den Begriff einer Schöpfung in einem Stadium
der Zeit ale eine bloße Vorftelung anzufehen.
Es folgt nun $. 41. die Darlegung einer „neuen
Slaffe von göttlichen Eigenſchaften, welche mit
dem Borhandenfeyn der Welt durch Gott ald gemorbener
und noch im Werben begriffener gegeben find für Gott
im Berhältniffe nach außen bin oder zur Welt, bie re:
lativen oder transeunten. Sie ſeyen rüdfichtlid
auf Gottes Seyn überhaupt effengielle, auf den Unter
fchied feiner befonderen modi bezogene hypoſtatiſche.
Uebrigens fey hier die Welt noch allgemein zu betrady
ten, d. h. abgefehen von der fittlihen Sphäre in ihr.
Die effenzieilen relativen oder trandeunten Eigen⸗
Ihaften feyen zunähft negative; Bott if durch bie
Welt nicht befchränft, d. h. unendlich, und zwar un:
ermeßlich, d. h. nicht durch den Raum beſtimmt, frei
von aller Getheiltheit ded Seyns, und unveränders
li, d. h. nicht durch die Zeit beflimmt, frei von aller
Succeffion in feinem Seyn. Bon pofitiven, eſſenziel⸗
Ien, trandeunten @igenfchaften ergibt ſich hier eine einzige.
Die göttliche Liebe beftimme fich zur fchon fegenden Welt
ale Die göttlihde Güte, vermöge welcher er der Creatur
nah Maßgabe ihrer Empfänglichkeit fich felbft mittheilt. —
Die bypoftatifchen, relativen Eigenfchaften find Ei⸗
genfchaften der beiden modi, der göttlichen Ratur und
Perfönlichkeit. Sm modus der göttlihen Ratur ergibt
fih die Allgegenmwart als operativa, daß im Berhälts
uiffe zur Welt Gotted Seyn unter dem Modus der Nas
tur abfolute Wirkſamkeit auf die Welt it, fein abfoluter
Naturorganidmus in abfoluter Wirkfamkeit auf fie ber
griffen und die Welt fihlechthin Object diefer Wirkfams
keit. Auf Die göttlihe Perfönlichleit beziehe fi ein
51 *+
762 Rothe
Daar von Eigenfchaften, aufs Selbſtbewußtſeyn nämlich
die Allwiffenheit undanf die Selbſtthätigkeit bie All⸗
macht; jene ald abfolute Wirkſamkeit des Selbſtbewußt⸗
ſeyns Gottes in feinem Berhältniffe zur Welt, bie Welt
fhlechthin Object des göttlichen Selbſtbewußtſeyns, fo daß
das göttliche Selbſtbewußtſeyn zugleich abfolutes Weir
bewußtfeyn if. Die Allmacht fey abfolute Wirkfamteit
der Selbfithätigkeit ‚Gottes im Berbältniffe zur Welt, zu
gleich abfolute Weltthätigkeit. Allwiffenheit und Almacht
ſeyen die concreten Kornen ber Allgegenwart. Die Un
veränderlichkeit Botted ſey oft fo verflanden worden,
als ob Gott von der Zufändlichkeit ber Welt nicht af
eirt würde, was uur eine Unvolllommenheit, Stumpf:
heit wäre. Vielmehr fey nur zu lehren, baß bie Affec⸗
tionen, weldhe Gott von den Zuftänden ber Welt m:
pfängt, in ihm felbft nicht einen Wechfel von Zuſtänden
nach fich ziehen, denn ihm ift die Welt nicht bloß fo ge
geben, wie fie jedesmal tft, fondern auch in ihrer fünf
tigen Bollendung; auch if fie fchlechthin in feiner Ge⸗
walt, er if feined Zweckes ſicher; endlich ift er von je
dem Geſchöpfe, wie es in der Totalität it, berührt.”
Stellen wir bie göttlichen Eigenfchaften zuſammen,
wie fie vor Berüdfichtigung der fittlichen Sphäre im Sy⸗
fteme des Verf. ſich ergeben, fo zeigt ſich in anderer
Form, was ehedem in der Unterfcheidung von Eigen
fhaften primi und secundi ordinis bei den Dogmatifern
gelehrt wurde, In der Grundbeſtimmtheit ber Gottesiden,
in der Ubfolutheit, feyfchon gegeben (8.8.) die Afev
tät und die Ewigkeit, auch die Einheit und Einfad:
beit, Alles nur verfchieden geftaltete Ausfagen über dad
reine, abfolute Seyn, fomit zur Lehre vom göttlichen
Weſen gehörig. Sehr richtig wird bemerkt, daß bieftd
reine Seyn, wenn von allen befonderen Beftimmtheiten,
von allem Etwasſeyn abzufehen iR, auf pofltive Beilt
nicht gedacht werden kann. Diefes, alled befondern
theologifche Ethik. 763
Etwasfeyn Iedige, reine Seyn wird bann ein zwar
wahrer, aber nur abftracter Begriff Gottes genannt;
dad Etwasſeyn müſſe fchlechthin im reinen Seyn, das die
Füße alled Seyns ift, enthalten feyn, aber nur ale mög-
liched, potentia, ald Macht, abfolute Macht, und
jwar als thätige, d. h. Kraft, abfolut actualifirende
Macht (8.9). So ſey Gott das göttliche Weſen, wel⸗
ches fich felbft actualifire oder zum Werden beftimme, alfo
dad Leben. Er feßt fich felbft, unterfcheidet fih von
fih felbft, indem er das in ihm befchloffene abfolute Ets
was fich vorſtellt, fich bewußt macht; er beftimmt fich als
Subject» Object, Einheit bed Daſeyns und des Gedan⸗
kens — Geift, abfoluter Geiſt. Erplieirt ber Geift ſich
in feine Momente, in gedachte® und geſetztes Seyn, fo
beflimmt er ſich zur geifligen Natur. Diefe fetend
denfend, beitimmt er fih ald Subject, Selbfibe>
wußtfenn, andererfeitdald Selbſtthätigkeit. Nun
it die Perſönlichkeit fertig. Alle bisherigen, im
immanenten Lebensprocefie Gottes vorlommenden Bes
immtheiten find fomit immanente, ontologifche, eigens
thümliche Modalitäten feined Seyns ($. 27.). Die Brunds
beitimmeheiten find: 1) dad göttlihe Wefen, 2) die
göttlihe Natur, 3) die göttliche Perfönlidr
keit. Durch den Nefler diefer Grundbeſtimmtheiten im
görtlihen Selbftbewußtfenn entfieht vom Weſen aus die
Aligenugfamteit, von der Natur aus die Selig»
feit, von der Perfönlichkeit aus die Herrlichkeit.
Eine eben fo klare, ald originelle Entwidelung! Irgend⸗
wie find diefe Beflimmtheiten Gottes immer in ber gött⸗
lihen Weſenslehre, genauer für Gott in feinem Imma⸗
nentfegn verwendet worden; nur daß man bie abfolute
Potenzialität, Macht, mit der trandeunten Allmacht oft
verwechfelt hat. — Richt minder klar und originell wer:
den dann die auf die Welt bezüglichen, fomit relativen
und srandennten Eigenfchaften dargelegt. Sie feyen
764 Rothe
theilö effenzielle, theild Hypoftatifche, d. h. auf die
befondern Modi, göttliche Natur nnd Perfönlichkeit, bes
zogene. Die Örundanfhauung iR alfo: das göttliche
Weſen, noch abfiract, wird concret im Modus der göttli«
hen Natur und Perfönlichkeit. Die effenziellen (abſtrac⸗
ten) Eigenfchaften feyen zunähft negative, Unends
lichkeit, in Beziehung auf den Raum Unermeßlich
feit,aufdieeitiinverändertihfeit; aldpofitive
ergebe fich nur die Güte ald Wirkfamkeit der Liebe auf
die fchon feyende Well. — Wir fommen bier auf die
Frage zurüd, ob ed richtig geweſen fey, die Liebe nü
her zu den immanenten Cigenfchaften zu ftellen Der
Berf. muß nun ausnahmsweiſe bier das ſchon Vorhanden⸗
feyn der Welt betonen und die Güte darin finden, daß
Gott der fhon vorhandenen Creatur fich felbft mittheilt.
Als hypoſtatiſche relative Eigenſchaften im
Modus der Natur wird die Allgegenwart, im Mo
bus der Perfönlichkeit die Allwiſſenheit und AlL
macht gefebt, wieber fehr originell, aber im Syſteme bes
Berfaflers richtig begründet.
Weiterhin folgt nun $.42. die Weltregierung
Gottes, noch abgefehen vom Sittlichen. „Sie vollzieht
fih ale Weltplan, d.h. in der ewigen Anfchauung Got»
tes von ber Idee der Welt, Anfchauung des Ziels und
der Entwidelungeftufen. Goͤttliche Weltregierung iſt die
ſchlechthin allwiſſend allmächtige Wirkſamkeit Gottes, ver⸗
möge welcher er das Spiel der relativ felbfländigen crea⸗
türlichen Potenzen in der Entwidelung der Welt aus
fich ſelbſt heraus fo leiter, daß fich eben mittelft Deffelden
ber unverrüdbare Weltplan in fletiger Annäherung an
das Ziel ſchlechthin unfehlbar realifirt. — Ein fchlechthin
fiheres Borherwiflen der Handinngen auch der freien Ge⸗
fchöpfe ſey Gott nicht zugufchreiben, da diefe der Natur
der Sache nach nicht gewußt werden Fönnen; Borberde
theologiſche Ethi. 765
ſtimmung mäfle feyn, aber nicht des concreten Details,
fondern der Entwidelungspuntte, Das Ziel ftehe feft,
fo wie die organifche Reihe der an fi nöthigen Stu⸗
fen nnd Knoten der Entwidelung ; der weitere Verlauf
fey dem freien Spiele überlaflen, und wie willfürlich ſich
das Spiel der freien creatürlichen Urſachen bewege, Gott
Burchdringe mit feinem Alles zuſammenſchauenden Wiſ⸗
fen ihr für ihn nicht verworrened Gewimmel, falle das
Berhältnig zum Weltzwede ficher auf und habe es in
der Gewalt, dad Spiel jeden Augenblild zu wenden.
Den perfönlichen Ereaturen freie Entfaltung der von ihm
in fe gelegten Selbſtbeſtimmung geftattend, behalte er
fie in der Dand feiner Allmacht; das eigentlihe Reſul⸗
tat ihrer freien Bewegungen fey fein Wert. Nur fo gebe
es ein Beten, Fatum und Zufall aber nicht; fo nur
fey die Welt, das Andersfein, wirklich, nicht doketiſch.“
Aber da der Berf. doch auch nur ein Spiel der
freien Urfächlichleiten ſetzen kann, für welches Ausgang
und Hauptinoten fchlechthin prädeterminirt feyen, fo fragt
ed fich, ob eine in feinem Sinne bofetifche Welt nicht ans
nehmbarer wäre, als diefe zwar wirklichere d. h. von. Bott
Härter getrennte, in welcher doch nichts ald nur ein
Spiel ald das von Gott Getrennte herauskommt. Es
fcheint fogar, als ob Gott felbft mit folchen Ereaturen
nur fpielen könnte. Auch diefe Bemerkung will nur dars
auf binmeifen, daß wie das Hervorgehen der Welt, fo
das freier Urfächlichkeiten. ein Problem if, deſſen Loſung
die Philofopbie noch fo wenig gefunden hat, daß bie
Anfchauung des Verf. füglidy neben die fonft vorhandenen
Verſuche fih ftellen darf.
Der Berf. gibt und nun eine förmliche Loomogos
nie in höchſt merfwürbiger Eutwideluug, fo daß wir
fie fat nicht ind Kurze zufammendrängen und doch vers
ſtändlich erhalten können, Wir müffen ed aber verfuschen,
.
766 Rothe
um ben ganzen Gang bie zur Ableitung des Begrifid
des Sittlichen zu verfolgen.
6.43, „Die Schöpfung ift der Act der göttlichen
Perſönlichkeit, denn fie iſts, welche denkt und ſetzt,
aber fie vollzieht den Schöpfungsact durch die götts
liche Natur, an weldher fie den Gefammtorganidmus
ihrer Wirkſamkeit hat.” 9.44. „Der primitive Akt if bie
Contrapofition des Nichtichs Gottes; die Sreatur wird
beftimmt ale dafeyendes Nichtfeyn, Nichtgeift, d. b. reine
Materie, ſchlechthin unorganifirt, Schatten Gottes, abfolut
Nichtnatur und Richtperfönlichkeit, daſeyende Einheit des
abfolut Nichtgedachten und Nichtgeſetzten. Materie if
das abfolut Nichtgedachte, Nichtideelle, aber als gedacht
und gefeßt, daſeyend. Es iſt der Gedanke des bingli
hen Seyns der Dinge, des Etwasſeyns, des beftimm-
ten Seynd ohne allen Inhalt. Dieß gedachte Nichtding
ift gefeßt, wirklich da, ed it der Raum, die abftracte,
leere Form der Dinge, Ort für diefelben, Leere. Anderer⸗
feits ift die Materie das abfolute Nichtgeſetzte, Nichtreale
aber als gedacht und gefeßt, daſeyend, bloße abſtracte
leere Form des Dafeyne, ohne irgend daſeyenden Inhalt,
ald gefeßt, ald da. Dieß ift die Zeit ale abftract leere
Korm des Daſeyns, das abfiracte Nacheinander, abfracte
Zahl Null, Die reine Materie it alfo der Raum und
bie Zeit al& reine beide in Einem, leer von jedem Inhalte,
unendliche Zeit und Raum, denn jede Grenze wäre Be
ſtimmtheit. Sie find denkbar, aber unvorftellbar, nat
auf negative Weife deukbar.“
6.45. „In diefer reinen Materie gibt fidy Bott alt
göttliche Natur und Perfönlichkeit im Berfolge des Shi:
Yfungeprocefied fein Seyn. In ihe denkt und fegt Gott
Endlichkeit, d. h. Beſtimmtheit des Nichtſeyns an dem
Seyn. Diefe Grundbeftimmiheit behält die Greatur in
allen ihren Entwidelungen; ſie bleibt endlich, räumlich
fowohl als zeitlich, Vielheit Einzelner nach und neben
theologiſche Ethik. 767
einander. Wird die Creatur weiter geführt, ſo werden
Raum und Zeit aufgehoben, nicht an ſich, aber als Schrauke,
fie werden eine überfleigliche Grenze, Auch an Geiſt ges
worbenen Gefchöpfen bleiben Raum und Zeit als die For;
men ihre& Seyns, aber nicht mehr als befchränfende
Formen, der Raum burchdringlich, die Zeit beharrlich.” —
5.46. „Raum und Zeit find auch Beflimmtheiten der fchös
pferifchen Wirkfamkeit Gottes; fie ift eine räumliche und
zeitliche, d. h. eine fih im Raume vertheilende und im
Zeitverlauf vollziehende, ertenfive und fucceffive.?
6.47. „Die reine Materie ift fchledhtweg nur von
Bott gefegt, von ihr abwärts if Gottes fchöpferifche
Wirkſamkeit kein bIo Bes Segen der Ereatur mehr, fons
dern Entwidelung derfelben, Setzen neuer Bildungen
ans ihr felbft heraus vermöge eines ihr immanenten Pros
ceſſes. — Die Ereatur ift eine Vielheit von verfchiedenen
Stufen creatürlichen Seyns, von aus einander heraus er;
wachſenden Stufen und ſich immer höher hebenden Bildungs;
formen, Hierdurch ift fie Natur, es gibt feinen Sprung in
ihr.” 9.48. „Die [höpferifche Wirkfamteit it ein Erheben
ber jedesmal fhon gegebenen Ereatur zu einer höhern
Formation. — Gott ſetzt diefe höhere Formation ald Res
fultat der Differenzirung der frühern Stufe, und zwar
geht dieß fort, bis die Breatur zur vollen Idee entwidelt
it, d.h. zur Ratur und Perfönlicyfeit. Aber wegen ber
Unendlichkeit der Schöpfung if diefe Vollendung der
Creatur nur die einer einzelnen Greaturs oder Beltfphäre;
wir befchränten und auf die irdifche, — Die höhere Stufe
geht immer aus der Auflöfung der nächft niebrigern hers
vor, fo daß diefe das bedingende Subſtrat bleibt. Aue
den chemifch zerfeßten Elementen erhebt fich das Mine:
ral, aud dem verwitterten Mineral die Pflanze, aus der
vermweiten Pflanze das Thier; fo endlich and dem in die
Elemente zurüdfintenden materiellen Menfchen der Gei⸗
flesmenfch, die Beifteswelt.” 6.49, „Obwohl Entwidelungs:
768 Rothe
proceß der Ereatur aus ſich ſelbſt heraus, iſt es ein wirt.
licher Schöpfungsprocch ans Wirkſaukeit Gottes, ein
nicht abfoluter Akt, in welchem ein abfoluter mit gefegt
tft. In den Anfängen neuer Reihen erfcheint ald Wun⸗
der, was abwärts bloße Entwidelung if.” S.50. „Die
Welt iR ihrer Idee nur als die zur Geiſtigkeit vollen:
dete angemeflen; baher muß jede einzelne Weltfphäre
bis zu ihrer Vollendung, an fich betrachtet, auch ald Gans
zes unvollkommen feyn, aber diefe Unvolllommenheit iR
kraft der fchöpferifchen Wirkſamkeit in fletigem Aufgeho;
benfeyn begriffen, ein nur proviſoriſches. Mithin beſteht
die volfländige relative Bolllommenheit der Welt in
jeden ihrer Punkte; dieß die wahre Theodicee, ein
noch nicht fertiges Wert kann nicht vollkommen feyn.”
Nachdem wir die Fodmogonifchen Priucipien bes
Berf, dargelegt haben, mäflen wir noch gebrängter die
Dialektik des Schoͤpfungsproceſſes felbft folgen laſſen $. 51.
u. f. w.
„Sofern die Schöpfung ein Entwidelungsproceß der
Greatnr aus fi felb heraus IR, ift das Probuft eine
Natur, alle Ereatur it eine Natur. Die Scala der in
jeder Sphäre ſucceſſiv hervortretenden Ereaturfinfen er:
gibt ſich aus der dem Begriffe der Materie immanenten
Dialeltil, Die reine Materie geht ihrem Begriffe zu:
foige n Raum und Zeit ald die ihre immanenten Bes
Rimmtheiten auseinander, die aber zugleich in unmittel⸗
bare Einigung gefept find in der Aeonenwelt, denn
diefe ift die Indifferenz von Raum und Zeit, Die Aeo
nenwelt differenziert fich in fich felbft, indem Die in ihr
unmittelbar geeinten Momente, Raum und Zeit, ſich ge
genfeitig beſtimmen und fo mit einander vermitteln. Der
durch die Zeit beflimmte Raum if die Ausdehnung,
die duch den Raum beftimmte Zeit Die Bewegung.
Beider Indifferenz ift der Aether oder dad Chaos.
Der Yether differenzire fih, indem die in ihm zmmittel-
theologifche Ethik. 769
bar geeinten Momente einander beftimmen; die burch
Bewegung beftimmte Ausdehnung iſt die Attraction
und Repulfion, die Welt der Atome, die Durch Aus⸗
Dehnung beflimmte Bewegung ift Die Schwere. Beiber
unmittelbare Einigung iſt das Weltgebäude, die Welt
der gravitirenden Materie. Das MWeltgebäude diffe⸗
renzirt fich, indem Attraction mit Repulfion und Schwere
fi gegenfeitig beſtimmen; jene durch dieſe beſtimmt
it der Stoff, dieſe, dur jene beftimmt, ift die
Kraft, Beider Indifferenz it die elementarifche
und, hemifche Ratur. Diefe ſelbſt wieder differenzirt
fih, indim ihre beiden Momente einander beſtimmen; der
durch die Kraft beftimmte Stoff it der Körper, bie
durch den Stoff befiimmte Kraft it die Individuität
oder Geftalt. Beider Indifferenz ift die mineralifche
Natur, die ſich weiter differenzirt; der durch die Indi⸗
viduität (Geſtalt) beſtimmte Körper if der Organis⸗
mus, die durch den Körper beftinnmte Individuität If
das Leben. Beider unmittelbare Einigung ift die ver
getabilifhe Ratur, die fidy weiter differenzirt; der
durch das Leben befimmte Organismus ift der Leib,
das durch den Organismus beftimmte Leben iſt Die Seele.
Beider Indifferenz it das Thier ale noch unent
wideltes. In dieſem treten weiter Die indifferent gegebe:
nen Momente, Leid und Geele, gegen einander, wodurch
ber Leib der befeelte, die Seele aber die beleibte wird.
Da aber die Seele felbft zweifeitig ift, Bewußtfeyn und
Thätigleit in fich eint, fo wird die gegenfeitige Beſtim⸗
mung von Leib und Seele eine Doppelte Reihe. Der Leib,
wie er durch die Seele ald Bewußtſeyn beftimmt wird,
iR der Sinn, durch die Seele als Thätigkeit aber die
Kraft; umgekehrt die Seele, ald Bewußtſeyn vom Leibe
beftimmt, ift die Empfindung, die Seele, ald Thätig-
keit vom Leibe beftimmt, iſt der Trieb. So zur wirflichen
Einheit vermittelt, entfiehbt aus diefen Momenten das
entwidelte Thier” —
770 Rothe
F. 62 f. „Als die wirkliche Einheit von Leib und
Seele iſt das entwickelte Thier der vollendete Na—
turorganismus; dieß iſt ein abſchließender Begriff. —
Aber die Dialektik des Schöpfungéproceſſes geht weiter.
Die thierifche Seele enthält Bewußtfeyn und Thätigkeit
nur unmittelbar geeint ald Indifferenz in fih. Auch diefe
muß vermittelt werden, indem beide Momente gegen eins
ander treten und fi beflimmen. Dad Bewußtfeyn von
der Thaͤtigkeit heftimmt, ift dad Selbſtbewußtſeyn,
es denkt nun aus eigener Spontaneität, Berftand;
bie Thätigleit aber, vom Bewußtfeyn beflimmt, ift die
Selbſtthätigkeit, Wille Die unmittelbare Eins
gung von Selpfibewußtfeyn und Selbfithätigkeit iſt die
Perſoͤnlichkeit, ein Selbſt, ein Ich, ein Subject;
Selbſtbewußtſeyn und Selbfithätigkeit, in der Seele wirt;
lich vermittelt, geben die vollendete Seele. — Die
Derfönlichleit hat die Seele zur caufalen Bafis, iſt ur
fprünglich das Product bed vollendeten animalifchen Ras
turorganismus, fomit materieller Abkunft, genetifch be
trachtet; aber an ſich betrachtet, iſt fie ein Nicht⸗ ober
Uebermaterielles, Selbſtbewußtſeyn und Selbſtthätigkeit,
ſchlechthin ideell. Durch bie Perfönlichkeit iſt der Ges
danke ale wirklich für ſich ſeyender gegeben; fie geht ale
Product des vollendeten Raturorganiömud über den Ber
griff der Materie hinaus, iſt ein geiftartiges gefchöpfliches
Seyn. — Darum ift ($. 71.) die Perfönlichkeit eine neue
Stufe, die Materie ift Über fich felbft hinausgeführt, hat
ihr Gegentheil aus fich geboren. Der Schöpfungsproceß
war bie zur Stufe der elementarifchen Ratur überwie
gend ein Auflöfungeproceß, von da an Überwiegend ein
Berfnäpfungsproceß, ein Organifationsproceh. Die Ber
fönlichkeit beruht auf fpecififcher Temperirung des mates
vielen finnlichen Lebens, fo daß das durch dieſes gefebte
Ich ih gegen daflelbe behaupten, ed von ſich abhal⸗
ten faun, .bie Autonomie des materiellen Lebens ift ein
theologifche Ethik. 771
gefchläfert. Im Thiere behauptet fich die feelifche Lebens»
concentration noch nicht, wird vom Strome des finnlidhen
Lebens durchbrochen. Im Thiere ift der Leib der Orga⸗
nismus der Seele, bier hingegen iſt Leib und Seele, d.h.
der befeelte Reib Organismus für die Perfönlichkeit, uns
mittelbar die Seele, durch fie aber auch der Leib.” 6.75,
„Mit der Perfönlichkeit if die Macht der Selbſtbe⸗
Rimmung geſetzt. Sie ift bedingt 1) durchs beſtimmte
Heroortreten eines Selbſt oder Sch in dem Einzelſeyn,
als GSentralpunft heraustretend aus der Gefammtmafle
der daſſelbe conflituirenden elementarifchen Punkte, ſich
beſtimmt von diefen unterfcheidend; denn nur wo die
Individuität und der Naturorganismus wirklich ausein⸗
andertreten und ein Sch wird, ift Selbftbefiimmung mög,
ih. Die Perfon ſetzt fich ald dad Nichtmaterielle ih⸗
rem Raturorganismud entgegen und damit dem gefamm-
ten materiellen Naturganzen. 2) Durch die relative Un,
abhängigfeit des Ich oder der Perfönlichfeit vom Natur⸗
organismus, gegen deffen Affectionen fie ſich bejahend oder
verneinend verhalten kann. 3) Daß dem {ich dab Bers
mögen einwohnt, auf den Naturorganismus beſtimmend
einznwirten, ihn ald Werkzeug zu gebrauchen. — So
it das perfönliche Geſchöpf das fich felbft beftimmende,
d.h. feine materielle Natur ift in die Macht feiner Der,
fönlichkeit gegeben (relativ nemlich).”
„Diefe Selpfibeftimmung ift aber noch nicht bie wirk⸗
liche Freiheit, welche erſt ein Product des fittlichen Pro:
ceſſes ift, wohl aber ift fie deren Brundbebingung. Sie
ift die bloß formale Freiheit, das pfychologifche Ver⸗
mögen der Willkür, bei jeder beftimmten Sollicitation
fidy affirmativ oder negativ zu verhalten.”
Nachdem der Verf. diefe dialektiſche Kosmogonie bie
zur creatürlichen Perfönlichkeit fortgeführt hat, kommt
er näher zur Sonftruction des Sittlichen. ir wols
len ihm auch durch dieſes Iehte Stadium folgen. (6.76 ff.)
- 77% Rothe
jenige Geeintfeyn von Perfönlichkeit und menfchlicher Ra
tur, welches volfländig Product der Perfönlichkeit ik,
fen es nun in normaler oder abnormer Weife. 2) Das
Uns oder Nichtſittliche, d.h. dasjenige Geeintſeyn,
weiches ein noch unmittelbares ift, nicht von Gelbfibes
flimmung der Perfönlichkeit her, fey ec nun in normaler
oder abnormer Weife. 3) Das Sittlichgute, db. i. die
in normaler Weife durch Selbſtbeſtimmung vermittelte
and deßhalb normale wirkliche Einheit der Perfönlichkeit
nnd der menfchlihen Natur, 4) Das Sittlihböfe,
widerfittlih abnorm buch yerfünlide Selbftbeftimmung
vermittelte, Darum abuorme wirkliche Einheit — als Pro⸗
duct entweder des fich von der menſchlichen Ratur Bes
fimmmenlaffend ber Perfönlichleit oder des fie abnorm
. Bellimmens der Perfönlichkeit. . Maximum der fittlichen
Vollkommenheit ift alfo das vollländige Zuſammen⸗
feyn des eigentlich Sittlihen und des Sittlichguten; Mar
ximum der Unvolllommenheit ift das vollfländige Zufam:
menfeyn des eigentlid Sittlichen und bed Sittlichböfen;
in der Mitte liegen näher der Vollkommenheit dad Mar»
ximum des Sittlichguten bei dem Marimum des Unſittli⸗
chen, fodann Minimum des Sittlihböfen bei dem Maris
mum des Unfittlihen, nach der Unvolllommenheit bin
das Marimum des Sittlichböfen beim Minimum bed Un:
fittlihen, dann Minimum des Sittlihguten beim Mari»
mum bes linfittlichen.”
Hier ift das zweite Hauptſtück der Einleitung, die
Gruudlegung der theologifchen Ethik, beendigt. Die thes⸗
logifche und kosmogoniſche Deduction gehört zu dem Bes
deutendften, was die chriftliche Theologie neuerer Zeit
als folche religionsphilofophifch confruirt hat. Der Res
ferent wollte es kurz vorlegen, um auf baffelbe aufmerf-
fam zu machen; eine Beurtheilung‘ aber würde ibn zu
weit führen. Er nimmt lieber die Ableitung der Eibif
feld auf und muß wiederholen, daß ber in ber neuern
theologiſche Ethik. 775
Philsſophie beimiſche, dialektiſch gewandte Verf. nicht
nöthig hätte, nur Dilettant in der Philoſophie ſeyn zu
wollen; daß ferner „die Auffindung des Begriffe des
Sittlihen rein ans theologifchen Mitteln, um ihn nicht
von der Philoſophie entichnen zu müflen,” eben doch
durch eine philofophifche Debuction bewerkſtelligt wurde,
wie wir denn wirklich nur den Begriff des Gittlichen,
nicht fpeciell des chriſtlich Sittlichen erreicht ſehen.
Schr intereffant ift wieder das Verhältnis Rothe’ 8
und Schleiermader’s in der Ableitung unfered Bes
griff. Beide haben, auf vorhandene Refnltate oberer Wiſ⸗
fenfchaften nicht fußend, diefe Wiſſenſchaften ſelbſt erſt
durchlaufen und ihrem eigenthümlichen Syſteme gemäß
nen entworfen. Beide gelaugen zu einer ſehr verwandten
Ableitung bed Begriffs des Sittlichen, naddem fie aus⸗
geholt haben beim abfoluten Seyn. Die bdialektifche
Bewegungsweife aber ift verſchieden; Rothe bat fidh
die hegel’fche angeeignet, Schleiermacher befolgt feine
eigene, Diefe formale Verfchiedenheit in der dialektifchen
Bewegung ruht auf einer verſchiedenen Aufhauung und
Behandlung der Begenfähe. Bei Rothe wird jede Ein,
heit in zwei noch unvermittelt in ihe liegende Momente
andeinander gelegt, fobald fie aber, zum Begenfaße, ſich
ſpannend, auseinander getreten find, mäflen fie doch für
einander feyn, auf einander wirken, einander beftimmen ;
jeded Moment nun, beflimmt durchs andere, wird ein hö⸗
beres, 3.8. die reine Materie, das Etwasſeyn ohne
allen Inhalt, iſt Raum und Zeit als imdifferent, unmittel
bar in einander; fie treten auseinander, fpannen fich zum
Gegenſatze, koönnen aber nicht von einander laffen, beftim-
men alſo einander; Raum, durch die Jeit beftimmt, wird
Ausdehnung, Zeit, durch den Raum beftiumt, Bewer
gung. Diefe beiden höheren Momente, obgleich fie aus
einem gefpaunten Gegenſatze durch Wechfelwirkung beider
Blieder entfichen, werden zunächſt wieder — in
Theol. Stud. Jahrg. 1847.
rn Rothe
einander gedacht und ihre Inbifferemte Einheit Aether,
Chaos genannt; aus diefer Indifferenz ſpannen fie ſich
wieder ale Gegenſatz, beſtimmen einauber und erheben
einander wisder zu höheren Momenten, die Dann wieder
zuerſt old indifferent in einander eine beſtiumte Stufe
des GSeyns ausmachen, u. f.w. Die [hleiermader-
{he Dialektik hingegen, wo fie ein Gegenſatzverhält⸗
niß erreicht hat, läßt einfach je das eine Glied Dad an-
dere heftimmen, flellt eines unter bie Potenz des andern
und gewinnt dadurch neue, höhere Begriffe Nach Schle i⸗
ermacder „if jeder Gegenſatz gegeben in der Zwisfäl-
tigfeit dad Liebergewichtö hier des einen, dort des andern
Gliedes.“ Dann folgt auch bei ihm ein Ineinander beis
der lieder, auffaßbar wiederum vom einen ober vom
andern aus, 3.8. dad Ineinander bed dDinglichen und
geiftigen Seyns als dingliches if die Natur, ale gei-
ſtiges aber die Vernunft. Die That des Geifligen
in der Natur if die Gehalt, die des Dinglichen im
der Beruunft ift das Bemußtfeyn — Diefe beiden
Arten von Dialektik find nicht nur formal verfchieben,
auch die Refultate fehen ſehr verfchieben aud. Bei He
gel wird das erſte Moment fa nur Mittel zum böhern
wmeiten, bei Schleiermadher bleibt ed und dauert neben
dem böhern fort. Daher die wichtige Differenz, bag we:
nigſtens Diele, die mit Hegel’d Logik gperiren, die From⸗
migleit night mehr berechtigt, wenigitens nur alö eine
niedrigere, aufgehobene. Geiſtesſtufe fichen laffen, we bie
Wiſſenſchaft erreicht it, während Schleiermacher beide
gleich berechtigt neben einander hat, — Kehren. wir zu
unferm Gegenftaude zurüd, fo begnügte ſich Schleierma-
cher mit einer weit einfachern Ableitung des ethifchen
Begriffe, Rothe hat eine weit complicirtere, dur di
Naturphiloſophie hindurch gehende. Dabei hat der letz⸗
tere fich zicht beguügt mit dem Gegenſatze won Ber:
nunft nad Natur, fondern fehreitet meiter fort zum
theologiſche Ethik. 777
Gegenfabe ber Derfönlichleit und Natur, was wies
ber zufammenhängt mit der Art, wie dort Gott ale das
abfelute Seyn, bier aber ale die abfolute Perfönlichkeit
sehaßt wird, Der Begriff der Perfönlichkeit iR bei Schleis
ermacher vernachläffigt geblieben, Rothe hat ein ent⸗
ſchie denes Berdienf gerade hier ſich erworben; dort iſt
Perſönlichkeit als ein Beſchraͤnktſeyn, bier als das Boll
endetſeyn des Geiſtigen aufgefaßt, darum dort nothwen⸗
dig Gott abgeſprochen, hier zugeſchrieben, ohne daß
darum Schleiermacher Gott niedriger auffaßte; im Ge:
gentheile ſprach er die Perföntichkeit, une weil er fie ale
ein Befchräntendes auffaßte, dem göttlichen Weſen ab,
sicht als fey in Bott weniger, fondern mehr, als das,
was er Derföntichleit nannte. Abgeſehen von biefem Un⸗
terfchieße, daß die Nerfönlichleit da eintritt, wo Schleis
ermacer die Bernunft ſtehen ließ, findet ſich ſonſt volls
Rändige Aualogie im Ableiten des ethifchen Begriffe. Die
Bernunft, geeint der menfchlihen Natur, bei Rothe bie
Derfönlichleit, geeint dem menfchlichen Raturorganismus,
iſt das letzte fchöpferifche Product des Weltproceſſes, zu⸗
gleich über das Natürliche hinaus; nur kehrt fich Der
Proceß um, das von der Natur PBrobucirte, die Vernuuft
oder Perfönlichkeit, wirkt von fich aus anf die Natur,
and: dieß ift der ethifche Proceß. Die Analogie geht
noch weiter, bis in die Definition des Ethiſchen. S chle i⸗
ermader fagt: das Ethiſche iſt das Jueinander von
Bernunft und Ratur, durch Thätigkeit der Vernunft ges
wirft; Rothe: es ift die Einheit der Perfönlichkeit und
der materiellen (heelifchen, leiblichen und Außern) Nas
tur ald Zugeeignetſeyn diefer an jene.
Nun kommen wir zu der Frage zurück, ob der De:
griff des Sittlicheu auch Bas Böfe umfaffe
Darüber iR fein Gtreit, dag die Sphäre fittlicher Weſen,
die fittliche Welt, amd nur fie, beides in fich hat, das
ſittlich Bute und Böſe; ferner, daß diejenige Einigung
52"
718 Kothe
von Bernunft ober Perfönlichleit und Natur, welche durch
den fchöpferifchen Raturproceß hervorgebracht, ſomil eine
unmittelbar gegebene iſt, der natürliche Menſch, wo
nicht das Sittliche ift, vielmehr diefed erſt beginnt, wenn
in der natürlichen Einigung die. Vernunft oder Perföns
lichfeit das Beſtimmende und Thätige wird; endlich iſt and
darüber Fein Streit, daß, wo ber fittliche Proceß einge
treten ift, neben dem Onten, eigentlich Gittlichen, and
dad Böfe vorkommt. Die Frage iſt nur, ob auch das
Böfe fpeculativ begriffen und deducirt werben kann vor
oder mit dem fittlichen Begriffe feld. Schleiermadger
bat nach Bieler Urtheil hierin die Aufgabe nicht befriebi-
gend gelöfl. Er ficht im Gegenfage des Guten und Bis
fen (Entwurf eines Syſtems der Sittenlehre, ©. 91.)
etwas, „das in jedem einzelnen fittlichen Gebiete vorfommt
ald das Gegeneinanderfiellen deſſen, was barin ald In⸗
einander und was ald Außereinander von Vernunft und
Ratur geſetzt it; das Böfe fey an fidy nichts und komme
nur zum Borfcheine mit dem Guten zugleich, inwiefern
dieſes ald ein werdendes gefeht iſt; es fey zum poſitiven
der negative Factor im Procefle der werdenden Einigung,
ein Regativer Ausdrud für das urfprüngliche Nichtver⸗
nunftfeyn der Ratur, bezogen anf das wirklich gewor⸗
dene Ineinander beider, d, h. auf den fittlichen Proceß.
Der Gegenſatz von gut uud böfe koͤune alfo nicht vor
der Ethik feitgeftellt werden, fo daß fie auf ihm ruhte,
fie fey vielmehr die Entwidelung deſſelben.“ Er iſt alfo
nicht vor, oder hinterethiſch, etwa in ber Theologie aber
Kosmelogie fhon vorhanden, „wie wenn es einen Be:
gengott ober eine Antivernunft gäbe, and welcher dad
Böfe herfloͤſſe.“ Im der That, muß man ein böfes Pria-
cip ale ſolches aufgeben, fo fan das Böfe nur am Ent
widelunge&procefie Ded werdenden Buten vorfommen, we
der vor noch nach demfelden. Damit it Rothe eiuwer
fanden, wil aber das Böſe nun wirklich in ber ſpeen⸗
theologiſche Ethik. 779
lativen Ethik als ein am Sittlichen haftendes Moment
ableiten. Gobald wir aber das Böſe ſpeculativ, d. 5,
aus dem Begriffe felbft, ableiten, ſtellen wir ed, wie alles
fpecnlatio Wbgeleitete, in die Kategorie deſſen, was nicht
sufäßig,, fondern nothwendig befleht, Es wäre Daher
zu wünfchen, daß nufer Verf. fich hierüber geäußert hätte.
Er fagt uns freilich (F. 81.), vermöge der unmittelbar ge«
gebenen Ginigung der Perfönlichleit und der materiellen
Natur wüffe es zu einem Bermitteluugsprecefle fommen, -
aber vermöge der Selbfibeflimmung hänge die Mobalis
tät defielben vom Menfchen felbft ab; ed Fönnen das
ber verfchiedene Modalitätdarten vorlommen, und fo
zerlege fich der allgemeine Begriff des Sittlichen in wier
unter ihm befaßte befondere Srundformen. Dieß if
aber keine fpeculative Dednction des Böfen, wir hören
nur, Daß ed vorlommen könne, aber daß es wirklich
und dem ethifchen Begriffe ſelbſt gemäß als eines feiner
Momente vorlomme, ift nicht erwiefen; dad Problem
wird einfach der Selbſtbeſtimmung des Menſchen ange
wiefen, als einem nicht weiter erftärlichen Grunde, Wie
entfiehen dem Berf. die vier Örundformen des Sittlidhen ?
„Es fey ein Unterihieb der Qualität und der Quantität
des Sittlichen möglih. Die Perfönlichleit kann Die mas
teriele Natur beſtimmen begriffögemäß und normal,
oder fie kann ſich von diefer beſtimmen laſſen und, von
diefer beſtimmt, ihre Thätigkeit ausüben, begriffewibrig
und abnorm; fo Fönne das Sittliche ale das Sittlich-
böfe oder als das Sittlich gute gefeßt werben. Neben
diefem Gegenfabe der Qualität feyen die Linterfchiede der
Dnantität vorhanden, d.h. der Gegenſatz bes Wirklich⸗
fitrlihen und bed Unfittlihen, jened ſey das
Sittliche, wie es wirklich durch die Perſönlichkeit ſelbſt
vermittelt and durch Selbſtthätigkeit geſetzt ſey, normal
oder abnorm, dieſes aber ſey dasjenige Geeintſeyn, wel⸗
ches noch ein unmittelbares, noch nicht Prodnct dee Per⸗
780 Rothe
ſoͤnrlichkeit M, ſey es normal oder abnorm; dieß könne
freilich mar ein relatives ſeyn, weil ein Minimum von
Selbſtbeſtimmung dabei ſeyn müfle.” Hier tritt der Us:
terfchied von Schleiermacher Mar heraus; ift nicht die
Thätigfeft der Bernunft, fondern die der Perſönlichkeit
das Sittliche, fo fcheint es möglich, eine normale und
abnorme Richtung der Perfönlichleit anzunchmen, wäh
rend die Bernunft durchaus fein ſolches Inbifferend ſeyn
wi, welches normal oder abnorm, gut oder biöfe haus
dein Fönnte; ferner kann von perfönlicher Seilbſtbeſtin⸗
nung aus mit nngleicher Energie gebandelt werben, —
denn darauf ruht, was der Verf. bie quantitativen Un
terfchiede nennt, vom wirklich Sitttichen bie zum Unſitt⸗
lichen 5; — die Perſönlichkeit als felpfkihätige fan ja nicht
bIöß normal oder abnorm handeln, fondern ihre ſelbſt⸗
thätige Energie kann durchdringend Eräftig oder ſchwach
und etwa auch nur ein Minimum feyn. Aber dieſer gan:
gen Anſchaunng müflen wir entgegen halten, daß die
Derföntichkeit, als ein aus fich ſelbſt heraus, mit Selbſt⸗
thätigleit handeindes Agens, darum eben nicht die legte
Quelle des Sittlichen feyn kam, fondern nur ber Ort
und die Form, in welcher und an welchem ein höheres
letztes Princip erfcheint und chätig auftritt. Daher fümmt
Alles darauf an, ob die Perfönlichkeit in Impulſe diefed
legten Principe handle oder nicht; fie kann vernünftis
und unvernänftig handeln, fomit gut ober böfe, folglich
iR die Vernunft das eigentliche Agens fürs fittlidhe Br
biet, welches in der Perfönlichkeit beginnt. Go Fommen
wir doch zu Schleiermacher zuräd, das Sietliche fey bie
Thätigfeit der Bernnnft im menſchlichen Orgauissns,
wozu er auch den pſychiſchen, auch die ſelbſtthätig per
fönliche Ratur des Menfchen vedmet, alfo die Bermauft,
wirkfam im der Perſoͤnlichteit; diefed Sittliche Fey gleich
vem Begriffe bed Guten; Böfed wntfiche nur, wenn bie
Perföntichkeit zwar felbfethätig wirft, aber nicht das
theologiſche Ethik. 781
Bernünftige als felbfithätigen Impuls im fich aufnimmt.
Bie kaun nun aber ein abnormes, begriffswidriges, ums
ordentliched Handeln fpecnlatio, d. b. ald nothwendig
aufgezeigt werden? Eben darım war die Kirchenlehre
genötigt, dieſe unvermeidliche Nothwendigkeit des Sun⸗
digens an die empiriſch vorausgeſetzte Berwirrung
des normalen Berhältniffes von Vernunft und Perſoͤnlich⸗
keit auzuknipfen, weiche mit dem Sundenfalle eingetreten
fey. Daher fcheint Rothe gerade zu bezeugen, wie
richtig Schleiermacher gelehrt hat, das Böfe laffe ſich
nicht fpeculatio ableiten. Buch mit dem quantitativen
Gegenfate verhält es fich fo; die größere oder geringere
Energie der Gelbfibeftimmung muß empirifch aufgenoms
men werden, ohne baß eine fpecnlative Ethik in diefe
Unterfchiebe eingehen Tann. Es iſt fehr richtig gezeigt,
die wahre Vollkommenheit des Sittlihen finde fih nur
da, wo die Perföntichteit mit voller Energie ſelbſtthatig
auftritt und auf normale Weife, d. h. vernunftgemäß,
wirft; meniger vollfonmmen fey das zwar vernunftgemäße
Handeln, aber mit minder energifcher Selbſtbeſtimmung;
noch weniger vollkommen fey das nicht der Vernunft ge:
maß Handeln, aber bei wenig fich ſelbſt beffimmender
Energie der Perfönlichleit; am alter entfernteften endkich
von der dee fey dad vernunftgemäße und dennoch mit
ſturker Energie felbfithätiger Perfönlichkeit verrichtefe Hau⸗
dein. Aber fo richtig Diefe Unterſcheidungen find, voter
Örundformen, weldhe im Begriffe des Siktlichen befaßt
ſeyen, Pönnen wir fie nicht nennen; es find wur vier ver»
ſchtedene Erſcheinungsarten des menſchlichen Handelns in
Bezug anf den Begriff des Sittlichen. Schleiermacher
nennt dieſe Erſcheirungsarten dad Gute und Böfe, das
Vollkommene und dad Unvolllommene (Gute und Schlechte).
Bei Rothe find fie genauer ‚.forgfältiger anfgefußt, aber
Momente des erhifchen Begriffs find ſie nicht, fonft wüßs
\
782 Rothe
ten fe als Theilungsgründe verſchiedener Seiten des
ethiſchen Proceſſes ſelbſt auftreten.
Endlich im dritten Hauptfiäde der Einleitung
wird bie Methode und Eiutheilung der theole:
sifhen Ethik behandelt ($. 88— 95.), in weſentlicher
Anfchließung an Schleiermacher. Die drei form
Leon ethifchen Begriffe: Güter, Tugenden und Pflich⸗
ten, in deren jedem dad ganze Gebiet des Ethiſchen zur
Darftellung komme, je in eigenthümlicher Form.
Unfere Anzeige muß fich für einmal beguügen mit
der Grund legenden Einleitung Wir wiederholen, daß
dieſe eine andgezeichnete Leiftung fey, Durch Klarheit, Prä-
cifion, Scarffiuu und Tieffius hervorragend. Die reli⸗
gionsphilofophifche Eutwidelung ift originell, in ihrer
dialektiſchen Fortfchreitung gefeßmäßig verlaufend, in den
Refultaten oft Überrafchend. Die Ableitung des Ethifchen
ſelbſt nimmt Schleiermacher's Leiſtnugen vollländig auf,
firebt, über fie hinauszugehen, nnd weiß, weſentliche Bes
griffe. fhärfer zu geflalten. Auch wo der Referent wicht
überzeugt worden iſt, muß er dad Bedeutende in dem
Streben ded Berf. anerfenuen. Für jet bleibt Referent
der Auficht, Daß eine befondere fpeculativ theologiſche
Ethik im chriſtlich⸗ evangeliſchen Charakter nicht auffleh-
bar if, und daß das Böfe nicht ein im Begriffe des
Sittlihen enthaltened, fpeculativ ableitbared Moment
ſey; daB das Sittlihe nicht ald Action der formalen,
ethiſch indifferenten Perfönlichleit, fonbern der im Dres
nismus perföulich gewordenen Bernuuft zu beftimwen
fey ; endlich, daß der Verf. den Begriff des Ethiſchen in
ber That philofophifch and dem allgemeinen Bewußtſeyn,
fomit nicht im Unterſchiede hiervon rein aus eigenen Mit
tels ber chriſtlichen Theologie abgeleitet habe. Abgefehen
von diefen Differenzen, hat,der Referent dem Berf. aut
beiftijmmen können und dankt ihm für die reihe Körbe
theologiſche Ethik. 783
rung der Ethik. Möge er ſich entichließen, eine Religi⸗
onephilofophie ausguführen, woburd er bei fo ausge⸗
zeichneten Befähigung der Theologie unferer Zeit einen
großen Dienft leiſten würde, wie er jedenfalls andy für
die Ethik auf fehr bedeutende Weiſe gearbeitet hat.
D. Ber. Schweizer.
2.
Der deutſche Proteſtantismus, feine Vergangenheit und '
feine bentigen Lebenöfragen im Zufammenhange der
gefammten Rationalentwidelung beleuchtet von einem
deutfchen Theologen (Frankfurt a. M. Druck uud
Verlag von H. 8. Brönner. 1847,).
Nicht um eine eingehende Recenſion dieſer ausgezeich⸗
neten Schrift zu liefern, auch nicht am eine gründliche
Prüfung ihrer Hanptfäge vorzunehmen, fondern um das
theologifche Publicum unfererfeitd möglichft bald auf die⸗
ſelbe aufmerkſam zu machen, wollen wir es verfuchen,
fie kurz gu charakterificen. Sie If aus einem Bebürfs
niſſe entftanden, das die ganze Zeit mit ihr theilt. Iſt
ed die Anfgabe unferer Zeit im Allgemeinen, auf bie
letzten Gründe in allen Dingen zurückzugehen, fo iR es,
nachdem die Zeit wieder religiös geworben if, ihre Aufs .
gabe im Beſonderen, die Religion in ihrem Wefen, ihren
innerfien Wurzeln zu erfaffen. Da nun aber der Pros
teſtantis mus unbeflritten die dem jeßigen Bewußts
feyn adäquatefte Religiondform ift, fo hat nnfere Zeit
and mit Recht dad Wefen des Proteflantismud aufs
Reue in ernſte Unterfuchung genommen. Wir erbliden
zunächſt in dem Berfafler einen fräftigen, geiſtvollen Wit
arbeiter anf diefem großen Arbeitsfelde. Er hat zwar
nicht das gelehrte Grabſcheit zur Hand genommen,
7er Der beutfihe Protelanttemus,
fehlt «3 ja auch an Solchen wicht, die diefen Dienſt der Zeit
leiten; Daflix arbeitet ee aber mit einem Auge voll der
feinfien Beobachtung, das eben fo ſcharf in die Höhen
wie in die Tiefen bringt, und es ift dem Ref. noch ſel⸗
ten ein Bach vorgefommen, das an treffenden Bemerkum:
gen, finnigen Gedanken und lichtvollen Einblicken reicher
gemwefen wäre,
Das Alles zwar dient nody nicht dazu, die wefent-
lich ſte Eigenthümlichkeit des Verf. zu bezeichnen, und
ihn von allen feinen Borgängern und Mitarbeitern zu
nnterfcheiden. Diefe beſteht vielmehr darin, daß er den
Proteſtantiomus nicht bloß auf feinen religiöfen Im:
halt bin anfieht, fondern in fietem Zufammenhange mit
dem dDeutfhen Nationalleben betradtet. Es ik
darum auch der Beutfche Proteſtantismus, mit dem es
der Berf. allein zu thun hat. Er ſelbſt nennt ſich einem
„dentichen Theologen.” Wir haben gewiß auch fein Recht,
dieſes Pröüdicat in Zweifel zu ziehen, ba feine Schrift
die entichiebeuften Beweife für eine gründliche theolegis
ſche Bildung enthält Er ift aber nicht nar Theologe,
er iR in einem gewiffen Sinne uud Staatswann; umd
eben fo iſt ihm die Reformation nicht etwa nur ein Wert
ber Theologen, fondern eine große nationalgeſchichtliche
Thatſache (S. 6.). Darum will er die Lebensfragen des
Proteſtantiomus von den Lebenöfragen der deutſchen Ra
tion anch nicht getrennt wiſſen.
Die beiden erſten Adfchnitte des Baches, zumal
der zweite, haben vornehmlich den Zweck, nachzuweiſen,
wie der Proteſtantismus wegen feines eigenthümlichen
Sufammienhanged mit dem GStaatdleben den „modernen
Antihriflfianismne” zur Folge haben mußte.
Der Berf. kommt zu dieſem Reſultate, indem er von der
Grundanfhaunng ausgeht, der Proteſtantismus habe wr-
fpränglich und feinem eigentlichen Weſen nach „im ber
leberndigen Syntheſe des freietten uud ſcharfſten im:
feine Vergangenheit u. feine heutigen Bebenäftagen zc. 785
telleetuellen mit dem reinften und tiefſten ethifchen
Geiſt eꝰ beſtanden (S. 44). Die großen Mißverſtänd⸗
niffe, welche über das Weſen der Reformation herrſchen,
leitet er daher, daß daſſelbe gewöhnlich einfeitig aus
einer Auftehnung „des intellectuellen Geiſtes wider ben
intelectuellen Zwang” ertlärt werde (8. 171.), während,
nach feiner Uebergeugung, der Quellpunkt des Proteſtau⸗
tismus nicht im Wiffen, fondern im Gewiſſen gu
ſuchen ift. Die Reformation if ihm eine That des ſitt⸗
lich in feinen Tiefen erregten Volksgeiſtes, die auch nur
ein echter Bolldmann wie Luther durchführen Tonnte,
And dem Bewiffenddrange ergab fih bei Luther ber
Rüdgang auf die h. Schrift, und der ethifche Geiſt der
Reformation, der keineswegs den Humaniſten zu vers
danfen ift (S. 57), befreite den intsllectuellen aus den
Feſſeln der kirchlichen Antorität.
Diefer et h iſche Bolfögeift, der im Aufange ber
Reformation nrfräftig durdhpedrungen war, wurbe im
Staat und Kirhe — das hat der Verf. fhön nachg ewie⸗
fen — bald wieder von dem intellectuellen unvolhöthäulis
chen zurückgedräugt und niedergehalten. Diefe Aufchaus
ung ift nicht gerade durchaus neu; RB. Menzel bat fie
zu wiederholten Malen ausgeſprochen, auch feiner „Bes
fhichte der Deutfchen” zu Grunde gelegt; allein darch⸗
aus men und eigenthäimlic, if die ‘Methode, welche der
Verf. einſchlägt. Die Parallelen, bie er gwifchen ben
Zuſtäͤnden des Staates und ber Kirche zieht, find ſchla⸗
gend. Leberall Kodt im Volke das Beben und zieht ſich
and bem Körper nach dem Daupte oder vielmehr den
Hänptern zurück. Der vielgegliederte Organisuns des
mittelalterlichen Ständeweiend bhöſt fih anf, Alles con⸗
centriet ich in den Fürften und ihrem Beamtenheere, das
zuletzt Den abfiraeten Beamtenſtaat bildet. Auch die Kirche
geht in dieſem Benmtenfiante auf oder unter: Das Zw
tereſſe an der Religion hört immer mehr auf, ein pratr
786 Der dentſche Proteftantiömus,
sifches, ethifches zu feyn, und dient nur noch dazu,
den Reiz wiffenfhaftliher Erkenntniß zu befriebis
gen (S. 6.). Go geht bie Synthefe des Proteſtantis⸗
mus, fein urfprüngliched Wefen, verloren; ja ſelbſt der
fpener’fche Pietiömne, fo fehr er die theologifche Baſis
bed Proteſtantismus wieder berzuftellen fuchte, drang
sur urfprünglichen Synthefe nicht wieder vor, weil er
das Befühiselement einfeitig ansbildete uud die Unwiſ⸗
fenfchaftlichleit beförberte (S. 101.).
Bar nun einmal das religiös fubftantiele Jutereſſe
einfeitig auf den Boden ber Schule Übergetreten, fo war
ed nach ber Anficht des Berf. au natürlich, daß das
Ehriſtenthum ſich gefallen laffen mußte, im Rationas
lismuas nad den Forderungen einer Schale behar⸗
delt zu werben (S. 104). Das wiffenfhaftlidhe Im
terefie am Pofitiven war in fich verfiegt, von dem Al
tern Proteſtantismus nur ber negative Factor übrig ger
blieben, „die Britifche Unruhe am Buchladen der Schrift,
aber wicht die Eritifche Unruhe an den Pulöfchlägen des
eigenen Herzens” (S 104.). Das Alles hält mit dem Ban;
‘ge, den das bentfche Leben überhaupt nahm, gleichen
Schritt. Die Symbole und Die anf ihnen ruhende Dog»
matik laßt man noch ſtehen, wie man Das dentfche
Reich nicht gleich abfchaffte, fondern fo gut wie möglich
noch ſtehen, d.h. verfallen ließ (S. 108.). Das misi-
sterium verbi, das immer nur docirt hatte, ward jeht
recht eigentlich ein „Schulamt und Uufllärungsapoftelar”
(®&.107.). In diefe Leere hinein Fam „KRauts Mofee”
(&.116,) immer noch wenigſtens ald ein „Zuchtmeifter auf
Ehriktum.”
Der Berf. hat einlenchtend dargethan, wie im den
Befreiungstriegen mit der nationalen Wiederbelebung auch
die urfprängliche Syntheſe des Proteſtautismus ſich wies
der heuzuftellen deginut. Aus der Hemmuug der uationa-
len Fortentwidelung fucht er dann auch die wieder eintre⸗
feine Bergangenheit u. feine heutigen Lebenofragen zc. 787
tende Hemmung des kirchlichen und religiäfen gefunden
Lebens zu erflären. „Leber dem Bellapper der Mafchine,
der Wachſamkeit über fie, vergaß man, daß der Gtaat
feintr Natur nach keine Mafchine, ſondern ein ſittlicher
Organismus iſt“ (S. 135.).
Der Beamtenſtand ſchließt ſich aufs Nene von der
Nation, dem Volke und ſeinen Jutereſſen ab. Die Wiſ⸗
ſenſchaft wird ebenfalls unvolksthümlich. Die Nation
wird auf eine rein litterärifche Eriſtenz zurückge⸗
drängt (S. 148.). Der Polizeiſtaat und wit ihm ber en»
demifhe Antichriſtianismus erreicht feine Voll⸗
endung (S. 167.).
Diefe reine abſtracte Intelligenz in ber ganzen Ent⸗
leerung von praktiſch Träftigen, begeifternden Motiven
beberrfcht nun excluſtv gerabe die fähigften Köpfe unter ber
Jugend, und ed bildet fidy nady dem Ansdrucke des Verf.
eine „intellectuelle Schwelgerei” aus (S. 177.). „Jede
Sphäre des Lebens hat für diefe intellectuellen Schwel⸗
ger nur uoch Intereffe als Object des Wiſſens.“ Jede
andere Antheilnahme an dem Stoffe als bie wiffenbe, jede
andere Beziehung beflelben als die auf das wiffende Sub»
ject und feine Beiftedgenofienfchaft liegt fern, Cinfeitiger
Hang nah Sättigung und Schärfung bed intellectuellen
Geiſtes zehrt jedes audere Intereffe anf. Wie den Alten,
fo auch den Jangen gebricht ed an dem rechten Bewußt⸗
feyn von jenen Aufgaben, welche hart an ben Mann
gehen. Der. fcheinbare Dienft an der Sache wirb ein
bloßer Dienft am Sch, ein Selbſtdienſt, ein geiftiger Epi⸗
kuraismus, ein Spiel des feiner Birtuofltät ſich bewußten
theoretiſchen Beifled” (S.186.), Wie trefflicdh it mit
diefen Sätzen das moderne, „and aller praktiſchen Bes
giehung zu feinem Stoffe gerathene” Schriftſtelerthum
eines David Strauß und feiner Beifteöverwandten ger
ſchildert! Und er war noch der Bee von ihnen. Er
788 Der dertſche Viroteflantiäumns,
hatte, wie ber Verf. richtig bemerkt, doch ein reges In⸗
tereſſe für die wiſſenſchaftliche Arbeit am Stoffe; Andere
fuchten unr Beförderung, Ehre, Geldgewinn. „Go enis
Rand die Claſſe des gemeinen litterarifchen Subiertd ohat
Scham, Ehrgefühl und Bewiffew” (S. 181.)
So wardein Bruno Bauer möglich, der die „Ihee
logiſchen Schamiofgkeiten” der Welt euthälte nnd in
der Stigmatiſirung der „Pectoraltheologie“ ſelbſt der
Fleck verrieth, wo es ihm und Seinesgleicher
vor Allen von jeher gefehlt hat (S. 182.). Em
ber negativen, Britifch zerſetzenden Geiſter überholte jeh!
den andern. „Um der Gottheit des Ichs willen” , fagt bei
Berf. ſchön, „gab man das Ich der Gottheit hin, ud
zöſte Beide anf in die Dialeknt des im der Verſchie⸗
denheit feiner Momente feiner Einheit fich bewußt blei⸗
beuden Weltgeiſtes, fo daß man mit der Perſoͤnlichleit
Gottes auch die eigene Perfönlichkeit und umgelehrt sit
der eigenen auch bie Perſoͤnlichkeit Gottes verlor” (S. 185.)
Die „freie Sittlichkeit” fchwelgte in „Haremöpkantafere”
zeh flürzte hinab zum plumpfien, gemeinften Matericlid
mus, der fchon in Feuerbach mit Baden, Eſſen und Tru
Sen ein neues Dreigeflirn an bie Gtelle des chrifllicher
Glaubens, Liebens und Hoffens geſetzt hatte. GEs iſt aid
. übertrieben, wenn der Berf. davanf hindeutet, daß Ab
allmaͤhlich durch Die livertät, mit welcher das roh pas
theißifche und atheiftifche Thema unter und ausgebertet
wurde, bie Elemente zu einer Gemeinde bes „Bolt U
und,” zu einer luſtigen Benoffenfchaft von „Brüdern um
Schweſtern des freien Beiltes,” zu einem Zion im Stole
von I. Bodhold aus Leiten, gefammelt haben (S. 200.)
Db aber, fragt er, biefe pantheiftifchen Neigungen, di
Gettheit in die Maunichfaitigkeit ihrer Momente gerfir
Gen, ihr kein freies Chen, fondern nur ein Wiſſen sad
Dem Willen won Aid, ſeibſt Abrig zu laſſen, nicht in eine
nahe urfächliche Verbindung zu bringen feyen mit ber
feine Vergangenheit u. feine heutigen debenäftagen ıc. 789
ebenfalls bloß momentlich zerfließenden, zu Allem wur.
wiffend fich verhaltenden Exiſtenz des ——— in
unferem Staatöieben?
Niemand, der diefen eigentlich wichtigften Thatl der
geiftuchen Schrift uufered Verf. auch nur in biefem ge⸗
drängten Auszuge kennen gelernt hat, wird der. tiefen
Bedeutung des Geſagten, den mächtigen Wahrheiten,
die mit edler Aufrichtigleit audgefprochen werden, feine
Anerkennung verfagen. Möchte Die Gegenwart nur Ob
ven haben für den Klang fo faster Worte!
Dagegen find dem Ref. in Beziehung auf einige
Punkte Bedenken aufgekiegen, die bei näherer Ueberle⸗
gung nicht recht weichen wollten, über die er fich gern
mit dem trefflichen Verf. verfländiger möchte. Und mo
ſollte Berkkändigung leichter ſeyn, als wo man ſich im
Innerſten eius weiß? Bon foihen Bedenken wären vor⸗
nehmlich zwei hervorzuheben,
Der Berf. laͤßt das Weſen des Proteſtantismus in
einer nrfpränglichen Syntheſe des intellectuellen und ethi⸗
ſchen GSeiſtes befiehen. Die tiefe Wahrheit, die hierin
liegt, wi Niemand verkennen. Ob aber dad Weſen
bed Proteſtantiomus damit erfchöpft ſey? Ob ih der
Berf. nicht allzu einfeitig anf den anthropesogiichen Stand
punkt geſtellt hat? Faſt fcheint und der Berf. allzu fehr
nach jener Anfchanung fih hinzumeigen, welche das Bw
fen ded Proteſtantismus einfeitig nur in die Befreinng
des Subjectd, in die unbedingte Subjectivität ſetzt.
Wohl ift er ſelbſt für feine Perſon tief ergeiffen von ber
objectiven Wahrheit des Chriſtenthums. Sein Bes
wiffen findet nur im Erfaflen und Feſthalten dieſer
Wahrheit Befriedigung, weil es von berfelben objectiv
getragen ift. Allein daß die Anerkennung, dad Erfaſſen
einer objectiven, gegebenen, geoffenbarten Wahnbeit
sum Weſen des Proteſtantismus gehöre — hat ber
Berf, nirgends ausdrüdlich gefagt. Er befämpft nur die
7% Der deutſche Proteflantiöumns,
‚einfeitige Südjectivität des intellectnellen Gei⸗
ſtes, aber nicht die ſynthetiſche, Die er vielmehr für das
wahre Wefen des Proteſtantismus erflärt.
Nun fey es ferne von uns, zu beftreiten, daß bie
Gubjectivität ein weflntlihed Moment dei
Peoteftantidmus bilde. Hierdurch unterfcheibet er ſich ja
gerade vom römifchen Katholicismus, der das Gubjet
einer fremden, außer ihm befindlichen Autorität eimfeitig
unterwirft. Allein dem Proseflantiemund it eben fo
wefentlih Die Dbjectivität eigen, nur wicht die
Rarre, änßerliche, fondern die fubjectiv vermittelte, Wir
tönuen und 3.8. keinen Proteſtantismus mehr deuken,
wo die objective Autorität der h. Schrift, wenn
auch aus fubjectio noch fo ehrenwerthen Gewiſſens⸗
gründen, .fchlehthin verworfen wird. Und es wir
uns ein Proteſtantismus, der diefe Autorität wur their
weife und fehr bedingte zu ihrem Rechte kommen läßt,
eben fo mangelhaft erfcheinen als ein folcher, der dem
Subjecte den freien Gebrauch feiner Intelligenz oder ſei⸗
ned Bewiflend verfagt. Ein Thamer z. B. mit feine
Gewiſſensreliglon, die Kid gegen die ShMt erklaͤrte,
wird uns nimmermehr ein eben fo wahrer Nepräfenton
bed Proteftantiömus ſeyn können, aldein Luther, welchen
fein Gewiſſen in die Scheift trieb. Man darf nie ver
geffen, daß die Gubjectivität nicht nur die Stärke, few
ders auch die Schwäche de6 Proteſtautiöomus iſt; uud dem
Mef. will es gerade als bie höchſte Aufgabe ber Zeil
erfcheinen, zu einem dergeſtalt objectiven Berftänbnift
des Proteſtantismus durchzudringen, daß das Subiel
darin feine Befriedigung findet. Hierfür ſcheint und and
bie Erfahrung zu fprechen, welche beweiſt, daß die neue
sen Eutwidelungen des Proteſtantismus mit verfärzter
oder gar anfgehobener Objectivität Feine Befriedigung
gewähren können. Die Geſchichte des Pietismus wie
feine Bergangendeit u. feine heutigen Lebensfragen. 791
des Rationalismus dürfte in diefer Beziehung maßge⸗
bend ſeyn. a
Und ſollte nicht auch die einfeitige Entwidelung des
beutfchen Volkes darin ihren Grund haben, baß der Ins
dividualismus dieſelbe immer beherrſcht und bie
dauerhafte Verbindung des Zufanmengehörigen verhins
dert hat? Der römifche Katholicismus hat feine Kraft
an feinem Univerſalismus. Die Kraft ded Proteflanties
mus bricht fih an feinem Individualismus. Jener fors
dert unbebingte Unterwerfung bed individuellen Gewiſſens
unter die überlieferte Autorität, Das ift der Tod der
religiöfen Gewiſſenhaftigkeit. Sollte aber der Proteſtan⸗
tismus das Gewiflen von aller Autorität frei geben?
Das wäre der Tod der kirchlichen Gemeinfchaft. Es
muß bier ein Drittes geben, das über beiden Ertremen
Recht und fie fomit überwunden hat — ein objectives
Gewiffen der Kirche, das, weiter und freier ald das
fubjectioe der Individuen, and) mehr zu ertragen vermag
und verfchiedenartige Richtungen, wenn fie nur in dem
einen Grunde wurzeln, duldet und zur Eutfaltung kom⸗
men läßt. Diefem objectiven Gewiflen ald dem weiteren
und freieren hat fih dann das fubjective zn unterwerfen,
ohne feine Eigentbämlichkeit und Befonderheit damit auf⸗
zuopfern. Es gibt feine wahre Freiheit ohne
Gehorfam; der wahre Gehorfamift aber ein
freier. ?
Diefed objective Gewiffen der Kirche, dem das
individuelle Gewiſſen fih dis auf einen gewiſſen Grab
freiwillig unterorbnet, fcheint dem Proteſtantismus
immer gefehlt zu haben, Die Orthodoxen waren fubjec-
tio ansfchließlich wie die Nationaliften. Wegen Mei-
nungen haben die deutſchen Theologen ſich immer ger
sanft und wegen Anfichten verfeßert. Zugegeben, daß
ed diefen Gelehrten Gewiſſens face gewefen ift, gegen»
feitig fo zu verfahren, fo ift ed eben fehr zu bedauern, daß
Theol, Stud, Jahrg. 1847, 58
792 Der deutſche Proteflantismus
ed an einem objectiven, über den Parteien ſtehenden De:
derator gefehlt hat, daß dem individuell geftaltenben Triebe
Alles anheim gegeben war. In berfelben individualiſti⸗
fhen Mißbildung liegt auch bie Urſache, warum es den
Deutfchen feit drei Jahrhunderten an einens rechten
Volksg eiſte gefehlt hat, Wo Jeder Recht haben wil,
behält am Ende Keiner Recht. Individuen bringen wohl
Gedanken, aber Feine Thaten zu Stande. Der Einzelne
muß ſich ſelbſt bebersfchen und ſich ſelbſt hingeben für:
sen, wenu dad Ball bereichen fol. |
Außerdem wollte fih noch ein gweites Bebentn
nicht ganz abweifen laffen. Der Verf. hat trefflich nad:
gewieſen, wie mit der religiöfen auch die nationale Bers
ödung gleichen Schritt hielt. Hieraus fcheint mit Sicher⸗
beit der Schluß gezogen werben zu können, daß ein
sationale Erhebung auch eine veligiöfe zur Folge haber
müßte. Der Berf. zieht biefen Schluß und macht bie
Neubelebung ber Kirche von einer befriebigenden Löflang
ber politifchen Frage abhängig. Wir wollen bie Mög
lichkeit einer folden Solidarität zwifchen Kirche und
Staat nicht beftzeiten,, den ethifchen Werth einer natiw
nalen Erhebnug nicht verkleinern — und doch wii ed und
bedenklich fcheinen, won ber Löfung ber politifchen Frage
die Löfung der kirchlihen abhängig zu machen. Daß da
mit die kirchlichen Intereffen ſtaatsmänniſchen Rückſichten
zu fehr ausgeliefert werden müßten, wollen wir nur kur
berühren. Allein dem Ref. will ed Überhaupt fcheinen,
daß der Proteftantismud im kirchlicher Sinficht immer
viel zu viel von politifchen Eventualitäten abhängig ge
weien iſt. Die Kirche vom Gtaate — wenigſtens von
der directen Einwirkung des Staates — mehr zu befreien,
ihr eine möglichſte Selbfländigfeit mit eigenen Organen
zu geben, fie fih zu einem Lebensorganismus burdar-
beiten zu laffen, fie in biefer Arbeit fo wenig. ald mög
lich zu behindern und zu flören — das fchiene und fir
feine Vergangenheit m, feine heutigen Bebendfragen. 793
der Angenbli@ das Angenteffenfte und Heilfamfte zu feyn.
Dolitifgen Reformen kann und fol die Kirche nicht ab⸗
geneigt feyn, aber fie folk auch ihr Heilin denfelben nicht
fuchen,, und nie vergeflen, daß fie von dem Augenblide
an zu verfommen anfing, ale fie vom Staate gemobelt
wnrde. In England fehen wir unter demfelden Scepter
die ariftofratfche high church und bie fchottifche freie
Kirche erblühen: In der Schweiz birgt diefelbe ultras
demofratifiche Staatöferm den geifteöträgen Papismus
der Inneren Bantone und den Independentismus ber freien
mwadtländifhen Kirche in ihrem Schooße. Damit, daß
in thesi feine der beiden Kirchen irgend einer Staatsver⸗
faffung einen abfoluten Vorzug vor der anderen zuerkannt
babe, {ft auch ber Berf. (S. 495.) einverflanden. Und
wenn er felöft einmal fagt, daß uns Kein Maßflab an
die Hand gegeben fey, „mm über biefe oder jene Staats⸗
form im Namen des Chriftenthums richtend den Stab zu
brechen” (S. 513.), ſollte uns diefe fo richtige Erwägung
nicht zurüdhalten, an gewänfchte, vielleicht auch wünſch⸗
bare politifche Umformungen die Zutunft der proteſtan⸗
tiſchen Kirche ansfchlieglich anknüpfen zu wollen ?
So wenig Ref. diefe Bedenken unterbrücden wollte,
fo wenig konnten fie ihm übrigens den Genuß der treffli⸗
hen Schrift fhwäcen, ja ed wäre nicht einmal ein gu⸗
tes Zeichen, wenn ein fo eingreifended Buch ohne allen
Inneren Widerſpruch bis zu Ende gelefen werben fönnte.
" Bon den bisher befprocdyenen allgemeinen Geſichts⸗
punkten aus fchreitet nun der Berf. zudem britten und
legten Abfchnitte, den Firchlichen Lebendfragen der Ges
genwart, vor. Nach dem Borausgefchidten wird es uns
um fo leichter werden, un bier zu orientiren.,
Der Berf, beginnt mit dem Pietiömmg, nicht ohne
guten Grund, da bie Oppofition gegen die ftarre Objec-
tioität und Alleinherrfchaft de Dogma's zuerfl von ihm
ansgegangen Hi. Manches Fönnen wir hier gerabezu nur
; 63 *
79% Der deutfche Proteflantismus
unterfchreiben, fo wahr und treffend tft es gefagt. Mit
wie großem Rechte erinnert doch der Berf. daran, daß
der Pietisſsmus zuerft dem Volke die Arme wieder ge
öffnet habe (S. 245.), wenn er andy feine Kreife bald
wieder enger zog und flatt einer großen Volkskirche nur
Heine Bemeindelirchlein in6 Leben rief! Wie wahr ifl ed,
daß, „wenn einmal ernftlich nach dem Kanon: zeige wir
deinen Glanbden an deinen Werken, genrtbeilt werben
ſollte, e6 feinem Zweifel unterliegen würde, gu weſſen
Bunften die Wagſchale finfen dürfte, ob zu Gunſten dei
Pietismus oder feiner wider den landen auf die Werte
pochenden Gegner” (S. 247.) Uebrigens ift der Verf.
auch gegen die Mängel des Pietismus nicht blind. Er
weiß auch von einem „voulgären Pietiömus” gu veden,
der den „wiffenfhaftlihen Kortfchritt zur freien
MWiedererzeugung des Pofitiven” nicht repräfentiren
fonnte und niemald können wird,
Diejenige theologiſch⸗kirchliche Richtung der Gegen
wart, welche diefe Aufgabe übernommen, wirb daher
befonders befprochen. Je mehr gegenwärtig die Männer
biefer Richtung von verfchiedenen Seiten ans in ihren
Beftrebungen verfannt und mißadhtet werben, deſte er
freulicher mag für fie die Anerkennung feyn, welche ihnen
ein Mann: wie der Berf. zollt. Er findet gerade in
biefen Männern, unter denen er einen Nitzſch, Ullmann,
Lüde, 3. Müller, Marheinede, de Wette u. f.w. nam
haft macht, den „unleugbar tüchtigen und im Allgemei⸗
nen richtig geleiteten Trieb dogmatiſcher und ir,
liher Reugeftaltuug,” während freilich bas „we
derne Bewußtſeyn“ mit der von diefen Männern auge
bahnten Neugeftaltung fich bereits fehr unzufrieden zeigt
und diefelbe ganz- anderswo ſucht. Sehr gut fept der
Verf. die mannichfahen Hemmungen, welche dieſe Rich⸗
tung zu bewältigen, die Schwierigkeiten, mit bemen fe
zu kämpfen hat und die zum Theile auch im ihr felbh
.m m. -- . —X ——
feine Vergangenheit u. feine heutigen Lebensfragen. 795
liegen, auseinander. Dan darf nur daram denken, in
wie verfchiedenartigem Simne anzegend Schleiermacher
gewirkt hat. Nichte deſto weniger glauben wir, hat ber
Berf. ganz das Richtige getroffen, wenn er bie Zu.
fusft der Kirche unverleunbar indiefen Häns
den liegen fieht. Aber auch darin hat er Recht, wenn
er die Aufgabe dieſer Richtung dahin bezeichnet: fie habe
nicht bloß litterärifc, und nicht bloß firchlich gu ſeyn, fons
dern Die Syntheſe des Proteſtantismus kräftig zuſammen⸗
zuhalten, einerſeits die gefunden Elewente des Pietismus
und der ältern Orthodoxie ſich lebendig zu aſſimiliren,
andererſeits poſitive Schaͤtze aus dem fortgefehten Pro⸗
ceſſe kritiſcher Wiſſenſchaſt zu Tage zu fördern €G.257:).
Auch über die theologifhe Reaction der Gegen,
wart hat der Berf. fehr Beachtenswerthes gefagt. Den
gewöhnlichen Begriff der Reaction, den man. in den abs
firacten Kategorien des Rüdwärtd im Gegeufage zum
Vorwärts, des Niten im Gegenſatze sum Nenen, des
Pofitiven im Begenfabe zum Negativen, des Geſchicht⸗
lichen im Begenfage zum rein Tudeelen zu fuchen pflegt,
bat. er mit vollſten Rechte verworfen, Er ik der Mei⸗
nung, und gewiß jeder wahrhaft Bernünftige wit ihm,
daß die menfchliche Entwickelung nicht rein und ausſchließ⸗
lich inuerhalb einer der obgenannten Kategorien auslans
fen könne, fondern in beiden neben» und Duscheimauber
laufen müfle. „Die Meufchheit,” ſagt der Berf,, „soll
fih vermöge ihrer entwideln, nicht geihidtelng, fon
dern gefhichte frei” (S. 259.) Damit hat der Berf.
den politifchen, wie. den kirchlichen Raditalismus auf feir
nen wundeſten Fled getroffen, zugleich aber auch. deu
Standpunkt bezeichnet, deu die wahre Bermittelung im
Theologie und Kirche einzunehmen hat. Mit den belieb⸗
ten Schlagwörtern „vorwärte” und „rückwärts“ ift es
wahrhaftig nicht gethau, und Luther hat gezeigt, daß
ed ein Rüdwärts gibt, das zum Vorwärts werben kann,
\
796 : . Mes beutähhe Preteliantiämns . -
wie umgelehrt neuere Beiſpiele nahe Kegen, aus Denen
zu lernen iſt, wie dad Vorwärts ber Anfang sum Nüdr
wärts wird. Aus jeder wahren Bertiefung in bie
Vergangenheit muß gewiß auch eine wahre Erhebung
in der Gegenwart erfolgen, das Schlimmſte aber, was
uns begegnen, fünnte, iſt — die Verflachnug. Dei
ed aber andy eine wirkliche, Berberben bringende Reaction
gibt, und daß ſich Theologie und Kirche vor derſelben
zu hüten haben, daranf hat der Verf. ebenfalls ſehr gut
anfwerffam gemacht. Da iſt fie ihm, Diefe Reaction —
„wo ein ängfllich vermorrened Pathos ſich an irgend ein
Element ber zeitlichen Geſtaltung krampfhaft auklammert,
wo neben ber Bebeutung bed Dbjeckinen bie ber Gubjer
tioität.. Überfehen:, nubeachtet bleibt, wo man der Rega⸗
tion gegenüber fich ſchlechterdings abſchließt, ohne darin
das Mittel, die Keime einer künftigen Poſition zu erbli⸗
den, wo der Egeidmus irgend einen beliebigen Yunlt
des Dageweſenen wis den abfolut maßgebenden wilfär
lich zu ſixiren ſich vermißt, durch Anwendung von Be
walt im ehrlichen geiſtigen Kampfe ind Mittel wit?’ —
nur da, aber audy Aberall da ift Reaction (S. 261).
Wie verfcyieben der Berf, den Begriff der Reaction
von dem Iamdläufig gewordenen: faßt, legt er befonders
in feinen Erörterungen über die „Synbolfrage” an be
Tag, die er ſowohl nach 'ihmer „theologiſchen,“ als Ihrer
„tirchenpolitifchen”‘ Seite prüft. Beſonders angenehm if
bemi Ref. .Nier die Wahruchmung gewefen,. baß, der Hin
neigung‘ des Verf. zu einem vorwiegend ſubjectiven Ge
wilfensftandpuutte wägenchtee, berfefbe dennoch bie große
objeckive Bebeutung Ser Symbole in theologifcher und
Eirdylicher Beziehung nicht verkennt. Kein Symbol, ſagt
er, welched irgend einmal wirklich geholfen habe, «in
chriſtliches Volk zu fchaffen uud heranzubilden, köonne je
mals feinen wefentlichen Grundlagen nadı wieder ganı
obfolet werden; denn bei der durch alle Zeiten hindurch
⸗
feine Bergangenheit u, feine heutigen Lebensfragen. 797
ſich gleich bleibenden Ibentität der wernlinftig » fittlichen
Menfchenuatur können auch die al& Ihr entfprechend bes
fundenen religiöfen Nahrungs⸗ und Heilsftoffe niemals
ihre Beziehbarkeit und Wirkſamkeit für dieſelbe verlieren
(5. 283.). Damit if dentlich gefagt, daß die Kirche mit
jedem Symbole, welches fie anfgibt, einen Lebensfa⸗
den entzwei reife. Das Recht, ja felbft die Pflicht, ihre
Belenneniffe zu revidiren und and dem. reichen Schatze
bed Alten und des Neuen noch abliquatere Darlegungen
ihre Glaubens und Lebens hervorgubringen, will Der
Derf, Der. Kirche nirgends abfprechen.
Das Widerfireden des theologifchen und kirchlichen
Radiealismus gegen alle nad jede’ weitere Haltung ber
Symbole ſcheint und auch hier feinen tieferen Grund im
einem fchrantenlofen Individualismus zu haben. Das
Symbol nuterwirft dad empirifche Ich einer objectivch
Gedankenmacht. Nirgends zeigt es fich deutlicher ale hier,
daß es unferer Kirche an einem objectiven Gewiſſen fehlt,
denn das fubjective Gewiffen, von dem Rothe (in feiner
theolog. Ethik, Bd. I. S. 265.) ganz richtig: fagt, daß,
wo die Berufung auf daffelbe eimtrete, alles weitere
Disputiren ein Ende habe und alle objettiven Argumente
wirtungslos werben, muß als foldyes jeder objectiven
Blaubendautorität widerfireben. Auch der: Berf: fcheint
ben Mangel an einem kirchlichen Bewiffen tief zu
fühlen, wenn er bemerkt, „die ganze Debatte über abfos
Iute Lehrfreiheit laſſe unwillkürlich den Eindruck übrig,
als fey die Kirche nur dazu da, um für die Entwides
lungen des wiffenfchaftlichen Geiſtes einen freien Spiels
raum, ein auch materielles Subſtrat zu gewähren”
(8. 306.), Daher kommt es denn auch, daß, wie der
Verf. ebenfalls fehr wahr erinnert, ed in Nädficht auf
die Kirchenpolitik noch fo fehr an rechten, praßtifchen
Begriffen fehlt (&.313.).
. Mit dee Symbolfrage hängt and, bieienige vom
198 Der beutfihe Proteſtautiomus |
Hriftlihen Stante ziemlich nahe zuſammen. Der
Verf. will folgerichtig den cheiftlichen Staat nicht aufge:
ben, den er echt proteantifch ale fittlihe Lebens⸗
gemeiufchaft erfaßt, die nur als eine chriſtliche wahr⸗
haft fietlich feyn Bann. Dagegen verwirft ber Berf. den
confeffionellen Staat. Die Erfahrung bat aller
dings gelehrt, daß confefflonelle Staaten nicht mehr
durchführbar find. Dagegen find mit der Subifferenz bed
Staates gegen confeffionehe Unterſchiede doch auch greße
Gefahren verbunden, wobei diejenige bed Iudifferen:
tismus überhaupt am nächſten liegt, dann diejenige,
unter dem Scheine der Unparteilichleit doch die eine Con⸗
feffion heimlich gu bevorzugen und die Eiferfucht der
anderen zu reigen. Auch wirb der über den confeffienel-
len Unterfchieden ſtehende chriſtliche Staat der römifchen
Kirche gegenüber ſich in ſteter Verlegenheit befinden, weil
biefe den Anſpruch auf. wahre Chriklichleit an ihr Bes
kenutniß knüpft. Im Allgemeinen fcheint ber Berf. wit
feiner priucipielen Grundauſicht vom Wehen des Pro
teſtantismus nicht gauz befähigt, Die Idee bes chriſtlichen
©taated durchzuführen. Der Slaube if ihm etwas rein
Subjectives, Perſönliches, Selbfiglaube (S. 300.). Mit
dieſem Begriffe des Glaubens kann ſich Ref, nicht ein»
verſtanden erklliren. Der Glaube iſt vielmehr and
objectio bedingt: durch feinen Gegenſtand, fein Gegen⸗
Raub if die SDffenbarung, und daher muß andy ber
Ariklide Staat, wenn feine Chriſtlichkeit etwas
Reelles ſeyn fol, einen durch die objectiven Grundidees
des Chriſtenthums bedingten Glauben von feinen Geuoſ⸗
fen verlangen. Damit hat aber die unbedingte Be
wiffensfreiheit ein Ende, Wir billigen es zwar ganz
daß der Berf, die Sectenbildung durch den Gmat
nicht behindert haben will, und bie Abfiufungen uns
Rangclaffen von den Landeskirchen bie zu deu. ger
duldeten Secten haben Bieles für fih (S. 333);
feine Bergangemheit.u. feine heutigen Lebensfragen. 790
allein ed: hanbelt ich in der Begenwart nicht nur. am
bie Anerkennung folcher Diſſidenzgemeinden ober Secten,
welche ihren Zuſammenhang mit dem Chriſtenthume noch
glaubhaft vachweiſen können, ſondern darum, ob der
ch riſtlich e Staat auch ſolche Diſſidenten ſich incorpo⸗
riren könne, bie ihre geiſtige Exiſtenz bloß auf die Baſis
einer deiſtiſchen (alſo nicht mehr chriſtlichen) Moral grün⸗
den. Und daß manche Zeitgenoſſen mit dem chrißlichen
- Dogma völlig, gebrochen haben, wird ber weit und tief-
bli@ende Berf, gewiß ohne Bedenfen gugeben. Wenn er
daher allen Secten, welche nicht gerade unſittlich find,
Duldung von Seiten des Staates zuſichern möchte, fo
ſcheint Damit Die Idee des chriftlichen Staates wenigſtens
wefentlich modiſitirt. Um den Lebergang zu vermitteln, wg
eine möglich große Freilaffung des ſubjectiven Gewiſſens
jest am Platze feyn; immerhin wird auch der Berf-gus
geben, daß dieſe Frage noch nicht als erlebigt betrachtet.
werden Tann, und aus biefem Grunde fcheinen uns auch
bie Vorwürfe unbsilig, mit denen jede Regierung Aber:
häuft wird, wehde tem oft rein egoiftifchen Triebe nad
Sectenbildung nicht gleich mit — ——
entgegenkommt.
Jedenfalls billigen wir db dad wilde aud ſchonende
Berfahren, welches der Berf. von den Regierungen ger
gen „Lichtfreunde” und „Deutfchlatholiten” eingehalten
wänfcht, um fo mehr, ale er ſelbſt feine Sympathien
für Diefe neueſten Erfcheinungen des „chriftlichen Zmithes
wußtfeyns” an Den Tag legt. In der lichtfreundlichen
Vereinigung findet er nur „die tanfenderlei berechtigten
und underechtigten Anſichten, Wünſche, Triebe, Leiden,
fchaften, welche in der deutfchen noch immer fo unnacur⸗
lich erregten Nation pulſiren, wie fie eine Aeußerungs⸗
form. fuchten nud nad einem Punkte fi hinwälzten,
wo der ungefunde Ueberdrang unter einem legitimen
Vorwanbe ſich entladen zu können ſchien“ (S. 304.). Bon
800 Der deutfihe Preoteitantisums
einer „Mien ber Deutſchkatholiken“ te bem Sime,
wie Gervinns file in Audficht ſtellte, will er gar nicht
wiſſen; vielmehr if ee ber Meinung, wenn irgend et:
was und. anıh ferner gegen Rom fchägen werbe, fo ich
es die Ölanbenspabflang, welche Roms Macht gebrochen
babe, nicht aber der Strich der gegenwärtigen Bildung
(©. 450.), und er iſt Übergeugt, daß nur das hiſtori⸗
ſche Shriſtenthum, wie ed bie Mutter aller ber her⸗
tigen: Bilnung eigenen Idealitüt geweien, fo aud bie
afletnige Trägerin berfelben unter den Deutfchen bleiben
werde” (©. 466), Was ber Berf. über Deutichlatheis
ben uud Lichtfreunde Überhaupt Treffliches nud Unüber⸗
treſſtiches geſagt hat, muß man ſelbſt nachleſen, abe:
wer glanbt unſerer Predigt, heißt ed auch bier.
Auch der in unferer Seit fo viel befprochenen Kir
Heuverfaffungsfrage bat der Berf, ein befonde
res Kapitel gewibmet, Er ift auch hier nicht blind gegen
die „religiſss höchſt zweifsihafte, bald werthlofe, bald
entfchieden irreligisſe Gefinnung, vos weicher weuer
Kug6 ſo oft. bie Forderung einor Seelen Kirchewer⸗
faſſung - auögegangen iſt (S. 336.). Es: iſt gewiß nur
lobenswerth, wenn man ſich durch diefe zweideutige Bl
Han; nicht abhalten läßt, für eine Umgeſtaltung der bie
berigen Kirchenverfaffung auf georduetem Wezge ze
werten. Mit Bufgebung ber veralteten reinen Gonfik«
rialveraffung betrachtet ed der Verf. üblich wie F.Mäb
ler als Erforberniß der Zeit, bag ein die Kirche vertre⸗
tendes, auf. freier Wahl der Geiſtlichen und Bemeindes
ruhendes Organ ſich bilbe, welches in einer Landesſynode
bie höchſte Eoncentration feiner Kräfte beflte und nicht
bie aus Geiſtlichen, fondern aus gleichberechtigten Arlte-
Ren als Nepräfentanten der Gemeinde beſtehe, uub ver
Allem dad Recht habe, Anträge in Baden ber Kirche ar
ben Lanbeäheren zu bringen (S. 4.) Nur in eine
foihen Kirche, in weldger die Geſammtheit der wieder
J
feine Vergangenheit u. feine heutigem Sebenäfragen, 804
zu fich feld gelommenen Nation: sepräfentiet
fey, glanbt ber Verf. werden Struuß, und:feine Geſin⸗
nungsverwandten die rechte Wiberlegung finden,
Wir verkennen keinen Augenblick, wie viel Schönes
in der Ssdee einer Nationalkirche Kept, und wie viel
damit gewonnen wäre, weun bie einzelnen zerfiplitterten
ekandeskirchen in einer foldıen ihre höhere Einigung
fünden. Wir find.aber auch ber Meinung‘, der Brote
ſtantiemus würde bei. einer folchen nicht Rehen bleiben,
weh je überhaupt im’ der Idee des Chriſenthums, ‚Deflen
angemeffenften: Ausdruck der Proteſtantismus für unfere
Zeit ſeym fell, etwas liegt, Bad über das bloße Natio⸗
nalbewußtſeyn woch weit. hinausgeht. Was ader dev Berf.
von der praftifchen Aufgabe ben Kirche fagt, und wie
fie die vernachtäfflgte ſittliche Volköpflege wieder zu
übernehmen babe, das ift und aus dem Herzen gefchrier
ben. Luther hat ſich von ber römifchen Kirche losgeſagt,
weil fie das Volk fittlidh verwahrlofte, und jebt müflen
fi) unfere Geiftlichen im Punkte der fittlichen Volkspflege
manchmal von römifchen Prieftern befhämen laflen. Der
Berf. fast fo wahr, daß ed eine Kaffe von Genoſſen
der proteflantifchen Kirche gibt, am welche bie veledenden
Wirkangen einer neuen Kirchenverfaffung nur unter ber
Bedingung herankommen werben, daß die Kirche ſich
als eine Macht im Leben zeigt, getragen nicht durch
begleitende Maßregeln des weltlihen Arme, fondern
durch Teihlaten der ferien, hingebenden, thufopfernden
Liebe (5.41%). Uebrigens weiß "der Verf. au bie
uniserfelle Bedentung des Ghriſtenthums wweiflich zu
würdigen (&;526.), und wer ſtimmte ihm nicht dei, wenn
er fagtr „die geiftige Weltherrſchaft der Deutſchen ale
des Eulturvoits der neuen Epodie brach mit
Luther u”? (S. 6as.) Diefe univerfalififche Beſimmung
zunachſt auf dem Grunde eines geſteigerten Nationalbe⸗
802 Dee beutfihe Protchantisnus,
wußtfegns: immer .. mehr zu erfüllen, wird bie Aufgabe
des beutfchen Proteſtantis mus bleiben. Gewiß hat. der
Berf. darin Recht, daß die Zukunft Dentſchlands am bie
Eutwidelung ded Proteſtautismus gefnipft fey, und zwar
eined foldhen, ber und an „religiös Kitlicker Füllung
nicht ärmer, ſondern reiches wachen wird.“ Wir glanben
an eine Zukunft ber. protefanztifchen Kirche, in ber dad
gläubige Subject wit voller Freiheit feine Befrie⸗
digung in den, tiefer gefaßt, ewigen Glauben
objecten ber Kirche, in. der viele kritiſche Bebanten ihre
Derfönuung in pofiiven Thaten finden werden. Deus
daß das Chriſterthum in letzter Juſtanz That-und Le
ben if: das ſey in einer wert: und bücherreichen Zeit
auch unfer letzter Troſt.
D. S ch enkel.
3.
Felir Hemmerlin von Zürich. Neu nach den Quellen
bearbeitet von Balthaſar Reber, V. D. M., Phil D,
. der baßler hiſtoriſchen und ber ſchweizeriſchen ge
ſchichtforſchenden Geſellſchaft Mitglied. Zürich, Ver⸗
lag upn Meyer und Zeller. 1846. ©. 496.
Sm, 4 Bande feinen Geſchichte ſchweizeriſcher Eid
genofenidiaft madıt une Joh. v. Müller mit einem Maune
befannt, weicher, nachdem er unter feinen Zeitgenofen
nine ehrenvolle Stelle eingenommen: und eine nit ww
bedeutende Wirkſamkeit audgelbt, nach ſchweren "Leiden
und Berfolgungen fein Leben in einem Kloftergefänguifle
der Stadt Euzern anshanchte, bei feinem Tode bereits
fo ſehr vergeffen, daß über das Jahr deffelben ein erw
Felix Hemmerlin. 803
ßes Schwanken obwaltet (1457 oder 1464). Maller bat
des Mannes zahlreiche Schriften reichlich uud forgfältig
auögebenutet, um von der Schweizer Denkungsart und
Kenntniſſen im 15, Jahrhundert ein Bild zu entwerfen;
an diefe Darſtellung Mmüpft er eine treffliche Eharafteris
ſtik des Verfaſſers und fügt bie Bemerkung hinzu: „es
wäre Berbienft, in folden Sammlungen (feiner Schriften)
enthaltene Gefchichten und eigenthümliche Gedanken durch
anthentifche, vollſtaäͤndige Auszüge genießbar zu machen”
(.0,D.6.219.),. Diefer Gedauke des berühmten Ger
ſchichtſchreibers der Schweiz hat einen empfänglichen Bor
den gefunden in ber Seele eines basler Gelehrten, der
ih fon durch mehrere gediegene Arbeiten im hiltorifchen
Fache dem Publitum auf fehr vortheilhafte Weife bes
kannt gemacht hat. Herr Neber bat feinen Gegenſtand
inderumfaffendfieu und erfchöpfendfien Weiſe behandelt;
er gibt eine audführliche Biographie feines Delden und
eine eingehende Charalteriftik feiner Schriften, begleitet von
sahlreihen und weitläufigen Auszügen, Diefe muß und
um fo willfommener feyn, da die Schriften im Staube
der Bibliothelen begraben liegen, oder in bloßen Hands
Ihriften vorhanden find. Dergeehrte Berf. hat fich in dieſer
fo wie in jeber andern Beziehung des gründlichſten Quel⸗
lenſtudiums befleißigt; feine Arbeit ift ein fchöned Denke
mal tüchtiger Gelehrſamkeit, — aber zugleich die Probe
eines wirklichen biftorifchen Talentes, welches fähig if,
aus vielen Einzelheiten den Charakter eined Mannes zu
conſtruiren, ein anſchauliches Bild von feinem ganzen
Wefen nach allen Richtungen bin zu entwerfen, ihm ſeine
Stelle in feiner Zeit anzuweiſen, die Wirkung, weiche von
der Zeit auf ihn Überging, und diejenige, welde er auf:
die Zeit ausübte, zu befchreiben. Der echt hiſtoriſche
Sinn des Berf. bewährt fi auch darin, daß feine Dars
Reflung Teine Spur von dem faifchen Beſtreben zeigt,
+
804 ‚Beber
feinen Helden zu ibeafifiren, deſſen Bedentuüng über Ber
dühr gu erheben, befien Fehler und Schwachheiten zu
befchönigen und zu verbeden. Um fo mehr wird aber
die Anufmerkſamkeit des Leſers gefeffelt und fein Intereſſe
zu Gunſten des Mannes. rege gemacht. Ja ſelbſt ber
Umtftand, daß Hemmerlin’s Leiden nicht vönig under
fehuldet find, thut dem innigen Mitgefühle, das man für
ihn hegt, feinen @intrag.
