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Full text of "Theologische Studien und Kritiken, in Verbindung mit D. Gieseler, D. Lücke ..."

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Theologiſche 
Studienmn und Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 
für 
das geſammte Gebiet der Theologie, 
in Verbindung mit | 
D. Siefeler, D. Lüde und D. Nitzſch, 


herausgegeben 


D. €, ullmann und D. F. W. C. umbreit, 
Profefforen an der Univerfität zu Heidelberg. 





1847. 
Zwanzigſter Jahrgang. 
Erler Band. 
Samburg, 


bei Friedrich Perthes. 
4 8471. 





Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 
für 
das gefammte Gebiet der Theologie, 
in Verbindung mit 


D. Giefeler, D. Lüde und D. Ritzſch, 


berandgegeben 


D. &. ullmann und D. F. ®. C. Umbreit, 
Profefforen an der Univerfität zu Heidelberg. - 





Hamburg, 
bei Friedrich Perthes. 
18 4 T. 


Snbalt des JSahrgangd 1847. 


Erſtes Heft. 


Yhandlungen. Seite 


1. Schoeberlein, über das Verhältniß der perſoͤnlichen Ge⸗ 

meinſchaft mit Chriſto zur Erleuchtung, Rechtfer⸗ 
tigung und Heiligung. — 7— 

2. Bee, über die Pradeſttnation i 
3. Tiſchen dorf, Nachricht vom vaticanifchen Bibelcoder, 
Mit einem Zacfimile in Stindtud . . . 19 


Gedanken und Bemerfungen. 
1. ulimann, theologiſche Aphorismen. (Zugleich Selbſtan⸗ 
zeige der Schrift: die Sünblofigkeit Jeſu.) . 155 
2. Grimm, über das Goangelium und den erflen Brief bes ’ 
Johannes als Werke eines Befflrs . . . 171 
3. Ahelis, über die Bedeutung des Wort up . . 187 


Recenfionen, 
3. Umbreit, praktiſcher Sommenter über die Be beö 
alten Bundes. (Gelbflanzgeige.) - - . 209 
2. Kliefoth, Theorie des Sultus der 
evangelifhhen Kirche; 240 


3. Eübemann, über das Weſen bes 
proteflantifchen Gultus; | > Shrenfeudter 263 


u Sahalt. 


Zweites Heft. 


— — —— — — 


Abhandlungen. Seite 
1. Krönlein, Amalrich von Bena und David von Dinant 271 
2. Bed, über die Prädeflinatin -. . . ..31 


Gedanken und Bemerkungen. 


1. Braune, die @ünden ber Wiedergeborenen - . 4371 
2. Ruppredt, die Parabel von den Arbeitern im Beinberge . 396 


Recenfion en, 
be Wette, das — des Rn — von 
Kirchliches. 
euͤcke, über die Nichtannahme des koͤnigsberger Deputirten 
D. Rupp auf ber berliner General⸗Verſammlung des’ 


QBuftoosXbolphvereine - . 0.2.0.4 
Ullmann, ein Wort über benfelben Begenftand ee 5 


Drittes Heft. 


Abhandlungen 
1. Ritter, über den Begriff une — der a 
Philoſophie. 557 
2. Ebrard, Mbukadnezeeeeeee 644 


Gedanken und Bemerkunger. 
1. Umbreit, ſieben Blicke in das erſte Kapitel der — 701 
2. Steffenſen, über Matth. 18, 45. und 6. . . 718 
Necenfionen. 
1. v. Baur, ber Begriff dee — Philoſophie ec.; ver. 


von Ritter 557 
2. Rothe, theologiſche Ethik; rec. von Schweizer . . 735 
3, Der deutſche Proteftantismus ; rec. von Schentet . . 723 


4. Reber, Felix Hemmerlin; rec, von Herzog. ; . 808 


1. 


Jahalt. | 27 
Biertes Heft. 


Abhandlungen. Seite 

Wieſeler, der Kanon bes neuen nen von Mu⸗ 
ratori . i e A . 815 

Dressler, übe Jeſaja 17. 18. . ; 0.0. 857 


BGedanten und Bemerlungen. 


Dietlein, die Bedeutung ber Tantifchen Poitofopbie I 
die neuere Theologie . ä —— 889 


Hofmann, altteflamentiihe Gtellen un. Stute ; . 916 


Recenſionen. 


Schweizer, bie Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformir⸗ 
ten Kirche; rec. von Schnedenburger. . 7 
Sartorius, die Lehre von der heiligen Liebe; rec. von 


Schoeberlein. — 9884 
Mapte, bie natürliche Theologie des Raimundus von Ga: 

bunde; zer. von Holberg  . : g . 1028 
Kirchliches. 


Diedrich, iſt der Rationalismus me eine Kirche zu 


bilden? ® ® > . “ ® . 1057 


Abh andlungen. 


Cheol. Stud. Fahre. 1847, 1 


1. 


Ueber 
dad Verhaͤltniß der perfönlichen Gemeinichaft 
mit Chrifto 
zur 


Erleuchtung, Rechtfertigung und Heiligung. 
Von 


Schöberlein, 
Repetenten in Erlangen. 


— um a 


E. Tönmte Hberfläffig erſcheinen, über Rechtfertigung 
und Heiligunig und die dahin einfchlagenden Punkte noch 
etwas fagen, und thöricht, denfelben neue, zu richtigerer 
Einſicht leitende Seiten abgewinnen zu wollen, nachbem 
feit drei Sahrhunderten dieſer Begenftand mehr als irgend 
ein anderer Aller Bemüther befchäftigt hat und von allen 
denkenden, dem Firchlichen Intereſſe zugewandten Geiſtern 
im Unterfuchung genommen worden if. Allerdings iſt 
auch der Gegenfat in diefen Punkten nach allen feinen 
Seiten fo beleuchtet und bis gu feinen letzten Eonfeqnen» 
zen verfolgt worden, daß darin kaum ein neuer wiſſen⸗ 
ſchaftlicher Kortfchritt zu erwarten if. Nicht aber fo 
ridächtlih der Einheit, welche über dieſem Gegenfate 


Waltet. 
1 * 


8 Schaseslce 


Es ift natürlich, daß bie Kirche eine Wahrheit, welche 
fie einem tiefgewurzelten Irrthum in dem heißen Sehnen 
nad) Licht und Friede und unter den mühevollſten Kämpfen 
abgerungen hat, mit aller Liebe, Sorgfalt und Energie 
vorerft fefthalte, umgrenzge, weiter audführe, tiefer zu 

begründen ſuche. Eben im Lichte dieſes Gegenſatzes muß 
ihr der neue Schaß doppelt lieb und werth, heilig und 
unveräußerlich erfcheinen. GEſs iſt diefe Treue des Feſt⸗ 
baltens für fie fogar nothwendig. Sie würbe Gefahr 
laufen, von der Wahrheit felbft fich zu verlieren, wenn 
fie, bevor fie des Gegenſatzes in feiner ganzen Schärfe 
fi Mar bewußt geworden, auf Bermittelung denken wollte. 
Erf wenn id erfaunt und dem Gegner nachgewielen 
habe, auf welche gefährliche Abwege uud in welche ver, 
derbliche Mißpräuche die Conſequenz feines Syſtems ihn 
führe, darf ich ihm zugeben, daß von einem höhern Stand» 
punkt aus feine Richtung eine relative Wahrheit und 
Berechtigung habe. Ich muß erſt gefichert im Eignen 
ſeyn, um mich frei urtheilend darüber ſtellen zu können; 
doch dann fol ich's auch. Weiß ich mich jenen Irrthümern 
gegenüber auch noch fo fehr im Rechte, fo darf ich doch 
nicht undeadstet laſſen, daß eben dieſe gegenfäßliche Stel- 
Inng, in welche ich durch die Belämpfung jener Irrthümer 
genöthigt worden, auch mich in eine gewifle Einfsitigleit 
könne gebracht und daran gehindert haben, den vollen 
Ausbdruck für die Wahrheit zu finden. Und dieß ſoll mich 
beitimmen,, aus dem unmittelbar gegebenen Gegenſatze 
heraduszutreten unb nach der Einheit zu fuchen, die beiden 
Gegenſaͤtzen ald erbaltende Lebenskraft inwohnt unb, 
während fie mein theuer errungened® Kleinod mir nur 
noch ſicherer bewahrt, mich doch zugleich auch unbefangen 
uud weitherzig genug macht, dem Beſitze des Gegners eine 
gerechtere Anerkennung zu Theil werden zu laſſen. 

In jener Bezichung hat die Kirsche ihre Aufgabe ger 
löſt. Sie bat. die Fefleln des Gefetesdienfted, unter 


ib.d. Verhaͤltniß der panflal. @emeinfp.mit Chriſto ec. 9 


weihen die Seelen im Mittelalter gehalten waren, zer, 
brochen und das Evangeliun mit feiner Freiheit der Kin⸗ 
ber Gottes wieder unter und aufgerichtet, Sie hat den 
Renſchen des falichen Scheine feiner Gerechtigkeit eutklei⸗ 
bet und anf Ehrifti Gerechtigkeit gewiefen, die allein wor 
Gott gilt and durch kein Werk werbient, fondern nur 
als freied Guadengeſchenk durch den Glauben kann em⸗ 
pfaugen werben. Sie hat dargethan, wie ohne Recht⸗ 
fertigung eine wahre Helligung flattfinben Töne, wie 
aber ber rechtfertigende Blaube nothwendig auch gute 
Werke fchaffe, ja wie er eben die rechte, geiunde Quelle 
aller Heiligung fey. 

Nachdem aber nufere Kirche fo jenen Irrthum ber 
fatholifchen überwunden hat, fol fie aus den Gegenfatze 
felb auch heranstreten und bie Wahrheit in der Einheit 
und Zotalität ihrer Momente zu erfaſſen fuchen. Denn 
unfer Blick darf nicht in der Bergangenheit befangen 
Bleiben; er fol anf Grund der Forderungen der Gegen, 
wart (und fürwahr die mannichfachen neuen Bewegungen 
derfelben mahnen dringend genug, an der alten Form 
wicht Heinlich zu halten) zugleich in Die Zukunft borbrin 
gen, welche und and den vielen Begenfägen zur urfprüngs 
lichen, nun aber in ihrem verborgenen Reichthum erkann⸗ 
ten Einheit wieber zu führen verheißt. 

Zur Löfung diefer hohen Aufgabe fol andy bie fol⸗ 
gende Abhandlung einen geringen Beitrag liefern =). 





) Da biefe Abhandlung eigentlich nur der andere Theil der im 
zweiten Quartalheft 1845 vom Verf. gelieferten „über die chriſt⸗ 
lie Berföhnungsichre” if, To möge man es entfchulbigen, wenn 
er von Manchem, was beiden gleijerweife zur Grundlage bient 
und dort bereits eingehender behandelt iſt, bier bloße Umriffe 
gibt und hinfſichttich der weitern Ausführung und Begruͤndung 


auf jene Arbeit zuchdweiß. 


10 Schöberlein 


Der Menſch ik als Perſonlichkeit gefchaffen. Dar- 
in liegt ein Doppeltes: Selbfäheit und Gemeinſchaft. 

IR ſchon deim Individnum überhaupt die Selbſt⸗ 
erhaltung Grundgeſetz des Lebens, ſo noch viel mehr bei 
dem perſoͤnlichen Indivibunm, weichem eine eigene, ſelbſt⸗ 
Ränbige, ewig währende Aufgabe geſtellt ift. Der Menſch 
iR durchaus mit Raturnothwenbigkeit an fich gebunden, 
nud felbft wenn er gegen fich wüthet, ebenfe als wenn er 
fi aus Liebe verleugnet, ift es dennoch im letzten Grunde, 
obwohl im entgegengefegter Weife, fein eignes Selbſt, 
dem er lebt. | 
Zudem Gott aber den Menſchen als ein fein ſelbſt 
bewußtes und feiner ſelbſt mächtiged Weſen nach feinem 
Bilde ſchuf, und fo, fein eigned Wefen ihm mittheilend, 
in Gemeinfhaft wit ihm trat, hat er in feinem Thun bes 
zeugt, daß der Zug nach Gemeinfchaft das eigenfle Weſen 
der Perfönlichkeit fey. Unter dem Einfluffe derfelben fin 
bet ſich der Meufh fchon vor, wenn er zum Selbſt⸗ 
bewußtfeyn erwacht und zur Selbſtbeſtimmung fich erhe- 
ben will; denn feinem Selbſtbewußtſeyn if das Gottes⸗ 
bewußtfeyn eingeboren, and bie ganze vorangehende Ent⸗ 
widelung feines natürlichen umd perfönlichen Lebens iſt 
nur unter ber Pflege Anderer gebichen. Für fie trägt 
er aber auch die eigentliche Beſtimmung im fich, Inden 
feine anerfchaffene Bottess Ebenbildlichkeit ih eben anf 
bad Einswerden mit feinem Urbilde und mit Allen, wels 
chen die gleiche Ebenbilblichkeit aufgeprägt ift, hinweiſt. 
Died fpricht fi deutlich genug in feinem Bebürfnig 
aus, an einer Auctorität fich zn halten und felbft gegen 
Andere fle zu üben, geiftige Anregung und Nahrung von 
Anbern zu empfangen and aus dem eignen Schatze An- 
dern wieder mitzutheilen. 

Wie die Berbindung von Gentrifugals und Gentris 
petalfraft bie Welttörper in ewiger Bewegung hält, fo 
find Selbftheit und Gemeinſchaft die beiden Hebel des 


— 


&6.d. Berhältn. ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ehriſtorc. 11 


yerfönlichen Lebens =). Sie bedingen ſich gegenfeitig, fie 
erſtarken und leiden mit und durch einander. Wenn jebe 
Gele wahrhaft dem eignen Beten lebt, fo fördert fie 
dadurch auch das Geſammtwohl, wie der Dichter ſchön 
fagt: wenn die Rofe ſelbſt fich ſchmuckt, ſchmückt fie auch 
deu Barten.” Und Niemand Tan binmwieberum befler 
fein eignes wahres Wohl begründen, ald wenn er das 
bes Ganzen fchafft und fucht, dagegen ein fitten» unb 
charakterls ſer Menſch auch ein unbrauchbares Glied bes 
Ganzen ift, und, wer Andern eine Grube gräbt, ſelbſt 
bineinfällt. 


a) Dan pflegt fonft als primären Begenfap (und Begenfag iſt die 
Beringung alles Lebens) den von Natur und Bei gu nehmen. 
Mein dieſer erhält feine nähere Beſtimmung erft von jenen. 
Beil nämlidy der Menſch Sreatur if, fo muͤſſen bie Verhaͤltniſſe 
innerhalb feiner felbft bedingt ſeyn durch fein Verhaͤltniß nad 
oben. Natur und Geiſt aber iſt ein Begenfag Innerhalb‘ der 
Verföntichkeit ſelbſt, während die Beziehung nad; Oben in dem 
Gegenfage von Selbſtheit und Gemeinschaft befaßt if. Beſtimmt 
Fi der Menſch für bie Gemeinfhaft mit Bott, dem Grunde 
feines MWefens, in welchem alfo auch feine Beſtimmung ruht, fo 
bleiben bie Segenfäge von Natur und Geift in Harmonie und 
vollenden fidy in berfelben bis zur vollen Durdybringuflg und 
Durchklärung ber Ratur vom Geiſte (wie uns foldyes in ber 
yaeumatifchen Leiblichleit bes Himmels 1 Kor. 15, verheißenift), 
fo dag bie Natur vom Geifte die volle Macht und Freiheit und 
der Geiſt von ber Natur bie beftimmte, individuelle Korm zur 
Geibftoffenbarung empfängt, Sucht aber der Menſch im Wider: 
fprudde mit feiner Beſtimmung feine Selbfiheit ſtatt der Bemein- 
Ayaft Gottes, fo erzeugt dieß auch innerhalb der Perföntichkeit - 
feib eine Störung, woburd Natur und Geiſt ſelbſtiſch gegen 
einander werben und in Feindſchaft treten, Der Geiſt in feiner 
Gelbfibethätigung geräth in falfche Spiritualität, daß er mit 
Beradytung unb Umgehung feiner NRaturbafis ſich unmittelbar 
ſelbſt verwirklichen will. Und die Natur geräth durch ihre Los⸗ 
ldſung vom Geiſte in bie Grflarrung der Materialität, in wel 
cher jept noch die Leiblichkeit gebunden liegt. Hochmuth und 
Sinnlichkeit, teufliſches und thieriſches Weſen ſind die beiden 
Pole menſchlicher Suͤnde. 


o 


12 8saqhoberlein 


Wiewohl fie aber beibe ſich gegenfeitig bedingen und 
gemeinſam das perſoönliche Leben auſerbauen, fo haben fie 
doch eine verſchiedene Bedeutung für daſſelbe, und das 
bewußte, freie Ich ſoll andy zu beiben eine verſchiedene 
Stellung einnehmen. Auf der rechten oder verkehrten 
Stellung beider zu einander beruht die Geſundheit ober 
Krankhaftigleit der perfönlichen Entwidelung, beruft das 
Wohl und Wehe bed Gemeinlebens. Sich felbft zu Leben, 
iR Naturnothwendigkeit; wicht fo, einem Anbern zn leben. 
Zwar bedarf der Menſchh, um das eigene Bebürfuiß zu 
befriedigen, auch des Andern, und inſofern it auch Die 
Dflege der. Gemeinfchaft Sache der Natur; allein um in 
biefer nicht Die eigne Befriedigung zu fuchen, ſondern die 
des Andern, dazu vermag bie bloße Natur fich nicht zu 
erheben, dazu bedarf es freier Entfchließung ber Perfön- 
lichkeit, und ed beginnt hiermit eigentlidy erſt bad wahre 
Leben berfelben. Jenes iſt Vorausſetzung, Grundlage 
für dieſes, dieſes Beſtimmung von jenem. Die Selbſt⸗ 
heit iſt die Wurzel des perſönlichen Lebens, bie Gemein⸗ 
ſchaft Krone und Blüthe deſſelben. Wie nun die Wurzel 
zwar vorhanden und nothwendig, aber vor den Augen 
verbergen if, fo fell die Selbſtheit zwar bewahrt bleiben, 
aber nicht als Motiv in's Bewußtſeyn des Meufchen 
treten. Im Bewußtfeyn lebe der Sim für Andere und 
für das Ganze, der Drang nad; Bemeinfchaft um des 
Audern willen. Der Drang nach Gelbfibefriedigung darin 
iſt nur gut, fo lange er, in feiner natürlichen Latenz 
verfchloffen, filler Wächter über die Smtegrität des eig⸗ 
nen Lebens bleibt, nicht Reiter und Beherricher ber Lebens» 
bewegungen wird. Daß aber, wer nach feiner Beſtim⸗ 
mung ringt, doch auch das findet, worauf diefelbe ruht, 
wiewohl er's zumächft nicht fucht, das liegt in der von 
Bott gefeßten Harmonie von Grund und Ziel, von Anlage 
und Beſtimmung. Gott Ienkt zwar den Menfchen durch 
die verborgene Macht der Naturnothwendigkeit, und Die 


1.3. Verhältniß der perföml, Gemeinfeh.mitGpriflosc. 13 


Erhühelt iR das Band, wodurch er ben Menfchen in 
jan Hand hat und ihn, ihm ſelbſt unbewußt, zu jebem 
Ciciien leitet. Denn der Menſch würde, ba ein Wefen 
ia sicht ſelbſt wahrhaft kann aufheben wollen, allerdings 
vu göttlichen Zuge nicht folgen, wenn er wicht zugleich 
send fühlte, daB er auf biefem Wege zur wahren 
Einheit wit ſich ſelbſt, zu Heil und Frieden gelange. 
Ber wenn ber Menſch fein Selb um fein felbft willen 
fnht, fo verliert er ſich ſelbſt; dagegen wenn er ſich 
iR werkmgnend Andern um ihrer willen Jebt, fo ge 
wit ex ſich felbft, weil allein aus ber Gemeinſchaft mit 
Inden die wahre Freiheit und Erfüllung bed eiguen 
Veſens erwachſt (Matth. 16, 25.). Das eben if das 
Gchrimniß der Liebe, des höchſten Gemeinſchaftslebens, 
deß Rethwendigkeit und Freiheit, Einfalt und Klugheit 
wir Eins werden, daß fie zwar ganz und gar nicht 
anders fan, als fie thut, doch aber mit vollem Bewußt⸗ 
Immusd Freiheit es that, und daß fie, alle die mächtig 
Wrmden Interefien des eignen natürlichen Selbſts 
u de Uebermacht der Selbſthingabe verleugnend, boch 
AR in verborgenen Grunde des Gemuͤths von ihr zwar 
ſeahntes uub mit heiliger Gewalt fie faflendes, aber 
kaehneg6 zu dewußtem Zwecke erhobenes höhered Leben 
ihtes eignen Selbſts in dem Andern findet. 

Beil nun die Dahingabe in die Gemeinfchaft bie 
Sudbetiumung der Perföntichkeit iſt, ſo wurzelt fie 
ad im innerſten Grunde derſelben. Wollen wir dieſen 
erſten Grund mit einem Namen bezeichnen, fo wählen 
wir am beften das Wort: „Bemüth” a). Gemüth iſt 


— 


— ——— — 


) Gewuͤth iſt nicht mit Gefuͤhl zu verwechſeln. Während in je⸗ 
nem Attivitaͤt und Yaffivität Eins find, ſpricht dieſes nur die 
paſſive Geite des perföntichen Lebens aus. Go find Buße, 
Glaube und Liebe Aeußerungen bes Gemuͤths, Friede und Selig⸗ 
keit Zußände des Gefuͤhls. 





14 SGchoͤberlein 


dad eigentliche Organ für perſoͤnliche Gemeinſchaft im 
Menfhen Dean hat diefem Worte wiffenfchaftlichen 
Werth abfprechen wollen. Aber mit Unrecht, ba das 
Weſen des Gemuͤths und fein Berhältniß zu den andern 
Kräften fi beitimmt ausfprehen und begrenzen Täßt. 
In ihm hat der Menſch nämlich die Unmittelbarkeit und 
Innerlichkeit feined Lebens, in welcher Receptivität und 
Spontaneität fi begegnen uud die übrigen Kräfte in 
ungetrennter Einheit befchloffen liegen und wirkfam find, 
die Erkenntniß in der Form der Idee, bie dem Gemäthe 
inwohnt uud vorfehwebt, der Wille in ber Form bes 
Berlangens, davon ed bewegt wird. 

Diefed Gemeinfchafteleben ded Gemüths, wie es 
deßhalb das Erfte iſt, was fi im Menfchen zu regen 
beginnt, iſt zugleich das Höchſte, in welchem die Thaͤtig⸗ 
Seit aller andern Bermögen fich wieder zufammenfchließt, 
Begiunend in reiner NReceptivität, wächſt es hinan bie zur 
höchſten Spontaneität. Das Kind hängt mit feinem Her 
zen an der Mutter, umd erhebt ſich mit demſelben fehnend 


nach oben, bevor ed noch Aber mütterliche und göttliche 


Liebe nachgedacht ober derſelben burch eignes Thun fich 
wäürbig au machen befchloffen "hat. Und doc gibt es 
auch kein höheres Ziel felbftändiger Entwidelnug und 
feine edlere Frucht männlicher Charalterreife, als daß 
der Menſch mit klarem Sinne und mit der ungetheilten 
Kraft feines inneren Lebens Gott und denen liebend che, 
unter welchen ihm fein Beruf zugewieſen iſt. 

Eben hierin aber, baß diefe perfönliche Gemeinſchaft 
das: Erfte und Letzte, das Umfaſſendſte im menfchlichen 
Leben ift, ift zugleich begründet, daß auf ihr die Thätig⸗ 
feit und Aeußerung aller einzelnen Seiten deſſelben ruht, 
von ihr die wahre Bildung bderfelben ausgeht. Wohl 
Kegt in der Perfönlichkeit ſelbſt Allee bereitö al& leben» 
dige Anlage, und alle Bildung und Erziehung iſt im, 
Grunde nur eine Entfaltung des dem Menfchen Einge⸗ 


& 


ib.d.Berhältniß der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ehriſto ꝛc. 15 


beram, begleitet von ber Tilgung ber durch die Gäünbe 
diefem Keime eingeimpften Unlauterkeit und Verkehrtheit. 
Alein wie follte dieſe Lebenskraft ihrer verborgenen Tiefe 
entlockt und geläutert werden, wenn nicht durch das in» 
nige Zuſammenſchließen mit gereifteren, überlegenexen Pers 
fönlichleiten! Lernt nicht vertranend und liebend nur 
dad Kind vom Lehrer? Bilde und färkt es nicht feine 
moralifche Kraft durch bewuudernbes Anfchauen ebler 
Sharaktere? Ein Lernen ohne Demuth und Liebe bages 
gen it äußerlich, hohl und unfruchtbar. Und ein grumbs 
fügliches Handeln nad dem bloßen Geſetze läßt Halt und 
vermag zu freudiger Begeifterung nicht fortzureißen. Ia, 
die wahre Erfenntniß, was iſt fie anders, als ein lieben⸗ 
des Eingehen in den Geil, der dieſelben Gedanken 
vorgedacht bat (vergl, bie ſprachliche Identität von Er⸗ 
kemen und dem Liebesact des Zeugens), and das Thun 
ded Guten, was anders, ald eine freudige Berehrung 
ni Willend, aud den das Gute ſtammt? Denu das 
Zufalige und Geſtaltloſe kann ber Menſch nicht erfeunen, 
fondern das nur, worin der Geift eined Erkennenden 
fein Befen andgeprägt hat, und dieſes eigentlich, nicht 
die leere Korm und die fchwere Materie, fonbern ber 
Geiſt, der beides belebt und nach feiner Eigenthümlich keit 
geflaltet, iſt's, was das Object meines Erkennens bildet. 
Den deßhalb ein innerer Zug der Verwandtfchaft nicht 
mit diefem Geifte verbindet, der wird auch deſſen Werke 


nicht verfiehen, und andererſeits Ichrt die Erfahrung auf _ 


dem Gebiete ber Wiffenfchaft leider unr zu überzengend, 
daß ber Berfiand allezeit das findet und beweiſt, wonach 
das Herz verlangt (1 Joh. 4, 8.), Ebenſo wenn id) etwas 
wii, folge ich im Grunde nur einemandern, hinter dem Ges 
genftande liegenden Willen, weicher den meinigen durch ben 
Begenftand anzuziehen und für fidhzu gewinnen fucht. Und 
es it auch hier das, was ich will und fuche, nicht das Object 
klbR, fondern das Wefen bes perfönlichen Geiftes, weicher 


16 Schoͤberlein 


ans der Eigenthümlichkeit des Objects mich anſpricht. Das 
her kommt es denn, daß bad Eeben des Gemüths, daß 
der innerfte Brund der Perfönlichleit vom Erkennen und 
Wollen rüdwirtender Weiſe aud; wieder beſtimmt und gebils 
det wird. Alle wahre Weisheit nämlich macht demüthig und 
frei son bem Eignen; und je mehr zwei Seelen in ihre 
wachfen, defto enger vwerfchmelzen fie durch fie mit einau⸗ 
der, während die falſche Weisheit durch Hochmuth ent⸗ 
zweit. Deßgleichen je lauterer und energifcher zwei See⸗ 
len nach bemfelben hohen Ziele fireben, befto flärker zie⸗ 
hen fie fi an, delle umauflödlicher wird ihr Bund; und 
jede wahre Tugend bes Einzelnen dient, die organifche 
Einheit des Banzen gu befefligen und zu vollenden. 
Mas bier von der intellectunellen und moras 
liſchen Seite des menfchlichen Lebens gif, gilt audh 
von der juridiſchen. Auch das Recht ruht ganz auf 
Gemeinfchaft, das natürliche anf ber natärlich gefebten, 
dad höhere anf. der freien Bemeinfchaft der Liebeseini⸗ 
gung. So hat das Kind rechtlichen Anſpruch an das 
Bermögen des Baterd, und ben im gleichen Lande Ges 
bornen kommt gleiches Heimathsrecht in demfelben zu, 
weil die natürliche Geburt das Kind mit bem Bater, die 
Landesgenoſſen unter fi zu Einem Ganzen verbindet. 
Doc iſt dieß nur das rein Außere Recht, nur bie allges 
meine Rechtögrundlage, auf welcher ein freies, höheres 
Recht fich aufbanen fol. Es wirb nämlich die Stellung 
eined Kindes in der Familie um fo intenfiver und wahs 
rer, feine rechtliche Stellung darin, daß ich fo ſage, im⸗ 
mer rechtlicher, je mehr es in freier, voller Kindeshin⸗ 
gabe mit den Eltern innerlich zuſammenwächſt, wie es 
denn auch die Ruckwirkung davon, ober, um es jnridifch 
ausdsubräden, die Vergeltung dafür in dem erhöhten Ge⸗ 
meinfchaftsgefühl unbefchräntten gegenfeitigen Austauſches 
inne wird. In bderfelben Weife begründet fi ein Bür⸗ 
ger durch bie Berbienfte, die er fih um das Gemeinwe⸗ 
fen erwirbt, einen immer höhern Rechtsanſpruch in ſei⸗ 


uͤb. d. Verhaͤltniß der perfönl, Gemeinſch. mit Ehriftoac, 17 . 


ner Stadt, wenn auch derfelbe nicht in feiten äußern Bes 
wiliguugen ihm zuerkannt wird, fondern nur in dem 
Bewußtſeyn feiner Mitbürger unter der Korm allger 
meiner Hochachtung und Dankbarkeit lebt. Immer, wie mein 
natũrliches Eintreten in ein Ganzes und meine natürliche 
Stellung in bemfelben eine entfprechende Rüdwirkung 
deffelben auf mich zur Folge hat, bie mein Recht ift, fo 
verarfacht meine freie, innerlichere Hingabe an baffelbe 
eine freie, innerlichere Rüdbeziehung deffelben auf mich, 
die eine. Berinnerlichung, Erhöhung und Vollendung dee 
Rechtsverhältniſſes zu nennen ift a), Im NRechtöverhält- 
niffe nun ſteht der Menſch auch gu Gott, und zwar maß 
er deffelben,, weil feine Eriftenz in Gott durchaus grüns 
det, anf nothwendige und fletige Weife in feinem Ber 
wußtſeyn inne werden. Dieß gefchieht im Gewilfen, dem 
perfönlihen Organe für das Rechtsverhältniß der Ereas 
ine zu Gott. Auch bier nun iſt die Stellung des Ger 
wiſſens zum Ich von ber Gemeinfchaft abhängig, welche 
weiihen dem Menfchen und Gott befieht. Bon den eins 
zelnen Urtheilen des Gewiſſens ift nämlich feine Grund» 
Rimmung wohl zu unterfcheiden. Jene beziehen ſich bloß 
auf die einzelnen Willensäußerungen, diefe aber auf die 
Örundfielung der ganzen Perfönlichleit zu Gott. ft 
der Menſch im innerfien Grunde feines Weſens, im Ge» 
müthe, von Bott gefchieden, fo nimmt auch das Zeugniß 
bed Gewiffend die Form der Scheidung im „du fol” 
an. Dagegen, wenn der Menfch mit feinem Gemüthe 
(im landen) ſich Gott wieder ergeben hat, fo maltet 
binfort ins Gewiſſen (natürlich auf Grund göttlicher Vers 
föhnung, die eben der Glaube ergreift) wieder das Zeug: 
niß des Verföhntfeyus, ob auch in Bezug auf die einzel» 
nen widergöttlihen Regungen der fündigen Natur die 
obige Form bed Zeugnifles fich noch geltend mache. 

2) Vergl. des Berf- Abh. üb. die chriſti. Werföhnungsiehre, Stud, 

u, Krit. 1845. D. 2. ©. 805 ff. 
Tyeol, Stud. Jahrg. 1847, 2 





18 Schöberlein 


Daß aber die perfönliche Gemeinſchaft eben nach bies 
fen drei Seiten: der intellectuellen, moralifchen und juris 
difchen, ihren Einfluß übe, hat feinen Grund im Weſen 
der Berfönlichkeit felbft. Denn wenn baffelbe in Selbſt⸗ 
bewußtfeyn und Gelbfibeflimmung beftcht, womit bie 
"Bermögen der Bernunft und bes Willens gefebt 
ſind, fo muß dem lesteren, weil er als creatürliche in 
bem göttlichen fein Geſetz hat, ein anderes Bermögen 
entfprechen, welches ihm über bie Gottgemäßheit oder 
Gottwidrigkeit feiner Selbſtbeſtimmung Zeuguiß gibt — 
dad Gewiſſen. Diefe drei aber ruhen nothwenbig auf 
einem vierten, in welchem die Perfönlichleit ihrem eignen, 
felbRändigen innern Lebensfchaß befitt, und von wo aus 
mithin ſich auch den andern erfi wolled, warmes Leben 
mittheilt. Diefes if das Gemüth, das Vermögen für 
verfönliche Gemeinſchaft a). 

So ergibt ſich aus ber bisherigen Darfiellung, daß 
die Grundbeſtimmung des Menfchen, von welder alle 
übrigen Lebensbewegungen und Berhältniffe erfi ihren 
wahren Gehalt und Werth empfangen, perfünliche Ge⸗ 
meinſchaft fey. 

Es leuchtet ein, daß der Menſch diefe Gemein» 
fhaft vor Allem mit Gott vollziehen müſſe, in defs 
fen Urperfönlichkeit feine creatürlich⸗ abbildliche Perſön⸗ 





a) Auch die h. Schrift faßt das Werbältniß von Erkenntniß, Wille 
und Gewiffen zum Gemüthe in der gleihen Weife auf, wenn 
fie, wie den Willen, fo bie Gedanken (Pf. 14, 1. Roͤm. 1, 21. 
2 Kor. 4, 6.) aus der xagdle kommen läßt und auch das Zeug⸗ 
niß des Gewiflens in diefeibe fept (Koͤm. 2, 15. Hebr. 10, 22. 
1 30h. 8, 19—21.). Zwar entfpricht xegdla nicht ganz unferm 
Worte Gemüth — dieſes birgt auch das Moment bes veög in 
fi) —, aber die Sprache des Alterthums bat eben dafür Teinen 
voßbezeichnenden Ausdrud, weil erſt im beutfchen Wolke die 
wahre Innerlichkeit und im Shriftenthume die wahre Einheit bes 
geifligen und natürlichen Lebens zur Verwirklichung kommt. 


ib. d. Verhaͤltniß der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 19 


lichlkeit wurzelt. Bon ba geht fie dann naturgemäß auf 
ak creatärliche Perfönlichkeit, welcher das gleiche goͤtt⸗ 
lie Bild aufgeprägt it, über. . Dieß finden wir aufs 
dentlichſte ausgeſprochen, wenn Sefus ald Summe bes 
Geſezes, darin ja bie ewige Lebendorbnung ber göttli« 
den Delguomie dem Sünder wieder zum Bewußtſeyn 
gebracht wird, die Gottes⸗ nnd Nächfienliebe hinftellt. 
Diefe vollkommenſte, b. bh. eben fo freie, als natlrlich 
begründete, eben fo den innerften Lebenstern der Perſön⸗ 
lichleit, al& bie äußerften Grenzen des natürlichen Lebens 
befafiende Gemeinſchaft bildet das Leben des Reiches 
Gottes, für welches der Menſch von Ewigkeit die Bes 
ſtimmung hat. > 
Durd die Sünde löfte fich ber Menſch vom Reiche 
Gottes ab. Er verkehrte die Principiew feines Weſens. 
Statt ber Gemeinfchaft trat die Selbftheit als Zwed und 
Ziel in den Sinn feines Gemüths, und die Selbitfucht 
erhob ſich an der Stelle der Liebe zum Principe. feines 
debens, wovon Daun die Zerrättung feines Leiblichen und 
geifigen Weſens und die Knechtfchaft unter Sinnlichkeit 
und Belt bloße, wiewohl nothwendige, Folge war. Zwar 
ruht das Bebärfuiß ber Liebe noch im tiefften Grunde 
umferer fündigen Natur und ift im Leben des Gott ent- 
fremdeten Menfchen ebenfo noch die Mutter der edelften 
Erfcheinungen, als fie zugleid den Punkt bildet, an wels 
dem die Gnade aunüpft, wenn fie ihn für fein Heil ges 
win nen will a). Aber fie wirkt da nur ald Macht der 


a) Berf. Tann der Anficht nicht beipflichten, daß ber Heft bes goͤtt⸗ 
lichen Gbenbilbes (ober die noch gebliebene Erfcheinungss und 
Rirkungsweife des Geiftes) nur im Gewiflen zu ſuchen und 
alfo die Antnüpfung der Bnabe. auf dieſes zu befchränten fey. 
Da bie freie Gemeinſchaft des Menſchen mit Bott. auf abfoluter 
Abhängigkeit zuht, fo ift das Organ, in welchem ſich biefes Ver: 
hältnig nach feiner objectiven Form Tundgibt, das Gewiſſen 

nämlich, allerdings bie Bafis für jebe weitere Offenbarung Got⸗ 
2. 


20 Schöberlein 


Sehnfucht, nicht als freie Kraft (wie dieß Claudius im 
feinen Briefen an Andres bei der Unterfcheidung von 
„gut“ und „edel? fchön ausfpriht), und das alldurdhs 
dringende und berrfchende Motiv des perfönlichen Lebens 
bleibt — fey es mehr unter der Form des oft fublimften, 
auf eigne Kraft trauenden und eignen DBerdienftes ſich 
rühmenden Tugendſtolzes oder unter ber niedern Form 
der Genuß» und Habfucht — der Egoismnd. Noths 
wendiger Weife theilt fi) die im Grunde der Perſönlich⸗ 
feit, im Gemüthe, eingetretene Störung auch den übrigen 
Vermögen des perfönlichen Lebens, Vernunft, Wille und 
Gewiſſen, mit. Der Menfh kann Gottes Weſen unb 
Detonomie hinfort nimmer verfichen, weil er Alles im 
eignen Lichte ſchaut. Der Wille it gefuechtet unter das 
Geſetz der fleifchlichen Begier, fo daß er dem Gefebe 
Gottes nimmer zu folgen vermag. Und das Gewiflen 
hört nit auf, in dem währenden Gefühle des Bedürf⸗ 
niffes nach Berföhnung und in den einzelnen Anklagen 
die eingetretene Scheidung von Bett ihm vorzuhalten 
und als feine Schuld ihm anzurechnen, 

Soll nun der Menſch aus diefem Elende der Sünde 
erlöſt werden, fo kann es nicht anders gefchehen, als daß 


tes im Menſchen. Aber au in ber fubjectiven Geite bes 
menſchlichen Lebens läßt fi) das Walten des Geiftes beim na» 
türlihen Menfchen noch fpüren und ein Zug feiner Ebenbild- 
lichkeit erfennen, da ja nicht bloß der Vernunft die Idee ewiger 
Wahrheit, fondern auch dem Willen das Verlangen nach Frei: 
beit und dem Gemüthe Ahnung und Gehnen nach göttlidyer 
Liebe noch einwohnt (Röm. 7, 18—24.). Da der Menſch zur 
” Sünde verführt worden ift, nicht in ſich felbft urfprünglich und 
mit bewußtem , gottfeinblichen Vorſatze fie erzeugt hat, fo Tann 
es nicht anders feyn, als daß feine Beſtimmung zur Gottesge⸗ 
meinſchaft auch in dieſer lehtern Weife nach dem Kalle fidy noch 
ausſpreche. Und es geſchieht alfo die Antnüpfung der Gnade 
nicht bloß an jenes objective Zeugniß der Abhängigkeit, fondern 
auch an diefen fübjectiven Zug nach Semeinfchaft im Eon ar dgazog. 


ib.d, Verhaͤltniß der perfönl. Gemeiaſch. mit Chriſto ꝛc. 21 


die perfönliche Gemeinſchaft zwiſchen Gott und Menſch 
wieder hergeftellt wird. Daß.dieß vom Menfchen nicht 
ausgehen Tönne, liegt am Tage. Iſt überhaupt keine Ges 
neinſchaft Des Menfchen mit Gott möglich ohne voraus» 
gehende Gemeinfchaft Gottes mit dem Menfchen — dieß 
liegt im Berhältniffe der Greatur zum Schöpfer —, wie 
viel weniger nach eingetretenem Riffe ! 

Der Berfafler hat in feiner Abhandlung über bie 
Berföhnung gezeigt, daß die Menfchwerbung des Soh⸗ 
ned Gottes nicht als bloßes Mittel für den Zwed der 
Berfähnung aufzufaffen fey, fondern daß file vielmehr 
ihre ummittelbarfte, innerfie und vollfte Bedeutung darin 
babe, nuendliche Selbfloffenbarung der göttlichen Liebe 
für die fündige Menfchheit in zeitlicher, an allen Kolgen 
der Sünde perfönlich theilnehmenden und mit all ihrem 
Leben dem Sünder ſich mittheilenden Selbfthingabe zu 
feyn, daß fie aber ald folche, der Natur der Liebe ges 
maß, zugleich nad drei Seiten, als Licht, Necht und 
Kraft, wirfe: den Einblid in die Tiefen göttlichen We⸗ 
end uud Lebens ihm wieder eröffnend, eine freie, ver: 
föhnte Stelinng zu Bott ihm begründend und die Durch⸗ 
Bringung des eignen Weſens mit göttlichen —— 
wirkſam ihm darbietend. 

Aufgabe dieſer Abhandlung iſt es — zu 
zeigen, Daß, wie dort die Begründung des Heils durch 
die perfönliche Lebens, und Leidensgemeinfchaft des Sohs 
ned Gotted mit dem Menfchen, fo hier die Aneignung 
des Heils burch die perfönliche Lebends und Leidensge⸗ 
meinfchaft ded Menfchen mit dem menfchgewordenen 
Sohne Gottes gefchehe, und in derfelben die Erleuch- 
tung, Rechtfertigung und Heiligung als integrirende Mo⸗ 
mente gleiherweife befchloffen liegen. 

In der Perfon Chrifti begegnen ſich zwei Lebens⸗ 
bemegungen, eine von oben nach unten und eine von uns 
ten nach oben. Indem Gott im Liebeöbrange nach Ger 


22 Schöberlein 


meinfchaft mit feinem entfremdeten Ebenbilbe fo weit 
ging, wie es die abſolute Liebe kann, die Natur bee 
Menfchen felbft anzunehmen, als menfchliche Perfönlichs 
feit bienieden gu leben und alled Leib bis in den Tod 
mit uns gefchichtlich zu erfahren, fo {ft Chriſtus bie per: 
fönlich erfchienene, dem Menfchen fich opfernde Liebe 
Gottes, die perfönlich mit der Menfchheit geeinigte Gott» 
: beit. Indem Chriſtus aber auch mit wirklichem menfchli- 
chen Bewußtſeyn und Willen, als der Menſch zur’ ZEoyiv 
in den göttlichen Liebesrathſchluß einging, in Liebesge⸗ 
horfam gegen feinen Bater hienieden wirkte und alles 
Leid bis in den Tod freiwillig erbuldete, fo ift er das 
perfönlich fidh Bott dargebende Liebesopfer des Men: 
fhen, die perfönlich mit Gott geeinigte Menfchheit. Bott 
it in ihm Menfch, der Menſch in ihm vergottet. Chris 
ſtus ii fomit der Angelpunft aller Gottesge—⸗ 
meinfchaft. Gott gibt ſich und nicht anders ale in 
ihm, aber in ihm gibt er fih und auch ganz; fo können 
auch wir und Gott nicht anders wahrhaft ergeben, als 
in Lebensgemeinfchaft mit Ehrifte, durch fie aber können 
wir auch völlig mit ihm Eins werben als feine Kinder. 

Dieſes Berhälmiß ift, wie in oben genannter Abhand⸗ 
Iung ausführlicher bargethan worden, näher betrachtet, 
ein bereitö ewig begründete. Im Sohne nämlih hat 
Gott die Welt fchon gefhaffen. In ihm mit dem Men: 
fchen, als uxoddeos, perſönlich Eine zu werben, und 
burch den Menfchen, ald pxpdxocuos, mit feiner ganzen 
Schöpfung in Gemeinfchaft zu treten, war der Rath fei- 
ner Liebe, die der Weltfchöpfung Grund ift (1 Petr. 1, 
20. Eph. 1, 4.). Und da die ewige Idee des Zeitlichen 
nicht bloß ein in abflractem Vorſatze zeitlich Vorangehen⸗ 
des, fondern der reale Lebensgrund beffelben ift, fo if 
der Sohn Gottes (durch feine in ideeller Wirklichkeit 
ewige Wenfchwerdung) in Ewigkeit bereitd der sgwröro- 
xos wie zig xriaeng Überhaupt, fo ded Menfchen insebe⸗ 


ib.d. Berhaͤltniß Der perfönl, Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 23 


ſerdere, das Urbild ber Menſchheit, in welchem dieſelbe 
au ih ſchon den Grund ihrer Exiſtenz und das Ziel ih⸗ 
vr Entwidelung bat. Dadurch aber, daß anf Grund 
bed ewigen Liebesrathſchluſſes die Menfchwerbung auch 
jeitlih im der durch die eingetretene Sünde bediugten 
leidensvollen Weiſe verwirklicht worden, ift Chriſtus nun 
auch für unfere zeitliche, aus dem Tode ins Leben über, 
führende Entwidelung der zomröroxog iv zoAMoig ddskpoig 
Ri, 8, 29.) und der Mittelpunkt der irbifchen Bes 
fhidte geworden, anf welchen alle vorauögehende Lebens⸗ 
bewegung hinzielt und von wo aus alle nachfolgende 
ausgeht. 

Ale wahre religiöfe Entwidelung ift alfo durchaus 
au die Bemeinfchaft mit feiner Perfon geknüpft. 

Wie aber alle Macht des Gedankens und der That 
fh durch den Geiſt vermittelt, welcher diefelben erzeugt 
dat, in ihnen als Princip fortlebt und ale ſolches auf 
fremde Perfönlichleiten wirkt, indem er das verwandte 
Ledendprincip in ihnen entweder ſtärkt, oder erſt erweckt, 
fo iR ed auch bei der in Chriſto geoffenbarten Liebe Got⸗ 
tee. Derſelbe h. Beift, durch welchen der Sohn Gottes 
Menſch geworben (Luk. 1, 35.) und mit welchem er in 
femer Menfchheit für die Ausrichtung feines Werkes ohne 
Maß gefalbt worden, ift durch die Vollendung feines 
Werkes zugleich dad Lebensprincip für bie erlöfle Ge⸗ 
meinde geworben, deren Haupt Ehrifius ift, und gießt, 
von ibm andgehend, die in ihm erfchienene Liebe Gottes 
in bie Herzen der Menſchen aus (Joh. 16, 14, Nöm. 5, 5.). 
Wie nun die Liebe überhaupt fchöpferifch ift, fo ift fie es 
vor Allem. indem fie in den innern Grund einer Ders 
fönfichkeit ſich einſenkt, erweckt fie das gleiche Liebedies 
ben. Einen natürlichen Antnüpfungspunft aber hat fie 
m dem ber creatürlichen Perfönlichkeit eingebornen Ders 
mögen ber Gottesgemeinſchaft oder, wenn wir noch ties 
fer gehen wollen, in dem bem Menſchen (dadurch, daß er 








24 Schöberlein 


im Sohne von Ewigfeit ber zuvorverſehen und in ihm 
nach dem Bilde Gottes gefchaffen iſt) von Natur keimlich 
immanenten Bilde ded Sohnes Gottes. Indem der Sohn 
Gottes nun anf Grund feiner zeitlichen Menfchwerdung 
mit feiner ganzen andringenden Liebesmacht ‘dem Herzen 
des fündigen Menfchen zum Heile ſich barbietet, fo wird 
das durch die Sünde erlofchene, wiewohl nicht getilgte 
Bermögen der Gottesgemeinſchaft, das im falfchen Lichte 
des eignen Selbſts erblichene Bild Gottes in uns 
wieber erwedt; und, ebenfo libermocht von biefer Liebe, 
die fein tiefſtes, ſtäärkſtes Schnen flillt, ale frei ihr fols 
gend, bie feiner ganzen Gegenliebe werth ift (1 Joh. 
4, 19.), ergibt fi) der Menfch in dem inuerften Grunde 
feines Gemüths Chriſto, feinem Heilande, zur unbeding- 
ten Gemeinfchaft ded Lebens hin. Dieß ift der Weg des 
Heils für den Sünder a). 

Diefe Gemeinfchaft bat ebenfo ihre Stufenent- 
wideluug, wie die Gemeinfhaft Gottes mit der füns 
digen Menfchheit. Der Berf. hat hinfichtlich dieſer letz⸗ 
teren in ber obenerwähnten Abhandlung gezeigt, daß die 
Liebe Gottes in ihrer erften Bewegung gegen den Sünder 
als Zorn ſich offenbare, welchen der Menſch in feinem perföns 
lichen und natürlichen Leben als Leiden (nach juriflifcher 
Faſſung jened ald Schuld, dieſes als Strafe) inne werde. 
Ohne nämlich noch ihre mitfühlende und mitlebende Theil⸗ 
nahme an dem Sünder herauszukehren, zeigt fie fich dies 
fem erft, wie fie von feiner Sünde in ihrem göttlichen 
Mefen, fo wie ed in fich ift, berührt wird, und tritt mit 


a) Die nähere Beſtimmung dieſes Verhältniffes zwifchen menſchli⸗ 


dem unb göttlidhem Wirken bei der Belehrung liegt außer dem 
Bereiche diefer Abhandlung. Uebrigens ergibt fidy bie Einheit 
der reinen, alles menfchliche Verdienſt ausfchließenden Priorität 
göttlichen und der wirklichen Freiheit menſchlichen Thuns am 
einleucdhtendften eben aus dem Weſen der Gemeinſchaft und ih⸗ 
rer oben bargeftellten Beziehung zur Selbſtheit. 


ib.d. Verhaͤltniß Der perfönl. Gemeinfch. mit Chriſto ꝛc. 25 


ke iunern Harmonie feiner Selbftentzweiung, mit ihrer 
dem Gefchöpfe zu wunbedingter Anctorität beftehenden 
Serlichleit feiner Unwürdigkeit entgegen. Die umfaflende 
Seeihaung für Diefe dem Sünder gegenüber das eigne 
Echt dewahrende Stellung der Perfönlichleit Gottes ift: 
Heiligleit — welche in ihrer activen, ſich ale ſolche dem 
Simder nadı dem Maße feiner freien Selbfbeftimmung 
mittheilenden Selbftbeziehung zur Gerechtigkeit wird. Das 
Mittel ihrer Offenbarung ift das Geſetz, welches nicht 
bioß in feiner vereinzelten gefchichtlichen Erfcheinung, als 
Berichrift für Die einzelnen Lebensverhältniffe der Mens 
fen gefaßt werden darf, fondern nmfaffender: ald Aus⸗ 
drad der in Gott ruhenden Idee menfchlichen Weſens, 
als geoffenbartes, dem Sünder zur Norm vorgehaltenes 
Urbild feines Lebens, weldhem Fluch und Segen ald 
Correlat, nämlich als Hinweifung auf die an diefer ihrer 
ewigen bee unverrüdt und energifch auch feithaltenden 
Heiligkeit Gottes beigefügt ift. 

Bon diefer eriten Stufe ihrer Selbfimittheilung fchreis 

tet die ficbe aber zur zweiten, höheren, vwolleren, zu ber 
dur Theilnahme vermittelten weiter. In ihrem unends 
lichen Drange, das durch thren Zorn dem Menfchen bereis 
tete innere und äußere Leiden felbft auch mit ihm zu tras 
gen, erniedrigt fie fi bid zur Annahme der menfchlichen 
KRatur und bietet fih auf Grund diefer ihrer Barmber; 
äigfeit (die nach juriftifcher Faſſung als flellvertretende 
Verſöhnung fi darftellt) mit ihrer ganzen Lebensfülle 
dem Menfchen ald Gnade (nach ihrer juriftifchen Seite: 
Verführung) zur Aneignung dar. Dieß gefchieht im Evans 
gelinm, dem vom heil, Geifte getragenen Worte von der 
in Chriſto perfönlich erfchienenen Gnade Gottes. 

Beides, Gefeb und Evangelium, find alfo zwei Of⸗ 

fsbarungsmeifen derfelben Liebe. Sie folgen fih, weil 
der Sünder die Totalität ihres Weſens nicht mit Einems 
Bale zu faffen vermag, fonbern der Erziehung für ihr 


26 Schoͤberlein 


Verſtaͤndniß und ihre Aneignung bedarf, in der Geſchichte 
der Menfchheit und des Einzelnen als Stufenentwicke⸗ 
Inngen, die wir in der Folge des alten und neuen Teſta⸗ 
mented erkennen. In jenem herrfcht bad Geſetz, Der 
zadayayds auf Ehriftum, und es muß fo lange herrfchen, 
ald die Liebe in ihrer Gnadenfülle noch nicht offenbar 
geworben, ob auch immerhin einzelne Gnadenoffenbarun⸗ 
gen in ber Form der Berheißung voransgehen mögen. 
Iſt aber die Gnade zur vollen Erfheinung gefommen, 
fo wird fie damit auch die herrfchende Macht, und das 
Geſetz, durchleuchtet vom Wefen der Gnade und zu hör 
berer Zinheit mis ihr aufgenommen, verliert feine ſelb⸗ 
Rändige Stellung und dient der Gnade nur zur Offen» 
barang ihres Lebens, ale Nichtfchnur für die Begnadigten. 
Doch ift diefe Aufeinanderfolge Feine ausfchließende, da 
die Liebe Gottes, fo viel an ihr if, vom Anfang an mit 
ihrer ganzen Fülle dem ‚Sünder zugewandt ift und, wenn 
fie audh die Momente derfelben nur in einem Nacheinan⸗ 
ber vor unfern blöden Augen und verfehrten Herzen aus» 
einander legen fann, body auch dba fhon von Anfang an 
das Endziel im Auge bat. Vielmehr gehen, mit Beibes 

* haltung jenes fpecififchen Unkerſchiedes des alten und 
nennen Teftamented, Beleg und Evangelinm fletig Hand 
in Hand und wachen gemeinſam an Klarheit und Tiefe 
ber Offenbarung. So finden wir das Evangelium bereite 
unmittelbar nach dem Sundenfalle im Protevangelium, 
und burd das ganze alte Teflament zieht ed fh im 
immer heller werdenden Lichte hindurch bie zur Erſchei⸗ 
nung des Heiles felbfl. Ebenſo aber tritt auch im Geſetz 
erft die Korberung bed bloßen Werks noch in den Vor⸗ 
dergrund, der geiftliche, tiefere -Gehalt hingegen ift nur 
hie und da angedeutet. Denn wie hätte der Menfch den 
vbllen Einblid in die Tiefe feines Berberbens ertragen 
können, fo lange das Heil noch verdedt, noch in bloße 
Berheißung gelleivet war! Mit der zunehmenden Macht, 


ab.d. Berhältniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ehriſto ꝛc. 27 


Aarheit und Geiſtigkeit der Verheißung aber in ber Zeit 
ver Prophetie nimmt auch die Enthüllung ber höheren, 
gefigen Forderung bed Geſetzes zu. Und als in Ghrifto 
aadlih die Berheißung erfüllt ward, fo kam in ihm, weil 
in der Liebe, deren perfönliche Erfcheinung er ift, Gerech⸗ 
hiefeit und Guade gleichermaßen inbegriffen find, and 
bad Befep zur Erfüllung, und zwar nicht allein in Tras 
gung ſeines Fluches, fondern zugleih in volllommener 
Ofenbdarung feiner Forderung durch Wort und That 
Ya fo fehr durchdringen fich in ihm beide Momente ber 
liche, daß er das Weltgericht, die energifchte Offenbarung 
der göttlichen Gerechtigkeit, eben dann halten wird, wenn 
ach dad Reich der Gnade zur vollen Erfcheinung feiner. 
dertlichkeit durch ihn Tommen fol. Und in alle Ewigkeit 
wird er das Gefetz der Blänbigen, nur nicht in gebieten» 
vr und firafernder Weile, fondern als heilleuchtendes 
Urdild und ale felige, im inneren Grunde bed Herzens 
unigende Liebesgewalt bleiben, fo daß dann auch in 
dan, wie in ihm, Geſetz und Evangelium Eins gewor- 


e mb alle Momente ber Liebe zur Erfüllung gekom⸗ 


un fund a). 

Bon dem Maße und der Weife dieſer Liebeömittheis 
Ing Bette an den Menfchen it nun das Maß und bie 
Beife der Bemeinfchaft abhängig, in welche der Menſch 
zit Gott treten Tann. 

Bir können aber im Gemeinfchaftöleben ‚der Mens 
(den überhaupt zwei Stufen unterfcheiden. Die erfte ift 
Vie, daß ich, iadem ich zu einer Perfönlichkeit in Bezie⸗ 





u) Man entfchulbige, daß der Verf. hier bei der Rüdverweifung 
anf die Gedanken der erfien Abhandlung ſich fo ausführlich auf 
eine dort nicht gegebene Expoſition von ber geſchichtlichen Offen« 
berung bes Geſetzes und Evangeliums einläßt. Gr thut es, 
weil fie hier erft ihre volle Bebeutung gewinnt, wo fie auf bie 
Gtufenentwidelung der Bemeinfchaft des Suͤnders mit Gott im 
Einzel» und Gefammtiehen ihr Licht wirft. 





28 Schöberlein 


bung trete, fie, ohne noch einem befondern Zuge Der 
Berwandtfchaft zu folgen, nur erſt fo nehme, wie fie für 
ſich ift, und auch in diefem Maße nur mich ihr mittheile. 
Ich laſſe fie noch außer mir, und indem ich die Gemein⸗ 
fhaft mit ihr vollziehe, gebe ich mich (und das Meine) 
ihr nur in dem Maße bin, als fie nach ihrem individuellen 
Werth und nad ihrer Stellung zur Gemeinfhaft (und 
innerhalb diefer wieder fpeciell zu mir) diefe Hingabe auf 
Grund der Gemeinfchaftsordnung in Anfpruch zu nehm en 
hat. Wir bezeichnen bdiefe Stufe mit dem Ausdruck: 
Achtung (die innere Seite der Gerechtigkeit), welche 
deßhalb den Grundpfeiler alled Gemeinlebend bilder. 
Eine zweite, höhere Stufe aber wirb dadurch vermittelt, 
daß ih an dem Perſon⸗ und Natnrieben ded Andern 
ſelbſt auch Theil nehme und ed in das meinige herein- 
ziehe. Dieſes Theilnehmen, diefe Theilnahme und Herein⸗ 
nahme ift (was bei der Achtung nicht in dieſer Weife 
der Fall ift) wefentlich bedingt durch innere Verwandt⸗ 
fchaft, fey ed allgemeine oder befondere, wie auch Die 
Art und das Maß derfelben von der Art und dem Grade 
diefer Verwandtſchaft abhängt 0). Dadurch mache ich 
mich dem Andern erfi homogen, und es ift nun einehöhere, 
vollfommene Selbfimittheilung möglih, die wir mie: 
Liebe bezeichnen. Mit dieſer durch Theilnahme vermie- 
telten Selbftmittheilung ift wahrhafte perfönlihde Eini⸗ 
gung eingetreten unb die höchfle Form ber Gemeinſchaft 
erreicht. 
Diefe beiden Stufen der Semeinfchaft begegnen ung 
nun auch in dee Gemeinfchaft ded Sünders mit Gott. 
Wenn Gott nur erſt in unmittelbarer Weife Dem 
Menfchen fich mittheilt, d. b. wenn er dad Weſen feiner 


a) Anders ift z. B. die Kindes⸗, anders die Freundes⸗, die eheliche 
Liebe ꝛc. So darf und foll auch die Intenfität der Liebeshinga be 
verfchieben feyn je nach Anziehung der Individualität ıc. 


ib.d. Berhältniß ber perfönl, Gemeinſch. mit Ehrifto sc. 29 


Prrfönlichkeit ihn erſt nur fo, wie es in felbftändiger 
Birde dem Menfchen gegenüberficht, erfahren läßt, fo 
uf fh auch der Menfch erſt nur in feiner nadten 
kelbtheit Gott gegenüber fühlen. Die Gemeinfchaft bes 
iht noch auf der Stufe der bloßen Achtung. Wie Gott 
diefelbe gegen den Sünder darin vollzieht, daß er fein 
reied Thum nicht ignorirt noch. aufhebt, fondern ale fols 
br anerfennt, daß er ihm gibt, was er verdient, daß 
er die Schuld und Strafe feiner Sünde durchs Geſetz 
ihn fühlen läßt, — daß er gerecht gegen ihm iſt, ebenfo 
ton nun auch Der Menfch bie Gemeinfchaft mit Bott 
ur in der Weiſe vollziehen, daß auch er ald Sünder 
geht it (man wolle biefen Ausdrud nicht mißdeuten), 
af er nämlich in ehrfurchtövoller, bußfertiger Schen 
(welhe etwas nicht bloß Aufgedrungenes if, wie das 
Empfinden der Schuld und das Leiden der Strafe, fons 
dern bereitd ein Act freier Gemeinfchaft) wegen feines 
Inderfams vor Gott fich demüthigt, anklagt und flraft, 
me Gott die Ehre gibt, die ihm dem Heiligen vom 
kiner gebührt. 

Dieß ifE die Buße, die aus dem Geſetzekommt, 
y daſelbe nun alts ober neuteftamentlich, ja das pers 
inlihe Geſetz im Vorbilde Ehrifi ſelbſt. Sie läßt den 
Renſchen noch außer Bott fiehen, in ihr waltet noch 
leue diebesmacht. Ja fie verfeßt den Menfchen vielmehr 
in die troſtloſeſte Losgeriffenheit, indem er nun nicht bloß 
von Bott gefchieden fteht, mit welchem ihn nur noch das 
alzeneinſte Nechtöverhältuig und zwar das der Straf 
zerechtigkeit verbindet, fondern gefchieden auch von feinem 
"zum lieben Sch, von welchem ex fich im Geifte feines 
Lillens losgeſagt hat. Damit nämlich, daß der Menſch 
a Unglauben (Gen, 3.) aus der Gemeinſchaft Gottes ſich 
bie, hat er, wie eben abnormer Glaube an ſich ſelbſt 
(dechmuth) mit Unglauben an Gott allezeit Hand in Hand 
“ft, zugleich angefangen, den Quell geſunder Entwides 


‘ 


30 i Schoͤberlein 


lung in ſich ſelbſt zu ſuchen. Dieſes falſche Vertranen auf 
eigne Einſicht, Kraft und Würdigkeit (falſche Theilnahme 
an ſich ſelbſt) reißt die Geſetzesbuße dem Menſchen aus 
dem Herzen, und im Gedränge ber Angſt und Furcht 
erwacht ber durch die Gcheinbefriedigung der Sünde in 
Schlummer gewiegte, doch nicht getilgte Eu dvägmaog 
(Roͤm. 7, 22.) d. i., abſtract gefaßt, das im Innerften 
Grunde des Menfchen eingeboren ruhende Bedürfniß nach 
Botteögemeinfchaft, und drängt fich hervor und firedt 
ſich nach‘ oben aus, um den eignen Mangel aus ber 
göttlichen Liebesfülle zu ergänzen._- Denn fo völlig ifolirt 
kaun der Menfch nicht bleiben: die Selbflaufgabe muß 
zur Gelb hingabe fortfchreiten. So drängt die Geſetzes⸗ 
buße deu Menfchen von felbft auf eine zweite, höhere 
Stufe der Gemeiuſchaft vorwärts, 

Doh Tann er auf diefe nur dadurch ſich erheben, 
daß auch hier wieder die goͤttliche Liebe, auf einer höhe⸗ 
sen Stufe ihrer Selbſtmittheilung, ihm zuvor» und ent⸗ 
gegenfommt. Indemn er aber diefer göttlichen Liebe nun 
begegnet, findet er fie gleichfalls über feine Sünde be- 
trübt, ja er flieht, wie fie in geitlich-perfönlicher Wirklich, 
feit den auf derfelben Iaftenden Fluch felbft auf ſich ges 
nommen und, geBleibet in unfer eigen Fleiſch, bis in ben 
Tod getragen hat. Diefer unendliche Widerfpruch gött⸗ 
licher Liebe mit feiner Selbſtſucht beſchämt, dieſe bitterfte 
Folge feiner Sünde erfchüttert ihn. Und er trägt nun 
nicht bloß darüber Leid, die göttliche Majeſtät verlebt, 
fondern zugleich, die göttliche Liebe ind Leid gezogen 
zu haben, Während er aber fo einerfeits jeßt erſt die 
ganze Größe feiner Schuld vor Bott erkennen lernt und 
dadurch noch mächtiger denn vorher ſich getrieben: fühlt, 
von feinem verkehrten Selbſt, durch welches all dieſes Leis 
den verurſacht worden, fich zu löfen, fo verliert doch 
anbererfeitö feine Buße, indem fie deu theilnchmenden 
Liebesſchmerz Gottes in den eignen Schmerz; aufnimmt, 


ib. d.Berhältniß Der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ghrifto x. 31 


den Charakter der Losgerifienheit von Gott und nimmt 
du de Bemeiufchaft, ob auch zunächſt nur ber Leideus⸗ 
genciaſchaft, mit ihm an. Go wird ber Sünder von ber 
söttihen Liebe dadurch, daß fie, den Zorn in Barmbers 
ziglen verfchlingend, and bem Gedenſatze gegen ihn her» 
and und in Gemeinſchaft wirklicher Hingabe mit ihm über: 
getreten iſt, ſelbſt aud aus dem Gegenfatze gegen, fie her⸗ 
and uud in die Bemeinfchaft wirklicher Hingabe mit ihm 
eingefährt. Und es iſt fomit die wahre, aus dem Evan, 
gelium fomımende Buße, welche allein eine währenbe 
Grundlage des neuen lebend zu bilden vermag, wie über: 
danpt eine Betrübniß über die Betrübung der göttlichen 
kiede, fo anf ihrer höchſten Stufe ein Liebesleiden 
der Seele mit Ehrifto, in welddem das ganze gött⸗ 
lie Erbarmen gefchichtlich offenbar geworben. 

Doch iſt dieß eine noch fehr unvolllommene Theil⸗ 
nahme an dem Liebeleben Gottes. Die Seele hat bier 
war erſt das ans bem Leben Gottes in bad ihrige aufs 
geusumen, was Gott nach feiner Liebe aus ihrem Leben 
sorher a das felnige aufgenommen hatte, nämlich das 
#36 der Sünde quellenbe Leiden. Gott hat ſich aber in 
de Gemeinfchaft ihres Lebens nur dbahingegeben, um 
benfeiben dad feinige einzupflangen, ihre Schuld nur ges 
tragen, um ihr feine Gnade fchenten, ihr Elend nur mits 
gelitten, um feine Seligkeit ihr mittheilen zu können. 
Peine Theilnahme an Bott wird alfo dadurch erft eine . 
volfowimene, daß ich nicht bloß das Spiegelbild meines 
lebend im göttlichen, fondern daß ich Gottes eignes 
Leben ſelbſt auch in das meinige herübtr⸗ und aufnehme. 

Natürlich trägt nun diefe Theilnahme des Menfchen 
eu Leben Gottes einen andern Charakter, als wir's bei - 
Kr Theilnahme Gottes an unferm Leben geſehen haben a). 
& iR aberhanpt in jeder Gemeinfchaft die Art und Weiſe 





) Bergl, Verſohaungelehre, ©. 294-296, 


32 Schoͤberlein 


derſelben von ber verſchiedenen Stellung der Perſoͤnlich⸗ 
keiten innerhalb der Gemeinſchaft bedingt. Wohl iſt es 
immer ein Act ber Demuth, eine Selbfidemüthigung gegen 
und zu dem Andern, die ich in der Theilnahme an ihm 
übe. Aber es ift ein Andere, wenn ich ale der Stärkere 
an der Schwäche, und ein Anderes, wenn ich als der 
Schwächere an der Stärke bed Andern Theil nehme, fie 
in mein inueres und äußeres Leben aufnehmend. Jenes 
begegnet uns in ben verfchiebeuen Stufen ber Herab» 
laſſung der Eltern gu dem Kinde von der leiblichen Pflege 
an bie zum Mitgefühle mit feiner Sündenfchuld, dieſes in 
den verfchiedenen Stufen vertrauensvoller Ueberlaflung 
des Kindes an die Eltern bid zum Blanben an ihre ver, 
gebende Liebe. In noch höherem Maße muß diefer Unter: 
fchied heraustreten, wenn das Verhältniß von Haupt und 
Glied fi zu dem von Schöpfer und Geſchoöpf ſteigert, 
vollends aber, wenn die Schwäche bed Geſchöpfs fogar 
in Sünde und Leid übergegangen if. Haben wir nun 
bei Bott feine Theilnabme an unferm Leben ale Barm⸗ 
herzigfeit erfannt, fo ſtellt fich unfere Theilnahme an 
Gottes Leben ald Glaube dar, 

Unfere Beziehung zu Gott ruht durchaus auf Glau⸗ 
ben. Denn da Gott der Schöpfer und Grund unferd 
gefammten Wefend it, fo kann unfer perfönliches Leben 
fi) gar nicht entwideln, wenigfiens feiner Beſtimmung 
gemäß fich nicht entwideln, wenn wir nicht mit voller 
Hingabe unſers Gemüths Gottes Leben in das unfrige 
hereinziehen. Aus diefem Grunde ift und der Glaube in 
der Form eines unmittelbaren Willens und bebürftigen 
Berlangene nach oben bereits eingeboren. Doch bildet 
er als ſolcher nur die Bafls für eine freie Selbſtbezie⸗ 
hung des Menfchen. Denn der Glaube ift, wiewohl 
allerdings Gottes Werk in und — denn ohne thatkräaͤfti⸗ 
ges, unfer Inneres neubelebendes Einſenken ber göttlichen 
Liebe in unfer Herz durch den heiligen Geiſt würden wir 


i.d, Verhaͤltniß Der perfönl, Bemeinfch. mit Chriſto ꝛc. 33 


ninwermehr der Gnade glauben koͤnnen, — fo doch zu» 
gleich auch Freie, felbfleigene That des Menfchen, welcher, 
vor der eigenen Ohnmacht im Innern überführt, all fein 
keben hinfort nur ans Bott fchöpfen will, Und wiederum 
er nicht bloß Sache einer einzelnen Seite im menſch⸗ 
lichen Weſen, wie des bloßen Verftandes und der Ueber⸗ 
jengung, d. h. nicht ein bloßes Fürwahrhalten göttlicher 
(Held s) Wahrheit, wozu die fatholifche Kirche, indem 
fie dad Heil des Einzelnen von feiner Gemeinſchaft mit 
der Kirche, ftatt von der mit Ehrifto, abhängig macht, 
verleitet wird und dann allerdings zu einer Ergänzung 
deſſelben durch Werke ſich genöthigt flieht, fondern ber 
Glaube if, wie unfere Kirche, wenn fie Erfenntniß, Bei⸗ 
fall und Zuverfiht feine Theile nennt, richtig erkannt 
hat, eine Sache der innerfien Perfönlichleit, des Ges 
müths, in welchem bie übrigen Seelenfräfte, wie oben 
gezeigt worden, fämmtlich- al& in ihrem lebendigen Grunde 
wurzeln. Eben deßhalb aber kann ed auch dem Glauben, 
wrä Sleiched wieder Gleiches ſucht, noch nicht genügen, 

BET eine einzelne Seite des Weſens Gottes zu fallen, wie 

feine Macht oder Weisheit, fondern er ift nur dann ein 
wahrer, Iebenbiger, wenn er in Gottes Herz einbringt, 
wenn er das innerfte Weſen Gottes, wenn er feine Liebe 
faßt. Der Blaube ift ein eingehendes, in fih 
fangendes Hinnehmen der Liebe Gottes ins 
Gemüth. Wie der Abfall des Menfchen damit begonnen 
hat, daß er in Mißglauben Gott Lieblofigkeit, Verkur⸗ 
sung der eignen Perfönlichleit (Ben. 3, 5. 6.) zutraute, 
fo tritt Die Wiedereinigung mit Gott damit ein, daß er 
tm alle Liebe zutraut und die Erfüllung der eignen Pers 
ſinlichkeit aus ihm nimmt. So finden wir den Glauben 
hen im alten Teftament ald Lebendelement der From⸗ 
zen, weil dad Erbarmen der göttlichen Liebe, unmittelbar 
14 dem Sändenfall eintretend nnd das unendliche Ders 
daten zurücdhaltend, aud im alten Teftamente bereitg 


Cheol, Srud, Fahre. 187. £ ö 





2) 


36 Schöberlein 


Doch hat auch diefe höhere Selbfimittheilung, gleich 
wie wir's bei der Theilnahme, durch welche fie vermittelt 
wird, gefehen haben, erfi einen Gegenfaß zu überwinden, 
der durch die Sünde hereingelommen if. Wie nämlich 
die Sünde in falfcher Theilnahme ihr Wefen hat, indem 
der Menſch die Befriedigung feiner perfönlichen Bedürf⸗ 
niffe aus fich felbft, flate aus Gott, fchöpfen zu Fönnen 
meint und wirklich fchöpft, fo befteht fie auch in falfcher 
Selbftmittheilung, indem er, ftatt Gott zu leben, ſich felbit 
lebt, Und wie die wahre Theilnahme an Gott im Glau⸗ 
ben nicht andere möglich wird, ald baß der Menſch in 
Buße von dem falfchen Glauben an fi felbft fich los⸗ 
mache, fo auch die Selbftmittheilung an Gott nicht ans 
bers, ald daß er das falfche Sichfelbftleben in der Selbfl- 
verleugnung aufgebe, Gleichwie aber die Buße den 
innerften Grund des Herzens nicht umzuwandeln vers 
mag, fo lange der Menfch noch unter dem Gefete, noch 
allein, losgeriffen von Gott und Gott bloß gegenüber 
fteht, fondern erft durch die gliedfiche Leidensgemeinſchaft 
mit dem für unfere Sünde leidenden Haupte Chriftus zu 
einer lebendigen, innerlihen und ummwanbelnden wird, 
“fo ift ed auch bei der Selbftverlengnung Wohl findet 
fi bereitd im alten Teflamente eine Art Belehrung, eine 
Abkehr von fich ſelbſt und Zukehr zu Gott, welche im 
Berhältniffe zur damaligen Stufe der Liebesoffenbarung 
Gottes an die Menfchheit eine relative Vollkommenheit 
bei den Gläubigen haben konnte. Aber fo lange Gott 
noch nicht in .felbfiaufopfernder Hingabe fein ganzes Herz 
gegen die Menfchen eröffnet hatte, konnte auch der Menſch 
noch nicht im innerften Grunde des Herzens von fidh ſelbſt 
frei werden. Denn da Selbfimittheilung das wefentliche 
Leben des Herzens ift, und es ohne diefelbe nicht einen 
Augenblid verharren kann, fo muß audy bie Berleugnung 
feiner felbft, wenn fie eine wahre feyn fol, zugleich den 
Charakter der Gemeinſchaft an ſich nehmen. Dieß ge 


ib.d. Verhaͤltniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Ehriftoac. 37 


(hieht, wie bei ber Buße, durch bie Gemeinfhaft mit 
Chrifo. Wie wir jene ein Liebesleiden der Seele mit 
Erle genannt haben, fo ift’d auch bei der wahren 
Selbſtverleugnung. Sie ift, was die heilige Schrift nennt: 
ein Sterben, ein Begrabenwerden mit Chriſto. Während 
ih in der Buße jenes Liebedleiden Ehrifti theile, in wels 
dem er meine Sünde fih hat zu Herzen dringen und 
ihren Fluch über ſich ergehen laſſen, fo in der Selbſt⸗ 
verlengnung (Matth. 16, 24.) dasjenige, vermöge deſſen 
er, das in der Berfuchung, welche auch an feinem wahr, 
haft menſchlichen Selbſt eine reelle Möglichkeit der An⸗ 
mäpfung hatte, fi ihm entgegendrängende Cigenleben 
jurüchveifend,, zugleich feine mit unferer Schuld belabene 
Derfönlichkeit in jede Schmach und feine ganze, mit den 
Folgen unferer Sünde behaftete Natur (adp&) in jedes 
Leiden, ja in den Tod felbft dahingab (Röm. 6, 10. 
19er. 3, 18. Röm. 8, 3). So fterbe ich in meiner 
Semeinfchaft mit ihm mir felbft, d. h. meinem falfchen, 
won Sort losgeriſſenen Selbft, dem Kleifche ab. 

Aber dieſe Gemeinfchaft des Sterbens führt noth- 
werdig zur Gemeinſchaft feiner Auferftiehung (Röm. 6, . 
4-11.) und feines ebene. Wie Chriftus die a&oE in den 
Zod gab, Damit das wahre Leben in ihm, das zvsüue, 
jur Erfheinung fomme, fo fterben auch wir in ber Ges 
meinihaft Ehrifti und felbft nur ab, damit in ihr unfer 
wahres Selbft aus dem Zode, dem Scheinleben der Sünde - 
erfiehbe und dad zveüun in und herrfchend werde (Nom. 
6, 5.). Da wir aber nun ald Bild Gottes zu feiner voll⸗ 
fommenen Gemeinfchaft gefchaffen find, fo lebt unfer Ich 
dann eben erft wahrhaft, wenn es in diefer fteht. Dieß 
gefchieht nun durch die Liebedeinigung mit Chrifto, dem 
menfchgemordenen Sohne Gotted. Und fo ift die Eini- 
gung der Liebe mit Ehrifto, welchem nun des Sünders 
ganzes Herz gehört und fein ganzer innerer Menſch 


un 


38 Schöberlein 


lebt (2 Kor. 5, 15.), bie lebte, höchſte ee ber Gemein⸗ 
fchaft mit Gott a). 

Aus diefer Entwidelung erhellt, daß — Weg des 
Heils für den Sünder kein anderer ſey, als den 


ganzen irdiſchen Kampfes, und Siegeslauf 


Chriſti durch Tod und Auferfiehung hindurd 
vermögedervolllommenen Selbfthingabe des 


inwendigen Menfchen an ihn ihm nachzulei⸗ 


den und nachzuleben, und daß mithin die unio 
mystica nicht bloß Schlußpunft, fondern zugleich Aus⸗ 
gangspunft und währendes, fort und fort wachſendes 
Moment im ordo salutis fey, in welchem alle übrigen 
Zäftände chriftlichen Lebens nur einzelne Seiten und Ers 
fheinungsweifen bilden. Bußfertiger Slaube und 
felbfiverleugnende Liebe find ihre zwei Grund» 
feiten. Wie alled Leben der Gemeinfchaft im gegens 
feitigen Nehmen und Geben befteht, fo auch hier. Im 
Glauben nimmt die Seele alle Liebesfülle aus Gott, um 
in ber Liebe ſich Gott ganz wiederzugeben. Und wie 
Gott in feiner Barmherzigkeit gegen den Sünder fidh 
berabneigt und herabläßt, fo fehr, daß er felbfi deflen 
Natur annimmt, fo ift auch der Glaube, worin ja der 
Menſch bekennt, daß ihm felbft Alles fehle, in Gott aber 
Alles für ihn liege, der Act der tieffien Demuth gegen 
Gott. Dagegen gibt es Feine herrlichere Stufe der Er: 


um - — —— 


a) Hier, wo wir von ber Gemeinſchaft bes Menſchen mit Gott 
reden, nennen wir nur bie höchfte Stufe berfelben‘ Liebe, weil 
im Gemüthe des Menſchen ein wirkliches Auseinander und Nach: 
einander jener Stufen flattfinbet. Anberö bei der Gemeinfchaft 
Gottes mit dem Wenfchen, weil Bott gegen jeden Menſchen in 
jedem Momente ganz Liebe ift und nur um des Menfchen felbft 
willen in feiner Gelbftmittheilung ſich befchräntt; bei ihm ift 
auch die niebrigere Stufe Ausfluß ber Liebe ſelbſt. Darauf 
beruht der Unterfchieb des Gebrauchs vom Wort „Liebe” in 
diefer und der genannten früheren Abhandlung, 


* 


üb.d. Berhältniß der perfönt. Semeinfch. mit Chriſto ꝛc. 39 


babenheit für den Menſchen, ald wenn er (wiewohl er 
allerdings nichts zu geben vermag, ald was er felbft erft 
von Sort empfangen bat), Bott gegenüber fogar ale 
Gchender erfcheint, fid ihm in der Liebe gibt mit feiner 
ganzen Perfönlichkeit. Beide Seiten ftehen in innigiter 
BVechſelwirkung. Der Blaube if das Erfte. Ohne ihn 
{iR keine Gemeinſchaft mit Ehrifto, mit ihm aber ift fie 
wirklich bereit au da, fo daß dur ihn der Menſch 
Ades hat, was Ghrifti if. Aber die Liebe ift die noth» 
wendige andere Seite deſſelben, die nicht ausbleiben kann, 
wo er wirklich Sache ded Gemüths, alfo der innerfien _ 
Gefammtperfönlichkeit, nicht bloß des Verſtandes oder 
formellen Willens ift. Ja fie kann fo wenig außbleiben, 
daß fie ihm vielmehr, wie wir gefehen haben, keimlich 
ſchon inne liegt. Deßmwegen, wie die Liebe aus dem 
Stauden fort und fort ihr Leben nimmt, fo Eräftigt, ver⸗ 
inmerlicht und befefligt fih auch der Glaube durch Die 
Liebe, bis er endlich, wenn alle Stadien irdifcher Ent⸗ 
widelung durchlaufen find, als befondere Vorfiufe vers 
ſchwindet und, da jenfeits mit der relativen Kerne Got⸗ 
ted auch feine Unfichtbarleit, Die des Glaubens Gegen⸗ 
Rand ift cHebr. 11, 1.), für den Menfchen aufhört, als 
wirkliches Schauen in der höchſten Stufe der Gemein: 
fhaft, der Liebe, völlig aufgeht (1 Kor. 13). In gleis 
der Weife aber bedingen fid auch auf beiden Stufen, 
bed Blaubend und der Liebe, die negative und bie poſi⸗ 
tive Seite. Der Glaube fann nie der Buße (der evan⸗ 
gelifchen , nicht der gefeßlichen, über welche, als bloße 
Borbereitungemacht, ber Bläubige vielmehr hinauskom⸗ 
men kann und foll) ermangeln, wie die Liebe immer mit 
Gelbfiverleugnung wird verbunden bleiben, fo lange die 
angeborne Selbftfucht im Menfchen nicht völlig getilgt iſt. 
Dagegen muß die Buße allezeit in ben bie Gnade ergreis 
fenden Glauben übergehen und die Selbflverleugnung 
aus der Liebe fich erfüllen, wenn ber Menſch im Leibe ſich 


. 


32 Schöberlein 


berfelben von ber verfchiedenen Stellung der Perſoöͤnlich⸗ 
keiten innerhalb der Bemeinfchaft bedingt, Wohl ift es 
immer ein Act der Demuth, eine Selbfidemüthigung gegen 
unb zu dem Andern, die ich in der Theilnahme an ihm 
übe. Aber es ift ein .Andered, wenn ich als der Stärfere 
an der Schwäche, und ein Anderes, wenn ich ald der 
Schwächere an der Stärfe des Andern Theil nehme, fle 
in mein inneres und äußeres Leben aufnehmend. Jenes 
begegnet und in ben verfchiedeuen Stufen der Herab- 
lafjung der Eltern zu dem Rinde von der leiblichen Pflege 
an bis zum Mitgefühle mit feiner Sündenfchuld, dieſes in 
den verfchiebenen Stufen vertrauensvoller Ueberlaffung 
des Kindes an die Eltern bis zum Glauben an ihre ver» 
gebeude Liebe. In noch höherem Maße muß biefer Unter: 
fchied heraustreten, wenn das Berhältniß von Haupt und 
Glied fi zu dem von Schöpfer und Geſchoͤpf fleigert, 
vollends aber, wenn die Schwäche bed Geſchoöpfs fogar 
‚in Sünde und Leid übergegangen if. Haben wir nun 
bei Bott feine Theilnahme an unferm Leben ald Barm⸗ 
herzigkeit erkannt, fo ſtellt fich unfere Theilnahme an 
Gottes Leben als Glaube dar. 