Der Berf. erflärt fi zwar fehr befkkmmt gegen bie
Anfiht, daB Hemmerlin im Kirchlichen ein Borlänfer
Zwinglis geweſen (8.9). Doc kann er wicht umbin,
tum eine Stelle neben Geerg v. Heimburg, Jakod v. Iüs
terbod, Johann v. Weſel, Sebafllan Braud, Geller v.
Kaiſersberg anzumeifen. Er finder nur, daß die genann-
ten Männer noch ſchonungéloſer zu Werke gingen, indeß
Senmmerlin grunbfäglich mehr ein Kichenmann, Patholi:
fcher dlieb als fie alle (SS. 116.). So reihe ſich das Werl
ded Herrn D. Reber an die-bebeittfamen Korfchungen von
Ullmann über die Reformatoren vor der Reformation
an und kann abs eine Ergänzung derfeiben, was dk
Schweiz betrifft, angefehen werden. In biefer Hinfiht
verdient dieſes Wert in einer theolugifchen Zeitfchrift
angezeigt zu werden.
Hemmerlin ift freifich nicht bloß ein Kirchenmann,
er bat auch einen politifchen Charakter, der Kart genug
hervortritt, da er zur unglücklichen Wendung feines
Schickſals wohl das Meiſte beigetragen. Im Mittelalier,
und zumal in der Schweiz dis auf den heutigen Tag, iR
- nicht leicht Kirchliches und Polttifche® zu trennen; darum
ſoll Hemmerlin’6 politifhe Stellung ebenfalls angedentet
werden. Die widtigfte Seite feines Lebens bleibt immer⸗
Hin die der Kirche zugewendete, fo wie denn aud Herr
Meder feine kirchlichen Schriften als die wichtigfien an-
ſſeht, — ein Urtheil, deſſen Richtigkeit aus der weitlänf-
Felix Hemmerlin. 805
gen Betrachtung feiner Gchriften er Sicherheit ber»
vorgeht,
Wie war ber Boden befchaffen, in welchem Hemmer⸗
iin wurgelte, and welchen er hervorging , den er durch
von ihm ausgeſtrente Saamenkörner befruchtete? —
Die irchlihe und politifche Lage der Schweiz tritt. uns
in anfdyaulichem Bilde entgegen in dem Zufammentrefs
fen der Kicchenverfammlung zu Bafel mit dem Kriege
der Eidgenoffen gegen das üfterreichifch gefiunte Zürich.
In diefen beiden Ereigniffen And uns die Faktoren an:
gegeben, bie in Hemmerlin’d Leben und Wirken am kruͤf⸗
tigften hervortreten. Er nahm Theil an jener Kirchen,
verfammlung, er war für fle, wie fo viele Zeitgenoflen,
wie felbft eine Zeitlang Aentas Sylvius, begeiftert; die von
ihre fanctionirten Grundfäge an verwirklichen, hielt er
für die Aufgabe feines Lebens. Ingleich aber hielt er
ed mit ber Adelöpartei in Züri, mit Defterzeich gegen
bie demofratifche Urfchweis, gegen das fchweizerifche
Princip Kberhaupt (S. 180.), and feiner Borliebe für den
Adel, and feiner Abneigung gegen den Bauern, und Bär:
gerftand ging fein politifches Hauptwerk, de nobilitate,
hervor. In Kirchenſachen, fagt der Berf., war Hemmer;
lin ein Junger, auf den erften Blick beurtheilt, in ber
Politik ein Alter. Und doch ift bier Sein Widerſpruch
bei ihm, fährt Here Reber fehr finnig fort. Hemmerlin’s
kirchliche Tugend war ja nicht diejenige bed 16. Tahrs
bundertö, die “Jugend ber Reformation, fondern bie des
15., ed war eine. fehr Iangfame, vorficktige, fehr reife
Jugend, die nach wenigen Sahrzehnten für hinfäliges
Alter galt; hingegen der ſchweizeriſche Freiheitsgeiſt trat
auf in alfo braufender Gährung, daß ſolche Gaͤhrung
dem mäßigen Semmerlin wahrlich nicht als politifcher
jugendlicher Flügelfchlag, fondern als Alles vernichtender
Tobtſchlag erſcheinen mußte. Es iſt alfo hier durchaus Fein
806 "Weber
ſtsrender Wipderforuch in Hemmertin’s- Charakter, fendern
im Gegentheile, es zeigt ſich gerade in dieſem fcheinbaren
Miderfpruche bei ben bamaligen Umfänden feine innerke
Eonfequenz” (S. 5.). In der That haben bie kirchlichen
Beftrebungen, welche ber allgemeinen Kirchenverſanm⸗
kung zu Grunde lagen, mit dem bemofratifchen Treiben
wenig gemein; jene Kirchenverſammlung flellte die kirch⸗
liche Ariſtokratie dar, welche mit der politifchen Arike
kratie in lebendiger Affinität Rand, indeß bie bemolratv
fen Bewegungen, je nadı den begleitenden Umſtäuder,
fich entweder dem alten Papalſyſteme auſchloſſen, wir in
den Hintercantonen ber Schweiz, ober bie allgemein, nu
tärliche Bafld vorbereiteten, auf welder bie Reformo
tion fpäter bervorblühte, wie dieß in den Staͤdtetantonen
der Schweiz der Keil war.
9. Reber’d Darftellung gibt uns Auffchluß baräber,
wie ed fam, bag Hemmerlin im Kirchlichen wie im Pe⸗
litiſchen die bezeichnete Stellung einnahm. Das Bil,
bas er von ihm entwirft, läßt uns bis in die kleinſten
Züge einen Mann erkennen, der theil auf bie Geitede
Kiccheareformatien, wie man: fie damals verſtand, theili
auf die Seite der Adelspartei fich hingezogen fühle
wußte.
Geboren im Jahre 1389 zu Zürich, einer .gamilie
angehörig, die früher adelig gewefen zu ſeyn fcheist,
erhielt er feinen erften Unterricht in der Schule der Greß⸗
münftetlicche feiner Baterftadt, und fehon im Jahre 1413
wurde er Chorherr am daſigen Stifte. Bon lebendigen
Wiſſensdurſte und Bildungstriebe befeelt, machte er dr
rauf gelehrte Reifen und befuchte die Univerſitäten Bo
logna und Erfurt, die beiden berühmteften Lehrankalten
Italiens und Deutfchlande. . Er war Zufchauer bei MT
Kichenverfammiung zu Conſtanz und nahm offieießen
Antheil an derjenigen zu Bafel, Vom Jahre 1412 dis 1428
Selle Hemmerlin. 807
wurde er der Reihe nach mit folgenden Aemtern und
Mürben begabt; im Jahre 1412, wie ſchon gefagt, Chor⸗
herr zu Zürich am Großmünfterfifie; im Jahre 1421
Prob zu Solothurn am St. Urfudflifte; in bemfelben
Jahre Baccalaureud des kanoniſchen Rechts zu Bologna s
im Jahre 1427 Probft zu Zürich am Großmänfterftifte
und Ratt befien 1428 Gantor daſelbſt, und wahrfcheinlidh
endlich in demſelben Jahre Ehorherr vom Gt. Moripftifte
in Zofingen. Später, während bee Krieges von Zürich
in Berbindung mit Defreich gegen die Eidgenoſſen, wurde
er and) noch Rath bed Markgrafen von Baden, wahre
ſcheinlich auch des Markgrafen Wilhelm von Hochberg
und feined Bruders Dite; ferner Eaplau des Herzogs
Albrecht von Defireich, and endlich and Caplan Kaifer
Friedrichs UI.; doc, waren dieſe letzten fürftlichen Aus⸗
zeichnungen bloße Ehrentitel ohne amtliche Bedeutung
(8, 18).
Er erwarb ſich eine außerordentliche Menge von
Kenutuiffen und Tann wohl als einer der gelehrteflen
Männer feiner Zeit angefehen werden, Seine Bibliethel,
aud fünfhundert Bänden beftebend, war für jene
Zeit eine fehr ungewöhnliche Erfcheinung. Er wenbete
große Sorgfalt auch auf die Anordnung derfelben und
rühmt ſelbſt mehrmald, wie gut fie .georbuet und aufge«
ſtelt ſey (S. 25. 125.). Ueberhaupt Hebte er, als vorneh⸗
mer Kirchenmann, nicht nur den Kirchenpomp, ſondern
überhaupt den Glanz ded äußern Lebens; feine Woh⸗
nung, welche eine fchöne Ausſicht auf ben See hatte,
muß fehr zierlich und niedlich auögefehen haben. — Daß
ein Mann, der auf folder Stufe der Bildung und
mit feiner Zeit in ber lebendigfien Berührung ſtand,
in die Damals fo weit hin verbreiteten und auch dem
oberflaͤchlichſten Blicke fo nothwendig fcheinenden Refor⸗
mationsbeflrebungen einging, das werben or gewiß fehr
Theol, Stud. Jahrg. 1847,
808 Reber
begreiflich finden. Wir werben und aber auch nicht wuns
bern, wenn er, ber alten Sympathie feines Stiftes ger
treu umd folgend den Autrieben feiner ariftofratifchen
Natur, auf die Seite des Adeld and Deſtreichs gegen
die Eidgenoflen trat und die einmal erwählte Partei leb⸗
haft vertheibigte.
Obwohl Hemmerlin’d Wirkfamleit unb WBebentung
hauptſächlich in feinen Schriften gefucht werden muß, fo
it Doch nicht gu verfennen, baß er unmittelbar praktiſch
gewirkt .hat. Die furchtbar verborbenen Bitten ber Chor
herren des Stiftes in Zürich hat er muthig bekämpft
(S. 156,) und eine Reformation derfelben verſucht. Es
ift dieß um fo mehr anzuerfenuen, ba er fich dadurch
den Neid, ben Haß, die bitterfte Feindſchaft feiner Gol-
legen, ia felbft Zodedgefahr zugog (S. 289. 387.). Da
der Didcefanbifchof von Conſtanz und fein Generalvicar
Gundolfinger von bemfelben Gelichter waren wie die
Ehorherren von Zürid (S. 296.), fo entfremdete er ſich
durch fein reformatorifched Auftreten im Stifte and jene
beiden geiftlichen Obern; ja er befämpfte fogar den Ge
neralvicar thätlih CS. 296.) und in feinen Schriften
(S. 420,), und trng dadurch wohl dazu bei, baß biefer
ihn nachher fo hart behandelte. Ueberhaupt muß feine
Gefangenuehmung in Zürid; nebft ben darauf folgenden
Drangfalen als eine Wirkung feines kirchlichen Anftre⸗
tend angeſehen werben.
Allerdings war fie zunächſt eine Folge des politifchen
Haffed. Hemmerlin hatte die Schweizer fehr grob be
handelt und fi im Schimpfen auf fie durch große kei
denfichaft hinreißen laflen. Als nun Zürich mit den Eid
genoffen Frieden fchloß, entlud fih der Haß gegen ibn.
An der Faſtnacht des Jahres 1454 waren anderthalb
taufend Sünglinge aus verfchiedenen Cantonen in Zürich,
um die Luftbarkeit mitzumachen. Sie befchloffen, des
Felix Hemmerlin. (809
Feind der Eidgenoſſen, bed Papſtes unb bed Biſchofs
u greifen; fie bemächtigten fich des fill in feinem ſchö⸗
nen Stubirzimmer verweilenden Chorherrn und überlies
ferten ihn in die Hände Gunbolfiuger’d; das Ganze war
verabredet; geiftliche Bosheit und Heimtüde ſteckte dar
hinter; die Schweizerjünglinge hatten nur den Arm ges
lichen, um die von Anderen gefchmiebeten Pläne auszu⸗
führen.
Hemmerlin’d fchriftftellerifche Thätigkeit war fehr bes
deutend; der Verf. macht und mit 36 Schriften befielben
befannt, wovon mehrere ziemlich beträchtlich waren.
Man erkennt in ihnen fehr deutlich den für die damalige
Reformation der Kirche begeifterten Mann. Geine Ab:
ſicht iſt rein und gut, einzelne Mißbräuche erfennt und
rügt er muthig, ja er tadelt heftig den Papft und bie
päpftliche Curie (S.59.340.). Doch find feine Religionder-
fenntaiffe noch fehr wenig geläutert, fein Sinn ift be-
ſchrankt, ungeachtet feiner großen Gelehrfamteit; er hul⸗
digt mit einer gewiſſen Treuhergigkeit dem craß fatholifchen
Aberglauben (5.336. 307.), Vielleicht hat gerade das
Dämmerliht, worin er fich befand, dazu beigetragen,
daß feine Schriften weit verbreitet und viel gelefen wur⸗
den. Er war ein. beliebter Schriftfieller, man begreift
das aus Reber's Darſtellung; die meiften Schriften find
in Form von Dialogen abgefaßt; fie firdmen über von
Anekdoten, witzigen Einfällen, pifanten Worten, woruns
ter ſich freilich mitunter Triviales, fogar Schmugiges
einmifcht. Aber and, ernfte, ergreifende Gedanken find
darin niedergelegt (5.474) Wir hätten nur gewünſcht,
daß der Berf. ſich noch mehr beftrebt hätte, und mit dies
fen ernten Gedanken Hemmerlin's befannt gu machen,
überhaupt uns in feine theologifche und kirchliche Denk⸗
weife tiefer einzuführen. Dieß ift die einzige Fritifche Be⸗
merkung, die wir zumachen und erlauben. Max möge ung
54. *
810 Reber, Belle Hemmerlin.
ntcht fo verſtehen, ald ob wir eine rubricirt, ſyſtema⸗
tiſch georbuete Zuſammenſtellung der Auſichten Hemmer
Iin’d vom DBerf. erwartet hätten; es konnte unferem
Bunfche ein Benüge gefhehen, ohne daß die Methode,
weiche der Berf. befolgt , verlaffen worben wäre.
Diefe Eritifche Bemerkung möge übrigend dem ger
ehrten uud befreundeten Verf. nur zeigen, mit welcher
Aufmerkfamteit wir fein Buch gelefen; wir wlnfchen,
daß es noch vielen Leſern denfelben Geunß darbieten
wöge, den wir daraus geſchöpft haben.
J. H. Herzog.
Anzeige : Blatt,
Bei Friebrih Perthes von Hamburg iſt erfchienen:
Lücke, Dr. Fror., und Ullmann, Dr. &,, Ueber die
Nichtannahme des königsberger Deputirten Dr. Rupp
auf der berliner General Verfanimlung des Ouſtav⸗
Adolph» Bereind. gr. 8. geheftet 12 Sgr.
Bei Friedrich und Andreas Perthes ift erfchienen:
Perthes, Dr. GI. Th, Die Einverleibung Crakau's
und die Schlußacte ded Wiener Congreſſes. Eine
Zlugfchrift. 8. gebeftet. 2. unveränderte Aufl. 6 Sgr.
Diefe kleine Schrift ift nach wenigen Wochen ihres Erſcheinens
n flarter Auflage völlig vergriffen, fo daß ein zweiter Abdrud noͤ⸗
6 war.
Wir empfehlen noch folgende Brofchären, bie durch
die Zeitfragen hervorgerufen wurden:
Adermann, Dr. &., Die Glaubensſätze von Chrifti
Höltenfahrt und von der Auferftiehung des Fleiſches.
16, geh. & Sgr.
Bröcer, J. P. ©, Der evangeliſch⸗chriſtliche Ges
mein degottesdienſt aus der Gahrift EIN gr. 8,
5
geh. r.
Geijer, Erik Guſtav, Auch ein Wort über die —8
Frage der Zeit. gr. 8. geh. 12 Ggr, -
Martenfen, Dr. H.,' Die chriftliche Taufe und bie
bapsiftifche Frage. gr. 8. geb. 15 Ser,
Schwarz, Dr. Th., Der evangelifche Geift im Bunde
- mit der heiligen Schrift. 8. geb. 15 Sgr.
Hlmenn, Dr. C., Ueber den nnterfcheidenden Charak⸗
ter_ oder das Wefen des Chriftenthumg, mit Beziehung
anf neuere Auffaffungsweifen und einem Blid auf Ge⸗
genwärtiged, gr. 8, geb. | 132 Sgr.
Ullmann, Dr. &, und Albert Sauber, Zwei Bedenken
über die Deutfch-katholifche Bewegung. gr.8. geh, 12 Sgr.
Behörden, Directoren und Lehrer von Gymnaſlen
und höheren Sculanflalten bitten wir, für die Schul⸗
bibliothefen das vaterländifche deutfche Werk zu berück⸗
ſichtigen:
Bildniſſe der deutſchen Könige und Kaiſer von Karl dem
Großen bis Marimilian I, nad Giegeln, Müuzen,
Grabmälern, Denfmälern und Original»Bildniflen ge⸗
jeichnet von — Schneider, in Holz geſchnit⸗
ten in der rylographifchen Anftalt in München, nebſt
harakteriftifchen Lebensbefchreibungen derfelben von
Friedvrih Kohlraufch. gr. ker. 8 geh. Thlr. 4.
Es wurde in mehreren Staaten die Anfchaffung be
reits von höchfter Stelle empfohlen, |
Kolgende, theils ältere Werke unſeres Verlags, moͤch⸗
ten ſich zu gleihem Zwecke eignen:
Bindfeil, H. E., Abhandlungen zur allgemein verglei⸗
chenden Sprachlehre. 1) Weber Begriff und Object der
Sprache und Phyfiologie ihrer Raute. 2) Ueber die
verfchiedenen Bezeichnungen ded Genus in den Spra—⸗
chen. Thlr. 3. 20 Sgr.
Deinbardt, 3. H., der Gymnaffal-Unterricht nach ben
wiffenfchaftlihen Anforderungen der jeßigen Zeit.
Thir. 1. 15 Ser.
Ebel, über gedeihliche Erziehung, für Eltern und Er
zieher. 20 Sgr.
Euripides restitutus sive scriptorum Euripidis ingenii-
que censura, cur. Hlartungus. 2 Vo Thir. 3.
6, Th., Berfucd Über die zu ben Stadien erforder
lichen Eigenfchaften und die Mittel, diefelben am Kuas
ben, Jüngling und Mann zu erfennen. Eine Preis⸗
ſchrift. Thlr. 1. 5 Sgr.
—— Chr. L., die Ausgleichungs⸗Rechnungen ber
Pr hen Geometrie, oder die Methode der kleinſten
uabrate mit ihren Anwendungen für geodätifche Auf-
gaben. Gebunden Chir. 2. 20 Spt.
Güber, ©. 3, Grundregeln der beutfchen Sprade md
ihrer Rechtfchreibung. 75 Sur.
Sartung, 3%. A., Lehren der Alten über die Dichtfunf,
Durch —— mit denen der beſten neueren.
Thlr. 1 10 Eyr.
09, 8., Geſchichte bed Thäringifchen Volkes, für
vn Bit und die Jugend, : Thl
Hillebrand, J., die deutſche Nationalliteratur ſeit dem
Anfange des ISten Jahrhunderts, beſonders feit Le
fing bid auf die Gegenwart. Hiſtoriſch und äſthetiſch⸗
Pritifch. 8 Thle. geh. Thir. 6, 8 Spt.
hir. 2. 73 8gr. |
Klanfen, R. H., Aeneas und die Penaten, Die itali⸗
fhen Bollereligionen nnter dem Einfluß der griechi-
ihen. Mit 2 Kupfertafeln. 2 Bde. Thlr. 6. 20 Gyr.
Kühner, R., Ciceronis in philosophiam ejusque par-
tes merite. Thlr. 1. 10 Sgr.
Niebuhr, B. ©., griechifche Heroengeſchichten, an feis
nen Sohn erzählt. . 65 Ser,
Hückert, Dr. E., Troja's Urfprung, Blüthe, Unter;
gang und Wiedergeburt in Latium. Eine mythologifche,
chronologiſche und ethnographifche Unterfuchung der
teojanifhsrömifchen Stammfage, Geh, Thir.1. 24 Sgr.
Folgende eigentlihen Schulbücher bringen wir beim
Semefterwechfel auch in Erinnerung:
Petri, Morig, Elementar » Lefebucd der Englifchen
Sprade. 20 Sgr.
Dieses Buch hat sich seinen Weg gebahnt; da, wo es
einmal eingeführt ist, wird es fortwährend beibehalten; es
sei Lehrern der englischen Sprache freundlichst empfohlen.
Cinquante fables pour les enfants par Guillaume
Hey. Sebunden Thlr. 1, 5 Sgr.
Solor. Thlr. 2,
Die trefflliche Uebersetzung der bekannten Hoy-Speckter-
schen Fabeln. Sie werden stets mit grolsem Nutzen beim
ersten Unterricht in der französischen Sprache benutst.
Bretfchneider, C. A., Productentafeln, enthaltend die
2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, Yfachen aller Zahlen von 1 bis 100,000.
Gebunden 20 Sgr.
Habich und Berger, Elementargrammatif ber lateints
[hen Sprade, mit einer Sammlung von Beifpielen
zum Ueberfegen aud dem Lateinifchen ind Deutiche und
aus dem Deutichen ind Lateinifche. Thlr. 1.
Schlimbach, 3. S., Anleitung zum erften Unterricht
in der Himmelskunde für Bolföihulen. Mit 58 ein»
gedrndten Holzfchnitten und einer Borrede vom Dis
tector J. 9. T. Müller Geb. 20 Sgr.
Schlimbach, Uebungsfragen für den Unterricht in ber
— Mit 54 eingedruckten Holzſchnitten.
ebunden 5 Sgr.
Ersteres ist für den Lehrer, letzteres dem Schüler in die
Hand zu geben. In unserem Herzogthum ist das Büchelchen
ia allen Volksschulen eingeführt. Die Zweckmälsigkeit der
Methode wird auch weitere Einführung erwirken.
Bibelworte Als Benublage zu einen chriſtlichen Un
terricht für bie reifere Jugend, nebſt Winken zum Ber:
ſtaͤndniß der Bibelworte. 75 Ser.
Georgi, die heiligen Geſchichten des Alten Teſtaments.
2 Thle. geh. Thlr. 1. 224 Ser.
Sefeliel, Fr., Kehrfprüche bes Glaubens. Ein Weih—⸗
Geſchenk Für die chriftliche Jugend am Konfirmation
tage. Geheftet 114 Ser.
Bei Fr. Frommann in Jena find erfchienen:
Dreöbyterial: und Synodal - Verfaflung
der proteft. = evangelifchen Kirche.
Für Geiſtliche und Nichtgeiftliche näher erörtert
von
Ehe. F. A. Biruſtiel
(VBerfaſſer der Geſchichte des Guſtav⸗Adolph⸗Vereind).
gr. 8. geh. Preis 10 Ger.
In derſelben Haren, warmen und lebendigen Darftellungsieile,
womit der Berf. früher feine mit allgemeinem Beifall aufgenommen!
Geſchichte des Buftan » Adolph» Vereins behandelt hat, entwidelt er
hier aus dem neuen Zeflamente, der Kirchengefchichte, dem Princiy
der Neformation und ben — Zeitumſtaͤnden die Drinz⸗
lichkeit der endlichen befriebigenden Loͤſung der obigen Lebensfragt
indem ex zugleich alle bereitd vorgebrachten Ginwendungen dagegen
mit ſchlagenden Sränden zuruͤckweiſt.
Discordia Concors
oder
Ob wir fämpfen, find wir doch eins!
@in
Wort zur Berfländigung in den kirchlichen Wirren der
Zeit mit Rückſicht auf das Princip des Wielicenus
von "
J. E. Lauter.
4 Bogen. gr. 8. geb. 8 Ber.
Der Verf., ein bibelgläubiger Rationalift, weift das Priacip bee
Wislicenus, als zur Subjectivität der Willkuͤhr führend, zuruͤck Di
tet dagegen den Symboiglaͤubigen die Hand zur Bereinigung auf der
Grund der gemeinfam anerkannten Autorität der Schrift.
Theologiſche
Studien und Kritiken.
Eine Zeitſchrift
für
das geſammte Gebiet der Theologie,
in Verbindung mit
D. Gieſeler, D. Luͤcke und D. Nitzſch,
herausgegeben
von
D. ©. ullmann und D. F. W. €, Umbreit,
Profefforen an der Univerfität zu ‚Heidelberg.
Zahrgang 1847 viertes Heft.
Hamburg,
bei Friedrich Pertdes.
184 1%.
Abhandlungen
1.
Der Kanon ded neuen Zeftamentd von Muratori,
von Reuem verglichen und im Zufammenhange erläutert
von
D. & Biefeler,
| Profeflor in Göttingen,
Sn dem theologifchen Kampfe der Gegenwart bildet
unftreitig eine Garbinalfrage die Unterfuchung über die
Dignität des Kanond und des darin enthaltenen göttlichen
Worted. Wie Ddiefelbe zumal bei dem gegenwärtigen
Stande der Bildung nicht ohne die gründlichfte hiſtoriſch⸗kri⸗
tifche Forfchung gelöft werden Tann, fo hat ſich bie durch
da® vorwiegend praßtifche Intereſſe herbeigeführte theils
weife Bernadhläffigung derfelben bereits mannichfach ger
rädt und wird ed aller Wahrfcheinlichfeit nach leider
noch mehr thun. Junerhalb des Gebietes der hiſtoriſch⸗
Pritifchen Forſchung fcheint man indeß wieber allgemeis
ner nicht bloß ein einfeitiged Gewicht auf die ſogenann⸗
ten innern Gründe legen, fondern im ungünftigften Falle
wenigftene den Verſuch machen zu wollen, nachzuweiſen,
daß das NRefultat der Innern Kritik mit den anerfannt
ältefien äußeren Zeugniffen irgenbiwie vereinbart werden
konne.
816 Biieisles
In der Entſtehungsgeſchichte des neuteftamentlichen
Kanond bildet nun jedenfalls ein fehr beachtungswerthes
Glied der in der Ueberfchrift erwähnte Kanon von
Muratori, welder befanntlid daher feinen Namen
hat, daß ihn, deffen Urheber nicht mit überliefert if,
Muratori jeßt vor etwa einem Jahrhundert im feinen
Antiqg. Ital. med. aev. tom. III. p. 851 sqq. zuerſt publicirte.
Er wies fofort auf feine Wichtigkeit hin, commentirte ihn
aber nicht eigentlich, fondern ſchickte ihm nur eine kurze
Einleitung woraus, in welcher er Beichaffenbeit, Juhalt
und Alter feined Goder befchreibt und als Urheber unferes
Kanond, welcher nur einen fehr geringen Beftandtheil
deffelben ausmacht, den römifchen Presbyter Cajus, qui—
das find feine Worte — sub Victore et Zephyrino pontificibus,
teste Photio in Bibliotheca codice 48., h.e. qui cireiter an-
num Christi 196. floruit,, nachzumeifen fucht, eine Anuſicht,
die nachher von manchen Andern getheilt ift und die wir
fpäter prüfen werden. Das Document ift in ber Kolge
zeit, doch gewöhnlich nur an einzelnen Stellen, vielfach
erflärt worden. ine verdienftlihe Monographie hat
darüber Zimmermann «) verfaßt. Dankenswerthe
Beiträge zu feinem Berkändniffe finden ſich namentlid
in den verfchiebenen Werken über Einleitung ins R, T.
Doch iſt man über Werth, Inhalt, Entfiehung, Alter,
urfprünglihe Sprache diefed Documents noch fein
wegs einig geworden. Rinerfeitd feine unverkennbar
Wichtigkeit, andererfeitd die mandherlei Räthfel, weldt
es dem Betrachter darzubieten fchien, veranlaßten wich j#
einer auhaltenders Befchäftigung mit demſelben. Schen
im Begriffe, die von mir gewonnene Anficyt zu publiciren,
trat einer meiner Brüder, Friedrich Wiefeler, Profeſ⸗
for der Philologie an hiefiger Univerfität, im Winter
k
a) De canone librorum saororum fragmentam a Muratorio re
pertum. 1805. 8.
der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori.’ 817
1845 feine archäologifche Reife nach Stalien an. Da
derfelbe auch Mailand befuchen wollte, wo Muratori in
der ambrofianifchen Bibliothef den von ihm verglichenen
Eoder gefunden hatte, fo beſchloß ich um fo lieber, mit
der Publication noch zu warten, ald eine wiederholte
Collation des merfwärdigen Kragments, welche feit Mu:
ratori a) nicht gefhehen war, für die Andlegung ober
Conjectur nuftreitig die fidherfie Grundlage bieten mußte,
In Kolge der Andeutungen von Muratori und unters
ſtützt durch die Gefälligkeit des Borftandes ber dortigen
Bibliothek, welchem ich hiermit öffentlich meinen Danf
ausfprecdhe, fand mein Bruder auch wirklich jenen. Soder
und hat ihn genau verglichen. Im Banzen if ber Abs
druck von Muratori treu, nur daß er bie vielen Nach⸗
läſſigkeitsfehler des Schreibers, über die er Hagt, nicht
felten ſtillſchweigend verheſſert. Bei der fchabhaften Ge⸗
flalt des Kanond und dem Mißcredit, in welchen er deß⸗
halb bei einigen Krititern gekommen iſt, iſt es ſchon et⸗
was werth, zu wiſſen, daß auf diplomatiſchem Wege
dem Texte nicht weiter, als hier geſchehen, nachzuhelfen
iſt. Die Schreibfehler und ähnliche Irrungen des Ma⸗
nuſcripts habe ich indeß auch da beibehalten zu müſſen
geglaubt, we über die rechte Lesart kein Zweifel ſeyn
kann, weil demjenigen, der daffelbe nicht in Händen hat,
dadurch allein eine moͤglichſt authentifche Norm für bie
vieleicht nothwendige kritiſche Behandlung ber fchwieris
gen Stellen gegeben wird.
Zur Einleitung unſeres Abdrucks mögen die Worte
von Muratori diesen: Adservat Ambrosiana Mediolanen-
sis Bibliotheca membransceum codicem e Bobiensi acce-
a) Routh, Reliquiae sacrae Vol. IV. pag. I sqq., Kirchhofer,
Quellenfammlung zur Geſchichte des neuteft. Kanone bis auf
Dieronymus, &, 1ff., u. A. geben nur den Abdrud von Muratori
wieder,
)
818 Wieſeler
ptum, cuius antiquitas paens ad annos mille (aus dem
8. oder 9. Jahrh.) accedere mihi visa est. Scripte enim
fuit litteris maiusculis et quadratis. Titulus
praefixus omnla tribuit Ioanni Chrysostomo, sed immerite.
. Rachdem nun verfchiedene Beſtandtheile biefed Manu
feripte von ihm angeführt find, fährt er fort: Ex eodem
codice ego decerpsi fragmentum antiquissimum ad
Canonem divinerum Scripturerum spectens. sch füge hin⸗
zu, daß die einzelnen Worte in demfelben zwar getrennt
find, daß die Interpunction aber, mit Ausnahme weni:
: ger Stellen, noch ganz fehlt, die von Muratori befolgte
Snterpunction von diefem felber herrührt nnd dem Ausleger
rüdfihtlih der Verbindung daher ganz freie Hand ge
laffen if. Anfang und Ende ber Zeilen bes Manufcripte
find in unferm Abdrude ſtets durch einen verticalen Strich
angedeutet, und wo im Terte eine Lüde ift, ift dieſes in
den Noten ausdrücklich angegeben. Meine Conjecturen,
zu denen auch die Interpunctiongehört, finb zum Un:
terfchiede vom Texte eingeflammert und, wo es uöthig
fheint, entweder fogleidy in der Note unter dem Texte
oder fpäter bei der Erflärung weiter begründet. Am Rande
des Abdrudd habe ich die Zahl der Reihen des Gober
noch befonders durch Ziffern bezeichnet, um bei der Aus;
legung feinen Text in möglichfter Kürze citiren zu kön
nen. Nach diefen Borbemerkungen laſſe ich, bevor id
meine Auffaffung im Zufammenhange vorlege, ben von
Neuem verglichenen Tert des Kanons mit einigen Anmers
tungen folgen.
Tert des Kanone,
— quibus a) tamen interfuit et ita posuii(.) |
Tertio (um) b) evangelli librum secundo (secundum) Lu-
a) Das Fragment fängt nach einer längern Lüde etwa mitten auf
der Geite an.
b) Die zweite Zelte, mit welcher das Fragment über das Evange:
der Kanon bed neuen Teſtaments von Muratori. 819
cam | Lucas iste medicus post acensum a) (ascensum) Chri-
sti (,)|cum eo (eum) Paulus quasi ut iuris studiosum | se-
cundum adsumsisset b) (,) numenisuo (nomine suo) | exopi- 5
nione c) concriset d) (conscripsit —) dominum tamen nec
ipse | vidit in carne e) (—) et idem prout asequi (assequi)
um bes Lukas zu reden beginnt, ift von Tertio- Lacam mit
zother Dinte gefchrieben. Schon hieraus erhellt, daß mit
Tertio ein neuer Gag beginnt. Dieſes ift, wie aus dem folgen»
dem libram hervorgeht, tertium zu lefen. Daß o und u, e und
i, auch e und ae, b und p u. ſ. w. in den Handfchriften nicht
felten verwechſelt werben, mag bier eins für allemal gefagt fein.
Ebenſo fehlt m fehr Häufig, indem es durch einen horizontalen
Strich bezeichnet wurde, ber verblichen ober auch wohl gar nicht
gefegt if. Gin Beiſpiel hierfür ift auch bas gleidy folgende se-
cundo für secundam,. Das außerdem fehlerhafte a (secando) ift
bereits im Danufcript in u corrigirt.
a) Das erfte s fcheint von derfelben Hand bazwifchen gefchrieben.
b) d. i. „da ihn Paulus gleichſam als zweiten Bechtöbefliffenen
dazugenommen hatte.” Vielleicht ift bier angefpielt auf ben
Rechtsſatz: „das Zeugniß zweier Menfchen ift wahr” (Joh. 8,17.).
Der Ginn ifl aber ungweibeutig der, daß das Evangelium bes
Lubkas unter den Aufpicien des Paulus entflanben fey.
c) nomine suo ex opinione, d. i. „in feinem, bes Lukas, Namen
nad) der Meinung ;” eigentlich aber ift es das Evangelium bes
Paulus, ;
d) Gin b ftatt p iſt von berfelben Hand übergelchrieben.
e) Die Worte dominum tamen nec ipse vidit in carne bilden einen
Zwiſchenſatz, fo daß ſich das folgende et idem unmittelbar an
conseripsit anfchließt: „und eben berfelbe fchrieb, wie er’s ver:
folgen Eonnte.” Das assequi fheint auf wagnxolovßnudr:
(2uf.1,3) anzufpielen, welches bereits in ber Itala (vergl. Ladys
mann’s große Edition) durch assequi wiedergegeben wird, Aber
was bezeichnen bie erftern Worte? Jedenfalls, daß Lukas ben
Seren nicht gefehen bat, fein unmittelbarer Schüler nicht gewe⸗
fen it, was bekanntlich richtig if. Aber mit wem wird er
durch das nec ipse in diefer Beziehung auf gleiche Linie ge:
flelt ? etwa mit Paulus, von welchem kurz vorher die Rede if?
Schwerlich, fondern mit dem Spangeliften Markus, beffen Evan»
gelium in unferm Bragmente kurz vor dem des Gpangeliften
Lukas erwähnt gewefen fein muß; f. fpäter. Denn theils ſcheint
820 Mieſeler
potult |ita et ab nativitete lohemnis incipet (it) dicere (.)
Qearti (um) evangeliorum Iohannis (es) ex decipulisa) (di-
scipulis.) | Cohertantibus condecipulis (oondiscipulis) et
10 episcopis auig | -dixit (:) Conieiunste mihi edie (hodie) tridue
(um) et quid|ceique fuerit revelatum(,) alterutrem (tri)
nobis ennarremus (enarremus.) Radem nocte reve | latum
Andreae ex apostolis (,) ut recognis (os) | centibus cuntis
15 (eunotis) Iohannis (es) suo nomine | cuncta discriberet (de-
seriberet.) Et ideo licit (et) varia sin | gulis evangeliorum
principia | doceantur (,) nihil tamen differt creden | tium fidei
(? es,) cum uno ac principali spiritu de | clarata sint in
20 omnihus omnia de nativi |tate(,) de passione (,) de resur-
rectione (,) | de conversatione cum decipulis (dieeipulis)
suis | ac de gemino eius adventu b) (;) | primo (us) in hu-
militate dispectus (despectus) quod fo(u) c)|..(it,) secm-
25 dum (s) potestste regali pre(ae)|clarum d) (s) quod fo-
turum (futarus) est e)- Quid ergo | mirum(,) si Iohannes
hierauf der Gag et idem etc. zu führen, theils wird im ol:
genden beim vierten Cvangeliſten ausdruͤcklich wieder has Ges
gentheil herworgehoben, baß er gu den Züngern Jeſu gehört
babe. Denn allerbings Tonnte es bei einem Evangeliften
nicht gleichgältig feyn, gu erfahren, in welchem Verbältniffe er
zum ‚Herrn geflanden hatte.
a) Iſt zu ergängen conscripsit. Die Worte Quarti— decipulis find
mit rother Dinte gefchrieben.
b) Nach adventu ein etwas groͤßerer leerer Raum, als am Ende
anderer Zeilen zu fein pflegt.
c) Die beiden Endbuchſtaben von Zeile 24 find fo; die beiden Buchta
ben der folgenden Beile .find etwas undeutlich, aber von mei:
nem Bruder re gelefen, was keinen Sinn gibt (idy habe fuit
eonjieirt); dann folgt ohne Zwiſchenraum secundum.
d) Bor praeclarum 2 Buchſtaben, die ausgeflrichen ober vielmeht
ausradirt find.
e) Hier findet ſich, wie an noch einigen bemerkten Stellen im Mu
nufeript, als Interpunctionszeichen ein oberes Punctum, das fc
genannte griechifche Kolon. — Die Worte von primo — faturem
der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 821
tam conetanter | singula etiam in epistulis (epietolis) suis
proferat(,) | dieens Insemeipsu a) (in semet ipao:) Quae
vidimus oculis |nostris et auribus audivimus et manus | 30
'nostrae palpaverunt (,) haec scripsimus (‚,) | b). Sic enim
non solum visurem (visorem se) c) sed et d) auditorem
sed et | scriptorem omnium mirabilium dominus (i) e) per
ordi|nem profetetur (profitetur). Acta autem omnium apo-
stolorum | sub uno libro scribta (scripta) sunt (.) Lucas obtime
(optimo) Theophi|le (0) conprindit (comprehendit,) quia f) 35
est find fehr dbeprarirt. Ch. Er. Schmid in Kritifche Unterfus
hung, 0b die Offenbarung Iohannis ein göttliches Buch fey,
1771, vermuthet: primo in humilitate despectas, quod praeteri-
tum est, secundo in potestate regali praeclarus, quod futurum
est. Schon wegen bed Raumes wäre aber dann für praeteritum
est „‚fait” zu fegen. Ich veflituire: primus (scil. adventus) in
humilitate despectus quod fuit, secundus potestate regali prae-
clarus quod futurus est; dad quad hängt dann von declarata
sint ab. Wie man aber auch lefe, der Sinn iſt unzweifelhaft
ber, baß der geminus adventus Christi erklärt wird theils ale
feine Erſcheinung in Niebrigkeit, die bereits gefcheben ift, theils
als feine Erſcheinung mit koͤniglicher Würde, welche erft Toms
men fol.
) Im Zolgenden wird 1 Joh. 1, 1. citirt als Wort des Eyange⸗
liften Johannes, woraus erhellt, einerfeits, daß der Verfaſſer ben
erſten Brief als eine Schrift des Johannes anerkannte, und an:
dererfeits, daß er bdiefen Brief und bad Evangelium derfelben
Perſon beilegte. Im Vorhergehenden wird indeß auch von episto-
lis diefes Johannes im Plural geredet.
b) Anfang ber zweiten Geite bes Manuſcripts.
c) Nach visorem ift gewiß se hinzuzufügen, was auch von dem
Schreiber um fo eher ausgelafien werben Eonnte, als bas aͤhn⸗
lie sed gleich darauf folgte. Zimmermann a. a. D. conjicirt
visorem se et.
d) Das gewiß urfprünglicdhe et ift bereits in ber Handſchrift über»
und zwiſchengeſchrieben.
e) DNS, doch fcheint an dem fchließenden S gefragt.
f) Die Aenderungen optimo Theophilo und comprehendit liegen
auf der Hand und find allgemein angenommen. ben fo ficher
ſcheint aber die an’ fich jedenfalls fehr leichte Aenderung bes quia
822 Biefeler
(quae) sub praesentia eius «) singula | gerebantur (,) sic
a)
et semote passionem Petri | evidenter declarat (,) sed
in quas; denn erflens, ba wegen bes vorhergehenden sunt mit
Lukas unftreitig ein neuer Sag beginnen muß, fo erhält compre-
hendit erft fo feinen Objectsaccufativ; zweitens muß bas qguis
jedenfalls geändert werden, dba es einen Sinn gibt; drittens
bildet comprehendit augenſcheinlich einen Gegenfag zu singula:
eukas faßte für den Iheophilus das Einzelne zufammen, was
geſchah. — Der Inhalt der Apoſtelgeſchichte ifl bier etwas
übertrieben dargeftellt — denn bekanntlich Yat Lukas mandyes
Einzelne in ihr übergangen — doch nidytübertriebener, alskurz
vorher in bem acta omnium apostolorum. Der Berfafler
theitt biefe in ihrer. Allgemeinheit ungenaue Eharakteriſtik mit
den meiften feiner Zeitgenoffen.
eine iſt auf Lukas, nicht anf Theophilus zu beziehen. Was
heißt nun: sub praesentia eius? Etwa biefes, daß Lukas bei
dem Ginzelnen, was er in ber Apoſtelgeſchichte befchrieben hat,
immer gegenwärtig geweſen fey, unb baß er nur das Ginzelne
babe befchreiben wollen, bei weldhem er in Perfon zugegen war?
Schwerlich wird man diefe unbaltbare Anficyt von ber Apoſtel⸗
geſchichte, welche audy zu dem acta omnium apostolorum we
nig paffen würde, bei der klar vorliegenden Beſchaffenheit der⸗
felben, da die erfte Perfon fidh erſt von Apſtg. 16, 10. ab findet,
dem Verfaſſer unferes Kanone zumuthen dürfen, und zwar umfo
weniger , als berfelbe gerade von Lukas in Bezug auf fein Ber:
bältnig zum Evangelium gegenüber der irrigen Angabe Anderer,
daß er einer der Siebenzig geweſen fey, ebenfalld richtig ber
merkt, daß er den Herrn im Fleifhe nicht gefeben habe. Es
werben die fraglichen Worte daber in einem allgemeinern Sinne,
für tempore eius gefaßt werden müffen. Daß dieſe Erklärung
richtig fein dürfte, ergibt ſich noch aus folgender Betradstung.
Das optimo Timotheo enthält anerlanntermafen eine Anfpie
lung auf das Prodmium bes Evangeliums, wo ber Evangeliſt
Beranlaffung und Zwed feines Werkes felber auseinander:
fegt, nämlih auf das xgarısre Gsopıle (Evang. Eul. 1,3.)
Und deßhalb iſt es an ſich ſchon fehr wahrſcheinlich, daß bie
Worte quae sub praesentia eius singula gerebantur bloß eine
in nicht gutem Latein verfaßte Parapbrafe von Ev. Luk. 1, 1.
æsol ray weningopognuisov dv jaiv agayuarew ſeyn follen,
fo daß unfer sub praesentia eius dem dv Yjeiw entipredgen
würbe,
der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 823
profectionem Pauli ab ur|be sd Spaniam profleiscentis =)
a) Die Worte von sicuti et bis prohciscentis find von großer hiſto⸗
riſcher Wichtigkeit, und zwar fchwierig, aber, wie ich glaube,
in ihrem Zufammenbange gefaßt, noch ſicher zu enträthfeln,
Wir unterfcheibden bie Bragen : was bebeuten fie an ſich? unb dann,
was bedeuten fie in ihrer Berbindung mit dem Vorhergehenden?
ad 1) Zunädft die Worte: semote passionem Petri eriden-
ter declarat, „‚abgefonbert zeigt Lukas deutlich dad Leiden des
Petrus an.” Zimmermann benlt bei der passio Petri an
Apft. 5,40. 12,3 ff. Gewiß mit Unrecht. Denn einerfeits mas
chen es nicht nur die befannte Tradition über Petrus, fonbern
auch die Worte felber (fowird auch 3.21. in unferm Sragmente
das Zobesleiden Ehriſti bloß passio genannt) hoͤchſt wahrſchein⸗
ich, daß man an dad Zodesleiden des Petrus zu denken
habe; andererfeits ſpricht semote ausdruͤcklich gegen biefe Auf⸗
faffung, da Lukas nad diefem Worte eben nicht in ber Apoftels
gefchichte, fondern an einem abgefonderten Orte über bie
passio Petri reben fol. Da nun Lukas die letztere erwähnt has
ben fol, dieſer aber nur die Apoftelgefdhichte und fein Evanges
lium gefchrieben hat, fo muß von unferm Berfafler eine Stelle
des Evangeliums, alfo wohl Auf, 22, 83., gemeint fegn.
Muß aber unter ber passio Petri ber Märtygrertob des Petrus
verftanden werden, fo gehört unfere Stelle auch zu den Altern
3eugniffen über denſelben; über das Alter des Kanons ſ. fpäter.
Weiter beißt ed: sed profectionem Pauli ab urbe ad Spaniam
proficiscentis. Zimmermann ändert das sed in et. Gegen bie
Leichtigkeit diefer Sonjunctur wäre nichts einzuwenben, nur iſt
fie deßhalb ſchlechthin ausgeſchloſſen, weil, wie Jeder fieht, Lukas
weder in der Apoſtelgeſchichte noch im Evangelium die Reiſe des
Paulus nach Spanien evidenter declarat, wie es doch der Fall
ſeyn müßte, wenn ſtatt sed et geleſen würde. Augenſcheinlich
ift, wie der durch sed angedeutete Gegenſatz zu bem vorherges
benden eridenter declarat und bie Sache felbft lehren, hinter
prohciscentis ein Wort wie omittit ausgelaffen, ober es iſt
flatt sed nec zu leſen.
ad?) Weßwegen bat der Berfafler des Kanone einerfeits die Er⸗
wähnung bes Märtyrertobes des Petrus bei Lukas und andererſeits
feine Webergehung ber Reiſe des Paulus nad) Spanien anges
führt? Hätte er zunädhft eine Charakteriſtik der Geſchichtſchrei⸗
bung des Lukas geben wollen, fo hätte er, wie einleuchtet, keine
unpaffendern Beifpiele wählen können, als dieſe. Zu biefer
Erörterung treibt ihn unftreitig ein anberweitiges Intöreffe,
nämlich das Interefle an der Geſchichte der Apoftel Petrus und
4
u. . Wiefeler
(omittit.) Epistulaea) (Epistelae) autem | Pauli(,) quae (,)
40 a quo loco vel qua ex causa directe (ae) | sint(,) volan-
tatibus b) (volentibus) intellegere (intelligere) ipse (ae) de-
clarant (.) | Primum omnium c) Corintheis (Corinthüs) sey-
Paulus, mas im Schooße ber römifdhen Gemeine, in welder,
wie wir fpäter fehen werben, unfer Fragment entflanden ſeyn
muß, nicht zu verwunbern iſt. Hier müffen damals fchen bei
Behauptungen ausgefprochen feyn, daß Petrus ben Märtgrerteb
erlitten babe, und baß Paulus von Rom (ab urbe) nad Ep
nien — £egteres wegen Römer 15, 24. — gereift fei, unb unier
Verfaſſer will ſich über die Wahrheit dieſer Behauptungen mit
Bezug auf die Werke des Lukas ausſprechen. In weldgem Binz:
er es thut, ergibt fich aus dem Zuſammenhange. Diefer wir
mit dem Vorhergehenden durch sicati et vermittelt; es muf,
wie dieſe Partikel barthut, bes vorhergehende allgemeine Ge
danke näher erläutert und beftätigt werben. „kukas faßt zu
fammen, was während feiner Zeit Ginzelnes gefchehen war,
wie er denn auch abgefondert bas Leiden beö Petrus beutlih an
zeigt —benn ed war zu feiner Zeit gefcheben — aber die Keil
des Paulus, da er von der Stadt nad Spanien reifte, übe:
gebt — denn fie war nicht gefchehen.” Gr bejaht mithin gwar
den Mörtyrertob des Petrus, leugnet aber die Geſchichtlichkeit
ber fpanifchen Reife des Paulus und, was daraus nothwendis
folgt, die Gefhichtlichleit der fogenannten zweiten roͤmiſche
Gefangenſchaft des Paulus, Wir haben bier alfo wahrſcheinlich
ein altes wichtiges Beugniß, und zwar aus dem Schooße ber ti:
mifchen Gemeine felber, welches ber Annahme biefer zweiten Ge
fangenfchaft direct wibderfpricht.
a) Das bisher flatt epistola vermuthete epistolae findet ſich in ber
Handſchrift. |
b) Ebenſo verhält es ſich mit volentibus flatt voluntatibas. Den
bei diefem Worte ift an u und ta rabirt und bei bem erflem
der Anfang ber Aenderung in ein a gemacht.
c) Beifpielsweife führt ber Verfaffer von primum omnium bis pro-
lixias seripsit aus, qua ex causa die brei bedeutendſten Parli⸗
nen verfaßt feyen. — Das primum omnium hat Zimmermann
reichen Anlaß zum Tadel gegeben, indem er ben Text nicht ver
flanden hat. Gr meint nämlich, daß dadurch eine Ausfage über
die Abfaffungszeit ber Korintherbriefe gegeben werben fol;
und allerdings wäre es irsig, die Korintherbriefe als die zacrk
‚von Paulus verfaßten bezeichnen zu wollen. Vergleicht man
die bald darauf folgende Angabe über bie an einzelne Gemeine
der Kanon bed neuen Teſtaments von Muratori. 825
sme =) (schisma) heresis (haeresis) in | terdicens (‚) dein-
ceps Callactis (oder Callastis, d. i. Galatis). cironmcisione
(circumceisionem,) b) | Romanis autem ordine c) (ordinem)
scriptararum (,)sed et d) | principium earum esse ©) Chri-
stum intimans f) (Paulas ?) | prolexius (prolixius) seripsit (,) 45
de quibus sincolis (singulis) 8) neces | se est ab nobie des-
— — — — —
gerichteten pauliniſchen Briefe, fo findet man indeß dieſelbe Rei⸗
henfolge: Korinther, Galater, endlich Roͤmer, nur daß an unſerer
Stelle die übrigen Briefe ausgelaſſen find, weil ber Verfaſſer
bier nur die widhtigften Yaulinen und die Gemeinen, an welde er
prolixius ſchrieb, aufführen wollte, Jene Reihenfolge ift aber,
wie bier audy Zimmermann augibt, deutlich nicht die ihrer chro⸗
nologiſchen Entftehung, fondern bie ihrer Anordnung in bes Bis
bei unferes Berfaflers.
a) 1 Kor. 1,10. 8,3.
b) Gal. 5,2.8. Kurz vorher bei deinceps findet ſich noch ein b.
Dod ift wohl nicht deincepsb beabſichtigt, ſondern bas b wohl
nur eine Goxrectur bes p: „deincebs.”’
c) In ber Handfehrift urfprünglich ornidine ; bei ni ift der Anfang
zum Rabiren gemacht, wie 3. B. nach ©. 824. Not. h. hei dem ta. —
Es it für ordine ordinem zu lefen, (Andere aͤndern unnoͤthi⸗
. gerweife finem oder cardinem), wie kurz vorher circumcisiv-
nem für circameisione ; vgl. G. S18. Not. b. Wie ordo legum bie von
ben Gefegen gebotene Ordnung, fo bezeichnet ordo scripturarum
die von den Schriften (nach dem Zuſammenhange — denn es iſt
vom NRömerbriefe die Rebe — bes alten Teſtaments) gebotene
Ordnung. Der Accuſativ ordinem hängt ab von intimans, pro-
‚ lizius seripsit ift aber ba Hauptverbum ber gangen Periode,
welche in den Zertausgaben falſch abgetheilt zu werben pflegt:
„Zuerſt von Allem den Korinthern den Parteigwift unterfagend,
darnach den Galatern die Beſchneidung, den Römern aber die
von ben Schriften gebotene. Ordnung, aber dag Maud) ihr, ber
Schriften, Princip Ghriftus fey, ankuͤndigend, ſchrieb Paulus
ausführlicher.”
d) Hier iſt & und, wie ea fcheint, fpäter geſchrieben, aber in ber
Zeile.
e) Zwiſchen esse und Christam fland urfprünglidy sed, ift aber aus:
rabirt und faft unfichtbar.
f) Hinter intimans ein kleiner Raum, etwa für 5 Buchflaben. Es
ift wohl Paulus hinzuzufügen.
g) de quibus singulis etc., „über welche (naͤmlich Korinther⸗, Ga⸗
826 Wiefeler
putari (disputeri.) Cum «) ipse beatus |epostoles Paulus
sequens praedecessoris sui | Johannis b) ordinem noaai-
later» und Mömerbriefe) ale einzelne von uns verhandelt
wurbe, wie nothwenbig if.” Nur über biefe drei hat der Wer:
fafler kurz vorher im Einzelnen gehandelt; wegen ihrer Wide.
tigkeit war es ein necosse est. Es erklären unfere Worte,
warum er über biefe drei, nämlidy über ihre Abzweckung, vorher
befonders handelt und nun fofort zu einer andern und daza
zufammenfaffenden Betrachtung ber Paulinen übergeht.
Auch der Sag mit cum wird falfy verbunden, indem man vor
cam fein Yunctum madht, während doch im Folgenden ein neuer
Gedanke anhebt und jener Say, mit dem Vorhergehenden cen⸗
firuirt, Teinen Sinn geben will. Iſt dieß richtig, fo folgt, deß
der Nadfag zu cum nidt mit verum bis iteretar beginnen
Tann — biefes muß vielmehr ein Zwiſchenſat ſeyn, und ber
Nachſatz kann erft mit una tamen bis dignoscitur folgen. Se
erhalten wir allein einen treffenden Sinn. ‚Da Paulus nur as
fieben Gemeinen namentlid ſchreibt u.f.w., fo ertennt man,
daß doch nur eine Gemeine auf dem ganzen Erdkreiſe verbreis |
tet iſt; denn auch Johannes in der Apokalypſe, obwohl ex a
fieben Gemeinen fchreibt, Tagt es body zu allen.” Aus der
Siebenzahl der Bemeinen wird nach einer audy bei andern Kir
henvätern vorkommenden Sitte auf die Einheit unb Allgemein
beit ber chriſtlichen Gemeine und ber Briefe des Paulus, welche
an fle gerichtet find, gefcyloffen. Als Zwiſchenſat gibt andy dei
verum bis iteretar lebiglidh einen Sinn. Es ift zw leſen:
veram Corinthiis et Thessalonicensibus, licet pro correptiose,
iteratur, „aber den Korinthern und Theſſalonichern wird es (des
Schreiben), obwohl ald Zabel, wieberholt.” Der Berfaffer wi
fagen: außer den fieben genannten Briefen gibt es nody zwei
Briefe bes Paulus an bie Korinther und Theffalonidyer; Yes
find aber nur Wiederholungen berfelben Gemeinen, fo daß ie
Siebenzahe nicht überfchritten wird.
b) Johannes iſt der Apokalyptiker, wie bald naher noch eu
brudtich bemerkt wirb; er richtete feine Schrift an fieben n«
mentlih aufgeführte Gemeinen (Apok. 1, 4. 2,1 ff.) Di
Briefe, welche ihm von unferem Berfaffer audy beigelegt werben,
find an Feine namhaft gemachten Gemeinen gerichtet. — seques:
etc., „indem er feines Vorgängers Johannes Orbnung befolgt.”
Bimmermann verfteht nach dem Vorgange Anderer bie Wert:
fo, als erhelle aus ihnen, daß nach unferem Berfaffer die Ape⸗
u,
der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 827
ai 2) nomensthn (nominatim) semptem b) (septem)|erelesiis c).
seribet 4) ordine tali(:) acorenthies (ad Corimthioe) | pri- 50
1}
kalypſe vor allen Briefen bes Paulns, weicher ſich nad jener-
gerichtet haben folle, geſchrieben ſey, und zrinnert, freilid ums
ter ſtarker Rüge, dab auch Cpiphanius Chaeres. 61.) ihre Abfafe
fung fälfhliy in die Zeit des Claudius fege. Ich würbe daraus _
nicht zu viel machen, ba ähnliche Serthümer aud bei uns alle '
Zage vortommen. Indeß ſcheint mir der Borwutf voͤlltg unbegrim:'
"det zu feyn. Das soquens kann unftreitig. ala Urtheilı bes Berfafs
fers unfers Kanone oder ats Motiv des Paplus bei Abfaffung-
feiner 7 Briefe verſtanden werben, und nur im legtern Falle
{ft der Vorwurf begründet. Daß ber letztere Kal hoͤchſt unwahr⸗
ſcheinlich iſt, ergibt fi auch aus der feltfamen Vorſtellung,
welde man. dann unferem Verfaſſer beilegen muß: weil So»
bannes an 7 Gemeinen namentlich gefchrieben habe, fo habe
auch Paulus nur an 7 Gemeinen zu Schreiben beabfidhtigt; ferner
daraus, baß, wie wir gleich feben werben, bier gar nicht von
der urfprünglidden Entflehung der pauliniſchen Briefe geredet‘
wird, fondern von ihrem Verhaͤltniſſe imerhalb des Kanone und:
ber QOrdnung, in ber fie bier gelefen wurben. Daß das Ver⸗
fahren des Paulus mit dem des Johannes nur verglichen,
'nidt das eine aus bem andern abgeleitet werden folle, fo. daß
der allgemeine Sinn if: Paulus habe Wriefe an 7 namentlich
erwähnte Gemeinen geſchrieben, wie fein. Vorgänger Sohannes,
erhellt endlach aus den Schlußworten unfers Mbfchnittes: Et Io-
bannes enim etc., denn audy Sobannes. Er vergleicht bie Briefe
bei Paulus an bie 7 Gemeinen mit den Briefen an die 7 Gemei⸗
nen ber Apolalypfe, weil die allegorifche Erklaͤrung der legtern
Siebenzahl bereits gäng und gäbe war — fie iſt ja feib bis
auf bie neuere Zeit herabasführt — und deßhalb aud in jenen
fließenden Worten ohne Beweis als wichtig vorausgefegt wird.
Johannes heißt praedecessor als. Vorgaͤnger des Paulus im
apoſtoliſchen Amte, vgl. Gal. 1,17. 2,9. Deine apoſtoliſche
Würde wirb hervorgehoben, wie kurz zuvor die des Paulus.
a) Kür nonnisi ſteht donnisi, doch ift das n von besfelben Hand
übergefchrieben.
b) Das soptem iſt urfprünglid; semptae gefchrieben, ae für e, wie
öfter; doch ift an bem a bexeits radirt.
c) Urfprünglidy eccleses, über dem legten e find zwei i geſchrieben.
“ d) Die Reihenfolge der genannnten 7 Paulinen Bann eine zufällige
und darum gegen bie hergebrachte anftoßenbe feyn; denn daß
Theol. Stud, Jahrg. 1847, 56
38 .. Butler
ma. („). ad: Klesias. (Ephesies) secands (sseunde,) ad Fhi-
-lipginsee (Pihilippeiises). tes | tie. (,) ad Celosenses (Colsssen-
ses) quarta (,) ad Calatas (Galatas) quin |ta (,) ad Tensao-
loneciauis (Thesselenisenees) sexrta‘ ad: Romanos |. septi-
mw (-) veram. Cörentkeis (Coriuthiie) et "Tenwnolecen
(Thessalonicen) | sibus a) (,) licet pro correbtione (corre-
55 ptione,) iteretur (iteratur—) una |tamen per omnem orbem
terra enclesia | deffusa(diffusa) asedensscitur (digaesckur.)
Rt Ichenues ‚eaim ine b) (iu A)|pocsiebey (pocalypsi,)
Heet septem ecciesels (ecciesils) scribat (,) | tamen omai-
bus dieit(.) Verum ad Philemonem una | et at (ad) Titum
una, et ad. Tymotheum (Timotheum) dass (duae,) pro ı-
60 feo} tn.(tu). et dilestione c) (,) in. houore(komerem) tsmes
eeelerlae ca|tliolice(cae,) in ordinatione ecclesiastice (cae) d)|
descepline (disciplinae) sanctificate (tae) sant e) (.) Fer-
tar etiam ad| Laudecenses (Laodieenses,) alia ad Alexau-
deince Pauli. no.| mine finctae (fietan) ad haeresem f} Mar-
65 elenis-et alla plu-|ra-(,) quae in catholicam #) ecclesiem
———— — —
: der Varfaſſer in derſelben eine vorliegende Ordnung befolgt
will, ergibe fh aus dem aushrüdlich hinzugefügten ordie
aali: Diefe Ordnung fe aber, wie allgemein: ansckannt wir,
feine durch bie Ghronologie ber Wröefe beftimsmte ſeyn, ders
wie koͤnnte fonft: . B. der Brief an bie Roͤmer zulett und hir
ter den. Briefen: aus ber Geſangenfchaft bes: Apoſtels ſehen.
© iſt vielmehr eine eigenthämliche im Kanon ſelber, auf dit
wir fpäten zuruͤckkemmen werben , wie auch: durch das Praͤſen
: scribat, nicht soripaerit, angebeutet: wird.
a). Statt Tionsaolecemmibus arfprünglidg Desmeolscensikus.
* 1») Das i größer als gewähntid.
e) Die genannten Wriefe des Paulus an Private finb zwar au
Reigung und Liebe, aber doch zur Eher ber Tathetifdgen Kirdt
geſchrieben.
d) Hinter occlesigsticae beginnt die dritte Seito des Manufeipl-
e). Obgteich Briefe an Private, find fie doch zur Edre der kethe
liſchen Kirche verfaßt und wegen Xnorbwung der Eiedliät
Dissiplin gegeiligt, in die scriptura sacra aufgenommk.
f) Das re iſt fpäter uͤbergeſchrieben.
8) urſpruͤnalich chutholieam, body am. h rabiet,
ber Kanon bed neuen Teſiaments von Muratori. 829
recepi (reeipi) nan | potent (possupt),%)., Fel enim cum
mele misneri non con| gruit(.) Epistela sene Iude (Iudse)
et supessorietio (superseripti) | kahannja, daas. (dyge) in
cathnlica habentur (,) et (ut) Bapi | euiia ab, amicis Salomo-
nis ia honerem ipsius |.aoripta (.) apocnlapae (spocalypsis) TO
etiam lehanis (lohannis). Et Petri tentam recipimus (,)
quam (quem) quidam ex nos tris legi im eoclesis nolunt (.)
Pastorem vero | nıperrime temporibuanostris in urbe | Ro-
ma Herma (Hermas) conseripsit aedente catlıe | tra (dra) 75
urbis Romas accclesiae (ecrlezise) Pie eginoape fratre b)]
eius(;) et ideo legi eum quidem opertet (,) no. pu|phicare-
vero c) (blicare vero) in ecciesia populo neque inter | pro-
fettas (prophetas) conpletum (completos). nnmera: neque |
inter appstolos im finem temporum potest.d) | ‚,- 80
Arsinei autem seu Valentini vel Mitiadis #3. (Miltia
die?) | nibil ia totum recipimus, qui etiem. novum | psel-
morum kbsum Marcioni, cosscripse | runt (.) Una cum Bs-
silide Assianum (Asianerum) Cstafsy (Cataphry)|eum(gum)
conatitutarem #3 (nekieimus?).
a) patest ift ein Fehler des Schreibers für possunt, indem berfelbe
gedankenlos bad Relatinum quae für den Singularis gen. femin.
bielt.
b) Urfprünglich war frater geſchrieben, dann bas fihließende r rar
dirt und von einer andern Hand ein r zei und Kar vor ©
gelegt.
c) se publicare, d. i. ſich oͤffentlich hören taffen.
d) Hinter potest Raum für mehrere Buchftaben.
e) In Mitjadis ift an bem zweiten und den beiden vorlesten Buch⸗
ſtaben gekraht. Der vorlegte Buchſtabe ift ein burcheinander
geſchriebenes e umb i, doch iſt das i beutlidher als das e.
f) Das Fragment bört, indem der übrige Raum leer gelaffen ift,
mitten in einer Reihe auf, obne Punkt ober anderes Zeichen,
fo daß wir volle Befugniß haben, ein dem Zufammenbange nad)
nothwenbiges Wort wie reiicimus zu ergänzen. Es folgt eine
neue Weihe, Die zur Hälfte mit other Dinte geſchrieben ift,
und es beginnt ein fremher Gegenſtand. j
56*.
830 Wieſeler
Im Vorhergehenden wird hoffentlich ein im Ganzen
leſerlicher Tert hergeftellt fepn und erhellt haben, daß
derſelbe durchh die NRachläffigteit und Unkunde bes fpäs
tern Abſchreibers nicht fo verderbt it, daß er nicht an
den bei writem meiſten und eigentlich wichtigen Stellen
aus dem Zufammenhange ober ſachlich befannten That
fachen auf feine wefprüngliche Geſtalt zurückgeführt wer
den könnte. Ein nicht geringer Theil des biäherigen ir-
' rigen Verftändniffes hängt wohl damit zuſammen, daß
die hterpunotien von Muratori, gleihfam ale wär
auch fe vurch die verglichene Handfchrift gewährleike,
faft traditiongfl geworden zu feyn fcheint. Die Hand:
fchrife iſt micht verderbter als viele andere aus jener Zeit, _
"und ich brauche wohl wicht nody zu bemerken, daß and
der Unkunde des fpätern Schreiber nicht auf eine ent
fprechende Unkunde des erften Verfaſſers geſchloſſen wer
beit darf. Unſere biöherigen Bemerkungen And entweder
kritiſcher Art gewefer oder beſchraͤnken fich auf das naͤchſte
:"wörtliche Berftändniß oder auf einzelne wenige Bemer
tungen, die den zufammenhängenden Kortfchritt bes Fol
genden nur hätten unterbrechen können. Hier wollen wir
dagegen den Kanon als ein Ganzes Ind Auge faffen und
über feinen Entſtehungsort, fein urfpräüngli
hes Idiom, feinen Inhalt und feine Iutegri
tät, feinen Zwed, fein Alter und endlich über
feinen Werth verhandeln. In diefer Folge fehreiten
wir vom Leichten zum Schwerern fort und bie Art, wie
wir bie vorangehende Frage beantworten, fichert und be
gründet zugleich die Löfung der nächfifolgenden.
Der Ort, wo unfer Kanon entftanden feyu muß,
laͤßt ſich nicht ſchwer beflimmen; er muß Rom ober do
die nächfte Nachbarfchaft von Rom gewefen feyn. Hier
auf weiſt ſchon das befondere Intereſſe hin, welches au
ben Schidfalen der Apoftel Petrus und Paulus genommen
wirb; vergl. S. 822. Not. a des Fraguientd. Alien Zweifel
ber Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 831
aber nehmen die bier gebrauchten Worte: profectionem
Pauli ab urbe ad Spaniam proflciscentis — Rom heißt
bier die urbs ſchlechthin —; ferner, was Zeile 73 ff. über
bie Abfaffungezeit bed Hirten des Hermas hinzugefügt wird:
sedente cathedra urbis Romae ecclesiae Pio episcopo
fratre eius. Auch das gleich folgende et ideo legi eum
quidem oportet fcheint darauf hinzuführen, wenn diefes
ander® bedeutet: deswegen, weil der Hirte von Her⸗
mas in der Stadt Rom, während fein Bruder, der Bis
(hof Pius, die Kathedra der römifchen Gemeine ein-
nahm, gefchrieben, derfelbe alfo gleihfam unter Appro⸗
bation des römifchen Bifchofs, feines Bruders, erfchie:
nen iſt; denn fo konnte bei dem damaligen Anfehen dee .
römifhen Biſchofs wohl nur Jemand fchreiben, der felber '
zu feinem Sprengel gehörte. Doc fcheint die letztge⸗
nannte Stelle cher auf die Nachbarfchaft von Rom, ale
auf Rom felber zu führen. Daß er der Kanon von latei«
nifchen Ehriften fey, ergibt fich ferner aus der Stellung
der paulinifchenBriefe vor den fogenannten Fatholifchen,
während in der griechifchen Kirche die umgelehrte Ordnung
gebräuchlicher ift, und daraus, daß, mit Lebergebung des
Hebräerbriefes, nur 7 Paulinen a) an befondere Gemeinen
gezählt werden. Leber den Urfprung unfers Verzeichnifs
ſes innerhalb der römifchen Gemeine find die Audleger
auch bereits feit Muratori einig.
Hieranf fcheint aud Die Sprache, in welcher der
Kanon uns vorliegt, nämlich die lateinifche, hinzudeuten.
Dagegen behauptet Hug b) in f. Einleit. Th. J. S. 124ff.,
die Urſprache fey die griechifche geweien und das Fragment
a) Vergl. Bleek, Ginleitung in ben Brief an bie Hebraͤer,
©. 128 ff.
b) Grerike, Einleit. G. 49. ift nicht abgeneigt, dieſer Vermu⸗
thung beizutreten, namentlich wegen des erſten Briefes Petri,
der ſonſt gar nicht und fuͤr den ſonſt die apokryphiſche Apoka⸗
Inpfe bes Petrus erwähnt ſey; daruͤber ſpaͤter.
832 =. Wieſeler
liege ans jetzt in einer ſchlechten lateiniſchen Ueberſetzung
vor. Den Beweis findet er in einigen Uederfetzungöfeh⸗
lern, die er entdedt zu haben meint. Das sic enim nei
solam visorem etc. Zeile 31. des Fragments überfeht er
fo ind Griethiſche zurüd: oßras Päp ob udvov Beam,
dilk xul dnovosiv re xal ypanuarla advrav Havuasiav
zod xuplov aadekig Eavıöv Öporoysi. Das gleich fob
gende acta antem omnium apostolorum bis proficiscen-
tis überfegt er fo: z&c O6 wodkas dadvrov av daoes-
Aovy yoaweldas &ls ulav PlßAov Aovxäs To xgariere
Bsopliu Gvvinkscev, Or xurd uipos tv Ti abroü zagoviin
iyevhündav, xados, napextös tod Iltrpov nad'nuaros, 6e-
ps bupanikeı ‚nal vis Exıönulas Iledlov dxd ring adlsms ck
tasZiravlas Erıdnnoüvros. Endlich die Worte Über der
Petrus: Et Petri tantum ete. werden fo wiedergegeben:
Kal Il&roov povnv agaderöpsde, ns ragbE zıves ip
dvayıvesöneodu iv Exxinale ob Diilovas. Statt tantım
wird adynvgefegt, um wenigſtens einen Brief des Petra!
herauszubefommen; damit aber der zweite Brief Pelri,
wenn auch nur ald dvrileyöuevov, erwähnt werde, wird
von Hng für quam Ag xcotẽ gefchrieben, wofür Gnerik
indeß Av vorfchlägt, da ihm jenes zu gewaltſam ſchei.
Vergleicht man diefe Rädüberfegung mit dem lateiniſchen
Terte, fo It die Annahme von Hug wohl ſchwerlich ar
derd als ein fcharffinniger Verſuch zu nennen, bie ver⸗
meintlich anfößigen Stellen des letztern aus dem Kann
zu entfernen. uch dieß muß zugegeben werden, dab
wenn die Annahme einer folchen den Sinn tetal im
bernden Nädüiberfeßting richtig wäre, die lateiniſche Leber
feßung überaus wenig gelungen wäre. Allein dieß tet
tere fofort vorauszuſetzen, wärde voreilig ſeyn. Daß bei
den beiden zuerft erwähnten Stellen wenigſtens feine de
artigen Ueberfegungsfehler anzuerkennen find, bürfte and
unfern obigen Bemerkungen erhellen. Lieber die briflt
Beweisftele werben wir fpäter Handeln. As Bene
der Kanon des neuen. Zefluments von Muratori. 838
bleibt nur noch übrig in Zeile 66. bed Fragments Das
quae in catholicam ecelesiam reeipi non potest (Katt
possumt), wo analog dem Briechifcdyen das Neutrum im
Plural mit dem Berbum im Singular conſtrairt werde,
Daß dieß ganz ifolirte Beifpiel indeß weit wahrfcheinlis
cher bloß ein Verſehen des Abſchreibers if, faun bei
feiner fonfligen urkundlich vorliegenden Qualität faum
einem Zweifel unterworfen feyn; man vergl. noch die
dazu gehörige Mote, in ‚welcher über den wahrfcheislis
hen Urfprung diefes Schreibfehlere gehandelt wird. Die
übrigen von und forgfältig mitgetheilten Teptcorruptio⸗
nen laſſen ſich — man braucht dazu deu Kanon nur ganz
flüchtig durchzugehen — in der Regel aber mit ber größ⸗
ten Reichtigleit von der Vorausſetzung and verbeffern,
daß unfer Schreiber ein lateinifches Driginal vor fich ges
habt habe. Bei dem Mangel aller nur einigermaßen
ringenten Beweife fürd Gegentheil wird man daher bie
jenige Spradye als die urfprängliche gelten Laffeu nmüfs
fen, in welcher bad Document und urkundlich vorliegt.
Hierfür fpricht denn auch, daß, wie:wir gefehen haben,
der Ort feiner Entſtehung anerfauntermaßen auf bie
römifche Gemeine hinweiſt, fo wie bad wohl beabfich
tigte Wortfpiel 3. 67: „Fel enim cum melle misceri
non congruit,” und überhaupt Diejenigen un Borhergehen⸗
den angeführten Merkmale, zufolge welcher daſſelbe, ab⸗
gefehen von feinem Entſtehungsorte, von einem GEliede
der Iateinifchen Kirche audgegangen feyn muß.
Wir gehen zu einer nähern Mnalyfe dus Inhalts
unfere Fragments über, wobei wir jetzt alle Erklaͤrumgo⸗
verfuche als willkürlich zurückweiſen dürfen, welche auf
der hug'ſchen Annahme einer irrigen Ueberſetzung aus
einem griechifchen Originalterte beruhen.
Unſer Verzeichniß ber heiligen Schriften umfaßt zu⸗
erſt die bekannten vier Evangelien. Ge-if freilich im
Anfauge verflämmelt, erwähnt indeß das Evangelium
k 5
8 Wieſeler
nach Lukas als birittes Buch des Evangeliums und
daunu Das Evangelium des Johannes als viertes. Es
müſſen within die beiden Evangelien des Matthäus und
Markus kurz vorher erwähnt ſeyn, zunächſt das des
Markus; beun obwohl die 4 Evangelien befanntlic in
verfchiedener Ordnung vorfommen, fo gibt ed doch Feine
Reihenfolge, bei welcher nicht Matthäus vor Markus den
Bortritt bebielte, Die Anfangeworte unferd Fragmente:
quibus tamen interfuit et ite posuit, müflen alſo vom
Evangelium bed Marne gemeint fein. Läßt ſich nun
noch enträchfeln, was biefe Worte aller Wahrſcheinlich⸗
keit nach bebeuten ? Wir haben bereite in S. 819. Rot.e ded
Fragmente gefehen, Daß nach demfelben Markus eben fo
wenig ale Lukas felber den Herren gefehen hatte, und
dieß iR über Markus auch die herrfchende Kirchliche Tras
ditton. Hieraus folgt, daß das quibus interfuit nit
auf Anwefenheit bei den Reben Jeſu gedeutet werben
kann. Dagegen würde ferner dad zwifcheneingefügte ta-
men ſprechen. Es muß vorher etwas erwähnt fein,
woran Markus Leinen Theil hatte, nämlich der per:
fönliche Verkehr mit Jeſn. Wie bereits Zimmermann
anninımt, wird hier auf bad bekannte Berhältwiß des
Marias zu Petrus hingewieſen, deffen interpres er nad
kirchlicher Tradition gemwefen fepn fol. Folgendes muß
etwa hier geftauden haben: Markus war Fein Zuhörer
Des Seren und fchrieb die von Petrus vorgetragenen
Erzählungen wieder, bei denen er indeß zugegen war:
et ite posuit, „und er ftellte fie fo, wie fie vorgetragen
waren.” Mit einem Worte, wir haben bier ganz den
Inhalt ded Zengnifies des Presbyter Johannes bei Par
piad über dad Evangelium ded Markus wieder, Euseb.
h. e. 3,39: O xgsoßursgog Eizye: Mdgxog uiv Epuer-
ws Ilkrgov yevöusvog, Boa Euynuöveudev, dxgıßüs Eyge-
vev, 00 usvror vabeı Ta vaæò Tod Kauarod 4 Asydtvsa Yxpe-
divra‘ oürs yag Axovos vod xvolou x. 1.4.
07
|
der Kanon bes neuen Teſtaments von Muratori. 835 |
3.2--8. handelt vom Coangelium des Lulad. Tulad,
der ebenfalls den Herrn nicht gefehen habe, habe nach ber
Himmelfahrt Ehriſti — wie lange nachher, if nicht geſagt —
unter Dem Beiltande des Apofteld Paulus in feinem Namen
das dritte Evangelium gefchrieben und begiane mit der
Geburt Zohanned ded Tänfers. Nach 3. 9 bid cumeta
describeret in 3.16. hat Johannes, der Jünger des
Herrn, das vierte Evangelium gefchrieben. Weber bie
Entftehungsmeife deffeiben wird Folgendes hinzugeſetzt.
Indem feine Mitjünger und Bifchöfe zu feiner Abfaffung
aufforderten, habe er zu ihnen gefagt, fie möchten mit
ibm an dem Tage ein dreitägiged Faſten beginnen, und
was einem jeden offenbart fey, wollten fie einander ers
sählen. Roc in derfelben Nacht fey dem Apoſtel Aus
dreas offenbart, daß, indem es alle (feine Mitjunger
und Bifchöfe) durchſähen, Johannes Alles in feinem
Ramen niederfchreiben follte. Das Gewicht diefer in der
Tradition allerdings gefärbten Erzählung über das for
banneifche Evangelium ift von Ereduer in Bezug auf
defien 21. Kapitel Einleit. in das N. T. g. 90. S. 238. und
in Begug auf die Beranlaffung zur Abfaffung bes Evan»
geliums 6. M. S. 237. hervorgehoben. Daß und wie weit
ihr wenigftend in Bezug auf den erfien Punkt Glauben
beizumeſſen fey, habe ich in einer Differtatiom a), in wel⸗
her ich über Marl. 16,9 ff. und Joh. 21. meine Britifche Un⸗
fit niedergelegt habe, nachzumeifen verfucht; denn auch
aus inneren Gründen fcheint zu folgen, daß das 31.
Kapitet ald Rachtrag zu dem Evangelium von einem
Mitjünger des Apoftels Johannes, wie ich meine, dem
Presbyter Johannes, welcher ihn nad) Papias überlebte
und fich ebenfalls in Kleinaflen aufhielt, verfaßt if. —
Dieß ift ed, was und ber Fragmentiſt über die vier kano⸗
a) Indagatur, num loci Marc, 16,9 — 20. et Joh.21. genuini sint
necne , ea fine, ut aditus ad historiam apparitionam lesu Christi
rite oonscribendam aperiatur, p.88 sqq.-
686 Mieſeler
wischen Evungelien und deren Entfichungsweife mit⸗
theilt, nur daß fein Bericht Über bad Evangelinm bei
Matthäus leider ganz verloren und ber über das Evan
gelium bed Markus ur verktiimmelt auf une gekommen
ik. ‚Im den Worten 3.15: Zt ideo licet varia singulis
ewsugellorum primeipia doceantur bid quod futurus es
8. 25. fehließt ſich die verkändige harmoniſtiſche Betrach⸗
tung über die vier Evangelien an „obwohl für Die eiuzeinen
Evangelien verfchiedene Urfprünge(principia, Eutſtehuugs⸗
weifen) gelehrt würden, fo mache Bas doch feinen Unterſchied
für ben Glauben ber Gläubigen (es ift hier die Ledart bei
Teste: fidei, feſtgehalten), da die Hauptſtücke aber Geburt,
Leiden, Auferſtehung, Verkehr mit feinen Inngern un
feine doppelte Ankunft in allen in dem einen und un
fpränglichen Beifte erklärt feyen.” Wie diefe Bemerkung
jeden Einwurf in Betreff der weſentlichen Harmonie ber
vier. kanoniſchen Evangelien zurüdweifen fol, fo folgt
von den Werten Quid ergo mirum 3.25 ff. bis per or-
dinem profitetur 3.34. eine tritifche Bemerkung über dad |
Berhätmiß des Evangeliums zu den johanneifchen Briefen,
Die, nuabhängig von unferm Fragmente, jet wieder geb
tend gemacht zu werben pflegt. Es konne nicht auffal⸗
len, meint der Fragmentiſt, daß der Evangelift Schar
nes wit ſolcher Beſtändigkeit (tam constanter) Ein
seines “) auch im feinen Briefen vortrage; denn, wie er
feier 12Joh. A. fage, fo habe er als Augen, und Ohr
zeuge des Lebens Jefn die Briefe verfaßt. Diefe Erliür
sung des kritiſchen Problems feßt die Anfiche vworand,
Daß die Anfchanung und Begriffsbildung im Goangeline
wie in den Briefen des Johannes im Allgemeinen gie:
cher Weife anf deſſen urfprünglichen unmittelbaren Ber
che wit Chriſto zurückzuführen fey.
a) Man denke an die off hervorgehobene Wieberkehr ber gleichen In:
fhauungen und Worte einerfeits in den im Gpangelium milge
theilten Reden Chriſti und andererfeite in den jepanneifchen Briefen.
der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 837
Bevsr wir den Abfchmitt Über die Evangelien ver -
Iafien, bemerken wir noch, daß die vier Evangelien,
wohl als unmittelbare Urkunden der Thaten und Re
den des Herrn, wenigflend zur Zeit des Abſchreibers,
wahrfcheinlicher wohl des Verfaſſers unferd Fragments
eine höhere Auctorität als die übrigen nruteſtamentlichen
Schriften gehabt zu haben fcheinen.“ Denn fo oft der
Beriht zu einem neuen Evangelium fortſchreitet Cogl.
die Roten zu den Anfangeworten über die Evangelien
des Lukas und Johannes), wird der Unterfcheibung wer
gen rothe Dinte angewendet, welche in den folgenden
Mittheitungen Aber. die andern neuteſtamentlichen Schrifs
ten nicht wiederkehrt.
Nach den Evangelien wird munter den Sanonifchen
Schriften die Apoftelgefhichte, welche von Lukas
herrühre, erwähnt, 3. 34. Acta autem ommium napostolo-
rum bis proficiscentis 3. 38. lieber den weiten ubalt .
dieſes fchwierigen Abfchnitte f. die Noten bed Tertes.
Bon Zeile 39. Epistelse autem Pauli bie Jeile68. Epi-
stola sane Iudee wirb von den Briefen bes Apofels
Paulus, den editen und in. den Kanon der Kirche re
cipirten (von 3. 39. tie 8.63. Fertur etiam ad Laodioen-
sen) and den mnechten, verworfenen (von 3.63. bis 8. es.
a. a. O.), gehandelt, Zuerſt von den echten; m. ogl. we:
gen ded Berfländniffes im Einzelnen unfere Noten zum
Terte. Nach der allgemeinen Bemerkung über die Briefe
des Paulus, daß fie über-ihre Echtheit, ihren Ente
hungs ort nad ihre Abzweckung felber Auskunft gäben,
wird wegen ihrer Wichtigkeit der Zweck der Briefe an
die drei Gemeinen zu Korinth, in Galatien und Rom
beſonders entwidelt. Unter den Paulinen wird dann ein
Unterfchied gemacht zwifchen Briefen an ganze Gemeinen
und zwifchen Briefen an Private. Erſtere, deren Allges
meinheit mit Bezug auf die Siebenzahl der Gemeinen,
an weldhe Paulus fchrieb, dargethan wird, werben in
‘
838 Wieſeler
folgender Ordnung aufgezählt: Briefe an die Korinther,
Brief an bie Ephefer, Philipper, Kolofler, Galater,
Briefe an bie Theffalonicher, endlich Brief au die Römer.
Eine fingnläre Ordnung, die aber nicht zufällig ſeyn
kann, fondern, wie (S. 837. Note d) gezeigt if, von
dem Aragmentiften im feiner Kirchenbibel vorgefunden ſeyn
maß. Sie ſcheint mir urfprüngliher, ale z. B. die Orb:
nung ber jegigen Bulgata: Römer, Korinther, Galater,
Ephefer, Philipper , Koloſſer, Theſſalonicher, umd Ich
tere and der erfiern abgeleitet werden zu können. Die
leßtere erhalten wir nämlich dann, wenn wir den Brief
an bie Nömer, Die Briefe an die Korinthber und dem an
bie Balater ihrer Wichtigkeit wegen vorauftellen und bie
übrigen durchaus in ihrer frühern Ordnung belaflen,
wie denn die größere Wichtigkeit ber drei genannten
Briefe von unferem Fragmentiften bereitd dadurch aner:
kannt if, daß er lediglich Über fie befonders gehandelt
bat. Jedenfalls iſt aber Die Reihenfolge der paulinifchen
Briefe in unferm Kanon — der Brief an die Balatır
siemlich gegen Ende und ber an die Römer fogar gan
am Schluſſe — eine thatfächliche Widerlegung von Baur
Gonjectur a), Die Boranftellung berpaulinifchen Brick
im Kanon Bed Marcion nad. Epiphanius Chaer. 42, 9.)
in der Ordnung: Galater, Korinther, Römer, beredtige
su der-Folgerung, daß wur diefe drei Briefe urfpräug
li die Elaffe der echten Paulinen bildeten, zu denen
bie übrigen erft fpäter b) hinzugelommen feyn. — NRadı
den 9 Briefen an einzelne Gemeinen werben noch 4 Briefe
bed Paulus erwähnt, nämlich der an Philemon, an Ti
tus nnd 2 an Timothens. Ob diefe Ordnung eine wil—⸗
fürlihe oder eine vom Berf. vorgefundene geweſen if,
a) Paulus, der Apoftel Jeſu Chriſti, S. 249 ff.
b) Daß ber Kanon des Marcion chronologiſch gu deuten fey, fol
an einem andern Orte gezeigt werden.
+
ber Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 839
darüber laͤßt fich hier ſtreiten, da im Terte nichts Aus⸗
drückliches gefagt iR. Doch um ber Analogie wit bem
Borigen willen ift das Erftere vielleicht vorzuziehen. Daun
ſchloß ſich der Brief an Philemon wohl deßhalb gumächkt
den Briefen an die Bemeinen an, weil er wenigflene
anfer an Philemon aud an Appia und Archtppos und
an die Gemeine in Philemon’d Haufe (Philem. 2.) adrefs
firt und der apoftolifche Gruß und der apoflolifche Segen
( Phil. 3, 0.235.) andy auf biefe bezogen waren. Er bil
dete alfo gleihfam einen Lebergang zu deu Briefen an
die bloßen Individuen Titus und Timsocheud, Aber das
iR beſonders wichtig für die Geſchichte des Kanone, daß
in der chriſtlichen Kirche wirklich ein folder Unterſchied
jwifchen Privatbriefen und Briefen an ganze Gemeinen
gemacht wurde und unfer Berf. von den Worten proaf-
fectu et dilectione an es noch befouders glanbte rechtfer⸗
tigen zu möüffen, warum die Briefe an Titus uud Timo,
theus dennoch in den kirchlichen Kanon recipirt feyen,
Es dürfte ſich hieran micht nur bie Stellung diefer Pri⸗
varbriefe and Ende der Panliuen, fondern auch Manches
aus Der Geſchichte der ſogenaunten DARSTOIENNE fehr
einfach erklaͤren.
Nachdem der Fragmentiß To 13 echte Paulinen ges
sählt Hat, gebt er wit den Worten: -Fertur etlaım 'ad
Laodioenses zur Erwähnung zweier Briefe Über, welche
mit Unrecht auf den Paulus zurückgeführt würden; diefe
und noch manche andere Schriften könnten nicht in die
tatholifhe Kirche aufgenommen werden, weil nit Galle
mit Donig vermifcht werden bürfe, Jeune beiden Briefe
bezeichnet er als Briefe an die Laodiceufer und an die
Alerandriner. Man pflegt gegenwärtig darin Übereinzu⸗
fommen, daß der Brief Pauli an die Laodicenfer, wel⸗
her unftreitig wegen Kol. 4, 16. erbichter ift, kein ande⸗
rer ſey, ald der auf und gekommene apokryphiſche Brief
1 Cu Biskter
dieſes Ramend, welchen erſt nenlih Anger =) wieder
berausgegchen hat. ber: darüber zweifelt man, was für
eis: Brief unter ber epistola ad Alexandrinos gemeint ſey.
Sehr vice Kritiker jet Semler bie auf Eichhorn,
Hug, Schleiermader und Gnerike herab haben
angenommen, Daß damit ber Brief an Die Hebräer ge⸗
meint ſeyn wmiüfle, weldser in uuferem Kanon fonf gar
nicht erwähnt märde, Bleel:b) und Andere nehmen en
daß darunter ein opofspphifcher, zu Gunſten und von ci
wem . Yahänger her Ketzerei Marcion's erdichteter, jeht
verlosen gegangener Brief zu verfichen fen. Der lebtge
nannte Gelehrte führt folgende Gründe <>) für feine Is
Acht on. Unſer Hebrüerhrief gehe wirgende Den Ramen
eines, Verfaſſers, dem er angehören walle, an, babe
bätse yon. ihm auch nicht wohl gefagt werden Fönuen, tı
fey iss Remen bei Apoßels Paulus erdichtet. Ylein ei
läßt ſch doch nicht leugnen, Daß zur Zeit unſeres Grag
mentiften Biele diefen wentellamentlichen Vrief, da de
Nawe Des. Vesf, fehlte, zunächſt aus imern Gräude
dem Apoſtel Paulus deilaghen. Wenn num derſelhbe chen
ſals eine gewaſft Aechulichkeit, ſey's mit ber Rage ode
der Denkweiſe des Paulus, darin wiederfand, ſo fonatt
er. dieſa weht mahl auf Neckuumg einer beab ſicht igten Did
mag. ſegen. Swichtiger ſcheint hin Einſprache zu ſeyn
welcha van Bleel wegen des ad haeresem Moercienis eu-
hoben wird. Deas allerdiugs kaum ad nicht fo viel wie
adversus feyn (ed heißt aber auch nicht: zu Guuſter)
u
rd) Beiträge zur hiſtoriſch⸗kritifchen Einleitang in -das alte mi
nene Nakament. Mb. 1. über ben Baobicensrbrief. 1848.
b) Eiyleit, in ben Brief qn die Hebraͤer, S. 122 ff.
c) Die feltfame Meinung Hug’s und Anderer, als ob die Borlt
fel enim cum melle misceri non congruit eine Anfpielung auf
Sebr. 12, 25. enthielten, wo nach 5 Mof. 29, 18. ftatt dvoglg h
zur zu lefen ſey, iſt bereits von Bleek und Guerike a, a. O.
treffend widerlegt,
der Kanon bed neuen Teſtaments von Muratori. SAL
weßhalb Buerike geradezu ad hacresem Marcienis refu-
tandam ſchreiben will. Eben fo wenig kaun genreint
ſeyn, daß der Hebräcrbrief „zu Gunſten“ der Ketzerei
des Marcion verfaßt wäre, denn es iſt nichts Miaweisnis
tifche® , fondern dad Begentheil darin. Uber wir werben
batd fehen, daß die Worte ad haeresem Marcionis ſich
noch auders erflären laſſen. Gegen Bleek fpricht, daß ein
apofryphifcher Brief ad Alexandrinos fonft nirgende ers
wähnt iſt; fermer, daß es befremden würde, wenn ber
Drief an die Hebräer in unferem Kanon gar nicht ers
wähnt wäre, und daß man ihn, wenn er wie auch fon
in der lateiniſchen Kirche verworfen wurde, gerabe-an
dieſer Stelle, wo von fälfchlicd dem Paulud beigelogten
Briefen Die Rebe iſt, erwarten muß; endlich, dag Bleek,
wie wegen des Plural fietae bei feiner’ Erfiirung auch
nethwegdig ſeyn würde, den Brief an die Laobicener
ebenfalls zu Bunften der Keberei Marcions verfaßt foyn
laßt, wad aber zu dem uns erhaltenen Raodicenerbriefe
feinedwege paßt. Nun Tönnte man aber ſtatt fictae den
Singular Bote fihreiben wollen, fo Daß das nomme Pauli
ficta ad kaeresemm Marciönis ſich lediglich: anf: den Wrtef
an die Wlerandriner befchräntte. Allein diefe Eorrectur
wird aus Gründen des Zufammenhange widerlegt; denn
ed iſt befamnt und hat gewiß auch gefagt werben follen,
daß der Saobicenerbrief ebenfalls eine epistol« Pauli ne-
mine ficta war. - Somit bleibt nichts übrig, ale das ad
haeresera Marcionis fa zu faflen, daß es doch etmad Az
deres, als Bleek will, bedeutet. Der Sinn ſcheint mir
folgender zu fen: Der Laodicensrbrief und der an die
Alerandriner find im Namen ded Paulus erbichtet ge
mäß a) der Secte Marcion’s, d. i. wie ed die Seete Mar⸗
a) Man koͤnnte ad (oder vielleicht apud) haeresem Marcionis indeß
auch mit dem Folgenden verbinden: bei der Seete Marcion’s ferun-
tar et alie plura, d. h. tft audy Anderes mehr in Umlauf u. ſ. w.
Die Folgerung in Betreff der epistola ad Alexandrinos würde
immer die obige feyn.
2 Wieſeler
cion's zu machen pflegt. Das Verwerfliche ſolcher Schrif⸗
tenderfälſchug wird für den damaligen Leſer baburdı
anſchaulich gemacht, daß er auf bie Analogie der Secte
Marcion's hingewiefen wird. Gegen Schinß unſeres
Fragments if wieder von gewiffen Haäretikern umd ihren
verwerflichen Schriften die Rebe, unter ihnen auch von
Marcion, IR diefed die richtige Andlegung bed ad hae-
resem Marcionis, fo wird um fo weniger etwas im Wege
fichen, daß man. die epistola ad Alexandrinos von unfe-
rem SHebräerbriefe deutet. Daß übrigens der letztere
wegen ‚feiner inuern Befchaffenheit nicht an Indenchri⸗
en Paläfiina’s, fondern wirtiih an aleranbrinifche Tu
benchriften gerichtet fein mäfle und, was damit zufam-
menbängt, von Barnabas verfaßt fen, habe ich bereitt
in Rheinwald's Rep. Bd. 30. Hft. 38. 1M2.©.193.,
wo ich auch unfern Fragmentiften citire, nachzuweiſen
werfucht.
Nachdem ber Fragwentiſt hie Paulinen ſeines Ka⸗
nous, die echten und bie verworfenen, aufgezäbit hat,
exwühnt er bie übrigen Gchriften, vamentlich bie foge:
nannten Tatholifchen Briefe feinek Kanous (3. 61.
bie 3. 73,), nämlich Schriften des — Sohannes und
Petrus.
Epistela sane ludae et supersoripti' Ichannis dine in
eatholioa (seil. ecclesis) habentur eto. Der Zufamımen:
hang iſt folgender: während Die zuletzt genannten Schrif⸗
teu im caiholieam ecclesiaem recipi non peesnnt, beſte⸗
Sen fich freilich der Brief Judaͤ und andere in ber kathe⸗
liſchen Kirche. Es erhellt, daß das in entholicam ecele-
„am recipi und das in catholica haberi ganz bemfelben
Sim haben und daß ſchon aus diefem Grunde die Mei
a) In der Anzeige ber Gommentare zum Hebräerbriefenon Bleek
und Tholuck. Die hier von mir gegebene Erklärung des ad
haeresem Marcionis halte ich indeß nicht mehr für richtig, mie
aus dem Obigen hervorgeht.
ber Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 843
nung Schleiermacher's a), ald ob unfer Fragmentift in,
nerhalb ded Kanoniſchen den von fpäteren Kirchenlehrern
gemachten linterfchied zwifchen Homologumenen und Au⸗
tilegomenen ebenfalls beobachtet habe und die letztere
Glaffe eben hier beginne, keineswegs gebilligt werben
kann. .
Der Brief Judä ift unflreitig der befannte neuteflas
mentliche Brief: aber wie find die auperscripti Iohannis
duse zu deuten? Man hat an unfere 3 Briefe des Jo⸗
hannes gedacht, indem man den 2ten bloß ald Anhang des
1, Briefö betrachten wollte (fo Zimmermann und Dug),
odke an bie beiden letzten, fo daß der erſte bereits früher
befonders erwähnt worden feyn müßte (fo Schleiermacher
und Sredner), oder endlich, was das Richtige zu ſeyn
fheint, an die beiden erften, fo baß der Ste gar nicht ale
Beftandtheil unferes Kanons aufgeführt wäre. Was ben
erſten Fall anlangt, fo citirt Irenäus (advers. haer.3, 16, 8.)
allerdings 2 Joh. 7, 8. als Beſtandtheil des 1. Briefes,
aber, wie auch von Guerike (S. 478.) augegeben wird,
in Kolge eines Gedächtnißfehlers. Der zweite Kal hat
eben fo wenig für fih. Bei Schleiermacher hängt diefe
Anſicht zufammen mit der von ihm innerhalb unſers Kas
none Poftulirten, von uns bereitd verworfenen Luters
ſcheidung zwifchen Homologumenen und Antilegomenen,
in Kolge deren er im Borhergehenden bebeutende Terted:
lüden Ratniren zu können glaubt. Denn daß der lite jo»
hanneifche Brief, abgefehen von dem gelegentlichen Eitate
3.29 ff., in der Reihe der Tanonifchen Bücher nicht noch
befonders hätte aufgeführt werben müffen, ift von Schleier»
macher weder behauptet, noch würde das richtig feyn,
da ja auch Die johanneifche Apokalppſe bereitö 3. 48 ff.
a) Sinleit. ins N. T., herausgegeben von G. Wolbe, 1845. ©. 53,
Die Behandlung des Kanone von Muratori in diefen fonft fehr
anregenden Vorlefungen fcheint mir überhaupt zu den ſchwaͤchſten
Yartien diefee Schrift zu gehören.