Unſere Beziehung zu Gott ruht durchaus auf Stan 
ben. Denn dba Gott der Schöpfer und Grund unfers 
gefammten Wefens ift, fo kann unfer perfünliches Leben 
fih gar nicht entwideln, wenigſtens feiner Beſtimmung 
gemäß fi nicht entwideln, wenn wir nicht mit voller 
Hingabe unferd Gemüths Gottes Leben in das unfrige 
hereinziehen. Aus diefem Grunde ift und der Glaube in 
der Form eines unmittelbaren Wiſſens und bedürftigen 
Berlangend uach oben bereits eingeboren. Doch bildet 
er als folcher nur die Baſis für eine freie Selbſtbezie⸗ 
bung des Menfchen. Denn der Blaube ift, wiewohl 
allerdings Gottes Werk in und — denn ohne thatkräftis 
ges, unfer Inneres neubelebendes Einfenten der göttlichen 
Liebe in unfer Herz durch den heiligen Geift würden wir 


uͤb. d. Verhaͤltniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 33 


nimmermehr der Gnade glauben können, — fo doch zu» 
gleich auch freie, felbfleigene That des Menſchen, welcher, 
von der eigenen Ohnmacht im Innern überführt, al fein 
Leben binfort nur aus Bott fchöpfen will, Und wiederum 
iR er nicht bloß Sache einer einzelnen Seite im menſch⸗ 
lihen Weſen, wie des bloßen Verſtandes und ber Ueber⸗ 
jengung, d. h. nicht ein bloße Fürwahrhalten göttlicher 
(Held ») Wahrheit, wozu die Fatholifche Kirche, indem 
fie dad Heil des Einzelnen von feiner Bemeinfchaft mit 
der Kirche, flatt von der mit Ehrifto, abhängig macht, 
verleitet wird und dann allerbings zu einer Ergänzung 
beffelben durch Werke fich genöthigt flieht, fondern der 
Glaube ift, wie unfere Kirche, wenn fie Erfenntniß, Bei⸗ 
fall und Zuverficht feine Theile nennt, richtig erfannt 
bat, eine Sache der innerſten Perfönlichleit, des Ger 
müthd, in welchem die übrigen Seelenkräfte, wie oben 
gezeigt worden, fämmtlich- als in ihrem lebendigen Grunde 
wurzels. Eben deßhalb aber kann ed auch dem Slauben, 
weil Gleiches wieder Gleiches fucht, noch nicht genügen, 
nur eine einzelne Seite des Weſens Gottes zu fallen, wie 
feine Macht oder Weisheit, fondern er ift nur dann ein 
wahrer , lebendiger, wenn er in Gottes Herz einbringt, 
wenn er das innerfie Wefen Gottes, wenn er feine Liebe 
faßt. Der Blaube if ein eingehendes, in fid 

faugende® Hinnehmen der Liebe Gottes ing 
Gemüth. Wie der Abfall ded Menfchen damit begonnen 
hat, daß er in Mißglauben Gott Lieblofigkeit, Verkur⸗ 
jung der eignen Perfönlichkeit (Gen. 3, 5. 6.) zutraute, 
fo tritt die Wiedereinigung mit Gott damit ein, daß er 
ihm alle Liebe zutraut und die Erfüllung der eignen Pers 
fönlichFeit aus ihm nimmt. So finden wir den Glauben 
ſchon im alten Teftament ald Lebenselement der From⸗ 
men, weil dad Erbarmen der göttlichen Liebe, unmittelbar 
nah dem Sündenfall eintretenb und das unendliche Der» 
derben zurüdhaltend, auch im alten Teftamente bereits 

Theol, Sud, Jahrg. 1847. #8 


34 Schöberlein 


in finfenmweife bellerem Lichte nnd wachſender Kraft fidı 
offenbarte. Auch dort hatte der Fromme fein Leben darin, 
daß er, das Bertrauen auf eigne Weisheit, Kraft und 
Wurdigkeit aufgebend, in die jededmalige, feiner gefchicht- 
lichen Stufe entfprechende göttliche Liebesoffenbarung 
einging (vgl. die Erempel ded Glanbens im 11. Kap. 
des Hebräerbriefed). Rur ift, während hienach der Glaube, 
als Lebensbewegung bes innern Menfchen gefaßt, im 
alten Xeftamente allerdings nicht andrer Art ift, als im 
‚neuen, und auch dort ſchon den Weg bildet, aus dem 
Geſetzesſchrecken in Gott fih zu finden, bie Offenbarung 
der Liebe Gottes in Ehrifto, in welchem bie bloße Ver⸗ 
heißung zur Erfüllung geworden, und fomit auch ihre 
Wirkung auf dad Gemüth ded Menfchen doch eine fo 
fpecififh nene, daB ber Größte bes alten Teſtamentes 
immerbia noch Heiner ift, al& der Kleinſte im Reiche Got: 
ted. Denn dadurch erfi, daß Gott ſich ganz, mit feiner 
ungetheilten Liebesfüle an den Wenfchen hingegeben hat, 
kann der Menſch auch Gott ganz erfaffen und alles Be⸗ 
bürfniß für fein geifliged Reben aus ihm hinnehmen; 
dadurch erſt, daB Gott in der Menfchwerbung perfönlich 
mit dem Menfchen in Gemeinfchaft getreten ift, kaun auch 
der Menfh, von dem aus GChrifto ausgehenden hei⸗ 
ligen Geifte im innerftien Grunde feiner Perfönlichkeit er» 
griffen, wahrhaft und ganz in perfönliche Einigung mit 
Gott treten. So ift der wahre, lebendige hrif 
lihe Slaube ein Liebesleben der Seele mit 
Ehrifto, zwarnurnod in Form ber Neceptivität, 
aber doch, da ja dad Berwandte nur vom Verwandten 
ergriffen werden kann und bie Energie ded Verwandt, 
ſchaftszuges zu Gott ſelbſt ſchon Liebesregung ift, ein 
wirkliches Liebesleben a). Wie ich in der Buße an bem 


a) In dem an ſich völlig berechtigten Streben, menſchliches Ver: 
dienft gänzlich auszufchließen, bat bie ältere Dogmatik diefe 


⸗ 


uͤb. d. Verhaͤltniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 35 


far mich übernommenen Leiden Ehriſti Theil nehme, fo 
im Glauben an feinem für mich errungenen Leben ea). 
Dort geht die Liebe Ehrifti in Korm des Schmerzes, bier 
in Form der Freude in meine Seele ein. 
Buße und Glaube als theilnehmende Seite in ber 
Gemeinſchaft des Sünderd mit Gott bilden aber nur die 
Berfinfe für eine höhere Selbftmittheilung. Denn went 
dad Ich dem Ich, hier fpeciell die Seele Gott durch 
Theilnahme, Inſichnahme feines Lebens ſich ihm verwandt, 
oder vielmehr ihre urfprüngliche Verwandtfchaft mit ihm 
wieder lebendig gemacht hat, — wie Fr. v. Baaber trefs 
fend fagt: „Der Glaube öffnet, feßt in Rapport, macht 
einer fremden Perfönlichkeit theilbaftig” —, fo liegt nun 
fein Hemmniß mehr zwifchen inne. Und fle vermag mun 
Gott nicht mehr bloß das zu geben, was ihm auf Grund 
feiner individuellen Würde und feiner Stellung im Gans: 
zen der Gemeinfhaft gebührt, wobei fie aber fonft noch 
gauz im ihrer felbfifchen Abgefchloffenheit gegen ihn ver- 
harrte, fondern fie kann ſich ihm nun mit ihrem innerften 
Leben zum Opfer und Eigenthume geben, ſich m ungetheils 
sem Maße mit ihm einigen. 


— — ——— 





Immanenz des Liebesmomentes im Glauben nicht genug aner⸗ 
kannt. Von neuern evangeliſchen Theologen aber iſt es geſche⸗ 
hen; vergl. J. Müller (Lehre von der Bünde. J. S. 115.): „Auch 
der Glaube im eigenthümlich chriſtlichen, namentlich pauliniſchen 
Sinne des Wortes muß als ein Moment im Begriffe der Liebe 
zu Gott erlannt werden; benn es iſt ein &icherfchließen bes 
Gemüthe für bie - zuporfommende göttliche Liebe und Gnade 
weidyes ja ſelbſt offenbar eine Weiſe der Liebe zu Gott ift.” 
Nitz ſch (Syſtem, S. 283.): „Im Glauben Fann ein gewiffes Eles 
ment ber Liebe, nämlid Wahrhaftigkeit, Demuth, Verlangen 
und Selbftverleugnung nicht fehlen.” So nennt audy Schleier- 
macher den Glauben eine Sache ber anfchauen wollenden Liebe, 
a) Damit ift nicht gemeint, daß ber Glaube das Leiden Iefu- nicht 
andy zu feinem Objecte habe, Aber im Glauben lebt ber Menſch 
nicht das Leiden im Leiden nach, ſondern die erloͤſende Macht, 
welche darin für ihn liegt. er 


a 


36 Schöberlein 


Doch hat auch diefe höhere Selbftmittheilung, gleich 
wie wir’ bei der Theilnahme, durch welche fie vermittelt 
wird, gefehen haben, erft einen Gegenfag zu überwinden, 
der durch die Sünde hereingefommen if. Wie nämlich 
die Sünde in falfcher Theilnahme ihr Weſen hat, indem 
ber Menfch die Befriedigung feiner perfönlichen Bebürfs 
niffe aus fich felbft, ftatt aus Gott, fchöpfen zu können 
meint und wirklich fchöpft, fo befteht fie auch in falfcher 
Selbftmittheilung, indem er, ftatt Gott zu leben, ſich ſelbſt 
lebt. Und wie die wahre Theilnahme an Gott im Glau⸗ 
ben nicht anders möglidy wird, ald daß der Menſch in 
Buße von dem falfhen Glauben an fich felbit fich los⸗ 
mache, fo auch die Selbftmittheilung an Gott nicht ans» 
dere, als daß er das falfche Sichfelbftleben in der Selb ſt⸗ 
verleugnung aufgebe, Gleichwie aber Die Buße den 
innerftien Grund des Herzens nicht umzuwandeln vers 
mag, fo lange der Menfch noch unter Dem Gefeße, noch 
allein, losgeriffen von Gott und Gott bloß gegenüber 
flieht, fondern erft durch die gliedliche Leidendgemeinfchaft 
mit dem für unfere Sünde leidenden Haupte Ehriftus zu 
einer lebendigen, innerlichen und umwandelnden wird, 
"fo ift ed auch bei der Gelbfiverleugnung. Wohl findet 
fi) bereitd im alten Teſtamente eine Art Belehrung, eine 
Abkehr von fich ſelbſt und Zukehr zu Gott, welche im 
Berhältniffe zur damaligen Stufe der Liebesoffenbarung 
Gottes an die Menfchheit eine relative Vollkommenheit 
bei den Gläubigen haben konnte. Aber fo lange Gott 
noch nicht in .felbftaufopfernder Hingabe fein ganzes Herz 
gegen die Menſchen eröffnet hatte, konnte auch der Menſch 
noch nicht im innerften Grunde des Herzens von fidh ſelbſt 
frei werden. Denn da Selbfimittheilung das wefentliche 
Leben des Herzens it, und es ohne bielelbe nicht einen 
Augenblid verharren kann, fo muß auch bie Berlengnung 
feiner felbft, wenn fie eine wahre feyn fol, zugleich ben 
ECharafter der Gemeinfhaft an fich nehmen. - Dieß ges 


6. d. Verhältniß der perfönl, Gemeinſch. mit Ehriftosc. 37 


fhieht, wie bei der Buße, durch die Gemeinfchaft mit 
Chriſto. Wie wir jene ein Liebesleiden der Seele mit 
Ehrifto genannt haben, fo ift’d auch bei der wahren 
Gelbftverleugnung. Sie ift, was, die heilige Schrift nennt: 
ein Sterben, ein Begrabenwerben mit Chrifte. Während 
ich in der Buße jenes Liebesleiden Ehrifti theile, in wels 
dem er meine Bünde fi hat zu Herzen dringen und 
ihren Fluch über ſich ergehen laffen, fo in der Selbſt⸗ 
verlengnung (Matth. 16, 24.) dasjenige, vermöge deſſen 
er, das in der Verſuchung, weldye auch an feinem wahrs 
haft menfchlidhen Selbft eine reelle Moͤglichkeit der Ans 
knüpfung hatte, fich ihm entgegendrängende Kigenleben 
zurückweiſend, zugleich feine mit unferer Schuld deladene 
Derfönlicykeit in jede Schmach und feine ganze, mit ben 
Folgen unferer Sünde behaftete Natur (adpE) in jedes 
Leiden, ja in den Tod felbft dahingab (Röm. 6, 10. 
1 Betr. 3, 18. Röm. 8, 3). So fterbe ih in meiner 
Semeinfhaft mit ihm mir ſelbſt, d. h. meinem falfchen, 
von Gott losgeriſſenen Selbft, dem Kleifche ab. 

Aber dieſe Gemeinfchaft des Sterbens führt noth- 
wendig zur Gemeinfchaft feiner Auferficehung (Rom. 6, . 
4—11,) und feines Lebens. Wie Chriftus die odgE in den 
Zod gab, damit das wahre Leben in ihm, das mvsüug, 
zur Erfcheinung fomme, fo flerben auch wir in der Ge 
meinfchaft Ehrifti ung felbft nur ab, damit in ihr unfer 
wahres Selbft ausdem Tode, dem Scheinleben der Sünbe - 
erfiehe und dad zveüue in ung herrfchend werde (Nöm. 
6, 5.). Da wir aber nun ald Bild Gottes zu feiner voll 
Fommenen Gemeinſchaft gefchaffen find, fo lebt unfer Ich 
dann eben erft wahrhaft, wenn es in diefer ſteht. Dieß 
sefhieht nun durch die Liebeseinigung mit Chrifto, dem 
umfchgewordenen Sohne Gottes. Und fo if die Eini- 
gung der Liebe mit Ehrifto, welchem nun bes Sünders 
ganzed Herz gehört und fein ganzer innerer Menſch 


sul 


38 Schöberlein 


lebt (2 Kor. 5, 15.), bie lebte, hödhite Pie ber Gemein⸗ 
ſchaft mit Gott a). 

Aus diefer Entwidelung erhellt, daß der Weg des 
Heils für den Sünder kein anderer ſey, als den 
ganzen irdiſchen Kampfes» und Siegeslauf 
Chriſti durch Tod und Auferftehung hindurd 
vermögedervolllommenen Selbfihingabe des 
inwendigen Menfhen an ihn ihm nadhzuleis 
den und nadhzuleben, und daß mithin die unio 
mystica nicht bloß Schlußpunft, fondern zugleich Aus⸗ 
gangepunft und währendes, fort und fort wachfendes 
Moment im ordo salutis fey, in welchem alle übrigen 
Zuͤſtaͤnde chriftlichen Lebens nur einzelne Seiten und Er⸗ 
fheinungsweifen bilden. Bußfertiger Glaube und 
felbftverleugnende Liebe find ihre zwei Grund⸗ 
feiten. Wie alled Leben der Gemeinfchaft im gegen⸗ 
feitigen Nehmen und Geben befteht, fo auch bier. Im 
Glauben nimmt bie Seele alle Xiebesfülle aus Gott, um 
in der Liebe fih Gott ganz wiederzugeben. Und wie 
Gott in feiner Barmherzigkeit gegen den Sünder ſich 
berabneigt und bherabläßt, fo fehr, daß er felbft deflen 
Natur annimmt, fo ift auch der Glaube, worin ja der 
Menſch bekennt, daß ihm ſelbſt Alles fehle, in Gott aber 
Alles für ihn liege, der Act der tiefften Demuth gegen 
Gott, Dagegen gibt es Feine herrlichere Stufe der Er: 


a) Hier, wo wir von ber Gemeinfchaft bes Menſchen mit Gott 
reden, nennen wir nur bie höchfte Stufe berfelben Liebe, weil 
im Gemüthe bes Menfchen ein wirkliches Auseinander und Nach: 
einander jener Stufen flattfindet. Anders bei der Gemeinfchaft 
Gottes mit bem Menſchen, weil Bott gegen jeden Menfchen in 
jedem Momente ganz Liebe ift und nur um bes Menfchen felbft 
willen in feiner Gelbftmittheilung ſich befchräntt: bei ihm ift 
auch die niedrigere Stufe Ausfluß der Liebe felbfl. Darauf 
beruht der Unterfchied des Gebrauchs vom Wort „‚Liebe” in 
diefer und der genannten früheren Abhandlung. 


ub.d. Berhältniß ber perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 39 


habenheit für den Menſchen, ald wenn er (wiewohl er 
allerdings nichts zu geben vermag, als was er felbft erft 
von Bort empfangen bat), Bott gegenüber fogar ale 
Gebender erfcheint, ſich ihm in der Liebe gibt mit feiner 
ganzen Perfönlichkeit. Beide Seiten ſtehen in innigfter 
Wechſelwirkung. Der Glaube if das Erfie. Ohne ihn 
if feine Gemeinſchaft mit Ehrifto, mit ihm aber ift fie 
wirklich bereit6 auch da, fo daß durch ihn der Menfch 
Alles hat, was Chriſti if. Aber die Liebe it bie noth⸗ 
wendige andere Seite deſſelben, die nicht ausbleiben kann, 
wo er wirklich Sache ded Gemuths, alfo der innerften _ 
Gefammtperfönlichkeit, nicht bloß des Verſtandes ober 
formellen Willens if. Ja fie kann fo wenig ausbleiben, 
daß fie ihm vielmehr, wie wir gefehen haben, Feimlich 
ſchon inne liegt. Deßwegen, wie bie Liebe aus dem 
Slauben fort und fort ihr Leben nimmt, fo Eräftigt, ver⸗ 
immerlicht und befefligt ſich auch der Blaube durch bie 
Liebe, bis er enblich, wenn alle Stadien irdifcher Ent» 
widelung durchlaufen find, ald befondere Vorftufe vers 
ſchondet und, da jenfeits mit der relativen Kerne Bots 
tes auch feine lnfichtbarkeit, die des Glaubens Gegen, 
Ran» iſt (Hebr. 11, 1.), für den Menfchen aufhört, ale 
wirkliches Schauen in der höchften Stufe der Gemein: 
fhaft, der Liebe, völlig aufgeht (1 Kor. 13.). In gleis 
her Weife aber bedingen ſich anch auf beiden Stufen, 
des Blaubend und ber Liebe, die negative und die poſi⸗ 
tive Seite. Der Glaube kann nie der Buße (der evan⸗ 
gelifchen , nicht der gefeßlicdhen, über welche, als bloße 
Berbereitungsmacht, der Gläubige vielmehr hinauskom⸗ 
men kann und fol) ermangeln, wie die Liebe immer mit 
Gelbfiverleugnung wird verbunden bleiben, fo lange die 
ageborne Selbfifucht im Menfchen nicht völlig getilgt ift. 
Dagegen muß die Buße allezeit in ben die Gnade ergrei⸗ 
fenden Glauben übergehen und die Selbfiverleugunng 
and der Liebe ſich erfüllen, wenn ber Menſch im Eeide ſich 


S 


40 Schoͤberlein 


nicht aufreiben ſoll. Ze mehr jedoch die Seele an Glanben 
und Liebe wächſt, deſto mehr gewinnt die Buße und 
Selbſtverleugnung an Innerlichkeit, Freiheit und Tiefe. 
Und fo geht die Buße immer mehr in der kindlichen Zus 
verfiht ded Glaubens und die Selbfiverleugnung in ber 
reinen Macht der Liebe auf, bid endlich mit der völligen 
Zilgung ber Sünde und ihrer Kolgen im ewigen Leben 
die unio mystica in unbefchränfter Seligfeit und Herr 
lichkeit mit Gott beftehen wird. 

Durch diefe Lebendgemeinfchaft des Sünders mit 
Gott in Chriſto, welche, mit dem Glanben hienieben bes 
ginnend, jenſeits zum volllommenen Schauen Gottes fi 
vollendet, iſt offenbar eine dDurchgreifende Veränderung, 
eine völlige Umwandlung und Neubilbung geſetzt. Deun 
im Gegenfage gegen ein früheres Eavro Erw ift ein Hsa fnv 
eingetreten, Die Selbfiheit, welche durdy die Sünde aus 
ihrer gottgewollten Latenz hervorgetreten und baburdh, 
daß fie Zwed und Ziel dem Menſchen geworden, in gott« 
widrige Selbfifucht umgefchlagen war, ift durch Buße 
und Gelbfiverleugnung wieder in ihre dienende Stellung 
zurüdgedrängt und dagegen durch Glaube und Liebe die 
Gemeinfchaft, und zwar nicht die Gemeinfchaft mit irgend 
einer einzelnen creatürlichen Perfönlichkeit, fondern mit 
dem Lebendgrund und Urbilde des eignen Lebens, von 
welchem aus auch alle andern Berhältniffe des Gemein, 
lebens ihre normale Stellung erhalteu, als beherrfchendes 
Motiv wieder zu ihrem urfprünglichen Rechte erhoben 
worden, Auch ift dieß nicht in einer einzelnen, etwa 
entlegenen Seite des perfönlichen Lebens gefchehen, fon» 
dern in feinem concreten Mittelpunfte, dem Gemüthe, in 
welchem jede die Fülle der Perfönlichkeit begründende 
Lebensbewegung ein», und jede der Perfönlichkeit wahr⸗ 
haft eigene Rebensbewegung aus: und beſtimmend auf die 
übrigen Bermögen derfelben übergeht (Röm, 5, 5. Apoſtelg. 
16, 14, vergl. mit Eph. 4, 23.). So ift die Lebens⸗ 


ab.d. Verhaͤltniß der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 41 


gemeinſchaft mit Ehriſto ein duewdtcasda, zöv zaladv 
&do0xov unb Zvödcacdas vöv viov, fit die Wiederher⸗ 
Relung der durch die Sände verlornen Bottedebenbilds 
lihteit, welche ja, während wir ihre fnbftantiele Seite 
(unverlierbared Ebenbild) in der Perfönlichkeit erkannt 
haben , nach ihrer habituellen (verloreues Ebenbild) in 
der allfeitigen Lebensgemeinfchaft mit Bott nach Herz, 
Geiſt und Sinn befieht; der Menfch iſt dvaxamvouusvos 
zur’ eixbva vo xılaavrog adrdv, iſt eine nam welaıs ges 
worden. Die heilige Schrift nehnt dieſe völlige Um: 
wandinng: Wiedergeburt; als freie That des Men, 
fchen gefaßt, iſt's Belehrung. Das fiete Wachsthum 
dieſes gegen die Bergangenheit abgefchloffenen, gegen bie 
Zutunft aber in finfenweifer Eutwidelung begriffenen 
Zufandes (vergl. die Yorifte xrıodevr« und Ivsducachs 
in Eph. 4, 24. Gal. 3, 27. mit 2 Kor. 4, 16.) bezeichnet 
fe mit: Erneuerung a). 
Die perfönlihe Gemeinfhaft mit Ehrifto, vollzogen 
im Gentralvermögen der Perfönlichkeit, im Gemüth, 
offenbart num ihre Kraft auch in den Abrigen Vermögen 
derſelben. Wir haben ihrer oben drei erfannt: Vernunft, 
Gewiſſen und Wille. Es fteht mithin die geiftig » intellecs 
tnele, inridifche und moralifche Entwidelung des Men⸗ 
ſchen unter dem belebenden Einflufle der Bemeinfchaft mit 
Ehriko und ift in jener nur fo viel hriftlihe Wahr» 
beit, ald Diefe darin lebt und waltet. Wenn die göttlichg 
Liebe, indem fie, Menſch werbend, die Lebens» und Leis _ 


a) Es ift bier nicht der Ort, darzuthun, wie dieſe geiftige unio mit 
Ehriſto zugleich von einer leiblichen begleitet ifl, die mit ber 
Biedergeburt beginnt und mit der Erneuerung wädft, bis fie in 
jenen Leben ſich vollendet. Darauf fey nur nebenbei hingewiefen, 
dafs für biefe leibliche Einigung bie Sacramente ihre Bedeutung 
haben, bie Taufe für ihren Beginn in ber Wiedergeburt, das 
Abendmahl für ihre Bortfegung in der Erneuerung. 





42 Schoͤberlein 


densgemeiuſchaft mit dem fündigen Menſchen vollzieht, 
als Offenbarung, Verſöhnung und Erlöſung 
zugleich in die Welt tritt; um die dreifache Wirkung ber 
Sünde: Berfinfterung, Schuld und Kucchtichaft, principiell 
aufzuheben, d. h. wenn Chriſtus der (Rechter) Weg, die 
Wahrheit und das Leben für die Welt ift, fo muß er 
auch dem einzelnen Sünder, wenn berfelbe, die in ibm 
erfchienene göttlihe Gnade in fein Herz fafiend, perfön: 
lich mit ihm fi einige, Licht, Recht und Kraft, d. h. 
Princip der Erleuhtung, Rechtfertigung und 
Heiligung zugleich (1 Kor. 1, 30.) werden. Ohne aber 
in diefer Gemeinfchaft mit Ehrifto zu ftehen, befindet ſich 
der Menſch noch in Finſterniß, Schuld und Kucchtfchaft 
der Sünde. - 

Was die erfte diefer drei Wirkungen, nämlich bie auf 
die Erfenntniß, anlangt, fo Tann man fagen, daß 
fchon von der allgemeinen Offenbarung Gottes in der 
Natur eine wahre, lebendige Erkenntniß nicht möglich 
fey ohne tiefered Leben ded Gemüths. Denn in allem 
GSefchaffenen waltet ein Liebesgefeß: in der Blüthe und 
Frucht des Baumes, im Zuge bed Steins nad) der Erbe, 
im Umfhwunge der Erde um die Sonne. Und wer bie 
Macht und das Gefeß der Liebe nicht darin erkennt, der 
mag wohl ein formelles Willen von der Erfcheinung har 
ben, aber Einſicht in das eigentliche Leben und Weſen 
der Dinge hat er nicht. Diefe befißt der Dichter, welcher 
im Raufchen ded Windes durch die Blätter des Baumes 
eine geheime Sprache und eine Freude oder Trauer ber 
Natur vernimmt, viel mehr als der Chemiker und Phy⸗ 
fiter, weldyer bloß von Stoffen und tobten Gefeßen weiß, 
Diefed allgemeine Gefeh, daß dad Verwandte nur vom 
Berwandten könne erfannt werden, gilt in ungleich höhes 
rem Maße noch von der Erkenntniß menfchlicher Sünde 
und göttlicher Gnade. Daß dem Gottlofen für das Weſen 
beider die Augen verfchloffen find, daB and) der, welcher 


üb, d. Verhältniß der perfönl. Gemeinſch. mit Chriſto ıc. 43 


bloß die Stimme des Gewiſſens und die Auctorität des 
Geſetzes kennt, nur den formellen Widerfpruc in ber 
Gände fieht, nicht ihr inuered Verderben von Glaubens⸗ 
und Lieblofigkeit, nnd in der göttlichen Liebe nur bie 
Majeftät ihres Rechts, nicht die Demuth ihres Erbar⸗ 
mens, bedarf feines Beweifed, Aber auch wenn Jemand 
Durch das Wort ded Evangeliums Über die göttliche Heils⸗ 
öfonomie belehrt worden ift, jedoch dieß Heil nicht andh 
für fidy im Herzen ergriffen hat, fo fehlt ihm zwar nicht 
jenes Map der Einfiht, welches ihn bewegen fünnte und 
folte, der Sünde abzufagen und der Gnade Gottes fidh 
zu ergeben, allein erft wenn er mit gläubigem Liebes⸗ 
fune Chriſto in fein Leiden nachgegangen und felbft dar, 
über betrübt geworden, die göttliche Liebe bis in ben 
Tod gebracht zu haben, lernt er die ganze Tiefe der 
Schuld und das eigentlichſte Wefen der Sünde erfennen. 
Defgleichen bleibt ihm bei aller möglichen theoretifchen 
Kenntniß das innere Leben und die volle Herrlichkeit der 
göttlichen Liebe fo lange verborgen, ald er nicht Diefer 
Liebe ſich felbft ergeben und ihre felige Macht am eignen 
Herzen erfahren bat — wie denn auch die heilige Schrift 
die Erleuchtung als eine Sache des Herzens auffaßt 
(2 Kor. 4, 6.) und unter Zulyvodıs ein auf Erfahrung 
rubendes Erkennen verfteht. Sa, wenn der Sohn Bots 
ted, in welchem Gott, gleichwie er in ihm die ewige Lies 
beöoffendarung feiner ſelbſt hat, fo auch den ganzen 
Rathſchluß feiner Liebes offenbarung an die Menfchheit 
durh Schöpfung und Erlöfung von Ewigkeit gefaßt und 
in derzeit verwirklicht hat, vermöge unferes Glaubens in 
yerfönlihe Gemeinfchaft mit uns tritt und dadurch auch 
ir den inneriten Grund unferes gefammten Geiſteslebens 
als felbftmitcheilendes Princip eintritt, fo muß und in 
anferm Geifte dadurch nicht bloß die lebendige Erkennt⸗ 
niß des Heils aufgehen, fondern es ift und damit zugleich 
dad Princip aller wahren Erkenntniß Gottes und fein." 


44 Schoͤberlein 


Dffenbarung in der Ereatur überhaupt gegeben. Als 
Bott den Menfchen nach feinem. Bilde fchuf, hat er ihm 
die ganze Welt feiner eignen ewigen Ideen, wenn zwar 
nur in creatürlicher Abbildlichkeit, fo doch in lebendiger 
Geifteswahrheit eingepflanzt, die aus ihrer erft noch keim⸗ 
lichen Eriftenz cwie fie ja jede Idee hat) zu immer helles 
rer Entfaltung übergehen follte, je tiefer durch die wach: 
fende Freiheit und Innigkeit des Liebesumganges mit 
Gott das Geiſtesleben Gottes in das ded Menfchen eins 
gehen konnte. Nachdem nun durch die Sünde hierin eine 
Hemmung, ja Berfehrung und Zerrättung eingetreten ifl, 
wird jenes urfprängliche Verhältniß auch durch denfelben 
Sohn, in und zu welchem wir gefchaffen find, wieder 
hergeſtellt, und je inniger wir und mit ihm durch den 
heil. Geift, der das Werk Chriſti und perfönlich eigen 
macht, verbinden, befto heller geht in Kraft dieſes Got⸗ 
teögeiftes (I Kor. 2, 20.) unferem Geifte die ganze, im 
Sohne offenbare Tiefe göttlichen Weſens nnd göttlicher 
Delonomie auf (Eph. 3, 16—19.). — Gleicherweiſe thut 
fih die perfönliche Bemeinfchaft mit Ehrifto auch im Ges 
wiffen fund, indem durch fie nämlih die rechtliche 
Stellung des Menfchen zu Gott eine andere wird. 

Im erftien Momente der Liebedbewegung Gottes ges 
gen den Sünder kann diefer, wie oben gezeigt worden, 
‚da die göttliche Liebe jeder Liebesbewegung bed ‘Mens 
fhen zuvorkommen muß, nur paſſiv fich verhalten. Er er; 
fährt Schuld und Strafe ohne, ja wider feinen Willen. 
Die einzige Wirkung davon im Gemüthe des Sünderd 
fann die feyn, daß er biefe abfolute Auctorität der Stel» 
lung Gottes gegen ihn anerfenne, fein Unrecht beflage 
und dem Gerichte Gottes fi unterwerfe, — daß er Gott 
Recht gebe. Dieß ift der Standpunft des Geſetzes, dieß 
das Nechtsverhältniß der burch Theilnahme noch nicht 
vermittelten Gemeinfchaft des Sünderd mit Gott. 

Aber Die göttliche Liebe will ihn zu einem höheren, 


ib. d. Verhaͤltniß der perſonl. Gemeinfch. mit Chriſto ꝛc. 45 


volleren, freieren Rechte leiten. Dieß kann nur geſchehen 
durch das Betreten der höheren Gemeinſchaftsſtufe, die 
und in Chriſto eröffnet iſt. Yu ihm, dem perſoͤnlich er⸗ 
fhimenen Gnadenrechte Gottes (er. 23, 6. 2 Kor. 5, 21.) 
muß der Sünder Theil nehmen, wenn er felbft zu wahs 
rem Rechte vor Gott gelangen wil. Gleichwie im 
menfchlichen Staate alled. Recht auf der natürlichen Ges 
burt (und der von ba bedingten Entwidelung bes natlirs 
lichen Lebens) ruht, fo im Reiche Gottes auf der Mies 
dergeburt (und der von da ausgehenden Entwidelung 
des geiftlihen Lebens). Es möchte auffallen, wenn nun 
gefagt wird, daß auch hier noch der Menfch die Strafe 
für feine Sünde trage. Doch aber iſt es, recht verflans 
den, alfo. Denn wenn die Theiluahme an Ehrifto fich 
nicht anders vollziehen kann, ald durch Theilnahme au 
feinem Liebesfchmerz über unfere Sünde, d. h. nicht ans» 
ders ale in der Buße, was ift diefe, da jenes Leiden 
Ehriki, juriſtiſch betrachtet, das Aufſichnehmen unferer 
Squld und Strafe if, anders, ald das Erleiden nnferer 
Sündenſchuld und Strafe in der Korm eines Mitleidens 
mit Shrifio! Sa, hier erft kommt die Strafe zu ihrer 
wahren Erfüllung. Denn wenn dad Weſen derfelben 
barin beſteht, daß für eine wider dad Geſetz des Gemein⸗ 
iebend verurfachte Störung dem fchuldigen Bliede dies 
felbe vom Haupte in rüdwirkend empfindlicher Weife zur 
Erfahrung gebracht, d. h. ihm ein entfprechendes Aequi⸗ 
valent des Leidens (als rechtliche Reaction bed Gemein, 
lebens) auferlegt werde, fo finden wir dieſes wahrhaft 
anögleihende Aequivalent für Die Sünde eben erfi in der 
Buße. Da nämlih die Sünde nicht bloß Außere That, 
ſendern aus dem Herzen gekommen ift, fo Tann äußeres, 
es ſey geiſtiges oder leibliches, Leiden nicht genügen: 
die rechte Strafe muß im innerften Grunde der Seele 
rrütten werden. Und da die Sünde ihrem eigentlichften 
Veſen nach eine Losreißung von der göttlichen Liebe if, 


46 Schöberlein 


fo muß das Herz auch beflagen, nicht bloß überhaupt 
Unrecht gethan, fondern insbefonbere diefe Liebe beträbt 
zu haben. Selbfi extenfio wird die Strafe burch bie 
Buße volftändiger, da der Schmerz im Mitleiden mit 
Ehrifto die Sünde des ganzen Geſchlechts, für welche 
Ehriſtus gelitten, mit befaßt und die Sünde bes Einzel. 
nen doch nur im Berhältniffe zur Sefannntfünde ihre volle 
Würdigung erhält. Aber freilich iſt dieß nicht Strafe im 
gewöhnlichen Sinne des Worted. Denn während im 
äußerlichen Staatöverbande die Freiheit der Uebernahme 
bei der Strafe gleichgültig ift, iſt fle bei der wahren Ge⸗ 
meinfchaft nothwendig, weil fie, die Perfönlichkeiten im 
innerften Lebendgrunde ded Ich verbindend, ganz auf 
Freiheit ruht. Hier kann mithin die verurfachte Störung 
anr bann für aufgehoben, dad Recht des Gemeinlebens 
sur dann für befriedigt erachtet, dem Sünder nur dann 
wieder eine verföhnte Stellung zu Bott in feinem Reiche 
zu Theil werden, wenn er in freiem Schmerze gleichſam 
ſelbſt fi firafend, von feiner Sünde ſich wieder losſagt. 
Und ruht in der wahren Gemeinfchaft alles Recht fo fehr 
anf gegenfeitiger Theilnahme, daß, wenn Gott dem Süns 
der Strafe zuwendet, er felbft an fich diefe Strafe mit 
erleidet, wie Sönnte da der Sünder zu göttlihem Rechte 
wieder gelangen, wenn er nicht andy an dem Strafleiden 
dev göttlichen Liebe Theil nähme! So ehrt alfo Schuld 
and Strafe allerdings auch hier wieder, doc auf einer 
höheren Stufe ihrer Erfcheinung: ald Sache freier Lies 
beötheinahme, mithin im Vergleiche mit unferen irbifchen 
Berhältuiffen in uneigentlihem Sinne, fo daß, vom ges 
wöhnlichen Standpunkte aus angefehen, die Zurechnung 
von Schuld und Strafe vielmehr gerabezu zu verneinen 
iſt. Und im gleichen Sinne iſt ed auch zu verfichen, 
wenn ber Buße eine abbüßende, verdienftliche Kraft für 
dad Reich Gottes zugefchrieben wird, da vielmehr im 


ab.d. Verhaͤltniß der perfönt. Gemeinſch. mit Ghriflosc. 47 


Berhälmmiffe zur gewöhnlichen Bedeutung bes Wortes 
„Verdienſt“ hier Alles auf lauter Gnade ruht =). 

Doc iſt dieß nur die eine Rechtsſeite in ber Liebes⸗ 
theilnahme des Chriſten an Chriſto. Der Chriſt nimmt, 
wie oben gezeigt worben, nicht bloß am Leidenskampfe, 
fondern auch am Siege feines Hellandes, nimmt, wie im 
Schmerz, fo in Freude an ihm Theil. Iſt nun in juri⸗ 
Rifcher Faſſung fein Leiden eine Strafe an unferer Statt 
und fein ſiegreiches Hervorgehen and dem Leiden die 
Berföhnnng für uns (Röm. 4, 25.), fo wird, wenn wir 
in der Buße feine Strafe in nnfer Leben herübernehmen, 
burh den Glauben, feine Berföhnnng unfer. In ber 
Buße iſt's noch bloße Theilnahme an feinem Leiden ale 
ſolchem, im Glauben erfi empfangen wir bie Gnaden⸗ 
fraft, die für und darin liegt. Wie die Gerechtigkeit ber 
göttlichen Liebe auf ihrer höchſten Entfaltungeftufe eine 
Guadengerechtigkeit ift b), fo die höchſte Gerechtigkeit des 
Menſchen eine Glaubensgerechtigkeit. Durch den Glau⸗ 
den haben, ja find wir (2Kor. 5, 21.) in dem Geliebten, 
auf welchem Gottes Wohlgefallen ruht, die Gerechtigkeit, 
die vor Gott gilt; ohne Glanben aber ift keine Recht⸗ 
fertigung des Sünders, keine Vergebung der Süns 
deu. So fchließen ſich Strafe (im höheren Sinne) und 
Vergebung nicht aus, fondern bedingen fich vielmehr ger 
genfeitig ; und wie jede Vergebung, der nicht Strafe vor⸗ 
ausgeht oder begleitend folgt, eine abflracte und willkür⸗ 
liche if, fo entſpricht die Strafe dagegen nur dann ihrer 


a) Man wird biefer Darflellung nicht, ben Vorwurf machen wollen, 
daß mit Worten geſpielt werde. Vielmehr ift es von hoher 
wiffenfchaftlidher Bebeutung, zu erfennen, wie im Organismus 
bes Reiches Gottes Bein Moment einer tieferen Stufe auf einer 
höheren geradezu aufgehoben, fondern vielmehr in Kraft ber Liebe 
zu höherer Wahrheit erhoben werde. Rur fo kann bas Weſen 
und Leben ber Liebe und bes Reiches Gottes tiefer erfaßt werben. 

b) Bergi. Abhandlung bes Verf. über bie Verföhnung, S. 307. 


\ 





48 . Schöberlein 


Bedeutung, wenn fie (wie fie deßhalb in ihrer remunerar 
torifhen Macht zugleich pädagogifch wirkt) die bloße 
Borfiufe für die Bergebung bildet, wie Göſchel treffend 
fagt: „Strafen und doch nicht vergeben, wäre ein Ans 
faug ohne fein Ende” a). 

Aus dem Gefagten erhellt übrigens, daß bie Rechts 
fertigung nicht, wie die ältere evangelifche Dogmatik auf 
Grund äußerlihsjuriftifcher, and Deiftifche ftreifender Bor» 
fiellungen will, außer dem Menſchen, bloß in Gott vor, 
gehe. Wohl iſt's ein wirklich juridifcher Act; aber, weil 
Chriſtus felbft Cnicht bloß fein Außeres Werk) das ges 
offenbarte Gnadenrecht, die wefentlihe Gerechtigkeit für 
den Sünder ift, und Chriſtus burdy den Glauben in wahr⸗ 
haft perſönliche Einigung mit uns tritt, ein Act, welcher 
in ung felbft vollzogen wird (2 Kor. 5, 21, Röm. 8, 16. 
Hebr, 10, 22), wie Jak. Böhme fchön fagt: „Niemand 
fann die Sünde vergeben, als Chriſtus im Menfchen b); 
wo alfo Chriftus im Menfchen lebt, da ift die Abfolu- 
tion” (Bnadenw. 13, 11), und an einer anberen Stelle: 
„Chriſtus felbft iſt die zugerechnete Gnade” (Gnadenw. 
10, 37.). Doch iſt hiermit nicht dad Innewerden jenes 
Actes im Gefühle gemeint. Denn damit würde, wie un⸗ 
fere Kirche richtig erfannt hat, ber Friede der Seele auf 
den ſchwankendſten Boden gebaut, weil nicht nur übers 
haupt das Gefühlsleben etwas Wechſelndes ift, fondern 
Gott ſelbſt mit weiſem Bedachte dem Menfchen das füße 
Gefühl des Kriedens bisweilen entzieht, um feinen Glaus 
ben dadurch von Selbftfucht und Sinnlichkeit zu reinigen 
und fefter zu gründen, Gonbern indem dad Gemüth mit 
aufrichtigem Sinne Ehriftum faßt, der unfere Gerechtig⸗ 


a) Vergl. Goͤſchel's zerſtreute Blätter (S. 480.), welchen ber Verf. 
auch für diefe Abhandlung mandye Anregung verdankt. 
b) „Chriftus in uns” iſt bier offenbar nicht gleichbebeutend mit 
Heiligung. 


ib.d. Verhaͤltniß ber BR Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 49 


keit iſt, ſo tritt dieſe Gerechtigkeit — nicht bloß ee 
tive, foubern zugleich inhaesive — als eine Verſohnungs⸗ 
macht wirklich and in unfer Gewiffen ein, und ba 
bie Seele ſich darüber wohl gewiß werden kaun, ob fie 
ed mit ihrem Glauben anfrichtig meine oder nicht, fo ber 
bauptet unfere Kirche mit Recht, daß der Menſch auch 
feined Heild gewiß werden koͤnne, ob diefe ‚Sewißheit 
and für Zeiten jeder felgen Empfindung entlleidet feyn 
follte. Aber rechtfertigen kann hiernach freilich auch nur der 
Iebendige Glaube, welcher, auf einem Bedürfniſſe nach 
Liebe ruhend, felbft ein Ausſtrecken des inneren Menfchen 
sad der göttlichen Liebe if. Dagegen wo der Menſch 
das bloße But cd. h. die Entledigung von Gewiſſensangſt) 
auf jedem Wege will, und nicht zugleich bie göttliche 
kiebe felbft, welche darin ſich zu uns niederneigt — wie 
wenn ber Anßerlichstirchliche Broteftant in ſchlecht⸗juridi⸗ 
(her (nach Schleiermacher : magifcher) Weife Chriſti Ver⸗ 
denkt auf ſich Übertragen will, oder der Außerlich-firdys 
lie Katholik die Vergebung von der Kraft der Gnaden⸗ 
mittel ex opere operato erwartet — : da ift die Rechtfertis 
gang bloße Täufchung, weil der vermeinte Glaube nicht 
Sache des Gemuths ik, fondern bloßes Kürwahrhalten 
and fleifchliches Wollen, d. h. Aberglaube. 

Die perföuliche Gemeinfchaft Ehrifi erweilt ſich aber 
endlich auch als ſittliche Macht, fie ik das Princip 
aller wahren Heiligung. 

Iſt allfeitige Lebendgemeinfchaft ded Menfchen mit 
Gott Beſtimmung ded Menfchen, fo befteht feine wahre 
Gittlichleit, da Sittlichleit nichts Anderes iſt als bewuß⸗ 
tes, freied Ringen nach der eigenen Beſtimmung, darin, 
daß er, dieſe Gemeinfchaft frei wählend, alle Berhältniffe 
feines inneren und äußeren Lebens in diefelbe aufnehme. 
Dur die Selbfifucht der Sünde ift er aus dieſer Ger 
weinihaft heraudgetreten. Offenbar kann er nun dadurch 
oh nicht zur wahren Sittlichkeit Be werben, 

Tyeol, Stud. Jabrs. aan 





50 Schbberlein 


daß ihm im Geſetze bie göttliche Liebesheerlichkeit bloß 
gegenübertritt. Auf diefem Wege kann fie wohl die ihm 
eingeborene Idee feines Weſens, deren Verwirklichung 
eben feine Beſtimmung ift, zu voller Klarheit erheben, 
nicht aber fie and ihrer gegenfäglichen Stellung, bie fle 
im Gewiffen unter der Korm der Korberung einnimmt, 
in feinen perfünlichen Lebensmittelpunkt als immanente 
Kraft überführen. Dieß maß aber gefcheben; denn ber 
ethifche Wille ruht durchaus auf dem Gemüthe. Für fic 
allein kann er bloß abftracte Geſetzlichkeit leiften; aber 
die wirkliche Dahingabe des eigenen Ich an die Beſtim⸗ 
mung, bie wirkliche Erfüllung fittlichen Thund mit inne 
vem, felbfteigenen Lebensgehalte empfängt der Wille erft 
and dem Gemüthe. Wahre Gittlichkeit ift alfo nur da⸗ 
durch möglich, daß die göttliche Liebe, weiche als abfoln- 
tes @emeinfchaftsleben, wie wir ed in der Dreisperfönlichen 
Gelbftoffenbarung Gottes und in feiner Offenbarung nadı 
außen eriennen, bad Princip alles Guten ift, fi zur 
Bemeinfchaft ihm barbiete und in fein Gemüth eingebe. 
Wie num diefe göttliche Riebe in der ewigen Menſchwer⸗ 
bung des Sohnes, abgefehen felbR von ber Sünde, dad 
Urbild ift, in umd zu welchem der Menſch gefchaffen und 
an weichem zu ſittlicher Entwickelung und Vollendung fich 
zu erheben ded Menfchen Beitimmung von Ewigkeit if, 
fo it auch die perfönlihe Erfheinung des Gohnes im 
Fleiſche das Urbild, und vermöge feiner Einwohnung Im 
Gemüthe bed Menfchen durch den h. Geift das urkräftige 
Priucip aller fittlihen Erhebung bed Menfchen aus der 
in der Zeit zwifchen eingetretenen Sünde zum Leben in 
Gott. Alle wahre Sittlichkeit, ale Heiligung bed 
Sünders ift ein Geftaltgewinnen Ehriftt in uns (Gal. 4, 
19.), eine iunere Berklärung in fein Bild, In der Buß⸗ 
gemeinfchaft mit ihm ſtößt der Shader die Selbſtſucht 
von fi ab, Rirbt dem Kleifche und mie ihm der Welt, 
in ber GBlanbensgemeinfchaft aber ziehe er Chriſti Leben 


üb.d. Verhättniß der perſoͤnl. Gemeinſch. mit Chr iſto ꝛc. 51 


in fein Gemäth, das ein Leben in Gott ifl. &o wird der 
Menſch in Ehrifto frei, wie ja Freiheit in dem Dop⸗ 
pelten befieht,, dem Losſeyn von bem der Idee des eig- 
am Weſens Feindlichen und dem Verbundenfeyn mit bem, 
in deſſen Bemeinfchaft Die Beftimmung des Menfchen ruht 
(Rom. 6, 22; 8, 2.) — und durch bie Freiheit von ber 
Sünde frei zugleidh von der knechtenden Macht des Ges 
ſetzes, dem Gorrelate bed Sundendienſtes, wiewohl nur 
alfo, daß ed, da feine volle Herrlichkeit in Chriſto pers 
fönlih wohnt, durch deſſen Einwohnung im Menſchen 
ſelbſt das Leben feines Ich geworden ift (Bal. 2, 19. 20. 
Röm. 3, 31; 7, 4.) 

Indem nun aber auf diefe Weiſe die perfönliche Ges 
meinfchaft mit Chrifto dem Sünder alled Heil vermittelt, 
fo gefchieht dieß durch ihre beiden Seiten in verſchiede⸗ 
ner Weiſe. Wie wir gefehen haben, befteht fie in Recep⸗ 
tisität unb Nctivität, in Nehmen und Beben, in bußfer- 
tigen Glauben und felbfiverleugnender Liebe. Anders 
vermittelt ums nun das Heil ber Glanbe, anders bie 
Liebe. Die erfie Bedingung ift, daß ich Chriſtum im mich 
aufnehme. Dieß gefchieht durch ben Glauben. Faſſe ich 
ihn aber im Blanben, fo babe ich ihn auch wirklich unb 
babe ihn ganz; denu feine Perfönlichkeit kann ſich nicht 
theilen, und mit ihe ift die ganze in ihr befchloffene Gna⸗ 
benfüle mein eigen: ich werbe ein wirkliches Glied des 
Reiches Gottes, ein Erbe aller Güter defielben. So be: 
darf 5 zum Heile alfo zunächft nur bed Glaubens; durch 
ihn empfange ih Alles, was mich aus den Banden ber 
Ehnde reißt: der Glaube erleuchtet mich, weil er mir 
die Offenbarung des innerſten Weſens Gottes, feiner 
ewigen Liebedgebanten in Chriſto, er rechtfertigt mich, 
wei er mir die durch die Hingabe göttliher Liebe in das 
Ledesleiden der fündigen Menfchheit :geftiftete Berführ 
ung in Ehrifto, er heiligt mich endlich, weil er mir die 
durch das Herciutreten urbildlicher Liebesherrlichkeit in 

4* 


* 


52 Schöberlein 34 


das dem Sünbdendienfte verfallene Menfchenleben geſche⸗ 
bene Erlöfung in Ehrifto wahrhaft zueignet. Aber was 
der Blaube empfangen hat, das fegt die Liebe 
nun in Bewegung, Thätigfeit und Hebung 
und befeftigt ed fo im perfönlichen Leben, Selbſt in der 
Erleuchtung laffen fich beide Momente unterfcheiben.. Dat 
der Sünder durd den Glauben einen Einblid in bie 
göttliche Liebesweisheit empfangen, fo erweilt er ſich das, 
durch nun als felbft auch weife und ebenbärtig geworben 
der göttlichen Liebesweisheit, daß er fein innerfied Ich 
mit Berleugnung feines bisherigen falfchen Selbſts ganz 
Shrifto zum Liebedopfer hingibt, und je mehr er in ber 
Lauterkeit und Kraft dieſer Hingabe wächſt, defto heller 
und durchfchauender werden die Augen feines Beilles für 
die Tiefen der göttlichen Liebe. 

Ebenſo begegnen und beibe Momente in den rechtli⸗ 
hen Beziehungen des neuen Lebens. WWährenb die Buße 
zum Strafleiden Chriſti, welches fle ihm nachlebt, mehr 
receptio fich verhält, erfcheint die Seele in der Selbſt⸗ 
verlengnung (ber negativen Seite der Liebe) felbfithätiger, 
indem fie alles Kreuz des Lebens, welches fie nicht, wie 
der natürliche Menſch pflegt, ald Strafe, wodurch fle 
von Gott gefchieden wäre, fondern vielmehr als einen 
Weg und ein Zeugniß innigerer Gemeinfchaft mit Chrifte 
 anfteht, mit willigem Sinne auf ſich nimmt, um fich ihm, 

der fich für fie zuerſt geopfert hat, als wohlgefälliges 
Opfer wieber entgegenzugeben und fo am eignen Kleifche 
fein Leiden für die Gemeinde (gewiffermagen) zu ergäns, 
zen (Kol. 1, 24.). Und ebenfo: ob auch der Menfd) durch 
den Glauben die Rechtfertigung von feinen Sünden oder 
(pofitio gefaßt) die Kindfchaft erlangt, fo erhebt ſich diefe 
Kindfchaft doch erſt dadurch zu freubiger Energie und 
freier Regfamteit, daß die Seele zugleich auch liebend an 
Chriſto hängt. 
Am deutlichiten treten dieſe beiden Seiten der Ser 


ib.d. Berhältniß der perfönl. Gemeinſch. mit Ehrifto sc. 53 


wenfhaft mie Ehriſto, der Empfang des Heild nämlich 
in bußfertigen Glauben und die Bethätigung deflelben in 
der felbfiverleugnenden Liebe, nach ihrem Llnterfchiebe 
aneinander bei der Heiligung. Wenn nämlich die Buße 
id von dem falfchen Selbſt, weil es wider Gott ift, erft 
sur abwendet, fo befämpft die Selbfiverleugnung daſſelbe 
wun wirflich geradezu, bad Kleifch fammt ben Lüften und 
Begierden Freuzigend, Und bie Liebe nützt eifrigen, freu⸗ 
bigen Sinnes die Snadenkräfte, die fie durch den Glauben 
empfangen hat, um das gefammte innere Leben durch den 
Gehorſam Chriſti zu heiligen und in allen Berhältniffen 
bes änferen Lebens feinen Ramen zu verherrlichen. 

Haben wir bdeßhalb oben gefehen, daß der Sünder 
im Glanben Gottes Liebe faffe, um felbft auch in Liebe 
fih Gott wieder entgegenzugeben, fo gilt dieß gleichers 
weife audy von den Gaben, welche ber Liebe Frucht find: 
der Glaube nimmt alle Gaben aus Ehrifto, um in ber 
Liebe ich mit allen Gaben Ehrifto wieder zu geben. Im 
Slauden demüthigt fih die Seele vor Gott wegen ber 
Finſterniß, Schuld und Knechtichaft ihred Sündenlebend, 
kicht, Friede und Kraft dagegen aud dem Brunnen des 
Heils ſchöpfend; in der Liebe aber erhebt fie fich wieder 
zn ihm, fich freuend, iu Kraft ber empfangenen Gnade 
feinem Bilde nun auch ähnlich werden zu dürfen in Er- 
kenntniß Gottes, in Freudigkeit der Kindfchaft und in 
Reinheit ded Sinned und Wandels. Die Liebe ift alfo, 
wie an fih, fo auch rückſichtlich der Gnadengaben die 
Rete Bewährung bed Glaubens, der Glaube aber die ftete 
Duelle der Liebe, und beide bleiben nur kräftig zu unun⸗ 
terbreochener Heilsvermittelung durch biefe ihre lebendige 
Bechfelbeziehung. 

Diefe in der yerfönlichen Gemeinfchaft mit Ehrifto 
dem Gläubigen gefchentte Gnade der Erleuchtung, Recht» 
fertigung und Heiligung ift nun eine eben fo in ges 
Biffem Sinne vollendete, als andererfetts in 


54 Schöberlein 


ftetem Wachsthume begriffene. Dem Principenad 
iſt nach allen diefen drei Seiten durch den Glauben ein Reued 
geſetzt. Aus der Herrfchaft des Weſens diefer Welt ift der 
Menſch genommen, ein Glied ded Reiches Gottes ift er 
geworben nad allen Beziehungen feines Lebend: va 
doyaia napnidev, IdoV, yEyove xaıvd vd dvra. Jedoch 
das Neugefehte bat im Menſchen auch feine hiftorifche 
Entwidelung. Er kann nicht mit Einemmale die ganze 
Fülle des göttlichen Liebewefend faflen Nur nad) und 
nach wächlt der Glaube tiefer in die Dffenbarungen Got: 
tes hinein, nur allmählich reinigt ſich und erftarft bie 
Liebe des Gläubigen an der täglich neuen Treue Ehrifti. 
Aber je tiefer der Glaube in Chriftum fich fenft, deſto 
mehr holt er Schäße aus ihm, in Fiebeshingabe damit zu 
wuchern; und je treuer er dieſes thut, defto fähiger wird 
er, noch mehr zu holen, fo daß er wächſt von Stufe zu 
Stufe bis zur Vollendung des ewigen Lebens, 

Dieg muß nach den drei Seiten: der intellectuellen, 
juridifchen und ethifchen, gleicherweife der Kal feyn. 

Der Glaube verfeßt den Geiſt mitten ins Herz Got: 
tes hinein, daraus alle feine Dffenbarungsgebanten ent 
quollen find. Da bat der Menſch den rechten Stand» 
punkt für jede geiftliche Erfenntniß. Chriftus ift pas Bin’ 
beglied von Zeit und Ewigkeit, er ift ber Erfigeborene 
vor aller Creatur, in dem Alles gefchaffen ift, der Angel 
punkt und Mittelpunkt der irdifchen Geſchichte. Wer ihn 
erkennt und in wen fein Geiſt Iebt, dem ift mithin das 
Dieffeits und Jenfeits aufgefchloffen, der hat den Schlüſ⸗ 
fel zum Verftändniffe der ganzen Natur und Geſchichte. 

Aber freilich Iöft fi der Geiſt nur langfam von den 
vielen eingefogenen Irrthümern, nur mit vieler Mühe 
trägt er das Licht des Evangeliums in die mannichfachen 
Gebiete des Willens über, und nach noch fo viel herben 
und freudigen Erfahrungen lernt er doch nie aus in dem 
Berftändniffe des innigen Berflochtenfeyns von Majeſtaͤt 


üb. d. Berhältniß der perſoͤal. Gemeinſch. mit Ehriftozc. 55 


und Demush, von Heiligkeit und Gnade In ber göttlichen 
liebe, 
Weniger geneigt if man, die Einheit pringspieller 
Abgeſchloſſenheit md gefchichtlichen Wachsſthums bei der 
jarivifchen Seite zugugeben. Aber beides hat auch hier 
feine Wahrheit. Indem der Menſch durch den Blauben 
Ehriſto einverleibt it, auf welchem Gottes Wohlgefallen 
rubt, ruht daſſelbe auch auf ihn. Die Verſoͤhnung If 
wahrhaft fein eigen, er bat ein» für allemal eine Gott 
geeinigtsrechtliche Stellung, er. if} gerechtfertigt por Gott, 
Und diefer Stand Der Rechtfertigung währt fo lange in 
objectiver Wirklichkeit und Gultigkeit, als Chriſtus im 
innerſten Lebensgrunde der Perfänlichkeit wohnt, ob auch 
der Blänbige dabei noch vielen Sünden unterliege und 
bie nub da, felbft längere Zeit, zum freudigen Bewußt⸗ 
ſeyn diefer Rechtfertigung fich nicht erheben könne (Nom. 
8, 26. 27.). Iſt aber auf diefe Weife die Rechtfertigung 
allerdings ein abgefchloflener Act und währender Zukand, 
fo in doch andererjeitd auch Entfaltung und Wachsſthum 
dieſes Rechsöverhältuiffes nicht zu verkennen. Es wärg 
zämlih Abſtraetion und ein Zeichen, Daß die Berföhnnug 
nur mit deu Verſtande, nicht mit dem Gemüthe erfaßt 
werden, wollte Jeiand über alle Sünden feines weiteren 
Lebens, von Denen er übereilt wird, auf Grund der eins, 
mal erlangten Rechtfertigung forglod wegiehen. Son⸗ 
dern es liegt iu der Natur menfchlidher Lebensentwicke⸗ 
ung, daß ein Chriſt die empfangene Berfühnungegnade 
nun auch anf jedes Schuldverhältnig, in weldem.er 
ficht oder von Neuem wieder tritt, übertrage und für 
bie einzelnen Sünden, die er begeht, beſonders wieder 
Sergebung von Gott erbitte. Die Anklagen Biber biefels 
ben heben zwar das Grundverhältniß des Berfühntfeyns 
nicht auf, dienen Demjelben vielmehr zum einzelnen Her» 
vertreten ind Bewußtſeyn, aber barin eben erweift fich 
de Berföhnung erfi ale ein lebendiges But und wahres 


56  &chöberlein 


Eigenthum, dadurch befeftigt fie fich zugleich immer tiefer 
in der Seele, daß er ſich diefelbe jenen Anklagen gegen» 
über auch wirklich für jede einzelne Lebensbeziehung zu 
Harem, freudigen Bewußtfeyn bringt. Und wiewohl er 
auch für verborgene Fehler Verzeihnug fich erbitten kann 
( Pſ. 19, 13.), fo wird doch fein Herz eben dadurch erſt, 
baß er es thut, auch über dieſe wahrhaft berubiät! Die 
Rechtfertigung, in welcher das Schuldverhältniß der Per⸗ 
fon als folcher ind Auge gefaßt ift, wird befhalb in ber 
h. Schrift als ein einmaliger Act bargeftellt, dagegen bie 
Vergebung, in weldyer die Beziehung auf die einzelnen 
- Sünden vortritt, als ein fich wieberholender. Und zwar 
ift nicht biefe etwa als bloßer Vorgang im Menfchen ans 
zufehen, während jene zugleich ober ausſchließlich in Gott 
zu feten wäre, fondern beide find beides zugleich, ba vor 
Gotted Augen nicht bloß der Anfang des neuen Lebens 
und mit ihm der Eintritt in das neue Rechtsverhältniß, 
fondern auch jede Verinnerlichung und Bertiefung deflels 
- ben offen liegt und für feine Selbfihingabe an den Mens 
fchen, welche diefer im Gemüthe und Gewiſſen inne wird, 
beftimmend wirkten muß. Was aber von der negativen 
‚ Seite gilt, gilt auch von der pofltiven, der Kindfchaft. 
Der Menſch wird durd den Glauben wirklich ein Kind 
Gottes (Sal, 3, 36.), wie foldhes ihm der h. Geiſt in 
feinem Geifte bezeugt, aber nicht gibt Gott dem Gläubis 
gen fogleich alle feine Rechte in die Hand, wiewohl fie 
ihm in Chrifto alle hinterlegt find; nur nad und nadh 
empfängt er fie, und zwar nad dem Maße feiner Ge 
meinfchaft mit Ehrifto. Je mehr die Seele bloß Befrei⸗ 
ung vom Uebel der Sünde fucht, bloß die Laſt der Schuld 
und die Schreden der ewigen Strafe lod werben will, 
deſto mehr mit Knechtlichem it noch das Kinbesverhälts 
ni gemengt. Aber mit um fo freierer, innigerer Kraft 


die Seele in bußfertigem Glauben an Chriſtum fi an⸗ 


fchließt, deſto tiefer und feliger wird ihr Friebe; je reis 


4 


üb.d. Verhaͤltniß der perfönt. Gemeinſch. mit Ehrifto ꝛc. 57 


ner unb brünfliger fie ihren Heiland lieben lernt,’ deflo 
freier wird ihre Stellung als Kind in feinem Hanſe, 


deſo tranter wird ihr Umgang mit ihm, deſto allfeitiger - 


erat fie ihre Kindesrechte erkennen und gebrauchen,- nnd 
fe wählt fie — womit jedoch dad fchwanktende Gefühl 
davon nicht zu verwechfeln it — im Genuffe ihrer Rechte 
hienieden, bis fle jenfeitd das volle Erbe empfängt 
(Rim. 8, 23.). 
Auch bei der Hriligung endlich begegnet und diefelbe 
Deppeiheit des Berhältniffed. Die Allmählichkeit ihrer 
Entwidelung liegt vor Augen. Aber aud in principiels 
ler Bollendung fteht fie da. Hat nämlich Ehriftus dem 
Türken diefer Welt fein Reich abgenommen, fo ift audı 
die Seele, die fich ihm ergeben,. der Hetuggpaft der Sünde 
für immer entnommen, fo daß fie wohl nody Sünde bat, 
weil diefelbe zu tief ihr ganzes geiftiges und leibliches 
Weſen durchdrungen hat, als daß fie mit Einemmale 
gar; könnte getilgt werden, aber daß fie dieſelbe nimmer 
that (vergl. 1 Joh, 1, 8. mit 3, 9.), daß nicht fie es 
iR, welche die Sünde thut, fondern das Fleifch, das ihr 
sch auklebt. Das Herz, von weldhem alle Lebensbewe⸗ 
gang ausgeht, ift durch Chriſti Einwohnung neu und ges 
heiligt; und da er, wie er ihr Überhaupt nichts vorents 
halt, fo auch mit feiner ganzen Lebendtraft ſich ihr zu 
geben bereit if, damit fie zu jedem, auch dem ſchwerſten 
Kampfe dadurch ſich flärke, fo ift fie de6 Sieges fich ger 
wis und flieht in Hoffnung alle ihre Keinde gefchlagen, 
wiewohl ihr erf in feinem himmlifchen Reiche die vos 
fonmene freiheit von Sünde und Kampf zu Theil wer: 
den wird (1 Joh. 5, 4. 5.). Und fo flieht auch Bott fie 
a Chriſto als eine geheiligte an, wie er fie als eine ges 
rechte in ihm fieht, weil Chrifti Kraft ebenfo für unfere 
Schwachheit eingetreten als feine Gerechtigkeit für unfere 
Ungerechtigkeit. 


58 Schöberlein 


So gilt alfo dad allgemeine Geſet bed Lebens, daß 
im lebendigen Keime bereits das ganze Gewächs vorge⸗ 
bildet und fertig liege, und doch nur in allmählicher Weiſe 
zur Eutwickelung und Vollendung fomme, auch von ber 
Erleuchtung, Rechtfertigung nud Heiligung, als den drei 
integrirenden Offenbarungs » und Wirkungsweifen der 
unio mystica, bei welcher wir bag gleiche Geſetz "erfannt 
haben. 

Iſt nun, wie gezeigt. werben, mit ber Nengeburt dee 
Gemuͤths, des perfönlichen Lebenscentrums, auch Die Neu: 
geburt der drei darin wurzelnden Urundvermögen, ber 
Bernunft, des Gewiſſens und Willens, geſetzt, theilt ſich 
Chriſtus, indem er als die perſoͤnlich erfchienene Liebe 
Gottes gegen ie fündige Menſchheit ind Gemüth zu 
bleibendem Innewohnen ſich einſenkt, zugleich der Ver⸗ 
nanft als die Offenbarung in der Erleuchtung, dem Ge⸗ 
wiffen als .die VBerfühnung in der Rechtfertigung, dem 
‚Willen und durd ihn der ganzen leiblich » geiftigen Natur 
ale die Erlöfung in der Heiligung mit, und hält dieſe 
göttlich s intellectuelle, inribifche und ethifche Entwidelung 
des Sunders mit der myftifchen, mit welcher fie gleicher 
zeit aus dem Einen neuen Keime aufgeht, gleichen Schritt, 
fo leuchtet ein, wie keines von dieſen dreien feine letzte 
urfählidhe Begrändung in dem andern habe, fon 
bern jedes berfelben in dem Einen Höheren: ber 
unio mystica. Es if irrig, zu fagen, der Glaube allein 
rechtfertige nicht, fondern der Blanbe in Verbindung mil 
den Werfen, wie die tatholifche Kirche will. Nein, der 
Glaube rechtfertigt allein, und zwar wieberum, nicht weil 
er Drincip ber Heiligung ift, fo daß doch die Rechtferti⸗ 
gung wieder von ber Heiligung abhängig gemacht wärd® 
fondern er rechtfertigt, ‘weil er Chriſtum, das perfönliche 
Gnadenreht für den Sünder, faßt und in den Leben‘: 
grund der Perfönlichleit zu wefentlicher Einwohnung auf 
nimmt. Die gleihe Bewandtniß hat ed damit, went 


ib. d. Berhältniß der perſonl. Gemeinfch. mit Ehriſto ꝛc. 59 


won dem Blanben wegen ber ihn immanenten Liebe, die 
us Geſetzes Erfüllung fen, vechtfertigende Kraft zus, 
färeibt. Aferbings iſt im Glauben ein Liebeleben cin 
Fern der Theilnahme an Ehrifto), wie oben gezeigt wors 
den; ohne dieſes wäre er nicht Sache ded Gemüths, Des 
ioo dvdgmnos, und würde alfo Ehrifti und feiner Gnade 
sicht wefentlich theilhaftig werden können. Wein nur 
weil das eiebesmoment im Glauben dieſe Bedeutung 
hat, iſt die Rechtfertigung darauf zu beziehen, nicht 
weil die Liebe der Keim der Heiligung if. Ja wenn ein 
Menſch durch Kraft der Gemeinfchaft Ehrifti noch fo fehr 
wihr in Liebe und Heiligung, fo wirb doch nie Diefe 
Heiligung irgend Grund der Rechtfertigung, fondern immer 
zur Chriſtus, die Berfühnung für unfere Sünde Denn 
Sergebung Tann nie verdient werden, fle ift durchaus 
freie Liebesthat. Beruht nicht auch am Ende, genau bes 
trahtet, dad Abhängigmadhen der Vergebung von der 
Yiligung anf bloßer Täufchung, da die nachfolgende 
Neigung ohne Bezug zur früheren Sünde ficht, und weil 
fe doch nicht mehr thut ale geboten ift, dieſe nicht gut 
sahen fan; wenn man fie aber ald opus supererogati- 
sum and infofern als Aequivalent für die frühere Sünde 
betrachtet, die Bergebnng aufhört, Vergebung zu feyn? 
Kur Empfänglichfeit des Herzens {ft Bedingung von 
Seite des Sünders. Andererfeits iſt ed aber auch irrig, 
den Glauben bloß als Organ der Rechtfertigung umb, 
am jeden Schein von Berdienft auszuſchließen, vielleicht 
fogar bloß als formelle That der Seele, nicht als Lebens⸗ 
bewegung der innerften Perſönlichkeit zu faffen. Ein fols 
hr Glaube wäre bloßer Schein und hätte feine Kraft der 
Rechtfertigung. Man darf zwiſchen Glaube, welcher 
shtfertigt, und zwifchen Glaube, welcher heiligt, nicht 
Kheiden; fondern in demfelben Glauben, welcher recht 
fertigt, liegt auch die Kraft der Heiligung, und biefe ift 
nicht als bloße Folge der Mechtfertigimg zu betrachten, 


. 60 Schöberlein 


wie von ber Altern Dogmatik zu gefchehen pflegt. Der 
legte Grund der Heiligung ift der, daß Chriftus, der da 
heilig iff und heiligt, das principielle Leben des Sünder 
geworben if, und fie ift nur deßhalb ohne Nechtfertigung 
nicht zu denken, weil fie aus Chriſto quillt, ber für bie 
Seele zugleich Fürft des Friedens if. Bon der Erleuch⸗ 
tung gilt daffelbe Verhältniß. Ale Erleuchtung, Recht⸗ 
fertigung und Heiligung hat nur fo viel chriftliche Wahr⸗ 
heit, als unio mystica in ihr ift, und aller Wachsthum 
in denſelben nur fo viel geiſtlichen Werth, als die unio 
mystica im Gemüthe dadurch erhöht wird, weßhalb fid 
Chriſtus aucd auf jeder Stufe geiflihen Wachsthums, 
wie fchon in der der Wiedergeburt voraudgehenden Ber 
rufung, nicht an ein einzelnes Organ der Perfönlichkeit 
als folched, fondern durch daffelbe an den innerften Grund 
der Perfönlichkeit, and Gemüth, zu gläubiger @inigung 
mit ihr wendet. Alles ift für uns nur Chriſtus, weichen 
die Seele im Glauben ergreift, und Chriftus, im Glau⸗ 
ben ergriffen, wirft zugleich zum Helle unferer ganzen 
Derfönlichkei. 

Steht aber nun hiernach auch die gleichbered: 
tigte und gleichzeitige Immanenz der Erleuch⸗ 
tung, Rechtfertigung und Seiligung in der unio mystica 
fer, fo fchließt dieß dennoch die gegenfeitige Wed» 
felbegiehung und Wechſelwirkung diefer drei nicht 
aus, fondern vielmehr ein, da in einem geiftigen Orga 
nismus, wie bed Menfchen Perfönlichkeit ift, keine Seite 
des Lebend gegen die andere fich abjchliegen kann, wenn 
das Ganze nicht leiden fol. 

Es kann feiner diefer Momente fehlen ‚ ohne daß 
auch die andern aufhörten, wahren geiftlichen Charakter 
zu haben. Bloße Rechtfertigung ohne Kraft der Heili⸗ 
gung ift eine Selbfitäufchung; denn Chriſtus will ſich nicht 
bloß ftüchwelfe dem Glauben geben. Wer in einer Sünde 
mit Bewußtſeyn und Willen verharrt, erflärt damit, daß 


5 


> 


aAb. d. Werhältniß der perfönl. Gemeinſch. mit Shrifto:c. 61 


er die Gemeinſchaft Ehrifti, dem jebe Sünde ein Greuel 
it, noch nicht wahrhaft auf biefelbe bezogen habe; fo 
taun er audy die Kraft feines Berdienfted zur Vergebung 
sicht anf diefelbe beziehen. Ebenſo iſt auch jene Heili⸗ 
gung feine evangelifche, fondern bloß gefeßlicdher Gehor⸗ 
fam oder natürliche Beflerung, die ohne irgend welche 
begleitende oder vorangegangene Erfahrung ber Kind» 
(haft ihr Werk treibt, Denn die Liebe ift die Seele der 
wahren Seiligung ;:die Liebe aber empfängt nur von bem 
Kindesverhältniß ihre Innerlichkeit, Freiheit und Wahr⸗ 
beit, und fomit auch ihren wahren gefeßerfüllenden Werth. 
Wie aber auf diefe Weife das Borhanbenfeyn des 
einen Prüfftein für die Wirklichkeit des andern ift, fo 
dient auch die gefunde Pflege eines jeden dem andern 
zur Stärkung und Befeſtigung. Ge mehr ein Menſch, 
die Schuld feiner Sünde anblidend, in ihrer völligen 
Bergebung fih felig fühlt, mit deſto fregdigerer Kraft 
wird Der Wille dem Sündendienſt entfagen und Chrifto 
‚wlieb leben. Und je aufrichtiger und entfchiedener er 
an feiner Heiligung arbeitet, defto feſter kann der Trof 
ber Gnade im Herzen haften, mit deſto innigerem Zutrauen 
wird er das Angeficht feines Gottes fuchen. Deßgleichen 
muß Die wachfende Eiuficht in den Liebedreihthum Got - 
ted die Seele ermuntern, immer anhaltender und eifriger 
Zriede und Kraft aus demfelben zu fchöpfen, und umge⸗ 
kehrt. Zwar ift ed in der ben individuellen Liuterfchieb 
in ſich befaffenden und heiligenden Ordnung des Reiches 
Gottes begründet, daß die Einen mehr im Anfchauen ber 
unendlichen Liebesweishelt Gottes, bie Andern mehr in 
dem feligen Gefühle himmlifchen Friedens und wieber 
Undere in dem Kampfe für die alfeitige Durchbildung 
des Reiches Gottes in dem Kreife der fie umgebenden 
Belt leben, ohne daß darum die Wahrheit und Geſundheit 
ihred geiftlidhen Lebens dadurch beeinträchtigt wärbe. 
Aber fo weit hierzu nicht bie von Gott geſetzte Individua⸗ 





..& Schöberlein 


Iktät leitet unb berechtigt, wirb, je mehr die eine Seite 
auf Koften der andern ſich ausbildet und gegen biefelbe 
fi, verfchließt, deſto mehr jene kräufeln, deſto langfamer 
fortfchreiten und am Ende der Gefahr völligen Erfterbens 
erliegen. Dagegen je mehr ein Menſch der gegenfeitigen 
Wechſelwirkung diefer Grundfeiten des perfönlichen Lebens 
Raum gibt und Diefelben mit göttlichem Gnadengehalte 
ſich erfüllen läßt, einen deſto gefunderen Berlauf wird 
fein geiftliched Leben nehmen. 

Außer diefer Gegen» und Wechfelfeitigkeit derſelben 
untereinander läßt fi aber auch eiue naturgemäße 
Folge berfelben nacheinander, eine anf Innern Geſetzen 
subende Entwidelung berfelben audeinander erfennen. 
Doch find dieſe Gefege nicht ſowohl dogmatiſcher als 
pfychologifcher Art. Dogmatiſch wichtig iſt nur dieß, daß 
ohne perfönliche Lebensgemeinſchaft mit Ehriſto nach kei⸗ 
ner Seite hin dem Menſchen Heil werden fönne, dieſelbe 
aber, wenn fie eingetreten, nach allen Seiten hin audı 
wirkfam ſich äußere, nub baß jeder Empfang von Wahr⸗ 
heit, Friede und heiliger Kraft nicht Werk und Verdienſt 
des Menſchen fey, fondern Onadengabe Gottes in Chriſto 
durch ben heiligen Geiſt, obwohl jeder Empfang won ber 
nicht: bloß natürlich gegründeten, fondern auch burdı 
felbfteigue freie Ueberlaffung bedingten Empfänglichkeit 
und jeder neue Wachſsthum von der treuen Nutzung und 
Pflege der vorher empfangenen Gnadenkraͤfte abhängt. 

Ba biefen Belegen des perfönlichen Lebens gehört, 
daß fich demfelben Alles durch die Ertenutuiß vermittele. 
Es Tanıı mithin das Herz weder den Krieden der Ber 
föhnung empfangen, noch zur Heiligung ſich kräftig erhe⸗ 
ben, wenn es nicht erſt durch dem heiligen Geift die in 
Ehrifto erfchteneue Gnade erfaunt hat. Ferner will ſich 
das Herz, da die Stellung nach oben bei der Ereatur 
für ihre Stelung nach innen bebingend ift, feiner Ver⸗ 
föhuung mit Gott, welchem es ſich nun zur Bemeinfchaft 


üb.d. Berhältniß der perfänl. Gemeinſch. mit Chriſtore. 63 


ergeben, erſt gewiß werden, um mit ungehemmter, frenbi« 
ger Kraft den Willen Gottes am eignen Weſen zu voll 
ziehen. So lange der Menfch ſich noch im Zwielpalte mit 
feinem Bott und Heren fühlt, ift dem unter dem Einfluſſe 
des Gewiflens ſtehenden Willen die Kraft gebrochen; fo 
lange er ſich noch nicht für angenommen betrachten darf, 
taun der Glanbe nicht zur freien, Eindlichen Liebe erſtar⸗ 
fen, aus welcher jedes gottgefällige Thuu quellen muß. 
Es geht infofern, als pſychologiſcher Borgang betrachtet, 
die Rechtfertigung der Heiligung, die Erleuchtung der 
Rechtfertigung naturgemäß voran. Und die evangelifche 
Lehre ift und bleibt deßhalb für dieſes Nacheinander ber 
geitlichen Lebendentwidiung (ordo salutis) der richtigfle, 
allgemeingültige Ausdrud. 

Doch if fürd Erfte mit Berweifung auf das oben 
Gefagte zu bemerken, daß dieſe Aufeinanderfolge Fein 
urfächliched Bebingtfeyn des einen vom andern in fidh 
ſchließt, daß wir alfo eben fo wenig deßhalb geheiligt 
werden, weil wir gerechtfertigt find, ale wir die Rechts 
fertigung empfangen, ‘weil wir erleuchtet find; fondern 
jedes derfelben behält feinen urfächlichen Grund in ber 
perfönlichen Gemeinfchaft mit Chriſto. Wenn aber doch, 
wie die Erfahrung lehrt, die Gewißheit der Nechtfertis 
gung für die Seele Beweggrund zur Heiligung wird, fo 
iR dDieß eben bloß Beweggrund, fo wenig aber ein obs 
jectiv⸗ urſachliches Verhaͤltniß, ald man baflelbe in der 
entgegengeſetzten Erfahrung wird finden wollen, baß ein 
Menſch Vergebung für eine Sünde nur dann ſich zueig⸗ 
nen fönne, wenn er mit ernſtem Willen ihr zn entfagen 
fig entfchloffen hat. 

Zum Undern aber gilt, daB ungeachtet diefer Auf- 
tinanderfolge doch bie Wiedergeburt nicht mit einem dies 
fer drei Zuftänbe allein eintrete, fo daß die andern ent 
weder rein vorausgehen oder erft nachfolgen könnten, 
fondern jeder dieſer Znftände erhält feinen eigentlich 


64 Schöberlein 
rege evangelifchen Werth eben erft dadurch, daß er 
ache der Wiedergeburt, alfo auch in Verbindung mit 
den andern vorhanden if. Man darf nämlich erfilich mit 
biefen Brunbfeiten der Wiedergeburt nicht die vorans⸗ 
gehenden Stadien, welche jede bat, verwechſeln. So kann 
eine gewiffe Erkenntniß des Heild vorausgehen, aber zur 
Erlenchtung wird fie erft durch perfönliche Heilserfah⸗ 
zung. Deßgleichen ift der hoffende Hinblid auf Verſoͤh⸗ 
nung noch nicht die Nechtiertigung ſelbſt. Wenn nun 
ſolche Erkenntniß noch, Fein Friedegefühl in die "Seele 
bringt, oder and manchem die Seele durchziehenden Friede- 
gefühle noch feine Frucht der Heiligung erwächſt, fo folgt 
daraus nicht, daß Erleuchtung ohne Rechtfertigung oder 
Rechtfertigung ohne Heiligung beftehen und dieß etwa 
mit der Zeit erſt ald Folge eintreten könne, ba jenes 
dloß vorausgehende Stadien der Erleuchtung und Rechts 
fertigung find, wicht dieſe ſelbſt. Umgekehrt wenn ein 
: duch Gotted Wort bewirkter Anlauf zur Beſſerung — 
wie ja die Treue im Geringen allezeit "die Empfänglichs 
feit für höhere Gaben zum Segen hat — ber Seele zum 
Eintritt in die Wiedergeburt, mit welcher Gottes Friebe 
in fie einlehrt, Bahn bricht, fo darf man daraus nicht 
fließen, daß die Rechtfertigung eine Folge der Heilis 
guug fey, da jene fittliche Erhebung des Herzens noch 
nicht Heiligung felbft geweien, 

Sodann aber, felbft wenn bie Wiedergeburt einge⸗ 
treten, muß doch, obwohl ber wiebergebärende @laube 
‚in Bernunft, Gewiflen und Willen zugleich einen neuen, 
geifilihen Keim fett, berfelbe nicht überall zugleich wirk⸗ 
fam ſich zeigen, fondern es ift vielmehr natürliche Ord⸗ 
nung, daß der eine nach dem andern ſich entfalte. Und 
‚ee kann fomit der eine dieſer Zuftände auf ben andern 
ſich ſtützen, ohne daß dieſer bereits beſtimmt und deutlich 
ind Bewußtſeyn getreten wäre, fo wie auch umgekehrt ber 
eine den andern als nothwendige Kolge in fich bergen 


üb, d. Berhaͤltniß ber perfönl. ſemeinſch mit Ehriſto ꝛc. 65 


kann, ohne daß dieſer unmittelbar ſchon zu ausgeprägter 
Erfheinung kommen müßte. 

Benden wir dieß nun anf die oben angegebene na⸗ 
turgemäße Folge biefer Zukände an, fo ift allerbings 
fetzubalten, daB die Erleuchtung nur dann diefe wirklich 
ſey, wenn fie wirkliche Ergreifung der Gnade durch den 
Blauben in fich fchließt, und daß die Heiligung, ob fie 
auh vom Willen erfi auf Grund des verfühnten Gewiſ⸗ 
fend in Vollzug geſetzt wird, doch ihm ſchon vom Mo⸗ 
mente der SHeilderfahrung an als neue Lebensmacht ins 
wohne, Andererfoitö aber ift auch anzuerkennen, daß, 
wiewohl mit ber Rechtfertigung zugleich die Erleuchtung 
und Heiligung im Menfchen gefegt find, der Menſch doch 
bie rechtfertigende Gnade nur ergreife, infofern er burch 
Kraft des heil. Geiſtes fein Heil in ihr erkennt, und daß 
er zur heiligenden Liebe nur ſich erhebe, infofern Der 
Bei Gottes feinem Beifte Zeugniß gegeben, daß ex 
durch Chriftum ein Kind Gottes fey. 

Haben wir aber bis jebt, wo wir vom Ergreifen der 
Buade redeten, vorzüglich die Verföhnung im Auge ges 
babt, fo daß die jinridifche Geite ale ber Hebel für die 
beiden andern erfchien, fo dürfen wir und doch nicht vers 
bergen, daß das gläubige Gemüth vorzugsweife und zus 
nachſt auch andere Seiten der göttlichen Gnade faflen 
föune, obne daß der Charakter chriftlicher Wiedergeburt 
dadurch aufgehoben würde Wie nämlich der Cine im 
Befühle feines Sündenelendes bie verfinfternde und ver, 
biendende oder die Enechtende und verwüſtende Madıt 
dere Sünde mit tieferem Schmerze bellagt, während ein 
Anderer, davon weniger berührt, nur unter der Laſt des 
Schuldgefühls fenfzt, jenes aber nur dann ben chriſtli⸗ 
den Bußcharakter verlöre, wenn er nicht zugleich mit 
beflagte, durch eigene Schwib und mit Berfchuldung ges 
gen Bott, den Herrn feines Lebende, darein verfunfen zu 
fyn, fo it es auch beim Ergreifen der mann Richt 
Cheol, Stud, Jahrg. 1847, 


66 Sqhoöberlein 


iſt's dann bloß Wiedergeburt, wenn die Seele dafür wer 
Allem dankt, daß fie, der Schuldenlaſt entlebigt, wieber 
freien Zugang zu ihrem binrmlifchen Vater habe. Es 
Tann auch bieß die Geele mit vorwiegender Freude er⸗ 
füllen, daß in Ehrifte ihr alle Raͤthſel göttlichen Waltens 
im eigenen und allgemeinen Leben gelöf find, ober daß 
fie, ans dem Sündendienſte nun endlich befreit, ihrem 
Herrn in reiner Liebe dienen könne. Und in biefem Falle 
wird das beftimmte Bewußtſeyn der Rechtfertigung der 
Seele erſt in Folge ihrer fittlichen Umwandlung auf 
gehen, fo daß jene von biefer abhängig erfcheint. Doch 
tft andh bier das reine Borausgehen der Heiligung vor 
der Rechtfertigung im Bewußtſeyn eine ZTänfchmg. 
Denn in der Freude über die zu gottgefäligem Wandel 
empfangerre Gnadenkraft Liegt bereits das Gefühl ber 
Berfähnung, und gwar nicht bloß ald Sache der Hoff 
nung, fordern auch des wirflichen Glaubens, - da ſolche 
Freude nur in einer zu Gott nimmer im Knechts⸗, fon 
dern bereits im Kindesverhältniffe ſtehenden Seele Plat 
haben kann. Mithin geht auch hier, wiewohl weniger 
offenbar, die Rechtfertigung der Heiligung im Bewußt 
feyn voran. Und nur dann würde die Heiligung ihre 
richtige Stellung und ihren chriklichen Werth verlieren, 
wenn fie nicht aus der freien Liebe eined an die Grade 
Gottes Hläubigen Gemüthed erwüchfe, fondern ein Menſch 
fi die Gerechtigkeit vor Sort durch eigene Kraft wirt 
lich verdienen wollte. Ebenfo würde aber auch die Rechts 
fertigung dhriftticher Wahrheit und fomit der Kraft zur 
Heiligung entbehren, wenn ein Menſch, bloß froh, der 
quölenden Gewiſſensanklage entledige zu ſeyn, ſich's wei⸗ 
ter gar nicht kümmern ließe, ob er die göttliche Liebe, 
durch deren Selbftentänßernng ihm diefe Gnade zu Theil 
geworden, durch fortgefetted Sundenleben betrübe oder 
nicht. Solche Glaubensgerechtigkeit iſt wicht beffer, ale 
jene Werfgerechtigfeit, in welche fie auch von felbft un. 


üb. d.Berhältniß ber pexfönl, Gemeinſch. mit Chriſto ꝛc. 67 


tee der Form des Buchſtabendienſtes überfchlägt, wenn 
fie nicht geradezu zur Henckelei und Zügellofigfeit führt. 
Somit herrſcht alfo, innerhalb jener oben aufgeſtell⸗ 

ten Grundgeſetze, auch bier auf dem geiftlihen, wie auf 
jedes höheren Lebensgebiete die größte Mannic fals 
tigfeit der Entwidelung. Ihren guten Grund 
aber hat biefelbe in ber göttlichen Orbuung, nach weis 
her Jeder hienieden nicht bloß in befoudere änßere Ber» 
bältmifie geſtelt und auf befondere Weiſe durchs Leben 
geführe wird, fondern Jeder auch eine deſtimmte Indivi⸗ 
bualität feiner Perfünlichkeit angeboren empfängt, die er 
sicht bloß nicht ablegen kann, fondern die er vielmehr zum zei 
deren Anfbau des Ganzen bewahren und in reiner Weiſe 
zur Entfaltang bringen fol. Für diefe Mannichfaltige 
feit geiftlicher Entwidelung finden wir die deutlichfie Bes 
Rätigung in der h. Schrift. Ein Beweis dafür liegt ſchon 
darin, daß zur Bezeichnung bed Grundcharalter6 ber 
evangeliſchen Verkündigung bald die eine, bald die anbere 

Brite von den heiligen Schriftftellern gewählt wird, wie 

.S. 1 Tine. 2,4. die Erleuchtung, Eph. 6,15. die Recht⸗ 

fertigung ꝛc., und daß jebt diefe von jener, dann jene 

von diefer abhängig erfcheint, wie 3. B. Tal, 2, 24; 1 
Joh. 3, 7. die Helligung ald Bebingung ber Rechtferti⸗ 
gung, Röm. 6, 15.19. Hebr.9, 14. die Rechtfertigung ald 
Voransſetzung der Helligung dargeſtellt wird. Aber and 
die ganze Prarid ber Apoftel legt ein Zengniß dafür ab. 
Denn je nach den geſchichtlichen Zuftänden ober indivi⸗ 
duellen Berhältniffen, welche diefelben eben vor ſich hats 
ten, Iaffen fie bald die eine, bald die andere Seite in den 
Berdergrund treten. Weil die Inden das Hell auf eis 
zene Erfülung des Geſetzes gründen wollten, ſah ſich 
Pasins genöthigt, ihnen die Rechtfertigung allein durch 
a Glauben aufs fchärffte entgegenzuhalten. Dagegen 
wußte Jakobus, wo man einem Blanben, der nicht im 
Ormüthe wurzelt und. fomit fih auch im Leben nicht als 

5% 








68 | Schöberlein 


heiligende Kraft erweift (von einem ſolchen in fich feld 
todten Slauben weiß Paulus in feinen Briefen gar nicht) 
rechtfertigende Kraft zufchreiben wollte, die Rechtferti⸗ 
gung an die Bebingniß ber Heiligung knüpfen. Mit der 
gleichen Berechtigung traten deßhalb aud die Neformas 
toren dem in der Fatholifchen Kirche eingeriffenen Geſetzes⸗ 
und Werkdienſte mit ber paulinifchen Lehre von der Rechtfer⸗ 
tigung burch den Glauben entgegen, und umgekehrt ift ges 
genüber jedem Mißbrauche diefer Lehre das Dringen auf 
Heiligung am Orte, So follte auch jeder Prediger und 
Seelforger noch immer die gleiche apoftolifche Weisheit 
üben. Endlich aber, abgefehen von diefer Außeren Ber, 
anlaffung, ift auch die Individualität der Apoftel felbft 
— ‚welche fich in den verfchiedenen Entwidelungsftadien 
der Kirche und in den verfchiedenen Eonfefflonen wieder: 
fpiegelt — von großem Einfluſſe geweien. Paulus und 
Jakobus treten hier Cinnerhalb der dhriftlichen Wahrheit). 
am weiteiten auseinander. Der die innere Ordnung ber 
‚göttlichen Heilsökonomie mit bialektifher Schärfe zer 
legende Berftand des Paulus mußte die Rechtfertigung 
von jebem Berbienfte menfchlihen Werkes und der Hei 
ligung überhaupt aufs beftimmtefe getrennt halten, fo 
daß diefe gleihfam ald Frucht aus jener erwächſt. Der 
praftifhe Sinn eined Jakobnsé dagegen ſucht vor Allem 
die Frucht bes neuen inneren Lebens im äußeren und 
Iäßt fo die Rechtfertigung vom äußeren Werke abhängig 
erfheinen. Bei Petrus ſteht dieſe praktiſche Richtung 
noch mehr in ihrer Verbindung mit dem inneren Leben. 
Der contemplatio » fpeculative Geift eines Johannes aber 
ſchaut alle dieſe Unterfchiede in ihrer höheren Einheit. 
Nechtfertigung und Heiligung treten bei ihm ungetrennt 
auf, wie 3. 3. das „Heiligen” in Joh. 17. beide Begriffe 
in ſich zu vereinigen fcheint. „Erkenntniß“ ift ihm ber 
Ausdrud für perfönliche Lebensgemeinfchaft mit Chrifto, 
wie ja bei diefer auch ein inneres ‚Schauen flattfindet, 


üb. d. Berhältniß der perfönl. Gemeinſch. mit Ehrifto sc. 69 


welches bis zu jenem höchften Punkte wählt, daß wir 
ihn fchauen werden, wie er ift (1 30h. 3, 2,). Und gleich» 
wie er, wenn er bad Berhältniß der Gläubigen zu Chrifto _ 
und umgekehrt bezeichnen will, am liebſten Bilder von 
mpftifcher Bereinigung wählt, wie vom Neben am Wein, 
ftode, vom Brode und Wafler des Lebens ꝛc., fo it auch 
in feinen Briefen und in den legten Reden Jeſu, zumal 
im hohenpriefterlichen Gebete, das „Er in und” und 
„Wir in ihm” die Grundvorftellung, die ihn leitet. 

Bon ihm, dem Lieblingsjünger ded Herren, dem alle 
übrigen überlebenden Apoftel, muß deßhalb auch eine 
chriſtliche MWiffenfchaft, welche nicht innerhalb der hiftoris 
fen Gegenfäte verbleiben will, fondern über ihnen bie 
böhere Einheit fucht, die Wahrheit erkennen lernen: daß 
die perſönliche Gemeinfhaft des Sünders mit Ehrifto in 
derſelben Weiſe augfchließlicher Quell für Beginn und jeg⸗ 
lihen Wahsthum der Erleuhtung, Rechtfertigung und 
Heligung ſey, als die perfönliche Gemeinfhaft Gottes 
mit der fündigen Menfchheit in dem oagE Zyevero bed 
idyos Dffenbarung, Berfühnung und Erlöfung als intes 
grirende Momente in fid, fchließt. 


70 Bed 


2, 


Ueber bie 
Praͤdeſtination. 


Die auguſtiniſche, calviniſche und lutheriſche Lehre 
aus den Quellen dargeſtellt und mit beſonderer 
Ruͤckſicht auf Schleiermaher's Ermählungslehre 
comparativ beurtheilt 


von 


© Bed, | 


epetenten am theol. Stifte zu Tübingen a). 


— — — — — —“ — — 


Die Prädeſtinationslehre iſt, wie bekannt, im Refor⸗ 
mationszeitalter ein Hauptgegenſtand der Controverſe 
geworden, ſo daß ſchon dieſe Thatſache den engen Zu⸗ 


ſammenhang dieſer Lehre mit den Grundideen der Re⸗ 


— 


formation nicht in Zweifel laſſen kann. Man hat zwar 
ſchon geſagt b), die Reformation, wie ſie aus den ge⸗ 
meingültigen Bekenntniſſen ſpreche, gehe nicht von den 
göttlichen Eigenſchaften aus, um aus ihrer inoraliſchen 
Zweiheit und! nothwendigen Offenbarung Schöpfung und 
Kal, Heil und Verdammniß zu conftruiren, bie Refor⸗ 
mation gehe von der Thatfache der Rechtfertigung durch 


a) Der Aufſatz ift geichrieben, als ber Herr Berfaffer noch Stabt: 
vicar in Kirchheim u. Ted war, 
b) Ritzſch gegen Möhler, Befonderer Abdruck aus biefer Zeitfchrift, 
1. ; 


— 


über die Praͤdeſtination. 71 


den Glauben aus und fey fo in biefem Entwidelunge- 
gauge fogar gemöthigt geweien, ſich gegen den Leber, 
ung ind conſtructive Syſtem zu verwahren, welches 
4 ihr nur in polemiſchem Eutwidelungsgange als Acci⸗ 
bed angehängt habe. Hiermit wirb denn offenbar bie 
calviniſche Präbdeftinationdiehre — denn fie iſt das con⸗ 
Aractive Syſtem — ald etwas Späteres unb Demeigent- 
hen Mittelpunkte ber Reformation Fremdes begeichnet, 
da fie gewagt, dad Weſen Gottes zu confiruiren und 
kise Offenbarung in der Welt der Nothwendigkeit zu 
asterwerfen. Siergegen aber ſteht fchon bad, daß Nies 
wand häufiger, Niemand firenger, ald eben Calvin, ges 
gen die menfchliche Aumaßung eifert, die Gott Geſetze 
verkhreiben wolle, unb daß Luther felbit am Anfange, 
wie befannt ift und wie wir unten geuaner finden wer⸗ 
den, mit härtefter Gonfequenz fich gegen Erasmus — 
elfe doch wohl im SInterefle der Neformation — auf 
vn Grunde der nachmals calvinifchen Principien ges 
Ytıs hat. Bei genauerem Zufehen kann es auch Keis 
um entgehen, daß, was der Myſticismus ind Ertrem 
sieben hat, gerade bie sola fides drängt, ſich in 
Gert zu verfenten und in feiner Abfolucheit aufzugeben, 
daß die Rechtfertigung, weldye den Ausgangspunkt der 
Reformation bildet, in natürlicher Entwickelung auf das 
Berhälmig zwifchen Gott und Menfchen zurädführt, daß 
da institia, qua Deus iustos facit, auf die andere ſich 
änden muß, qua ipse iustns est. Wir fommen fomit 
dech auf das Wefen Bottes hinaus, fobald wir nur Die 
lutheriſche Lehre in ihrem Grunde verfiehen wollen, und 
hen damit einen gemeinfamen Berührungspunft mit 
Lalvin. Auf der andern Seite aber iR es einmal That» 
ſache, daß Calvin fo gut als Luther auf bem Boden der 
karift ſtehen will und daß im dieſer Lehre gerade beide 
4 anf das Wort der Schrift berufen. Wenn fomit 


72 Beck 


beide aus dem Einen und ſelben Quelle rein und lauter 
ſich herleiten wollen, ſo mag zwar darüber geſtritten wer⸗ 
den, welcher Lehre mehr Recht zukomme, aber als un⸗ 
zweifelhaft wird zuzugeben feyn, daß auch dann die an- 
dere, felbft eregetifch, nicht unberecdhtigt, daß auch fie ein 
nothwendigeds Moment und fein zufäliges Accidens in 
der Eintwidelung feyn müfle So werden wir alfo auf 
eine genetifche Betrachtung ber Sache hingemwiefen. Das 
Berhältniß beider ‘Theorien wird nur durch hiftorifche 
Zurüdführung auf ihre gemeinfame Grundlage in Das 
rechte Licht zu feßen feyn. Diefe Grundlage aber ift, 
wie man weiß, die auguftinifche Theorie; von dieſer bar 
ben wir auszugehen und und fomit zunächft in unferem 
biftorifchen Theile mit den Theorien Auguſtin's, Calvin's 
und der Iutherifchen Kirche zu befchäftigen. 


Erfter, hiſtoriſcher Theil. 
1. Auguſtin a). 

Die auguftinifche Prädeftination hat den erften Sün⸗ 
benfall und den Stand der Sünpdhaftigkfeit zu ihrer Vor⸗ 
ausfegung, von woher erft die menſchliche Freiheit und 
bie damit zufammenhängende Präbdeftination zum rechten 
Verftändniffe gebracht werden kann. Wir haben fomit die 
drei Punkte zu erwägen: 1) Sündenfall, 2) Leben in der 
Sünde, 3) Prädeftination. 

Mit Pelagius ift Auguftin einverflanden in dem Ans 
fangspunfte, daß der Menſch am Anfange gut aus der 


a) Ich benugte bie Ausgabe Paris 1651. Die Schrift de civitate 
Dei, welche Baur in ber Dreieinigkeit und Menſchwerdung be 
ſonders -berüdfichtigt bat, Tonnte ich bier nicht benugen und 
muß darum auf Baur’s Darflellung am gedachten Orte ver 
weifen, 





über die Präbdeftination. 73 


Hand bed Gchöpfers hervorgegangen ſey, fehler» und 
tadelloe. Aber das iſt im Wefentlichen doch auch nad 
Yelagiud der Menfch jetzt nicht mehr. Der Grab und 
die Art diefer Alteration ift ed nun eben, worauf es ans 
fommt, und ihre Auffaffung wird zunächſt motivirt durch 
Angabe des Grunded, warum der Menfch nicht gut ger 
blieben, fondern in die Sünde verfallen fey. Der Süm 
denfall ift der Gegenfland von Auguſtin's Unterfus 
hung befonders in der Schrift de gratia et correptione, 
e. 10. Hier ift die Einwendung aufgeſtellt: „Hatte der 
Menfh in jener Vollkommenheit (rectitudo), in der er 
fehlerlos gefchaffen war (factus), auch die Beharrlichkeit, 
fo mußte er zweifellos darin auch beharren; hat er aber 
bebarrt, fo bat er doch wohl nicht gefündige, noch jene 
Vollkommenheit und mit ihr Gott verlaffen. Daß er aber 
nun wirklich gefündigt und das Gute verlaffen hat, bas 
zeigt die Erfahrung. Alſo hatte er auch nicht die Be: 
barrlichkeit in jenem Gut; hatte er fie nicht, fo hat er 
fie auch nicht erhalten; erhielt er fle nicht, wie fann fein 
Rihtveharren Sünde feyn, da das Beharren ihm doch 
sicht zu Theil geworden it?” Auf diefe Einwendung 
gibt nun Auguftin die Antwort: „Gott, der Herr aller 
Dinge, der Alles fehr gut gefchaffen hat, fah freilich vor» 
aus, dag aus dem Guten auch Böfed hervorgehen werbe 
(mala ex bonis exoritura esse), aber. er wußte auch, baß 
es feiner allmächtigen Güte angemeflener fey, auch aus 
dem Böfen Gutes hervorzubringen, als das Böfe nicht 
suzulaffen, und darnum hat er der Engel und Menfchen 
Leben fo georbnet, darin zuerſt and Licht zu bringen, 
was ihr freier Wille vermöge, und fobann, was feiner 
Gnade Segen und feiner Gerechtigkeit Urtheil im Stande 
fu.” Es werden alfo hier fihtlicdh für den Sündenfall 
zwei Momente ftatuirt, die potentissima bonitas Gottes 
und der Engel und Menſchen liberum arbitrium, Sn 
welches Berhältniß werden nun aber beide zu einander 


74 Bed 


gefekt? „Der Menfch iſt gemacht mit freiem Willen und, 
wenn auch mit feinem Lünftigen Falle unbelanunt, doch 
darum felig, weil er die Möglichkeit, nicht zu fterben und 
nicht elend zu werben, in-feiner Hand fühlte Hätte er 
in diefem volllommenen und fehleriofen Zuflande durch 
feine Freiheit beharren wollen, fo hätte er gewiß ale 
Lohn feines Bleibens (merito hulus permaasionis) auch 
bie Fülle von Geligfeit erlangt, bie auch Die heiligen En» 
gel zu Seligen macht, das if, daß der Fall fürder eine 
Unmöglichkeit geworden wäre. Er bat aber burd feine 
Freiheit Gott verlaffen und: darum Gottes gerechtes Ge⸗ 
sicht erfahren.” Vgl. Kap. 12: „Dem Adam ift die Wahl 
gelaffen worden zu beharren; Gott hat freilich vorher. 
gewußt, was er nurecht thun würde, er hat es vorher: 
gewußt, aber ihn nicht Dazu gezwungen (praesciente, 
sed tamen non cogente) Bo iR denn alfo der 
Sündenfall eine That dermenichlichen Freiheit, vollbracht 
contra Dei voluntatem, sednon praeter cam.” Diefe Freiheit 
wird fo ausdrücklich hervorgehoben, daß Auguſtin hier von 
ber pelagianifchen Seite nur gar wenig entfernt iſt Kap. 11: 
„Bott wollte ihn nicht ohne feine Gnade laflen, aber er 
bat fie in feiner Zreiheit verlaflen. Hätte er diefen Beis 
ftand nicht durch feine Schuld verfcherzt, fo wäre er im⸗ 
mer gut. Über er hat verlaffen und warb verlaflen. Er 
fonnte bleiben, wenn er wollte, weil es ihm nicht an der 
Unterflüßung fehlte, durch welche er konnte und ohne 
weiche er nicht beharrlich da6 Gute behalten konute, das 
es wollte. Aber er wollte nicht bleiben, und fo iſt es 
gewiß feine Schuld, da ed auch fein Verdienſt gewefen 
wäre, wenu er hätte bleiben wollen.” Hiermit ift von 
der göttlichen Seite nichts übrig gelaffen, ale ein adiu- 
torium, das der Menich durch feinen Willen wollen ober 
nicht wollen Tann. Die Kreiheit Eonnte diefed adistorlum 
erhalten, bie Freiheit konnte es verfcherzen, und fie hat 
es verfcherzt. 


uber die Präbeflination. 75 


Run aber fährt Anguſtin fort in der eben angeführten 
Stelle: „Hätte diefe Stüte einem Menfchen oder Engel 
gefehlt, fo wäre, weil ihr Weſen auch mit ihrem Willen 
ohne Gottes Schug doch nicht zur Beharrlichkeit geichafr 
fin war, ber Fall gewiß nicht ihre Schuld; denn bann hätte 
bie Stüge gefehlt, ohne welche, zu bleiben, eine Unmoͤg⸗ 
lichkeit war.” Gonad war ber Menſch vom göttlichen 
adietorium , von dem er fich doch follte losreißen können, 
abhängig unb wiederum war es body nicht fo mit ſei⸗ 
nem Herzen verwachfen, daß er die wahre Freiheit ges 
habt hätte, weiter nicht zu fallen. Diefen Gegenfag nun 
fuht Auguſtin durch die linterfcheibung einer gratis 
prima etsecunda auözugleichen. Kap.IL: Talequippe 
erat adiatorium, quod desereret, cum vellet, et in quo permane- 
ret, si vellet, non quo fieret, ut vellet. Bas iſt nun aber mit 
diefer Unterfcheidung gewonnen? Hiernach it ja ber erfe 
Menſch mit einem fo ſchwachen Verſtande und fo unfräfs 
tiger Willensfreiheit ausgeſtattet (ignarus sdhue faturi 
sei easus erat”), daß ihm auf der anderen Seite keine 
wirflihe Freiheit übrig bleiben kann, bie ihn getrieben 
hätte, dad adiutoriom divinum zu verlaffen. Wußte er 
doch nicht, daß er deſſelben veriuftig gehen könne! Wa: 
sum nun bat ihm Gott in biefer Beziehung das Wiſſen 
nicht verlichen? Es bleibt Fein anderer Ausweg, ale die 
erfie Antwort, daß fo des Menfchen Kal mit Rüdficht 
auf die Erlöfung geordnet geweſen fey. 

Iſt aber fon Adam nicht mit wirklicher Willens⸗ 
freiheit zur Sünde gekommen, fo bleibt noch weniger jetzt 
für die Menfchen eine Freiheit, mit der fie die Erb: 
fünde aufuchmen könnten. Hier fommt der Hauptfchler 
des auguftinifchen Syſtems zu Tage: während feine Ten» 
den; immer iſt, Gnade und Freiheit zu verbinden, wirb 
vielmehr in der That immer die zweite von ber erfien, 
die menſchliche Seite von ber göttlichen verfchlungen. 
Vahrend er bie Anthropologie einführt in bie Dogmen⸗ e 


l 


76 Bed 


gefchichte, kommt er vom theologifchen Standpunkte nicht 
hinweg. Denn will man’ fit auch an feine infralapfaris 
fhe Seite halten, fo bleibt doch die ungeheure Schwies 
rigfeit, daß der Wille vor dem Falle frei gewefen und 
nach dem Falle aufgehoben ſeyn fol, daß fomit eine ein⸗ 
zige That des freien Willens feine Freiheit vernichtet. 
Denn was hilft uns eine Freiheit Adam’d, wenn doch, 
ob er nicht beharren will, von feinem Willen abhängig 
gemacht wird, der damals noch fo frei war, Gutes oder 
Böfes zu wollen? Was hilft ung eine folhe Freiheit, 
wenn wir im nämlichen Zufammenhange zu lefen befoms 
men (Kap. 11,): nunc autem, quibus deesthocadiutorium, iam 
poena peccati est. Eine Strafe für die Sünde, eine 
Strafe für und, da wir nicht aus eigener Schuld gefüns 
bigt haben ? Anguftin antwortet (Kap. 6.): „ Wennman nicht 
wiebergeboren ift, fo {ft die Hauptfache nicht zu überfehen, 
daß Gott den Menfhen am Anfange der Schöpfung volls 
fommen gefchaffen hat und bei Gott keine Ungerechtig⸗ 
keit it; darum iſt die erfte Schlechtigkeit, welche den Un: 
gehorfam gegen Gott zur Folge hat, vom Menfchen, weil 
er aus der Bollfommenheit, in der ihn Gott von Anfang 
gefchaffen hat, durch feinen böfen Willen herausgefallen 
und fchlecht geworden ift. Oder iſt die Schlecdhtigfeit am 


Menſchen etwa deßwegen nicht zu tabeln, weil er, der 


Einzelne, fie nicht eigen, fondern mit Allen gemein hat? 
Vielmehr verdient Tadel auch am Einzelnen, was Alle 
haben. Wenn von der Schlechtigkeit Keiner frei ift, folgt 
nicht, daß fie Einem deßwegen nicht zufomme; jene Erb- 
fünden heißen darum fremd, weil ein Jeder fie von feis 
nen Eltern mitbefommt, aber mit gutem Grunde heißen 
fie auch die unfrigen, weil „in jenem Einen Alle. geſün⸗ 
digt haben.” Es ift dieß der Punkt, wo die auguftinifche 
Eregefe von Röm. 5, 12, eingreift, die aber darum nicht 
unmittelbar beweifen fann, weil wir eregetifch und grams 
matifch durchaus fein Recht haben, das ip’ mit dv iden⸗ 


über bie Praͤdeſtination. 77 


fh gu nehmen, womit denn bie Nothwendigkeit der Ber 
ziehung bed H ald Mascul. auf Adam wegfallen muß. 
Echen wir alfo hiervon ab, was ift denn der Grund ber 
Errfünde in und? Bleiben wir bei der oben gewonnes 
an Anſicht fliehen, daß auch bei Auguftin der Sündenfall 
ein georbneter fey, fo muß nothwendig auch in den Ein» 
sinn der Zuftand der Erbfünde als ein potentieller ger 
ordnet ſeyn. 

Die Frage ift aber nun näher, wie wir nah Aus 
gukin dieſen Zuftand der Erbfünde aufzufaffen haben, 
oder in genauerem Zufammenbange mit unfeter Frage, 
welhe Freiheit er dem Menſchen eben in dem Reiche und 
chen der Sünde noch zufchreibt. Hier gibt wiederum 
die indeß befprochene Stelle Kap. 11. entfcheidenden Auf- 
(dluß: liberum arbitrium ad malum sufficit, 
ıd bonum nihil est, nisi adiuvetur omnipotenti bono, 
Vil man nun aber einwenden (Kap. 1.), das ſey kein freier 
Rilke, der fih nur nach einer Seite neigen könne, fo ber 
Kater Auguſtin, wir haben die Kreiheit zu Beidem, zu 
Gum und Böſem, sed in. malo faciendo liber est quisque 
istiiae servusque peccati. Dieß wird dann weiter ausge⸗ 
führt de gratis et lib. arb. c.15: „Immer ift unfer Wille 
ei, aber nicht immer if unfer Wille gut. Entweber ift 
a frei von Gerechtigkeit und ein Knecht der. Sünde, 
dann ift er böfe, oder er ift frei von der Sünde.” Frei 
aber von der Gerechtigkeit, das ift offenbar gerade fo 
il, ald frei von der wahren freiheit, mit anderen 
Berten, nicht frei, fondern, wie er felbft fagt, servum 
peecato. In dem Stande alfo, in welchen durch Adam’d 
Gündenfall das ganze Menfcyengefchlecht gebracht wor⸗ 
a iR, herrſcht keine Freiheit, ſondern allein Knechtſchaft 
vr Sünde, Nichte defto weniger wirb in demfelben Buche 
. Rap.1.2,) eine Freiheit ſtatuirt, vermöge der Jeder fich feine 
Eindezurechnet, und Doch fürchtet Auguſtin wieder (Kap. 4., 
2 einem guten Leben und frommen Wandel, welche ben 


78 Bed 


ewigen Lohn verdienen, bleibe Fein Raum mehr für gra- 
tia et adiutorium Dei. Solche Stellen und beſonders der 
Ausbrud adiutorium zeigen zur Genüge, daß, fobald er 
ſich eine Freiheit nady beiden Seiten deuten will, er ims 
mer in die pelagianifche Vorſtellungsweiſe verfällt. Vgl. 
de dono perseverantiae 6. voluntate sus quemque Dei esse 
desertorem, ut merito deseratur a Deo. Und doch faun 
wieder unter den Sünden keine Freiheit feyn! So if bie 
Freiheit, wo fie hervortreten will, immer die pelagianis 
fehe und wird baber immer wieder von ber Knechtſchaft 
der Gnade abforbirt: was eine Hand gibt, nimmt die 
andere wieder. Es ift ein Schwanten nach beiden Sei⸗ 
ten, das endlich immer wieder nicht in der Witte, fondern 
in einem audfchließenden Begenfage zur Ruhe kommt. 

Die Menſchen alfo haben die wahre Freiheit nicht 
und find der Sünde unterthan, fo daß fie ſelbſt ſich nicht 
frei machen können. Hier greift nun die Prädeftina- 
tion ind Syſtem ein, nad der Bott vermöge feiner 
Barmherzigkeit ihre Befreiung geordnet hat, Diefer Ber 
griff iſt zuerſt im Allgemeinen und nach feinem Berbält: 
niffe zur praescientis und gratia aufzufaffen. 

Zwifchen gratia und praedestinatio if nämlicdy allein 
ber Uinterfchieb, quod praedestinatio est gratiae praeparetio, 
gratia vero iam ipsa donatio. Das Verhältniß zur Präfcien; 
aber wird fo beſtimmt: „Das Borherverfehen it nicht 
ohne Borberfehen, aber umgelchrt das Borberfehen kann 
ohne Borberverfehen feyn. Durch dad Borherfehu. weiß 
Gott, was er felbft thun will, worherfehen kaun er andı 
dad, was er felbft wicht thut, wie 3. B. alte Sünden. 
Darum ift dad Borherverfehen Gottes im Buten die Bor- 
bereitung der Gnade, bie Gnade aber fchon die Wirkung 
der Borherverfehung.” De dono persev. 6: nihil fit, nisi 
quod aut ipse facit, aut fieri ipse permittit. Haeo per- 
missio ad pruescientiam tantum Dei pertinet. Aber auf 
der andern Seite in sun quae falli mutarigue non potest 


über die Praͤdeſtination. 79 


preesciestia opera sus future disponere, id ommino, nee 
dind quieguam praedestinatio est. In diefer Definition 
fr hanptſaͤchlich zwei Momente enthalten: 1) Die Prä⸗ 
vefination erſtreckt fih nur auf das, was Bott feibft 
dat; das aber kann nur Gutes feyn, Es gibt nur eine 
Mädeflination, die ded Guten als eine praeparatio gratiae. 
2) Die Prädeftination wirb unterfchieden von der per- 
missie, von einen Vorherwiſſen deffen, was durch Andere 
geſchieht. Hiernach muß es alfo Subjecte geben, welche 
siht in burchgängiger Paffvität zu Gott ftehen, ed nf 
Handlungen von Menfchen geben, auf weiche Bott nur 
ine wittelbare Einwirkung ausübt. Hieraus ergeben fich 
für die weitere Unterfachung zwei Theile: 1) In welcher 
Irt erfiredt fich die Prädeftination auf die Enten, wenn 
ft gratiae praeparatio ift, in welcher Art wirb bie gratia 
vorbereitet und ausgeführt? — Wirkfamfeit der Onade. 
2) Die Präbdeftination geht nur auf die Guten: die Exi⸗ 
ka des Böfen wird aber durch bie Wirklichkeit und 
du Gewiſſen bewiefen: wie verhält fich nun hierzu, wie 
mm Böfen uud zum Uebel die Prädeſtination? — Be⸗ 
Mistung der Guade. Alfo 

h Birtfamtleit ber Prädeflination und der 
Gnade im Berhältniffe zu den Guten, oder genauer zu 
den Erwählten. Die Hauptfielle hierüber ift don. persev. 21: 
„Bir behaupten, der Anfang im Glauben und das Ber 
herren darin bis zum Ende it Gottes Gabe” Hier 
werden denn bie zwei Klippen ded Pelagianismus and 
vehliich bezeidmiet: „Gagen wir, von uns ſey der Anfang 
des Glaubens, fo daß wir damit bie übrigen Gottesgaben 
verdienen, fo fchließen bie Pelagianer, gratium Dei secun- 
tem merita nostra dari; umgekehrt fagen wir, dad Bes 
ken fey von und und nicht von Bott, fo antworten 
k, dann haben wir von un® auch des Glaubens An» 
fung, wie fein Ende. Denn fie fchließen, weit mehr noch 
züfen wir von und ben Anfang des Blaubens haben, 





80 Beck 


wenn das Beharren bis zum Ende von uns ſey, denn 
Vollenden ſey etwas Größeres, als Anfangen, und ſo iſt 
wiederum ihr Schluß, gratiam secundum merita nostra 
dari.” 

Was alfo Auguftin den nachmaligen Ausläufern des 
Pelagianiemus, dem Semipelagianismus und Synergis⸗ 
mus, entgegenhält, das iſt die durchgängige Berneis 
nung berpelagianifchen Tendenz, gratiam secundum 
merits nostra dari, secundum merite homines praede- 
stinari. Dieß ift der Grundgedanke befien, was man ge 
wöhnlich mit dem Namen des auguftinifhen Syſtems 
bezeichnet, bieß der innerftie Mittelpunkt feiner ganzen 
Theologie, dieß das Thema, das in allen Tonarten wie 
derkehrt, dieß der. Nerv feiner Polemil. So wird es 
denn auch jeßt nach den zwei oben angegebenen Seiten 
des Pelagianismud gefehrt, nach initiam et finis fidei. 
Das Eine betrifft die vocatio electorum, das Andere die 
perseverantis, und zwijchen beide hinein ſchiebt fidy das 
opus conversionis. 

a) In erfter Beziehung — die Berufung — if 
alſo ber Streitpunkt der, non secundum merita ante- 
cedentia, oder, wie die Pelagianer auswichen, secun- 
dum prseviss futurs praedestinari electos. Den fchlas 
gendften Beweis hiefür nimmt Yuguftin (praed. sanct. 15.) 
aus der Perfon Ehrifti ald bes einzigen Mittlers her: 
„Dieß zu feyn, hat denn das die menfchliche Ratur in 
Chriſto durch irgend ein vorangehended Verdienſt ber 
Werke und des Glaubens erwerben können? Und doch 
ift er gerade das Vorbild des ganzen Befchlechtd. Denn 
diefelde Gnade madıt von Anfang des Glaubens an einen 
jeden Menfchen zum Chriften, diefelbe, welche jenen Mens 
fhen von feinem Anfänge zu Chriftus gemacht; aus dem⸗ 
ſelben Einen Geifte fommt des Menfchen Wiedergeburt 
und Chriſti Geburt, Wie er, der Eine, zum Haupt, 
fo ‚find wir Biele zu feinen Gliedern vorherverfehen.” 


über die Präbeflination. 81 


Das eigentlich Perfonbildende,, um einen fchleiermacher- 
(den Ausdruck zu gebrauchen, ift alfo im Menfchen, wie 
in Chriſtus, die göttliche Gnade, und wie in Chrifto bie 
beden Raturen zur Einheit verbunden find, To bleibt auch 
Be durch Präbeftination gewonnene Einheit Gottes und 
des Erwählten unauflöslih. Es ift daher bafjelbe Bes 
därfuiß der Erköfung, welches in Ehrifto wie im Ein, 
ieluen dad Perfonbildende der göttlichen Gnade anerkennt, 
Praed, sauet. 11: „Wenn der Apoflel 1 Kor. 10. fagt: 
darum aus dem Glauben, daß nadı der Gnade die Ver⸗ 
heifung feft fey, fo muß ich mich wundern, wie bie Meu⸗ 
(ken Ach ihrer Gchwachheit lieber als der Stärke der 
söttlihen Berheißung anvertrauen wollen. Aber der Wille 
Getted über uns felbft IR uns zu ungewiß! Was thus? 
dein Wille über Dich felbft ift Dir gewifler ? Du fürdye 
hf nicht dad Wort: wer da meint zu flehen, der fehe 
ml zu, daß er nicht falle? Wenn alfo beide ſchwach 
id, varum will benn der Menſch nicht lieber dem flärs 
ke, ald dem fchwächeren feinen Glauben, feine Hoffe ° 
my feine Liede aubefehlen?” So wenig aber die ante- 
‘eieatia merita die Guade der Präpeftination verdienen 
fine, die durch die vocatio an die Erwählten gelangt, 
jo wenig können es auch die pelagianifchen merita prae- 
a feterı. Das Hauptargument gegen fie nimmt Aus 
guſtin aus der Kindertanfe: denn wenn Gott bie kleinen 
Finder der Taufe würdigt, die doch bald flerben follen, 
lo if fehr Leiche zu ſehen, daß die zukünftigen Verbienfte, 
Beide nicht zukunftig find, ohne Zweifel auch gar keine 
fd (fatura, quse non sunt futura, procul dubio nulla 
“at werite), praed. sanct, 11. 

b) Geht nun fchon die Berufung ganz und allein 
wihlieptih von der göttlichen Seite aus, fo fann auch 
aBerfeder Belehrung bie menſchliche Thätigfeit 
kam Raum für irgend einen Auſpruch gewinnen: wer⸗ 
ka die merita futura abgewiefen, fo fann von merite 

Test, Stud, Jahrg. 1847, 6 


” 


8 Bed 


praesentia noch weniger die Rede ſeyn. Vielmehr ift im 
Merle der Belehrung bie Gnade allein wirkfam. Died 
zeigt Auguftin nach der zweifachen Seite des Wiſſens 
und des Willens, nnd hier tritt die gratia praeveni- 
ene an ihre Stelle. Nach ber praktiſchen Seite näus 
lich fagt er (dom. persev. 16): „Was den Willen betrifft, 
fo kommt die Gnade auch dem Glauben zuvor. Sonſt, 
wenn der Glaube zuvortommt, fo kommt ohne Zweifel 
auch der Wille zuvor, weil Glaube ohne Wille nicht ſeyn 
kann. Kommt aber die Gnade dem Glauben zuvor, fo 
kommt fie, weil dem Willen, gewiß auch bem Gehorfam 
zuvor” (vgl. de gratia et lib. arb. 6, 14. 17.), So werde 
bed Menfchen Herz ein ſteinernes geheißen; dieß koͤnne 
aber nichts Anderes bezeichnen, als den härteſten und ge 
gen Gott durchaus unbeugfamen Willen, denn wo der 
Wille vorangeht, ift fchon kein fieinern Herz mehr (don. 
perser. 13.). Nach der anderen, theoretifchen Seite 
nimmt er (praed. sanct. 2,) die Stelle 2 Kor. 3, 5. zum 
Ausgangspunkte und fagt: „Wer fieht nicht, ˖daß das 
Denfen vor dem Glauben kommt? Niemand glaubt ja 
etwas ohme den Bedanten, es fey zu glauben. Wenn 
auch jäh, wenn auch noch fo ſchnell dem Willen des 
Glaubens einige Gedanken voranfliegen, und ber fo bald 
folgt, daß er nur als der innigft verbundene Begleiter 
anftritt, fo muß doch Alles, was man glaubt, im Gefolge 
des Denkens geglaubt werden, ja felbit dad Glauben if 
nichts Anderes, als mit Beifall denfen. Wir find aber 
ja nicht tüchtig, etwas zu denken, als von und felber, 
alfo auch nicht zu glauben, was Religion und Krömmig- 
keit angeht; fondern, daß wir zureichen, ift von Gott. 
Der Menfd aber will zwar dieſen fo ganz deutlichen Zeug» 
niffen nicht widerſtreben, aber doch will er feinen Blau: 
ben von ſich haben, fo fchließt er mit Gott einen Ver⸗ 
trag, worin er ſich einen Theil des Glaubens zueignet 
und ihm einen Theil laffen will, ia, was noch unver» 


über bie Praͤdeſtination. 83 


(dämter if, ben erften nimmt er ſich, den folgenden gibt 
a Gott, und in dem, was er als gemeinfam behauptet, 
. mat er ih zum Erſten und Bott zum Lebten.” Mit 
(ihen Haren Ausfprächen fcheinen zwar andere in Wi⸗ 
tafpradh zu treten, z. 3. grat. et lib. arb. 4: victoria, 
ga peecatum vincitur, nihil aliud est, nisi donum Dei, in 
so certamine adiuvantis liberum arbitrium. 5: nec 
gratla Dei sola, nec ipse homo solus, sed gratia Dei cum 
le, — Praed. sanct. 3: nostrum est credere et velle, il- 
ins autem dare credentibus et volentibus facultatem bene 
sandi per spiritum sancium, per quem caritas diffunditur 
a cordibus mostris. — Stellen, in welchen Auguflin theils 
um Gemipelagianismnd, theild dem offenen Pelagianier 
26 in die Arme zu fallen fcheint, Doch gerade in der 
letten feßt er hinzu: verum est quidem, sed eadem regu- 
k et utramque ipsius est, quia ipse praeparat voluntatem, 
4 utrumgae nostrum, quis non fit sine volentibus nobis, 
Nersach ſcheint denn freilich Doch irgend eine Bedingung 
m; verlangt werden zu müflen. Aber Augnſtin will 
det kineöwegs zugeben, und body fagt er (praed. sanct. 
N): Darum erhalten wir diefe Gebote und werben auf 
fe ald Gottes Befchente bingewiefen, daß wir erfennent, 
fued et nos ea facimus, et Deus facit, ut illa faciamus, 
Bolen wir daher Beides vereinigen, fo füme es gerade 
krauf au, was {ft Dad quod nos facimus, quod nos ha- 
mu? Die Antwort wäre nad; der kurz zuvor anges 
führten Stelle das velle. Darunter ift aber dann nicht 
"end eine beſtimmte Willensbeſtimmung zu verfichen, 
Imdern die allgemeine Möglichkeit des Wollens, daß et 
"6 non fit sine volentibus mobis; dieſe allgemeine Moͤg⸗ 
Aleit des Willens iſt aber zugleich: von Gott; das Be, 
mitfeyn, unfere vernünftige Natur, durch bie wir une 
m Ihieren und Steinen unterfcheiden, die ift ald Be⸗ 
Nuyung der Wirffamfeit der Gnade vorauögefegt, aber 
Mi nicht vom ums, fondern von Gott, Go if das 
6* 


88 Bed 


Herz, das eben fo gut fleinern feyn kann, als fleifchern, 
diefe ganz allgemeine Möglichkeit dee Willensbeftimmuns 
gen vorausgeſetzt, ald bad Medium, per quod et in quo 
Deus operatur vocatione sua secundum propositum, Praed. 
sanct. 8: „Die Gnade, die im Verborgenen durch Gottes 
Güte den menfchlichen Herzen mitgetheilt wird, wird von 
einem Herzen zurüdgewiefen. Vielmehr, wenn der Bater 
innen fich hören läßt und Ichrt, zum Sohne zu kommen, 
fo nimmt er das fleinerne Herz und gibt das fleifcherne.” 
Daher wird denn hier gerade die Wirkſamkeit der Gnade 
aufs höchfte gefpannt, denn „gewöhnlich iſt es zwar feine 
Art, wenn von außen das Wort kommt, von innen die 
Herzen zu rühren” (Kap. 6.), aber (grat. et corrept. 5.) 
„Gott macht bie, welche er will, auch ohne vorangegan: 
genen Tadel, d. i. andy ohne die gewöhnlichen Mittel zu 
Bekehrten.“ Die beftimmte Willensrichtung kommt fonadı 
allein von Bott, der an unferem Herzen, dieſer allgemeinen 
Potenz ded Willens, ein Subſtrat feiner Wirkſamkeit ge 
ſchaffen hat: grat. et lib. arb. 17: ut velimus, sine nobis 
operatur, cum autem volumus, et sic volamus, ut faciamus, 
nobiscum cooperatur. Jedoch vermögen wir’ ohne feine 
Wirkung oder Mitwirkung in guten Werken der Gott 
feligteit nichts, und die Berufung, welche zu Ermählten 
macht, hat den Sinn: erwählt wirb man nicht, weil man 
glaubt, ſondern damit man glaube (non qui eliguntur, quis 
crediderunt, sed qui eliguntur, ut credant), oh. 15, 16. 

c) Hat das Bisherige dem Semipelagianismus ent- 
gegengearbeitet, fo wird nun dem Synergismus entge- 
gengetreten durch die Entwidelung der Präbeflination 
zum donum perseverantiae. Zuvor handelte es ſich 
von dem Anfange, jeßt von dem Ende des Glaubens. 
Beide find zufammengehalten nur durch die göttliche ope- 
ratio (corrept. et grat. 7.). Die Erwählten find zweifelsohne 
auch berufen, aber nicht die Berufenen darum auch ſchon 
erwählt. Daher don. persev. 1: „Unter perseverantia ver- 


über die Praͤdeſtination. 85 


Rebe ih das Beharren bei Ehrifto bis zum Ende, und 
diefe Beharrlichkeit hat weit mehr ein Gläubiger von Eis 
um Sabre nnd darunter, wenn er bie zu feinem Tode 
getreulich gelebt hat, als der von vielen Jahren, wenn 
er kurze Zeit vor feinem Tode von Gott abgefallen ift.” 
Kap. 6: „IR aber die Beharrlichfeit gefchentt, fo wird anch 
bi6 zum Ende beharrst. Daher: wer durch Gottes Gna⸗ 
denfülle von der angeborenen Berdammniß auserfchen iſt, 
dem wird ohne Zweifel andy die Predigt ded Evanges 
linms verfchafft, und, wenn er hört, glaubt und beharrt 
er bid zum Ende, und wenn er in ber Irre geht, wird 
er durch Züchtigung gebeflert, ja Einige ehren ohne Züch⸗ 
tigung von Menfchen anf den rechten Weg zurüd, Ans 
dere, wenn die Gnade ihnen zu Theil geworben, werden 
in beliebigem Alter den Gefahren bdiefed Lebens durch 
ſchlennigen Tod entriffen.” Kap. 93): „Denn wer durch 
die aflweife Fügung göttlicher Vorſehung vorhergefehen, 
werfehen, berufen, gerechtfertigt, herrlich gemadt (Rom. 
8.) iR, der ift, ich fage nicht vor feiner Wiedergeburt, 
fondern fchon vor feiner Geburt ein Kind Gottes und 
kaun durchaus nicht umlommen, und bei ihm wirkt @ott 
fo fehr Alled zum Guten, daß, wenn er auch vom rech- 
ten Wege abkommt, ſelbſt bas ihm zum Gegen gereichen 
muß, weil er jest demüthiger und erfahrener geworben 
iR.” Andere freilich gibt ed, welche auch von Gott ber 
rufen find, aber wieder abfallen und fomit zeigen, daß 
das donum perseverantiae ihnen nidyt geworden. Bei ber 
nen wiederholt fich denu bderfelbe Kal, wie oben beim 


&) Quicungue enim in Dei providentissima dispositione praesciti, 
praedestinati, vocati, iustihcati, glorihcati sunt, non dico, 
etiam nondum renati, sed etiam nondum nati, filii Dei sunt 
et omnino perire non possunt, atque iis cooperatur Deus in 
bovum usque adeo omnia, ut etiam, si qui eorum exorbi- 
tant, etiam hoc ipsis faciat proficere in bonum, quia hamilio- 
res redeunt atque doctiores. 


‘ 


86 Bei 


Sünbenfalle Adam's. Man follte nämlich meinen, fic ha: 
ben dad donum nicht, alfo haben fie ed entweder nicht 
befommen, dann find fie ohne Schuld, ober fie haben es 
nicht behalten, dann ift Gottes Wille nicht erfüllt. Dem; 
ungeachtet wirb Beides bejaht: 1) ihre Schuld in der 
eben angeführten Stelle: der Tadel trifft fie mit Recht, 
weit fie in den guten Leben, das fie hatten, nicht beharr⸗ 
ten. Sie haben durch ihren Willen ihre gutes Leben in 
ein böfes verwandelt, und wenn die Züchtigung fie nicht 
beffert, fie vielmehr bie zum Tode im Verderben behar- 
ren, fo find fie auch Gottes ewiger Berdammniß werth. 
Sie find aber zweifeldohne auch in ber Zeit, wo fie gut 
und fromm leben, nicht unter die Zahl der Erwählten zu 
rechnen, Vielmehr es gibt Kinder Gottes, welche ed noch 
nicht für und und doch fchon fir Gott find, und wieder 
gibt ed Andere, weldye wegen der zeitweile erhaltenen 
Gnade Kinder Gottes heißen bei und und nicht bei Gott 
(vgl. don. persev. 8.). Aber diefe (Kap. 13.) find entlaffen 
nach ihrem freien Willen, fie hatten bad Befchent der 
Beharrlichleit nicht erhalten, durch ein gerechted und ge» 
heimes Gottedurtheil. Denn wiewohl fie dur ihren 
freien Willen abgefallen find, fo wird doch 2) Gottes 
Ordnung und Wille erreicht. Daß kein Erwählter in 
diefer Sterblichkeit naſeweis (altius sapere) werde und 
fi) in der Zahl der Verordneten vorausfeße, fo ift, weil 
das verborgen bleiben muß, fehr zu glauben, daß Einige 
von den Kindern bed Berderbens, ohne Die Gnadengabe 
ber Beharrlichkeit bie zum Ende, anfangen, im Glauben 
zu leben, und eine Zeitlang wirklich gläubig und gerecht 
leben, nachher aber fallen und fo aus diefem Leben, ehe 
fie diefed Glück wieder gefunden, weggeriffen werden. 

Aber woher die filii perditionis, war doch bisher nur 
von gratis und praeparatio gratiae bie Rede! Das führt 
auf den weitern Punkt der auguftinifchen Prädeſtina⸗ 
tionslehre: 


über die Praͤdeſtination. 87 


2) die Beſchränkung, Partienlarität ber 
Gnade. Ans der oben von Anguſtin angeführten Defis 
nition ber Prädekination Folgt freilich unmittelbar nur 
Eiue Präpdefination, die praedestinatio eleetorum, welche 
jngleich praeparatio gratiae if, Aber eben, daß ſich Die 
Prädeflination mit ‘den electi befonderd zn thun macht, 
fließt auch die Eonfequenz in fich, daß, mit wen ed Die 
Prädeflination nicht zu thun hat, ber auch fein eloetus 
iſt. Aus der urfprünglich einfachen PYrädeftination hebt 
ſich fomit hier eine Zweiheit herand; wenn wir andy nicht 
fagen können, die Berworfenen feyen zum Berderben 
präbeflinirt, fo doch, fie find es nicht zum Guten. Die 
Berwerfung wäre fo dem Principe nach nichts Dofltives, 
fondern nur eine Privation. Daher ſetzt Auguſtin den 
Grund diefed Mangeld in den Menfchen (praed. sanct. 5.), 
amd zwar nicht fowohl in eine befondere Schuld des Ein- 
seinen, ale in die Mangelhaftigkeit der durch den Fall 
alterirten menfhlihen Natur. Sie if dad Allen 
Srmeinfanıe, aber die Prädeflination hebt aus ber Mafle 
Einige hervor, und zwar nur Einige. „Wir haben Alles 
vom großen Gott, der, wiewohl wir Alle Eine Natur har 
ben, uns von ben Audern ausdgefondert hat. Alfo die 
Audern läßt Gott eben, wie fie find, an und aber ger 
ſchieht durch die Prädeflination etwas Befonderes, denn 
die Gnade if das, was bie Unten von den Böen aus⸗ 
fondert, nichts, was Guten und Böfen gemeinfam wäre, 
Mag daher die Gnade and) der Natur zufommen, ver, 
möge der wir vernünftige Wefen und von den Thieren 
uuterfchieden find, ber Natur, welche unter ben Menfchen 
felbR die Schönen von den Häßlichen, die Geiſtreichen 
von den Langfamen unterfcheidet, mag der Natur ſelbſt 
bie Möglichkeit des Glaubens zukommen, folgt daraus 
bean der wirkliche Glaube? Nicht Alle haben Glauben, 
während Alle Glauben haben können. Die Natur alfo, 
weihe und bie Möglichkeit des Glaubens gibt, macht 


88 | Bed 


feinen Unuterfchied unter deu Menſchen, aber ber wirkliche 
Glaube macht einen Unterfchied zwifchen Gläubigen und 
Ungläubigen.” Was alfo der Menfch von Natur bat, 
das iſt, wie wir oben gefehen haben, uur bie ganz alls 
gemeine Möglichkeit der Willensbeſtimmungen, fo hier bie 
reine, abfiracte Möglichkeit des Glaubens, welche aber 
zur Wirklichkeit zu erheben nicht in des Menfchen Macht 
liegt, Kap. 8: „Der Glaube iſt durchaus von Bott. Wie 
wir alfo in aller Unbefangenheit von einem Schulmeifter, 
der in einer Stadt allein ift, fagen, er fey für Alle 
Schulmeifter, nicht weil Alle lernen, fondern weil Alle 
nur bei ihm lernen, fo lehrt Gott Alle zu Chriſtus kom⸗ 
men, nicht weil Alle fommen, fondern weilNiemand ohne 
ihn kommt. Wer glaubt, wenn die Predigt von außen 
an fein Ohr tönt, der hört und lernt inwendig vom Bas 
ter, wer aber nicht glaubt, hört von außen und 
nicht von innen.” Don. persev 14: „Es if Har, 
daß Einige in ihrem Geile von Natur bie Gotteögabe 
der Erkenniniß haben, bie fie zum Glauben treibt, wenn 
fie ihrer Anlage gemäß Worte hören oder Zeichen fehen, 
und doch, wenn fie nach dem höheren Richterfpruche Got» 
tes durch die Gnade der Verordnung nicht aus ber Maſſe 
des Verderbens audgefondert find, fo kommen ihnen 
feine göttlichen Worte und Thaten zu Hülfe, durch Die 
fie glauben Sönnten, wenn fie foldhe hören oder ſehen 
würden.” Go ift denn allerdings die Berwerfung eine 
nen-discretio, nur etwas Privatives, nur ein Belaffen 
im alten Zuflande, in der massa perditionis. Die Ungläu: 
bigen find keine Sudividuen, fie find nur in der Maſſe: 
aber — und dieß ift der Punkt, wo die Prädeftinationg- 
lehre nun weiter gehen mn, — wie fomnıt ed, daß aus 
diefer Mafle Einzelne hervorgerufen werden und doch 
nur Einzelne? 

In der Mafle fann der Grund nicht liegen, denn fie 
ift ungetheilt gleich, alfo muß die Privation, wiedie Her» 


über die Präbdeflination. 89 


ausſtelang von Bott felber herrähren. Allerdings if 
eine lniverfalität der Erlöfung vertündbigt (1 Timoth. 
2,4.), aber diefe ift ja nicht wirklich ba, daher kaun nad 
Ssguflin (corrept, et grat. 16.) omnes homines nur bedens 
is, quia omne genus hominum in praedestinatis sit. Die 
Usiverfalität iR nur potentiell, wie die possibllites cre- 
dendi, aber actuell ift nur die Particularität — und bad 
sah Gottes Willen. Diefen Widerſpruch fucht Auguflin 
auf eine zweifache Art audzugleichen, die allerdings, in 
die Conſequenz verfolgt, ſich gegenfeitig nur widerfpre: 
den Tann. 1) Der Eine Grund ift das Verhältniß 
der göttlihen Gnade und Gerechtigkeit Ccor- 
rept. et grat. 10.). Bliden wir anf das ganze Menfchenges 
ſchlecht, fo erfahren fie das gerechte Bericht Gottes, von 
Adam's wegen. Darum, würde auch Keiner befreit, fo 
kömte doch Riemand das gerechte Gericht Gottes tadeln. 
Daß alfo im Bergleiche zu den Umkommenden Wenige, 
au ſich aber Viele befreit werden, ift Önadenfache, Daß 
fe aber nicht Allen zu Theil wird, braucht den Glaͤubi⸗ 
gen nicht zu irren, der da glaubt, daß von Einem Ale 
in die zweifellos gerechtefte Verdammniß gerathen, fo 
da Gott kein gerechter Tadel träfe, auch wenn Keiner 
befreit würbe, woraus hervorgeht, wie eine große Gnade 
6 iR, Daß Biele befreit werden und an den Einen, die 
nicht befreit werden, zu feben iſt, was ein Jeder vers 
diente.” Daher (praed. sanct. 6.) hören Biele dad Wort 
der Wahrheit, aber die Einen glauben, die Andern wis 
berireben. Die wollen alfo glauben, die nicht! Wer 
wollte bad lenguen? Aber wenn den Einen der Wille 
von Bott anbereitet wird, den Andern nicht, fo zeigt fich 
Getted Barmherzigkeit und Bericht, Barmherzigkeit in 
der Ermwählung, weldye auf das Gericht Gottes gefolgt 
#, das Gericht Gottes gegen die Uebrigen, welche ver: 
dlendet find; und doch haben jene, weil fie wollten, ges 
Haute: Barmherzigkeit und Bericht wurden alfo ag dem 


[4 


90 Bed 


Willen ſelbſt geibt.” Dieß fcheine num freilich ber Büte 
Gottes, in welcher beide Eigenfchaften eins feyn mäflen, 
zu wiberfprechen. Allein (don. persev. 11. 12.) benus est 
Deus in beaeflcio certorum, iustas in supplicio cete- 
rorum, et bonus in omnibus, quoniem bonum est, cum 
debitum redditur, et iustus iu omnibus, quoniam iustum 
est, si bonum sine ouiusquam fraude donatur. Nam sine 
utlie bonis meritia datur regaum, quibus datur, et sine 
ullis malis meritis non datur, quibus non da- 
tur. Kap.8. bei Bergleihung von (Matth. 20.) dem Gleich⸗ 
niffe von den Arbeitern im Weinberge: „So war gegen 
die Einen feine Gnadenfülle, daß fie gegen die Andern 
feine Ungerechtigkeit il; wer befreit wird, verehre die 
Gnade; wer nicht befreit wird, erfenne die Schuld. Denn 
mögen auch bei dem Ermählten fogenannte eigene Ber: 
dienfte vorhergehen, fo -hat er fie Doch in der Negel mit 
dem, deſſen ſich Bott nicht erbarmt, gemein (tamen 
sunt cum eo, cuius Deus non miseretur, ple- 
rumque communia). In ben angefirichenen Stellen 
it des Anguſtin Anficht befonderd unzweideutig ausge⸗ 
drückt. An fi find Alle einander gleich in der masse 
perditionie. Auch ihr Verdienſt oder Nichtverbienft if 
gleich. Aber die Prädeflination macht einen Unterſchied: 
certos discernit, liberat, iis dat, eorum miseretur; ceteros 
non discernit, non liberat, ils non dat, eorum non misere- 
tar. Im Letzten zeigt ſich die reine Gerechtigkeit, im Er⸗ 
fien die reine Gnade. Hier nun freilich erheben fich zwei 
Fragen: einmal, warum denn müſſen Gnade und Gerech⸗ 
tigkeit getrennt ſich offenbaren? Dieß fleht dem Auguftin 
ald Grundfag feft, wenn er fidh auch einmal (de. civitate 
Dei 22, 1,5 fiehe bei Baur, Trinität 1, 929.) die Mühe 
nimmt, bieß aus der beflimmten Zahl von Engeln, unter 
denen die Gefallenen ergänzt werden müflen, zu deduci⸗ 
ren. Die zweite Frage aber, die von ben Präamiſſen 
Augußin’s felbft ausgeht, ift die: gefegt auch, Gnade und 


über die Praͤdeſtination. 9 


Gerechtigkeit müflen getrennt operiren, welches if denn . 
ver Grund für die Praxis der Unterfcheidung, der Maps 
ſab, nah welchem Gott bei der Ausfonberung oder 
Kihtandfonderung zu Werke gebt? Diefe Yrage, die ſich 
smittelbar aus dem Syſteme erhebt, muß beantwortet 
werden, und bier hat nun Auguflin neben dem Berhälts 
niſſ der göttlichen Gnade und Gerechtigkeit einen tieferen 
Grund bereit in der 2. Antwort, nämlich dem verbors 
genen Rathfchluffe Gottes. „Da fage ich nichte 
auf die Frage, warum? weil ich befenne, keine Antwort 
is finden. Fragſt Du wieder, warum? Weil in Diefer 
Cache wie Gottes Zorn gerecht, feine Barmherzigkeit 
greß, fo feine Gerichte unerforfchlich find.” Diefed uns 
aferfäliche Gericht Gottes iſt denn an gar vielen Stels 
lea (vgl. corrept. et grat. 5. 8. praed. sanct. 6, 8, 14. don. 
peruer. 8. 9. 11.) Die ultima ratio geblieben. Zwei mögen 
oh bier fliehen (don. persev. 14.): „Soweit er es der 
Nihe werth hält, feine Gerichte zu offenbaren, wollen 
wo danken, fo weit, file zu verbergen, wollen wir nicht 
wen feinen Rathfchluß murren, fonbern auch das uns 
fir dad SHeilfamfte achten.” Die allgemeine Norm des 
göttlihen Weſens wird aber alfo aufgeftellt (grat. et lib. 
ab. 22,): „Bott mag Böfes mit Gutem vergelten, weil 
er gut ik, und Gutes mit Guten, weil er gut und ger 
sch if, Nur Gutes wird er mit Böſem nicht vergelten, 
weil ernicht ungerechtift.” Es ift nunaber unfchwer einzufes 
ben, daß die beiden von Auguſtin für Die Nothwendigkeit einer 
particularen Gnade angefiihrten Gründe einander aufheben. 
I der tiefſte Grund die Unbegreiflichleit Gottes, fo fann 
man auch nichts von feinem Weſen wiflen, alfo insbefons 
re nichts von der nothwendigen Beboppeltheit und Ge⸗ 
thelltheit feines Willens in Gnade und Gericht. Umge⸗ 
Ihrt, hat man Bnade und Gericht ald zwei nothmendige 
Ienfernugen des göttlichen Willens confiruirt, fo muß 
Anm im Syſteme aud eine Einheit zu Grunde gelegt 


t 


> 


92 | Dee 


werden; dieß aber kann nicht die Unbegreiflichkeit Gottes 
ſeyn, ein Grund, der vielmehr fein Grund ift, fonbern 
eine Vorausſetzung. 2 

Als ein Beweis, daß der Widerfpruch nur ſtatuirt, 
nicht in einer Spitze gelöft ift, erhebt fi nun aber die 
weitere Frage: Dad Gericht, wenn auch nur eine privatio, 
fegt immer doch das Böfe voraus. Woher nun, da der 
Wille Gottes der letzte Orund if, woher dad Böfe in 
feinem Anfange und Beltande? Wie-fann Gotted Ge» 
rechtigfeit fich darin zeigen, daß er dem Böfen, dad doch 
eben Gegenftand feiner ftrafenden Gerechtigkeit iſt, durch 
fein Gericht Beſtand gibt, daß er ed durch die Guade 
nicht aufbebt? Es ift dieß die fchwierige Frage von dem 
Verhältniffe der Prädeſtination zudem Bö⸗ 
fen, deren Löfung Auguftiin noch unternehmen muß. 
Aber and, hier kann ihm die Antwort nicht fchwer wer⸗ 
den, denn, wenn auch mit Einfchiebung von Mittelglies 
dern, langt er doch wieder bei der abfoluten Vorausſe⸗ 
«ung eines alternum Dei decretum, eined uubegreiflichen 
göttlichen Willensbefchlufled an. Und zwar in folgender 
Weife: 1) Gott kann nicht Urheber des Böfen feyn, ſon⸗ 
bern bie @inzelnen fallen durch ihren Willen, aber Gott 
hat ihren Fall vorausgeſehen (corrept. et grat. 7.). 
2) Aber der menfchliche Wille wird fchon wieder vernichs 
tet (grat. etlib arb. 20.). „Es ift klar, daß nicht bloß der 
gute Wille der Menſchen, weldye Bott aus Böfen zu Bus 
ten macht und zu guten Handlungen, fo wie zum ewigen 
Leben lenkt, fondern auch ber, weldyer die Ereatur der 
Welt bewahrt (quae conservant seculi cresturam), fo in 
Gottes Hand fteht, daß er fie, wohin und wann er will, 
binneigt, fey es zu einigen Butthaten, fey es zu Strafen 
gegen Dritte, wie er es für gut findet, nadı feinem ver- 
borgenften, aber zweifellos gerechteften Urtheile.” Hier 
tft nun freilich noch davon die Rede, daß die voluntates 


. Ipsae conservent seculi creaturam; wenn alfo and, gleich 


über die Praͤdeſtination. 93 


die Creatur unfreiwillig über fie gelommen wäre, jo find 
fe es doch noch, die mit eigenem Willen darin bleiben, 
ud wenn fie nun in ber Sündhaftigkeit beharren, fo 
ſeht Anguftin bei: wir finden auch, daß einige Sünden 
Strafen anderer Sünden find. Aber woher nun wies 
ber diefe Sünden? 3) (Corrept. et grat. 20.) „Gott 
wirft, was er will, in den Menfchenhergen, fey’s durch 
Beiſtand, fey’S durch Bericht, fo daß auch Durch die ers 
fült werden muß, was feine Hände und Rathſchlüſſe 
verordnet haben.” Alſo fcheinen auch die Böfen und dad 
Böfe unter die Prädeftination zu fallen. 4) Da erhebt 
ih aber nun Die obige Lnterfcheidung von permissio und 
maedestinatio: „In der Böfen Macht flieht zu fünbigen; 
daß fie aber im Sündigen durch ihre Boshelt das oder 
jenes bewirken, ift nicht im ihrer Hand, fondern in ber 
Hand Gottes, Der die Finſterniß vertheilt und orbnet, fo 
daß auch durch das, was fle gegen Botted Willen thum, 
nichts als Gottes Wille erfüllt wird.” Wir hätten fomit 
Kifunkte zu unterfcheiden: 1) die praevisio, vermöge wels 
her Gott die Höfen Thaten vorausfieht; 2) die Lenkung des 
Ben zum Guten und zur Ordnung, ordinatio; 3) die 
&duratio, weiche das Böfe zur Strafe des Böfen ſetzt. 

Nun aber kommt Alles darauf an, wie fich bie prae- 
sie zur menfchlichen Freiheit ftellen fol, Gott foll die 
freien Handlungen der Menſchen vorausfehen; wenn bie 
einzelnen, fo auch diefelben im Ganzen: alfo die gefammte 
Tatwidelung eined Willens fällt unter das göttlihe 
priescire, eine folche Entwidelung aber hat eine innere 
Rethwendigkeit des Berlaufs, diefe muß alfo Gott auch 
verherwiſſen. Warum nun, wenn fie böfe ſeyn wird, 
wird fie von der Gerechtigkeit Gottes zum voraus zus 
segeben? Gnade aber fann doch das auch nicht feyn, 
nas durch ein zeitliche® Leben hindurch zum ewigen Tobe 
fibrt, „Bott wählt, welche er will,” — wirb und bier 
Algeguet, denn durch ihren eigenen Willen hätten fie 


27 


94 Bed 


Heil und Gnade nie erlangen können, fie waren ja zwar 
frei im Sinne bed aeguilibriam arbitrii, aber moraliſch 
unfrei, servi peccati. So find aber Alle, und geſetzt, fie 
‚haben die Gnade nicht gewollt, fo war ja das nur ber 
Lauf der Natur, der eine durch Sünde verborbene Frei 
heit zur Sünde treibt. Anders kann fie ja nicht, wenn 
fie nicht von Bott unterffübt wird; warum alfo wurde 
fie von Bott nicht unterſtützt? Iustissimo iudieio! lautet 
die Antwort, Sey's fo! aber im Menfchen felbft liegt ja 
fein Grund, der ihn von Anderem unterſchiede. Wir find 
alfo als auf die wahre Urſache wieder auf den verbor- 
genen Rathſchluß Gottes zurüdgetrieben. Doc zuvor 
noch Eine! Corrept. et gratia 10: lapsum Deus sic ordine- 
vit, ut prias ostenderet, quid posset hominum liberum ar- 
bitriam, deinde quid posset suae gratiae beneflcium. Die 
Sünde muß alfo im Sinne Gottes, der die Schatten ver» 
theilt (dividentis tenebras), vorangehen, um bie Gnade in 
helleres Licht zu ſetzen. Fällt fo nicht auf Gott ber 
Schein: Laffet und Sünde thun, auf daß Die Gnade defto 
mächtiger werbe? Denn hat Gott vorausgewußt, daß 
die menfchlidhe Freiheit nichtd kann, und hat er den Men: 
then doch in die Lage gefeht, von feiner Kreiheit Ger 
brauch machen zu follen, fo kann die inteflectuelle und 
moralifche, die mittelbare Urheberſchaft nur anf Gott zus 
rüdfalen. Wie aber das mit dem Weſen Gottes verein. 
bar, das liegt eben im verborgenen Rathſchluſſe Gottes 
begraben, und der iſt denn der Schlußftein, welchen das 
Syſtem ſich ſelbſt gefegt hat. Offenbar aber wäre es 
weit zweddienlicher gewefen, benfelben, wie er eine Bor: 
ausſetzung ift, zur Borausfegung, flatt zum Schluſſe des 
Syſtems zu machen. So hätte wenigftens die Halbheit 
unterbleiben müflen, welche wir bei Auguftin noch bemer⸗ 
ten, nnd welche einerfeite in dem ſchwankenden Begriffe 
ber Freiheit hervortritt, die einmal pelagianifch, das an» 
dere Mal als Linfreiheit gedacht wird, anbererfeitd zwi⸗ 


über die Praͤdeſtination. 95 


ihen Infra⸗ uud Supralapſarismus nicht entfcheidet und 
fo in deu Mittelbegriffen der Zulafinng, permissio and 
praevisio, die legte Erklärung nur verfudht =). 


1. Calvin. 
Diefe Mängel und Halbheiten des auguftinifchen 
Syſtems hat nun eben Galoin zu vermeiden geftrebt, in; 
dem er ein Princip voranftellte und mit feier, eifer 





2) Unter den Verhandlungen bes Mittelalters ſey nur des gott» 
ſchalkeſchen Streites mit Wenigem erwähnt. Die Son» 
fequenz einer doppelten Präbeftination wurde bald auf augu⸗ 
ſtiniſchem Boden gezogen in ber Schrift des ungenannten 
Berfaſſers, Praedestinatus. (Muͤnſcher, Dogmengefchichte 1, 
415.). Auch fpäter, während ſich die Kirche auf die andere 
Seite, zum Gemipelagianismus, binneigte, hatten Beda unb Als 
kuin, befonders aber Iſidor von Sevilla (Münfdyer 2, 121.) die 
doppelte Präbeftination feflgehalten: gemina praedestinatio sive 
electorum ad reguiem, sive reproborum ad mortem. Dieß war 
aun eben der weſentliche Inhalt der gottſchalk'ſchen Lehre 
(Binfcyer 2, 122.), propter praescita certissima ipsoram pro- 
pris fatura mala merita praedestinasse in mortem merito sem- 
piternam, nur daßer fi (vgl. Strauß, Blaubenslehre 2, 248,) 
mit den praescita mala merita auf den unmittelbaren augus 
ſtiniſchen Standpunkt zurüdzuziehen fuchte, wohin audy der fols 
gende Unterfchteb gehört: (iis) perennem merito praedestinasti 
mortem et eos dem similiter praedestinasti ad eam: quia ni- 
mirum sine causa et ipsis praedestinasses mortis aeternae 
poenam, nisi et ipsos praedestinasses ad eam. Gottfchalf 
wurde verdammt, ein Opfer, wie neuere Geſchichtſchreiber fagen, 
nicht fowohl des Semipelagianismus, als der Politik. Beine 
Anfit rief übrigens eine Maſſe Gegenſchriften hervor , woruns 
ter aud) die von Scotus Erigena, aus ber wefentliche Ideen 
bei Schleiermacher wieberlehren und beren ausführliche Dars 
Rellung fiehe bei Baur, Dreieinigkeit und Menſchwerdung 11, 
2365-344. Der Grundgedanke war: es gibt überhaupt gar keine 
(befondere) Yräveftination: praedestinando voluit, volendo prae- 
destiaarit. Dieſe Anficht fand jedoch nicht weniger Siderſpruch, 
als die, gegen welche fie gerichtet wer, 


96 Bed 


ner Eonfequenz durchführt. Eben das absolutum Dei.de- 
cretum iſt, was wir bei Anguftin vermißten, für ihn ber 
Ausgaugspunkt; freilich hat er gegen bie Härten feiner 
Conſequenz als letzte Zuflucht nur den unbegreiflichen 
Willen Gottes, aber dieſer ſteht nicht, wie bei Auguſtin, 
iſolirt, ſondern im Zuſammenhange mit dem Principe, 
indem er ſich von einem einzelnen verborgenen Willens⸗ 
acte Gottes zu dem abſoluten Weſen Gottes an ſich er⸗ 
hebt und dieſes zum Mittelpunkte ſeiner Theorie macht. 
Angufiin’d Lehre hat ihren Ausgangspunft im zeitlichen 
Acte des Sündenfalld ald einem Markſtein in der Ent 
widelung der menfchlichen Kreiheit. Aber Calvin geht 
ius außerzeitlihe Seyn Gottes zurüd, Die Grundlage 
der auguftinifchen Theorie ift die menfchliche Erbfände, 
bie der calvinifchen die Lrfreiheit Gottes. Hieraus 
geben fogleich die wichtigften Momente ihrer Differenz 
hervor. 1) Es handelt fich hier nicht fowohl um dad Bers 
haltniß des heiligen Gottes zum fünbigen Menfchen, ale 
in der hödhften Spige um das Verhältniß des abfoluten 
Geiſtes zur endlichen Creatur. 2) Die Prädeftination tritt 
nicht erft nad) dem Falle ein, um einen Theil der Men⸗ 
fhen zum Heile zurüdguführen, fondern bie Präbdeftina- 
tion erftredt fi von Uranfang auf das ganze menfchliche 
Geſchlecht und die ganze Idee feiner Entwidelung; da⸗ 
rum ift fie eine zweifache, eine zum Leben und eine zum 
"Tode. Aus dem abfoluten Weſen Gottes folgt nämlich 
zunächft die Abfolutheit feines Willens, und weil Zufäl« 
ligleit eine Unfreiheit it, fo handelt es fich alfo um die 
innere Freiheit nnd die eben wegen biefer Freiheit noth⸗ 
wendige Geltung des göttlihen Willens. 

1) Der göttlihe Wille in feiner Abfolute 
heit und Nothwendigfeit. Die Sachlage bezeichnet 
Calvin in der defensio contra calumnies Alb. Pighii (ed. 
Gallasius 1552) p. 281. alfo, indem er fidh der Meinung 
feiner Gegner gegenüberflelt: „daß Bott in unwandels 


⸗ 


uͤber die Praͤdeſtination. 97 


varemı Rathſchluſſe ohne Unterſchied Alle zum Heile ges 
ſchaffen habe. Aber, da er Adam's Abfall vorausgeſehen, 

Io habe er, ums nichts deſto weniger die Erwählung ſtark 

ud feſt zu machen, ein Mittel angewandt, bas Allen ges 

menfom ſeyn ſollte. So fen in Ehriftus gegründet die 
trwählung ded ganzen Menfchengefchlechts, daß Niemand 
srioren werde, der nicht durch feine eigene Halöftarrig- 
leit ich aus dem Buche des Lebens ſtreiche. Wieder aber, 
de Bett vorausſah, daß Einige bis zum Ende in Boss» 
heit and Beradktung der Gnade beharren werden, fo habe 
er durch dieſes Vorausſehen fie ausgefchloffen, wenn fie 
uht weile werden. Ja um dentlich zu zeigen, baß bie. 
merisie Gottes der Freiheit nicht im Wege flehe, neh⸗ 
ara die Gegner dDieargutia auf, ale hätte Gott, was ihm 
om Anfang bekaunt, nicht vorausgeſehen als zufünftig, 
Iadern ald gegenwärtig, kraft eines intuitiven Wiffens.” 
— Diefer gegnerifchen Meinung gegenüber entwidelt nun 
Gin die feinige kurz in folgender Stelle des der Prä⸗ 
Veiaation befonderd gewibmeten Consensus Genevensis 
u Infelben Ausgabe des Gallafine) ©) p. 907: „Bott habe 
’ Anfang, da noch der Menfch in Unfchuld lebte, bie 
3ahuft befchloffen, und wähle jebt aus ber verborbenen 
Bafe die, welche er erwählt.” Man wandte Mn ein, 
at ſolcher ewiger Rathfchluß Gottes habe etwas Schauer: 
ie, als ein graufamer Act der Tyrannei. Dagegen 
behanptet er in ber Art des Duns Scotus feine wefentliche 
Ierseruäuftigkeit und Gerechtigkeit in der Institutio 

i religlonis (ed. Tholuck.) 3, 23: „Gottes Wille 
Rfo ſehr Maßſtab der höchſten Gerechtigkeit, daß, was 

mil, nur allein wegen feined Willens für gerecht zu 

— — 

) De aeterna Dei praedestinatione, qua in salutem alios ex hu- 
ainibus elegit, alios suo exitio religuit, item de providentia, 
ga res humanas gubernat. — Der Iepte Zufag iſt für Galvin's 
heerie charakteriſtiſch. 

Stud. Jahrg. 1847, 7 


98 Bed 


halten if; fragt man alfo: warum thut der Herr alfo? 
fo muß man antworten: weil er gewollt hat; fragt man 
weiter, warum er gewollt hat, fo will man etwas wiſſen, 
dad über Gottes Willen hoch erhaben hinaus liege, und 
das gibt es nicht. Doch bringen wir darum nicht bie 
Erdichtung auf von der abfoluten Wacht, vielmehr be 
baupten wir nur, fie fey der Vernnuft keine Rechenſchaft 
fehuldig, wir ſeyen die Richter nicht.” Calvin werwahrt 
fi) zwar hier ausdrüdlicd; gegen dad commentum alwolatse 
potentiae, aber nad) dem Zuſammenhange gilt die Verwah⸗ 
rung nur der Macht einer ſchrankenloſen, nicht überver: 
nünftigen, fondern unvernünftigen WBilllür. Dagegen 
‘erhebt fih eben Calvin von dem Begriffe der abfolaten 
Erhabenheit und Gerechtigkeit Gotted auf jede Art gegen 
die Begriffe bloßer Zulaffung und Vorher 
fehbung. „Da der Wille Gottes weit über alle Ber 
nunft erhoben uud mit feiner Macht im Zuſammenhang 
tft, fo ift der Begriff der Zulaſſung, mit dem man ge 
wöhnlich Gottes Sache führen will, nur eine gar zu 
frivole und eitle Erdidtuug. Denn (Cons. Genev, 900.) 
die Langmuth iſt mis Der AUmacht vielmehr in Verbin 
dung zu feßen, fo daß Gott wicht bloß zulaͤßt, fonbern, 
was geflhitht, durch feine Kraft lenkt.” „Bon Borfehung 
fann nur Die Rede feyn, nicht ale ob 936.) Bott mäßig 
drein ſchaute aufbas, was in ber Welt gefchteht, fondern, 
fo, daß er die vom ihm gefchaffene Welt regiert; im der 
Art iR er nicht bloß dee Werkmeiſter eines Aug eublicks, 
fondern der ewige Regent, die Borfehang bezieht ſich 
ebenfo auf die Augen, wie anf bie Hände” So fireitet 
Calvin im Intereſſe der Immanenz gegen jede Trans⸗ 
ſceudenz einer bloß beiftifchen Lenkung, wie einer theifti- 
fchen Zulafiung. 

Damit hat er aber auch die Löfung des Räthſels 
übernommen, welches auf jeber immaneuten Weltbetrach⸗ 
tung mit befonderem Nachdrucke ruht, der Frage: wie 


über die Prädeflination. 99 


daun mit ſolcher Nothwendigkeit die menſchliche Kreis 
heit deſtehen? Er unterfcheidet in dieſer Beziehung 
wilden Nothwendigkeit und Zwang, necessitas und coactio. 
heit. IH, 2, 7: „„Sreier Wille wird dem Menfchen nur 
ageſchrieben, nicht weil er die Wahl zwifchen Gnt und 
dis gleich frei hat, fondern weil er das Böfe mit Wil: 
kn that, umd nicht mit Zwang. Eine treffliche Freiheit 
fürwahr, wenn der Menfch, der nicht zur Sünde gezwun⸗ 
gen iR, mit freiem Willen fich hergibt, den Willen in die 
Feſſeln der Sünde fchlagen zu laſſen.“ Solche Freiheit 
lang aber keineswegs die ‚göttliche Nothwendigkeit aufs 
hen (II, 23, 6.); denn auch dem Böfen, das er vorher» 
iah, fonnte Gott begegnen, wenn er wollte; da er es aber 
siht gethan, fo hat er mit beftimmtem Rathſchluſſe Die 
Renſchen gefchaffen, daß fie fih auf Erben alfo beneh⸗ 
ne. I, 4, 3: Es heißt allerdings gar oft, Bott habe 
den Menfchen verfiodt und verblendet; natürlidy ba nach 
kitziehnng feine® Lichte nur Finſterniß und Blindheit 
ihn bleibt, da durch Wegnahme feines Geiſtes unfere 
Sam ju Stein verhärten, da es mit dem Anfhören fei⸗ 
m denkung nur ſchief geht, fo heißt ed mit Recht, er 
serhlende, verſtocke, fälle die, denen er das Vermoͤgen zu 
khen, zu gehorchen, recht zu thun entzieht. — Wie fo 
die nenſchliche Freiheit mit Gottes Regierung zufammens 
kfleht, davon tft das befte Beifpiel der erde Sünden 
fall MI, 23, 7: Unlengbar hat Gott vorausgeſehen, 
weihen Ausgang der Menfch nehmen werde, ehe er ihn 
Maf, und hat es darum vorausgefehen, weil er es in 
ſeinem Rathſchluſſe fo geordnet hatte. 8: Der erfte Menfch 
8 gefallen, weil es der Herr fo für gut gehalten hatte, 
(dit homo Dei providentia sic ordinente, 
rd suo vitio cadit. Durch feine eigene Bosheit hat 
A die vom Herrn empfangene Natur mit fich ind Ver⸗ 
krden geriffen. Dieß wird weiter (Consens. Gener. 904.) 
It vermittelt: Der Menſch war bei ber erften Schöpfung 
7* 


100 Bed 


in einen foldyen Stand gefeßt worben, daß er durch feir 
nen freiwilligen Fall felbft der Grund feines Verderbens 
wurde, und doch war es im wunberbaren Rathſchluſſe 
Gottes fo geordnet gewefen, daß biefer freiwillige Sturz 
für das ganze Menfchengefchleht und alle Nachkommen 
Adam’s ein Gegenſtand der Demüthigung würde, Denn 
auch, wenn ed Gott fo für gut gehalten, läßt ſich darum 
doch nicht fagen, der Menfch habe fich nicht freiwillig 
ind Berderben geſtürzt, er, der doch fonft eine gute Ratur 
erhalten und nach Bottes Bild gefchaffen war, — reis 
heit ift alfo hier nur Freiheit von äußerem Zwange und, 
wie Calvin befiimmt erflärt, fehr zu unterfcheiden von 
der inuern Willensfreiheit, welche aus ſich die Wahl zwis 
fchen Gut und Bös vollzieht. 