Theol, Stud. Jahrg. 1847, 57
888 Wieſeler
eitirt iſt und ſpaͤter 3.70, dennoch in der Reihe der fa
nonifchen Schriften ihren befondern Platz erhalten hat.
Eredner ca. a. O. S. 690 ff,,) indem er die Worte dei
Fragments et Sepientis etc. in ut Sapientia ete. Audert
und zum Vorhergehenden zieht, argumentiert in folgender
Weife: „Der Berfaffer will fagen: die zwei Briefe des Jo⸗
hannes und der Brief des Indas haben, ohne apeſtoliſch
su feyn, and ähnlichen Gründen eine Stelle im Kann
erhalten, wie die in den chriftlichen Kanon aufgenon
mene, vom jädifchen aber ansgefchleffene Weisheit Sa⸗
lomonis. Er mußte folglich?) fchon früher in dem ver:
lornen (2) Theile des Fragmente von den übrigen kathe⸗
lifhen Briefen gehandelt haben” Wenn wir nun aud
die Sonjectur ut Sapientia flatt et Sapientia für richtig
balten, fo ift Doch darum woch nicht nothwendig, daß
man bie durch ut eingeführte Bergleihung mit ber Ss-
pientia Sulomenie zu dem Borhbergehenden zieht,
vielmehr dürfte dieß eben Beinen zuläffigen Siam geben.
Jene Beziehung zugegeben, würde aus ber ausdrücklicher
CEharakteriſtik der Sapientia ald einer nicht von Galome,
fondern ab amieis Salomonis in henorem ipsius sert
pta zunächft wohl dieſes folgen, daß der Brief Judä u
die gemeinten zwei Briefe des Johaumes wie Die Bepieniia
recipirt ſeyen, obwohl fie nur von Freunden ber ge
nannten Berfafler geſchrieben feyen, wao body and nad
Eredner nicht von unferem Fragmentiſten behauptet wer
den fol. Und wie fol ſelbſt daraus, daß ber Brief Judi
und zwei Briefe des Johannes mit der Bapientia auf gleich
Linie geftelt werden, folgen, daß der Berfaffer vor
den übrigen Tatholifchen Briefen, namentlich dem erſter
Briefe des Johaunes, fchon fräher gehandelt habe? ©
hätte dann auch die Stelle des Fragmente aufgemir
fen werden mäflen, in welcher die bei der in ihm be
folgten Anorduung der neuteflamentlichen. Schriften mög.
licher Weife hätte gefchehen kännen, während ich feinen
ber Kanon bes neuen Teſtaments von Muratori. 845
Kanon kenne, in welchem vie katholiſchen Briefe vor
den Evaungelien geftellt ind, und ſich von da ab bis
zu unferer Notiz in dem Goder keine irgend entfprechende
Lade finder. Endlich muß erklärt werden, warum der.
erfie Brief des Johannes mit ben beiben andern von uns
ferm Verfaſſer nicht zugleich erwähnt if. Schleier
madyer bat deßhalb die bereits beurtheilte Hypotheſe von
Homologumenen und Antilegomenen innerhalb unferes Kar
nons aufgeſtellt. Credner fucht nachzuweiſen, daß bie
beiden letzten Briefe nach unſerem Fragmentiſten von ei⸗
nem verſchiedenen Johannes, nämlich dem Presby⸗
ter, geſchrieden ſeyen. Er fährt nämlich fort: „Der Zu:
faß superseripti a) weit uns anf den Johannes hin,
deſſen der Berfaffer des Bruchſtückes zuletzt gedacht hatte.
Dieß gilt aber von jenem Johannes, der die Apokalypſe
gefhrieben hat. So würde dann der Sinn herauskom⸗
men, der Berfaffer der zwei Briefe des Johannes fey einer»
let mit dem Berfafler der Apokalypſe, was nothwendig
darauf führt, daß der Verfaſſer des Fragmentes zwei
nenteftamentliche Schriftfteller mit Ramen Johannes uns
terſcheidet.“ Aber, um nur dieß Eine zu erwidern, daß
der Evangeliſt Johannes anßer dem erftien Briefe, ber
hier ausdrücklich citirt wird, noch wenigftend einen Brief
verfaßt bat, wird ja von dem Fragmentiften 3. 28,
mit dem Plural in epistolis suis felber behaup⸗
tet. — Es bleibe alfo nur Üdrig, was auch von vorn
a) Gredner faßt bad superscripti in bem Sinne von suprascripti.
Gewoͤhnlich heißt es „drüberfchreiben” und in diefer Bebeutung
muß es auch hier wohl beibehalten werden: epistolae Johannis
superscripti, nicht inscripti. Die johanneiſchen Briefe Haben
bekanntlich den Ramen ihrers Werfaflers Johannes nicht ats ins
‚tegrivenden Beſtandtheil, während alle anderen neuteflamentlis
hen Briefe. unferes Kanons, audy der unmittelbar vorher ers
wähnte Brief Indaͤ, im Gegentheil uͤbereinkommen. Mit Be:
zug hierauf ſcheint audy 3. 40. über bie epistolae Pauli gefagt
iu feyn: quae ... . . directae sint, ipsae declarant.
57*
846 Wieſeler
herein am nächften liegt, anzunehmen, daß unter ben
zwei Briefe des Johannes erftend jedenfalls ber aus⸗
drücklich citirte erfte Brief und dann einer von dem beis
den legten zu verſtehen fey. Liegt die Sache aber ſo,
fo kann ed nach der Geſchichte des Kanone, welde de
zweiten Brief vor dem britten deutlich bevorzugt, weir
ter Seinem Zweifel unterworfen ſeyn, daß ber britte
and nicht der zweite Brief des Johannes übergangen
iſt. Nicht daß man ben dritten für weniger johanneild
gehalten hätte, fondern man nahm dem zweiten im den
Kanon lieber auf, theild wegen feiner mehr lehrhaften
Natur, theild weil man, indem man die xugla 2 Joh. 1.
nicht auf den Ramen eines Individuums bezog, nur da
dritten für einen Brief an eine Privatperfon zu halter
pflegte; vgl. das ©. 839. Bemerkte. — et (ut) Sapientia
ab amicis Salomonis in honorem ipsius scripta, apot=-
lapse (apocalypsis) etiam Iohannis. Die Weisheit Sal⸗⸗
monis a) ift wohl bie befannte apokryphiſche Schrift dei
U. T., weldje von vielen Kirchenvätern zum altteſtament⸗
lichen Kanon gerechnet wird. In der Reihe der enteo
ftamentlichen Bücher kann fie nicht als befondere Echrift
erfcheinen und aus dieſem Gruude ift ſtatt et mit Erd
ter unfireitig ut zu lefen. Daffelbe folgt daraus, dal
ihre Erwähnung fonft die Aufzählung der Schriften bei
Johannes, einerfeits feiner zwei Briefe und andererfeitt
feiner Apofalypfe, unpaflend unterbrechen würde De
der Say mit ut, wie wir gefehen haben, zum Folgender
gehören muß, fo ift zu apocalypsis etiem Iohannis au
dem Borhergehenden einfach in catholica habetur zu er⸗
gänzgen. Der Sinn it: Wie die von den Freunden ©
Iomo’& zu feiner Ehre gefchriebene Weisheit, defindet fd
a) Uebrigens hatten nady dem Kanon bes Melito bei Eufeb. (h. e.4, 2.)
auch die Spruͤchwoͤrter Salomo's ben Ramen Weispeit Gale⸗
mo’s.
ber Kanon des neuen Teflaments von Ruratori. 847
auch bie Apokalypſe bed Johanned in der Tatholifchen
Kirche, Diefe befand fich wie die Weisheit im Kanon,
aber der Kragmentift wenigften® hielt fle nicht für echt,
fondern glaubte fie bloß zur Ehre des Apofteld Johannes
von feinen Freunden verfaßt. Früher, wo er fie gele⸗
gentlich citirt, legt er fie indeß dem Apoftel Johannes bei.
Achnliche Widerfprüce in Bezug auf die Apokalypſe fins
den ſich befanntlich auch bei Euſebius. Das Nefultat
über die johanneiſchen Schriften nach unferm Fragmen⸗
tiften ift alfo folgendes, daß fich dad Evangelium, die
beiden’ erften Briefe und die Apokalypſe in feinem Kanon
fanden, daß alle diefe Schriften dem Apoſtel Johannes
beigelegt wurden, daß er felber aber Über ‘die Echtheit‘
der Apokaiypſe Zweifel hatte.
Et Petri tantum recipimus, quam as quidam
ex nostris legi in ecclesia nolunt. Es find dieß ſchwie⸗
rige Worte, man hat fie aber, meine ich, durch eine
falfche Verbindung noch fchwieriger gemacht. Nach dem
Vorgange von Muratori pflege man nämlich die vorher⸗
gehenden Worte: Apocalapse (apocalypsis) etiam Johannis,
noch herbeizuziehen. Daß fie mit dem Borhergebenden
zu verbinden find, haben wir bereits geſehen. Doch
läßt ſich von biefer Behauptung jetzt Die beflätigende
Probe machen. Darauf, daß der Schreiber der Form
apocalapse den Romirativ verftanben' zn haben fcheint,
win ich kein Gewicht legen. "Aber Apocalypsis etiam lo-'
hannis et Petri: tantam recipimus gibt‘gar feinen Sinn.
Menu man üderfeßt: nur die Apokalypſen des Johannes
und dis Petrus nehmen wir duf, nicht mehr, fo fragt'
man: iſt das nicht ſchon zu viel? auch die Apokalypſe
des Petrus? was’ pflegte man ſonſt noch für Apofalypfen
aufzunehmen? Kerner könnte balin das tantum ſchwer⸗
lih an der Stelle,,wo wir es leſen, flehen, und endlich:
was bedeutet: dann das etiam? Man müßte alfo über
fegen: die Apokalypſen auch ded Johannes und des Des
848 ik
true nehmen wir.zur auf, fo daß had-temium zu red-
pimus Aehoͤrte. Aber dazu paßt das gleich Folgende
nicht, weher ber Singular quam, uoch ber Gedanke,
welcher in ber Form eined Gegenſatzes ausgeſprochen
ſeyn muß, Es iR aber Erin Gegenſat, zu fagen: bie
Apokalypſe ded Petrus uehmen wir nur auf, welche aber
Einige von deu Unſern ine der Verſammlung nicht ge
lefen wiffen wollen. Worin kann die Beſchränkung bes
nur Anfnchwend andere befishen, als darin, daß bie
felpe in der Verſammlung gar nicht geleſen werben folk!
Beginut daher mit Et Petri ein neuer Sag, fo falt
jeder Grund des Anſtoßes weg, welchen man daran ge⸗
nommen bet, daß hier doch und zwar allein von bet
Apokalypſe des Petrus gesehet ſeyn ſollte, während
im Sraguiente ſonſt virgends vou hen Briefen: des Per
trus ‚gehandelt werde, mas in der Geſchichte bes wentu
ſtamentlichen Kanons freilich ganz unerbört wäre. Reh⸗
men wir die Worte, wie fe der Goder bietet: Et Pein
tantum 3) recipimus, ſo können wir nur überfegen: „And
vom Petrus nehmen. mir fo nie gm,” uämlich als kur;
vorher dem Iohannge. heigelegt wird, alfg. zwei Brieſe
und eine Anofalgpfe. Die Richtigkeit dieſex Auslegung
fheint fih dadurch zu heflätigen, daß dem Petrus wir
lich ‚gerade dieſe Schriften, beigelegt werben. Die zwei
Driefe finden ſich noch jegt in unſerem Kanon. Diefipe
kalppſe des Petxrus wird bereits im zweiten Jahrhundert
angeführt. . Elemens aud Alexqudrien hat eipige Gehen
aus ihr im den Erceryten aus. dem Guefliler Theodotu⸗
(ed. Sylburg p. Mängg.) mitgstheilt und fie nach Eusel-
h, & 6, 14. mit anderen. Büchern des Kaqnons in. fein
Hupotgpofen commpmtir Euſebius . felber rechatt Be
(b. e.3,25,) mit dem Hirten bed Hermap, dem Briefe bed
a) Wie haben am Gchluffe unferes Bragments eine ganz aͤhnliche
Wendung: Arsinoi autem. . ... mihil ia totam recipimes.
Auch hier hängt des Geniüüv von dem Neucum, gikil ab.
ber Kanon bed neuen Teſtaments von MRuratori. 849
Barnabas, den dsdarul cv daoardiev und ten zodksig
Iediov zu den vödos. Rod, zu bed Sozomenns Zeit
warb fie (nach Soxom. T,19,) in einigen palſtinen ſiſchen
Gemeinen am ſtillen Frritag öffentlich verlefen =). — Für
das folgende quam if num wohl quem zu lefen: „welchen
(Petrus) Einige von den Unſern in der Berfammlung
nicht gelefen wien wein.” Diem gewinut fo die Ans
fhauung, daß, während Einige in dr Gemeine alles
Mögliche von Petrus, auch feine Apotalypſe, aufnahmen,
Andere im dad entgegengefehte Ertrem verfallen waren,
num and; nichts von ihm anzuerkennen. Ein folder
Bampf der Petriner und Antiperriner ließe ich ‚gerade
im Schooße ber römifchen Gemeine wohl denken. Hält
man dagegen dad Femininum b) quam feſt, fo müßteman' ent,
weder hinten tantum ein epistolam hinzufegen, ober etwa am»
nehnsen, Daß die nähere Erflärung bes fo, wieoben erörtert,
zu faffenden tentum, weil kurz vorher ſchon ein anderes ape-
calypeis vosgefommen war, aus Berfehen hinter recipimus
andgefalten fey, nämlich die Torte: meillset opintolas dus
et spocaiypein, woran fi} das quam quidam ex nostris ete.
ſehr gut anfdyließen wiirde, Nach dem Obigen läßt ſich
indeß nur dieß als ganz ſich er feſtſtellen, daß wenig⸗
ſtens der erſte Brief des Petrus ein Deſtandtheil des
Kaunons unfesed Fragmentiſten geweſen ſeyn wird und
am unſerer Stelle erwähnt ſeyn muß.
Des Brief des Jakobas wird umter den katholiſchen
nicht erwähnt, was aber nicht auffallen kaum, da er
auch fonf im Alterthume Widerſpruch erfahren hat und
a) Welteve litterarifche Rachweiſungen f. bei Zimmermann
a. a. O. S. W ff.
b) Die noch moͤgliche Verbindung tantum. quam, d. i. „fe viel als,”
ſcheint mir deßhalb unpaſſend, weil dann nicht geſagt ſeyn
würde, was von den Schriften des Petrus recipirt ſey. Wir
baben font aber em ——— Verzeichniß der kanoniſchen
Schriften.
850 N Wieſeler
ihn Euſebins bekanutlich gu ben Antilegomenen rechnet;
vgl. de Wette, Einleit. ins R. T. ©. 811.
Bon Pastorem vero 9. .38. bis ans Enbe von 3.80.
fpricht der Kragmentift über Urfprung und Gebraud des
Hirten. hed Hermas. Es ift gewiß diefelbe Schrift gemeint,
welche von GCotelier in den apoflolifchen Vätern und von
Fabricius in feinem end. apocryphus abgedruckt if, deren
Verfaſſer fich für den Hermas Röm. 16, 14. audzugeben
ſcheiut, und weldhe von manchen Kiechenvätern wit Ach⸗
tung citirt ift und in den Gemeinen öfter gelefen wurde.
Nach unferem Fragmentiſten war fie von Hermas, mag
dieß fein wirklicher oder fein Schriftuame gemefen feys,
einem Bruder Pius des Erften, während biefer römifcher
Biihof war, alfo in der Witte des gweiten Sahrhuns
bertd verfaßt Da die Schrift erſt nuperrime tempori-
bus nostris, wie der Fragmentiſt bemerkt, umb zwar in
unmittelbarer Nähe deflelben gefchrieben feyu fol;
da diefelbe fchwerlich echt und auch aus. anderen Grün⸗
deu wahricheinlicd in ber. Mitte a) des zweiten Sahrkun
derts entflauden. zu ſeyn fcheintz ba endlich dieſelbe An;
ficht über ihre Entſtehungsweiſe auch anderweitig b) uns
erhalten if: ſo fcheint mir. allerdings ‚die erwähnte Retiz
alle Wahrſcheinlichkeit für ‚fi zu haben. Die Gegen
gründe hat Gieſeler am fcherffinnigken in feiner Kir
chengeſchichte (Bd. 1. Abth.i. S. 147 ff.) zufammengeftelt.
Er beruft fih namentlich. Dawauf,. Daß [chen Irenand (4, 3.)
fie als scripturs citize. Gegen das Ende des zweiten
Tahrhunderts, ald der. Kampf gegen den Montanismus
begann, habe fie hier ihre Anfehen verloren, bei den mon
taniſtiſch Geſinnten, weil fie eine einmalige Buße nad
ber Taufe geftattet, bei den Gegnern der Montaniſten
wegen ihrer apolalyptifchen Form. Jetzt ſpreche unfer
a) Bol. Lüde, Sinleitung in die Offenbarung ‚Johannis, ©. 14,
b) Bl. die Stellen bei Zimmermann a. a, D.
der Kanon bed neuen Teſtaments von Muratori. 851
Fragment die obige Anuficht mus, welche Iremkud' nody
nicht gelaunt haben könne. Dugegen fey'diefe Schrift
bei den Alerandrinern, Elemens Alex., Drigenes =), Atha⸗
naflus in Anfehen geblieben, bie fie auch in der griechi⸗
ſchen Kirche nuch dem arianifchen Streite geſunken fey.
Zur Zeit des Hieronymnd (vgl. deflen catalog. c. X.)
wurde fie noch bei einigen griechifchen Gemeinen öffent»
lich gelefen, bei den Lateinern war fle ein liber paene
igmotus. Dad Gewicht dieſer Argumentation fcheimt be⸗
ſonders bavom abguhängen, in welchem Sinne Irendus
den Hirten scriptura genannt habe, ob als Beſtandtheil
ber heiligen Schrift oder nicht. Run baden wir noch bie gries
chiſche Stelle aus Irenaͤus, wo er den Hirten citirt, bei
Euseb, &. e: 5,8. Sie läutet wörtlich: xaAle odv sixew
NYoRph FAbyovan ‘ apirrov Kevin elassvaonv, Ors eis Earıy
6 Hsög dTk ndvıe' sielsog an va Eins Allerdings wird"
bier der Hirte von Irenkud gelodt, was ‚ja. felbft :in
unferem Fragmente bis zu einem gewiſſen Grade geſche⸗
bew: ib, 'ulteln der Ausdruck yoapı 5 Adyovdd,. „die
Schrift, weiche da fagi” führt doch nicht nothwendig auf
die Anmahme, Daß er ihn ale Beltandthetl des Kanons
anerfannt hat. ferner hat der moͤntaniſtiſche Strelt dem:
Anfchen des Hirten im Adenblande gewiß Eintrag ger
than, Tertullian ſelber hat ſich ale Angehöriger ber
kathobiſchen Kirche ganz -anderd: über ihn ‘de Orat.’12.
ausgefprohen, ald wie er «6 fyäter de pudic. e. 18, im
monsanififgen Eifer getan hat. Diefe ſeine Beränder‘
rung: ſcheint ſich indeß mehr auf den Inhaft Ked Buches),
abs auf fehren- Urſprungbezogen zu haben. Denn wenn!
er am letztern ade die rn — eine ab onmi!
.*
a) Diefer erflärt in feiner Explanat, ad Rom. 16, 1a ve bier er:
waͤhnten dermas ſogar fuͤr den Verfaſſer der Schrift; doch iſt
daniit Nomil. 8. in Nomen, und Hom. 1, fh 2 37, w ka
gleichen. ; 1.; J
8 Mieſeler
eoaneilia eeclesia, ciiem vestrarum, inter apearyphe
ot fales iudieaia nennt, fa ift mit diefen Worten anf ein
Lamas bereitd vorliegendes finchengefchichtliched Factun
hingemieſen. Da aud uafer Fragmentifi nicht mehr ge
than bat, als daß er jene Schrift dem im Räͤmerbriefe
erwähnten . Hermas abgefprochen bat, fe braucht daher
feine obige Notiz auch wohl nicht: erſt im Gefolge der
mantanififchen Streitigleiteu ſich gebildet zu haben. Rög
es fi nun mit dem Urſprunge des Hirten werhalten, wie
ed wolle, mad der Fragmentiß üher ben: non ibm im fir
ner Zeit zu macenden Gebrauch bemerik, wird daven
ganz unabhängig foyn. ‚Er fol zwar geleſen, aber dan
in der Berfammiung dem Wolle weder zwiſchen ben bt
Zahll ned, abgefchloffenen Propbeten Cd. i. den -aitiehe
mentlichen Schriften) nech zwiſchen ben Apoſteln eben
neuteftamentlichen), d. h., da and ben Schriften dei 9.
und N. T. der chriſtliche Kamen gebildet war, cr kam
als Bultanbaheil des Raums bis zum Enbe der Zeuen
nicht Öffentlich vorgetragen werden. Das Deſeſenwerden
oder Prinaskudimm iſt dem se publiesse ober dem Hffen»
lichen Vortrage in der Gemeine entgegengefeht. Zu die
fm wand noch nufenen Feaguentilien nur eine Scrift,
die. wirklich ein Beſtaudtheil ned Kauens war, zugelaſſen.
Auf dieſen Varzug batta ber Hirte wegen feiner vrb
teten Abfaſſung kein Anrecht Er iſt emten canomem m
deßhalb auch zuletzt erwähnt. — Wie dee Hirte bier
dem Peisatgupium empfohlen wird, fo erzähle Enfehins
(h, ©. 3, 335 welcher ihn h. e. 3,05. au deu älter se
nei, dab: man ihn befonders Den Katechumenen: gegebee
—
Am Schluſſe vou 3.80., wo die Andeinanderfepung
über den Hirten des Hermas beendet ift, findet ih in
unferm Codex die bei ihm fo. feltene Interpunction und,
was gar nicht weiter bei ihm vorkommt, ein leerer Zw
ſcheuraum für mehrere Buchſtaben. Dieß Aues weil
der Kanon des neuen Keffaments von Muratori. 853
deutlich darauf bin, daß num eine gang were Materie begiu⸗
uen fell, und in ben That werben feine fan enifchen Schriften
mehr aufgeführt, ſondern Schriften von ————
weiche verworfen werden. |
Der Sinn der folgenden Werte ift im augemeinen
klar, obgleich theils manche ber erwähnten Perſonen um
befanms, theils ihre Namen in unſerm Terte ſehr entfellt
And, worauf aber wenig anfemms; m. vgl. bie daruber
aufgeftellten Bermuthungen bei Zimmermann, Bon deu
drei erſten, Aefiuous, Valentinus und Miltiaded, iR der
witdiege einer der befannteftes Bnoftiter. Gin Härstifer
Mittindes, ber hier: gemeint ſeyn könnte, wird, wenn. bie
Lesart ‚wichtig it, beifufsb.ch.e.5, 16.) erwähnt. Diefe
follen. untes Auderm ein venes Pfalmenbuch für Marcion
gelhrieben haben. Daß Valentinus Pſalmen, matärlich.
feine hebraͤiſche, verfaßt bat, erhellt ans: EClemens Aler.
(Strom. 4, 6.), Tertulliau (de carne Ohr. 0, 20.3. Beflides iR
bekannt. Der 'constitutor Catspirygum kann ſchwerlich
ein Auperer alt Montanus, der Stifter der Wantaniäne;
oder Kataphrygar, ſeyn, und da die Kataphryger in Aſten
iu Hauſe waren, fa habe ich Aseianum in Asianorum ge
ündent. Das Uebrige ergibt fich aus dem Eamterte, *
ih ihn oben feſtgeſtellt habe.
Nachdem wir den Inhalt des Fragnents bis RR
Einzelne analyfirt haben, läßt ſich bie Frage nach feinen:
Integrisät gus-Öntfcheidung bringen. A kauoniſch
merken erwähnt: bie A Evangelien, die Apaſtelgeſchichte,
13 yanlinifche Briefe mit Uebergehung des Hebräerbrie⸗
fes, weldger wahnſcheinlich ats epissola ad Alexandrinos
außen. dan Kanen gefett ik, der Brief Iubä, die beiden
erſten Briefe des Johaunes und feine Apokalypſe, endlich
von den Schriften des Petrus wenigſtens der erſte
Brief: deſſelben. Daß der. dritte Brief des Johames und
der. Brief Jakabi leicht übergangen werben konnten, iR
bereits ‚gezeigt morden. Sinht man van dem. ſchadhaften
€
BEE en. Wieſeler
rein am Anfang uud Sqchluſſe ab, weiche aber über die
Beftanbtheile des nehteftaniertiichen Kanons nichts Renee
bringen würden, fo muß man fließen, daß uns bie
Schrift des Fragmentiften im Ganzen noch volſſtändig
vorliegt, falls er nicht vorher auch noch über deu Kanon
des alten Teftaments gehandelt hat. Diefe Annahme
würde aber nur dann etwas für fich haben, wenu bie
Sapientia Balomonis anders ald vergleichsweiſe erwähnt
wäre
>" Wir fragen weiter nach dem Zwede ber Schrift un:
ſers Fragmentiſten. Diefe beſteht aus einem Verzeichniſſe
derjenigen Schriften, welche in der Gemeine unferd
Berfaflers zum nenteftamentlichen Kanon gerechnet war
ben oder, wie ber Hirte des Hermas, von der Geweine
geleſen werden ſollten. Doch haben wir feine blog tre⸗
dene Aufzählung diefer Bücher, fondern es wird audı
ihre Entſtehungsgeſchichte befchrieben, und nahe Tiegendt
Einwürfe werden zurickzewieſen, aber Alles mehr apho⸗
rnit und referirend, wie ed erſt wenig eingeweihten
Befern gemäß iſt. Endlich werben auch mehrere apolkry⸗
phifche oder häretifche Schriften verzeichnet und vor ihnen
gewarnt. it einen Worte, wir fcheinen bier die kurze
Anweifung eines Kirchenichrerd für Katehnmenes
einer beſtimmten Gemeine vor uns zu haben, welde jı
dem: Zwecke abgefaßt wurde, um diefelden Aber bein
dieſer Gemeine geltenden echten Urkunden des chriftli⸗
chen Glaubens zu unterrichten. Abgefehen von dem Gaw
zen, ſcheint auf diefe Anficht auch manches Winzelne ze
führen; fo das docesutur 3.18 darauf, daß der Berfal
ſer im Romen der Lehrer ſpricht, und dad quidam &
nostris 3. 72. daranf, daß die Lefer wicht zu dem Be
dern der Gemeine gehörten.
In weiche Zeit faͤllt die Abfaſſung unferer Schrift,
und wer iſt ihr Verfaſſer ? Wer die eigenthämliche Gr
faitung unſeres Kanous vollſtändig erkannt bat, wid
ber Kanon bed neuen Kefaments von Ruratori. 855
fhon and diefem Grunde gu der Annahme fid; getrieben
fehen, daß nufer Berfaffer nicht, mie Zimmermann will,
im vierten, fondern, wie fchon von Muratori behauptet
wurde, im zweiten Jahrhunderte gelebt haben müffe,
Unter manden richtigen biftorifchen Augaben erwähne
ih nur bie, daß derfelbe nach 3.39, auch noch die Ans
nahme einer zweiten vrömifchen Sefangenfchaft des Apo⸗
ſtels Paulus nicht zu billigen ſcheint. Beſanders deutlich
bat der Fragmentift feine Zeit in dem bezeichnet, was er
über den Hirten bes Hermas 3.75]. fagt: Pastorem
vero nuperrime temporibus nostris in urbe
Roma Hermas oonscripsit sedente eathedras urbis
Romase ecclesise Pio episcopo fratre eius,
Der Borgänger des Bifhofd Pins war Hyginus, welder
nach Eufeb.Ch.e. 4,10.) im 1. Jahre des Antoninus Pius
oder 138n,Ch. romiſchen Biſchof wurde 4 Sahre bars
auf farb Hyginus und machte dem Pins Platz, welcher
im 15. Jahre feines Amts nach Euſeb. h. e.4, 11. geſtor⸗
ben iſt, alſo von 142 — 157n. Ch. daſſelbe verwaltet hat.
Während feiner Verwaltung ſoll der Hirte verfaßt ſeyn,
und zwar, wie ber Fragmentiſt bemerit, nuperrime tem-
poribus nostris. Mithin muß ber leßtere bald nadı
dem ‘Tode bes Pius gefchrieben haben, wenn man bad
Dbige hinzunimmt, etwa um 170n.Ch., fpäteftend gegen
Ende des zweiten Jahrbundertd. Yür das frühere Das
tum fpricht auch das Zeitalter ſaͤmmtlicher am Schluſſe
erwähnter Häretiker. Es find Valentin «), der um 140
n. Eh. nah Rom fam, Martion, zwifchen 140 bis 150 in
Rom (Arfinous und Miltiades, da fie ebenfalls für Marcion
Palme verfaßten, müſſen wenigftend gleichzeitig gewefen
ſeyn), Baftlided um 125 und Montanns um 150n.Ch.
a) Die chronologiſchen Data über biefe Häretiter find aus ie f es
lex’ 8 Kirchengefchichte entiähnt, wo ich das Nähere AT
ben bitte,
7
Ueber Dun Berfaffer des Yeagments wiſſen wir
duo dem Vorhergehenden, baß er ein Lehrer Der römifchen
uber doch einer Rom benachbarten chriklichen Gemein
gewefen ſeyn muß. Murateri, weldem Manche gefolgt
ad, hat ihn für identiſch mit dem römifchen Predbpte
Gafus erflär. Beine Grlnde find: er war Lehrer der
söwiichen Bemrine und Icbte um 208. Diefe Rertuak
paſſen noch anf manche Andere. Wenn Muratori ferne
bemertt, daß Saijus nach Enfeb. Ch, s. 6,20.) wie unfer Fraz⸗
ment wur 13 Briefe des Paulus mit Uebergehung dei
Hebreäeebriefes anertenne, fo iſt andy dad für einen ri
miſchen Ritchenlehrer nichts Charakteriſtiſches. Auf der es
dern Seite hat man mit Recht hervorgehöben , daß ehrt
dieſer Cajus nad, Enfeb.h. e. 3, 28. ſich Aber die jeher
neifhe Ayolalypfe, weide er für ein trügliches Madı
wert des Gerinth zu halten ſchint, fo ausfprach, daß er
mit unferm Fragmentiſten uumögiich identiſch ſeyn fünm.
ad fdyeint er nach dem Obigen dazu nicht alt genng
zu ſeyn. Uebrigens verfchlägt es im Grunde wenig, je
wiffen, ob Gaius ober, was wir richtig ſcheint, irgend
ein anderer Eirchenlehrer des zweiten Sahrhundertd um
for Fragment verfaßt hat.
Zum Schluſſe noch ein paar Worte über den Werth
unfered Documents. Seine hohe Wichtigkeit erhellt ſchon
barans, Daß es nah dem Kanon bed Mareion, weldt
befummtlich 10 Briefe des Paulus ımd ein Evangelium
umfaßt, das Altee, dazu in ſich zufammenhängend
und mit Bewußtſeyn biefes Zweckes verfaßte Berzeidail
des nenteflamentiihhen Kanone if nad daß in dieſer Br
jgiehung mit ihm faft nur noch das Verzeöchniß der bi⸗
biifchen Bücher in ver Peſchito concurriren Tann. Bor deu
Kanon ded Häretilers Marcion hat ed aber den entfhie
denen Vorzug, dap fein Berzeichniß von einem wirklichen
Lehrer der Kirche ausgegangen und nicht vom einem fü
jectiven Standpunkte aus, wie diefed zumal von Mar
cion zugegeben werben muß, verftümmelt if. Wir be
%
der Kanon des neuen Keflaments von Muratori. 857
ben im unferm Fragmente, zumal went man die Phäno⸗
mene and gefchichtlicher Analogie zu deuten fucht, eine Ent»
wickelungsgeſchichte des neuteſtamentlichen Kanons innmuce.
Bei einer unparteiiſchen Würdigung deſſelben find aber
folgende zwei Geſichtspunkte fireng feflguhalten. Erſtens
find innerhalb des Fragments die objectiven Ausſagen
über den Kanon von den fubjectiven lirtheilen feines
Berfaffere noch zu unterfcheiden.” Zu den erftern gehören
namentlich die Audfagen über die Beftalt des Kanone,
weichen er sticht erſt nach eigener Beliede feſtſtellt, ſon⸗
bern fo aufführt, wie er ihn in der Bibel feier Ber
meine bereit6 vorgefunden hat. Zweitens ik unfer Ka:
won nicht der Kanon der ganzen Kirche, fondern itur ber
einer einzelnen Gemeine, der römifchen. Nur iſt dabei
nicht zu vergeſſen, daß gerade die römifche Bemeine
Burd ihre Lehrer wie duch Alter und Urfprünglichkeit
und, was hier nicht ohne Gewicht if, Burch ihren mehr
objectiven Charakter zu den angefehenften der ganzen
Ehriſtenheit gehörte. ⸗
2.
Ueber Jeſ. 17. 18.,
als ein zuſammenhängendes Ganzes bildend und nad
hronologifhem Principe eingereiht.
Bon
Prof. D. Moriz Dredsler.
Die in der Weberfchrift genannten Kapitel des Bus
ches Jeſaja bieten dem Kritifer und Eregeten in mehr
als Einer Beziehung nicht unbebentende Schwierigkeiten
dar, Ramentlich hat die Frage, in wie viele nad in
weiche Theile das bezeichnete Stud zerfalle, einen nicht
858° . Drechtier
geringen Zwieſpalt nuter den Auslegern hervorgerufen.
Möge es dem Verfaſſer vergömnt ſeyn, dieſer, fo wie
noch einigen anderen connexen Fragen in den vorliegen⸗
den Blättern diejenige ins Einzelne gehende Ausführlich⸗
keit der Behandlung zuzuwenden, welche dem, wie fd
jeigen wird, gar nicht unwichtigen Gegenflande auge
meflen und die Doch innerhalb eined das Ganze ber je
fajanifhen Orakelſammluug umfaffenden Commentars is
feiner Weife möglich if.
Beginnen wir unfere Audeinanderfeßung damit, den
gegenwärtigen Stand der Unterfuchung darzulegen.
Geſenins theilt das in Rebe fichende Stüd in zwi
verfhiedene Orakel: 17, 1—11. uud 17, 12 — 18, 1.
Hitzig flimme zwar in die Trennung, trifft aber bie Ein
theilung anders, indem er Kay. 17. zufammenfaßt un
Kap. 18, als felbfändige Weiffagung abfondert. Genus
befeben, theilt er jedoch das Ganze eigentlich in drei
Theile ‚Sm Sommentare (S.200.) heißt ed: „der Heise
Abfchnitt 17, 12 — 14. bilder für fi ein Ganzes, dei
aber, indem es ſich ebenfalls auf Aram und Ephraim te
zieht und ungefähr and bderfelben Zeit herrührt, bemiel:
ben (dem Orakel 17, 1—11.) beigefchloffen wurde.” Ham
dewerk faßt Kap. 17. ſchlechthin als ein Ganzes, Er
verbindet daflelbe mit Kap. 5. n, 7, 1-9. an Einem Städe,
während er andererfeite Kap. 18. mit Kap. 19. vereinigl.
Ewald trifft mit Gefenius infofern zufammen, ale er nah
17, 11. abfeßt und 17, 12—14. mit Kap. 18. verbinde.
Dem Kap. 18. aber reiht er unmittelbar 14, 24— 21. u
and will erſt diefe drei Abfchnitte (17, 12 — 14. md
Kap. 18, und 14, 24—21T.) ale Ganzes gelten laſſen. Um
breit handelt unfer Stüd ald in drei befondere Städt
zerfallend ab: 17,1— 11. und 17,12 — 14. und Rap. 13
Doc bat die Art, wie er fi über 17,12 — 14. au-
fpriht, etwas Schwantended. „So überrafhend” —
fagt er (5.154. feines prakt. Comm.) — „bie anmittl
über Jeſ. 17. 18. 859
bare Anzeihung biefer Verkündigung der ſchnellſten Flucht
der Aflyrer aus dem jüd. Lande an das vorhergehende
Stück fcheint, fo paſſend iſt fie.’ Deßhalb möchten wir
aber nicht geradezu dieſes in fich immer beſonders abge⸗
ſchloſſene Stud geradezu mit dem vorhergehenden ald
urfprünglich eins verbinden. Und eben fo wenig ſcheint
ed und, wie Gef. will, mit dem folgenden Orakel zu⸗
fanmen zn gehören, obfchon wir nicht verfennen, daß es,
feinem Suhalte nad, ale daſſelbe einleitend betrachtet
werben kann.” Knobel thejlt wie Gef. ab: 17, 1— 11.
und 13,12 — 18, 7,; Hävernid (Einl. IL, 2. ©. 75. 76.)
wie Hitzig: Kap. 17. und Kap. 18. de Wette hatte im
den früheren Ausgaben feiner Einl. unfer Städ in zwei
Orakel zerlegt: 17, 1—11. nnd 17,12 — 18, T.; in
Aufl. 6, zerlegt er eö in drei Städe: ar 1—11. und
17,12 — 14. und Kap. 18.
Man fieht, bier liegt eine von jenen Erfcheinungen
vor, an benen bie neuere und neueſte Kritif nicht eben
arm iſt, welde ganz bazu geeignet foheinen, an ber
Auffindung irgend einer objectiven Wahrheit geradezu
verzweifeln zu machen,
Sehen wir, ehe wir uns ſolch Aenßerſtem bingeben,
unbefaugen die Sache felbft ein, fo bietet ſich unferem
Blide vor Allem die Thatfache dar, daß in demjeni-
gen Theile der jefajanifchen Orakelſammlung, welchem
Kapp. 17.-18, angehören, jeder unzweifelhafte Anfang eis
ner neuen Weiffagung, der kleinſten wie der größten,
durch eine, allenthalben möglichft gieich gehaltene Leber,
fchrift bezeichnet if. So 4. B. die große Weilfagung über
Babel in 13, 1—14, N., fo die Feine über daffelbe Ob⸗
iect in 21, 1—10.; fo die kurzen und kürzeſten Orakel
21, 13—17. und 14, 23 —32. und 21, 11. 12. u. f. w.
Steht dieß fe, fo wird alfo das zwilchen den beiden
Ueberfchriften 17, 1. u. 19. 1. liegende Stüd ein Ganzes
bilden follen. Der Urheber der vorliegenden
Theol, Stud, Jahrg. 1847. 68
80 Brerheler
Gamumlinng hat Kapp. 17.18. als eine fu fih ak
gefhloffene Weiffagung betrachtet wiſſern
wollen.
Prüfen wir mun, inwiefern wit biefem äußeren
Beugaiffe der Inhalt jener Rapp. und überhaupt ber innere
Befund zuſammenſtimme.
Bas und Ba gu allererk in bie Augen fallen wird,
iſt dieß, Haß innerhalb des in Rede ſtehenden Abkchuit
fo viele verfchiedene Bölfer der Reihe nad zum Beam
Rande der Weiſſagung gemacht werben. Während d
ſouſt Brandı if, Daß jebes beſondere Drafel einem br
ſtimmten Bote, dem tu der Lieberfchrift namhaft gemad-
ten, gewidmet ift, fehen wir in dem vorliegenden Gtäd
merſt Damaskus (B. 1.) auftreten, daſſelbe fpäterbin j1
Bram (B.8.) ſich erweitern, Daneben eine Stadt dei iſ
zaelitifchen Oftjordanlandes (B.2.) und Ephraim (8.3
gur Sprache kommen unb weiterhin (V. 4 — 11) zu
ausfchließlichen Beiprecung gelangen, hierauf A
(8. 18 — 14.) in den Befichtefreid bes Propheten ein
ven, endlich ein Land „ienfeite der Ströme von Kuſch“
(Kap. 18.) den Reihen fchließen. in, wir geflehen eh,
falls fi dieſer Cumulirung keine andere Seite als dit
des Bufälligen und Willkürlichen abgewinnen laffen fol,
in der That mehr als bedenklicher Umſtand! Wen d
And dieß ja biefelben Böker, weiche in dem Epoche me
renden Kap. T. auch neben einander vorkommen. Ya
Kap. 7. hat es mit Damaskus zu than (7,8) ud mi
ram (7,1.2.4.5,8.) und mie Iſtael CT, 1.) oder Epkreis
(7, 2.3.8.9.) und mit Affur (7, 17.18.20.) und mit „MM
Fliege am Ende der Nile Negpptens” (7,18). Un li
wie Bram und Ephr. in Kap. T. ald Mliiste erfieimn
die eben deßhalb aßezeit neben einander genannt werde,
fo in Kap. 17. eben auch. Deßgleichen, wenn in Kant.
Aſſur nach Maßgabe des hifterifchen Entwidelungdgss
ges erſt dann zur Sprache kömmt, wenu ber Prophe
über Bel. 17. 18. 861
das, was er Über bie beiden alliisten Könige zu fagen
hat, ausgeſprochen hat, fo verhält es ſich in Kap. 17.
in dieſer Hinficht ebeufo. Endlich ber „Fliege am Ende
ber Nile Aegyptens“ wird in Kap. 7. nach Affur und,
wie es fcheint, ald in der Reaction gegen baffelbe begrif-
fen Erwähnung getban. Genau ebenfo verhält es fi
in Kap. 36. mit dem Lande „ienfeitd der Ströme von
Kufh.”
Daß die Ueberſchrift in 17, 1. nur Einen von dieſen
Betheiligten,, das zuerfi zur Sprache kommende Damas⸗
Ind, namhaft madıt und danach das ganze Stüd benennt,
wird, als durch die fonflige Sitte des Hebräers und des
Ortentalen überhaupt gerechtfertigt, gar keine Schwierig»
feit verurfachen.
@iner näher tretenden Betrachtuug der Rapp. 17.18,
faun es ferner nicht entgehen, daß dieſelben ihrem ins
halte nad) ein Ganzes bilden, das fich aus einem und
demfelben Grundgedanken auf dad Schönfte confiruiren
läße. Ihr Inhalt ift nichts Anderes, ald die concrete
Anwendung des in Kap. 2,, näher in 2, 12—18., gang
allgemein ausgefprochenen Gedankens, und wir können
die Summe bed ganzen Abſchnitts nicht befler ausdrücken
als mit den Worten von 2,17.: „und wird gebeugt Hochs
muth ded Menfchen und erniebrigt Stolz von Männern;
und iſt erhaben Jehova allein an bemfelbigen Tage.”
Daß ein Tag herannahe, an weldiem Alles, was auf
Erden etwas it oder doch etwas feyn will, mit oder
wider feinen Willen dem Herrn werde bie Ehre geben
müſſen: dieß der Inhalt der Kapp. 17. 18. Und dieſer
Grundgedanke ift mit fchöner Steigerung in immer weis
terem Kreiſe durchgeführt. Zuerſt an den in nädılter
Nachbarſchaft wohnenden kleineren Keinden, Aram und
Ephraim, danach an dem fchon entfernter wohnenden
mächtigen Affur, zuletzt an dem in die fabelhafte Ferne
hinausreichenden Kufch, welches fich eben deßhalb im
u:
862 Drechsler
18, 3. zur geſammten Menſchheit erweitert. Alle werben
fle zu Schanden werben, die dem Herrn in entſchiedener
Feindſchaft entgegentretenden Weltmächte (Rap. 17.) jo gut
wie die eine mehr neutrale Stellung einnehmenden, mil
dem Volke des Eigenthums das gleiche politifcdye Jutereſſe
theilenden (Kap. 18.). Die erfteren werden vernicte,
die anderen mit ihrem ganzen fo ungeheuren und bed
am Ende fih fo überflüffig erweifeuden Aufwande ber
außerorbentlichfien Mittel (18,2.) befhämt.
Hat ſich durch das Bisherige fo viel ergeben, dab
der Inhalt des fraglichen Abfchnitts mit dem durch bie
Ueberfchrift gegebenen äußeren Zeugniffe in vollkommenes
Einflange begriffen ſey, fo mögen wir nun uoch zuſehen,
inwiefern etwa an ben Rapp. 17. 18. in allerlei Einzeln
fcheinungen ein Gepräge der Einheit und Zufammenge
hörigkeit zu Tage liege, wie fle die ein Ganzes bilden
Rede in der einen oder in der andern Weife an fh
tragen pflegt.
Hierher gehören die homogenen, ja identifchen Bl
ber, deren fid der Prophet durch bie verfchiedenen Par:
tien feiner Rede hin bedient. Wenn er das Gericht ber
Bertilgung, welches über Ephr. fommen fol, veraufdan
lichen will, fo thut er es 17, 5. unter einem von der
Frucht des Aders nnd deren Ernte und gleich darauf
17, 6. unter einem von ber Dlivenernte hergenommam |
Bilde. Ebenſo läßt er 17, 10. 11, die Ephraimiten wi
ihren getänfchten Hoffnungen fi in dem Bilde des Bär
nerd abfpiegeln, der, nachdem er bie Pflanzung, welt
er alle mögliche Sorgfalt gewibmet, auf das Hoffnung"
vote hatte heranwachfen fehen, in dem Augenblide da
erwarteten Ernte feine Ausſicht plötzlich vereitelt fe
Und ganz und gar in derfelben Weife ſtellt er 1,45
die Kataftrophe, welche den affprifchen Eroberer eu |
dann ereilen fol, wenn er feiner Meinung nach gerad!
im Begriffe it, feinem Werke die Krone aufzuſetzen, u
über Jeſ. 17. 18. 863
ter dem Bilde einer Berheerung dar, die den Weinftod
in dem Momente der der Lefe entgegenreifenden Traube
eben fo unerwartet ale vollftändig trifft. Alfo, in dem
verhaͤltnißmäßig nicht eben langen Stüde vier fo homo⸗
gene, zum Theile geradezu ſynonyme Bilder! Bon 21 Ber,
fen nicht weniger ald 6 in Gleichniffen aus einer und
derfelben Sphäre anfgehend! Und andererfeitd — was
für unfern Zwed wohl zu. beachten — alle vier Bilder
doch auch wieder fo gehalten, daß fie einander auswei⸗
hen, nicht eined mit dem andern fchlechthin identifch
wird!
Bon befonderer Wichtigkeit ift ferner dad Verhält⸗
niß der beiden Stellen 17, 12—14, und 18, 4—6. An
beiden Drten if die Art und Weife, wie von der Katas
frophe geredet wird, welche Affur treffen fol, genau
diefelde x). Beide Abfchnitte geben ein Doppelted zu ers
kennen, erſtlich, daB das Gericht erſt dann kommen
werde, nachdem vorher ber affyrifchen Macht lange Zeit
und bis aufs Aenßerſte Raum werde gegeben worden
a) Hitzig freitich findet in den beiben Stellen, deren genaue Ueber⸗
einftimmung wir als ein Argument für bie Zuſammengehoͤrig⸗
Leit geltend machen, einen Widerſpruch, den er (neben andern
Gründen) als die Berbindung von 17, 12—14. mit Kap. 18,
nicht zulaffend hervorhebt. Er fagt &. 200. : „Dort (17,12—14.)
wird als gegenwärtig befchrieben, wie die Feinde über alle
Berge fliehen, und bier (18, 4&— 6.) ſollen fie fammtlich als
Erſchlagene auf dem Plage bleiben ? Es iſt leicht eingufehen, .
daß wir hier nur bie zwei ſich ergänzenden Seiten haben, nach
weichen wohl jebe bebeutende Nieberlage eines großen Kriegs
heeres betrachtet werben Tann und bie denn audy die hier ges
weiffagte Kataftrophe bei ihrem Gintritte wirklich darbot (37,
36. 37. vꝗl. 37, 7. 29. 34.). Dabei ift jedoch recht fehr zu bes
achten, daß, wenn der Prophet auch allerbings mit 17, 13. vor:
zugsweife bie in 37, 87. und mit 18, 5. 6. bie in 87, 36. ver:
zeichnete Seite im Auge hat, doch auch in 17, 14. a. eine nicht
zu vertennende Hindeutung auf bie in 87, 36, erzählte Krifis
enthalten ift.
864 Drechẽeler
ſeyn, und zweitend, daß die Kataſtrophe, in ber ſich
bad Gericht vollgiehe, eine plößlihe und eine rabicak
feyn werde. Namentlich faffe man bie beachtenäwertke
Ucbereiuftimmung beider Stellen hinſichtlich der in Un
wendimg gebrachten rhetorifchen Mittel ind Auge. Das
eine wie dad andere Mal verweilt die Rede abſichtlich
bei der Schilderung Der ungehinderten Kraftentwidelung,
zu welcher Affur Raum gegeben werden folle, auffallend
lange, um mit um fo größerem @ffecte das Gericht in
feiner ganzen Urplöglichkeit zu veranfchanlichen. Im ge⸗
naueften Paralleliömus entfprechen ſich in diefer Ber
bung 17, 12, und 18, 4.; 17, 18. a. a. und 18, 6. ı >).
Endlich fey noch Baranfhingewiefen, wie Kap. 17.18.
den Charakter eines in fich abgefchloffenen Ganzen m
ber Stetigkeit almählichen Steigens und Fallens dır
Mede beurtunden. Der Anfang des Drafeld hält fie
ganz und gar innerhalb der gewohnten Weiſe prephe:
fher Darftelung, Jeſaja beginnt bamit, den nädta
Gegenſtand feines Weiffagend zu begeichnen. Er tat
das, indem er die verfchledenen Parteien, in welche fi
das nächſte Object gliedert, der Reihe nad anfjällt
und dabei jeden Theil ganz einfach beim Namen went
Die Rede bewegt ſich hierbei durch das hergebrachte Te
bilel der Verbindung nam ehsa rm), einfacher wırmı 72
oder am fort. So in V. 4; in V. 5, zweimal; Bd;
B.9. Indem aber der Prophet in B.9., nachdem rin
Vorhergehenden den Grundgedanken in Beziehung af
Ephr. bereits vollſtändig durchgeführt hatte, nochmals |
barauf zurückkommt, das Gericht ber Enttäufchung, wel
ches die Ephraimiten für ihre unverbeflerliche Abtrünnig:
keit erfahren werden, zu um fo größerer Eindringlicfet
wiederholt darzuſtellen, belebt fi ber Puls feiner Rebe.
a) Auch in dem Wteichniffe 17, 10. 11. laͤßt fich die gleiche Anlıt
nicht verkennen.
über Jeſ. 17. 18. 803
Gie geht mit B.10. in die zmeite Perfon über wud nimme
am Schluſſe diefer Strophe in V. 11. h. etwas Adgeriſſe⸗
ned an. Im Kolgenden erhält und erhöht ſich dieſe Stei⸗
gerung. Hier find die lebergänge lyriſch; an die Stelle der
profaischen Formel tritt die Partikel hr in 17,12.18,1.).
Die Strophe 17, 12 — 14. zeigt den Charakter des Bis
fionären. Witten hinein ficht fi der Prophet verſetzt
in die braufende Brandung tobender Feindesheere. Alles
it Hanblung, vos dem inneren Auge bed Sehers raſch
fd entwidelnder Borgang, bis zu dem kurzen biefe
Strophe fließenden Paran in 17, 14.b. Für Ramen
it bier fein Raum. Obwohl der Prophet Aſſur volle
ſechs Berfe (17, 13 — 14. 18, 4—6.) widmet, fo ift dem⸗
ohngeachtet der Rame des Feindes auch nicht einmal ger
naunt. Wit der wahrhaft kunſtreichen poetiſchen Schil⸗
derung in 18, 2, iſt es derſelbe Fall. Im 18, 1. umgeht
Yehnja abfchtli Die directe Benennung. YAaflatt bad
Land geradezu beim rechten Ramen zu nennen, ſubſtituirt
er ein Gymbos.n). Weiterhin kehrt im MBerlaufe dieſer
a) Die Worte ums bebr find — ein wahres Kreuz der
Ausleger. Ich erkläre dieſelben im Hinbiide auf Deut. 26, 42,
durch geflügelte Shwircheufhrede. Richt als ob «eb
die Intention des Propheten wäre, bas in biefer Stelle anges
rebete Land als Heimath jenes fhäblihen und verheerenden In⸗
fects zu bezeichnen. Die eigentliche Meinung des Propheten iſt
aus eben jenem Kap. 7., zu welchen unſer Städ üͤbethaupt im
fo naher Beziehung ſteht, zu erklaͤren. So wie naͤmlich in 7,184
von ber Fliege am Ende ber Nile Aegyptens unb von
der Biene im Lande Affur bie RKede ift, fo ift gu im
18, 1. der geflägelte Schwirrer ald Emblem ber Lufcht«
tifhen Macht, welde damals weithin (nad Strabo bi8 an bie
Saͤnlen bes Hercules) erobernd auftrat, gu fallen. Eben um
diefee emblematiihen Eigenſchaft willen if der MWeifag- RIE33
noͤthig. Da naͤmlich einerfeite bei allen für bie nähere MWeftim,
mung bes busch babx bezeichneten Inſetto in Betracht kom⸗
menden Arten die Entwidelung der Flägel an allerlei Bebin-
gungen theils bes Geſchlechte, theils der verſchiedenen Entwicke⸗
y
308 Drechdler
legten Strophe bie Rebe zur Ruhe zuruck, wie denn auch
den Schlußvers bed Ganzen wieder bie Formel rn;
wrm einleitet (vgl. 20, 2. 39, 1.).
Als einen Punkt von minderer Wichtigkeit nenne ih
zuletzt noch die Verbindungen: cn Yb 17,13. und ann ©
18,3, und runs 18,6. Seine diefer drei Berbindungen
kömmt außer der refpertiven Stelle je mehr vor.
Unter diefen Umftänden glaube ich die Zufammenge
hörigkeit der Kapp. 17. 18. als eine unzweifelhafte That,
fache betrachten zu bürfen, wenigftend als fo ausgemacht
und evident, wie es nur immer Dinge der Art irgend
ſeyn Fönuen.
Ein nicht geringer Beweis für die Probehaltigfeit
unferer Anſicht if, dünft mid, darin gegeben, daß
alle die von den verfchiedenen Kritikern gegenfeitig gel
tend gemachten Argumente, foweit fie irgend einen Kern
Bed Haltbaren haben, von unferem Standpunkte and
bie befriedigendfie Erledigung finden,
So if unleugbar etwas Wahres daran, wenn in
Laufe der Verhandlungen über biefen Gegenſtand von ver»
ſchiedenen Seiten hervorgehoben worden ift, bag fd
17, 14, als Schluß charakteriſire, fowie 18, 1. einen paſ⸗
fenden Anfang gebe. Aber während diefe Wahrnehmung
allerdings gegen diejenigen zeugt, weldje ed unternehmen,
17, 12— 14. von 17, 1— 11. abzulöfen und dagegen mit
Kap. 18, zu einem befonderen Drafel zu vereinigen, ver:
trägt fie fich mit der von und aufgeftellten Annahme auf
das Befte und findet bei derfelben ihre vollfte Würdigung.
Mit dem Schluffe von Kap. 17. tritt ja nämlid, wit
.. Iungöftufen gebunden iſt, anbererfeits aber für ben ſymboliſches
Gebrauch in unferer Stelle das Gefluͤgeltſeyn «in weſentliche
und ganz unentbebrlicher Zug if, fo erfcheint jener Zufag nichte
weniger als muͤßig. — Daß cm im Hinblide auf 8, 8. k
- ohne Weiteres von Heeresfluͤgeln verflanden werben könnte, if
meines Beduͤnkens zeinweg unmöglich.
über Sef. 17. 18. 867
wir oben gefehen haben, wirklich ein Wendepunkt ein,
Der Prophet macht von den dem Herrn uud feinem Reiche
feindlich entgegentretenden Weltmächten, welchen in Kap. 17,
feine Rede galt, den Uebergang zu den zwar noch außers
halb der Gemeinfchaft ber Berheißung, doch nicht im po»
fitivem Widerſtreben gegen biefelbe ſtehenden Völkern.
Daher in 17, 14, b. der zuſammenfaſſende, abfchließende
Charakter a), R
Demnach ik Haev. gegen Knob. nnd Andere, welche
die Zufammengehörigkeit von 17, 12—14. mit 17, 1-11.
nicht anerfennen, ganz und gar im Nechte, wenn er
(Til, 11.2. S. 75.) darauf hinweiſt, bag gerade in. dem
Abſchaitte 17, 12— 14, das Thema zu dem Vorhergehen⸗
den — er meint damit eben 17, 14. b. — liege and
dag B. 14. unverlennbar auf 2. 3. zurüdfche Nur tk
andererfeitd ihm gegenüber, als welder nun umgelchrt.
den Zuſammenhang zwifchen 17, 22°—14, und Kap. 18:
leuguet, Knobel eben fo fehr im- Rechte, wenn berfelbe
behauptet, die Bereinigung von 17,12-—14. mit Kap. 18,
fey, abgefehen von:der fihönen Abrundung und Bollkän-
digkeit, welche dad Stüd dadurch erhält, deßhalb noth⸗
wendig, weil 18, 5, die Vernichtung eined großen Heers
verbeißen wird, ohne daß deſſen Ankunft auderswo als
in 17, 12. angefündigt wäre,
Und fo hat denn auch Umbreit dad Richtige gefeben,
wenn er, wie Eingangs referirt, den Abſchnitt 17, 12—14-
im: Berhältniffe zum Vorhergehenden als paflend ange⸗
reiht, im Verhältniſſe zum Kelgenden als daſſelbe einlei⸗
tend betrachtet. Nur darin irrt er, daß er fich zu eis
ner ernftlichen Bereinigung ber drei betreffenden Abfchnitte
demohngeachtet nicht entfchließen will.
a) Kap, 17. gipfelt in V. 14.b.; Kap. 18. in 8. 7. Das gegen»
fügliche Verhaͤltniß der beiben Schelle unferer Rede ift in den
beiberjeitigen Schlußfägen concentrirt.
808 Dredsier
Uebrigens hat die hier durchgeführte Auſicht ſcher
unser ben Aelteren ihre Bertreter, wie beun Bitringa die
Zafammengehörigkeit von 17,1 — 18, 1. nicht vertennt.
Dat, wie er ſich zu 17, 1,a. und zu 17, 13. ausiprict.
Stehn num aber folchergeftatt einmal fe, Daß die
Kayyp. 17. 16, Bine zufammenbängende Mebe ausmachen,
fo gewinwt bie Frage nad dem Zeitpunkte der Abfaſſurg
eine ganz neue Bedeutung und muß, während fie bidher
mehr in deu Dintergramd getreten il, von Neuem in de
arbeitung genommen werben.
:, Sur Zeit wänlih wimmt man — um and dießmel
wirber: mit der. Daslegung des gegenwärtigen Stande
der Unterſuch ung zu beginnen — hinfichtlich der erſten
Hänfte mnfered Stücks den Zeitraum der ſyriſch⸗ ifraeli⸗
then Invaflon in Auba «7, 1.) mit grußer und in ber
Hauptſache =) totaler Einfimmigfeit ald Termin der Ab⸗
feffang au, binfichtiid, ‚der zweiten Hälfte dagegen de
zeichnet man eben fo eluftimmig die Periode Deo aflyri-
ſchen Drucks, wmelftentheild geradezu die Zeit karz vor
der Rieberiage Sanherivbꝰs (Rapp. 38. 37T.) als Aofaſſunge⸗
get. So zuverfichtiih ſich unn aber Kritiker und de
geten in diefer Beziehung anszufprechen pflegen, fo mut
even body, werm ſich, wie ich glaube, an der Zufammen
gehörigkeit der zwei Theile nicht zweifeln läßt, nothwen,
dig Die eine: von den beiden Annahmen unrichtig fepn.
Mir für meinen Theil ſcheint — wenn ich mir erlan
ben ‘darf, der Linterfinhung vorgreifend Dieß bier glei
aus puſprechen — der fpätere Termin der rechte zu fen.
Ich glande, daß Hugo Grotins die Wahrheit getroffen
bat, wenn er Kap. 17. in die evften Zeiten des Könige
a) „Ob es (17, 1— 11.) aber vor bie ſyriſch⸗ iſraelitiſche Invafer
in Juda (Ew.) ober in diefelbe (Vitr., Lwth., Döberlein, Rs
fenm., Maurer, Hnbwrf.) oder au bes Ende berfelben, eis die
Aſſyrier bereits heuansadten (Hieig), ober ſchon das Dftjerden
land exobert hatten (Geſ., Umbr.), gehöse, iſt fireitig.” Kmeke.
über Jeſ. 17. 18. 869
Hiskia ſetzt und bie Drohungen, welche daſſelbe in Bes
ziehung anf Dawradias enthält, nicht auf Die Heimfuchung,
die Aram durch Tiglath⸗Pileſar erfuhr, fondeen anf eine
fpätere unter Salmanaffar bezieht.
Sehen wir zuoörberft, welche Erſcheinnugen man zu
Bunften einer früheren Abfaſſung geltend gemacht hat.
Auf die Gleichzeitigkeit von Kap. 17., beziehungoweiſe
von 17,1 —11., mitKap. 7 fi. hat man beßhalb gefchlofe
fen, weil das vorliegende Stück genan dieſelbe Lage der
Dinge abfpiegele, wie fie die genannten früheren Kapitel
zu erfeunen geben. Gleich im Eingange (17, 1— 3.) werde
Ephraim und Damaskus in einer ſolchen Weiſe der Zus
fammenfafjung behandelt, wie fie ih nur unter ber Vor⸗
ausſetzung eines zwifchen den beiden Reihen befiehenben
Bundesverhältsiffes erflären laſſe. Run babe aber ein
ſolches nur bie zu dem Linfchreiten von Seiten Affur'd
Statt gefunden ; in Folge ber Katafeophe Burch Tiglath⸗
Pileſar habe es ſich gelöſt. Berner fey 17, 3. von einem
Königthume bei Dam. die Rede. Much diefem ſey, fo viel
und befannt, in Kolge chen jenes Kataſtrephe ein u.
gemacht worden. Pgl. 2Kön. 16,9,
Ich habe diefer Argumentation ein Doppelte entges
genzufeßden. Erſtlich Iäßt fie ſich behanptend und lewgr
nend allın fehr fo an, ale ob undgenane Nachrichten über dieß
Alled verlägen, während die Quellen im Gegentheile we⸗
nig mehr ald Nichts darbieten. Zweitens ik fie mit
dem wenigen wirklich Borhandenen gar nicht einmal im
Einklange.
Es iſt und nämlich von Dam, und von ſeinen Sana⸗
falen ans jenem ganzen Zeitraume nichts weiter befannt,
ale was wir AR6n.16,9. leſen. Mit Ausnahme dieſer
einzigen Stelle (ind wir von aller und jeder Nachricht
verlafien und erft im Zeitalter der Propheten Ger. und
Ez. taucht wieder eine die Gefchichte von Damaskus ber
rührende Notiz auf, infofern fi aus den Weillagungen
870 ‚ Dredsler
der genannten Propheten ergibt, daß jene Stadt damals
wieder in gutem Zuſtande ſich befunden haben muß. Max
vgl, Yer.49,23— 27. &5.27, 18,
Betrachten wir nun die citirte Stelle genauer. In
28öu.16,9. wird gemeldet, daß Tigl. die Stabt Dam.
eingenommen (momnn) unb Deportation Über fle ver
hängt (non) habe, ferner, baß er den Rezin habe toͤd⸗
ten laffen. Man flieht, was Tigl. an Dam. that, ſteht
ganz und gar auf Einer Linie mit bem, was durch Re
buladnezar an Serufalem bei Gelegenheit feiner erfea
Einnahme gefchah, worüber und 2 Kön. 24,10 — 16., nut
watärlid, bier mit viel ausführlicherer Darlegung von
Detatid, Meldung that. Auch in Beziehung auf Jernſ.
wird und a. a. O. erzählt, daß Nebuk. Deportation über
Die Stadt verhängt babe. Man vgl. B, 14 —16, nu:
mentlich B.14., wo e& heißt: ubeern-ba mu rzum. Gleich⸗
wehl wurde Jeruſalem damals nicht zerftört, nicht einmal
Juda als felbfiändiged Reich vernichtet. Der dal.
Eroberer ſetzte einen neuen König ein, und dieſer, wie
wohl unter babyloniſche Oberherrlichleit geſtellt, hatte
doch Selbftändigkeit genug, num durch ernenerten Abfal
die chald. Macht zu wiederholter Heimfuchung zu ter
sen, da dann erft, wie befannt, der gänzliche Ruin Je⸗
zufalem’d nnd Inda's herbeigeführt wurde. Die ni
liche Bewanbtuiß kann es in der afiyr. Periode wit Dam.
gehabt haben, Unbeſchadet des durch 2 Kön. 16,9. Auf
gefagten kann auch Dam. nad der Eroberung durch
Zigl, noch fortbeflanden =), es kann feinen eigenen König
gehabt haben mn, ſ. w.
Hiermit ift nun aber ſchon bewiefen, wicht nur, daß
die und gegemüberfichende Anficht ale ausgemacht au:
nimmt, was in dem wirklich Gegebenen keinen Grund
a) Ueber bie Bebeutung desin? Koͤn. 16, 9, gebrauchten wen vergl.
2 Rn. 14,7. Bon Menſchen gebraucht, heißt es gefangen ach
men; vergl, Joſ. 8,29. 2 Kön, 14,19,
über Jeſ. 17. 18. 871
hat, ſondern auch, daß ſie mit dem wirklich Vorhaudenen
nicht einmal im Einklange ſich beſindet. Deun klar if
es, daß die Weiffagung 17, 1. b. nicht auf die Kriſis ber
zogen werden kann, von welcher 2 Kon. 16,9. handelt a).
Entweber haben wir in 17,1. b. eine \nnerfüllt gebliebene
Weiſſagung oder ed bezieht ſich dieſelbe jedenfalls, ſey
fie nun concipirt, zu welcher Zeit fie wolle, auf eine Ku
tafteophe von viel verzweifelterer Art. Dem Gefagten
zufolge kann denn alfo in dem erfien Jahren bes Königs
Hiskia gar wohl ein Königthum bei Aram gewefen feyn
(17,3.); Jeſaja kann damals bei feinem Weiſſagen aller,
lei Berfuche von Seiten Damaskus, ſich ber aflyr. Herr,
haft zu entziehen, vor Angen gehabt haben, und den
derartigen Berfuchen mag ein geheimes oder offenkun⸗
diged Einverſtändniß mit Ephraim vorangegangen feyn,
obwohl dieß Lebtere anzunehmen, durch Kap. 17, gar
nicht einmal zur unabweisbaren Nothwendigkeit gemacht
wird. Denu geſetzt auch, es bat fidy nach der aflyr,
Snvafion unter Tigi. das Bundesverhaͤltniß zwifchen Dam.
und Ephr. niemals wieder erneuert, fo wird in diefem
Falle doch, was bie beiden vordem alliirten Gtaaten
im Fortgange der Zeiten auf Abrechnung der durch ihre
jenesmalige Alliance und während derfelben contrahirs
den Schuld kraft einer eben damals audgefprochenen
göttlichen Strafſentenz (7,4.8.16,) trifft, mit dem vollen
Rechte fortwährend unter dem Geſichtspunkte Des Gemeinſa⸗
men und Zufammengehörigen betrachtet. Dabei find wir
denn abrigens, es fey dem Allen, wie ihm wolle, jeden⸗
a) Daß die Relation in 2 Kön. 16, 9. nit etwa eine unvollftäns
dige, hinter der Wirklichkeit zurüdbleibende fey, erhellt aus der
fi) unmittelbar daran anfcdhließenden weiteren Erzaͤhlung. Radı
ZRön. 16,10 ff. yat Ahas dem Zigl., um ihn über feinen fiegs
reichen Feldzug, fo wie für gnäbdig geleiftete Hülfe feine Huldi⸗
gung darzubringen, in Dam, feinen Beſuch abgeftattet, fich audy
(vergl. 8. 11.) daſelbſt eine Zeit lang aufgehalten und von einem
dort befindlichen Altar ein Modell genommen,
872 Drerchäle
ſalls nicht gewilt, irgeubwie su leugnen, daß KRap.17.
u Kap. Tff, in einer ganz befonderen, fehr innigen Bezie⸗
bung ſtehe. Nur daß dieſe Beziehung nicht eine äußern
Kcdhe, in dem Zuſammeufallen der Abfaſſungszeit bedingte,
fondern eine durchans innere if, Dadjenige, was den
Uusiprud in Rap. 17. mit den Ausfprüchen in Rap. Tf.
verbindet, ift nichts Anderes ale die Gtetigleit eine
und deffelben Entwidelungsprecefled, deſſen der Zeit nadı
audeinanderfallende Momente der Berwirflichung im bes
bezeichneten Städen unferer Sammlung ihre Darftellung
finden.
Durdy das Bisherige iR, glaube ich, fo viel erreidt,
daß, follte aus irgend einem Grunde die Annahme wi
thig werden, ed habe Dam, auch nach ber Eroberung
durch Tigl. noch fortbeflanden :und feine eigenen Könige
gehabt, die Zulaffung einer ſolchen Annahme Bingefihti
ber vorkegenden gefchichtlichen Zeugniffe in keinerlei
Weile bedenklich erfcheine. Alles Weitere wird nun alfe
davon abhängen, In wieferne Gründe, welche zu befag
ter Annahme hintreiben, wirklich vorhanden And,
Mein erſtes Argument iR von der Stellung herge⸗
nommen, welche unfer Städ innerhalb der Gammluns
jefajanifcher Orakel einnimmt.
Wohl if es mir bewußt, daß ich freilich auf eine
entgegentommende Willigkeit von Geiten ber Mehrzahl
ber Lafer gar nicht gu rechnen babe, wenn ich, wie bier
geſchehen, für bie obſchwebende lnterfuchung einen 38:
fammenhang zwifchen der Mufeinanderfolge der einzelnen
Stade nnd ihrer Abfaffungszeit als Präjudiz gelten
lafle, Allein das Präjudig beruht auf ber übereinflimmens
den Analogie aller der unzweifelhaften und vollommen
Maren Data, fo viel fi deren dur das ganze Bud
hin vorfinden, Oder könnte Jemand wirklich leugnen
wollen, daß da, wo alle eine ausdrüdliche Bezeichuung
bed Zeitverhältuiffes enthaltenden Stellen ausnahmelo?
über Sei, 17. 18. 878
Die cheenologiſche Reihenfolge beobachten, allerdings ee -
ipso ein Präjudiz für das Werl im Banzen gegeben
fey % Auch läßt ſich in der That gar vielfach wahrnehr
men, wie Ausleger und Krititer ber Macht dieſes Eins
drude Ad) nimmer ganz entziehen können. Man fehe nur,
wie ſich Higig in der Einl. zu Kap. 17. 6.190.200. bemüht,
die Schwierigkeit zu heben, daß ein der gewöhnlichen
Anſicht zufolge in fo viel früherer Zeit werabfaßtes Stück
„mitten nuter Drakel aus der Zeit bed Sangon und His⸗
fin” geftellt fey; man beachte, wie eben berfelbe Kritiker
bald nachher in ber Einl. zu Rap. 18. 5.210, die Stellung
des genannten Kapiteld beuugt, um von ihr aus zu ars
gumentiren ; man vergleiche, wie Knobel in der Einl. gu
17, 1— 11. &.116. den Standort biefes Abfchnitte für feine
Anficht als beweisträftig benutzt »); fo wird man hiers
innen Die Wirkung eines Poſtulats nicht vertennen kön⸗
nen, bad, wenn auch in thesi noch fo fehr zurückgedrängt,
im praxi ſich doch immer wieder geltend macht, Und fo
ſcheint fie mir denn ein gutes, ein unbeflreitbared Recht
zu haben, Diefe Frage, wie biefe Rede, falle fie mit den Res
den Kapp. 7 — 12. gleichzeitig concipirt feyn follte, hierher
komme, warum fie nicht am betreffenden Orte, warum
auch ſelbſt in der zweiten Abteilung unferer Sammlung
nicht nach derjenigen Ordnung eingeichaltet worden fey,
wie es der Zeitfolge entfprechend gemweien wäre. Daß
fi) aber auf diefe Frage von dem gegenwärtig geltens
den Standpunkte aus eine befriedigende Antwort nicht er:
theilen laſſe, erhellt vielleicht am Bellen gerade ans deu
Erfiörungsverfuchen, welche Dig. in diefer Beziehung ans
a) Gelbft Hendew., ber doch in ber Umſtellung ber einzelnen Be⸗
ſtandtheile der jefajanifhen Orakelſammlung mit fo großer
Freiheit zu Werke geht, kommt gleichwohl von der vorgefundes
nen Anorbuung, als einen Schluß auf die Verhaͤltniſſe der Ab⸗
foflungsgeit begründenb, nicht fo gang und gar los, daß es fi
nit manchmal auf biefelbe beriefe. Vergl. 3. BI. @,128, 421,
2 ' Dricheie
fans nicht gewiiit, irgenbwie gu leugnen, daß Kap. 17.
u Kap. 7 ff, in einer ganz befonderen, fehr innigen Bezie⸗
bung ſtehe. Nur daß diefe Bezichung nicht eine äußern
Kdye, in dem Zuſammeufallen der Abfaflungsgeit bedingte,
fondern «ine durchaus innere if. Dadjenige, was den
Ausſpruch in Kap. 17, mit den Ausfpräcden in Kap. Tf.
verbindet, ift nichts Anderes ale bie Stetigkeit eine
und deſſelben Entwickelungsproceſſes, deffen der Zeit nadı
andeinanderfaliende Momente ber Berwirklichung in der
bezeichneten Städen unferer Sammlung ihre Darfielun
finden,
Durch das Bisherige ik, glaube ich, fo viel erreicht,
daß, follte and irgend einem Grunde bie Aunahme wi
thig werden, es habe Dam. auch nadı ber Eroberung
durch Tigl. noch fortbeftanden und feine eigenen König:
gehabt, die Zulaflung einer folchen Aunahme Angeſichts
der vorkegenden gefchichtlichen Seugniffe im keinerlei
Weiſe bedenklich erfcheine. Alles Weitere wird nun alle
davon abhängen, in wieferne Gründe, welche zu befag:
ter Annahme hintreiben, wirklid vorhanden find.
Mein erſtes Argument iR von ber Stellung herge⸗
nommen, welche unfer Städ innerhalb der Gammlun
jefafanifcher Orakel einnimmt.
Wohl if es mir bewußt, daß ich freilich auf eine
entgegentommende Willigkeit von Geiten der Mehrzahl
ber Leſer gar nicht zu rechnen habe, wenn ich, wie bir
geſchehen, für bie obſchwebende Llnterfuchung einen 38:
fammenhang zwifchen der Mufeinanderfolge der einzelne
Städe und ihrer Abfaffungszeit als Präjudiz gelten
laffe, Allein das Präjudig beruht auf ber übereinſtimmer⸗
den Analogie aller der unzweifelhaften und vohlemmer
Maren Data, fo viel fi deren durch das ganze Bad
hin vorfinden. Oder könnte Jemand wirklich leugnen
wollen, daß da, wo alle eine ausdrückliche Bezeichnung
des Zeitverhältuiffes enthaltenden Stellen ansnahnslos
über Seh, 17. 18. 878
Die hesnolsgifche Neihenfolge beobachten, allerdings ee
ipso ein Präiudiz für das Werl im Banzen gegeben
ſey ? Auch läßt ſich in ber That gar vielfach wahrnehr
men, wie Ausleger und Kritifer der Macht dieſes Eins
drucks ſich nimmer ganz entziehen können. Man fche nur,
wie ſich Higig in der Einl. zu Kap.17. 5.190.200. bemüht,
Die Schwierigkeit zu heben, daß ein der gewöhnlichen
Anſicht zufolge in fo viel früherer Zeit verabfaßtes Stück
„mitten unter Drakel aus der Zeit des Sangon und His⸗
fin” geſtellt ſey; man beachte, wie eben derfelbe Kritiker
bald nachher in der Einl. zu Kap. 18. 6.210, die Stellung
Des genannten Kapitels beuust, um von ihr aud gu ars
gumentiren; man vergleiche, wie Knobel in der Einl. zu
17, 1—11. S. 110. den Standort diefed Abfchnitts für feine
Aufiht ale beweisträftig benutzt a): fo wird man biers
ianen die Wirkung eined Poſtulats nicht verfennen kön⸗
nen, das, wenn aud in thesi noch fo ſehr zurüdgedrängt,
im praxi fich Boch immer wieder geltend macht. Und fo
ſcheint fie mir denn ein gutes, ein unbeflreitbares Recht
zu haben, biefe Frage, wie biefe Rede, falls fie mit den Res
ben Kapp. 7 — 12. gleichzeitig concipirt ſeyn follte, hierher
tomme, warum fie nicht am betreffenden Orte, warum
auch ſelbſt in der zweiten Abtheilung nnferer Sammlung
nicht nadı derjenigen Ordnung eingeichaltet worben fey,
wie es der Zeitfolge entfprechend gemefen wäre. Daß
fi) aber anf diefe Frage von dem gegenwärtig geltens
den Standpunkte aus eine befriedigende Antwort nicht ers
theilen laſſe, erhellt wielleiht am Bellen gerade aus den
Erklarungsverſuchen, welche Hitz. in biefer Beziehung ans
a) Gelbft Hendew., ber body in ber Umſtellung ber einzelnen Ber
ſtandtheile der jefajaniihen Orakelſammlung mit fo großer
Freiheit zu Werke geht, kommt gleihwohl von ber vorgefundes
nen Anordnung, als einen Schluß auf die Verhältniffe dere Ab⸗
faflungsgeit begründenb, nicht fo gang und gar Jos, daß es ſich
nicht manchmal auf dieſelbe beriefe, Vergl. z3. BI. @,128, 481,
874 " Drechsler
geftelt hat 9. Ge hilft ed auch nicht, mit Häwernid
(Einl. II. 2. S. 75.76.) nach Umbreit gu fagen „das Gtäd
fiehe paſſend mitten unter den Drafeln gegen fremde
Rationen, denn 3er. habe fi ja wie ein fremdes Bell
mit Syrien gegen Inda verbunden.” Einerſeits ik cd
weder an dem, daß die von Kap. 18. bis Kap. 23. fich er:
firedende Abtheilung des B. Iefaja ald bie Drafel gegen |
Auswärtige enthaltend betrachtet werben könnte (vergl.
Dagegen 22,1—14.0.22,15—25.), noch auch an dem,
daß in der Gruppe Kapp. T — 12. eine gegen ein auswär
tiged Volk gerichtere Rede nicht hätte Aufnahme finden
fönnen (vergl. dagegen 10, 5—34.), anbererfeitd wär
die eigentliche Frage biermit noch immer nicht erledigt,
da, auch von diefem Stanbpunfte aus betrachtet, Kap. 11.
jedenfalls vor 14,28 — 32, ftehen müßte und feine gegen
wärtige Stellung wur gleichfam ber Orbuung zum Troßt
hätte erhalten fönnen,
Dieß das erfte, aber keineswegs einzige Argument. Ein
zweites entnehmen wir dem Inhalte unferes Stücks, infofern
fi, in demfelben im Vergleiche Kap.7 — 12. ein Berhältuif
des Fortichritts wahrnehmen läßt. Das wichtigfie Moment
bildet in dieſer Hinficht die Stellung, welche in der vorliegen
den Weiffagung der Iufchitifchen Macht durch Rap. 18, ein
geräumt if. Sn Kap.6— 12. iſt von einer amalogen
a) Gr meint unter Anderem, „Zefaja babe das Drakel (Kap. 17.)
anfänglich feines in der That fehr geringen Werths (?) er
von der Sammlung ausgefchloffen ; aber nad) Ginreibung bei
jonas’fcyen Abfchnittse (Rapp. 15. 16.) daſſelde der Aufnahmt
gleich fehr würdig erachtet (!) und demgemäß ihm unmittelbar
folgen laffen.” Gr fährt dann fort: „allein vielleicht Hat ber
legte Rebactene das Drakel an der jegigen Stelle eingereih!
vor Kap. 18., indem ber zweite Abſchnitt des Orakels, 8.12,
auf aͤhnliche Art wie Kap. 18. beginnt und bei oberflächlider
Anficht daſſelbe Hiftorifche Subſtrat vermutben läßt, aber, =
teennbar von ber erfien Hälfte, dieſe faber nach ſich 10%"
Bergl, &. 199.
/
über Jeſ. 17. 18. 875.
Stellung Kuſch's gar keine Spur, Ta bort if unter
den an dem großen Drama Betheiligten der Kuſchiten
gar nicht einmal Erwähnung gethan, der Name Kuſch
überhaupt nur einmal genaunt und ba iu einer ganz
beilänfigen, dem Eufchitifchen Volke eine völlig unterge⸗
ordnete Stellung zutheilenden Welfe (vergl. 11,11.) Ofs
fenbar ift in dieſen Reden die kufchitifche Macht unter
Aegypten mit einbegriffen und eine ihr fpeciell geltende
Andeusung vielleicht nur darinnen enthalten, daß 7,18,
von „der Fliege am Ende der Rile Aegypteng”
geredet ift, TR es ja doch aud nicht einmal gewiß, ob zu
der Zeit, welcher Kapp. 7 —12. angehören und der uadı
bergebrachter Anficht alfo auch Kap. 17. angehören fol,
bie Athiopifche Dynaftie (deren dritter Regent erſt ber
ald Eroberer im größeren Maßſtabe berühmte Thirhaka
war) auch nur bereitd' ind Leben getreten war =). Nun
iR ed zwar allerdings an dem, daß das Auge des Schere
weder au Zeit noch an Raum gebunden if, und wir has
ben gerade bei Jeſaja mehr als Einen glänzenden Bes
weiß von der durch Feine Schrante zurüdgebaltenen
Flugkraft, des Geiſtes, der durch die Propheten redet.
Allein nichtödefloweniger ift die Weiflagnng ganz unbe⸗
fhabet der fo eben heroorgehobenen Seite doch auch
Sache der Entwidelung, und was in Beziehung auf Ba:
bel 3.8, ald zwedgemäß und ale nothwendig einer recht»
fertigenden Erklärung nicht erſt bedarf, das ift in Bes
ziehnng auf Kuſch, als ein fo ganz uub gar außerhalb
des hebrätfchen Geſichtskreiſes liegendes, weber in ben
Gang der ifraelitifchen Geſchichte insbefondere, noch
auch in die Entwicelung weltgefchichtlicher Berhältniffe
überhaupt jemald in bedeutungsvoller und bleibender
Weiſe eingreifendes Bolt, jedenfalls nicht vorauszuſetzen.
a) Rad) gewöhnlicher Berechnung überfiel Sabaco (der erfte der
äthiopifchen Herrſcher) Aegypten zwar unter Ahas, aber erft nad
dem Zeitpunkte der forifchsephraimifchen Invaſion.
Theol, Stud. Jahrg. 1847. 9
876 Drechaler
Aber and in demjenigen, was Kap, 17. binfichilid
Aram's und Ephraim's an prephetiſchem Gehalte bietet,
gibt ſich im Vergleiche mit Kapp.7 — 12. ein Berhältnif
des Kortfchrittd zu erkennen. Man halte einmal bie
Stein, in welchen Ach die letztgenauuten Kapp. über
Damashıs audfprechen, mit M, 1. 8. zuſammen und man
wirb nicht in Abrede ſtellen Bönmen, daß Kap. 17. wie
weiter gehe, fich in viel ertremerer Weife ausſprich,
als dieß in 7,4. 8,4. 9,10, der Fall id. Seilbſt die Stck
7,16. druckt Ach bei weiten nicht fo beſtimmt aus wi
17,1. 9). Auch was Ephraim berrifft, laßt ch Kap. V. u
einer Urt und Weiſe vernehmen, wie fie ganz beſonder
in eine Zeit paßt, welche bie erſtmalige, theilweiſe Erfäl-
fung der In. den Reben Kapp. T— 12. ausgeſprochenen
Sentenz beveitö hinter ſich hatte unb nunmehr dem eb
ten und Aeußerſten eutgegenfah.
Ueberhaupt finde ich im ber Situation, wie fie fid
in Rap. 37. abfpiegele, fo Manches, was vorzugeweiſt
zu dee fpäterm Abfafſungszeit ſfimmt. Bon Aram zu)
Ephr. veder der Prophet nach einer ſchon früher ange
ſtellten Beobachtung fo kuhl und fo ruhig; fo wir e
dagegen auf Affur zu fprechen kömmt, weidye Beweguns,
weich” ein Anfrahr! Dad paßt fchlecht zu bemieniges
Zeitpuntte, im welchen durch Die beiden verbändeten 84
nige die Exiſtenz des Reiches Tuba fo ebeu auf badlie
mitteldarfte in Frage geflellt wurde, während bie ver
Seiten Aſſur's drohende Gefahr annoch im Schooße dt
fernen Zukunft ruhte. Bortrefflich dagegen paßt es 4
jener fpäteren Zeit, ba Ephraim und Aram bereits ind Ge⸗
richt genommen und tin Folge davon für Juda wuufhä”
a) Alle die aus Kap. 7 ff. angeführten Gtellen, felb 7, 16. ik
ausgenommen, find von der Art, daß man fich, was ihre Gr
fällung betrifft, nicht bemüßigt ſehen würde, über 2.Rn. 16°.
hinauszugehen. In Abficht auf 17, 1. dagegen werhäßt es Ad
wie wir gefehen haben, anders.
über Bel. 17. 18. 877
lich geworden waren, während jebt die Exiſtenz Inda's
abfeiten Afur’d bedroht war. Auch feldfi daß in bem
eriten von dem verbändeten Aram und Eyhraim handeln⸗
den Theile unfered Orakels Ephr. und die Schilderung
bed ihm bevorſtehenden Gerichts fo ſehr in den Border
geund zu fliehen kömmt, während Damaskus, obwohl
dem Ganzen in der Ueberſchrift den Namen gebend , im
Uebrigen doch unverbältnigmäßig zurkdtritt, findet von
unferm Stanbpunfte aus eine befonbers befriedigende Erklu⸗
rung infofern, ald den aramälfchen Alliirten bei der frühe,
ten Kataſtrophe ber dei weitem überwiegende Antheil
des Gerichte getroffen hatte, während ed bei Ephraim zu
einer Seyn ober Nichtſeyn betreffenden Krife erft burch
Salmanaffar kam,
Died die Gründe, welche mich beſtimmen, für eine
fpätere Abfaffung bed Stücks Kapp. 17,18. zu fpredien.
Es iſt nun nur noch das Einzige Abrig, die genannten
Kapp., was Spracde und Darfielung anbelangt, mit den
anderen für die obfchwebenbe Krage in Betracht kommenden
Partieen bed. Buch6 zu vergleichen und zugnfehen, ob bad
Refnlsat ein unfere Anficht beflätigendes ſey oder nicht.
Stellen wir zuvörderſt bad VBerhältniß von Kapp.
17.18, zu Rapp. 7— 12. in diefer Beziehung fe. Daß
eine Vergleichung beider Rbfchnitte mehrfache Beziehnn⸗
gen und Beruhrungen zwifchen denfelben ergeben werde,
ft won vorne herein mit voller Sicherheit zu erwarten.
Es find etwa folgende. Gleichwie unfer Städ, fo And
auh Kapp. T — 13, an Gleichniſſen und Bildern reich,
welche in den Bereich der Pflanzenwelt einfchlagen. Man
vergl. 9, 17, 10, 17 — 19. 10, 33. 34. und halte namennlich
9,9. mit 17,8.9. zufammen. Auf die analoge Symbol
in 18,1. vergl. 7,18. ift oben ſchon hingewiefen worden.
Der Zukand der Verwüſtung if in 17,2. b. mit denfel«
ben Zügen gefchildert, wie 7, 21. 22., beſonders V. 26. b.
Die Bergleihung Affur’s mit überfchwennmenden Ges
+ -
‘878 Drechöler
waſſer entfpricht 8,7.8. Außerdem Einzelnes: 17,1. b.
vergh 7,8. b.; 17,2. mars) vergl, 7,16. arm) vergl. 11,3.
(me) vergl. 7, 3. 10, 19.20 — 22.11, 11.16. 5 17,3.4. (72
ps) vergl. 8, 7. 10, 3, 16.18.; 17,4. (mm), abo) vergl,
10,16.; 17,14, (in Beziehung auf Affur vr und rıne ne
beneinander) vergl, 10,6. 13. (biefelben Ausdrucke gleich⸗
falls im Beziehung auf Affur, nur aber auf die beides
Verſe vertheilt); 18,1. b. vergl. 7,20. russ nrain vy
m).
Bor allen Dingen wird, um ein ſicheres Urtheil zu
begründen, eine nähere Würdigung der vorgelegten Data
erforderlich feyn. 2
Mas die in die Sphäre der Begetation einſchlagenden
Bilder und Bleichniffe betrifft, fo wird durch fie ein ſpeciel⸗
led Berwandtfchaftsverhältniß nicht begrünbet, da fie dem
allgemeinen Charakter jefajanifcher Darftellung überhaupt
angehören und auch anderwärts vorfommen. Man vergl.
and Lapp.1— 6: 1,30, 3, 14.5,1— 7. 5,24, 6,13. ; aufır
dem: 27,2 —4.21,6, 28, 4. 32,19. 37,27,31. u, ſ. w. ü
fpecielled BVerhältniß würde man nur in dem Yale fe
gern können, wenn zwifchen den in Kapp.17, 18. nad u
Kapp. 7 — 12. vorkommenden einfchlägigen Wäldern ein
fpecififche Aehnlichkeit flatt fände. Dem ift aber mid
alfo. Im Gegentheile, während ale in Kapp 7-1
vortommenden Gleichniffe diefer Art vom Walde herge⸗
nommen find, von beffen Zerftörung durch euer od
Beil, ift es bei fämmtlichen in Kapp. 17.18, gebraucht
Bildern bie Ernte, weiche als vollzogen (17, 5. 11,6)
„oder geſtört (17,10. 11.18,4.5.) die Pointe andmadt
Nicht minder ift auf den Gebrauch von Tas in 19,34
Bein Gewicht zu legen. „Auch diefe Ausdrucksweiſe fi,
wie die Fälle 5,18. 16,14. 21,16. 22, 24; beweifen, zu ſeht
eine allgemeine, überdieß auch ihre Anwendung in uniett®
Stüde aus dem Grundgedanken bed Ganzen, welden
zufolge es fi um die Nichtigkeit aller uud jeber creatir⸗
lichen Herrlichkeit handelt, fpeciell hervorgegangen. An
über Jeſ. 17. 18. . 879
ähnlichem Grunde kann auch “m 17,3. kaum in Betradyt
fonmen. Etwas Beweiſendes würde es nur bann haben,
wenn ed a. a, O. in demjenigen fpecififchen Sinne ger
braucht wäre, in welchem es 7,3. 10,20— 22. 11, 10.16,
vorfömmt.
Ein unleugbarer Zufammenhang bagegen findet zwis
(hen 17, 12.13. und 8, 7. 8, flatt, zugleich aber eben
ein foicher, welcher unfer Städ ald das fpätere charal:
terifirt. Diefelbe Ueberfluthung, welde 8, 7.8. ihrem
Eiutritte nach befchreibt, iſt 17,12,13. als ihr Ende fin,
dend bezeichnet. Nicht minder ficht 18, 1., fofern meine
Erklärung der Worte arnın >zbx die richtige ift, mit 7,18,
im Zufammenhange und wurzelt nad) feinen beiden He⸗
miftichien in der Stelle 7, 18 — 20. Aber auch bier ſtellt
fi das Verhältniß ald ein Berhältniß der Entwides
lung dar, Der Prophet hat, indem er die Weiffagung
Kap, 7. von Neuem aufnimmt, einen in der Zwifchenzeit
erſt anf den Schanplatz getretenen Mitfpieler in einem
der primitiven Weiffagung entfpredhenden Coſtume einge,
führt. Auch 17, 2. iſt in ähnlichem Sinne, ale 7,16. auf
uehmend, an betrachten.
Was die Übrigen Stellen betrifft, fo it 17,4. in ſei⸗
um Zufammentreffen mit 10, 16. jedenfalls bedeutfam,
die Fälle 17, 1. b. 2. b. 14. dagegen (man vergl. nur zu
17, 2. b. außer 7, 21. 22. 25. auch 5,5. 17.27, 10, 32, 14,,
deßgleichen zu 17, 14, außer 10,6. 13. auch 42, 22, 24.) nicht
geeignet, eine fpecielle Beziehung zu erhärten.
Der Thatbeftand ftellt ſich fomit nach diefer Seite
ale ein unferer Anficht durchaus vortheilhafter bar. Bes
denken wir, daß der ganze Eyflus von Orakeln, zu wel-
dem unfer Stüd gehört, wefentlich in der Gruppe Kapp.
T— 12. wurzelt und eigentlich (vergl. des Berf. der
Proph. Jeſ. S.34.) nichts Anderes iſt ald die weitere
Ausführung zu 11, 6— 8. 10, 11 — 16.; ferner, daß inner,
halb dieſes Cyklus die Rede Kapp. 17. 18. in specie die
Aufgabe hat, die Kapp, 7 — 12. nach ihrem beſonderen
880 Drechdler
Objecte von NReuem aufzunehmen uud daſſelbe ſolcherge⸗
ſtalt in dieſer Kette von Gerichten zu vertreten: ſo
kaun man ſich nur wundern, daß der Beziehnugen un
Berührungen nicht noch bei weitem mehr find =).
Aber die Rede Kapp. 17. 18. ſteht noch zu eimem am
bern Abfchnitte unferer Gamminug in einem gewifien
Abhängigkeitsverhältniſſe, nämlich gu Kap. 2. uf die
ſes Berhältuiß wurde oben fchon hingebeutet, als es fid
darum handelte, dem der ganzen Rede zu Grunde liegen⸗
den Hauptgedanten anfguwelfen. Alles Zeitiichen
endlihe Niederlage, des Herrn alleinige
[hlieglihder Triumph — bieß, wie wir geſcher
haben, der Gedanke, ans wolchem fi als ans ihren
Mittelpuntte die ganze Rede fo Im Broßen wie im Kki:
nen und Ginzelnen entwideln läßt, Uber eben von der
fatfchen und echten Herrlichkeit, von dem unfehlbares
Falle der einen und dem endlichen Trinumphe der am
bern handelt auch Kap..2, und die Kapp. 17, 18. find
im Grunbe nichts Anderes als die concrete Anwendung
der in Kap, 2. ausgefprochenen allgemeinen Gäbe. 6
bildet das berühmte Damaskus, welches abgeſchafft
werden fol ald Stabt (17, 1.), fo bilden bie Städte
Aroer’d, die verlaffen werden follen (17, B)., fo die
Befekigung, (ns3n), welche von Ephraim weichen fol
(1T,3,), die Feftungen, welche verfallen follen (17,9.), die
a) Inſtructiv dürfte es feyn, zuzuſehen, inwiefern ſich auch an andern
Stüden ber von Kap. 13, bis Kap. 23. ſich erftreddenden Abtheilung
Zeichen eines Zufammenhangs mit Rapp. 7 — 12 entdecken laſſer.
Man vergl. in feiner Berichung 14,29. u. mi, 8. 10, 5. M.; 1,
29. b.mit11,1.10;5 16,1. mit 10,82.; 16,2... mit 10, 14. verel.
31,5.; 16,5. mit 9, 6. 11, 2—5.; 16,14, mit 10, 25, 19, 2, mit
9, 10,5 19,8, mit 8, 19., 19, 15. mit 9, 18.; 19, 16. mit 10,32.
11,15.5 19,28, mit 11,15.16.; 20,6. mit 10,8. on fpäter
©tüden überhaupt: 27, 13, vergl. 11, 15. 16.; 88, 2.17. wsl.
8,7. 8.; 28,18, vergl, 8,15, 5 38,22, vergl. 10,23. ; 29,4. vgl.
8,19, ; 29,17. vergl. 10, 25.; 29,23. vergl. 8, 13.; 30,28. vergl.
8,8. ; 30, 81. vergl. 10,24, Unter biefen Xällen befinden RS
Reminidcenzen auffallender, als trgend eine in Kapp. 17.18. #4
findet.
über If. 17. 18. 881
Snbdisibualifirung des dusch 2, 15. Aber feben hohen Thurm
und über jede unbezwingliche (Try) Mauner angefagr
ten Serichts. Darum wird base Königthum Aram’s
(17,3.), darum eben bie Herrlichkeit Sfrael’d, welche arm⸗
felig werden fol (17,3,4), hervorgehoben, zur Specifici»
rung mömlidy ded Stolgen und Hohen und des Erhaber
nen, dem nad 2, 12. ein Tag der Erniedrigung bevor,
ehe. Die Wilder in 17,10.11, 18,4,6. gehen auf Red
nung von 2, 13.; das Krembländifche, woran Iſrael fein
Wohigefallen hat, tabelt der Prophet in 19,10, CArıyar),
fo wie in 2,6. Und wer an bieß Alles und nicht glaus
ben wollte, der wird doch bie in 17,7, 8., vergl, mit 2,
9— 11. 1719,20, 21,, zu Tage fichende Harmonie beis
der Kapitel wicht leugnen wollen a), bie in eigentlidye
Reminiscenz übergehende Achnlichleit bed Ausdrucks in
17, 8,, vergl, mit2,8.20., jedenfalls nicht leugnen Fünnen.