St aber fo Alles durch den realen Willen Gottes 
georbnet und auf diefen zurüdzuführen, fo fcheint Calvin 
der Gonfequenz nicht entgehen zu können, daß ber Urs 
fprung des Böfen auch in Gott zu feßen fey. Hier 
ift nun 1) die nädıfle Entgegnung aus dem Borangehen, 
den zu entnehmen, daß Gottes Wille die Zurechnung 
des Einzelnen nicht aufbebt. IE, 1, 6: Die Natur ift von 
Gott gut gerichtet, aber von Adam verfchlimmert. Cons. 
Gener. 932: Adam mag procefliren, wie er will, er fev 
durch die Reize der ihm von Gott verliehenen Frau ber 
firidt worden, inwendig wird ſich Doch das töbtliche Gift 
des Unglaubens, inwendig Ehrgeiz, der fchlechtefte Rath: 
geber, inwendig die teuflifcdye Geißel der Kecheit vorfin⸗ 
den. Es iſt demnach (945.) zwiſchen einer entfernten und 
nächſten Urſache zn unterfcheiden, und wenn auch das 
Böfe von Bott geordnet ift, fo fagt doch Jedem fein 
Gewiffen, daß er die Schuld feiner Sünde trägt (915: 
ad reatum satis superque voluntarius transgressus sufficit), 
und man hat durchaus feinen Grund CI, 18, 4.), bei Gott 
praeceptum und voluntas identifch zu nehmen, Aber Bie: 
led heißt ja von Gott georbuet und wirb von den Pros 


* 


über die Praͤdeſtination. 101 


pheten geweiffagt, was doch den Geboten Gottes entges 
gen iſ! 2) Damit fommen wir auf die objective 
Brite der Frage und Calvin gibt eine doppelte Antwort: 
ı) Inst. I, 18,2: Der Menfch, von Bott getrieben, treibt 
glei ſelbſt. Darum aber gibt es keinen Widerſpruch 
zad feine Beränderung in Gottes Willen, oder eine Vers 
kelung, als wollte er nicht, was er doch will; vielmehr 
der Wille iſt in ihm Eins und einfach, aber und erfcheint 
ea mannichfaltig, weil wir mit unferem fchwachen Mens 
ſchenverſtande nicht faffen können, wie eins und daffelbe 
anf verfchiedene Weiſe in Gotted Wollen und Nichtwol⸗ 
in könne begründet feyn. H, 4, 2: „Daſſelbe Wert ift, 
wie wir fehen, Gott, dem Satan und dem Menfchen zus 
sefhrieben. Aber die Berfchiedenheit in Zweck und Art 
saht, daß hier ohne Schuld Gottes Gerechtigkeit her» 
verlenchtet und bes Satan und des Menfchen Bosheit 
um Borwurfe fich verräth.” Der Sinn diefer Argumens 
tatien if} offenbar diefer: Bei jeder einzelnen Handlung 
Keine doppelte Betrachtungsweife zu unterfcheiden, die 
erihliche und bie göttliche. Was nun aber fo für die 
aılne Handlung gilt, das muß b) auch von der ges 
hunten Entwiclelung behauptet werben. Consens. Gener. 
6: „Ein Fürſt wird Lob finden, der in gerechtem uud 
ichtmäßigem Kriege Gewalt, Raub und Plünderung von 
einem Gebiete fern hält. Indeſſen wird er viele Soldas 
im bewaffuen, welche, blutdürſtig und zu jeder Art von 
Atehheit aufgelegt, gewiß fein Lob verdienen. Ober. 
hei andere Heere fchlagen ſich; flieht man bei dem Feld⸗ 
herrn, der den Befehl in der Schlacht führt, auf feine 
tchte Geſinnung, fo muß man ihn, ift er auch ein Sterbs 
her, doch freifprechen, während man die Krieger vers 
mt, die, Menfchen zu würgen, um nichtöwürdigen - 
kehn ihre Hände hergeben. Gott aber, weil er durch 
ka Satan wirkt, will man das Lob der Gerechtigkeit 
atziehen. So iſt's freilich, daß Nebel, welche die Erbe 


102 Bel 


ausbünftet, ber Sonne Blanz verdunkeln, fo daß er wicht 
bis zu den Augen der Menfchen hindurchdringt. Dennod 
bleibt die Sonne nichts deſto weniger Teuchtend; fo Felt 
des Menſchen Eitelfeit viele Dünfte in den Weg, bie deu 
Aublick der göttlichen Billigkeit hindern, während biefe 
felbft ungelegt bie alte bleibt.” Bleiben wir bei dieſen 
Gleichniſſen fiehen, fo ift der Hauptnuterfchieb zwifchen 
Gott und dem angenommenen Feldheren der, daß dieſer 
möglicherweife fiegreiche Feinde mit ihrer Macht ſich 
gegenüber hat, Gottes Allmacht aber ihren Rathſchluß 
durchführen kann, wie Calvin felbft fagt (939.): inserdam 
vel sine mediis, vel contra media Deus agit. Der Kürft ifl 
an gewifle Brenzen feiner Macht und an die Schranken 
der Nothwendigkeit gebunden. Gott könnte fomit dad 
Böfe verhindern, der Fürft nicht, Gott Fönnte es ver 
hindern, wenn ed nothwendig wäre, aber — dieß ift das 
Entfcheidende — für göttliche Betrachtung ift das Böſe 
nur vapor, nur vanum hominum figmentum. 947: „Wie it’ 
denn möglich, daß Gott ſich ewig gleich und auch in feir 
ner Schattirung mwandelbar feyn fol und doch etwas ans 
‚ ders will, ald was er öffentlich zeigt? ‚Antwort: das iſt 
fein Wunder, wenn Bott im Geſpräche mit Menfchen ſich 
an ihr kleines Mäßlein Cmodula) anbequemt. Es if 
wahr, er will baffelbe, wie die Verbrecher und Verworfe⸗ 
nen, aber in verfchiedener Art. So ift jeßt feilzuhalten, 
was den Scheine nach verfchieben, fey doch in gleicher 
Art Gegenftand feines Wollend.” Hierin liegt ausgefpro- 
chen: 1) Bott will das Böfe, aber nicht al& Boͤſes; 2) was 
und, humano modalo, als böfe erfcheint, tft ed, nach gött⸗ 
lichem Maße gemeffen, divino modo, nicht. Für die abs 
folute Betrachtung ift das Böſe nur ein Dunft und Re 
bel, und Calvin nimmt gern (940.) des Auguſtin Meinung 
an, wenn fie auch Vielen als Spikfindigkeit erfcheinen 
möge, quodsi Deum spectes , in malo nihil esse positivum. 
Denn, wie er felbft fagt (942.), die Hauptfache, aufwelde 


über bie Präbeflination. 103 


Alles hinauskommt, ik, wenn gleich die Dienfchen wie 
wilde Thiere ausſchlagen, fo werden fie doch durch ben 
geheimen Zügel alfo gelenft, daß fie nicht einmal. einen 
Finger bewegen können, außer im Dienfte der göttlichen 
Hoheit. | 
2) Die Brädeflination in ihrer zweifachen 
Erweifung. Hier ind wir deun wieder bei dem Bes 
griffe angelangt, von dem wir andgegangen find. Die 
Abfolntheit des göttlichen Willens ift das Einzige unb 
Alles iſt nur da ad exequendam Dei maiestatem. Gie ift 
der Grundbegriff, auf den alle Fäden zurückführen, der 
Mittelpuntt, von dem die ganze Betrachtung ausgeht, 
und damit bad PBrincip der Präbdeftination. 902: Wenn 
gleich Bott Niemandes bedarf, fo ift ed doch ein thörichter 
Schluß, er habe keine Rüdficht auf ſich gehabt, den Mens 
ſchen zu feinem Ruhme zu fchaffen, umd diefer Ehre hat - 
ex feine Geſchöpfe gewürdigt, "daß er ihnen den ausge: 
zeichneten Stempel feines Ruhms aufgedrüdt hat. Calvin 
seht fo nicht auf einen Punkt in der Zeit zurück, wie ber 
adamitiſchhe Suͤndenfall, ſondern anf die Schöpfung felbft, 
und betrachtet das außerzeitliche, das abfolute Berhälts 
niß des Schöpfers zum Geſchspfe. Wird nun Diefes metas 
phyſiſche Verhaͤltniß genauer entwidelt, fo kommt ber 
Unterfchted zur Sprache zwifchen praescientia und 
praedestinatio, weldhen Auguſtin vorangeftellt, in 
welchem fi aber eine merkwürdige Differenz Calvin's 
von ihm offenbart. Das gibt auch er zu, daß Präfcienz 
ein weiterer Begriff it, ald Prädeftination. Wenn aber 
Angufin die Präfcienz auf ale Menfchen fich erfireden 
ließ, Ente und Böfe, und die Präbdeftination auf die Er⸗ 
wählten befchräntt, fo dehnt Calvin bie Präfcienz auf die 
ganze Welt aus in ihrer Geſammtheit und die Prädeſti⸗ 
Miien bezieht er anf alle einzelnen Menfchen. Der Maß 
hab ik fo ein metaphyflfcher, das Verhältuiß des End⸗ 
lien zum Abfolnten, der Belt zu Gott, nicht der morar 


104 Bed 
Lifche, nicht das Berhältnig des Sündlichen zum Heiligen 
und Gerechten. Ä 

Ueber dieled Berhältnig von Präfcienz und Präde⸗ 
flination it nämlih die Hauptfiele 111, 21, 5: Wird 
Gott Borhermwiffen zugefchrieben, fo heißt das, Alles 
fey immer geweſen und müfle immer bleiben unter feinen 
Augen, fo daß für feine Kenntniß keine Bergangenheit 
oder Zufunft gelte, fondern Alles gegenwärtig fey und 
zwar in der Art, Daß er nicht bloß eine Einbildung nach 
Ideen hat, wie und die Dinge vorſchweben, die wir im 
Gedächtniſſe haben, fondern daß er fie gleichfam vor fich 
wahrhaftig anfchaut und erblickt, und dieſes Vorherwiſſen 
ift auf den gefammten Umfang der Welt und anf alle 
Gefchöpfe ausgedehnt. Verordnung, Prädeltination, 
heißt Gottes ewiger Rathfchluß, vermöge deſſen er bei 
fi, befchloffen hat, was mit einem jeden Menfchen ger 
fchehen fol; denn nicht gleich ift die Beflimmung, zu der 
Alle gefhaffen werden, fondern ben Einen wird ewiges 
Leben, den Andern ewige Verdammniß vorausbeflimmt, 
Daher fagen wir, je nachdem Einer zu einem Ziele ge- 
fchaffen ift, er fey zum Leben, oder zum Tode prädeftis 
nirt. — Alſo die Prädeftination erfiredt ſich auf Ale 
und jeden Einzelnen unter den DMenfchen: aber diefe 
verhalten fich ja entgegengefegt zum göttlichen Gebots» 
willen. Alfo find fie auch entgegengefeßt prädeftinirt. 
11,21, 7. wird diefe zweifache Prädeftination alfo 
begründet: „Sagen wir, im ewigen und unabänderlicdhen 
Rathſchluſſe Gottes fey einmal feſtgeſtellt, wen er eins 
mal zur Seligkeit aufnehmen, wen er wieder dem Ber: 
berben weihen wolle, fo fagen wir, diefer Rathſchluß fey 
in Beziehung auf die Ermwählten in Gottes gnädiger 
Barmherzigkeit gegründet, ohne eine Rädficht auf menfch- 
liche Würdigkeit, denen aber, die er dem Berderben weiht, 
werde der Zugang zum ewigen Leben abgefchnitten nach 
gerechtem und untabeligem, aber unfaßlichem Urtheile 


+ 


über die Präbeftination. 105 


(hreprehensibili, sedineomprehensibili iudicio).”” Man wen» 
det ein: aber es find ja doch Alle berufen! Dagegen tritt 
bie Unterfcheidung einer fpeciellen und allgemeis 
sen Berufung an ihre Stelle. Cons. Genev. 907: 
Bemeinfam wird Beiden Gottes Wort angeboten, daß, 
wer innerlich nicht gelehret wird, nur unentfchuldbar 
werde. Man macht gewöhnlich die Linterfcheidung, dem 
Vermögen nach fey das Evangelium heilbringend für Alle, 
nicht nach der Wirkung (potentia, non effectu), aber der 
Kuoten wird auf die Art nicht gelöft, weil wir immer 
wieder darauf zurüdgetrieben werben, ob Allen gleiches 
Bermögen ded Glaubens gegeben werde, Aber ber Geift, 
der une die Geheimniſſe des himmliſchen Reichs geoffen- 
bart bat, ift auch ein Geiſt der Kindfchaft, die Kindfchaft 
aber aus Gnaden, alfo wird auch der Geiſt der Kinds 
fhaft and Gnaden gewährt. Nun aber zeigt die Erfahs 
rung, daß er nicht Allen zukömmt, alfo ift ein befonderes 
Geſchenk der Glaube, durch welchen die Erwählung feft 
wird. Aber 1 Timoth. 2, 4! Dagegen 910: „Wie will 
er, daß fie zur Erfenntniß feiner Wahrheit kommen? 
Beides alfo ift verbunden. Nun frage ich, ob Gottes 
Bile von der Welt Anfang derfelbe geblieben oder nicht. 
Denn will er Allen feine Wahrheit befannt werden laſ⸗ 
fen, warum hat er fein Geſetz nicht den Heiden geoffens ' 
bart?” 929: „Warum hat er nicht Allen ohne Unterfchied 
von Aufang der Welt das Evangelium zu verfünbigen 
beihloffen? Auh Römer 5, 12. kann nichts für bie 
Univerfalität der Gnade beweifen.” 931: „Paulus fagt 
sur, der Fluch fey der Gnade nicht glei, weil diefe 
überfchwenglich fey. Wenn aber auf beiden Seiten bie 
Zahl der Menfchen in Betracht fommt, fo kann Chriftus 
sicht mehr retten, ald Adam verborben bat; alfo kommt 
Ianli Glaube in Gefahr, wenn nicht gleich eine neue 
Belt heraufſteigt.“ Alfo nur qualitativ fol die Gnade 
in Vergleich kommen mit der Sünde. Man könnte zwar 


106 Bed 


fagen: ift fie qualitativ überfchwenglicher ald Die Sünde, 
go wirb Fe auch quantitatio nicht zurückbleiben. Einen 
ähnlichen Einwand macht ſich Calvin felbit (HI, 23, 11.). 
Wenn er Alle fchuldig trifft, fo fol er Alle gleich ſtrafen; 
wenn Alle unfchuldig, fo fol er von Allen die Strenge 
des Urtheils fern halten; denn wie Alle von Adam in 
die Sünde gezogen find, fo ift EChriſtus für Alle der Ur 
heber des Heild. Dagegen aber hat er zu erwidern: 
„Man handelt gerabe fo mit Gott, wie wenn ihm Barm⸗ 
- herzigleit verboten würde, oder ald würde er, wenn er 
barmherzig feyn will, gezwungen, im Ganzen aufs Ges 
sicht zu verzichten; ber Herr kann Gnade geben, wem 
. er will, weil er barmherzig iſt, aber nicht Allen, weil er 
gerecht if.” Gomit if hier, wie bei Auguſtin, die Ge: 
trenntheit der Prädeftination aus der moralifchen Zweis 
beit des göttlichen Willens deducirt. Aber in der ſyſte⸗ 
matifchen Begründung Galvin’d erheben ſich gegen biefe 
wichtige Einwendungen. Woher weiß Calvin von diefer 
moralifchen Zweiheit des göttlichen, abfoluten Willens? 
1) Die Erfahrung zeigt ed! Aber a) muß denn dieſe 
Erfahrung jetzt fchon eine in ſich abgefchloffene feyn?, iſt 
ed nicht möglich, baß, wie das Geſetz nur für die Juden 
gegeben war und dem das Evangelium folgte, welches 
für alle Menfchen beſtimmt ift, fo nun diefer Beſtimmung 
auch irgendwo noch die Erfüllung nachfolgt? b) kann 
Diefe Erfahrung nicht anch ein Schein ber menfchlichen 
Betrachtung feyn, nnd wenn für Gott dad Böfe nicht ift, 
fol die Strafe des Böfen, der Tod, ewig, d.h. alfo doch 
für die göttliche Betrachtung feyn? Doch diefe Zweiheit 
tft 2) in dem abfoluten Willen Gottes, in dem aeternum 
decretum, in dem überzeitlichen Rathſchluſſe! Sollte aber 
nicht gerabe in ber Liebergeitlichkeit des abfoluten Gottes 
fidy nicht jede Zweiheit auflöfen, follte wicht bier gerade 
der Kanon gelten: quod unum et simplex in eo est, nobis 
multiplex apparet? 


über bie Praͤbeſtination. 107 


Diefen Einwendungen kann nur auf anthropologis 
(chem Wege entgegengetreten werben, wo allein bie Er» 
fahrung begründet werben Tann. Wollen wir daher bie 
caleinifche Prädeflinationsiehre in ihrer ganzen Beben: 
tung kennen und würdigen lernen, fo muß ale letzter Punkt 
noch hinzutreten zu dem Überzeitlihen Rathſchluſſe das zeit 
liche Wirken Gottes. 

3) Die Wirkſamkeit der Gnade Zwei Mor 
mente find bier zu unterfcheiden: a) ber Menſch vor der 
Gnade — Erbfünde und Freiheit müflen bier gur Sprache 
Iommen; b) der Menſch und bie Gnade, Betrachtet man 
den Menfhen vor der Önade, fo muß ganz nach 
dem Bewußtſeyn Der Zeit und den Ideen der Reformation 
die Erbfünde voranfichen. II, 1,8: Die angeborne Erb 
fünde it eine Schlechtigleit und Verderbniß menfchlicher 
Ratur nach allen Theiten, welche fürd erfte bed Zorns 
Gottes ſchuldig macht, daun aber Werke in und hervor, 
bringt, welche die Schrift (Gal. 5, 19.) dem Kleifche zu⸗ 
ſchreibt. II, 2, 12: Nach Augufiin waren bie natürlichen 
Baden im Meunſchen durch die Sünde verberbt, der über, 
ratirlichen wurde er beranbt. Darum aber ift der Menich 
xiht zu ewiger Blindheit verbammt, fo daß keinerlei Art 
von Erkenntniß zurücgeblieben wäre, denu den Menſchen⸗ 
geſchlecht iſt eine Art Schnfuht nach Wahrheit 
eingepflanzt; ed muß ihm deßwegen eine Erkenntniß im 
irdiſchen Dingen zugefprocden, in himmlifhen Dingen 
abgefprochen werben. Auf diefelde Weife, wenn wir dem 
Bien berücdfichtigen, fo folgt aus der natürlichen Ans 
lage des Menfchen zur Gefelligkeit, daß allgemeine 
kindrücke einer gewiffen bürgerlihden Eh 
barkeit nnd Ordnung im Menfchenherzen find, Beide 
Seiten, Verdorbenheit und Empfänglichleit (desiderium 
verüstis, naturales impressiones), faßt Calvin zufammen 
(,2,19.) mit Beziehung auf den Menfchen im Gleichnifle 
vom barmherzigen Samariter : Der Menſch ift nun balbr 


108 | Bed 


tobt (semivivas) geworden unb unzweifelhaft fleht bie 
Wahrheit feft, daß des Menfchen Geflunung fo von Got. 
tes Gerechtigkeit entfremder ift, daß er alles Gottlofe, 
Verkehrte, Abfcheuliche, Unreine, Frevelhafte in Gedanken 
empfängt, begehrt und unternimmt: das Herz ift von 
der Sünde Gift ganz angeftedt. 

Nach dem Allen kann für moralifche Freiheit wohl 
fein Raum gefunden werden. Denn (IL, 2, 1.) wenn wir 
auf eigne Fauſt fireiten ſollen, was gefchieht Anderes, 
ale daß wir und an einem Rohrſtab erheben, der bald 
zuſammenbricht, um und zu Fall zu bringen? Und doc 
werben unfere Kräfte noch zu hoch geehrt, wenu wir fie 
einem Rohrfiabe vergleichen; Dunft und Raud ill, was 
davon die eitlen Menſchen fchwagen. II, 3, 5: Simpliciter 
velle hominis est, male autem velle corruptae naturse, bene 
velle gratise.. So wäre es am beften, wenn man den 
Namen der Freiheit ganz abfchaffte; fol er aber noch bes 
ſtehen, jo Tann er nicht anders gelten, als in dem fchon 
oben angegebenen Sinne (Il, 2,7 unb 8.) Quia mala volun- 
tate agit, non coactione. Eben durch diefe Freiheit aber iſt 
ber Menſch 3BeAddovAog peccati. Zur Befreiung davon 
bat er die Gnade nöthig, und aus feiner eignen Kraft 
kann er auch nicht eine Kleinigkeit dazu beitragen. Biel» 
‚mehr (II, 3, 1.) was nicht geiftig it im Menfchen, beißt 
in diefer Beziehung fleifhlihd. Wir haben aber nichts 
vom Geifte ald durd; die Wiedergeburt, Fleiſch alfo ift, 
was wir von Natur haben. 

Hiernach ift denn fogleich auch b) das Berhältuiß von 
Menfh und Gnade im Werke der Wiedergeburt bes 
flimmt. Das allein Thätige kann nur die Gnade feyn. 
Doh kann fie auch Hier nicht ald Zwang von außen, 
sicht als coaetio wirken, denn der Wille ift ja immer frei 
von äußerem Zwange, vielmehr Cons. Genev. 942: „Ebenfo 
werden bie innern Bewegungen von Gotted Hand res 
giert, wie er bie äußern Handlungen lenkt, und Gott 


über die Prädeftination. 109 


würde feine Befchläffe nicht durch der Menfchen Hand 
ausrichten, wenn er tw ihren Herzen nicht dad Wollen 
felbft wirkte, welches dem Werke vorhergeht.“ Die gratia 
irresistibilis, wie fie gewöhnlich den Galviniften zugefchrie- 
ben wird, ift demnach nicht fo gu verftehen, daß Bott bie 
Menſchen wider Willen fortfioße, vielmehr wendet er 
innere Mittel an, ut fiant volentes ex nolentibus. Iſt aber 
den Erwählten die prädeſtinirte Gnade mitgetheilt, dann 
(UL, 21,7.) it ihnen das Heil fo zugetheilt, daß die Gewiß⸗ 
heit des Erfolgs nicht unentfchleden oder zweifelhaft feyn 
kaun. II, 24, 5: Da Ehriſtus uns von Ewigkeit her vom 
Vater verordnet iſt, fo haben wir ein hinlänglich feſtes 
und deutliches Zengniß darüber, daß wir im Buche des 
lebens ſtehen, wenn wir mit Chriſto Gemeinfhaft haben, 
und wenn wir ſolche Zuverficht gewonnen haben, dann 
bürfen wir uns auch an die folgenden Zeichen, die das 
Bert und anbietet, halten. 

Faſſen wir demnach dad Nefultat der ganzen Ent- 
widelung in kurzen Sägen sufammen, fo find es bie: 
ehne Gnade vermag der Menſch durchaus nichts; iſt 
fe ihm gegeben, dann ift er mit abfoluter Gewißheit in 
iht gegründet, aber daß fie gegeben wird, hängt ganz 
alein ab vom ewigen, actuellen, wirkfamen Rathfchluffe 
Gottes und feiner hocherhabenen Herrlichkeit, die dem 
Einen dad Reben, dem Andern ben Tod zugetheilt hat. 


1. Zutherifhe Lehre 


Eben mit dieſer ‚nitiesima Dei maiestas iſt die angufli- 
niſche Theorie in ihrer Sonfequenz entwidelt, und in dies 
kr Beziehung if Calvin's Syſtem ald die Ausbildung des 
auzuſtiniſchen zu betrachten. Aber wir hatten auf der 
andern Seite bei Auguflin eine praevisio, eine permissio, 
Zulaffung, gefunden, und auf diefer Seite nun flellt ſich 
uns ebenfalls als eine Conſequenz ded auguftinifchen 
Syſtens die Intherifche Lehre entgegen, um bei allem 


110 Bd 


Beſtehen auf ihrem gemeinfamen Grunde, der Erbſunde, 
der menfchlichen Freiheit ein Recht zu vindiciren. Um 
jedoch den innern Bang, weichen die Entwidelung genom⸗ 
men, zu durchſchanen und ben treibenden Hebel des 
Fortfchritts zu erkennen, ift ed nothwendig, daß wir die 
Intherifche Lehre nicht fogleich betrachten, wie fe als fir 
in den Spmbolen niedergelegt il, fondern daß wir auf 
die erften Keime surüdigehen, um die Metamorphofe vers 
folgen zn können, 


A. Uebergang. Euther und Melanchthon. 

Mir meinen bier gunächft die urfprüngfichen Anſich⸗ 
ten von Luther and Melanchthon. Luther fland ber 
Tanntlich anfangs auf dem nämlichen Standpunkte, wie 
fpäter Balvin, in feinem liber de servo arbitrie =). Er 
geht in Ddiefer Schrift von der göttlihen Altssacht ale 
höchftem Principe aus, negirt dadurch die Freiheit ımd 
beftimmt die Yrädeftination. Wir haben alfe die drei 
Momente: 1) bie göttliche Almacht, 2) die moralifche Frei 
heit, SI die Präpdeftination, zu betrachten. 

Die göttliche Allmacht beftimmt er num theild 
an ſich, tbeild in ihrem Berhältniffe zum yerfoniftcirten 
MWiderparte Gottes, zum Satan, 1) An fick, fagt'er 
(S. 204.), folgt aus dem Zugeſtaͤndniſſe des Vorherwiffens 
‚und der Allmadıt mit einer von Natur ummwiderlegbären 
Eonfequenz, daß wir durch und felbft weder gefchaffen 
find, noch leben, noch etwas thun, fondern allein durch 
feine Almadıt, Wenn er aber und als ſolche voraus⸗ 
gewußt hat, als ſolche jetzt fchafft, bewegt und regiert, 
was kann man fid dann noch denken, das m uns frei 
wäre, ob ed fo oder anderd gefchähe, als er voraus. 
ehe hat und jet wirft: Gottes Vorauswiffen und 


—— — — — — — 


a) Ad Erasmum. Die wittenberger Ausgabe von 1526 liegt den 
folgenden Citaten zu Grunde. 


über die Praͤbeſtination. 111 


Almadht iſt alſo unferer Freiheit ſchnurſtracks entgegen. 
Entweder wird fih Gott trügen im feinen Vorherwiſſen 
uud irren in feinem Handeln, oder werben wir getrieben 
und treiben nach feinem Vorauswiſſen uud Triebe. Got⸗ 
ted Allmacht heißt bei mir nicht die, die Vieles nicht thut, 
was fie than Tann, fonbern bie wirkliche, actuale, weiche 
sädtig wirft Alles in Allen. Ebenſo kennt er leine uns 
wirffause oder ruhende Präfcienz. Pag. 23: Gott weiß nichts 
anf zufällige LBeife vorher, fondern in feinem unwandel⸗ 
baren und ewigen unträglichen Willen fieht er vorher, 
befchließt und handelt er. Gottes Wille fol unwandel⸗ 
bar ſeyn, aber feine Präfcienz nicht. Glaubſt denn du, 
daf er gegeu feinen Willen vorauswife oder im Un⸗ 
wiflenheit wolle? Si volens praescit, aeternn est 
etimmobilis, quia natura, voluntas; si prae- 
sciens vwalt, asterna est et immobilis, quia 
hatura, scientis. Alſo Almacht, Willen und Willen 
m in Gott durchans nicht von einander zu trennen, er 
chen baburch der Abfolute, Daß er Alles abfolmt durch 
ſein actuales Willen und Wollen beftimmt: es -gibt in 
Gett feine solätaria praesclentia, fein iſolirtes Willen, und 
fine potentielle Macht, fondern fein Wille ik productiv 
und fhöpferifch, feine Wacht eine actuale, IM fo bie 
Abſelatheit aufs höchſte gefaßt, fo tritt ihr auch der 
Gegenfag um fo fchärfer entgegen, in der Goncentration 
des Endlichen und Sündlihen. 2) im Satan, 40, 55: 
„Unferm großen Bott ſtellt ſich ber Gott der Welt uud 
unferer Zeit entgegen, als der zweite Herr im Reiche der 
Dinge. Denn fichen wir unter dem Gotte biefer Welt, 
je werden wir ohne Werk und Geiſt Gottes gefaugen 
halten unter feinen Willen; kommt aber der Stärfere 
u führt nus als feine Beute davon, fo werben wir 
Diederum deffen Knechte ſeyn.“ Hier iſt denn freilich der 
Satan inärmior gegen ben fortier zu nennen, doch iſt er 
in eigner Perſon, in einer freien und mit Bott gleichen 





112 Bed 


Herrſchaft dargeftellt, fo daß er mit Gott Krieg führen 
Tann. Er fteht alfo Bott als das andere Princip entge⸗ 
gen. Dieß zeigt noch klarer das unmittelbar Kelgende: 
„Des Menfchen Wille ſteht in der Mitte zwifchen beiden, 
wie ein Lafttbier oder Zugvieh Ciumentum); reitet Gott, 
fo will und geht er, wohin Gott will; reitet der Satan, 
will und geht er nach dem Satan, und es liegt nicht in 
feiner Freiheit, zu welchem Reiter er laufen, welchen er 
fuchen fol, fondern die Reiter felb reiten ſich Aber ſei⸗ 
. nen Beſitz nnd feine Herrfchaftl.” Go fleht denn der 
: Satan hier ald zur Zeit gleichberechtigted Princip Gott 
gegenüber, im ihm ift die Freiheit der Welt concentrirt. 
Wie aber das mit der Abfolutheit Gottes und der be 
haupteten actualen Allmacht zu vereinigen fey, das kann 
erft weiter unten Mar werden, wo Luther bei ber Präs 
beftination die Bedentung des Böfen zu erllären hat. 
So viel zeigt fih fchon bier, der Satan iſt mit aller 
Macht doch der Unterliegende, der Ueberwundene ober 
zu Ueberwindende. 

Aber auch fo viel ift ſchon klar, daß in dieſem Syſteme 
von menfchlicher Freiheit nicht die Rebe feyn kann, 
wenn der Menfch nur ein Laftthier ift, das fich entweder 
von Gott oder vom Satan muß reiten laffen, Luther 
hat daher hier nur die Aufgabe, fi mit den gewöhn⸗ 
lihen Borftelungen von moralifcher Freiheit aus ein⸗ 
anderzufeten. 58: „Kreier Wille ift ein burchans gött« 
licher Name und kann Keinem zulommen, als allein der 
göttlichen Majeſtät; fie fann und thut Alles, was fie 
wild, im Himmel und auf Erden, Der freie Wille im 
Menfchen aber, gibt man ihm auch eine nicht bloß unbe, 
beutende, fondern eine englifche, ja, wenn man kann, eine 
durchaus göttliche Macht, er ift doch ohne Gotted Gnade 
durchaus unwirkfam, oder eigentlich Feine Macht.” Eras⸗ 
mus hatte dreierlei Meinungen aufgezählt, die dem freien 
Willen entgegen wären. Da fagt num Luther (107.), eine 


über die Präbeflination. 113 


könne härter erfcheinen, ale bie andere, aber in der Haupts 
ſache tommen doch alle auf Eind hinans. Hart, doch bei⸗ 
falöwerth erfcheint Dir die Meinung, daß der Menſch ohne 
befondere Gaade das Gute nicht könne wollen, anfangen, 
vorwärt® bringen, vollenden; der gibft Du deßwegen 
Deinen Beifall, weil fie wenigftend dem Menfchen ein 
Etreben und den Aufang laffe, wenn fie gleich nichts Abrig 
laſſe, was er feiner Kraft zufchreiben dürfte. Härter er⸗ 
ſcheint Dir Die Anficht, der freie Wille in und habe nur bie 
Madıt zu fündigen, allein die Gnade wirfe in nnd bas 
Gute; am härteften ift Dir die Behauptung, die Freiheit 
iey ein leerer Name, vielmehr Gott allein wirkte in uns 
wie Gutes, fo Böfes, und reine Nothwendigfeit fey 
in Allem, was gefchehe. — Aber (110) ich möchte 
wien, was denn jenes Streben, jener Anſatz feyn fol, 
den die erfie Meinung übrig laffe. Out kann das Streben, 
gut der Anfag ohne Gnade nicht ſeyn: alfo gibt ed nur 
em böfed Streben, einen böfen Anſatz. Daher find bie 
rim der Abhandlung anfgeftellten Aufichten für mich 
EI eine einzige und nicht weiter. Steht feit, Daß ber Wille 
de Freiheit verloren hat, zur Kuechtfchaft der Sünde ges 
mungen iſt und nichts Gutes wollen kann, fo kann ich 
wir and diefen Worten nichts Anderes zurecht legen, ale 
daß die Freiheit ein leerer Schall für etwas ift, wovon bie 
Sache verloren if, eine verlorene Freiheit aber heißt nach 
une Grammatik Feine Freiheit, Daffelbe zeigt auch die 
Eregefe von Joh. 1, 5. (gab ihnen Macht, Gottes Kinder 
zu werden) (5. 165.), und dieſe Stelle ift ein Hammer wider 
ale Freiheit, wie faſt das ganze Evangelium Johannis: 
ke homo merese passive habet, neo facit quippiam, 
wdfit totus. Erasmus hatte weiter bie Freiheit das 
dar zu halten gefucht, die untern Seelenvermögen ſeyen 
alerdings von der Sünde verderbt, aber die höheren feyen 
unveriegt geblieben. Dagegen antwortet Euther (251.): 
IR das Höchſte im Menfchen nicht gottlos, verloren und 
Tieol, Stud, Jabra. 1847, 8 


4114 | | Bed 


verbammt, fonbern allein das Fleiſch, d. i. Die gröbern 
und niedern Begehrungen, wie wollen wir und denn Chris 
find ale nufern Erlöfer deuten? Sollen wir fortan Ehriftus 
den Erlöfer weunen, nicht des ganzen Menfchen, fonbern 
nur feines geringften Theild, den Menſchen aber fei 
nen eignen Erlöfer im edleren Theile? So bringt eö 
dad Dogma von dem vorzüglicheren Theile im Menfchen 
dahin, den Menfchen über Teufel und Chriſtus zu erheben, 
d. h. ihn zum Gott der Götter und zum Herrn der Herrn 
zu machen. ber hier erhebt fi ber gewichtigfte Ein⸗ 
wand: wie kann Freiheit eine Illuſion ſeyn, wenn Bott 
felbft in ner heiligen Schrift fig mis Ermaknungen, Gebo⸗ 
ten und Berheißuugen doch an den freien Willen der Men 
fchen wende? Da zieht Luther gewandterweife ben 
Semipelagianiomus feines Gegners in fein Sntereffe, weun 
er antwortet (128.), es komme biemit nur berand, baß ent 
weder deu freie Wie aBein von ſich ſelbſt Alles könne, 
was ihm gefagt und geboten wird, oder bie Gebote um- 
ſonſt, kücherlich und unzeitig fenen. Das Erſte konnte der 
Semipelagianiemus nicht zugeben, alfo bliebe doch nur 
dad Andere. SA das nun bloß zer’ Avdgmzov gefagt, fo 
geht Luther weiter auf die Prineipien und weift (117.) Ein- 
wendungen ab mit dem Grunde: haee sunt argumemte ra- 
tiouin humanae und die Gebote Gottes haben keinen andern 
AZmar (124.), quam homini ostendi, quid debest, nen quid 
possit a). Solche Bebote ud (118.3 ein Spiel, wie Eltern 
mis ihren Kindern ſpielen. Hier Liegt die Geneſts ber 
Sehre von einem zweifachen Willen Gottes, der fig ge: 
radezu entgegengefeßt ift, dem offenbaren und ver 
borgenen Willen Gottes, eine Lehre, welche bes - 
Tanntlich der Nero für diefe ganze Entwidelung de serve 
arbitrio if. 118: „Wie oft fpielen Eltern mit ihren Göb- 


. a) Ef. Augustiu. grat. et lib, arb. 16: ideo iubet aliqua, quas nos 
. Possumus, ut noyerimus, quae ab eo petere debemas. 


über bie Praͤbeſtination. 115 


neu, wenn fie fie zu ſich kommen ober das und das thun 
heißen, nur darum, um zu zeigen, wie fie 26 nicht fünnen 
und die Hand des Baterd darum angehen mäflen.” Die 
Einwendung bagegen liegt auf der Hand: den Kindern 
wirb es aber nicht als Schuld angerechnet, wenn fie nicht 
fommen, weil fie nicht kommen können, Aber wieder 
kommt Luther, nachdem er die Freiheit and metaphyſiſchen 
uud moralifchen Gründen beftritten, auf Gottes abfolutes 
Bollen und Wiſſen hinaus, das höher fey, denn alles 
Menfchenwiflen, daher demfelben unbegreiflich und vers 
borgen, 141: „Sofern ſich Gott verbirgt nnd von und 
nicht gefannt feyn will, geht das une nichts au; deun bier 
gilt wahrhaftig das Wort: was über uns geht, geht und 
nichts an. Gott ift alſo in feiner Majeſtät und feinem 
Beien zu belaflen, denn fo haben wir nichts mit ihm zu 
verhandeln, und fo wii er auch nicht mit fich verhandelt 
ſehen, fondern fo weit er ſich angethan und kundgethan in 
ſeinem Worte, das er und gegeben, haben wir mit ihm zu 
verhandeln, was feine Zierde und fein Ruhm if.” 13: 
„zweierlei Dinge find Gott und fein Wort, gerade wie 
Schöpfer und Gefchöpf zweierlei And. Freilich (151.) wird 
bie Bernunft nafeweid und ſchwatzhaft, wie fie ift, fagen, 
dad fey eine ſchön erfonnene Ausfluht, daß wir, fo oft . 
ums Brände ind Gedräuge bringen, auf feine furchtbare 
Najekät und zurückziehen und den Gegner, wenn er bes 
ſchwerlich ift, zum Schweigen verweifen. Aber es ift nicht 
unfere Erdichtung, fondern wir fagen da ein Gebot, das 
ia der Schrift felbft ſteht und beſtätigt if.” Kann eö aber 
eine größere Inconſequenz geben, als aus der Schrift, in 
der nach der anfänglich voraugegangenen GEntwidelnng 
Ales deutlich gefagt feyn ſoll, den Sau heraudzuzichen, daß 
die im Worte Gottes geoffenbarten Gebote anf einen ver; 
bergenen Willen Gottes zurückweiſen? etwas Ungereimte⸗ 
186, als ans einzelnen Steffen, die mit allem Ernfte ergrifs 
fen werden, beweifen wollen, daß eine ganze Reihe, daß 
8 * 


116 Bed 


die Durchhingehenben Ermahnungen bed Geſetzes, daß bie 
beflimmten Zufagen der Gnade nur eitel Schein und Spiel 
feygen? Mit welchem Namen foll eine Sonfequenz benannt 
werden, die, weil fie die Univerfalität der Gnade nicht 
aus der Schrift entfernen und doch eben fo wenig mit ihrer 
gefpannten Anficht von der göttlichen Abfolutheit vereinis 
gen kann, auf einen verborgenen Willen Gottes zurüds 
fommt, der dem geoffenbarten geradezu entgegen if? 
Welche Bürgfchaft iſt deun dann gegeben, daß es Gott mit 
- feiner Offenbarung in irgend etwas Ernſt feyn könne, 
Ernft ſeyn müffe? Nach dem einen will Gott, daß allen 
Menfchen geholfen werde, nad dem andern nur Kinigen 
das Leben, Audern bie Verdammniß geben. In der Schrift 
ſelbſt aber ift kein Anzeichen, welcher diefer Willen den 
Borzug verdiene; alfo muß die menſchliche Bernunft in 
leßter Inftanz doch entfcheiden, welches denn nur der rechte, 
der wahre Wille Gottes fey. Die Vernunft entfcheider, 
d. h. eben jene nafeweife, vorlaute, unwiffende Menfchens 
vernunft entfcheidet, was der Abfolutheit Gottes gemäß 
fey. Und doch muß fie von Anfang vor der Abfolutheit 
Gottes ſchweigen. Da ift offenbar ber Punkt, wo ed mit 
dem Denken aus ift und die Gedanken Einem flille ftehen. 
Das ift ja (52.) des Glaubens höchſte Stufe, an deſſen 
Gnade zu glauben, der fo Wenige errettet, fo Viele ver: 
damımt, zu glauben an deſſen Gerechtigfeit, der durch ſei⸗ 
nen Willen mit Nothwendigkeit und verbammlich macht, 
"fo daß er ih an den Qualen der Elenden zu freuen und 
mehr ded Haſſes als der Liebe werth zu feyn fcheint, 

Aber Eine Frage läßt ſich doch nicht abweifen: woher 
fommt denn dieſe Entgegenfegung im göttlichen Willen, 
woher denn die Prädeflination, die zu Tod oder zu Les 
ben von Ewigkeit entfcheidet, woher das Böfe, das 
den Tod zur Folge haben muß, woher der abfolute Ges 
genfas? Hier fällt die Antwort verfchieden aus, je nach: 
dem entweder „abfolut” oder „Segenfag” premirt wird; 


über die Praͤdeſtination. 117 


in jenem Falle wird die eigentliche Realität ded Böfen 
negirt, in diefem wirb ein phyfifcher Dualismus aufges 
ftellt, der nahe an Manichäismus fireift und den Flacius 
fpäter nicht Rärker betonen konnte. 1) Wir nehmen 
suerft die manihäifche Seite, welche dad Böfe zur 
Subſtanz der Natur zu machen fcheint, 187: „Was von 
der Ereatur im Gottlofen und im Satan iſt, ift ald Ges 
fhöpf und Werk Gottes feiner Allmacht und Lenkung ges 
trade fo nnterthan, wie alle andern Geſchöpfe. Er wirkt 
aber in ihnen fo, wie fle find und wie er fie vorfindet, 
dv. i. weil fie verkehrt und böfe find und doch durch die 
Bewegung der göttlichen Allmacht fortgeriffen werben, fo 
thun fie auch nur Verkehrtes und Böſes.“ Das quales 
Ali sunt et quales invenit wird nun aber fogleich weiter 
erflärt: „Wie wenn ein Reiter ein Pferd mit zwei oder 
drei Füßen treibt, fo treibt er es fo, wie das Pferd ift, 
d. h. das Pferd geht fchlecht. Da fiehft Du, daß Böfes 
geichieht, DaB aber Bott doch nicht das Böfe thun kann, 
wenn er auch Böſes durdy Böfe vollführt, darum, weil 
er, felbft gut, Böfed nicht thun kann, aber fchlechte 
Berkzeuge gebraucht. Der Fehler liegt alfo in ben 
Werkzeugen, bie Gott nicht unthätig feyn läßt, gerabe 
wie wenn der Zimmermann mit einem fügenartigen und 
gesähnten Beile fchlecht fpaltet.” Woher kommt denn 
aber die Schlechtigfeit der. Menſchen? doch nicht aus ih⸗ 
rer Selbftbeftimmung, denn fie find ja nur Werkzeuge? 
woher find die Werkzeuge fchlecht, warum gebraucht 
fe Gott in folcher Befchaffenheit, warum ändert er 
fie nicht und macht aus fchlechten nicht gute? Denn 
vor fchlechte Werkzeuge gebraucht und doch einerfeits ihre 
Schlechtigkeit kennt, andererfeitd ihnen davon helfen 
löunte, der iſt doch gewiß felbft ſchuld an ber fchlechten 
Arbeit. Das kann aber bei Gott nicht fein! er ift ja 
get. Affe, müflen wir rückwärts fchließen, muß eine der 
Prämiffen falſch feyn: entweder kennt er ihre Schlechtig⸗ 


118 Bed 


keit nicht, — aber er ift ja allwiffend, oder — er kann 
fie nicht ändern. Damit wird aber Gottes Almacht auf: 
gehoben, und der Gegenſatz volllommen zu einem princis 
piellen, rein phyſiſchen Dualidmud. Das zeigt fih am 
deutlichſten (163,), wo Luther beweifen will, unfere Thaten 
feyen die unfrigen, wenn fie gleid; mera necessitate ge: 
ſchehen. Da heißt es denn: „Wenn, was unfer heißt, 
auch unfer Werk it, fo haben wir auch die Augen uns 
ſelbſt gemacht, die Hände, bie Küße find nnfer Wert, es 
müßten benn nur Augen, Hände, Füße nicht unfer heis 
Ben.” Die Entgegnung wäre hier wieder Mar: bei Au⸗ 
gen, Rafen u. f. w. fagt man nicht facere, fondern ha- 
bere. Bei den opera aber heißt ed facere, und das weit 
zurück auf ein velle. Diefer Linterfihied fol nun aber 
eben nicht gelten, vielmehr follen unfere Werke zu unfe: 
rem Wefen gehören, wie die natürlichen Gliedmaßen und 
natürlichen Sinne. Gerade, wie wenn das Pferd nur drei 
Füße bat, fo ift das freilich ein böfes Ding, aber es if 
einmal feine Natur, oder, wenn dad Beil mehr einer 
Säge gleicht mit feinen Scharten, wer könnte vernänftis 
gerweife dem Beile gram feyn? Wollte man fagen, es 
gehöre zum Begriffe, zur Natur, zum Weſen eiues Beils, 
fcharf und nicht fügenartig zu feyn, und eins, das ſchlecht 
fehneide, fey eben darım ein Widerfpruch gegen feine 
Idee; fo ſey nun eben auch des Menfchen Natur nicht 
die ideelle, wie fie aus bed Schoͤpfers Hand hervorging, 
— fo if das Alles ganz recht, nur müſſen wir und über 
eine Frage dann Belehrung ausbitten, woher nämlich 
diefe Alterirung und Berfchlimmerung, diefer Widerfpruch 
gegen die Idee ſtamme. Das gerade ift der letzte Grund, 
nm den es fich handelt. 2) Die Freiheit kann diefer nicht 
feyn, denn. fie ift, wie oben gezeigt, durch Die actuale 
Macht Gottes aufgehoben; Gottes wirkfamer Wille wie 
der nicht, denn Bott iſt gus und heilig. Alſo die zwei 
Örlinde finden nicht Matt. Run ift entweber die Folge, 


über die Präbeflination. 119 


bie verfehlimmerte Natur, oder fie ir wicht. Iſt fie, — dann 
muß ein anderer Grund für fie eriftiren, und ba wäre 
allerdings nadı dem Übigen der Satan ganz in der 
Gtelle, dann aber iſt nicht abzufehen, wie Luther den 
Manichäismus vermeiden follte. Es bleibt alfo nur die 
andere Folgerung: Die Folge iſt nicht, weil fie keinen 
Grand dat. Das Böfe iſt nicht, es hat Feine Realität, 
es if das non ens. Und das ift die Anficht, Vie durch 
den verborgenen Willen Gottes offenbar verlangt iſt und 
die kLuther ſelbſt einmal ausdrädlich vertritt (186): multa 
sidentur Deo et sunt bona valde, quae nobis 
rideutur et sunt pessima. 

Radı ad dem läßt fih gewiß nicht fagen, Luther habe 
nraufänglich, alfo gerade wie er vom Jatereſſe der Res 
formation innigft erfaßt war, eine mildere Prüdeſtina⸗ 
tionsanficht gehabt, als Balvin. Vielmehr ift fein Reſultat 
sch härter, fein Princip aber das gleiche. Bon dent 
abfolnten Wiffen und Willen Gottes aus, daB und zum 
größeren Theile unerlennbar und verborgen ift, nimmt er 
feinen Standpunkt, um die menfchliche Kreiheit mit meta» 
phyfifen Gründen aufzuheben, Denfelben Weg fchlägt 
Melauchthon in der erfien und zweiten Ausgabe der - 
loei 2) ein. Nach dem Bemelfe, daß bie Freiheit nur 
noch im Fleifchlichen übrig fey, fährt er fort (c. VIL. Fol.9.): 
Endlich nimmt dem Menfchen die Freiheit die göttliche 
Prädeftination; denn Alles erfolgt nach der göttlichen 
Brädeflination, die iußeren Werle, wie bie inneren Ger 
danken in allen Geſchöpfen. Wie alfo? in der Welt fol 
ed Beine Zufälligfeit geben! Nichts ift Zufall, nichts Uns 
gefähr. Alles erfolgt mit Nothwendigkeit, fo lehrt bie 
Schrift: nihili eommentum est dogma schola- 
sticum de libero arbitrio. | 

Aber in Melanchthon eben haben wir auch ben Wende⸗ 


a) Ich citire aus ber ſtraßburger Ausgabe von 1528. 


120 Ä Bed 


' 
J 


punkt der lutheriſchen Lehre und den Anfang der weite 
ren Entwidelung. Wurde, wie bei Calvin und Luther, 
das abfolute Wefen Gottes fo gefpannt, fo war es uns 
möglich, das Böfe befriedigend zu erflären. Jede Erfläs 
rung mußte entweder dem religiöfen Intereſſe für Die 
Heiligfeit Gottes, oder dem religiöfen und fpeculativen 
zugleich für die Bedeutung des Böſen widerfireiten. Dies 
fed Bewußtſeyn war für Melanchthon, wie er nicht der 
Mann der zähen Gonfequenz war, entfcheidend, eine 
Bermittelung zwifhen Prädefination und 
Freiheit anzubahnen, und dieg erflärt er felbft geradezu 
in den fpätern Ausgaben (1536 ift der locus de causa 
peccati aufgenommen): „Darum ift die Zufäligfeit zu 
halten, daß wir Gott nicht zum Urheber oder zur Urs 
fache des Böfen machen, und die Freiheit it ein Gefchent 
Gottes, oder die Ordnung im Willen.” Hiernach hat er 
felbft denn in den fpätern Ausgaben, der augeburger 
von 1536 und der leipziger von 1556, die Grundzüge der 
künftigen Kirchenlehre gezeichnet 3). An die theoretifche 


a) So in ber lehtgenannten, leipziger Ausgabe: locus de causa 
peccati et contingentia 69: sunt causae peccati voluntas dia- 
boli et voluntas hominum, quae avertunt libere se sua sponte 
a Deo, nec volente, nec approbante illam aversionem, et hae- 
serunt vagantes extra ordinem in obiectis. 74: aliter deter- 
minat Deus ea quae vult, aliter illa quae non vult, aliter 
quae a sola ipsius voluntate pendent, aliter quae partim 
ipse facit, partim voluntas humana, 82: sic agit Deus 
cum voluntate, sustentans et adiuvans ordine agentem, sed 
non iuvans ruentem contra ordinem, etsi eam sustentat. 
Sodann de libero arbitrio 93: hic concurrunt tres causae bo- 
na6 actionis, verbum Dei, spiritus sanctus et humana voluntas 
assentiens, nec repugnans verbo Dei. 96: cum promissio 
sit nniversalis, nec sint in Deo duae contradictoriae volunta- 
tes, necesse est in nobis esse aliquam discriminis 
causam. Endlich de praedestinatione 552: causam reproba- 
tionis certum est hanc esse, videlicet peccatum in hominibus. 


Diefelbe Zendenz fpricht ſich auch aus bei Che mnig (examen conci- 





über die Präbeflination. 121 


Clanſel, Bott möchte ſonſt Urheber des Böfen werben, 
ſchloß ſich nämlich fogleich auch die praftifch wichtige an, 
Gott nit zum Urheber, zum abfolntn Grunde einer 
ewigen Berbammniß zu machen und dadurch die menfchs 
lihe Zurehuung zu zerfiören. Diefe Klippe der Prädes 
Rinationslehre hat die Kirchenlehre zu umgehen ſich die 
Aufgabe gefege und dieß durch Einführung einer Art von 
Zreibeit zu erreichen gefucht. So find wir denn bei der 


B. Lutherifhen Kirchenlehre 


über die Prädeſtination felbft angefommen. Um aber ben 
Erfolg ihres Bermittelungsverfuches zwifchen Prädeflis 
nation und Freiheit richtig beurtheilen zu können, müflen 
wir und zuvor in die betreffende Stelle bed Syſtems 
verfeßen. Dazu ift nothwendig, auf die allgemeinen kirch⸗ 
lichen Grundbegriffe über das Berhältniß von Gott und 
Menfch zurückzugeben. Diefe ftellen fich von felbft unter 
deu zwei Geſichts punkten dar. 1) Der Menſch vor der Be: 
kehrung; 2) Der Menfch in der Belehrung, und hierauf 
Bird dann folgen 3) die Lehre von der Präbdeftination, 
dran engen Zufammenhbang mit dem Borangehenden 
Melauchthon bezeichnet hat in dem Kanon: non alia causa 
praedestinstionis, quam iustiflcationis quaerenda est (AUg8s 
burger Ausgabe, de praedestinatione), 

Bei der Betrachtung des Menfhen vor der de 
kehrung muß bad Verhältniß von Erbfünde und Freis 





li Tridentini. Frankfurt 1590. Tom. }. de libero arbitrio p. 
%0.): Qauando spiritus sanctus per verbum coepit naturam sa- 
bare, accensa aliyua scintilla efhcaciae et facultatis spiritualis, 
liget renovatio non statim sit perfecta et ubsoluta, Lunc’ tamen 
sec mens, nec voluntas est otiosa, sed habent 
aligunos novos motus, quos etiam debeut exercere medi- 
tando, orando, conando, luctando. .. Sed ad spirituales actio- 
nes in nobis mens et voluntas ex naturalibus suis viri- 
bus effective nihil conferunt, 


122 Bed 

beit im natürlichen Weufchen anseinanbergefeht werben. 
Der Menfc if, von diefem Zugeſtändniſſe müſſen wir 
audgehen, nach der Formula Goncordise p. 612 a) andy 
vor der Belehrung eine creatura ratienalis und nad Ger⸗ 
hard (loci theologlci. Jena 1615. Tom. II.) de Ilb. arbitr. 
32. non voluntate homo, sed voluntatis sanitaie privatus est. 
Bernunft und Wille ſind alfo dem Menſchen nicht abhau⸗ 
ben. gefommen, fomit auch die Kreibeit nicht, vielmehr 
fagt Die Apol. Confess. VIII. ausdrüdlid: habet humana 
voluntas libertatem in operibus et rebns deligendis, quas 
ratio per se comprehendit, potest aliquo modo efficere 
iustitiam civilem seu iustitiem operum, potest loqui de Deo, 
exhibere Deo certum cultum, externo opere obedire 
magistratibus, parentibus, ... in opere externo eligendo 
potest continere manus a caede, ab adulterio, a furto. 
Cum reliqus sit in natura hominis ratio et Judicium de 
.rebus sensni subiectis, reliquus est etiam delectus earum 
rerum, et libertas et facultas efficiendae iustitiae ci- 
vilis, quamquam tauta est vis concupiscentiae, ut mialis 
affectibus saepius obtemperent homines, quam recto iu- 
dicio. Hier ift denn die einflußreiche Unterfiheidung im 
Begriffe der Freiheit fchon gegeben (vgl. Conf. Aug. XVII.) : 
die eine iſt quoad externa, iustitia civilis, Freiheit in 
äußeren. Dingen, bürgerliche Gerechtigkeit. Diefe it dem 
Menſchen noch jegt immer eigen. Aber etwas Anderes 
iſt die Freiheit im wahrhaft fittlichen, religiöfen, inners 
lichen Sinne, ober die libertas in rebus spiritua- 
libus et divinis. Form, Conc. 656—660: hominis non 
renati intellectus, cor et voluntas ex proprüs naturalibus 
viribas nihil potest intelligere, credere, amplecti, cogitare, 
velle, inchoare, perficere, sgere, operari aut cooperari, 
sed homo est ad bonum prorsus corruptus et mortuus, 
ita ut in hominis natura post lepsum ante regenerstionem 


a) In ber Ausgabe ber ſymboliſchen Buͤcher von Haſe 1887. 





über die Präbdeflination. 123 


ne scintillula quidem spiritualinn rerum religus 
manserit aut restet, quibus ille ex se in gratiam Dei se 
reparare, aut oblatam gratiam epprehendere aut eiws gratise 
capax per se esse possit, aut se ad gratiem applicare, aut 
ıccommodare, aut virikus suis propriis allquid ad convereio- 
nem suam vel ex tota vel ex dimidia vel minine parte 
oonferre, agere, operari vel cooperari possit. Was aber 
die intellectuelle Seite betrifft, fo hat zwar ber 
zatürliche Berfiand des Menfchen ein Fünkchen übrig von 
der Kenutniß, daß ein Bott fey, aber doch ift die Ber, 
annft fo nnwiffend, biind und verkehrt, daß, wenn audı 
die geiftreichften nud gelehrteſten Männer in dieſer Welt 
das Evangelium vom Sohne Gottes, von der göttlichen 
Berheißung, vom ewigen Deile leſen und hören, fie dafs 
felbe doch nicht and eigenen Kräften fafen, verfichen, 
glanden nnd als wahr anerkennen können. Und, um 
Beide, das praktiſche und theoretifche Berderben, zufams 
nenzufaſſen, in feinem Willen iſt der Menſch durch bie 
&rtfände fo elendiglich verkehrt, vom Bifte der Sünde 
argeſteckt und verdborben, ut ex ingenio suo ei ne- 
(ura totus sit malus, Deo rebellis et inimicus, et 
ad omnis, quae Deus odit, nimium sit potens, vivus et 
efficaz, 

Wie aber fol nun eine Anknüpfung Gottes an folche 
Natur möglich feyn? Hat der Menſch ſolches Berderben 


in fih, wie Tann er denn Gottes Gnade auch nur aufs 


uchmen? Wie iſt 2) dee Menfch in der Belehrung 
su denfen? Hierauf. hat die Form. Conc, 20— 11. zu ants 
worten: „Die Predigt und das Hören bed Wortes Gots 
tes ſind Die Werkzeuge des h. Geiſtes, mit weichen und 
darh welche er wirken, die Menfchen zu Gott befehren 
md in ihnen das Wollen und Bollbringen fchaffen will. 
Diefed Wort Botted kann ber auch noch nicht befehrte 
Menſch, auch der Unwiedergeborene mit feinen äußeren 
Ohren hören und leſen. Denn in folchen Dingen hat er 








124 Bed 


audı nach dem Kalle eine Art’ von freiem Willen.” Mar 
unter 1) eine Freiheit in äußerlichen Dingen zugeftanden, 
ſo it nun bier das zweite Zugeſtändniß a) auch in geifl- 
lichen Dingen eine äußerliche $reiheit, Habet enim lo- 
comotivam potentism: darum fann er die Äußeren 
Slieder regieren, in die öffentlichen Berfammlungen der 
Kirche gehen, das Wort Gottes hören oder nicht hören, 
und durch dieſe Verkündigung und Betrachtung des Evans 
geliums wird ein Füntchen von Glauben in feinem Her⸗ 
zen entzlindet. Diefed Locomotivvermögen gibt aber feine 
fittliche Zurechnung, vielmehr (662.) non aliquid ex se effi- 
cit active aut efficaci habilitate, aptitudine aut capacitate, 
sed capacitste tentum passive Dei gratiam in se 
acelpit. Run aber folgt b) body eine Bermahrung gegen 
ein fogenanntes Mißverſtändniß von Luther’ Ausſpruch, 
daß der Menfch in der Bekehrung ſich pure passive vers 
halte: er meint damit gewiß nicht, daß die Belehrung 
ohne das Wort Gottes gefchehe, fondern er wollte dag, 
des Menfchen Belehrung fey nicht nur theilweife, ſondern 
durchaus ganz ein werkthätiges Geſchenk und ein Wert 
allein des heiligen Geiſtes. Dieß gefchieht jedoch nicht 
in der Art, wie wenn eine Bildfänle aus Stein geformt 
oder ein Siegel in Wachs gedrucdt wird, wo dad Wache 
feine Empfindung, feine Kenntniß und keinen Willen hat. 
Hier Inüpft fidy nämlich ein drittes Zugeſtändniß an die 
Freiheit an, wenn auch nur ein negatives:. fie kann wis 
derfichen: gratia resistibilis. 672: Deus hominem 
non cogit, und kurz zuvor: hac ratione dici potest, homi- 
sem esse lapidem aut truncum. Sed tamen ad conrversio- 
ncm suam prorsus nihil conferre potert et hac in parte 
multo deterior est lapide.et trunco, quia re- 
pugnat verbo et voluntati Dei. 

Wir fehen, beide Seiten follen zu ihrem Rechte kom: 
men; der Freiheit werden ber Reihe nach bie drei Zuges 
ſtändniſſe der iustitie civilis, locomotiva potestas und gra- 


über die Praͤdeſtination. 123 


tia resistibilis gemacht. Andererſeito aber iſt doch ber 
Menſch mere passivus und die Gnade thut Alles. Dieß 
ſind die zwei weſentlichen Momente, durch welche nun 
an 3) die kirchliche Lehre von der Praädeſtination 
beſtiumt wird und welche bei ihrer zweifachen Seite, 
Erwählung und Verwerfung, bie conſtitutive Rorm ab» 
geben. Es fol nämlich zugleich im Interefle der menſch⸗ 
lihen Zreiheit und der göttlichen Heiligkeit die von Ans 
gufiin gemachte Linterfcheidung zwifchen Präſtienz und 
Prädekination erneuert werden, Dieß gefchieht zunächſt 
in Beziehung auf 

ı) die Ermwählung. Form. Conc. 798: Gottes 
Boranswiffen und Vorherſehen, vermöge deſſen er Alles, 
the es gefchieht, vorfieht und voraus weiß, behnt fidh 
auf alle Befchöpfe, gute und böfe, aud. Gottes ewige 
Erwählung oder Berorbnung zum Seile (welche Begriffe 
in der Schrift promiscue gebraucht werben nach Gerhard's 
Inteinanderfegung de elect. et reprob, 28.) geht nicht zus 
geh auf Gute und Böfe, fondern unr auf die Söhne 
Shıme, welche zur Erlangung bed ewigen Lebens erwählt 
und verordnet find, ehe der Welt Grund gelegt war. 
0: Sein ewiger Rathſchluß ift, Alle, welche wahrhaft 
Buße thun und Chriftum in wahrem Glauben ergreifen, 
u rehtfertigen, in Gnaden und ald Kinder und Erben 
des ewigen Lebens aufzunehmen. Die Präpdeftination hat 
üsbefondere die Aufgabe, alles Berdienft auszu⸗ 
Idließen. F. €. 821: Falſch ik ed und dem Worte 
Gottes widerſprechend, daß nicht bloß die göttliche 
darnherzigkeit und das einzige allerheiligfte Verdienft 
khriti, fondern auch etwas in uud (aliquid in nobis) Ur⸗ 
fühe der göttlichen Erwählung ſey. Eben fo falfch aber 
Mr, dag die Erwählung nur im abfolnten Rathſchluſſe 
Gones feſtgeſtellt ſey, vielmehr iſt fie gegründet in prae- 
'isione fidel atque intuitu Christi per fidem appre- 
bendendi. Dabei aber hat der Glaube doch fein Ber 





126 Bed 


bienft, fondern (Gerhard 172.) wie wir in der Rechtfertis 
gung gerechtfertigt werden durch ben Glauben, wo alle 
Kraft der Rechtfertigung und genommen if, fo werden 
wir erwählt durch den voraudgefehenen Glauben gra- 
tuita electione, non tamen absolute. 

Geſchieht aber die Ermählung inteitu Christi, fo ent⸗ 
fieht confequenterweife bie Frage: da, Ehrifli Verdienſt 
univerſell if, it auch die Ermählung eine univerfelle 
oder nicht? Die Kirchenlehre antwortet bejahend (804.), 
daß nicht bloß Die Prebigt der Buße, fondern auch bie 
Verheißung ded Evangeliums umiverfal ſey, d. b. alle 


WMenſchen angehe, 805. und diefe Berufung Gottes, ver» 


möge der burc dad Wort das Evangelium angeboten 
wird, halten wir nicht für erheuchelt und verftellt, fon» 
bern wir wollen ald gewiß aneriennen, daß Bott durch 
diefe Berufung feinen Willen offenbare, wie er nämlich 
in denen, die er alfo beruft, durch dad Wort wirtfam 
fey wolle, daß fie erleuchtet, belehrt und gerettet wer⸗ 
den. 807: Daß aber Biele berufen und Wenige ausder- 
wählt find, davon iſt der Grund nicht die göttliche He: 
enfung, welche durch dad Wort gefchieht, denn das hieße 
Bott entgegengeſetzten Willen andichten, ald ob der, ber 
die ewige Wahrheit ift, ſich widerſprechen könnte oder 
Andered redete, ald er im Herzen behält. Denn dad wäre 
(Gerh. 71.) nidytd Anderes, ale Gott die ſchlimmſte Art 
von Heuchelei zumuthen. Aber, diefe Einwendung macht 
Gerhard ſelbſt (25.), wenn Bott im Ernfie Alle gerettet 
wien wollte, fo würden fie doch auch gerettet werden! 
Er antwortet (75.) mit der Unterſcheidung von absoluta 
und simplex Dei voluntas. Deun (118.) das Ver⸗ 
dienſt Chrifti iſt univerfal, wenn man ed an fi, ohne 
die Beziehung anf feine Aneiguung betrachtet, aber feine 
Aneignung und fein wirkliche Genuß wird durch den 
Haß der Menfchen, die die geordneten Mittel verachten, 
‚ particular (codio heminum redditur perticularis). 


über die Präbeflination. 127 


b) So find wir deun zur andern Geite, zur Ders 
werfung, binübergetreten, und da giltfomit als 1) erfie 
Beſtiumung: die Schuld liegt im Meufchen. Denn, 
führt Gerhard fort, mit Irenäud zu reden, hört bad Licht 
siht auf wegen derer, die fich felbft geblendet haben, 
jondern jenes bleibt, wie es ift, aber die Berblendeten 
bleiben durch ihre Schnid in der Finfterniß, und fo (18.) 
wird das Wort Gottes, das an ſich ein Wort des Les 
ben ik, ex nocidente für Einige ein Geruch ded Todes 
mm Tode. Ja ſelbſt in ihrer Verdammung tritt die Unis 
verfalltät der Guade au ben Tag (111.): wenn fie das 
ram verdammt werden, weil fie nicht glauben au bes 
Sohn Gottes, fo folgt, daß auch auf fie das Leiden und 
Sterben Ehrifti einen Bezug hat, Sonſt könnten fie ja 
als Begächter deſſen nicht verdammt werden, was nad 
Gottes Rathſchluſſe fe gar micht angeht. Daraud ergibt 
ſich deun (Conf. Aug. XL): quod, tametei Deus ereat et conser- 
ılnalurass, tamen causa peccati est voluntaa malorum, quao 
aaadinvante Doo avertit se a Deo. F. C. 806: 
Br, durch das Wort berufen, dieſes verfchmäht und 
dem h. Beifte wiberfizebt und verftodt in der Halsſtar⸗ 
rigleit beharrt, den hat Gert zu verftoden, zu verfchmär 
bea und der ewigen Verdammniß zu übergeben befchlofs 
fm, wie Gerhard fagt (30.), veluntate sun &zouivy neu 
indielarta. Es wird nämlih an biefer Stelle 2) unter- 
ſchieden voluntas antecedens UND comsequens. 
Denn (Gerhard 79.) bei der volantas antecodens fommen in 
Vetracht die Mittel zur Geligleit, wie fie von Seiten 
Getted geordnet find und Allen angeboten werden. Bei 
der roluntas conseqguens aber kommen biefelben Mittel 
in Betracht, nur fo wie fie von den Menſchen angenom- 
wen oder vernachläffigt werben. Diefe Unterfcheidung ift 
eine allerdings erft von Gerhard beflimmt gemachte, aber 
cher dem Geifte des Syſtems entfprechende, wenn wir 
vergleichen 3. B. solid. declar. 818. Der Bater will 


128 Bed, über die Präbeftination. 


Joh. 6, 44. Niemanden ziehen ohne Mittel, aber er ge 
braucht als ordentliche Mittel und Werkzeuge fein Wort 
und die Sacramente. Was aber die Unterfcheidung eis 
gentlich befagen will, gibt Gerhard felbft deutlich zu er⸗ 
tennen (159.): der Rathſchluß Gottes ift ein ewiger und 
in Einem ganz einfachen Acte hat Bott von Ewigkeit 
Alled voraudgewußt, wir aber haben die Ordnung zu 
betrachten, welche die Schrift in Anbequemung (ovyxara- 
Belvovoc) an unfere Schwachheit befchreibt. Hiernach iſt 
nämlich 3) der Begriff Der voluntas consequens offenbar 
‚nur eine Accommodation an ben menfdhlichen Verftand, in 
Wahrheit aber niche wirklich in Bott, vielmehr gründet 
ſich zuletzt doch die Verwerfung in dem abfolnten 
Rathſchluſſe Gottes, der (Gerh. 17.) intuitu finalis 
impotentlae atque incredulitatis, quam praescivit Deus ab 
aeterno, von Ewigkeit feſtſteht. 

Se ift denn Gottes ewiger Ratbfchluß zugleich ein 
abfoluter und ein bedingter. Um Gottes Heiligkeit zu rets 
ten, werden 1) der Freiheit nacheinander folgende Zuge 
fändniffe gemacht: Freiheit im Aenßerlichen, im Geiſtli⸗ 
chen äußerliche Freiheit, Entäußerung der Gnade, ober 
justitia civilis, locomotiva potestas und gratia resistibilis; 
2) werden in Gott flatuirt eine praevisio fidei und bie 
Zweiheit einer voluntas antecedens et consequens,, simplex 
et absoluta. Aus Beiden zufammen folgt: 3) die Erlöfung, 
an fich univerfal, wird ex accidente particular. Wie aber 
dieſes Anfich und diefes Fürfich im höheren Aus und Fürs: 
fi) zufammengehe, darüber bleiben wir im Dunteln | 


(Der zweite, Eritifche Theil folgt im nächften Hefte.) 
| 





i 


Zifchendorf, der vaticanifche Bibelcoder. 1729 


. 3 
Nachricht 


vom — 
vaticaniſchen Bibelcoder*) 
Von 
Prof. D. Tiſchendorf. 


⁊ 





En Kritiker des neuteſtamentlichen Textes, ber nach 
Rom füme und nicht Alles daran ſetzte, ben berühmten 
vaticanifchen Bibelcoder zu benugen, der wärbe ſich an 
feinem Berufe verfündigen. Sind auch die Urtheile über 
feinen Werth nicht .einig, fo wird boch die Anficht wenig 
Widerſpruch erleiden, daß bderfelbe nebft feinen beiden 
MWahlverwaudten, dem Codex Ephraemi und dem Codex 
Alexandrinns , zur Feſtſtellung des urfprünglichen Apoſtel⸗ 
terteß wichtiger ift ald die Hunderte der Handfchriften, 
die nach dem zehnten Jahrhunderte verfaßt worden find. 
Allein trotz Diefer Wichtigkeit ſteht es außer allem Zweifel, 
daß die bisher von ihm genommenen Bergleichungen 
fehr mangelhaft geblieben find, Diefe Mangelhaftigkeit 
iR neuerdings am meiften durch diejenigen Arbeiten über 
den neuteftamentlichen Text hervorgetreten, ‚die den va⸗ 
ticauiſchen Eoder zu ihrer Hauptſtuͤtze machten. 

Der Zugang zu der geheimnißvollen Urkunde war 
wir daher bei meinem viermonatlichen Aufenthalte zu 
Re in Jahre 1843 eine Hauptaufgabe. War diefer Zu: 
ung auch fchwierig, fo blieb-er doch nicht unerreichbar, 
wich vorzugsweife den befonderen Verwendungen eine® 
diq feine Wilfenfchaftlichkeit hochberühmten Gliedes des 
Hklichen -Fürftenhaufes zu verdanken habe. Von ben 





2) Mit einer lithographirten Tafel Barfimile, 
Theol, Gtud. Jahrg. 1847, 


130 Tiſchendorf 


Reſultaten, die mir eine wiederholte mehrſtündige Ein⸗ 
ſicht des Codexr gewährte, habe ich Freunden in Deutſch⸗ 
land ſofort durch die allg. Kirchenzeitung Nr. 116. vom 
25. Juli 1843 Nachricht gegeben a). Aber Alles, was mir 
theild durch die eigenen Augen, theild durch die mir fchrift- 
lich gemachten Mittheilungen des Carbiuald Mai, theils 
durch die Benutzung der neuerdings ganz überfehenen 
parifer Vergleihung von den igenthümlichleiten bes 
Coder befannt geworden iſt, glaube ich den Freunden 
der neuteftamentlihen Tertkritit um fo weniger noch 
länger vorenthalten zu dürfen, da vieled Unrichtige in 
den kritiſchen Sammlungen dadurch berichtigt, vieles 
Schwanfende entſchieden, vieled Neue bem Alten hinzu⸗ 
gefügt wird, 

Der Mittheilung der Lesarten fchidle ich einige Pas 
läographifche Bemerkungen voraus. Bekanntlich hat Nies 
mand mit fo viel Sachkenntniß und fo angelegentlih das 
Alter der vaticaniſchen Handfchrift unterfucht, als Leonhard 
Hug. eine Commeutatie de antiquitate codicis Vati- 
cuni 1810 iſt aber längf vergriffen und fehr felten ges 
worden; deßhalb ift die Notiz nicht überflüffig, daß Hug 
die Handfchrift damals benutzte, als fie mit anderen Klei⸗ 
nobien der Baticaua in die yarifer Gefangenfchaft ge⸗ 
rathen war. Bei einem fpätern Beſuche in Rom hat 
Hug leider umfonft den Eoder nur zu fehen- gewünſcht, 
wie mir der nun heimgegangene Greis im Januar 1843 
felbſt erzählt hat. Den Anfichten Hug's über das Alter 
der voticanifchen Handfchrift ſtehen aber gegenüber die 
Unfichten des gelehrten Dünen Andreas Bird), der Durch 


a) Es Fam dadurch nothwendig in Wegfall, was ich zu Pfingften 
deſſelben Jahres von Rom aus über meine am 10. Maͤrz ges 
nommene Einfidt bes Coder in die Stubien und Kritiken geſchrie⸗ 
ben hatte. Da mein Auffas erſt im Jahrgange 1844 feine Stelle 
fand, fo hätte die den Coder betreffende Notiz füglich entfernt 
werben follen, 


der vaticanifihe Bibelcober. 131 


feine Bergleichung zuerft über den Tert der Handfchrift 
ein volleres Licht verbreitete, 

So weit mich nun meine eigene Prufung zu einem 
Urtheile berechtigt, muß ich Hug gegen Birch beipflichten, 
und namentlich vor Allem darin, daß Accente und Spi⸗ 
rims keineswegs von der erften Hand ſtammen. Aller⸗ 
dings fchließe ich dabei nicht aus, daß etwaige vereinzelte 
Spiritus und noch mehr der zu einer gewiflen Diärefis 
dienende Apoſtroph urfprünglich feyn mögen, was eine’ 
durchgängige fachvertrante Prüfung vielleicht noch zur 
Eutfheidung bringen kann. Doch Iäßt fidy beides nur 
in derfelben Weiſe annehmen, wie es fih in andern ural⸗ 
tm Docnmenten vorfinbet, wo ebenfalls von der Accen⸗ 
tmation noch Feine Spur vorliegt, aber dennoch biöwellen 
ein Spiritus aus befondern leicht erfichtlichen Gründen, fo 
wie nicht felten Der genannte Apoftroph fteht. Deffen erinnere 
ih mich z. B. von dem borgianifchen Pragmenten der 
Propaganda and dem fünften Jahrh., aus denen ich uns 
ter Anderem o oyAod aufgezeichnet habe, fo wie von dem 
älteten der beiden wiener Dioskorides, wohl and dem 
vierten Jahrh. Im letzteren ſah ich beſonders häufig, 
und zwar noch häufiger als im Codex Friderico- Augustanus 
zu keipzig, jenen biäretifchen Apoftroph, wie in Gvgıy’yao. 
Zur Streitfeage iſt ferner die Interpunction im vatica⸗ 
niſchen Goder geworden. Zu Hanpturhebern hat dieſelbe 
ebenfalls die fpätern Hände gehabt; vereinzelte Anfänge 
lagen jedoch ohne Zweifel fchon von der erften Dand vor, 
In meinem eigenen Facfimile von den zwei Stellen, bie 
ver Corrector unberührt gelaffen (fiehe die lithographirte 
Zefel), findet fich zweimal ein Punkt. Der Codex 
Priterico - Augustamus dient hierin zum beften Auffchluffe, 
dech une in denjenigen Terteöftreden, die ohne den fpä- 
ia Gorrector geblieben find. Da fehlt nämlich der Puntt 
mehrere Eolumnen hindurch gänzlich, während er ander» 
wärtd vereinzelt ſteht, und zwar befonder6 da, wo eine 

9” : 


132 | TZiſchendorf 


Treunuugsangabe der Wörter, wie bei zuſammeunſtoßen⸗ 
den Nominibus propriis, fehr erwünfcht zu feyn fchien. 

Bon Abbreviaturen kömmt im vaticanifchen Coder, 
außer den allgewöhnlichen , fehr wahrfcheinlich auch eine 
für xos vor; vielleicht auch noch einzelne andere. Sch 
felbft habe daranf nicht hinlänglidy geachtet und bezweifle, 
daß die früheren Beobachtungen vollftändig gewefen flud. 
Auch im älteften fchon genannten wiener Dioskorides ſtehen 
bisweilen xus und ra abbrevirt. 

Was die Schriftzüge betrifft, fo freue ich mich fehr, 
durch die Veröffentlichung meiner Facſimiles eine richtige 
Anficht, und zwar bie erfte richtige, gelehrten Augen da⸗ 
von gewähren zu können. Blanchini's Facſimile ift keines⸗ 
wegs fehr fchlecht, aber e6 kann nur zur Veranſchaulichung 
der von fpäterer Hand überzogenen und fomit vernnſtal⸗ 
teten Schriftzüge dienen. Hug hatte mit richtigem Blicke 
zwei von den fehr wenigen Stellen ausgewählt, die, da 
fie aus Berfehen doppelt gefchrieben waren, vom Cor⸗ 
rector gemißbilligt wurden und deßhalb ohne Auffrifchung 
blieben. Nur diefe Stellen laffen die urſprüngliche Schrift 
bes Coder beurtheilen. Allein wenige Buchflaben find 
ohne eine wefentlihe Entſtellung in Hug's Facſimile 
wiebergegeben worden, So ift durchgängig falſch die pas 
Läographifch wichtige Form ded a; ferner durften in den 
Buchftaben &, 6, r, y die Endpunkte oder Endhaäkchen 
nicht fehlen; auch if die Form von o, ꝙ und x fo gut 
wie verfehlt. Dieß Alles wird ſich vollkommen aus einer 
Zufanmenftellung meiner Rachzeichnung von Rom. 4, 4, 
mit der Hug's von derfelben Stelle ergeben. Ich babe 
nicht nöthig zu verfichern, daß ich meines Theile auf jede 
Linie und jedes Häkchen forgfältigft geachtet habe. 

Im Allgemeinen ift nun der Schriftcharafter im va⸗ 
ticanifchen Eoder ohne Zweifel dem höchften Alterthume 
zugehörig; mit einziger Ausnahme ded Codex Friderico- 
Augustanus (vergl. meine Prolegomena dazu) übertrifft ihn 


ber vaticanifche Bibelcodex. 133 


an Alterthümlichteit Feine einzige der mir befannten gries 
chiſchen Pergamenthandfchriften. Mehrere herculanenfifche 
Dapyrus, wie ſchon Hug hervorgehoben, ftehen, zumal 
mit Hinzunahme der Abwefenheit aller Anfangsbuchftaben 
und mit Rüdfiht auf die fonftige Gefammteinrichtung, 
in naher Berwandtfchaft zu ihm. (Auch darüber vergl. 
die Prolegg. des Codex Friderico- Augustanus.) Alles zu» 
fanmengenommen, kann ich nur der Anficht feyn, daß der- 
felde um die Witte des vierten Jahrh. verfaßt feyn möchte, 
wofür Hung mit Necht noch befondere geltend gemacht hat 
die gänzliche Abwefenheit der ammonifchen Sectionen, 
die Eigenthümlichkeit der Unterfchriften, fo wie die der 
Rapiteleintheilung in der Apoftelgefchichte und in den Brie⸗ 
fen, die Stellung des Hebräerbriefö und endlich den Ans 
fang des Briefes an die Ephefer, wo die Worte ev ayccon 
nr am Rande und nit im Texte fliehen. 

Nur über den leuten Punkt geftatte ich mir noch eis 
nige Worte, da ich darin ganz gegen Hug’s Anficht ftims 
men muß. Wäre ev eyeon von der erftien Hand felber 
anf dem Rande nachgetragen worden, fo hätte Hug dars 
auf mit Unrecht ein fo großed Gewicht bei der Alters⸗ 
bekimmung des Goder gelegt. Denn dann ließe fih am 
einfachſten annehmen, daß der Schreiber den Zufaß in 
feinem Borbilde nicht gefunden, aber ald gewöhnlich oder 
gar als weſentlich in feiner Abfchrift fofort nachgetragen 
hate. Allein Hug's Angabe, dieſe Worte feyen pari ele- 
gastia et assiduitate ac reliqua pars operis, sed charactere 
pullo exiliori, gefchrieben, muß ich entfchieden in Abrebe 
ſtellen. Augen, die der Paläographie fundig find, werben 
von ſelber dieſes Refultat aus meinem Kacfimile gewinnen. 
sh füge aber dazu noch folgende Erläuterung, Der 
ganze Charakter diefer Buchftaben iſt ein wefentlich an- 
derer als der der Tertesfchrift. In der Korm de s ift 
die fogenansite gefchmälerte Uncialfchrift unverkennbar; 
aber auch bei der Heinften Schrift am Ende einer Zeile 


134 diſchendorf 


findet ſich in den aͤlteſten Handſchriften niemals dieſe ber 
fpäteren Zeit angebörige Schmälerung *). Selbft anf den 
codex Ephraemi und den codex Alexandrinus leidet bieß 
feine volle Anwendung, ber die zahlreichſten Belege bier 
tet der codex Friderico- Augustanus; fie liegen in meiner 
durchgängig facfimilirten Ausgabe deſſelben Iedermann 
vor Augen. Was ferner die übrigen Buchſtaben außer 
s anlangt, fo enthalten fie ſämmtlich fichtliche Abweichun: 
gen von ber Schrift des Terted, Dad p in der Note 
bitte ich mit dem ꝙ in Rom. 4, 4. auf dem Facfimile zu 
vergleichen. Die flarte Linie in v iſt gerade da, wo bie 
Terteöfchrift durchgängig eine feine Linie hat. Die Buch⸗ 
ftaben 0 und o entbehren aller Feinheit der urſprüng⸗ 
lichen Schrift. 

Auc liegt ein Analogon von den Schriftzügen dies 
fer Note im Eoder vor. Apg. 14, 21. namlich fchrieb die 
erſte Hand uad'nrsvon”; die fpätere corrigirte daraus 
udmrevoavrss. Hier treffen in dem fpätern Zufage: vraa, 
befonders die Buchflaben s und s volllommen mit den⸗ 
felden Buchftaben in sv syeon zufammen. 

Dazu kömmt noch, was von Gewicht iſt, Daß die Tinte 
der Note gänzlich mit den aufgefrifchten Stellen überein» 
flimmt, obfchon fie offenbar ohne Auffrifchung geblieben if. 

Somit hoffe ich, meine Behauptung, daß ev zysco 
durchaus nicht von ber erſten Hand bed Coder ftammt, 
Har bewiefen zu haben. 

Do ich gehe zum Tritifchen Apparate für bie va⸗ 
ticanifche Handfchrift über. Die beiden Vergleichungen 
berfelben, bie eine von Andreas Birch, die andere nach 
Thomas Bentley benannt, find längft befannt unb viels 
fach benußt worden, Birch machte die erſte Mittheilung 
feiner Bergleihung in feiner Ausgabe der vier Evange⸗ 


— — 


a) Siehe daruͤber melnen „neuen Beitrag zur neuteſtamentlichen 
Textkritik“, Stud, u, Krit. 1844. Heft 2. 


der vaticanifche Bibelcodex. 135 


lien von Jahre 1786; genaner aber und umfänglicher 
war eine zweite in feinen Variae lectiones zu ber Apoſt el⸗ 
gefchichte und den Briefen vom Jahre 1796, fo wie zu ben 
Evangelien vom Jahre 18601, Die nach Bentley benannte 
Collation wurde zum Zwede ber von Richard Bentley 
beabfichtigten Ausgabe des R. T. und zwar meiftentheils 
von der Hand eines Stalieners gefertigt. Bon Richard 
Bentley kam fie an den Geiftlichen Thomas Bentley unb 
von ihm erhielt fie Woide, ber Herausgeber des Coder 
Alexandrinus, der fie au& dem Novum Testamentum Graece, 
Argentorati apud Wolfium Cephalaeum 1524, in die orforber 
Ausgabe von 1675 übertrug, So wurde fie dann, zu⸗ 
gleich mit Berädfichtigung jener ftraßburger Ausgabe, 
in der Appendix ad editionem Ni Ti e cod. mr. Alexan- 
drino im Jahre 1799 von. Heinr, Kord veröffentlicht. 
Beide Vergleihungen nun, die birch’fche und bie 
bentley'ſche, ergänzen fich gegenfeitig; doch if im Gans 
jen die letztere reichhaltiger, Freilich fagt Birch: Leeti- 
ones Lucae et lohannis ex schedis Bentleli exsoriptas amice 
eam nobis communicarvit Illustrissimus et Doctissimus Woide, 
wonach es fcheinen kann, Bird; habe den Coder in ben 
beiden Evangelien gar nicht angefeben. Ju der That 
macht Lachmann in feiner größern Ausgabe (Prolegg. XXII.) 
diefe Kolgerung ohne Rückhalt: Tantum afuit, fagt er, 
at hie certe (Birdy) librum omnium longe antiquissimum 
samma et eura et fide excuteret, ut evangelia Lucae et 
lehannis ne inspexerit quidem, sed Woidii schedas descri- 
bere satis esse duzxerit. Allein diefe Kolgerung möchte 
leicht ein zu raſches Urtheil feyn. Denn nachdrücklich 
ſprechen dagegen die da und dort in den Bergleichungen 
beider Evangelien bei Bird und Bentley vorliegenden 
Differenzen. Sch hebe davon nur einige hervor, wäh⸗ 
rend andere im nachftehenden Apparate ihre Erwähnung 
finden. Luk. 2, 37. fehlt axo vor Tov ısgov nur bei Birch; 
6,36. fehlt ovv nach Iıvscds nur bei Birch; 8, 40. ſteht 


136 Tiſchendorf 


bei Bentley: Eytvero sv ds pro Eytusro de ev, während 
es bei Birch heißt, daß Eysvsro fehle und dann zv ro Ös 
fiehe; 22,30. hat xgivovrss Bentley nadı Yuilac, Birdy 
nach sogani; 24,34. hat Bentley: o %o ovras nyEgQn, 
und Bird): ouroo nyepön 0 x0 8); 24,49, hat nur Birch 
Die Variante staroorsilm für axosssiin. Wollte man 
demohngeachtet dabei fiehen bleiben, daß Birch in den 
Evv. Euc. uud Joh. den Eober nicht einmal angefehen 
babe, fo müßte auf eine auffällige Mangelhaftigkeit in 
ber Herausgabe ber bentley’fchen Bergleichung bei Kord 
geichloflen werben. 

Zu biefen beiden Bergleichungen kommt aber noch 
eine britte, Die zwar früher al& die beiden andern unter 
nommen, aber, fo viel ich weiß, erft von Scholz für den 
textkritiſchen Apparat beuntzt worben if. Sie befindet 
ſich in ber königl. Bibliothek zu Paris ale Ar. 53. der 
griechifchen Supplemente. Eine Beilage, bezeichnet: Par- 
ticola di Lettera del M. R. P. B. Giulio di Sta. Anastasia 
al P. B. Henrico di S. Giuseppe, vom 11, Nov. 1669 by, 
beweilt, daß Giulio di Sta. Anastasis der Verfaſſer der 
Bergleihung if. Auf dem erſten Blatte derfelben hat 
eine neuere Hand bemerkt: Cette Ecriture est peut-&tre 
de Leon Allatius, eine Bermuthung, die wohl irrig iſt; 
denn in Rom wurde mir von dem gelehrten und fehr 
ehrenwerthen Monfignore Molza die Auskunft ertheilt, 
Daß unter jenem Giulio di Ste. Anastasie der Der: 
faffer der berühmten bibliotheca Rabbinice, ehemals Cuſtos 


— 


a) Beides führt auch Lachmann im Apparate zu ber Eitelle on, 
aber in ben Prolegg. fagt er: „non debuimus dubitare; delenda 
sunt ille, 0 xugsos ovzaa nyegdn BR” Diele berichtigende Nach⸗ 
richt bat nämlich darin ihren Grund, daß das Facfimile Blan- 
chini's gerabe biefe Stelle darſtellt. Da natürlich Eonnte kein 
Zweifel übrig bleiben. 

b) &. meinen Auffag in ben Studien 1842. Heft 2: „Zur Kritik 
bes neuen Zeftanente”, ©. 510. | 


der vaticanifche Wibelcober. 137 


der Baticana, Bartolocci, zu verfteben fey. Anus dieſer 
Bergleihung fagt Scholz daß er mehrere von Birch aus⸗ 
gelaffene Barianten ergänzt habe Ci. feine bibliſch⸗kritiſche 
Refe, ©. 35.). Dieß fagt er mit Recht; bagegen hat 
er aber auch fehr Bieled unbeachtet gelafien uud Anderes 
wieder geradezu falich angegeben, fo bag Lachmann wohl 
Grund hatte, in feiner Ausgabe von den Lesarten, bie 
Scholz angegeben, gar feinen Gebrauch zu machen. (Aus 
Ratt defjen mußte freilich Die parifer Quelle ſelbſt benutzt 
werden.) 

Allerdings ift nun dieſe Bergleichung Bartolocci's, 
der birch’fchen und der fogenannten benticy’fchen gegen, 
über, überaus mangelhaft; auch ift ihr Gebrauch durch 
deu Mangel der Berdangabe erfchwert. Dennoch ift dag, 
was ich daraus jur Ergänzung ber beiden erftern gefchöpft 
babe a), keineswegs unbedeutend und ich eile, es im Nach» 
Rehenden mitzutheilen, zugleich mit dem, was idy theils 
mit eigenen Augen im Eoder gelefen, theild vom Cardi⸗ 
nal Mei fchriftlich erfahren habe, 

Matth. 4, 23, lie der Codex nach Bartolocci zus 
zegımyev ev 0An ın yalılaıa. So aud) EoberC ... Bent» 
ley und nach ihm Lachmann geben an: xaus zegınysv oAn 
in yalıkasa. 

Matth. 7, 13. nach Bart. useAdere. Alfo richtig Bird, ; 
falfh Btl. uasAder:. 

Matth. 7, 14. nadı Mai orı orsvn a prima, zı Orevn 








a) Zrog ber gewonnenen Ausbeute Tann ich noch Einzelnes übers 
fehen haben, dba ich keine vollftändige Abfchrift nahm und mir 
die nöthigen Hälfsmittel zur genauen Zufammenftellung mit 
Bird) und Bentley nit zur Hand waren. Mein früherer, von 
Paris aus eingefandter Beitrag „Zur Kritik des R. T.“, Stu 
bien, Jahrg, 1842. Heft 2., hat zu meiner Freude den petersburger 
Geiſtlichen D. von Muralt veranlaßt, fid) eine volllommene Abfchrift 
ber pariſer Vergleichung fertigen zu laffen, um bavon in einer 
eigenen Ausgabe bed R, T. Gebrauch zu machen. 


138 TZiſchenborf | 


a secunde manu. Alſo richtig Bird. Bti. war unflar und 
unrichtig, inbem er angab, der Eoder habe 'Orl di arenı. 
Das 'Orl enthält natürlich die Lesart der erften und zu- 
gleich Die der zweiten Hand; nur war bei der leßtern das 
O zu tilgen ®), ds aber follte zur nächſtfolgenden Rote 
gezogen werden, wo zu fagen war, baß der Geber nicht 
zpodeyers Ös, fondern wposszsrs hat. | 

Matth. 11,16. nach Bart, z000pmvevvrz ToIG ErEgoLG, 
wie auch die Codd. CDZ haben. (Rahm. gibt falfch von 
C rous sraıpoıs an, obſchon bereitd Wetſtein das Rich⸗ 
tige referirt hatte.) Alſo richtig Birch; irrig Btl. und 
nach ihm Lachm. 

Matth. 11, 23, nad Bart. vpodnan, wie Birch; 
nicht vyodaen, wie Btl. 

Matth. 12,36, nadı Bart. Acanoouoiv; fo auch Goder 
C. Lachm. Auinamdıy, e silentio Bch. et Btl. b). 

Matth. 13, 9, nach Bart. fehlt axovar, wie ed im 
Soder B auch 13, 43. fehlt. An unferer ‚Stelle ſtimmt 
Cober L mit B überein. 

Matth. 14, 34, nach Bart. yerunsager. Das gedrudte 
Collationgeremplar hatte yeruncagsd; darnm bleibt bier 
fein Zweifel übrig. Gegen Birch“s ysvunaagss hatte Btl. 
yernoagsd, weßhalb Lahm. unentfchieden blieb. 

Matth. 16, 6. nach Bart. fehlt æuroio nach sımev. 
Btl. und Birch ſchweigen. 

Matth. 17, 24. Mai beflätigte bie Lesart Der recepta 


ÖLöpaxke. 


a) Merkwürbiger Weife hat audy ber ehemals ingolfäbter und jetzt 
mündhener Uncialcober, genannt evangeliorum X, an dieſer Stelle 
biefelbe Doppellesart. Er fchreibt nämlich örl. Finden ſich in ihm 
nody andere ähnliche Beziehungen zum Vaticanus, fo ift feine 
Ableitung vom letztern ungweifelbaft. 

b) Ich glaube, von diefem Zufage an allen betreffenden Stellen um 
fo weniger abfehen zu dürfen, da Lachmann niemals angegeben 
bat, ob er ein ausbrüdliches Beugniß der Lesart befigt ober nicht, 


ber vaticanifche Bibelcober. 139 


Matth. 17, 25. nach Bart. zus sidovrn. Go auch 
esd. 1., ähnlich cod. 33. und evangeliariom 27. Richtig 
(don Birch ; falfch Bel. und mit ihm Lachm. was sıseAdovra. 

Matth. 18, 19. nah Mai und Bart, zalım av. 
Richtig Br Birch; falfch Bl. und mit ihm Lachm. am 
ohne zaAın 

Matth. 21, 46. nad Bart. ı Er 80 Xp0pnenV, wie 
anh D nnd L und Drigenes. (Ich babe es in meinen drei 
Editionen in ben Tert genommen.) Lach. e silentio Bch. 
et Btl. sx&ön. 

Matth. 23, 37. Mai beftätigte die recipirte Lesart 
KEOXTELVOUGR, 

Matth, 24, 48. nach Bart. uov o xvosoc, wie fchon' 
Bir und nach ihm Lachm. Falſch Bel. uov xuotos. 

Mark. 2, 1. nadı Bart. xaı sed» aim, wie auch 
D und L. Dagegen haben Birch und Bil, fo wie Ladım. 
ze eanädev mal. Ich vermuthe, daß im Goder eine 
Eorrectur und alfo eine doppelte Ledart vorliegt. Ebenſo 
möchte fich’8 mit 

Mark, 2, 5. verhalten, wo gegen Birch's und Bent» 
ley’6 Angabe, apızııas sov, Bart. referirt aysswras dor, 
wie auch cod. A und andere lefen. Deßgleichen mit 

Markt. 3,7. Hier gibt Bart. an: 7xoAovdndeav, was 
wit cod. C und anderen zufammenftimmt, während Birch 
und Btl. 7koAovdnder berichten. 

Mark. 3, 31. nad Bart. ornxovrsc, wie eod. ©. 
Richtig Birch; irrig Bel. sornxowsee. Lachm. entfchieb 
ſich nicht. 

Markt. 4, 38. nach Bart. sysıgovdıw, Lachm. e si- 
katio Bch. et Bil. disysigovaıv. 

Mark. 7, 4. nach Bart. ansp sAaßov. Bel. referirt 
Haßov für das recipirte zageiaßov, ohne das vorher⸗ 
gehende & zu berühren, 

Mark. 8, 6. nadı Bart. zagayysiicı, wonach Bent⸗ 
Iey’d zagayysiss zu berichtigen iſt. 


140 | TZiſchendorf 


Mark. 9, 38. nach Bart. sp avrm o ımavvad, omisso 
: Asyav. Andy Cod. C läßt Asyaov weg. Alſo wohl falle 
kachm. e silentio Bch. et Bil. 

Mark. 14, 7. nad Bart. avroıs zavrors. Auch C 
und D haben avroıs. Danadı möchte Lachmann's aurovo 
ein Irrthum feyn, obfchon Bentley avrovs zavzors aus- 
drüdlich anführt. 

Mark. 14, 43. nad Bart. fehlt av fo gut wie in 
allen älteften Hanbfchriften. Ueberſehen von Bird und 
Bentley; doch z0g Lahm. av in Zweifel. 

Marl, 14, 46. nad) Bart. exsfalev ae yugas aurm. 
avın haben audy D und L. (Ich nahm's in den Tert.) 
Cod. C hat avrov, A hat avrmv = avrov. Demnad; 
möchte ich ſowohl Bentley’ sr avrm, dem Lachm. folgt, 
ale auch Birch's sw avrov für irrig halten a). 

Luk. 1, 78. nah Bart. zwıaxaderas für sxscxeryaro. 
Alfo richtig Birch und nad ihm Lachm.; falfh Bel. 
EREOKEDETON. 

kuk. 2, 38. nach Bart. ausn 7 ooa, wie auch ADL. 
Darum wohl irrig Bel,, dem Lachm. folgt, obſchon er 
zn avın apa ausdrücklich anführt. 


a) Ich wieberhole hier noch, was ich ſchon in meinem „bibliſch⸗kri⸗ 
tifhen Sendfchreiben”, allgem. Kirchenz. 1843. Nr. 116., vom 
Schlufſe bes Ev. Marci berichtet babe. eyoßovsroyag mit ber 
Unterfchrift ara gagxov flieht auf der zweiten Solumne und 
war ein wenig unterhalb ber Mitte berfelben, Darauf wirb 
die dritte Solumne ganz leer gelaffen und das Evang. Euch erft 
auf der neuen Seite begonnen, während body anderwärts immer 
mit der naͤchſtfolgenden Columne ſogleich bas neue Buch beginnt. 
Dieb geichieht 3. B. zu Enbe bes Evang. Zuc., das auf ber 
zweiten Golumne ſchließt; benn ſchon mit ber dritten Columne 
beainnt das Go. Joh. Beim Ev. Marci ſcheint mir nun ger 
fagt zu feyn: bis hieher ſchrieb Markus, aber dem Evangelium 
fehlt fein Schluß; vielleicht ſchon mit Rüdfiht auf erfundene 
Schlußzuſaͤte, wie fie z. B. im codex L vom Evangelium feldft 
noch gefonbert vorliegen. , 


der vaticaniſche Bibelcober. 141 


£ul 5, 6. nadı Bart. disoonooero, wie ſchon Btl. 
gegen bad disoonoos bei Birch und Scholz hatte, 

euf, 5, 9. nach Bart. ızdvov mv avveiaßov. Bil, 
und Birch fagen nur, daß das T der recepta im Goder 
fehle. ; | E 

tut. 6, 7. nad Bart. wa EVEMGLY xærnyoot⸗ (wie 
ih in den Tert genommen). Lachm. ſchloß e silentio Beh. 
et Bil, zernyogiav. 

Lak, 7, 41. Mai beflätigt ansdrücklich esmperksrer 
gegen das muthmaßliche zosopassrar. 

eul. 8, 3. nadı Bart. dınxovovv avroıs. E silentio 
Bch. et Bti. ſchloß Lachm. dumxovovv arm. 

euf. 8,12, nach Bart. oı exovdavres, wie auch Eos 
der L und andere. Lachm. e silentio Bch, et Bil. o: 
RXOVOVEEO. 

ent. s, N. nach Bart. oux evsducaro mcriov, wie auch 
Coder L a) und einige Minusfelcodices, die regelmäßig mit 
Coder B zufammenftimmen (Nr, 3. 131. 157,), Demnad 
falſch Bel. und Birch, obfchon fie svsdıdvaxsro ansdrüd. 
lich berichten. 

Eu. 9, 62. nad Bart, fehlt aurov nach nv 100, 
wie auch Origenes und andere Zeugen haben. Birch und 
BtL fchweigen davon. 

ent. 10, 15. nach Bart. sus rov edov, wie auch L 
lobſchon Scholz nichts Davon weiß) und andere verwandte 
Zengen, Bird) und Bil. berichten nichts, 

tuf. 10, 42. nach Bart. auıne, wie auch CDL. 
tadın. e silentio Beh. et Btl, ax œurno. 

uf, 11, 29. nach Bart. eye, wie auch AL cich 


— — — — 


2) Jerthuͤmlich geben Scholz und GSriesbach's editio tertin an, &os 
ber L Iefe own avadıd, (d.i. evedıövoxero), während auch Wet⸗ 
Rein faͤlſchlich euarıow ovx evadvanro referiert hatte, Nur bie 
Symbolae Griesbach's enthalten bereits das Richtige. 


142 Tiſchendorf 


nahm's in den Text)... kachw. e silentio Boh. et Bil. 
exiente. 

tut, 11, 50. nadı Bart. suesyvusvor, wie audh die 
Codd. 33, und 69., beide mit B fehr verwandt. E silentio 
Bch. et Btl. Lachm. exyuvvousvorv. 

Luk. 12,4. Mai beflätidt ausdrücklich axoxreworron. 

Luft, 12,11. nad) Bart, uegspunonse, wie auch LAX, 
Drigened und andere Zeugen. (Ich nahm's in den Text.) 

. Bir und Bl. notiren uspuundars, was Lachm. mit 
Necht in Zweifel zog =). 

£nf. 12, 25. nad Bart. znzvv ohne sva, wie auch 
D nebft anderen Zeugen, und wie ich in den Tert genoms 
men. Schon Bird; hatte dieſe Lesart, während BEL. aus⸗ 
brüclic, va referirte. Lachm. iſt Btil. gefolgt. 

Luk. 12, 33. nach eigener Anficht Baillavaa. Die 
gleihe Schreibart ſteht jedenfalld auch in deu andern 
Stellen bei Lukas. 

Euf, 12,36. wach eigener Anſicht avadven für avarvdsı. 
Ueberfehen von Birch und Bel. 

Luk. 14, 12, Bart, beftätigt, wenn auch indireet, Birch's 
Referat; anders Btl. Der Coder lieft alfo xaı yayıncaz 
avrazodoua 004, nicht xaı aysanodoua 60: Yyeyırar. 

Luf. 16, 9, nad Bart. und auch Mai orav exlsıın 
(Mai fagt noch, daß die zweite Hand sxkıam corrigirt 
hat), Danach iſt axlsıunss bei Birch und Bil. zu be 
richtigen. | 


®) Eigenthuͤmlich verhält fidy’s mit Luk. 12, 15. Birch fagt ausbrüd- 
lich, daß für „avrov prius“ alfo für dad aurounady fon, im cod. 
B avro fiehe. Mit Griesbach, Schulz und Scholz bin ich ihm 
gefolgt. Bentley hingegen bat nur, nachdem er zaone für no 
seferirt bat: ausm für aurovu. Daraus erklärt fidy der Wider: 
fprud, den De Wette in feinem Commentare zu biefer Stelle 
pay-98. (1846.) anführt. Leicht möglich iſt's Freilich, daß Birch 
nur vermutbungsweife das ihm von Woide mitgetheilte 
avın auf has erfie ausen bezogen bat. 


ber vaticanifche Bibelcodex. 143 


Lu. 19, 15. nach Bart. dsdoxus, wie Bil. und nad 
ihm Lachs. richtig angegeben haben. Falſch Birch, dem 
Schulz in Griesbach's ed. tert, und ich in meinen Aus⸗ 
gaben folgte: dsdmxen. 

£ul. 19,15. nach eigner Anfidht ci deszgayuareugavro, 
wie auch DL und Origened. Lachm. zıo zı dıszgayue- 
sevoovzo, wie es bei Bil. (und Birch) den Schein hatte, 

Euf. 20, 27. nach Bart. surgwrav, wie auch einige 
mit B verwandte Minuskelcodd. E silentio Beh. et Bil. 
tahı. zungwenderv. 

Luk. 22, 7. n sd für ev n sd. So au DL, uud 
ih nahm's in den Tert. Lachm. e silentio Beh, et Bil, 
vn m. , 

Lu, 22, 66. nach Bart. aunyayov; ebenfo D, Dris 
genes u.a. Zeugen. Lachm. e silentio Bch, et Btl. aunyayorv. 

Yoh.1, 18. nach Bart. OAsos für vos. Diefelbe übers 
aus merfwärdige Ledart haben nicht nur ced. L, eod. 33. 
und zwei Verſionen, fondern auch Origenes (zweimal), 
Irenäus (einmal), Arins (bei Epiphanind und Athana⸗ 
ſius) und mehrere andere der älteften Zeugen.“ . Rahm. 
e silentio Beh. et Bil. referirt vıoo. 

Joh. 5, 10. Mai beftätigt Die Uebereinſtimmung mit 
der recepta: ovx sbsarıv ohne aa; fo wie and 

Soh. 3, 35. ayallsacdınvas, nicht ayakdsadıwar. 

oh. 6, 24. nach Bart. wiosa. ziosagıa gab Lachm. 
and eigener Vermuthung an; denn Woide fagt p. 58. in 
der Appendix: „wiosagie. Sic Editio; an Ms. nescio.” 

oh. 6, 40. nadı Bart. zo Beinpa Tov zargod kon 
für 70 HeAnpe tov zamyavros us, wie auch CDLT 
%03. Lachm. fchloß e silentio Boh. et Bil. bie recepta. 

oh. 6, 42, nad Bart. zas vuv Asyaı ori. Ueber 
chen von Birch und Btl., daher Lachm. zus vuv Asyıs 
ovros ori. 


Seh. 6, 58. nach Bart. fehlt co perum, was ich auf 


ß ‘ 


144 - Zifchendorf 


die Autorität der mit B verwandten Zeugen aus bem 
Texte entfernte, Ueberfehen von Birch und Btil. 

Soh. 8, 52. Havaroy ov un Demonen für ov un ya- 
oa Davarov. Bil. hatte Havarov ov un Osconon und 
ihm hatte e8 Birch nachgefchrieben. Lachm. richtig Havarov. 

Joh. 8, 54. Mai beflätigt die recipirte Lesart: or 
Osos vamv soxiv. 

Joh. 8, 69. nach Bart. fehlen die Worte A Bun 
HEdOV avımv xaı Kapınyev ovrad, die ich bereits in meinen 
Andgaben aus dem Terte entfernt habe, was gleichfalls 
Lachmann in feiner größern Ausgabe that, — und 
Btl. ſchweigen. 

Joh. 9, 10. nad Mat evemzönden. Lachm. e silentio 
Bch. et Bil. avsoydnoav. 

Joh. 11, 21. Bart. ausdrüdlich: cs 76 ade pro xvpi£ 
& n0 omö8. 

Joh. 12, 7. nach Bart. rnonos. Bird und Btl. res 
feriren enonen. 

oh. 12, 25, nach Bart, axoAivsı. Lachm. zweifelte 
an der Nichtigkeit des Referats bei Birch und Btl. awodven 

Joh. 12, 40. nach Mai sacouas. Lahm. e silentio 
Bch. et Btl. sacmuaı. 

oh. 16, 23, nach Bart. und auch Mai: Asyc vum 
av ri aınöncs ohne ori. Birch hatte ausbrüdlich berich⸗ 
tet: oTı av ı pro orı oda av, und ihm ift Lachm. gefolgt. 
Btl. fagt nur: av ri pro 00« av. 

Joh. 16, 27. zapa rov zargos sinidov. So haben 
auch C"DLX ıc. Kalfch alfo Bird und Bel. und nad 
ihnen Lachm.: zapa zarpos sEnidov. Irrthümlich refe⸗ 
. riet Lachm., gegen bie Autorität feines Gewährsmannee 
Wetſtein, daß anch C den Artikel zov nicht habe, 

Joh. 17, 15. nach Bart. fol ıv@ rnendss avrovs Ex 
Tov xoduov für wa TnpndnG avrovs 8x Tov zovngov ftehen. 

Joh. 19, 12. nach Bart, exgauyasav für sugaLov 


ber vaticanifche Bibelcober. 145 


Ebenfo D (die urfprünglihe Hand fehlt jeboch hier) und 
mehrere häufig mit B ſtimmende Minnskelcodd. Darum 
wohl irrig Btl. (und Birch): sugavyaforv. 

Joh. 19, 29. nach Bart, uscruv ofove. Alfo wohl 
falſch assrov zov ofovo bei Btl. und Birch. 

Joh. 19, 29. nad Bart, vooaxw, nicht wie Btl., 
dem Lachım, folgte, vonze. 

Apg. 2, 31. nadı Bart. ours 7 dag& avrov, wie auch 
ACD n. a. 3. für ovös ıc, Birch und Bel, fchweigen, 

Apg. 2, 43, nach eigener Anficht syeıyero ds zuon. 
Birch fchweigt, uud Bentley’s Nachricht bezieht fich aller 
Wahrſcheinlichkeit nach auf das folgende syıvsro. 

Apg. 7, 26. nach eigener Auficht avvnädadsen. Irrig 
Birch cuumAlacev und Bil, duvniascev. 

Apg. 7, 47. nach eigener Anficht ouxodoundes, von 
weiter Hand corrigirt mxodounsev. Die Vernachläſſi⸗ 
gung dee Augments in oscodoungev, die in nnferer Stelle 
auh Eoder D hat, wies ich in verſchiedenen Stellen bes 
Codex Ephraemi nach. Siehe Prolegg. p. 21. 

Apg. 7, 51. nach eigener Anficht arsgırumsor xagdıaa, 
wie auch Birch hatte. Falſch Btl. awegıru. xagdıav. 

Apg. 11, 3. nach Bart, orı sianAdsv und xuı Ovvs- 
Yayıy avroıc. So berichtet and Bird; (nur fehreibt er 
wide); Bil. hingegen behält mit Unrecht ausdrücklich 
die retepta ssconAdee bei und verſchweigt Guvepayer. 

Apg. 11, 20. nadı Bart. zAdovsso für suasAdovres, 
wie viele andere ber älteften Zeugen. Nichte davon bei 
dirch und Bil, : 

Apg. 11, 22, nach eigener Anficht fehlt dısAdEem gänz- 
id, So hatte auch Birch angegeben, auch Bartolocci, 
Dagegen beanfpruchte viele Wahrfcheinlichkeit die Nach⸗ 
ht Bentley's, bie dssAdzw nicht vor, fondern nach zu0 
Arioxuas fichen ließ, 

Apg. 11, 23. nad) eigener Anficht Betätigung ber 
recepta zum Joker. 

Tyeol, Stud. Jahrg. 1847. 10 


146 Ziſchendorf 


Apg. 13, 42. nach Bart. nEıovv Anindnva. Alſo 
richtig Virch gegen Btl., der nkov Anindnvas angibt. 

Apg. 16, 13. Mai beflätigt die Lesart, die Durch ihre 
Keblerhaftigleit Berbacht erregte: ov svonfopsy 2006- 
gun EiVal. | 

Apg. 16, 17. duch Mai Beflätigung ber recepta: 
arayysiAovdıy vv odovV. 

Apg. 17, 13. nach eigener Anficht 0 ovv ayvaovvres 
suosßsrs rouro £y@ für ou ouv @yy. 5U0. Tovzov ey. Birch 
batte nichts gefehen uud Btl. nur covro für vovrov. 

Apg. 20, 28. nach eigener Auficht muß ich die Lesart 
der recepta beflätigen: zyv suuindıev rova) Osou. Dieß 
hatte auch Birch aufangs angegeben in Variae lectiones 
ad textum act. app. 1798. p. 49., aber zwei Jahre fpäter 
in den Prolegg. zu Var. leett. ad text. apocalyps. 1800. 
p- XXXIX. macht er feine Angabe nicht nur zweifelhaft, fons 
dern fchließt auch mit den Worten: Cuinam vero, an ty- 
pographo an mihi, culps sit tribuende, quod Vat. 1200. h. L 
irrepserit, omnino me lstet; sed delendum esse ex supra 
dietis apparet. Scholz, der den Coder B für die zecepta 
anführt, hatte Birch's Note nicht gelefen; denn Die pas 
rifer Vergleichung enthält nichts über die Stelle, und an 
einen Schluß e silentio faun Riemand bei derfelben denken. 

Apg. 20, 33. nach eigener Auficht zu beftätigen 7 ggvasov. 
Birch hatte nicht® dagegen berichtet; bei Btl. konnte es 
zweifelhaft feyn, ob der Eoder 7 Jouoiou oder xaı Zgudıov 
babe. Daher ift, fo viel ich weiß, Lachmann's Ledart, 
wie fie bei ihm ſowohl im Texte ald auch in der Appen- 
dir fteht: xovasov (ohne 7 unb ohne xaı), von aller Au⸗ 
torität entblößt. 
| Apg. 23, 7. nad) Bart, swsweos aracıc. Alfo rich⸗ 

tig Btl.; falſch Bch.: sos. 


a) Aus Verſehen fehlt dieſer Artikel in meinem „bibliſch⸗kritiſchen 
Sendſchreiben ꝛc.“ 


ber vaticaniiche Bibelcober. 147 


Apg. 26, 12, nad, Mai zrirgoans ry6 Tov apyızpsov. 
Alfo hatten Bch. und Bel. Recht, die nur dad zuge ber 
recepta fehlen ließen. Scholz, dem ich folgte, da cod. A 
8.0.3. feine Angabe wahrfcheinlich machten, hat die irrige 
Angabe wohl ans ber Luft gegriffen; wenigftens habe ich 
nichts aus der parifer Dergleichung angemerkt. 

Apg. 26, 32. Mai beftätigt die recepta: swensxinto. 

Apg. 27, 14. nach eigener Anficht: erfle Hand evoa- 
zlov, zweite: zuvouxivudov. Go fon richtig Birch, 
während Btl. theild unklar, theild irrig war, Scholz und 
nad ihm meine leipz. Ausg.: zugoxävdov B**. 

Apg.27, 19. nach eigener Anficht sguudav für sppıyar; 
doch hat Die zweite Hand das letztere gefeßt. 

Apg. 27, 29. nach eigener Auſicht sugovso von erfier 
Hand; corrigirt it zuyovro. Auch cod. C m. a. Iefen 
EvIOVEO, 

Apg. 28, 13. nad Bart. odev wegısiovrse für odev 
xtomAMovtss. 

Jak. 1, 26. nach Bart, un yaAnvov. Diefe Angabe 
möchte richtiger ſeyn als Birch's zarıav und Bentley's 
xalıyıov. 

Jak. 2, 5. nad Bart, ro nosum für Tov xoduov Tov- 
sov. Mangelhaft waren bie Angaben Birch's und Bent, 
ley's; Bil: „rw xosum (sic) zovrov”; Birch fagt nur, 
daß sovsov fehlt. 

Sal. 4, 13. nach eigener Anficht: wogsvoonusde und 
20:n60u8v , ſo Wie zuzopsvoousde und xeodndonev. Alfo 
hatte Birch and Verfehen gerade bad Begentheil aus drück⸗ 
lich angeführt, nämlich zogsvamusda, Komemusv, Eumo- 
Wende, zsgdncnuev. Bei Bti. blieb die Lesart ungewiß. 

at. 5, 11, nadı Bart. vxouswavrao für vxouevov- 
td, Ueberſehen von Birch und Bil. 

1 Petr. 5, 8. nad) Bart. Entov xaranızıv für Imrov 
wa zazanın. Btl. hatte nur die Differenz xarazısıv ver 

10 * 


148 _ riſchendorf 


ferirt; aber ſchon Bch. hatte das Richtige; une haben es 
die Editoren des N. T. überfehen oder vermeintlich ver⸗ 
beffert. Griesbach und Scholz berichten: B rıyd& zaramısiv. 

2 Petr. 2, 4. nadı Bart. rngovpsvovs für Ternonus- 
vous. Birch hatte rernonusvovs (Bil. nichts); aber Gries⸗ 
bad: procul dubio rygovusvovs ap. Birch. legendum est. 

1Joh. 1, 5. nach Bart. apyslız für sxayyslıa. Weber 
fehen von Bird und Btl. 

1 30h. 3, 4. nad) eigener Anfidht: 7 vor auaprız fehlt 
keineswegs. Auf Grund der zweifelhaften Faſſung der 
bentley’fchen Bergleichung glaubte Lachm., daß fehle, und 

entfernte es ſogar aus dem Texte. 
| Röm, 1, 27. durch Mat Beflätigung der recepta: 
OKOLMG TE X. 
Nom. 3, 22. nach eigner Anficht dıx zioremo gaıcrov 
für dia zıor. i0 Av. Richtig Btl.; Bch. cu. mit ihm Griesb., 
Scholz; u. 9.) hatte angegeben, daß ıncov zaucrov fehle. 

Röm, 3, 26. nach Mai zgo0 zuv evöcıkım für zg00 ev- 
ösıtiv. Ueberfehen von Bird, und Bti, 

Röm. 4, 9. nad) Bart. eAoyısön für or sAoyıcdn. 
Bentley’6 Bergleihung :: eAoyısan. 

Rom. 8, 2. nad) Bart. sAsudsgmss os für sAsudsg. us. 
Falſch Bil, es fehle us; aber richtig Birch. 

Röm. 9, 12, und 9, 26, nach Mai a prima m. £90597; 
a secunda m. 39070n7. Darüber nichte bei Birch und Bil. 

Nom. 14, 8. durch Mai Beflätigung der recepta: zav 
Ts azodvn6xmpsv bis. 

Röm. 15, 31. nadı Bart. zu 7 dmgoyopıa fürs 20 ıva 
ndıaxovın. Daß ıva fehlt, haben Birch und Bel. üÜberfehen. 

1Kor. 1,28. Mai beftätigt Die recepta: zu za un ovra. 

1 Kor. 2, 13. nach Bart. aAA v dudaxrn zvsuuaroo, 
Diele Ledart, wenn fie anders gegründet ift, hat weiter 
feine Zeugen für ſich. 

. 18or.9, 23. durch Mai Beflätigung der recepta: 
vaaomıato. Alſo irrig Wetſtein, Griesbach, Scholz. 


R 


der vaticanifdye Bibelcober. 139 


1 Kor. 11, 15. nach Bart. ansdrücklich bie recepta: 
ösdoras aurn. 
18or, 13, 3. durch Mai Betätigung der recepta: ov- 
dw opelovpen, 
1Kor. 14,7. nadı Bart. diasroAnv pdoyyov. Se audı 
Bird richtig; Bel. hingegen dıaor. rovpdoyyov, was ihm 
infolge Lachm. in den Tert genommen. 
1 Kor. 14, 16, suAoyno, wie auch Birch, nicht suAoysso, 
wie Btl. 
2 Kor. 1,13. nach Bart. 7 « avayıyaonsıs für Al 7 
a avayıvodxers. Ueberſehen von Birch und Btl. 
2 Kor. 3, 6. Mat beftätigt Die recepta axoxreıveı. 
2Kor. 4, 5. Mat beftätigt gleihfalld ara zgıarov 
m00UV xvotov. | 
2 Kor. 5, 5. nad) eigener Anfiht o dove für 0 zus 
dovs. So richtig Bil.; nach Bird; follte nur dova da ſtehen. 
2 Kor. 6, 15. nach eigener Anficht Perso für Beiar, 
was alfo Bir, Bil. und Bart. überfehen haben. 
2 Kor. 11,3. nach Bart. xaı 70 ayvornroo, wie Birch; 
nicht, wie Btl., xas 776 ayıornrod. 
2 Kor. 11,25. nach Mai sgaßdıchnv für sgoaßdıchnv. 
Gal. 3, 23. nadı Bart. svyrisıousvon. Danadı alfo 
iu corrigiren Birch's GuyxAssousvos und Bentley's cuylsio- 
Bevor. : 
Ephef. 1, 1. nach eigener Anſicht: rois ovaıv, omisso 
mpeon, von erftier Hand. Die zweite Hand trug auf 
dem Rande ben Beiſatz nady (fiche oben). 
Ephef. 1, 20. nach eigener Anficht: sv rosa ovpavord, 
wie Bti., nicht &v TOO ougavıoıs, wie Birch. - 
Philipp. 1, 25. nadı Bart. xaı zapausvo für zaı Gun- 
Zaızvoo, ũbereinſtimmend mit allen andern Älteften Codd. 
Philipp, 2, 3. nah Mat ift Bentley’s Angabe richtig: 
ade xara wevodoksev. Birch hatte: undev xara xevodok. 
Koloſſ. 1, 20. nad Bart. fehlt d: auzov nad, rov 
Kaygov aurov, Ueberfehen von Bird, und Bil. 


150 Tiſchendorf 


Koloſſ. 2,7. Mai beſtätigt die recepta: spıoaevovrss 
EV œurn EV ESVYaQLOTIE. 

1 Theflal. 1, 5. Mai beftätigt gleichfalls die recepta: 
sytunon 210 vun, | 
1 Thefl. 3, 3. nach Mai vo undsva savscdu: für vo 

undeva dawveodas,. Unbeadhtet von Beh. und Btl. 

1 Theffal. 4, 9. nach eigener Anficht zıyomev, wie Btl., 
nicht eyouev, wie Bird. 

Hebr.2,1. nadı Bart. zepaepvmusv, wie auch. die Codb. 
AD und andere. | 

Hebr. 2, 8. nach eigener Anficht fehlt auvrm nach uxo- 
rakaı. So richtig Btl.; nach Bird (und Scholz) fehlte 
avım nach ogmuEV. 

Hebr. 4, 2. nach Bart. um ovyxsxspadusvovd. Alſo 
richtig Birch, falfch Btl.: un ouxxcxocusvous. 

Hebr. 4, 15. nach eigener Anficht zu beflätigen zexaı- 
oqcousvov. 

Hebr. 8, 6. durch Mai Beſtätigung der recepta: re- 
TEUFEV Asırovgyiao. 

In dieſem Berzeichniffe neuer Ledarten habe ich nur 
Diejenigen Differenzen zwiſchen Birch und der bentley’fchen 
Eollation berädfichtigt, die einer wirklichen Berichtigung 
bedürftig waren, während ich von denen abfah, die darin 
beftehen, daß der eine den andern offenbar vervollftänbdigt. 
Für folche Fälle bietet die parifer Vergleihung noch an 
vielen Stellen eine Beftätigung bald von Birch, bald von 
Bentley. So 53.8. Apg. 21, 22,, wo das nadı axovcovraı 
fehlende yag nur von Birch angegeben wird; 1 Petr. 5,2,, 
wo nur Btl. bie Weglaffung des smsaxomovvrss bezeugt ; 
Sud, 5,, wo Bird) richtig orı ındovs für ori 0 xuvoroo ans 
gibt, während Btl, nur ındovs für xugsoo aufgezeichnet 
hat. Hicher gehört auch Markt. 12, 20., wo Bartolocci 
Ösvrega avın für xaı Ösursga ouoıa advın genau bemerft 
bat, was ſich aud) bereit aus Birch's Referat ergibt, 


der vaticaniſche Bibelcoder. 151 


während Btl. nur ſagt, daß ouore fehlt. Bei meiner Aus 
gabe in der ed. Lipa.: „devssga ds aury”, war ich Schni; 
in feiner ed. tert. Griesbach's und Scholz gefolgt. 

Zuletzt muß ich aber audy einige Angaben Bartolocci’s 
aufzählen, wo ich fehr in Zweifel bin, ob berfelbe die 
rihtige Lesart ded Coder ntedergefchrieben hat. "Mögen 
Andere auders urtheilen; der fichere Auffchluß darüber 
faun nicht mehr ferne ſeyn. Matth. 20,17. ſoll nella ds 
avaßaıyaıy o ındovo a) fliehen; Mart. 3, 15. fol nur 9z- 
paxsvsıv Tao vodovo, aber nicht auch das folgende zu 
fehlen; Mark. 11, 13. fol xı fehlen ; Luk. 9, 5. ſoll es heißen: 
azorıvaodezrs, wogegen anorıvaocers bei Btl. und Birch; 
Lul.12, 15. vro für axo; Lul. 21, 12. exayousvovs; Joh. 
6,15, avexagpmasv; Apg. 5, 4. fol ıaxwß gänzlich fehlen; 
Apg. 17, 5. ſoll's heißen zapayaysıv für ayayan; Apg, 
20,16. xexgıxs yap; 1 Petr. 3,13. IMoOGsi yeynade; LKor. 
9, 15. syw ra 0v xe7E. ovdsv ovrav; Eph. 4, 9. orı us 
arrow zus nuov. In diefelbe Kategorie gehört vielleicht 
auch Joh. 17, 15. ıva rnonosio KUTOVG Ex TOV X00uov, was 
ich ſchon oben angeführt habe, und Matth. 13, 36. wo — 
wenn ich recht gelefen — 0: uadımaı Asyovreo fiehen fol. - 

Radıträglich glaube ich noch eine Erläuterung zu 
den Facſimiles geben zu müflen. 

Die erften drei Zeilen, Röm. 4, 4.5., fo wie bie fols 
genden vier, 3 Kor. 3, 15. 16., find von fpäterer Hand 
unberührt geblieben. Die Hafen zu Anfang und zu Ende 
jeder Zeile find fpäterer Zufaß ; fle dienen dazu, die Worte 
als überflüſſig zu bezeichnen und zu mißbilligen. In ber 


a) Bird) und Bentley laflen den Artikel vor ıunsova weg. Gries⸗ 
bad Hatte (mit welcher Autorität?) uellov ds 0 ındova ava- 
Baer. Schulz ſetzte in Parenthefe dazu bie Angabe Birdy’s 
und Bentley's; nichts beflo weniger ſchreibt Scholz ohne Weis 
teres wie Griesbach, 


152  Xifchendorf, ber vaticanifche Wibelcoder. 


vierten Zeile ber zweiten Stelle beginnt mit xc bereite 
der aufgefrifchte nud accentuirte Tert. - Das aı-über ze- 
ousosicas ift von der Hanb eines Correctors. 

Das Wort pompmovs, das gleichfalld von fpäterer 
Hand unberührt geblieben ift, gehört zur Unterfchrift des 
Nömerbriefd: zg00 gmumsovo. 

Die lebte Stelle, zwei Zeilen vom Anfange des Ephes 
ferbriefö,, ftellt die dem Texte widerfahrene Auffrifchung 
und weitere Bearbeitung vor Augen. 


Gedanken und Bemerkungen. 


1. 


Sheologiihe Aphboriämen 


von 


€ Ullmann). 


Aus Beranlaffung einer neuen Auflage der Abhandlung, 
weidhe vor bereitd zwei Decennien diefe Zeitfchrift eröffs 
nete, der apologetifchen Betrachtung Über die Sündlo⸗ 
figfeit Jeſu, hat, ſich mir das Bedürfniß aufgebrängt, 
den vierten Abfchnitt, welcher die Folgerungen aus den 
drei erften enthält, einer ganz neuen Bearbeitung zu uns 
terwerfen. Ich hege nicht nur die Hoffnung, daß bie 
Schrift dadurch überhaupt wirb gewonnen haben, ſon⸗ 
dern ich glaube ſogar, fle hat erft jest ihren richtigen, 
den Grundlagen entfprechenden Abfchluß erhalten. Meine 
Hanptabficht in der neuen Bearbeitung des Abſchnittes 
geht dahin: zu zeigen, wie in Chrifto, dem Sündlos- 
Heiligen, und nur in ihm, Die Bedingungen gegeben 


a) Zugleich Selbftanzeige der Schrift: die Sünblofigkeit Iefu, Eine 
apologetifche Betrachtung von D. C. Ullmann, Fünfte, zum 
Zheil neu bearbeitete Auflage. Hamburg, bei Friedrich Pers 
tes 1846. 


156 Ullmann 


find, unter denen ſich die volllommene Religion verwirk⸗ 
lichen Tonnte, wie er aus dem innerſten Weſen feiner 
Derfönlichleit heraus der Stifter der wahren, für die 
ganze Menfchheit beſtimmten Religion wurde und wer- 
den mußte. Und zwar habe ich dieß woruchmlich unter 
vier Geſichtspunkten nachgewiefen: inwiefern nämlid 
Chriſtus in feiner heiligen Perfönlichleit es war und if, 
der 1) Gott vollfländig offenbart und den Menfchen nahe 
bringt; der 2) die Menſchen vollftändig mit Gott vers 
föhnt, zur vollen Lebendgemeinfhaft mit Gott führt; 
der 3) unter den Menfchen felbft die ihrer höchſten Be: 
flimmung entfprechende und wahrhaft allgemeine Einis 
gung, die eigentliche Menfchengemeinfchaft berftellt, und 
ber 4) für diefe Semeinfchaft, fowohl im Ganzen, ale 
in ihren einzelnen Mitgliedern, ein ewiges, im immer 
höherer Vollendung ſich verflärendes Leben verbürgt. 
Zudem ich mir nun erlaube, die beiden letzteren Hanpt⸗ 
flüde — das eine von Ehrifto ald bem Stifter der 
wahrhaft menfhlihen Gemeinfhaft, das ans 
dere von Chriſto ald dem Bürgen bed ewigen 
Lebens — mit den erforderlich fcheinenden Berändernns 
gen hier mitzutheilen, gebe ich mich ber Hoffnung bin, ee 
werde diefe Mittheilung für manche Lefer ein Anlaß 
werden, diefe Stüde in dem organifchen Zufammenhange, 
in welchem meine Schrift ſelbſt fie darbietet, kennen zu 
lernen und auch das Uebrige, mit dem fie dort in Ber: 
bindung fliehen, einer näheren Betrachtung und Prüfung 
zu würbigen. j 


Der Menſch wird das, was er feyn foll, vernünftige 
Derföntichkeit, zunächft weſentlich durch zweierlei: erftlich 
dadurch, daß er ſich in fich felbft zufammenfaßt, ſich ale 
Diefen beftimmten weiß und fühle, und von dem Mittel: 
punkte des eigenen Seyns aus will und handelt; zwei⸗ 


theologifche Aphorismen. 157 


tens dadurch, daß er fich zugleich auf Andere bezieht, 
von dieſen auf fidy wirken läßt und mit ihnen ein Wech⸗ 
felverhältniß eingeht. Zwifchen diefen Polen dewegt ſich 
das Leben ale ein menfchliched. Und zwar tritt und ins» 
befondere die Beziehung bed Menfchen auf Andere feines 
Gleichen ald etwas fo Nothwendiges entgegen, daß man 
fagen mn: nur unter diefer Bedingung wird der Menſch 
m Menfchen; als Einzelner und einzeln Bleibender ift 
er ſchlechthin nicht zu denken; nur im Berhältniffe zu An, 
. deren, die meufchlich auf ihn wirken und auf bie er eben, 
fo zurädwirtt, können die Gaben und Kräfte, bie in ihn 
gelegt find, fich entfalten unb bethätigen, kann der Bes 
griff des Menfchen fich lebendig verwirklichen. So if 
der Menſch unveränßerlich auf Gemeinſchaft angelegt, 
und dieß macht fich eben fo geltend bei der Bildung, bie 
er empfängt, ald bei dem, was er felbf feinen Umge⸗ 
bungen und der Welt ald Stempel feined Geiftes aufzu⸗ 
prägen fucht, in feinem ganzen Werben und Wirken, 
SA nun der Menfch, ale folcher, zur Gemeinſchaft 
beſtimmt, fo muß ed auch eine rein und wahrhaft menſch⸗ 
lihe Gemeinfchaft geben, d. h. eine ſolche, zu welcher 
Feder von uns nicht dadurch, daß er einem befonberen 
Berufe ober Lebenskreiſe angehört, fonbern einfach das 
duch, daß er Meufch if, einen Beruf hat. Gehört es 
aber zugleich zum Seyn des Menfchen im höheren Sinne, 
daß er in einem Berbältnifle zu Gott ehe, und mn 
dann nothwendig von biefem Berhältnifle aus, als dem 
hoͤchſten, fein ganzes Leben Beſtimmung, Richtung und 
Drdunng erhalten: fo werben wir auch bie wahre Men- 
(hengemeinfchaft nicht anders denken können, denn als 
“ie von dem Verhältniſſe des Menfchen zu Bott aus 
a Stande gelommene und georbnete, mithin ale eine 
religiös» füttliche. Und von folder Gemeinfhaft 
behaupten wir, daß fie nur von dem Sündlos⸗ 
Seiligen zu iften war, in ihm aber auch noth> 


158 Ullmann 


wendig den fhöpferifhen Örund ihres Ent» 
ſtehens fand. 

Gemeinſchaftbildend find zwar allerdings alle menſch⸗ 
lichen Thätigleiten und näheren Berwandtichaftsbezie: 
hungen, indem fie ein gegenfeitiged Geben und Rehmen, 
ein Handeln und Hervorbringen der Einen, ein auf ſich 
wirden laflen und Aneignen der Anderen, ein Zufammens 
fhließen des Bleihartigen und ein Ausſcheiden des Un⸗ 
gleichartigen vorausfegen. So erzeugen fi die Ge 
meinfchaften der Kunft und Wiffenfchaft, der bürgerliche, 
RRaatlihe und nationale Verein. Allein diefe Gemein⸗ 
fchaften, fo groß und bedeutfam fie feyn mögen, haben 
doch immer ihre beſtimmt bemeflenen Schranten und da: 
durch etwas Partisnlares: die Gemeinfchaft der Kunſt 
und der Wiffenfchaft verwirklicht fih nur im Kreiſe Der 
dafür, productiv oder receptin, befouderd Ausgeflatteten 
und Gebildeten; ber bürgerliche Verein hat feine engen 
örtlichen Grenzen, der ſtaalliche und nationale die zwar 
weiteren, aber doch immer ganz beftimmt fich geltend 
machenden bed eigenthümlichen Vollslebens. Nun aber ftellt 
ſich auch der Menfchheit an fich eine Aufgabe, die für 
alle ihre Mitglieder, welchen Geſchlechte und Volke, weis 
dyer Stufe der Begabung und Bildung fie auch angehö⸗ 
zen mögen, wejentlich diefelbe ift, die reine und allge- 
meine Menfchheitsaufgabe, das heißt, die ber richtigen 
Stellung des Menfchen zu Bott und ded Menfchen zum 
Menfchen oder die des veligiössfittlichen Lebens, in dem 
ſich das Ebenbild Gottes im Meufchen, die göttliche Idee 
des Menfchen verwirklicht; und da das religiössfittliche 
Leben zugleih ein ſolches iR, welches feiner innerften 
Natur nach zur Gemeinſchaft drängt und als ein iſolir⸗ 
ted entweder gar nicht ober nur in verfümmerten und 
krankhaften Erſcheinungen exiſtirt, fo erzeugt fih auf 
dieſem Gebiete, aber auch wur auf ihm, nothwendig Die 
Zerderung, daB eine Bemeinfchaft zu Stande komme, 


theologiſche Aphorismen. 159 


weiche ohne die Schranken, bie dad Künftlerifche und 
Bifeufchaftlihe, das Politifche und Volksthümliche feis 
ser inneren Befchaffenheit zufolge ſetzt, alles Menfchliche 
umfaffe, alle ihre Mitglieder in das rechte Verhältniß zu 
Gert und in das wahrhaft menfchliche zu einander bringe, 
die fonfigen Gegenſütze wieder ausgleiche und fo bie 
„ee der Allgemeinheit, welche mit der Gottverwandt⸗ 
(haft und wefentlihen Gleichartigkeit der menfchlichen 
Ratar gegeben ift, ins Leben einführe. Diefe Gemein, 
ihaft, weil fie die Menfchen im innerlichſten Grunde 
iſtes Wefens, in der Wurzel ihres Urſprungs aus Bott 
und durch das hierin liegende Band vertnäpft, wird 
dann geeignet ſeyn, für jede andere Gemeinſchaft erſt den 
schten Rebendgrund zu legen, ihr den tieferen, wahrhaft 
emigenden Geiſt und die höhere menfchenwürbige Weihe 
zitzutheilen und Das, was fonft die Menfchen naturges 
naß fcheidet, nicht zu einem feindfelig Trennenden wer; 
ven zn laſſen, ſondern unter den richtigen Geſichtspunkt 
des Fureinanderbeſtimmtſeyns, der gegenfeitigen Ergäns 
mag und Förderung zu bringen; denn won biefem Staub» 
tie aus erfcheint die Menfchheit ale ein großes, gott» 
geordnetes Ganze, in welchem die einzelnen Theile die 
Sbeutung baden, Glieder zu feyn, unddie einzelnen Ga⸗ 
den und Thätigkeiten nur darauf gerichtet ſeyn Fönnen, 
das Ganze zu fördern und durch ihre Berfchiedenheit und 
Iniehungsweife Gegenfätliczkeit die wahrhaft lebensvolle 
Einheit, die große geiftige Weltharmonie herv orzubringen. 
Cine Gemeinſchaft dieſer vollkommenſten Art Fonnte nicht 
atßchen, fo lange das Höchſte und Allgemeinfte, das 
dittlich⸗ Meufchliche, mit Geringerem und Befonderem 
vermiſcht und dadurch ſelbſt herabgeſetzt, in die Stel⸗ 
ang einer gewiſſen Befonderheit, in einen Particularis⸗ 
und gebracht war. Solche Vermiſchung findet ftatt, wo 
die Religion wicht rein als folche zum Borfcheine kommt, 
ſendern mit anberen Elementen und Gebieten dergeſtalt 


160 Ullmann 


in Berbindung gebracht wird, daß fie unr vermittelſt 
biefer oder im unlödbaren Zufammenhange mit ihnen 
fi Eundgibt und wirkt. So war es in ber vorchriſtli⸗ 
hen und fo tft ed noch in der außerchriftlihen Welt. 
Da nehmen wir wahr, daß die Religion, vermengt wit 
Naturkunde und Speculation, zu einer heiligen Phyft 
oder Metaphyſik wird und dann in der Regel eine prie 
fterliche ober philoſophiſche Geheimlehre mit ſich führt; 
oder baß fie ſich vorzugsweife in der Kunfifchönheit of 
fenbart und ‚dann, flatt das Leben als fittliche Kraft zu 
beherrjchen,, in einen geiftigfinnlichen Genuß umfchlägt; 
vornehmlich aber finden wir fie mit dem Bürgerlichen, 
Nationalen und Politifchen in genauefte Verbindung ge: 
fest, und zwar in der zwiefachen Art ber Bermifchung, 
deren eine die jAdifche, die andere bie römifche genannt 
werben Tann, d. h. entweder fo, daß von dem Religioͤſen 
and das Politifche beftimmt wird, woraus die Theokra⸗ 
tie, oder vom Politifchen aus das Religiöfe, woraus die 
Staatereligion entſteht. In allen diefen Erſcheinungs⸗ 
formen if die Religion und mit ihr das Sittliche an ein 
Anderes, Fremdes gebunden, und weil Alled anßer ihr 
ein Begrenzted und Beſonderes tft, fo wird fie dadurch 
felbft befchräntt und particnlariftiifch, eben damit aber 
auch mehr eine Urfache von Gcheidungen und Trennun 
gen in der Menfchheit, als eine Brundlage umfafjender 
Einigung. In der That konnte der Grund zu einer 
wahren, allgemein » menfchlichen Bemeiufchaft nur gelegt 
werden, wenn das Religiös, Sittliche, vermittelft deflen 
fie allein denkbar ift, unvermifcht mit jedem anderen Ele 
mente, rein and vollfländig auf fein eigenſtes Gebiet zu- 
rüdgeführt und darin der Punkt gefunden wurde, von 
dem aus, wie von einem archimedifchen, freibewegendb auf 
ben ganzen Umkreis des menfchlichen Seyns gewirkt 
werden konnte. Dieß aber war wieber nur zu bewerl; 
Religen durch eine Perfönlichkeit, deren ganze und un 


theologifche Aphorismen. 161 


getheilte Lebendaufgabe ed war, den Menfchen in feiner 
vollommen entiprechenden Stellung fowohl zu Gott, 
ald zur Menfchheit, alfo in der vollen Lebens⸗ und Leis 
beigemeinfchaft mit Gott und den Menfchen, rein, leben, 
dig, für Alle verftändlich und ergreifend, aber auch un, 
vermengt mit allem Anderen, ohne Beimifchung nationaler 
oder fonft fremdartiger Beftandtheile zur Anfchauung zu 
bringen, und von welcher diefe Aufgabe wirklich auch 
ganz gelöft wurde. Eine ſolche Perfönlichkeit haben wir 
in Sefn, dem Sündlos: Heiligen. Er hat, abgefehen von 
allem dem, was er that und was freilich auch nicht fehr 
len durfte, die höchſte Bedeutung fchon durch dad, was 
er if, Die Manifeftation des volllommen gefunden Ber, 
halteus des Menfchen zu Gott und des Menfchen zu den 
Menſchen, und wie er das Leben Gottes in menfchlicher 
Geſtalt offenbart und die Menfchheit in göttlicher Ver⸗ 
Närang darftellt, fo tft er, Gottheit und Menfchheit eini⸗ 
gend, zugleich der fchöpferifche Einigungspunkt für bie 
Menſchen unter fich geworben. 

Jeſns hatte fchlechthin Feine andere Aufgabe und feine 
Erſcheinung hatte feinen anderen Sinn, ald das rechte 
VLerhaͤltniß zwifchen Bott und ber Menfchheit herzuftels 
Im uud das Göttliche im Menfchen zum klaren und vol- 
len Ausdruck zu bringen; fein ganzes Seyn und Wirken 
it ein unvermiſcht veligiöfes und fittliches; in ihm und 
durch ihm iſt die Religion ganz und ungetheilt auf ihr 
tigenſtes Gebiet zurückgeführt: fie kann von da aus in 
feier Weife Kunſt nnd Wiffenfchaft erzeugen, fie kann 
das bürgerliche und Bölferleben von innen heraus durchs 
Ringen, der Gefebgebung und Politik einen höheren Geift 
mlößen; aber fie ift das Alles nicht unmittelbar, ſon⸗ 
dern weſentlich iſt fie nur fie felbft und will auch zunächſt 
nichts Anderes, als fich felbft. Genau unterfcheidet Sefus 
dad, was Gottes, von dem, was bed Kaiſers ift; fein 
Reich ift nicht von diefer Welt, fein BE ift nur 

Toeol, Sud, Jahrg, 1847, 


162 Ullmann 


dad der Wahrheit, und. mit einem Liebeögeifte, der bie 
dahin noch in keines Menfchen Herz; gekommen war, 
durchbricht er, ohne dabei die göttlihe Ordnung zu ver: 
legen, ale Schranken der Kamilie, des Geſchlechts und 
der Rationalität und umfaßt zuerft, lebend und fterbend 
mit fchledhthin ungetheiltem Gemüthe, Alles, was Menſch 
heißt. Durch alles dieß war er, aber auch nur er, fähig, 
der Stifter eines an feine Grenzen des Raumes und der 
Zeit gebundenen Gottesreichs, der Stifter der alle Mens 
fhen zur Einigung rufenden Religion zu werden, und, 
infofern wir nur die religiöfe Gemeinfchaft Kirche nen⸗ 
nen, welche, unvermifcht mit allem Fremdartigen, nichts 
feyn will, als religiöfe Gemeinfchaft, aber auch wolle 
Selbfläudigkeit in ihrer Sphäre anfpridt, haben wir 
auch nur in Ehrifto den Kirchenuftifter im eminenten Sinne 
anzuerfennen. Aus diefem Bewußtſeyn heraus fpricht er 
das große Wort: Kommet her zu mir, Alle, die ihr müh⸗ 
felig und beladen feyd; aus diefem Bewußtſeyn heraus 
- will er, daß Alle mit ihm und in ihm eing werden, wie 
er es ift mit dem Bater und fagt, eben daraus werde die 
Welt den Slauben fchöpfen können, daß Gott ihn ger 
fandt habe; aus dieſem Bewußtſeyn heran fchaut er fos 
gar fehon die ganze Menfchheit ald eine Heerde uns, 
ter ihm, dem eiuen Hirten. 

Es liegt offenbar auch in der Natur der Sache, 
ebenfowohl daß nur in einer heiligen und gottgeeinigten 
Perfönlichkeit eine folche Gemeinſchaft zu Stande kom⸗ 
men fonnte, als daß ‚fie in ihr zu Stande fommen mußte. 
Nur in ihr konnte fie zu Stande fommen. Denn, wenn 
überbanpt jede lebendige organifche Gemeinfhaft einen 
Mittelpunkt bedarf, fo kann eine Vereinigung perfönticher 
Geifter nicht einen abftracten, fondern nur einen perfön- 
lichen Mittelpunkt haben. Bon der Perfönlichkelt aber, 
die diefen Mittelpunft zu bilden allein im Stande if, 
werden wir fordern müflen, daß fie ben Geiſt, der in 


theologifche Aphorismen. 163 


ber Gemeinfchaft Ieben fol, auf das reine und voll 
tommenfte ausbrüde und eine ſtets frifche, unerfchöpfliche 
Duelle deffelden ſey. Und da ed ſich hier, wenn die 
Berbindung eine lebendige und fefte, eine wirklich orga⸗ 
niſche feyn fol, um die innigfte Vereinigung, gleich der 
des Gliedes mit dem Haupte, handelt, fo wird dad Haupt 
nur eine Perfönlichkeit von höchſter Vollkommenheit und 
Reinheit feyn können, weil nur an eine foldhe, nicht aber 
an einen fündigen Menfchen, fich Alle dergeftalt hingeben 
Tonnen, daß fie ſich vom feinem Geiſte und Leben durch⸗ 
dringen laffen und feinen Willen zum Gefeße ihres Dar 
ſeyns machen. Und dieß eben finden wir in Ehrifto, in 
deſſen Leben fich alles das vollitändig ausdrückt, worauf 
eine würdige Gemeinfchaft der Menſchen fich dauernd 
sränden kann, befien Geift und Liebe eine Quelle if, 
aus welcher Alle jchöpfen können, ohne fie je auszufchöpfen, 
und der in feiner heiligen Reinheit ein Gegenfland der 
unbedingteften Hingabe für Alle nicht nur feyn kann, fon- 
dern auch ſeyn will und muß. In ihm und durch ihn 
mußte aber eben darum auch diefe Gemeinfchaft ſich ver: 
wirflihen. Denn wenn freilid; die Menfchen unvollkom⸗ 
men und fündhaft, wie fie find, ſich nicht unmittelbar 
und aus fich felbft heraus auf eine gründliche und dau⸗ 
ernde Weiſe vereinigen, fondern den wahren Einigunge«- 
punkt nur in einem Höheren und die vollfländige, ewige - 
Einigung nur in dem Höchften finden können, weiches fie 
über ihr eigenes Ich emporhebt und fie, indem es fie mit 
ih verfuiipft, zugleich unter einander innig und fefl ver- 
bindet: fo wird boch auch, fobald ein ſolches Höchſte und 
Seilige die Gemüther wirklich ergriffen und burchdrungen 
hat, Die Einigung gar nicht ausbleiben können, weil in 
dem Wahren, Heiligen und Böttlichen, wenn ed im Leben 
auftritt, eine magnetifche Kraft liegt, welche die Geifter 
and ihrer Iſolirung heranszieht und mit einem zwar uns 


fihtbaren, aber andy ungerreißbaren Bande zuſammen⸗ 
11* 





164 Ulmann 


fließt. Diefer geiftige Magnet, diefe unendliche Anzies 
hungskraft ift nun in die Menfchheit bineingefegt in der 
Derfon des Göttlichen und Keinen, der fi in heiliger 
Liebe für und dahin gegeben hat: von ihm muß Seder, der 
dafür empfänglich- ift, ergriffen werden, und indem nun 
Chriſtus vermittelft des Glaubens, den er wedt, die Em⸗ 
pfänglichen in fein Leben hineinzieht und mit fich einigt, 
durch ſich aber zugleich mit Gott, einigt er fle nothwen⸗ 
dig auch unter ſich felbft, und zwar durch die vollfom: 
menfte und dauerhaftefte Art der Vereinigung; denn es 
ift eine folche, die ſich im Höchften vollzieht, bei der fchon 
durch die ganze Art, wie fie zu Stande kommt, der 
Menſch über fich felbfl emporgehoben und das, was fonft 
die wahre Liebesgemeinfchaft hindert, die Selbftfucht, im 
Keime ertöbtet wird, Dieß Alles gilt freilich zunächſt nur 
von der Bereinigung der von Ehrifto in lebendigem Glaus 
ben Ergriffenen; aber diefe follen wieder feyn das Salz 
der Erde und der Sauerteig, der allmählich die Maffe 
durchdringt. Durch ihre Gemeinfchaft wird eine höhere 
Bereinigung der Menfchheit überhaupt angebahnt, oder 
vielmehr ihre Gemeinſchaft hat die Beſtimmung, fich zur 
allgemein menfchlichen zu erweitern, Allerdings vereinigt 
zunächſt nur den Gläubigen mit-dem Gläubigen der in 
beiden lebende Ehriftus mit feiner Liebe und heiligenden 
Macht; allein darin liegt der Anfang, der erfte lebend 
volle Keim, aus dem dann das mächtige Gewächſe des 
menfchheitumfaffenden Gottesreiches ſich entfalten fol. 
Derſelbe Ehriftus, der zu feinen Apofteln fagt: wer euch 
aufnimmt, nimmt mid, auf — fagt auch: wer diefer Ge 
ringften einen mit einem Trunke Waflers erquickt, der 
bat ed mir gethan; und wer die Kranken, Gefangenen, 
Dürftigen auffucht, der fucht mich auf. Hiermit deutet 
er an, daß in jedem Menfchen, wenn auch nur im wei⸗ 
teren Sinne, etwas von ihm lebe, weil in jedem dad Bild 
Gottes liegt, welches in feine Reinheit herzuftellen er ges 


theologifhe Aphorismen. - 165 


kommen war, weil jeder ein menfchlicher Bruder nud 
Naͤchſter il. Wir müſſen alfo, ſobald wir den Heiligen 
Gottes wirklich in uns haben, in jedem Menfchen etwas 
von ihm erbliden, in jedem Nothleidenden, Mühfeligen 
uud Beladenen einen Solchen, aus dem der Menfchenfohn 
und gleihfam felbft anfleht, in jedem geiſtlich Armen 
einen Solcdyen, zu dem der Friedefürft mit feinem himmli⸗ 
hen Reiche gebracht werden, felbft in jedem Trogigen 
und Stolzen einen Solchen, der noch unter das fanfte 
Joch bed Gottesſohnes gebeugt werden "fol. So liegt 
ia der Perfon Ehrifli, des Heiligen, eine ans innerer 
Rothwendigkeit heraus wirkende Bereinigungsfraft, die 
zuerſt freilich Die, welche lebendig von ihm ergriffen find, 
infammenbringt, dann aber auch diefe zur Gemeinfchaft 
nit allem MRenfchlichen überhaupt treibt, weil Allen aus - 
dem Geiſte und der Liebe Ehrifti heraus geholfen, eben 
dadırdy aber zuletzt auch das Ziel erreicht werben foll, 
daß Ale in feine nähere Gemeinfchaft, in die des Gottes⸗ 
reiches, als Die wahrhaft und allgemein menfchlidhe, hins 
eingezogen werben. Wo wäre etwas Achnliches zu fin» 
den? Keinem der größeften Weifen, Gefeßgeber und 
Staatengründer vor Chriſto fam ed auch nur in den 
Sinn, einen Berein zu fliften, der die ganze Menfchheit 
umfaffen foflte; und wenn ed auch einem in den Sinn 
gekommen wäre, wer fonnte diefen Gedanken ausführen? 
Rur der Heilige Gottes konnte ed, weil in ihm bie wirt, 
liche Einigungsfraft lag, weil in feiner Perfon das Reich 
Gottes fchon enthalten war und fih aus ihm nur zu 
etfalten brauchte. Und wenn wir nun in dieſem Zus 
ſanmenhauge Ehriftum ben Mittelpunkt der Weltgefchichte 
nennen, fo gefchieht ed nicht bloß in dem idealeren Sinne, 
nach welchem das frühere Geiftesieben ein Hinftreben auf 
in, das fpätere ein Beſtimmtſeyn durch ihn erkennen 
läßt und er fo den Angelpunft der höheren Menfchheitd« 
entwidelung bildet, fondern es geſchieht in dem höchſte, 


166 Ullmann 


realen Sime, wonad er ber wirkliche Einigungspunkt, 
die fchöpferifche Lebensmitte der Menfchheit ift, das pul⸗ 
firende Herz und ber befeelende Lebensgeift, vermöge 
deſſen erſt die Menfchheit als ein höheres Ganze fidh 
organifirt. Auch erfcheint ed gerade in dieſem Zufam- 
menhange gewiß ebenfo bedentfam als tiefbegründet, wenn 
Ehriftud darauf, daß er die Menfchen duch Einigung 
mit fich felbft und mit Gott unter fich einigt, den Glau⸗ 
ben gründet, Gott habe ihn gefanbt, weil nur vermöge 
göttlicher Sendung ein folches Werk, das denkbar höchfte, 
zu vollbringen war. | 
* 

In dieſer durch Chriſtum gebildeten Gemeinfchaft 
erhält nun auch Jeder, der ihr lebendig angehört, bie 
Gewißheit, daß er an derfelben nicht ein vorüber: 
gehendes Glied fey, fondern daß er in Chrifto 
Das Leben befige, das aus Bott fammt, das 
unvergänglidhe, ewige, und auch dafür liegt eine 
Bürgfhaft in der fündlodsheiligen Perſön— 
lichteit Chriſti. Wenn nämlich von irgend einer Per⸗ 
fönlichkeit, fo fann und muß man von diefer fagen: «6 
iſt ſchlechthin undenkbar, daß ſie der Zerfiörung durch 
ben Tod hätte preidgegeben feyn können; wielmehr tritt 
und in ihr die Gewißhelt des ewigen Lebens, ja das 
ewige Leben felbft auf eine fo unmittelbare und anfchaus 
liche Weife entgegen, daß wir in dem Worte des Apos 
fteld, Chriſtus habe Leben und unſterbliches Weſen ans 
Licht gebracht, den naturgemäßeften Ausdruck der Sache 
finden müflen. Schon von dem vollendeten flttlichen 
Kunftwerfe, das ſich und menfchlicherweife in der Pers 
fönlichteit Jeſu darftellt, können wir nicht annehmen, Die 
ewige Weisheit werde gewollt haben, daß es durch Deu 
Tod gertrlimmert werde; und wenn man fonft aus der 
im irdifchen Leben ftetd unvolllommenen Realifirung der 





theologifche Aphorismen. . 167 


fittlichen Ledensaufgabe des Menfchen, zuſammengehalten 
wit dem ihm iunewohnenden Triebe nach Vollendung, auf 
einen jenfeitigen Zuſtand fchließt, in dem diefer Trieb 
auch zu feinem Ziele gelangen müfle, alfo in dem Unbe⸗ 
friedigenden, Fragmentarifchen des jetzigen Daſeyns eine 
Hinweifung "findet auf ein mothwendig einmal zu Stande 
fommended Ganzes, fo können wir bier mit größerem 
Rechte den umgekehrten Schluß machen: gerade weil ein 
befriedigended Ganzes zu Stande gefommen, weil das 
Vollendete erreicht it und ſich in einer, Die reinite geiſtige 
kebensfülle in fich fchließenden Perfönlichkeit verwirklicht 
bat, it um fo weniger der Gedanke zuläffig, dieſe Pers 
fönlichkeit in der hbarmonifchen Ganzheit ihrer Bollen- 
dung Föune der Auflöfung und Zerflörung anheimgefallen 
ſeyn. Nehmen wir aber noch hinzu, daß vermöge ber 
fündlofen Reinheit diefe Perfönlichkeit auch in der innigs 
Ren Gemeinfchaft mit Gott Rand und aufs vollftändigfte 
vom göttlichen Geifte durchdrungen war, fo wird eine 
feihe Möglichkeit noch vwiel weiter hinaudgerüdt, ja fie 
geht geradezu in Unmöglichkeit über, weil das Göttliche 
an fi, das Ewiglebendige if. Bermögen wir uns ſchon 
kberhaupt eine perfönliche ewige Liebe nicht vorzuftellen, 
welche Weſen nach ihrem Bilde gefhaffen hätte, um fie 
de Vernichtung zu überlaffen, und verbürgt und ſchon 
überhaupt das Berhältniß der gottbewußten und gott- 
tiebenden Perfönlichkeit zu einem Bott, der die Liebe und 
das Leben ift, die perfönliche Kortdauer: fo fleigert fich 
natürlich dieſe Gewißheit aufs höchfte bei einer Perfüns 
lihfeit, welche in einer fo ungetheilten &emeinfchaft mit 
Sert fand, daß fie fagen kannte: Ich und der Bater 
fund eins; und wer ſich denken könnte, Jeſus habe mit 
den Worten: Bater, in beine Hände befehle ich meinen 
Bein! — fein Leben für immer in die leeren Lüfte aus⸗ 
schaucht, der weiß ſchon nichte von dem rechten, leben, 
digen Geifte, aber vollends nichtd vou dem lebendigen 


168 Ullmann 


Gott und von der Lebenskraft bed Gekreuzigten. In 
der That find Chriſtus und Vernichtung zwei Dinge, die 
wir im Bewußtfeyn gar nicht zufammenfaflen Tönnen, die 
fich gegenfeitig ausfchließen. Entweder war Chriſtus ein 
ſchlechthin Anderer, als der er im urfprünglichen chriſt⸗ 
lihen Glauben lebte — dann aber bleibt das ganze 
Chriftenthum unerklärt — oder, wenn bad urſprüngliche 
Bild Chriſti Wahrheit hat, fo war er aud der in fid 
felbft und ewig Lebendige. Und zwar erfcheint und ger 
rade in ihm das ewige Leben nicht als ein erft —* 
ges, ſondern weſeutlich als ein ſchon gegenwärtiges, nicht 
als bloße Hoffnung, ſondern als unmittelbare Gewißheit. 
Sein ganzes Seyn iſt von dem Gedanken und den Kräfs 
ten der Ewigkeit getragen, fein ganzes Wefen vom Himm- 
lifchen durchdrungen; es if die volle Wahrheit und 
Wirklichkeit einer höhern Welt, die uns in ihm entgegen 
leuchtet, und wie er in feinem ganzen Leben Gott offen: 
bart, fo offenbart er eben damit auch die Ewigkeit. Fafr 
fen wir nun aber dieß mit dem früher Gefagten richtig 
zufammen, fo werben wir es auch weiter ald etwas ganz 
Natürliches zu betrachten haben, daß diefe Perfönlichkeit, 
welche fchon im irdifchen Daſeyn den Höhes und Mittels 
punkt menfhlicher Entwidelung bildet und fi ung ale 
das einigende Herz und Haupt der Menfchheit bewährt, 
nach ihrer vollen Verklärung durch Leiden und Tob, und 
nachdem auch für fie die Schranken des Srdifchen gefals 
fen, in einem höheren Dafeyn eine Stelle einnimmt, vers 
möge beren fie, über alles Menfchliche erhaben, body für 
die ganze höhere Entwidelung der Menfchheit von ber 
wirffamften Bebentung und das ſtets geiftesfräftige, le 
bendig fich bethätigende Haupt an dem großen Leibe der 
Durch fie gebildeten und in —— MWachsthume 
begriffenen Gemeiuſchaft iſt. 
Aus allem dieſem folgt nun aber u etwas fehr 
Entfcheidendes in Betreff derer, die durch ben Glauben 


theologifhe Aphorismen. 169 


(ebendig mit biefer Perfänlichkeit verbunden find. Trug 
nämlich Chriſtus feinem innerften Wefen nach das ewige 
Leben in fih, und ift der Glaube wirklich die Aneignung 
feines Geiſtes uud Lebens, die Hineinbildung feines We⸗ 
ſens in das unfrige, fo ergibt fidh von felbft, daß auch 
die mit ihm in wahre Lebensgemeinfchaft Getretenen 
deffelben unvergänglicyen Lebens theilhaftig find. In bies 
fem Sinne fagt er auch felbfi: ich gehe hin, euch eine 
Stätte zu bereiten; und: ich will, daß, wo ich bin, auch 
die feyen, die du mir gegeben haft. Das letztere Wort 
it befonders bebeutfam. Zwifchen Chriftus und denen, 
die ihm wahrhaft angehören, findet eine fo innige Einis 
gung flat, daß er nicht zu denken ift ohne fie, fie nicht 
ohne ihn: er ift der Weinſtock, fie find die Neben, er das 
Haupt, fie die Glieder. Iſt nun Chriftus der Ewig⸗ 
lebende, fo find ed auch die ihm innerlichft @inverleibten ; 
iR dad Haupt ein ewig herrfchendes, fo fann ed auch 
die Glieder nicht verlieren, die es fidy einmal angeeignet 
bat. Zwar man könnte fagen: dad Haupt erhält immer 
nene Glieder, auch wenn ihm die alten dahin fchwinden, 
wie dem Baume im Frühlinge neue Blätter wachen, wenn 
er im Herbfie die alten verloren hat. Aber wie übers 
haupt auf dem geifligen Gebiete die Naturanalogieen 
nicht in ihrem ganzen Umfange anzuwenden find, fo zeigt 
fih dieß bier ald befonderd unpaflend, Schon ein himm⸗ 
liſches Haupt mit lauter bloß irdifchen Sliedern find zwei 
Dinge, die fich nicht zufammenreimen ; vollends aber ein 
ewig lebendes Haupt mit Gliedern, die immer wieder 
abfaßlen und vernichtet werden, {ft ein wahres Unding. 
So wenig man ben Begriff eines Tebendigen perfünlichen 
Gottes vollziehen Tann zufammen mit ber Borftelung von 
einem ewigen Dahinfchwinden der von ihm hervorgerus 
fenen menfchlichen Perfönlichkeiten, fo daß er als der 
einzig Lebendige über dem großen Keichenfelde der Menſch⸗ 
beit Ründe, eben fo wenig iſt der Glaube an einen wirt 





170 Ullmann, theologifche Aphorismen. 


lich Iebendigen Chriſtus vereinbar mit der Borftellung 
von dem ewigen Abiterben feiner Glieder; und wie man 
dort mit dem Glanben an perfönliche Fortdauer anch ben 
Glauben an den perfönlichen Gott, der die Liebe ift, aufs 
geben und fich der pantheiftifchen Lehre von einem zwi⸗ 
fhen Geburt und Tod raftlod wechfelnden Allleben in 
die Arme werfen muß: fo muß auch hier der ewig leben, 
dige Ehriftus fich erft in einen bloß dagewefenen, aber 
auch bis auf die gefchichtlichen Nachwirfungen gänzlich 
vorübergegangenen, alfo in einen im augfchließlichen und 
ganz depotenzirten Sinne hiftorifchen, verwandelt haben, 
ehe man bdiefelbe Bergänglichleit von feinen Gläubigen 
behaupten kann. Rein: entweder müffen wir mit ben 
Gläubigen auch Ehriftum der Vernichtung anheimfallend 
denken, oder, wenn wir dieß nicht vermögen, mit diefem 
auch jene ewig lebend; denn ie Lebeniögeftalt, die Chris 
ftud einmal in und gewonnen hat, kann eben fo wenig 
vergeben, al& er felbft; und wenn Ghriftus in der That 
des vollen Lebens aus Gott theilhaftig war, fo theilt ſich 
in ihm und durch ihn auch und das göttliche Leben mit; 
auch wir werden, wie ed die Schrift ausdrüdt, Theil: 
nehmer an der göttlichen Natur, auch in und wird dad 
göttliche Bild hergeftellt, und es ift ebenfo von ung, wie 
von ihm zu fagen, daß dieß Alles, was wir zufammen- 
faffen in dem Begriffe der gottdurchdrungenen und gott⸗ 
geeinigten Perfönlichkeit, nicht zerflört werden kann, weil 
ed feiner Natur nach ewig iſt. Daffelbe aber, was von 
den lebendigen Gliedern Ehrifti im Einzelnen gilt, dag 
gilt natürlich auch von feinem Leibe, der fich, ſtets wach⸗ 
fend, aus diefen Gliedern bildet und in ihnen entfaltet. 
Auch das Gottesreih, dad wir in feiner irdifchen Er- 
fheinung Kirche, Gemeinſchaft der Gläubigen, nennen, 
{ft nur zu denken als ein im höheren Dafeyn ſich voll 
fländig verflärendes, ale ein ewig fich vollendendes, an 
feinem lebendigen Haupte ſtets wachſendes. 


Grimm, üb. d. Evangel. u. den erften Briefd. Joh. ꝛc. 171 


2. 
Ueber das 


Evangelium und den erflen Brief ded Johannes 
ald Werke Eined und deflelben Verfaſſers. 


Bon 


D. ®Bilibald Grimm, 
erbentlichem Honorarprofeſſor ber Theologie zu Jena. 


Das Evangelium und der erfte Brief des Johannes 
ſtinmen bekanntlich fo fehr in Inhalt und Form über; 
“in, daß die Identität des Verfaſſers der beiden Schrif⸗ 
ten feither al& gweifellofe und entfchiebene Thatfache ges 
gelten, und Daher Anerfennung wie Beltreitung des 
apofolifch » johanneifchen Urfprunge immer auf beide 
Shriften fi bezogen hat. Ganz einfam landen Sam. 
Bettlieb Lange a) und der leipziger Theolog und 
Milofoph Weiße b) mit ihren Anfichten, indem jener 
ve Echtheit ded Evangeliums annahm, die des Briefes 
über begweifelte, während dieſer den apoftolifchen Ur⸗ 
Frung des Briefes zugeftand, den des Evangeliums aber, 
wenigſtens in Bezug auf deſſen erzählende Abfchnitte, leug⸗ 
tt, Dagegen hat neuerdings der tübinger Theolog 
daur und feine Schule unter den in unferem neuteflas 
arntlihen Kanon den Namen des Johannes tragenden 





ı) Die Schriften des Johannes überfegt und erklärt (Reuſtrelitz 
und Beimar 1795-1797. 3 Bbe.). 3. Thl. ©. 4 ff. 

b) Die evangeliſche Geſchichte kritiſch und philofophifch bearbeitet 
(Reipjig 1838). I. Bd. ©. 97. 


172 Grimm 


Schriften nur die Apofalypfe dem Apoftel diefed Namens 
vindicirt, dad Evangelium und die Briefe dagegen nicht 
nur demfelben abgefprochen, fondern auch ausdrüdlic 
verfchiedene Verfaſſer derfelben angenommen und den im 
Evangelium und dem erften Briefe niedergelegten Lehr. 
begriff für die unter dem reactionären Einflufle des Pan: 
linismus entfiandene helleniftifch »idealiftifche Verklärung 
des judens chriftlichen Realismus der Apokalypſe erklärt, 
dergeftalt, daß der erfte johanneifche Brief und das vierte 
Evangelium zwei verfchiedene Entwidelungsftadien jenes 
helleniſtiſch⸗ chriftlichen Idealismus in Kleinaſien darftel 
len follen. Schon Kö ftlin, beffen „Rehrbegriff des Evan; 
geliumd und der Briefe des Sohannes und die verwand⸗ 
ten neuteftamentlichen Lehrbegriffe” (Berlin 1843) be 
Panntlich eine getreue Reproduction von Baur's Anſich⸗ 
ten über Inhalt und Charakter ber neuteflamentlichen 
Lehrbegriffe enthält, machte (S. 276 ff.) hinfichtlich ber 
Eichatologie zwifchen dem Evangelium und erften Briefe 
eine Scheidung, welche einen Jeden, der bie Discretiond 
fchleier zu lüften wußte, in welche der Berfaffer feine 
Anfichten über Urfprung und Abfaffungezeit der einzelnen 
neuteftamentlichen Schriften einzuhüllen für rathfam befun: 
den hatte, feinen Augenblid in Zweifel laffen konnte, daß 
bier die Meinung von zwei verfchiebenen Verfaffern im 
Hintergrunde lag. Diefe Meinung fprach auch wirklich 
bald darauf der Meifter der Schule a) offen und unum 
wunden aus, ohne aber für diefelbe einen anderen Grund 
anzuführen, als die Behauptung, daß ber Verfaffer des 
erften Briefed in Kap. 5, 6. Bönp und alum nicht im 


a) Sn der Abhandlung: „Ueber die Gompofition und den Charakter 
bes johanneifhen Evangeliums.” In Zeller’s theologiſchen 
Sahrbücern. 8. Bd, (1844). 4. Heft. &. 666. Cine von mit 
verfaßte ausführliche Kritik diefer umfangreichen Abhandlung 
wird naͤchſtens in der neuen jena’fchen Eitteraturgeitung erſcheinen. 