Unfere Anficht hat ſich aber nach dieſer Seite noch in
einer anbern Richtung zu bewähren. Wir Gaben näm⸗
lich endlich auch zuzuſehen, ob ſich anden Die Kapp. 17,18,
zunächft umgebenden, d.h. nach unferer Annahme gleich»
jeitigen oder doch der Abfafiungszeit nach zunächſt fie
benden Reden etwas von fener Gleichartigfelt der Ans:
prägusg, welche man an den einem und benmelben Zeit
raume angehörenden Geiſtesproducten zu ſehen erwartet,
wahrnehmen laſſe.
Zuvörderſt, wie billig, ziehen wir das unmittelbar
vorhergehende Stüd in Betrachtung. Eirklich fcheint
ed, als ob der inder Weiffagung über Moab Kapp. 15. 16,
waltende, auf Inbuction uud, fo zu fagen, anf Zerfplitter
zung des Objects gerichtete Geiſt in unferer Rede feine
Nachwirkung habe. Namentlich iſt es der Eingang ber»
felben, die Strophe 17,1—3,, die ald Nachhall des nur
menclatorifchen Charakters erfdyeint, weldher das Orakel
Kapp. 15.16, in feinen in lauter Anfzählungen aufgehenden
Partien dor allen andern Stüden ringsumher auszeich⸗
a) 17,1—6=2,17,.a.; 17,7=2,17.b.; 17,8=2,18,
882 ODrecheler
net. Ein anderer Punkt, in welchem ſich ein nähe
Zufammenbang zwifchen den beiben Reden offenbart,
it durch die in Rapp. 17. 18. gebrauchten Bilder gegeben.
Diefe, dem Aderbau im weiteften Sinne, der höheren und
niederen Eultur des Bodens entuommen, ſtellen ſich ir
ihrer anffallenden Hänfung, fo wie in ihrer ſpeciſiſchen
Eigenthumlichkeit als durch die Richtung, welche dei
Propheten Phantafle in der vorhergehenden Weiſſagung,
näher in 16,8 — 10, genommen, modiftcirt bar. Ramentlid
vergl. 16,8. mit 18,5,, wo banı audh bie fpecielle Berüb⸗
sung ded Ausdrucks in ram und nierny nicht zu überſe⸗
beu if. Auch halte man 17, 11. b. mit 16,9, zufammen.
Außerdem erinnert 16, 14, burch um Tan an 17,3.4,
durch ed an 17,3,, durch Yan und sp au 17,12;
16,10, durch neun an 17,3. Etwas anderer Art ik ch,
daß in 15, 1,, fo wie in 17, 14. (und in 21, 4. gleichfalls)
die angebrohte Kataſtrophe eine Über Nacht kommende if.
Als einen innerhalb der ganzen Gruppe weite
verbreiteten Zug von Familienaͤhnlichkeit hebe ich die
mehrfach vorkommende Aborbnung von Geſandten, ns
meutlih au den Sitz bed lebendigen Gottes, hervot.
Bgl. 14, 32, 16,1, 18,2. 18,7. Auch 21, 14.13. iR ver
wandter Art. Bermöge diefer Stellen verhalten ſich die
betreffenden Reben ale Entfaltung von IM,10,, in welde
Mutterfielle auch 19, 18.19 — 22. 23,18. wurzelt.
Anßerbem vergl. 19, 6, (>57) mit 17, 4.; 30, 2. (
wrm)mit18, 7; 21,1,a.mit18,1,a.; 22,1,2.5.mit18, Le;
- 22,5. mit 18,2, 7. (ro%29 fommt nur in biefen Stellen vor);
22,11, mit 17,7. 8,5 23, 2, mit 17,1,; 28,13. 25,2. sit
17,1, (nam, non fommt nur im dieſen drei Stellen vor);
24,13, mit 17,6.; 24,16. mit 17,4. vergl. 10,26. 5 25,2 2.2
mit 17, 1,; 26, 4. 30, 29. (1 von Jehova) mit 17, 10.
27,1. mit 18,1,; 27,9. mit 17, 8. (die Berbinbung E7®*
era kömmt nur au biefen beiden Gteflen vor); 27, 1%.
mit 17,2,; 27,10, mit 17, 6, (emn als Zweige nur f
diefen zwei Stellen); 27, 12. mit 17,5.6,; 28,2, mitll,
\
L
über Sef. 17. 18. 883
12. 18. vergl. 8, 7.8.5; 29, 1,2. 7, mit 18,1,a.; 28,5—8,
mit 17,12, 13.; 31,1,7.mit17,7.8.; 31,8.9. mit 12, 13. 14.;
32,10. mit 17,11.b.; 32,12, mit 17,6, (m>°Ye bei Jeſ. nur
in Diefen beiden Stellen); 32,14. mit 17,2.; 34,17. a. mit
17,14.b.
Habe ih nun aber mit dem biöher Vorgetragenen
das Nechte getroffen, bilden die Kapp. 17. 18. in der That
Ein Ganzed und iſt diefem Ganzen die Stelle, weldye
ed innerhalb der jefajanifchen Orakelſammlung einnimmt,
wirklich in Uebereinftimmung mit bem hinfichtlich aller
übrigen Stüde beobachteten Berfahren auf ben Grund
der Abfaffungezeit angewiefen worden: fo fanu ed nicht
fehlen, ed möüflen dem von unſerer Rede aud vor»
und rückwärts Blidenden aud dem Inhalte nach aller,
lei Spuren von Zufammenhang, von Znfammenpafs
fen und Ssneinandergreifen im diefen eine ſtetige Kolge von
weiflagenden Reden wiedergebenden Städten entgegentreten.
So befindet es ſich deun auch. Wir finden Kapp.
17, 18. mitten unter einer Gruppe von Weiſſagungen, welche
ih als Einzelbilder zu erfennen geben, beren Enfemble
Ein großed Gemälde bildet,
Während der Regierung des Könige Hiskia trat, fo
viel wir fehen, die affyrifhe Macht in ein neues Sta;
dinm der Entwillelung ein. Nachdem fie einmal unter
Tiglath⸗Pileſar in den Ländern dieſſeits bed Euphrats⸗
wo man bid dahin noch dem Gedanken hätte Raum ger
ben dürfen, Affur gegenüber eine ihm dad Gleichgewicht
baltende Macht zu gründen (aramäiſch⸗ ephraimitifche
Aliauz unter Rezin und Pelah), feiten Fuß gefaßt hatte,
tonnte es nicht ausbleiben, daß Die Aflyrer früher oder
fpäter mit den Aegyptiern in Eonflict gerietgen. Diefer
Conflict wurde um fo unvermeidlicher und ernfllicher, da
Aegypten durch die mittlerweile emporgelommene, gleichfalls
auf Eroberung gerichtete Enfchitifche Dynaftie der aſſp⸗
rifchen Macht, als um die Weltherrfchaft concurrirend,
entgegentrat, Dieß die Urfachen, welche während ber
88% Drechsler
Regieruug Hiskia's wiederholte Züge Aſſur's gegen Aegyp⸗
ten hin veranlaßten. Daß unter dieſen Umſtaäͤnden bie zwi
ſchen den beiden Broßmächten liegenden vorderafatifchen
Staaten zweiten mb dritten Range unter einer Reihen:
folge von zermalmenden Kriegszugen der Reihe nad
theitd mehr, theils weniger Htten, verſteht ſich von feld.
Und dieſe Zeit if es num eben, anf weiche ſich au
Orabkel bezieht, anf die fich Die meiften der rings umge
benden Weiffngungen mahnend und vorbereitend beziehen.
In der unferem Stüde unmittelbar vorhergehenden
Rebe Haben wir von einer Berfiörung des moabitiſche
Landes gelefen, welche wir auf feine andere als bie al»
ſpriſche Macht zurlichführen können. Wir haben in 16,1.
gehört, daB der Herr in 3 Jahren diefe Heimfuchung übe
Mond werde fommen laffen, Was ift da wohl natärli
der, als Daß die Seißel, welche laut Rapp. 15.16, dad
ganze Gebiet Moab's traf, welche laut eben jenen Kup. |
das Bebiet in Ofen des Jordans weit hinanf Über du
Arnon (die eigentliche Greuze Moab’s) ſchlug, daß eben
Diefelbe Geißel auch Aroer (17T, 2.), ja ſelbſt Damaskui
“und überhaupt Aram erreichte. Man denke an bie Ev
pedition jener vier Könige des grauen Alterthums, von
weicher Gen. 14. berichtet. Auch fie Tamen and dem
Öflichen Wien und ſtreiften das ganze Land im Ofen
des Jordans vom tieffien Süden an bid zum höcfen
Norden, bis nach Damaskus hin, wo fie Abraham er⸗
eilte, in Einem Zuge ab,
Aber auch fihon das frühere, das in 14, 28— 32. ge
gen die Philiſtäer gerichtete Orakel hat wit der 14,31.
ald vom Norden berfommend angeländigten Brand:
fadel die Ruiegefurie im Auge, welche bald nachher vor
Aſſur aud über den ganzen Eompler von Reichen zu ar
gehen anfing, Bon der Erfühung jenes Geſichts ober
vielmehr von einer anf Grund ber in 14, 31. ſummariſch
geſtellten Rechnung betreffenden Abſchlagszahlung gibtunt
ST
über Bel. 17.18. 888
dann gleich eined ber auf Rapp. 17.18. felgendeu Stucke,
Kapp. 20,, in der beilünfigen Notig 20,1. Kunde,
Roc deutlicher and ſchöner bewährt ih in ber
Gtellung unferer Rebe Plaumaͤßigkeit uud Befaumenhaug
nach der andern Beite hin, im Verhältniſſe zu den nach⸗
folgenden Reden. Es iR Mar, wie unfer Stück durch
Kap. 18, den liebergang bildet zu den Mächten afrikani⸗
ſchen Bereiche, In deu folgenden Orakein hält ber Pros
phet Diefe Richtung feſt. Gleich in Kay. W. macht er
durch Die Weiffagung über Aegypten die in ber vorhergehens
ben Rede nur beiläufig zur Sprache gebrachte Sphäre
zum auddrädiihen Geg enſtande feine Weiſſagens. Auch
Kap. 30. liegt noch in derſelben Direction aub nimmt
nun den Dusch Kap. 18. fo wie den durch Kay. 19, im
diefer Richtung angelnäpften Kaden zuſammen auf x).
Ueberhanpt reihen ich bie Reden, die ber Prophet
nach Abſchlaß der Gruppe Kapp. T— 18. in Uebereinſtim⸗
mung mit der Richtung, welche der Bang der Greigntfie
von da an nahm, vorzugeweife gegen auswärtige Völker
hielt, keineswegs fo plans und orbuungeled aneinander,
Die erfte derfelben, gegen Babel gerichtet, 13, 2 14, 27.,
fchließt Ah auch innerlich an Kapp. 7 — 12. ummittelbar
an. Sie bildet gewiffermaßen die Fortſetzung von 10,
5— 34. läßt nur die Scene über Aſſar hinaus in Immer
fernere Hintergründe, zn immer weiterer Proſpection fich
vertiefen. Deß zum Zeugniſſe faßt auch ber Prophet
burd; 14, 24 — 27. bad, was er in 13, 1—M, 23, über
Babel gefagt hat, in Me Einheit wit dem Ausſpruche
über After in 10,5 — 36, zuſammen und führt Damit feine
Rede anf die Gegenwart ald den Punkt, von welchem
er ausgegangen, zuräd, Mit ber gegen die Phikiftier
gerichteten Rede 14, 20 — 32. beginnt (oergl.14,26.) Die
Reihe derjenigen Orakel, welche dem vorhin befprochenen
a) Wie fehr Kap. 18. mit Kap. 19. im Zuſammenhange flche, zeigt
ber Irrthum Hendewerk's, welcher gerabezu deide Kapp. zu Eis
ner Rede verbindet (©. 220 iQ.
⸗
886 Drechsler über Sef. 17. 18.
Zeitraume ‚afiyrifcd; = Agpptifchen Gonflicts angehören |
Es möchte auch in diefer Beziehung nicht ohne Beden⸗
tung feyn, daß das Orakel, fo Kein es ii, mit einen
Zeitangabe au ber Spitze auftritt. An die Philiſtäer
aber wendet fi dad Wort der Weiſſagnung unter all
den bei biefen Wirren betheiligten Bölfern vielleicht def:
halb zuerſt, weil gerabe fie des Ahas Regierung fich recht
zu Nutze gemacht hatten, um Iuba Abbruch zu thun
(2 Chr. 28,.18.), und bisher ohne alle Ahndung geblidm
waren. Bon ihnen anhebend, nimmt der Prophet dann
suvörderki die kleinen Dränger, bie bem Reiche Jude
unmittelbar im Raden figenden Peiniger durch, die Mon
biter (Rapp. 15.16,), die Aramäer (Rap. 17.), die Ephrai⸗
miten (ebendaſelbſtz. Er macht fonach die Tonr ringe
um das jubäifche Land, indem er daſſelbe von Gübwei
aus durch OR nad dem Rorben zu umkreiſt. Nachden
der Kreislauf folchergefalt einmal durchgemacht if, wie
Derholt er fi in weiterer Peripherie. Das Wort de
Weiſſagung richtet fih nun an die bem Weltweſen an
weiterem Bereiche angebörenden Völker, namentlich as
die Eroßmächte, Indem der Prophet dieſen zweiten
Kreidlauf in derfelben Direction wie den erſtern engen
zurüdiegt, wendet er fich zuerſt (Kap. 19. Kap. 20.) sad
Sudweſt au Aegypten und Aethiopien, hernach (Kap. 21.)
nad, Südeft nnd DR an die anp 22, an Babel, endlid
(Rap. 23.) nach Norden an die Phoͤnicier. Die Rede
Kapp. 17, 18. alfo ‚vermittelt den Uebergang vom erſten
zum ‚zweiten Rundgange. In 17, 1 — 11. ſchließt fie die
erſte Umſchau ab, in Kap. 18, leitet fie auf bie zweite ein.
Der zwifchen den beiden nach entgegengeſetzten Seiten hin
weifenden Theilen mitten inne liegende Abfchnitt (17,12 14.)
it Aſur gewidmet, derjenigen Macht, in weicher fi für
die damalige Zeit alles Weltweſen, die Herrſchaft def
Welt einerfeits, fo wie andererfeitö das ihrer harrendt
Gericht, ale in einem Inbegriffe barftellte,
Gedanten und Bemerkungen.
— — ——— —
1.
Die Bedeutung der Eantifchen Philoſophie für die
nenere Theologie. J |
Ein afademifcher Vortrag j
von
Lic Dietlein,
Privatbocenten in Königsberg.
'
Rs fühle ganz, indem ich bey Lehrfluhl ber Albertina
sum erſten Male beſteige, dad Gewicht ded Augenblicks,
weldyes auf meinen Schultern uw fo ſchwerer laſtet, ba
ed nicht darch meine eigne Geltung, ſondern im Gegen:
fage vielmehr zu den geringen Mitteln, Die ich bingu-
bringe, durch Fügung her Umflände in. dieß Ereignis
gelegt il. Es gefchieht, daß ich an diefe Stalle trete,
nicht ohne Beziehung zu dem ſchweren Verluſte, hei
durch das Abſchriden eines hochverdienten Lehrers dieſe
Unisexfität vor noch vicht Jahresfriſt erlitten. hat, Den
zu erfeßen ich nie gemeint ſeyn kann, won beflen Arhaitds
felde ich nur gewagt habe einen Fleinen Theil, zur Be
ſtellung mis allem Fleiße und aller Treue, mir abzu⸗
grenzen, |
Wo ber Tod die Reihen lichtet, müflen auch bie
Ungeübten vortreten, Und gelichtet Kat er bier. Es
war der erfie Act der Univerſität, au dem ich mich bes
theiligen Tonute, die Ermweifung der legten Ehre au den⸗
jienigen, durch deſſen Abforderung wir in neue ſchwere
Betruͤbniß verfebt wurden. Da, als auf hie eunfle Feier,
890 Dietlein
mit welcher über ihm die Erde geſchloſſen wurde, bi
Warte niederfah, die ex, um den Himmel und anfzufälir:
Ben, gebaut hatte, da Fonnte ich des Mannes Bedentumg
ahnen, den näher zu. würbigen außerhalb der Greuze
meiner Studien liegt. Aber eined Andern, mit dein
Verdienften mid zu befchäftigen mir näher liegt, eine
Andern, Aeltern, mußte id) mit dort gedenken, weil er, wie
jener, in einer Zeit der Nacht, Die ſich Aufflärung nanatı,
eine Warte hier bei und gebaut hat, die menſchliche Us
zulänglichleit zu überfchauen und die Kerne des Sie
meld zu ermeflen. Kant ift der Dann, feine Stermmart:
die Kritik der reinen und die Kritik der praftifchen Be:
nunft. Erlauben Sie mir, feine Bedeutung für men
Wiſſenſchaft, wie fle in neuer Zeit. fich geftaltet hat, zum
Gegenſtande diefer Borlefung zu machen.
Die Bedeutung der kantiſchen Philofophie für dr
neuere Theologie, Was innerhalb der Philoſophie feihk
und in deren allerneneften Beſtrebungen der Ramıe Kanti
für einen Klang hat, iſt Ihnen bekannt. Nachdem durd
Fichte, Schelling, Hegel diefer Wiſſenſchaft eine Bed
gegeben worden, in welcher mit dem Kriticismus Kal
jede änßerlidye Aehnlichkeit ihr verfchwunben war, bi
num Doch wieder vom Behaupten und Darftellen die Phi
loſephie abermals eine entfchiedene Wendung zum Kritifiren,
von ber Frage nach dem Was zur Frage nach dem Ob gene:
men. Und zwar nicht bei denen allein, bie über die Gegen:
Rönde unferes Nachdenkens felbft, über menſchliche un
göttliche Diuge in Zweifel und Berneinung gefallen fd;
auch nicht bei denjenigen allein, welche gegen bie Phi
fophie und die von diefer beſondern Wiflenfchaft ala be
fonderer für die Erfennmiß angebotenen Mittel eine ud
feinde Stellung eingenommen haben; endlich and mid
bei denjenigen allein, die gegen die neueren, nach⸗kaun⸗
fhen Leitungen dieſer Kacultät mißtrauiſch geworde®
find, Vielmehr vom Gebiete der hegel'ſchen Dhilofepi!
die Bedeutung ber kantiſchen Philofophie ıc. 891
aus, da, wo fie noch ale ſolche fi will, ift auerfannt
worden, daß 'wir mehr vielleicht, ‚ald wir wiflen und
wollen, auf Tantifchen Wegen uns befinden und an ihn
und zu halten haben.
So die Philofophen. Die Theologie dagegen, nach»
dem fie eine Zeit hindurch die philofophifchen Beſtrebun⸗
gen des Jahrhunderts als das ihr ſelbſt Heilung und
Nahrung Gebende anzuſehen gewohnt war, hat fpäter
von da hiuweg zu audern Ausgangspunkten umdb von
diefen alsbald gegen die neuefte Philofophie ſich gewen⸗
det. Und zwar gegen biefelbe zunächſt als die neuefte: fo
mochte wider hegel’fchen und fchelling’fchen Dogmatismug
ihe der Fantifche Kriticismus für die eigene Entwidelung
um fo bebeutenber erfcheinen. Aber dabei biieb es nicht,
Denn 0b der Philofophie Aberhaupt bisher die richtige
Stellung zur Theologie gegeben fey, kam nur in Frage.
Und wenn man das Hell bis dahin von jener für dieſe
hatte erwarten wollen, fo fühlte fih nun die Theologie
Kart genug, anf ihre eigene Grundlagen fidh zu verlafr
fen und ihr Verhältniß zur andern Facultät als ein
felbftändiged — mehr noch: ald das der gebenden zur
enpfangenden — mehr noch: ale das der alleinherrfchen:
den zur abhängigen, wenn nicht ganz bei Seite zu ſchie⸗
benden, aufznfaflen.
Diefe Stellung nun der Yacnltäten Können wir bier
nur ald Thatfache angeben; eine Entfcheidung des Streis
tes, auch nur mit andeutenden Worten, baran zu nüpfen,
liegt mir um fo ferner, als ich überhaupt nicht das
menfchliche Denken unter den Geſichtspunkt einer dop⸗
pelten, an neben einander gehende Wiffenfchaften vers
theilten Entwidelung Bellen möchte. Auch handelt ee
bei der Frage, was für die Theologie Kant zu bedeuten
habe, ſich nicht um die Stellung zweier Biffenfchaften
zu einander. Nicht was von kantifher Philofophie die
hriftliche Theologie, fondern was von Tantifcher Phile:
Theol, Stud, Jahrg, 1847, 60
802 Dietlein
ſophie und Theologie unſere heutige, bad Ghriktentkum
verstehen wodiende Theologie und Philoſophie für Frucht
habe, laſſen Sie und als Frage fielen. Sollten wir
zu einem Ergebniffe darüber gelangen, fo wird, ohne baf
wir uns beſonders deßhalb bemäbten, darin ſchon wit
eine Entfcheibung liher die Frage gegeben ſeyn, ob über
menſchliche und göttliche Dinge, dee vorangehenden Eut
widelung zufolge, weiter zu forſchen, in zweien ober in
einer eingigen Miſſenſchaft — unfere Zeit für bad Richtigere
halten müſſe.
Ohne weitere Borbeseitung beun: was if ed, was
Kant gedacht, gewollt, gefagt hat? Nun freilich dieß
mis zwei Worten barzufiellen, Dad, was Ber Welt ven
ſtaͤndlich zu machen, der Mann felbft in feiner Iasıgen
Wirkfambeit nicht Jahre genug fand, im Laufe einer
Stunde zu sriehigen, und fo zwar, daß wir noch Zeit
behalten, Darüber eines Weiteren zu veflectiren, bieß fcheint
fo gewagt, daß fall die Flucht davor anf Eutfchuipigun
hoffen könnte, wenn etwaäa ich mir bie Erlaubniß aud-
bäte, die Keuntniß Mer keutiſchen Miilsfophie bei der
ganzen Berfammlung, wie billig, noraussnfepen na
nun fofort, ala kimen wir van einer Darfiellung derſel⸗
ben, zu allerhand Erörterungen darüber zu ſchreilen
Doch aber kann ja dieß nichts helfen. Wir mäſſen wii
fon und in aller wäglichen Rürze, unb bo fo ſcharf,
als es bei aller Kürze möglich ik, uns barlber vereini⸗
gen, was und als eigentliche Summe der kbantiſches
Philoſophie erſcheine, damit wir willen, wenn wir weiter
reden, worlher? und ob in der That wir über daſſelbe
reden.
‚ Richt gerade auf Kant's Merte, auf bie Bunfand:
drüde feines Syſtems foll ed aulommen, Lecherfegt in
die im Augenblicke und gelhufigfien was
iR feine Meinung?
bie Bedeutung der kautiſchen Philoſophie ꝛc. 893
Der Gegenfland des menſchlichen Nachdenkens, das
ſagt er, iſt einer, iſt die Welt der Dinge, die mich um⸗
geben, die als Stoff durch Erfahrung von mir vorge⸗
funden werden. Es gibt daneben Fein zweites Gebiet.
Anfhauungen, Begriffe, Ideale — das find die Formen,
unter Denen wir die Erfahrungswelt beuten ; falſch aber iſt
ed, Ideen und Ideale noch einmal für fich zum Gegen»
ftande des Denkens machen, neben ber Welt der Dinge
noch ein Willen von einer darkber liegenden Welt haben
sun wollen. Das Seyn, dad Gewußtwerden kommt dem
Dinge zu; umfer Denken darkber iſt nicht wieber ein
Ding; dad, was wir Über dad Seyende beufen, iſt eben,
falls Sein Ding, Man hat das Denfen der Dinge fälfch-
lich unter dem Namen Seele zu einem Dinge, zu einem
Seyenden, einer Subſtanz gemacht, und allerhaud dar⸗
über wiſſen zu können ſich eingebildet — ein Paralogis⸗
mus, ſagt Kant, für ben wir keine Garautie aus ber
Erfahrung haben. Man hat ferner das, was wir bei
den Dingen denken, unſere Begriffswelt, wie ſie in höch⸗
ſter Zuſpitzung zu einem oberſten Begriffe zuſammen⸗
läuft, unter dem Namen Gott zu einem Seyenden und
Wißbaren machen wollen — ein Ideal, fagt Kant, für
das wir keine Garantie and der Erfahrung haben. Auf
ienem Paralogismus beruht die ganze Pſpchologie, auf
diefem Ideale die ganze Ontologie; — beide Dieciplinen,
mit weichen bid dahin über die Erfahrungswelt ber
Menſch in feinem Willen hinausſteigen zu dürfen meinte,
zerſtört die Kritik der reinen Bernunft Durch Die einfache
Bemerkung, daß das Denken auf dad Denken anzuwen⸗
den, ein Paralogismus, daß das Denken auf das bei
dem Durchdachten Bedachte anzuwenden, eine Verwech⸗
lelung von Ding und Ideal fey.
Welt, Bott, Sch — Diefe Drei Objecte für fein Den-
ten und Willen glaubte der Menſch zu haben, Kant nimmt
ihm zwei davon — aber er geht im Berengerunoch weiter.
60*
8a Dietlein
Sm Denten der Welt gerathen wir auf Widerſprüche.
Wie kommt bad, da doch die Welt der Gegenſtand if,
anf den wir ohne Paralogiemnd die Kategorien unferes
Berfianded anwenden? Und doch, fobalb wir zu den
Kategorien der Quantität greifen, entficht der Wider:
ſpruch, daß. die Welt fowohl unendlich als begrenzt iR;
nach den Kategorien der Qualität ergibt fi; die Anti⸗
nomie, bag die Welt fowohl ein Ganzes ale ein umenb-
lich Getheiltes iR: die Kategorien ber Relation verwidels
und in den Widerfpruch, Alles ald verurfacht auguichen
und doch wieder, um bie Reihe nur erfi anfangen ju
fönnen, ein Freied zu feßen; endlich in Bezug amf bie
Modalität erfcheint die Welt ale nothwendig einerſeits,
und als bloß möglich uud auch nicht feyn könnend anberer-
feite, je nachdem ich fie gerade zu faflen beliebe, entweder
ale dad alle Möglichkeiten nmfchließende Eine oder alt
bie einzelne unter vielen Möglichkeiten wirkliche.
Sie fehen, meine Herren, die kantiſche Kritik der rei:
nen Bernunft geht unbarmhberzig mit und nm. Wir
bringen iht unfer gefammtes Wiſſen zur Prüfung enter
gen; wir find gefaßt darauf, und manche Schwäche
nachweifen zu laflen ; unfer Wiffen fey Stüdwert, befes-
nen wir mit dem Apoſtel. O über bie eingebildete Be
fcheidenheit. Nicht Stüdwert, fondern Illuſion, Schein,
Täuſchung, Wortkram ift vor der Kritit dad gauze Wil:
fen. Kein Städwerf, fondern ein Lappen, ein überall
geflidter Lappen, der, wenn wir ihn sach oben anziehen,
über die Füße nicht reicht, und wenn wir die Füße ba-
mit bebeden wollen, den Öberkörper bloß läßt; und
beim Hin» und Herzerren reißt er noch überall, fo daß
die gänzliche Nacktheit überall armfelig durchſcheint.
Drei Gebiete des Wiffend glaubten wir zu haben,
Gott, Seele und Welt. Zwei nimmt und die Kritik wit
einen Federfiriche; und das dritte? Dem dritten aller⸗
dings ift inſofern nichts anzuhaben, als es doch wirklich,
bie Bedeutung der Tantifhen Philofophie ıc. 895
nicht bloß eingebildeterweife, Gegenſtand des Denkens
it, Gegenſtand unſeres Wiſſens ſeyn Fünnte, wenn —
unfer Denken wirklich ein Wiffen wäre, nicht bloß ein
Herumfpielen der unferm Berftande geläufigen Formen
an einem Objecte, das felbft davon unberührt, undurch⸗
derungen bleibt. Den Kern wollten wir verſchlucken, und
doch an der bloßen Schale zerbeißen wir und die eige-
nen Zähne, mit dem obern Gebiffe die Unterkiefer, mit
dem untern die obere Zahnreihe zerarbeitend. Iſt ed
nicht diefer Eindruck, den von unferm Wiſſen die kanti⸗
fhe Kritik mit ihrem Rachweife der Antinomien und zur
ruckläßt. Unfere Kategorien, fatt die Dinge zu begrei«
fen, werden Kategorien gegen einander ; eine verklagt,
widerlegt die andere. Alle Wirklichkeit ift fo möglich
als nothwendig, alfo weder möglich noch nothwendig.
Alle Wechfelmirkung ift fo gewirkt als frei, alfo weder
frei noch verurſacht. Alles ift Eins und iſt Vieles, alfo
weder ˖ Eins noch Vieles. Alles Begrenzte iſt und iſt
nicht; ſo iſt es weder noch iſt es nicht. Ja ſo verkehrt
der letzte Satz klingen mag — denn Sie wiſſen, daß
man als von ben einfachſten Denkgeſetzen widerlegte Ver⸗
wirrung es anzuführen pflegt, wenn Jemand die Alter⸗
native ſtellt: A. iſt B, oder iſt nicht B oder keins von
beiden. Und doch zuletzt als unfrer Weisheit Summe
erfcheint Diefe Verwirrung.
Bon den drei Gegenftänden: Welt, Bott, Ich, blieb
die Welt allein; aber von dieſem einzig bleibenden Ge»
genftande des Wiffend bleibt ungewußt und unerfannt
das Ding an fi, und auch von ihm fehen wir nun, daß
wir nichts wiffen fönnen.
Wir haben Kant's Kritik — dieß war unſer Auds
gang — mit einer Sternwarte verglichen, Ich möchte
nicht, daß Sie dieß nur wie ein gelegentlich aufgegrifs
fenes, halbwege yaffendes Gleichniß anfähen. Es ift
durchaus die Stellung unſeres Philofophen der des
Sternbeobachter6 gleich, der fih hoch Über Die dunſtige
896 0, ‚Mietlein
Schicht der vom ber Erde und niehen zur Erde Reigen
den Wollen vereinfamt hat, lautlos und leidenſchaftslos.
Die da unten umherlanfen, bebünten ich, viel zu wiſſen
und zu haben. Sie haben bdreierlei, den Beben, ſich
felbft und den Himmel. Der Boden grünt und wimmelt,
der. Hisemel ſchwirrt und träufelt, fie felber rennen und
kaufen. Da iſt Alles greifbar uud wirklich, dad Ich feb
ner ſelbſt ſe gewiß wie des Bodens, auf dem es ſteht,
und der Himmel zwar tranfeendent, höher ald Erde
und Menſch, aber doch voller Leben und Wirklichkeit,
eine zweite Welt, ein dritter Gegenftand, aber ash
eine Welt, auch ein Gegenſtaud. Kant fleigt auf die
Warte; und was fiebt ee? Der Himmel if ka
Gewölbe, kein Ding wie der Boden, auf dem wir Be
hen, ee Firmament, fondern unenblidhe Herne ©
wie dem Aſtronomen der Himmel aufhört, ein Reich vos
Wolfen und gefiederten Luftbewohnern zu ſeyn, fo len;
nete Sant ‚die Realität — diejenige, die der Dutolog
damald ausmalte — die Realität ber trauſcendentes
Welt, und zeigte, daß das Tranfcondente nichts al
Ideal der reisten Vernunft fey. Go ferner, wie der Akte
nom aufhört, fih felb als Süück der am Boden hials
benden Welt anzufehen, weiß, daß, ſo weit er der Erk
angehört, er nicht Betrachter if, weiß, baß dieß nod de
Erde Angehören nicht ihm als Betrachter zukommt:
fo tfolizte Kant dem Objecte des Wiſſens gegsmüber zwei⸗
tend das Ich, ine Piychologie ald Stüd aus dem
Erfahrungswiſſen, ein Willen vom Ich, fofern es wil
lich zur Welt gehört, verabrebete er nicht. Uber das
Sch ale Betrachter des Nichtich ift nicht wieder ein Wichtid
— (fo Tritifirte er) — das ‘ch nach feinem Weſen wieder
zur Subſtauz, zum Objecte ded Wiſſens, zum GBegenflandt
von Behauptungen zu machen, verbot er ; roine Pſychologit
iR Iluſion, Paralogiemus, falſches Uebertragen deſſes,
was vom Objecte gilt, auf das das Objeet Denkende
Aber wenn ber Beobachter auf der Warte von der
Die Bedeutung ber kantiſchen Philofopbie ꝛc. 897
Belt den Simmel und ſich ſelbſt iſelirt hat, unb bag
das von ber Erde Geltende vom Himmel und won Ber
obashter nicht gelten könne, zum Bewußtſeyn gebracht hat;
fo bleibt ihm ja, fellte dan denken, der Boden, von dem
er aufftteg, um fd mehr bad, wad er if; um fo fchlirfer,
ums fo realer wird fein Erkonnen in Bezug anf den fo ale
eigenttidye Grundlage feines Schauens wor ihin liegenden
Gegenſtand ſeyn. Nichts weniger. Bom Ideale, von den Pa⸗
ralso gismen geht die Kritik zu den Antinomien. Das Object,
fo fern gerückt, fo ſcharf firiet, ſchwindet zum Punkte zus
fammen. Der Begenitand, der dem Erkennen bleibt, der eine
wirklich reiche IBelt von Erkenntniſſen verſprach, ſchrumpft
ua Dinge an ſich, zum unerkennbaren zuſammen. Die
ſelben Wolkenſchichten, die den Himmel zu eimem Abbilbe
der Erde zu machen trüglich Den Untenſtehenden veranlaßt
hatten, lagern fi vor ben Dbeufichenden ald Syindbermifte für
eine Einficht in das indische Treiben. Die Formen miſeres
Berfiaubed, von Venen fo eben nachgewiefen war, daß
man fie nicht als ideale zweite Welt behandeln dürfe, fordern
nur zum Begseifen ber einzig Gegenftand feyenden realen
Melt anwenden müfle — Diefe Kormen erweifen füch jetzt
als zum Begreifen biefer realen Welt gänzlich umfähig:
die Karegorien ad nur Denkformen, ſelbſt Raum und
Zeit find nur Anſchauungsformen. Stoff ſelbſt für den
SGehanten And nur vie Dinge an ih — oder das Ding
an fi, Denn wie follen wir fagen? Die Dinge ? das Ding?
FR es nicht Jorm unferes Verſtandes, wenn wir dem Stoffe
dad Pradieat der Einheit oder der Bielheit leihen. Aifo we-
der Ding noch Dinge, fordern durdand nur Stoff, das
reine, anqualificirte Seyn. Uber audy das Seyn ift zu viel
prädicios; denn auch bad möchte nur eine Form, ein Gedanke
feyn, wit dem wir gegen die Wahrheit den Gegenſtand ſchmü⸗
den. Es bleibt, um ganz ficher zu gehen, nur die verneinende
Bezeichnmung Nicht⸗Ich Abrig; und in der That war es
eigentlidy nichte Nenes, ald Fichte dem {sch auch noch das
tantifche Ding an ſich nahm, und durchaus demfelben ges
898 .: 2. Dielen
genüber nur das Nichtich duldete, nicht als ein Etwas,
von dem irgendwie ein Seyn, ein wenn auch noch fo
bürftiges, behamptet werden wolle, fonberu als bie reine
. Berneinung des Ich, das ebenfalls nicht if,
Aber wer Ohren bat zu hören, der höre. Soll Kant
in den Wind geiprochen haben? Hat ex Recht oder
Unrecht? Ich frage, m. H. in Beziehung auf jene For:
men unfered Verſtandes, bie feit Arifioteled den Namen
Kategorien führen, hat Kant Recht oder Unrecht? Recht
in dem Saße, daß biefe Kategorien fein Wiffen enthalten,
deffen Gegenſtand fie felber wären, fo daß nur Täuſchuug
ift jedes noch fo künſtliche Syſtem von Begriffen, wenn
es als Logik oder Metaphufit oder Ontologie oder Lehre
von Sott in feinem Anfichfeyn oder als abfiracte obme
Anfchauung des geſchichtlich offenbaren Gottes — um
ja Gott nicht bloß nad feinem Wirken, ſondern nach ſei⸗
nem Tiefen zu betrachten — confiruirte Theologie ſich
ausbietet? Hat Kant dagegen Recht? Hat er zweitens
Recht in dem Sape, daß die Kategorien auch fein Wif:
fen enthalten, deſſen Gegenſtand die Wirklichkeit iR, fo
daß nur Täuſchung ift jedes noch fo fcharffianige Be:
räfonniren der Welt nach den Kategorien, 3. B. ob mar
fagen müfle, die wirkliche Welt fey nothwendig oder fie
hätte auch anders ſeyn können? ob man fagen könne, es
gefchehe Alles nach den ewigen Befeßen von Urſache und
Wirkung oder dieß Geſetz werde durch Freiheit gebre
chen? ob man fagen müfle, daß die Schöpfung unbegrenjt
fey oder begrenzt ? ob man fagen müfle, daß alles Eins
oder Vieles — mit andern Worten, daß eine moniſti⸗
ſche oder monaditifhe Weltanfchauung die richtige ſey?
Iſt nicht das alles Kategorienfpiel, worauf ch nur aut
worten läßt: bad if. richtig, oder iſt nicht richtig oder
Feind von beiden, je nachdem man ed nimmt. Se nad
dem man ed nimmt, denn die Wahrheit kann ich haben
und nicht haben bei jeder von beiden Behauptungen,
aber fie let in Seiner diefer Behauptungsformen.
bie Bedeutung der Tantifihen Philoſophie ꝛc. 899
Ich frage alſo: bat Kant Recht mit feinen beiden
Sätzen: unfere Ideen enthalten Fein Willen von ſich fel«
ber, und unfere Ideen enthalten fein Willen von den
Dingen? Hat er Recht damit, fo wird er vieleicht auch
Recht damit haben, daß er das Willen wo anders ge
fucht hat. | ;
Formen find etwas Schönes, wenn fie nicht mit der
Sache verwechfelt werben follen. Das Disputiren über
Anwenbung der Berkkandesformen iſt eine Kunft, die, wo
fie daS hat, was jede Kunſt zur Kunft macht, dad Maß,
das innere, heilige, der. Sache Inwohnende, bie ba eine
Kunft iſt wie jebe andere. Alle Künſte dienen durch Schön»
heit der Wahrheit, durch Form der Sache. Mancherlei
Formen hat der Menfch, Linien, Flächen, Farben, Rhpth⸗
men, Kategorien. Rhythmen nnd Kategorien: die For»
men, die der Menfch hat als redender, als Dichter und
Denker. Die Weifen von jeher, die Erfahrnen, die For⸗
fcher des Wahren, die haben von jeher der Formen ſich
bedient, um in Schönheit die Wahrheit gu überliefern.
Den Dichter und Denker machte nie dad Spiel der For⸗
men, fondern der Ernft der Wahrheit, den fie in Rhyth⸗
men oder Kategorien überlieferten, das Spiel im Dienfte
bed Ernfied; fo bei den alten Dichtern, weldye Lieder
fangen, oder Sprüche dichteten, oder in Dialogen, wie
Plato die Kategorien fpielen ließen. Denn folge Spiele
zu ernflem Dienfte find jene bialektifchen Kunftwerte;
wo man aber vergeblich fragen würde, wo benn am
Schluſſe die Entfcheidung bed Dichterd flede, ob jene -
Kategorie, ob dieſe die richtige fey. Wer fo fragt, der
verfieht die platonifchen Dialoge fo wenig , ald wer den
Sophofles fragen wollte, ob in feinen Jamben oder in
den Rhythmen der Chöre die Wahrheit ſtecken ſollte.
Aber dieß, wie gefagt, waren die weifen Männer
von jeher: erſt Forfcher, dann Former der Wahrheit, in
gebundener. und ungebundener Rede. So fangen die Elea⸗
ion vom ewig Einen, und vom ewigen Fluſſe auch Her
vallit noch, in gebundenen RMythmen. Biber ihre Weis⸗
beit ſchien ihnen weder in den Rhythmen zu liegen, noch
in den Kategorien, ſondern in dem ethiſchen Verſtänd⸗
niſſe der whyfiichen Welt, in dem geheimnißvoll Unfet:
basen, was fie, die Sichtbarkeit dnrchferſchend, fans
den und audfprachen. Die Phyfld zu umfpannen, bad
Echos zu erfaffen, war ihre Aufgabe. Die Philoſophen
— dad waren die Erforſcher des Natürlichen und bed
Sittlichen — es gab nicht zweierlei Wiffenfchaft, eracte
und fpecwlative, nicht Empirie und Phileſophie, ſonders
die eine Wilfenfchaft, Die Joder nad feinen Kräften zur
Weiöheit zu gehalten fuchte. Da fam bie Berfaligeit:
flatt Der Dichter traten Verſemacher auf, Ratı der Wei⸗
fen die Kategorienmacher, Die Sophiſten, die Aheteren,
: die Klopffechter, die dad Wiſſen in der bloßen Form fa-
ben, Spiel ohne Ernfi trieben, aber mit der Wahrheit
anch bad Gptel verdarben, Form an Form zerrieben,
dem Mexnſchen das ſich felbis Aufhebende, Antinemeiktifche
in feinen Verſtandesformen aufzeigteen, aber, weil fie
die Wahrheit (ches längft hatten verfliegen laſſen, nun,
nachdem fie das Eitle als eitel anfgewiefen, nichts zum
Erfaps im Leben übrig. behielten.
Da it Sokrates aufgetreten, ein Kritiler der reinen
VDernunft. Er wußte, daß wie nichts willen, daß, fo
kange unfer Denten ein bloßes Rechnen mit Den Formen
unſeres Verſtaudes iſt, eine die andere aufgebt, eine der
andern wiberfpricht — dieß wußte er mit größerer
Schärfe al je ein Sophiſt vor ihm. Aber dieſe Weis:
heit des Nichtwiffene war ihm wicht das Einzige; cr
machte auch fein Weſen Davon, er hielt Darüber wicht,
wie die Sophiſten, fhwer bezahlte Vorleſungen, fondern
Öffentliche wor gemiſchtem Pablicam: fein Babitorium
ber Markt von then, Über währens die Sophiſten
ſchloſſen, daß, weil es mit unferem Berkaude nichts fey,
es mit deu Wahrheit überhaupt nichts ſey, lehrte Sw
krates durch die Selbſterkönntniß vorbringen sum Blau
Die Bedeutung der kantiſchen Philofophie ꝛc. 904
ben an den Geiſt in und, der wir feibi nid find, und
in dieſem fistlichen Gsgreifen des ewig Wahren die heilige
Ironie gewinnen, bie alle Formen und allen Schein nur
deßhalb preis gibt, weil Welt und Menſch und Bott
dem Mexrſchen nur ficher ind, wenn er als fittliche Per⸗
ſoͤnlichkeit Sichtbared uud lnfichtbared, dieſe ganze Wolt
der äußern und innern Erfahrung ſich zu eigen macht.
Die Wahrheit — das If die Summe bed ſokrati⸗
ſchen Wiſſens — die Wahrheit iR nicht Ergebniß der
seinen , leeren, thatlos anſchanenden, theoretiſchen Ber»
nunft, fondesn was if fie? Poſtulat ber praktiſchen Ber:
nunft, d. h. etwas dem Menfchen durch und durch nur
darin Gegebenes, daß er zur Erfahrung una dem im
der Erfahrungswelt offenbaren Goͤttlichen im. ſittliches
Verbätniß tritt. Alle Wahrheit if dich, bemerten Sis
das wohl, Kami hat ed fo allgemein zunächt nicht and.
gedrädt. Gott, fagt er, iſt Poſtulat der praktiſchen Ver⸗
nunft. Aber Freiheit und Unſterblichkeit doch auch. Und
was heißt nun Bott, Freiheit, Unſterblichketd? Die Idee
der Freiheit, das iſt: Daß wir willen, wenn noch fo fehr
unter dem Widerfprucdge unferer Berftandeöbegriffe von
Freiheit und. Nothwendigkeit, Bedingtheit und Unbedingt⸗
heit die Welt vor unfern Mugen zum Disge au ich, d. b.
zum Michts verſchwindet, jo weiß her fittliche, freiheits⸗
bewußse Menſch doch die Gewißheit des Freien ſowohl
wie des Bedingten, Gottes ſowohl als ber Welt, fefs
zuhalten. Die Antinomien der reinen Vernnnft lehrten
uns, daß wir das Seyn weder von Bedingtem noch Un⸗
bedingtem behaupten dürfen, ohne ſophiſtiſche Widerle⸗
gungen uns gefallen laſſen zu müſſen. Der Glaubde aber,
diefe That der Freiheit, die Im Menſchen, der in fich gebt,
der Damon wirkt, wirkt fchöpferifch aus dem Nichte
der Verzweiflung die unüberwindfiche Gewißheit in ihm:
Im Anfang fchuf Gott Himmel und Erde, Cine ſchö⸗
pferifche Kraft iſt diefer Glaube. Aus der uneublichen
Reihe von Urſache uud Wirkung zum Aufange zu Tommen,
war ber Theorie numöglich; von dem Gedanken des Un
bedingten aus zur Welt, wo jebe Urſache ſchon als Bir:
fung einer vorangehenden erfcheint, herabzuſteigen, war
gleichfalls unmsglich: da wurde dem Menſchen Blar, daß,
theoretifch betrachtet, ev weder als Gott noch ald Belt
das, was er erfährt, zu denken berechtigt fey, er hate
eben nichts, als das Ding an fi, dieß Nichts, Dielen
bloßen Gtoff der Erfahrung. Leber der umenblicen
Kluft zwiſchen dem Bedingten und Unbedingten fchwebt
er; von Seinem zum andern faun er kommen. erben
wir und bewußt, m. H., was in uns vorgeht, wenn wir
troß dieſer Rathloſigkeit des Verftandes nun Doch ed uni
nicht nehmen laflen, Bebingtheit uud Unbebingtheit, Gott
und Welt feflzubalten, die Kluft, die der Verſtand nic!
ansfüht, wir überfpringen fie doch; während der Ber:
ſtand vom linbedingten aus Leinen Anfang machen Tann,
ergreifen wie doch den Gedanken des Anfangs, dei
Schaffens: Gott fchuf die Belt, ber Freie hat eben ba
Anfang der bedingten Welt gemacht — da haben wir
Sott und Welt, und Freiheit und Bebingtheit — und
bie Sophifterei der einander anfhebenden, Bott und Bel
anzweifelnden Kategorien erfcheint ald Verſtandeszerrüt⸗
tung, nicht heilbar durch Argumentationen, fondern heilbar
allein anf pfychtatrifchem Wege, durch fittliche Erziehung,
dadurch, daß der Menſch Iernt, die Formen feines Ber
ſtandes nicht für wahrer als die Welt, die er mit diefen
Formen denkt und zerdenkt, zu halten.
Ein Sophiſt bewies, daß es feine Bewegung gebe;
da ftand Diogenes auf, that ein paar Schritte, und wir
derlegte damit den Sophiften. Daß es feine Bewegung
gebe, laßt fidh dem Berftande unmiberleglidh darthun;
wer aber deßhalb daran zweifelt, den nennen wir einen
Berrüdten. Wie wird nun diefen der Arzt heilen? Durch
Schlüfle gewiß nicht; aber er laffe ihn laufen; ba wird
er ſchon müde werden, unb mübe werben and feine
bie Bedeutung der kantiſchen Philofophie zc. 903
Einbilbungen. Daß es keine Freiheit, keine Perſönlich⸗
feit, daß es keinen perfönlich Kreien über der Welt des
Bedingsen gebe, Tann ebenfalls dem Berftande, weil
jede Urſache immer fchon eine vorher gewirkte Urſache
vorausfegt, unwiderleglich dargstbau werden. Wie
wird nun ben Zerrütteten, der an Bott uud Freiheit ans
Aberglauben au feine Berftaudesformen irre geworden, wie
wird Der Arzt ihn heilen? Durch Schlüffe gewiß nicht: aber
er Iaffe ihn frei, er mache ihm frei; er erziehe ihn zum
Erleben der Thatfache, daß es Freiheit und Perfönlich
keit gibt; er wede das Bewußtſeyn in ihm bes Sitten.
geſetzes, des Fategorifchen Imperativs, dieß Bewußtſeyn,
das, wenn noch fo ſehr der Verſtand den Menſchen nöð⸗
thigt, all ſein Handeln als unfrei, als von gegebenen Be⸗
dingungen bedingt anzuſehen und zu fagen: Phomme
machine, und zu fagen: le monde machine, das Bewußt⸗
feyn, das dem Allen Trog bietet mit der einfachen Thate
ſache: der Menſch iſt frei, und wie über dieſem feinen Mir
krokosmus fein Ich mit Freiheit, fo fteht über der Welt der
freie Schöpfer — und ber Glaube ift wieder da au Bott
und Freiheit, und an Linfterblichkeit, weil dad Seyn bes
fittlihen Ich und fein Berhältuig zu dem Du, das big
Belt zufammenhält, zum Bott der Lebendigen, weil dies
ſes Seyn und dieß Verhältniß ſich ale Thatfadhe, ale
von feiner Schlußfolgerung aus dem Verſtricktſeyn alles
Gefchehenden in ewigem Determinismus, von keiner fol
hen Schiußfolgerung widerlegbare Thatfache dem ſitt⸗
lichen Bewußtfeyn, der praftifhen Bernunft aufbrängt.
Sie fehen, m. H., was der kantifchen, ber foratifchen
Weisheit Summe il. Was Paulus fagt: Alles, was
Menſch heißt, werde zum Lügner: Gott allein bleibe
der wahre, Die Gefepe, bie der Berfiand an den Stoff
unferes Denkens heranbringt, erweifen fich als Lügnerifch:
ale wahr allein das Sittengeſetz, das der Menſch nicht
gibt, dem vielmehr in radicaler Boswilligkeit zu wider,
ſtreben er fich bewußt ift, mit welchem er fi als dieß fo
08 ODietlein
und fo bebingte, determinirte Stud bes Weltganzen in
Widerfprud weiß, dieß Sittengefek , das er dennoch au
zuerkennen, und Damit ſe Freiheit anznerkennen — go
zwungen iſt.
Auf einer Warte — ber Menſch, wir wählen anf
dieß Gle ichniß zurlicfommen, Über won deu Feruroͤhren,
den in die Unendlichkeit hinaus gerichteten, hat er einem
Augenblick fich weggewendet; Über feine Rechnungen bat
ee ſich geſetzt. Er probt, er gehdeit, er hat ſich werred:
net, es ſtimmt nichts mehr. Da fieht ex ſich um, wol
nur der Himmel? Er fieht ſich zwiſchen feinen vier
Yfühlen, und feine Arbeitdlampe belenchtet nichts ald bie
Sloben und Karten und Recmungen — alles WBertı ſei⸗
nes eigenen Geiſtes. Wo ift nun die Unendlichkeitk if fr
nicht ein Traum, den ich aus bem eignen Hirn geiyen
nen habe? ein Traum meiner Ratio, der neck baya bei
nlherer Berechnung auf irrationale Brößen führt. ©o
fpinnt ſich in der Einbildung, daß alles Einbilbung ſey,
der Rechner fort, und würde fich ganz einfpinnen, wenn
wicht die Worberungen des fittlichen Lebens ihn zwängen,
ben Traum als Wahrheit mitzumachen; bie orderas
gen, Die an das Herz ſchlagen, wie die Stürme wider
bie Mauern des engen Vartthurms, in den der Sterr⸗
beuter ſich zurückgezogen hat. Da bricht die Welt, bie
Heine, zurechtgemachte, zuſammen wie eine Breterbude
und herein fchaut der ewige, unendliche Himmel mit feinen
‚Räthfeln und mit feiner Klarheit, und der Menſch, wenn
die Bandbigen Trümmer um ihn her verfiogen ſind, wird
knieend gefehen, — betend — weiler das Ich uud bad Du
erfannt hat, weil mit dem Bewußtſeyn feiner unendlichen
Kleinheit das Bewußtſeyn feiner unendlichen Bröße ju
gleich ibm aufgegangen if, mit dem Bewußtſeyn, daß er
einen Deren habe, das Bewußtfeyn, daß er ein freier ſey.
Die Gewißhelt nun, die der Menfch über Gert und
Freiheit durch die Thatſache, Daß er ſeldſt eine fittlie
Perfönlichkeit ift, gewinnt, nannte Raut den meraliihen
die Bedeutung ber kantiſchen Philofopbie ꝛc. 005
Glauben oder eine Forderung ber praktiſchen Bernunft,
Er drüͤckte ſich darüber fo aus, daß er fagte, es fen dieß
eigentlich Bein Willen, eö fey feine Gewißheit, daß wirfs
lich Gott und Freiheit fey, fondern nur eine Nöthigung,
fo zu handeln und fo Ach zu verhalten, ald gäbe 8
Freiheit, Bott, Unſterblichkeit. Im der That aber if
dieß eine Unterfcheidung, die feinen rechten Sinn hat,
die auch auf nichtö weiter beruht, als anf einer noch
nicht ganz befeitigten, ungehörigen Nachgiebigleit gegen
jene falfche Anficht von ber Natur des menfchlichen Wiſ⸗
fend, deren Bekämpfung eben die kantiſche Kritit unter
nommen hatte, bie falſche Auſicht, daß es eine Gewiß⸗
heit gibe, die ſich beweifen, der erfenuenden Beruunft,
obue daß eine fittliche That dazu nöthig wäre, anfbrins
gen I6ßt. Dem gegenüber erflärte Kant, er gebe zn,
daß Die höheren ſittlichen Wahrheiten ſich nicht fo bewei⸗
fen laſſen, aber daß die flttlidye Perfönlichleit gensthigt
werden Sana, zu glauben, ale ob fie wirklich wären.
Sie ſehen, die Unterſcheidung liegt nur im Ausdrucke:
ein Berhalten des fitttichen Ich, fo, als ob etwas wäre,
iR wit andern Worten bie Ueberzeugung, daß es fey;
denn daſſelbe Ich iſt es, welches handelt und erkennt;
ja die Erkenntniß ſelbſt iſt eine Art des Haudelns, und
das erkennende Verhalten, ald ob — iſt nichts ale die Er⸗
kenntniß, daß. Die Unterſcheidung kam auch nur daher,
daß man das richtig Über Die Ratur des menſchlichen
Wiſſens Befagte unrichtiger Weiſe zunächſt noch meinte
nus auf einen Theil dee Wahrheit befchränten zu mäffen.
Gewiſſe Wahrheiten, fo fagte man, 3. B. die mathemati⸗
fen, 3. B. daß 2x 2 gleich & ift, oder dad ein Kör⸗
per 3 Dimenfionen hat, die wiffe der Menfch ohne fltt«
liche That, die höheren Dagegen glaube er nur and ſitt⸗
licher Nöthigung. Aber diefe Unterſcheidung — Kant
ſelbſt war es ja, ber fie bereits fchon richtig wiberlegt
hatte. Denn Haste er nicht nachgewiefen, daß wir von
der Wirklichkeit unferer Borfellungen über Raum und
I
906 Dietlein
Zeit eben fo wenig aus theoretiſchen Grunden überzeugt
feyn können, als von der Wirklichleit Gottes und ber
Freiheit. Der bioß erkennenden Bernuunft, dem Verſtande
erfheinen Raum und Zeit ebenfalld nur als Formen,
die wir zu dem Erfahrungsftoffe hinzubringen, von beren
Wirklichkeit wir nichts wiſſen. Und fo zeigt ſich Leicht,
daB alles Willen Glaube if. Zwar iſt, an bem Gabe,
daß 2x2 == 4 zu zweifeln, Berrüdtheit; aber iſt es
denn nicht eine fittlihe That, nidt verrädt zu feyu?
Daß ed Bewegung, baß ed Körper gebe, wer zwingt
mich, das zu wiflen, wenn ich ed nicht glanben wii?
Wer aber eben nur erfennend, nicht glaubend, fi zu
der Welt der Erfahrung verhalten will, wir ſehen es ja
an der Santifchen Kritik, wir fehen es au den Sophiſten,
der wird verrhdt; denn dad Ich, von feiner ſittlichen
Ganzheit abftrahirend und dem Gpiele der Verſtandes⸗
formen einfeitig fich hingebend, iſt bereitö aus Der richti-
gen Stellung hinandgerüdt. Den Irrfinnigen num, ber
etwa zweifelt, daß fein Leib ein Körper fey, wie bein
wir den, wenn nicht Dadurch, daß wir ihn veranlaflen, ın
gehen , ſich zu bewegen, ſich zu verhalten, ald ob er einen
Körper babe? Da wird von ſelbſt ber Verſtand im die
rechten Fugen kommen: jener Zweifel war nicht® als bas
Verhalten, als ob den Berfinubes- und Anfchauungsfer
men keine Wirklichkeit entſprͤche — das entgegengefebtt
Berbalten alfo, das Berhalten, ald ob es fo ſey, iſt die
Gewißheit, daß es fo fey. So nun in Bezug auf Raum
. und Zeit, anf Dualität nnd Quantität, auf Gott und
Unſterblichkeit. Auch bier iſt der Zweifel Verrücktheit,
d. h. entſittlichter Verſtand; auch hier iſt das Wiedereis⸗
lenken zum ſittlichen Verhalten, als ob — dieß Wieder
einlenten if nicht ein Surrogat für die Ueberzengung,
daß —, fordern es iſt die Ueberzeugung ſelbſt. Jene lin
terſcheidung iſt nicht ſtichhaltiger, als wenn ich einem,
der mich fragt, ob id; gehen koͤnne, antworten wedte:
Gehen zwar nicht, aber ich kann mich dadurch, daß ic
die Bedeutung der kantiſchen Philofophie 2, 907
einen Fuß vor den andern febe, von der Stelle bes
wegen.
Der moralifche Glaube alfo ift wirklich die einzige,
er ift aber auch Die ganze und volle Gewähr der Wirk,
lichkeit deffen, was wir nicht fehen. Alles deſſen, was
wir nicht fehen, und was gehört dazu nicht Alles? Etwa
Bott allein und göttliche Dinge? etwa das Freie allein
und Attlihe Dinge? Hingegen Die Gefete der fichtbaren
Belt, Urfache und Wirkung, Eigenfchaften, Größen, Dis
menfionen — die And ja wohl fihtbar? Nicht ſichtbarer,
ale Gott es if; denn gefehen, fagt Kant mit Redht,
wird das Ding an fi; was aber wir daran fehen, das
find die unfichtbaren Formen unferer Anfhauung — und
woher nıın bie Garantie, daß bieg nicht bloß unfere Kor»
men find? Meine Herren, Sie fehen, bie kantifche Kris
tie if eine Predigt über den Tert Hebr. 11.: Es if der
Glaube die Gewißheit und die ſiegreiche Ueberführung
von der Realität des Unfichtbaren, und (B.3.) durch den
Glauben vwilfen wir, daß die Welten bereitet find durch
Gotted Wort, fo daß nicht Sichhtbares zum Sichtbaren
wurde. Der Sprung vom Denken zum Willen, zur
Ueberzeugung, daß unferm Denken Wirklichkeit entfpricht,
diefer Sprung ift überall nur fittliche That, nur Ber:
halten, als ob, nur Poftulat, nur moralifher Glaube.
Mathematifche, phyſikaliſche und fittliche Wahrheit find
darin ganz gleich; es ift Verrüdtheit, an Bott, wie an
der Mathematif zu zweifeln; und Glaube gehört bazu,
von der Gleichheit der Scheitelwintel, wie won der Un⸗
Rerblichleit überzeugt zu feyn.
Ich möchte dieß fo einleuchtend als möglid, machen.
Ich kenne die Schwierigkeit. Wir können es nicht laflen,
mathematifche und ethiſche Wahrheit zu unterfcheiden
und die Stellung bed Menfchen zu jener anders als zu
diefer zu denken. Daß, um an Gott zu glauben, "ein
fittlicher Eutſchluß nöthig ift, weiß Jeder a Aa
Theol. Sud. Jahrg. 1847.
a“ Diele
aber Daß das Waſſer feuchter und. daß bas Helle leuchtet
— daß wir, das zu wiffen, ebenfalld einer fittlichen The
bedürfen, das werten wir nicht. Daxan zu zwcifeln,
märe Berrüdtkeit, fagt man, Ja gewiß, aber Berrädt:
heit iſt, das wiederholen wir, Unglaube und Unfiti
geit — mu dem Grade nad, nicht. der Urt nad vou
Zweifel on Gatt und Freiheit unterfhieben, Wir mierien
ed nur nicht, weine Herren, wie nahe au der Br
bed Mahafund ber Meufch durchgängig ſteht, uk ha
es ſtets nur ffttliche Arbeit ik, wodurch er vor Dem He:
abgleiten in ben anfgeihanen, Abgrund ſich verwahrt.
Jedes Sichgehenlaſſen in einfeitiger Verſtandesthätigleü
iſt ein Schwindeln über dieſern Abgrunde. Nur dab
Gott ſey Dank, bie ſittliche Thätigkeit durch Erziehen
und Gewöhnung hei den Meiſten fo kräftig, ſo — Mt
895 fie ſelbſt es willen — im Gange if, daß, in der Ver⸗
ſtandes abſtractias eine gewiſſe Grenze erafbaftgrmak
zu übexſchreiten, ihnen wicht beikomt. ES iſt weie ait dae
Thatigkeit unſeres leihlichen Organismzuch; der athuch,
verdaut uud tranſpixixt, Gott ſey Dank, auch ohne dal
wir es beabſichtigen. Über wenn wir ya leſen won bei
Sophiften, daß Fr am her Bemagsing zmeifelten, ober jenl
dergleichen, oder an deu Senfuglifen vor Kant, dei
Ge die Geſetze vom Urſache una Wiakung für bloße Er
fiudung exllärten: fo nehmen wir ad wicht Exuf dem,
in new einfachen Bewußtſeyn: fie müßte ja, wenn es
wit diefen Zweifeln ihnen Graf mar, wercüdt geweia
fon. Und in ber That, foferu fie Dad wide waren, ſo⸗
fern ift ed ihnen auch unmäglich Eruſt damit geweſen
Aber laffen Sie ums bedanken, ob es mit den Zwallı
gu Gott und Unferblichkeit anders if. Es iſt fhon bir
fig ausgesprochen worken, dag es doch im runde
gentlidye Gottesleugner gar nicht gebe. Es fin
Grüfte der Menfch die voͤllige Abſtraction nom den Ali
chen daR Leben heherrfcheuben und in. ihm ſeldſt wider
die Bebeutung ber bantiſchen Philofophie c. 909
Willen und Wollen mebeitenden Mächten nicht vollziehen.
Der Menſch muß frei ſeyn, ſelbſt wenn er ſelbſt fich füreine
Maſchine serlärt.. Er mag noch fo fer die fittliche Ges
wißheit verleugnen, das Gewiſſen ſpricht in ihm doch,
Aber um fo gewiſſenkoſer iſt es auch, Gewiffen und Ge⸗
wißhet Uber die ſittlichen Wahrheiten als etwas fo dem
Zweifet antyeim Gegedenes: darzuſtellen: gewiſſenloé,
unſittlich — kurz nicht ein Irrthum des Verſtandes allein,
ſondern ein Abirren, des Berflandes allerdings, aber ein
Abirren und fi Losreißen von ber ſittlichen Gauzheit,
als welche der Menſch ſich gu verhalten verpflichtet iR.
DR wie nun, was wir hier und klar machen, von
Kant geſagt, oder find ed Conſequenzen aus ihm, oder
iſt es unfere eigne Auſchanung? Nun ich geftehe, daß,
wäre ed hier daraufangefommen, das unvermifchte, reine
kantiſche Syſtem barzuftelen, wir und Ausführungen er⸗
laubt haben, die folder Aufgabe nicht ganz entſprachen.
Aber unfere Abſicht HE, die Bedeutung der Fantifchen Kris
tie für Die neuere Theologie zu finden. Laſſen Sie und
ſehen, was für dieſen Zweck aus dem bisher Erörterten
fh gewinnen läßt.
Die große Neuerung Kaut’d war, daß er das We⸗
fen dad mienfchlichen Dentend, Willens, Weberzeugtfeun®
anders, als bie. dahin geſchah, auffaſſen lehrte. Anders
a6 bis dahin, amd zwar von wo ab? Wenn wir da®
Bewußeſeyn der Zeitgenoſſen fragen, fo wurde es damals
ausgeſprochen, daß ein folder Umſchwung feit Ariſtoteles
nicht: gefehen worden fey. Wir haben alfe die geſammte
vorkantifche Philoſophie als ariftoreltfche, umd dem ent-
gegen die kantiſche. Was if num ber Unterfchied? Er
muß fih, wenn unfere bieherige Betrachtung bad Rechte
traf, im Kurzem angeben laffen.
De Menfch, ale mit dem Berfkande Dentender, hat
nur Berfiandedformen, die die Sache wicht begreifen,
und. Dem gegemüber die Welt ald unbegriffened und uns
61*
»
MH ....r Dietlein.
ergeiffenes Ding au ih. Der Menſch bat die Wahrheit,
indem er ſich fittlih zum ihr verhält. So Kant. Und daß
er diefen Berg mehr ats ein Gurtogat für die Bahr:
heitserfenntniß, denn als. wirkliche Erkenntwig auffaßte,
dieß rechnen wir dem Kantianidmnd nicht ala weſentlich
zu, fondern fehen es als das noch nicht Kantiſqhe hai
ihm an, worte wie kantiſcher ald Kant ſelbſt zu ſeyn,
und für berechtigt halten.
Darfiellen, als Thatſache das, was wir ale fit
liche Derfönlichleit thatfüchlich erleben, barftellen — bat
it, wenn die kantiſche Kritit das Rechte getroffen hat,
die Aufgabe des denkenden Menfchen, nicht eis Auwer⸗
deu von Berftandesgefegen, die der Wenfcdy im Abſehen
von feinen fittlichen Erlebniffen in fich findet, nicht ein
ſolches Anwenden auf einen Stoff, ben vor biefer An
wendung der Menſch der Erfahrung entnimmt. Ein fel:
ches Anwenden war das Denken bis zur kantiſchen Kritil.
Laffen Sie uns fehen, ob wie biefe VBehanptuns
rechtfertigen können.
Es hat in der Zeit gwifchen Ariſtoteles nnd Kan
Glauben gegeben und Unglauben. Ja gewiß. Die Ent:
ſtehung des Chriſtenthums, alfo auch die Eutfichung der
chriſtlichen Glaubenslehre fühlt im diefe Zeit. Es harte
kantiſchen Kritik weder bedburft, noch wäre es ihr mög
lich geweien, der Welt die Wahrheit zu geben, ober and
nur die Erkenntniß der Wahrheit. Und die Theologie
bat auf Kant nicht gewartet, um die Wahrheit barje
Rellen, die deu Menfchen in Ehrifto Gott vor Angen gr
flelt hat, daß er durch die fittliche That des Blanbent
ſich ihrer bemächtigen ſollte.
Diefe fittlich erlebte Wahrheit in menſchlicher Net
darzuftellen, haben Taufende geftrebt. Die Apoſtel fh.
ven den Reigen, und zwar fie, die GSchriftfieher dei
N. T., mit dem Bewußtfepyn, daß alle Kehre und Erfemt:
niß nichts fey, als folche Darſtellung, alled Belehrtwer⸗ |
bie Bedeutung ber kantiſchen Philofophie c. 911
den nichts ald das Bewnßtwerben bed Belehrten über
feine eigene innere Erlebniß, ein Bewußtwerden, das in
ihm Die heilige Wahrheit ſelber dadurch, daß fie and
ihn die Wahrheit erleben läßt, bewirkt. Ich glaube, das
sum rede ich, die Rebe ift nur der Ausdruck des Glau⸗
beus. Die Rede, die Lehre, die Ausbildung des Glau⸗
bensinhaltes als Wiſſenſchaft ift nicht eine Thätigkeit,
die neben dem fittlichen Verhalten des Menfchen nach ihr
ren befondern Geſetzen vor fidh geht, fondern der Aus»
den des fittlichen Verhaltens, weil ber Menſch es nicht
laſſen kann, wie Stein und Karben und andere Stoffe,
fo auch die Sprache zum Ausdrucke feines Innern zu
machen.
Nach den Apoſteln die Väter und Lehrer der Kirche;
nicht aber mit gleich flarem Bewußtſeyn über das, was
fie thaten,, über die Natur der Wiflenfchaft und dad Ber:
haͤltniß der Wiſſenſchaft zum Willen. Glaube und Lehre
wurde nicht mehr betrachtet als ſich zu einander verhals
tend wie Inneres und Aeußeres, wie fittliche® Erleben
und fittlihe Bethätigung, fondern der Glaube war ſchon
auch ein Aeußeres, und darım ftellte ſich die Lehre das
neben als ein zweites Aeußeres mit nod) einem befondern
Inhalte. Es war nun die Theologie nicht mehr die Res
henfchaft, die man vom Glauben gab, fondern eine an⸗
dere, eine, wie man meinte, höhere Korm, die der Glaube _
bei den Eriennenden hat, während er eine einfachere
Form fon ale Glaube für die bloß Glanbenden hat.
AS wäre nicht der Glaube, ſowie er in Rede übergeht,
ſchon fofort Erkenntniß, und bier der einzige Unterfchied
vielmehr nur in der mehr oder weniger künftlerifchen,
ſyſtematiſchen Behandlung. Weil nun ein Anderes das
Ausfprechen des Glaubens, ein Anderes das Erkennen
ieyn follte, was wurde aus diefem fogenannten Erlen»
nen?
Scolaftit wurbe daraus. Was ift Scholaftif? Sie
912 ae Dietlein
nimmt ben Bögefpradenen Gitauben sımdb will un ned
etwas Aparted daraus marken. Mine Erfeuutnig wil
fe darans maden, bei der ed nur auf Erkeuntaiß au
bemmt. Da operirt una ber abſtrahirende Verſtand wü
Dingen, von denen er nichts verßcht. Im Grunde nun,
das ſahen wir fchen, ift eine ſolche Abſtrartion gar nicht
möglih: der Verſtand, fol ee überhaupt eimen Inhalt
‚ haben, muß diefen aus dem vom Menſchen als fittlicer
Ganzheit Ertebten entuchnen. Die Abſtraction beſteht
nun nur Sarin, daß er einen beliebigen Theil nism
and bad Uebrige hinauswirft. Bit jenen Stucke der Wahr
heit hält er Haus; was brüber ift, das reducirt er auf
fein kleines Maß, oder er verwirft ed. Das Rebucire
nun beforgten die Scholaſtiker, dad Verwerfen beforgk
der Unglaube.
Reduction, Berdünuung, Anfrwäcdnng ift alle Ede
laſtit. Der anfelmifcge Beweis J. B. für die Erik
Gottes if nichts, als Daß der veige Inhalt des Gedar⸗
tend von Gott verdünnt wird zum Gedanken bes ale
voltommenfien Weſens. Die aufelmifche Benugikaunge:
lehre iR nichts, als daB Die Begriffe von Schuld au
Strafe auf die von mangelnder Leiſtung und Erſatz je
rückgeführt werben.
Alles, um dem Verſtande ed bequem su machen. Abe
der Verſtand kann ed nicht bequem genug haben, ihm if
nicht wohl, ald wenn er ganz andgeweidet if. War ihr
zuerſt der Begriff der Schöpfung gu geheimnißvoll, machte
er die Welt zur Maſchine, fo wird ihm bald and ber
Begriff des Werdens unbequem, dan der ber. Bewegung
dann der der Qualität, dann des bes Seyns, fo daß er
zuletzt am gar nichts glaubt, dem Sch gegenäber bie Weit
nur noch als Nichtich hat.
Aber wiederum, diefe allzu große Bequemlichkeit und
Leere wird dem Berftande unbehaglich, unheimlich. 9a
xathſamſten findet er es alſo, inconſequent zu ſeyn, für fein
die Bedeutung ber kantiſchen Philofophie ꝛc. 913
Mühle wenigſtens fo viel Kom zu behalten, daß doch
die Muͤhlſteine fich nicht einander zerreiben. Da, ſtatt
einzugeſtehen, daß er, fich ſelbſt Aberlaffen, weder Gott
noch Welt hat, behält er vom - Blaubensinhalte, fo viel
ihm dienlich fcheint (und zwar der eine mehr, der anbere
weniger), milbert feine Antinomien fo weit, daB fie Dies
fen Hausbedarf nicht angreifen, und proclamirt bie fü
gemilderten als reine Vernunftgefeße, aus denen, wie
er meint, jener Hausbedarf entnommen, nad) beiten, wie
er meint, vas, was drüber hinandreicht, widerlegt fey.
Diefe Selbfibelügung, meine Herren, Hi es, die dem
abftrahirenden Berftande ed moͤglich Macht, die Wahrheit
in den mannichfachiien Graben der Berbäunmg fellgus
haltet und damit groß zu thun. Wäre er ehrlich, fo
würde er eimfehen, daß das einzig confequente Syftem
der fogenannten reinen Beraunft Die gänzliche Verzweif⸗
ung iſt. So aber find feiner Syſteme unendlich viele,
Riyiliemms, Senſualismus, Deismus, was eben jeber
wii. Denn stat. pro ratione voluntas, d.d. anf Deutſch:
der Verſtand oder die fogendunte reine Vernunft, went
fie von den fittlichen Erlebniſſen abſtrahiren wid, muß,
weit fie dad im Grande nicht kann, an Stelle ber gans
sen ſittlichen Wahrheit wenigftens vinen Theil, ein nadh
Belieben und Bequemlichkeit abgebrochenes Gtikk ber
Wahrheit feſthalten. |
Bon biefer Gelbfideligung, wis kaun von ihr uns
gründlich erlöfen, als die ehrliche Kritik der reinen Ver⸗
nunft, wie fle Kant geliefert hat? Ich hätte nun gern,
wenn bie Zeit es erlaubte, gefchichtlich aufgegeigt, wie
viel in der That das durch Kant geweckte Bewußtſeyn
über das Verhälmi von abfiractem Denken Und Moralis
Them Gtanden dazu beigetragen hat, daß der Menſch,
Hart nach bequem zurecht gemachten Verſtandesgeſetzen
die Wanrheit gu meiftern, fich der in Natur unb
Geſchichte redenden Wahrheit gehorſam zu unterwerfen
914 Dietlein
und ihre Geſetze und Scheimnifie zu belaufchen, wieberum |
lernte. Und zwar hat mit bem wiederlchrenden Gehe:
fam die alte eingerwurgelte Willkür ſich zu den mannich⸗
fachſten Bizarrerien zufammengemifcht, Da fchoflen de
Spfieme wie Pilze auf, da beeiferte man ſich wohl, wäh
rend man früher in der Aufllärung und Oberfläcdlidteit
fi nicht genugthun konnte, nun tieffinniger als die
fchlichte Wahrheit, geheimnißvoller als die Offenbarung,
katholiſcher ald die Lehre der evangelifchen Kirche zu feyı.
Das find,aun die Aprilftürme, die dem Mai vorangehen.
Mir werden dergleichen nicht befhönigen. Aber fern von
und die Verdammung, fern auch bie zwar wicht ver
bammende, aber doch in der Behaglichkeit bed Beſitzes
ſich erhebende Undankbarkeit. Es wird jet Mobe, du
Kämpfe in Philofophie, Poefle, Theologie und Leben,
wie fie in jenen Jahrzehenten durchgefodhten find, ver
nehm anzuſehen, als hätte ed deren nicht beburft, alö
wäre neben biefer Entwidelung durch Zweifel zum Glas
ben eine andere fietige nebenher gegangen, die für fid
allein die alten Schätze uns zu erhalten hingereicht habe.
Wenn aber dem fo wäre und zur Erhaltung bie alten
Apologeten, Lilienthal, Cruſins, Sad und wie fie heißen,
hingereicht hätten, fo rühmen wir uud doch jebt aud,
uicht bloß das Alte zu haben, fondern das Alte im neuer
Schönheit, und in eigenthämlicher Weife, nnd mit tiefe:
rem Bewußtfepn, daß unfere Erkenntniß unferes eigen
ften fittlihen Lebens und Erlebens Ausdrud ſey.
Aber noch ein Wort, ein allgemeineres, über biefe
Undankbarkeit. Wir fuchen eine gefchichtliche Perfönlid-
keit, fey’d Denker, Dichter, Kriegsheld, oder font wer,
in feiner gefchichtlichen Eigenthümlichkeit aufzufaflen, feine
Bedeutung zu verfiehen. Die Frage aber, ob er für die
gefchichtliche Entwidelung unentbehrlich war, oder od’
aud ohne ihn gegangen wäre, ift nicht nur eine altfinge
die Sefchichte nach unzureichenden Kategorien meiſternde,
die Bedeutung der Bantifchen Philoſophie c. 915
fondern aud eine unziemliche, tactlofe. Man wird in
guter Gefellfchaft an eine Jeden Eigenthümlichkeit fich er⸗
freuen. Wer aber beim Andeinandergehen überlegen
wollte, ob wohl. biefer oder jener entbehrlich gewefen
wäre, ob wohl ber Beitrag, dem biefer ober jener gab,
nothwendig war ober auch anderweit fich hätte erfegen
laſſen, der möge doch erſt fich felber. fragen, ob er wohl
ſelbſt in Gottes Welt und ber Menfchen Befellfchaft ein
nothwendiges oder emtbehrliched Moment fey.
Meine Herren, es ift eine gute Geſellſchaft gewefen,
bie, aus welcher wir Epigonen fommen, die Dhilofophen,
Dichter, Theologen, Staatömäuner — und wen nenne
ih noch Alles, die aus dem vorigen Jahrhundert in das
unfrige hinüberführten, Wir gehen angeregt, fpät, aber
nicht ermüdet, nadı Hanfe. Durch die nächtlichen Strar
ben fchreiten wir. Schwärmende, überwachte Beifter bes
gegnen nnd Überall, Nachtgefpenfter, die das Ausſchla⸗
gen der Mitternachtfiunde überhört haben. Wir laffen
und nicht ſtören, Morgeniuft weht und an. Wir treten
vord Thor, da fleht die Steruwarte, verwaift uud ſchwei⸗
gend. Wir fteigen hinan: ob's wohl von Morgen ſey?
O die Bergfpigen röthen fi fhon, und wenn bie Thä⸗
ler noch fo fhwarz erfcheinen, fo iſt es nur, weil wir
fhon mit dem fernen Lichtfireifen fie vergleichen können,
Mer nun eine Lerche Reigen flieht, ber fage fie an; wer
einen Gegenſtand fchärfer ſich abgrenzen flieht, Der mache
darauf aufmerffam. Und wenn die Sonne kommt, fo
fey, ihren Aufgang zu feiern, unter den Warten Deutſch⸗
lands die Albertina nicht bie lebte.
2.
Atteflamentliche Stellen und Stine,
erflärt
von
D. 3. Ohr. & Hofmann,
ordentlichem Preofeffor der Theoldgie gu Grlangen.
Bf 19,
„Der Malm fIngt das Lob Gotted ans der Nam
und aus der Offenbarung.” Mit diefen Worten meist
auch Hitzig noch die Einheit deſſelben ind Licht gefebt zu
haben. Aber fo erhellt weder die Angemeſſenheit des
Schluſſes, noch erflärt ſich die Unverbundenheit der Städt.
Und wenn ed ſich um Gottes Lob aus der Dffenbarıy
gehandelt hätte, fo würden bie Thaten Jehova's an fer
nem Bone nit haben fehlen dürfen. Es ſpricht aber
auch das erſte Steh nicht von der Herriihleit der Ru
tar überhaupt, ſondern bloß vom Hinntelögewätbe. 8.2
dat nämlich zwei Sudjecte, die uber Ber Sache nad eb
nes find, eraein und pn. Auf das Teptere beziehen fie,
wenn ich recht fehe, die VBerba von B.5., anf das erftere
das Suffirunt von op in V. 4. Oder will man liebe
bei der hergebrachten Kaffung des 3. Verſes bleiben, nad
der ein Tag zum andern, eine Nacht zur andern fprit,
während Doch, wenn die Unaufhörlichkeit dieſer Rebe te
zeichnet werden follte, vielmehr der Tag zur Radht, die
Racıt zum Tage fprechen muß? Ich nehme lieber cr
ars und er für einen Ausdrud von der Form wie
eb mp, und habe dann einen in den Zufammenhang leid»
ter yaffenden Gedanken, dad Himmelsgewölbe Aröm
Rede aud, ſpreche Erfenntnig aus von einem Tage jum
altteftamentlice Stellen und Städe. 917
ande, yon einer Macht gur andern, alfe ale Zeit Damit
erfülend , kumbläfftg. SHengkienberg, welcher dad Rich⸗
tige Aber die folgenden Suffiva, wie überhanpt dad Rich⸗
tige Über den ganzen Pſalm fieht, fan Damit ben von
ihm in gewöhnlicher Weiſe erBlärten 8. Vers wur gezwun⸗
gen, nämlich nur fo vereinbaren, daß er ſchreibt: „jene
Suffau zeigen unwidereuflich, daB man Die Rede and
die Ginficht, welche nach V. 5 Tag und Nat verfäns
digen, aid ihnen von den Himmeln mitgetheilt druken
muß” Daß ich dad Suffirum von dep auf mann ge
rückbeziche, habe ich mit andern Auslegern gemein, aber
nur erft, wenn B. 3. in der eben awgegebenen Weiſe ers
Höre wird, bleibt feine andere Beziehung beffelben mehr
möglich, man müßte fi) denn entfchließen können, wit
de Weste zb zu ergänzen nad "ae je, und dann jenes
Saffirnm auf or uud ara gu deuten. Ich wüßte nicht,
welche andere Ueberſetzung des 4. Verſes fich Fprachiich
rechtfertigen Iieße und zugleich einen paffenden Sinn gäbe,
ald diefe: „es gefchicht Seine Rede, es geſchehen Feine
Worte, ohne daß fein,. des Himmels, Ruf gehört würde,”
Wie (onf ein Partickpialfag mit 7 angefügt wird, wenn
geiagt werden fol, das Erſte geichehe, während das An»
dere; fo wirb Hier einer angefügt mit der Negation "5a
vergleichbar mit Sen. 43,3., um zu fagen, das Erſte ge
fchehe wicht, wo nicht Das Andere Alfo Allee, was fonft
gefprodyen werben mag, wird begleitet and überbanert.
von jewem Rufe des Himmels, welcher Gottes Herrlich
keit verfünber, Und zwar erfiredt fi folder Ruf über
Die ganze Erde und bis an das Ende derfeiben, wie B.5,
fagt; und der Känfer, welcher feine Bahn durchmißt mit
der Freudigkeit eines Bräutigams und mit der Kraft eis
ned Kriegshelden, und defien Wirkung nichts entzogen
bleibt, er hat feine Stelle am Himmel, gehört zu ihm
und Hilft ihm Gottes Herrlichkeit über bie Erde hin-ver-
kündigen. Dan muß 2, wo es vom Himmel gebraucht
918 Hofmann
if, in keiner auberen Bedeutung nehmen, als bie cö
ſonſt hat, fonbern vergleiche dieſes np wrr mit bem mn
mp Ser.31,39.: es gibt feinen Theil der Erde, über ben
nicht ded Himmeld Mepfchunr gezogen wäre, und ihre
entlegenfien Enden ſtehen unter des Himmels Befehl,
Den auszurichten die Sonne ihren Weg läuft. Die Wert:
ey In og Wonb hat man mit der Stelle Hab. 3, 11, ver⸗
glichen und dennoch dabei an den Sonnenuntergang ge
dacht, während doch an jener Stelle Dar der Drt if,
wo Gonne oder Mend ſich gerade befinden. Kengfex
berg's Auffaſſang beider Worter, ıp und Ir, trifft mi
ber meinigen zuſammen.
Nach diefer Erklärung der erſten Hälfte des Pfalmi
kann man nicht fagen, daß fle Gottes Lob and ber Ru
tur finge, fondern fie fchilbert, wie der Himmel faumt
der zu ibm gehörigen Sonne die ganze Erbe überall und
allezeit mit feiner Verfündigung Gottes und göttliher
Ehre umfpanne Folgt nun hierauf plötzlich und ohm
allen Uebergang eine Schilderung der Ordnungen Sehe
va's, deren fich Iſrael erfreute, wie dieſelben allem Be
bürfnifie bed Menfchen genügen und zwar mit imma
bleibendem Beſtande: fo wirb dadurch ber Leſer weran
laßt, eine Bergleichung anzuſtellen zroifchen dem Himmel
und dem Geſetze Iſrael's, wie von jenem bie Erde, von
diefem des Menfchen Leben, beide Mal unter Verkündi⸗
gung des Lobes Jehova's, ihres Schöpfere, umnfchlofen
gehalten werde. Und dieſes dem Himmel und fein
Sosne vergleichbare Geſetz befeunt dann der Gänge
auch zu feiner Erleuchtung gu befiten, uud muß ded
zugleich befennen,, daß er öfter dagegen fündige, ale tt
ſelbſt wiſſe. Aber der fich den Himmel zum Redner fe
ner Herrlichkeit gemacht und bed Geſetzes köſtliche Pre
digt gegeben hat, wird fih doch auch dad Wort de
Sängers zu ihm gefallen laffen, der von ſich nur Günde
und Schmadheit gu. fagen weiß. Wenn Hengſtenderßz
V. 2—7. eine Einleitung nennt, welche den Zwed habt
altteftamentliche Stellen und Stüde. 919
an bie Gottheit Jehova's zu erinnern, fo fann ich ihm
hierin ſchon deßhalb nicht Recht geben, weil dann auch
in jenen Berfen der Rome mim wit TIERE getrancht
ſeyn müßte,
Ueber Pf. 29.
Man muß fi doch verwandern, daß de Wette von
einem erhabenen Oymuns auf Jehova, wie er den 29. Pſalm
nennt, feinen andern Inhalt anzugeben hat, als bieſen:
„Aufruf an die Engel, Jehova zu preifen; Schilderung
der Macht und Mafeltit Jehova's ale Domergottes;
dabei if} er Regent und Schntzgott feines Volke.” Und
Ewald ficht in demfelben num gar wieder nur bie Schil⸗
derung eines Karten Bewitterd, welches der Dichter ers
lebt hatte. If denn nicht das Allermeifte, was ber Pfalız
von nm Dip ausſagt, dem Donner fchlechterbinge fremd?
wie mar bean auch Blig und Erdbeben zu Hülfe nehmen
und deren Wirkungen in die des Donners eintragen maß,
am die einmal über den Yuhalt des Pſalms gefaßte Mei⸗
nung durchzuführen. Daß rhm Dip ein weiterer Begriff
it und alle vernehmbare Kundgebung Jehova's in der
Ratur bezeichnen kann, erficht mau aus Amod 1,2, wo
der Donner bed Erbbebend fo heißt. Erſt fo begreift
man, baß berfelbe mim Sp, welcher Über den Waffern
droben .zuai Donner wird, auch Gedern zerbricht, WBäl.
der entblößt, euer bebaut, Berge hüpfen und Wüſten
freifen macht. Wo Jehova redet, da iſt rm. p: er
fpriche aber im Sturmwind und im Toſen des Erdbe⸗
bens fo ‚gut, wie im Donner ded Gewitters. Und nun bes
merke man den Fortgang des Gedanken im Pſalme. Jehova
iſt es, fo beginnt er, dem alle Geiſter, alle Bötter dienen,
Jehova iſt es, fo fleigt er erbewärts nieder, deffen Ruf
man hört droben über den Waſſern, wenn es donnert,
Und ſtark mie prächtig ergeht Fein Ruf. Wenn Gebern
im Gturme brechen, die Gedern Libanon’d —, denn deſſen
Hanpt ik ja dem Himmel am nädften — fo ed Je⸗
920 Goſnann
hopas Nuf, der folches thut: ja Hbanem umd Sirien
fehl hanfen empor, weas dieſe Stimme fie erſchüttert.
mb wie der ſtarke Cederuhanm und das ſeſte Gebirge,
fo erfährt auch das unbildfame Feuer die Macht dei
Rufes Jehova's, der, wie ein Gedernbrecher, fo ein
Flammenbehauer if. Denn bie Bedeutung „zerhauen,”
welche man für zurı bier augeaommen hat, Haßk Beh we:
der erweiſen, nach bedaef man ihrer: daß wer Muf Se
hava a im Sturmwinde den mild auflodernden Plane
Richtung: und Geſtalt anfnothigt, einem Sunfi lar verglei⸗
ber, weideer Holz und. Stein behant und ie VBeſalteag
bringt, des iſt, daͤchte ich, ein augemeſſenet md sanmentı
lich auch dieſem Zuſammenhange augenteſſener Bebastı
In dem, wad hiesauf feige, hat nım Cwald Bas Ber-
daltuiß des Porkicipielfages: Tray ak. ihn Ybarrızı gu den
vorhergehenden Berbid. uiid. beadrtet, aber- auch ned
ahne Midficht darauf, daß biefe alle im zweiten Modes
(chen. Ride Indfegen won Thalfachen, ſondern von
mögsihen Hüllen haben wir im diefen Berfen Der ii
Jehoua's neg winken, daß Die. Wäfte fi im: reife be
wegti,. wide erzitternd, fondern vom Wirbeliwiube umge
wählt. baß-aifo das Tohtekein Schmergbewegemg Tom,
wie, menu es gebären wollte — oder welche WBäfte wäre
toater, ale die von, Kades? — er mag wirken, daß ba}
ftachtige Thier, die Hindi, das. ſonſt dem Gchreden ſe
gut zu entrinnen weiß, Kill halten muß var Mieugk und
wer her Zeit gebiert, ober. daß ben dichte Walb, fo voll
lebendigſtat Graus, kahl wird und stadt, entdioͤßt won
feinen belaubten Aromen: bei allem dem hört man ine:
bona’d himmslifcher Prachtwohnung nichts Anderes, ald
Tan: mad Iegend droben iſt in Heiligthewe Han furict
nur ap. Diefe Schrecktifſe hier unten find Dreben law
tere: Ehre. Gotted, Und wie. in allem dem der außen
menfchlidren Welt, fo: baweiſt füch. ychove auch dem Men⸗
ſchengeſchlechte. Br bat ſfich demſelben bewieſen in der
gunßen Sluth, die "allein ben. Ramm kemrı. führt, med
altteflamentliche hellen und Stüäde VER
bat fich damals in den Himmel geſetzt, als Sönig über
es hier unten gu herrfihen. Seinem Polke aber wird
er Stärke geben, fein Bolt wird er fegnen mis Heil und
Srieden. Er wisd diaß thun, 7m, mar: mit diefer Hoffe
nung fihließt der Palm.
Jehova it der Geiſter angebeteter Hewr, der körper·
lichen Schöpfung almächtiger Beweger, des WMenichen-
geſchlechts Gebieter und Richter, feinem -Baife aber wirb
ex sin, Segenſpender ſeyn. Je größer der Gegenſatz er⸗
ſcheiat, in welchem ſolche Hoffnung zu den vorhergegan⸗
genen Ausſegen ſteht, Sehe bewuuberungsmürdiger er
ſcheit fie and, zu deſte aubetun gsvollerem Danke for
dest fie auf.
Pf. 36,2 — 3. |
Panzer zieht an zux Ueberſchrift des Pſalms und lief
5 Ratt aa, wonuuch dem fo weräuderten Barfe nur Der laexe
Gab bieibs, hab der Gouteſe gottlos ik. -Emald ſchreibt
auch ab und haſßtt zwar am hei. Diefem Bexfe, trennt
aber in Widerſurnche mit Dan Aecentes sinb vom Saarza,
wodurch deu feltiame Bebaufe autſteht, der Gottloſe habe
ein Orakel, oden vislmahr einen Oxalelſpauch, der Sünhbe
in ſeigem Degen, Garz ebenfo hat-Kuapy hie Mount«
gelefen und gefaßt, und if aud in. Deufeiben Irrthum
gefalleg wie Ewald, ald ob fich jener Bedankte wis dem
andern, frailich auch ganz inhalisleſen, vertauſchan laſſe,
daß des Gettloſen Hert ein Sitz des Laſters fen, wah⸗
rend bo Wedy immer nur ein eingelmer Ausſpruch
ſeyn kanc, licherfegt man, auch noch gagen Die Accente:
„Der Gottloßgkeit Auſſuruch au ben Fresler,- one, in Gin⸗
Hang mit. don Yeranten: „Ausſpruch der: Gottloſigkeit des
Freylersꝰ: fo folgt kain folcher Ansſpruch, fondern viel⸗
mehr eine Ausſaege des Sängers über den Gotaloſen
Warum folite man nun die Warse nick verfichen dürfen,
wie der zweite Theil bed Verſes fie felbi erllart? m
922 oMofmann
sun iſt eine Verbindaug wie Nah. 1,1, muımwn. So nimm
ed denn auch de Wette und faſt fo Hitzig. Allein inden
Bann: beide die zweite Berähälfte wiedergeben: „Kurdt
Gottes If nicht vor feinen Augen,” fo haben fie nu
wieder jenen inhaltsleeren Satz won ber Gottloſlgkeit dei
Sottlofen. Man fagt aber auch von der Gottesfurcht
nimmermehr, daß fie Jemand feinen Augen gegenüber
habe, fondern Tr> -n» beutet auf etwas, bad ber Bolt:
loſe fi gegenüber, alfo anßer .fich fehen ſollte oder
fünnte, aber nicht flieht oder nicht zu fehen befomm.
Und von etwas Solchem haubelt der Ausſpruch, jobalt
man nur Sri ra fo nimmt, wie Jeſ. 2,10. Dam m
gibt fich der doppelte Gewinn, baß der Dichter etwat
fagt, was der Mühe werth iſt gefagt zu werden, näm
lich wie der Ungerechte in feiner Abfälligkeit verbleibe,
weil ihm nie ein Schreden Gottes vor Angen trete, mi
zweitens, daß ih der bejahende: Satz des dritten Berfei
ungegwurigen an ben verneinenden anſchließt, weichen wir
eben gefunden, eingeleitet durch die Beiahungspartite,
weiche wir nach deu Verneinung mit „ſondern“ Rberieden,
und nicht wie be Wette mit „dem. IA num der zweit
Vers des Inhalts, wie ich ihn angegeden, fo wird mar
im dritten eine Ausfage von dem Gottloſen, fondern
von Bott erwarten, ber ihm feinen Schrecken nit
erfahren gibt, fondern ſich anders gegen ihn begeigt.
Wir braunen alfo weder phrm imperfomaliter zu neh
men: „es ſchmeichelt thin,” wie Ewald, noch rim reflerivt:
„er ſchmeicheit fich,” wie Rofenmäller ober de Bett
noch und nie einem fo ungereimten Gedanken zw begir
gen, wie Knapp, als ſchmeichle der Uugerechte dem Gette,
ben er Body weder: ehrt, als ein Mbewimniger, noch and
fürchtet, Gegen bie zuletzt erwähnte Auslegung fpri!
auch noch dieß, daß bei ihr das Sufſttum won rı72 anf
Bett gehe foll; und nicht; wie man’ nach dem gegenſeb⸗
lichen Berhältatffe. ber beiden Verſe erwarten follte, gleich
altteflamentliche Stellen und Stüde.. 923
dem Yon va 2b, auf den Ungerechten. ben fo wenig
folte man erwarten, baß bie Suffira von Tr und Tor7
auf verfchiedene Subjecte gehen, wir beziehen alfo beide
anf den Ungerechten, während Gott Subject if von
om. Dann erhalten wir einen gu vyy mas rd Ten
dem entfprechendften Gegenfag ausmachenden Gedanten;
daß Gott, fo viel ber Ungerechte flieht, nicht die rauhe,
Ihredende, ſondern die glatte Seite gegen ihm herauskehrt.
Denn geradezu „fchmeicheln” heißt prorm niemals, es ſtehe
uun db dabei ober nicht, fendern „glatt. ſeyn Laffen”
oder „glatt thun? paßt Überall beffer, nicht dloß Pf. 5,10
wo auch de Wette der Meinung il. Rachdem ſich *
fo der weſentliche Juhalt beider Verſe ſchon herausge⸗
ſtelt hat, ſo ſind wir auch in der Erklärung der noch
übrigen Worte nicht mehr fo vielen Möglichkeiten über,
loffen: Niemand wird jet in dem folgenden Abſichts⸗
lage etwas von dem Ungerechten Beabſichtigtes zu lefen
erwarten, fondern vielmehr, was Bott bei fo auffallendem
Dezeigen im Sinne habe. Finden will er, fo lautet des
Dichterd Ausfpruch, die ‚Berberbtheit des Ungerechten
xeb, Da dieſer Infinitiv kein Suffieum bat, fo wird er
nicht einen Gab für fich bilden, fondern mit dem Sub⸗
Rantionm zufammengehören, welches ihm zum Objecte
dient, ab yır iſt Untugend, die man haffen mu. Hier
aber, wo > ſchon als Object einem Sage angehört, hat
man es vor n30b in @edanfen zu wieberhelen, ähnlich je⸗
nem miersrm, „was ift das zu Thuende ? Jehova will,
wenn er ausgeht, nach der Berberbuiß des Ungerechten
zu fehen, dieſelbe fo finden, daß er fie haffen mnf. Der-
weilen fährt diefer fort, feinen böfen Weg zu wasbeln.