56.0. Evangelium umd den erflen Brief des Joh. ic. 173 


Sinne ded Evangeliums (Kap. 19, 34.) gebrauche. Hoͤch⸗ 
iihR befremden muß ed, daß man gerade in demienigen 
Werke, welches die rüdhaltlofefte, detaillierte Eonftruction 
ver banr’fchen Theorie Über die Entmwidelung des Chris 
Renthums in ben zwei erftien Sahrhunderten und die Ein⸗ 
staung der litterarifchen Erzeugnifle jener Zeit, darunter 
andı der meiften neuteflamentlihen Schriften, in jenen 
vermeintlichen Entwidelungsgang enthält, id; meine 
Shwegler’8 „Nachapoſtoliſches Zeitalter in den Haupts. 
uementen feiner Entwidelung” (2 Bde. Tübingen 1846), 
sine Erörterung von Inhalt, Urfprung und Zwed der 
den Ramen des Johannes tragenden Briefe und folglich 
auch des Verhältniſſes des erften dieſer Briefe zum vier⸗ 
ten Evangelium vergebens ſucht. Dagegen hat ſich über 
den letzten Punkt ausführlicher, wenn auch keineswegs 
efhöpfend, der geiſtvollſte und gelehrteſte unter Baures 
Schulern, Herr D. Zeller, verbreitet a), Derſelbe bes 
jihnet die gewöhnliche Annahme ber Identität des Bers 
tafferö der beiden Schriften ald eine höchft prefäre, Die 
Ichulichleit in Sprache und Gedanken fey unlengbar, 
Inne aber aud Rahahmnng zu erklären feyn. „Auch 
vr zweite und dritte Brief des Johannes“, führt Herr 
Zeller fort, „haben viel Zohanneifches, und die unechten 
varlinifchen Briefe treffen mit den echten in Bielem zu, 
kmmen. Auch unter den platonifchen Werken befinden 
6 mandhe, die nicht durchaus unplatonifch ausfehen und 
dech fchwerlich für echt platonifch zu halten find. Eu⸗ 
denus fchreibt um Weniges anders, ald Ariftoteles, 
ad Fichte’ 8 Kritik ift fo ganz in Kant's Geiſte, dag 
k nah ihrem Erfcheinen allgemein für ein Werk bes 
köteren gehalten wurde,” Nun die Gefchichte der hiſto⸗ 





%) Inder Abhandlung : „Die äußeren Zeugniffe über das Dafeyn und 
den Urfprung des vierten Evangelium”, in ben genannten Jahr⸗ 
büdern, 4, Bd. (1845). 4. Heft. S. 588 f. 


174 SGrimm 


riſchen Kritik auf dem Gebiete ber bibliſchen wie profanen 

Litteratur lehrt allerdings, daß die Entfcheibung Über 
Echtheit und Unechtheit oft fehr fchwer if; und bie 
Wiſſenſchaft hätte fich in folchen Fällen wohl öfter, als 
es gefchehen ift, mit einem befcheidenen non liquet begnüs 
gem follen. Aber im Allgemeinen. läßt ſich Doch ein Kanon 
aufftellen, nämlid, der, daß, wenn bie Zahl der Abwei⸗ 
chungen in Sprade und Gedanken einer in Rebe fichen 
den Schrift das Berhältniß der Berwanbdtichaft über 
wiegt, wenn die Differenzen gar zu grell find, wenn fid 
wohl gar Mifverftändniffe von Ausdrüden und Geban 
ten der anerlannt echten Schriften desjenigen Berfaflerd, 
dem die zweifelhafte Schrift angehören will, finden, alsdaun 
aflerbinge voller Grund zum Verdachte der Rachahmung 
vorliegt. Iſt aber dad Berhältniß der Abweichung nar 
gering und läßt ſich daffelbe aus der Berfchiebenheit der 
Gemüthskimmung, der änßeren Umgebung, der Abfaf 
fungszeit, des Zwecks, oder aus veränderter Denkweile 
Eines und deſſelben Verfaflers hinreichend erklären, laſ⸗ 
fen ſich die anfcheinenden Differenzen ausgleichen, ale 
verſchiedene Schattirungen einer und berfelben Idee auf- 
faflen, oder auf verfchiedene Geſichtspunkte zurückführen, 
aus denen Ein und derfelbe Schrififteller die Sache ber 
trachten konnte, ſo würde, vorausgefeßt, daß keine Auße 
ren Gründe entgegenfiehen, die Folgerung der Unecht⸗ 
heit höchſt übereilt feyn. Wir wiflen nicht, nady welchem 
Maßſtabe Herr Zeller.in Feſtſtellung des Unterfchiedes 
von echten, zweifelhaften und unechten platonifchen Schrif 
ten verfährt. Sollte e& aber derfelbe feyn, nach welchem 
die baur’fche Schule in ihrer Beurtheilung der paulie 
nifhen Briefe zu Werke geht (wovon noch Einiges am 
Schluſſe diefer Abhandlung), dann freilich verliert Die 
biftorifche Kritik allen Halt und Boden. Aber mit Recht 
ift dieſes höchſt willkürliche und hyperffeptifche Berfah: 
ren ſchon mehrfach als kritiſcher Vandalismus bezeichnet 


üb. d. Evangelium und dem erſten Brief des Joh.ꝛc. 175 


worden. Was aber dad von Herren Zeller urgirte 
Berhältuiß der fichte’fchen Kritik der Offenbarung zu 
Kaurd Schriften betrifft, fo urtheilen Sachkundige ans 
ders. Ein mit Kant’s und Fichte’ & fchriftftellerifchen 
GFigenthämlichkeiten gleich fehr vertrauter Philofoph vers 
fcherte wir kürzlich, die Abweichung der fichte’fchen 
Kritik von Kants Schriften in Sprache und Darftellung 
ud bin und wieder auch in ben Gebanfen fey fo bedeu⸗ 
tend uud fo nnverlennbar, daß er die Aufnahme bed 
Verkes als Fant’fches Erzengniß fih nur aus der 
Gleichheit feines Titels „Kritif”, fo wie des Formates, 
Papiere, Drudes und Berlegerd mit Kant's Schriften 
wu erflären wiſſe. Um endlich unferer vorliegenden Frage 
süher zu kommen, fo ftehen der zweite und dritte johan⸗ 
neiſche Brief hinfichtlich der fprachlichen und einiger ans 
deren Eigenthümlichkeiten doch augenfcheiulidy in einem 
gan; auderen Berbältniffe zu dem vierten Evangelium, 
ald der erfte Brief, und felbft in diefen ihren Eigenthüm⸗ 
lichleiten möchte ich noch Leinen. zureichenden Grund fin» 
ven, fie den Berfafler ded Evangeliums abzufprechen. 
Doch Herr Zeller behauptet auch bedeutende Diffe 
vengen zwifchen dem erflen Briefe und dem Evangelium 
des Johannes ; er will fich jedoch anf das Dogmatifche 
beſchränken. Wir hoffen, er wird fich auf die nach fei: 
ır Meinung grellſten und augenfälligften Differenzen 
kihräntt haben. Gr bemerkt aber Folgendes: höchſt 
enffalend fey der Linterfchied beider Schriften in der 
kehre vom zufünftigen Bericht und vom heiligen Geifte. 
„Ler Brief redet (Rap. 2,18. 28. 3,2.) ausbrüdlich von 
er dsyden ago und einem zukünftigen Yavagndizwas 
&hriki umd keunt Namen und Begriff des dvrigguoros. 
Das Evangelium fpricht nicht bloß nirgends mit-diefer 
dchimmtheit von der äußeren Parufle und dem Welt, 
mde, fondern es löſt auch jene (Kap, 14, 3. 18 f. 23. 
I6, 16. 22.) deutlich genug in die Idee der inneren Pa⸗ 


176 Srimm 


rufle durch ben heiligen Geift auf. Eben dieſes war aber 
dem Briefe nicht möglich, weil er die dem Evangelium 
eigenthämliche Beſtimmung bed Geiſtes ald eined Principe 
fortgehender Entwidelung, die Idee des Paraflet, nicht 
bat. Der Parafler it ihm Chriſtus (Kap. 2, 1.), den 
Geift kennt er noch nicht ale den dAlos zagdxäntos 
(Ev. 14, 16.), fondern erſt ald das zoisua (Kap. 2, 20. 
27.), eine Betrachtungsweife, die, dem älteren Jubenchris 
ftenthbum geläufig e), dem vierten Evangelium abgeht. 
Damit hängt auch die Verfchiedenheit der Darftelung in 


Joh. 19, 34. und 1 Joh. 5, 6. zufammen. Denn wäh 


rend es in der erfteren Gtelle bad zuvsüue felbft ift, das 
als lebendiges Waller vom flerbenden Chriftus aus⸗ 
ftrömt, während ed alfo diefelbe Idee des Geiſtes, als 
des mit dem Tode Ehriſti von ihm ausgehenden Stell⸗ 
vertreters feiner perfönlichen Gegenwart, andfpricht, wie 
Joh. 16, T. u. and. St., fo erfcheint in dem Briefe Der 
Geiſt in dem äußerlichen Verhältniffe zu Chriſtus, daß 
er durch Taufe und Abendmahl von feiner Meflianität 
Zeugniß gibt. Diefe. Differenzen weifen darauf bin, daß 
ber Brief einer früheren dogmatifchen Entwidelungsform 
angehört, ale dad Evangelium, mag er nun von dem» 
felden ſalſo wird bier doch die Identität des Verfaſſers 


a) Zur Grhärtung biefer Behauptung beruft fi Beller auf 
Schwegler's nadapoftolifches Zeitalter, I. Band. S. 104., wo 
aus den Stellen Apoftelgefch. 4, 27. (Inooſsc, d Ayıos mais Heov, 
69 Exgıoe) und 10, 38. C’Insoug — — ov Eygıoe d Haöc avev- 
parı dylp nal duvaues) und aus bem Ausfpruche Trypho's bei 
Iustin. Dial. c. Tryph. c. 49, über bie chriftologifche Anficht 
ber Ebioniten (xal 2uol utv doxovcım ol Adyayrıs rüganor 
yeyovivaı avröv xal xar' duloyiv nezgieha: xai Xgıoror 
yeyovivaı zıdavoregov Alysım' ul ydg nuelg mdvreg Tor 
Xgıoröv üvdgnnon EE ardganns wgoadoxuper yarıacadar 
xal rön ’Hilav zoo as audrov 2IMovra, gefolgert wird, bie Be⸗ 
zeichnung der Ausrüftung mit bem heiligen Geifte durch zeiecdn: 
fey dem Ebionitismus eigenthuͤmlich gewefen. 








üb, d. Evangelium und den erflen Brief des Joh. ꝛc. 177 


wit dem bed Evangelinms ald möglich gefett!) oder einem 
anderen Berfafler wirklich früher gefchrieben, oder mag 
er dem Evangeliſten von einen Solchen nachgebildet wors 
den ſeyn, der fich feine eigenthümlichen Anfchaunngen 
nicht ganz anzueiguen vermochte” - 

Ih traute meinen Augen kaum, im Borfichenben 
Dinge zu Differenzen geftempelt zu fehen, die vor dem 
mbefangenen Blide durchaus nicht als folche beftchen, 
ıder die fi Doch augenbliclich ausgleichen laffen. Nur 
ver Brief fol von einer Zoyden ge fprechen. Aber das 
Eyangelium kennt ja, was ganz daffelbe befagt, die Jayden 
iaige (Rap. 6,39. 40, 44. 54.); es hat bie Lehre von eier 
Inlihen Erwedung ber Todten und einem über fie zu 
baltenden Berichte durch Ehriſtum; vgl. Die eben angeführ: 
im Stellen und Rap, 5,28 f., welche Stellen Herr Zeller 
eh nicht etwa mit dem neueflen proteftantifchen Aus⸗ 
ga, Baumgarten» Erufinus, allegorifch erklären 
nid, So Etwas follte bei dem heutigen Stande der 
Eregefe nicht muche vorfommen. IR aber die orthobore 
Indlegung der genannten Stellen richtig, fo ift in ihnen 
direct auch. Die Borftelung von der fihtbaren Wieders 
haft Jeſu enthalten, denn ohne biefe Wiederkunft wäre 
uf dem Standpunkte des Urchriftenthums jene Erweckung 
vr Zodten und das über fie zu haltende Gericht nicht 
kaldar, Dat auch der Evangelift nichts über die Zeits 
sähe diefer Ereigniffe bemerkt, fo folgt daraus doch nicht, 
uf die Vorſtellung ihm fremd gewefen fey a). Gefegt 
da, der Evangelift hätte die fichtbare Wiederkunft Jeſu 
ht fo unmittelbar nahe gedacht, wie der Brieffteller, fo 
nirde das noch fein frigenter Beweis gegen bie Iden⸗ 





) Befonnener: äußert fih Köftlin a. a. D. S. 276: Im Evan⸗ 
gelium finde fich Leine Spur, daß das Ende der Dinge in der 
nähen Zukunft erwartet. würde, aber aud) „kein beſtimmter 
Beweis vom Gegentheile.” K 

eol. Stud. Jahrg. 1847, 12 


178 Grimm 


kität des Berfafferd ber beiden Schriften ſeyn; berfelbe 
fönnte ia, wer weiß unter was für Einfläfen, feine Au⸗ 
ſicht geändert haben, wie manche Theologen, freilich mit 
großem Unrechte, vom Apoftel Paulus angenommen has 
ben, er rücke in feinen fpäteren Briefen bie ſichtbare Pa⸗ 
rufle des Herrn in weitere und unbeſtimmte Zeitferne 
hinand. Die Berkellung von einer doppelten Wieder⸗ 
kunft des Herrn aber, der fichtbaren und unſichtharen, 
der inneren und äußeren, enthält eben fo wenig- einen 
Widerſpruch als die Borfiellung von einer boppelten Lee, 
derjenigen, bie ſchon jet ummittelbar durch den Glauben 
an den Erlöfer vermittelt wird, und jener, bie den Gläu⸗ 
bigen er zur Zeit der Parufie zu Theil werben fol, 
oder von einer doppelten aplsıg, der inneren, jenem Pro: 
cefle der Sichtung zwiſchen Guten und Böfen, ben bas 
Evangelium gleih von feinem Eintritt in die Welt au 
vollzieht (Kap. 3, 18 ff. u. öft.), und dem abfchließenden 
änßeren Bericht am Ende der Tage (Kap. 5, 28 f.). 
Es hat ja auch Paulus, wenn auch nicht den AuUsdruck, 
ſo boch den Begriff der unfihtbaren Wiederfunft Jeſu 
in feiner Vorſtellung einer unfihtbaren Gegenwart 
Chriſti in den Bemütheru uud Herzen ber Gläubigen, Des 
Agsorög iv Haiv, und ber Wirkſamkeit des heiligen Gei⸗ 
fted in ihmen neben der Borfieluug von der fihtbaren 
Paruſie. Mit dieſer letzteren Borkellung hing aber nad 
jüdiſchem und ucchriftlichem Lehrbegriffe der Begriff Des 
Antichrifte fo eng zufammen, daß ed grenzenlofe Kühn; 
beit verraten würde, wenn man die Kenntmiß beflelben 
dem Evangeliften abfprechen wollte. Nirgends wäre eine 
argumentatio e silentio gemagter ald hier, da ſich Feine 
dringende und zwingende Beranlaffung zur Erwähnung 
des Antichriftd im Evangelium nachweifen läßt. Ohne» 
dieß iſt der Begriff des Antichriſts im erften johanneiſchen 
Briefe fo geiflig gehalten, daß es faſt fcheinen möchte, 
als habe fich ber Berfaffer denfelben gar wicht, wie Der 


üb, d. Evangelium und den erflen Brief des Joh. ac. 179 


Npofalgptifee oder wie der Apoftel Paulus im zweiten 
Briefe an die Cheffalonicher, als perfönliches Wefen, 
fondern tbeell, als die Spitze und als das Eollectioum 
ver dem Ehriſtenthume feindlichen Beflrebungen und 
Micte gebacht, gerade fo wie bei Johannes ber correlate 
Begriff ded Satan in ähnlicher Schwebe gehalten if 
wwifhen der Vorſtellung einer fabftantiellen oder perſoͤn⸗ 
lichen und einer bloß principielen Macht. 

Eine andere Berfchiebenheit zwifchen dem Evangelium 
uud dem erfien Briefe liegt nach Heren Zeller’s Be 
hanptung in der Lehre beider Schriften vom heiligen 
Geiſte. Uber im Evangelium konnte ja der Geiſt ber. 
Natur der Sade nad erft für die Zukunft verheißen 
verden, für die Zeit feit dem Hingange des Herrn zum 
Bater. Nach dem Briefe foll er ſich in der Zeit der 
Eutfheidung als dasjenige Princip bewähren, als wel⸗ 
ches ihn im Evangelium ber Herr den Seinen verheißen 
batte, als dad Princip ber Wahrheit, folglich auch ber 
krlenutniß des wahrhaft Ehriſtlichen im Gegenſatze zur 
Frrlehre (Kap. 2, 20. 27). Was waltet da für ein 
Viderſpruch ob? Ob aber Jeſus und mit ihm ber Evans 
gelit den heiligen Geiſt ald Princip einer (doch wohl 
as Unendlihe?) fortgehenden Entwidelung, ohne 
heffaung anf irgend einen Abſchluß in der chriflichen 
krkenntniß, fich gebacht habe, läßt ſich durchane nicht 
mweifen und möchte mehr ald zweifelhaft feyn, Hätte 
Ha aber auch der Evangelift in diefer Eigenfchaft ge- 
ht, fe folgt daraus noch nicht, daß er ihn auch im 
Briefe Von diefer Seite habe darftellen müſſen. Es wäre 
Def ebenfalls eine ganz umberechtigte argumentatio e si- 
kstio, da der Briefſteller doch wohl fchwerlich eine er» 
Ihöpfende Entwidelung der Idee des heiligen Geiftes 
geben wollte, Rein unbegreiflich ift e& aber, wie Herr 
3eller den Ausbrud supdsimzos als ſolchen ald Ber 
wihnung jenes Principes der fortgehenden Entwidelung 

12 * 





——— — — — — 


180 Grimm 


faſſen und darin einen grellen Gegenſatz zur Bezeichnung 
bes heiligen Geiſtes als zoicne finden konnte. Beides 
find ja bildliche Ausdrücke. Mit zagdsinrog wird 
nach jetzt allgemein recipirter Erklaͤrung der heilige Geiſt 
ale (unfichtbarer geiftiger) Beiftand, mittel! zoiöpe 
aber ale Ausräftung und Befähigung Derer ber 
zeichnet, Denen er verliehen wird (nach 2 Sam. 16,13.). 
Keiner von beiden Ausdräden begeichnet an ſich ſchon 
eine einzelne beftimmte Function bes heiligen Geiſtes an 
den Seelen der Gläubigen. Statt „ber Bater wird endı 
ben Paraflet verleihen” (Evang. 14,16.) hätte der Evan 
gelift unbefchabet des Sinnes auch fagen können: „bet 
Bater wird euch mit bem heiligen Geifte falben”; und 
fkatt „ihr habt das zoisun” (1 Br. 2, 20.), ober „das 
zoisun lehrt euch” hätte der Briefſteller auch fagen koͤn⸗ 
nen: „ihr habt den Paralleten”, oder „ber Parakiet lehrt 
euh.” Grundfalfch ift aud die Behauptung, bie bild- 
lichen Ausbräde zoisur und xolsıv vom heiligen Geile 
und von der Ausrüſtung mit bemfelben feyen nur ben 
Indenchriſten eigenthümlich gewefen, denn 3 Kor. 1, 26. 
findet ſich yolsıv in demfelden Sinne Vgl. Meyer 
zu d. St. 

Endlich fol noch zwifchen Evgl. 19,34. und 1 Brief 
5,6, eine fchroffe Differenz ſtattfinden. In Erflärung ber 
leßteren Stelle weiht Hr. Zeller von Baur ab, in 
dem er Wolf's, Carpzov's mn. A, Erklärung de 
alu vom Abendmahle wieder aufnimmt, welche, ale längft 
verfchollen, um fo weniger einer ernenten Widerlegung 
bedarf, ald Hr. Zeller auch nicht die leifefte Miene! zu 
einer erneuten Begründung berfelben gemacht hat. Dar 
gegen unterliegt die jetzt immer gangbarer a) werdende Err 


a) Unter ben neueflen Auslegern hat fi nur Baumgarten: 


Srufius Ctheologifhe Auslegung ber johanneifchen Schriften, 


ab, d. Evangelium unb den erſten Brief des Joh. ꝛc. 181 


Härung, Jeſus fey ale Mefflas erfchienen und habe ſich 
als folcher bewährt durch bie in der Taufe und in feis 
sem Tode gefliftete Berföhnung, und ber h. Geiſt gebe 
die innere Gewißheit der Berfühuung, wohl kaum noch 
einem Zweifel, wie fie denn auch von Baur angenoms 
men werben iR. Dagegen tritt Hr, Zeller feinem Lehr 
see und Meiſter iu Erklärung von Evang. 19, 34. unbes 
dingt bei. Zum befieren Berfländniffe ded von Hr. Zel⸗ 
let Sefagten bemerken wir, daß nach Baur’s a) Anficht 
ver Evangeliſt in 19, 34. die Erfüllung der in Kap. 7, 38f. 
sügetbeilten Berheißung, Die durch den Tod des Herrn 
keingte Auſsſtrömung des heiligen Geiſtes, berichten will; 
dad heraudfließende Waller fol Symbol des heiligen 
Geiſtes, das Blut Symbol ded Todes Jeſu, die erzählte 
degebenheit aber reined Phantaflegebilde des Evangeliften 
ya. Gegen dieſe abfonderliche Erklärung erheben ſich 
aber die verfchiedenften Bedenken, Erſtens. Als Erfülr 
lung der Berheißung Chrifti in Kap. 7, 38 f. kann der 
Coangeift die „Sache fchon darum nicht haben barftellen 
nolen, weil dort dad Subject der Blanbende, in unferer 
Stelle dagegen der ſterbende Chriſtus if. Hätte er fie 


2. Band. ©. 259.) für die Erklärung bes Hdag von der an Je⸗ 
ſut durch Johannes vollzgogenen Taufe entſchieden. Aber außer 
demjenigen, was ſchon Lüde (Bommentar über die Schriften 
des Johannes, S. 288.) und de Wette (ereg. Handb. zu Joh. 
6. 266.) bemerkt haben, ftreitet gegen diefe Auslegung, daß von 
einer Begebenheit, wie die bei der Taufe Jeſu vorgefallene, bie 
sur buch ein hiſtoriſches Zeugniß, dasjenige Johannes des 
Ziufers, verbürgt war (Evang. 1, 82.), ſchwerlich gefagt wer- 
ben konnte, fie werbe durch den heiligen Geiſt bezeugt. Nur in 
eigenen inneren Erfahrungen vernimmt man Stimme und Zeugs 
niß des heiligen Geiſtes. So vergewiffert derfelbe die Glaͤu⸗ 
bigen auch nach Roͤm. 8, 16. f. Bal. 4, 6,, vergl. Röm. 5, 5., 
iſtet durch ben verföhnenden Tod Jeſu vermittelten VBerhältnifs 
ftö der Kindſchaft zu Bott. 

i) Ju 3eller’s theol. Jahrb. 1844, &. 164 ff, und biefelbe Aufı 
feflung der Stelle bei Köftlin a, a. O. &, 207, 


182 Grimm 


aber auch abs folche haben darſtellen wollen, fo würde er 
wohl, sach der Analogie von Kap. 18, 9. zu fehließen, 
gefagt haben: xal sbdug 3EnAdov zorastol Ödarog &x vis 
 wesllag adroö, va zAngmdi 6Abyos, Ov zizev. Zweitene. 
Die Erwähnung des Blutes wäre unnöthig, ja flörend 
geweien. Denn wenn das Wafler aus dem getödter 
ten Leibe floß, fo war damit von felbft ber Gedanke ver 
finnbildet, daß die Ausflrömung des Geiftes aus ber 
Derfon Jeſu durch deren Tod bedingt fey. Run aber 
wird das Blnt fogar zuerſt genanıt. Drittens. Wenn 
auch fonft der Geiſt und bad Geiftige unter dem Bilde 
eines Fluidums und bei Joh. 7,99. befkimmter unter bem 
Bilde des Waflers, fowie die Mittheilung bes Geiſtes 
anter dem Bilde einer Ausgießung oder Ausſtrömung 
oder einer Tränkung (zorigeode: zvsunarı, LXX. zu Ic. 
29, 10. 1 Kor. 12, 13.) bargeftellt wird, fo wird bod 
nirgends das Wafler fo geradezu, ohne alle nähere Be 
ftimmung, ftatt des Geiſtes genannt. Wohl aber ift dal: 
felbe im Ev. Joh. 3, 5. geradezu Symbol der Taufe. 
So fehwierig nun aud die Stelle 19, 34. ift, burdı 
Baur’s Erklärung wird die Dunkelheit nicht verfcheucht. 
Es gehoͤrt eine fehr kühne Phantafle und ein flarfer 
Muth dazu, das Alles darin zu finden, was Baur hir: 
einlegt. Dem durch y&p vermittelten Zufammenhange des 
36. Berfed unit dem Borhergehbenden zufolge lag zwar 
für den Evangeliften das Hauptmoment in dem Nichtzer 
brechen der Beine Jeſu und im Lanzenftiche fchon ale 
folchem, weil nach feiner Anficht beide Thatfachen im A. T. 
geweiflagt, folglich Merkmale der Meffinnität Jeſu war 
ren, Gleichwohl kann ihm das aus der geöffneten Seite 
Jeſu herausfließende Waffer und Blut nichts Gleichgül⸗ 
tiged gewefen feyn, wie Baumgarten» Erufius 
meint, denn fonft Hätte er fich mit der einfachen Erwäh⸗ 
nung des LanzenftichE begnügen können, ohne der Fluida 
zu gedenken. Daß er, wie man gemwöhnlid annimmt, 


üb. d. Eoangelium unb den erflen Brief bes Joh. x. 183 


rue anatomische und phyſtiologiſche Conftatirung ber 
Wirklichkeit des Todes Jeſu habe geben wollen, ift durch⸗ 
and unwahrfeheinlich, da in damaliger Zeit von ben Geg⸗ 
sera ded Chriſtenthums wohl bie Auferſtehung ef, nie» 
wald aber die Bohflänbigleit feines Todes geleugnet oder 
zweifelt wurde. Sonach bleibt allerdings nur die An⸗ 
sehe übrig, daß die Erinnerung des Evangeliſten =) 
um typologifchen Intereſſe beherrfcht geweſen fey, daß 
a in Bint und Wafler eine ſymboliſche Bedentung ge» 
legt habe. Es fragt ſich nur, welche? Daß es die von 
Saur angenommene unmöglich geweien feyn kann, has 
ben wir gefehen. Wie dunkel auch bie Stelle 1 Br. 5,6. 
iR, fie iſt Doch jedenfalls klarer, als die unfere. Was 
legt folglich näher, als biefelbe, in Gemäßheit des bes 
launten bermeneutifchen Srumbfaßes, bie dunkeln Stellen 
ed den klareren zu erklären, zur Aufbellung der unfes 
sch zu benugen, folglich nach dem Borgange ded Apol« 
linaris b), mit einigen Neueren, wie Weiße c), 
Sfrörer, Hafe, Blunt uud Wafler ald Symbole der 


2) Denn als Augenzeugen unb als ben Apeftel Johannes fegen wir 
ven Berfafler voraus. Das Herausfließen von Wafler und But 
entzieht ſich Teineswegs fo fehr ber Borftellung, wie die Gegner 
des Evangeliums behaupten, fobald man fich nur die Sache in 
bervon Gfroͤrer (das Heiligthum und bie Wahrheit, ©. 335 ff.) 
oder Hafe (Leben Jeſu, S. 206. 8. Aufl.) vorgefchlagenen Auf- 
feffung denkt, 

b) In dem befannten Fragmente bei Ruuth, Beliquiae sacrae 1. 
p. 151: das aus ber geftochenen Seite berausgefloffene Blut und 
Baffer fenen die beiden zudagsın geweien. 

c) Evangel. Geſchichte, II. &. 829 ff. vergl. 1. S. 100 ff., nur 
daß Weiße die Stelle bes Briefs in ganz abfonberlidyer Deus 
tung als polemiſche Beziehung auf Gerinth foßt und aus einem 
Mifverfländniffe derfelben Seitens des von ihm angenommenen 
PMeudeiohannes bie Entftehung der Erzaͤhlung in Kap, 19, 34 ff. 
ju erfläcen fucht, auch alge faͤlſchlich zunädıft ale Symbol bes 
beitigen Abenbmahls, fomit nur mittelbar des Gühnopfertobes 
cuffaßt. 


184 Grimm 


durch Chriſtum geftifteten Berföhnung anfzufaflen, fo daß 
folglich jebe anfcheinende Differenz mit 1 Br.5, 6. beſei⸗ 
tigt wird? Mag eine ſolche typifche Deutung auch gegen 
unferen Gefchmad ſeyn, fie war nicht gegen ben Des 
Evangeliſten, ber ja auch in Kap. 9, T. feine Neigung 
beurfundet, in äußere Erfcheinungen typifche Beziehun⸗ 
gen anf bie Thatfachen ber Erlöfung zu legen. Taufe 
und Tod Sefn werden, aber audy in den zur Erflärung 
der beiden johanneifchen Ausſprüche noch nicht benutzten 
Stellen (Eph.5,25f. a), Hebr. 10, 22.) b) ale die beiden 
* Sühnungsmittel zufammen genannt, fowieinl Kor. 1, 13. 
ald die beiden Mittel, durch welche Ehriftuß die Gläͤubi⸗ 
gen als fein Eigenthum fich erworben habe. Daß in ber 
Stelle des Evangeliums das Blut, in ber bed Briefs da⸗ 
gegen das Wafler zuerſt genannt wird, kaun doch ſchwer⸗ 
lich ald Widerſpruch angefehen werben. Die Boraufs 
Relung des Waflerd war in der Briefftelle durch den 
Cwahrfcheinlich eine Beziehung auf Johannes ben Täufer 
enthaltenden) fleigernden Gegenſatz: odx dv ra Ddası ndvor, 
dir iv co Ddarı xal vo wveuuer, bedingt, Das Waffer 
fonnte aber auch voraufgeftellt werden, weil die Taufe 
das erfle äußere Moment in der Mittheilung und Aneig- 
nung des chriftlichen Heiles iſt; das Blut Dagegen, weil 
es fich in der Stelle des Evangeliums zunächſt vom Tode 





a) Bel, Harle zu d. St. 

b) Daß die Worte: ddhnrrıausro: Tag nagdlag amo ouwsönceng 
zovngüs, nicht die fittliche Beſſerung, fondern die Entfündigung 
durch den Opfertob Jeſu bezeichnen, unterliegt jegt Teinem Zwei⸗ 
fel mehr. al. Kap. 9, 18 f. 12, 24. — Zu den Stellen, wo 
Taufe und Tod Jeſu als Sühnungemittel zufammengeftellt wer: 
ben, würbe au 1 Kor, 6, 11. gehören, wenn bie Deutung 
jysachee von der Weihe durch Suͤhnung (wie. Eph. 5, 26. 
Hebr. 9, 13.) völlig gefichert wäre. Aber aysabschus bezeichnet 
anderwärts auch bie fittliche Läuterung burdy Gottes heiligen 
Geiſt (1 Petr, 1, 2, vergl. 1 Theff. 5, 23.), fo daß ſich etwas 
Beflimmtes nicht wohl ausmachen läßt. 


! 


4b. d. Evangelium und den erſten Brief des Joh. ꝛc. 185 


Gefn handelte, oder weil der Verföhnnngstod bie objer, 
tive Bedingung des Segens der chriſtlichen Taufe iſt, 
oder auch, weil beim Herausfließen die Quantität des 
Olnted die des Waſſers Überwog. Ob dagegen dem Ber 
faffer zugleich auch der Gedanke an die Weihung der 
mefatfchen Religiomsanftalt durch Wafler und Blut cHebr. 
9,19. 3 Moſ. 24, 5 f.) vorſchwebte, wie dieß Baum» 
garten:Erufius in Bezug auf die Stelle des Briefe 
behauptet, möchte mehr als zweifelhaft feyn, da Zohan» 
nes die beiden Neligionsanftalten fonft nirgends unter 
den in anderen neuteſtamentl. Schriften gangbaren Ger 
fhtöpuuft zweier Bündniffe mit Gott ftellt =). 

Aus Vorſtehendem fieht man, daß Here Zeller in 
ver Scheidung des Evangeliums vom erften Briefe bee 
Johannes hinfichtlich ihres Urfprunge und Berfaflers 
san; nach denſelben willfürlichen Grundfägen verfahren 
iſt, welhe Banr und feine Schüler in der Kritik der 
panlinifchen Briefe befolgt haben, nuter denen fie bes 
lanntlich nur die Briefe an bie Römer, Galater und Jos 
rinther als völlig zweifellos panlinifche Werke anerken⸗ 
an, während fie die fämmtlichen übrigen Briefe eben 
[ viel verfchiebenen Berfaflern vindiciren, von denen jes 
der wieder ein befonderes Stadium der Entwidelung und 
Beiterbildung des urfprünglichen pauliniſchen Lehrbe⸗ 
griffs repräfentiren fol. Wollte aber die Schule confes 
quent ſeyn, fo müßte fie noch weiter gehen und auch uns 
ir den vier unangetaftet gelaffenen Briefen eine gleiche 
Sihtung vornehmen, fo daß zulegt vielleicht nur ein ein» 
nger als wirkliches Erzeugniß des Apofteld übrig bliebe. 
Bir wollen für dieſen Behuf nur auf einige Erſcheinun⸗ 
gm aufmerkſam machen, wie fie fich uns ohne weiteres 
Suchen eben barbieten, Im Briefe an die Galater wirb 





a) Kuh 2 Moſ. 29, A. 21. kommen Waſſer und Blut als heilige 
Reinigungs» und Weihungsmittel nebeneinander vor, 


186 Grimm 


der leiblichen Auferfichung ber Menfchen und ber ſicht⸗ 
baren Wiederkunft Jeſn mit keinem Worte gedacht. Im 
Br. an die Römer (8, 39 ff.) huldigt der Verfaſſer der 
Borftellung von einer Verklärung der fihtbaren Schöpfung 
zur Zeit ber Parufie des Geren, während er 1 Kor. 15, 
wo er doch feine efhatologifchen Vorſtellungen ausführ⸗ 
licher entwidelt, davon ſchweigt. — In NRöm.8, 11. wird 
der den Ehriften mitgetheilte heilige Geiſt zugleich ale 
phyſiſches, ben Leib durchdringendes und zu deſſen Auf 
erwedung und DBerllärung befähigendes Princip darge 
ftellt, worauf de Wette, Tholud u. 9, die Mei⸗ 
nung gegründet haben, Paulus denfe ſich die Auferwe 
dung als einen Proceß allmählicher Verklärung des 
Leibes von innen heraus, während nad) 1 Kor. 15, 52. 
die Auferwedung in einem Nu durch den Allmachtöruf 
Gottes erfolgen fol. Nah Bal. 3, 29. tft in der Gew 
meinfchaft mit Chrifius auch der Unterfchieb zwifchen 
Mann und Weib aufgehoben, während 1 Kor. 11, 3. bie 
Unterordnung des Weibed unter den Mann gelehrt wird. 
Es würbe und auch gar nicht fchwer falten, fprachliche 
Differenzen in den vier unangetaftet gelaflenen Briefen 
nachguwelfen, doch reicht für vorliegenden beſchränkten 
Zwei das in fachliher Beziehung Beigebrachte vollfons 
men aus. 

Es wird alfo wohl auch in Zufunft dabei fein Ber 
wenden haben, dag Evangelium und erfter Brief dee 
Sohanned, mögen fie nun edyt und apoftolifch ſeyn ober 
nicht, ald Werke Eines und deflelben Verfaſſers gelten. 
Es kann fcheinen, als ſey vorftichende Widerlegung Zel 
ler’s kein beſonderes Verdienſt, und Hr. Zeller felber 
habe fie und gar zu leicht gemacht. Wir geben dieß zu, 
namentlid) das Zweite. Aber bei der Keckheit und Zur 
verfichtlichleit, mit welcher Baur und feine Schüler ihre 
Hypotheſen ald unumftößliche Refultate anzupreifen wil: 
fen, kann es nicht unintereffant feyn, in detaillirtem Ein 


üb. b. Evangelium und ben erften Brief des Joh. zc. 187 


gehen au einem recht eclatanten Beifpiele die Leichtfertig- 
fit ud Willkür diefer in weiteren Kreifen noch gar nicht 
binläuglich gefaunten und verfkandenen, geſchweige denn 
richtig gerwärdigten Kritik in ein recht helles Licht zu 
Rellen. Uebrigens if Referent am wenigfien gemeint, 
die vielfachen wiffenfchaftlichen Verdienſte Baur’s im 
Abrede zu ſtellen oder fchmälern zu wollen; man fan 
diefe mit Dank anerfennen, ohne damit die vielen Irr⸗ 
ange und unwiſſenſchaftlichen Auswächfe feines Principe 
der freien Forſchung gut zu heißen. 


% 


3. 


Berfud, 


die Bedeutung bes Wortes Up aus der Gefdichte der 
göttlichen Offenbarung zu beflimmen. 


Son 
Paſtor Achelis 
in Groͤpelingen. 


Su dem Jahre, ba der König Uſia ſtarb, ſahe ich 
den Herrn fißen auf einem fehr hohen und erhabenen 
ibrone und feine Schleppen fülleten den Tempel. Ges 
taphim fanden über ihm, ein jeder hatte ſechs Flügel; 
nit zween deckte er fein Angeficht und mit zween deckte 
er feine Füße und mit zween flog er. Und einer rief 
im anderen: heilig, heilig, heilig ift der Herr Zebaoth, 
die ganze Erde tft feiner Herrlichkeit voll. Und es ers 
bebeten die Grundfeſte der Schwellen und ber Tempel 
ward voll Ranched, Und ich ſprach: wehe mir, ich ver« 





186 Grimm 


ber leiblichen Auferfichung der Menfchen und ber ſicht⸗ 
baren Wiederkunft Jeſn mit keinem Worte gedacht. Im 
Br. an die Römer (8, 19 ff.) huldigt der Berfafler der 
Borftelung von einer Verklärung der fihtbaren Schöpfung 
zur Zeit ber Parufle ded Herren, während er 1 Kor. 15, 
wo er doch feine efchatologifchen Vorſtellungen ausführ⸗ 
licher entwidelt, davon ſchweigt. — In Rom. 8,11. wird 
der den Chriften mitgetheilte heilige Geiſt zugleich ale 
phyſiſches, den Leib burchdringendes und zu beffen Auf» 
erwedung und Verklärung befähigended Princip darge⸗ 
fteßlt, worauf de Wette, Tholud u. 9. die Meir 
nung gegründet haben, Paulus denke ſich die Auferwer 
dung als einen Proceh allmählicher Berklärnng Des 
Leibed von innen heraus, während nad 1 Kor. 15, 52. 
die Auferwedung in einem Ru durch den Allmachtöruf 
Gottes erfolgen fol. Nah Gal. 3, 29. iſt in der Ge 
meinfchaft mit Chrifius auch der Unterfchieb zwifchen 
Mann und Weib aufgehoben, während 1 Kor. 11,3. die 
Unterordnung des Weibes unter den Mann gelehrt wird. 
Es wärbe und auch gar nicht fchwer fallen, fpradjliche 
Differenzen in ben vier unangetaftet gelaflenen Briefen 
nachzuweifen, doch reiche für vorliegenden befchräuften 
Zwei das in fachlicher Beziehung Beigebrachte vollkom⸗ 
men aus. Ä 

Es wird alfo wohl auch in Zukunft dabei fein Bes 
wenden haben, daß Evangelium und erſter Brief des 
Sohanned, mögen fie nun echt und apoftolifch feyn oder 
nicht, ald Werke Eines und deſſelben Verfafferd gelten. 
Es kann fcheinen, ald ſey vorftehende Widerlegung 3 el- 
Ler’$ kein befonderes Verdienſt, und Hr. Zeller felber 
habe fie und gar zu leicht gemacht. Wir geben dieß zu, 
namentlich das Zweite. Aber bei der Keckheit und Zus 
verfichtlichkeit, mit welcher Baur und feine Schüler ihre 
Hppothefen ald unumfößliche Refultate anzupreifen wii: 
fen, kann es nicht unintereflant feyn, in detaillirtem Eins 


üb. d. Evangelium und den erſten Brief des Joh. ꝛc. 187 


gehen an einem recht eclatanten Beifpiele die Leichtfertigs 
feit und Willlür dieſer in weiteren Kreifen noch gar nicht 
binlänglich gefaunten und verſtandenen, gefdyweige denn 
richtig gewärdigten Kritit in ein recht helles Licht zu 
Relten. Uebrigens if Referent am wenigften gemeint, 
die vielfachen wiflenfchaftlichen Berbienfte Baur’s in 
Abrede zu ſtellen oder fchmälern zu wollen; man kamm 
diefe mit Dank anertennen, ohne damit die vielen Irr⸗ 
gaͤnge nud unwiffenfchaftlichen Answächfe feines Principe 
der freien Forſchung gut zu heißen. 


% 


3. 


Berfud, 
die Bebeutung des Wortes 7 aus der Geſchichte der 
göttlichen Offenbarung zu beflimmen. 


Bon 
Paſtor Achelis 
in Groͤpelingen. 





Sn dem Jahre, da der König Ufia ſtarb, ſahe ich 
dm Herrn fißen auf einem fehr hohen und erhabenen 
Throne und feine Schleppen fülleten den Tempel, Ges 
taphim fanden Über ihm, ein jeder hatte ſechs Flügel; 
mit zween deckte er fein Angeſicht und mit zween dedte 
er feine Füße und mit zween flog er. Und einer rief 
sum anderen: heilig, heilig, heilig ift der Herr Zebaoth, 
die ganze Erbe ift feiner Herrlichfeit vol. Und es er: 
bebeten die Grundfeſte der Schwellen und der Tempel 
ward voll Rauches. Und ich ſprach: wehe mir, ich vers 


/ 


188 Achelis 


gehe, denn ich bin ein Menſch unreiner Lippen und wohne 
unter einem Bolle von unreinen Lippen, Denn meine Au: 
gen haben den König, den Herrn Zebaoth gefehen. Und 
es flog zu mir her einer der Seraphim und in feiner 
Dand eine glühende Kohle; mit der Zange nahm er fie 
vom Altar und berührete meinen Mund und fprady: fiehe, 
diefe berührete deine Lippen und fo ift deine Miffethat 
weggenommen und beine Sünde verfähnet. — 

Eine file, in fich große Offenbarung, wo der Tem 
pel zu Serufalem in dem Glanze ber Herrlichkeit Gottes 
erfcheint, wo der Herr einmal ben Himmel zerreißt unb 
feinen Snechten offenbart, wie einft die ganze Erde voll 
werben wirb feiner Herrlichkeit. In fih ſtill und groß 
ift diefe Offenbarung; Jeſaias fchauet den Herren nicht, 
wie 1000 mal1000 ihm dienen, 10,000 mal 10,000 vor ihm 
fiehen, er fieht nur die Seraphim; der Prophet fchanet 
Seine furdhtbaren äußeren Zeichen, wie einft vernommen 
wurden, da der Herr ſich auf dem Berge Sinai offen» 
barte, er hört nur den Lobgefang nnd doch bie Grund» 
fefte des Tempels erbeben, das Hand wird vol Rauch, 
der Knecht des Heren ift erfchüttert in allen Tiefen feines 
Weſens, er fühlt fich feiner Unreinigleit wegen wie dem 
Tode verfallen, Aber der Altar bes Herrn fteht da, mit 
einer glühenden Kohle defjelben wird des Propheten Lippe 
berührt, und er ift gereinigt, Furcht und Todesangkt ift 
von ihm genommen, wie angehaucdht, ja erfüllt mit neuer 
Lebenskraft, ſteht er freudig, getroft, felig da in feinem 
Gott; ald die Stimme tönt: wen fol ich fenden? Tann 
er freudig antworten: fiehe, bier bin ich, fende mid. — 

Männer, die alfo gewürdigt wurden, den Deren zu 
fhanen, in fo nahe Lebensgemeiufchaft mit Jehova zu 
treten, die hatten aus unmittelbarer Anfchauung und Les 
benderfahrung, was fie und nun als ein Zeugniß im 
Worte darlegen. Das Zeugniß it da, Gott fey Dank, 
es ift auch lebendig nnd kräftig. Uber je höher und tie- 


über die Bedeutung des Wortes Up. 189 


fer eine Lehre ik, deſto weniger läßt fie fih ganz in 
Buchſtaben faflen; es ift noch etwas ba in oder über 
dem Buchſtaben, der eigentliche Lebensodem; der muß 
empfunden werben, der muß unfer Innerfied als ein 
Handy bed Lebens berühren, fonft haben wir nur bie 
Hülle, die Form. 

Achnlih, wenn ein großer Eomponift ein Werk ge 
fchrieben hat, fo fieht der, welcher feines Geiftes, feiner 
Fähigkeit ift, nicht nur die einzelnen Noten, fondern den 
Lebenshauch, der die Noten verbindet, der Zauber ber 
Harmonie, der fie trägt, wird von ihm empfunden, er». 
fannt; wer aber nicht fähig ift, den Geiſt des Compo⸗ 
niſten zu faflen, ber mag bie Noten einzeln lefen, er mag 
fogar einzelne Säbe mühfam produciren, ber eigentliche 
Gehalt des Werkes hat gute Ruhe, 

Wir armen Menfchen find nun grob irbifche Natu⸗ 
ten, nicht wie zarte Saiten, bie von dem leifeften Hauche 
des göttlichen Geiſtes in Schwung geſetzt werden, nicht 
fo dis ponirt, daß wir, wo ein Wort des großen Poeten 
(zomeis) aller wahren und ewigen Harmonie und zum 
keſen gegeben wird, gleich in und mit bem Worte die 
ganze Fülle bes Lebens vernehmen könnten; es bleibt une 
fo leiht ein Wort, das wir buchftabiren, ein Rotenfaß, 
den wir nacdflümpern, es will fi und nicht ale Leben, 
nicht ald Harmonie himmlifcher Töne entfalten ! 

Darum hat fi) aber der Herr, unfer Bott, nicht fo 
ſehr in Lehre, ald in Gefchichte, nicht fo fehr in Wort 
u Buchſtabe, als in Thatfachen offenbart. — Freilich 
Rt ım6 danun ein gefchriebened Zeugniß der großen Tha⸗ 
im Gottes gegeben, aber Gottes Weſen, Gottes Rath 
in Gefchichte, in Thatfachen dargelegt, dann iſt die Of⸗ 
fenbarung nicht zu vergleichen einer Muſik, in Roten ges 
fat, die und zum Lefen bargereicht wird, foudern wie 
hören das große Halleluja, wie es in mächtigen, ergreis 
fenden Orgeltönen an unfer Ohr und Herz fchlägt. — 


0 Achelis 

Es ſollte viel mehr berückſichtigt werden, wie Gott 
gehandelt, wie er in der Geſchichte ſich feinem Volke of⸗ 
fenbart hat, wenn wir bad Weſen, die Eigenſchaften Got⸗ 
tes verfichen wollen. — Rad langem Suchen, deu Be⸗ 
griff der Heiligkeit Gottes zu beftimmen, ſchien mie von 
der Gefchichte göttlicher Offenbarung aus ein helles Licht 
auf die Bedeutung dieſes Wortes zu fallen. — 

Es wurde früher der Begriff: Heiligkeit Sotted, von 
dem die Bedeutungen dieſes Wortes in anderer Bezie⸗ 
hung abzuleiten find, gefaßt ale innere Reinheit, Abges 
fchloffemheit gegen alled Sündige, Unreine, oder als die 
Eigenfchaft, nach welcher Gott himmelhoch über alle Bes 
ſchoͤpfe erhaben iſt. — | 

Quenstedt: summa in Deo puritas, munditiem et pu- 
ritatem debitam exigens a creaturis. Storr: quateäue na- 
tarse propter virtutes, quibus excellent, mague aestimatae, 
at comparantur ad Deum, omnes nihili sunt, divina natura 
vecstur saneta, hoc est, seiuncta ab omnibus allis et in- 
comparabilis sive eius sanctimonia spectatur, sive iustitie, 
sive potentia, eive alla quaeque perfeotio. — 

Buddaeus: quando Deus se ipsum amore purissime 
amere concipitur, ut simul ab omni imperfectione remotus, 
secretus, separatus censsatur, amor ille vocatur sanctitas. 
— 7,94. Bengel wid; zuerft von diefer Begrifföbeflimmung ab ; 
wir wiffen aus feinem Briefwechſel, wie gewiſſenhaft, ja 
fehüchtern er dabei zu Werke ging. Illa autem praedicata, 
quae simul sumta conceptum Dei quidditatem exhauriunt, 
omaia uno nomiae VhTn contineri censeo, quo pacto hoc 
ipsum vocabulum, ubi Deo tribuitur, eingulariesimo utigue 
et foecundissimo pollere oportet siguificatu. De Deo ita- 
que, ubi scripturs nomen illud Um enunciat, statuo non 
denotare solam puritatem voluntatis, sed quidquid de Deo 
eognoscitur et quidquid insuper de illo, si se uberlus re- 
velare velit, oegnosci pessit, adeo ut voecabulum Sp ex 
impositione divine vere sit inexhaustae significationis. G. 


über die Bedeutung bes Wortes dm. 191 


Menten fagt inder Anleitung: „die Heiligkeit Gottes heißt 
nicht nur und uicht fo fehr die ganze unerreichbare Boll» 
fommenheit und Herrlichkeit Gotted, worin er über alle 
Bortrefflichkeit aller Gefchöpfe unendlich erhaben ift, ſon⸗ 
dern vielmehr wird dadurch Gottes herablaflende Gnade, 
Östtes ſich felbft erniedrigende Liebe ausgebrüdt. Hei⸗ 
ligleit Gottes bezeichnet in der Schrift den eigentlichen 
Charakter Gottes, den eigenthämlichen Charakter der 
göttlichen Liebe, ed drüdt die Demuth Gottes und die 
Selbfterntedrigung Gottes in Liebe aus.” — Nach dem 
erfien Sage wäre in dem Worte „heilig,” won Bott ges 
brancht, noch mehr als bloß das Eine, die herablaflende 
Liebe Gottes, aber nad; dem folgenden Satze und der 
weitern Ausführung fcheint Menken doch allein die her- 
ablaffende Liebe Gottes darunter zu verftehen. 

Menken bahnt, wie mir deucht, den Weg zum redh> 
tm Berfländniffe des Wortes, indem er fo recht deutlich 
und beſtimmt auf die Thatſachen hinweift, bei denen ſich 
Gott der Heilige nennt, fofern nämlich, als er ſich in 
Serael offenbart hat; er erinnert an die Gefchichte, wo 
fih Gott zuerſt bezeichnet als herrlich in Heiligkeit, da 
er nämlich Jorael erlöft, die Feinde vertilgt hat. Aber. 
ih glande, wir haben noch eine feftere und breitere hir 
ſtoriſche Baſis, auf welcher die Bedeutung des Wortes 
„heilig“ in der Schrift ruht; noch viel lebendiger iſt uns 
die Offenbarung der Heiligkeit Gottes in die Geſchichte 
verwebt.— Das Wort „heilig, Heiligkeit, heiligen” kommt 
in den Büchern Mofis, mit Ausnahme des Einen Aus⸗ 
druckes: Bott heiligte den Sabbath, gar nicht eher vor, 
als bis Die Offenbarung Gottes anden Saas 
nen Abraham's beginnt, ald bis der Herran- 
bebt, dieſes Geſchlecht zu feinem Eigenthume 
zu machen. — 

Es begegnet uns dieſes Wort, welches ſpäter der 


192 Achelis 


Träger wird aller Bezeichnungen des Verhältniſſes Ger 
hova's zu feinem Volke und des Volkes zu Jehova, in 
dem erſten Buche Moſis ganz und gar nicht (ed verſteht 
ſich von ſelbſt, daß Gen. 38, 21. hier nicht herge⸗ 
hört), ja ſolche Verhältniſſe, die ſpäter mit dieſem Worte 
regelmäßig bezeichnet werden, werden in anderer Weiſe 
audgedrüdt, Wenn ed zu Jakob's Zeitheißt (Ben. 35, 2.): 
reiniget ench und ändert euere Kleider, fo heißt es fpäter 
immer: heiliget end und ändert euere Kleider, heiliget 
euch unb reiniget euch (Ex. 19,10. und 14. 3of.3, 5. 7, 13. 
Lev. 16, 19. Rum. 11, 18. 1 Sam, 16,5. — Sobald aber 
der Herr fein Werk unter Abraham’d Saamen beginnt, 
fobald er erfcheint ald der Bott, der den Saamen Abrar 
ham's fich zum Gigenthume erwählt bat, tritt dieſes Wort 
ein. Er. 3, 5., ald der Herr dem Moſes erfcheint, heißt 
ed: der Ort, darauf du fleheft, ift ein heiliges Land; es 
wird dieſes Wort von dem neuen Berhältniffe Israels zu 
Bott gebraudyt: heilige mir die Erſtgeburt (Er. 13, 2.). 
Diefed Wort tritt aber ganz marlirt, ganz in feiner Fülle, 
mit weldyer es fpäter dominirt, in dem Lobgefange Moſis 
nach ber Errettung Israels anf. 

Der Lobgefang theilt ſich augenſcheinlich in Drei Theile: 
B.1—6. ift allgemeines Lob Gottes wegen des Geſchehenen, 
B.6—11. Schilderung ber That Gottes gegen bie Feinde, 
B,11—18. Schilderung des Berhältniffes Gottes gegen 36 
rael. Der Anfang biefer zwei letzten Abfchnitte ift ganz 
gleihmäßig und doch wieder markiert verſchieden; B. 6. 
beginnt m>2 yın mm ya. Vers 11 beginnt: mm era 
en Sum nms m. Sehova hat ſich verherrlicht gegen 
die Keinde in Macht, gegen Israel in Heiligkeit. — 
Wenn auch vom eilften Berfe an nody wohl gedacht wird 
deſſen, wad der Herr an den Feinden gethan bat, fo ift 
bier doch Alles in beftimmter Beziehung anf Israels Er: 
rettung bargefielt, ia ed wird gleich hier als das Ziel 
aller Wohlthaten Gottes genannt: der Herr wird fein 


, 


über die Bedeutung bes Wortes CP. | 193 


Voll pflanzen auf dem Berge feined Erbes, dem Orte, ben 
er zur Wohnung feiner Herrlichkeit erwählt hat, bas 
Heiigthum, das feine Hände bereitet haben. — Es ift 
fehr gu beachten, daß hier, wo zuerft von der Heiligkeit 
Gottes die Rede ift, bei dem großen Acte: Jehova har 
an Volk mitten aus einem Volke gerettet, zugleich bie 
Bohnung feiner Heiligkeit, das Heiligthum 
ſelbſt genannt wird. 

Gegen ben Begriff der Heiligkeit Gottes, der Erhas 
bene, Unermeßliche, der von allem Unreinen Gefchiebene, 
ſcheint die gefchichtliche Einführung des Wortes fchon zu 
ſprechen; dann müßte vielmehr Gott, der fich auf dem 
Sinai offenbart, der Heilige heißen, und biefe Stätte feis 
ne Offenbarung müßte der Ort, die Wohnung feiner 
Heiligkeit genannt werben. Indeß wird nie von Mofes 
der ih auf dem Sinai Offenbarende der Heilige ges 
aannt, nur einmal (Habak. 3, 3.) heißt es in der ganzen 
Schrift: der Heilige fam vom Gebirge Paran, welches 
wahrfcheinlich eine Schilderung der Geſetzgebung enthält; 
der Sinai wird nie in der Schrift der heilige genannt, 
es fey deun, daß Pf. 68, 18. fo zu nehmen wäre, wie 
kuther überfegt bat. Aber der Ort, wo Sehova ſich nun 
fort und fort unter Israel offenbaren will, die Wohnung 
ſeines Namens, die heißt das Heiligthum, fie ift die 
Stätte feiner Herrlichkeit. — 

Die Schrift felbft erklärt, weßhalb diefe Stätte das 
heiligthum genannt wird, weil nämlich Jehova bafelbft 
vehnen will. Mit dieſem Worte wird der Abfchnitt, 
wider von der Stiftöhütte handelt, eingeleitet. Er. 25,8: 
kt ſollen mir ein Heiligthum machen, daß Ich unter ihnen 
xohne, und noch deutlicher am Schlufle diefed Abſchnit⸗ 
tes (Er. 29, 45.): dafelbft will ich den Kindern Israel bes 
kannt werben und ed wird geheiligt werben durch meine 
Herrlichkeit. Und ich will die Hütte des Stifted und den 
Altar heiligen und Aaron und feine Söhne mir zu Prier 

Theol. Stud. Jahrg. 1847. 13 _ 


1% Achelis 


ſtern weihen, und will unter den Kinbern Israel 
wohnen nnd ihr Bott ſeyn. — Und ſſe ſollen wiſ⸗ 
fen, daß ich ſey der Herr, ihr Gott, der ſie aus Urs 
gypten führte, daß th unter ihnen wohne, 
Sch der Herr, ihr Gott. Ebenſo redet der Prophet He 
fetiel von diefer biftorifchen Baſis aus Aber bie gufünf 
tige Offenbarung Gottes (37, 26—28.): ich will unit ihnen 
einen Bund bed Friedens machen, der fol ein ewiger 
Bund feyn mit ihnen, und will fie erhalten und mehren 
and mein Hetligthum fol nuter ihnen ſeyn ewiglich. Und 
ich will unter ihnen wohnen und wif ihre Gott ſeyn und 
fie ſolen mein Volk ſeyn, daB auch die Heiden follen er: 
fahren, daß ih der Herr bin, ber Sörael Heilig macht, 
wenn mein Heiligthum ewiglich umter ihnen feyawirb. — 
Es iſt das Wohnen Gottes unter JIérael, was bie Hütte 
zum Deitigthume macht, Das Wohnen Gottes unter Js⸗ 
rael oder, wenn es noch Türger ansgebrädt wird, Jehova 
inter ihnen (Num. 11, 20, 14, 14. und 42. Deut. 6, 15. 
Joſuna 3, 10.) iſt der Vorzug Israels vor allen Völkern, 
infofern iR Israel ein Eigenthum Gottes, und Infofern 
nennt fi der Herr: ich bin Jehova, der euch heiliget. 
@r. 31, 18, ev. 20, 8. 21, 8. und an vielen anderen 
Stellen ſteht, ſtatt des fonftüblichen „ihr ſollt dieſes oder 
das thun, denn ich bin der Herr, euer Gott”, „ich Bin ber 
Herr, der euch heiliget,’”’ beides flieht coordinirt Lew, 20, 
7-8: darum heiliget euch ımd feyb heilig, denn ich bin 
der Herr, ener Gott. Und halter meine Sabungen aub 
tyut fie, denn ich bin ber Herr, der euch heilige. Wie 
es unter Israel identifch galt: Jehova wohnet unter ung 
und wir follen heilig feyn, erheiit aus den Worden ber 
Unfrährer: ihre machet ed zu wiel, beim die ganze Ge⸗ 
meinde ift, fie alle find heilig und der Herr IR miter ih⸗ 
nen (Rum. 16, 3.). | 

- &o, viel fcheint unwiderſprechlich gewiß, der Herr ift 
der Heilige in Israel, fofern er amter Israel eine Woh⸗ 


über bie Bedeutung bes Wortes Up. 195 


zung ſich erwählt bat, Diefed Wohnen war aber bie 
äußere, fymbolifche Hülle des inneren, wahrbaftigen Ber» 
haͤltniſſes; es war freilich zugleich die typiſche Darſtel⸗ 
lung des zutünftigen.. 

Wäre ed nun Har, Bott iſt der Heilige, fofern er 
ſich Irael nähert, fofern er ſich in der Hätte bes Stif⸗ 
td offenbart, fo fragt fih weiter: wie bat Gott ſich 
denn bier offenbart? 

Da. möchte uun freilich Maucher antworten: Jehova 
iR der Heilige in bem Sinne, fofern er bort im Dun⸗ 
fein wohnt, fofern Jsrael ausgefchloflen ik von feiner 
Gemeinſchaft, ber Hobepriefter nur im Amte nahen darf, 
and dan Doch als einer, der ed nicht werth tft, der es 
gewiſſermaßen nicht thut; denn er darf nur hineintreten 
mit dem Blute der Berföhnung für die eigne Sünde, er 
mmß mit dem Rauche des Räuchwerkes wie mit eimer 
Wolfe das Heiligthum verhüllen, damit er den Gnaden⸗ 
ſtuhl wicht fehe und ſterbe (Rev. 16,13.); man wirb daran 
erinnern, vom Heiligthume ging das verderbende Feuer 
ans, welches Nadab und Abichu verzehrte; ed war der 
eigentliche Schaf des Heiligthums, weldyer einft geſchaut 
wurde, die Lade des Bundes, und ed traf Israel eine 
große Plage, daB Israel ſprach: wer kann fliehen vor 
ſolchem heiligen Bott? Alles diefed möchte angeführt 
werden ald Beweis, Bott ift der Heilige als der, welcher 
abgefchleffen if von allem Unreinen, ein verzehrendes 
Feuer dem Sünder. 

Aber diefer Schluß wäre doch voreilig, Wie? war 
denn dieſe Dffenbarung Gotted in der Gtiftöhätte bie 
gmwöhnliche, alttägliche, ging immer Berderben und Plage 
im der Wohnung Gottes aus, ober war das Tägliche 
derſöhnen, Helle, Friede⸗, Xrofigeben? War eb 
ägentlich” der Zweck der Gtiftöhütte und der Bundeslade, 
verzehrendes Feuer zu ſeyn, ober bewies fich der, der 
hier wohnt, nur fo an denen, bie feine Site muthwillig 

18 * 





196 Achelis 


verachteten? Wie? offenbarte ſich Bott hier als ber, 
welcher abgeſchloſſen iſt von aller Gemeinſchaft mit den 
Sündern, ein verzehrendes Feuer dem Unreinen, oder war 
vielmehr der ganze Dienft im Heiligthum, dazu eingefeßt, 
zu offenbaren, wie der Sünder mit Gott könne verföhnt, 
der Unreine gereinigt, der Berlorene gerettet werden?! 
Iſt nicht der ganze Gottesdienfi in der Hätte eine ſym⸗ 
bolifch = typifche Darſtellung, wie ber Menfch, der Erbe 
der Sünde und des Todes, mit Gott, dem Lebendigen, 
der Quelle des Lichtes und des Lebend, konne wieder in 
Berbindang und Gemeinfchaft gebracht werden? — Frei 
lich, ed wird auch in der Hütte die negative Seite dar 
geitelt, daß ohne Berfühnung, ohne Mittheilung von 
Heil, Licht und Leben der Menfch ewig muß ausgefchlof: 
fen feyn von Gottes Rähe und Gemeinfchaft, aber die 
negative Seite wird doch nur dargeſtellt, damit die poſi⸗ 
tive, wie der Sünder verfühnt, gereinigt, geheiligt wer 
den Bönne, offenbar werde. Und man follte denken, die 
Wohnung Gottes, die gerade das Pofitive, die Verſöh—⸗ 
nung der Sünder, den Weg zur Gemeinfhaft Gottes, 
darfiellen fol, habe von ber Negation ihren Ramen; 
Heiligthum heiße die Stätte, wo Gott wohnt, wohin 
Niemand kommen kann, wovon alle fündige Menfchheit 
ausgefchloffen it; Jehova heiße der Heilige als ber, 
welcher hoch erhaben ift Über alles Menfchliche! 

Wir müflen weiter bedenken, was vom Heiligthum 
ausging, wie fi) Gott, der Heilige, vom Heiligthum aus 
offenbart. — Die Wohnung Gottes war die Stätte 
bed Zengnifjed und des Bundes, wie fie oft ausdrücklich 
genannt wird, fie war die Stätte der Nähe, der Mits 
theilung Gottes. In die Hütte ging Moſes, wenn er den 
Herren wollte fragen (Rum. 7,89.); die Bundeslade wird 
bezeichnet ald der Drt, von welchem Bott ihnen zeugen 
wolle (Er. 25, 22. 29. 42. Num. 17, 7.); die Hütte dee 
Stifte it der Ort, wo man das Augeficht Gottes ſuchen 


über die Bedeutung des Wortes Üpr. 197 


and ſiaden fol; Berföhnung, Reinigung, Aufnehmen in 
den Bund iſt die Bedeutung, der Zwed der Hütte und 
ibred Dienſtes; die Hütte des Stiftes ift der Ort, wo 
die Herrlichkeit des Herrn ericheint, bald in Onaden⸗ 
mähe, wie bei dem erſten Opfer, welches mit Feuer vom 
Himmel verzehrt wurde, wo alles Bolt frohlockend nieders 
Kel (fev. 9, 23—24.), bald erfcheint die Herrlichkeit des 
Herrn ald Zeuge und Richter wider ein ungehorfames 
Bolt (Rum. 14, 10—16. 19. 35.). In allen diefen Öffen- 
barungen aber bewies ſich Jehova ald der Ruhm Js⸗ 
raeld, daß felbft die Heiden mußten bekennen, welches 
große Volk ift, zu dem die Götter alfo nahe fich thun, 
als Jehova, unfer Gott, fo oft wir ihn anrufen (Deut. 
4, 7.). Und fo möchte ih fagen: Gott ift der Heilige, 
wie er fi in Israel offenbart. Es läßt ſich aber diefe 
große Dffendarung fchwerlid in Ein Wort, in Einen 
Sa faflen, ed läßt fidh alfo auch der Begriff fchwerlich 
deſiniren; feine Grenzen find dad ganze Wert Gottes 
unter Israel. Der linterfchied von Bengel wäre dann: 
Heiligkeit Gottes bezeichnet nicht quidditas Dei, den abäs 
anaten Begriff Gotted an fich, fondern was Gott feinem 
Bolfe von fih offenbart hat. Freilihd war bie 
Hauptiumme des Thund Gotted Gnade und Erbarmen, 
Kommen als Heiland feines Volkes, aber dieſes war 
doch nicht das Einzige feines Kommend und Thun; 
darum kann auch nicht gefagt werben: . Heiligkeit ift feine 
kerablaflende Liebe. Es faßt unfer Begriff nicht die 
ganze Fülle des Wortes; ed würde fonft Israel nicht 
io ſich ausdrücken: wer kann fliehen vor folchem heiligen 
dort, und noch weniger Sofua: ihr könnet Gott nicht 
bienen, denn er ift ein heiliger Gott und ein eifriger 
Gott, der euere Miffethat nicht fchonen wird, Es bedarf 
hier wohl faum der Bemerkung, daß diefes Wort nicht 
den Begriff der Heiligkeit in fich fchließen müfle, abge» 
ſchloſſen feyn gegen alled Sündliche; hat Sofua doch ges 
fagt: ich und mein Haus wir wollen dem Herrn dienen, 


198 Achelis 


Freilich, weil Jehova der Heilige unter Jsrael iR, 
der Lebendige, der Nahe, der fich Mittheilende, daher 
muß in dem Menfchen, welchem er fich naht, ein fols 
cher Sinn feyn, der Gott aufnehmen kann; Jsrael mn 
ein Bolt ſeyn, das ſich feinem Bott ergibt, fonft ift das 
Kommen, die Nähe des Herrn fchredlich verberbend, 

Diefer Bedeutung des Wortes Heiligkeit gemäß fin- 
den wir nun in ben Gebeten Israels den Namen der 
Heiligkeit Gottes ale etwas gar Frohes, Tröftliches und 
Seliged, worin ſich Alles concentrirt, was Israel von 
feinem Gott zu Ioben und zu preifen hat. So lefen wir 
1 Sam. 2, 12: mein Herz iſt fröhlich in dem Herrn, 
mein Horn ift erhöhet in dem Herrn, mein Mund hat 
fi weit aufgethan wider meine Feinde, denn ich freue 
mid; deines Heild. Es ift Niemand heilig denn Der 
Herr; außer bir if Keiner und ift fein Hort ald unfer 
Gott. Pfalm 33, 20—21: unfere Seele harret auf ben 


Herrn; er ift unfere Hülfe und Schild, Denn unfer Herz 


* 


freuet ſich ſeiner und wir trauen auf ſeinen heiligen Na⸗ 
men. Pſalm 63, 526: ſinget Gott, lobſinget feinem 
Namen, machet Bahn dem, der in der Wüſte einhergehet, 
er heißet Herr, und freuet euch vor ihm. Der ein Vater 


iſt der Waiſen, ein Richter der Wittwen, er iſt Gott in 


feiner heiligen Wohnung. Pſalm 11, 22: fo danke ich 
dir auch mit Pfalterfpiel für beine Treue, mein Gott, 
ich Lobfinge dir auf der Harfen, du Heiliger in Israel. 
Pfalm 77, 14—16: Gott, dein Weg ift in Heiligkeit; wo 


iſt ein fo mächtiger Gott, ald du biſt? Du bift der Gott, 


der Wunder thut; bu haft deine Macht bewiefen unter 
den Völkern. Du haft dein Volk erlöfet mit deinem Arm, 
die Kinder Jakob und Joſeph. Pſalm 89, 16-19: wohl 
dem Bolfe, das jauchzen kann; Herr, fie werben über 
deinem Namen täglich fröhlich feyn und in deiner Gerech⸗ 
tigkeit herrlich feyn. Denn bu bift der Ruhm ihrer Stärfe 
und durch deine Gnade wirft du unfer Horn erhöhen. 


über die Vebeutung des Wortes Up. 199 


Denn der Herr if unfer Schild und der. Heilige in Js⸗ 
rael unfer König. Pfalm 103, 1—3: lobe den Herrn, 
meine Seele, und was in mir ift deu Namen feiner Hei⸗ 
ligleit, lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, 
wad.er Dir Gutes gethan hat; der dir alle beine Sün⸗ 
deu vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein 
leben vom Verderben erlöfet, der dich Frönet mit Gnade 
und Barmherzigkeit. — Der Prophet Jeſaias, der Evans 
gelift des alten Teſtaments, gebraucht wohl nicht zuerft, 
aber mit bemerfungswerther Beftändigkeit den Ausdrud: 
der Heilige im Jérael, und er gebraucht denfelben fo, daß 
er allen Ruhm, allen Troft, alles Heil Seraeld in diefem 
Namen zufammenfaßt. Gef. 1, 4: o wehe des fündigen - 
Bolled, des Volkes won großer Miflethat, des boshaftis 
gen Saamend, der fhäblichen Kinder, die den Herren 
verlaflen, den Heiligen in Israel läftern, weichen zurüd. 
12, 1-6: zu derfelben Zeit wirft du fagen: ich danke dir, 
Her, daß du zornig bift geweien über mich und dein 
Zorn fi gewendet bat und tröften mid. Siehe, Gott 
iR mein Heil, ich bin fiher und fürchte mid) nicht; denn 
Gett, der Herr, it meine Stärke und mein Pfalm und 
men Heil. Ihr werdet mit Freuden Wafler ſchöpfen 
aus dem Heilbrunnen und werdet fägen zu berfelben Zeit: 
baufet dem Herrn, prediget fein Thun, verfündiget, wie 
fin Name fo hoch it. Lobſinget dem Herren, denn er 
hat fich herrlich bewiefen; ſolches fey fand in allem Lande; 
jauchze und rühme, bu Einwohnerin zu Zion, denn ber 
Heilige Israels ift groß bei bir. 29, 18—19: und die’ 
Elenden werben wieder Freude haben am Herrn und bie 
Armen unter den Menfchen fröhlich feyn in dem Heilis 
sen Geraeld. 41, 14: fo fürchte bich nicht, du Würm⸗ 
lin Zalob, du armer Haufe Jsraels, ich helfe bir, 
(pricht der Herr, bein Erlöfer, der Heilige in Jsrael. 
#8, 17-18: fo fpricht der Herr, bein Erlöfer, der Hei⸗ 
lige in Iſsrael: ichbinder Herr, dein Gott, der dich Ich» 


200 Achelis 


ret, was nuͤtzlich iſt, und leitet: dich auf dem Wege, den 
du geheſt. O daß du auf meine Gebote merkteſt, ſo 
würde dein Friede ſeyn wie ein Waſſerſtrom und deine 
Gerechtigkeit wie Meereswellen. 49, T—8: fo ſpricht 
Jehova, Israels Erlöſer, ſein Heiliger, zu dem, deſſen 
Leben verachtet iſt, der dem Volke Abſchen einflößt, zum 
Knechte der Tyraunen: Könige werben ſehen und aufs 
ftehen, Fürften, bie werden niederfallen um Jehova's wils 
len, der treu ift, des Heiligen in Israel willen, der dich 
erwählete. So fpricht Jehova: zur Zeit der Gnade ers 
höre ich dich, u. f. w. Wahrlich Sehova ift der Heilige 
in Israel, weil er fich unter ihnen zu erfennen, zu erfah⸗ 
ren gibt, weil von ihm Licht, Heil‘, Leben audgeht auf 
fein Bolt, -— Daß aber hier nicht buchftäblich auf Die 
Wohnung, die Hütte, den Tempel verwiefen wird, dad 
hat feinen Grund in der ganzen prophetifchen Aufchaus 
ungöweife, in welcher ja des Tempels, des Dienſtes 
darin ſo ſelten gedacht wird. So bezeugt der Herr ja 
auch ſelbſt durch dieſen ſeinen Propheten: alſo ſpricht 
der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnet, des Na⸗ 
men heilig iſt: die Höhe und das Heiligthum bewohne 
ich in den Zerſchlagenen und Geiſtgedemüthigten, um zu 
beleben den Geiſt der Gedemüthigten, zu beleben das 
Herz der Zerſchlagenen. Und ſo hat Jeſaias ſelbſt den 
Heiligen Israels erfahren. Sa vor ihm, dem Nahen, 
Lebendigen, fühlt der Prophet feine ganze Unmwürbdigfeir, 
aber Gott offenbart fih als der, welder verföhnt, hei⸗ 
ligt, fo daß alle Furcht überwunden ift in der Lebens; 
gemeinfchaft mit dem Herrn. 

Nach ber Bedeutung des Wortes „Heiligkeitꝰ, von Gott 
gebraucht, modificirt ſich die Bedeutung dieſes Wortes, 
wenn ed von Menſchen oder Sachen gebraucht wird. Das 
Wort „heilig, heiligen” ift dad Präbicat, durch welches 
das befondere Verhältniß Israels zu feinem Gott dars 
geftelt wird, (Er. 19, 6. 22, 31. 28, 2 und 4. 29, 6. 


über die Bedeutung bes Wortes ip. 201 


20, 35. Si, 14—15. 39, 30. 40, 9 und 18. ev. 10, 10, 
11, 44-45. 19, 2. 20, 26. 21,6—8. n. ſ. w.) Man be 
kimmt gewöhnlich den Begriff fo: heiligen heißt abfon- 
dern von aller Berührung des Gemeinen, Irdifchen; man 
führt dafür Gtellen an wie Leo. 20, 26: darum follt 
ihr mir heilig feyn, denn ich, ber Herr, bin heilig, der 
each abgefondert hat von den Bölkern, daß ihr mein 
wäret. Es liegt allerbinge der Begriff des Abfonderne 
in diefem Worte, aber dieſes ift nur die Regation; bad . 
Dofitive ift, wie die eben angeführte Stelle ausdrücklich 
fagt: ihr ſollt mein ſeyn. 
Wäre Jehova ein Gedankenbild, wäre feine Erkennt⸗ 
zig und fein Dienft etwas von Menfchen Erdachtes, Er⸗ 
fandenes, dann könnte das dem Heren Heiligen nichts 
Anderes feyn, als ein Abfondern, Ausfcheiden, alfo etwas, 
was der Menfch thut; nun ift aber Jehova der Lebens 
dige, er wohnet unter Jsrael, er naher fic feinem Volke, 
er theilt fich mit; daher ift das Heiligen noch etwas ganz 
Anderes, ed it das Aufnehmen in feine Gemeinichaft, es 
it Theilhaftigwerden feines Lichtes und feines Lebens, So 
wird Dean auch viel öfterer gefagt: ich bin der Herr, der 
each heiliget, oder: id, bin ber Herr, euer Bott, ober: ich 
wohne unter ench, als es heißt: ſondert euch ab von ben 
Völkern. Go gleich bei dem Staatsgrundgeſetze (Er. 19, 
4-6,): ihr habt gefehen, was id) den Aegyptern gethan habe, 
und wie ich euch getragen habe auf Ablersflügeln und habe 
cah zu mir gebracht. Werber ihr nun meiner Stimme 
zgehorchen nnd meinen Bund halten, fo folt ihr mein Eis 
genthum ſeyn vor allen Böltern, denn bie ganze Erbe ift 
sein. Und ſollt mir ein Königreich von Prieftern und ein 
beiliged Volk ſeyn. Lev. 11, 44— 45: denn ich bin der 
Herr, euer Gott, darum follt ihr euch heiligen, daß ihr 
beilig feyd, denn ich bin heilig. Und follt euere Seelen 
uiht verunreinigen an irgend einem Priechenden Thiere, 
dad anf Erden ſchleicht. Denn ich bin der Herr, ber euch 


202 Achelis 

ans Aegypten geführet hat, daß ich ener Bott ſey; Darm 
ſollt ihr heilig feyn, denn ich bin heilig. Lev. 19, 2.20, 
T—8, 22,32. Rum. 15,40. 16,57. Deut. 7,6. 28, 9-10, 
Deut. 236, 11-19. 

Sp wird es audı parallel geſtellt, Bott heiligen nud 
ihn als den Raben, Wahrbaftigen, ald den Trof und 
Helfer Israels erkennen. Rum. 20,12: Darum, daß ihr 
nicht gehorfams gewefen feyb; darum, daß ihr mir nicht 
geglaubet habt, meinen Namen zu heiligen vor den 
Kindern Serael, folt ihre das Bell nicht in das Land 
bringeh. . 

Wir wollen übrigens nicht lengnen, daß Orrp wit feinen 
Ableitungen zuweilen in weiterem Sinne gebraucht wird, 
überhaupt nur zu etwas abſondern; die äußerften Ausläns 
fer wären dan myıp, TR und Wınn (Gef. 16, 12.). Gchen 
wir etwas tiefer ein auf das Verbältuiß ber Delonomie 
des alten Teflamentö zu der des neuen Teſtaments, fo er» 
klaͤrt ſich andder Bedeutung ded Wortes „heilig” eine fonft 
fehr auffallende Exrfcheinung in dem Gebrauche diefed Wor⸗ 
ted, So oft und beflinnmt nämlich dem Volke Jsrael ges 
fagt wird: ihr ſollt ein heiliged Bolt ſeyn dem Heren, ihr 
follt heilige Leute feyn vor dem Herrn, fo felten kömmt dies 
ſes Prädicat von dem Volke oder von einem Einzelnen aus 
dem Volke in der Geſchichte vor, fo daß nun das Bolf 
oder die einzelne. Perſon in einem Zeitpuntte des gefchichts 
lihen Berlanfes als heilig bezeichnet würde. Das Wort 
„beilig” fteht freilich fehr oft in der Intherifchen Ueberſetzung 
ber Pſalmen, e6 findet fich aber im Hebräifchen dann immer, 
mit Ausnahme von Palm 16, 3. 34, 10. 89, 6—- 8. 
das Bert ron, Im neuen Teſtament ift dagegen die 
Heiligen, die Geheiligten, die ganz gewöhnliche Bezeich⸗ 
nung der Ghriften; fie werden fo angerebet, es wird vor» 
ausgeſetzt, fie find bie Heiligen (Röm. 1, 7. 8, 27. 12,13. 
"18, 25. 26. 81, 16, 2.15. Epheſ. 1, 1.15.18. 2, 19. 3, 8, 
18, 4,12, 5,3, 6, 18. u. f. w.). 3a ed war bie Offenbarung 


⸗ 


über die Bedeutung des Wortes vom. 203 


Gottes in Jorael ein Kommen and Wohnen deö Herrn, ein 
Mittheilen, und doch blieb diefe Offenbarung Schatten 
und Bild, und der Weg ind Heiligthum war nod, nicht 
geoffenbart. Ehriftus aber tft der Hohepriefler der zu» 
fünftigen Güter, durch Ehriftum haben wir Freudigkeit 
und Zugang in dad Heilige. Im Ehrifto ift die Gnade und 
Wahrheit geworden, das Leben, das ewig ift, if erfchies 
nen, und fo werden denn mit Recht, Die Ehrifto angehös 
ten, die Heiligen genannt. 

Mit der aufgeftellten Bedeutung des Wortes „heilig” 
von Menfchen oder Sachen gebraudt: mit Gott in Ges - 
meinfchaft getreten, feines Lichtes uud Lebens theilhaftig, 
ſtimmt auch ber Gebrauch dieſes Wortes, wenn bie Eugel 
heilig genannt werden (Matth. 25, 31. Luk. 9, 26.) nnd 
befonderd, wenn der Beilt Gottes, wie er den Menfchen 
gegeben, wie er in Ehrifto Aber alles Kleifch iſt ausgegoſ⸗ 
ſen, immer der heilige Geiſt genaunt wird. 

Eine auffallende Erſcheinung im Gebrauche des Wor⸗ 
tes „beilig”” iſt noch folgende: fo oft dieſes Wort im alten 
Tetamente von Jehova gebrandht wird, fo felten kömmt 
daffelbe im neuen Teflamente von Gott gebrandt vor. 
Mit Ausnahme von 1 Petr. 1, 16., wo eine Stelle des 
alten Teftaments citirt wird, und Joh. 17, 7. und Offenb. 
4,8, finder es ſich nicht im nenen Teftamente. Statt ber 
Bezeichnung Sehova, der Heilige Israels, welche Alles in 
ſich ſchließt, was Gott feinem Volke offenbart hatte, hat 
dad Volk des neuen Bundes den großen, lieblichen Nas 
men: Gott, der Bater unferes Herrn Jeſu Chriſti; dieſer 
Rame iſt rraprı des neuen Teftaments. Jeſaias, der Evans 
geliſt des alten Teſtaments, der vor allen Anderen zu 
itugen hatte von der Gnade und Wahrheit, die in Ehrifto 
werden follte, fah den Herrn fiten auf einem fehr hohen 
und erhabenen Throne und hörte den Gefang der Sera⸗ 
phim: heilig, heilig, heilig, if ber Herr Zebaoth, die 
ganze Erde iſt feiner Herrlichleit vol, und Johannes, der 


204 Achelis 


Prophet des neuen Teſtaments, dem Jeſus Chriſtus die 
Offenbarung kund machte, die er von ſeinem Vater em⸗ 
pfangen hatte, ſah ein ähnliches Geſicht und hörte daſ⸗ 
ſelbe zaisdyıov. — „Danach ſahe ich und ſiehe, eine 
„Thür ward aufgethan im Himmel und die erfte Stimme, 
„die ich gehöret hatte mit mir reden ald eine Pofaune, 
„die fprach: fteig’ herauf, ich will Dir zeigen, was nad 
„dieſem gefchehen wird. Und alfobald war ich im Geifte. 
„Und fiehe, ein Stuhl ward gefeßt im Himmel und auf 
„dem Stuhl faß einer. Und der da faß, war gleih ans 
„zufehen ald der Stein Jaspis und Sardis, und ein 
„Regenbogen war um den Stuhl, gleich anzufehen wie 
„ein Smaragd. Und um den Stuhl waren 24 Stühle 
„und auf den Stühlen faßen 24 Neltefte, mit weißen 
„Kleidern angethan, und hatten auf ihren Häuptern güls 
„dene Kronen. Und von dem Stuhle gingen aus Blitze, 
„Donner und Stimmen und fieben Kadeln mit Feuer 
„brannten vor dem Stuhle, welches find die fieben Geis 
„ter Gottes. Und vor dem Stuhle war ein gläfern 
„Meer, gleidy dem Kryftall, und mitten im Stuhl und um 
„den Stuhl vier Lebendige voll Augen vorne und hinten. 
„Und das erfle Lebendige war gleich einem Löwen und 
„das andere Lebendige war gleich einem Kalbe und das 
„dritte hatte ein Angeficht wie ein Menſch und das vierte 
„Lebendige gleich einem fliegenden Adler. Uud ein jeg- 
„liches der Lebendigen hatte ſechs Flügel umber und waren 
s,inwendig vol Augen und hatten Feine Ruhe Tag und 
„Racht und fprachen: heilig, heilig, heilig-ift Gott, der Herr, 
„der Allmächtige, der da war und der da iſt und der da 
„kömmt. Und die vier Lebendigen gaben Preis und Ehre 
„und Dank dem, ber aufdem Stuhle faß, der da febet von 
„Ewigkeit zu Ewigfeit, und fielen nieder die 24 Aelteften 
„dor dem, derauf dem Stuhle faß, und beteten an den, der 
„da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und warfen ihre Kro⸗ 
„nen vor den Stuhl und fprachen: Herr, du bift würdig 


N 


über die Bedeutung des Wortes Dr. 205 


„zu schmen Preis und Ehre und Kraft; denu du haft 
„ale Dinge gefchaffen und durch deinen Willen haben 
„fie das Wefen und find gefchaffen” — Gott ericheint 
bier als der, um deſſen Thron her ber Bogen der Gnade 
gefeßt if, Menfchentinder find die Nächſten um feinen 
Thron; die 24 Xelteften find offenbar Menfchen und fie 
haben Kronen auf ihren Hänptern, fie fiten auf Stübs 
in. Freilich ale das heilig, heilig, heilig erſchallet, iſt 
der Sefrönten Wort und Geberde dad Zeugniß der tief, 
Ren Demnth; aber die Offenbarung Gotted an ſich, ber 
Herr, der allmädıtige Gott, getragen von ben vier fer 
beudigen, umgeben von den 24 Aelteſten, ift Zeugniß 
von dem, der ſich nahet, ber in Gemeinfchaft getreten 
it, der aus feiner Lichtess und Lebensfülle mitgetheilt 
und fündige Menfchenkinder zu Erfilingen feiner Creatu⸗ 
ren gemacht hat. — Biel mehr tritt diefed noch im fol» 
genden Kapitel, welches den zweiten Act diefed Geſich⸗ 
ted enthält, hervor. Das Lamm Gottes erfcheint mitten 
im Stuhle, wie ed erwürgt war; es nimmt das verſie⸗ 
gelte Buch, nun fingen die vier Lebendigen, die 24 Nels 
teftem das neue Lied: „du bift würdig zu nehmen das 
„Buch und aufzuthun feine Siegel, denn bu bilt erwürs 
„get uud haft und unfgen Bott erfauft mit deinen Blute 
„aus allerlei Geſchlecht und Zungen und Boll nnd Heis 
„den und haft und unferm Gott zu Königen und Prie⸗ 
„tern gemacht und wir werben Könige feyn auf Erben.” 
Da der Herr fein Werk an dem Saamen Abraham's⸗ 
ahebt, indem er es zu feinem Eigenthum erlauft, 
tritt dad Wort „‚heilig”, von Gott gebraucht, in die Bes 
ſhichte ein; wie ſich Bott feinem Volke naht in der 
hätte, fo heißt er der Heilige, die Stätte feiner Offen» 
barang trägt den Ramen Heiligthum; der Prophet, wels 
her vor allen der Bote des zukünftigen Heiles ift, ſchaut 
den Herrn, hört das Loblied der Seraphim, fchildert 
Bott ald den Heiligen in Israel; Jsrael fol ein heilig 


206 Achelis, über die Bebeutung bes Wortes yup- 


Volt ſeyn feinem Gott, beun Gott wohnet unter ihnen; 
als der Schatten vergangen, das wahre Wefen erfchie: 
nen it, da werben die Glieder des neuen Bundes bie 
Heiligen; Johannes, der Prophet des neuen Teſtaments, 
fhaut den Herrn als den Heiligen, er iſt getragen von 
ben Lebendigen, umgeben von ben 24 Aeltefien, Mens 
fchentinder Hund die Nächften au feinem Throne und all 
Greatur Gottes lobt ihn und das Lamm. Iſt da nicht 
die Heiligkeit Gottes in das ganze Wert Gottes verfloch⸗ 
ten und zwar ald ber Träger bed Ganzen? TR da midt 
die Heiligkeit Gottes die Sonne, und feine Güte, Treue, 
Gerechtigkeit nur bie eingelnen Strahlen? 

Und gewiß bie heilige Gefchichte ift der Commentar 
su den Worten der göttlichen Offenbarung; was Gott 
von feinem Weſen bezeugt, wird uns erft verſtändlich, 
wenn es als Thatfache in bie Sefchichte tritt, wie es 
erft dann heißt: Gott ift geoffenbart im Kleifche, als der 
Eingeorne des Baterd, der Glanz feiner Herrlichkeit 
unb das Ebenbild feines Wefene, als eine geſchichtliche 
Derfon umter den Menſchen gewandelt hat. — 


& 


— 2 2 7 204 N nn 


Kecenfionen 








1: 


Praftifcher Gommentar über die Propheten des alten 
Bundes mit eregetifchen und Pritifchen Anmerkungen 
von D. Kriedrih Wilhelm Earl Umbreit, 
Hamburg, bei Friedrich Perthes. 4 Bände, 
1. Bd. Jeſaja 1842; 2, verb. und verm. Auflage 
1846; 2. Bd. Jeremia 18425 3. Bd. Hefefiel 
1843; 4. Bd. die Meinen Propheten 1844—1846 in 2 
heilen, 


2 diefer Commentar, dem ber Verf. nach mannich⸗ 
faltigen Borftudien fünf Sahre feines Lebens gewidmet, 
vollendet vorliegt, flieht fidy der Untergeichnete diefes Mal 
befonder® veranlaßt, von dem Mechte der Herausgeber 
dieſer Zeitfchrift, darin ihre Bücher felbft zur Anzeige 
zu bringen, wie diefes auch Nitzſch, Ullmann u. 9. 
bisweilen gethan, Gebrauch zu machen. Die theologis 
Iden Studien und Kritilen beginnen mit der Er⸗ 
(heinung gegenwärtigen Heftes ihren zwanzigften 
dahrgang. Da nun obiger Sommentar nad) dem theolos 
giſchen Charakter, der ihm eingeprägt ift, ber Richtung 
dieſer Zeitſchrift nicht zufällig angehört, fondern aus 
ihrem Geifte und Weſen recht eigentlich herausgewachfen 
iR,wie diefes auch bie Worte in der Vorrede (S. VIIL) 
iu erkennen geben, wo ed heißt: „Toll ich sucht meinen 
Theol. Sud, Jahrg. 1847, 


⸗ 


210 Umbreit - 


bogmatifchen Standpunkt bezeichnen, fo mag man ihn ben 
der theologifchen Studien und Kritifen vorläufig nennen”, 
fo wirb man ed nicht unpaffend finden, wenn ber Unter⸗ 
zeichnete als Mitherausgeber dieſes Journales und Ber: 
faſſer eines Werkes, das nicht bloß theologiſche Studien 
und Kritiken aufweiſt, ſondern in ſeiner beſondern Weiſe 
die theologiſchen Studien und Kritiken zu repräfentiren 
behauptet, dieſes Heft mit einer Selbſtanzeige derge⸗ 
ftalt bevorwortet, daß er nur daran erinnert, wie bad 
Anfehen feines Sommentares über die Propheten in Wirf- 
lichleit jenem voraus ‚gezeichneten Staubpunfte auf dem 
Grunde der theologifchen Studien und Kritiken ent 
fprehe. Dazu wird es nöthig feyn, jenen Grund von 
Neuem zu befichtigen und einen Rädblid auf die Eutfte- 
hung gegenwärtiger Zeitfchrift zu werfen, bie nun wohl 
die Probe glüdlich beftanden, daß fie Feine planlofe, ſon⸗ 
bern in der Entwidelung der neuen Theologie dieſes 
Sahrhunderts eine nothwendige geweien. Einige ſubjec⸗ 
tive Belenntniffe in Bezug auf das Verhältniß der beis 
ben Rebactoren der Zeitfchrift, weil fie Urfprung und 
Richtung derfelden erklären, wird man geflatten müſſen. 

Die innere Geſchichte der Freundſchaft ber beiden 
Redactoren gehört nicht vor dad Publicum, obgleich ohne 
ihren reinsmenfchlichen Urfprung, der zunächſt gar nicht 
in einem gleichen theologifchen Syſteme bedingt war, die 
‚theologifchen Studien und Kritifen ſchwerlich da feyn 
würden, wenigfiend gewiß nicht fo, wie fie jegt vorliegen. 
Als ich, von Göttingen nach Heidelberg berufen, im 
Herbfie 1830 mit Ullmann, der damals gerabe feine 
alademifche Laufbahn begommen, zufammentraf und feine 
erſte perfönliche Belanntfchaft machte, fand ih ihn mit 
der Ausarbeitung feiner Schrift, die Unechtieit des 
zweiten Briefes Petri zu erweifen, befchäftigt; ich brachte 
ihm meine eben frifch gedsudte Erklärung bed heben 


prolt. Gommentar Ab. d. Propheten d. alt, Bund. ze. 211 


kiedes mit. Wer mit oberflächlichem Blide die Außens 
feite der fchriftfielerifchen Erſtlingsverſuche der beiden 
Freunde betrachtet haben würde — der linterzeichnete 


hatte kurz vorher fchon deu Prediger Salomo für unecht 


erllaͤrt —, möchte fchwerlich die „Sündlofigfeit Jeſu“ und 
„den Knecht Gottes“ im erften Hefte der Studien 1828 
verausgefagt haben. Aber innerlich fah ed body andere 
und, Beide Freunde waren zwar als Kritifer von Eiſch⸗ 
beru in die litterärifche Welt eingeführt und ermunternd 
begrüßt worden, aber die negirende Kritik hatte in ihrem 
Herzen feine Wurzel. Ullmann hatte fchon feinen Bes 
ruf, mit ſelbſtforſchendem Blicke in die Quellen ber chriſt⸗ 
lien Kirhengefchichte zu dringen, in fi erfannt, und 
beſonders Neander trat ihm ale Führer entgegen. Als 
Zögling der heidelberger Univerfität hatte er bei Ere u⸗ 
jer den Tieffinn der Deutung der Symbole der Religios 
- am der alten Welt eingefogen, zu den Füßen von Daub 
Ehrfurcht vor dem Ernfte und der Macht der theologis 
ſchen Speculation gelernt und fich von dem milden Lichte 
der heiligen Myſtik des einzigen Abegg durchſtrahlen 
fen; in Schwarz war ihm das Bild eined demüthig⸗ 
frommen, befcheidenen Theologen und Menfchen vor 
Augen getreten. Aber unfer Freund hatte auch in Tüs 
bagen Audirt und dort den wohlgefügten Bau der eher: 
un Schugmauer um ben alten Supernaturalismus zu 
kenndern Belegenheit gehabt; der Srundfiein des Sy⸗ 
kemed, der firenge Infpirationsbegriff der Concordien⸗ 
formel mit feiner nnabweisbaren petitio principli, war 
ijn freilich fchon damals verbächtig geworden; während 
r dort theologifche Vorleſungen hörte, las er doch 
Shleiermacher, und ald er 1819 fich einen Sommer 
in Berlin anfhielt und diefem außerordentlihen Manne 
nahe kam, feine Predigten und Borlefungen hörte, dabei 
an Reanders wahrhaft neuem Leben, an feinem innigs 
Rommen und doch freien Sinne fich erquidte und mit 
.14 * 


212 Umbreit 


de Wette, dem eifrigen Lehrer mit dem „reinen und 
herrlichen Wahrheitsfinne und dem ernften und firengen 
theologifchen Charakter”, wie feinen Eollegen Schleier, 
macer in der Debication feines Lukas gezeichnet, ein 
feftes Freundfchaftsband knüpfte, da war der Bruch mit 
dem alten Supernaturaliömus unvermeidlich gefchehen. 
— Sn demfelben Sonmer lebte der, welcher ein Jahr 
darauf fein Goflege und Freund werben follte, in Wien, 
wohin ihn bie Liebe zur perfifchen Litteratur und der 
unwiderftehlihde Drang nach der perfünlichen Belannts 
fchaft ihres geiftoollften Befördererds, von Hammer’s, 
des Verfaſſers „der fchönen Nebekünfte der Perfer” "ges 
trieben; er fchwelgte in dem Blüthendufte feiner beleben, 
den und belehrenden Freundfchaft, fchrieb auf der K. 8. 
Hofbibliothet einen Adfchnitt aus Mirchond's Ge 
fchichtswert ab, ſtudirte Menin ski's türkiſche Gram⸗ 
matik unter Leitung eines Armeniers und widmete die 
freien Stunden der reichen Natur und Kunſt der herr⸗ 
lichen Kaiſerſtadt. Von theologiſchen Studien und Kri⸗ 
tiken war damals nicht die Rede, ſondern von Hafis 
und Sadi, von Firdufi und Dſchami, aber ohne 
Theologie war er dennoch nicht; feine erfte eregetifche 
Schrift, die Ueberfegung und Erklärung des Predigers 
Salomo’d, die er zwar druden ließ, um ein Buch her» 
auszugeben, aber aus innerer Nöthigung feines Gemüthes 
verfaßte, war bereits erfchienen, und der Grundton jenes 
Buches: „Alles ifteitel unter der Sonne”, womit alle 
Theologie anfangen muß, wenn fie die Sonne nicht vers 
göttern fol, fondern über fie in den Himmel der Hinrmel 
hinaufdringen will, tönte ihm nie lebendiger, als in jener 
Zeit, wo ihn das Getöfe der großen Welt ummogte, wie 
er fich denn auch nie wieder fo proteftantifch sfti erbaute 
wie in jener Keinen Kirche, zu der Fein Glockengeläute 
rief. Will man ihn aber über fein bamaliges theologis 
ſches Glaubensbekenntniß eraminiren, fo bekennt er offen, 


prakt. Sommentar üb. d. Propheten d. alt.Bund.ıc. 213 


daß er von Göttingen den eihhorn’fchen Rationalis- 
mus mitgenommen, ohne daß fidy derfelbe aber in ihm 
confequent vollzogen gehabt hätte; er lag ihm im Kopfe, 
aber nicht im Herzen, dad einen lebendigen Gott nicht 
entbehren Fonnte und Wunder fuchte, wenn fie der Kopf 
beftreiten und wegleugnen wollte, Pſychologiſch merk 
würdig mag ed aber feyn, daß er diefed Syſtem, das 
eigentlih die Frömmigkeit an ihn gebradt, die Pietät 
gegen feinen berühmten Lehrer und väterlichen Freund, 
den liebendwürdigen Greis mit dem grauen Haupte, der 
faltenlofen Stirne und dem Elaren, harmlos blauen Auge, 
and das fchon in feiner Vaterftadt Gotha, wo es ihm zn: 
erſt'in der fchärfften und ehrwürdigſten Perfönlichkeit, in 
töffler, überwältigend entgegengetreten, gegen feinen 
berühmter Nachfolger D. Bretfchneider, als er bei 
ihm das Sandidateneramen beftand, rückhaltslos darlegte, 
während immer ein gewiffer Widerfpruch dagegen fich in 
feinem Geheimften und Innerſten regte. In diefem Zwies 
fpalte Teuschtete ihm auf dem Gebiete der Theologie ein 
Stern des Troſtes, der ihm in ber Verbindung der oriens 
talifchen und theologifchen Studien ein Leitftern wurbe; 
ed war Herder, der nie genug zu fchäßende und viels 
verfannte. Wenn er ihn lad, vergaß er die Wörter Ras 
tionalismus und Supernaturalidmud, die befonderd feit 
dem Harmfifchen Chefenftreit einem immer in die Oh⸗ 
ten gelten. Sah er auch in ihm den Gegenſatz nicht fcharf 
geang gelöft, und zerfloß ihm der unausweichbare Streit 
in einem orientalifchen Dufte, fo fah er doch zu einem 
Himmel vol heiliger Poefle empor und fchaute den Regen: 
bogen ber Berföhnung in fieben heiligen Karben glänzen. 
Als er von Wien nach Göttingen zurüdgefehrt war, trieb er 
vorzugsweiſe orientalifche Studien, ließ fein hohes Lieb 
draden und hielt in zwei Semeftern Borlefungen über bie 
falomonifhen Schriften und den Sefaja. In dieſem letz⸗ 
ten Sahre, wo er in Göttingen lebte, wurde er Durch einen 


2114 Umbreit 


ſeiner lauterſten und edelſten Freunde, der nicht Theolog, 
ſondern Juriſt war, aber von einem religisſen Tieffinn 
und Ernfte, wie er felten gefunden wird, Einen, von dem 
das Wort von Paten gilt, das fih auf Schubert 
bezieht: „Einen wahren Zrommen fand ih” — feinen 
Namen nenne ich nicht geradezu, weil er ed nicht gerne 
fehen würde, aber er fleht im dritten Hefte der Studien 
des vorigen Jahrgangs gedrudt — in die romantifche 
Schule zuerft eingeführt, da er den Namen Tiek in 
den Borlefungen von Bouterwek, bie er wegen ihrer 
feinen Abrundung fonft gerne befuchte, nicht ein einziges 
Mal hatte nennen hören. In dem mpflifhen Helldun, 
tel der grünen Waldeinſamkeit wollten ihm nun vollſends 
die weißen Wände des rationafiftifchen Lehrgebäudes 
nicht mehr gefallen, und er ward durch Die Poefle mehr 
in die Tiefe getrieben. Diefe Stimmung war auch für 
fein Leben entfcheidend, daß er den göttinger Wal, wo 
er in einem bereitö geficherten akademiſchen Berhältniffe 
die Erholungsgänge nadı der Arbeit behaglich hätte forts 
feten Tönnen, mit dem heidelberger Schlofle vertaufchte, 
das ihn, von einem romantifchen Lichte umlenchtet, uns 
wiberftehlich anzog, ald der Ruf nach der fchönften Unis 
verfität Deutſchlands an ihn erging. In diefer inneren 
Verfaffung langte er an dem Örte feitter neuen Beſtim⸗ 
mung an.-Er hatte für das erfle Semefter vorzugsweife 
Iinguiftifhe Borlefungen angekündigt; ale ibm aber 
Schloffer auf einem Spaziergange in feiner Weife 
zurief: „damit können Sie hier nichts ausrichten”, ents 
ſchloß er ſich noch nachträglich, nachdem dad Semeſter 
fhon begonnen, den Propheten Sefaja zu erflärem. 
Diefe äußere Anregung war entfcheidendb für feine innere 
beftimmtere Erfaffung der biblifch = orientalifchen, infonder; 
heit eregetifchen Richtung. Es wurde ihm bald Mar, daß 
der reine Drientalift, der den Weg von Kofegarten, 
Freitag u. 9. wählen wolle, den Koran eigentlich 





prakt. Gommentar üb.d. Peopheten d. alt. Bund. ꝛtc. 215 


mehr leſen mühe, als bas alte und neue Teſtament 
und dazu batte er zuviel Sinn für die Theologie, ber 
beſonders im Umgange mit feinem bald gefundenen Freuude 
genährt wurde. Als wir und fanden, flanden wir im 
Ganzen anf einem gleichen Standpunkte theologifcher 
Entwidelung und Betradytung ber Gegenwart. Er mochte, 
wenn man fo will, etwas fupernaturaliftifcher gefinnt 
feun, bei mir machten fi noch mehr zasionaliftifche Ele⸗ 
mente geltend, aber wir förderten und gegenfeitig und 
vertrugen und gut, weil wir nicht mit Worten flritten, 
fondern und gegenfeitig ind Herz fehen ließen. Darin 
aber waren wir einö, daß und weber Reinhard nod 
Nöhr helfen könne, obfchon wir auch darin uns voll⸗ 
fonmen verftanden, daß man: jede die wiflfenfchaftliche 
Sonfequenz perfoniftcirende Perſonlichkeit in ihrer Ehren⸗ 
haftigkeit müſſe gewähren laſſen, wie dieſe Geſinnung 
auch Ullmann bei einem ſpätern wichtigen und unan⸗ 
genehmen Vorfall in Halle, kurz nach ſeiner Berufung 
dahin, freimüthig und praktiſch bewieſen, und wie wir 
ihn kennen, können wir verſichern, daß er auch jetzt noch 
die damals veröffentlichte Schrift zum Schutze ber Ras 
tionaliſten auf dem Lehrfiuhle nicht verleugnet. Bir 
gingen indeflen unfern ruhigen Bang; er arbeitete ſtill 
au feinem Gregor von Nazianz, fein Freund verfenfte 
ih ganz in den Hiob. Indeſſen bewegte und Doch der 
voffifhscreuzerfche Streit gewaltig, benz er war 
uns yon dem philologifchen Gebiet auf das theologifche 
gerückt, Da erfhien Schleier mach er's Dogmatik bald 
darauf und fie brachte auch auf und beide eine Epoche 
wahende Wirkung hervor, die fortbauerte und fpäter 
vorzüglich zur Begründung der theologifchen Studien 
und Kritifen beitrug. Zwar hatten wir die Madıt bes 
gewaltigen Redners „über die Religion” fchon lebendig 
erfahren, aber bier num erſchien erft der religiöfe Geiſt 
m feinem ganzen und vollen ſpeciſiſch⸗chriſtlichen, ſchar⸗ 


» 


216 Umbreit 


fen Gepräge, und doch war und ein weiter, heller Raum 
gegönnt, des Vaters Haus mit vielen Wohnungen ; Peine 
Schuls und Kirchenformel that und in den Bann. Man 
hätte meinen ſollen, Schleiermacder, ben man Hers 
dern als dem Oſten wie den Welten in oberflädhlicher 
Betrachtung entgegenzufegen pflegt, hätte gerade auf 
mich, der ich vom Driente hergefommen und den Ber- 
faffer des „Geiſtes der hebräifchen Poefle” mit außer» 
ordentlicher Liebe umfaßte, Feine befondere Einwirkung 
äußern können, aber ed war nicht alfo. „Gottes ift der 
Orient und Gottes iſt der Dccident”, heißt es im Koran, 
und ih nahm Flügel der Morgenröthe und weilte am 
äußerfien Welten. Wie Herder und Schleiermader 
zufammengehören, wenn von dem Anfange und ber Zus 
fRandebringung einer neuen Theologie die Rede, die fidy 
weder von der Symboltheologie, noch von der Schul» 
philofophie die Norm will geben laſſen und body ihre 
chriſtliche Glaäubigkeit und poſitive Kirchlichkeit behauptet, 
darüber hat einft ſchon Lücke in feiner Hermeneutik (S. 
75.) ein eben fo wahres ald ſchönes Wort gefagt. — Die 
Ueberzeugung, daß fih eine folde Theologie, wie fie 
Herder prophetifch vorhergefehen und angebahnt, in 
Schleiermadher und Neander in die Erfüllung ges 
treten, auf dem gefammten Gebiete der hriftlichen Wiſſen⸗ 
fhaft in weiteren Kreifen immer mehr Geltung vers 
fhaffen müffe und einem dringend gefühlten Bebürfniffe 
beſonders des jüngeren und anwachſenden Geſchlechtes 
entgegenfomme, hatte ſich eben auf das lebhaftefte in ung 
gefleigert, ale der nun fellge Friedrich Perthed, ein 
Mann von feltenen Eigenfchaften, fromm von Herzen 
und Far von Blid, dem ich von früher her innigft bes 
freundet war und in den Herbfiferien 1825 in meiher 
Baterftadt Gotha, wohin er fi von Hamburg zurüds 
gezogen, einen Beſuch machte, mir den Antrag zur Her: 
ausgabe einer theologifchen Zeitfchrift, die er verlegen 





prakt. Gommentar üb, d. Propheten d. alt. Bund. ꝛc. 217 


wolle, ſtellte. Bei meiner Rückkehr nach Heidelberg ſetzte 
ich fogleich meinen Freund davon in Kenntniß, und wir 
befchloffen, den fchon früher öfter® befprochenen Plan, eine - 
theologifche Zeitfchrift gemeinfchaftlich herauszugeben, num 
in Ausführung zu bringen a). Aber dennoch trat wieder 


a) Nach jener mündlichen Beſprechung erhielt ih von Perthes 
einen Brief vom 7. December 1825, ber den würbigen und 
bochverbienten Verleger der theol. Studien ſchoͤn charakteriſirt. 
Einige Hauptftellen ſey mir erlaubt bier mitzutheilen. 

„Oft habe ich mich in diefer Zeit Ihrer erinnert, ba aus 
mebreren Gegenden des Vaterlandes mir verfciebine Kunde 
kam über bie immer fidy verflärkenden veligiöfen Regungen und 
Gtrebungen.” 

„Mehr wie ie fcheint erfprießlich, daß ein Mittelpunft fich 
bilde, wo fi in Eröffnungen durch fromme, ernfte Gemüther 
die Zeichen bed Waltens goͤttlichen Geiftes in und durch den 
Zeitgeift fammeln, und hinwiederum durch Öffentliche Mittheilung 
ih weiter verbreiten.” 

„Religion und Theologie dürfen nicht getrennt Teyn, das 
religiöfe Gefühl nicht von der Erkenntniß, der Glaube nicht 
von ber Wiſſenſchaft. — Wer Drang zur Heiligung befigt, 
das Licht des Blaubens bat, der erkennt Gott. im Stillhalten 

— will ein folcher aber fein Licht nicht unter dem Gcheffel 
halten, fo muß er vermögen, es leuchten zu laflen in Klarheit 
der Gedanken und in echtem unb vollen Wiſſen. — Wo alfo 
fi fammeln fol, was in ber Zeit zur Ausbreitung bes Reis 
ches Gottes gefhieht, da muß zur gebiegenen Weitermittheis 
Iung echte theologiiche Wiffenfchaft ihren Sig haben. Dieß ers 
fordert biefe unfere Zeit.” 

„Die Gintheilung einer ſolchen Beitichrift ſcheint ſich von 
felbft anzugeben in Abhandlungen — Krititen unb Anzeigen — 
KRadyrichten.” 

„Anonymität wäre webennbei ben Abhandlungen, Kritifen noch 
Rachrichten zu geftatten. Wer in bdiefer Zeit nicht den Muth 
bat, zur Ehre des Herren fich preiszugeben, ober nicht vers 
mag, durch den Eifer die Liebe durchdringen zu laflen, her 
bleibe von biefem Plage.” 

„Parteiwefen fey verbannt; bie Worte: „wer 
nit wider mich ift, der ift für mid!” und: „habt 
Balz bei eud, und habt Frieden unter einander” 
Iheinen mir Alles auszufagen.” 


218 breit 


eine Berzögerung von einem ganzen Sabre ein, und erſt 
ale im Herbſte 1826 mid Perthes bei einer abermalis 
gen perfönlichen Inſammenkunft mit ibm von Neuem 
ermuntert batte, fchritten wir and Werl. Wir traten 
barüber mit gielchgefinnten Freunden in Bonn in Ber- 
bindung =), hatten im Frühling 1827 eine Zuſammen⸗ 
Bunft in Rüdesheim mit Lücke und Nitzſch und ſetzten 
daſelbſt Zweck und Titel der zu begründenden Zeitfchrift 
fe. Wie wenig wir im Sinne hatten, eine erciufive 
Richtung zu verfolgen, und wie wir im Geiſte des Mei⸗ 
ſters zu verfahren gedachten, ber einen Ruhm barein 
feste, Feine Schule im befchränkten Sinne gegründet zu 
baben, geht fchlagend daraus hervor, baß wir aud 
Gtefeler, der wahrhaftig kein Schleiermacherianer war, 
aber ein hiſtoriſch⸗ grünblicher Forſcher und unbefangen» 
tächtiger Theolog, zur Mitherausgabe aufforderten, was 
er auch freundlich annahm, ohne fi vor der Partei zu 
fürchten, die ihm zu fich rechnete. — Dieſes ifl die Ent- 


„Freilich bebarf ein Unternehmen, wie ich es meine, fehr 
umfidhtige Vorbereitung, und nichts darf übereilt werben, aber 
gewiß if’ dazu an ber Zeit, Es würde zur Redaction mehr 
wie eines Mannes bebürfen. NRugbar würde ich in mehr wie 
eines Hinſicht ſeyn können, da meine Stellung mir das Wer: 
trauen vieler wohlgefinnten Männer erworben bat.” 

a) Als dieſe Verhandlungen mit ben Breunden in Bonn bereits 
angelnüpft waren, wäre ich aus ganz eigenthümlichen Gründen 
dem Unternehmen faft abtrünnig geworden. Aber Ullmann 
und die Bonner bielten mid fefl. Den Ausfchlag gab ein Brief 
von Lüde vom 8. März 1827, in bem mein Freund und eins 
fliger Lehrer in Göttingen (1815) fchreibt: „wir Tönnen Sie 
wegen bes altteftamentlidhen Faches nidht entbehren. Gerade 
Ihre Richtung darin entſpricht der Idee ber Zeitſchrift. Ich 
denke, wir geben uns Oſtern, in dem letzten Theile der Oſter⸗ 
ferien, ein Rendezwous am Rhein ober in Frankfurt und berathen 
die GSache genauer. Mündliche Verhandlung wird Sie dann 
noch mehr uͤberzeugen, daß wir Sie nicht entbehren koͤnnen und 
nicht Loslaffen dürfen.” 


pralt. Gommentar üb. d. Propheten d. alt. Bund. 2c. 219 


fiehungögefchichte ber theologifchen Studien und Kritiken, 
bei deren Darfielung, wenn fie eine innere und lebendige 
feyn foßlte, die Auselnauberfegung ber perfönlichen Ver⸗ 
hältniffe der beiden befreundeten Herausgeber unvermeids 
ih war, weil ans ihrem befonderen theologifchen Bil 
dungegange und ihrer inmigften Befreundung die Zeit, 
fchrift, fo “wie fie geworden, ſich nur erflären läßt, 

Wir bringen dad vom 1. Juni 1827 datirte, von 
tüde abgefaßte und von fämmtlichen Herausgebern uns 
terfchriebene Ankündigungsprogramm denen, bie es vers 
geſſen haben, und denen, die eö noch gar nicht Fenuen, 
biermis im @rinnernng. Der Borfchlag ded gewählten 
Titels der Zeitfehrift ging von Ullmann ans, und es 
fhmebten ihm dabei die ehemaligen heidelberger Stu» 
dien von Danb und Erenzer vor, bie noch jeßt eis 
sen guten und ſchönen Klang in der Litteratur biefes 
Jahrhunderts haben. 

„Diefe Zeitfchrift hat Seinen anderen Zwed, als theils 
der wohrhaft wiflenfchaftlichen Forſchung, theils ber als 
lein darauf beruhenden Kritil zu einem neuen Werkzeug 
und Förderungsmittel zn dienen. — Die Herausgeber 
tragen feine Schen, fih zu dem einfachen biblifchen Ehri- 
Renthume zu befennen, daß fie daffelbe für das wahrhafs 
tige Wort und Heil Gottes halten. Allein eben deßhalb, 
weil fie in dem Evangelium dad Wort der ewigen Wahrs 
heit ſelbſt anerkennen, find fie feſt überzeugt, daß daſſelbe 
ald Licht und Leben zugleich nicht weniger unfere Er⸗ 
kenntniß und Wiffenfhaft, als unfern Glanben in Ans 
ſpruch nimmt, nnd bag, fo wenig es eine wahrhaft chrif- 
lie Theologie ohne chriftlihen Glauben geben kann, 
m fo fehr eine die edle Bottesgabe der Vernunft und 
Biffenfchaft verachtende Theologie ein Unding ift. Viel⸗ 
mehr halten wir dafür, daß zumal in der evangelifchen 
Kirche, welche nicht weniger durch freie Wiſſenſchaft ale 
Iebendigen Glauben geboren ift und befteht, alles wahre 


220 Umbreit 


Gedeihen der Theologie davon abhängt, daß fich Glaube 
und Wiſſen in ihr befreunden und einander Burchbringen, 
daß aber das wiflenfchaftliche Element nur in dem Maße 
fähig iſt, fich mit dem religiöfen innig zu verbinden, iu 
weichem ed, von allen äußeren Keffeln unabhängig, nur 
bem freien Gefete der Wahrheit gehorcht, nichts weni: 
ger fürchtet, ald die Höhen und Tiefen der Erfenntuiß, 
wenn auch durch Zweifel ber Weg dahin führen follte, 
nichts fo fehr aber fcheuet und flieht, ald auf der einen 
Seite die Knechtſchaft bed Buchftabend und aller falfchen 
Autorität, und auf der anderen die Ungebundenheit und 
Geſetzloſigkeit des ſchwärmeriſchen Geifted.” 

„Durch dieſes offene Belenntnig glauben die Heraus⸗ 
geber ihr Unternehmen überhaupt bei allen denen recht⸗ 
fertigen zu können, weldye mit ihnen der Meinung find, 
daß es in Reiner Zeit, am wenigften aber in der unfrigen, 
der wahren Bermittelungen zu viele geben könne. Es 
mangelt in unferer Kirche nicht an theologifchen Zeitfchrifr 
ten, und faft müßten wir den Borwurf fürchten, daß wir 
die große Zahl derfelben unnüßer Weife vermehren: 
allein, wenn es auch jetzt felbft an folchen theologifchen 
Zeitfchriften nicht fehlt, welche mit der unfrigen im Als 
gemeinen denfelben Zwed haben, fo glauben wir doch, in 
ber und befaunt gewordenen Stimmung befreundeter 
Theologen Grund zu der Hoffnung zu finden, daß unfe 
rer Zeitfchrift, befonderd wegen mancher ihrer Eigenthüm⸗ 
lichfeiten neben den übrigen noch ein befcheidener Plat 
werde aufbehalten feyn.” 

„Unfere Zeitfchrift will Feiner der geltenden‘ Parteien 
angehören, noch weniger darauf ausgehen, eine neue zu 
bilden. Vielmehr will fie, obgleich nicht ohne beftimmte Farbe 
und Charakter, vor allen Dingen beftrebt feyn, unter den 
Parteiungen der Zeit den freien Standpunkt zu gewin 
nen, worauf ed möglich ift, das Gute und Wahre der 
verfchiebenen Richtungen der neueren Theologie aufzu⸗ 


\ 


prakt. Gommentar üb. d. Propheten. alt. Bund. ꝛc. 221 


finden und zur Anerkenntniß zu bringen; ihr höchſtes 
Ziel und ihr innigfter Wunſch iſt, gleich weit entfernt von 
eflettifcher Berwirrung des Berfchiedenen, wie von ber 
Eitelleit willkürlicher Bermittelung, duch treues Kefthals 
ten an dem pofitiven Grunde in der heiligen Schrift, 
durch freie und gewiflenhafte, fo biftorifhe wie philo- 
fophifche Korfchung, fo wie durch Ansübung einer Kritik, 
welche unparteitfch eben fo befcheiden und demüthig, ale 
muthig und ernft dad Wahre und Gute, wo es ſich auch 
finde, anzuerfennen und zu benuten weiß, immer mehr 
Vereinigungspunfte unter den Streitenden audzumitteln, 
wodurch es der evangelifchen Kirche möglich wird, ber 
wahren lebendigen Einheit ihrer Theologie immer mehr 
beongt und froh zu werben. In Beziehung auf diefe 
offenherzige Darlegung des Zweded und Eharafterd uns 
ferer Zeitfchrift tragen wir fein Bedenken, alle diejenigen 
Theologen unferer Kirche zum Beitritte einzuladen, welche 
bei freiefter Mannichfaltigkeit ber Gaben und Anfichten 
fi in jenem theologifchen Brundbelenntniffe mit uns 
gerne vereinigen.” 

Daß diefe Ankündigung der neuen Zeitfchrift befchets 
den gewefen und ohne vieled Geräufch und Gepolter in 
die Deffenslichkeit getreten, hätte ihr auch der Feind nicht 
abfprechen Fünnen, und daß das darin aufgeftellte Glan⸗ 
bensbekenntniß kein Pünftlich 'gemachtes, fondern ein in 
Vielee Herzen lebendiged war, dad bewies fogleich die 
rege Theilnahme der fich zu Beiträgen erbietenden älteren 
und jüngeren Theologen. Es wurden zwar hie und da 
die befannten Borwürfe von „Lnentfchiedenheit”, dienun, 
wie fie leer in fich waren, auch im Leeren verhallt find, 
vernommen, aber bie Zeitfchrift, die vor Allem Inder Wahrs 
beit wurzelte, trat frifch und frei in das Leben hinaus 
und bewies fehr bald, daß fie wohl wiſſe, Entfchiedenheit 
in behaupten, wo ed darauf ankomme, ihr Princip zu 
bethätigen: Glauben nicht ohne Wiffenfchaft, und Wifs 


222 Umpbreit 


fenfehaft nicht ohne Glauben, und, wie Schleiermar 
her eint Ullmann zugerufen, Studien nicht ohne Kris 
tiken, und Kritilen nicht ohne Studien, Schon in den 
erften Jahrgängen glänzten die Namen der berühmteften 
Theologen verfciebener Richtung, wenn diefe nur nicht 
in dem Wahne befangen waren, daß nur im Ertreme die 
Manrheit liege, aber befonderd das heranftrebende jün- 
gere Geſchlecht begrüßte Die neu geöffnete Bahn, fi aus⸗ 
zufprechen, zu verfuchen und zu bilden, mit freudiger und 
thätiger Theilnahme. Ja, das iſt ed vor Allem, was ben 
theologifchen Studien und Kritiken ihr Leben gefriftet und 
ihnen von Jahr zu Jahr eine immer ausgebehntere Ver⸗ 
dreitung gefichert, während anbere Zeitfchriften rechts 
und links bald wieder verfchwunben, wie fie gefommen, 
daß fie die alte Bundeslade nicht wieber neu machen, 
aber auch den neuen Tempel nicht in die Luft bauen wol» 
len und, in dem lebendig - biblifchen Glauben wurzeind 
und in dem Lichte der freien Wiſſenſchaft wachfend, fich 
einen jugendlidhen Charakter bie dahin bewahrt has 
ben, indem fie, immerfort in der Entwidelung begriffen, 
bad Endziel der neuen Theologie, die noch Feine fertige 
IR, redlich nnd aufrihtig ſuchen. — So wuchs denn 
unfere Pflanze, begoffen von dem Gegen ded Himmels, 
gemährt von ben Kräften gläubiger Wiſſenſchaft in ihrer 
unverfiegbaren Fülle, gebeihlid empor und ward zu eis 
nem ſtarken, reich verzweigten Baume zwanzigjährigen 
Alters, der den Stürmen der Zeit bis jetzt getropt und 
noch nicht das Anfehen bat, daß er verborren werbe. 
Indem ‚der Unterzeichnete die günftige Gelegenheit 
ergriffen, an Geift und Weſen der theologifchen Studien 
und Krititen von Reuem zu erinnern, und dabei feinen eis 
genen Bildungsgang, der in die Gefchichte berfelben vers 
flochten, offen zu verzeichnen veranlaßt war, hat er den 
Beurtheilern feined Werfed über Die Propheten den 
Maßſtab in die Hand geben wollen, nach dem fie nur 


prakt. Sommentar üb. d. Prophetend. alt. Bund. ıc. 223 


alein gerecht und wahre über ihn richten können. Ge 
weit ihm Kritifen feines Commentared zur Kenutuiß ger 
tommen, hat er feine Urſache, fich Aber Ungerechtigkeit 
oder wohl gar Aber Boswilligkeit der Recenſenten zu bes 
ſchweren. Er tft ja überdieß fchon über die Jahre, we 
einen angehenden Schriftfteller, der fich erſt fein Lebeus⸗ 
verhältuiß zu gründen und feine wiflenfchaftliche Stellung 
in erobern hat, eine NRecenfion glüdlich oder unglücklich 
machen kounte, laͤngſt hinaus. Im Begentheile, man hat 
mit ermunternder Freundlichkeit dad Werk gleich beim 
Anfange feines Erfcheinend begrüßt und dem Verfafler 
Muth gegeben, es zu vollenden. indem er dieſes fagt, 
wird es nothwendig feyn, zu bemerken, daß er bei dem 
angefirengteften Bemühen, fich felbii kennen zu lernen, 
am wenigften die Eitelkeit in fich gefunden; er if dazu 
in ſtolz. Aber enträften kann ihn jeder ungerecdhte Tadel, 
ſey er gegen Andere, oder gegen ihn ſelbſt gerichtet, fo 
wie ihm das umgekehrte Urtheil das Gefühl einer hör 
beren Freude gibt. Daher nenut er hier befonderd zwei 
Ramen, die bei zwei von einem ganz verfchiebenen theologi⸗ 
hen Standpunkte ausgehenden Kritiken ehrenwerth unter, 
zeichnet ſind, Deligfh und Reuß, mit aufrichtigem 
Danke. Beide gründlich gebildete uud ernft forfchende 
Männer haben nicht von dem Berfafler geforbert, was 
er nicht leiſten wollte und konnte, fonbern fein Werk aus 
ſich ſelbſt kritiſch confiruirt, wodurch feine Tugenden und 
Fehler in ihrer wothwendigen Zufammengehörigkeit in das 
iht der gerechten Benrtheilung treten. Eine ſolche Res 
fon iſt freilich eine Kunft, eine fittliche und eine äſthe⸗ 
the; fie beruht auf ber Babe der Gelbfientäußeruug 
a Wahrheit und Liebe, wie fie einft Goethe in der 
Mußerrecenfion über die Gedichte von Voß bewiefen, 
Aber ein öffentliches Wort, das in der evangelifchen Kir, 
denzeitung den Commentar über bie Propheten gerichtet, 
möge um des Gegenſatzes und ber Sache willen hier ges 





224 Umbreit 


nauer befprochen werden, beſonders aber auch ans 
dem Grunde, weil ſich daran der aufgeftellte Sag, daß 
der Commentar aud dem Geifte der theologifchen Stw 
bien und Krititen hervorgegangen, in dem entſcheidend⸗ 

ſten concreten Kalle am einleuchtendften wird bewahrhei⸗ 
ten laſſen. Der Unterzeichnete wird diefes um fo cher 
thun dürfen, da, wer jene Beurtheilung gelefen, niht 
wird fagen können, daß der BVerfafler Lirfache gehabt, 
ſich perfönlich verlegt zu fühlen, denn er wird mit An 
Rand und Würde behandelt und ihm fogar das Lob zw 
gefprochen, „daß durch benfelben ein heilfamer Anftoß 
gegeben worden, welcher wohl geeignet gewefen, Manden 
. anf die arge Verwahrlofung des eigentlich theologifchen 
Elementes in der altteftamentlichen Exegeſe aufmerkfam zu 
machen.” Auch gehört er nicht zu den Gchreiern ded 
Tages, die die evangelifche Kirchenzeitung ald den theo 
Iogifhen Sündenbod, der in die Wüſte gefchickt werben 
müffe, zu ſchelten nicht aufhören, fondern er erkennt ihre 
Nothwendigkeit und ihren Werth in der Krifis unferer 
Zeit mit Freuden an, aber er kann deßhalb den Heraus 
geber nicht wie den Naſi im Tempel Heſekiel's be 
trachten. Der Unterzeichnete bat nie feine perfönliche 
Belanntfchaft gemacht und fleht auch in keiner brieflichen 
Berührung mit ihm, aber er erlaubt fich im Namen Bir 
ler, die ihn wahrlich nidht verbammen, aber auch gegen 
feine Fehler nicht blind find, den anfrichtig gemeinten 
Rath zu geben, das Beimort evangelifch recht genau 
anzufehen. So ift es jebenfalld nicht evangelifch, 
wenn der Recenfent am Schlufle aueruft: „möchte ed doch 
dem vgrehrten Verfafler unter Gottes Beiſtand immer 
mehr gelingen, frei zu werben von ben Feffeln des Zeit« 
geiftes!” Der Herausgeber ber evangelifchen Kirchen. 
zeitung liebt fonft Feine hohlen Redensarten und faßt bie 
Dinge und Berhältniffe fharf ins Auge. Was nennt er 
im Beſtimmteſten Zeitgeift in feiner Zeitung? — 





pralt. Sommentar üb. d. Propheten d. alt. Bund. ꝛc. 225 


Doch wohl atheiftifched und pantheiftifches Belüfte, Re⸗ 
habikitation bed Fleiſches. Iſt davon in der Auslegung 
der Propheten nur irgend etwas zu verfpiren? — Sm 
Gegentheile hätte der Necenfent mit Gerechtigkeit her⸗ 
vorkehren follen, daß in dem praltifchen Theile des 
Commentares der Berfafler feine Gelegenheit habe vor» 
übergehen laſſen, jenem Zeitgeifte mit Wacht entgegenzu⸗ 
treten, uns Den perfönlich sheiligen Gott, ber als Geiſt 
richtet alles Fleiſch und ein verzehrendes Feuer dem uns 
bußfertigen Sünder, aber ein befeligenbes Licht bem, der 
fih mit wahrer Reue befchrt, mit den Worten der Pros 
pheten wie mit eigenen in die Herzen bineinzubonnern. 
Und betrachten wir vor Allem unfere Ehriftologie: gibt fie 
etwa den jübifchen Meſſias, den weltlichen Kürften, den _ 
Helden des Krieges? — Steige nicht mittelft der einfach, 
ken Erklärung des Tertes das himmlifche Bild des Fürs 
ken ded Friedens empor, des Gottesfohnes und Men- 
ſchenſohnes, deß Name Wunder, Rather, Gottheld, ewis 
ger Bater, der ein ſtets ſich mehrendes Reich der Wahrheit, 
Gerechtigkeit und Liebe gründet, das in unvergänglicher 
Herrlichkeit alle Bölker der Erde in ſich verſammelt? — 
Und ift dieſer Sohn und Herr nicht auch Knecht Gottes, 
ſchuldlos leidend anftatt der Schuldigen und fein Leben 
bahingebend für die Sünder, rechtfertigend durch feine 
Gerechtigkeit Biele und erlöfend durch feinen Tod? — 
IR diefer König and Jeſſe's Stamm, das Panier, nady 
dem die Heiden fragen, geboren nah Micha in dem 
Meinem Bethlehem, der Sproffe, der nah Saharja 
am und demüthig auf einem Eſel nach Ierufalem reitet, 
Hfhon er die Doppeltrone des Königthums und Hohen» 
prieſterthums trägt, und, von feinem Volke durchbohrt, 
dann aber unter dem bitterften Chränen der Rene bes 
trauert, feine Herrfchaft beginnt, vor der die Welt der 
widerfpenftigen Heiden in Ohnmacht niederfintt — iſt 
diefer Meffias nicht Ehriſtus Jeſus? — ae biftoe 
Toeol, Stud. Jahrg, 1847, 


226  Umbei 


wifch,e Chriſtus — und habe: idh wich wicht. gegen die 
voetiſch⸗ pro phetiſ;e Shealifirung. auf das entichieheniie 
ausgeſprochen ? — Hier kaun alfa der Anslegen uuuglic, 
„is den Feſſeln des Zeitgeiſtes“ Kegen. Die anugeliidhe 
Kirch erzeitung wuß alfo damit etwas Anderes weinen, 
was, auch nicht ſchwer zu ſinden iſt. Sie ſieht das Trug⸗ 
licht ohne; Zweifel: anf. dem Wege, mie der Ausleger zu 
jenem theelegifchen, und chriſtologiſchen Ergebniſſe ge 
komman iſt, in ſeiner wiſſenſchaftlichen Bexfahruugewaite; 
bier wittert fie: Ratianalismus. Was biegt mie as dem 
Ramen?-— Borläufig zugegeben, der Berfaffer den Chri⸗ 
Bolsgie,. deren Bedeutung. ex ſtets hochgeſchaͤtzt, wenn er 
ih, auch. gegem ihr, Grundprincip erftänen. mußte, wäre 
3% dem Rogmatiich-cziflichen Refultate, in: dem mir beide 
eined fürd, anf ſunernaturaliſtiſchem Wege, des Verfaſſer 
des preftiſchen Gnmwmentares. üben die Propheten:auf war 
tionaliſtiſchem Wege, gelangt, ſollte man. fich darüber nicht 
eher freuen, ſtatt, darüber zu ſchelten, ſtuüͤnde deun nicht 
dieſes Refultat, quf daſ cin ja dach eigentlich ar. As 
Kimmt, deſto feſter, fo nacht. zur. Veſchämung cha des 
„Beitgeiflen” aber des Rationalismus, der üben bie 
Kinft, zwifchen dem alten: und neuen Teflumeute nicht 
inanötänsnt, weiß er: in jewem nun, einen meitlichen Meſ⸗ 
Bas und. keinen. leibenben Exlöfer füsdet; und in biefem 
bany ih wundern muß, wie Jeſus von Nazareth; zu, die⸗ 
fem. letzteren Begriffe gelangt. fen? — Aber der. Weg, 
den der Unterzeichnete gegangen, iſt auch gay. nicht ber 
desſs Nationalismus, fo menig es fich dieſes Mutens fchär 
men würde, ben praktiſch⸗ tüchtige Ehriſten, die man an 
ihren Früchten, exfennt, getragen und woch tragen. Der 
Rationaliſt betrachtet die. Weiffagung als. eine Folge, um 
es recht fchlicht und einfach zu fagen, der Begeiſterung 
des. Seele; dena Gott if nach ber Eonfequenz feines Sy⸗ 
ſtems trandmundban, und was ber: Prophet Geiſt Bostes 
nennt, iſt nur ein. durch bie, Idee non Gott: geſteigertes, 


prakt, Gommentar üb.d. Propheten d. alt. Bunb.ıc. 227 


poetiſch erregtes Selbſtbewußtſeyn; bie Propheten find 
ehrwürdige Sittenichrer und Poeten. Aber das ik der 
Standpunkt bed Eommentares nicht, auch nicht der Schrift 
über den Knecht Gottes, wo fich ber Berfafler ber dies 
fen Punkt ſchon beſtimmt andgefprochen. Er braucht das 
Wort Begeifterung, weil es vielfach in der Welt als eine 
falſche Manze eurfirt, überhaupt nicht gerne, und wo es 
in feinen Propheten vorkommen mag, iſt ed entweber im 
emem anderen Sinne zu nehmen, ober e6 if dem Ver⸗ 
faſſer aus Anbequenung und Gewähnung entſchlüpft. 
Die Propheten find freilich Begeiſterte, oder, wie er lie: 
ber, um Mißverſtand zu vermeiden, fidyausbrüden möchte, 
Begeiftete, aber nicht durch und ans fich felbft, fon» 
dern wahrhaft, nicht in orientalifcher Redeweiſe, und 
wirklich Durch den Belt Botted. Aber der Geiſt Gottes, 
ber ſich ihnen mittheilt, erfaßt Me nicht dergeftalt, Daß er 
ihr individuelles Seld ſtbewußtſeyn gänzlich auslsſchte 
uud fie, fo zu ſagen, magiſch nöthigte, die feruften Dinge 
und zufälligften Ereigniffe zu wahrfagen, was bie Bes 
banptung der Ghrifiologie Hengfienberg’s if, ſon⸗ 
dern er ſchleßt Mich naturgemäß an die Denkgeſetze und 
Deufoperation der Schauenden an; bad Mebernatürliche, 
nit Schleiermacer zu reden, muß auch bier ein Ras 
türliches werden. Deßhalb finb wir weit entfernt, bie 
Seher, wie fie mit Recht genannt werben, an bie Logtt 
des refleetirenden Denkens zu feſſeln; in der Verbindung 
des Geiſtes Gottes mit dem Geiſte ber Propheten liegt 
ein mergrundliches Geheimniß, eine myſtiſche Tiefe, Die 
mmusfchöpfbar if. Aber da wir bei der Beurtheilung 
dieſes Punkted an die gegebenen Weiſſagungen gewielen 
ad, fo babe ich auch nidyt Eine finden koͤnnen, welche 
die PReiffagung zur Borherfagung im Sinne der heng⸗ 
ſtenbergiſchen Chriſtolsgie machte, und ich ſtimme über 
dad Berhäktwiß. ven Weiffagung und Vorherfagung im 
Wefenttichen mit Niufch im Spyſteme der chriſtlichen Lehre 
15 * 


228 Umbreit : 


(5.9.9.5. Anfl.). Immer erfcheinen die Propheten, we 
fie in die Ferne blicken und hiftorifche Dinge verkünden, 
an die gefchichtlichen Bedingungen ber Gegenwart ger 
bunden, deren Horizont fie nicht gewaltfam durch⸗ 
brechen. Selbft die Verkündigung bed Meſſias bebarf 
in dem ganzen Bollgehalte, ber ihr eigen, ber ge 
fhichtlichen Entwickelung. Doc. was fireiten wir über 
biefen Punkt mit dem Berfafler der „Ehriftologie” 1829 
—1835, da er jeßt feld befennt, „wie er damals nod 
wenig felbftändig in die Tiefen des A. T. eingedrungen”, 
nnd beim 22, Pfalme, in dem er nicht mehr eine directe 
und ausfchließliche Beziehung auf CEhriſtum, und nicht 
einmal eine typifchsmeffianifche Weiffaguug, fondern nur 
die ideale Perfon des Gerechten findet, ſich alfo erklärt: 
„denn wie David fein Bewußtſeyn zu dem feines Stam⸗ 
med erweitern Tonnte, dieß läßt fi [ehr gut den⸗ 
fen, nicht aber, ohne Störung des Seelenle⸗ 
bens, ein Ueberſchwanken von der eigenen Perſönlichkeit 
zu einer anderen.” Vgl. Sommentar über die Pſalmen, 
B.2.1843. 6.7, u. 8. Ebenſo heißt ed (S.323.) bei Pf. 
49: „die in ber älteren Zeit fehr verbreitete direct meſſia⸗ 
nifche Erklärung des Pf. hat. in der Anführung von 2. 
79, in Hebr. 10, 5 ff, nur ein fhwached Fundament, 
und Behauptungen, wie die im Anfange feiner Laufbahn 
von dem Verf. felbft aufgeſtellte: „ed ift keinem Zweifel 
unterworfen, daß derjenige, welcher die göttliche Auctor 
rität des Briefes an Die Hebräer anerkennt, ſich für die 
meflianifche Erklaͤrung entfcheiden muß,” verlieren bei ger 
wonnener tieferer Einficht in die Art und Weife, wie das 
N. X. und namentlich der Brief an die Hebräer die Aus⸗ 
prüche des A. X. handhabt, alle Bebentung.” Go 
wäre beun Herr D. Heugfienberg als Gommen 
tator der Pfalmen auf einen Standpunkt gekommen, auf 
bem ihm die Auctorität des Briefes an die Hebräer bei 
ber Erklärung bes 9. T. nichts gilt, — ein Bekenntniß, 


prakt. Gommentar üb. d. Propheten d. alt. Bund. ꝛc. 229 


das bei der fpftematifchen Eonfequenz bed Berfaflers viel 
fagen wii — und wenn er fidy auf den früheren Stand: 
punlt der Chriſtologie zuräd verfegt, fo muß der alte 
Nenſch feinen neuen „in den Feſſeln des Zeitgeifted” 
fehen. Aber wir fagen vielmehr: er hat ſich jeßt von ben 
Feſſeln des Zeitgeiftes, wo er die Ehriftologie ſchrieb, 
losgemacht, d. i. von den Fefleln ber dogmatifchen Vor⸗ 
ausſetzung und Befangenheit, und athmet freier, nicht „in 
den Feſſeln des Zeitgeiſtes,“ fonbern in der frifchen Les 
bendluft „Des Geiſtes der Zeit,” d. i. der fortfchreitenden, 
undefangen forfchenden Wiſſenſchaft. — Aber irren wir 
nicht, ſo galt jener Vorwurf auch weniger der Auslegung 
der Propheten, als vielmehr der Kritik, bie der Gommens 
tater Abt, und hier flimmt er zu viel mit @efeniug, 
Hipig, Ewald u. A.; denn er behauptet noch immer, 
If. 40-66. ſey unecht. Bei biefer Behauptung muß er 
freilich auch jetzt noch beharren, und wahrlich nicht aus 
bogmatifchens Bornrtheile gegen dogmatiſches Vorurtheil, 
fondern ans kritiſcher Bewiffenhaftigkeit, und id; meine, 
Gewiſſenhaftigkeit müfle man vor Allem vom Chriften und 
Theologen fordern und, wenn man fie bei ihm finder, 
achten. Ans demfelben Grunde, wird man bemerken, ers 
fürt er mit Hengflenberg den zweiten Theil des 
Saharja für echt, und gewiß auch nicht aus dogma⸗ 
them Borurtheile, wie die Anslegung dieſes Propheten 
iigen wird. Geſetzt aber, Jeſ. 40-66. wäre doch echt, 
fo würde ich das mit Freuden, wenn man mid; über« 
zeugte, öffentlich anerfennen und meinen Irrthum einge, 
ſtehen; doch bis jetzt bin ich noch nicht überzeugt. Heng⸗ 
Renberg ſollte fi aber eher freuen, wenn ihm jebt 
ver Beweis der Unechtheit jenes Stückes geliefert würde; 
un wenn er confequent feyn will, fo muß er zugeben, 
„dag es ſich Doch auch nicht gut denken laſſe, wie Sefaja 
ohne Störung des Seelenlebens den Cyrus habe Fön» 
um gen Babel ziehen ſehen.“ — Sollten diefe Erörte 


230 Umbreit _ 


eungen, die aus Feiner Gereistheit gegen den hochge⸗ 
ſchätzten Herausgeber der evangeliſchen Kirchenzeitung 
gekommen, ihm gegenüber Aberflüffige geweſen ſeyn, nun 
fo muß er den gemachten Vorwurf auf ſich ſitzen laſſen 
und fich mit Männern tröften, beren ewige Berbieufte 
nur blinder Eifer fchmälern kann. Schleiermacher 
iſt dann auch „in den Feſſeln des Zeitgeifted” bie zu 
feinem Tode geblieben, aber er if in ihnen als frommer 
Chrift felig entichlafen. Aber dad, worauf ed nnd hier 
allein anlam, tft aus jenen Erörterungen hervorgegangen, 
baß der nene Eommentar über die Propheten aus ber 
Richtung der Theologie heruorgegangen, welche „bie theo⸗ 
logiſchen Studien und Kritilen” ind Leben gerufen, bie 
fi in dem Grundbelenntniffe bis diefen Tag behauptet 
haben: „treues Feſthalten an dem pofitiven Grunde ber 
heiligen Schrift, freie und gewiffenhafte, fo hiſtoriſche wie 
philoſophiſche Forſchung, Ausübung einer Kritif, welche 
unparteiifch eben fo befcheiden und demäthig, ale mu 
thig und ernft dad Wahre und Gute, wo es ſich aud 
finde, anzuerkennen und zu benntzen weiß.” Diefe aß 
feitige Anerfennung des Wahren und Guten, von wo es auch 
herfomme, ohne lnterfchied der Namen und Richtungen, 
meint der Verfaſſer befonbers in den eregetifchen und kris 
tifchen Anmerkungen zn ben Gommentare bewiefen zu 
haben. Es hat die Art und Weife feiner Befprechung 
mit anderen Auslegern und Krititern ihm aber eine Rüge 
in einer Zeitfchrift zugezogen, deren Herausgeber ihm ber 
freunder ift und der andy ans ber unfrigen Gelegenheit 
gehabt, zu erfahren, wie fehr er ihn zu fchägen wife; 
er meint Tholuck's Titterärifchen Anzeiger. Dort wird 
ihm in einer ausführlichen, geiftreichen Recenfion feines 
Sommentard Belomplimentirung ber verfchiedenen Gelehr⸗ 
ten vorgeworfen und bie Ermahnung gegeben, den Schein 
bed „lob' du mich, fo Lob? ich Dich,” ferne zu halten. Die 
fed Wort hat den Untergeichneten wehe gethan, weil es 


prakt. Gommentar üb. d. Propletend. alt. Bund. ıc. 234 


doch wenigſtens ach ben Sheikh einer ſſttlichen Auklage 
enthaft, und da v6 en Öffentliche WoA md nach dem 
innerfien nnd betigfien Bewußtfenn des Berf. unbegräms 
det iſt, fo kaun er eine öffentliche Erwiberung nicht zus 
radhalten, er will ed Aber mit dem Sengniffe eines Aus 
deren thun, zu dem er bis jett gar Tein yerfönlidhes 
Verhaͤltniß hat, der ihn aber gründlich erkannt; er meint 
eine Stelle in ber Recenfion von Delitz ſch in der berlis 
ner Zeitfchrift, auf Die er die Lefer getroſt verweiſen 
darf. Was kann wohlthuender ſeyn, Ald von eifteie 
Nanne, den man hoch achtet, verſtunden zu werben, nenn 
mau von einem anderen, wicht minder gefchäßten, ik ſei⸗ 
nen Innerfien Mefen gänzlich mißverſtanden wörben! — 
Aber auch in wiſſenfſchaftlicher Beziehung hat es beit Verf. 
wehlgethen, von Delitz ſch in einem Hauptpunkre richtig 
anfgefaßt worden zu ſeyn; er betrifft das mehrfach falſch ges 
dentete Beiwort praktiſch,“ womit der Fommentar in ſeiner 
Eigenthimköckeit auf dem Titel bezeichnet wird. „Un bie Ue⸗ 
derſegung des prophetiſchen Textes ſchließt ſich eine zuſam⸗ 
menhähgende, den Sinn deſſelben entrofende Paraphraſe; 
die praktiſchen Bemerkangen, mit denen dieſe durchwebt iſt, 
zeigen, daß die prophetiſchen Schriften in Umbreit's Augen 
nicht bloß Denkmale des Alterthums ſind, Die man mittelſt les 
bendiger Bergegenwärtigung der Zeit ihres Entſtehens gu ent⸗ 
fern bat, ſondern zugleich ein ewig gültiges, nie vers 
ſſegendes Wort Gottes, weiches er in das Leben ber 
Gegenwart einzuführen und auf das innere Reben jedes 
Einzelnen anzuwenden bemüht tft.” Diefed Wort möge 
uud als Text zu einer weiteren Erötterung bieten. 

* Der Titel bed Buches wurde gemacht, ald es des 
worden war, wie ed gleich ins erſten Theile fich gibr; 
m der That geworden“; denn die befondere Weiſe der 
megetifchen Behandlung der Propheten warb nicht ge 
facht und kluglich andgefonnen, fondern fle drang fich dem 
Verſaſſer nach dem Eindrucke, den die Propheten aufihn 


232 Ambreit 


ansübten, von ſelbſt auf; fie war ein unmittelbares Erzeng⸗ 

niß der vollen Hingebung inihren hohen und erhebenden Geiſt. 
Indem nun biefer Iebendige Beift mitber ergreifenden Gewalt 
„feiner ewigen Wahrheitden Ansleger erfüllte, blieb ihm freis 
lich dad Wort. ded Propheten nicht als ein fremdes -branpen 
fieben, ed warb ihm vielmehr ein inwendiges, das zu 
einer Auslegung trieb, die von der Einigung zeugte und 
fih in der Bezeugung diefer Durchbrungenheit frei ges 
ben und gewähren ließ. So warb ihm der hebräifche 
Tert das gerade Gegentheil von einer Infchrift des Al⸗ 
terthums, etwa -einer phönicifchen, die man erllärt. Ale 
ihm nun die Auslegung, wie von ſelbſt entſtanden, in Dies 
fer Geſtalt vor Augen lag und er fie reflectirend betrach⸗ 
tete, ward er der lieberzeugung, daß fie bei ihrer Ver⸗ 
öffentlihung nügen könne, um befonderd jüngere, em⸗ 
Yfängliche, noch vorurtheilöfreie Gemüther mit deu altem 
Propheten, die vor dem Lärme der neuen ſchwer zu Worte 
kommen Lönnen, zu befreunden. Aber wie follte er den 
Sommentar' nennen und unter welchem Titel ind Publi⸗ 
cum einführen? Das Kind mußte doch einen Ramen has 
ben. Bloß philologifchskritifch war der Kommentar nicht, 
obfhon er aus einer felbitändigen philologifchen For⸗ 
fchung. hervorgegangen und jahrelange linguiftifche Bes 
fchäftigung mit dem altteftamentlihen Grundterte voraus⸗ 
feßte; nicht die Hülle und Form des Worte war Gegen⸗ 
fand. der Behandlung, fonbern der darin enthaltende Ge» 
danke, aber auch diefer nicht in ber gewöhnlichen Weiſe 
ber Erklärung, wie etwa in dem Commentare von Ger 

fenius über Jeſaja, daß der Commentator feine Auf⸗ 

gabe gelöft, wenn er den Sinn deutlich gemacht, wobei es 
ibm gleichgültig, ob er ihm eine Wahrheit. fey, fondern 

ed ſprach fich der lebendigſte Autheil an der felbft erfah⸗ 

renen Wahrheit bed Gedankens aus, und der unanfhalte 

bare Drang, ihn in das volle Richt feiner ewigen. 
Gültigkeit zu Rellen. Wie folte der Verf. nun diefe. Ei⸗ 





proit, Sommentarüb.d. Prophetend. alt. Bund, ıc. 233 


genfchaft des Commentars bezeichnen? — Theologiſch? 
Aber auch der vorberrfchend philologifche Sommentarüber 
bie Propheten wird fi) des Anfpruche nicht begeben, daß 
er doch auch immer eintheologifcher fey, nicht minder and 
einem theelogifchen Intereſſe entfianden nnd. der Theolo⸗ 
gie dienen wolle. Aber vorzugsweiſe theologifcd? 
— So etwas läßt fih doch auf kein Titelblatt ſetzen. 
Bibliſch? — Aber auch biblifch if jeder, obſchon dieſe 
Bezeichnung dem einen mehr eignet, ald dem andesen, je 
sahdem der Verf. die Auslegung in ihrer Bewahrheitung 
nehr and ber Quelle der ganzen heiligen Schrift, ald ans 
fih feld ober and einem Anderen, etwa aus Plato oder 
Arikoteles, oder aus Spinoza oder aus Kant, 
over aus Schelling ober aus Hegel fchöpft; immer 


iR jedech auch Diefed Beiwort der Befchaffenheit dem Miß⸗ 


verſtaͤndniſſe ausgeſetzt, wie esfih au bei DIchaufen’s 
bibliſchem Commentar ein gezeigt. Dogmatifch? — Das 
iR nun aber der gegenwärtige Commentar am allerwenig» 
Ren; denn er ſtellt gar Seine Dogmatifchen Reflerionen am 


ad iR nicht bemüht, feine Ergebniffe an irgend ein Doge 


natiſches Syſtem anzufnäpfen und feinen Einklang mit 
im nachzuweiſen; er gibt nur unmittelbar die lebendige 
Dogmatit der Propheten, ohne fie mit einem fpftematis 
(den Auge zu betrachten und fie in Beziehung zur dog» 
natiſchen Wiffenfchaft zu feben; ja nicht einmal zum Sys 
kur der nenteflamentlichen Lehre, obfchon ihm anzufpü- 
m, daß er won keinem Juden gefchrieben, fondern von 


einem Ehriſten aus heiligfter Meberzeugung und von einem 


Ihtologen, der ſich das Wort gemerkt: „ich bin nicht ges 
Immen, das Geſetz und die Propheten anfzulöfen, fon 
dern zu erfüllen.” Aber er mifcht keine Reflerionen ein, wie 
feinden verdienſtlichen Werken von Delisfch, Hofmann 
m Dehler am Orte find. Auch in diefer Beziehung 
dat Cutſtehung und Beſtimmung des Commentars die evans 
Kühe Kirchenzeitung weniger richtig, Deligfch dage⸗ 


n 


234 Umbreit 


gen viel richtiger gefaßt. — Et hiſch? — Diefe Beuen⸗ 
nung würde wenigſtens paflender als die vorher genannte . 
ſeyn, da die Fttlichserwedende Kraft der prophetifchen 
Mede beſonders und mehr hervorgekehrt M; aber eb if 
doch nicht bloß die Weisheit der Propheten ind Licht ge 
ſtellt, ſondern auch ihr Anfang, die Furcht Gottes, fühl. 
dar gemacht, und nicht bloß das ‚ihr follt Heilig werden,” 
fonbern au dad „Ich bin heilig” wird laut genug ver» 
nommen. Go wäre auch biefe Benennung wenigſtens 
eine einfertige geweſen. — Kirchlich? — Allerdings, 
wenn man ben Begriff der Kirche im Gegenſatze zur ums 
lebendigen theologiſchen Wiffenfchaftlichleit faßt, der ſich 
gegenwärtig immer mehr verliert. Der Commentar weiß 
fih im Eintlange mit dem Kläffigwerben des dibliſchen 
Glaubens in der chriftlichen Kirche, er ift aus der leden⸗ 
bigen Gemeinſchaft des Verfaſſers mit feiner Kirche herr 
vorgegangen nnd knupft Mich in wiffenfchaftlicher Leben⸗ 
digkeit an das kirchliche Bewußtfeyn erregend und förberad 
an, fo daß er auch in diefer Beziehung den Zuſammen⸗ 
haug mit der Theologie der Studien nad Kritifen beur⸗ 
under, bie befonderd von Schleiermacher und Ne⸗ 
ander den Anſtoß empfangen, Aber kirchlich durfte er 
ihn nicht nennen, wenn er nicht Anfloß erregen wollte bei 
Golden, denen er nach ihrem ſtreng⸗kirchlichen Begriffe 
eben nicht kärchlich if. Run denn erbaulih? — 
Der Commentar ift aus dem Blanben gefloffen und mag Den 
Gtauben vielleicht bauen helfen; aber erbanlich zu ſeyn, da⸗ 
rauf iſt er in dem ganzen Tone nicht berechnet, und eine im 
Ansdrucke wohlgemeinte Berechnung liegt immer in ber 
Schrift, die Jemand zur Erbauung fchreibt, — Aber po⸗ 
pulär? — Infofern populär dem Gelehrten gegenüber 
gefeßt wird, erfchiene diefe Bezeichnung für die Korm bes 
Commentares gerechtfertigt; denn bie Auslegung entfaltet 
ſich rein für fi, ohne alle Berührung mit ber Gelehrſam⸗ 
Beit, und ift gar nicht bemüht, ſich als eine ans gelchrter 


prakt. Commentar üb. d. Propheten b.alt. Bund. ꝛc. 235 


Forſchung entfprumgene anszuweiſen. In dieſer Hinſicht 
id ſie für deu Gebrauch der Laien wohl geeignet, tndem 
ih unter dieſen nicht bloß die Nichtgeiſtlichen, ſondern 
auch die Ungelehrten unter den Nichtgeiſtlichen verſtehe. 
Aber die Laien als Ungelehrte theilen ſich wieder in Ge⸗ 
bildete und Ungebildete, und für bie letzteren eignet ſich 
der Ton und Ausdruck des Bortrags anf feinen Kal; im 
Begentheile, Der Bortrag if fo befchaffen, daß er ſelbſt 
sicht allen denen, die ſich zu den Gebtibeten rechnen, 
menden mag, und ed iſt nicht zu erwarten, daß er fi 
uuter den Gebildeten überhaupt Popularität verfchaffen 
werde. Biele werben namentlich am der ortentalifdy bild» 
len Dorfielluugeweife, die freilich Teine gefuchte, ſoudern 
eme dem Verf. gebotene und natürliche war, Unftoß neh» 
men, „ Ueberdieß erfcheint der Eommentar mit einer ges 
Ihrtswißfenfchaftlichen Grundlage unter dem Terte fo zus 
ſanmengewachſen, daß diejenigen, welche ſich den Com⸗ 
mentar nach dem Anshäugeſchilde populaͤr“ verſchrieben, 
wider ihren Willen und Nutzen die unbrauchbare Hälfte 
bitten mit in Kauf nehmen müſſen. Und fo wäre auch 
dieſe Bezeichnung eine mindeſtens täufchende gerwefen. So 
fand der Verf. bei dieſer angeſtellten Ueberlegung kein 
Vort, das ſeinem Commentare nach Sinn und Weſen 
vielen, um feine Befchaffenheit zu bezeichnen, vollkom⸗ 
um angemeffen gewefen wäre. Der Rath lag nahe, bie 
Ienleiter der theologifchen Begriffe ganz zu verlaffen 
md den Eommentar einen poetifchen zu nennen; denn 
die Propheten feyen ja doch nur Poeten unb der Verf. 
rahme fi ja, anf dem Wege Herder’s fortgegangen 
in ſeyn; er habe überdieß von früherher nur fchon als 
ttviel Poeſie in das alte Teftament hineingetragen, und 
er ſey art im Idealiſiren und Herberifiren; oder, da er 
ja das hohe Lied einft äfthetifch erklärt, fo könne er, 
wenn ihm poetiſch nicht anftändig und vieleicht aumaßlich 
uißeine, dafür jenes Beiwort auf den Titel fegen. „Aber 


236 . Umbreit 


die Propheten ſind ihrem Weſen nach keine Poeten, 
wenn ſie auch in der Form der Poeſie geredet haben, 
foubern die älteſten praktiſchen Theologen im Dienſte des 
Einen lebendigen und heiligen Gottes, nnd ale ſolche 
möchte ich ihre ermenertes Studium gerade den jüngften 
Berkündigern des göttlichen Wortes befonders empfohlen 
haben” (Borr. S. VII). Alſo praktiſch fchien mir das 
rechte und einzig mögliche Beiwort der Befchaffenheit für mei- 
nen Commentar, das ſich mir auch unmittelbar ohne alle Res 
flexion, die ich erft jet anftelle, von felbft anfbrang; 
denn wie die Propheten praktifch find, fo iſt es anch ihre 
Anslegung. Sie geben eine adgezogene Weisheit der 
Schule und kommen nicht and einer folchen her, ſondern 
fie find im Leben gebildet, ftehen im Leben und greifen 
handelnd mit den Thaten des Icebendigen Wortes ins Les 
ben ein. Ihr Ausleger aber betrachtet fie nicht bloß, ers 
Härt und beutet fie, bewundert fie höchſtens, ſondern er 
einigt fich mit ihnen und redet ans ihnen. Praftifch fteht 
dem Theoretifchen entgegen, aber eben nur in der prakti⸗ 
fhen Yeußerung und Entwidelung; denn es feht das 
Zheoretifche gewöhnlich voraus, oder wenn ed genialifch- 
praftifch oder unmittelbar thätigs praltifch hervortritt, 
wendet ed fich fpäter zur theoretifchen Betrachtung; es 
. findet in der Regel zwifchen Beidem eine Wechfelbegiehung 
Ratt. Im theologifchen Bereiche wird praktiſch bisweilen 
mit homiletiſch vermengt, und diefed würde für un» 
feren Commentar wieder gar nicht paflen; benn um Dres 
bigtterte and ben Propheten heransfinden zu lernen und 
ans einzelnen Stellen unmittelbaren Gewinn für die Kan⸗ 
zel zu ziehen, dazn if er auch nicht gefchrieben, fo wenig 
er an die Homilien des Ehryfoltomus erinnert. Auch Das 
Zehnifhfördernde wird öfters mit dem Praktiſchen 
verwechfelt; in diefem Sinne iſt der Commentar gerade 
das umgelehrte Ding von einem praftifhen. Er erfparı 
dem, der ihn bennbt, keine Mühe und Arbeit, daß er 


prakt. Gommentar üb.d. Propheten d. alt. Bund. ıc. 237 


Zrivialttäten abhanbelte, die fihon hundertmal gefagt 
find, einen Andıng and belannten Schriften gäbe, bie 
Wörterbücher von Geſenius nnd Winer ercerpirte, 
oder bei jeder grammatifchen Form Geſen ius nnd 
Ewald eitirte u. dgl., fondern er will namentlich auch 
den angehenden Eregeten nöthigen, felbft thätig zu ſeyn; 
und fo ift er denn freilich auch auf dem wiffenfchaftlichen 
Gebiete wieder praktifch, gerade dadurch, daß er dem 
Sraktifchen, wie es leider mit dem Unwiſſenſchaftlichen 
häufig identificirt wird, fcharf entgegentritt. Diefe Bes 
nerkung führt und zur Betrachtung ber unter dem Terte 
der Auslegung befindlichen eregetifchen und kritiſchen Ber 
rehungen einzelner, hefonders fchwieriger Stellen. Und 
in diefer Beziehung möchte der Commentar in feiner ei⸗ 
geathümlichen Form fich noch ganz befonderd praktiſch 
emweifen, weil er bem rein praftifchen Theologen zur Aus 
ſchannng bringt, wie er fich mit der Theorie der Willens 
(haft im Iufammenhange zu erhalten habe, den Theores 
tler aber erinnert, die Ergebniffe feiner wiffenfchaftlichen 
terihung an den lebendigen Geiſt der Kirche anzufuüpfen, 
Bad gerade unfere vorherrfchend praftifche Zeit zu vers 
langen fcheint. Nachdem ich meine Erklärung feſtgeſtellt, 
Wängte ed mich, auch andere Audleger zu vergleichen 
ud mich weit ihnen auseinander zu fegen, bald bie Beis 
kasung ded Einen oder Anderen bezeugend, bald den 
Virerfpruch beleuchtend, mit möglicher Selbftentäußes 
ang, weil ich lieber ganz meinen eigenen Weg gegangen, 
vie ed auch Ewald zu thun pflegt. „Aber gerade weil 
kur worzügliche Ausleger dieſen Weg gegangen, hielt 
4 es hoch für nüglich, wenn befonders jüngere Ereges 
in auch im die neuefte Litteratur eingeführt nnd zunächſt 
in unfere Zeit geſtellt wurden, um etwa beiläufig Freude 
an dem Sinne zu: finden, den ich mir zuſprechen barf, 
in der Benriheilung verfchiebener Erklärungen gerecht, 
müde uud eifach zu verfahren” (Vorr. z. Heſekiel, 





238 AUmbret 


S. XIIL). Diefe Einfachheit wird mas ſowohl in der iri 
Kfchen Behaublung des Terted, in. der niederen, wie iu 
der: höheren, als auch in der eigentlichen Gregeſe wahr 
nehmen. Bor Allem habe ich die ſchlichte Wahrheit Bert 
im Sinne gehabt und ihren mir heiligen Getzote wielfed 
den Ruhm der Originalität zum Opfer gebracht, was bei 


ber Gitelfeit und Sünphaftigkeit ber menfchlichen Natur 


nicht ſo leicht iſt, als man deut: Ginfälle liebe ich in 
ber Geſellſchaft, aber wicht: am Gchreibepuite. Hätte ih 


mic, von der Phamtafle, wie fie mie Gott gegeben, wols 


len keiten laſſen, Hypotheſen zu fpinnen, Eonjecturen zu 


machen und. fogenannte neue Erklarungen zu erſinden, 


ed wäre: mir ein: Leichtes geweſen, bie gläugenbiken Rafe 


ten auffteigen zu laffen und die alten, ehrwürdigen Pre : 


phetengeftahten mit einem mobernen Beilkantfenen zu ums | 
fyielen, dad: die Augen hätte bienben ſollen. Ahber ber 


deiftliche Theolog foR. andy anf: dem Gebiete der Ansle⸗ 


sung das erfte Gebot feined Meifterd: „entäußere dih 


ſelbſt! ſtets vor Augen und im Herzen: haben. Daher 


babe: ich: andy eime Erflärung, wenn fie ein Anderer 


ſchon begründet, fo aufgefährt, ale hätte fie mir biefer 
erſt eingegeben, und es iſt wunderlich, wenn ein Recen⸗ 


ſent, ich weiß nicht wo, bemerkt, daß ich in ber Audle⸗ 
gung bes Jeſaja öfters Geſenins beitrete; „beitzete’? 


Als wenn ich bie Grflärungen, wo diefes ber Fall, nicht 
ſelbſð Hätte finden Tünnen, wie ed. aber Überhaupt gar 
nicht fo ik, wenn man nicht einen oberflächlicyen Blick 


in mein: Buch hineinwirft; denn ich fhimme vielleicht eben 


fo oft mie. Ewald, aber auch olme von ihm abhänsis 
zn ſeyn. Wenn ich auf Die vielgeſuchte Priorität: erpicht 
wäre, fo. könnte ich in. einem auberen Sinne, ale ich es 
bier thne, erwähnen, daß id gweimatüber Jefaja Bor 
lefungen gehalten: und die Erflärung ber meiſten Stellen 
fhon fo feſtgeſetzt, wie fie jetzt gedruckt ſind, che der 
Commentar von Geſenind, ben ich 1882 im den hei 


prakt, Gommentarjäb. d.Bienpbetend. alt. Bund. ıc. 23% 


delberger Jahrbüchern ber Litteratur mit aller Anerken⸗ 
nung, aber freimüthig ausführlich befprochen, erfchienen 
war. Es follte ſich Einer einmal die geiftreiche Arbeit 
vornehmen, zuſammenzurechnen, wie viele Erklärungen, 
um nur in der neyeren Zeit fiehen zu bleiben, Roſen⸗ 
müller von Döderlein und Dathe, de Wette 
von Rofenmäller, Gefeniusvon de Wette u.f,w, 
angenommen! — „lebexlieferung ift Gnade,” fagt Go e⸗ 
the, und felbft er wäre ohne Leffing und Winkels 
mann, Sophokles und Shafespeare beialler Ori⸗ 
ginalitär andy nicht dageweſen. 

So hat denn unfer Sommentar Über die Propheten 
in diefer äußerlich von einander abgefonderten und doch 
innerlich wohl zufammengehörigen Form praktiſcher Aus⸗ 
legung und eregetifch-Britifcher Erklärung nach feiner Bes 
Rimmung bei der Veröffentlichung den befonderen Zwed, 
das religisäsfistliche uud theologiſch⸗wiſſenſchaftliche Ins 
tereſſe gleichmaͤßig in Anſpruch zu nehmen. Bott hat das 
Bert mit feinem Segen begleitet, und Ihm allein gebührt 
am Schinffe befielben mein Dank. Das, was gutan dem 
Werte, gehört dem GBeifte der Propheten, ber mich bes 
rubrte unb erhob, und das wird bleiben und Frucht tra⸗ 
gen; das, was fchledht daran, kommt allein auf Rechnung 
des Verfaſſers und wirb verwehen, wie die Spreu vor 
dem Winde. Die bald nöthig gewordene neue Auflage 
des Gommentared über. Sefaja, der: freilid; am meiſten 
von allen Propheten geleſen zu werden pflegt, beweiß, 
daß deu befolgte Plan. des Buches Fein verunglädker ges 
wen. Es find ſchon viele Gommentare geſchrioben wor⸗ 
des, und ed werben noch viele geſchrieben werden. aber 
jeder Ausleger: merke ſich das Wort des Apoſtels: „es 
iR Ein Geiſt, aber es gibs verſchiedene Gaben.“ 


F. W. € Umbreit. 


‚) Te Kiiefoth 


2. 


1. Theorie des Cultus ber evangelifchen Kirche. Bon 
D. Th. Kliefoth, Prediger zu Ludwigsluſt in 
Medienburg » Schwerin. — Parchim und Ludwigs; 
luft, Berlag der binstorfffchen Hofbuchhandlung. 
1844, 


2, Ueber das Wefen des proteftantifchen Gultus. Eine 
theologifche Unterfuchung von D.&.Lüdemann, or 
dentl. Profeffor der Theologie. (Einladungefchrift zur 
dritten Secularfeier des Todestages Luther’s.) 