Aber ber Fromme wird darum nicht irre, fondern kennt
Jehova's Gerechtigkeit gewiß, und wenn er bann betet,
daß des Bottlofen Hand ihn nicht ins Elend treibe, fiehe!
fo ift es ſchon gefchehen: enp "bar an rl zus Yoyb Sony um.
Theol, Sud, Jahrg. 1847, 62.
924 GHefmann
Bf. 62, 7.
Die Worte gro ira umurım faßt man inögemein fo,
daß ey von ya ober doch von a abhängt, ‚mau
mag nun darunter bie Hermoniter verftchen, ıwie Knapp,
ger, wie bie Neueren, den Hermon. va m iſt
dann entweder Appofition zu sure, wenn man es Aber:
fegt „Berg der Kleinheit,“ ober Name eines andern un
befaunten Berge, weun man an für einen Eigennamm
anfieht. Die letztere Annahme bleibt immer bedentlid
und eine Auskunft der Roth, die erfiere aber Iäßt den
Dichter etwad Ungereimtes fagen. Yührt nicht Die Ehen
mäßigteit der beiden Satzglieder: jıy aa "Tu un
re ra woran auf eine andere Erflärung? Wird nid!
viren parallel fichen mit Jehova, auf welchen das Gaff-
zum bed Berbumd geht? Da meine Seele fo unruhig if, fen
der Dichter, fo will ich, um fie. gur Ruhe zu bringen, aa
dich gedenfen, o Jehova, won Sorbanlande aus, wo id
fo ferne bin von Jernuſalem mund. deinem Heiligthurt,
will an den gipfeldeichen Hermon denken, das hohe Gr
birge, non einem Berge ber Kleinheit aus, auf dem id
wich befinde. Er vergleicht Jehova, den gewaltigen Be
ſchüger, bei dem man ficher if vor allem Aulanfe, mi
dem mächtigen, hohen Dermon, weichen er eben deßhalb
pluraliſch beneunt, nud vergleicht feine gegemmärtige Bag
mit dem Stanbde auf kleiner Höhe, wo man gegen an
ſtürmende Ziuthen, zu deren Erwähnung er eben vor
‚ hier aus übergeleitet wird, nur fchlechte Sicherheit fie
det. Ich bemerkte noch, daß es mir leineswegs nöthis
fcheint, NyR aus dem 1. Berfe weg in Vers 6. hiaäbe
zuziehen und a u niymen au lefen. Der Didem
fchließt Die erfle Strophe feines Liedes mit ber Hoffanug,
daß er Bott, nämlich bie von Gottes Autlitz ausgehen
den Thaten dei Heild naoch wieder zu yreifen habs
werde. Biber er muß Gost auch als feinen Bon erken⸗
nen und anrufen, muß auch gewiß werden, daß ihm
altteſtamentliche Stellen und Stuͤcke. 925
Heil und Hflfe fommen fol. Daber hebt er wieder au
mit dem Nufe mie, und führt fein Lieb bis fo weit, Daß
er mit ben Worten any m rar min Ti fchließen
kann. Denn Pf. 43. gehört gewiß nicht mit Pf. 42. zur
fammen. Ich denke dein, drum ift meine Seele nuruhig —
meine Seele ift uuruhig, drum denke ich bein: dieß find
die beiden Wendimgen, in welchen fick ber Pfalm abs
fchließt und vollendet, ohne eime dritte zu erfordern
oder and) nur zu vertragen.
Ueber Pf. 49.
ie Maurer zu Pf. 42, 6. bemerkt: „certo oertius le-
gendum est rhaı u nimmer,” fo Ewald zu Pf. 49, 18.:
„unftreitig it nach 8.21. Par gu verbeffern.” Ich kann
dieſes fo wenig glauben wie jened. Ewald meint, der
Kernſpruch des Pſalms müfle beide Wale gleich lauten,
Aber gerade darin, daß er beide Male werfihieben lautet,
liegt der Kertfchritt des Gedankens. a buab run, mit
Diefen Worten Teiter der Sänger feinen ran ein uub
will damit gewiß etwas Anderes fagen, ald baß er, wie
De Wette ſich ausbrädt, dem Liede laufchen wolle, weis
ches ihm in der Seele liege. Jener buy Bann nicht in ihm
felbR liegen, fondern muß fih ihm von auderwärts her
zu vernehmen geben. Ein fliegended Wort, einen ger
meinen Spruch greift er auf, fein eigenes Kuufwort,
feine rm daran zu fchließen, Der Sin lantet wie V. 13.,
Die daraud gewonnene rn wie V. 21. Die gemeine
Rede begnägt ſich mit der Andfage, daß der Menſch feis
nes Bleidens nicht hat in den Derrlichleiten dieſes Le-
bend, daß er daven muß nicht befier ala das Vieh, ber
Weiſe aber wandelt diefen Spench in den andern, Daß
ein Menſch, der die Herriichleiten dieſes Lebens, aber wicht
den rechten Berftand des Lebens befigt, ein Ende Himmt,
nicht beffer als das Vieh. Daher fehen wir auch in den er»
ſten acht Berfen des Geſangs, Die Einleitung (B.2-— 5) ab⸗
62 *
®
924 Hefmann
Bf. 42, 7
Die Worte yz2 "ra num foßt man inögeweis fo,
daß rrtann von yrum oder doch ven a abhängt, ‚mas
mag nun darunter bie Dermoniter verfkehen, wie Kuapp,
sder, wie bie Neneren, den Herman. we m
dann entweber Appofition zu curam, menu man ed Aber:
fegt „Berg der Kleinheit,“ ober Name eines andern um
befaunten Berge, wegn man "un für einen Cigennamm
anfiebt. Die letztere Annahme bleibt immer bebeafüd
and eine Auskunft der Roth, die erfiere aber läußt de
Dichter etwa Ungereintes ſagen. Führt nicht bie Ehe
mäßigfeit der beiden Gabglieder: Try ya Tue u
ya mm vounm auf eine andere Erflärung? Wird nid!
woran parallel Rehen mit Ichova, auf welchen das Gaff-
zum bed Berbumdgeht? Da meine Seele fo nurubig if, ſey
der Dichten, fo wii ich, um fie gur Ruhe zu bringen, a
dich gebenfen, o Jehova, wom Serbanlande aus, weh
fe ferne bin vor Jernſalem und deinem —
will an den gipfelteichen Hermon denken, das hehe Ge
birge, non einem Berge der Kleinheit and, auf bem id
mich befinde. Er vergleicht Jehova, den gewaltigen ve
ſchützer, bei dem man ſicher iſt vor allem Aulaufe, mu
dem mächtigen, hoben Hermon, weichen er eben beßhel⸗
pluraliſch beneunt, und vergleicht feine gegemmmikrtige dagı
wit dem Stande auf lleiner Höhe, wo man gegen eu
Rürmende Fluthen, zu deren Erwähnung er eben vos
„ bier aus übergeleitet wieb, nur ſchlechte Gicherheit fir
bet. Sich bemerke noch, daß es mir keineswegs nöthl
ſcheint, iR aus dem 7. Berfe weg in Vers 6. hinkbe:
zuziehen und ben m nimm gu leſen. Der Diäten
fchließt Die erfie Strophe feines Liedes mit der Hoffeuet
daß er Bott, namlich Die von Gottes Autlig audgeher
den Thaten bed Heils ned, wieder zu yreifen hab
werde. Aber er muß Gott auch als feinen ort eri
nen und anrufen, muß andy gewiß werben, baf ih
altteftamentlihe Stellen und Städ. 925
Heil und Hulfe kommen fol. Daher hebt er wieber au
mit dem Rufe de, und führt fein Lieb bis fo weit, daß
er mit ben Worten Ton m ram ae 19 fchließen
kann. Denn 9f. 43, gehört gewiß nicht mit Pf. 42. zus
fammen, Ich denke dein, drum ift meine Seele unruhig —
meine Seele ift unruhig, drum denke ich bein: dieß find
die beiden Wendungen, in welchen fig ber Palm abs
fchließt und vollendet, ohne eime britte zu erforbern
oder auch nur zu vertragen.
Ueber Pf. 49.
le Maurer zu Pſ. 42, 6. bemerkt: „certo certius le-
gendum est rbaı m niyen,” fo Ewald zu Pf. 49, 18.:
„anftreitig iſt nach 8.21. 722 zu verbeffern” Ich Tann
Diefes fo wenig glanben wie jened. Ewald meint,: ber.
Kernſpruch ded Pſalms mäfe beibe Male gleich lauten.
Aber gerade barin, daß er beide Male verfchieben lautet,
Kiegt der Fortſchritt des Gedankens. rn Tejaa ram, wit
Diefen Worten Leiter der Sänger feinen ran ein ud
will damit gewiß etwas Anderes fagen, ale daß er, wie
De Wette ſich ausdrückt, dem Liebe laufchen wolle, weils
ches ihn in der Seele liege. Jener win kann nicht in ihm
felbR liegen, fondern muß fi ihm von auberwärt6 her
zu vernehmen geben. @in fllegendes Wort, einen ger
seinen Spruch greift er auf, fein eigenes Kunſtwort,
feine mer daran zu fehließen. Der >un lantet wie V. 18.,
Die daraus gewonnene rn wie ®. 21. Die gemeine
Rede begnägt fich mit der Ansfage, daß der Menfch feis
nes Bleibens nicht hat in den Herrlichkeiten dieſes Le⸗
bens, daß er davon muß nicht beſſer als das Vieh, der
Weiſe aber wandelt biefen Spruch in den andern, daß
ein Menſch, der die Herrlichleiten dieſes kLebens, aber wicht
Den rechten Verſtand des Lebens befigt, ein Ende Wimwt,
nicht beffer als dad Bieh. Daher fehen wir auch in ben er⸗
fien acht Berfen des Geſangs, die Einleitung (B.2-—- 8) a b⸗
62 +
926 Hofmann
gerechnet, nur den Satz ausgeführt, daß Sterben das kood
Aller ſey und Reichthum nicht davor bewahre, dagegen
in den andern acht Verſen der Unterſchied heramdtriti
zwifchen bem Tode derer, welche göttlichen Verſtand hu
ben, nnd bem Tode derer, welche ihn nicht haben. „Died
if,” beginnt der Pſalmiſt, nachdem er den Sprud 8.13.
mitgetheilt, „bießift der Weg derer, welche Zuverſicht ha
ben, und an deren Weife man Gefallen bat hinter ihnen
drein: wie eine Schafheerde bringt man fie ind Todten⸗
reich, der Tod weidet fie, und am Morgen find Redige
finnte ihre Gebieter worden, ihr Bild aber, bei der Ber.
nichtung des Todtenreiche hat ed feine Wohnung mehr”.
Ich mache bier aus pab nicht „balb” ober „im Bälde,”
wie.de Wette, Hitzig, Ewald: denn die Heerde bringt
man in den Pferch, die Nacht darin zuzubringen; ſo
fragt es ſich alſo, was mit jenen gefchieht, wenn be
Morgen anbricht. Alsdann wirb der Pferd abgebror
chen, die Todtenbehaufung hat ein Ende. Das 5 in mE
Yırıd ebenfo zu nehmen, wie das in „pab ober wie is
der Nedeusart „pa nimb, wird feine Schwierigkeit haben
und ſo ift bei meiner Auffaffung regelrecht gebraudt,
wie Hiob 11, 15.5 21, 0.; Prov. 20,3. Wenn nun alſo
jenes das Geſchick des Thoren if, daß’feine Geſtalt keine
Wohnung mehr hat, fobald die für ihn nur zum Pferd
dienende Todtenbehanfung vernichtet wird: fo weiß de
gegen der Pſalmiſt, daß Gott feine Seele aus biefer zu
fich nehmen: wird. Und wer ihm gleich gefinnt iR, da
ruft er zu: „Db- der Reiche feine Seele fegnet bei feinen
Lebzeiten, fo wird man dich preifen, bag du bie Gute
ſchaffeſt; fie kommt zur Wohnung feiner Väter, für im
mer werden fie das Licht nicht ſehen.“ Mit welchen
Nechte überſetzt Hitzig im 20. Berfe: „du wirft fommes
zum Geſchlechte ‚deiner Väter,” ohne anzumerken, daß er
priax. lefen wolle Ratt max? Ewald nimmt nod wei
tere Benderungen in biefem Pſalme vor, indem er im &
2
altteftamentliche Stellen und Stuͤcke. 927
Berfe me flatt rm und mer flate men, im 12, aber nad
dent Borgange Anderer ar=p flatt ann gelefen willen wid.
Letzteres erfcheint unnöthig nach Bergleichung von Pf. 5,10:
ein Gegenfaß zu B. 13. wird erforbert, gerade wie ihn
der Text bietet, nämlich, daß ed Menſchen gibt, welche
feinen andern Inhalt ihres geifligen Lebens haben, ‘als
ihre DHänfer, welche fie für die Ewigkeit bauen, und thre
Ländereien, welche nach ihnen benannt werben, während
body kein Menfch in biefen Herrlichkeiten feines Bleibens
bat, fonbern alle davon müflen, gleich dem Viehe. Die
Aenderung im 8. Verſe hat befiern Schein, aber doch
auch nur träglicken , indem der Pfalmift fagen will, er
babe feinen Grund zur Furcht, wenn Solche, die auf ih»
ven Reichthum trogen, ihm feind feyen: zu dem, wor⸗
auf ed dem Menfchen allein ankomme, zur Erlöfung aus
ded Todes Macht würden fie ihm mit ihrem Reichthume
doch nicht heifen können, fie felb aber müſſen trog dem⸗
felben des Todes Beute werden, und gehen leer aus,
wenn Gott den Gerechten aus ber Tobtenbehaufung gu
fih nimmt.
Bu Pf. 73,
B, 1. Den Gccenten angemeflener, ald die herge⸗
brachte lieberfeßung, wäre bie Verbindung von >anty
erdn zu dem einen Begriffe, der ſich Gal. 6, 16. findet,
6 Iogadk zod.Bs0Ö5. Und auch ber Gedanke des Berfes
gewänue dabei. Denn der mit bemfelben beginnende
Pſalm will ja nicht aufzeigen, daß Bott eitel Bäte if
gegen Iſrael, fondern daB es NRiemanden in Wahrheit
wohl ergeht, als allein denen, welche reined Herzens
find und demnach den gottgefälligen Theil Iſrael's aude
machen,
B.4 Daß > jemals geradezu „biö” heiße, glaube
ih, in meinem Buche über Weiffagung und Erfüllung
di. S. 226.) widerlegt zu haben. Man kann alfo Tr
-
926 Hofmtam
eneb nmyrı nicht mit be Wette umb Maurer überfehen
„tie haben feine Schmerzen bid an ihren Tob.” Die
ſprachlich leichtefte Erklärung aber, der Hibig folgt: „ihr
Tod det Beine Schmergen,” gibt eben fo wenig einen paſ⸗
fenben Sim, als bie andere, ſchen etwad gezwungenere:
„fte haben keine Schmergen, daß fie Aärden’”’; denn Bei:
des fagt viel zu wenig, da ed andere Leiden geung gibt
außer Beuen, welche mau im Sterben erfährt, ober denen,
welche den Tod bringen. Aber muß man denn mir
wit „Grhmergen’”’ überfehen, und nicht vielmehr wie
Jeſ. 58, 6., wo es „Bande” heiptY man riszyı find bir
Bande, weiche der Lob um ben wirft, welchen er zu fe
nem Gefangenen machen will. Irgend wann werben na
freidich jene auch bed Todes Gefangene, aber noch fiad
Beine Anſtalten dazu getroffen; Bande bes Tobes, da
fie ſterben werden, find noch nicht ausgeworfen. So be
dürfen wir der Aendernag in cr wb nicht, welche Ewald
vorfchlägt, und welche ohnehin dieß gegen fidh hat, daj
un niemals fü gebraucht vorkommt, wie es bier in der
Berbindung xx)Jꝛa an der Fall feyn würde.
V. T. Die Verbindung as wer ift immer hart, nad
zu fchreiben we ift gewagt. Den Sinn des letzteres
haben -wir, wenn wir our aus bem vorigen Verſe für
Subject von wgr nehmen. Der Frevelmuth, der wie ea
ſdattlich machendes Gewand um ihn liegt, bringt ihm zw
gleich aus feinem Innern durch Die fettuwfchweilruen
Augen hervor. .ayb rim ray verſtehen wir dauı am
ter Bergleichung der Stelle Pf. 17, 3. von ben wide wer
bovgen bleibenden, fonbern durch Auge und Mund über
Beunmwenben Szerzensgebilden, womit ein paflenber Lieber
gang zum mächken Berfe gegeben iſt.
V. 10. Mit welchem Rechte nimmt man na fad
ſtautiviſch? Wie ma (1 Kön. 8,2.) ein immer fleßender,
ſo if du, was in foldyer Verbindung wohl anging, ei
voller Bad, Dann führt man natürlich zuur wicht anf
altteflamentlide Stellen und Stuͤcke. 929
nzu zurick, ſondern auf no, Die Leute wenben ſich,
son den gefchilderten hockfahrenben Reden angeledt, zu
dDiefen bin, und finden fi nicht getänſcht, fondern fehen
ſich bei ihuen, wie ein Wanderer, der an. den vollſtrö⸗
menden Bach gelommen, gar wohl befriedigt.
B. 18. Sollte rugu nicht leichter von sa abguleis
ten ſeyn, ald von rind, eine Form wie Wahn uud mit ber
Bedentung vubliettes ? |
B. 23, Trapif Adjectionm wie Pf. 46,14. ; Eyech. 28,1.
Pſ. 84,
Die Anleger können nicht genug fagen, Wie wohl
ihnen der Gebdanke gefalle, weichen fie im 4. Werſe finden.
Lieblicher Gedanke, ruft de Wette, und elogantissimn et
vere poelies sententia, ruft Maurer: „Sperlinge und
Schwalben find giürlicher als ich; fie niſten im Tempel.”
Aber im Tempel, fagt der Pſalmiſt nicht, ſondern die
Altäre Irhova's benennt er ald bed Vogels Neil. Wie
faun man nun glauben, daß man Sperlinge anf dem
goldenen Räucheraltare wiften ließ, oder daß Schwalben
fi) den Brandopferaltar zn ihrer, wahrlich allerumbes
auenften, Stätte wählten ? De Wette ſagt zwar, bei ben
Ultären feibR habe man ſich freilich Feine Neſter zu den⸗
fen, ſondern im Gebälle oder Dachwerke oder Ger
mäues, woraus bansı folge, daß hier der. ſteinerne Tem⸗
pel, nnd nice das Gezelt der Stiftshütte vorausgeſetzt
werde: mau muß, meint er, ben Auodruck bes Pſalms
nicht genau nehmen Allein warum muß man das?
Man fagt wohl, der Lazzarone finde feine Schlafftätte in
den Daläften, aber nicht, er finde fie in den Gemächern
der Reichen. Diefen Uebelſtand hat ſchon Knapp ges
merkt, und er überfeht deßhald: „Selbſt ber Vogel fin»
det eine Wohnung, die Schwalbe ein Neſt, ihre Zungen
u bergen — ich, deine Altäre, Schowa.” Der Bere iR
etwas elliptifch, bemerkt er hierzu: aber wer hat je eine
ſolche Ellipſe gefehen? Und doch hat er an Mendelsfohn
einen: Radıfolger gefunden. Mir num fcheint, fpradlic
leichter als bie letztere, und fachlich angemeſſener ald bi
erſtere Erllärung, daß man bas, womit verglichen wir,
Schwalbe und Sperling, gleich flatt des Werglichenen,
nämlid) ſtatt Iſrael's geſetzt ſeyn laſſe. So beißt Yiradl
Pſ. Te, 19. ram "im. Alsdann ergibt ſich andy ein ſchid⸗
licherer Fortgang der Gedanken. Deun nachdem de
Sänger mit dem Ausrufe begonnen: „wie lieb find dk
Räume, da du wohnft, Jehova,“ fo foricht er zuerſt fen
Berlangen aus, dahin zu fommen, und wie er jubeln
wolle zu dem lebendigen Botte, wenn er dahin gelom
men. Oder täue ich Unrecht Daran, baß id} "om fun
rifch: Überfege? Was kaun nun ſchicklicher folgen, ald di
Stltärung, wie der Sänger ſolche Hoffnung haben könnt,
Die Erflärung, daß, wo Irhova wohne, auch Yiradi
MWohwflätte.fey?. Auch dad Böglein hat ein Hand gefun
den, nud die Schwalbe ſich ein Neft, dahin fie ihre Sm
gen geborgen hat — denn rn® heißt ed, und nicht ran —:
bad iſt aber Fein geringerer Ort, ald die Altäre %:
heva’s, iu dem der Sänger feinen König erkennt, welde
alſo dort feinen: Palaſt, nad feinen Bott, welcher aljı
dart.feinen Tempel hat. Diefee Ort der Majekät un
Heiligkeit. iR für Iſrael, was für das Böglein, bei
, Schwache und wehrlofe, fein Neſt ift, in welchem es fid
- mb feine Jungen geborgen weiß; denn ebeufo hat fd
Iſrael, Das an fich fo ſchwach nud Flein geweſen, an den
Altären feined Gottes geborgen geſehen, ſich ſelbſt, ale
ſich Jehova feiner zuerſt annahm, und feine Zukunft und
Nachkommenſchaft für immer: Daher kann nun ber GSaͤn⸗
ı ger andrafen: mya atir- "re, womit er aber weder die
Leviten, noch die Befucher bed Tempeld meint: die lehzte⸗
ven nicht, weil 38 diefe Bedeutung nicht hat; bie le
ren. nicht, weil man nun fehon flieht, Daß es wicht mm di
bloße Dertlichleit oder um Holz und Stein des Tempel
zu thun if, und weil der Beiſatz hm vis nur auf
altteflamentlidhe Seellen und Stuͤcke. 931
Solche hinweiſt, die wicht bloß Außerlich, fondern von Her⸗
zen Jehova, ihrem Gotte, dienen. Wohl glädlich find
Die, weichen Jehova's Wohnung zur eigenen geworden,
Aber indem der Sänger dieß ausruft, tritt ihm die Gr,
wägung entgegen, daß es dahin noch nicht gekommen iſt.
Daher läßt. er ein zweited Hell! nachfolgen, welches be:
nen gilt, die an Jehova ihre Stärke haben: denn bie
wiffen gebahnte Wege, auf welchen fie fiher zu Bott
gelangen, der anf Zion wohnt. Daß man bieß nicht
von bloßen Feſtreiſen, fondern von einer Wanderung
entgegen dem Ziele der Berheißung Iſrael's zu verfichen
babe, beweifen bie übrigen Berfe des Pſalms, in welchen
der Sänger bittet, Jehova wolle feinen Befalbten anſehen
und das Reich deffelben fördern, Damit die erfehnte Zeit
herbeikomme, wo man bleibend in der Nähe Gottes, in
feinem Hauſe weilt, jene Zeit, auf weldye die Frage dee
15. Palme hinweiſt: Tuır "na Joa Tariıya Tan rim.
Hiob 19, 26.
Sollte nicht doch apı ein Subflantivum ſeyn, gleis
cher Form wie nröps, nur daß rn in chaldälfcher Weife
abgeworfen wäre, wofür doch die Formenen amd 2 in
Bergleich gezogen werben können. mir flänbe nadı wie
280n.1,2.; Pf.80, 15. Die Bedeutung von 'ap}. würde
feine Schwierigkeit machen; denn fa gut. Hiob fagt
(Kap. 19, 6.) man 2 rm, eben fo gut Tanner feine
Haut rıapı nennen, al& bie ihm rundum anliegt. Dann
wäre aber natürlich "rın unmöglich mit zeitlicher Beden⸗
tung. gebraucht, fondern na und Ta entfprächen. fich ähnlich
wie in dem Satze Hohesl. 2, 9. von ner as ren
rosem-a rmiee. Hinter meiner Hant, fagt Dieb, hinter
eben diefem Umzuge, der mich jetzt umzogen hält, mid
befindend, uub von meinem Fleiſche aus, das alfo nicht
zuvor der Verweſung auheimfällt, werde ich Bott fchauen.
Denn er kennt feinen Exlöfer, der ihn.wieber in feinen
Stand einfegen fol und wird, wie daß derfelbe lebenbig
932 Gefmann
it und eim felcher, der auch hernach ſeyn und Alledüber;
leben und als immer fphterer, ia lehter auf Erden fi
erheben wird, während andere Grlöfer ſterben müſſen
und une bie gu gewifler Fri auftreten und hülfreich
ſeyn können. Se: dem Ausſpruche biefer Zuverficht ade
ich recht die Mitte des ganzen Bude. Demm Schon
bringt den A beflagenden Daider nicht dadurch zus
Schweigen in Geduld unb Demuth, daß er ihn bad
Löfung des Schickſalsräthſels in Worten widerlegt und
überführt, ſondern Dadurch, Daß er feld ihm erfchein
und felbft zu ihm redet. sim "re rına, ruft Hiob an
8. 43, 6, nnd bereut fofort, was er gegen Bott geſpre⸗
dyen, ob er gleich noch in feinem Elende ſitzt und len
Wort der Deutung über baffelbe vernommen hat. Abe
Bott hat ih zu im befannt, er ift gu Jehova im pet
ſönliches Berbältuis gelommen, wie ein Menſch zus
andern und wis frarl zum Gchöyfer aller Welt, um
dieß gibt Ruhe und Stile in das Herz mitten unter
den Räthſeln der Gegenwart.
Die erſte Hälfte des 7, Verſes fpriche vom Lande, ſofen
es bewohnt, die zweite vom Lande, foferu ed angepflaug
iſt. Bom letztern beißt ed erſtlich, daß Fremde feine
Ertrag verzehren, und dann, daß es verödet, alſo ler
von Planungen ik, ary nammm. Wenn Hitzig hier
bemerft, daß wur nicht „verheeren” heiße, fo bat a
Recht; wenn er aber hierauf ver für fremdes Land, ja
für ein beftimwintes fremdes Land, das ſodomitiſche, er⸗
Märt, fo hut er den Worten uuerträgliche Bewalt m.
„er heiße „umlehren” und Tann deßhalb von feld
Umfkürzung und Verkehrung gebraucht werben, als burd
Erdbeben oder ähnliche Naturbegebniſſe geſchieht. Abe
auch, wer den Boden pflugt, kehrt ih mm: vertere ter-
ram oder glebas, ſagt der Lateiner. Darf man hiervoe
altteflamentlicye Steiken und Stuͤcke. 988
anf anfere Stelle Auwendang wachen, jo fagt der Pros
phet, der Boden fey öde von Pflanzungen, wie ed ber
Fall ſeyn muß, wo Kremde ihn umgelegt haben, bie
ihn nicht mit dem Pflage umlegen, um ibm tragbar gu
machen, fenbern etwa mit den Hufen der Gtreitrofle
oder Den Rädern der Kriegswagen.
Im 8 Berfe bleiben die Worte nu; rn, wenn
man fie wicht fo willfhrlich dehandelt, wie Hitzig, Immer
nur mats und bedentungeled, bie man einen folchen Ge⸗
danken in ihnen findet, wie ihn Arnoldi durch feine Aen⸗
derung: my van, hineinzubringen verſucht hat. Dieß
kann aber ohne Arnoldi’d Aenderung, bloß durch feine
Berbindimg der Worte gelingen, indem die zweite Vers⸗
hälfte, von der erfien losgetrennt, den Gedanken gibt,
ein Rachtlager in einem Burkenfelde und eine behaltene,
beivahrt gebliebene Stadt fey eind und daſſelbe. Das
doppelte > vergleiche nicht, ſondern ſtellt gleich, hebt
allen linterfchieb auf, wie 1 Kön. 22,4. So behält dann
72, parallel mit nn geftellt, feine nämliche Bebeutung,
wie Ezech. 6, 12, neben "En.
Geh 2, 22.
Die Ermahnung vrena 2a} Dın fanıı weder fün
eine Gimfchaltung, wie Geſenius, noch für den Schluß
einer Strophe, wie Ewald meint, fonbern, wie Hitzig
recht gefehen, nur für ben Anfang von etwas Neuem
gelten; fie ſteht parallel der Ermahnung bes 5. Verſes
Bar bach im Boransgegangenen nicht von Vertrauen
auf Menfchen, nach der Anficht jener, fondern von der
Freude an Selbfigewolltem nnd Selbſtgeſchaffenem die Rede;
wohl ader folgt nun, daß Jehova alle die und alle Sol⸗
che aus ſeinem Volke wegſchaffen werde, die in irgend
einer Weiſe vor Anderen etwas gelten. Einer ſolchen
Drehung, wie ſie hier mit > augefchloffen wird, kann
möglicherweife die Ermahnung vorhergehen, daß bie
934 Zu . efmann
geringen nicht auf. höher. ſtehende Menſchen ihr Vertrau
fegen,, aber andy. die andere, baß die höher Acheadu
ihr Bermögen nicht gegen geringere mißbrauchen ſolu
Es kommt darauf au, wie einestheild die Ermahnıy
ſelbſt lautet, und wie anberutheild die darauf folgen
Drohung näher gefaßt, beftimmier geſtellt iſt. Was nuukı
erſten betrifft, fo hat Bitringa natürlich Recht, daß 1 mi
folgendem 7a beides gleich gut bedeuten faun, einem unange
fochten, oder einen unbeachtet laſſen. Wir werben: alfo di
Euntfcheidung für die eine ober Die andere Möglichkeit worte
Beichaffenheit des Objectd und feiner nähern Bezeichnung
abhängig machen müſſen. Und fo haben es die Auslege
auch gehalten, wenn fie die Worte ea roch ai cr.
entweder gleich überſetzen oder doch nachträglich erklären:
„Der Menſch, in deſſen Naſe ein vergänglicher Hauch if,
ein Athem, über welchen er felb feine Gewalt hat
Allein die Worte fagen doch nichts won ber Bergänglik
keit oder Abhängigkeit dieſes Hauchs, fondern bezeihsn
den Menfchen ald einen lebendigen. Ein lebenbign
Menſch aber will eben deßhalb, weil er eim lebendige
Weſen if, geachtet feyn. Trägt man alfe nicht willir
lic, etwas hinein in die nähere Beſtimmung bes Object,
fo gibt Biefe dem Berbum Sm jene erſte, und mit Di
weite Bedeutung. Damit trifft dann die weitere Be
grändung jener Ermahnung: wur sem maso, eben fo lid!
zuſammen, als mit der ewtgegengefehten Demtung. fid
man rmas mil dem Tone ber Frage, fo fagt ber begrär®
dende Sag, der Menfch ſey nichts zu achten: lief ma
es dagegen mit dem Tone bes Ausrufs, fo ſagt er i⸗
SGegentheile, der Meunſch ſey werth zu achten. Se mel
man num hieräber durch das Vorausgegangene neh
nicht in Sicherheit iR, hat man fich bei der mit w ange
ſchloſſenen Vorherſagung Raths zu erholen. Gtellt dirk
einen Zuftand der Dinge in Ausſicht, wo es mit dh
Menſchen, fofern er Lebensodem.hat, ein Ende nehm
wird, einen Zufland alfo, wo des Menfchen Leben di
altteſtamentliche Stellen und Stüde. 935
Tode anheimfällt, dann hat man rmz fragweiſe leſen
muſſen. Dagegen - auöruföweife will es gelefen feym,
wenn die angebrohte Zukunft ins Licht ſtellt, daß alles
Andere, was ein Menfch außer dem Leben ift und hat,
ihn nur zufällig über die Menge erhebt: in Zeiten, wo
alles dieß verloren geht, lernt man ben Werth recht ken⸗
nen, welchen der Menſch nur dadurch fchon hat, daß er
da iſt und lebt. Was fagt nun der Prophet? Es kommt
eine. Zeit, da nichts von allem dem vorhanden bleibt, was
jest fo nöthig feheint für ben Beſtand des gemeinen Wer
fend, wie Wafler und Brod für den Lebensunterhalt;
eine Zeit, dba Niemand vorhanden if, dem Beruf oder
Rang oder Wiſſenſchaft eine bevorzugte Stellung gäbe;
ja eine Zeit, da Niemand ſolche Stellung haben mag, fon» _
dern Jeder froh ift, nur zu leben, und wäre ed nody fo
kümmerlich, weil Oberfter im Volke zu feyn, alddann nichts
einbringt, fondern nur koſtet. Soldye Zeiten fommen in
Folge des Mißbrauchs, melden jegt die Hochgeftellten
mit Amt und Gewalt nichtöwärdig treiben; darüber fie
heimgufuchen, die Geringen an ihnen zu rächen, gegen welche
fie Raub und Ungerechtigfeit, das Volk, gegen welches fie
harten Drud und launenhafte Gewaltthat üben, dazu
bat fich Jehova bereit geſtellt. Schließt fich nicht demnach
das Ende des Abfchnittd 2,22 — 3, 15. in der Weife mit
dem Anfange deflelben zufammen, baß, die etwas vers
mögen in Juda und Serufalem, wenn fie nicht folchem
Gerichte verfallen wollen, ablaffen müffen, ihr Bermögen
gegen denjenigen zu mißbrauchen, welcher immerhin werth
genug zu achten ift, wenn ihm auch kein befonderes Glüucks⸗
gut Auszeichnung verleiht, werth genug, weil er ein
Meuſch if, hemz rradı un?
Zu Jeſ. 3, 12.
Den Pluralid Tess für das Subject von >ain zu
halten, bleibt unmöglich, man mag es Drehen und wen,
086 J Sefaamn
den, wie man will, und baß 5>orsm gleich viel fey wie
Sy, „Kind,” ift eine unerwiefene Annahme, währen)
bie anderen in Anwendung gekommenen Bedeutungen dei
Stammes >43 einen paſſenden Sinn geben. Geholfen
wäre, wenn man >brs für ein Deuominativum won >%,
„och,” hadten dürfte, wie gleich nachher dyv von 029 und
wit einer Bedentung ber Gteigerungeform, ähnlich ieser
von 13 Deut, 21, 16. Das Volk trägt feine Bebrhder
als fein Joch.
gef. 4, 4—6.
Gehört denn wirklich Yin yry ar ale nachgebradter
Norberfap zum 3. Berfe? Die Berbiubung wit bee 5.
Verſe gibt Doch den fo angemeſſenen Bebaufen, def Je⸗
hova, wenn er zuvor den Ilsrath ber Töchter, die Blut:
fchulden der Söhne Ierufalem’s mit einen feharfen Haudht
des Gerichte bisweggetban hat, dem Zion, wie ed dam
ſeyn wird, einen Schutz und Schirm wider alle ſchaͤdliche
Wirkung fchaffen will. Abgeſehen davon, baß fid bi
ber andern Berbisdung die Werte zberyrez —
zwifchen "5 Tan Erz und An vr om laſtig und NN
zweifchenein ſchieben, möchte die vorgefchlageme and bei
dalb den Vorzug verdienen, weil dann in Vorderſad un
Nachſatz etwas ausgefagt if, dad Jehoba am Terafalem,
der Stabt, vollbringen, und nicht das eine Mal, was
er an der Stadt thun, und dad andere Mal, was von
deu Einwohnern gelten wirb, Die mit jenem Hanche ge
veinigte Stadt iſt ſolchen Schutzes werth, wie ihn Je⸗
hova verheißt, und iſt feiner allenthalben werth. 7%
mit „Raum” zu überfeßen, geht doch wohl nicht an; wie
heißt es etwas Anderes, ald was auch nach dem Stamm:
worte zu vermuthen ift, nämlich „Ort für etwas, das
daranf feſtſtehen ober ruhen fol.” Dann wirb aber and
gan yoorbe nicht gleich viel ſeyn mit Yan be, for
dern man bat gu überſetzen: „iche Etätte bed Verges
J
altteflamentlige Stellen und Stuͤke. 037
Zion's,“ wie pr ya 55, „ieber Baum bed Bartend.” Un⸗
ter xxxyꝝ verfiehe ich mit Ewald nicht unnöthigermeife bie
Halle der Berfamminng, ſondern wie 1,14. die Verſamm⸗
(ung felbft. Jede Stätte, wo man wohnt oder ſteht, und
jede Zuſammenkunft, weiche gefchieht, flieht fich gebedt
‚durdy eine Wolke bei Tage, durch einen Glanz bei Nacht,
wie Iſrael gegen die nachdringenben Aegypter gebedit ges
wefen if. Und zwar ſoll man ſich nicht eine Wolfe den»
fen, bergleihen den Himmel überziehen, keine Waſſer⸗
wolle, fondesn eine Rauchwolke, aufſteigend wie von
Fener, und den Glanz fol man fich denken, wicht ale
vom Lichte, foudern ebenfalls wie von flammendem
Feuer. Daher ſteht er nachträglich hinter cur pr, and
nun, da einmal an foldhe nähere Beſtimmung erinnert
id, reora Um gleich hinter v05 und noch vor ro. Denn
Schau gegen Yeinbfeligleit, die von branfen kommen,
auf Erben fidh erheben möchte, if hier noch gemeint,
Schutz Ber Urt, wie jemer geweſen, welchen die erſt
dundele, daun plötzlich feurig auflenchtende Molkenſaule
gegen Pharao's Heer gewährt hat. Hieraus ergibt ſich,
was man von einer Verbindung der Worte zu halten
hat, welche ein abtreunt von car 2. Noch viel wenis
ger aber geht ed an, das andere Beröglieb: abıray p
ram, in den nächften Vers hinlibergunehmen. Dean man
ſieht ja jet, Daß die VBerheißung mit den Worten mp1
mn eine ganz andere Wendung nimmt, indem fie von
dem Schutze gegen Feindfeligkeit, die won braußen
fommen könnte, übergeht zu dem Schntze gegen [chäbliche
Wirkungen, die etiva fonft von oben fommen. Ob num
Subſtantwum oder Berbum ik, beſtimmt ſich nad der
Ueberfegung von Tuaerın; heißt biefes „alle die Herrlich,
keit,” fo gilt rar fehidlicher für das Sudſtantivum, heißt
e6 aber „lauter Herrlichkeit,” jo kann ren nur Berbum
ſeyn. Da wir nun nicht leſen Tara, fo überfeßen
wir entweder „jede Sherrlichleit,” ober, wie barııa
938 | Hofmann
Pſ. 39, 6. „lauter Herrlichkeit.” Erſteres gäbe ein
nichtöfagende Wiederholung des vor D vorhergegangenen
Gedankens, während letzteres den Grund anzugeben
dient, warum eine Wolke übergebreitet wird, naämlich
weil hier nichts als Derrlichkeit ift, die alſo geſchützt zu
werben verbient.
Seh 5,18.
Und wenn ed auch Hendewerk noch, öfter wieberholte,
daß in der Bibel der Begriff der Handlung fo inıy
verbunden mit bem Begriffe des Lohnes und ber Strafe
gedacht worden fey, daß fih bie Worte für jewen Be
geiff zugleich für diefen öfter geſetzt finden, fo heißt
doch weder jw noch mar jemald Strafe oder Berderben,
fondern es gefchieht nur dieß oftmals, daß im Habräiiun
das Berurfachende, die Sünde, genannt und zum Sub
jecte gemadht wird, wo wir das Bernrfachte, naͤmlich dei
Unheil nennen würden. Es verficht ſich von ſelbſt, daf
dann immer der Zuſammenhang feinen Zweifel über die
Meinung ded Gedankens läßt. Worans follte man aber
in obiger Stelle erkennen, daß⸗ „die Güude ziehen” ie
viel ſey, ale „dad aud der Bünde kommende Unheil
ziehen”. Befehen wir und ihr Einzelnes! Erſtlich ur
heißt nicht „zu ſich ziehen” oder „heranziehen,’’ fendern
immer entweder „lang ziehen” „der „längehle,” „fort⸗
oder „vorwärts ziehen.” Sodann weiß ich. nicht, mit
welchem Rechte Hitzig unter nr böfe Gefinnung verſteht,
im Gegenfage zu döfen Hanbiungen; in ber Lieberfehung
gibt er ed, weber bierza, noch zur wahren Bedeutung
von a5 paflend, mit „Zrevel.” me iſt Alles, deſſen Dr
fchaffenheit in Widerſpruch ſteht mit dem, was bavos
erfordert wird, oder mit den, was fein Anfchein ver
fpricht; daher iſt ed vornehmlich bie Richtigkeit und Lüge.
Wer nun die Sündigkeit und Berbrehtheit gieht mit Sei⸗
len der Lüge und Nichtigkeit, der tft. mit biefer ange
altteſtamentliche Stellen und Städe, 939
fpannt an jene und zieht mittelft derfelben jene fort and
weiter. Ber da Lüge: „es ift kein Gott,” den fpannt
diefe Füge an den Wagen leichtfinnigen Weſens. Welche
Lüge an unferer Stelle der Prophet meine, fagt er ſelbſt
im nächften Berfe.
Bu Je ſ. 5, 24.
Es wäre mir leid, wenn Jeſaja in dem genaunten
Verſe auf die Vergleichung mit der Stoppel, welche das.
Feuer verzehrt, und mit dem Zufammenfinten dürren
Halms, den man in Flamme gefeut hat, das Verglichene
in dem anderen Bilde des Verfanlens einer Pflanze, des
Wurmfraßes folgen ließe; denn unfchön wäre dieß doch
gewiß. Ic kann aber auch die Worte nicht fo verfichen.
„Ebenſo,“ fährt er vielmehr fort, „wird fie mein Zorn
verbrennen, daß ihre Wurzel feyu wirb wie ber Moder⸗
fanb unb ihre Gewächs wie der Aſchenſand.“ Als eine -
Pflanze. zwar ftellt er fie dar, um zu fagen, daß nichts
von ihnen übrig bleibt, aber diefer Pflanze widerfährt
nichts Anderes, als was bie vorhergegangene Verglei⸗
hung an die Hand gegeben hat. Die lebensträftige, das
Leben von ſich ausfendende Wurzel wird feyn wie das
Ergebniß der Todesverweiung, und das gefchloffene, ge,
altete Gewächſs, in welches die Pflanze ausläuft, in
welchem fie fi) vollendet, wird feyn, wie jener aſchen⸗
artige Staub, welcher keinerlei Seftalt und weder Ges
wicht noch Anfehen bat.
ef. 5, 30.
Wie fonnte nur Ewald die Worte rby > über
feßen „und über einem wird's toben,” und fo dem amı
und dem 759 zugleich ihre unzweifelhaften Subjecte neh:
men? Es iR platterdings. unmöglich, Sri? anders zu vers
ſtehen, als von dem, von welchem ed noch eben, indem
Theol, Stud, Jahrg. 1847. 63
940 Bofesanz
en mit Amen werglihen murke, zrım hieß, wämlid vom
Geoberenuolte nud Toy anders zu verſtehen, als mit Be
zug anf bem, weldger zum Bente merden ſollte, wämlid
vom ifranlitifchen Volle. Und eben fo numöglidh if es,
am anders zu überfeßen, ald wenige Werte vorher, alfe
nicht „toben,” wenn man vorher „ſtöhnen“ überfebt bat.
Aber ern ift aud) weder ſtöhnen noch toben, aud nicht
nes Kuuxren junger Löwen, weldhes noch Fein Deilen
‚ genauuk werben nun, ſondenn «6 bezeichnet, wie and
Deu Gteflen Prop. 19, 12. 30, & 26, 15, erfehen werben
Yan, jenes dumpfe Murren, jenes verhaltene Beh
ned Löwen, er ſey jung oder alt, welches dem Angrift
anf dem Feind: verhergeht; deu une fe fan has Er-
grimmen: eines Königs damit verglichen werden, auf we
ches fo gewiß Beuherben folge, als auf jenes verhals
Brullen. Daher folgt auch um au unferer Stele wi
, memit Das: laute Brüllen des daherko menden dr
wen gemeint iſt, und hat, mach ſich zo irn: ben Feind
anfichtig, gemorden, bricht: er in jenes desmpfe Narrer
ans, dann flürzst er ſich über denfelben ber. Wie zum
dieſes or an das dampfe Taſen bed zlinmenden Macs
erinneru kann, leuchtet won ſelbſt ein. Warum aber der
Prophet dat Ein winderheit,. daranuf autwortet das
beim zueitan Male beigegebeus Thy: was vorher aflgemein
gefagt war, das gilt jetzt infonderheit dem ifrnelitifhen
Volle. Diefem. wird der Zosurnf bed grimmigen Feindes
in bie Ohren fchallen, wie dad Bräflen der tobenden
See, mb van folgt unmittelbar auf rerz, und bed
überfeßt man unbedenfikch ya mit „Erde,“ im Gegen
faße zum. Himmel, fo daß dadurch Ewald foger werleitel
wird, arm» vom Donuen droben zu verftehen. Bildet es
denn aber nicht vielmehr einen Gegenfag zum Were!
Schaut nicht der. vom tafenben Meere Bebrehte rädwärt)
nach dem Sande, ab ew ed erreichen, dorthin fich reiten
altteftamentlidye Stellen und Stuͤcke. 941
könne? Iſt nicht ſeine Lage deßhalb ſo verzweifelt, weil
er landwärts nichts als Finſterniß ſteht, während von
der anderen Seite bie wilden Wogen gegen ihn daher⸗
braufen? fo daß folche Lage wie mit einem Worte fo bes
zeichnet werden fan: ramsa yar Tianı 2? Diefe Worte,
verfichert Geſenins, malen ganz unlbertrefflich den Kampf
zwifchen Licht und, Finſterniß, Glück und Unglück, eben
und Tod, Furcht nnd Hoffunung; er ſetzt nämlich voraus,
daß man Hiderfegen dürfe „bald Angit, bald Licht.”
Aber die Stellen, mit welchen er beweifen will, daß man
öfter „bald, bald” hinzudenken mäfle, bieten, wie man
von vorn herein erwarten fann, für biefen Zwed gar
nichts. Nicht getrennt wollen, wenn man bie Bocale beibes
hält, die Begriffe Az und "ir gedacht feyn, fondern viels
mehr wie einen einzigen wollen fie ausmachen. Darum aber
braucht Yix nicht aufzuhören, Subject von "Terı zu feyn;
die folgenden Worte find nur deßhalb durch einen Die.
flinctions abgetrennt, weil fie ſich nicht mie "he zuſam⸗
men fpredyen ließen, fo wie diefed zufammen mit "2 in
einem Athem gefproden feyn will. Beides auf einmal
foflte gefagt werden, Bedrängnig von ber einen Seite,
und auf der andern Licht, zur Finfterniß geworden. Die
Bedeutung „zerfiörte Trümmer” für rrns ft mit um fo
mehr Recht anfgegeben worden, als mr auch Hof. 10, 2,
nicht „zerftören” heißt, fondern feine gewöhnliche Bedeu⸗
tung hat, welche der fprachlühne Hofen nur ungewöhn⸗
lich, aber defto fchöner, auf Altäre anwendete. Aber von
dem ar Deut. 32, 2. bid zu dem Begriffe „Himmel” iſt
doch ein gar zu weiter Weg; felbft Nebel oder trübes
Gewölk liegt noch zu ferne. Bedenken wir, daß die Form
mit ald Subftantiv vorzüglich dient, Sahreszeiten nad
dem zu bezeichnen, wa® darin geſchieht, und daß bie
Piuralia wie zum, erp&s gerne die Handlung im Allges
meinen auddräden durch die Bielheit der einzelnen, fie
63 *
942 Hofmann
zum Inhalt habenden Vorgänge: fo werden wir für
erw die Bebentung „‚Negenzeit” in Anfpruch nehmen
dürfen, bei welcher ſich dann auch dad auf 77 bezägliche
Suffirum bequemer flellt, al& bei jenen anderen angenem:
menen Bedeutungen. Das Land hat feine Regenzeit,
fein winterliched Regenwetter, und in bem iſt das Licht
zur Finfterniß geworden, fo daß der vor den drohenden
Meeredöwogen fich Flüchtenbe, indem er rückwärts fchazt,
nichtö fieht, ale Finſterniß. Ebenfo, meint der Prophet,
wird Sfrael daheim nichts finden, als. winterliche Trok-
loſigkeit, wenn es fidy vor der von auswärte heranbran
fenden Gefahr zu feiner fonftigen Zuflucht, zu feinem hei
mifchen Gott und Gottedtempel wenden wird.
3u Sad. 9,1.
Seitdem Hengfienberg gründlich und erfchöpfend be
wiefen hat, daß mau von einer Stadt oder Laudfchaft rt
nichts wiffe, begnügt man ſich, dieß zu bekennen, ohne
doch die Meinung anfjugeben, daß ym für einen &
gennamen gehalten feyn wolle. Was Hengfenberg Abt
die Unmwahrfcheinlichkeit diefer Meinung unb über die wahr:
ſcheinlich fymbolifche Bedeutung des Wortes nicht minder
gründlich und richtig bemerkt, hat man umbeachtet gelaf
fen. Ich möchte aber anf feine Darlegung nicht hinge
wiefen haben, ohne zugleich zu fagen, wo ich von ihr
abweihe. Das perfifche Reich kann ſchon deßhalb nid!
rn par heißen, weil es ein Reich iR und kein Land;
fodann aber auch deßhalb nicht, weil es bie beiden Ad,
jectiva, aus welchen diefer Name zuſammengeſetzt er⸗
fcheint, nidyt wohl zu Prädicaten haben könnte. Denn“
beißt nicht „kräftig“ oder „mächtig,“ wie Hengftenberg
unverſehens vorausſetzt, fonderu „‚Icharf,” welchen Aus—⸗
druc auch wir ebenfowohl vom Laufe des Roſſes, «ld
von der Schneide des Schwertes gebrauchen. Zu dieſer
altteftamentliche . Stellen und Stuͤcke. 943
Bedeutung von m bildet I einen angemeſſenen Begen-
fa, indem es auch nicht „Ichwach” heißt, fondern „zart,
zärtlich ,” eine Bedeutung, in welcher ed 2 Sam. 3, 39,
nicht weniger paßt, als font. Nun konnte man. aber
vom yerfifhen Reiche weder Keurigleit und Schneidig«
feit, noch auch Zärtlichleit und Empfindlichfeit ausfagen,
wie ed denn auch dem Daniel in der Geftalt eines Bis
ren erfcheint. Es kommt hinzu, daß die ganze Kap. 9,1.
beginnende Weiffagung Sacharja's innerhalb Paläftina’s
oder, richtiger gefagt, inner dem Bereiche der davidi⸗
{hen Herrfchaft bleibt und des perfifchen Reiches weiter:
bin mit keinem Worte gedacht wird. Doch auch abger
fehen von dem Inhalte der folgenden Berfe, läßt ſich aus
bem Namen felbft beftimmen, welches Land gemeint fey.
Wo findet fich die auffallende Verbindung entgegengefehs
ter @igenfchaften, der Schneibdigleit des Schwerted und
Feurigkeit des Roffes auf der einen, der Zartheit eines
Kindes auf der andern Seite? Denn nicht erſt folgen foll
die eine Eigenſchaft auf die andere und eintreten flatt
der andern, wie es ſich Hengſtenberg zurechtlegt, fonbern
der feltfame Widerfpruch im Namen muß fi auch fin»
den in den Benannten. Wo anders aber findet fich dieß,
als im Volle Iſrael, das nicht bloß jekt ein Wurm und
dereinft ein fcharfer Drefhwagen, fondern das feinem
Weſen nad) beides zugleich ift, das eine von Natur, das
andere durch Jehova's Beil, weßhalb auch eined nach
dem andern hervortreten und diefelbe Zion, die jeber
Unbill preiögegeben fcheint, nach unferes Propheten Wors
ten (Rap. 9, 13.) zum Heldenfchwerte gemacht werden kann ?
Diefes Volkes Land ift Kanaan von der Grenze Aegyp⸗
tend bis Damaskus und Hamath. Seit David’s Reich
zerfallen war, rechneten fich auch die Philiftäer nicht mit
Iſrael zufammen, gefchweige die reichen Phönicier und
die Syrer des fchönen Damaskus; ber Prophet rechnet
968 Hofmem, allleſtamentliche Ctellen und Ctäde.
fie alle zur rm ya und nemut Damaskus gleich woran,
und Daun Hamath, von dem er fagt: ma-Dash muron,
Daß >33 mit folgendem = bie Bedeutung habe „an etwas
grenzen,” ſcheint wir fehr zweifelhaft. Sonſt heißt cd
„sine Grenze maden,” entweber von dem gebyandt,
welcher die Grenze sicht, oder von dem, was ale Grenze
dient. Hiernach überſetze ich: „auch Hamath fo eine Brenze
machen oder bilden im Lande Scharfgart,” nämlich, indem
ed auch zum Lande gehört, ein Gebiet befieiben aut
macht.
KRecenfionen
— — — ——
1.
Die Glanbenslehre der - evangelifch = reformirten Kirche,
dargeftellt und aus den Quellen belegt von D. Alexan⸗
der Schweizer. -Erfier Band. Zürich, bei Orell,
Füßli und Comp. 1844. ©. 498. XXIII. Zweiter
Band. Erfte Abtheilung. 1845. S. 274.
Der Muth ded Herrn Berfaflers, der feit Langem
verfanstenden Klage Troß zu bieten, daß die wiflenfchaft-
liche Gegenwart bei ihrer gerfplitternden Detailarbeit oder
ihrer abforbirenden Dienfifertigkeit gegen die unmittelbas
ren Tageöforberungen der ausdauernden Soncentration
ermangele, um dad Ganze einer Disciplin umfaflende
Werke and Fichte zu ftellen, tft um ſo höher zu achten,
weil er fi ein Dbject gewählt hat, das von Manchen
unter :die numöglichen Aufgaben gerechnet wurde. Ich
meine damit nicht jenes befannte Urtheil fehr lauter Stim⸗
men, welche. die unlengbar in der Zeitanfchanung einge
tretene Erfchütterung der Principten aller pofitiven Dog»
matid geradezu und in vollſter Zuverficht als den völligen
Tod der gefammten Theologie proclamiren, fondern ich
ſinde, daß Männer, deren Wort einen guten Klang hat
unter den Wuictoritäten der Theologie, dasjenige, was
der Berf. zu leiften begonnen hat, als etwas kaum Aus⸗
führbares begeichneten. So Nitzſch in der Necenfion von
Tweften’s luth. Dogmatif, Stud. u. Kritifen 1836, ©. 825.
Der Verf, wußte, was er that, wenn er fich von folchen
948 Sehweier
Stimmen wicht irren, fondern bloß bie Schwierigkeit der
Sade zum Bewußtfeyn bringen ließ, wenn er nicht bloß,
weſſen die Borrede gedenkt, die hundertiährige Brache
veformirter Dogmatik durch einen neuen Auban belebte,
fondern auch, um eine kirchliche Dogmatik der Refor-
mirten gu gewinnen, den conſtanten Ufus der biblifchen
Begründung aufgab, und die fonft fo differirenden Re
thoden der Gruppirung und Behandlung zu verfchmelzn
füchte, damit ein ganz im Geiſte und Tone ber ref. Recht⸗
glaupigkeit gehaltened Werk mit. einer dem gegeuwärtige
Stande der Dogmatik angemeflenen Architektonik und unter
dem Lichte der modernen Theslogie auftrete. Die Groß
artigleit bed Unternehmens, die wahrhafte Zeitgemäfheit
ber Leiflung wird Anerkennung finden, wenn and dad
almähliche Drientiren über manches Ungewohnte und le
berrafchende, dad und geboten wird, da und bort Zweifel
erweden mag, ob denn wirklich überall Die ref. Kirchen⸗
lehre rein nud allfeitig bargefiellt ſey, ob ber Berf, wirt:
lich Die unter fo divergenten Gchulformen werborgen
liegenden gemeiufamen Ideen genügend erhoben, ob er
wicht vielmehe Doch nur Eine Seite Ber ref, Dogmalil,
einen varhersichenden Typus berielben mit allzu geringer
Beachtung der anderen und wit alles raſcher Leberita
gung moberner Anfchausmgen auf beufelben gegeben habe.
Aber wie bem auch fen, ben -größten Dank verdient der
Verf. immerbin, Daß er ein Der theolagifchen Gegenwart
fo entſchwundenes Gebiet derſelben wieder nahe gebramt
bat, und wenn, wie es ſcheinen wid, bie nenanftanchende
Conſeſſlons polemit dabei irgendwie ſollicitirend mitwirlie,
fo wollen wir es und gern gefallen laſſen, daß fie ſoiche
Srüchte hervorruft, können auch Dem verbreiteten behag-
lichen lnionsfisehen kein heilſameres Befchent wänfchen,
als eine fo recht in die Kiefe gehende Aufhellung der
differenten Principien. Ref. bat ſchon früher auf die
noch angehobenen Schätze hiugewieſen, weiche die altıt
x
die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche. 949
formirte Dogmatif in fich birgt, und freut (ich nun, im
Berf. einen rüfligen Bearbeiter biefed Schachtes zu Nu⸗
Gen und Frommen ber Gegenwart zu finden.
Einleitungsweiſe beginnt der Berf. mit einer Ders
äudigung über den eigenthümlichen Geiſt und Charakter
der reformirten Gonfeffion, welchem vielleicht unnöthig,
oder wenn ja paflend, dann in faum entfprechender Kürze
eine Sharakteriftit des Proteſtantismus Kberhaupt gegen
den Katholicismus Yorausgefchicdt wird. An derfelben
it für das Folgende nur von Belang, was er über bie
wei Typen fagt, in welden fi der Proteſtantiomus
verwirklicht hat, in vier Saͤtzen, welche feine Auficht liber
dad Weſen der Differenzen und über die ethifche Stel⸗
lung beider proteftantifchen Kirchenparteien zu einander
ausbräcden und wovon ber erfte Sat (©. 5.) fo lautet:
„Die Berfchiebeuheit beider proteſtantiſchen Typen tft
nicht ald eine nur geisgentliche, zufällige, bloß in gewile
fen Lebrpunften vorhandene aufzufaflen, ſondern als
durchgeführte coufeſſionelle und kirchliche Befonderheit.“
Mag dieſe Behauptung vielen Theologen der Megenwart
fehr. ungewohnt lauten, fo ift bieß eben assch ein Reichen,
wie .nöthig ed wer, Daß einmal Durch eine zufammens
bängenbe und eingehende Darfichung des reformirten
Lehripftems dem fchwächlichen Geſchwaͤtze, dad ſich in Kolge
der Uniensbeſtrebungen über die bogmatifchen Differen⸗
zen breit macht, ein Ziel gefeßt werde. 6. 2, zeigt, daß
der refarmirten Eonfelfion im Unterſchiebe vom Iucherifchen
Typus ein eigenthäwlicher Geiſt und Charakter innewohnt,
der ſich in der ganzen Dogmatik, wie im kirchlichen Les
ben Tundgibt. Die Bewertungen bed Verf. zum Nach⸗
weiße feiner Theſe gegenüber der oberflächlichen Meinung,
ald ob a6 ſich bloß um etliche. Controverspuntte handle,
find eben fo überzeugend, als einfach, indem er zeigt,
wie Die werfchiedenen Gontroverfen weder bloß von eres
getifgen, noch von ſpeculativen Differenzen ausgehen,
950 Schweiger
noch auch ohne inneren Zufammenhang find, und wie felbk
einzelnen ref. Lehrern die einheitliche Duelle der Beſonder⸗
heiten ihres Lehrbegriffe zum Bewußtſeyn kam. Die
einheitliche Duelle muß: fofort von der Urt feyn, daß je
der Eontroveröpnnlt daraus abgeleitet und diefelbe Be
fonderheit der Geiſtesrichtung in den vom Gtreite [ches
bar gar wicht mit ergriffenen übrigen heilen des Lehr
begriffs nachgewiefen werden kann. Ein weiterer Schritt
it fofort, zu zeigen, daß die gemeinfame eimheitlice
. DOnelle der Differenzen in einer eigenthumlichen Befliumt-
beit des Seldſtbewußtſeyns, sicht außerhalb deſſelben, ewe
in der vorhaudenen Weltanficht berube. Zu dem Erde
werden die Mbleitungsverfuche der bedeutendften Theole
gen durchgegaugen, unb das Ungenügende derfelben nad.
gewiehen. Weder in politifchen Verhältniſſen, noch in
ſoientiſiſchen oder pſychelogiſchen Eigen humlichkeiten der
Reformatoren iſt der Grund der verſchiedenen Kircher⸗
nud Lehrbildung zu ſuchen. Auch die von Auberen [chen
angedenteten Erklteruugen aus eiwer eigenthämlichen reli⸗
diöſen Duelle werben beigebracht wub ungenügend befu
den. Wenn dieß auch -mit der von Herzog gegebene
gefchieht, weiche der Werf. dennoch wieder im Weſent⸗
lichen. als feine eigene aufnimmt, fo wäre ein weiteres
Eingehen anf die Auſicht dieſes Belchrien: erwänfct gu
weten, fchen damit alle Gerechtigkeit erfüllt und bemfelben
das Berbieufi eines höchſt glücklichen und lichtvollen Ap-
porgu,, webches ſeitdem fo ziemlich fihen ale Bemeingnt
behaudett wird, in dieſen Werke gewahrt werbe. Eigen:
thumlich . gehört dem Verf. an der durch eine Ueberſich
ber vefonmirten Dogmen gegebene Nachweis der antipe
ganifcyen Gruudrichtung des reformirten Yrotekautidun.
„Dar alle befonderen Dogmen ber ref. Gonfeſſlon zieh!
fich alfo die gemeinfame Grundrichtung, alles Heil, alın
Heilsentfcheid, alle Heilswirkſamkeit ſchlechthin allein Gott
azuzuſchreiben, als der unbebingt Alles beftimmenben Mad
die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche. 951
nirgends hingegen das Heil von creatärlichen Eutſchluſſen,
Handjungen oder Dingen und Ceremonien abhängig, oder
Gott in feinen Rathfchlüffen dadurch bedingt, oder auch
nur mit beftimmt zu benten.”
Der Berfafler fährt fort zu zeigen, daß diefes Prin⸗
cip ſich aud Einfluß verfchafft habe auf Diejenigen Dog
men, in welden Feine beftinmte Gontroverfe hervorge⸗
treten iſt, daß das ganze traditionelle Material dadurch
modifteiet worden fey. Hier wird ſchon von der Satis⸗
factionstheorie in einer Weife gehandelt, die allerbinge
ald Eonfequenz des firengen Denkens erfcheinen muß, bie
wir aber fpäter zu befprechen Gelegenheit haben werden.
Gebt geht der Berf. zuräd und beleuchtet bie oben anger
"führten Erflärungsverfuche näher, indem er fie zum Theile
ganz zurüdweilt, ale befeitigt burch dad gewonnene Res
fultat, theild ihre bedingte, fecundäre Geltung angefieht,
fo der humauiſtiſchen Bildung des Reformationdzeitalters.
Den Schein eines Widerfpruch® vermeidet er nicht, wenn
er (S. 28.) fagt: Die reformirte Eonfeſſion it im Unter⸗
fhiede von der Intherifchen namentlich aus ſtärkerem
Einfluffe der bumaniftifchen Bildung zu begreifen”, nach⸗
dem er oben diefen Unterſchied Doch auf eine audere Ei⸗
genthümlichkeit des religiöfen Selbſtbewußtſeyns redutirt
hatte. In der Ausführung befchräntt ex jenen Satz wies
der auf einzelne Dogmen, deren Qualität er früher gleich-
falls von jenem Einen Grundprincipe abgeleitet haste,
Natürlich wird mit biefem Humanismus in Berbindung
gebracht das kritifche Princip ber alleinigen Anerkennung
der h. Schrift als poſitiv normirendes Prineip. Daun
aber wirb die flärtere Hervorhebung der h. Schrift wies
der abhängig gemacht von der. überwiegend antipagani⸗
(hen Proteftation, und zulegt aus der Alles beherrſchen⸗
ben und beftimmenden Grundrichtung begriffen. Diefe
Grundrichtung, Beſtimmtheit der. hriftlichen Froͤmmigkeit,
Geſiunung, Tendenz, Jntereſſe ıc., wird beſtimmt im Ges
987 Schweiger
gerfade des Intherifchen Princips der Redgtfertigung
vdurch den Glauben, das ein authropologifches fey, als
vas theologifche der alleinigen Abhängigkeit ſchlechthin
von Bott. Auch das wird vielen Ohren ungewohnt and
widerwärtig Ningen, daß dad Princip der Rechtfertigung
durch deu Glauben nicht Bas Marerialpriucip der refer
mieten Kirchenſehre fey. Aber darin wird der Verf. ſieg⸗
reich Recht behalten, gefeht auch, daß feine Befliunmung
des reformirten Materiatprineipe noch angefochten wer⸗
den könnte, Daß das Bewußtſeyn fchlechthinniger Ab:
hängigfeit alles Ereatärlihen von Bert das eigentliche
Matertalprimeip der reformirten Confeſſton ſey, nicht ein
Dogma neben andem, fondern die alldurchdringende
Seele im der ganzen. Dogmatit, das erweift er zumal
ans dem ihr eigenthumlichen Lehren, ſodaun amd ben ie
neren Streitigkeiten ımd aus den vorzüglichſten Angriffen
wider dieſe Gomfeffion. Die eigenthümlichen Lehren wer:
den nach Budde und Stapfer angeführt, auch der Gtreit
über die Fundamentalartikel und die Zuläffigkeit einer
Maion hierher gezogen und nachgewiefen, daß ſelbſt über
bas formale Schriftprincip das materiale der gioris dei
geſlellt ſey. Die Innern Streitigkeiten antangend, fo de
wein fon die amabaptifiiiche Negung, welche iw ihrem
bogmatifchen Grunde nur eine gefühtig ſchwärmeriſche
Ueberbietung des veformirten Principe war und amd von
Zwingli dafür erkannt wurde, ſowie die antitrinitariſche,
ale eine in der Edionitismus zuruckgehende verſtandes⸗
mäßige Proteſtation wider den Paganismus, für die an
gegebene Eigenthümlichkeit des Princips. Godanı bildet
der Arminianismus eine mißverftändliche Reaction gegen
dieſes Doch im Ganzen wieder anerkannte Princip ſchlecht⸗
hiniger Abhängigigkeit, wie auch die Theologie von San
mar, wogegen bie dortrechte Befchtüflfe und der consensu
bie Grundeigenthümlichkeit vor ihren Abſchwächung
fchüßten. Damit hängt zuſammen ber Hauptvorwurf,
die Glaubenslehre der evangelifchsteformirt. Kirche. 953
daß das Syſtenm Gott zum Urheber der Ghude made,
daß es bie Freiheit aufhebe und bie Meral untergrabe,
Diefe beideu werden erklärt und: Bad Wahre davon anf
jenes confequent fefigebaltene Princip redneirt.
Ohne Zweifel liegt eines der Hauptverbienfe vorlie⸗
genden Werkes in diefer Debaction, und fowohl bie in»
geniöfe Heuriſtik, ald der Scharffinm und die Gelehrfams
teis, womit die Momente zuſammengeſtellt und auf das
beabfichtigte Ziel hingelenft werden, mäflen Anerfeunung
finden. Ueber dad Refultat felbk und die gewomene
Eaflung des eigenthämlichen Principe iſt noch ein gewiſſes
Schwanken der Aufichten bemerkbar. Reformirte Theo:
Iogen haben ſich über diefen Punkt nur mit zweifelndem
Bedenken erilärt (ſo im fchweizeriichen Kirchenblatte).
Allerdings find die Ausſtellungen und Bedenken etwas
nunfiher. Nur Eines fcheint beachtenswerth, daß der Verf,
fo ohne Weiteres das Princip Ber reformierten Dogmetif
und das eigenthümliche Princip der veformirten Confeſſton
ober Kirche identiſch nehme, Freilich kann dieß nicht ge⸗
nügen, dem Verf. entgegenzutreten, noch weniger, wenn
Andere bloß von einer willkurlichen Uebertragung fchleiers
macher’fcher Kategorien auf das alte Syſtem ſprechen.
Die Wichtigkeit der Sache und der Wert des vom Berf.
in jebem Kalle GSeleifteten, das nothwendig von jebt an
der Audgangspundt jeden dießfallſigen Discuffion werben
muß, erfordert ed, bag wir hier etwas tiefer eingehen.
Wenn er am Scluffe (S. 83.) zuſammenfaſſend fagt:
„So iſt der reformirte Lehrbegriff gegen die paganifch
anfgefaßten Mißbrauche der. Kirche confequßnt auf das
ſchlechthinige Abhängigkeitögefühl aufgebaut ıc.,’” fo kann
man fürs Erſte zugeben, daß hiermit die Tendenz und
das Intereſſe der reformatorifchen Lehränderung bezeich:
net fey und daß eine mit folchem Ssutereffe zufammenr
bängende Gautel die ganze folgende poſitive Dogmenge-
Raltung bee veformirten Kirche geleitet habe, befonbers
954 Schweizer
im Gegenfage gegen bie Intherifche, in welcher man im⸗
mer noch katholiſche Reſte zu bemerken glaubte. Allein
damit ift doch keineswegs das materiale Princip diefer
: Dogmenbildung ſelbſt gegeben, fonft müßte fih ja ame
jenem ſchlechthinigen Abhängigkeitsgefühle die Lehrerpli-
cation ableiten laffen. Run aber ift das geſammte Ma⸗
terial der Dogmen dad traditionell Uebernommene, wenn
auch mit Borherrfchen der Anficht, es bioß.der Schrift
entnommen zu haben. Das Bewußtſeyn des Gündens
elends umd ber durch Chriſtus gefchehenen Erlöfung iR
fo ſehr der Brundton auch der reformirten Frömmigleit
und deſſen Ichrhafte Firirung fo fehr audı die Hauptauf—⸗
gabe der rveformirten Dogmatik, daß man wohl fager
kann: in ber Art, wie jenes Bewußtſeyn im Bubjecte
verwirklicht und wie es von der Dogmatif Ichrhaft ſi⸗
rirt wirb, if allerdings das Gefühl der fchlechthimigen
Abhaͤngigkeit von Bott witgeſetzt, und biefes gibt jenem
Stoffe feine beſtimmte formelle Geſtalt; allein dieß Ge
fühl fchlechthiniger Abhängigkeit ift nicht das urfpräng
lihe Grundgefühl, welches jemed Bewußtfeyn gleichjam
. trägt und aus fidh hervorgehen läßt, fondern bafelbe
entfieht für die reformirte Frömmigkeit erſt aus dem Be
wußtfeyu der Sünde und Erlöfung und mobifteirt fo rea⸗
girend dieſes Bewußtſeyn wieder auf eigenthümliche Weile.
Der Urquell des Autipaganismus iſt nicht jenes ſchlecht⸗
binige Abhängigkeitegefühl in feiner abftracten Geſtalt,
fondern das Bewußtſeyn des alleinigen Heils in ort
burch EChriſtus. Kürd Zweite muß zwar allerbings eine
gewiffe Einheit des urfpränglichen Reformationsprincipe
und des Principe der reformirten Lehrbildung feftgehal:
ten, aber dabei muß ein Zweifadhes wohl beadytet wer
den, einmal, wie fid dad Reformationspriueip gerade
in feiner urfprünglichen Aeußerung zu ber Dogmenbilbung
überhaupt verhalten hat, fobann, wie der allmähliche Aus:
bau des Lehrſyſtems von wmannichfaltigen anderen Ein:
—
Ta w.
die Glaubenslehre der evangelifchsreformirt. Kirche. 959
fiaffen bedingt war. Allerdings gehört das leßtere mehr
der dogmengefchichtlichen Betrachtung an, aber auch die
rein ſyſtematiſche, fofern fie doch eine verſtändliche Res
production des gefchichtlih gegebenen veformirten Lehr:
foftems feyn will, kann fi kaum von einer Rüdfichts
nahme daranf diöpenfiren, wenn fie nicht z. B. was bloß
nachweisbare Schulconfequenz iſt umb Product der bes
Rimmten Zeitform des objectiven Bewußtſeyns, übereilt
and jener angenommenen Grundbeftimmtheit des from:
men Selbſtbewußtſeyns ableiten will. Die treibende Seele
der Reformation Zwingli’d war nun anerfannt die Tens
denz, die rechte Gottesverehrung herzuſtellen, das ger
fammte religiöfe Leben zu reinigen. Als Norm für diefen
praßtifchen Zwed, al6 Antrieb und Grundlage für das
praktifche Berhalten der Frömmigkeit Überhaupt war ihm
das rveinere Gottesbewußtſeyn aufgegangen, galt ihm
: jene alled Greatürliche durchdringend überragende gött
: lihe Allwirkſamkeit. Um das durch folched reinere Gots
: teöbemußtfeyn beftimmte hun des Subjects hambelte
ſich's ihm vor allem, weilmur in folder Gottgemeinfchaft
on a WW
-—
—
dad Heil des Subjectö beſteht. Es möchte nun nicht fchwer
feyn, wachzuweifen, daß die gefammte eigenthüumlich res
formirte Dogmenbildung , fofern fie auf religiöfe Brände
snrüdgeführt kaun werden, demfelben Impulſe folgt und
dad puenmatifche, gottbeftimmte, der Bottbeftimmtheit be;
wußte Handeln, das perfönlich thätige Mitbetheiligtſeyn
des Subjects bei den Gnaden⸗Z und Heildacten Gottes,
durh Die Blanbenswahrheit hervorzurufen und alfo
die glorla dei auszubreiten firebt. Hierher gehört die ei⸗
genthämliche praktiſche Myſtik fo vieler Antworten des
heidelberger Katechiömus, fo wie. der felbft in fcholaftis
‚ Shen Eompendien den Kapiteln angehängte usas practicus,
Ich fagte oben nicht ohne Urſache: fofern fie auf religiös
ſen Grund zurüdgeführt kann werden, benn allerdings
hat, wie bei Zwingli u. 9. die milde, fo häufig
Thbeol. Stud, Jahrg. 1847,
956 . Schweizer
und gerabe bei deu Korpphäen der Dogmatik bie jari:
ſtiſche Bildung , fpäter die philoſophiſche Schullehre dei
Remus (bei den Genfern feit Wedel herrſchend) und Car⸗
teſius ſehr bedeutend eiugewirkt, Uebrigens hat gerad
jene praktifche Tendenz des Dogma bem Zug anf Ber
ſtaͤndigkeit fo mit fich geführt, daß ſich hier gar leid
jede Reflexionsphilofophie anfchließen konnte. Wollte ma
nun die ſyſtematiſchen Eonfequenzen des Determinidmu,
welche ſich immer weiter ins Einzelne entwidelten, mi
Abſehen von der dualiftifchmechaniichen Weltanſicht, we
durch fie mobiftcire wurden, doch auch von jenem religis
fen Grundgefühl ableiten, fo würbe man verkennen, wu
gerade bei Calvin, indem doc das religiäfe Erunbgefäll
am lebendigen war, fie nicht gezogen Find, wie ſeht
bald die freie Bewegung der Dogmatif bei ſtockender Pal
firung des frifchen religiöfen Lebens in eine fleife Conſer
vation ded gewonnenen Syſtems überging , welde bie
noch eine formelle Bewegung gefattete, und wie gerade
um die Zeit des Abſchluſſes ꝓurch die bordrechter Synede
bei den Theologen dad Bewußtſeyn ausgeſprochen wer,
daß man in folchen Eonfequenzen nur ber sana ratio felj‘
(Vedelius, Rationale theologicum in der Debicatiet:
Drittens fällt es auf, daß der Verf., der den Anabaptile
und Unitariern die Ehre anthut, fie zu Zengen bed 1m
formirten Principe zu machen, vom Methodismus, we
cher fich gerade au der Älteren, reineren euglifchen kitlo
ratur aufrankte und in weiten Kreifen ber ihr Blanker*
bewußtfenn reflitnirenden reformirten Kirche eine Mad!
geworden if, fchweigt und den Pietismus fo hartsälü
dem reformirten Weſen entgegenfebt, ba doch gerade fr
formirte Einfläffe auf Spener biftorifch gewiß find sm
ein Eindringen reformirter Eigenthümlichkeit in das kuther
thum durch den Pietismus anerfannt iſt (Gobel). Den ker
ren bIoß ald Reactiongegen das lutheriſche Princip derKedt
fertigung aflein burch Den Blanben aufzwfaffen, iſt jedenfele
N
die Blaubenslehre der evangelifchsreformirt. Kirche. 957
ungenan, denn biefe Thefe ſtand den Pietiften ſtets fe,
aber den Glauben und die Rechtfertigung beftimmten fie
reformiert. Bei dem Gebrauche, der von den Anabap⸗
tiften und Unitariern gemacht wird, fcheint ed nothwendig
zu feyn, baß der Berf. auch die charalteristifchen Unter⸗
fhiede der reformirten Richtung von der auabaptiftifchen
and muitarifchen beſtimmter herandgehoben hätte; dieß
um fo mehr, da er die Eonfequenz ber reformirten Lehre
fo fehr rühmt und den Anabaptiömud doch auch nur
für eine ertreme Conſequenz des reformirten Principe ers
klärt. Wenn er jenes that, fo würde er auf eine Ans
fiht von der Geltung des Aeußeren, von hiftorifcher
Eutwickelung und Gontiunität der Tradition geführt wor⸗
den feyn, weldhe einige Mobificetion in feine Beſtim⸗
mung bes reformirten Principe gebracht hätte. Biertens:
daß der Arminianiömus, wie der Berf. zeigt, felbit faſt
kirchlich werden konnte, alfo echt reformirt und nur eine
temperirte Orthodoxie iR, daß fogar die fchärfere Faſ⸗
fung ber Lehre zu Dordrecht ihm gegenüber nicht die fs
pralapfarifche Conſequenz auöfprach: beides könnte man
umgelehrt ald Beweid gegen den Verf. geltend machen,
wenn er die Seele der reformirten Confeſſion in dem
theologifchen Principe ber abfoluten Determination durch
Gott findet. Gerade bie dordrechter Verhandlungen zei⸗
gen, wie ed fo wenig als bei Auguflin die Theologie
war, aus weicher jene Lehren .entfprangen, fonderu ber
anthropologifche Boden, das Gebiet der individuellen
Heilsgewinnung, gleichwie hier die arminifche Abwei⸗
hung entſtanden war. Alle theologifchen Säte find of
fenbar bloße Hülfefäte und drüden nicht die Alles beftims .
mende GÖrundanfchauung aus, fonft mußte die Scheu
vor dem theologifch nothwendigen Supralapfariömus über:
wunden werden. Der Kampf gegen Saumur ift unleugs
bar bloß eine Frucht der Schulfteifheit, da weder bei
ben Solmurienfern ein geringeredö Gewicht auf. die
64 * ⸗
958. Schweizer
zuletzt Alles bedingende Heilsgnade gelegt wurde, neh
bei den Gegnern, die fi bloß an dem abweichenden
Ausdrucke Kießen, eine Entgeguung vorkam, welde anfbie
geradehin theologifchen Gründe jener Abweichung einging,
vielmehr noch in der nachzitternden Augſt z. B. der Züricer
diefe Neuerung gerade nur die Furcht über die Befähr
dung der reinen chriftlihen Moral hervortritt. Yänftens
laͤßt ſich gegen die argumentative Benupung der Lehr
fireitigleiten innerhalb der reformirten Kirche, fo gtäd
lich im Allgemeinen der Gedanke derfelben it, bod Feb
gendes bemerken: Zu einer Induction reichen bie ange
führten nicht bin, geſetzt aud, was wir wicht zugeben
tönnen, daß fie durchweg ins rechte Licht geſtellt wäre.
Sind fie auch die für Die Sefchichte der reformirten Kirct
wichtigften, fo find fie gerade für die Lehrbildung nic
die wichtigften. Selbſt die Bäter von Dorbrecdht ware
nur confervativ; Nemes ift bei ihnen nicht zu Tage ge
fonımen. Sie find aber and wicht vollfländig. Di
Streitigkeiten mit den Antinomiften (ferilich meint de
Berf., die reformirte Kirche fey von Aminomismus fi
geblieben), die übrigen Streitigkeiten mit den Solmuries
fern (Zurechnung), ja felbfi die über Infpiration der de ⸗
cale find dogmatifch auch höchk- bedeutend geweſen, die
Iegtere namentlich von Bewußtſeyn begleitet, die ref
mirte antipaganifche Eigenthümlichkeit gu bewahren. Tab
lich die fo intereffante und eingreifende pißcatorifche Com
troverfe über den thätigen Gehorſam Chriſti, von web
cher eine angenfcdeinlihe Modification der Lehre vom
Amte Ehrifti herbatirt, wird wohl nicht weniger in Be
tracht kommen dürfen, wenn es ſich um Belenchtung dei
reformirten Princips durch die inneren Lehrbewegange
handelt. Mit Nüdfiht auf dieſe, den obigen beigefelt,
ließe fich wenigftend eben fo gut fagen: das eigenchäm
liche Princip der reformirten Doctrin wurzelt im DM
praftifchen Lehren der Anthropologie. Cine eigentid
die Glaubenslehre ber evangelifchereformirt. Kirche. 959
theologifche Arbeit hat die Kirche in ber griechiichen Blü⸗
thenperiode verrichtet, und ed gehört zu den auerfannten
Geſichtspunkten der Dogmengefchichte, daß die gefammte
abendländifche Dogmenbildung von der Anthropologie
audgehe. Sollte nun die Reformation, diefe Emancipas
tion der Bnbjectivität, und zwar gerade die reformirte
Reformation, dieſe vollſtändigſte Emancipation des Subs
jectd, jene unbegreifliche Anomalie darftelen? Sollte das
Eine Prädeflinationsdogma (denn von dem übrigen theos
logiſchen Inhalte ift ja zugegeben, daß er im reformir;
ten Spfleme kanm eine eigenthümliche Behandlung er-
fahren bat) hinreichen, biefe Behauptung zu begründen ?
Immer mößte dann wenigfiend die theologifche Ratur
des Prädeſtinatiousdogma's ſelbſt ficherer fteben.
Hat der Verf. auch entſchieden Recht, Lange's Ent⸗
gegenſetzung der lutheriſchen und reformirten Doctrin,
wonach jene von der Theologie, dieſe von der Anthro⸗
pologie ausgehen ſoll, zu verwerfen, fo möchte feine um⸗
gefehrte Theſe eben fo wenig bewielen ſeyn. Ueberhaupt
it mit folchen Kategorien gar wenig gewonnen; eine fchein»
bare Begründung läßt fi immer geben, Ref. wäre z. B.
nicht verlegen, durchzuführen, daß die Iutherifche Docr
trin hauptfächlich chriſtologiſch, die reformirte pneuma⸗
tologiſch ſey. WIN man das Iutherifche Princip ber
Rechtfertigung durch den Glauben, das ja ein göttliched
Thun auf den Menfchen febt, ein anthropologifches neus
nen, fo if das reformirte der fchlechthinigen Abhängig>
keit, wenn wir und diefen Ausdruck gefallen Iaffen, nicht
in höherem Grade ein theologifched, fondern nur ein abs
ſtrakteres. Goncret wird ed dem reformirten Frommen nur
als Bewußtfeyn der Gemeinſchaft mit dem heilfchaffen-
den Gott, das bad Bewußtfeyn des Heilsbedürfniſſes
vorandfeßt und fich vollendet in der certitudo salutis,
nämlich ald der durch Ghriftus gewonnenen salus des
Subjects. Wir werden fomit beide eben fo theologifch
960 . Schweizer
wie anthropologifch nennen dürfen. Iſt doch bie gloria
dei uur ald etwas, bad auch durch mich und au mir fel
verwirklicht werden, und worin id) eben weine Seligkeit
habe, Princip der Religion, und zwar fo gut ben Luther
ranern als den Neformirten. Die eigenthümliche Ber:
fchiedenheit beider Doctrinen liegt ganz anderswo, ald
woher fie Lange und der Berf. ableiten. Es iſt eine an⸗
bere religiöfe und ethifche Pſychologie, welche ſich mit
Hinzutreten objectiver Begriffe zum verfchiedenen Dez:
menſyſteme geftaltet und den traditionellen Glaubens
off eigenthümlich modifteirt. Auch hier möchten Herzogs
Andentungen die richtigen Fingerzeige enthalten. Der
Lutheraner bebarf bei vorherrfchendem Schuldbewußtſegn
ber Rechtfertigung. Er gewinnt fie in dem durch dm |
Geift gewirkten Glauben an Chriſtus. Der Moment,
da dem landen die Rechtfertigung wird eben als ein
objectine göttliche Action, deren Gegenftand das Subjet
it, iſt bier der eigentlich prineipale. Mit ihm beginnt
der Gnadenftand für den Lutheraner, deffen Gottes:
wußtſeyn vornehmlich ift der Koefficient des zurecdhnenden
Gewiſſens. Der Reformirte hat vorherrfchend das Gr
fühl der Hemmung, des Elendé; er bedarf der fördern
den Heilung. Diefe beginnt mit der Entftehung dei
Glaubens. Der Glaube, wenn rechter Art, eine wirt
lihe unio cum Christo, hat ſchon im erſten Moment
alle Heilsſchätze in ſich und die einflige Seligkeit gewiß,
wenn ihm gleich diefe Gewißheit erft nach und nad auf
geht, Aber ob ich den rechten Glauben habe, alfo mit
Ehriſtus unixt und feiner Gnadenſchätze theilhaftig bir,
deſſen kann ich nur gewiß werben durch meine Werfe.
Das religiöfe Selbſtbewußtſeyn hat fih ale ſolche⸗s nat
feft in der Energie des Willend. Der objective Grund
meiner Werke, ald wozu ich durch den Glquben ſtets ge⸗
trieben bin, und meines Glaubens, als ihrde Wurzel, iR
Gottes wiedergebärende Gnade. Hire if} nicht bie ZA
*
ı
die Glaubenslehre ber evangelifchsreformirt. Kirche. 961
Iung ded Glaubens mit Rechtfertigung, fondern die Ent:
Rehung des Glaubens ſelbſt der principale Punkt; das
Sottedbewußtfeyn hauptfächlich der Goefficient des ans
treibenden , vorfchreibenden Gewiſſens, das als h. Geiſt
in der novitas das Alte andlöfcht. Hierauf berußt der
Intherifche Borwurf der judatftifchen Gefeblichkeit, hierauf
aber auch die Rothwendigkeit, eben um das Bewußtſeyn
des Heild aus Gnaden feitzubalten und die Dazu nöthige
Reinheit des Strebend zu wahren, ed ſchlechthin auf
Gottes Than, auf die freie Bnade, auf den ewigen de-
lectus gnrüctzubegiehen: Bon diefer Seite, alfo ausgehend
von der. beiderfeitigen Berfchiebenheit des religiöſen Les
bene felb und ben darauf bezüglichen boctrinellen Feſt⸗
kelungen, würde ich die Eigenthümlichkeit der reformir«
ten Lehre im Gegenfaße zu der Iutherifchen zu beftimmen
ſuchen und gerade glauben, die religiöfe Eigenthümlich⸗
feit reiner zu erhalten, ald auf dem Wege des Verf,
weicher Baum gegen die Befahr geſchützt feheint, feinem
ziemlich abfkracten Principe durch bloße fecundäre, fchon
der Schulwelßheit angehörige Hälfsvorftellungen fcheins
baren Nutzen zu geben und daher eine reiche Entwicke⸗
lang eigenthümlich reformirter Glaubensvorſtellungen ig»
noriren oder befeitigen zu müflen. eine Geringadtung
ber Gonfeffionsichriften, feine völlige Nichtbeachtung der
fo lehrreichen nnd an dogmatifcher PBräciflon nicht zurück⸗
ſtehenden Tatechetifchen Fitteratur (nur Leydecker ift anges
führe) fcheint von einer Anficht bedingt, welche bie eis
gentliche Syſtematiſirung höher ſtellt, ale die Natur der
veformirten Doctrin erlanbt und ſich das Berhältniß bes
Dogma’d zur elementaren religiöfen Vorſtellung übers
haupt burch das Intereſſe des objectiven, philofophiichen
Erkennens trüben läßt. Freilich, da der Verf. nicht bloß,
was er zumäghft verheißt, eine unferer Zeit verftändliche
Darlegung: 8‘ orthodoxen Lehrſyſtems der reformirten
Kirche geben: wollte, fondern fein Buch auch dazu bes
Me Fr :
7
962 5 Schrweiger
ſtiennt hat, in demſelben ein Muſter confequenter Durch⸗
arbeitung zu zeigen, das für die Weiterbildung ber Dog⸗
matit überhaupt dienen fol, fo wird er für fein Berfab-
ren das Recht der Eigenthümlichkeit in biefer Beziehung
um fo mehr in Anfpruch nehmen dürfen, ale er fi da
mit nur den von ihm verzeichneten Borgängern anfchließt,
welche der jededmaligen Zeitphilofophie einen fehr großen
und temperirenden Einfluß geflatteten, überhaupt aber
die reformierten Dogmatiler der Uebereinſtimmung mit
der sana ratio auch vor GSartefind ſich geru erfreuten.
Kap, II. behandelt die Geſtaltung und Litteratur ber
reformirten Dogmatik faumt den Onellen, aus welden
das Lehrfuftem gefchöpft wird. Die fogenaunten Gym
bole reichen nicht and, um daflelbe vollftändig und feharf
zu entwideln. Sie werden auf eine Art charakteriftt,
wie bieß. wohl fonft von Intherifchen Polemikern gefchab,
nämlich ald der eroterifchen Lehrart angehörig, hinter der
fih eine efoterifche, Die eigentlich dogmatiſche, verbarg.
Der fel, Scheibel fände bier feinen Lieblingsvorwurf von
seformirtem Spiepriefteethume beflätigt. Nur aus ber
Schuldogmatik fey gu ſchöpfen, wobei die gerühmte Gen
fequenz zu Hülfe tomme, dad eigentlich Kirchliche von
Privatanfichten zu unterfcheiden (9). ine Ueberſicht der
Haupteutwidelungen der Schuld ogmatik ſchließt ich an,
- welche mit einer Charakteriſtik Schleiermader’s im Ber
hältniffe zum reformirten Lehrſyſteme eudigt und fobanz
die verfchiedenen Methoden befpricht, die aber alle zuleht
auf Einen Grundtypus zurückgehen. Wir können uns bei
dieſem werthvollen Abſchnitte, in welchen der Verf. eine
ſeltene Bekauntſchaft mit den älteren Dogmatikern ver
räth und höchſt lehrreiche Fingerzeige gibt, nicht anfhal⸗
ten und bemerfen bloß, baß er der reformirten Dogma
tif al& einer wefentlich fpeculativen Die deducirende Mer
thode vindicirt, welche, von der Idee Gottes ausgehend,
zu feinen idealen Thätigleiten und beren realer Ausfäd
die Glaubenslehre der evaugeliſch reformirt. Kirche. 963
rung fortſchreitet. Der Intherifchen Dogmatik, meint er,
fey die Methobe aufgegeben geweſen, welche vom Men⸗
fhen ausgehen nud bei Gott und feinen decretis enden
follte._ Nun fey .diefe aber fchon von Melanchthon vers
wifcht werden, welcher ebenfalls fpeculativ vom Grunde
aller Dinge, von Bott, ausging, daun zu ben Mitteln
der Seligkeit, zur Beſtiumung des Menfchen überging,
was dann bid Calirt conflaut geblieben ſey. Es mund
nun höchſt auffallend erfcheinen, daß die Imtherifche Dog»
matik gerade in der Zeit der räftigftien orthoderen Blüthe
ſich der reformirten Methode bedient, alfo gänzlich ihre
eigene Natur entäußert haben fol. Zu diefem Auffallen«
den anf der einen Geite kommt ein nicht minder Auffals
lendes anf der auderen. Wie fern ift gerade Galein, dee
Bater der reformirten Dogmatil, von diefer Methode?
Zwar ſucht ihn der Berf. (S. 100.) ganz anf demfelben
Gange zu finden, geht aber flüchtig darüber hinweg umb
führt felbfk eine Ausnahme au, welde geradezu die ganze
Behauptung vernichtet. Sodann aber it wohl zu beach»
ten, daß feit der Ginführung des heidelberger Katechts⸗
mus auf den meilten reformierten Lehranfalten der dogs
matifche Uinterricht nur in: einer Analyſe dieſes Lehrbuches
beftand, das von jener Methode am allerweitchten ent⸗
fernt if. Diefe ganze quantitatio fo audgebehute nnd
qualitativ fo mannichfaltige Elaffe Dogmatifcher Lehrbu⸗
cher, als beren erfied Ursini explicatto erfcheint, und welche
die bisherigen loci commımes, die auch gar nicht dedu⸗
cirenb waren, ablöften, muß der Berf, ignoriren, um
feine Theorie von der dedneirenden reformirten Methode
feftzubalten, welche nur von einer verhältnißmäßig Fleis
nen Zahl von Dogmatifern befolgt wurde. Schon das
Weitere, was ber Berf. als befonders charakteriftifch für Die
reformirte Behandlung anführt, Die fehr beliebte Unterſchei⸗
dung ber Födera nnd Delonomien, weift aufeine ganz andere,
als jene fpecnlativo dedneirende Methode hin. Gerade'in dem
Buubeöverhältuiffe wird eine Gelbkäudigleit des religiſer
Oubjectö geſetzt, welche beider theologifchen Debuction dei
Berf, ich nicht wohl ergibt, und ſelbſt die Ginkleibun
bed ewigen Heildrathfchinfies in bie Form einer Bunder⸗
verbaudblang ift angenfcheislich nur Übergetragen and der
unmittelbaren religiöfen Berhältuiffe ded Jadivibuume. —
Höchft erwänfcht für Die Mehrzahl der Leſer wird die
Ueberficht der bebentendfien reformirten Dogmatiler feys
($. 22.), da dieß ganze Tilteraturgebier zu ber terrı =
ooguita deu neneren Theologie gehört und in den Gem:
pondien der Dogmengeichichte kaum won dem einen od
audern Rotiz genommen if. : Ueber bie Art ihrer Be
nusung ‚Außert ſich der Verßẽ dahia⸗ daß für jede Ent
wickelyugophaſe einige anerfisinte. Lechrbucher zu gebras:
hen: ſeyen. In der Borrebe gibt er aber zw, daß hierin
beine: Gleichmäßigkeit herricht. Ref. wärde:ale hierin ar
zuſtredendes Ziel betrachten, für jeden Lehrſatz aus alın
befonderen Schulen die Hauptzengen zu wählen un
biefe um ‘die fymbolifchen Beſtimmungen 'umb die um
fprünglichen FZaflungen der Reformateren zu gruppise.
Aus diefer Mannichfaltigkeit der Erpefition Kieße ich au
ficherieu das gemeinfame Riformirte, wie es burd alt
seitlichen Formen und Methoden burchichlägt, erfcams;
die einzelnen Dogmen ließen fich in größter Reinheit faf-
fen, und das ſcheint für den Augenblick wichtiger, ald
bie Sphtematifisung, weßhalb Ref. bei aller Auerfeuauss
ber nom Verf. gewählten Architektonik, auf die wir frd
ver zurücdtommen, doch die urfprüngliche Localmethode
gewählt wänfchte, welcher nur eine genane Gherakıri
Rit der. auderen complicirteren Methoden voranszuſchider
war. “Sehr geiſtreich hat der Verf. die alte Unterſcheu
dung von foedns neturae unb gratise und bie fpätere vor
religio ‚neturalis und revelata auf einander rebacirt zn
darauf feine @incheilung ber Dogmatil gegründet, ab!
eben dadurch, auftatt beiden gewöhnlichen Methode
die Blaubensiehre ber evangelifihereformirt. Kirche. 965
gleichmäßig zu Ihrem Rechte gu verhelfen, eine britte neme
geltend gemacht, von welcher ſchwerlich wird gefagt were
den Birnen, daß fle in gleichen Grade der altreformirten
Behandinngsart der Dogmen, mie den Begriffen der
modernen Religionsphilofophie entfpricht. Ueberhaupt
iſt nicht zu verfennen, daß der eigentlichen Religionsphis
loſophie ein Einfinß geftatter ift, wie ihn wohl faum nur
die eine und andere (Schule der reformirten Dogmatif
würde gutgeheißen haben, und wedurd der größte Theil
der Schulen abgehalten werden würde, firenge Drtho⸗
dorie anzuerkennen. Hätte der Berf. babei nur dasjenige _
abgewifcht, was in der älteren Dogmatik der bamaligen
objectiven Weltanfchauung angehört, und dafür den al
ten religiöfen Stoff nur in der modernen Vorſtellungs⸗
und Begrifföform verarbeitet: fo wäre fein Berfahren
im Allgemeinen wohl über Einwendungen erhaben. Us
lein es if fehr Die Frage, ob durch die vorgenommene
Umgeftaltung ber Gehalt des fromm empfindenden Selbſt⸗
bewußeſeyns, das fpecififch reformirte Gefühl nicht vielfach
alterire worden iſt. Wahrfcheinlich muß dieß ſchon der Um⸗
fand erfcheinen laffen, daß der Berf. einerſeits (S. 88.) die
reformirte Orthodoxie in der Form eines der damaligen
mechantfchen Weltanfiht angehörigen, aͤllzu mechaniſch
Vorgeftellten Determinismus finder, nnd doch anderer,
feits (S. 137.) den Gründern des Lehrbegriffö die nicht
mechanifche immanente Gottedvorftelung vindicirt, ale
den mit dem religisfen Grundgeflhle nahe verwandten
zweiten Factor der Dogmenbildung, welche nur fo nadı
der wahren dogmatifchen Grundidee vor fich gehen fonnte.
Entweder fcheint er fo der fpätern orthodören Dogmens
bildung eine Berunreinigung des religiäfen Grundgefühls
feld Schuld geben zu müffen, weil diefes nur in der
Einheit mit jener Weltanficht fich als die dogmatifche
Grundidee bethätigen fann, dann füllt aber das Recht
dinweg, diefe ausgebildete Orthodorie bei der Darſtellung
*
des Lehrſoſtems zu Beuude zu legen, oder er mm cu
gewifle Unabhängigkeit des religiöfen Stoffes amerfennen,
vermöge weicher derfelbe auch in deu Gebilden fein
mechanischen Weltanſicht fich erhalten mochte, und dam
wäre auch jener urfpränglich zweite Bactor ber Des
mwenbildung, bie nichtmechanifhe Weltanficht der Re
formatoren, wicht vom derjenigen bogmatifchen Wichtiz⸗
keit, welche ihm der Verf. zufchreibt, und woranf bin er
id, Umgefkaltungen der Dogmen erlanbt; der. Verf. muft:
auch in der eigenen ſyſtematiſchen Darkelung den sel.
giöfen Stoff in feiner Unabhängigkeit von fpecnlativa
Elementen hervertreten laflen. Sehr richtig fagt er(S. 135.)
„In der Dogmatik jeber Gonfeffion und jedes Zeitalter
drädt ich ſowohl die vorhandene Frömmigkeit ans, ai
auch die vorhandene Weltanfiht, wie fie populär Ale
vorſtelendes objectives Bewußtſeyn erfült und im der
Zeitphiloſophie organifh fih zu begrdude
ſtrebt. Das Dogma if immer und überall eine Bar
fchmelzung beider Elemente des Geiſtes.“ Aber es darl
ber gefperrte Gab nicht, wie der folgende verwifcen
andeuten Tönnte, alfo mit dem vorherigen verband
werden, ald wäre das Kleid des Dogma’s, d. h. it
Ausdruck der religiöfen Empfindung und Strebung, W
philofophifch begründete Weltauficht, fonbern dieſes Kkid
iR zunächſt nur die populäre, als wedurd die religiält
Vorſtellung entficht. Diefe eiguet der Eonfefflon, vn
Lehrbegriffe, mag das Schulſyſtem noch fo wiel von pr
lofopbifchem Apparate, von philofophifch durchgebildeten
Begriffen aufnehmen, um die Glaubenswahrheit möglichl
in der Form der höchften Zeiterfeuntuiß darzuſtellen. Dei
Berf. ſcheint dieß wicht gehörig unterfchieden zu haben
wenn er, von einer ber gegenwärtigen Zeitphilofophie an
gemeffenen Grundidee, weiche er dem religiöfen Grund
gefühle der Neformatoren verwandt findet (Calvia's Er
Härungen gegen Gervede wären bier übrigens noch I
die Slaubenslehre der evangeliſch. reformitt. Kirche. 967
beachten), ausgehend, die geſammte dogmatiſche Probuction,
weiche mach ihm felbft auf einer dualifiifchen WBeltanficht
beruht , jener conform macht, ohne Nädfiht darauf, ob
durch folde Metamorphofe nicht wefentliche religiöfe
Strebungen nnd Empfindungen, wie fie die alte Vorſtel⸗
Iungsform in fi fchließt, verwifcht werden. Dadurch
konnte es gefchehen, daß er die Apofataftafe, diefen hor-
ror der gefammten alten Dogmatiler, ald orthodor nach⸗
wies. Der Berf. ift ſich ſelbſt einer Snconvenienz bemußt
geworden, wenn er in der Vorrede bedauert, die jedem
6. beigegebene Beleuchtung und bie Kritik nicht beſtimm⸗
ter unterfchieden zu haben. „Richt felten it aber die Dars
legung” bed gegebenen Stoffes felb von der Art, baß
man nicht, die alte Lehre der Kirche, fondern fchen die -
Transformation bed Berf. darin erhält. Indem wir die
Behandlung der einzelnen Dogmen einem fpätern Artikel
vorbehalten und auf die Vollendung des Werkes verfchies
ben, ſollen für das bisher Gefagte nur zwei Erempel
zengen, ber locus de scriptura uud de praedestinetione.
Es ift in neuerer Zeit gewöhnlich geworben, den
reformirten Schriftgebraud; zu dem Iutherifchen in Ge⸗
geufag zu ſtellen und auf die Berfchiedenheit der beider⸗
feitigen Schriftiehre mehr oder minder Gewicht zn legen
(Bödel, Dorner). Ein alter, and vom Berf. erwähnter
Ruhm der Neformirten iſt ed, daß bei ihnen Das Schrift⸗
priucip fchärfer gefaßt werbe. Während nun aber ſonſt
der Berf. jeden Unterfhied von den Lntberauern mit
Eifer aufſucht, unterläßt er es hier, die Abweichung zu
martiren, und ſtellt vielmehr die ganze Lehre fo dar, daß
gerade dad, was man wohl der Intherifchen Weiſe zu
bindiciren liebte, als reformirte Eigenthumlichkeit erfcheint,
z. B. daß bie heil. Schrift nicht einzige Quelle der Staus
ben6wahrheiten, foudern nur Rorm und Regel fey, neben
welcher die kirchliche Lebenstrabition ihre Bältigkeit habe,
daß fie nur die Darkellung ber neueſten Dffenbhrunges
trabition fey. Aurz, es wird ungefähr bie ſchleiermacher⸗
ſche Schriftlehre als die altorthodore dargelegt und «ia
der mobernen Betrachtung fehr mundgerechtes Kapike
herausgebracht, Rur wie im Borbeigehen erfährt mas
bei der JInſpiration, in der Schlußkritik und ſonſt ud
(163.) von den Uebelſtänden und Steifheiten, welche bie
fed Dogma brüden.
Hier tft eine Bermifchung verfchiedener Tendena
fihtber, ein Schwanken zwiſchen werftändblicher Darleguy
Der altorthoderen Beſtimmungen und Aufſtellung eine
Die Gegenwart befriebigenben Dogma’d. Ich habe un
auch die Ueberzengung, daß fich die reformirte Schrift
lehre wach ihrem wefentlichen Geiſte und mit hiſtoriſcher
« Erklärung ihrer Steifheiten und Auswächfe anf eine burd-
aus uneuftößige Art darſtellen läßt. Aber dieß wird
nicht möglich ſeyn durch eine fo unmittelkane Anwendung
und gewaltiame limprägung älterer testiimonia, wie ft
Der Verf. vornimmt, wenn er z. B. für den Gag, daß die
Schrift nicht Quelle alled chriſtlichen Glaubens und fr
beus fey, fondern die kirchliche Tradition neben ſich habe,
eine Stelle aus ber Vorrede von Musculus lock beibriag,
worin biefer über die fchlechte Methode ber berner Pro
diger Elagt, welche nur pastillariter irgend eisen textun
seripturas tractiren und keinen loeus communis vrdentlich,
fondern confuse nnd impertinenter erplicizen. Diefe
Tadel. gegen eine bequeme aualytifdge. Predigtweiſe lam
doch ‚fein testiinonium ſeyn für bed Verf. Theſe, asd
nicht, daß Andere der theologia zunächſt die loci communes
and daun erſt Die Schrift. zur manteria geben. Deus dk
theelogie ift eben die fchulmäßige Behandlung ber Reli
giondichre; diefe aber wirb fo fehr nur ald Gchrifticht
gewußt, daß, wie ſchan Calvin _mit fcholafifchen termiek
thut, weiche nicht in der Schrift enthalten find, noch iM
17. Sahrhunderte vielfach ausdrädlich dad Recht unter
fucht nad and der Schrift vindiciet wird, die Gchriftlehtt
die Glaubenslehre der evangeliſch reformirt. Kirche. 969
audh in ein oompendinm doetrinae, einen rÜzog uyıuwörsenn
Adyaaw zufammenzuftellen, ja daß Göbel geradezu fagen
kann, die Neformirten wollen eigentlich gar feine Dogs»
matik, welche etwas Weiteres fey als bloße, reine Gchrifts
iehre (vgl. Zwingli in Expl. simpl. IV. 67., vom Berf.
ſelbſt angeführt ©. 33: Non vel lote unum docemus, quod
non ex divinis oraculis didicerimus).
Wenn es biäher gewöhnlih war, in ber Stellung,
welche ECalvin dem Prädeſtinationsdogma gab, deu reli⸗
giöſen Ort zu finden, wo dieſe Vorſtellung für die refer:
mirte Frömmigkeit naturgemäß entſteht (Baur), und bie
Htneinbildung beffelben in die göttliche Eigenſchaftenlehre
als eine ſcholaſtiſche Berirrung zu bezeichnen (Nitzſch), fo
hat der Berf. dagegen Calvin's Anorbunng fa nur ent
fhutdigen zu müflen geglaubt nnd die geſammte Prä⸗
deſtinationslehre mit allen ihren dem fubjectiven Gebiet
_—. —
angehörigen Auneren unter die ben @igenfchaften des Bas
ters im trinitarifchen Sinne entiprechenden Tchätigfeiten
gegogen. Es entfpricht bieß einerfeitd volkommen bem
ſyſtematiſirenden und theologifirenden Streben des Verf.,
ſchließt aber doch auch eine Doppelte Reuerung in ſich,
von denen nur Die Eine zu begründen verſucht wird.
Die erſte if eine der ref. Lehrdarſtellung fat fremde Ber»
türzung bes Theile, der von der Heildaneignung handelt,
der an dieſem Orte freilich nur ſehr mager behandelt
werden kann ‚(eortitudo), die andere das Uebertragen
defien, was vou ben Alten uno ore der gefammten Trini⸗
tät zugefchrieben und bloß attributioe dem Bater beige,
legt wird (Belege ©. 248.), auf den trinitarifch unter
ſchiedenen Bater. Dabei muß natürlich ganz anfer Acht
bleiben, daß die Alten gewohnt waren, dem Präbeftinas
tionsbecrete das pactum salutis an die Seite zu ſtellen,
in welchem bie drei Perfonen als gegen einander iu res
ſpectiver Thaͤtigkeit befindlich vorgeftelt werden und in
pecie der Adyos ald Repräfentant der Glänbigen das
foodus eingeht. Daher denn audı elite elsetio prepter
Ohrietum gelehrt wird. u vorliegender Darfeliuss,
weiche Ehriſtus in jedem Betrachte nur ber exoentis bed
deoretum angehören nud felbft qua Adyos von dem pr&
deſtinirenden Bater geſchickt werben Iäßt, Tann biefe ganze
Borfielung keinen Raum finden. Iſt fie ja dod nicht
Aunderes als der in die vorzeitlicde, ewige Region dei
göttlichen Lebens suridfallende. Refler derjenigen Ber:
haltniſſe des inwern Lebens, ald deren nächfter Auddrsd
die Lehren von der Eriöfung, Genugthuung, Redhiiertv
gung, Heilönerficherung baftehen, alfo gerade jemer eigen
Wüntiche chriſtlichen Geelenbewegungen, welche dem Batl.
möglich verblaſſen in das fchlechthinige Abhängigkeits
gefühl von der mit ber Naturhervorbringumg ibentifchen
Heilsastuofktät Gottes. Daß aber die Hellduetuoktt
Gottes ſich eben im der objectiven Heilsanſtalt verwir:
liche und durch die Heilsmittel den Einzelnen erfafle, iß
Die conkante Meinung der ref. Froͤmmigkeit gegen die
anabaptiftiiche Schwärmerei, welche nach dem Berf. bi
Buade vein innerlich ohme geordnete media wirken tät
(8, 55.), Wie nun mein Hell mir nicht anders fehle
ben Tann als in meinem ewigen Erwähltfeyn, fo if wei
Heil kein anderes, ale das in jenem ewigen mic eis
fchließenden pastum eingeſchloſſene. Mein ſchlechthir⸗
ged Nohängigfeitögefüähl von der ewigen Heildacmefiät
Gottes (obgleich die zeformirte Frömmigkeit gewiß sid!
zufrieden iR mit den Oroszeie des bloßen Mbhängig
feitögefähie) oder dasjenige Abhängigkeitögefänt, welches
Mi ale Electiounvorſtellung ausbildet, ob es entficht au
der Idee der allgemeinen abſoluten Actworktät Geotich,
angewandt auf die Aueignung bes Erlöfungähells, oder
aus dem wirklichen concresen Bewußtſeyn des Heilsbeſiter
in Shrifte nach feiner fpecififgen Natur ale Sänderkeild
— das ſcheint die Hanptfrage, von deren richtiger Br
antwortung nicht ‚bloß bie Entfdyeidung abhängt.Aber die
die Glaubenslehre der enangelifchereformirt. Kirche, 971
fadhgemäge Stellung feines Dogma’s in einer Dogmas
tie, welde ihren Boden nicht verleugnet oder durch ſpe⸗
eulative Gebilde uberwachſen läßt, fondern auch die Ent:
fheidung über des Verf, Recht einer fpecififch theologi⸗
Ihen Kundamentirung der rveformatorifchen Dogmatil.
Menn ich mic nun gegen ben Berf. zur zweiten Ans»
fiht befenne, fo mag ich dem Syſtem immer noch zuge⸗
fichen,, daß es die Prädefination unter bie theologifche
Lehre ind Kapitel von ben Werten Gottes heraufnehme,
aber nur als theoretifche Anticipation, welche für manche
fpäteren Lehren als modificirende Cautel dienen kann, nicht
aber ald Ausflug der göttlichen Wefends und Eigenfchaftens
lehre ſchlechthin, als wodurch die religiöfe Ratur des frage
lihen Dogma's alterirt und es faſt unmöglich wird, den
göttlichen objectiven Heildveranflaltungen zur Execution
des Prädeſtinationsdecrets ihre dem Bewußtfeyn ber
reförntirten Frömmigkeit entſprechende Bedeutung und
Kraft zu vindiciren und dem anabaptififchen Zuge zu
widerfichen. Der Verf. folgt der entgegengefehten Ans
fiyt, — ob dazu genugfam berechtigt durch Zwingli’s
Aeußerungen (der nur in fehr befchränktem Sinne der Bar
tee der reformirten Lehrbildung heißen Tann) ober durch
den usus der fpäteren Scholaftit und durch manche bei
ſchon feſtſtehender Prädeſtinationsvorſtellung ihr beige⸗
gebene theologiſche Stütze — ob nicht vielmehr dem ſpe⸗
enlativen Factor der Dogmenbildung zu lieb als dem
reformirt religiöfen, — dad wäre bie Frage. Da dieſer
Punkt von entfcheidenber Wichtigkeit iR für ben Geil -
und die ganze Haltung ber reformirten Dogmatif a), fo
a) Wäre die Präbeftinationsicehre, weldye ins gange Dogmengebiet
fo charakteriſtiſch eingreift, theologiſchen Urſprungs, fo wäre,
weil die Bottesibee nady Einer Geite hin ber fpeculativen Mes
dandlung ſich barbietet, jede aus ſolcher hervorgehende Modifi⸗
cation in ber Auffaffung der Prädeflinationsidte, mithin über-
haupt ein Princip der gefammten Dogmenbilbung und Umbils
bung gerechtfertigt, von welchem ber Verf. Gebrauch macht,
Theol. Stud. Jahrg. 1847, 8
92 Schweiner
erlaube ich mir, in der Kürge meine vom Berf. abwei⸗
rende Wnficht über die wahre Natur der Geneſie —
Pradeſtinations vorſtellung aus zufuhren.
Schon daß alle Stimmen ermahnen, une in PR
die eigne Ermählung zu fuchen, weiſt anf den erſt biefeitt
der Heilsoffenbarung in Ehrifte liegenden Ort him, we iv
wer Gedanke eutficht. Es iſt die eufahrene Kraft jemes Ge⸗
rachs des Lebens zum Leben, was mit ber Wahernchmung,
Daß er auch Geruch des Todes zum Tode wird, das dem
thige Herz zurüchſchauen läßt auf die umverbiente, frei
Auswahl Gottes, im weicher ed allein ſein Seil wu
fiher weiß. Es if die continwsliche Spannung dr
Willensenergie im Heilsleben, welche nur. indem fi
(ich gewollt weiß von der abfolunten, heiligen Emergit
ihren Beftand und ihre Reinheit behaupten kann, Aw
ihr aber gebt allein die zuftändliche Heilögewißheit, dir
Gewißheit ded eigenen Glaubens und Blanbenseft
für dad Subject hervor. Wenn der Berf. nach Zwingli
einfach fagt: der Blänbige ift feiner Erwählung gewä,
ſo können natürlich auf diefem theologifchen Boden, m
er die gange Sache hält, die Bermittelungen diefer oertitude
aelutis wicht Dargekellt werben; als eine eertitudo fidd
hängs fieab von denjenigen Bermittelnagen ‚, durch weidt
bas glänbige Seibſtbewußtſeyn ſich ſelbſt has, won der
Willensbethätigung (heidelb. Katech. 86). Wie nun hir
für gegen den Pelagianismus und Indaismus bie noil
wendige Vorkehr it, daß nur actus agit, die Idee dei
heiligen Geifled, der unio eum Christo (Ohristes non otie
ns), fo if als letztes und tieffted Fundament für dit
energiſche Zufändlichkeit der alle jene Vorfiellungen tra
gende Gedanke ber göttlichen Wahl gegeben. Se ihm
weiches aber nicht als das ſpecifiſch reformirte betrachtet mi:
den Tann, wofern es fig mit der Prübeflinationuiehre ſelbſt an
ders verhält, wofern dieſe vielmehr ans ber cancreien Deiimmd
heit bes chriſtlichen Heilöbewußtfegns als folchen hervongeit.
die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche, 978
ruht gleichſam Die durch Willensthätigkeit ſich herſtel⸗
lende Heilsgewißheit, gleichwie in ſolcher Ruhe bie Wil⸗
lensthatigkeit ſich ſtets nen erfriſcht und reinigt, Wir
werden hierauf weiter unten zurückkommen.
Schon die Stellnug, welche Calvin dem Dogma
gibt, und die Art, wie er daſſelbe andführt, beweiſt ge⸗
rade weil er ver keiner theolagifchen Conſequenz ſich
fchent, für bie Geneſs der Borflellung aus dem ſudjec⸗
tiven Boden. Auch wenn wir fonft die Geſchichte der
Formation bed Dogma’d verfolgen, werben wir durch alle
Die theslogifehen Gründe hindurch, wemit nadı Zwingii’s
Dorgang die einmal adoptiste uud in die Theologie her⸗
aufgenommene Borkellung geftügt wurbe, ben urſprüng⸗
lichen Ton des Dogma's durchklingen hören. Musculus
handelt no, wie Calvin, erfi nach ber Ades von Ber
Pradeſtin ation und hebt befoubers hervor, quanta cerli-
tudo salutis in cordibus Adelium ex co nascatur, quod
credunt se Deo curse fulisse ante conditum mundum.
Daß wir nur in Bott respeotum elentionis nostrae fuchen,
dazu zwingt und propriae vilitatis ac depravationis sen-
aus. Die@rwählung fchließt in fich eine Bemeinfchaft der
electi und des aligens. Dieſe ooniunctio der ſo verfchias
denen Naturen, Gottes uud bes Menfchen, kann abeqıe
mediatoris giutime nicht gefcheben. Diefer ift Chriſtus;
durch Die eleetio And wir fo an Chriſtus gelnüpft; une
fer Glaube an ihn ruht anf Dem älteſten, dem ewigen
Fundamente, Quare mysterium ‚hoe debemus — in Christo
inspioere ot ad oertitudinem salutis mostrae in cordihus
nostris confirmandem cenesiderare, qguomode eodem consilio
Dei, eodem aeternitate adeogue et similitudine eloctio noatri
cam mysterio Christi nitatur et subsistat. Au Chrikum
glauben fann.derjenigenicht, quidegratia electionis et adop-
tionis dubitat. Kann es einen Deutlicheren Beweis geben, daß
nicht der abſtracte Sag: alles Heil kommt allein aus Bott,
ſondern der concrete: das Heil an Ghrifte dit durch Got⸗
65 *
974 Schweizer
tes Gnade mein, die Baſis des Electionsbegriffs if.
Nicht die Notiz, daß der Glanbe an Chriſtus und der
Heilseffect deifelben nur durch Gottes Bade in mir axfı
gegangen, fondern bie Zuverficht, daß ich, durch den Blaw
ben an Ehriftus in den Beſitz des Heils geſetzt, daſſelbe
fiher und unverlieerbar habe, indem das Heil im Ehrife
auch mir, dieſer beflimmten fündhaften Perſon, fen
bei dem ewigen Heildrathfchluffe zugetheilt worden, ij
der Kern des Dogma's. Die häufige Unterfcheibung:
provisio est de omnibus futuris tam bonis quam malis acti
onibus, providentia sive dispositio est de hominum e«cti-
onibus, praedestinatio est de hominikus ‚salvandis sr
de hominam extrema salute,, wird auch von Hyperius au
gewandt, aber fo, daß er von der praedestinatio vor dei
Providenz und Schöpfung handelt, zum deutlichſten Beweik,
daß die perfönlich fubfective Heildgewißheit, nicht bie objet-
tive Gottedlchre die Wurzel bed Dogma’s ift, das dem
auch vornehmlich nach feiner fubjectiven Seite, nad fi
nem praftifchen Momente erponirt wird als Antrie
zur Heiligung.
Wenden wir und'zu einer Geitenbetrachtung. Bela!
iR, daß die Lutheraner dem reformirten Dogma vorwarfen,
eine die Erbfünde abwifchendesanctitas uterina der Erwaͤhl⸗
ten zu Ichren, daß ferner die Antinomiften aus dem eige
nen Schooße den Satz auffiellten, bie electifeyen nungusm
non auch regenerati, iustificati etc. Wenn nun bie dt
thobore Lehre mit allem Nachdrucke gegen Beides fi er⸗
Härte, fo fann ber Grund davon nicht in dem mechari⸗
fhen Dualiemus liegen; vielmehr wärde, gerabe de
Dualiömus vorandgefegt, fi aus dem Präbdeftinationd
bogma, als einem theologifchen Probucte, ald eine
Ausdrucke für die abfolnte Actwofltät Gottes, für die Er:
wählten durchaus jener Sag ergeben, wonach bie nere
Schöpfung ber vocatio interna und eflicax unferm Berl:
heißt eine prima conservatio und bie belebenden Anfänge
ber Erecution, zu den weiteren Heildführungen gefehlt,
die Glaubenslehre der evangelifchsreformirt. Kirche. 975
weit zurüdtreten gegen bie eigentlich hervorbringenbe
Action im göftlihen Rathſchluſſe (S. 138.).
Die FZolgerung ift, — gerade den Dualiemus in fei«
ner Schroffhgit, wie ihn bie Kirche hat, vorausgeſetzt,
eine unabweisliche. Was tft nun wohl ber. Grund, daß
ſich die Orthoboren nicht bavon abbringen laffen wollen
zu behaupten, der electus fey vor der regenerstio dem
Sünder durchaus gleidh, revera ein filius irae, ein da-
mnandus, bie Wiedergeburt und Belehrung mithin eine wes
fentlihe und gänzlihe Umänderung, mithin nicht bloß
dad aufgehende Bewußtfeyn um das fchon von Anfang
im Kerne der Perfönlichkeit vorhandene wahre Seyn; baß
fie nicht müde werden, folches zu behaupten, troß dem
daneben fefgehaltenen Sage: jener wirkliche Sünder und
filius irse fey im ewigen Electionsdecret als ein fidelie
und salvandus begriffen und fomit feinem finalen Seyn,
und feinem ewigen Geſetztſeyn nach toto coelo verfchieden
von dem reiectus, dem er ald Sünder ganz gleich ift:
was anders kann der Grund hiervon feyn, ald daß ih—⸗
nen dad Prädeftinationsdogma eben nicht eine theologis
ſche Sonfequenz, nicht eine Folgerung aus dem abfoluten .
Adhängigkeitögefühle war, daß ed ihnen vielmehr felbft
nur entflanden war aus einer Beſtimmtheit des Selbſt⸗
bewußtſeyns, in welcher die fittlihe Idee unmittelbar
galt nnd Die angegebene Schärfe und Lebendigkeit hatte,
daß ſelbſt die nächflen Eonfequenzen aus jener Vorſtel⸗
lung, abgelöft von ihrem mütterlichen Boden, zurückge⸗
wiefen wurden? Halten die orthodoren Lehrer gegen eine
aus dem Präbeftinationddogma ſich darbietende Gonfe-
quenz die widerfprechende Ausſage des unmittelbaren
fittlichen Bewußtfeyng fer, legen fie mithin in das letztere
eine Realität, gegen welche felbft die aus ber ewigen
göttlichen, Alles beftimmenden That der Election fließende
Folgerung nicht aufkommen kann: fo ift ber Gedanke ein
unmöglicher, daß jene Präbdeflinationsvorfielung aus
978 Scchwetzer
Der Gottesibee ſelbſt einfach und originciter hervorge⸗
wachſen ſey, wett fie fonft durch ihre theologiſche Geburt
jede anthropologiſche Hemmung ihrer Gonfegnenz hätt
ſprengen müflen. Beharren die Nedytgkäubigen mit Rad
druck Darauf, daß auch der electus totaliter in dem Zu
Rande des reiectws ſey vor der Wiedergeburt, ebenfo um
ger ber tra dei, wie jerter ; tft ihnen alſo die Wiedergeburt ein
qualitativer, nicht bloß phanomenologiſcher Proceß: fe
kann die der letztern zu Grunde liegende Election in ih
rem Unterſchiede von der Nejection ber Andern ner ca
fheotogifch reflectirter Gedanke feyn für jenem uwerklärl:
dien Herganz des innern Lebens zum verſtändlichen Ant
Brude des Bewußtfeynd: durch Gottes Gnade bin ie,
was ich bin. Nur die Gegner und bie extremen unlird
lichen Fanatiker der Tigenen Partei ziehen and dem Dogm
eine Folgerung, welche die reformirte Kirche auch, ziehm
mußte, wenn ihr das Dogma auf theologifchem Bode
gewachfen wäre, Wenn der Verf. bie Folgerung in ko
ner Weife aud ziehen und doch dabei Bie veformirk
Gegenbehauptung in feiner Weiſe gleichfelis feſthalte
kann, fo verdankt er dieß feiner principiellen Berwichtum
des Dualismus, von der erfi nachzuweiſen wäre, daß ft
im Beifte des veformirten Glaubens ſyſtems gelegen ie
das doch nicht fo unbedingt zuſanmengeht mit adfolate
formeller Sonfequenz. Gerade der fo fireng feftgehalten
und mitunter fo mühlelig und ungefchidt vertheidizn
Dualiömus der Präbdeftination, welchen man wicht arf
dem Wege von oben gewonnen hätte, weift auf ben anden
Weg von unten, und zwar hätte wohl ſchwerlich biel
die wahrnehmende Erfahrang ober Specutarion bahin ge
trieden,, ihn fogar im Weſen Gottes gu ſiriren, wem
nicht das flttliche Bewußtſeyn im aller Starke dad rei
piöfe Heilebewußtſeyn begleitet und fo die Bebartößätt
bed ganzen Dogma’d abgegeben Hätte. Denn daß M
bloße mechaniſche MWeltämficht nicht hinderte, dad ein
die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche. 977
allgemeine Mokataſtaſe zu Ichven, uud daß das einmal
von der göttlichen Wefendichre abhängig gemachte Dogma
ohne jene anderweitige Reaction bahin treiben mußte,
daß alſo jenen Flaffenden hietus in das göttliche Wefen
nur die Stärke des unmittelbaren fittlichen Bewußtſeyns mit
feiner Diseretion herbeiführen fonnte, liegt auf der Hand.
Die obige Betrachtung Fäßt ſich noch weiter verfols
gen. Es iſt gezeigt worden, daß die Wiedergeburt ein
wefentlicher nicht bloß phänomenologifcher Proceß ſey, ein
den qualitativen Grundwerth des Subjects reell veräns
dernder. Dieß wird am deutlichſten aus folgender Erwü⸗
gung. Der Wiedergeborne iſt beharrlich. Das neue Le⸗
ben kann nicht mehr verloren gehen; der gewordene fillus
dei kann nicht wieder ein Alius irae werden, nicht wieber
tsteliter und finaliter fallen, wie fchwere Sünden er auch
noch begehe, felbft folche, die ihm wielleicht auf Lebens⸗
zeit Das Bewußtfeyn der. Kindfchaft rauben. Umgekehrt
in den Berworfenen können innere Zuftänbe -eintreten,
die fich, rein pfychologifch betrachtet und für deren eiges
ned Selbſtbewußtfeyn, in gar nichts unterfeheiden von
den Zuftänden der Erwählten und Wiedergebornen, und
die Doch nur ein Schatten derfelben find. Alſo es bes
ſteht noch ein wefentlicher Unterschied zwifchen bem mo⸗
mentan gläubig und glaubensfelig geftiinmten Nichtwie⸗
dergebornen und dem in ſchwere Sünden verfaßlenen, bie
ira empfindenden, des Kindſchaftsgefühls berambten Wie⸗
dergebornen. Der beiderfeitige Perfönlichleitötern iſt
doch toto coelo verfchieden, und zwar beruht biefe
Berfchiedenheit in letzter Inftanz anf der göttlichen Präs
deftination, deren Unveranderlichkeit es mit fich bringt,
daß die begonnene Electionsverwirklichung in dem Einen
nicht mehr durch feine Sünden entrealifirt werden, ber
noch fo fcheinbare Zuftand bes Andern nicht ale Heilsver⸗
voirflichung betrachtet werden Tann, Die wefentliche
Berfchiedenheit beider erweift ih darin, daß ein folcher
978 Schweizer
gefallener Wicbergeborner immer wieber durch ben Fal
zu neuem Aufſtehen getrieben wird, als wozu die Gua—
denkraft ihm bleibt, der gläubig geflimmte reioctns abet
troß aller feiner Gnadengenüfle, troß aller momentaua
Borfäge nicht finaliter beharrt. Ihn macht al die gleice
Wirklichkeit der inneren Güter nicht gleich dem Andern,
weil fie für ihn wahrheitslos find, nicht perſönliche Hell
güter, wegen feines Richtbeharrend. Einem Solchen if alle
fein wahres Selbſtbewußtſeyn des Heils, kein feſtes Ei
tiondbemußtfeyn möglich, fondern sur ein täufchender
@lectionswahn, Er ift in feinem sensus ein Erwählte
und boch verworfen, während der Andere vielleicht lange
mit verbüftertem Bewußtfeyn ringt, und Doch ermwählt
iR. Wie entſteht aber und wie befchaffen iſt das wahr
bafte Electionsbewußtfeyn als certitudo GNdei? Es fü
snfammen mit dem Bewußtſeyn der Perſeveranz, an
wie fi das letztere ſtaͤrkt aus jener Vorſtellung der ewi⸗
gen Auswahl, fo muß auch wieder gefagt werden:
jene Borflelung Tann ich nicht anf mich beziehen, fans
mich nicht in die Election eingefchloffen willen, ohne mid
perfeverant zu wiffen, d. h. ohne der Willendenergie
nach perfeverant zu feyn. Der fletd nen fidy erfrifchend:
Entſchluß der obedientin, des heiligen Lebens in der Gott‘
gemeinfchaft ift ber einzige modus, wie ich die perlön
liche Gewißheit meined Glaubens⸗ und Bnadenflaudet,
die Gewißheit meiner Erwählung als eine Glanbensge⸗
wißheit haben kann. Was ift fonach die Electionsvor⸗
Rellung anders, ale die für dad gegenflänbliche Vorſtelen
firirte Form, theild der inneren zuftändlichen BeRimat-
heit ald einer wahren Realität bewußt, theild ihrer ald
abfoluter Selbſtbeſtimmung froh zu werden? Wie ließe
fih, die Election ale eine theologifche Conſequenz gedacht,
biefe fubjectiofte, ganz auf den perfönlichen Willen geſtelte
Bedingung des Electionsbewußtſeyns begreifen ? Wie ließe
fi) jene oben gefchilderte wefentliche Differenz zwiſchen
dem in Sünden gefallenen und doch das göttliche Leben
die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche. 979
bewahrenben Electus und dem vom tänufchenden sensus
ber Wiedergeburt betrogenen Rejectus feſthalten? Sind
nicht beide Zuftände in formell gleicher Weife von der
göttlichen Alwirkfamkeit gefeht, fo fehr, daß Calvin
ausdrücklich den heiligen Geiſt ald den Factor jenes trüs
gerifchen sensus nennt? Daß der sensus nicht trägt, dag
gewinne ich durch die perfeverante Willendbefimmung,
weiche, wenn and momentan unterbrochen von fleifchlis
hen Trieben, wenn auch momentan unterliegend der as
türlichen Schwadhheit, doch fich immer wieder herſtellend
erhebt vermöge des wefentlichen Perſoönlichkeitskerns, wels
her oft nad langer Berdunfelnug wieder emportaucht
und feine Gontinuität mit den früheren Acten der wahrs
haften Selbſtbeſtimmung erfeunt. Darin fteht das eigent-
liche Heilswirken des Geiftes.
Daß das einmal gewonnene perfönliche Geiſtleben
nicht mehr verloren werden kann, das iſt in der That
nicht eine Kolgerung aus der göttlihen Mobalität feines
Entfiehend im Snbiecte, denn auch jener trügerifche sen-
sus des reiectus, der bie Kräfte der fünftigen Welt
ſchon gefchmedt hat, ift vom heiligen Geiſte entftanden,
ein göttliched ludibrium, und bie göttliche regeneratio
hindert doch auch nicht, in ſchwere Sünden wider das
Gewiſſen ſelbſt auf einen Grab zu fallen, daß oft bie
and Lebensende niemald mehr die Zuverficht entfichen
fann. Sondern jene linverlierbarteit beruht darauf, daß
das Geiflleden zum eigentlichen Leben der Perfönlichkeit
geworden if, weiche fih von allen noch mit unterlaufen,
den Sünden immer wieder herficlt.e Das Urtheil von
der Unverlierbarkeit Cbei zugegebenem Verſchwinden für
die Wahrnehmung, ja für das eigene zuſtaͤndliche Bewußt⸗
feyn) iſt nicht ein auf theologifchen Prämiffen ruhen.
des Urtheil, ift fein fpeculativer Sag, aus der Gottes⸗
idee deducirt, fondern ein anthropologifchsethifcher,, dem
ſich die theologifche Form bloß als Hälfsvorftellung leiht.
Denn für die theologifche Gonfequenz wäre genug ger
* Schaczer
ſagt wit dem Lutheriſchen, daß ber niesins nicht fimaliter
fallen konne. Warum er auch nicht totaliter fallen könne,
d. h. warum ber thatfädlidyen Unterbrechnng des Guss
beubewnßefeynd durch grobe Sünden nicht zugelafın
wird, deu eigentlichen Gnabeuflaud abzubrecken, dieſer
vielmehr als perfönliches Leben der Wiedergeburt fort,
danern fol in ben ſchwerſten Sünden, das iſt nicht «si
dem Electiensdogma firenge zu entuehmen, weil das
gleiche erwählte Subject in ſchon einmal ein wirkliche
Slius iras war. Die Abweichung von bes Intherikhen
Betrachtungsweiſe iſt alfo and) hier wicht eime cheslogi⸗
fe , ſondern eine anthropologiſch⸗ ethiſche. Es iR «in
Urtheil über bie Qualität des geworbenen neuen Lebens,
es iR die ſeſtgehaltene Gontinwität des wahren Selbſtbe⸗
wußtfeynd durch alle noch fo fchwere Trübumgen hinburd,
weiche berfelben identiſchen Willendbethätigung weichen
mäflen, durch welche jenes urfprünglich erfaßt wer.
Der lebte Ausdruck dafür, anf weldgen die andern von
der Furbitte Ehriſti, feiner Knigsmacht, der höheren Fe
ſtigkeit des Gnadenbundes vor dem Werkbunde zuletzt re⸗
ducirt werden, iſt der, daß Gottes ewige Auswahl kraͤf⸗
sig iR, Die deutliche Anzeige, von der Natur dieſer Ber
ſtellung. Gewiß, fo wenig jener Troß des ſichte'ſchen Ic,
weiches die Elemente herandfordert zum Kampfe und
(ch unzerfiörlich. weiß und ewig geborgen ver ihrem das
tifchen Gaͤhren, hervorgeſproßt ift aus der Gottesidee
des feligen Lebens, fondern umgelchet diefe ein reflec⸗
tirtes Product des abfeluten Ich, fo ‚wenig ſind bie
Busführungen des Pradeſtinationsdogma's, welche bit
Haupteigenthämlichkeit gerade der reformierten Heilslehre
ausmachen, bloße Entwidelungen der theologiſchen her,
fondern vielmehr in der reformierten Hauptmodificatior
der Theologie, dem Präbeflinationdbegma, iR ein 86
wäh ber. eigenthümlichen Bekimmtheit bes ——
Lebensgebiets gu erkennen.
die Glaubenslehre der enangeliffä-teformirt. Kirche. 9ER
Keineswegs alfo ſte Nach dem Bisherigen die Sache
fo, daß die Lutheraner, urfpringlich von berfelben Got⸗
tedidee andgehend, durch anthropologifche Jutereſſen ver»
hindert worden find, die Conſequenzen derfelben fick
entwideln zu laſſen, die Reformirten dagegen den theo⸗
logifchen Intereſſen einen den Ausſchlag gebenden Bow
rang einräumen. Sondern wie die entherauer einestheils
gerade auch aus theologifchem Intereſſe, um Gott nicht
zum Urheber der Sünde zu machen, dem reforminten
Zuge Einhalt geboten, anderntheils aber durch deu
ethiſch⸗ reiigtöfen Grund des Hauptgewichts, das ber
RNechtfertigungoproceß gewann, veranlaßt waren, Die Ber
ziehnng Gottes als der unbedingten Cauſalität auf Die
Entſtehung der fubiectiven Rechtfertigungsbebingung is
den Hintergrund treten zu laflen gegen die Beziehnng
Gottes ald des Techtfertigenden: fo war es umgelchrt
edenfalls die eigenthümliche Auffaffung des chriſtlichen Ber
benoproceſſes, wobei die Rechtfertigung nur fehr unterge⸗
orbnete Bedeutung hat und bie perfönliche Gewißheit des
Erlöfungsheild vom thatkräftigen Wirken und reiner poſiti⸗
ver Willensbeftimmung abhängt, was auf reformirter Seite
dahin geführt hat, auf die göttliche Cauſalität gerabe in
diefer Richtung dad Hauptgewicht zu legen unb fo dem
Begriff des Heiſs aus Gnaden auf den der Wiedergeburt
und in letzter Inſtanz anf ben der Erwählung zn grün,
den. Richt wie Theologie und Anthropologie ſtehen fich
bier beide Kirchenlehren gegenüber, ſondern jede hat ihre
eigene religlöfe Pſychologie, ihre eigene Betrachtung bes
inneren Heilsproteſſes.
Und fo möchte ed nicht allzu fchwer fen, Die vom
Berf. oben angeführten Beweife für einen vorherrfehend
theologifchen Charakter der reformirten Dogmatik fo zu
wenden, daß fie vielmehr für dad Vorherrſchen ded an,
thropologifchen Geſichts punktes, aber eben einer andeven
Anthropologie als im Lutherthume zeugen. . Der refor⸗
. 982 Schweizer
mirte Bottmenfch, von den Mheranern als neſteriani⸗
ſches Gebilde gerade und vorzüglich theologifch bekämpft
(„fie wiſſen nicht Die Kraft Gottes“), zeichnet fich befon
ders durch forgfültigere Ausbildung ber wmenfchlicen
Seite aus, wie ed fchon bie Idee des caput eleetorum,
die ſtaͤrker premirte Vorbildlichfeit des Chriſtns für die
Befalbten mit fich bringt. Gerade den Reformirten ik
die Bergleihung ded Berbältnifies beider Naturen mit
dem Berhältniffe bed epiritas zur caro in deu Gläubigen
eigen. Die Abweifung der Iutherifchen Fdeencommunis
cation, flatt deren eine communicatio chariematum gr
lehrt wird, ging hauptfächlich aus dem Beſtreben hervor,
eine wahre Menfchheit feſtzuhalten, als mit welder al
lein dad Bemußtfeyn der myftifchen Einheit, fomit der
Erlöſung möglich fchien. Die reformirte Lehre von den
Snadenmitteln, Sacramenten ıc. iſt nichtd Anderes ali
der natürliche Anddruc jener nicht von außen bekimm
baren Gelbfländigkeit des fubjectiven Geiſtes, welcher
bloß Sollicitationen davon aufnimmt, bie nur von innen
durch entfcheidende Selbſtbeſtimmung zur yperfönlicen
Heilsbeſtimmtheit werden. Ale die tiefen Gühnungen,
Bupgefühle, VBorfäge, Tröftungen, welche z. B. ber Abend»
mahlsgenuß mit fid führen mag, find nur ein Schatten,
der vergeht, nicht eine communio cum Christo, wo bt
Glaube nicht in Perfewerang thätig, der ganze Kern
der Perfönlichkeit in der Tiefe bed Willens göttlich ger
richtet if. Daß die reformirte Lehre von der Kirche die
felbe fpröde Selbkändigkeit des Subjects gegen das Aen⸗
Gere verräth, ift längft behauptet worden. Wenn ber
Berf, für den Gab, daß die befonderen Lehren ber res
formirten Kirche aus dem Bewußtſeyn fchlechthiniger
Adhaͤngigkeit von Gott entfliehen (49.), reformirte Pole
miter ſelbſt anführt, fo ift dagegen im Allgemeinen zu
halten, was er gleichfalls fagt (S. 9.), daß gewöhnlich erſt
fpätere Würdigung das inuere Princip dageweſener Po
Die Glaubenslehre der evangeliſch⸗ reformirt. Kirche. 983
Lemit zu begreifen vermag, und in specie über Stapfer -
Defien Wolfianismne zu bemerfen, der ihn kaum befons,
Ders geeignet machte, die eigentlih religiöfe. Differenz
zwifchen beiden Gonfeflionen in ihrer Reinheit zu erfafs
fen. Was ift endlich der Antipaganidmus der reformir,
ten Kirche und Kirchenlehre überhanpt andere als bie
Proteſtation bes fubjectiven Geiſtes gegen alle im Aeußern
fowohl ale in ber Dem Aeußeren zugewandten niederen Natur
liegenden Hemmungen feiner im Gottmenfchen gewonne⸗
nen Gemeinfchaft mit dem abfoluten Geiſte, die ſich bes
thätigt im abbildlichegottmenfchlichen Leben?
Wenn Ref, in dem Bisherigen dem Berf. mehr nur
entgegengetreten ift, fo fol dieß der ausgezeichneten Ach⸗
tung vor der Gelehrſamkeit, dem Geſchick und Talent,
womit er nadı feinem Geſichtspunkte bie gewählte Auf⸗
gabe gelöft hat, und welche bei der Betrachtung der eins
zelnen Dogmen noch befonderd zu bethätigen Anlaß ſeyn
wird, feinen Eintrag than, fondern zunächſt nur eine andere
Betrachtungsweife geltend machen, weldye neben der dem
Berf. beliebten ſich darzuftellen, wenigftend das hiftorifche
Recht hat, und welde vielleicht andy bogmatifch, das
Wort in dem von Schleiermacher beflimmten Sinne ges
nommen, die fruchtbarere ſeyn möchte, Hoffnung und
Wunfc des Ref. it, daß vorliegendes Wert, eine wärs
Dige Repräfentation der zwingli'ſchen Richtung für Die
Gegenwart, das Studium der kirchlichen Dogmatik ber
Reformirten Präftig beleben und fördern und namentlich
auch die Leichtfertigkeit neulutheriſcher Polemik zu gründe
licher Kenntnißnahme des von ihr Angefochtenen nöthie
gen möge.
Schuedenburger.
Sartoried.
2,
Die Lehre von der heiligen Liebe oder Brand
züge der evangelifchstirchlichen Moraltheologie vor
Ernft Sartorins, D. der Theologie, Zweite
Abthellung. Bon ber verföhnenden Liebe. Gtutt:
gart. Verlag von &. ©, Lieſching. 1644.
Der Berf. fagt im Borworte, es könne bie zweite Ab:
theilung feines: Lehre von ber heiligen Liebe andy als
eine felbfländige Monographie über die Verſöhnnng be
trachtes werden. Als foldhe will fie Rec, nun nehmen,
indem er auf den erſten Theil nur infoweit Räckficht
nimmt, ald er die Principien für den zweiten enthält.
Denu ba das Werk noch nicht volleudet iſt, fo Fan uch
sin GBefammturtheil darüber gegeben werben. Doch
aber iſt dafelbe eine fo erfreuliche Erfcheinung auf dem
Bebiete der theologifchen Litteratur, dag es wunſchens⸗
werth sricheint, ed auch in dieſen Blättern noch vor Boll
enbung bed Ganzen anzuzeigen und zu beurtheilen. Wenz
Rec. vorliegendes Buch eine erfreuliche Erſcheinnug nennt,
fo bat er übrigend habei jeßt nicht Die darin verſuchte
Derbindung der Dogmatik und Ethik im Auge, Denn ik
auch ihre Berbinbung, mit welcher Nitzſch voraugegangen,
and, einer Seite bin ein weſentlicher Zortfchritt und
kann eben jegt, nachdem durch die zeitherige principiele
Trennung beider die Eigenthümlichkeit und relative Selb
ſtändigkeit derfelben klarer ind Licht geftelt marben, Beſſeres
bierin geleitet werden, als es vor jener Trennung der
Fall geweſen, fo vermag doch beim vorliegenden Werke
erft nach Erfcheinung des dritten Theils auch darüber
etwas gefagt zu werben, ob und inwieweit Die verfuchte
Verbindung eine gelungene zu nennen fey. Rec. bat bei
lener anertennenden Aeußerung vielmehr die Auffaſſung
die Lehre von der heiligen fie. 66860
and Behandlung des in diefem zweiten Theile deſproche⸗
nen Stoffes ſelbſt im Auge.
Der Verf. hat ſich zur Aufgabe gemacht, die kirch⸗
liche Lehre von der verſoͤhnenden Liebe Gottes dem Be
dürfniffe unferer Zeit gemäßer darzuftellen, fe ihrem Ber⸗
ſtaͤndniſſe zugänglicher zu machen. Die Weiſe, wie ex
diehß gethan, begründet‘ den befonderen Werth des Bus
ches. Wenn fi) in mufern Zagen fo Viele an den Slam
benslehren der Kirche ftoßen, fo hat bieß zwar im All
gemeinen feinen Hauptgrund darin, daß dad Evangelium
eben überhaupt Den Juden ein Aergerniß und ben Heiden
eine Thorheit ift: fie ſtoßen fih daran, weil ihr Herz
den heiligen Ernuſt fcheut, der in dem Worte von Ehrifto
liegt. Allein nicht bei Allen iſt's alſo. Gar Manche ev;
kennen das Bedürfnig göttlicher Offenbarung an nwb
fühlen ſich mit einem tiefen Zuge ihres Innern zu feier
gnadenvollen Wahrheit hingezogen; nur die Form, in
welder die Kirche ihnen diefelbe darbietet, ſtößt fie zus
rück, und daß die Kirche ihnen bamit als mit einem Pos
fiulat entgegentritt, ohne diefelde ihrer Bernunft durch Bar
ziehung auf ihre fonftigen Borftellungen zu vermitteln
ober durch ben firengen Complex der einzelnen Theile
mit wiffenfchaftlicher Auctorktät ald wahr zu erweifen,
So fuchen fie denn ſelbſt nach einem dem Bedürfniß ih
res Geiſtes genügenden Andprude für ihren chriftlichen
Glauben und laſſen bie Firchliche Faſſung beffelben ale
etwas Beralteted liegen, Daß dieß zu beflagen ſey, leuch⸗
tet ein. Iſt zwar freie individuelle Regung, wenn auf
irgend einem Lebensgebiete, fo anf dem des Glaubens
nothwendig, welcher eine Sache des eigenfien, weil inners
ſten perfönlicden Lebens ift, fo kann dieſelbe, weil die
tieften Beblrfniffe des perfönlichen Lebens zugleich gew
meinfame find, doch auch nur innerhalb des Gemeinledens
eine gefunde. Nahrung finden. Deßhalb ift es licht
der Kirche, ihren Mauben, ohne fein Weſen zu beein
66 Sartorius
träcdtigen ober fein Geheimniß zu profaniren, mit den
tieferen Borfiellungen des allgemeinen Lebens und den
Erfahrungen des Gemuths in Beziehung zu ſetzen und
in die wiflenfchaftlihe Fortbildung jeder Zeit überze-
führen, damit jeder aufrichtige Siun ihre Wahrheit
ſich aneiguen und auf ihrem feilen, breiten Beben,
der zu individueller Entwidelung, wenn man ihn nicht
geflifientlich verengt, des Raumes noch genug bietet, alle
Geiftlichgefiunte in treuen Bereine zur Erbauung nad
innen und zum Schuße nach außen fichen mögen. Wax
kann nicht leugnen, daß bie kirchliche Lehre, wie fie aus
den früheren Jahrhnuderten auf und übergefonmen, Bie
led an fi trägt, was and; den, ber ſich mit ihr im
Grunde Eins fühlt, befrember und unbefriedigt läßt.
Die -einzelmen Lehren fliehen als loci neben einander, ohne
wahrhaft organifch verbunden und aus Einem Principe
mit innerer Conſequenz entwidelt zu ſeyn. Die Lehren
ſelbſt find mit fholaftifcher Dürre und Breite, zum Theil
Aenßerlichkeit dargefiellt, durch weiche nur ſchwer das
warme Leben, das in ihnen waltet, burchgefühlt wird,
und die fchroffe Auctorität, mit welcher fie auf Grund
ihrer Uebereinſtimmung mit der heiligen Schrift der na
thrlichen Bernuunft gegenüber fidy geltend machen, deßglei⸗
chen die dis ind Einzelnſte burchgeführte Beſtimmung ihrer
möglichen Seiten weift jede freiere Regſamkeit individnel⸗
ler Anſchanung innerhalb ihrer Grundlinien wit herber
Strenge zurück. Bon diefen Mängeln bemüht ſich der
Berf. die Kirchenlehre zu befreien, wie er ſich Ddiefelbe
Aufgabe fchon in feinen früheren Arbeiten geftellt hat.
SR auch Rec. der Anſicht, daß die Kirchenlehre nad
mancher ihrer Seiten mit noch freierer, energifcherer Hand,
als es vom Berf. gefchehen, and ihrem Rarren Degme-
tismas müfle gerifien werden, und gilt es nach feine
Meinung insbefondere, die Einheit des Principe , welde
übrigens im diefer Schrift zu ihrem Bortheile mehr als
die Lehre von ber beiligen Siebe, 987
in dem früheren des Verf. durchleuchtet, mit noch firen,
gerer Conſequenz durch alle Lehren hinburchzuführen, wor
durch theils diefe ſelbſt untereinander inniger verknüpft
wärben, theild vermöge beftimmterer Hervorhebung, Feſt⸗
Rellung und Umgrenzung ded Wefentlichen im evangelis
{hen Glauben ein deſto freierer Raum für mannichfaltis
gen Ausbau des Einzelnen gewährt würde, fo ift doch
bad, was ber Berf, im vorliegenden Buche geleiftet bat,
bereitd von großer Bebentnng und ein fehr willfommen gu
beipender Beitrag zu dem Merle, der Firchlichen Lehre
auf Dem Gebiete der heutigen Wilfenfchaft # feſte,
eingreifendere Stellung zu verſchaffen. Zumaf"aber hat
das Buch feinen hohen Werth für die ſtudierende Jugend,
fie im eim nicht bloß klares, fondern zugleich lebensvolles
Verſtändniß deffen zus Teiten, was ihren weiteren Studien
zur Grundlage dienen fol; ferner für diejenigen Theolo⸗
gen, deren Beruf es ift, ihre wiffenfchaftlichen Studien und
theologifchen Liebergeugungen für dad Bebürfuiß der Ges
meinden zu verarbeiten, und endlich von demfelben Ges
ſichtspunkte aus für alle gebildete Laien, denen ed um
tiefere, ledendigere Erfenutniß der Kehre ihrer Kirche zu
thun ift. Für diefe Behandlung der Dogmatik ift dem
Berf. eine vorzügliche Babe verliehen.
Die Darftellung ift mehr thetifch als polemiſch.
Begentheilige Anfichten werben zwar berüdfichtigt, aber
nur, infofeen fie dazu dienen, des Berf. Anficht durch den
Begeufag in ein helleres Licht zu ſtellen. Sie pflegen
einfady nur genannt und zurücigewiefen, feltener mit Eins
würfen befämpft oder mit Gründen widerlegt zu werden.
Ueberhanpt tft es des Verf. Weife nicht, die Wahrheit
der anfgeflellten Lehre auf dem Wege dialektifcher Ent⸗
widelung darzuthun. Es ift mehr befchreibende Darftels
Iung des Gegenſtandes. Durchweg aber begegnet barin
eine einfache Anorbnung, natürliche Folge, faßliche Ver⸗
bindung unb ruhige Entfaltung ber —— ‚ und bie
Tbeol. Stud. Jahrg. 1847,
u. .| &asterind
große Elarhrit, weiche in der gefammien Dauftelung bevejcht,
laßt fo ben Gegenſtand mit ber unmiltelbauen Madıt
feiner Wahrheit und Größe befte überzengender anf ben
Leſer wirken. Wo es gilt, denfelben noch mehr gu be
leuchten oder fein Geheimnis dem matärlichen Berkänd-
niffe näher zu bringen, werben Bilder gewählt, die wit
bloß immer wirkliches Richt geben, ſondern ſehr häufig
and; durch die innere Verwandtſchaft von Bild uud Sache
tiefer in das Weſen des Begenftandes einführen, Nicht
fo zu billigen iſt es, wein ber Berf. auflatt ber weiteren
Ausführgug und Begründung eines Gedankens Bibel
fprüche AMeimander reiht, in welchen berfelbe enthalten if.
Deun da die Bibelfprüche vermöge ihred anderen 38
ſammenhangs noch andere Beziehungen mit dem betref-
fenden Gedanken verbinben , welche der hier behaudelten
Sache ferner liegen, fo tragen fie, wenn fie den Gen
gen orgauiſch eingeorbmei werben, eher zur Ablenkung
von der Arengen Gedankenfolge bei, als fle erkäuterndes
Licht auf den Gegenſtaud werfen; fie follten nur ald be
gleitende Belege dienen.
Was der Berf. fagt, iſt immer von wirklicher Be
besstung für den Gegenſtand. Er bat fidy wit Liebe in
denfelben verſenkt, mit gründlichen Ernſte ihn durch dacht.
In das MWeſen der göttlichen Liebe eröffnet er bie tief,
fen Blicke, Die Hoheit und Demuch in der Perſon Ehriki
geichutet er mit großen, die Gerle ergreifenden Zügen,
und mo er von Zuſtänden menſchlichen Eebend Jede, br
gegnet mau Bherali den treffendſten Bemerkungen und
feinen Beziehungen, weiche von reicher Meufchentenat
nis und Erfahrung zengen. Den Eindrud bawon abır
empfängt man um fo reiner, als die Sprache mit ber
Auffaſſung des Gegenſtandes ganz in Einklang ſteht
Es iſt ein Fehler der meiſten wiſſenſchaftlichen Werke un
ſerer Zeit, daß fie abſtraeter Terminolo gien ſich bedienen,
ja duß die Gedanken ſelbſt auch und ihre Folge abſtraci
die Lehre von der heiligen Liebe. 389
find. an fage nicht, das. erforkere die Wiſſeuſchaft,
weil nundard; Lodiäfung von der Wirklichkeit und durch
Losfchälung Bed Allgemeinen aud dem Befonderen die im⸗
manente Entwideinug des Gegenſtandes zur Erfcheinung
fomme. Go wenig bie wahre Posfie ba beginnt, wo bie
Natur aufhört, fe wenig bie wahre Wiſſenſchaft. Wie
Die Wirklichkeit ſelbſt poetifch iſt und der Dichter ihr bie
poetifdye Seite une abzugewinnen hat, fo zieht fidy durch
die wirklichen Zuftände bed änßern und Innern Lebens
ein Marer Faden eng sufammenhängender und fireng
fortfchreitender gättlicher Defonomie nnd menfchlicher Er⸗
fahrung hindurch, den die Wiffenfchaft eben nur zu erkennen
und nachzuweiſen bat. Je mehr fie bei ihrer Darftels
Inng inmerhalb der Aufhanungöwelfe bed Lebens bleibt,
deſto größer wird ihre überzengende Macht ſeyn. Diefen
Berzug hat vorliegende Arbeit. Zwar läßt fie «6 tms
merbin hie und da an Beftinmtheit der Erfafiung, am
Praͤciſion des Ausdrucks und au Bünbigkeit der Darflels
Inng etwas fehlen; aber biefe Mängel werben durch edle
Einfachheit der Sprache, welcher geiftreiche Antithefen zur
Würze dienen, durch anfchauliche Lebendigkeit und wohl⸗
thueunde Wärme wieder aufgewogen, und der Lefer wird,
indem fein Geil den Gedanken folgt, zugleich in feinem
ganzen iunera Menfchen erfaßt, empfängt mit Körberung
feiner Einficht unmittelbar and) Erquidung und Erbanung
feines Gemüthe,
Diefer zweite Theil des Buches zerfällt in vier Ka⸗
pitel, Deren erfied vom Berföhnen handelt, das zweite
von der Berföhnnng durch bie vollfommene Geſetzes⸗
ertällung oder das genugthuende Dpfer des Berföhnerg,
das dritte von der Aufnahme iu Die Gemeinfchaft bes Ver⸗
ſöhners durch die Öuadenmittel des heiligen Geiſtes
in ber chriſtlichen Kirche und das vierte von ber Aneig-
nung der Berföhnung oder von der rechtfertigenden Liebe
und dem Glauben .an biefelbe.
66 *
90 Gartorius
Der Gedankengang ik folgender: „Fie heilige
Liebe Gotted reagirt mit heiligem rufe geggp bie um
Heilige Selbſtſucht der Sünder, bie ihr Berberben ik;
fie zürnt ihr mit gerechten Zorne. Die für diefelben bar:
ans folgende Scheidung von dem Lebensqueli ifl der leib:
liche und geiftliche Tod, Im Gewiſſen wird ber Biber:
wille Gottes gegen die Sünde ald Zurechnung berfelben
oder ale Schuld empfunden, welche die perennirenbe, die
ewige Strafe bes Böfen if, während die einzelnen Straf;
acte nur ihre einzelnen Erfcheinungen find. Diefer Ger
genfat der Heiligkeit Gotte® gegen das Böfe kann nun und
nimmermehr von Seite des fünphaften Menſchen vwerfähnt
werben, da demfelben nicht bloße Befeitigung von allerlei
Ablen Folgen, fondern Aufhebung des Gchuidverhältuif:
ſes ſelbſt, Wiedervereinigung mit Gott in heiliger Liebe
neth thut. Nur Gott feld Bann die durch fein Geſetz
gefchehene Scheidung und Strafe wieder aufheben. Er
thut es durch ſeite Gnade, durch die Selbfiverleuguung
heiliger, erbarmender Feindesliebe. Offenbarung dieſer
kiebe iſt die Menſchwerdung des Sohnes Gottes, welche
weder Alterirung der göttlichen noch der wwenfchlichen
Natur, fondern liebende Bereinigung ihrer zwiefachen
Weſenheit in der Einheit des perfönlichen Bewußtſeyns
bed Erlöfers il. Der Sohn Gottes hat die menſchliche
Natur in die Gemeinſchaft ſeines Selbſtbewußtſeyns anf:
genommen, iſt als zweiter. Urmenſch geſchaffen, zugleich
aus dem alten Geſchlechte als Sohn David's geborer.
So iſt er Gottmenſch, Gottes⸗ und Menſcheuſohn zu:
gleich, zwiſchen welchen beiden Naturen dem Weſen der
Liebe gemäß eine Mittheilung der Eigenfhaften beſteht.
Während diefe Menfchwerdung auch ohne die Bünde
uud ihre Folgen Rattgefuuden hätte im paradieflfchen
Stande, fo hat er nun ſelbſt Kucchtsgeftalt angenommen,
bat in ber angenommenen Menfchheit fidy erniedrigt.
Aber wie die göttliche Natur ſchon hinieden der menſchli⸗
die Behre von ber heiligen Liebe. 994
hen von ihren Kräften (vgl. bie Wunder Iefu) mittheite,
fo tritt jenfeitd ein Zuftand volfommener Erhöhung diefer
ein, wo ſie, von ber Gottheit bewegt, in freiefter Beweglich⸗
feit, wie Strahlen bed Lichte, auch in bie Kernen dringt.”
„Der Berföhner iſt zugleich unfere Verföhnung, Die
Bereinigung ber Bottheit mit ber Menfchbeit in Sefu hat
nicht in ihm ihren Zwed, fondern fie iſt Mittel, und Je⸗
ſus ift der Mittler, der Mittelpnukt, von dem and götts
liches Licht und Erben über ade der Finfterniß und dem
Tode verfallenen Menſchen erneuernd auskrahlen fol,
JIudem er, das Haupt der Menfchheit, in der vollkom⸗
menften Liebe und GSelbfiverlengnung dem Geſetze gehors
fam war, bat er ein weltverföhnend Opfer gebracht,
Denn da6 Weſen bed Opfers ift Selbftverleugnung,
Selbſtverleugnung um Gotted Willen, wider ben alle
Sünde fireitet, völlige Liebe in leidender und thätiger
Selbſtverleugnung. Ein vollkommenes aber ift ed durch
feine Größe, Heiligkeit und. Barmherzigkeit, durch feine
Größe, da der Sohn Gottes fich felbft zum Opfer brach⸗
te, feiner ewigen, göttlichen Herrlichkeit fich entäußernd,
durch feine Heiligkeit, da er in demüthiger, bienender
Liebe den eignen Willen feinem Vater im Leiben aufs
opferte, durch feine Barmherzigkeit, da er dieß Alles für
die Menfchheit that. Durch diefe Barınherzigfeit des Soh⸗
ned, wie durch den Willen bed Vaters ift es ſtellver⸗
tretend, womit mehr die juridifche Seite ausgeſprochen
wird, während dad Opfer die theologifchsethifche bezeich⸗
net. Beide gehören übrigens zufammen (wie auch diefe
jene nicht ansfchließt, fondern in der iurisprudentia divina
mit ihr geeinigt IR), da es fich nicht bloß um quantitas
tive, fondern vielmehr auch um qualitative Genugthu⸗
ung handelt, Sufofern diefe im ganzen Leben, nicht bloß
in abgefenderten Momenten, fich ſelbſt entäußernde, ganz
Bott nnd dem Nächten ſich bingebende Liebe zugleich ein
gefegerfällendes Thum in ſich fchließt, wirb bie Satis⸗
| | Garterius
parken auch zur Satidfaction, fo daß Chrifti Opfer nit
bioß unſer Straf⸗, ſondern auch unſer Schuidverhäitun
aufhebt. So iſt Etzriſtus der Verſoͤhner zwiſchen Sett
und Menſch, wobei Gott ebenſo der Berfühuende if,
inſofern er ven Sohn als Opfer für die Welt dahingegeber,
ald der Verſoͤhnte, infofern der Sohn als Menſchesſen
dutch Entäußernng und Gehorſam ſich Gott geopfert kai.
Die Aungahme diefed Dyfers iſt aber vom Bater badırd
beglaubigt, daß er deu Bohn auferwert und zur Ham
lichkeit wieder erhoben bat, weicher Stand der Erhöhs
die Derlärung und Berewigung bes hienieben volbrad
ten Berföhmumgewerled des Sohnes if.”
„Nachdem nun die centrate Einheit uud Fulle des
Helle: in Ehriſto vollendet if, kanm fie in dem Umkren
der Mitteilung und Gemeinſchaft Abergeken burd deu
heil, Beil, Hiergu' Bient ihm ale wernehmfes Drges
das Wort. Schoͤpferiſch bezeugt er ſich durch daſſelbe ia
den Propheten und Apoſtein, um ein authentiſches, ſchrift⸗
liches Zeugniß der Eirche für immer zu geben, erhal)
hingegen anf Ormmd deffelden in den Zeiten ihrer weiten
‚Emtwidelung. lm aber die Guade zugleich fichtbar, i
ſiuulich torcreterer Form weitzutheilen, und um fie ſpeeiel
auf den Einzelnen zu beziehen und factifch zu übertragen
"bedient er ich ber Sacramente, welche md in die Ge
meinfchaft des Opfers Ehriſti, baffelbe uns zweiguen,
fegen und uns hiermit auch in bie gliedliche Gemein
fehaft mit feiner Bemeinde aufnehmen, Es ſind zwi:
die Taufe, das Bad der Wiedergeburt, welche ebjedit
durch dad mit bem Worte Gottes verdnadene und zus
Drgane der Gemeinfchaft mit dem Leiden Ehriſt geweibl?
Waffer und ſubjectiv durch den heil, Geiſt gewirkt wird
— nnd das heik Abendmahl, wodurch das wit der Zant
in und gefchaffene nene Leben erhalten wird. Wahrend jere
mehr nur eine Berkhräng mit der Gegenwart Eheiliik,
eine Befpeengung mit feinem Blute, fo. fett dieſes dv
bie Lehre vom ber Heiligen Eiche. 993
gegen, als ein eigentlihes Myſterium ber Liche, feine
Gegenwart in und hinein, Inden es Chriki für und ges
opferten Leib und fein für und vergoflenes Blut durch
Bermittelung bed geſegneten Brodes und Weines in wirk⸗
licher , wiewehl verflärter Weſenheit — inwendigen
Menſchen zu genießen gibt,”
„In Kraft dieſer farramentlichen und wörtlichen (in
der Abſolution an den Binzelnen fid; wendenden) Mit⸗
theilung des Berföhnopfers Ehriſti werben dene Menſchen
ſeine Bünben vergeben, und bie Gerechtigkeit Chriſti ihm
mugerochnet. Diefs Rechtfertigung iſt nicht bloß eine ob⸗
jeetivoe: Sentenz von Seite Gottes, welcher ein durch Dem
Gtauben bebingter Erlaß äußerer Strafe folgte, wehl
iM fie ein Bmadenurtietl‘ Bostes, aber zugleich audı eine
Gradbempirtung, weiche die Seele innig mis ber Liebe
beechbringt umb erfüllt, womit fie von dem Colt bes
Onabe geliebt wire. Sie ift die Einathmung ber gött⸗
lichen Liebe, von außen nach innen wirlend, während Die
Heiligung Die Audathmung Dieter Liebe ifk und alfo von
maen nnch außen wird, Der Begriff der Rechtfertiguug
fließt jede Zuthat and und leidet wie bee Begriff Der
Gerechtigkeit Teine Steigerung, weder von des Meaufchen, .
noch auch von Gottes Geite. Erforderlich bag iſt won
Seite dead Menſchen nur dieß Zwiefache: 1) Die Emmpfänge
lichkeit, weilde in ber durch das Geſetz und den Geil
Gottes gewirkten, Bad ganze eigne Thum und Weſen
richtenden und fivafenden Buße beſteht, mb 2) Das Ems
pfangen, welches durch den Glauben geſchieht. Dex
Glaube bringt nicht Die Rechtfertigung hervor, bie num
ms Ver Fülle Ehriſti quillt, aber er ift die firbjective,
bewußte Autiguung derſelben, wodurch er das höchſte
Gut nicht bloß empfängt, ſondern auch hat und genießt.
Gr if übrigens etwas Anderes, als die Kenntniß und
dad Forwahrhalten der bibliſchen oder Firchlichen Lehr,
füge überhaupt. Allesbingd dat er wohl dad Moment
. —— Gartesins
der Erkeunntniß in ſich, und: zwar fowehl der Selbſt⸗ alt
Gottes erkenutuiß, aber dieſe Erkenntuiß, welche bie Groͤſße
der Güude nud Guabde decrifft und alſo ethiſchen Gehal⸗
tes iſt, gehört weſentlich in das Gebiet des Sewiſſent
and der Beifall, dem ihr die Seele gibt, und das Ver⸗
tranen, womit fie ihrem Objecte fi hingibt, umd der
Friede, den fie empfängt, geben nicht ſowohl das Wiſ⸗
fon, ald vielmehr das Herz; uud den Willen an. Jaſe⸗
fern iſt bee Eiaube die tiefſte Gelbäverieuguung. Buße
und lautes begränden deu großen fittlidyen Akt der
Wicbergeburt oder Belehrung des fügdigen Menfcer.
Der alte Menfi, welcher eben erneuert werben fol,
thut diefen Aet wicht und kann ihn nicht than, fonbern
er leidet nur, daß er in ihm geſchhteht durch die wirken
GBuabe; fobald ew aber durch fie neue Kräfte gewommn
bat, fo. wirkt er durch diefe auch lebendig weit zum Bad
thume feines: nenen Lebend, Der neue Liebesgeherfamif
beghalb nicht Goefficient der Belehrung, aber er if dad
integrirende Refultat, die nothwendige Folge derfelben.”
Aus dieſer Inhaltsüberficht geht hervor, daß de
Verf. in den Grundgedanken und im Hauptgange bet
kirchlichen Lehrauffaſſung folge: Doc, it es nicht bloße
Miedervorfährung eined Alten, etwa nur in lebendigerer,
jeitgemäßerer Form, fondern ed waltet barin zugleid
auch ein neues Clement, dieß nämlich, daß der Ber.
Alled and einem principielen Gruudgedanken ermadien
zu laffen verfucht. Diefer Grundgedanke ift ihm die heir
lige Liebe. : Wie er fie ſchon im erfien Theile bes Bw
ches ale das Weſen Gottes bezeichnen, weiches in allen
feinen Eigenſchaften das eigentliche, erfüllende Leben bilde,
wie er ans ihr bie Schöpfung entfpringen läßt, is De
zug auf fie dad Weſen der Side erfaßt and bad Be
feg als ihre Energie der Sünde gegenüber ans ihr ber
leitet, fo begegnet und auch im zweiten Theile Alles in
ihrem Lichte, Und dieß eben, daß er ihr Walten in der
bie Lehre von der heiligen Liebe. 995
ganzen Dekonomie verfolgt, IM «3 vor Anderem, wasden
Berf. theils über manche Dürre und Aeußerlichbeit frühen
rer Darftellungen der kirchlichen Lehre erhebt, theils im
neue Tiefen der göttlichen Wahrheit führt.
So faßt' er den Zorn Sottes gegen den Sünder nicht
ald eine Aenßerung feiner Gerechkigkeit im Begenfaße feis
ner Liebe, fondern ald eine unmittelbare und wirfliche
Yenßerung der Liebe felbft; vergl. S. 2: „Der Eifer
der göttlidyen Liebe für das Seil ihrer Geſchsöpfe wurbe
zum Eifer gegen dad Unheit’derfelden, gegen die
Sünde. Die heilige Liebe reagirt mit heiligem Eruſte
gegen die unhellige Selbfifucht der Sünder, bie ihr Ders
derben iſt; fie zürnt ihr mit gerechtem Zorne, und eben
diefer Zorn, dieſer Ernft Gotted gegen das Böfe iſt
die wefentliche Strafe deſſelben.“ Damit iſt zugleich eine
tiefere Erfaſſung des Weſens der Strafe ausgeſpro⸗
chen, Über welche es (S. 3.) weiter heißt: „Die zeitlichen,
änßerlichen Strafen, wozu jegliche Ereatur ihrem Gebie⸗
ter dienen far (Weish. 5, 18. 16, 24.), find nur aceidens
tel, die Subſtanz, das ewige Weſen derfelben ift der
heilige @ifer des heiligen Gottes gegen das Unheilige,
fein Widerwille gegen das Widergättliche, fein Berwers
fen des Verwerflichen.“
Auch bei der Lehre von dee Menfhwerdung,
in welcher er ſelbſt zu der ganz nochwendigen Somfequenz
fortfchreitet, daß diefelbe „auch ohne die Sünde und ihre
Folgen flatigefunden hätte im paradieſiſchen Stande,”
bieter ihm das Princip der Liebe eine ficherere und tiefere
Begründung der kirchlichen Wahrheit, wenn er über die
unio der beiden Naturen (&.12.) fagt: „Die Liebe hebt,
wie überall, fo auch hier, nur die Scheidung auf, aber
nicht die Unterfchiede, nur dad Zwiefpältige, aber nicht
das Zwiefältige, fie ift vielmehr das Band des linters
Ichiedenen.” Und ‚5.20. fügt er hinzu: „Gegenfeitige
Mithellung der Cigenfchaften (communicatio idiomstum)
1 7° 2: \
iſt dad Beten jedes Bunbes, ſeder Lickedgewrtinfcheit;
nur der Egelomns, der all fein Eignes für ſich behalten
will, widerſtrebt ihr; denn der will Immer nur thei⸗
len, aber nie mätt heilen. eur heilige Conmunien
der Bortheit weit Der Meuſchheit in Ehriſto Tan nicht
ohne die vertrantefie Mitcheilung three beidenfeitigen Ei:
genfihaften, ohne die intimite Einigung ihrer Gegenſtte
gumal aber ifk es die Lehre vom Opfer, wo der
Berf. vom Priacipe der Lebt geisttet, tiefere Bike er⸗
sffnet. Er geht unf ben urfprhuglichen Begriff des Wor⸗
tes „ofane, Syingabe” zurick, und ſaßt Dad Opfer al
Entäußerung wid Darbringung des Eignen, abls Beibb
tigung der Seibſtverleuguung. Een heiligen Charalin
erhült es dadurch, daß bie Selbſto erlengnung um Gottes
willen geſchicht. Jedes Dpfet will hiernuch den Mer⸗
ſchen und feiner egoiſtiſchen Gebundenheit, and fen
Berfelbfiigung herausheben. Entweder iſt es eine Betha⸗
tigung, ein Andbruf der Liebe (wie das Opfer bed Lo⸗
6 md Dankes) und ſetzt dann die Deuieinfchaft der
Liebe ſchön voraus, oder es will bie darch bie Gäu
geteermte Bemeinfchaft derſelben verföhnend wieber her
flellen und einen neuen Licbesbund Riften, wie dfe Sütw
opfern, Das Dpfer uber, weiches bein Gott; der bie hei
lige @icbe ift, wahrhaft genugthut, iſt die wöllige Liebt,
die een fo völlig in leidender als thaätiger Gelpftweeimp
nung dad ganze Herz, bie ganze Geele ud bad gasit
Semuth ihrem Bott hingibt. Leidend wird fie für der
Sünder fpechell im Dalden ber göntlichen Steafe, weidt
Die Redetion der heiligen Liebe Gottes gegen feine Sürde
iſt; und eben biefe freiwillige Uedernahme mat die
Strafe zum verföhnenem Opfer. Diefer reinen Verleng⸗
nung aber ift ber in Seibtſucht gefugene‘ Günber nid
fühl. Rur der, welcher, felbft unendlich, die Kraft did
mubischen, uwoergängtichen Lebens im ſich ige, Pan
die Lehre von ber Gelligen Liebe. 997
in das .wergängliche, embliche Leben fie hineintragen. Das
ran Tann war Gott ſelbſt die Welt mir ihm felber vers
föhnen Gen Derföhnungsopfer hat mit der Annahnıe
ber menſchlichen Natur in ber Armften Kindes⸗ und Knechts⸗
geſtalt begonnen un» hat ſich ald vollklommene Geſetz es⸗
erfüllumg in heiliger, datmherziger Mebe thuend umd lei⸗
dend durch dad ganze menſchliche Leben des Sohnes Bert,
tes hindarchgezogen, bis es am Kreuze vollbracht und
vollendet wor den. Indem mat das Gewicht exeluſto auf
fein ſteloertretendes Strafleiden legt, bezieht man die
Erlöfung:.aue auf die Strafe, nicht auf die Schaft, Des
ven Folge nur die Strafe iſt; aber eben Das Schudver⸗
hältniß, welches eo ipso Rtafend und, wo es zum Bis
wußptfeyh gelommen, die weſentliche Strafe der Sünde
Mt, muß ‚aufgehoben werden.” Dit dieſer Auffaſſung Hi
ein weſentlicher Fortſchritt gefchrhen. An die Stelle der
anantitwtiven Auſchauung iſt bie qualitative getteten, bie
wiltöikoliche Beziehumg der Berſohnung auf einzelne Mo⸗
mente im Leben Jeſu iſt gefallen, fein ganzes Leben wird
als Ciue diebedthat gefaßt, die Anperliche Treunung won
Than und Reiben IR, wie allerdings Icon die Contor⸗
dienfiermel hierin vorangegangen, durch ven Begriff des
Gehorſams überwunden, nnd diefer wiederum durch das
Leben Ser Liebe in ihm zur Innertichleit und Fülle erhes
ben wonden, — kurz, ber Begriff des Opfers iſt von
feiner furiftifchen Einfeitigkeit befreit, und Dagegen Der
Kernpunkt ver Sache, von ws aus bie Übrigen Seiten
ihr rechtes Licht erhakten, in der „Riebeswerkengnung”
anfe beſtimmteſte hervorgehoben.
Ebenſo hat der Berf. auch beim heil. Abendmahle
die iunerſte Bedentung deſſelben erkaunt, wenn er es ein
Mahl ber Liebe nennt. Muß ja doch das Sacrament,
wenn es eine weientliche Bedeutung für den Ehriften ha,
ben fol, in die engfle, ummittelbarfte Beziehung gar
Quelle alles Heild gefegt werben. Die vbloße Mitthei⸗
WM... Werkorins
Iung von Reib und Blut, auch von feinem geapferien,
kenn für uns keine Gnadenkraft haben, wenn nicht bad,
was des Opfers Wefen it, Durch diefe Mittheilung des
Bespferten in ungern iawendigen Menfchen fick einfent.
A das Weſen des Opfers Berieuguung der Liebe, ft
taun das Abendmahl nichts Auderes ſeyn, als That ud
Gabe biefer Liebe, die, wie eben al ihr Thum gegen bes
Günder ſelbſtverleugnend iſt, in der Zuwendung bei
Opfers an deufelben felbft noch den lebten, tiefſten Be:
leuguungsſchritt that, indem fie mit ber ganzen, durd
ihre zeitliche Gelbihingabe erworbenen Buadeufülle auq
leiblich in des Sunders unwärdige Natur einkehrt. Hin
über laßt fidy der Verf. (&.120.) vernehmen: „Die Lie
i8 es, welche den Bater bewogen, ben Gohu bakiıs
geben in die menfchliche Knechtoögeſtalt uub überhaupt die
innigfie Communion der göttlichen wit ber menſchlichen
Ratur zu ſtiften; die Riebe if ed, weiche den menihge
worbenen Gottesſohn bewegt, fich an feine Meitmenfchen
hinzugeben und mit ihnen in die Communion feines kw
beö und Bintes zu treten und dadurch ihnen mitzmtheils
allerlei Botteöfülle. Das heil. Abendmahl febt jene
Opfer der tiefien Liebe und Selbſtoerleugnung vorasdı
weldyes am SKrenze vollbracht worben «ld die vollen
mente Hingabe in des Vaters Hand, und es iftfelbh
wiederum eine Hingabe zwar nicht an Gott, weil
eber an bie Menſchen, die der Berfähuung und Wieden
vereinigung mit Bott bebürfen. Alles athmet hier Lich,
Altes zielt anf Union, Eommunion, Gommuntcation.”
In die engfte Verbindung mit dem Principe, vn
welchem er ausgegangen, ſtellt der Berf. ferner auch die
Echre vom Glauben, wodurch biefeibe außer ledende
gerer Fülle zugleich eine feſtere Umgrenzung erhaͤlt. Det
Obiect des Gianbens iſt ihm wicht ein Berfchiedend,
kaun nicht zufallig jetzt dieß, dann jenes ſeyn, ſondern H
allezeit Eines nur: bie Liebe; nad ebenfo kaun bie Bird!
die Lehre von der’ heiligen Liebe. 9%
wieder nur auf Einem Wege als Tolche erfahren werben,
auf dem des Glaubens, wie der Berf. (S.162.) fchön fagt:
„Jede Liebesgemeinfchaft hat in fih das Lieben und Ges
liebtwerden; das erfte, die vom Subjecte zum Öbjecte
ausgehende Liebe ift feine Sache ded Glaubens, fonderr
ded unmittelbaren Gefühls und Bewußtſeyns; aber das
Geliebtwerden oder die vom DObjecte auf das Subject
eingehende Liebe Tann für diefes nur Sache ded Glan»
bens feyn. Lieben und Glauben find Daher correlat wie
Activum und Paffivum, wie Geben und Empfangen ber
Liebe, Das Lieben habe ich im Gefühle, welches zum.
bewußten Wollen wird, das Geliebtwerden im Glauben,
weiche® zum bewußten Gefühle und fo zur Gegenliebe
wird. Es gibt alfo Feine Gemeinſchaft der Liebe (infor
fern diefe nothwendig ſowohl bad amari ald dad amare
involvirt) ohne Glauben, und alfo auch keine Gemeine
fchäft der Geelen, bie eben im Bunde -der Liebe befleht,
ohne Glauben, und daher ohne ihn überhaupt Fein Sees:
lenglück. Denn keine Seele it glüdlich in fich felber,
für fi allein; jede nur in Gemeinſchaft mit anderen, in
der Liebe; unfelig ift, wer an keine Liebe glanbt, wos
mit er geliebt wird, und wie ein Verdammter geht um⸗
ber, wer fich von Allen gehaßt glaubt.” Der Verf zeigt
Bann in einleuchtender Weife, wie dieß fhon von bloß
menfchlichen Verhältniffen gelte, und gebt von ba auf
das Verhaͤltniß des Sünbers zu Gott über, wo er fagt
(8. 155.): „Eine Fülle der Liebe und Bnade gießt fie
über den armen Sünder aus und wendet reichen Gegen
in himmliſchen @ütern durch Chriftum ihm zu. Seine
Armuth bat nichts zu geben ,. nichts zu bringen; fie hat
nur zu nehmen, was ihr geboten, nur zu empfangen,
was ihr gefchentt wird, und fie nimmt und empfängt ed
Durch den Blauben. Der Glaube iſt die Hand, ift ber
Mund der Seele. Die Hand bewirkt nicht die Gabe,
welche dargeboten wird, fondern fie uimmt fie nur; Der
I . NQarterius⸗
Mund bereiten nicht Die Speiſe, ſonders er ergreift fe
um, So bringe Der Glaube auch nicht nbiectio die Rech⸗
fentigung hervor, die nur aus her Fülle Ehrifi quilt;
Aber er if die ſuhjeetive, dewußte Aneignung berfeiben,
aba welche ihre Objecsinität eben fo vergeblich if, wie
eine Gpeife, Die wicht genoſſen wird.” Der Berf. hätte
Bis Eonſequenz nur noch weiter ziehen und im Glauben
ſelliſt audı das Liebeweſen nachmailen ſollen; denn da
Gleiches nur von Gleichem kann verſtanden und erfaßt
werden, fo muß der wahre Glaube, der Gottes Liebe hin:
aimmt, bat und genießt, ſelbſt auch eine, wiewohl au
ned) receptive, Liebedbeweguug des Gemäthe fen, wei
der die fpontane aber als nothwendiges Erzengriß vos
ſelbſt folgt, Aber zu diefer Conſequenz gebt der Bei.
nicht fort, und hieß hat zur Folge, daß bei der Lehr
con ber Wiedergeburt und Belehrung das Berhalten dei
Menfchen, wie unten noch gezeigt werben wird, niet ia
feinse vollen Lebendigkeit erfcheint. Daß der Berf. and
fonft auf dem Gebiete der kirchlichen Lehre ſich fteier be»
wege mad fie, ſtatt fie in ihren äußeren hiſtoriſchen Fer
men feſtguhalten, vielmehr von innen heraus organiid
gu verſtehen fuche, bafür dieus, was er (S. 82.) von ber
Anſpiratirn der heil. Schrift fagt: „Salcher orga⸗
wifche Begriff der heil, Schrift, wenech Moſes und dir
Propheten, und Die Apoſtel una apoßoliſchhen Männer,
bie, vom Geiſte Ehrifi (1 Petr. 1,12.) beſeelt, ie geſchrie⸗
den haben, ſich dienend gliedern um das Haupt des Herrn,
gibt Die rechte Wärbigung berfelben. Ein Organismus,
je lebensvoller er geſtaltet iR, um fo mannichfacher find
feine Glieder; nicht haben alle Glieder gleichen Werth,
gleiche Nothwendigkeit, gleiche Geiſtesfülle; einige fichen
in näheren, andere in entferuterem Verhaltniſſe zum Her⸗
zen und Haupte; dennoch. find fie alle Durch Einen ke⸗
bendgeift verbunden und dienen Einer Seele. Sehr us
gleichartig And Die Sieber der heil. Schrift, bie einzel
die Lehre von des Beiligen Liebe, 1008
nen Schriften, weiche bie Bibel bilden; nicht mit: gleich⸗
färmiger ‚Energie geht das Walten des heil, Geiſtes
durch alle hindurch. Ye bekimmter ber Zug des Geiſtes
zu Ghrifte ald dem, der bed Geſetzes Ende if, je Has
rer und kraͤftiger das Zeugniß von ihm als dem Ballen,
der ded Evangeliums, um fo intenfiver iR bie Ins
fpiralion, dig ſich demohngeachtet aber auch in jene fer
neren Regionen der heil, Schrift ertenbirt, welche zu dem
Mittelpanfte nur in mittelbarer Beziehung fichen.”
Mer. könnte ded Bortrefflichen, was das Buch im
Einzelnen enthält, noch gar viel hervorheben, fürchtese
er nicht, allen Raum, welcher biefer Anzeige gewährt
werben Tann, dafür wegzunehmen, während er 06 doch
nicht weniger für feine Pflicht hält, auch die weſentlich⸗
ften der ihm im Buche entgegentreteuben Mängel zu bee
zeichnen.
Seine Gegenbemerkungen betreffen aber vorerſt das
aufgeſtellte Princip und deſſen Durchführung.
Zwar iſt er weit entfernt, dagegen etwas einwenden zu
wollen, daß der Verf. alle Offenbarnugen Gottes won
feiner Liebe ausgehen laſſe, vielmehr Hält er dieß, wie
oben audgefprocdhen worden, für einen Hauptvorzug des
Buches. Demm die Liebe ift, wie ber Berf. im erſten
Theile 18.9.) richtig fagt, „wicht eine bloße Eigenſchaft,
welche Bott hat, fondern vielmehr das Weſen, welches
er if.” Und es werben beßhalb alle Eigenſchaften und
alle Werke Gottes wur fo weit richtig erfannt, als das
Walten und Wirken Der Liebe darin erkaunt wird, Aber
eben deßhalb muß e6 Rec. für einen Überflüffigen, ja
fiöreuben Beifag halten, dap ihr bad Präpkae „heilig?
noch beigegeben iR. Ueberflüſſig — weil es durchaus in
ihrem Weſen liegt, daß fie heilig fey. Es läßt fich feine
perfönlihe Liebe denken, die nicht heilig wäre, und nur
fo weit fie heilig iR, iſt fie wirklich auch Liebe; jedes
Momente der Unheiligkeit träge ein Moment der Gelbfis
&
wor . Bauterius
ſacht in fie hinein. Stürend aber — weil ber Ghein
daraus erwüͤchſt, ald ob die Liebe bei ihrer Offenbarung
nur wach diefer Geite ihrer Eigenfchaften wirtfam ſey.
Oder wäre die Schöpfung aus ihrer Heiligkeit allein
gu erllären? fchafft die Liebe nicht zugleich ale eine al:
mächtige? und that fie irgend etwas, darin ihre Wais⸗
beit nicht ebenfo mitwirkte, als ihre Heiligkeit? Selle
aber der Beifau in der Räckſicht gemacht fegn, daß ge
genüber ben freien Thun des Menfchen eben dis Seite
Der Helligkeit in der Liebe vor andern in Betracht kaͤme,
und deßhalb in einem Dogmatik und Ethik verbindenden
Merle dieß der leitende Geſichtspunkt ſeyn müſſe, fo läßt
Ach dieß doch nicht wirklich auf ale Theile anwenden
Denn der Ratbfchluß, die fündige Menfchheit zu erloͤſen,
bat feinen Grund nicht in der Heiligkeit der Liebe; nicht
weil fie heilig iſt, erlöft fie, fondern weil fie barmberzis
it (wiewohl fie auch in ihrer Barmherzigkeit heilig bleibt).
Und es müßte deßhalb dem Präbicate der Heiligkeit wer
nigßend noch das ber Barmherzigkeit beigefügt werben.
Man kann auch nicht bafür anführen, daß Die Barmher
‚ gigleit in der Liebe ald die Eonfequenz ihrer Wahrheit
enthalten fey und fomit Feiner befonderen Auführung ber
bürfe; denn die Heiligkeit ift nicht weniger darin ent
halten als ihre Borausfegung. Nur infofern ließe ich’
einigermaßen rechtfertigen, ale im Worte „Riebe” die
Selbfimittheilung das beftimmende Moment des Begriffe
bildet, wovon die Barmherzigkeit nur eine Modificalion
audfagt, während die Heiligkeit ihre Selbſtbewahrung
bezeichnet, die im Begriffe nicht unmittelbar als integrir
rendes Moment erttgegentritt, obwohl es im ihr liegt, da
feine wahre Gemeinfchaft ohne Selbfibewahrung möglid
il. Aber in diefem Kalle liegt die Gefahr fehr naht,
doch wieder einen Dualidmus von Heiligkeit und Lieb,
woran die kirchliche Lehrdarftellung leidet, in die Ent
widelung Sereinzubringen, während jewed Ausgehen von
3
die Lehre von der heiligen Liebe. 1003
dem beftimmten Principe der göttlichen Liebe bavor eben
bewahren foflte. Und dieſer Gefahr ift der Verf. auch
nicht ganz entgangen,
Eine genaue, eingehende Darlegung bed Weſens der
Liebe wärde ihn am ficherfien haben davor bewahren
fönnen, aber diefe gibt der Verf. nicht. Er zeigt wohl
(Bd. I. S. 4) in fchöner und tieffinniger Weife, daß es
ohne Liebe Fein wahres Erkennen gebe, da in Allem,
was ift, die Liebe das geiftige Band ſey, welches allbes
berrfchend die ganze Welt fo burchdringe als umfchlinge,
fo erhalte ala regiere und fittlih ordne, und (S.7ff.),
daß alle Eigenfchaften Gottes in dem Begriffe der abſo⸗
Inten Liebe zufammengehen, daß Geift, Unendlichkeit,
Ewigkeit, Heiligkeit und Geredhtigfeit hohle Abftractionen
find, wenn fie von der Liebe los gedacht werden, daß
aber fie in ihnen allen er der Urquell, das Leben und
ihre Füͤlle fey. Aber was die Liebe ſelbſt fey, iſt nicht
gefagt. Da, wo der Berf. zu erweifen fucht, daß Gott,
weil er die Liebe ift, ein dreieiniger fey, — ein Geheim⸗
niß, welches allerdings am annäherndften aus dem We⸗
fen der Liebe erfannt werden kann, — da bemerft er
wohl über diefelbe, daß ihr Wefen Mittheilung fey, alfo
bas der vollfommenften Liebe, welche Bott ift, die voll,
kommenſte Selbftmittheilung, und auch fonft finden wir
an verfchiedenen Stellen fehr wahr und tiefer einführende
Bemerkungen darüber. Allein folche gelegentliche Bemer⸗
fangen tönnen nicht genügen, wo es gilt, ein ganzes
Syſtem der Lehre darauf aufzubauen, einen lebendigen
Organismus gefchichtlicher Offenbarung daraus zu ent
wideln. Es müßte nicht nur eine vollltändige Beſtim⸗
mung ded Begriffe vorausgefchidt, fondern, was von
noch wichtigerem Belang iſt, ed müßten die verfchiedenen
Seiten ihres Weſens und deren gegenfeitige Beziehuns
gen dargelegt, es müßten die Gefete ihres Lebens aus
ihr felnf gefunden und daraus bie a ihrer Offen»
Theol. Stud, Jahrg. 1847,
1004 Sartorius
barang gefolgert werden; dann würde die Stellnig dr
Heiligkeit zur Liebe klarer erkannt werden, dann aber auf
die ftrenge Durchführung ber Liebe ald des aflbebingenden
Principe durch alle Theile der Lehre fidyerer geſchehes
fönnen,
Diefe mangelt in manchen Stellen des vorliegenden
zweiten Theil, Go ©. 3., nachdem der Berf., wid ober
angeführt worben, den Zorn ald Energie ber Liebe ge:
gen die Gände dargeſtellt hat, heißt ed weiter: „Die
Ermangelung feine! Liebe, dad Geſchiedenſeyn von ihr
tft die Unfeligkeit; benn feine Liebe ff die Quelle ale
Lebens; fieift das ewige Leben ſelbſt; die Scheidung von
der Lebendaquelle ift Tod, leiblicher Tod, infofern dem
Leibe die belebende, erhaltende Liebe fich entzieht, geif-
licher Tod, infofern die Seele der beſeligenden und hei.
figenden Liebe ernrangelt, und diefer gefftlihe Tod wir
jum ewigen, inter und doch nimmer fierbenden Tode,
wenn die Seele, nachdem fie gegen beit heiligen Gott
fi) verftodt hat, verworfen wird von Gott und verlaf
fen von der göttlichen Liebe, bingegeben iſt ber Be
dammniß quülender und gequäffer Selbſtſucht.“ Iſt Eiche
das Weſen Gottes, fo muß er die Liebe gegen jedes ſei⸗
ner Gefhöpfe feyn, und wahrhaft verlaffen kaun er kei⸗
ned derfelden. Populär ausgedräcdt, Hat diefe Verwer⸗
fung und Berlaffung ihre Wahrheit, wiſſenſchaftlich, nicht.
Bielmehr lebt umd wirft Gott auch‘ im den Gottloſen,
und zwar ale die Liebe; nur, weil fie ſelbſt, Die ganzis
Selbftfucht aufgegangen find, ver Liebe im Grunde ihrer
Weſenheit feind find, können fie biefelde mar als eine feind»
liche, abftoßende erfahren. Ja eben dus iſt Ver eigen!
lichſte Srimm ihrer Qual, daß diefe Liebe, die am id
heilig, alfo ihrer Sünde feind it, in ihnen ale unant:
tilgbare höhere Macht wohnt, wie bieß fchon aus der
Dual des Gewiſſens hienieden erkennbar iſt; und durch
nichts würde ihre Qual mehr erleichtert, als wenn diele
die Lehre vor der heiligen Liebe 1005
fhredlihe Gegenwart ihrer reinen Herrlichkeit von ihnen
wiche. Auf die gleiche Conſequenz deutet zwar auch das
bin, was der Berf. (Thl. 1. S. 140 ff.) trefffich Aber das
Weſen ded göttlichen Zornes fagt, allein wirklich durch⸗
geführt iſt dieſelbe auch dort nicht.
Auch noch an manchen andern Stellen möchte man
das Princip ber Liebe klarer in jedem Momente der Ent,
wickelung durchleuchten und durchwirken fehen. Zumal
wird öfterd, wo Gerechtigkeit, Geſetz, Schuld. und Strafe
im Verhältniſſe und Gegenfage zur verföhnenden Liebe
befprdchen werben, diefer Gegenfat in einer Weiſe urgirt,
daß man dad auch in ihnen waltende Weſen der Liebe
nimmer erfenit. Schon wo der Berf. im erften Theile
vom Geſetze redet, legt er zwar großes Gewicht, und mit
Recht, darauf, daß bie Liebe, d. 5. die Liebe des Men⸗
(hen gegen Gott und den Nächſten, des Geſetzes Inhalt
fey, aber daß das Geſetz in der Liebe, d. h. in der Liebe
Gottes gegen und, auch feinen Grund habe, eine noth⸗
wendfge Offenbarung ihrer felbft auf Grund ihres Innern
Lkebensgeſetzes fey, das tritt fehr zurück, während doch
vor Allen nad) dieſer Seite das Princip der Liebe hier
durchzuführen Wäre. Nur dadurch wird man an den Zu⸗
ſammenhaͤng beſſelben mit der Liebe erinnert, daß der
Verf. — und hiermit erhebt er fich allerdings fehr Aber
die gewöhnliche änßere Auffaffung des Geſetzes — zeigt,
wie das Geſetz nichts Anderes fey, ald bie in Kolge des
Widerſpruchs der Sünde nun auch in Widerfpruch gegen
ihn getretene bee bed Menfchen oder feine Gotteseben⸗
bitdlichkeit, welche durch ben göttlichen Liebeswillen bei
der Schöpfung in ihm manifeſtirt und realifirt worden
war, und zum Andern dadurch, baß er das Geſetz als
eine Yeußerung bed Zorned Gottes gegen die Sünde bes
zeichnet, welcher Zorn die heilige Reaction feiner Liebe
gegen dad Begentheil berfelden ſey. Aber jenes führt
nur fehr ummittelbar zur Liebe zurück, und dieſes wird
67 a
Sn
-
1006 Sartorius
bei der nähern Ausführung mehr aus der Heiligkeit für
fi, ſtatt aus der Liebe als folcher (fo DaB auch die Hei⸗
ligkeit als Liebesäußerung erfchiene) begrünbet. Der ſeht
tief in die Sache führende Gedanke, welcher bort (8. 140.)
audgefprochen it: „Gott wäre nicht Die heilige Liebe,
wenn er nicht zürnte ‚ben, was gegen bie Liebe iR; ie
mehr er liebt und das Wohl feiner Gefchöpfe liebt, un
fo mehr zürnt er dem, was ihr Liebel und Verberben if,
d.h. der Sünde,” — diefer Gedanke müßte noch volllän
diger aus dem Weſen ber Liebe entwidelt und bewieſen
werden, wenn man ſich ganz befriedigt fühlen follte. Inebe⸗
fondere wäre, indem der Zorn nicht bloß auf die Sünde, fer
dern auf den Sünder ſelbſt bezogen wird, darzuthun, daß die
Liebe, wenn fündlicher Widerfpruch fich gegen fie erhoben hat,
eben nur in ber Mittheilungsweife bes Zornes Lich
bleibe, und zwar nicht bloß an ſich, fondern ſpeciell and
gegen den, dem fie zürnt, daß fie nicht bloß zürne, us
ſich feluft zu erhalten, fondern um fi dem, der it
feind ift, auch jeßt noch nad dem ganzen Maße feine
Empfänglichkeit mitzutheilen, wie das in ihrem Bela
liegt. Der hier gebliebene Mangel macht ſich nunis
zweiten Theile noch fühlbarer, wenn Schuld und Strafex.
immer nur auf bad Geſetz zurückgeführt erfcheinen, nu:
gende mehr aber das Weſen der Liebe in ihnen verfpün
wird, vielmehr ſelbſt Stellen vorkommen, wo fie im Ge⸗
genfage gegen bie Liebe auftreten, wie S. 46., wo id
heißt: „Das Geſetz mit feiner Strafe ertödtet die für
dige Seele (Röm. 7, 10—13.), aber es belebt fie nicht,
ed kann ihr Fein neues Leben, keine nene Liebe geben
(Sal. 3,21.); die Liebe allein aber beffert, nicht die
Strafe; die Strafe ſchlägt wohl nieder, was ſich fe
ſüchtig aufblähet gegen Gott, aber fle richtet das Rie
dergefchlagene nit auf, fie erbauet nicht, n dyaam
olxodogsi (1Kor. 8,1.).” Dffenbar erfcheint bier die
“ Strafe ald Gegentheil der Liebe (worunter, wie an
die Lehre von ber heiligen Liebe. 1007
der beigefügten Schriftftele und aus der Parallele zum
Geſetze erhellt, vom Berf. die göttliche verſtanden wird),
während doch die Strafe felbft ein Ausflug der Liebe
ift. Was der Verf. hier Liebe ausfchließfich nennt, ift
nur die höhere Offenbarungsftufe derfelben Liebe, welche
auf der niedrigeren Stufe Strafe ift, fo daß eigentlich
ftrafende und vergebende Liebe einander entgegengefeßt
werden follten, Nur auf anderen Grundlagen oder im
populären Sprachgebrandye darf die höhere Offenbarung
der göttlichen Liebe im Gegenfage zur Strafe ıc. mit
Liebe felbft bezeichnet werden. Wo aber, wie im vorlies
genden Werke, von der Liebe ale alldurchdringendem
Principe ausgegangen wird, kann biefer Grundbegriff
nicht wieder für eine einzelne Seite deffelben gebraucht
werden, wenn man nidyt, während man über den un—⸗
aufgehobenen Gegenſatz von Gerechtigkeit und Liebe in
der älteren Firchlichen Anficht erhoben zu werden hofft,
doch in diefen wieder zurücgeführt und im Ideenkreiſe
diefed Gegenſatzes gehalten werden fol.
Auch bei andern Punkten würde es der Darftellung
ſehr zu flatten gefommen feyn, wenn das Wefen ber Liebe
von vorn herein nach allen Seiten gründlich entwidelt
worden wäre. Go fagt der Verf. wohl fehr richtig über
die Weife der Menfchwerdung (S.21.): „Die verföhnende
Menſchwerdung Gottes in Ehrifto ift der größte Beweis
der heiligen Liebe Gottes, weil fie der Selbſtſucht der
Melt gegenüber die tieffte Selbfiverleugnung des Höch-
ften ift, der ſich als Menſch bis zur Knechtsgeſtalt er:
niedrigt hat. Nicht etwa nur eine bofetifche Verhüllung
(xg5Hı5) der göttlichen Herrlichkeit fand darin ftatt, ſon⸗
dern eine wirflihe Entäußerung (xEvaaıs, Phil. 2, 7.),
zwar nicht der ewigen Potenz berfelben, was unmögs
ih, wohl aber ihrer unendlihen Actuwofität in der
Endlichkeit.“ Aber anftatt daß dieß nun aus dem We⸗
1008 Sartoriußs
ſen der Liebe erwieſen wärbe, folgt nur folgendes as
fich fehr ſchöͤne und erllärende Bild: „Das Auge, wel
des Himmel uud Erde mit den Strahlen feines Blidi
umfaßt, entäußert fich nicht der Schkraft, wenn es id
ins Dunkel begibt oder dad Augenlied fchließt, fordere
. nur ihrer weitherrfchenden Wirkfamkeit; fo ſenkt dır
Sohn Gottes auf Erden fein allumfaffendes Ange ud
hegibt fich ind menfchliche Dunkel und öffnet darin ali
ein Menſchenkind fein Auge ald das allmählich aufgehent:
Licht der Menſchenwelt (kLuk. 2, 52.), bis er ed zur Reh:
teu des Baters leuchten läßt in völliger Herrlichkeit.”
Ebenſo wänfchte man den (S. 32.) ald Uebergang von
erften zum zweiten Kapitel gewählten, fehr tief in das
Berftändnig der Berföhnung leitenden Gedanken: „de
Berföhner it unfere Berfühnung,” dadurch näher begrüß
det, daß gezeigt würbe, wie bie Liebe, indem fle fd
felbft gibt, damit eo ipao Gegen bringt, und fprciel die
göttliche Liebe den Segen, weldyen die fündige Menſch
heit bedarf. Zwar fleht 5. 34. und 35. eine Stelle, i
welcher bie unmittelbar gegebene Immanenz des Werft
in der Perfon noch weiter ausgeſprochen it, ed ih di
bie fchöne Stelle: „Die Vereinigung ber Gottheit mi
ber Menfchheit in Jeſu hat nicht im ihm ihren Eudzwel
als habe nur ihn als Individuum Gott erkoren, um ihr
die Fülle feiner Liebe ausſchließlich mitzutheilen; nei,
fie ik Mittel und "Iefus der Mittler, der Meittelpusft,
von dem aus göttliches Licht und Leben über alle, dt
Finſterniß und deu Tode verfallenen, Menfchen erneuern)
audftrahlen fol. Es if das Wohlgefallen geweſen, daj
in ihm alle Fülle wohnen ſollte (Kol. 1, 19.), damit au
feiner Fülle Ale nehmen möchten Gnade um Ga
(Joh. 1,16,). Eines bedingt hier das Andere; bie Je
tenfität feiner Perfon begründet die Extenfirät feınet
Wirkſamkeit; je mehr im ihm concentrirt iſt bie Bereit
die Lehre von ber heiligen Liebe. 4009
gung ber Gottheit mit der Meufchheit, um fo mehr era⸗
biirt von ihm die verföhnende, die wiederversinigende
Kraft auf ale Sünder. Die Lehre von der Berföhnung
it unverkändlich, mo bie Perſon des Verſöhners und
eben damit die univerſale und centrale Stellung verfannt
wird., fraft deren er ald König und priefterliched Haupt
der menfchlichen Gemeinfchaft alle ihre Gligder unter ſich
befaßt, ja als der Herr, durch den und zu dem alle
Dinge geſchaffen find, das Oberhaupt der ganzen Welt
iſt.“ Allein damit, daß die Vereinigung der Gottheit
mit der. Menfſchheit in Chrifto vermöge der.centralen Stel: _
Iung deflelben zu dieſer auch eine mit Gott vereinigende
Kraft anf. alle Sünder ausühe, ift jene Immanenz bag
Werkes iu her Perfon noch nicht vollkammen dargethan,
wenn nicht auch auß dem Weſen der Liebe, welche chen
in Ghrifto perfünlid offenbar geworden, erwiefen wird,
daß fie in ihrer Selbſthingabe eo ipso wiebervereinigend
wirfe, und daß, mas ald Zweck ihrer Selbfihingabe er»
Scheint, daß ihr Werf, und fpeciell Die Grunbfeiten def:
felben, Licht, Leben und Berfähnung, welche der Verf.
bier gelegentlich anführt, als integrirende Lebensmacht ip
ihr felbft befchloffen liegen. Auch wenn her Verf. hier,
indem er von wieberpereinigender Kraft der Liebe rebet,
diefelbe ohne Weiteres mit der verfühnenden ibentificirt,
fann ihm Rec. nicht beiftimwen, weil jenes eine allges
meine Bezeichnung if, welche, wie der Verf. felbit ed
auffaßt, Licht und Leben als untergeordnete Momente in
fih fchließt, während die Verſöhnung ein fpeciellereß,
juriſtiſches Verhältniß bezeichnet, welchem Licht und Les
ben wohl ald Wirkung folgen mag, body fo, baß fle
nicht als inbegriffents Moment in den Kreis des Be⸗
griffes ſelbſt gehören.
Doch dieß führt Rec. auf einen zweiten Punkt, auf
welchen er bei Beurtheilung vorliegender Schrift näher
ö R 2 ——
De
1010 Sartorius
eingehen muß a). Er betrifft die Stellung ber Ber
föühnung innerhalb der Liebesötonomie Bor:
tes felbfl. Der Berf. faßt die ganze Licbedthätigket
Gottes für den Sünder iu den Einen Begriff der Ver⸗
föhnnng zuſammen, indem er der fchöpfertifchen Liebe bie
verfähnende gegenüberftellt. Diefem entfpricht daun arf
Seite des Sünders, welcher im Glanben diefe Liebe anfı
nimmt, die Rechtfertigung, welche „das Empfangen der
Liebe ift, womit wir geliebt werben, während bie Heil,
gung das Geben der Liebe iſt, womit wir lieben.” Un
dieſe Anficht wird baburch noch fefter geſtützt, daß ta
Gewiffen als ber innere Grund aller Religion (fomit di
Theologie ald Gewiffenswiffenfchaft) bezeichnet wird.
Dieb Einzelne fleht unter fi, in engem Zufamme
bange, und der Berf. ift hierin nur confequent. Abe
nicht in gleicher Weife findet Rec. diefe Sonfequen; in
dem Berhältniffe obiger Säge zum Principe ber Liebe,
wovon der Verf. ausgeht. Gorfequent wäre es um
dann, wenn dad Gewiffen bad Organ wäre, womit di
göttliche Liebe als folche von Geite des Menfchen aufge
nommen wird. Aber, wiewohl ich allerdings im Gewiſ⸗
fen die göttliche Liebe erfahre, fo erfahre ich fie in dem
felben doch nicht als folche, in der unmittelbaren Hingabe
ihres Selbſts, fondern nur nach der Gelbfibefchräntung,
welche fie in dieſer Hingabe beobachtet, d. h. nach ihre
Rechtsſeite. Das Gewiſſen ſteht in ausſchließlicher Be
ziehung zu meinem freien Thun, weßhalb daſſelbe aud
früher nicht erwacht, als der Menfch fich felbft zu be
ſtimmen anfängt. Es ift nicht das Organ, dur wel
a) Indem Rec. dieß thut, will er damit bas, was er über denſel
ben Gegenftand in einer felbftändigen Abhandlung („über da
Verhaͤltniß der perfönlichen Gemeinſchaft mit Chriſto zur Ev
leuchtung, Redptfertigung und Heiligung“ in biefer Zeitiärift
1847. Heft 1.) gefagt bat, nadı einigen Seiten noch ausführ
licher begründen,
5
die Lehre von ber heiligen Liebe. 1011
ches ich mir meiner Abhängigkeit von Gott überhanpt
bewußt werde, fondern nur jener Abhängigkeit, vermöge
welcher über meinem Willen ein höherer Wille als deſſen
Geſetz ſteht; und mein Gewiſſen fagt mir alfo nur dieß,
daß auf Grund und in Folge meines eignen freien Bers.
haftende Gott diefe oder jene Stellung zu mir eingenoms
men habe, oder daß ich zu dem inneren, fich ſelbſt glei⸗
chen, heiligen und gerechten Willen Gottes in diefe oder
jene Stellung eingetreten ſey. Die Liebe if felbft wohl
dieſes Recht. Indem fie ſich nämlich hingibt, nimmt fle
eben damit auch eine beitimmte Stellung ein, und weil
fie fih immer nur nach dem Maße der Empfänglichkeit
ihres Objects, bei der perfönlichen Greatur alfo nad
dem Maße der ethifchen Smpfänglichkeit, hingibt, nimmt
fie von felbft zugleich eine ethifchsrichtende Stellung ein.
Und diefer werde ich eben im Gewiffen inne. Aber dars
in geht das Weſen und Wirken der Liebe nicht auf. Sie
erwibdert nicht bloß fremdes Thun, fie bietet und gibt
auch Neues aud dem eignen Schaße, fie vergilt nicht
bloß, fie fördert zugleich, fie fchafft nicht bloß Recht,
fondern, wie der Verf. (S. 34.) feldft bemerft, auch .
Licht und Leben. Diefe letztere Wirkung aber erfahre ich
nicht im Gewiſſen, fondern in den übrigen Seiten meines
perfönlihen Lebens. Gegen die Nechtöfeite der Liebe
verhalte ich mich rein paſſiv, eben weil fie nur erwidert
(wie das Gewiffen auch ein folch rein objectives Organ
ift, wobei mein perfönlihes Ich ſich bloß leidend vers
hält); um aber ihr Licht und Leben zu empfangen, bebarf
ed auch activen Verhaltens, zwar immer noch zuerſt in
Neceptivität, doch nicht in reiner Paſſivität. Die Liebe
felbft jedoch in ihrer unmittelbaren Totalität, worin eben
die Perfon, wie fie ift, fih ganz gibt, kann von ber
Merfönlichkeit nur wieder nady der unmittelbaren Totalis
tät ihrer Eriftenz, alfo im innerftien Kernpunkte ihres
Weſens aufgenommen werden, wo Paffivität und Actis
1m Gartariuß
pitat ſich darchdringen, wo die verſchiedenen Vermigu
bed perſoͤnlichen Lebens noch in unentwickelter Eindeu
geſchlaſſen liegen, mo das bewußte, freie Leben der Pers
fönlichleit auch von der Baſis feines natürlichen Lebens
ſich noch wicht gelöft hat, fondern mit dem Trieb⸗ und
Gmpfindungsieben der Ratur nad unmittelbar geeinigt
zubt. Diefer innerfte Lebensgrund der Perfönlichken iſt ct,
was wir Gemüth nennen. Nur das Gemäth foht und
erwidert bie Liebe als ſolche, nr im Gemüthe nimm
and gibt fi geganfeitig Die Pexfäulichkeit in ihre
anmittelbaren Ganzheit. Und da Gott in feiner Liebe
fih ganz dem Sünder gibt in Ghrifto und der Günder,
Gottes Liebe durch ben Glauben in den innexſten Grund
ſeines Weſſens ziehend, aus diefem in ungetheilter kick
ſich Bott wieber hingibt, fo iſt die Theologie, weldt
biefe Delonomie des Reiches Gottes barzuftellen hat
nicht ſowohl Gewiſſens⸗, ald Gemuͤthswiſſenſchaft. Ge
wiſſeuswiſſenſchaft könnte man bloß die abflracte, vom
chriſtlichen Boden gelöfte Moxal nennen, welde nur eis
fogmelled Thun nach .eiferuem Geſetze keunt. Die chriß⸗
liche, auffchließlich aus dem Boden bey. Religion erwach
fene Moral aber eutmickelt Alles aus der perſönliche
Einigung bed Menſchen mit Bott, der in Chriſto durd
ben heil. Geift in und Sündern Wohnung macht, ſo dad
die gläubige Kiebe nothmwendig das fubjectine Prince
ihrer Sittlichkeit bildet; fie ift alfo dur und duch my
ſtiſch; Myſtik ift aber das religiöſe Leben bed Gemüthe,
icht des Gewiſſens. Diefes. ift nur feine objective den
ausſetzung.
Um bier ſicher zu gehen, muß man die Anfchauunpe
zweife, welche dieſe Gruublräfte des Geiſtes als eingelav-
neben cinander chende, abgefonderte Vermögen brraı
tet, verlaſſen. Dadurch zertrennt man den Menden
and kommit zu feiner lebendigen Borftelung. Dear Bil
des Menfchen it Einer. Infofern er, von anderem Sep
die Lehre von her beiligen Liebe. Ad18
ben fich unterſcheidend, dieſes ſich gegenſtändlich zu ma
chen vermag, und zwar nicht bloß feiner äußeren Er,
fcheinung, fondern zugleich feinem innerften Weſen nad,
als Product göttlichen oder creatürlihen Geiles, wofür
er alfo die verwandte Kraft in ſich trägt, nennen wir
ihn vernünftig. Infofern er, was nur auf Grund biefer
Gegenfändlichfeit fremben und eigenen Weſens gefchehen
ann, ſelbſt Urfache feiner Lebensrichtung zu ſeyn, fich
felbR ans fih zu beftimmen vermag, fchreiben wir ihm
Wille gu. Die Vereinigung dieſer beiden Kräfte macht
ihn zum Seife, zum Ebenbilde Gotted. Aber weil er nur
Abbild, nicht Urbild if, fo bleibt ihm dieſes nothwendige
Norm für feine freie Bethätigung; und dieſes innere
Sich fund mb geltend machen der göttlichen Idee bes
eigenen Weſens gegenüber feiner freien Bethätigung iſt. es,
was wir ald Function dem Gewiffen zuſchreiben. Zu
diefen drei Grundſeiten bed menfchlichen Geiſteslebens
Kommt aber noch gine vierte hinzu. Alles Thun des
Geiſtes nämlidy iſt im leuten Grunde nichts Anderes,
als ein Eingehen in die Gemeinſchaft anderer Geilter,
bes göttlichen und der verwandten creatürlichen. Dieß
kann nur in ber Hingabe der innerſten Perfönlichkeit
gefchehen. Diefe Seite des Geiſteslebens, nach wel⸗
cher der Beil mit feinem eigenften Selbflleben fi
bargibt und das gleiche innerfte Leben göttlichen oder
fremden creatürlichen Geiftes in fich aufnimmt, bezeichnen
wir mit Gemüth. In diefem bat der Menſch fomit feine
Inuerlichkeit und Fülle; und nur was und fo weit ed in
diefes Sich einſenkt, wird es fein wahres perfönliches Eis
genthum, nicht - mehr bloß einzeln anhaftender Beſitz,
und, nur was und fo weit etwas qus bem Gemüthe kommt,
ift es wahre volle perfönliche That des Menfchen, nicht
bloß natürliche oder. abftracte Selbftbewegung des Ichs.
Tritt nun in die menfchliche Perfönlighkeit die Stö⸗
sung ber Sünde herein, fo kann man nicht fagen, nur
=
+
1014 Gartorius
bieß oder jenes Vermögen fey bavon inficirt, ein anbes
red nicht, wie 3. B.Bernunft und Wille feyen es, das Bes
wiffen nicht, fondern der ganze menfchlidhe Geiſt, der
ein einiger it, ift ed. Nur äußert ſich natürlich biefe
Störung nad jeder Ridhtung des Geiſteslebens in aus
derer Weiſe. Da fich derfeibe feinen Weſen nach in ſei⸗
ner fittlichen GSelbfibeflimmung von einem höheren Wil⸗
Ien abhängig wiffen muß, fo kann dieß Verhältniß durch
die Sunde nicht aufgehört haben, die Idee bes göttlichen
Rechts kann nicht zerfiört worden feyn (wiewohl and
bier eine Träbung zu erfennen ift, wofür der Nachweis
in der Nothwendigkeit einer äußern Gefekesoffenbarung
vorliegt), dagegen aber wird fi das innere Zeugnif
nun in anderer Form, in der der Scheidung nämlich,
dem Ich kundthun, nnd dieß ift hier Die eigentlichſte
Störung. So haben and, die Übrigen Seiten des per:
fönlichen Lebens eine Störung erlitten, und zwar zeigt
fih diefelbe, da fie fubjectiver Art find, hier als eigent-
lihe® Verderben; doch aber ift auch in ihnen noch bie
angeborne Bellimmung, die Beziehung nad oben er:
kennbar und lebendig geblieben, fo dunkel und ſchwach
fie auch geworden, Nicht ift das Gewiffen das einzige
Organ, worin bie Ebenbildlichteit noch zu finden, das
göttliche Keben des menfchlidhen Beiftes noch wirffam if.
Weiß der Geiſt ded natürlichen Menfchen nur noch von
einem höheren Geſetze, alfo einem heiligen und gerechten
Gott, nit von einem höheren Weſen, durch welches Als
les tft, überhaupt? Ja mehr noch, fühlt er nicht noch ei⸗
nen tiefen, ob auch ohnmächtigen Zug nady einer höhes
ren, allbebenfenden, erbarmenden Liebe? Und zeigt nnd
regt fich fomit nicht auch in den übrigen Geiten des perfön-
lichen Lebens die anerfchaffene Gottesebenbildlichkeit?
Wenn nun die Liebe Gottes in ihrem unenblichen Drange
dem Menſchen wieber zur Gemeinfchaft fih dargeben
wi, fo knüpft fie nicht ausfchließlich an eined der Ber
die Lehre von der heiligen Lie. 10185
mögen, fonbern an jedes nach feiner Weile an, um bem
ganzen Menfchen in Gemeinfchaft mit fidy wieder zu ers
heben. Allerdings wer die erbarmende Liebe Gottes ganz
ſoll fallen können, muß nicht bloß wiflen, daß er in Elend
liege, fondern daß er durch eigne Schuld im Elende liege,
d. 5. er muß die im Gewiſſen fich kundgebende Heilig:
teit und Gerechtigkeit, welche bie unverrüdliche Lebens⸗
grunblage in der Liebe Wilder, anerkennen, und wirb ihr
Erbarmen deßhalb als Schulderlaffung und Rechtferti⸗
gung inne werde Allein andererfeits, wo bloß bes
Gewiſſens Zeugniß wad iſt und der Menſch Chriftum
nur ergreift, um dieſes zu befchwidhtigen, ba iſt nody
fein Erfaffen der Liebe Gottes als folder — nnd nur
diefe kann ja wahre Hülfe bringen, — fondern eine Vers
zweiflungsthat abergläubifcher Furcht. Es muß vor
Allem der Zug bed inuern Menfchen, des Gemüthes, nach
höherer, heifender Liebe lebendig und wirkſam ſeyn,
wenn wir der göttlichen Liebe als folder follen theilhafs
tig werden. Daburch, daß die Perfönlichkeit des Men⸗
fhen, dad Gemüth im Unglauben von der göttlichen
Liebe abwendend, aus der Gemeinfchaft Gottes ſich los⸗
riß, ift ja alles Elend über ihn bereingebrochen, welches
er in der Verblendung feiner Vernunft, in der Knecht⸗
Schaft feines Willens und in der Zerrüttung feiner gans
zen geiftigsleiblichen Natur erfährt, und welches ihm im
Gewiffen als felbfiverfchuldetes zugerechnet wird. Nur
dadurch nun, daß er Gottes zuvor» und entgegenkom⸗
mende Liebe mit dem Gemüthe wieder ergreift, daß er
im innerften Grunde feiner Perfönlichkeit mit der menſch⸗
gewordenen Perfönlichleit des Sohnes Gottes in Ges
meinfchaft tritt, kann bie alfeitige Hulfe aus feinem Sün⸗
benelend ihm wieber zu Theil werben, welche allein im
der Liebe Gottes, allein in Chriſto, in welchen dieſe er»
fchienen it, für ihn befchloffen liegt. Dieß gefchieht im
Glauben, da die Gemeinfhaft im erften Momente nur
1016 Surtorius⸗
m der Form ber Receptivität voltzogen werden Fam,
ber Glaube aber die Hand iſt, womit dad Gemüth die
Liebe hinnimmt. Die im Glauben vollgogene perſoͤnliche
Gemtinſchaft (unio-inystica) iſt alſo die innere Borand
fetzung, Grundlage und Duelle (ja det Inbegriff ſelbſt) al
kes Heils für den Meuſchen. Richt glaube ich, weil id
"gerechtfertigt bin, ſondern dadurch, daß ich glaube, d.h.
Chriſtum mir perfönlich zu eigen" mache, werde ich ge
rechtfertigt. Es verändert die Sache nit, wenn man
hervorhebt, daß der Haube die Rechtfertigung miht ber
wirke, fondern bloß empfange, fomit doch fle die obie,
tive Vorausfeßung des Glaubens fey. Denn das Objec⸗
tive, das ich ergreife, iſt nicht bie Rechtfertigumg , for
dern die Verſoͤhnung in Ehrifto, welche erſt Dadurch zur
Kechtftrtigung wird, daß fie mein perföntiches Eigen
ham geworden. Chriftus muß buch Einſenkung in der
inneren Pebendgrund des Menfchen mit diefem erf it
wahre perfönliche Geueinſchaft getteten feyn, d. h. er muß
im Gemäthe wohnen, um ſich ihm im Gewiſſen bezeugen
jr koͤnnen. Bom Gemüt aud aber Abt Chriſtus, da er
die Gemeinfchaft unit dem Menſchen nach Allen Beziehun⸗
gen feines Lebens vollziehen wi, fette Gnadenwirkun
nicht bloß auf das Gewiſſen, ſondern auch anf die übri
gen Grundverhögen: Vernunft und Wille, d.h. indem
der Sünder mit Chriſto, in welchem thnt Gottes Lich
Aüberſchwenglich ettgegengefommen, durch den Slauben per
föntich fi einige, wird er nicht bioß inne, baß bie
Berfaffung der Seele; wo fie ganz tur von unendlichen
Liebederbarmen leben wit, die allein rechte, Gott gefäl
Iige fey, fondern in ihren Lichte vermag er auch Act
zu erkennen, weil diefe Liebe alles perfoͤnlichen und un
yerfönlichen Weſens Grund if, and, von ihrer fanften -
Gewalt übdermocht, empfängt er Kraft umd Freiheit, hin⸗
fort nimmer ſich felbſt zu leben, ſondern in den Fußta⸗
pfen deſſen zu wandeln, der fſich uns gu Lieb im dem
die Lehre von der heiligen Liebe. 1017
Tod gegeben. In welchem Berhälttifie diefe drei: Rechts
fertigung, &rleuchting und Heiligung, num wieder zu
einander fliehen, ift für die gegeberle Frage nimmer von
Belang. Bildet auch die Verſoͤhnnug des’ Gewiſſens für
die geiftliche Durchdringung der Bernunft und des Wil)
end den bedingenden Angelpunkt, well die Finfterniß
und Knechtſchaft det Sünde durch: Selbftverfchuldung
eingetreten ift und deßhalb nur Auf Grund der Aufhe⸗
bung dieſer Schuld getilgt werden kann, und fiellt ſtch
und nach dem allgemeinen inneren Borgange bie Erleuch⸗
tung als nothwendige Bedingung, die Hefligung aber
als ihre Wirkung und Folge dar a), fo geht doch immer⸗
hin die erleuchtende und heiligende Kraft nur von Ehrifto
aus, der im Gemüthe durd; den Glauben bes Menſchen
Lebensprincip geworden, fo daß feine Gnadenwirkung
an ung fi nicht in der Rechtfertigung, wie der Berf, es
barftellt, zufanımenfchließt, fondern in der unfo mystica,
worih' Die Rechtfertigung nur ein Moment if. Seftit
für das chriftlih = ethifche Handetn ift die Rechtfertigung
nicht, wie ed etwa fcheinen könnte, die einzige VBoraudfts
tzung, ſondern die Erleuchtung iſt's nicht weniger; wie
wollte der Ehrift fonft weife feyır in feinem Thun! Der
lebendige Quell aber, aus weichem ber geheiligte Wille
fort Ad fort fein Leben fchöpft, ift das gländig fiebende
Gemürh, fo daß affo ver Wille nicht deßhalb allein ſtich heilig
bethätigt, weil das Gewiſſen verföhnt ift, fordern auch
— doch fo, daß der caufale Zufammenhang Aberall ein
anderer it, — well die Vernunft erleuchtet ift und dad
Gemüth durch Hlänbige Liebe mit Ehriſto in perfönficher
Genreinfchaft.
Ganz dem analog ftellt fih und das Werk Ehrifti
dar, welches er für die Menfchheit ein, für allemal voll⸗
braht hat, Wie dort die Wiedergeburt des Sunders
a) Siehe übrigens Näheres darüber in der angeführten Abhand-
lung bes Rec,, St. u, Kr. 1847, Heft 1.
1018 Sartorius
in der Gemeinſchaft mit Gott in Chriſto vollzogen wird,
fo die Neuſchöpfung der ſündigen Menſchheit in der Ge
meinfchaft Gottes mit derfelben in Chriſto. Diefe Bir
derberftellung ber burdy die Sunde zerriffenen Gemein
fhaft zwifchen Bott und Menfchen, welche in der Menſch⸗
werbung bes Sohnes Gottes audgeführt und durch ein gas
zes Menfchenleben bie zum Tode burchgeführt worden, fleit
felbft dad Werk, wodurch die Menfchheit erlöft if. Un
diefelbe übt nun ihren Einfluß auf alle Verhältniſſe un
Sphaͤren ded menfchlichen Lebens. Es fällt diefelbe nicht,
wie ed bei dem Verf. gefchieht, mit der Berfähnung zu
Tammen, fondern ald Berföhnung Felt fie ſich nur dat,
infofern fie zur Schuld ded Menfchen in Beziehung ge
fegt wird, Verſoͤhnung ift fie bloß, von ihrer Rechtöſcite
gefaßt. Nicht weniger aber ald bad Recht ift daurch ſie
auch die Wahrheit und das Leben für die Welt offenbar ge
worden; nicht weniger liegt in jenem Mittleramt anfer
bem bohenpriefterlichen auch bag prophetifche und koͤnig⸗
liche befchloffen. Darauf wird der Verf, wiewohlend
nur auf jenes befchränten will, ſelbſt auch hingeführ,
‚wenn er(&,35.) beides verbindet. In feiner Darftelun;
aber findet der Berf. für das prophetifche und königliche
Amt Feine Stelle, fie gehen im hobhenpriefterlichen anf.
Dadurd wird nun zwar — und das ift ein groß
Verdienſt in ber Tendenz und Darftellung biefes Balke,
wie wir oben ſchon audgefprochen haben — der Rechts⸗
begriff feiner Aeußerlichkeit entlleidet. Der Verf. foft
bie göttliche Rechtsthat zugleich als wirkliche Liebesthat;
das Opfer, welches jnridiſch ftellvertretende Kraft hat, ik
ihm göttliche Kiebeöverleugnung ‚, die Rechtfertigung „eint
Gnadenwirkung, , welche die Seele innig mit der Liebe burd-
dringt und erfüllt, womit fie von bem Gott der Gnade gr
liebt wird.” Allein der Nechtebegriff hat andererfeitd du
durch auch wieder feine beflimmte Begrenzung im Ber:
hältniffe zur Liebe verloren. Das Wefen und Wirken der
die Lehre von der heiligen Liebe, 1019
Liebe geht darin auf, Recht zu feyn und Recht zn fchafs
fen, und alle andern Seiten, wie die intellectuelle und
ethifche, erfcheinen bloß theils als inbegriffene Momente,
theils als Folgen diefer Rechtöherftellung, wodurch offenbar
ihr unmittelbare Berhältniß zur Liebe beeinträchtigt ift.
Denn unmittelbar aus der Liebe fließt, wie alles Recht, fo
anch alles Licht und Leben. Und wenn Gott, als er in
feiner Liebe den Menfchen fchuf, ſich zu ihm nicht bloß in ein
Rechtöverhältniß fegte, fondern ihm zugleich die Quelle al’
feines Erkennens und felbfifräftigen Wirkens ward, eben
weil er die Liebe, nicht weil er das Recht für den Mens
{hen it, fo muß nun Ehriftus daſſelbe gleicherweife in
der Hingabe feiner Perfönlichkeit feyn: er ftellt dem Sün⸗
der nicht bloß fein Recht vor Gott wieder ber, indem
er ſich Gott als den Reinen an ded Sünders Statt dar:
tet, fondern vermöge feiner Einpflanzung in die Menſch⸗
beit ift derfelben aud das Princip alles göttlichen Ers
fennend und Wollens unmittelbar eingepflanzt, — auf
weiche alfeitige Wirkung der myſtiſchen Bereinigung vom
Berf. felbft, doch fo, daß er fie allerdings nur mit dem Rechte»
verhältniß in Berbindung bringt, hingewieſen wird, wenn
er (S. 7.) fagt: „Der verwilderte Baum der Menfchheit
fann wohl aus eigener, inwohnender Kraft mannichfache
Blätter, Blüthen und Früchte hervortreiben, aber ohne
Einfentung eined höheren, edleren Reiſes ſich ſelbſt
- veredeln und erneuern fann er nicht,”
Erf dadurch, daß die Wiedergeburt als zunädft im
Gemüthe vorgehender und von da nach den andern Seiten
des perfönlichen Lebens ſich Fundgebender und wirken⸗
der Act gefaßt wird, erhält auch das feine völligere theile
Begründung, theild Berichtigung und Ergänzung, was
der Derf. über dad Berhältniß des menfchlichen zum
göttlichen, Thun bei der Belehrung fagt (S. 168): „Nur
Unverftand fann hier fagen, daß, wenn die Belehrung
Theol. Stud, Jahrg. 1847, 85
i N
1020 Sorterius
fein Berl des Menſchen ſey, er ſich nur were ein tebieh
Werkzeug dabei verhalten und fie nicht won ihm gefordert
werben koͤnne. Es wird and nidt von ihm gefordert,
daß er fie ſelbſt made, wohl aber, baß er Be leide, da
er dem Geiſte Gottes fich nicht. verfchließe, ſon dern iha
durch das Wort Gotted (wer Ohren hat zu hören, de
böre, Röm. 10, 17.; Gal. 3,2.) ein nenes Leben in fh
wirken laffe.” Bezieht man die Wirkung ber Gnade me
mittelbar nur auf das Gewiffen, fo kann der Mexik
allerdings nur eine reis paffive Stellung eiunchmen, wit
ja dieß das allgemeine Berhältmiß des Menſchen zu fei⸗
nem Gewiffen if. Und gerade dieß war für die älter
Dogmatit ber Hauptgrund, der Rechtfertigung dieſe
©tellung zu geben, weil dadurch jeded Verdienſt dei
Menſchen ausgeſchloſſen wurde, Dean ficht jedoch be
diefer reinen Paſſivitat nicht ein, warnm banız nicht in
eined Jeden Gewiſſen die Gnade ihre rechtfertigende Wir:
tung kundgebe. Es Tann nur am Menfchen liegen, de
sen einer glaubt, der andere nit. Dieß ſagt wohlaud
die ältere Dogmatil. Allein wenn diefer Blaube wirklich
eine Sache ber Perföntichkeit ſeyn fol, fo darf er nicht
ale bloß formelles Hinnehmen gefaßt werben, wodurd
der Empfang des Heild zu etwas am Ende von zufäli
gen äußeren Berhältniffen Abhängigen würde, wie Möb
ler nicht ganz ohne Grund der kirchlichen Dogmatik vor
wirft, fondern diefe Hinnahme muß ihren guweichenden
Grund im Innern des Menfchen ſelbſt haben, Es glaubt
Jeder auf Brund des in ihm wohnenden Bebürfniffte
nach göttlicher Liebe, wiewohl diefed Bebürfwig, welche
mit der Beſtimmung zur Gotteögemeinfchaft in dem Mus
fhen von Natur geſetzt it, ſelbſt ebenfalls erſt dard
die vorandgehende Erziehnng der göttlichen Liebe and
der Unterbrüdung, in die «6 durch bie Uebermacht der
weltlichen Luft gerathen war, befreit werden muß. De
die Lehre vom ber heiligen Liebe. to21
Glaube ſelbſt ift der activ gewordene Zug des Herzens
nach Dem Herzen Gotted. Aber eben weil der wieberge,
bäreude Slaube eine receptive Bewegung der innerfien
Perſönlichkeit zur göttlichen Liebe, ein Act perfönlicher
Semeinichaft mit Ehriko ift, fo if in der Wiedergeburt -
ebenfo die Einheit von Activität und Paffivität als bie
Ausschließung des Verdienſtes bei wirklicher Selbſtthä⸗
tigleit gefeßt. Es ift richtig, was ber Berf. (5. 168) fagt:
„Der alte Menfch, welcher eben erneuert werden foll,
that diefen Act nicht und kann ihn nicht thun, fonbern
er leidet nur, baß er in ihm gefchieht durch die wirkende
Gnade (gratis operans)”; allein es wäre zu wünfchen,
dag die Zurückweiſung ded Einwurfs, „der Belebtwers
dende verhalte fih Dabei als ein todtes Werkzeug,” vom
Berf, noch mehr begründet worden fey. Derfelbe. beruft
fi nur auf „das Verhältniß der Receptivität und Spons
taneltät im Gebiete des Lebendigen” und hebt hervor,
dag in der Lehre von ber Rechtfertigung „Alles darauf
bingehe, neues Leben angufachen,” und daß, „damit bieß
recht lebenskraäftig gefchehen könne, es nicht aus der erſt
zu belebenden Grftorbenheit ded alten Menſchen, fondern
aus der ewigen Lebendquelle und Licbeöfülle Gottes ab»
geleitet werde.” Diefed aber gibt über dad Maß von
Selvfithätigkeit bei der Wiedergeburt ſelbſt noch kein
Licht, umd jenes ift nur eine allgemeine Andentung. Als
lerdings Tann jenes Leiden nicht eine reine Paffloität
feyn „ da dad Wirkenlaffen im Gegenſatz eined gedachten
möglichen Widerftanbes in ber Perfönlichkeit eine zuftims
mende, mithin irgend thätige Bewegung des inneren
Menfchen vorandfegt. Aber ihre Erklärung findet diefe
relative Selbfithätigkeit erfi aus dem Weſen des Gemüths
und aus dem Wefen der Liebe, deren receptive Seite
der Glaube if. Weil das Gemüth die unaustilgliche
Beflimmung der Semeinfchaft und fpeciell der Botted»
68 *
1022 Sartorius
gemeinschaft in fi trägt, fo kann ed — wie ja gun
Theile fchon in Folge der natürlihen Wege Gottes ein
Schuen nad oben fi in demfelben zu regen beginzt,
— wenn die göttliche Liebe in Ehrifto ihm entgegen
kommt und ihre Segendftröme in dafjelbe leitet, nict
gleichgültig, nicht rein paffiv bleiben, fondern auf Grund
der eingeborenen Berwandtfchaft muß ein beſtimmtes
Für oder Wider fich regen. Jenes „Für” ſchließt aber
Darum doch nichts weniger ale ein Verdienſt in fi;
denn nicht nur wäre alled Schnen und Sich Ausfreden
bed inwendigen Menfchen nadı oben-ja vergeblich, wenn
nicht von oben die Gnadenfraft ihm gereicht und in
ihn gefenft würde, Durch welche er ſich wirklich zu erhe⸗
ben vermag, fondern bie Liebe der Greatur wurzelt aud,
wie dieß Rec. in oben erwähnter Abhandlung näher dar:
gelegt hat, fo durchaus auf dem Triebe der Selbſterhal⸗
tung und Befriedigung, daß noch viel weniger Die Liebe
ded Sünders, welche ald Glaube die göttliche Liebe him
nimmt, ein Moment eigentlichen Verdienſtes in fid tra
gen kann. Daß hiermit die Erfahrung, nach weldyer die
Einen diefe Liebe im Glauben faffen, die Anderen nicht, -
noch nicht wirklich erklärt fey, wäre thöricht, verneinen |
zu wollen; der Wille ded Menfchen iſt und Bleibt eine
wirkliche Saufalität und kann infofern nie erllärt werben.
Allein auf dem gezeigten Wege wird in dad Verhältniß
. menfchliher und göttlicher Thätigfeit bei der Bekehrung
wenigſtens tiefer und ficherer eingedrungen und, ohne
daß das, was dem kirchlichen Bewußtfeyn als gewiſſe
Erfahrung vorfchwebt, alterirt würde, jenen zum Theile
gegründeten Einwärfen gegen die. kirchliche Lehre be
gegnet.
Eine dritte Bemerkung des Rec. betrifft die Lehre
von den Sacramenten. Auch hierüber find der tref
fenden und tiefgehenden Gedanken in dem Buche sic.
J
die Lehre von der heiligen Liebe. 1023
So die Verbindung, in welche das Sacrament mit dem
Opfer gebracht wird, die Beziehung der Taufe zur Blut,
taufe Sefn, zumal was der Berf. von dem Werthe der
Kindertaufe für chriftliche Erziehung fagt. Aber Eines
vermißt man: eine fefte, klare Beſtimmung von dem chas
ralteriftifhen Wefen ded Sacraments, von feinem Bers
hältniffe zum Worte und feiner von ber ded Wortes uns
terfchiedenen Wirfung. Zwar gibt der Berf., an die kirch⸗
liche Faſſung ſich anlehnend, bie Beſtimmung (5. 93.):
„Aber damit der Glaube die Gnade um fo beflimmter
und gewiffer fidy zueignen möge, gefchieht die Mittheilung
oder Schenfung auch in der concreteren Form des Gas
craments durch finnliche,, fihtbare Zeichen, welche von
Ehrifto felbft eingefett find als Träger feiner überfinnlis
chen Güter, ald Zeugniffe des göttlihen Gnadenwillens
gegen und (augsb. Conf. Art. 7... Deßhalb wird das
Sacrament treffend auch das ſichtbare Wort oder bad
fihtbare Zeichen der unfichtbaren Gnade genannt (Apolog.
S. 200 f.). Doch nicht bloß die Sichtbarkeit und finnlis
chere Concretheit der Form unterfcheidet das Sacrament
vom Worte, fondern auch die fpecielle Beziehung und
factifye Uebertragung deflelben auf jede einzelne Perfon,
der es gereicht wird, während die Predigt ded Wortes
mehr in dad Allgemeine oder an die ganze Gemeinde
geht und der Thatfächlichleit ber facramentlichen Hands
lung ermangelt.” Rec. geſteht, dadurch nicht befriedigt
zu feyn. Was fürs Erfte dad zweite Merkmal ans
langt, fo findet ſich der Verf. ſelbſt dadurch in die Roth:
wendigkeit verfeßt, der Gewalt der GSchlüffel ebenfalls
einen gewiſſen facramentlichen Charakter zuzugeftchen
(S. |. Anm.). Und ebenfo würde dad Wort auch dann
allezeit einen folchen annehmen, fo oft es in der Seel:
forge fpeciell auf den Einzelnen bezogen wird. Diefer
Unterfchieb ift ſonach ein durchaus fließenber, und das
1024 Sartsrius
wefentliche Eharakteriſticum Töunte nur im eriten liegen
Dieſes iſt aber einmal in der vorliegenden Form a0&
wicht deſtimmt genug umfchrieben. Ein ſinnlich ſichtba⸗
re&,Zeichen if offenbar Handauflegung und mandı' an
deres auch. Um alſo derlei audzufchließen, wärbe ma
beffer den Ausdruck: „Außeres irdiſches Element” wäh
in. Wein auch wenn dieß geſchieht, bleibt doch ned
eine gewiſſe Incongruenz bei Bergleichung der beide
Sacramente. Dffendar tritt nämlich im Gacramente dei
heiligen Abendmahls em neued Moment auf, weldei
wir in der Taufe nit finden. Mit der Taufe hat dei
heilige Abendmahl außer der Einfehung -Ehrifi dieß ge
mein, daß ein Außered Element vorliegt, und daß daſſelbe
durch ben Hinzutritt des feguenden Wortes zum Träger
der allgemeinen Berföimungsgnade Chriſti für deu Sir
der wird. Aber außer diefen Momenten findet ſich bein
Heiligen Abendmahle noch eine himmlische Leiblichkeit. Gol
diefe etwas für den Sacramentöbegriff Gleichgültiget,
3ufhlliged feyn? Welcher Unterfchied ift bedentungsvoller,
der, daß in der einen Handlung himmliſche Leiblictei
witgetheilt werbe, in der anderen nicht, oder baß in be
einen Handlung ein fichtbares Zeichen (greifbared Ele
ment), in der anderen der hörbare Schall zum Träger
ver göttlichen Gnade gemacht wird? Offenbar doc dat
Erflere? Und ſteht denn nicht die Taufe dem Worte, von
welchem fie bloß durch eine andere Form äußerer Ber
mittelung geſchieden iſt, ungleich näher, ald dem Abend⸗
mahle, in welchem die Gnadengabe felent als eine ſpeci⸗
fiſch neue ſich barflellt® Auch wenn mm bei der Tauft
den heiligen Geiſt als die himmlifche Guadengabe, weld
mitgetheilt wird, bezeichnen weite, auch dann würde f
mit dem Worte, weiches ja ebenfalls eim Träger des hei⸗
ligen Geiſtes iR, auf Einer Stufe ſtehen. Und dei
Heidye gilt, wenn man Die Gemeinfchaft herdorhebt, ie
—
die Lehre von Dee heiligen Liebe. 1025
woche ber Taufling dadurch mit der Trinität trete,
Denn immerhin führt das Wort noch unmittelbarer im
Die Gemeinſchaft des breieinigen Gottes, ald das heilige
Abendmahl. Iſt es aber richtig, den Grund zur Haupt⸗
eintheilung, wie die von Wort und Sacrament, von dem
unmefentlicheren lintesfchiede herzunehmen, Dagegen den
für die bloße Unterabtheilung, wie die von Zaufe und
Abendmahl, von dem wicdtigeren? Wollte man jedoch
auf das in ber oben angeführten Stelle zuletzt Geſagte
Dad Hauptgewicht legen, daß nämlich Die Predigt „der
Thatfächlichleit der faczamentalen Handlung ermangele,”
daß alfo die Sacramente eine Thatfächlichleit hätten,
Die der bloßen Predigt fehle, fo läßt fi zwar beim
Abendmahl ein feed Objectives, von fubjectiver Verfaſ⸗
fung und Stimmung Unabhängiges erkennen, nämlidy die
Leihlichkeit Ehrifti, welche der Ungläubige wie ber Gläus
bige empfängt. Bietet aber die Taufe unter dem ſichtba⸗
sen Zeichen des Waſſers nichts Anderes ale die Gabe des
heiligen Geiſtes oder die Gemeinſchaft der. Trinität,
weiche wir im Worte ebenfallß dargeboten erhalten, fe
it nicht einzuſehen, warum Das fichtbare Zeichen eine
Obiectivitat der Gnade bedingen folle, dagegen der hör:
bare Schall nit, während doc beide auf finnlichen
Wege dem Beilte Geiſtiges vermitteln. Offenbar bedarf
hier die Kirchenlehre wech einer weiteren Ausbildung.
Aus dem, was die heilige Schrift über die Taufe fagt,
allein wird man allerdings zu ficherer, beflimmter Auf
foffung ihres Weſens und au klarer, fcharfer Unterſchei⸗
dung ihres Berhältuiffed zum Worte und Abendmahle
nicht fommen Bönnen. Denn es liegt in der Natur der
Sade, daß über bad, was den Keim für alle weitere
Entwidelung büdet, die Ausbrüde nod am unbeftimmter
Ren gehalten And, nicht nur dephalb, weil bie Anfänge
alles Ledens Aberbaupt vor nuferm Ange verborgener lies
1026 Sartorius
gen, alö die fpäteren Stadien des Wachsſthums, fonders
auch, weil im Keime die mannichfaltigen Kräfte fih be
reitd zu regen beginnen, die fpäter auf bem eimzelue
Stufen in beftimmter Sonberung zur Erfcheinung fom
men, fo daß fie vom Keime bereitd auch ausgeſagt wer:
den können. So wählt wirklich die heilige Schrift aud
für die Taufe Beides, theild die allgemeinſten, theild die
mannichfaltigften Bezeichnungen. Sie laͤßt die Taufe bald
gefchehen im Namen der gefammten Xrinität (MRatth.28,19.),
bald nur im Namen Jeſu Ehriſti (Apoſtg. 2,38.), bald nennt
fie diefelbe ein Begrabenwerden mit ihm in feinen Tod
zu gleicher Auferfiehung mit ihm (Röm.6, 3. 4.), bald ein
Anziehen feiner ſelbſt (Gal. 3, 27.), bald wird ale ihr
Kraft und Wirkung die Vergebung der Sünden und der
Bund eined guten Gewiſſens mit Gott (Apofig. 2, 9;
1Petr. 3,21.), bald die Wiedergeburt und Erneuerung dei
heil. Geiſtes (Tit. 3, 5.) bezeichnet, Will man hier alje
fihere Schritte thun, fo muß man von dogmatiſches
Principien, von den Grundgedanken des Reiches Gottes
felbft ausgehen. Nur wegn man das Wefen der Gemein
fchaft und fpeciell der perfönlichen Gemeinfchaft mit Ehrife
sad feinen Hauptfeiten und nothwendigen Beziehungen,
wenn man innerhalb des perfönlichen Lebens, fomit and
der perfönlihen Bemeinfchaft, das Verhältniß der Ra:
tur zur Perfon und die Bedeutung des Leibes für bie
- Entwidelung der Perfönlichkeit, wenn man bie wichtige
Stellung der Leiblichfeit in der Oekonomie des Reiches
Gottes überhaupt und ben Unterſchied und das Berbält:
niß der bimmlifchen zur irdiſch⸗ materiellen Natur Mat
erfannt hat, nur banı wird man auch das Meſen dei
Sacraments und feine hohe Bedeutung für den Ehriken,
feine innige Beziehung zum Worte und ſeine won dieſen
unterfchiebliche Wirkung, nur dann auch die innere Roth
wendigfeit der Zweizahl der Sacramente und die Wahl
die Lehre von ber heiligen Liebe. 1027
finnlicher Träger und eben diefer Träger für biefelben
ganz verftehen.
Rec. hätte noch Über manched Andere in dem Buche
feine Bedenken auszuſprechen. So ſcheint ihm eln magis
ſches Doppelleben in der irdifchen Perfönlichkeit Jeſu
nicht überwunden zu feyn, wenn in feiner Knechtsgeſtalt
die Gottheit der Art wirkfam angenommen wird, daß
die Wunder, die er gethan, auf feine göttliche Natur zus
rückgeführt werden (8,27), und er, hienieden wanbelnd,
zugleich Himmel und Erde regiert, wie aus dem S. 20,
Gefagten die Folgerung gezogen werden muß. Ferner
wird der Charafter der Buße, infofern fie der Wieder»
geburt nur Bahn bricht und infofern fie währendes Mo⸗
ment im Leben der Gläubigen bleibt, nicht unterfchieden,
wenn fie durchaus nur vonf Geſetze abgeleitet wird.
Doch der Raum reiht nicht, auf diefed und Anderes
näher einzugeben. Zudem möchte es leicht den Schein
gewinnen, als erblidke Nec. in dem Bude mehr Mängel
als Vorzüge, während ihm doch jene im Berhältniffe zu
dieſen gering zu ſeyn fcheinen. Und es find alle Gegen»
bemerfungen, weldye Rec. hier gemacht hat, von ihm in
dem Sinne ansgefprochen, daß er die beſondere Hochach⸗
tung und Verehrung, welde er gegen den Verf. hegt,
bei Beurtheilung dieſes Buches nicht beffer an den Tag
legen zu Eönnen meinte, als indem er möglichft genau
auf die darin ausgeſprochenen Gedanken einging,
e. Schoeberlein,
Repetent in Erlangen.
1028 Magte
3.
Davib Matzke, die natürliche Theologie des Rair
mundusd von Sabunde. Gin Beitrag zur Dog
mengefchichte dee 15, Jahrhunderte. Bredl. 1846
104 ©,8,
Die Periode der „Reformatoren vor der Refern⸗
tion” hat im der neueften Zeit vorzugsweiſe eine fleißig
Bearbeitung gefunden. Der Grund davon if wicht blef
ta dem Juntereſſe zu ſuchen, welches Überall an das ıu
Eunftreiche Keimen nnd Werben eines neuen Princin
mit befonderer Liebe ſich anfchließt, fondern auch baris,
dag in jener Periode biefed Reue in fo muenblich mas
nichfaltigen, eigenthümlichen und originellen Geflalta
auftritt. Wie ein vontcanifcher Boden zuerſt an vieler
Duntten zugleich feine Krater fich öffnes, Bis er eines
jige Spitze feiner Eruption gewinnt, welche dann jen
früheren verflummen Ihßt, fo bricht der Drang bed prw
teftantifchen Geifted zuerit an unendlich vielen Yunlıı
gagleicd, an das Richt, im den verſchiedenſten Bilbunges,
weiche alle, weil es noch feiner von ihnen gelingt, da
Princip im feiner Boßenbung, d. b. in wahrhafter Algo
meinheit audzufprechen, einen individnellen Charakter a
ih tragen, eine perfönliche Färbung, wodurch fie von
felbft zu monographiſchen Darfiellungen einladen. ln
erft durch das Zufammenfaflen der ganzen Reihe more
graphifcher Arbeiten biefer Art wird es möglich, in ie
neu dem erften Anfcheine nad, mehr ober weniger ifelin
ten Geflalten das Allgemeine, durch welches fie ak
innerlich verbunden find und ihre gefchichtliche Bedentum
erhalten, ſcharf und beftimmt Aufzufaffen nnd fo eis
Einfiht in das eigentliche Werden und den ganzen Um
fang des proteflantifchen Principd zu gewinnen. Be
d. natürliche Theologie d. Raimundus v. Sabunde. 1029
diefem Geſichtspunkte aus Tann man auch die dorliegende
Arbeit Über den mehr befannten ald erfanuten Raimund
von Sabunde nur willkommen heißen, Denn wenn bers
felbe auch nicht zu den prophetifchen Geiſtern gehört,
welche ahnungevell die Reformation in pofitiver Weiſe
vorbereiten, da fein Bewußtfenn no durchaus im In⸗
halte der katholiſchen Kirchenlehre befangen if, fe hat .
er doc durch feine eigenthimliche, der ſcholaſtiſchen mit
Bewußtfeyn und Rahdrad entgegengefeute Methode,
durch die Keime wiffenfchaftlicher Freiheit, Die in derfels
ben verhält liegen, durch bie tüchtige ethifche Haltung,
welche er der einfeitig metaphufiichen Tendenz ber Scho⸗
fait und ber Tirchlichen Praris feiner Zeit gegenüber
rinnimmt, jedenfalls im negativer Weile dazu beigetras
gen, den Boden der Reformation zu ebnen, wie ihm
denn auch Ullmann in feinem befannten Werke in dieſem
Sinne eine Stelle angewiefen hat.
Der Berf, behandelt feinen Gegenſtand in folgenden
6 Abſchnitten: 1) Leben und Schriften bed Raimund;
2) fein Berhältmiß zn feiner Zeit; 8) fein Standpunkt;
4) fein Princip; 5) feine Methode; 6) fein Syſtem. Den
1. Abſchnitt koͤnnen wir füglich ganz übergehen, da der
Verf. wegen ber Düärftigfeit der Nachrichten bier nichts
Neues geben konnte; bie Betrachtung des 2. und 8. Abs
ſchnittes verfparen wir und bis anf das Ende unferer.
Anzeige, da erſt and der Erfenntniß feines Principe und
Sypſtems herand die Stellung, welche Raimund innerhalb
der Beftrebungen feiner vielbewegten Zeit einnimmt, ans
gemeflen beſtimmt und fein Standpunkt im Allgemeinen
charakteriſirt werben kaun. Uebrigens ift es weniger un»
fere Abſicht, eine fortlaufende Suhaltdangabe ber vorlie⸗
genden Schrift zu geben, als vielmehr an wichtige Punkte
der Unterfuchung ıumfere kritiſchen amd ergänzenden Be⸗
merkungen anzufchließen.
1030 : Kaffe
Wir Weauchen wohl nicht zu fagen, daß ber Titel
„nwathrliche Theologie” bei Raimund nicht in der Beben
tung zu nehmen fey, welde diefer Name im vorigen
Jahrhunderte bei Wolf und feiner Schule erhalten hat;
vielmehr fol damit eine Theologie bezeichnet werden,
die ihrem Inhalt nicht aus der Schrift, nicht durch me
taphufifche Dialektik, fondern durch NRaturbetradgtung ge
winnt, eine Theologie, die nach der eigenthämlichen Ber
beutung, welche fie der Ratur gibt, nicht weniger eine „pe
fitive,” eine „geoffenbarte” ift, als diejenige, welche auf die
Schrift ih ſtützt. Radı Raimand ift nämlich Die Selbſter⸗
kenntniß das Princip alles Willens. Da aber der Munich
in feinem empirifchen Zuftande nicht bei fich ſelbſt, ſonden
außer ſich ift, in endliche Beziehungen verflochten, fo müf
fen die ‚Dinge außer ihm ihn zn ſich ſelbſt zurüdführen;
nur durch fiufenweife Erkenntniß der Ratur kann er zu
Selbfterfenntniß gelangen (8. 26 ff). Denn zwei Bi
her find dem Menfchen von Gott gegeben, bad Buch der
Greatur und dad Buch der Schrift. Jenes ift Allen ger
meinfchaftlich und zugänglich, dieſes nur den Klerikern;
Njenes iſt unzerftörlich und unverfälfchbar, dieſes der Ber
fälfhung und dem Mißverflänbniffe ausgeſetzt. Offenbar
iſt nun das Berhältniß, in welchem Raimnnd die beiden Bi:
cher auffaßt, für die Beſtimmung feines wiffenfchaftliches
Charakters von höchſter Wichtigkeit; gerade hier fest
nnd die Darftellung des Berf. bie nöthige Schärfe ver-
miffen zu laffen. Er identificirt nämlich das Berhältuif
zwifchen dem Buche der. Natur und dem Buche bet
Schrift ohne Weiteres mit dem zwifchen Wiſſen ad
Glauben. Dabei überficht er aber, daß bei Raimund dad
Buch der Ratur nicht weniger ald das der Schrift eine
durchaus objective Bedeutung hat; beide find Wellen
göttlicher Offenbarung ; dort manifefirt ſich Gott in Tha⸗
ten, bier in Worten, beides auf gleich unmittelbare,
d. natürliche Theologie d. Raimundus v. Sabunbe. 1031
ſelbſtändige Weife (vergl. Tit. 210). Wollte ſich der Berf.
dagegen auf die Stelle berufen, wo Raimund behauptet,
„es fey Manches in der Schrift enthalten, was dem fich
ſelbſt überlaffenen Menfchen auf ewig verfchloflen geblie⸗
ben wäre, fo iſt ja diefes nur gefagt, um den fupranas
turalen Urfprung der Schrift zu beflätigen,, aber nicht
im Gegenfaße zum Buche der Natur, vielmehr konnte
Raimund mit gleihem Rechte auch von Dem lehteren, vers
glichen mit der bloß menfchlihen Ssntelligenz, daſſelbe bes
haupten. Denn auch das Verſtändniß des Buches der
Ratur beruht auf einem dirinum iudicium, tft nicht ein
autonomes Wiffen ded Menfchen, da diefer auch hier,
fo wie der Schrift gegenüber, nichtd weiter ald „ad sus-
cipiendam aptus” ift und jenes Buch nur leſen kann,
wenn er von Gott felbft erleuchtet und von der Erbfünde
gereinigt if. Damit ift dad zu Grunde liegende ratlos
naliftifhe Kundament auf ähnliche Weife verdedt, wie
bei den Myſtikern der Idealismus des religiöfen Ger
müths als eine objective Quelle — das innere Wort —
gefaßt wird. Und nur aus diefer Wendung erklären
ſich die weiteren höchſt freimüchigen Gonfequenzen, die
Raimund aus jenem Berhältnifle beider Bücher zieht. Das
Bud) der Natur ebenfo wie die Schrift umfaßt alle Fülle
der Wahrheit, es beantwortet alle Fragen über göttliche
und menfchlicdhe Dinge, ed bedarf nicht der Ergänzung
durch das Buch der Schrift, fondern hat vielmehr den
Borzug der Urfprünglichleit, da jened nur gegeben iſt
„in defeetum primi libri (creaturarum) eo, quod homo ne-
sciebat in primo legere.” Solche Aeußerungen Iaffen fich,
wie ich glaube, mit der Behauptung des Verf, Raimand
befenne fich binfichtlich des Berhältnifles von Glauben und
Wiſſen direct zu dem Grundprincipe des Auguftin und
Anfelm, nicht wohl vereinigen, und ſchon die päpftliche
Kritit, weiche — was dem Berf. gewiß nicht unbelannt
1092 Maske
war — den Prolog der natürlichen Theologie in ben
index libb. prohibb, geſetzt hat, hätte ihn aufwerkſan
machen mäflen, DaB bier eine fühlbare Differenz von der
hergebrachten kirchlichen Theorie ſtattſinde. Run kom
men allerdings auch Stellen bei Raimund vor, wo die alleis
‚ige Autorität der Schrift auf das entſchiedenſte her
worgehoben und jeue gleichberecktigte Duplicität der Of⸗
fenbarung gänzlich iguerirt wirb, ws gefagt wird, daß
die Schrift and dem Herzen Gottes, die Creaturen aber
and dem Nichts hervorgegangen und deßhalb Bett ger
wiffermaßen fremd feyen, und daß eben deßhalb audı
das Wort des Menfchen als einer Greater neben den
Worte Gottes gar kein Recht haben könne. Schon ans
dieſer letzten Beziehung erhellt, daß bier jene ohjeriw
Bebeutuug ber Natur, als eines won Gott gefchrichenen
Budyed, ald einer göttlich geordneten Depsfltärin der
abfoluten Wahrheit, gänzlich bei Seite geſetzt fey, un
ed hat bier die treffende Bemerkung von Baumgarten
Erufius (Cehrb. d. Dogmengeich. II.©. 800. Anuerf.) ihre
Stelle: „Raimund’s Buch. würde ſich widerfprechen, wen
wir nicht annähmen, daß er bald die ideale, bald bir
wirkliche Menfchennatur im Sinne gehabt habe (vergl.
Borrede und Tit. 216.).“ In feiner abfoluten Bebentung
ale der Schrift ebeubärtige Offenbarung, als ein göttl-
ches Buch, wird bie Natur nur von dem erfannt, bermit
ungeblendetem Auge, mit dem Auge des idealen Bew
ſchen fie anzufhanen vermag. Diefen idealen Stand
punkt, der Natur gegenüber, auf dem man dad Buch dr
Schrift gar nicht vermißt, vindicirt ich Raimund felbkin
Brologe, während der Menfch, wie er uun einmal ih,
Durch die Bünde corrumpirt, biefe abfeinte Bebentung
‚nicht zu faflen vermag und eben deßhalb an die Shrift
zu verweifen ift, welche ja „in defeetum primi libri” gege⸗
ben ward, Bon dem letztern Gtaubpunfte and fönntt
d. natuͤrliche Theologie db. Naimundus v. Sabunde, 1083
demnach bie Ereaturen überhaupt gar nicht mit ber Schrift
verglichen werben.
€8 fragt ih ann: auf weichem Wege kann von Dies
fee Borandfegung aus, aus ber Betrachtung des Buches
der Ratur jene Selbſterlenntniß gewonnen werben, bie
wir oben ale Princip der natürlichen Theologie bezeich⸗
net habe? Die Greaturen bilden — fo argumentirt Rai⸗
mund — in ihrer Totalttät eine gegliederte Reihe, gleiche
fam eine Scala, durch welche hinaufſteigend der Menfch
bei fich ſelbſt ankommt, fofern ex ſelbſt Die höchſte Stufe
bildet. Zuerß find alfo Die Stufenunterfchiehe der Rasur gu
beflimmen, fodann if der Menſch nach der pofltiven und
negativen Beate, nach feiner Convenienz und Differenz
mit den ihm untergeordneten Stufen zu vergleichen, und
aus biefer Vergleichung ergibt fich endlich durch einfache
Schlüffe der Fortſchritt zu einer höheren, göttlichen Sphäre.
Daraus entſtehen denn die vier Theile der natürlichen
Theologie: Bergleichung des Menfchen mit der Rasur:
1. binfichtlich der Convenienz a) im Allgemeinen (Zie. k-—55,) ;
b) im Befonderen (Kit. 56--59.); IE hinfichtlich der Difs
ferenz a) im Allgemeinen (Zir.60 — N.) ; b) im Befondes
ren (Tit. 93 — 330.). Das ift die einfache Methobe, das
Schema ber natürlichen Theologie, und biefe it, wie ber
Berf. fagt, recht sigentlidy eine argumentstio ad hominem:
der Menfch it der Schlußpunkt einer unendlichen natürs
lichen Reihe, der Mittelpunkt einer menſchlich⸗ſutlichen
und intellectuellen Welt und damit wiederum ber Anfanges
punft eined höheren, göttlichen Seynd. Die Raturfymbos
lik, welche der Berf. daneben ale ein gleichwichtiged Moment
bee Methode Raimunds hervorhebt (S. 39 ff.), wonach
für jedes geiſtige Verhältniß ein natürliches herbeigezo⸗
gen wirb, wonach z. B. der Wein bie Unſchuld, ber
Weineſſig die Gorruption des Meufchen abbildet, ſcheint
und nur von untergeordnete Bedeutung zu feyn. Die
L
1034 Matzke
Stufeneintheilung ber Natur iſt nun eine vierfache, und
zwar folgende: 1) Seyn (esse); 2) Leben, Organismus
(vivere); 3) Selbftempfindung, Befeelung (virere); 4)
telligen; (intelligere et velle), und zwar bewahrt jede hoͤ⸗
here Stufe das Wefen der vorausgehenden ald Moment
in fi auf, Der Berf. nennt diefe Eintheilung wit Recht
eine alte Kategorie; ed wärewünfchendwerth, dieß durch
einen Turzen hiſtoriſchen Ruͤckblick näher dargelegt zu ie
ben. Bekanntlich fpielt ſchon bei Ariftoteles die Einthei⸗
lung der irdifchen Natur in Seyendes, Lebendiges und
Deufendes eine große Rolle, ebenfo bei den Reuplatoni
tern, welche biefe Gliederung mit ihrer Zriplicitat
‚des Abſoluten in Berbindung bringen. Häufig fommt
fie bei Dioupſtus Areepagita vor, und zwar fo, daß er
wie Raimund zwifchen den Geiſt und das Reben die Selbſ
empfindung in die Mitte fchiebt (vergl. 3. B. de div. non.
VIII, 3.) und über dad Menſchlich⸗Geiſtige Crd Aoyızör)
noch eine höhere Intelligenz (rd vosgöv) ale fünfte Stufe
ftellt, gemäß der befannten Tendenz feiner Schriften, ein:
Zugabe, deren Raimund, beflen Ziel die Erkenntniß did
menfhlichen Weſens ift, volllommen entrathen fonatı.
In gleiher Weife findet fid) jene Eintheilung aud be
dem Nachtreter des Areopagiten, Marius; endlich, wr
der Verf. bemerkt, bei Thomas von Aquin. Raimand bi
diefe Eintheilung nicht gedankenlos, fondern mit felbkar
diger Einficht aboptirt. Wenn er mit der unserken Etui
bem Seyn, d. h..der anorganiſchen Qualität, begiunt, io
weiß er doch, daß dieſe nicht das’ Urſprüngliche iR, for
dern, wie wir fagen würden, nur das Unmittelbare; et
fagt trefflich, die ganze Stufenreihe der Natur fey „ıe-
lieite per hominem,” babe einen „aspectus ad intellecten,
was auch die neuere Speculation anerkennen muß, de
fie ja das Nefultat zugleich ald Princip begreift. Dal
nun freilich diefe Stufen nicht durch innere Dialektik die
d. natürliche Theologie b..Raimundud v. Sabunbe, 1035
‚Höhere aus. ber niederen entmidelt, ſondern in ihrer
Folge empirifch aufgenemmen BE kann uns nidyt
under nehmen.
Zuerſt alſo — und damit Gele das eigentliche
Spyſtem der natürlichen Theologie — ift ber Menſch nad)
feiner Convenienz mit den brei ihm voraudgehenden
Gtufen :zu vergleichen, und zwar zunächftim Allgemeinen,
d. h. fo, daß jene drei Stufen, zu einer Totalität zuſam⸗
mengenommen, ihm gegenüber geſtelt werben, wogegen
die ſpecielle Convenienz auf jede einzelne der drei Stufen
befonderd ſich bezieht und fo ebenfalls eine breifache ift.
Jene allgemeine Eonvenienz des Menfchen mit der Natur
befteht nun darin, daß er alle ihm vorausgehenden ſub⸗
Rantielen Unterſchiede derſelben in ſich concentrirt; ber
Menſch iſt die Totalität aller Principien der objectiven
"Welt, und zwar fo, daß. er fie alle auf menfchliche, gei⸗
Rige, verllärte Weife in-fid) umfaßt (nobilitantur et digaifi-
eantur), — ein echt fpecnlativer Gedanke, ben aber unfer
Berf. viel zu wenig hervorgehoben hat, wie er deun
überhaupt gerade für bie fpecnlativen Elemente feines
Autord geringe Aufmerkfamkeit zeige. Nehmen. wir nun
hinzu, was weiter unten bargeflellt werden fol, daß ber
Menſch an feiner Freiheit bad Ebenbild Gottes, ein
Organ zur Aneignung des göttlichen Lebens befigt, fo
erfcheint er damit als die Mitte, ald das Gentrum des
Univerfums, in welchem die creatürliche und bie göttliche
Sphäre zur einheitlihen Geftalt zufammengefchloffen
find «). Die Borkellung von dem Menfchen ale dem
siniov zeiansrngelaseng, wie Nemeſius ſich ausdrüdt, als
einer officina totius naturae, einer medielas et adunatio
a) Apparet, quod homo est quoddam medium inter deum et inter
creaturas, per quod creaturae iuferiores coniunguntur cum deo
et redeunt ad deum.
Theol, Sud, Jahrg. 1847, | 69
1935 Mage
Wiirklul cfoösteirnunı, vble Gcotad Gekgena fügt, iſt aife ia
Der Naturauſchaumg Naimumd's von hödfter Brick
tung. Bon biefem Punkte aus gelangt er nun fehnelen
Säarimes zum Bezriffe Gottes, unb gwar, wie fit aus
feitter gain Vorausſetzung fihon vermuten Täßt, auf
Ddem tiestogifchen Wege Dieſes Argument faft er
aber in veinerer Norm, als es gewoͤhnlich Feſchieht, win
ch nmicht fo, DaB er Bie Außere Swedteiunuung zur
Hamptſache mad, wonach bie vinzeiwen Rutargealten
ae auf Kußerlidye, zufallige Weiſe auf eiuumber beje⸗
gen find, eine Bezirtzuug, die nur in bad Subjeet, nit
a das Weſen der Diwge ſelbſt Hülle, ſordern bie inwr:
Zwedmüpigbeit ser Wele, wonach die Dinge w efentiid
auf einander beyogen find, das vine wit innerer, ver⸗
minftiger Nethwendigleit auf das andere hinweiſt, und
ale ‚eine Orbmeng, eine Harmonie, eine Hierarchie
ansmacden (Kit 43. Daß danrben deſſen umgestet
auch jene äußere Zuedhuäpigtet bri Raimund ſich breit
malt, tft frellich anf ber andern Seite nicht Mi
Tenghen. us viefem elrheitlichen Bufaumentumge des
Gyraniieliüyen geht nun für Raimund auch Die Einheit
Bones hervor. Dieſelde folgt auch aus der natürliches
Stufenreihhe fell. Dam hebt ſchon der Menſch die
Wielheit der Gattımgen ‚und Arten, in welde die Gr
- Nalten der anteren Grabe zerſplittert find, gur Einheit ber
Gutteng in fich auf, und hat war am ber wumendichen
Bvoelhrit Der Individuen noch feiwe matärliche Enbilchleit,
fo wird nach diefer Amalogie, und da Überall, je größe
Die Energie eines Weſeus, veſto imtefhart fedwe Giuheit
aAſt, Gott im abfoluten Sinne der Eine ſoyn. Mach bie
fen und anderen Vorausſetzungen (vergl. S. 50.) ged!
nun Raimund zur näheren Wefkiinimump des giösftichen Br:
fens ſelbſt fort, offenbar einer der iktereffanteften Punkte
der natürlichen Theologie, von Hrn. Maple aber nid
d. natürliche Theologie d..Maitkundus v. Sabunde. 4037
eingehemb genug behenbelt. Nechwendig uhfien — bas
feigt mus Naimuud's Matnrauffeflung von felbk — alte
sone ſubſtautiellen Unterſchiede der Natur auch in Gott
gefeut werden, und durch dieſe fehle Inbaltöbehkimmung
umterfiheider ih Raiunuds Birgumentation gu ihrem
Bortheite von der ähnlichen, aber viel unbekimmienen, die
wir dei Anguſtin Cie lib. arbitr. H, 5 seggq.), bei Anſelia (mo-
nelog. 4.) and Anderen antreffen, wo „aus den Graden, Die
fi unter deu Dingen finden,” bie Exiſtenz Batied «er:
wiefen wird, ſofern der Fortſchritt vom Mieberen zum
sögeren feinen notwendigen Schluß in einem abſolut
Vollkommenen haben mäfes aber biefe Volllommenheit
beide eben gang abfirant und unberimmt, während fie
bei Raimund, jenem Aufenmäßtgen Zortfehritt entſpre⸗
end, ganz beſtimmte Momente, Seyn, Reben, upfſin⸗
bung, Beil, in ih umfaßt. Wie verbaiten ih nun
dieſe Momente im göttlichen Weſen zu einander? Die
win Raimund im Einzelnen werfolgen und fpricht zu⸗
ft von dem esse dei, in weichem alles Uebrige gegrün⸗
det ſey. Zam Ungelpunkte feiner Exrpofitien macht or
Mer Den gefährlichen Bag: „qued ia deo idem sunt vi-
vere, veutire, intelligere et.omuia alia Idem sunt, quodssse,
et idemmet 'esse” (Tit. 10); weil man dn Gott feine
Verſchiedenheit denken könne, fo ſeyen alte jene Momente
. gu einer ſchlechthin einfachen Weſenheit zufammenzufef:
fen, Bas Leben ſey daſſelbe, was das Seyn, die Gelb
«mpfindung baffeibe, was dad Seyn u. f. ſ. Wir ſag⸗
ten, es fey dieß «win gefährlicher Sag. Dem alle Bes
Rimmmmgen, welche Bott gegeben werben, werden ja das
mit, daß ihre innere Derfchiedenheit und alfe ihre Ber
Riusmtheit gebenguet wird, wieber su bloßen Ramen uud
fubpeeriven Beſtimmungen verflüchtigt, umb es bleibt Bott
nichts ale diefe in ſich umerſchiedsloſe Ddentität des
Sryns, dern Erfüllung eine bloß ſcheinbare ik. Alles
69 *
1038 . : Mahtzke
Weitere, was über das Seyn gefagt wird, koumt anf
die beiden, natürlich feinen Inhalt hinzubringenden Ber
ſtinmungen zurück, daß bad Seyn Gottes kein abgeleite⸗
tes, ſondern durch ſich ſelbſt ſey, und daß es ferner ale
Negation, alles Nichtſeyn abfolat von ſich andſchließe.
Jene erſtere Beſtimmung if der ontologiſche Beweis in
der Form einer einfachſten Aſſertion: Gott iſt das neth⸗
wendige Weſen, fein Begriff iſt unmittelbar fein Geya;
die andere felgt cbenfalld aus dem Begriffe des reinen
Seyns, da dieſes nach außen und nach innen keinen Ge
genfag hat. Es erſcheint alfe bier derſelbe Gottesde⸗
griff, der, aus dem Neuplatonismus aufgenommen, bei
Auguſtin ſich findet, wenn auch mit anderen Elementen
verhüllt, ferner beim Areopagiten umd bei Scotus Erigens
foRematifch durchgeführt ift, der thowiſtiſchen Theolsgie
‘gu Grunde liegt und erfk in der germanifchen Myſtik we:
'niger durch den Procch bed Denkens, als burd bie
‚Energie ‚religiöfer Erfahrung überwunden wird. Die
Beftimmung nun: Gott ift das reine Seyn und fließt
‚alles Richtfeyn aus, führt und auf bad Berhälmiß dei
‚endlichen zum abfoluten Seyn. Der Begriff des letzteren
fcheint zu fordern, daß auch alles enbliche Daſeyn, weil es
ift, eben dadurch Theil habe amı abfoluten Seyn, daß dieſes
dad Subfirat alles Beflimmten fey, bad esse formale respectu
omniem, wie Thomas fi ausdrädt. Im ber That bat ja
auch das allgemeine Seyn keine andere Exiſtenz als nur in
dem beftimmten Dafeyu. Raimund aber verfelgt ſei⸗
nen Grundſatz, daß das Seyn Gottes alles Richtfeya aus
fchließe, noch weiter. Es ſcheint ihm naͤmlich wicht ent
gangen zu fern, daß das reine abſolute Seyn, obwohl
die Gruudlage aller endlichen Beſtimmtheiten, doch dieſe
felbft außer fich liegen laffe, fomit in bir Negation ge
ſtellt ſey, und diefen Dualismus fucht er fo zu überwin
den, daß er die Fülle aller eadlichen Unterſchiede und De:
d. natürliche Theologie d. Raimundus v. Sabunde. 1039
ſtimmtheiten ind abfolnte Seyn mit aufnimmt. Gott if
ihm alfo, nicht das reine Seyn, fondern das abfolut Volle,
die plenitudo essendi, dad mare infinitum essendi sine ter-.
mino et sine fundo, und „quidquid pertinet ad esse, est‘
necessario iu deo.” Nur dadurch unterfcheidet fidy das
Seyn Gstted von dem ber endlichen Eriftenzen, daß dies
fen die Schranke, die Regation anhafter, während Bott,
weil er fie alle gleichmäßig umfaßt, auch feine Schrante
feines Seyns hat. Wir erlauben uns, die merkwürdige
Stelle, welche der Verf. zu unferer Verwunderung ganz
unberädfichtigt gelaflen, unten vollftändig auszuheben =).
Doc gleichfam zurüdichredend vor biefem Refultate nimmt
Raimund eine andere Wendung. „Sed tamen” — fagt er —
„duplex eut esse terrae, aquae, ignis et omnium allorum,
unum in se et in natura propria, quam videmus, aliud in
esse dei, quod non videmus.” Das Biel alfo, bei welchem
der Pantheismus gewöhnlich anfommt, erreicht Raimund:
nicht. Denn jener fchwanft ſtets zwifchen diefen beiden,
daß er einmal alle Uinterfchiede des Endlichen, welche der
gewöhnlichen Betrachtung in unendlicher Zerfplitterung
anseinander zu fallen fcheinen, in der einen. Subſtanz
" a) Tit. 14. Quia dictum est, quod esse dei fugat a se omne
non-esse et per consequens nullum esse ei deficit, quia nullum
esse est extta ipsum, sicat per contrariam diximus, quod homo
non habet esse terrae nec esse aquae nec esse ignis nec arbo-.
ris nec asini et sic de omnibus aliis ita, quod homo habet
tot non-esse, quot aunt res, quae removentur ab eo. Et ideo
esse hominis non fugat totaliter non -esse, sed solum fugat
unum non-esse. Et quia esse dei fugat a seomne
non-esse, ideo habet necessario omne esse. Et
per consequens sequitur, quod esse dei habet in
se esse terrae, esse aquae, aöris etignis et esse
omnium quatuor graduum et omnium, quae con-
tinentarin ipsis gradibu's, quia nullum esse deo
deficit. Etideo esse dei est unirersale omniam.
1040 Rep
zuſammenfaßt uud auf der anbeven Seite doch wieder
leugnet, daß damit im der Allgemeinheit ber Faubſtenj
irgend welcher Underſchied geſetzt ſey; fo wisd Die Poß⸗
tion durch Die Negation immer wieder aufgehoben, bie
Sultan; , weiche Alles umfaflen fol, umfaßt bed is
Wahrheit gar nichts, fofern jede Beftimmcheit in ihrer
unbeftinsmten, indifferenten Identität immer wieder ver
flädhtigt wird. Zu Ddiefem Ziele kommt num Ratmmd,
wie gefagt, nicht, er meint vielmehr — und mit volifem-
menem Rechte —, daß, wenn auf dieſe Weiſe alles „Ber:
änderliche,. Theilbare, Endliche im Gott verfammelt
werde, diefer damit ſich ſelbſt verliere und der Endlichkeit
und Zerfplitterung bingegeben fey. Er unterfcheibet deß⸗
halb, obgleich ohne Klarheit unb Bekimmtheit, eine re
elle (osse rerum in propsia nasure) und eine ideelle Erik;
aller Dinge, und nur die letztere fällt in Bott, fe daß
diefer, frei von ber Endlichkeit, dennoch Ales — anf ideelle
Weiſe — in fih umfaßt. Aber auch bei dieſer Unter⸗
fheiduug kann Raimund nach dem Früberen keine Ruhe
haben. Dens ihm ſchwebt ja immer jener fire und per
tous durchzuführende Grundſatz wor Augen: „‚dens habet
in se omne esse et excludit omne non-esse.” Iſt nun mit
jener Unterfcheidung dieſer Forderung genug gethan?-
Gewig nicht. Denn umfaßt Gott and alle Eriftenye
ideell, fo fallen doch Die Realitäten außer ihm, find für
ihn ein non-esse. Go kehrt derfelbe Dualiemud wieder
und treibt den Raimund in der That zu feinem odigen
pantheiftifchen Ausdrude zuräd. Was er fo eben aufl
entfchiedenfte, gelengnet hat,- das behauptet er nun wie
der: esso omnium rerum in propria nalura est etiam is
esse dei et in deo. So ſchwankt er eime ganze Weil
zwiſchen jenen beiden Entgegenfeßungen (vergl. Tit. 13.)
und verliert das Eine, wenn er dad Andere feſthalten
will, Obgleich er fa über das Berhältuiß. des emblichen
d. natürliche Sheologie b. Meimyendus v. Sabunde. 104%
nnd abfelnten Seyns Eeinedwege im Klaren if, fo bieikt
er doch endlich dabei fiehen, daß das reelle Geyu der
Dinge außer dem Seyn Gattes falle, und erponirt num
ziemlich meitfchmeifig diefen Gegeufag. Das ideelle Weſen
aller Dinge id aber von Gmigfeit is Belt nu) man,
um wicht Die Einfachheit des göttlichen Weſen« zu ge⸗
fährden, if es idem quod deus et esse dei; wie aber
Dabei anf der andern Geike die Vielheit der Ideen bes
mahrt werden könne, darum kümmert Sch Raimund wicht
weiter. Daß ferner über das Berbältnif des Reellen
und Ideellen felbft fic vielfach widerſprechende Ausſprüche
finden, wird nad dem Borigen Niemand) Wunder nehmen.
Nadı dem Seyn behandelt Mpimund die übrigen Ma⸗
mente des göttlichen Weſens, entfprechen® den ſubſſan⸗
tielen Linterfchieben der Natur, alfo zunächſt dad Laben.
Was auf diefe Erpofition zn geben fey, da der Haupt⸗
grunbfat: „ emmia in deo sunt idem quod esse,” auch hier
feſtgehalten wird und keineswegs das Seyn burdı eine
in ihm felb mit Nothwendigkeit geſetzte Bewegung zum
deben fortgeführt wird, liegt auf der Hand — wir foma
men trotz alled Redens nicht über dag Seyn hinaus,
und auch die Prädicate des Lebend find ganz diefelben
ald die bed Seyns (vergl. Tit. 27. mit Tit. 11. Wie
fi) übrigens Raimund das Leben Gottes felbit gedacht
habe, bleibt unklar, und noch mehr kommt ex bei dem
dristen Womentse, dem sentire, ind Bebränge. Faſt ſcheint
es, ale ob ihm hien Die eigewe, anf feiner Naturauffaſſung
bernhende Methode, wonac alle fubftansiellen Scufenbe⸗
flimmtheiten der Natur auch im Gott zu fegen find, uubes
quem wände, fie wird hier in der That zum bloßen Kors
walismus. Denn wie fol ber Theiſsmus, und zu dieſem
kehrt ja Raimund trotz jener Hantheiftifchen Abfchweifungen
wieder zurüd, die Empfindung, die animaliſche Beſeelung
ale Moment des göttlichen Weſens fich deuten? Go fagt
1042 Matzke
denn Raimund, in Bott ſey Geſicht, Gehör m. ſ. w., aber
uicht fo, wie in ben Ereaturen, das fey unmöglich, fondern
nobilissimo et perfectissimo modo! (Tit. 29.) Uad feine
ganz abfkracte Anficht von der Sache wird offenbar, we
er von ber „Lörperlofen, fpirituellen, intelectuellen” Eins
nesempfinbung Gottes redet (Tit. 33.) Nachdem er
ſodaun über das intelligere in Bott gefprodhen und ncod
einen Zufat über bad posse gemacht, dad zwar beim End»
lichen von der Exiſtenz verfchieden, bei Gott aber mit
feinem actuellen Seyn abfolut identifch ſey — was fid
sach der obigen Erpofition fiber das Seyn vom felbfl vers
flaud — , fchließt er dieſen Adfchnitt mit einer Betrachtung
über die Trinität. Diefßbe fcheint uns, obgleich fie Her
Matzke an zwei Stellen feiner Schrift ziemlidy weitläufg
behandelt, durchaus unbedeutend; es find nur in populärer
Weiſe die verfchiebenen fcholaftifchen Argumentationen
wiederholt. Natürlich werden- dabei gemäß Der ganzen
Anlage des Werks die Analogien aus der Natur am
meiften hervorgehoben, daß jede Raturgeftalt im fich den
Trieb habe, fich hinzugeben, ihr eigenes Wefen in Auderes
binüäberzuftrömen, daß es des Menfchen höchſte That fey,
das Ebenbild feiner felbft zu erzengen u. dgl. Jene tiefere
Analogie aber, wonach in jeder Geſtalt der Natur und
vor Allen im Menſchen ein innerer, lebendiger Gegenfab,
ein Abbild der göttlicdhen Triad gefunden wirb, wie bad
Auguftin und im fpäteren Mittelalter auf geiftvofle Weiſe
Savonarola verfucht hat, eine Betrachtung, zu ber: ihe
fein Princip fo beſtimmte Veranlaffung gab, bleibt gänzlich
außer dem Gefichtöfreife Raimund's liegen.
Indem wir den 2. Theil. der natürlichen Theelogie,
die Dergleihung bed Menfchen mit den Greaturem nad
ihrer fperiellen Convenienz, gaͤnzlich übergehen, werfen wir
nur noch einen Blid auf den 3. Theil, der die allgemeine
Differenz zum Gegenflanbe hat. Diefe befteht in. der Iw
d. natuͤrliche Theologie d. Raimundus v. Sabunde. 1048
teligeng: und im Willen. Bas Raimund über.die Suteliin
gen; und die daraus entfpringenden Geſetze bed Erken⸗
nens aufftellt, hat unfer Verf. (S. 28 ff. 58 f.) genügend.
entwidelt. Wie der erkennende Verſtand den Menſchen
auf Gott hinweiſt, fo noch beflimmter der Wille. Hier:
ſchließt fih nun bad moralifche Argument an, weiches vor
Allem dem Raimund einen Namen in der Dogmtenges.
fchichte gemacht hat, da er der Erfte war, welcher es mit:
Beftimmtheit und in Form eines Beweiſes entwidelte..
Denn wenn fih aud bei Anderen vor ihm, beſonders bei:
Abälard, beiläufig ähnliche Reflerionen finden, fo wird
ihnen doc Feine voifienfchaftlihe Form und Bedeutung
gegeben. Den Raimund aber mußte feine Methode, von
allen Momenten des wmenfchlichen Weſens aus zum
Anfolnten fortzugehen, feine überwiegend ethifche Haltung
und die. Stellung, welche er dem Willen unter den übrigen
Seiten-bed Geiſtes anweiſt, mit Nothwendigkeit gerade auf
diefen Beweis, als den wichtigſten und fruchtbarften hin⸗
führen. Die Relation des Verfaſſers ift gerade an diefem:
Punkte wieder fehr kurz, fo daß wir einige ergänzende:
Bemerkungen einfchalten, nebft einigen Worten über das
Berhältniß des raimund'ſchen Beweiſes zum kantiſchen.
Als reies Weſen — fo beginnt Raimund — vermag ber:
Menfdy nach der Seite des Guten oder ded Böfen fich zu
entfcheiden, er ift zurechnungsfähig; Berdienft und Schnib
find die Refultate feiner Freiheit. Durch das Böfe verlegt
und zerfiört er die Ordnung der Ereaturen, die Harmonie
des Alls, welche eben barin befteht, daß jebe Ereatur
ihrem Wefen volllommen entfpricht; durch das Gute volls:
endet und verlärt er diefe Harmonie. Run fehen wir.
aber — bier tritt das teleologifche Argument mit ein —
in der Natur einen durchgehenden zweckmäßigen Zufam⸗
menhang der Dinge mit einander, Eins if: weſentlich
und nothwendig anf das Andere bezogen, hat. am: Ande⸗
1043 Boote
von fein Complemenſs, feine Begenfeite, weit welchet ci
tm lebendigen Proceſſe ih, wie bad Licht wothwendis
auf da6 Auge, bin objective Vernunft: (res inteltigibiie)
worhwendig auf bie ſubjettive Gintellneius) fich beziehe;
wie fan nun in ber höchften, in den mweretifchen Gphän
jene Ordnung vermißt werden, die und hen ig der
natürlichen entgegentrict? Daraus felgt alfo, daß au
in der Weit der Freiheit die That des Miewfchen zit
oleidfam „ine Leere hin’ gefchehe, fondern daß andı fr
ihe nothwendiges Gomplement habe, d. h. Daß Leho od
Strafte ihre Folge fey. Mie aber Die Orbunug ber m
tiwlichen Welt mit Nothwendigkeit auf einen Bett hie
führte, fo nicht weniger bie ber moratifchen. Alle Eigen
fehaften Gottes folgen. mist Leichtigkeit hieraus (Lit. 83.
bis 86.) Fragen wir nun, wie ſich Raimund mit biefer
Argumentation zu Raus verhalte, der ja bekauntlich oben
falls diefed Argument befonderd fchäßte, fo ſpringt zwerl
in die Augen, dad Raimund einen objectiuen Aundgangi
punkt nimmt, nämlich die Orbuung der natürlichen Walt,
weraud er fodann die Conſequenz für bie moraliſcht
zieht, während Kant bagegen fubjectie won Begriffe dei
hächſten Buted ausgeht. Nach Kant finder der Menſch
im ſich das meraliiche Geſetz, welches mubebingte Erfil⸗
lung fordert, ohne Rüdfiht auf Glückſeligkeit und cl
fonfigen Motive, Daneben finden fidh aber auch empiriſche
Triebe, der Dvang nadı Glückſeligkeitz beide, mit einas:
der werfnüpft, geben das Ideal des höchſten Gutes. Di
Einheit der Tugend nub Glädfeligkeis im hächſten Gate
iR alfo, um kantiſche Ausdräde zu gebrauchen, wicht ein
omelptifche, ſondern eine fonchesifche; wit der Zuge
hängt nicht notwendig bie Glückfeligkeit zufammen, dieſt
ledtere iR vielmehr äußerlich bebingt uud liegt im de
Befriedigung empirifcher Triebe, ber Menſch kann daher,
da er der Tupenb nubedings und allein ſoigen fell, bei
[4
d. natürliche Theologie d. Maimundus v. Sabunbe. 2085
hochftle Gut nicht ſelbſt verwirklichen. Dennoch aben Kogb
in feiner Natur dad berechtigte Streben danuach, ud es.
if ſomit ein praktiſches Poſtulat, ein Weſen amguuchmen,
weiche® jene ditparaten Elemente harmonifch werkuinfe
und bad höchſte Ent für den Menſchen realifive. Obme
weiter auf die Schwächen Diefer Argumentation einzu⸗
gehen, fo ift bei Raimund im Gegentheile bie Einheit der
Ingend und Glüͤckſeligkeit, ebenfe der Simbe und ber
Strafe nach Tantiihem Ausdruck eine anaiytifdie, da es
ja in der Drbmung der wmoraliſchen Wels begründet iſt,
daß jede That am fich felbft eine ausfpreckeude Folge habe.
Liegt e& im Begriffe des Guten, Daß es nothwendig dem
Lohn, Die Geligleit mit fi führe, nun, fo ik je dad
Poſtubat eines Weſens, wolched beides erſt äußerlich vers
Müpfen fol, durchanus überflüfle. Conſequenterw eiſe
müßte Raimund dann freilich Lohn und Strafe aldi ein
Innetliches, im Clemente des Geiſtes ſebbſt ſich Bollzien
hendes faffen, und an einigen Stellen thut er dieß auf
das entſchiedenſte (remuneratia corsespendet radici, quse
nem esk cerporalis; vergl. Tit. 88.5 Auf ber anderen
Geite ift aber Raimund’ Argumentakion von dem Grund⸗
mangel der Tantifchen frei, inden ed ihm nicht von ferne
m den Sinn fommt, Die praktiſche nnd theoretiſche Ver⸗
nunft yon einander snzeißen, Sant's „praktifcher Blanbe,”’
ſobaid er ind Bewußtfeyn erhoben wird, fülk ja damit
ind Bebiet der Theorie, muß alfo wieder negirt, feimer
objectiven Bedeutung beraubt und ins Subject zurieck⸗
genommen werden, währen» bei Naimund die Gewißſheit
der theoretiſchen Beruunft durch biefes Poſtulat ber
Praris nur aflfeitiger und ficherer wire. Daß fodanı
die Unſterblichkeit auf bemfelden Wege bewiefen. wird,
braucht nicht erſt erwähnt zu werben.
Es fetgt der A. Theil des Werkes, welcher die ſpe⸗
cielle Differenz des Menſchen und ber Creaturen zum
1046 Metzke
Gegenſtande hat; dieſelde beſteht nicht, per hebere, sed
per oognoscere se habere,” beſteht alſo im Selbfibewußt:
feyn, welches Raimund merkwürbigerwmeife von der
Intelligenz und dem Willen abtremmt. Erfi bad Bewaft
feyn aller Gaben, welche der Menfch empfangen hat,
begründet feine Verpflichtung gegen den Geber. Raimund
betritt alſo bier das erhifche Gebiet, deſſen Inhalt wir
in der Haren und vollſtändigen Darfielung bed Ber.
(S. 64 ff.) nachzuleſen bitten. Den Mittelpunkt bildet
Die Liebe. zu Bott, und Raimund gibt eine volllänbige
„scientia de natura amorla” in 64 Kapiteln. Hier ik
er ganz in feinem Elemente, auf der Höhe feiner Arbeit
angefommen,. Hier bewegt er ſich lebendig, mit höchſter
Selbfibefriebigung, und ohne Zweifel gehört diefe Partie
der natürlichen Theologie zu dem Bellen, was übe
chriſtliche Ethik im Mittelalter gefchrieben if. Der Wilke
it ihm das Derz des Geiſtes, das Majeſtätsrecht dei
Menfchen, das vollendete Ebenbild Botted (vergl. S. 22)
und deßhalb auch dad Organ, die Form bes höchken
ethifchen Princips, der Liebe, über deren Auffaffung wir
weiter unten noch einige Worte zu fagen haben. Die
Liebe in ihrer vollendeten Realität ift die Einheit mit
Gott, und fo kehrt in ihr die ganze Reihe der von Gott
gleihfam entäußerten Greaturen durch die Bermittelung
ded Menfchen zu. Gott suräd. Und aus dieſem Gentrum
gebt nun bie Darfteflung in die Breite auseinander und
entwidelt eine Fülle von Erfcheinungsmeifen, welde au
fih in dem Principe der Liebe umfaßt und präfermirt
find. Die weiteren ethifchen Bellimmungen und. Gegen
füße ımd bie biefen augefchloflenen Dogmatifchen Erör
terungen über: bie Dignität Ehriſti, die Eugel, bie Sa
tisfaction, die Sacramente, die Gnade, die Herifalifche
Gewalt: u. f. w. finden fich ebenfalls bei Hrn. Maple
mit; gehöriger Klarheit und. Vollſtaͤndigkeit dargeſtellt.
d. natürliche Theologie d. Raimundus v. Sabunde. 41047 |
Schließen wir an biefen Ueberblick über Prineip,
Methode und Inhalt der natürlichen Theologie noch
einige Bemerkungen über bie hiſtoriſche Gtellung ‚und
Bebeutung ihres Urhebers. Auch Herr Matzke hat im
dem Bewußtſeyn, daß bei hiſtoriſchen Monographien bie
Rädficht auf die allgemeine Entwidelung des Geiftes bie
Hauptſache fey, diefem Punkte einen befonderen Fleiß
jugewandt, Davon audgehend, daß man bei Raimund
von vorn herein die feltefte Anhänglidjleit an die Kir
chenlehre vorausſetzen mäfle, weit er auf den unheilvol⸗
len Zuſtand der Kirche des 15. Jahrhunderts bin und
ruft Dann and: „Bounte Raimund dieſem allgemeinen
Auflöfungsprocehfe ruhig gufehen ? Konnte er es über fich
gewinnen, die. mühfem errungene Bilbung des Geiſtes
und Herzens, die fpäte Krucht fo vieler Menichenalter
dem Alles unterwühlenden und zerftörenden Zeitgeifte
zum Opfer zu bringen? Gewiß, wenn wir bebenfen, daß
ein-für bad Erhalten der einmal liebgemonnenen Sach⸗
lage beforgted Gemüth bad Gewiffe dem lingewilfen im,
mer vorziehen wird, und wenn wir binzunehmen, baß
Raimund mitten in die Verwirrung und Zerrättung hinein,
geſtellt war, in der gewoöhnliche menſchliche Berech⸗
nung noch gar nicht vorausſehen konnte, welcher Zuſtand
darans hervorgehen würde, fo befremdet ed und gar
nicht, daB er die alte Ordnung der Dinge gegen das
Andringen feindlicher Elemente wohl zu fchüßen ſuchte
00. Der Repräfentant biefer Bertheidiger des Alten
ift Raimundud.” Sein Zwer war demnach, die wankende
Kirchenlehre in den Herzen feiner Zeitgenoffen neu zu ber
gründen: Wenn ſchon wegen biefed populären, praktiſchen
Zwecks Raimund ſich zu der unpraltifchen, übergelchrten
Schotaftit nicht ohne Weiteres‘ hinwenden konnte, fo
noch viel weniger deßhalb, weil die lehtere damals ‚übers
haupt ſchon dem lintergange verfallen unb in der Auf:
1048 | er
Söfeng begeiffen ww, Naimundb ſah ſich wife memäthigt,
eine nene Meihobe zur Biuwerbung ‚gu briagen, won ber
Art, be dad Ball bei Handhabung Sarfelben einzig ua
wilein feinem gefunden enfdyewsesfinube Yolgen derſte.
ie mupte anf einem fidheren Eruudre zubhen, Damit bi
wit ihrer Hülfe gefundenen Wuhrheiiten Ducchans wiht
umgefboßen werden Bonnten Neues Material beizubra
en war gar nicht von nöthen, ſoudern ber Zweck wor
volllommen erreicht, wenn ber reidıhaktige Wewten der
Arbrit der bedentendſten Schtlaſftiber weiſe ‚benngt za
Sas Alte wen vernebritet wurde.” Dieß im Kergern bi
Anſicht des Berf. Eüelten wie wun auch gugeben, bai
Naimund bei ſeinem Merle diefen uligemeinen prakithche
Zwei vor Angen zehubt habe, und Daß ihm alſo die
Reformation der Cheologie war Awad Geuuhkued, via
Berf. hinter dieſer apologetiſchen Seite Die ambere ned
vorwärts gewandte ber wiſſecqſchaftlichen Seubilbun
wiel gu fehr zurucktreten, obgleich gerade fie mach unfere
Auſicht Die intersffontefte ‚uud Hiftorifch bebeutrubfle H.
Usb wenn Der Werf. erſt auf Dem letzten Mblaste feine
Abhandlung ſagt, Natmmmb’s Syſtem fey ein necheht:
Ages Denfwal des Geiſtes, weiter unabläffig ring,
son Anferen Umtorititen fi gu emancipiren, Te geht
2a wenighend aus feiter Daufkeliuug wide befiimmi
herwon
Dom der Scholcttik hat ſich Rakmuib = Bewaft
ſeyn odgefagt. Dusch feine watärliche Theologie, ſag
ee im Prologe, könne man in eine Mongate mehr ler,
als wonn man hundert Jahre Die dooteres ;istitere. Scher
Dieß, den 'gangen Inhalt ver Thrologie aus Mus Ginhe!
tined Priacips gu bagreifen mad zu ent wickein, uud Re
muud meuigftend aflmebt, Kegt ber Scholaſtik fern, web
er eben ‚jene primeitfielte Ginheit ‚abgeht, weiche gem
d. natürliche Theologie db. Riduambus v. Sabunbe. 1049
anf dem Stanbpuntte des veflatisenben Verſtandes Beht
and wur wit einzelnen rationellen Grunden bie eimgelnen
Motende ver verauögefehten Küirchenlehre gleichſam zu⸗
yıuten aud in wine dam damaligen wiſſenſchaftlichen
BDewußtſeyn zufagense Korn zu bringen ſucht. Und num
voſtends von ber Erfahrung audgugehen, biefelbe geifätg
zu darchdringen, ift der abftracten Metaphyſik der Sch»
(after geradezu entgegengefegt. Wenn alfe der Verf.
fagte „Der ganze Plan dei Raimmd war, daß wir
kurg vegtideen, darauf angelegt, Die Scholaſtik gu popu⸗
tarifienı,” fo iſt dieß mindeſtens ſchief auägebnädt. Kine
Wiſſenchaft und vor Allen eine folche, die ihren Juhalt
nmicht frei aub ſich produoirt, charalterifirt ich ja weſent⸗
lich durch ihre Metiſode, die Rirchenlehre iſt vielmehr
der en Raimunud mit den Scholaſtikern gemeinſame Stoff,
ud wenn er daneben vielfach auch ſcholaſtiſche Argumen⸗
rtarionen und Diſtinetionen aufnimmt, fo kaun dieß un⸗
mögfich aus ſeinem bewußten Diane erklärt werden, ſon⸗
Vera daraus, daß Raimundes ganze Bildung innerhalb
ner Scholakit erwachſen iR, während fein eigenthäm⸗
liches Yrimeip und feine Methode, wären fie überall mit
Bewaßtſeyn feſtgehalden und durchgeführt, ihn gerade
von der Aufnahme jener. Siemente hätten abhalten undifr
fen. Hatte ver Nominaliomus, im deſſen letzte Zeiten
Raimund fhdt, fein Ende gefunden in Der Berzmeiflung
un altem objectiuen Willen, an ber ganzen bogmmtifchen
Welt, weldye doch noch der einzige Inhalt Des Dewußt⸗
ſeyns war, uud war er bamit nothwendig, :weil sur Kris
the noch nicht Hart geung, in Den craſſeſten Autoritäts⸗
giauben und die abftzaete Trennung von Glauben und
Wiſſen umgefchlagen, fo wußte bei dieſem Reſultate der
Trieb ſich geltend machen, in eier neuen, lebens volleren
Weise, durch eine tiefere Vermittelung ben im Bewußt-
fegn sinmal wo feſtſteheunden Olaubensinhalt dem Gelt
150: "Maple
bewußtfeyn zu eigen -zu machen. Die unmitteibasfe Ev
fcheinung dieſer Yofltiven Oppofition gegen ‚ben Forms
lismus der Scholaſtik iſt die Myſtik; in wiſſenſchaftlicher
Weife erſcheint dieſelbe Oppoſition bei Raimuud. nd
ser ſucht ein anderes Fundament als das ber ſcholaſtiſche
Neflerion und ber bloßen kirchlichen Autorität, aber et
fircht es in der Wilfenfchaft, nicht, wie bie Myſtil, in der
‚Inneren Selbſtgewißheit der religiäfen Erfahrung. Ba
braucht nur den Prolog feiner natürlichen Theologie un
befangen zu lefen, am zu fehen, wie bedentend hier ſche
"die Selbſtaäͤndigkeit des ſubjeetiven Erkennens der Ir |
torität gegenüber .fich geltend macht, ganz verſchieden von
bem alten: Berhältuiffe ber Ades zum intellecten, wen
Kaimund auch demüthig all fein. Erkennen der Kirche uw
terwerfen und den Schein ſubjectiver Freiheit baburd
verzueiden will, daß er feine Wilfenfchaft nur als Ba
Leſen eines göttlichen Buches, ald das Aufnehmen ein
fertigen Offenbarung darſtellt. — Baur (die Lehre von
der Dreieiniigleit 11. S. 885.) führt den Raimnuud unit
den Myſtikern anf und bezieht ſich Dabei auf dem in de
"oben ausgezogenen Stelle enthaltenen pantheififchen Bor
tesbegriff. Aber abgefehen davon, daß Raimund did:
Auffaſſang nicht feſthält, ſondern zum Theismns zuräd
:fentt, iſt doch dieſelbe auch von der ber Myſtiker weint
lich und prineipiell verfdieden, wenn auch bei dem lehlv
‚zen fich Hin und wieder Ähnliche Ausfpräche finden ſol⸗
ten. Raimund würde, wenn er jene Auffaſſung couſequent
-fefthielte, bei Dionypus Arsspagisa.antommen, währe!
‚die germanifche- Myſtik auch bei ihrem Botteöbegriffe a
her veligiäfen Erfahrung, von der Gewißheit der ſubjec
riven Unendlichkeit ansgeht und durch Regation bed «m
piriſchen Ich bad Abfolute ind Subject felbft himeinzieh.
Durch diefed Moment ber unendlichen, gottburchbrungt
en SBubjeettoität iſt Die Auffaſſung des Abſoluten une
d. nathrliche Theologie d. Maimundus v. Sabunde, 1051
lich concreter als jene abfiracte, nur fcheinbar"allumfafs
fende Subſtanz. Noch näher aber fcheint Raimund dort
as die Myſtik zu reifen, wo er von ber Liebe als der
das Menichliche in das Göttliche trausformirenden Wacht
ſpricht. Wie das Elementariſche durch die ihm einges
borne Beſtimmung, burch einen inneru Zug in dad Or⸗
ganifche ſich wandelt, fo muß auch der menſchliche Wille
ale die höchſte creatürliche Beftalt, über weldher zur
Gott ſteht, felbft ind göttliche Seyn gewandelt werden,
die Liebe zu Gott muß den Menfchen felbft göttlich mas
chen a). Auch nad den Myſtikern hat der Menfch nur
ein Ziel, die Liebe zu Gott, oder wie fonft diefe eine
myſtiſche Tugend genannt werden möge; bie Bergottung
des Menſchen durch die Liebe kehrt auch hier immer
wieder, oft, wie auch bei Raimund, durch bad Gleichniß
Der Che verfinnbildlicht. Aber der Unterſchied ift ber,
daß die Myſtik jene Einheit der Liebe gründlicher und
tiefer erfaßt, auf die urfpränglich präformirte Einheit
bed Weſens, anf die Gewißheit der Berfühnung mit
Gott zurüdführt: Gott fordert gleihfam von jedem
Menſchen feinen Sohn uud Jeder, der Gott nicht liebt,
der befchränkt damit das göttliche Leben felbft. Diefe metas
phyſiſche Vorausſetzung macht Raimund nicht, er unters
fucht nicht, ob denn jene Einheit auch an fi in bem
Wefen Botted und des Menſchen und in dem Verhält⸗
niſſe beider begründet und möglich gemacht fey, er hält
banebeu unbefangen die alte Satiöfactionstheorie in ihrer
ganzen ſtarren Objectivität feft, bleibt einfach beim Wil⸗
a) Ita ergo vuluntas in sua libertate debet mutari in melius et
io altiorem gradum, scilicet ut ipsa matetur in esse divinum,
aliter ipsa faceret contra totum ordinem universi et contra so
ipsam . .... Quia amor convertit voluntatem nostram in
rem primo amatam, ideo convertit, mutat et transformat to-
taliter hominem in deum et in suam voluntatem (Tit. 241.).
| Theol. Stud. Jahrg. 1847, 70
nv"
len als ſolchem ſtehen, reißt ihn ſogar von ber Inteligen
los, während im der Myſtik vielmehr Lieben und Erken⸗
nen Eins ift, beides in ungetheilter Einheit des Gelbk:
bewußtfeyns zufammengehalten. Die mepfttiche Liebe hat
deßhalb einen vorwiegend ideellen, abſtract innerlichen
Eharakter, fie ik das Schauen Gottes, Ansruhen in Bett;
wer, über ſich ſelbſt erhoben, in jene Stille der Liebe rin
gekehrt ift, für den tritt dann das Handeln als eine u
tergeoranete Stufe zuruck, da dieſes feiner Natur nah
Retd nach außen gewendet und in bad Gnblidhe werflod.
ven il. Daher die Paſſivitaät, der Quietismas ber Myſtil
Ban; anders bei Raimund, da er ja den Willen ale den
eigentlichen und alleinigen Heerd der Bermittelung des
Menſchen mit Gott beflimmt. Der Wille ift aber weint:
lich Thätigkeit. Wenn alſo die myſtiſche Liebe einfad
in ſich iſt, thatenlos, einſames Spiegeln der Seele im
Abſoluten, fo iſt dagegen die Liebe bei Raimund ein ener⸗
gifcher Peoceß, ein Princip, das ſich praftifch erweiſen,
eine Füße von Erfcheinnugen and ſich fegen und wieder
in ſich zurücknehmen muß. Die eine funbamentale Lich,
fagt er, iſt zwar umfichtbar, aber zugleich die fruchtbar
Wurzel von vielerlei kiebe; fie treibt einen Baum aus
fi hervor, deſſen Zweige nach allen Seiten audeimandır
sehen (Tit. 134.). — Damit ift ber ethiſche Standpuult
Raimund's im Allgemeinen charalteriſirt. Unufer Bei.
hat denfelden klar erfaßt and bargeflellt; bei bem um
foffeuden Zwede feiner Abhandlung konnte man abe
erwarten, daß er ihn innerhalb der eihifchen Begenfäßt
jener Zeit und im Berhältniffe gu Raimund's eigenen dog⸗
matifchen Erörterungen 5. B. über die Gnade noch ei
gehender betrachtet haben würbe. Es leuchtet eim, wie
weit Raimund mit feiner ethifchen Ueberzengung vor
der Praris der katholiſchen guten Werke fich entfernl,
indem er alle Aeußerung des flttlichen Thuns auf bie
d, natärliche Theologie d. Raimundusn, Sabunte. 1053
eine Idealitüt des Willend bezieht, wenn gleich ihm anf
Bercanderen Seite die unendliche Bafid uud Vorans⸗
ſetzung dieſer Spealität, Die reformatoriſche Ades, ned
verborgen blieb. — Wenn man nun die eben berührten,
nicht ganz wegzuleugnenben myſtiſchen Aullünge berück⸗
ſichtigt, ſo wird man vielleicht die Anficht aufteilen dür⸗
fen, daB Raimund in feiner Schrift eine Vermittelung
zwifchen jenen beiden geiſtigen Mächten feiner Zeit ver
fucht babe, in dem Sinne, die Theologie fey allerdings
Wilfenfchaft, aber dad Ziel ihrer Erkenntniß nicht das
Wiſſen feloft, die Theorie, fondern die Praris, die Liebe
als der thatſaͤchliche Beſitz bes Bsttlichen.
So originell nun Raimund's Princip und Methode
iſt, fo tachtig und anerkennenswerth feine Tendenz, fo
kaun nnd dieß doch andererſtits für die Schwächen ſei⸗
ned Werkes nicht blind machen. Seine Anffaflung ber
Matur ald eines vernünftigen Syſtens om Stufen, biefe
Ahnung einer organifhen Dialektik aller Wirklichkeit if
ein tiefer, fruchtbarer Gedanke, aber die Entwidelung
deſſelben, die wirkliche Einfiht in das Wefen der eins
zelnen Stufen und Raturgeftalten ift eine durchaus dürfe
tige, überfleigt nicht die affergewöhnlichfie Kenntniß und
ift wohl faum mit dem Streben nad) Popularität zu ents
fchuldigen. Ebenſo ift das Princip der Selbſterkenntniß
Höchft coneret und inhaltereich, aber die Durchführung
ift großencheild eine fehr äußerliche und oberflädhliche,
und kann feine andere feyn, ba ja für Raimund die
Kirchenlehre von Haus aus als Refultat feſtſteht, und
fo die Kraft des Principe, befonders fobald er ind Des
tail der Kirchenlehre hineingeräth, durchaus gebrochen
erfcheint, ja er fällt, obgleich er offenbar im Principe
die Scholaftif überwunden hat, an vielen Punkten total
in die fcholaftifche Argumentarion zurück. Die Methode
endlich, wie er fein Princip durdyführen will, ift ihrer
P 70 *
*
1054 Maple, d. nat. Theol. d. Raimundus u. Sabunde.
Idee nad) ganz angemeſſen, aber fie wird aus eben jenem
Grunde, je weiter fie zu ben Spiben der Kirchenicht
fortfchweitet, um fo mehr zum unerträglichen Formal;
mus. Das ganze Syſtem der bierarchifchen Gewalt fe
det in der natürlichen Theologie feine Mechtfertigung.
Der Verfaſſer hält in feinem Urtheile über Raimuad
bie verfiändige Mitte zwifchen Ueberfchäbung und Bering
fhägung. Ueberfhägt wirb er häufig von Solchen, bit
weites nichts ald den Prolog keunen, zu gering gefhäßt
bisweilen von denen, welche das ganze Werk findiert
haben, wo bann die Refignation, mit welcher man fid
allerdings bei manchen Partieen waffnen muß, nicht fel:
ten ber linbefangenheit des Urtheils Über das Gary:
Eintrag thut. Sedenfals hat Herr Maple durch fein:
durchgeheuds klare und objectio gebalteue Darſtellung
zur richtigen Würdigung des Raimund von Gabuade
beigetragen und damit eine wefentliche Küche unferer day
menbiftorifchen Ritteratur ausgefüllt.
D. Frauz Holberz
———— nn — —
1054 Maple, d. nat. Theol. d. Raimundus v. Sabmde.
Idee nach ganz angemeſſen, aber fie wird and eben jenen
Grunde, je weiter fie zu den Spitzen der Kirchenlehre
fortfchreitet, um fo mehr zum unerträglichen Zormaldı
mud. Das ganze Syſtem der hierarchifchen Gewalt fe:
det in ber matürlichen ‘Theologie feine Rechtfertigung.
Der Verfaſſer hält in feinem Urtheile über Raimumd
bie verfländige Mitte zwifchen Ueberfchätuug und Gering
fhägung. Ueberſchätzt wird er häufig von Golden, die
weiter nichtd ale den Prolog kennen, zu gering gefhäßt
bisweilen von benen, welde das ganze Werk Radiert
haben, wo dann bie Refiguation, mit welcher man fid
allerdings bei manchen Partieen waffnen muß, nicht Ir:
ten der linbefangenheit des Urtheils über das Ban
Eintrag that. Jedenfalls hat Herr Matzke durch fein
durchgehends Mare und objectio gehaltene Darfchum
zur richtigen Würdigung bed Raimund von Sabunde
beigetragen und damit eine wefentliche Lücke uuferer dog:
menbiftorifchen Litterasur ausgefüllt,
'D. Franz Holberg.
—— — — —
Iſt der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden?
Beantwortet
vom
Prediger Diedrich
in Magdeburg.
Don jeher ift dem Rationalismus der Borwurf gemacht
worden, daß er in fi; nicht die Kraft und Fähigkeit
trage, eine kirchliche Bemeinfchaft zu fliften und zu ers
balten. Ebenſo if in unfern Tagen den kaktholiſchen
Difientergemeinden, weiche fich auf rationaliftifcher Grund»
lage bildeten, fowohl von Katholifen ald von Proteſtan⸗
ten zugerufen worden, Daß fie eines feſten Fundaments
für ihre religiöfe Bemeinfchaft entbehrten, baß fie, falls
fie nicht Yon dem Boben einer bloßen Raturs oder Ders
nunftreligion aufden Boden des Yofitiven chriftlichen Df⸗
feubarungsglanbene zurüdträten, den Sturz ihres eiger
. nen Bebändes ſelbſt vorbereiten würden und leicht, noch
ehe ein Menfchenalter verfiriche, erleben könnten. — Bon
Seiten des Rationalismus iſt jenem Borwurfe nie gränd:
lich begegnet werden, vielmehr hat er ſich mei nur bar»
auf beichränft, denfelben, wo nicht ale eine völlige Un⸗
wahrheit, doch ald eine ticbertreibunggen bezeichsen, und
nicht unterlaffen, feinen Glauben an eine kirchenbildende
Fähigkeit feines Syſtems mehr ober minder zu betheuern.
Eben fo wenig haben bie neufathelifchen Diſſidenten durch
.
1058 Diedrich
jenen Vorwurf ſich bewegen laſſen, von dem betretenen
Irrwege auf den rechten Weg zurückzukehren nnd, Ratt
“eine vage Bernunftreligion zu proclamiren, um fo fee
an den pofltiven Grundlagen ded Chriſteuthums feſtzu⸗
halten, je entfchiebener fie fih vom römifchen Katholi:
cismus lodfagten und je härtere Berurtheilungen ober
doch Berdächtigungen fie von blind zufahrenden Gegnern
erfahren mußten. Im Ganzen iſt befanntlich bie Anzahl
der katholiſchen Diffentergemeinden, weldye nicht bloß
irgend ein Glaubensbekenntniß, fondern auch ein am die
pofitiven Grundlagen bed Chriſtenthums ſich moͤglichſt
eng anfchließendes aufgeftellt wiffen wollen und auch aufge:
ſtellt haben, im Verhaltniſſe zu den übrigen fo Mein geblie-
ben, daß auf Seiten der letzteren fich bis jetzt, trotz bes
mit männlichen Muthe und anzuerfennenber Freimäüthig⸗
keit abgelegten Glanbensbe kenntniſſes bes fchueidemähler
Reformators, immer eine überwiegende Majerität erhal
ten bat. Die Berhältniffe der Gegenwart legen daher
tn der That die Frage recht nahe, ob und in wie weit
dem Rationalismus eine kirchenbilbende Kraft zuerkannt
werben koͤnne. .
Wenn wir zunäcft den Berfud machen wollten,
auf hiftorifchem Wege hinſichtlich unſerer Gtreitfrage
ein beflimmtered Ergebniß zu gewinnen, fo würden wir
allerdings mandherlei Data vorfinden, welche zu einer
verneinenden Antwort berechtigen, allein fie wärben bed
fchwerlich ſchon ansreichend ſeyn, um bie Sache zur völi:
gen Evidenz zu bringen. Zunächſt hat der Rationaltemus
biöher im Ganzen und Großen moch Beinen Berfuch gr:
macht, ſich als eigene Kirche zu conflituiren. Weder die
um Wegfcheider und Röhr fi fchaarenden Anhänger eis
ned mehr theolog hen Rationaliemus , noch bie an den
Brüften der hegel’ichen Dhilofophie ſich nährenden Bela
ner eines höheren fpecnlativen Nationalismus haben es
allen Ernſtes zu einem Bruche mit ber evangeliſchen
‘
iſt der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1059
Kirche kommen laffen. Und. wie lofe auch immerhin ber
Zufammenhang eines großen Theils wenigſtens der Lehr
teren mit der Kirche ſeyn mag, fo führen ſie Doch bie
jet noch mit uns denfelben Ramen evangelifcher Chris
ften und es umfchließt fie mit und noch ein und berfelbe
äußere Kirdyenverband, Es find allerdings ſowohl im
Schooße ded Rationalidmus felber, als auch unter den
Bertretern des firchlichen Intereſſes fon öfter Stim⸗
men laut geworden, weiche ihn aufgefordert haben, bie
Halbheit und Inconfequenz der eigenen Stellung aufzu⸗
geben, fi von der Wutterfirche, der er ja doch nicht
mehr wie ein rechtes Kind mit ganzem Herzen zugethan
fey, völlig logzulöfen und ganz auf eigene Hand eine
kirchliche Bemeinfchaft zu gründen. Allein diefen Auf»
forderungen hat er fich bie jeßt: immer entzogen. Wie
ed nicht im Interefle der Kirche liegen Tann, die fo zahls
reichen Anhänger des Rationalismus gewaltfamerweife
von fidy auszuftoßen, weil ein folcher Gewaltsact noth⸗
wendig eine Abfchwächung des eigenen Körpers herbeis
führen müßte und zugleich für fo viele kranke Glieder
eine fhonungslofe Härte feyn würde, ba nur, fo lange
fie im Berbande mit dem Leibe bleiben, eine Heilung für
dDiefelden möglich if, fo fan ed auch nicht im Intereſſe
des Rationaliemud liegen, einer etwaigen gewaltfamen
Ausſtoßung durch freiwilligen Andtritt zuvorzufommen,
weil für ihn dann feine ganze Eriftenz auf dem Spiele
flünde, weil er bei confequenter Entwideluug feines Prin⸗
cips nad, innen und praftifcher Ausführung and im
äußeren Leben zulegt nur einem einzelnen philofophifchen
Syfem oder, wie man auch fonft fagen könnte, dem
Zeitgeifle zur Beute anheimfallen würde. Selbſt die
deutfch-Fatholifchen Bewegungen der jüngften Bergangens
heit und Gegenwart, welche ihn auch innerhalb ber rö⸗
mifchen Kirche gleich ein Heer von Bundesgen oſſen hätten
finden laſſen und ihm einen etwaigen Bruch mit ber
41060 Diedrich
evangeliſchen Kirche erleichtert haben wlrben , find, wie
verführeriich Die Belegenheit auch war, gleichwehl für
ihn nicht Beranlaffung geworben, bie Gemeinfchaft mit
: der Mutterkirche durch einen auch äußerlich erfeunbaren
und bebenutfamen Gchritt aufzuheben; er hat dem Fener⸗
geiſtern unter Freunden und Feinden entgegengesufer:
Bedeufet das Ende, und felbii da, wo es den Anfchein
hatte, als wollte er den Rubicon Üüberfehreisen und den
Krieg auf Tod und Leben beginnen, den ſchor erhobe⸗
nen Zuß wieder fallen laſſen, um nicht das Aeußerſte ı5
wagen und fi wenigfiens die Diöglichleit einer Wieder
ausſöhnung mit der Kirche zu ſalpiren.
Bon dieſer Unentſchloſſenheit, welche bie Anhänger
bed theologiſchen oder des fogenannten vulgaren Re
tionalisuus charalterifirt, haben fich nun allerdings bie
Belenner des fpeculativen Rationaliomus frei zu er:
halten gewußt; unter ihnen hat ed vielmehr eine Menge
sühriger Geifter gegeben, bie, ihrem Charakter getreu, nicht
mit befonuener reformazorifcher Weile, ſond ern mit ſtür⸗
wifcher revolutionärer Eile eine neue Zeit heranfzuführen,
es offen ausiprachen, es fep an der Zeit, den Verſuch eis
ner völligen Emancipation von der Kirche zu mache,
während Andere freilicd, mehr einen Schleichweg einſchlu⸗
gen und die Welt überreden wollten, daß die Miner
des Fortſchritts in ihrem Sinne die Getrenen ber pre
tchtantifchen Kirche, dagegen die fogenannten Glaͤubigen
nichts als Abgefallene, daß fie ſelbſt eigentlich die Kirde,
die Anderen Dagegen nur eine Secte wären. Indeß and
von jenem rährigeren Theile läßt fih doch im Garzer
nur urtheilen, daß fie mehr Lärm als Eruſt wachten, daß
fie die Emancipation mehr forderten, als im praktiſches
Leben verwirklichten. Wenn im Jahre 1843 In den öffent:
lichen Blättern von einem „Bereine der Freien” zn Bew
Un fehr wiel die Rebe war, bie zwar ihre Kinder ned
taufen und eonfirmiren , ihre hen noch kirchlich einfeg-
mw — — = -
— — Tr N
ift der Rationalismus fähig, eine Kirche zubilden? 4061
nen laffen, dagegen jede Theilnahme au der Ahendmahls⸗
feier und den Befuch des öffentlichen Gottesdienſtes grunds
fäglich aufgeben wollten: fo ift jener Verein fchon da⸗
mals todt geboren, und gegenwärtig findet man faum
int den Tagesblättern noch dann unb wann eine Erinne⸗
rung baran, daß ein folcher Verein projectirt worben
if, gefchweige denn, daß berfelbe irgendwo ernflere Fol⸗
gen für die evangelifche Kirche bliden ließe. Bedeutſa⸗
mer erfcheint ber vor Kurzem von Rupp in Königäberg
gemachte Verſuch, eine im Sinne ber modernen Philefos
phie freie ewangelifche Gemeinde zu gründen. Judeß bes
zechtigt Dad, was biöher Über dieſe neu sevangelifche
Gemeinde verlautete, nidit zu ber Hoffnung, daß ihr
Beiſpiel viel Nachahmung finden würde.
Einftweilen würde und aber gleichwohl die Befchichte
noch nicht berechtigen, dem Rationalidmus eine kirchen⸗
bitvende Kraft abzufprechen. Es wäre ja immer ber
Kal denkbar, daß er jene Kraft in fi tragen könne,
auch wenn fie in der praftifhen Geſtaltung bed Lebens
ſich noch nicht Documentirt hätte; es könnte nicht fowohl
in der inneren Schwäche, als vielmehr in der Un⸗
gunſt der Zeitumſtände der Grund davon liegen,
daß von Seiten bed Rationalismus noch kein ernftlicher
und erfolgreicher Berfuch gemacht if, eine eigene Kir⸗
chengemmeinfchaft zu gründen, und das, was in der Ber,
gangenheit ihm weder gelungen noch auch nur ernftlich
angeftrebt war, könnte unter glüdlichern Zeitverhältnäfs
fen verfucht nnd erreicht werben.
In der That appellirt der Rationalismus oft genng
an die Zukunft, ja hofft von ihr die glänzendſte Rechts
fertigung. Er hat zu wiederholten Malen ausgefprochen,
daß für die Bertreter eines pofitiven Offenbarungsglau,
bend nur deßhalb ein fo erwünſchter Umſchwung Der
Beiten eingetreten fey, weil die Staatsmacht mit ben
Orthodorie im Bunde flehe, und gibt damit zu verfichen,
1062 Diedrich
daß er hofft, es könne leicht ber umgelchrte Fall eintre⸗
ten, daß die Bekenner ſeines Syſtems den eigentlichen
Kern der Kirche, die ſtreng Bibel⸗ und Kirchengläudigen
dagegen nur eine Secte bildeten, ſobald die Staatsmacht
den Bund mit ber Orthodoxie aufgede und wit ihm ſelbſi
fchließe. Allein wenn zu jeder Zeit gleiche Urſachen auch
gleiche Erfcheinungen hervorrufen, und infofere die Bers '
gangenheit und die Zulunft immer fchon im voraus ans
Dentet, fo können wir jene Hoffnung des Rationalismud
wur ale eine voreilige bezeichnen. Es ir nämlich eine
nicht hinwegzuleugnende Thatfache, daß alle Gecten, wels
he eine rationaliftifche Färbung haben, nirgends einen
langen Beſtand gehabt, nirgends eine weite Verbreitung
gewonnen haben, daß ihnen Überall jene lebendige Trieb»
kraft fehlte, welche die Secte wie mit unwiderſtehlichen
Drange zur Kirche anwachfen läßt und fie nach innen and
anßen fo zu organifiren vermag, daß fie inneren und äußeren
Feinden gewachſen if. Die älteften Vorläufer des Ra»
tionalismus, die Socinianer, haben ed weder in eure
päifhen noch in Hberfeelfchen Landen vermocht, ſich zu
einer größeren Kircheugemeinfchaft auszubilden; die eng⸗
liſchen Deiften uud franzoͤſiſchen Encyklopädiften find for
gar unfähig geweien, ſich auch nur zueiner Gecte zu con»
foltbiren und ſich in irgend einer Weife firchlich zu orga⸗
nifiren; der GEultus der Vernunft, welcden bie frangöf-
ſche Revolution aus ſich gebar, war eine Mißgeburt von
sben fo grauenhafter Geſtalt ald kurzem Leben; die Phi⸗
Ialethen zu Kiel haben in ihrer „Bittfchrift an deutfche Für⸗
ften” ein einziges Lebenszeichen gegeben und find baum fpur:
los verfchwunden, und die neufrangöfifche Kirche des Abbe
Ehatel fcheint auch nur mühfam ein ſieches Dafeyu zu friften,
wie ſchon vor ihm gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bie
chercheurs de la veritd einem frühen Grabe entgegemweltten
und etliche Decennien nach ihnen auch das, Nene Licht” zu
ift der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1063
Amſterdam in eben fo großer Stille erloſchen war, ale
ed mit lautem Kuiftern zu brennen angefangen hatte.
Es verlangt nun allerdings die Gerechtigkeit, dem
Rationalismus das Zugefländniß zu machen, daß er mit
den genaunten biftorifchen Erfcheinungen feinem Inhalte
nach nicht auf eine Linie geſtellt werben darf. Er hat
ja zu wiederholten Malen namentlich Über die Frechheit
der voltairefchen Schule upd gie Gräuel der franzöfls
ſchen Revolution das firengfie Gericht gehalten. Es
find augenfällige Differenzen, welche den Rationalismus
der Gegenwart fchon in feiner Gefammterfcheinung von
jenen Spftemen- früherer Zeit trennen. Der theolo⸗
gifhe Rationalidmus verfchmäht in dem Kerne feiner
Belenner durchaus den ſittlichen Leichtfinn, der fa alle
jene Syſteme charalterifirtz; er ift ein erufter, Prediger
des Geſetzes auf alttefkamentlihem Standpunfte; er hat
fih ferner troß feiner Ueberfhägung der menfchlichen
Vernunft an den pofltiven Kern des Ehriſtenthums, wo
nicht anzufchließen, doc anzunähern gefurht auf dem IBege
formaler und materialer Accommodation; fehlt ihm auch
die volle Entfchiebenheit für Die ewangelifche Wahrheit,
fo ift fein Syſtem doch nicht ſowohl ein unchriftliches,
als ein untheologifches, fein Chriftenthum nicht ſowohl
ein Widerchriftenthum, als ein fragmentarifhes
Shriftenthum a). Der fpeculativ e Rationalismus hat im
der hegel’fchen Philofophie offenbar fich ganz neue und
in gewiffer Beziehung großartige Bahnen gebroden,
um feine Sache zu führen, und ift, in manchen feiner
Repräfentanten vom Haupte bie zu ben Küßen in Stahl
und Erz gekleidet, auf dem Schlachtfelde erfchienen, um
mit den. Waffen firengfier Wiffenfchaft feine Sache aus⸗
a) Wir adoptiren biefen Ausbrud von G. A. Kämpfe in feiner
Schrift: „Antwort auf Uhlich's Belenntniffe.” Wagbeburg bei
Heinrichs hofen 1845,
1064 Diedrich
zufechten, wenn ſchon aus dem Munde von nicht Weni⸗
gen gerade unter denen, welche am lauteften werfänden,
daß allein in der Spechlation das Heil zu finden fey,
die baare Encykiopädistenweichelt des vorigen Tahrban-
dertö ſchallt; auf der anderen Seite läßt ſich aber nict
in Abrede ſtellen, daß alle jene Syfteme früherer Jahr⸗
hunderte anf einem und demfelben Boden wit
dem Rationalidmus gemgchign find, daß fie einen Stand⸗
punkt vorausfegen, auf welchem die Bemüther einem
pofltiven Offenbarungsglauben fremd geworben waren
nnd entweder dad Ehriftenthum zu einer bloßen Bernunft-
religion machen, oder auch ohne das Chriſtenthum der
Welt eine Bernunftreligion geben wollten ; Yinfichtlich des
Princips muß ed der Rationalismus zugeſtehen, daß
fie „Fleiich von feinem Fleiſche, Bein von feinem Bein
find.” Uber fogar in Hinfiht der Geſtaltung des
Principo im Spſteme zeigt fi mitunter eine große
Verwandtſchaft; fo 5.8. fteht der gewöhnliche theologi⸗
ſche Rationaliemus feinem Inhalte nad Dem Syſteme bei
Socinianismus gar nicht fern, und die Polemil des er
ſtern hat fich daher immer nur gegen einige grobe Inconſe⸗
quenzen nnd handgreifliche Auswüchſe des letzteren ges
richten, während er fich als eifrigen Lobredner der Der:
nunftmäßigfeit feines Syſtems im Bangen and Gros
Ben erwiefen hat.
Es Meist num immer ein bedeutfamer Fingerzeig der
Geſchichte, daß ade and bem Principe des Rationalisuus
bisher hervorgegangenen Syſteme nirgends die erforder
liche innere Lebenekraft bewiefen haben, um einen in
ſich fen abgefchloffenn uud genau gegliederten Kirchen:
verband zu Stande zu bringen, und daß da, wo bieh
einigermaßen gelungen war, bie Kirchengemeinfchaft nie
eine größere Ausdehnung, nie eiue bleibende Bedeutung
für die Geſtaltung der Wiffenfchaft oder des kirchlichen
Lebend gewann, vielmehr ihr eigemed Daſeyn immer
ift der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1083
nur mit Mühe und Roth friſtete. Dieſe bifkorifihe
sThatfache gewinnt noch einen. auffallendern und bebentfas
mern Charafter, wenn man erwägt, DaB diejenigen Sec⸗
ten, welde fi auf dem Boden des pofitiven Offenbas
wungöglaudend gehalten haben, nicht nur gleich bei ih⸗
rem Entfichen eine mächtige Trieb⸗ und Organifationds
Praft bemiefen, fondern diefelbe auch Jahrhunderte lang
zu erhalten gewußt, und fowohl für die Belebung des
chriftlichen Lebens in ihrer eigenen Witte, ale auch für
Die Berdreitung des Gottesreichs namentlich in der heibnis
fchen Menfchheit mit wahrhaft bemunderungemwürdigem
Eifer und Erfolge gewirkt, ja fogar in diefer Beziehung
Die an Umfang ungleich größere Mutterlirche oft weit
fiberftrahlt haben. Welch einen merfwürbigen und lehr⸗
reichen Gontraft bilden nicht die zahlreichen Secten der
reformirten Kirche gegen die Secten rationaliftifcher Farbe!
Die Staategewalt hat den erftern ihr EntRehen wahrs
lich nicht erleichtert a), vielleicht hat von allen Secten
Großbritanniens und Nordamerika's aud nicht eine, ale
fie ine Leben trat, einen fo gänfligen Boden vorgefuns
den, ald der Rationalismus ihn ig der letzten Hälfte
a) Gs ift bei uns ein Begenftand ber Verwunderung, baß die May:
nooth= Frage unter der proteftantifchen Bevölkerung Englands
eine fo große und fo allgemeine Aufregung hervorgerufen hat;
wie konnen es uns kaum denken, baß man ben unglüdlichen iri⸗
fdyen Katheliten jene an ſich gar nicht bebeutende Unterflägung
nicht gönnen follte. Allein der Grund jener Aufregung Liegt
tiefer. Man würde ihnen jene Beihülfe von ganzem Kerzen
goͤnnen, wenn der Staat nur nicht einem fremden Kinde Brod
gäbe, während er die eigenen darben läßt: den Gecten der pros
teftantifchen Kirche gewährt der engliſche Staat gar Keine Unter«
ftügung, vielmehr befolgt ex ihnen gegenüber ben Brunbfag : „Bes
fteht ohne mich oder gar nicht.” Diefen Grunbfag gibt er nun
zu Gunften der Katholiten auf, ohne auch zu Gunſten der pro:
teftantifhen Secten. Leätere find noch heute ganz an fich felbft
gewiefen, und müflen Alles, was die Erhaltung ihres Kirchen⸗
verbandes erfordert, aus eigenen Mitteln beftreiten.
1066 ° Diedrich
bed vorigen Jahrhunderts unter der Aegibe aufgellärter
Fürften gefunden haben würde, wenn in ihm der leben:
dige Drang nach einer ſelbſtändigen Gränbung einer
Kirhengemeinfchaft vorhanden geweien wäre. Aus eige:
sen Mitteln haben die erſten Secten ihre Kirchen nnd
Schulen gegründet, aus eigenen Mitteln ihre großartiges
Miſſions⸗ und Bibelgefellfchaften ind Leben gerufen, und
noch heute find in vielen Gemeinden, wie 3.3. unter den
Methodiften, die Prediger lediglich auf die freiwilli-
gen Beiträge ihrer Pfarrkinder gewiefen. Und gleid»
wohl haben fie es zu einem feltgefchloffenen kirchlichen
Organismus gebracht und aud bei Lleinerm klmfange
doch eine fo große innere Trieb» und Lebenskraft offen:
bart, und wenn auch nicht für die Fortbildung der these
logifhen Wiſſenſchaft, doch für die Wedung des erfor
benen chriftlichen Lebensgefühls und für die Berbreitung
des Ehriſtenthums unter den heidnifhen Völkern eme
ganz außerordentliche und höchſt ſegensreiche Thätigkin
entwickelt.
Dieſen Zenguiffen der Geſchichte gegenüber bleibt
ben Rationaliswus pur ein doppelter Ausweg. Er koͤnntt
zunächſt die Beweiskraft jener Zeugniſſe fo weit anerfen-
nen, daß er den Glauben an die Firchenbilbende Krafı
des Rationalidemus mehr oder minder aufgäbe, dann aber
zu der Behauptung fortfchreiten, daß die Wahrheit bei
Inſtituts der Kirche zu ihrer Erhaltung in der zu imme
größerer Mündigkeit heranreifenden Menfchhrit gar zict
bedürfe, und Daß folglich auch der Rationalismus unge
achtet feines Unvermögend, eine Kirchengemeinfchaft zu
gründen, wie in ber Vergangenheit, fo auch im der Zw
kunft fein Beftehen haben werde *). Er könnte aber aud
a) So ſpricht fi) unter Andern auch der Verf. einer jüngft ane⸗
nym erſchienenen Schrift: „die Beredhtigung des Nationalismus,”
in einer von der gewöhnlichen rationaliſtiſchen Betrachtungsweiſe
ganz abweidgenden Art aus. Er meint, man muͤſſe vor eine
|
|
iſt der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1067
jener hiſtoriſchen Beweisführung gegenüber erinnern, daß
in den rationaliftifchen. Syſtemen ber Vergangenheit fein
Princhp nur erft eine mehr oder minder unreine Aus⸗
prägung gefunden, daß jedoch in eben dem Maße, ale
bafjelbe in der Zukunft eine normale und gefunde ſyſte⸗
matifche Durchführung finden werde, auch bie ihm: inner
wohnende tirchenbildende Kraft zur Erfcheinung kommen
und alle biöherigen Zweifel nieberfchlagen bärfte,
Wir find fomit an einer Stelle angelommen, wo ber
Streit von dem gefchichtlichen Boden anf einen rein phi⸗
lofophifchen verpflanzt erfcheint uud allein ans Innern
Gründen entichieben werben kann, ob und inwieweit dem
Rationalismus eine Firchenbildeude Kraft zuerlannt wer,
den bürfe. | .
Die Kirche als die Heilsanftalt zur Berwirklichung
des Gotteöreiches auf Erden macht zunächft baranf Ans
ſpruch, eine die ganze Menfchheit umfaffende religiöfe
Gemeinſchaft zu feyn. Ihre Tendenz gebt dahin, bie in
unendlicher Mannichfaltigleit durch die Natur gefebten,
fowie durch die gefchichtlihe Entwidelung ber Bölter
herbeigeführten Unterfchiede auszugleichen und in eine
höhere Einheit fih auflöfen zu laffen, alle von Anfang
an fich vorfindenden ober durch die Jahrhunderte aufge⸗
führten Scheibewände unter den Rationen hinwegzunchs
men und fo die ganze Menfchheit zu dem zu machen,
wozu der Staat nur das einzelne Volk erheben kann,
nämlich zu einer großen Familie. Mag bie Kirche
dieß Ziel bisher auch nur unvolllommen erreicht haben,
fo hat fie es doch ſtets angefirebt, und ihre Todesſtunde
würde fchlagen, wenn der leßte Funke eined ſolchen Stres
bens in ihr erlofchen wäre, Aber nicht durch gewalts
fame Uuterdrüdung der menfchlichen Subioibualität, nicht
folgen Sonfequenz durchaus nicht zurädfchreden, audy wenn fie
den verweichlichten Ohren eine „harte Rebe” bünlte, -
Theol, Stud, Jahrg. 1847, 71
1068 - --- Diriiedtich
burch Ignorirung ber fo tief gehenden und fo weit geei-
fenden Volksnuterſchiede, nicht Durch eine Verkehrung
der Natnrorbnung oder ein Burkdffchranben der geſchich⸗
lichen Entwidelung hat das Chriſtenthum durch das Dt:
gan der Kirche jene allumfaffende Gemrinſchaft ia der
Menfchheit herbeiführen können, ſondern vielmehr kur
dadurch, baß es ſich an die verſchiedenen Sudisibwetitk-
ten fo innig als moͤglich anſchloß, ader nur mm fie u
verflären und durch Hinwegräumung aller Selbſtſucht
ans den Gemüthern fie um ſo felter gufammenzufuhließen ;
nur dadurch, daß es die Menſchheit zu einer höheren imum:
lichen Einheit erhob, wohel bie buch Die Naturorbunng
und hiftorifche Eutwickelung nothwendig gemachten Mater
fchiede immer noch fortbeflehen konnten, aber doch fe,
daß Fe nicht mehr ald Ausflug und Ausdruck einer auf
fündlihe Weife tfelirenden und trennenden Geldſtſacht
in dem Bewußtfeyn der Böller wie der Individnen ſich
ſchmerzlich fühlbar machten. Es geſchah dieß dur die
Einführung eines neuen Lebeuspriscips in Der Mexrſch⸗
heit gu ihrer religiös⸗ fittlichen Wiedergeburt: objectiv
durch Die Erfcheinnug. des Erlöfers in ber Perfon Ehriſti,
ſubjectiv durch die Anerlennumg Chriſti ale des Ertöfers
in der Kraft eines lebendigen Glaubens.
Es drängt ſich hier ganz won ſelbſt bie Frage anf,
wie ed möglich gewufen, daß wit ſcheinbar fo kleinen
Mitteln fo Großes bewirkt worden ift, daß alle dyrifil-
hen Rationen in eben dem Maße, als fie find, was fe
heißen, obfchon fie in verfchiebenen Sprachen unb Zen
gen reden, gleidiwohl wie Glieder einer Familie ſich
fühlen, ein Herz; und eine Seele werden, gleichfam eine
Sprache und Zunge reden, daß die Menſchheit trob ber
durch tanfend Abftufungen fich Yindurcdhzieenden Ber
Ifchiedenheit der geiftigen Bebürfniffe der Einzelnen, wie
Diefelbe durch Stand und Alter, Beruf und Bildung,
Schidfal und Beſitzthum, Geſetß md Sitte merhwendig
ift der Rationaliemus fähig, eine Kirche zu bilden? 1069
herbeigeführt wird, gleichwohl Wile im Ehriftenthuute Les
ben und volle Genüge finden und von dem Evangelinm
gerühmt werden kann, daB es Allen Alles geworden, kurz
daß feit dem Eintritte des chriftlichen Lebensprincips im
der Menfchheit alle Unterſchiede, eine wie weite Kiuft fie
auch fonft wie zwifchen ben Individuen, fo zwifchen den
Bölkeen ſetzten, allmäͤhlich in einer höheren Einheit aufgin⸗
gen, wie alle Diffonanzen burch das Genie des Tonkunſt⸗
lers fi in reine Harmonie auflöfen? Es hat (um fofort
den Haupt⸗, oder vielmehr alleinigen Grund anzugeben)
darin feinen Grund, daß Alles im Chriftentfum in ber
lebendigen Perfſönlichkeit Ehrifii ben gemeinfamen
und ewig unverrädbdaren Mittelpunft und eigentlichen
Lebensheerd hat, daß Alles im organifchen Zuſam⸗
menhange mit dieſem Mittelpunfte eine coneret lebens,
dige Geſtalt und innere Xriebkraft empfängt, daß bas
Chriſtenthum nicht als eine Welt abfiracter Begriffe aufs
getreten, fondern als eine thatſachliche Enthällung
des göttlichen Heildrathfchluffes zur Erlöfung der Menſch⸗
heit, kurz, daB es feinem eigentlichen Wefen und feiner
gefammten Erſcheinung nah Geiſt und Leben, und
nicht bloße Lehre tft.
Den Kern und Stern: bed Chriſtenthums bildet die
in ber Weltgefchichte einzig Daftehende gottmenſch⸗
Liche Perfon Ehrifti, deffen Eintritt in der Menſchheit
nnd gefammte Wirkſamkeit die unendlidhe Vaterlicbe
Gottes anf die eindringlichfte, das Gemuth wahrhaft
überwältigende Weiſe zur Erfcheinung bringt and in dem
gerade das, was das MWeſen des Lebens in der Gemein,
haft mit Bott ausmacht, in fo fonnenheller Klar,»
heit, daß es auch nicht durch den leifeften Anhauch der
Sünde getrübt ifl, und zugleich mit einer ſolchen innern
Kraft fi darkellt, daß ed anf jedes Gemüth, wel-
ches das Gottesbewußtſeyn nicht gewaltfam in fich nie-
berhäft, auch eine mächtige Anziehungskraft auskbt.
TL*
1070 Diedrich‘
Wenn der Anblid des heiligen Lebens Jeſn in feiner Ge
fanmterfcheinung einerfeitd auf dad Gemüth deu Eindrud
tiefer Befhämung macht, weil die Reinheit feines göttlis
chen Bildes ung vdgirce des eigenen wie einem lla⸗
ren Spiegel zeigt, fo gleichfam in ehrerbietiger Ferne
fiehen zu bleiben gebietet, fo reißt es und auf der an
deren Seite nach dem Gruudgeſetze, daß dad Berwanbt
auch fletd das Berwandte anzieht, nur um fo umwibder
fiehlicher: zu fich felbft hin, weil in ihm und mit einem
Male jenes heilige Bild vor Augen tritt, bad wir au
und felbft fo gern zur Erfcheinung bringen möchten, ob
ſchon wir mit aller Sehnfucht ded Herzens und aller Au
firengung der Kraft, fo lange wir uns ſelbſt überlafen
bleiben, es an und zu verwirklichen unvermögenb find.
Das Leben bed Heren if ein in allen feinen Thet
len in volllommener Harmonie zufammen
ſtimmendes Banze, es erfcheint in ihm Allee vom
erften bis zu dem leuten Augenblide durchdrungen vou ei
nem und demfelben Geifte vollenbeter Gottes⸗⸗ uud Men
fchenliebe, es ift Alles der gleihmäßige Ausdrud
einer über der ganzen WMenfchheit erhaben baftchenden,
von der Sünde erlöfenden gottmenfchlichen Berfönlichkeit.
Darum ſtellt fi die Perfon Ehriſti gleich in ihrer un
mittelbaren Erſcheinung jedem nicht verbärteten und
irgendwo einen Anfchließungspuntt darbietenden Gemüthe
als den Erlöfer der. Welt dar, wie die Soune durch bie
ihr innewohnende und von ihr ausgehende Strahlenfühe
fich ganz von felbfi al die Himmelsquelle des Lichte er
weifet, welche fle ift; darum ift der erfie Eindruck, den
der Anblick der heiligen Perfönlichkeit Chriſti macht, für
dad unverdorbene Herz ganz ˖ derſelbe, ald wie er fid
ausfpricht in den Worten des Philippus: „Wir haben
den gefunden, von dem Mofe im Geſetze uud die Pre
pheten gefchrieben haben ;” und wenn irgendwo, fo bat
bier Schiller’ Wort feine Gültigkeit, Daß es dem
—
ift der Rationaliemus fähig, eine Kirchezu bilden? 1071
Bortreffliden gegenüber Feine Freiheit gibt
ald die Liebe. Jener unmittelbare Eindruck findet
nun aber in jeber weiteren, detaillieteren Betrachtung
feine volle Beflätiguug und erhebt die Ahnung des
Herzens zur freudigftien Gewißheit, Der unmittelbare
Glaube will auch auf dem Wege der Reflexion feiner
feld gewiß werden, in der zlerıg liegt ein mächtiger
Zug zur yvacıs bin, aber die legtere wird, fall fie nicht
auf Irrwege fich verliert, immer nur das erfte urſprüng⸗
liche Lebensgefühl in feiner Wahrheit aufweifen und dem
Glauben uur neue Stüßen unterbauen, weil Chriftus ale
denfelben, ald welchen er im Ganzen feines Lebens
fich erweifet, fi auch in jedem einzelnen Theile defs
felben darftelt, nämlich als die welterlöfende Per:
föntichfeit, Seine Wunder zeigen ihn gleichfam
fhon von Kerne als den von Gott verheißenen und
von Gott in der Fülle der Zeit gefandten Heiland der
fündigen Menfchheit, wie etwa die hochragenden Zinnen
unferer Tempel und die weithin fchallenden Glodenfchläge
fhon in der Ferne dem Wanderer verkündigen, wo er
ein Gotteshaus finden kann; jene außerordentlichen, fo
ftart in die Augen fallenden Thatfachen und Begebens
heiten zwingen und gleichſam, unfere Blide immer wie
der auf die Perfon Chriſti zu lenfen, und reizen ung,
näher zu treten und zu forfchen, was aus Nazareth Gu⸗
tes gefommen, da wir der Frage nicht ausweichen können:
„Wer ih der, dag ihm Wind und Meer gehorfam find?”
Und wenn das. Wunder wie ein Brief und Siegel fiber
feine göttliche Sendung ihn und auf Außerlichshiftos
rifhem Wege beglaubigt, fo koönnen wir feiner anch
auf dem Wege lebendiger innerer Erfahrung
gewiß werden: fein Wort fpricht burdh Die innewohnende
Kraft der Wahrheit mächtig zu jedem Herzen, dad den
Stimmen der Wahrheit fich nicht muthwillig verfchließt;
in. feinem Wandel ſtellt fih uns das Urbild eines volls
or2 Diedrich
kommenen, heiligen Lebend vor Augen; ans ſeinem Lei
Den und Sterben weht und ber Geiſt einer Gott uud
Menſchen verföhnenben Liebe wie ein heiliger Lebensodem
an, und macht und in den inuerfien Tiefen unfered Ber
müthed gewiß, daß Gott mit ihm und Allied gefchentt
bat, was bie höchſten Bebürfniſſe bed Herzens fordern;
‘in feinen Sacramenten befiben wie bie Unterpfänder
für feine bleibende perfönlide Gegenwart nad
fortgehende erlöfende Wirkſamkeit. So wit
Alles harmoniſch zufammen, um es und zur mmzweile-
haften Gewißheit zu machen, daß er allein der ik, anf
den alle vorangegangenen Jahrhunderte hofften, in dem
alle Geſchlechter gefegnet werben follen und ber Allen Le⸗
ben nnd volle Geuüge geben ann.
Aber wenn nun bie gottmenfchliche Perſörlich⸗
keit für alle einzelnen Individnen eine foldye Bebentung bat,
fo folgt baraud mit Nothwendigkeit, daß fie auch eine ges
meinfhaftfliftende und firhenbildbeude Kraft
haben mäfle. Was die Fähigkeit in fich trägt, Alle an ſich
zn ziehen und mit fich in Gemeinſchaft zu bringen, Das wirb
eben darum ganz von felbfk der Berührungd- uud Ein
heitöpuntt für Ale Wie in einem Kreife alle Ro
dien, wie weit fle auch in ber Peripherie von einander
abfiehen mögen, gleichwohl in dem Centralpunkte zuſam⸗
mentreffen, fo können ungeachtet aller die Einzelnen trew
nenden Unterſchiede gleichwohl afle Völker uud Geſchlech⸗
tes aller Zeiten fidy in Ehriſto zu einer großen Gemein
Schaft einigen, weil tn feiner lebendigen Perfönlichkeit
fidy Alle finden, fich ein Alle anziehender und eben darum
auch Alle in fich zufammenfchließender Mittelpunkt dar:
bietet. Ja es iſt gar nicht denkbar, daß es einen Er⸗
löſer ohne eine Gemeinde der Slänbigen, ein CEhri⸗
ſtenthum ohne eine Kirche geben könne. Was inner⸗
lid zuſammengehört, das findet ſich auch Aw
berlich nud tritt ganz won ſelbſt zufammen;
ift der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1073
was das Gepräge Ehrifi geiftig an fi trägt,
das wird fih aus freien Stüden um ihn
fhaaren; was feine Stimme hört, wird fich
auch unter ſeinem Hirtenſtabe zu einer Heerde
ſammeln. Selbſt daunn, wenn wir aunehmen wollten,
Shrikus habe gar nicht beabſichtigt, eine äußere Kirchen⸗
gemeinschaft unter deu Menfchen zu fliften, ſelbſt dann,
wenn wir nicht in der Anordnung gemeinfamen (Gebete
und fortwährender Prebigt bed Evangeliums, in ber
Stiftung der heiligen Taufe und des heiligen Abendmah⸗
les, in der Einfeßung des Schlüflelamted und einer yon
ihm ſelbſt in fo beftimmten Zügen gezeichneten Ueberwa⸗
chung des Gemeindelebens die ungweibentigften Zeichen
hätten, daß es ihm nicht um ein ſchlecht hin innerli⸗
ches und unfichtbares Reich Gottes, fondern auch um
eine fichtbare und als ſolche fofort erkennbare religiöfe
Bemeinfchaft zu thun war: fo würbe eine foldye aus Dem
angebeuteten Grunde felbft ohne jene von ihm ſelbſt herr
rührende Grundlage gleichwohl ind Dafeyn getreten ſeyn
und ſich auch in der Menfchheit erhalten "haben: Die
Kirche iR die nothwendige Lebensform für die chriftliche
Welt, wie der Staat die nothmendige Lebensform für
die fich ſelbſt Überlaffene Menfchheit if.
Aber Alles ändert fich, fobald man, das Gebiet eis
ned poſitiven Offendarungsglaubens verlaſſend, auf dem
Boden eines bloßen Vernunftglaubens eine fo umfaflende
religioſe und- in fich fo genau gegliederte Gemeinfcheft,
wie die Kirche if, gründen will. An die Stelle einer le⸗
bendigen Perſönlichkeit tritt Daun die abſtracte
dee; an die Stelle felbfiredenber hiftorifcher Thatſachen
ein Subegriff von gewiflen Dogmen und meralifchen Bor»
fhriften, Die chriſtliche Religion ift dann, objectin bes
trachtet, ihrem Urfprunge und Weſen nadı nicht ein in
einer lebendigen Perfönlichkeit zur Erfcheinung kommen⸗
bes und von ihr aus die ganze Menschheit ergreis'
107& Diedrich
fendes Lebensprincip, fonbern im Brunde nichts als Lehre,
ſubjectis betrachtet, nicht Glaube, der geſchichtliche
Thatſachen zu feiner fehlen, unverrädbaren Baſis hat,
fondern Ueberzgeugung ans bloß imnern Gründen anf
dem Wege der bloßen Refleriongewonnen. Mag man unter
der Vernunft den durch bie verfchliedenen Syſteme als
feine nothwendigen Entwidelungsfiufen ſich hindurchbe⸗
wegenden allgemeinen Menſchengeiſt vwerfichen,
wie der höhere fpecnlative Rationaliömus, oder, ohne id
anf eine tiefere Unterfuchung des Weſens der menfdli-
chen Bernunft einzulaflen, Dabei fliehen bleiben, das, was
Die erleuchtetfien Geiſter aller Zeiten gemein
fam ale Wahrheit erfanntund gelehrt haben,
ale Erzeugniß der echten Dernunft zw bezeichnen: immer
tritt auf dem Standpunkte einer bloßen Bernunftreligien
die Perfon des Neligionsftifterd eben fo fehr in den
Hintergrund, ald die Lehre in den Borbergrumd, und
confequenterweife bleibt dad Wefentliche einzig und
gllein Die Lehre — eine Folgerung, der fidy auch der ge
wöhnliche theologifche Rationalismus nicht damit entziehen
kann, baß er fidh der Philoſophie gegenüber rühmt, nicht
bloß die Lehre, fondern auch das Borbild Chriki ange
erfennen; denn das Borbild Ehrifti gilt ihm ja ner ale
thatfählidhe Belehrung, ed gehört alfo auch nuter
ben Begriff der Lehre, und das Lebendig « Eoncrete
hat alfo auf jenem Standpunkte niht ale ſolche s, fon:
dern nur ald zufällige Erläuterung uub Ber
anfhanlihuug der abfiracten Idee, ald Er
empel zum Moralgebote feinen Werth.
In dem Maße nun aber, ald ein Syſtem deu rei»
giöfen Glauben mit Ausfcheidung des Hiſtoriſchen als
ded bloß Zufälligen auf die bloße Idee als das allein
Nothwendige gründen will, wirb feine Unfähigkeit zunch-
men, die Menfchheit zu einer alumfaflenden religiöfen
Gemeinfchaft zu vereinigen Nie wird es einen größe
iſt der Rationalismus:fählg, eine Kirche zu bilden? 1075
ren Erfolg erringen, als hödhitend den, daß es eine phi⸗
loſephiſche Schule oder innerhalb der Kirche eine Secte
bildet. Die Gefchichte Ichrt es unwiderfprechlich,, daß
es immer nur eine fehr Meine Anzahl von Menfchen iſt,
welche in den Geift und Inhalt eines philofophifchen
Syſtems einzubringen vermag. Auf dem Wege eines
kindlich einfahen Glaubens Tann man ſich ber
phllofophifchen Idee nicht bemächtigen: fie will auf dem
Wege fireng wiflenfchaftlichen Denkens errungen und ers
arbeitet fegn. Auch hier gilt das alte Wort: „Im Schweiße
deines Angeſichts ſollſt du dein Brod effen.” Wer nicht
die Kraft in fi fühlt, dem Meifter den hohen Fing des
Gedankens nachzuthun, der kann auch nicht fein Jünger
feyn ; ein philofophifches Syſtem laßt fich nicht in wer
nigen Lehrfäben wie ein fertiges Object nieberlegen, ſo
daß num nicht® weiter als das logifche Berftändniß jener
Säge und Annahme ihres Inhaltes nothwendig wäre;
ed ift vielmehr die organifche Entwidelung einer Grund»
idee, und wird nur dann unfer Figenthum, wenn wir
daſſelbe nach dem inneren Zufammenhange feiner Theile
und der nothwendigen Mbleitung des Einen aus dem Ans
dern erfaßt und fo einen lebendigen Dentproceß durchge⸗
macht haben. Mit einemmale fih an’d Ziel zu. flellen,
ohne den Weg Schritt für Schritt durchlaufen zu haben,
ein Philoſoph feyn zu wellen, ohne philofopbirt zu has
ben, wäre ein baarer BWiderfpruch: ja man könnte fagen,
ed ift den Philofophen oft mehr zu thun um das Phis
lofophiren, ale um das Philofophbem, mehr
um dad Streben nach der Wahrheit, als um
den Befiß der Wahrheit).
Diefe eigenthümliche Befchaffenheit jedes philofophis
fchen Syſtemes einerfeitd und die unendliche Verſchieden⸗
heit. der eingelnen Individuen hinſichtlich der Fahigkeit
a) Welche wohl bleibt von allen ben Philofopbieen ? Ich weiß nicht;
Aber die Philoſophie, hoff’ ich, foll ewig beſtehn.“ Schiller.
⸗
ara Diedeich
sum ſyſtamatifchhen Denken andererſeits And bie heiben
ewig bleibenden und ewig wirkſamen Facte⸗
ren, welche mit Nothwendigkeit ſewohl inverhalb der
philoſophiſchen Schule, als and zwiſchen ihr und dem
übrigen Theile der Menſchheit einen Bruch herbeifüh⸗
ven. Innerhalb der Schule ſelbſt wird es theils Solche
geben, welche das einzelne Syſtenm nach Priucip, In⸗
halt und Form ſich vollſtaͤndig anzueignen, ſich auf bie
Höhe deſſelben zu ſtellen, ja noch über dieſelbe zu erhe⸗
ben im Staude find, theild Solche, welche umz die mas
terieiken Beſtandtheile bed Syflems im Allgemeinen
zu erfaßßen vermögen, ohne is das inngge Getriebe und
Gefüge eine tiefere Einfiche zu gewinnen, ja welche ok
felat nur die XZerminologie des Syſtemes fi au
eignen wiflen, und daher eigentlich nicht mehr auf dem
Boden des Spſtemes, fondern nur Dicht am feiner
Grenze ihren Stand haben. Durch jede philoſophi⸗
ſche Schule zieht fih daher von Anfang an ein Riß hin⸗
durch, ber ſich unausbleiblich zum Unterſchiede von Eſe⸗
terttern und Eroterilern erweitert. Alle Uebrigen
Dagegen — und dieſe werben ſtets ber Zahl nad eine
ungeheure Majorität bilben — werden gar feinen Ber
fuch machen, dem Syſteme näher zu treten, weil fie fid
bemfelben oöhig fremd fühlen, oder, wenn fie ben Ber
ſuch gleichwohl machen wollten, mit den Worten: „pre-
cul este, profeni!”’ von den eigentlichen Vertretern des Sy
ſtemes zurüchgewieſen werden müſſen.
Wenn nun aber in dieſer Beziehung jedes philsfe
nhifche Syſtem durchaus einen particwlarikifchen
Charakter hat, weil ed als. feldyes dem Bollsbemuptfeyn
ftetö fremd bleiben und daher immer nur einen Pleinen
Kreis verwandter Semüther um fidh verfammein wirb, fe
fönnte dieſem Mebelflande doch vielleicht dadurch abge
holfen werden, daß das philoſophiſche Syſtem feiner ei⸗
genthümbichen Einkleidung ſich entaͤnßerte und eine Ein
iſt der Rationalismus fähig, eine Kürche zu bilden * 1077
führung ſeines wefeutlichen Inhaktes in das Volls⸗
bewußtieyn anf dem Wege gemeinfaßlicher Darſteluug
verfachte. Die ſtolze Königin könnte won ihrem erhas
benen Throne beramserfieigen und Knechtsgeſtalt aunch«
men, die Philoſophie — Popularphiloiophie werden: dann,
meint man, würhe Die Philoſophie einen fo Meinen Berein,
wie eine philoſophiſche Schule fey, zu eimer fo umfaſ⸗
feuden Bemeinfchaft, wie die Kirche ſey, allmählich heran
wachſen fehen. Un derartigen Berfuchen, die Phileſo⸗
phie zu popularifiren, hat es nun allerdinge wicht gefehlt.
Richt bloß damals, ald die fantifche Philoſophie in vol⸗
leg Blüthe Hand und Schiller frhrieb:
Wie doch ein einziger Meicher fo viele Bettlen in Nahrung
Setzt Wenn die Könige baun, haben die Kaͤrrner zu thun,
ſondern aucd in unferer Zeit hat Ban es gefehen, daß
felbft die Philoſophie, welche fidy brüftet,, die „abfolnte”
zu feyn, fich für möglichkt weite Kreiſe in ein populäres
Gewand kleidete, ja daß fle feibft in brieflicher Form
bem Franengeſchlechte zugänglich ‘gemacht werden ſollte.
Mein dabei wird nicht in Anfchlag gebradkt, daß in dem
philofophifchen Syſtene Form und Inhalt einam
der fo genau durchdringen, daß die Alteres
tion der erfiern auch eine Alteration des letz—
tern if. Es verhält ich mit jedem echt philoſophiſchen
Spfeme wie mit einem Kunſtbauwerke: wer das innere
Befüge oder die and ber Idee des Gauzen hervorgegans
genen Berzierungen antaftet, ber wird nur ein Gebände,
aber fein architeftonifhes Wert, ja zuletzt nur
noch eine Steinmaſſe oder einen Trümmerhaufen übrig
behalten. Dber, um bei dem von Schiller gebrandhten
Bilde zu bleiben, zu Kärruern ſinken bie Könige herab;
wenn die Philofophen zu Popnlarphilofopten werden:
Die Meifter der Philoſophie haben es baher unummnun⸗
ben ausgeſprochen, daß. die Popularphilofophen nur noch
mißbrauchsweiſe fih Philofophen nennen aber fo
\
1078 Diedrich
genannt werden könnten; fie haben ed geradezu ver
fehmäht, ihre Lehren in andern als in Sreifen verwand⸗
ter, ja völlig ebenbürtiger Geiſter verbreitet zu fehen;
es hat fie wicht geläftet nach dem Ruhme, eine Kirche
in der Menſchheit zu ſtiften; fie haben ſich begnägt mit
dem Ruhme, das Haupt einer philoſophiſchen Schule zu
feyn. „Die Philoſophie darf nie vergeflen,” fo wird den
Popularphiloſophen entgegengerufena), „daß fle ihrer Ratur
nach efoterifh if, daß bie Wahrheit immer mu
das Eigenthum Weniger feyn kann, weil fie nicht atö
fertige Münze von einem Dritten überkommen, fondern
gefucht, erlebt, errungen feyn will. Unter bie urtheilloſe,
an die Scholle gebundene Maſſe geworfen, wird be
edeifte und höchſte Gedanke ebenfo zum Zerrbilbe werben,
wie ein griechifches Bötterantlig, wenn man es ſich in
einem Hohlſpiegel brechen läßt.“
Es iR num allerdings zuzugeben, daß die Philoſophie,
auch ohne die Vermittelung der Popularphiloſophie m
gewöhnlichen Sinne des Wortes, in taufend Ninnen
und Bächen Zugang zum Bollöbewnptfeyn zu fenden weiß.
Bermöge der vielfachen Berfchlingungen des wirklichen
Lebens erſtreckt fi der Einfluß der Philoſophie wicht
bloß auf die, weiche ihren Lebensheerd in den einzelnen
Soſtemen zunächft umfichen, fondern and, über wiel wei.
tere Kreife, und wenn die letztern ihr zu ferne ſeyn ſol⸗
ten, als daß fie ihnen belebende Wärme zuſtrömen laſ⸗
fen könnte, fo vermag fie vieleicht doch noch ihr Licht
ihnen. aus weiter Kerne leuchten zu laffen; ja es koͤnnte
die Philofophie eben fo unmerklich, wie die Atmoſphaͤre,
worin wir athmen, ihren Einflaß aud bie auf bie uw
terfien Bollsrlaffen ausdehnen, ohne daß diefe ein Be
wußtſeyn bavon hätten. Allein felb® in biefem Falle
könnten wir noch nicht die Kolgerung ziehen, daß bie
a) So leſen wir in Schwegler’s Jahrbüdern ber Gegenwart
1844, Juliheft, ©. 688.
\
iR der Kationalis mus fähig, eine Kirche zu bilden? 1079
Philoſophie eine kirchenbilbende und erhaltende Kraft in
fih trage. Denn die Kirche ift ja ein lebendiger Or⸗
ganiemus, in dem ber Einzelne nur danı wahrhaft
und bleibend eine Stelle einnehmen kann, wenn die Seele
bes Ganzen fih in feinem Eingelbewußtfegn auch wirk⸗
lich fühlbar macht. Wenn wir daher auch der Phi⸗
lofophie den ansgedehnteften Einfluß zugefichen können
uud müſſen, fo kann biefelbe gleichwohl nicht für bie
Menſchheit einen gemeinfamen Berühruuge- umb
Einigungspunfe bilden, weil ihre Einfluß fi im
Bewußtſeyn der Einzelnen nicht ald folder fühlbar
macht. Wenn ed unleugbar ift, daß in ber großen Mafle
des Volks die Philoſophie fo wenig ald befiimmenbes
Moment für das religiöfe Bewußtſeyn der einzelnen In⸗
dividuen empfunden wird, ald der Name eines philoſo⸗
phifchen Syſtems oder feines Urhebers ihuen befannt if,
wie follte man erwarten können, daß Alle wie in gemein;
ſamen Drange fih ganz von ſelbſt um dad Panier eines
philofophifchen Syſtems fchaaren uud zu einer in fich feſt
geglieberten und lebenbig ſich bethätigenden Gemeinſchaft
sufammentreten follteu ?
Auf einem andern Wege hat nun der nicht-fpe>
culative Rationalismus das Ziel zu erreichen gefischt,
das biöher uur das Chrißenthum in ber Form eines po⸗
fitiven DOffenbarungsglaubens erreicht hat. Die Unfähig⸗
feit eines einzelnen philofophifchen Syſtemes, bie Meuſch⸗
beit zur Berwirflihung des Gottedreichd auf Erden im
kirchlicher Gemeinſchaft zu vereinigen, geficht er zu, aber
unvermögend, ſich zu dem Standpunkte einer philoſophi⸗
fchen Betrachtung zu erheben, auf dem alle einzelnen
Spftieme nur ale flüffige Momente und nothwendige
Durchgangspunkte des allgemeinen Menfchengeifteö gelten
und nur im Ganzen ber Entwidelung ihre eigentliche
Stelle und Bedeutung finden, hat er den Weg eines
philoſophiſchen Eklekticismus eingefchlagen, um
008 ° . Diredrich
eine Art allgemein verſtänbliches und allgemein gültiget
religionsphilsſophiſches Glanbdensſsbekenntniß heransp⸗
bringen. Er ſtellt ſich auf den Standpunkt des gefunden
Menſchenverſtandes, nnd ſtillſchweigend von der Behaup⸗
tang ausgehend, daß in ber Hauptſache die erlenchteten
Geiſter aller Jahrhunderte eins geweſen feyen, ſtellt er
Mm einer Summe von Glanbensſaͤtzen und moraliſchen
kehren das zufammen, was ihm die Beſten aller Zeit ge
meinfam zu haben fcheinen und als allgemein güftiger
Ausdrud des gefunden Menfchenverftandes gelten könne
und 'mäffe. Die Unmwiffenfchaftitdjleit eines ſolchen Ber
fahrende HE namentlih in der Zeit, wo Hafe einem ber
Haͤnpter des rattonnaliftifchen Syſtenns den Fehbehanbiceh
hinwarf, Ihlagend dargethan worden. Schon darkter
würde fofort der Streit emtbreunen, wer zu jenen „en
lenchteten Geiftern ” zu rechnen fey und wer nicht. Gchen
in dieſer Beziehung find ja bie Urthetle fekbſt gebilbe:
ter Männer einander diametral entgegengefebt. Den
Spinoza hat die hegel'ſche Schule mit der Philofophen
krone gefhmüdt, während die Männer ber Anfklerunz
des vorigen Jahrhunderts von ihm nur wie von einem
„tödten Hunde” «) redeten; den Jakob Böhme wollten |
Campe und Anbere ins Irrenhaus gebracht wiffen, wäh
rend jeßt won ihm gerühmt wird, daß er auf dem philo⸗
fophifchen Dreifuße geſeſſen Bade w. f. w. — Und wie
dürfte man num hoffen Pönmen, daß ein von trrikumt:
fähigen Menſchen aus den Schriften irrthumsfühiger
Menſchen sufammengelefened Glaubensbekenntniß ale au
Thentifher and allgemein gälfiger Audbrud der Wahr
Heit anerfannt werde? Leber Fichte's Verfuch, in ge
meinfaßlichen Borträgen das Wefenfliche der Religien
zu entwickeln, dat Hegel mit ſchneidendem Gartadmud
geäußert, „es fe eine Religion für anfgeffärte Juder
a) Schon Leifing in feinem befannten Gefpräe mit Jacobi äußert:
darüber feinen Unwillen.
* vn. —— va 2 — vr * *
— — — wu — .u
ift der Rationalismus fählg, eine Kirche zu bilden? 1081
und ldlamen, Far Staatörliche, für Kotzebue und feines
Gleichen.” Rohres Grund⸗ und Glaͤmdensſatze ſind —
mit Ausſnahme einer Retenſion, deren Berfüffer in feinem
Enthuſiaſsmus ich allerdings bereit. evlärt hat, fich für
jenes rationaliſtiſche Slaubensbekenntuiß det Kopf ab
ſchneiden laffen gu wollen a) — von ber öffentlichen Kri⸗
tie überall zurligerwielen und felu von foichen Männern,
die ihre Lanze fonft gern für den Rationalismus einlegen,
für eime Mißachtung des rarionalififchen Principo erflärt
worden. Aber nicht bloß die Männer, welche auf den
Höhen bei philofophifchen Bildung fielen, würden ſich
losſagen von einem Glaubensbekenntniſſe, das auf der
Grundlage des gefunden Menſchenverſtandes nach dem
Ermeſſen eines Einzelnen oder Etlicher wie eine Anthos
logie aus den Schriften der erlenchtetſten Deuter aller
Zeiten zuſammengeſetzt wäre ,. fondern ſelbſt alle biejenis
gen, welde im bewußtern Denken auch wur ben erfien
Anfang machen, and welche man wohl unter dem Ramen ber
fogenannten ‚gebildeten Stände” zuſammenbegreift, wers
den fi auf Die Dauer rin folhes Glaͤubensbdekenut⸗
niß nit gefallen laſſen. Denn den Urhebern deſſelden
gegenüber betrachten fie fih als Solche, die mit ihnen
ganz auf einer Linie ſtehen; mit deuſelden Dachte unb
unter beimfelden Namen der menfchlichen Vernunft, under
welche jene bad Blandensbelmutuig aufgeſtellt haben,
wärben fie ed ganz verwerfen ober nur theilmeife aner⸗
Tenten; fie würden Teine Garantie haben, daß jenes
Glaubensbekenntniß auch wirklich das Bepräge der Wahr⸗
heit am ſſch trüge, und würden fräber ober ſpaͤter wicht
verfehten, Neber auf eigene Hand fl ihr Gaudensde⸗
kenntniß zu mechen, flatt es ans freuder und doch im⸗
mer auch nur menſchlich er Hand entgegenzunchwmen.
Geſetzt z. B., ver Rationalismuo ſchritte DAgR fort, ſtatt
a) Siehe Haſe, theologkſche Streitſchriften, S. 29,
1082 Diedrich
der Bibel, worin auf feinem Stanubpunkte Wahrheit und
Dichtung, Gefchichte und Mythe fo gemifcht iR, daß es
erſt eines langen kritiſchen Scheidungsproceſſes bedarf,
um das, was wirklich chriſtlich, d. h. vom Ehriſto ber
rübhrend iſt, herauszufinden, ein Buch zu verfaſſen, das
in der Weife, wie die Bibel für das bifterifche Chriſten⸗
tbum, für fein eigened Vernunftſyſtem die urkaudlice
Darfielung wäre: würde er — fo möchten wir fragen —
in den Gemeinden Glauben finden? Würde fie and wohl,
wenu etwa aus ber neuen rationaliflifchen Bibel der Pre:
biger feinen Tert vorläfe, ehrerbietig ſich erheben, zum
Zeichen, daß fle fi vor ber göttliden Wahrheit benge,
wie es gegenwärtig noch in unferen Kirchen ber Fall if,
weil die Gemeinde in dem Evangelium von vorn herein
das Wort eines unträglichen gottgeſandten Lehrers und
Propheten fieht? Nein, man würde nur hierarchiſchen
Hochmuth und einen offenbaren Raub an bem allgemei:
sen Menfchenrechte darin finden, wenn von einem Ein
zigen ober von Etlichen ein Verſuch gemacht würde, bad
Erzengniß ber eigenen Weisheit an die Stelle der Bibel
zu fegen und ein Hoheitsrecht für fih in Anſpruch zu
nehmen, das die Gemeinde gegenwärtig dem Erlöfer,
aber (wohl gu merken) nicht als bloßen Menſchen,
fondern ald dem eingebornen Gottesſohn um
einigen Mittlerzwifchen Gott und Meufchen, zuerlennt,
Es ſey und bier noch ein Rädblid auf bie Geſchichte
erlaubt, Wollte man und nämlich entgegnen, daß es
auch außerhalb der chriftlihen Welt umfaſſendere religiöfe
Gemeinfchaften gegeben babe und noch immer gebe, ſo
räumen wir bafjelbe bereitwillig ein, wir würden aber
darin nur einen neuen Beweis finden, daß die abſtracte
Lehre als folche nie gemeinfchaftkiftend gewirkt bat.
Ueberall, wo eine in: der Geſchichte bedeutfame religiöfe
Gemeinſchaft auch in der nicht hriftlichen Melt entkan
den iR, knüpft fie ſich nicht an die abfkracte Lehre vos
— — — — — A —
iſt der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1083
göttlichen Dingen, ſondern an das Auftreten großer,
vermeintlich gottgefandter Perſonen, deren
Lehre nicht ald ihre Lehre, fondern als bie Verkündi⸗
gung eimer höhern, vom göttlichen Weſen felbft mitge⸗
theilten Wahrheit angefehen wurde, Gonfucius, Zores
after, Ruma, Mahomed — fie alle galten ihren Anhängern
als gottgefandte und gotterlenchtete Lehrer. Und felbft da,
we der Urſprung der Volksreligion fich nicht fo beſtimmt
an einen einzelnen Namen knüpft, wie 3. B. bei ben
Griechen, finden wir gleichwohl, daß es der Hande an
eine heilige Geſchichte, nicht der Blaubs an bäoße
abſtracte Ideen und Lehren war, weicher Die Menſchen
zur veligidfen Gemeinſchaft führte; ihr gefammter Enultue
ruht auf einer mythologiſchen Grundlage, d. h. auf
heiliger Sage, wo nicht von hiſtoriſchem Grunde, bod
biftorifcher Kaflung, und mit ihrer Mythologie ſteht und
fällt ihre Religion, wie denn z. B. in der Zeit, wo die
Sophiſten die religiöfen Sagen des MWolles angriffen,
auch die Religion feldft in Verfall gerieth,
Es bleibt uud am Schluſſe nun noch Abrig, dad Res
ſultat unferer Unterfuchung auszuſprechen. Der philoſo⸗
phifche oder fpeeulative Rationalismus wird immer and
uberall feine Anhänger in kleinern Kreifen oder Schulen
fanmeln können, aber nie die ganze Menſchheit zu einer
kirchlichen Gemeinfchaft vereinigen: er vermag bad Letz⸗
tere weder, noch will er es, und hat auch beides oft ge
nug und unnmwunden audgefproden. Eben je wenig
vermag es der gewöhnliche theologiſche Rationallsmus;
denn wenn er auch die kehren des gefunden Menſchen⸗
verftandes in die weiteflen Kreife bed Vollslebens einzu⸗
führen vermöchte, fo würden doch alle ftreng fyſtematiſch
denfenden, alle zu wiſſenſchaftlicher Eonfequenz fortſchrei⸗
tenden, d. h. alle in felbändig philoſophifcher Eutwi⸗
delung bed allgemeinen Menſchengeiſtes die höchfte Auf⸗
gabe findenden Kreife fi von ihm losſagen. Und wollte
Theol. Sud, Jahrg. 1887, T2
1088 °. Diedrich .
er, wie ein Polyktates von feines Scloffed Ziunen auf
das beherrfchte Samos, mit vergnügtem Sinne anf dad
mit feinen zahlreichen Anhängern bevöllerte Gebiet von
feiner Höhe herabfchauen, fo würden wir ihm getrof
entgegen: „Biel. Köpfe und doch noch feine
Kirche!” Es würde ihm nicht gelingen, Die Seinen
durch das eigene Princip fih auf die Dauer getreu zu
erhalten. Nur in eben dem Maße nämlich, ale der Ras
tionalismus in Ehrifto nicht bloß einen neben andern
großen Männern, fondern ben über ihnen Stehenden,
auch über allen Philoſophen aller Zeiten Thronenden
ehrt und, dem Worte: „Einer ift ener Meifter,” ſich
mit größerer oder geringerer Berleugnung des Principe
einer autonomen Bernunft fügt, wird er eine zuſammen⸗
haltende Kraft ſich bewahren können, Dagegen fie in eben
dem Maße verlieren, als er nicht bloß in der Theorie,
fondern.. auch :in der Praris fih von bem pofltiven Le
beusgrunde des chriftlichen Offenbarungeglaubeng lo6reißt;
denn in diefem Falle würde er zum fpeculativen Ratie⸗
nalismus ſich umgeſtalten, und jede kirchenbildende Fähig⸗
keit in ſich vernichten. Da nun in der Gegenwart trotz
aller Irren und Wirren Doch immer unter ben Auhängern
des Nationalismus fich ein befferer Kern findet, der in
dem Erlöfer mehr flieht ald einen der erleuchteten Geiſter
neben Hunderten und Tauſenden feines Gleichen, ber
Ehrikum noch immer bat und hält, und wäre es and
nur am Saume feines Kleides, fo können wir es
auf der einen Seite nicht billigen, wenn ihnen von manchen
zu eifrigen Vertheidigern des hriftlichen Dffenbarungsglan-
bensbefländigzugerufen wird: „‚Ienua patet! exite foras,”
weun man über alle ohne Unterfchied die Beißel
fchwingen will, wie über offenbare Tempelfchänder, und
au einer ‚gewaltfamen Ausſtoßung aus dem Heiligthume
der Kirche Anſtalt gemacht zu fehen wüufcht. Auf der
ik der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1085
anderen Seite aber können wir mit der Warmung nicht
zurücdhalten, daß der Rationalidmud, geflachelt durch
fhon öfter laut gewordene Aufreizungen aus feiner .eiges
neu Mitte, nicht Übereilterweife den Berfuch einer vol,
ligen Emancipation von der beficehenden Kirche mache,
Berführerifch genug klingt die Aufforderung, daß er fein
Heer muftern, feine Köpfe zählen, feine Kräfte meſſen
und dann der Kirche auf Tod und Leben den Krieg ans
tündigen möchte, aber die praftifhe Ausführung einer
derartigen Kriegserflärung würde ihm felbft ben Todes⸗
ftreich verfeßen; denn die Conſequenz würde ihn — wir
wiederholen ed — in feiner gegenwärtigen halb philofos
phifchen, halb sgläubigen Geftalt vernichten und ihn in
einen rein fpeculativen Rationaliömus verwandeln. Es
ift ein ſchwerer Irrthum, in wie weiten reifen er auch
verbreitet feyn mag, daß unfere Zeit auch bald genug
eine rationaliftifche Kirche fehen follte, wie fchon längft
ein, rationaliftifche® Chriſtenthum beftehbt, wenn nur bie
Fürften Muth bätten,. mit dem Schwerte die beftehende
evangelifche Kirche zu zerflüden und die eine Hälfte den
Dffenbarungsgläubigen, die andere den Bernunftgläubigen
zu Überlaffen. Der gewöhnliche theologifche Rationalis⸗
mus hat vielmehr alle Urfache zu wünfchen, daß nie ein
Fürft eine Zerſtückung, wie der König Salomo fle zum
Scheine an dem von beiden Parteien in Anſpruch genom⸗
menen Kinde vornehmen ließ , in der Wirklichkeit an der
Kirche vollgöge; denn er würde feines Beſitzes nicht lange
froh werden; ed würde ſich das Trauerfpiel auf kirch⸗
lihem Boden wiederholen, das auf flaatlihem Gebiete
im letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts in Krank,
zeich aufgeführt worden if, als die Girondiſten a), die
mit Gewalt begannen und mit dem Geſetz enden wollten,
a) Thomas Garlyle in feinem Werke über die frangöfifche Staats⸗
ummwälgung nennt fie bie „Pebanten” ber ——
1088 Diebdrich/ ik d. Rat. fähig, eine Kicche zu bilden ?
im blutigen Kampfe deu conſequentern und energievollern
Jakobinern erlagen. Es würden bald geung bie rabice
leg Religions⸗ und Kirchenverbeflerer mit den Worten:
@ib ums unfer Erbel fi erheben, und ber gemäßigte
Rationalismus würde es früher ober fpäter erleben, baf
er fein Haus nur ſchön ausgeſchmückt, ums ed einem
fatfchen Freude als um fo bequemere Wohnung gu bins
teraffen, daß er feinen Ader une beflelte, um Andere
men zu fehen. Hier würde auf eine bem moderaten
Rattenalistınd gewiß unerfrenliche Weile der Spruch
wahr werden: „Der Eine fäet, ber Andere ſchneidet.“
Anzeige : Blatt.
Bel en Derthes von Hamburg erſchien fo eben:
Neander, Dr. A., Geſchichte der Pflanzung und Leitung
der chriftlichen Küche durch die Apoftel. Ate ſtark veränderte
und vermehrte Auflage. 2 Theile, mit einer von H. Kie
pert neu gezeichneten Karte. 2 Blatt. gr. 8. hie. 4,
Die Karte von H. Kiep ert ift auch einzeln zu Ber für
Bei Friedrich und Undreas Perthes erfhienen:
Meich, Georg, die Lehrfortbildung in der — ge
teftantifhen Kirche auf dem Grund der Augebınge
feſſion. Ein Verſuch als Beitrag zur Verſt — *
die dogmatiſche Aufgabe der Gegenwart. gr. 8, geh. 24 Sgr.
Serrmann, Dr. W. die fpeculative Theologie, in ihrer
Entwidelung durch Daub dargeflellt und Fit — gr. 8.
gebeftet. 18 Sgr.
In — bringen wir:
Botticher, W., prophetiſche Stimmen aus Rom, oder
das Chrißliche im Tacitus der typiſch⸗ —
Charakter ſeiner Werke in omg au a uf Roms Verhaͤlt⸗
niffe zu Deutfchland, gr. 8. 2 Zhle. Thlr. 3. W Ser.
a Joh., nad gedrudten und ungedrudten Quclien
von Sul. Hartmann und Karl Jäger. 2 Thle. FE Da
Ebrenfeuchter, Friedr., Theorie des Tree Cult,
gr, 8, r. 2. 75 Ser.
enry, P., das Leben Johann Calvins. — Ausgabe
Bo inden on 8. ’ ir. 10, 15 &gr
Kleine —* in 1 Bd. gr. 8. » 4
Das Portrait I. Calvins ap. » — 16 ;
Klaufen, R. H., Aeneas und die Penaten, "Die itali⸗
ſchen Bolksreligionen unter dem Einfluß ber er
ge. & 2 Bände mit 2 Kupfertafeln. Thlr.
Köliner, ©. mbolit aller chriſtlichen Gonfeffionen.
2 Bde, gr. 8, = — Thlr. 6. g0 Sn:
Meier, die Lehre von ber Xrinität 2 Thle. gr. 8
Thlr, 2. 5 Ser.
Meher, I. A. G. NatursAnalogien oder die vornehmften
deinungen des animalifchen Magnetlemus in ihrem
Zufemmenhange mit den Ergebniffen der gefammten Ra;
turwiflenfchaften, mit befonderer Dinficht auf die Stand:
punkte, und Bebürfniffe heutiger Apeelene: t. 8,
bir. 2. 33 Gar,
Pelt, Dr. 4. Er. L., Theologiſche Encyclopädie als Sy⸗
ſtem im Zuſammenhange mit der Geſchichte der theologi⸗
(hen Wiſſenſchaft und ihrer einzelnen Zweige. gr. 8.
Thlr. 9. A Egr.
Neunchlin, Hermann, das Chriſtenthum in Frankreich in:
nerbalb und außerhalb der Kirche. gr.B. Thlr. 2. 10 Sgr.
— Geichichte von Port:Royal. Der Kampf des
reformirten und bed jefuitifhen Katholicismus unter
Louis XII. u. XIV. 2 Bände. gr. 8, Thlr. 8,
Schliemann, Ad., die Clementinen nebſt den verwandten
riften und der Ebionitismus. gr. 8. Zhlr. 2. OO Epr.
Wiefeler, K., chronologifche Synopfe der vier Evange
| Thlr. 2. W Ger.
lin, gr. 8.
In unserm Verlag ist so eben erschienen:
Maurer, F.1.V.D., Commentorius grammaticus cri-
ticus in Vetus Testamentum, contin. A. MHeilig-
stedt. Vol. IV. Sect. I. Oommentarius
in Iobum. 8mai. 15 Thir.
Etiam sub’ titulo:
Meiligstedt, A., Commentarius grammat. crit. in
Hobum. Smai. 15 Thir.
Das Erscheinen der Fortsetzung dieses trefflichen Commentars
nach fünfjähriger Unterbrechung wird den zahlreichen Besitzern
der ersten drei Bände willkommen seiu; wir zweifeln nicht, dafs
die schwierige Arbeit des Herrn Heiligstedt, durch gründliche
Kenntnils der hebräischen Sprache und tiefe exegetische Stadien
ganz besonders dazu befähigt, Anerkennung finden wird. — Die
Xte Abtheilang dieses Bandes, den Commentar zum Hohenliede
und dem Prediger Salomonis eathaltend, schliefst das Ganze und
erscheint bis Michaelis 1847. |
Vol. I— TII. kosten 8 Thir.s daraus wird
einzeln verkauft: Jesaias 14 Thir.; Asechiel et Da-
niel 3 Thir.; Hosea, Joel, Amos, Obadia 21 Ner.;
er etae minores 15 Thir.; Psalmi 14 Thir.;
verbia $& Thir. 8
BBenger’sche Buchhandlung in Leipuig.
". v wa
Die Literarifche Zeitung if vom Anfang 1847 an in ben
Verlag ber unterzeichneten Handlung übergegangen. Es erſcheinen
wöhentli 2 Nummern, jede zu einem Bogen im größten Quart⸗
format, zum Preife von 5 Thlrn., au welchem fie durch alle Buch⸗
bandlungen und Poftanflalten bezogen werben kann. Ber biblio»
graphiſch-krifiſche Theil wird über die neueflen literarifchen
Erſcheinungen des Ins und Auslandes planmäßige und voll
fländige Nachricht geben; außerdem werben von Zeit zu Zeit
Ueberfidhten die Kortfchritte einzelner Wiffenfhaften
in ihrer Gefammtheit beleuchten. Die erfien Rummern enthalten
unter andern geößern Auffägen: Ueber oͤffentlichen Unterricht und
gelehrte Schulen in Nord⸗Amerika. — Des Bürftlen Wallerſtein
bayerfches Kirchenſtaatsrecht. — Ueber Wilh. v. Humboldt's pe
tiſche Schriften. — Weber die Gymnafialbildung des geiftlichen
Standes. — lieber die Bollandiſtiſchen Acta Sanctorum.
Berlin. Buch⸗ und Kunftbandblung von
3. Schneider u. Comp.
In alleo Buchhandlungen ist nun vollständig zu haben:
Biblisches
- Realwörterbuch‘
sum Handgebrauch herausgegeben
von
Dr. Georg Bened. Winer,
‚ Königl, Kirchenrath, Professos, Bitter u. 4. w.
Dritte sehr verbesserte und vermehrte Auflage.
Erster Band, 44 Bogen in gr. Lex.-8. Subscr.-Preis 84 Th
Der 2te und letzte Band dieses wichtigen Buches erscheint
noch im Laufe dieses Jahres.
Bei Sulins Klinkhardt in Leipzig iſt fo eben erſchienen
und an alle Buchhandlungen verfandt worben :
Grundlinien ber evangelifhen Homiletik
von .
Licent. theol. Chrift. Gotth. Fider
Pfarrer in a tb. Si a
gr. 8. broſch. Preis 15 Zhlr.
Infofern bier bie evangeliſche Homiletit als eine felbfilänbig
chriſtlich⸗theologiſche Wiſſenſchaft behandelt iſt und unter ihr bie An:
weifung verflanden wird, das aus der Schrift zu fchöpfende und
nad) ber Schrift zu normirende Botteswort fo zu prebigen, daß da⸗
durch das Heil der evangelifhen Kirche überhaupt und das ber oͤrt⸗
lichen Gemeinde infonderheit gefördert werde, inſofern alfo in biefer
Homiletit Diejenigen Momente, welche eine evangelifche
Predigt bedingen, alfo die Schrift, die und Die
Gemeinde, befondere Berüdfitigung gefunden haben, iſt auch
bie Bedeutung diefer Grundlinien für den gegen gen Gtanbs
punkt der chriſtlichen Theologie ausgeſprochen.
— m ag mg
Bet E. Anton in Dat iR fo chen wofchiucen usb in ollen
Duchhandlungen au haben
J. W X Wichellaus, de leremise versione alexandrins.
geh. Preis 24 Sgl.
Tod &v aAyloıg Ilargög 7
ander kernel EIIIXXOIIOV MOTTYOTNOr
üldygor zul dvargomig ın7s Yardand yescuas Prßlia airıı.
SANCTI IRENABI Episcopi eg et rer detectioais
st erorsionis falso re aguitionis sive contra omnes har-
reses libri ge Accedunt tum emmia hucusque a Halloizio,
Pfafio, Angelo ‚ Cramero, aliis, praes ertim ex Catenis MSS.
eruta et edit tum inodita fragmenta.
Textum Graecum et Leatinum nova Codicum MSS. Betavorum
et Germemorem dollatiens emendevit, lectionis varietatem primum
integram notarit; ex annotationibus et observationibus editis Nic.
Gallasii, Billii, Frontonis Ducaei, Fr. Feu-ardentiüi, Grabii et Mas-
sueti et ineditis Francisci Funü optimas elegit suasque insuper
ediecit; locupletissimis glossarüs et indicibus hanc editionem illo-
man! et uberiora Prolegomena addidit ;
elpkun Stieren,
Too — — Teac in Ifterarum unlversitate Ienensi Theob-
docens, Societatis —E— Lipniendis andalis ordinarius.
Zu a neuen ————— benugte ber Herausgeber außer bem
von ihm ſelbſt verglichenen —— Codex Vossianus noch zwei
” Manuferipte; mit weichem Serie, asüber gibt des Herausgebers
eben erfchienene Abhandlung: de — Vossiano seu Barellieno,
nähese Auskunft. Der griechiſche Text bed Irene iſt auch einer
usbenugten Hanbfchrift des Epiphanius fougfültig weoikist. Aufen
dem ib unebirte Obfervationen von Franciscus Junius benugt, In⸗
dem ich auf die bedeutenden Werbefferungen biefer neuen Ausgabe
binweife, habe ich babei den befondern Zweck vor Augen, bie Ge
lehsten vor dem Anlauf eines bloßen Zertabdruds nad den bishe
rigen , ven heutigen Beduͤrfniſſen durchans aidyt mehr genügenben
Ausgaben zu warnen.
Der Drud diefer vortrefflichen nut: — raſch vor, und
«8 wird dad Zenkere 9 getreue incfmile von Mamıktiple u. 1 m
allen Anforderungen entiprechen. Pekeduseen nehmen bereits alle
Buchhandlungen en.
Leipzig, am 6. Aptil 1847.
3. O. Weigel.
Ya Verlag der H. W. Nitterihen Buchhandlung in Wiek
baden if fo eben erſchienen:
Predigten und Reben
Gonftrmationem
8.8. ‚Saulf, Sie Dem und Dforrer zu Wiesbaden.
Pr. 1 Zi. 48 Rc. oben 1 Mihir,
Digitized by = oogle
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