„Ein Buch ift eine Pflanze, welde aus dem Boden 
ber Geſchichte hervorwächlt; und in dem Maße nur, als 
es diefes ift, wird ed einen Samen tragen, der in 
die Geſchichte zurückfällt.“ Schon in biefer Aeuferung, 
mit welcher dad unter Nr. 1. anguzeigende Buch ans 
fängt, liegt auögefprochen, daß daſſelbe einen innern, fütts 
lichen Entflehungsgrund hat, baß es ſich als ein dienen» 
des Blied in die Entwidelung der Wiffenfchaft, bier der 
Wiffenfchaft ded Cultus, bineinftelen will. Der Herr 
Verf. befriedigt, wie er erlärt, mit der Entwerfung feis 
ner Schrift zsunähft ein perfänliches Bebürfnig. Er 
fuchte fich felbft Mar zu machen, was er als Diener bes 
Cultus fey und thue. — Weit entfernt, daß hierdurch eine 
unwiffenfchaftliche, fubjective Arbeit entftanden iſt, erfcheint 
diefer innere Drang die wiflenfchaftlihe Schärfe und 
Beltimmtheit vielmehr beförbernd, ja fchlechthin heraus» 
forderud. Denn wodurd fol fich der Einzelne über feine 
Stellung zu irgend einem Lebendgebiete ar werden, als 
dadurch, daß er das adäquateſte Willen deſſelben zu ges 


Theorie des Gultus der evangelifchen Kirche, 241 


winnen firebt, nur biefem Erfannten fein bisheriges Mei» 
nen, Schwanten, Zweifeln und unklares Thun unter: 
wirft? Diefelbe Befonnenheit, aus welcher nach der 
Seite der perfänfichen Beziehung das Buch entfproffen 
it, bewährt fich auch nach der Seite der fachlichen Be⸗ 
gründung. Der Berf. fragt fich nach ber gegenwärtigen 
Stellung bed Gegenftandes, den feine Schrift behandelt, 
Die Antwort ift (5.2): „Wie im Dogma, fo haben wir 
im Cultus ein theilweife Ausgelebtes hinter und; da6 
Reue aber, welches wir im Cultus vor une haben, kann 
nicht ohne lebendigen Zufammenhang mit dem Alten feyn. 
Das Alte nen zu machen, iſt die Mifflon unferer Zeit, 
auch was den Gultus betrifft. Darum liegt für den 
Cultus Heil weder in dem ungefchichtlichen Wege eines 
überproteftantifchen Zurüddrängene auf die Schrift, noch 
in dem ebenfo ungefchichtlichen Wege einer Plane machenden 
Theorie. ALS Aufgabe der Zeit erfcheint, was ber ererbte 
Cultus ſey, nicht bloß gefchichtlich und nach feiner Heußerlich- 
keit, fondern nach feinem Weſen zu erkennen, die Lebens, 
mäcte, aus benen er erwuchs, die Gedanken, die er in 
einen Formen verwirklicht, Die Zwecke, die er in ihnen 
verfolge hat, begrifflich zu erfaffen” (S. 1—9.). 

Die Schrift von D. Kliefoth Felt fid demnach 
eine ähnliche Aufgabe, wie fie Schleiermacdher für 
die Dogmatik ſich vorgegeichnet hat. Anknüpfung an das 
Ueberkommene, Begreifen deffelden und darin Borhers 
deutung auf die Fünftige Geftaltung, fey diefe eine völlige 
Aenderung der biöherigen oder nur eine Modification. — 
einer andern Weife ergibt fich für D. Lüdemann 
die Aufgabe. Ihm iſt die proteftantifche Kirche in ihren 
Rformbeftrebungen ganz befonders auf ihren Cultus bins 
gewiefen. Sie darf nicht ruhen, bis hier ein befriedigen 
des Refultat gewonnen if (S. 7.) Es handelt ſich 
(6. 9.) vor allen Dingen um ein „klares und ficheres 

Theol. Sud. Jahre. 1847, 16. 


242 aliefoth 


Bewußtſeyn der wahren Geſtalt des Cultus im Gegen⸗ 
ſatze zu ſeiner wir klichen. Ein Bild ihres Cultus muß 
der proteſtantiſchen Kirche vorſchweben, worin fe ihn rein 
und frei von feinen empirifchen Gebrechen und Mängeln, 
in feiner normalen Gehalt und damit in der polen Herr 
lichkeit und Schöne erbiidt, in der er die Sehnfucht der 
Gemüuther nach fih erwedt und das Ausgeſchloſſenſeyn 
von ihm als ein bittered, töbfendes Darben empfinden 
läßt.” 

Wir haben hier, Klar ausgefprechen, die beiden mög. 
lichen Anffaffungen des Eultus, die gefchichtliche und die 
fperulative, ein Gegenſatz, der freilich das Element des 
Wiſſenſchaftlichen auch im erften Gliede keineswegs and» 
fchließt. Diefer Gegenfag liegt in der gefchichtlichen Ent⸗ 
widelung des Proteſtantismus felbft begründet. Er Liegt 
in dem Schwanten der Reformatoren über die Princi: 
pien des Cultus; Luther hatte befanntlich ein Bild des 
Cultus entworfen, deſſen Princip die Gemeinfchaft der 
Gläubigen war; er trug aber bad Bewußtſeyn in fi, 
zu einem folchen Eultus noch nicht die rechten Leute zu 
haben. Ihm geftaltete fih demnach für die Wirklichkeit 
der Sultuß nach zwei Seiten hin, nach der pädagogifhen 
und nach der hiftorifchen. Er wollte durch ben Cultus 
predigen und lehren, und zugleich mit möglicher Be⸗ 
wahrung der Weberlieferung dabei zu Werke gehen. Für 
die Gegenwart find nun zwei Behandlungsarten möglich: 
entweder man entwirft die Theorie des Eultus nach dem 
Mrincipe der prieflerlichen Gemeiube, oder man confruirt 
den Cultus, wie er ſich gefchichtlich hervorgebildet, in 
biefer Gonftruction fowohl kritiſch wie weiſſagend ver⸗ 
fahrend. Die erflere Berfahrungsart hat den Schein 
einer Repriftination, den Schein bed Katholifirene,, ob» 
wohl fie in der That eine Sache der Zufunft il und 
den Begriff des Katholifhen, ded Allgemeinen, nicht in 
den Klerus, fondern in die Gemeinde verlegt, Die zweite 


Theorie des Eultus der evangelifchen Kirche. 243 


Verfahrungsart trägt den Schein einer Beſchränktheit 
an fi, einer bloßen Technit und Anweiſung, obwohl 
fie in der That das Amt hat, gerade durch wiſſenſchaft⸗ 
liche Darſtellung den Befiß der Gegenwart in das klarſte 
Bewußtſeyn zu rufen und auf diefe wahrhaft organifche 
Weife die Zukunft herbeisuführen. Anf das beflimmtefte 
muß fi gegen etwaige Mißachtung der lebtern Methode 
eflärt werben, indem nur durch treue Bearbeitung in 
gefchichtlich = wiſſen ſchaftlichem Geiſte eine wahre Oriens 
tirung im Gebiete des Cultus zu Stande kommen kaun, 
indem in&befondere für die Praris vor Allem die richtige 
Benugung und Reinigung der vorhandenen Elemente ers 
Arebt werden muß. 

Eine folche nicht dIoß treue, fondern zugleich auch 
Kharfe, mit Wenigem vielfagende, den Stoff mit beſtimm⸗ 
teſter Klarheit des Gedankens beherrfchende Darftelung 
bietet nnd D. Kliefoth in feiner Theorie des Eultus 
dar. Es ließ fich dieß von einem folhen Verfaſſer ers 
warten. Sein Stoff theilt fi ihm in den Begriff, 
in die Gliederung, in die Gonkruction des Cul⸗ 
nd, Deun er ficht zuerft, wie aus Chriſto basjenige 
Then feiner Gemeine entfpringt, welches ber Cultus 
beißt; er fragt weiter, wie und nach welchen Gefeben 
dieſes Thun ſich zu einer beſtimmten Mannichfaltigkeit 
einzelner Thätigkeiten differenziixt, endlich fucht er nach 
den Grundgedanken und Grundfäden, nach und an wels 
den diefe verfchiedenen Thätigfeiten fich zu dem organi- 
ſchen Ganzen, welches der Cultus if, verbinden (8. 11.). 
Der erſte Abſchnitt, der Begriff des Eultus, entwidelt 
ſih in der Unterfuchung, wie aus Ehriſto die Kirche, 
and der Kirche die Gemeinde, aus der Gemeinde ber 
Caltus wird. Die Kirche erfcheint fowohl als das Wert 
Ehrifi, der gefommen it, in der gottentfremdeten Welt 
dem Göttlichen wieder eine Stätte zu bereiten, als auch 


als die Summe derer, welche mit der von Chrifto allein 
16 * 


244 ; Aliefoth 


ihnen verlichenen Kraft an ihrer Reinigung und Heili⸗ 
gung felbfithätig arbeiten. Sie entfaltetihr Leben, indem die 
Glieder der Kirche Chriſtum darftellen, was aber zugleich 
ein von Chriſto Zeugen if ; je nachdem daffelbe auf die Welt 
oder auf die Gläubigen gerichtet ift, entiteht die miſſio⸗ 
nirende ober die bauende Thätigkeit der Kirche. Diefe 
Thätigkeit macht nun die Kirche zu einer gemeinfamen, 
und fo hört fie auf,. nur die atomiftifche Summe ihrer 
Glieder zu feyn, und wird, über deu Einzelnen fich erhe⸗ 
bend, die objective gefchichtliche Macht, welche ihre Er» 
fheinung in den Symbolen, Kirchengefegen, Kirchen» 
inftituten hat und mit bdiefen ihre einzelnen lieder be, 
berrfchend umfchließt. Doc hat die Kirche ihre Eriftenz 
nur in ihren einzelnen Gliedern; und damit, daß fie, um 
die Thätigkeit ihrer Glieder zu einer gemeinfamen zu 
machen, fich bie Geſtalt eines ethifchen Organismus gibt, 
tritt fie in die Erfcheinung und damit unter die Gefege 
biftorifcher Entwidelung und damit wieder in die Bedingt: 
heit durch Zeit und Raum. So entfteht die Gemeinde, 
Das Mittelglied zwifchen Kirche und Gemeiude ift Lan; 
deskirche; fie felbft aber, Die Gemeinde, ift ein Mittels 
glied zwifchen der Kirche und ihren einzelnen Gliedern. 
Die Thätigkeiten der Kirche wiederholen fi auch in ber 
Gemeinde; wie dort, ift auch bier eine Seite gegen die 
Welt gelehrt, die andere aus der Welt fidy herausnch- 
mend und ſich erbauend zum Tempel Ehrifti.” Die baus 
ende Thätigkeit einer Gemeinde, fo weit fie eine gemeinfame 
geworden, ift der Cultus. Dad ben Cultus bildende 
Thun ift zugleich ein Wert Ehrifi und ein Werk der 
Gemeinde; der Eultus ift nicht bloß von der Gemeinde be: 
fchaffte, fondern ebenfo fehr ander Gemeinde gefchehende 
Thätigkeit. Er erbaut fich aber immer auf deu Grunde 
bed Glaubens; der Unbekehrte ift von der Theilnahme 
am Eultud ausgefchloffen; auch dient diefer nicht Dazu, 
um ſich zu erbauen, fondern wechſelsweiſe Andere bauen 


Theorie des Eultus ber evangelifchen Kirche. 245 


and von Andern gebaut werben, iſt der Sinn bes Cultus 
(5. 15—52.). — 

Bir machen bier einen Halt. Unſchwer wird es ſich 
erkennen laſſen, daß nach der berührten Darſtellung das 
Veſen des Cultus vornehmlich von ſeiner ethiſchen 
Seite aufgefaßt iſt. Der Verf. legt das Hauptgewicht 
auf dad Thun, zerlegt und conſtruirt dieſes Thun, wie 
ed ald ein Thun der Gemeinfchaft erfcheint. Und zwar 
insbefondere nach jener Beziehung hin, inwiefern durch 
diefed Thun das Leben der Gemeinde ſich vollzieht 
und entfaltet, — Diefe Behandlung greift durch das ganze 
Buch hindurch. — Niemand wird leugnen, baß es eine 
durchaus berechtigte und nothwendige Behandlung iſt; 
Jedermann wird fi freien, daß diefe Seite ber Betrach» 
tung in vorliegender Schrift meiſterhaft durchgeführt 
wird, aber ebenfo wird gefagt werden müflen, daß hiers 
mit eben auch nur Eine Seite dargeftellt ift, daß die 
Betrachtung vom fpecififchen Standpunfte der Res 
ligion zurücktrit. Während mehr danach gefragt 
wird, wie die Thaͤtigkeit des Cultus durch die Adern des 
Gemeindeleibes hindurchdringt und deffen Gefundheit fürs 
dert, it Das Verhältniß der Gemeinde und der einzelnen 
betenden Seele zu Gott weniger Gegenftand der linters 
hung, als ihre Vorausfegung. Nach der Einen Seite 
tritt hierdurch freilich das fpecififh Chriftlidhe 
mehr hervor, indem unmittelbar von der Erfcheinung 
Shrifti ausgegangen wird; nach der andern Seite aber 
wird nicht hervorgehoben, welch ein allgemeines Be: 
dirfniß der Religion durch Chrifti Eintreten in die Ges 
fhihte erfüllt und wie der chriftliche Gultus hierdurch 
aiht bloß das Thun einer chriftlichen Gemeinde, fondern 
zugleich die Verwirklichung des Begriffes des Betens 
überhanpt iſt. Denn auf den Begriff des Betens ſtützt 
ſich doch zuletzt die Theorie des Cultus; das Beten iſt 
die Subſtanz des Cultus; es iſt die That der Religion, 


246 Aliefoth 


und der Cultus erſcheint als die ethiſche Organiſation 
dieſer That. 

Bon dem Standpunkte des Religiöſen aus unternimmt 
D. Lüdemann die Betrachtung über dad Weſen bes 
chriſtlichen Cultus. Ausgehend von der allgemeinen Bor: 
ſtellung, „der proteftantifhe Cultus fey die nur im 
feierlichen Worte und Symbole ſich vollziehende, gemeint 
fame umd öffentliche, dem Bekenntniſſe der proteflantifchen 
Kirche entfprechende Darftellung der Neligion,” faßt er 
zunächſt das erfte Moment diefer Borftellung ins Auge 
und begreift den proteftantifchen Cultus als feierlich ſym⸗ 
bolifirende Darftelung der Religion. Er geht auf den 
Begriff der Religion zurüd und hebt hier gerade das 
Myftifche in diefem Begriffe hervor, die Anerfennung des 
Einen ewigen, abfoluten Seyns als bes abfolut Macht: 
und Werthooflen, eine Anerkennung, die nnr aus einem 
geheimnißvollen, innern Contacte, einer feelifchen Berüb- 
sung, einem plAnua äyıov ded Einen ewigen, abfoluten 
Seyns zu erflären ſey. Es ift dem Berf. gerade um den 
beſtimmten Linterfchied zwijchen dem Religiöfen und Sitt⸗ 
lichen zu thun, er weiſt nad, warum in der Religion 
das Bedürfniß liege, fich nicht allein im fittlihen kLebens⸗ 
zufammenhange, fondern in einer beftimmten Sultusgefalt 
su offenbaren. Während alfo Kliefoth von dem Bes 
griffe der Gemeinde ausgeht, nimmt Lüdemann feir 
nen Ausgangspunkt vom Begriffe der Religion, und, 
um dieß gleich vorauszunehmen, ed wird demnach Nie: 
mand wundern, wenn erfterer feine Beranlaflung findet, 
das Kunftelement innerhalb des Eultus befonders gu be- 
rüdfichtigen, während letzterer, wenn er fidy auch nicht 
näher auf die Betrachtung der Kunſtbeziehnngen einläßt, 
doch den Begriff des Symbolifchen, fo wie den ber Ans 
dacht ausführlicher behandelt. Auch hier, dünkt ed mich, 
liegt im Begriffe bes Gebetd das Zufammsenfchließende. 
Das Gebet reicht weiter, ald dad allgemeine religiöfe 


Theorie des Gultus der Evangelifchen Kirche. 247 


Gefühl; im Geber iſt dieſes ſchon zur beſtimuten That 
geworden, ohne feines eigenthümlichen Hauches bes 
saubt zu fegu. Dad Geber fließt, wo es in Mitte 
Mehrerer ſtattſindet, biefelben zu einer Einheit zuſam⸗ 
men, gleichwie ed, aus der einzelnen Seele ausftrömend, 
sicht minder eine Beziehung anf Alle hat; denn es if 
ja der in Allen identifche Lebendgrund, welcher fich in 
itm offenbart. Das Gebet fchafft alfo aus einer Mehrs 
beit immer eine Einheit, und zwar eine dur Individua⸗ 
lfrung belebte. Der Cultus iſt mithin allerdings nicht 
ein nur Sich⸗ erbauen des Einzelnen, aber auch nicht ein 
sur wechfelfeitig Aufeinanderwirken, fondern die Bezies 
bung des Thuns im Cultus auf jenes Eine, ewige, abfos 
Inte Seyn, wie fie fi im Gebete ausdrückt, hebt biefen 
Gegenſatz des einzelnen Selbft zu den Andern auf; indem 
cn Feder ſich felbft erbaut, erbaut er auch die Andern, 
In der That der Gemeinde fällt das Erbauen des Ein: 
seinen wie der Andern, der individuelle Genuß wie das 
wechfelfeitige Thun, das Aefthetifche wie das Teleologifche 
nfaumen. — . 

Der zweite Hauptabfchnitt in der Schrift D. Klier 
foth’ 8 behandelt die Gliederung des Cultus nad 
den drei Haupifragen: 1) wie die Rollen (?) der Thäs 
tigkeit unter den Einzelnen vertheilt werden follen; 2) 
was im Einzelnen geihan werden, und 3) wann und wo 
8 gethan werden fol. Die Beantwortung diefer Fras 
gen gibt die Abſchnitte 1) von den im Cultus tätigen 
derfonen, von den Eolenten; 2) von den einfachen 
ven Cultus conjtituirenden Thätigfeiten, von den Ele, 
senten des Cultus; 3) von ber Bindung des Eultus 
an beflimmte Momente — von Zeit und Ort bes 
Cultus. 

In der Entwickelung dieſer Abſchnitte treffen wir auf 
eine Fülle der ſchaͤrfſten und förderndſten Sätze. Wo 
der Verf. hingreift, gibt er uns nicht allein in directer 


248 Allieſoth 


Beziehung auf den Cultus, ſoudern, ich möchte ſagen, 
noch viel mehr in Beziehung auf den Kreis der Discipli⸗ 
nen, die er bei feinen Erörterungen berührt, z. B. der 
Lehre von der Kirchenverfaflung, der Homiletik, die Übers 
ſichtlichſten und gehaltreichiten Winke. 

Der Eultus entwidelt fih dem Berf, (S: 56.) aus 
der unbeflimmten Formlofigkeit, in welcher die zuſammen⸗ 
gefommene Gemeinde gemeinfam handelt, zum firirten 
Unterfcjiede des Gebend und Empfaugene Das rechte 
Verbhältniß, weldyes im Eultus fäümmtliche Glieder gegen 
einander haben follen, ift dag ber Wechſelwirkung; die 
Alteration deflelben bringt entweder das hierarchifche oder 
das demofratifche hervor (S.60.). Es wird nachgewiefen, 
inwiefern der Geiftliche ebeufomohl Diener der Gemeinde 
wie Diener Ehrifti il. Das rechte Berhältnig zwifchen 
dem Geiftlihen und der Gemeinde wird im Eultus und 
durch denfelben dadurch bargeftellt und erhalten, daß der 
Eultus in einem Wechfel der dreifachen Acte befteht, zus 
exit der Thätigfeiten, in welchen die ganze Gemeinde, 
den Geiftlichen mit eingefchloffen, als zufammen handelnd 
erfcheint, fodann derjenigen, in denen der Geiftlicdhe ale 
der Thätige gegenüber der empfangenden Gemeinde auf: 
tritt, und zuleßt derjenigen, in denen zwar der Geiftliche 
die Initiative hat, aber auch die Gemeinde. als die thä⸗ 
tige gegenüber dem empfangendben Geiftlichen erfcheint 
(S. 70.). 

Diefer Gegenfak von Geben und Nehmen (Empfans 
gen) findet fih nun auch bei D. Lüdemann (©. 22.2. 
Und zwar, fehr bedeutungsvoll, auf der Baſis des Begrif; 
fed der Andacht. „Die Andacht vollzieht fich”, heißt ee 
daſelbſt, „theild weil in ihr, wie in allem innern und 
äußern Thun, fich die dem Menfchen wefentliche Einheit 
von Spontaneität und Receptivität geltend macht, theile 
weil ihre Grundelemente, als ſich beziehend auf das ab⸗ 
folut Macht» und Werthvolle, abfolute Bewunderung und 


Theorie des Cultus der evangelifchen Kirche. 249 


Genäge And — wefentlich in einem Wechſel von Geben 
uud Rehmen, indem der Menich ebenſowohl dem, was 
er für Gott empfindet, Raum gibt, ald auch wiederum 
an Gott als feinem hödhften Gute ſich weiber.” Der Verf. 
gewinnt dadurch den Unterſchied von Vecherrlichung und 
Genuß Gottes, von Adoration und Sontemplation, refp. 
fecramentliher Sumption, Opfer und GSegnung, — 
dienſt und Erbauung (S. 23. 24.). 
Es begegnet uns bier. daſſelbe, was ſchon REN als 
darakteriftifich für die beiden Darftellungen angedeutet 
iſt Derfelbe Proceß, der fich für Kliefoth innerhalb 
des Thuns der Gemeinde ergibt, ſtellt fich für Lüdes 
mann fchon im Wefen der Andacht felbit dar. Wir 
lernen hieraus, daß eine Anfhauung die andere nicht 
etwa aufhebe, fondern ergänge; wir fehen, wie eine 
Theorie. ded Enltus Iegtlich darauf hinandsgehen muß, 
nachzuweiſen, wie die innere Bewegung in der Andacht 
in dem Thun der Gemeinde ſich auspräge, wie die Dias 
letit der Andacht zur wechfelmirkenden Thätigkeit der 
Gemeinde werde. Auf den erften Anfchein' könnte man 
weinen, es würde hierdurch dem Geiftlichen durchaus 
eine hierarchiſche Stellung angewieſen, indem die Mo⸗ 
nente des Göttlichen, die in dem Proceſſe der Andacht 
vorfommen, natürlich in den Darſtellungskreis des Geift- 
ihen fallen. Auch ift nicht zu leugnen, daß aus der 
Iertennung der Wahrheit diefes Verlaufes, aus ber 
Hypoſtaſirung jener Momente des Göttlichen der heids 
he Charakter des Priefters. entfprungen ift, ein Chas 
talter, nach welchem der Priefter zugleich den Bott dars 
Relt, Aber aus dieſer Verirrung fchaut zugleich die 
innere Wahrheit heraus. Denn es darf ja nicht liber- 
den werden, daß jener Proceß der Andacht, die Be 
tührung des Gottesbewußtſeyns und Selbſtbewußtſeyns, 
innerhalb des Menſchen vorgeht, nicht als feine eigene 
willurliche That, fondern nach dem innewohnenden Zuge 





250 Kliefoth 


des religiöfen Lebens ſelbſt. Der Abdruck biefer Bewe⸗ 
gung der Andadıt, wie fie innerhalb des Menfchen ats 
Spontaneität und Receptivität ſich erweiſt, ift eben ber 
Enltus der Gemeinde, und fo wird die Gemeinde in ihrem 
eultusmäßigen Thun zu Einer großen Perfönlichkeit, Fra⸗ 
gen wir nun bier wieder nach dem Weſen des Gebets, 
fo treffen wir darin die Womente,. ded Gebens und Rehr 
mens verwirklicht. Der Betende gibt ih an Gott hin; 
er bringt fih dar, feine ganze Eriftenz tritt er an Gott 
ab, ebenfo aber empfängt er diefelbe wieder, erneuert, 
verklärt, gefördert; er eignet fich göttliche Lebenskraft 
an. Es iſt gewiß einfeitig, mit Ebrard (Berf. e. Lie 
turg. u. ſ. w. ©. 15. Anmerk.) dad Beten nur ale ein 
Nehmen aufzufaflen, wie es die entgegengefette Einfeitig- 
feit bleibt, das Beten nur als Dingabe und Opfer zn 
betrachten. Stellen wir nun den ganzen Gultus auf die 
Baſis des Gebets (freilich gegen Kliefoth, S.79.), fo ers 
geben ſich nnd als bie Endpunkte des Gultus, infofern 
er verwirklichte Darftellung ded Gebet iſt, die Hin 
gabe an Gott und das Empfangen von Gott; 
jene ansgedrüdt im Altardienfte (Lobpreifung Gottes, 
Sündenbefenntniß, Lection und Credo), diefes im Abends 
mahledienfte. 

Dieß führt und weiter gu der Darftellung der Ele 
mente des Gultus, wie fie Kliefoth gibt. Als folche 
Elemente werden Bredigt, Sultushandlungen ımb 
Gebet angeführt, Es wird mit Recht als unrichtig er- 
Härt, dad Symbol oder die Kunft ald ein drittes ober 
vierte® Cultuselement neben die Predigt und die kirchliche 
Handlung fiellen zu wollen. Die Kunſt bezieht fich inner 
halb des Cultus nie anf den Stoff, immer auf die Form. 
Ausdrücklich aber verwahrt fich der Verf. (S. 79.) gegen 
ben Berfuch, biefe Dreiheit von Eultuselementen, Prebigt, 
Cultushandlung und Gebet, auf eine Einheit fo zurückzu⸗ 
führen, daß man eined derfelben als die Grundlage der 


Theorie des Eultus der evangelifchen Kirche. 251 


beiben anbern anfehen müßte, und kämpft befonders ges 
gen die Anficht, daß der ganze Cultus Gebet fey. — Ehe 
wir anf diefe Anfchauungsweife mit einigen Worten ein⸗ 
gehen, überbliden wir den Inhalt dieſes Abſchnittes. 
Der Predigt gibt nach allen Seiten folgendes Bier- 
fache ihre Berimmtheit: „daß die chriftliche Wahrheit, 
wie ffe in der Gemeinde Geftalt gewonnen hat, der Ins 
halt der Predigt, daß die Gemeinde felbft die predigende, 
daß fie ſelbſt auch wieder die hörende ift, und daß fle fo 
thut mit der beftimmten Abficht, fich in Chriſto zu fürs 
dern und zu bauen” (S. 81.). Damit aber die Gemeinde 
ihr ſelbſtdarſtellendes Wort zu einem reinen Zeugniffe von 
Ehrito mache, bedarf fie eines Correctivs, an dem fie 
fih felber und ihre Predigt meile, und dieſes Gorreetiv 
hat fie an der heiligen Schrift. (S. 100.). Im Cultus 
fol indeffen nicht bloß die Schrift reden, denn alsdaun 
müßte man beim bloßen Borlefen biblifcher Abfchnitte 
fiehen bleiben, fondern die Gemeine foll reden ans fidh 
und von füch im Lichte der Schrift (S. 103.). So daß 
man ſagen kann: bei einer Predigt, bie ift, wie fie feyn 
fol, hat die Gemeine an der Entftchung und Vollführung 
der Predigt einen andern, aber eben fo vielen Antheil 
ald der Prediger, und je mehr biefer die Predigt zu einer 
Stimme aus der Gemeinde madıt, um fo mehr ift auch 
die Gemeinde an ihr und in ihr mitthätig (S. 104). — 
Bas nun die Cultnshandlung betrifft, fo gibt ihr gleich⸗ 
falls ein Bierfaches ihre Beltimmtheit: „daß Ehriftus und 
fein Geift der Grund und Inhalt der Gultushandlung, 
daß die Gemeinde die fie übende und auch wieder der 
Gegenftand, an welchem fie geübt wird, und daß der 
Zweck derfelben das Erfüllen und Heiligen mit der Kraft 
des Herrn if” (S. 105.). Eultushandlungen können nur 
felhe Handlungen ſeyn, weldhe von der Gemeinde an 
Menſchen, welche ihre Glieder find, gefchehen, mit der 
beffimmten Abſicht, fie in Chriſto zu fördern (S. 107.). 


‚252 Kliefoth 


Das Brineip aber, nach welchem bie Gemeinde ans bem 
@efammtgebiete defien, was fie zur Pflege ihrer Glieder 
thut, Einzelnes ausfondert und als firirte Gemeindehand⸗ 
Iung in den GEultus aufnimmt, entfpringt aus der Be 
trachtung der Grundverhältniffe und Hauptwendepunkte 
des menfchlichen Lebens (S. 110.). Solche Hauptwendes 
punkte find: 1) die Geburt, 2) der Austritt aud der 
‚ Kindheit und Heimath in die Welt, 3) die Schließung 
ber Ehe, 4) der Tod. Go ergeben fich die Eultushands 
Inngen der Taufe, Eonfirmation, Eopulation und Beerdis 
gung (S. 114.). Alle diefe Eultushandlungen find wefents 
lich fombolifche Handlungen (S. 116.), deren Unanges 
meflenheit und Bieldentigfeit freilich dazu treibt, an das 
Zeichen und dad Symbol die Kormel zu fnüpfen (S.118.). 
Wenn nun aber diefe Handlungen von der Gemeinde 
ausgehen, ſo kann fie, wegen der anllebenden Sünde, 
nicht ſicher feyn, ob diefelben Leiter der Kraft EChrifti 
oder nidyt vielmehr Leiter der ihr (der Gemeinde) noch 
anflebenden fündigen Trübungen feyn werden (S. 120.). 
Darum bedarf fie auch für die Sultushandlungen des 
Gorrectiveg, und biefed hat fie an den Sacramenten Der 
Taufe unb des Abendpmahles (S. 123.), an welche 
fie der Ergänzung wegen ihre eigenen @ultushandlungen 
anlehnt (S. 124,). 

Als drittes Element im Eultus erfcheint das Gebet. 
Es liegt in der Natur hriftlichen Lebens, jede That zu 
beginnen mit einem Gotted Gnade durch Jeſum fuchens 
deu Bittgebet und fie zu fchließen mit einem Dank» 
gebete (8. 134), wozu noch eine dritte Art des Gebete 
tritt, das anbefehlende Gebet, welches das von Bott 
im Leben Gegebene ald Gabe Gottes aufnimmt und wies 
der in feine Hand zurüdlegt (S. 135.). Diefe drei Fors 
men des Gebetes erfcheinen auch im Cultus, ja der Euls 
tus kommt exit durch das SHinzutreten ded Gebet zu 
Predigt und Handlung vollſtändig zu feiner Idee (S. 136.). 


Theorie bes Gultus der evangeliſchen Kirche, 253 


Es liegt aber auch in der Natur der Sache, daß es fein 
Predigen und feine Eultushandlung ohne Gebet gibt. 
In den Kreis des anbefehlenden Gebets if nur das 
bineinzugichen, was wicht bloß das einzelne Gemeindeglied 
in feinen weltlichen Sonderintereffen, fondern zugleich bie 
ganze Gemeinde in ihren chriſtlich⸗ lirchlichen Beziehungen 
mit ergreift a). 

Aus dem Gebete, das im Eultus öffentlich und laut 
wird, entwidelt fich der Gemeindegefang (S. 141.). Durch 
den Bemeindegefang iſt die Poefle, durch das Singen der 
Lieder, Gebete und Antiphonieen ift die Muſik dem Enl- 
tus Bieuftbar geworden (5.147.), wobei der’ Berf. auf 
dad firengfie gegen jeden Kunſtgenuß proteftirt. Die 
drage nach dem agendariſch Beftimmten wird im Ganzen 
zu Gunften des Firirten entfchieden (S. 144—147.) und 
‚um Schluffe des Abſchnitts auf das Gebet des Herrn 
bingewiefen, welches, wie die Schrift für die Prebigt, das 
Sacrament für die Eultushandlung, fo für das Gebet , 
correctiv fey (5. 149,). Der Raum verbietet und, dem 
folgenden Abfchnitt über Zeit und Ort des Cultus näher 
u berühren; es fpricht ſich darin, namentlich wa® bie 
Arhitettur betrifft, ein fireug proteftantifcher Geiſt 
aus, „Im proteftantifchen Cultus gibt's wohl ein Predi⸗ 
gen von ben Dächern, aber nicht ein Prebigen durch die 
Dächer.” — „Eine einzige Predigt und ein einziges Kir⸗ 
henlied Vol echt proteftantifcher Glaubenskraft ift ein 
beſtimmteres und ausdrucksvolleres und darum and Fräfe 





ı) Der Berf. fagt: „Die Gemeinde bittet und dankt (in ihrem 
Fürbittengebete) zugleich auch für ſich. Sie bittet nicht blog für 
die Obrigkeit, fondern auch, daß fie ſich hriftlich gegen bie Obrig⸗ 
Leit Halten möge; fie bittet nicht bloß, daß Gott die Kranken 
erhalte, fondern daß er fie ihr erhalte; fie dankt nicht bloß für 
das bem Gebosenen geſchenkte Leben, fondern audy für bas ihr 
geſchenkte Glied. Und man kann es nur unrichtig nennen, wenn 
felb ft agendariſche Formulare das anbefehlende Gebet zu einem 
bloßen Zürgebete verengen.” 





254 | aliefoth 


tigeres Zeugniß von Chriſto, als ſelbſt ein cölner Dom” 
(S. 159.). 

Was den eben bezeichneten Abfchnitt betrifft, fo erhe⸗ 
ben ſich gegen verfchiedene Auffaffungen in demfelben, wie 
und fcheint, nicht bedeutungsloſe Gegenreden. Zunächſt 
fragen wir, ob fich zwifchen den Hauptabtheilungen, die 
Kliefoth madt: „Bliederung des Eultus” und „Sons 
ſtruction deſſelben“, in der That ein trennender Unterfchied 
ergibt. Die Gliederung des Eultus hat ja nicht etwa nur 
die zerfireuten Glieder des Gultus aufzuzeigen, fonbern 
fie ift eben dadurch Sliederung, daß fie den Zufammen 
bang diefer Glieder erweiſt; nach diefer Seite füllt fie 
mit dem Begriffe der Conſtruction faſt zuſammen. Auch 
wird nicht gezeigt, warum die Elemente des Cultus nur 
Predigt, Cultushandlungen und Gebet find, ob dieß im 
den inneren Grunde der bauenden Thätigleit liege, Die 
den Cultus conflitmirt, oder in der firchlichen Sitte. Auch 
bier erfcheint und die Furcht des Berf., den Cultas aus 
dem Einen Grunde bed Gebets herzuleiten, ald die Ur⸗ 
fache diefes Mangels. Uud doc haben wir oben gefe 
ben, daß der Verf. durch die Natur der Sache gebrängt 
wird, dem Gebete eine fpecififche Bedeutung beizulegen; 
er fagt es ausdrädlich, daß der Cultus erft durch Das 
Hinzutreten des Gebets zu Predigt und Handlung voll: 
fändig zu feiner Idee komme ©. 141. ſtoßen wir anf 
den Sag: „im Gebete werben wir alle drei Formen bes 
Enltus Finden; Sefammtihätigkeit der Gemeinde und bes 
GBeiftlichen, Alleinthätigfeit des Geiftlichen Namens der 
Gemeinde und wechfelöweife Thätigkeit des Geiftlichen und 
der Gemeinde.” Alfo ſehen wir, wie auch ber Berf. die 
eigenthümliche, den ganzen Cultus durdhgreifende Stel: 
ling bes Gebets anerkennt, eine Stellung, die in diefer 
Weite weder Predigt noch die heiligen Handlungen theis 
len. Was, wenn wir nicht irren, den Verf. vorzugsweife 
abgehalten haben mag, das Gebet in diefer Weife zu bes 
handeln, ift, daß er feinen Grund fieht, wie bie übrigen 


Theorie des Gultus der evangelifchen Kirche. 255 


Theile bes Cultus aus dem Gebete hergeleitet werben 
können, namentlich weift er die Herleitung der Predigt 
and dem Gebete ab. In dieſem letzteren Punkte müflen 
wir dem Berf. allerdings Recht geben, und erflären bie 
Darstellung, die wir felbft in unferer Theorie des Eultus 
(©. 353 f.) gegeben haben, für einfeitig, zu foftematifch 
und ber Berichtigung bebärftig. 

Des Berf. befchreibt die Predigt als vorzugsweiſe 
and der Gemeinde hervorgehend; die Bemeinde predige 
ſich felbfi Durd) den Mund des Geiſtlichen, wobei freilich 
nicht überſehen werden dürſe, daß, indem die Gemeinde 
auch die That Chriſti ſey, der predigende Geiſtliche zu⸗ 
gleich als Orgau Ehriſti erſcheine. Jede andere Auffaſ⸗ 
fung der Predigt ſieht der Verf. als eine miffionarifche 
an, nicht aber als eine cultusmäßige; die Prebigt, wenn 
Be nicht eine miffionarifche feyn ‚fol, hat nicht (nah ©. 
82. 83.) won Ghrifto zu erzählen, fondern zu bezeugen, 
was die Gemeinde au Ghrifto hat. Zur Erörterung bie 
ſes Betreffs fcheinen nun vorzüglich zwei Punkte hervors 
gehoben werben zu müflen, einmal die Stellung der Pres 
digt zum Eultus überhaupt und fodann das Berhältniß 
des Miffkonarifchen und Eultusmäßigen zur Predigt. — 
Bas den erfien Punkt betrifft, fo fireitet Die Anfchauung, 
weiche die Predigt aus dem Gebete herzuleiten verbietet, 
richt minder gegen jene Anficht, nach welcher die Predigt 
überhaupt als gleichartig in die Reihe der übrigen 
Caltus elemente gefeht wird, Mit ber Prebigt verhält es 
fihh auf eine eigene Weiſe. Wir fagen: aller Cultus bes 
ruht duf Offenbarung. Derienige Cultus wird nun, ges 
wäß dem allgemeinen Lebenögefege, nach welchem, was 
den Grund als Seele und Bewußtſeyn in ſich trägt, das 
Reiffte ii, der vollendetſte ſeyn, in welhem ber Grund 
an zum Bewußtſeyn geworden if. Daraus fließen ihm 
fortwährend Kräfte feiner Erhaltung zu; daran hat er 
die ſtete Norm feiner Erfcheinuug und Bildung. Diefen 


! 





256 Kliefoth 


zum Bewußtſeyn gewordenen Grund hat der Cultus an 
feiner Predigt; die Predigt ruht auf der Offenbarung. 
des Wortes, fie ift Bezeugung, Darftelung, man kann es 
fagen, Fortfegung diefer Offenbarung ; fle gibt jedem Cul⸗ 
tus erft fein vollkommenes Recht der Eriftenz, fie ift die 
göttliche Legitimation beffelben. Indem fie im Cultus 
felbft erfcheint, vom Menfchenmunde mitten in der Ge 
meinde audgefprochen, erkennen wir bie Herablaffung dies 
fed ewigen Wortes in unfere Mitte, erfahren feine Im⸗ 
manenz voller Gnade und Mahrheit. Darum barf an 
dem Sinne des Iuther’fhen Wortes: „kein Gottes⸗ 
dienft ohne Predigt,” nichtd gemäkelt ober verändert wer: 
den, und wenn man in neuerer Zeit mit einer gewiflen 
Berachtung anf das fletige Prebigen im proteftantifchen 
Eultus hingeblickt hat, fo fol zwar nicht geleugnet wer 
den, daß befonders durch die Schuld ber Perfonen die 
ſes Predigen oft in ein fubjectived und fchales Gerede 
ausgeartet ift, ed foll ferner eben fo wenig in Abrede ge 
ftellt werden, daß nicht jeder Gotteödienft eine menſch⸗ 
liche Rede nöthig hat, aber darauf muß beftanden werben, 
Daß es Leinen Gottesdienft ohne Wort Gottes gibt, fey 
dieſes Wort Gottes entweder das einfach wiederholte, 
oder durch menſchliche Rede erweiterte" und ausgelegte 
Wort der Schrift. — Hiermit hängt nun die zweite Frage 
nach der mifflonarifchen oder cultusmäßigen Stellung der 
Predigt auf das engſte zuſammen. Seitdem bie Homis 
letik mehr nach eigentlich theologifchen Principien behan⸗ 
beit wird, feitbem erft ift Diefe Alternative entfchiedener herr 
vorgetreten. Palmer gibt der Predigt vorwiegend eine 
cultusmäßige Unterlage, die neuefte Bearbeitung der Ho 
miletik von Ficker eine ausſchließlich miffionarifche. Aber 
es muß geſagt werden: iſt denn für die Predigt diefer 
Gegenſatz wirklich ein ſo ſtarrer? Die Predigt iſt Zeug⸗ 
niß von Chriſti Erſcheinung, yon Ehriſti Gnade und 

Kraft, von Chriſti Reich. Dieſes Zeugniß wird ausge⸗ 


Theorie des Gultus der evangeliihen Kirche. 257 


ſprochen gegenüber der Welt, damit diefe zum Reiche 
Gottes werde, in der gefammelten Gemeinde, damit diefe 
immer mehr wachfe in der Erfenntniß Chriſti, in dem 
Reihthume der Liebe, in der Ueberwindung der Welt. 
Es find diefelden Thatfachen ber ewigen Liebe, durch 
deren Verkündigung das ftarre Herz gebrochen, das ges 
brochene befefligt und weiter in feiner Erbauung geführt 
wird. Wir, die wir fchon in der Gemeinde ſtehen, haben 
doch jeden Tag von diefen Thatfachen zu leben. Die 
Miffionspredigt hat nicht weitläufige Gründe aufzuzaͤh⸗ 
in, wodurch der in die Sünde und ihr Elend verfunfene 
Menſch zur Ueberzeugung des dhriftlichen Glanbens her» 
übergeleitet werden fol, fondern fie hat das Wort der 
Gündenvergebung, die Offenbarung der göttlichen Gerech⸗ 
tigfeit und Gnade zu verfündigen, damit dadurch neues 
keben gezeugt werde, fie it Zeugniß. Die Cultus⸗ 
predigt verkündet auf der Borausfegung des Glaubens 
die nämlihen Thatfachen; fie bringt diefelben in Vers 
bindung mit unferem ganzen Lebenskreiſe; fie zeigt eines, 
theild Die Tiefe der Weisheit, die in diefen Thaten Gots 
tes liegt, anderntheils die Weite der Beziehung, welche 
diefe Thaten mit unferem fittlichen Zuſtande in allen feis 
um Verzweigungen haben. So ergibt fih denn aller 
dinge auf Grund der Einheit der Gubflanz eine Ber 
Ihiedenheit in der Form von Mifflonds und Eultuspres 
die. Diefe Berfchiedenheit drückt fich vor Allem in der 
Stellung Der Predigt aus innerhalb des Cultus felbft. 
Bir Haben hierüber ein intereffantes Zeugniß von Luther. 
In einer feiner Iiturgifchen Arbeiten äußert er, man 
wife im Grunde die Predigt dem eigentlichen Gottes⸗ 
diente vorangehen laſſen. Damit if die Mifffonspredigt 
gemeint. Indem nun in unferem gegenwärtigen Eultus 
die Predigt in der Mitte flieht, wird bezeugt, daß fie ſich 
ans Vorausſetzung bed Glaubens geftalte (wie ja auch 
nach urfprünglicher Anordnung ber Predigt das Eredo vor⸗ 
Theol. Sud, Jahrg. 1847, 17 


\ 


258 . Kliefoth 


angeht), dauß fie dabei freilich nadı dem Bebärfniffe der 
Gemeinde ihre Berfündigung auöfpreche, da fie bean bald 
mehr dem miffionarifchen (erwedenden), bald mehr dem 
doctrinellen (banenden) Elemente ſich zuneigt. So wie 
die Offenbarung das Beten als innere Grundſtimmung 
bervortreibt, fo dad Wort Gottes dad Gebet ald äußeren 
Act; wie das Beten nicht bloß ein ſich Hingeben, ſondern 
auch ein Aneignen, ein Nehmen ift, fo bleibt der Gottes⸗ 
dienſt auch micht bei dem bloßen Geben im Altardienfle 
ſteheu, fondern ift weiterhin ein Nehmen, ein Aneignen, 
was ich im Sacramente vollzieht; zwifchen jened Geben 
und dieſes Nehmen ſtellt fich die Predigt in bie Mitte, 
gibt jenem Geben das Ziel, zeigt, woher und was zu 
nehmen. So werden Offenbarung und Yrömmigleit, in 
deren Ineinandergreifen die Religion befteht, im Eultus 
ausgedrüdt, der Gultus wird zur Darftelung der Relis 
gion in ihrer concreteften und reifſten Geſtalt. Gedenken 
wir hierbei des Satzes unſeres Berf., daß die Gemeinde 
und ihre Gultuöthat das Werk fowohl der Gemeinde, 
wie Chrifti ift, fo geftaltet fidh und diefer Satz nad uns 
ferer Auffaffung noch zu einer reicheren Entwidelung, 
indem wir fagen: dad Gebet, d. h. der Altarbienft, if 
wefentlich That der Gemeinde, die Predigt That Ehriſti, 
und im Abendmahle durchdringen fich beide Actionen, 
Aber eben mit der Stellung, die ber Verf. dem 
Abendmahle im Cultus gibt, können wir und nicht bes 
freunden. Es tritt als eine fünfte Cultushandlung zu 
den übrigen vier: Taufe, Sonfirmation, Copulation, Der 
gräbniß; dieſe Ießteren haben am ihm ihr Eorrectiv, 
Hierbei bleibt ed zu verwundern, daß dem Berf. bie Stel⸗ 
lung , in welche hierburd, die Taufe geräth, wicht aufge 
fallen if. Die Tanfe it nach der Fliefotb’ichen Auf: 
faffung fowohl Cultushandlung ald Sacrament; fie bat 
als Sultushandlung zugleich au ſich, ald an einem Sacra⸗ 
mente, ihr Eorrectiv. Uns ficht noch immer bie Ueber⸗ 


Theorie des Eultus ber evangelifchen Kirche, 239 


zeugung fe, daß ſowohl durch die geſchichtliche Ents 
widelung bed Cultus, als durch feine theoretifche Ber 
handlung die Aufgabe fich herausſtelle, nachzuweiſen, ins 
wiefern in ber facramentalifchen Feier der Cultus 
fh vollende und weiche Stellung darum dieſes Sacra« 
mentalifche zum Gultus überhaupt einnehme Die Se 
gengrände Kliefoth's haben ung Diefe Ueberzengung nicht zu 
erfchättern vermocdht. Befonderd S. 168, ımd 169, finden 
wir nämlich die Polemik gegen bie Sinfügung des Abend⸗ 
mahls in den Organismus des Gotteödienfies, Wenn 
ed dafelbft heißt, diefe Einfügung könne nicht dadurch bes 
gründet werden, daß man fage, im Wbendmahle fhefle ſich 
die Idee der Gemeinfchaft am volllommenften bar, denn 
nicht das Abendmahl allein, fondern jeder Aet des Ent 
ms fen ſowohl ein Suchen und Werden ber Gemeinſchaft 
mit dem Herrn, ald auch eine That der Gemeinde und 
fomit eine Bethätigung ihrer Gemeinſchaft —ı fo ſcheint 
mir doch hierüber ein faft allgemeines Einverſtaͤndniß ans 
genommen werden zu können, daß bie Idee ber Gemein» 
{haft in keinem anderen Acte fo fpeeififch ſich ansdrücke, 
wie im Abendmahle, daß es der höchſte Ausdruck ber 
prieſterlichen Gemeinſchaft fey, die vollendetſte Darſtel⸗ 
lung des mit feinem Haupte gliedlich vereinigten Leibes. 
Darauf geht ja auch die bekannte Stelle des Korinthers 
briefes. Das Abendmahl als bloße Eultushanblung in 
die Reihe der Abrigen zu ftellen, wiberflreitet dem Bes 
grife ſowohhl des Abendmahls, ald auch der Cultushand⸗ 
Iang; denn, um nur von letzterer zu ſprechen, es ſoll ja 
nach der eigenen Definition des Berf. die Eultushand⸗ 
Ing eine That der ganzen Gemeinde an den Einzelnen 
fon; aber, wenn man auch noch fagen kann, die Ger 
meinde ift die prebigende, ift fie denn auch bie dad Sa⸗ 
crament reichende? Gefchieht dieſes nicht kraft ausdrück⸗ 
licher Einſetzung Chriſti? Findet nicht hier gerade die 
That Chriſti an der ganzen Gemeinde, die erwidernde 
17 * 





260 Kliefoth 


That der Gemeinde an Chriſtum flatt? Der Grund, 
warum gegen den Zufammenhang bed Abenbmahles mit 
dem Gottesbienfte gekümpft wird, entiteht, wie auch der 
Verf. angibt, daraus, daß man fich in Beziehung auf 
Taufe wie auf Abenbmahl in Berlegenheit befindet, an 
weichen Ort biefe Sacramente gehören. Was nun bie 
Taufe betrifft, fo if. hierbei nicht zu vergeflen, daß ja 
die Eonfirmation mit der Taufe in ber engften Beziehung 
fiebt und die Beziehung der Taufe zu dem Gemeinde⸗ 
gottesdienfte ſich in der Conſirmationshandlung darſtellt. 
Bei dem Abendmahle wiederholt fich bie alte Frage, ob 
daſſelbe fonntäglih, oder nur zu einer beffimmten Zeit 
gefeiert werben folle. Die fonntägliche Feier iſt es ger 
wöhnlich, wodurch daſſelbe mehr nur ale ein Anhang an 
dem Gottesdienfte erfcheint, fo daß die Idee der Ger 
wieinfchaft zurüdtitt. Darum hat [hen Höfling 
in feiner „Sompofition des Gemeindegottesdienſtes“ Die 
teformirte Anordnung vorgezogen, das Abendmahl zu eis 
ner beftimmten, ferner auseinander liegenden Zeit, aber 
dann auch als dem ganzen und eigentlichen Gemeindegot⸗ 
tesdienft zu feiern. Hierbei ift aber nach dem Principe 
zu fragen, nach welchem jene Zeit beſtimmt wird, und 
bier fcheint es uns verfehlt, wenn, wie ed gewöhnlich zu 
gefchehen pflegt, ein nur äußeres, numerifches Berhälmiß, 
ſtatt ein inneres, im Organismus ded Cultus liegendeg, 
angenommen werben if. Sagt man nämlich, etwa alle 
vier Wochen folle dad Abendmahl ald Gemeindegottess 
bienft gefeiert werden, fo fragt man billig: in welchem 
Berhältniffe ſteht dieſer Line, gewählte Sonntag zu den 
anderen? — Es ift ber Cyklus des Kirchenjahres, Der 
auch bier wieber maßgebend ift in feinem Berhältuiffe 
ber Felle zu den übrigen Sonntagen. Wir fagen: die 
Feſttage find auch Die Abendmahldtage, Die Bemeinbetage; 
am Feſttage offenbart ſich die ganze Fülle und der In» 
halt bed Gultus; hier findet: immer eine neue Darftels 


Zheorie bes Gultus ber evangelifchen Kirche. 261 


lung und Berlobung der Gemeinde flatt. Die übrigen 
Sonntage aber ſind die weiffagenden Borboten zu dem 
Felle, oder feine nachklingenden Töne; das Doctrinelle 
darf, ja foll hier vor dem Lyrifchen vorwiegen, es find 
die durch Erfenntniß fich vollziehenden Borbereitungen oder 
die in Erfenntniß fich ausfprechenden Dankfagungen für 
die Feſte. Das Abendmahl und feine Keier hängt dem⸗ 
nach mit der Stellung der Sonntage zu den Fefltagen zu» 
fanmen, Man flieht indeifen leicht, daß andere Unterfcheis 
dungen, 3. DB. die zwifchen unvollfländigem oder vollſtän⸗ 
digem, oder die zwifchen Prebigtgottesdienft und Abend» 
mahlgottesdienft in diefer Anordnung von feldft zu ihrem 
Rechte kommen. Uebrigen® hierauf möchten wir als auf 
einenwefentlichen Gewinn der Fltefoth’fhen Darftellung 
binmeifen, dag nämlich der Unterfchieb zwifchen Sacras 
ment und Benediction entfchiedener hervortritt. Benes 
diction ift That der Kirche, Sacrament That Ehrifti, 
Die Fathol. Kirche macht daher nach ihrem Begriffe der 
Kirhe auch Benedictionen zu Sacramenten, die proteſt. 
Kirche ſtellt die Benedictionen zu fehr zurüd. — 

Doch müflen wir eilen, den noch übrigen dritten Theil in 
kurzen Zügen vorzuführen. Er handelt von der Sonftruction 
des Sultus und zwar unter den Abfchnitten: Eultusr 
acte, Cultuscyklen und Eultus ald Sache der 
kandeskirche. Die Betrachtung der Eultusacte glier 
dert ih in die bed Gottesdienſtes und der kirch⸗ 
liden Handlungen Der Berf. zieht eine Scheis 
dungslinie zwifchen dem Gottesdienfte und den Firchlichen 
Handlungen und erklärt fih gegen dad Streben, diefe in 
den Gottesdienft hereinzuziehen. Daß er hierbei befons 
derd gegen die Verbindung von Gottesdienft und Abend» 
mahl polemifire, iſt fchon gefagt. Wir verweifen hierüber 
auf das vorhin Befprochene. Der Gottesdienft felbft zers 
fällt nach S. 173. in drei Gruppen, den Gebetsact 
vor der Predigt, den Predigtact und den Gebets⸗ 


22. Btiefoth 


act nach der Prebigt. Die brei nothwendigen Stüde 
des Gebetsactes werden (&. 174.) vom Eingangs» 
liede, dem Gruſſe und Gegengruffe unddem bit- 
tenden Altargebete mit dem Amen ber Gemeine ges 
bildet, Die drei nothwendigen Stücke des Prebigtactes 
find die Predigt felbft nach ihren einzeluen Stücken 
und verbunden mit dem anbefehlenden Gebete [müßte 
bieß nicht eine befondere Reihe bilden, nicht zum Gebets⸗ 
acte nach der Predigt gehören ?] den Hauptliede vor 
und dem Berfe nach der Predigt (S. 177.). [IE aber 
das Umſchloſſenſeyn der Predigt durch Gefang ein bes 
fonderer Act?? Der Gebetsact nady der Predigt ſcheidet 
fih in dad dankende Altargebet, deu Gegen und 
das Ausgangslied (5. 179) Nun folgt die Dars 
ſtellung der Firdhlichen Handlungen (&,183—209.), die wir, 
abgefehen, was wir von der Stellung bed Abendmahle 
erinnerten, zu den ausgezeichnetftien und förberndften 
Partien ded Buches zählen. Wir führen bier nur die 
Bellimmungen an, die der Berf. für allen gleichmäßig 
zuflommend und für fie gültig erflärt: „Bei allen iſt 
ein breifaches Perfonale gegenwärtig, der Seiftliche, 
welcher Namens ber Sefammtgemeinde die Haudlung vers 
fieht, das oder die einzelnen Öemeindeglieder, an 
welchen fie verfehen wird, und das Zeugenperfonal, 
Der Ort ift entweder das chriftliche Haus, oder das Got⸗ 
tes haus (oder der Kirchhof): Das MWefentlihe in der 
Begehung tft die fombolifche Handlung mit der fie erpri- 
mirenden Formel. Um diefelbe legt ſich aber, um fle zu 
einer förmlicdhen Ceremonie, zu einem Cultusacte zu mas 
chen, herum erflend das Gebet, das als Bitt- und Danfs 
gebet den ganzen Act eröffnet und fließt, und billig nicht 
bloß ein vom Geiftlihen allein gefprochenee, fondern ein 
gemeinfamer Gefang if. Das zweite, bei allen Hinzu⸗ 
kommende if die Rede, welche, weil fie vorbereiten ſoll, 
nothwendig immer zwifchen das Eingangegebet und bie 
Handlung füllt” (5.184). — Die Eultuscytlen nm: 


Theorie deö Gultus der evangeliſchen Kirche. 263 


fafen ben Eyklus bes Kirchenjahres, wobei der Unter⸗ 
fhied von Fefigetiesdienfi und Sonntagegottesdienft hers 
vortritt. Ausführlich und höchſt geiftwoll wird das Kir, 
denjahr entwidelt, wo nur (S. 220,) die Polemik ger 
gen die Anfchauung, daß die chriftlichen Kefte eine Ana⸗ 
Isgie zu dem natürlichen Tahreslaufe haben, zu fcharf 
Mund nicht ganz vor der gefchichtlichen Betrachtung bes 
ſteht. Schön aber iſt das Wort zum Schiuffe diefes Abs 
ſchnittes: Es mögen doch, ehe wir auf fie hören, bie 
Erfinder des Cultus des Genius erft etwas binftellen, in 
dem fo viel Genius iſt, ale in diefem Baue, den die Ge⸗ 
seinde Ehrifti fidy gegründet hat” (S. 231.) 

Die Beziehung der Eonftruction des Eultus gu ber 
Betrachtung des Cyklus des Menfcheniebene tritt nicht 
scht Klar hervor, ift auch nadı der eigenen Aeußerung 
des Berf. fchon bei der Darftelung der kirchlichen Hands» “ 
Isngen vorgefommen. Den Schluß des Werkes bildet die 
Betrachtung des Eultus als Sache der Landeskirche, 
wobei dad Weſen des Gemeindeverbaudes ſowohl wie 
des Kirchenregimentes verhandelt wird, — Abfchnitte, die, 
wenn fie vielleicht auch nicht firenge ober in folder Aus⸗ 
führlichkeit in die Theorie des Cultus gehören, doch ims 
merhin großes Intereſſe für die unter und noch fo wenig 
angebaute Theorie der Kirchenverfaffung zu erregen im 
Gtande find. 

Die Wege ber Betradytung von D. Lüdemann 
mußten ſich der Natur ber Sache nach bald von jenen 
D. Kliefoth's trennen. Der erftere verfolgt anregend 
und feſſelnd feine Bahn, and der allgemeinen Borftellung 
des chriſtlichen Cultus bie einzelnen Momente hervorzus 
heben. Den erften Abfchnitt: der proteſt. Gultus ale 
feierlich fymbolificende Darftelung der Religion, haben 
wir ſchon kennen gelernt. Der zweite behandelt den pros - 
tefantifchen Eultus ald gemeinfame und öffent 
lide Darfkellung ber Religion. Es wird bas 
Behärfuig befchrieben, ans welchem biefe Gemeinſchaft 





264 Luͤdemann 


ſich bildet, gezeigt, wie die Religionsgemeinſchaft zur 
Religionsgefellfchaft wird, hierdurch die gemeinfame Ans 
dachtsübung zur öffentlichen. Subject und Object Diefer 
öffentlihen Andachtsübung ift die verfammelte Gemeinde. 
Das gottesdienftliche Handeln der Gemeinde ift nun ent: 
weber einfaches Zeugniß, oder Hinwendung auf ein be⸗ 
ſtimmtes Dbject. So ergibt ſich in Beziehung auf das 
Wort ald Darftelungsmittel der Unterfchied von dem 
Monvologifhen und Proslogifchen, das letztere 
entweder Gebet oder Anrede. Die verfammelte Bes 
meinde vollzieht ihre gottesdienftliche Handlung entweder 
in der Geftalt, daß fie, was in ihr lebt, fo, wie es in 
Allen lebt, zur Darſtellung bringt, oder fo, wie es in 


einem Einzelnen lebt und ſich ‚geftaltet hat. Dieß gibt 


» 


den Gegenſatz bee Liturgiſchen und Homiletifchen (S. 3T.). 
— Bir können nun unmöglich der weiteren Ausführung 
in Beziehung auf Gemeindegefang und Agende hier fol⸗ 
gen, da ein Auszug and der Darftelung Lüdemann’e 


nicht wohl möglich if. Aufgefallen ift-und nur, daß der 


Berf. nicht entfchiedener an dem Statarifhen und Firirs 
ten des Agenbdarifchen feftgehalten hat (S. 46. die Anm.). 
Die Nothwendigkeit diefes Firirten tritt ja gerade aus 
dem priefterlichen Eharakter der Gemeinde, aus dem in 
allen ihren Gliedern Identiſchen entfchieden hervor. Mit 
Recht aber hat der Verf. die Eriftenz der biblifchen Rec» 
tionen gewahrt. Zufammengefaßt erfcheint der Inhalt 
diefed Abfchnittes in den Worten: „In der Vereinigung 
bes liturgiſchen und homiletifchen Elements, welche fich 
im Gotteöbienfte fachgemäß nur fo geftalten fann, baß 
bad Liturgifche der terminus a quo und ad quem des ho» 
miletifchen bleibt und daher diefed in feine Mitte nimmt, 
gewinnt das religiöfe Gemeindeleben feine fittliche Geſtalt 
und fein wahres Gebeihen.” Der Schluß der Abhand⸗ 
lung betradjtet den Cultus ald dem Befenntniffe der 
proteft. Kirche entfprechende Darftelung ber Religion, 
wodurch der Cultus zu feiner Vollendung kömmt. Dog⸗ 


über dad Weſen des protefl. Cultus. 265 


matifche Milde, ethifche Tiefe und äfthetifche Kenichheit 
werden als die Brundcharaktere bed proteft. Eultus hin, 
geſtellt. — 

Gewiß wird es nicht entgehen, welche Förderung 
durch diefe neuen Bearbeitungen für die Theorie bes Cal⸗ 
tus und, wir hoffen, auch für feine Prarid gewonnen ift. 
Aufs Neue ift ed Mar geworden, daß der Eultus nicht ein 
Aggregat einzelner Beitandtheile fey, Daß er einen Orgas 
nismnd darftelle, der ebenfo aus den tiefften religiöfen 
wie fittlichen Gründen herauswachſe. Aufs Neue ift das 
Bedärfniß hervorgetreten, die Befete diefes Organismus 
zu erforfchen, den Zufammenhang befielben zu erfennen. 
Es fehlt und nichts, aber wir haben es nicht in der rech⸗ 
tm Ordnung, wir fennen zum Theil unfere Schäte gar 
nicht, oder wir verflehen fie nicht zu behandeln. Auf dies 
fer Erfenntniß, auch der protefl. Cultus bedürfe eines 
aus der Ratur der Sache wie aus der Ueberlieferung 
der Sitte herandsgewachfenen Organismus, er fey aber 
aach fähig, einen folchen hervorzubringen, muß die Arbeit 
weiter geführt werden. Sie wird fich theoretifh vor⸗ 
uchmlich mit der Frage nach der Stellung ded Abend» 
mahld zum Gottesdienfte überhaupt, ſowie nach der noch 
fo fehr vernachläffigten Theorie des kirchlichen Ufus, und 
praftifch mit der reinen Herſtellung der vorhandenen Ele, 
mente, namentlich des Kirchengefanges, zu befchäftigen 
haben. Möchte bald die Zeit fommen, wo die Eine Kirche 
des gefammten evangelifchen Deutfchlande fich Eines Lie⸗ 
dverfchages, Einer Agende erfreuen darf! Wir wollen 
feine monotone Firirung, aber auch keine vereinzelnde 
Zerfplitterung; wir haben ja genug bittere Erfahrungen 
gemacht, um endlich einmal dad Geheimniß der Einheit 
in der Mannichfaltigkeit, der Mannichfaltigkeit in ber Ein» 
beit zu lernen und durch die That zu offenbaren! 


D. Ehrenfeudter. 


nn — 








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kunſt. gr. 8. geh. Thir. 1. 10 Sgr. 





y 


Wait, Dr. Th., Grundlegung der Pſychologie. Nebſt 
einer Anwendung auf dad Seelenleben der Thiere, bes 
fonderd die Inſtincterſcheinungen. gr. 8. geheftet. 
Hamburg und Gotha. Fr. u, 3. Perthes. Thlr. 1. 


Die Abſicht bes Verf. gebt in bem vorftehneben Buche haupt» 
faͤchlich dahin, bie philofophifche Speculation ber eracten Raturfor: 
ſchung fo ſehr als moͤglich anzunähern durch den Verſuch, die Pſy⸗ 
chologie, welche er als Grundlage aller anderen philoſophiſchen Dis⸗ 
ciplinen betrachtet, auf die Reſultate der neueren Phyſiologie zu 
gründen. Die beigefuͤgte Abhandlung über das Seelenleben ver 
Thiere fol an einem Beiſpiele die Anwendung ber im erſten Theile 
entwidelten Säge zeigen. - 


Als einen der wichtigsten Beiträge zum Verständ- 
nisse der religiösen Fragen, welche die Gegenwart 
bewegen, empfehlen wir die so eben bei uns erschienene Samm- 
lung: 


Religionsphilosophischer Schriften 


von 
Johann Gottlieb Fichte. 
gr- & xeh. XXXVI. 580 Seiten. 24 Thlr. 

Inhalt: Aphorismen über Religion und Deismus. — Ver- 
such einer Kritik aller Offenbarung. — Ueber den Grund unseres 
Glaubens an eine göttliche Weltregierung. — Appellation an das 
Publicum gegen die Anklage des Atheismus. — Gerichtliche Ver- 
antwortung gegen die Anklage des Atheismus. — Rückerinnerun- 
gen, Antworten, Fragen (ungedruckt). — Aus einem Privatschrei- 
ben. — Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Reli- 


gionslehre. 
Berlin, 1. Juli 1846. Velt & Comp. 


Bei ©. H. Reclam sen. in Leipzig ist soeben erschienen 
und durch alle Buch- und Kuasthandlungen zu beziehen: 
Das wohlgetroffene Bildniss des Königl. Kirchenrathse und 
ordent!. Prof. der Theologie zu Leipzig, Ritters etc. 


Dr. Georg Bened. Winer. 
Gemalt von &. A. Hennig. Lith. von EB, Uber. 
Mit einem Facsimile. Preis 4 Thir., auf chin. Papier 4 Thlr. 


Wir machen die vielen Verehrer dieses Gelehrten auf dieses 
schöne Bild noch besonders aufmerksam. 


Erschienen ist: ; 
Thesaurus hymnologicus sive hymnorum, canticorum, se- 

quentiarum circa annum MD. usitaterum collectio am- 
plissima. Carmine . collegit, apparatu critico ornavit, 
veterum interpretum notas selectas suasque adjecit Dr. 
H. 4. Daniel. Tom. Ill. cont. 

I. Delectas carminum ecclesiae graecae curaute R. 

Vormbaum. 

II. Carmina syriacae ecclesise curante Dr. L. Splieth. 
ill. Peralipomens ad tomum primum et secundum. 


8. maj. Thir. 27. 
und es kostet Tom. I. Thlr. 13. Tom. I]. Thlr. 2. 


Joh. Ambr. Barth in Leipzig. 


— — um 


Bei C.H. Reclam sen. in Leipzig ist soeben erschienen: 
Biblisches 


Realwörterbuch 
zum Handgebrauch herausgegeben 


von 


Dr. Georg Bened. Winer, 


Königlichem Kirchenrath, Professor, Ritter u. s. w. ‚ 
Dritte achr verbesserte und vermehrte Auflage. 
Erster Band, 1stes Heft, die 12 ersten Bogen in gr. Lex.-8. 

enthaltend. 
Subseriptionspreis 1 Thir. 
Diese dritte Auflage erscheint in einzelnen Lieferungen von je 
12 Bogen und kann angefähr 100 bis 110 Bogen stark werden. Bis 


zur Vollendung des Ganzen gilt der Subscriptionspreis. Der Laden- 
preis wird bedeutend höher seyn. 


Bei Eduard Weber in Bonn ift jegt vollftändig erfchienen 
und durch alle Buchhandlungen zu erhalten: 


Origenes. 
Eine Darſtellung ſeines Lebens und ſeiner Lehre 


von 


Dr. © N. Nedepenning, 
ordentl. Profeſſor der Theologie zu Göttingen. 


In zwei Theilen. gr. 8. 4 Thlr. 20 Sgr. 


Drigeneß, ber größte pfttofopsifge Kopf ber griechtſchen Kirche, 
der durch feine Schriften und Lebensichidfale auf die gefammte Theo 
logie der griechiſchen und felbft ber lateiniſchen Kirche Jahrhunderte 
hindurch eingewirkt und ohne deſſen genauere Bekanntſchaft bie 
chriſtliche Wiffenfchaft der erſten Jahrhunderte nicht zu verſtehen ift, 
bat in dem vorgenannten Werke eine würbige Bearbeitung gefunden. 
Mit ausgebreiteter Gelehrſamkeit, mit redlichem Fleiße und mit 
einer beifpiellofen confeffionellen Unbefangenheit hat Herr Profeflor 
Redepenning eine eben fo nüsliche als fchwierige Aufgabe geldſt. 
Sein Werk iſt unentbehrlih für Alle, welche fi ein gründlices 
Urtheil über die wiſſenſchaftlichen Zuftände der erften Jahrhunderte 
der Kirche verfhaffen wollen, und Tann mit Grunde Geiftlidyen und 
Sn Benben: aller Konfeffionen oder gelehrten Laien empfohlen 
werben, 


Sacob Böhme's ſämmtliche Werke, herausgegeben von 
K. W. Schiebler. Scehfter Band, enthaltend: 
Psychologia vera; Psychologise supplementum, das um: 
gewandte Yuge; de incarnatione verbi; sex puncta theo- 
sophica; sex puncte mystica; mysterium pansophicum; 
de quatnor complexionibus; theoscopia; de testamentis 
Christi; Gefpräd, einer erleuchteten und unerienchteten 
Seele, theofophifhe Fragen; Tafeln von den drei 
Principien göttlicher Offenbarung; Schlüffel. Mit einer 
lithographirten Zafel. gr. 8. Thlr. 3. 6 Sor. 

ift erfchienen und der 7. Banb, ber bas Ganze beichließt, unter der 


2 e 

Die früher herausgekommenen Bände Eoflen: _ 

1. Band: ber Weg zu Chrifto, 3 Ihlr, 2, Band: Auzora, 
Thlr. 14. 3. Band: die drei Principien göttlidhen We 
fen, Ipie. 13. 4. Band: vom dreifachen Leben des Menfchen; 
von der Geburt und Bezeichnung aller Weſen; von der Gnaben: 
wahl, hir. 23. 5. Band: Mysterium magnum, ober Erklaͤrung über 
das erſte Buch Mofes, hir. 84. 


Joh. Ambr, Barth in Leipzig. 


Sn der Palm' ſchen Verlagsbuchhandlung in Erlangen if fo 
eben erfchienen und in allen Buchhandlungen zu haben: 
Söfling, Dr. Joh. W. Fr., das Sakrament der 

Taufe, nebft den anderen damit zufammen 
hängenden Akten der Suitiation. Dogmatifc, 
hiſtoriſch, liturgiſch dargeftell. 1. Lief. gr. 8. geb. 
Thir. 1. 5 Sgr. oder fl. 2. 

Die 2te Lieferung erſcheint zur Michaelis « Meffe. 


Bei 6. F. Winter, alabemifdie Berfangspendiung in Heidel⸗ 
berg, erfcheint: 
Schrbuch 


Erziehung und des Unterrichts. 


Handbuch für Eltern, 2 "Behter und Geiftliche 


Dr. W. 3, s. Curtman, 
Director bes Schullehrers@&eminars zu Friedberg. 
Zünfte Auflage des Schwarz Eurtman’fchen Werte, 

Preis, — a 8 heilen, geb ne 2, 12 Sgr. — 

a: tr, rhein. — fl. 8. r. E.⸗M. 

Das Ga Be {in 6 ——— en — je zwei einen 
Band bilden) et der — — iſt für jede Lieferung 12 Sgr., 
42 fr. rbein., ober 35 

Es find 2 Lieferungen bereits erſchienen, mithin dee etfle Band 
volftändig, und wird der Schluß des Buches bis Ende bes Jahres 
1846 in den Händen der Oubfceribenten feyn. 

Eines ber trefflichſten Bücher in unferer Literatur. Gefunde 
Infihten, klare, * Manne von Bildung verſtaͤndliche Darſtellung, 
große Vollſtaͤndigkeit; ſehr ſchoͤn gedruckt und außergewoͤhnlich wohl. 
feil; unſere Leſer werden es uns Dank wiſſen, fie darauf aufmerk⸗ 
ſam gemacht zu haben. 





— — — — 


Ki Bei Bandenhoeck und Ruprecht in Böttingen find erw 

enen: 

Vodemann, F. W., Sammlung liturg. Formulare aus 
aͤltern und — Agenden. J. Abtheil. liturg. — 
lungen. gr. 8. hlr. 1 


= — — 2. Abtheil. Gebete, Antiphonien Col 
lecten. gr, 8 Thlr. 


—— Vegrabnigduchlein (beſonderer Abdrud and — 


ſtehendem). 5 Sgr. 
— — auderlefene bibl. Erzählungen and dem el und 
neuen Teftamente. 3. Aufl. gr. 12. 5 Ser. 
Partiepreis für 24 Eremplare Thir. 3 
— — diefelben mit Lehren. gr. 8. 10 Sgr. 
Partiepreis für 24 Eremplare Thlr. 6. 


Meyer, H. A. W., Kommentar über des neue Teata- 
ment. 1. Abthl. 2. Heft. Markus und Lukas. Zweite 
umgearb. Aufl. gr. 8. Thir. 1. 10 Sgr. 

Petri Siculä historia Manichaeorum seu Paulicianorum, 
ed. J. C. E. Gieseler. 4 maj. 23, Sgr. 


In der Verlagsbuchhandlung von SG. W. Lesle in Darmfladt 
it erfchienen: 


Jahrbücher 
speculative Philosophie 


und die 
philosophische Bearbeitung der empirischen 
Wissenschaften. 
Herausgegeben 


v 
Dr. Ludwig Noack. 
Erster Jahrgang. 
Erstes Heft. 
Preis für den ganzen Jahrgang 6 Thir. pr. C. oder fl. 10. 


Die „Jahrbücher für fpeculative Philofophie‘, deren 
erftes Heft wir dem Yublitum übgrgeben, haben ſich einerfeits bie 
ſyſtematiſche Bearbeitung der philofophifcdhen Disciplinen, im firengen 
Sinne bes Wortes, andererfeits die philofophifche Durchdringung ber 
emypiriſchen Wiſſenſchaften zum Biel geſeßt. Zugleich werben die 
Jahrbuͤcher den welentlichen Intereffen der Gegenwart und dem durch 
die Wiffenfhaft organifch umaugeflaltenden Leben ihre Aufmerkſam⸗ 
keit zuwenden, um fo zur wechlelfeitigen Verfländigung und theil- 
weifen Berfühnung ber verfcyiebenen philoſophiſchen Standpunkte und 
Richtungen in der Gegenwart und zur geiftigen Durchdringung ber 
gegebenen Wirklichkeit, durch ein kraͤftiges Zuſammenwirken der 
jugendfrifyen und jugenbflarten philoſophiſchen Kräfte aus allen Ges 
genden unfres Vaterlandes, beizutragen. Zür biefen Zweck haben 
dem Unternehmen bis jest bereits etliche und fiebenzig Mitarbeiter 
ihre thätige Theilnahme zugefagt und Anbere ihre künftige Betheilis 
gung in Ausfidht geftellt. 

Das erfte VierteljahrsHeft, weldhem die übrigen no im Laufe 
des Jahres 1846 nachfolgen werben, enthält außer Dem einleitenben 
Programm des Herausgebers: I. Abhandlungen: 1) Noad, 
die Idee der fpeculativen Religionswiſſenſchaft. 2) Neiff, über 
das Princip der Philofophie und die Idee des Syſtems der Willens 
beſtimmungen; 3) Sarriere, Macchiavelli; 4) Oppenheim, über 
das Welen des Staatsgefehes und die Schranken ber Gefeßgebung ; 
5) Boigtländer, philofophiſche Betrachtungen. II. Krititen: 
1) Bimmermann, Ghaleipeare’s Macbeth, von Hiede; 2) Adler, 
Michelet's Entwidelungsgefchichte der neueren Philoſophie; 3) Road, 
zur Kritit von Wirth's Analyfe bes religiöfen Grunbgefühls, 4) 
Micyelet, Georges Metaphyſik; 5) Foͤrſter, Miscelle über beutfche 
Philoſophie in England, — Nachtrag zum einleitenden Vorworte 
des Herausgebers. | 


ee r\ — — 


went N Le MM 


Be Joh. Auibr. Barth in Leipzig find erſchienen: 
Novum Testamentum coptice edidit Dr. M. 
@.Schwarize. Parsl. Quatuor Evangelia continens Vol. 1. 
unter dem Zitel: 


Quatuor Evangelia in dialecto linguae copticae Mem- 
phitica perscripta ad Codd. Me. copticorum in regia 
bibliotheca Berolinensi adservatorum nee non libria Wil- 
kinsio emissi fidem edidit, emendavit, adnotationibus 
eriticis et grammaticie, variantibus lectionibus expositis 
ugue textu coptico cum graeco comparato instruxit Dr. 

. @. Schwartze. Partis I. Vol. I. Evangelia Mat- 
ihaei et Marci continens. 4 maj. Thir. 3. 


Schott, Dr. H. A., die Theorie der Berodsamkeit 
mit besonderer Anwendung auf die geistliche Beredsam- 
keit in ihrem ganzen Umfange dargestellt. Zweite nach 
dem Tode des Verf. besorgte und verbesserte Auflage. 
Dritten Theiles erste Abtheilung. 

‚ Auch unter bem Zitel: 

die Theorie der rednerischen Anordnung mit besonderer 
Hinsicht auf geistliche Reden dargestellt und an Beispie- 
len erläutert. gr. 8. Thlr. 12. 

Bon diefem mit vollem Nechte fo hoch geſchaͤgten Werke enthält: 
Band 1. die philosophische und religiüse Begründung der 
Rhetorik und Homiletik. 2. verbesserte A gr. 8. 
| r. 2. 
Band 2. die Theorie der rednerischen Erfindung , mit 
besonderer Hinsicht auf geistliche Reden dargestellt 
und an Beispielen erläutert. 2. verbesserte Auflage. 
er. 8. Thilr. 24. 
and wird deſſelben Berfaflers ; 
kurzer Entwurf einer Theorie der Beredsamkeit mit beson- 
derer Anwendung auf die geistliche Beredsamkeit. Zum 
Gebrauche für Vorlesungen. Zweite verb. und verm. 
Auflage. gr. 8. Thlr..1. 
hierdurch wieberholt angelegentlich empfohlen. 


— — 


Bei Joh. Aug. Meißner in Hamburg iſt ſo eben erſchienen 

und durch alle Buchbandfungen zu beziehen: 

Nedslob, Dr. 8. G. M., Prof. ıc., Die altteſtament⸗ 
lichen Ramen der — —— des wirklichen und ideas 
len Jsraelitenſtaats etymologifch betrachtet. gr. 8. de 

Hamburg, im Anguſt 1846, 20 gGr. oder 25 Sgr. 


Theol. Sud, Jahrg. 1847, 18 





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Predigten über freie Texte. 
s V 
| Johann Seinrich Seer, 


weilandb erftem Pfarrer in Glarus. 
Erfter Band, 2te Auflage, fl. 1. 30 fr. — Zweiter Band 
ri 1. 30 Ir. 


Die literarifchen Blätter für Homiletit und Afcetil, Mai 1845, 
Seite 14., fagen über diefe Predigten Folgendes: 

„Es erregt ſchon ein günftiges Borurtheil, wenn, bei ben vor: 
waltenden materiellen Intereſſen ber jegigen Zeit, ascetiſche Betrady: 
tungen eine 2te Auflage erleben. Zum erftenmal erfthienen vorlies 
gende Predigten vor 14 Jahren, und ber Verfaſſer beftimmte feine 
Vorträge zunächft ber Mehrzahl feiner Gemeindeglieder, weldyen er 
ein fchriftliches Andenken gewähren wollte, da er, burdy anhaltende 
Körperleiden verhindert, fein Seelſorgeramt nieberlegte und nicht 
öffentlich wirken konnte. 

Herr Heer hat nun durch die hier anzuzeigenden Kanzelvor⸗ 
träge ſich ſelbſt ein würbiges und ſchoͤnes Denkmal geſetzt. Seine 
Arbeiten verrathen ebenſo viel Bibel⸗ als Menſchenkenntniß, ebenſo 
viel Freimuth im Verhaͤltniß zur herrſchenden religiöfen Lauheit, als 
Geſchicklichkeit, diefelbe mit rechten Waffen anzugreifen, ebenfo viel 
Schmud der Sprache, als Popularität und Faßlichkeit. Auch die 
formelle Darftellung ift größtentheils den homiletifchen Anforderungen 
entfprecdyend ; nur bei einigen Dispofitionen ift bie Ankündigung ber 
Theile zu breit und unbeflimmt. Zu ben gelungenften Reben gebört 
die fünfte, oder die Predigt am hoben ober grünen Donnerſtage über 
Matth. 37, 50-54, welche das Thema behandelt: „Die Kraft des 
Zobes Jeſu“, und dieſe 1) als eine überzeugende, 2) als eine ver: 
föhnende, 3) als eine beflernde, 4) als eine Leben und Geligkeit wir: 
Tende, darftellt. Dahin rechnet Referent ferner die achte Predigt 
über Joh. 1, 52,, mit bem Hauptfage: „Der Chrift fleht mit dem 


Himmel fchon auf Erben in fteter und naher Berbinbung;” benn 1) 
feiner Erkenntniß und feinem Glauben ift der Himmel enthullet, 2) 
in fein der Liebe geweihtes Herz ſenkt er fi mit Kraft und Frieden 
berab, 3) an jebem Drte, in jedem Augenblide ſteht er froh harrend 
an feinen Pforten. Die temporelle — im Sten Theile war 
unnöthig, weil fie fchon im Thema angedeutet iſt, und weil auch bie 
übrigen angegebenen Punkte als immer fortgehend gedacht werben 
müflen. Noch erwähnt Referent bie eilfte Prebigt, welche nach Pf, 
8, 4—7. ben as aufftellt: „Die rechte Betrachtung der Ratur ers 
bebt uns, indem fie uns dbemüthigt. Die Ratur bewirkt dieß 1) durch 
die Unermeßlichkeit, die in ihren Erſcheinungen, 2) durch die Gewalt, 
de in ihren Kräften, 3) burdy bie unmanbdelbare Harmonie, bie in 
isren Wirkungen fidy verkündiget und darftellt.” Diefe Rebe gefiel 
Referent in Anlage und Ausführung am meiften. Manches Andere, 
was noch gerügt werben könnte, übergeht Referent, da er mit Manen 
nit gern rechtet. 

Im Ganzen enthält der vorliegende 1ſte Band 19 Reden, welde 
alle in ihrem Gehalte anfprechen , fo daB auch biefe 2te Auflage man» 
dem Semüthe zur Erhebung dienen wird, 

Die typographiſche Ausſtattung iſt fchön. — 

r. .o.,..% . 


Quellenwerk ded Proteſtantismus. 
Das Weſen des Proteſtantismus 


dargeſtellt von 


Daniel Schenkel, 


Stadtpfarrer am Münfter, Lic. theol. 
In drei Bänden. 
Erfter Band, 1—3. Buch, Die theologifchen Fragen. 
Dreis fl. 4. 40 Ir. oder Thlr. 2. 18 Nor. 


Seit dem Erſcheinen von Plan!’ 8 Geſchichte bes proteftantifchen 
dehrbegriffs hat Niemand den Verſuch gewagt, eine ähnliche umfaflenbe 
auf Quelleuftudten gegründete Arbeit zu liefern. Der Herr Vers 
faffer obigen Werkes barf daher ficher auf die Theilnahme und das 
Stadium ſowohl der Gelehrten als der Gebildeten beider Gonfeffionen 
rechnen, in fofern feine Arbeit einzig im ihrer Art dafteht, und 
ein ähnlicher, zumal fo umfaflender Verſuch einer Gelbftkritit deö 
Preteftentismus aus feinen Quellenfchriften noc gar nie gemacht 
Serden ift; ja er Tann auch aus dem Grunde auf das ungetheilte 
Intereffe des theologifchen Publikums zählen, weiler nicht vermeis 
nend (negativ), fonbern im ſchoͤnſten Sinne bes Wortes bejahend 
(pofitio) wirken will. 

Durch die Ausdehnung bes Werkes bei dem maffenhaft zu über: 
windenden Stoffe wirh baflelbe ein Mepertorium für die mans 
uichfachen orthodsgen and häretifchen Geiftesrichtungen 
m 3 r der Heformation, woburdy es einen bleibenden 
Berth ſelbſt für die erhält, weiche mit den Refultaten bes ‚Herrn Vers 
faffers ſich nicht einverflanden erklären koͤnnen. 





Der erſte Baud behandelt bie weſentlich theologifchen m 
des Proteftantismus: 1) von ber Kutorität der Schrift oder des goͤtt⸗ 
lichen Wortes; 2) von dee Perfon und dem Werke Ehrifli ; 3) von ben 
Sakramenten. 

Der apa: Band umfaßt die anthropologiſchen Fragen, alle: 
von der Suͤnde, vom Slauben, von den guten Werten, und zwar eben: 
falls in kritiſch⸗ hiſtoriſcher Entwidlung aus den Quellenſchriften des 
Proteftantismus. 

Der dritte Band wird ſich mit ben theanthropologifchen, d. h. 
mit den fpeziell firchlichen Bragen : von dem allgemeinen Prieſterthum, 
ber Kirchenverfaſſung und dem Cultus, befaffen. 


Geographifch = hiftorifche 
Kirchen⸗Statiſtik 


der 
katholiſchen Schweiz, 


von 
einem katholiſchen Geiſtlichen. 
Preis fi. 3. 

Jedem Staatsmanne, jedem Geiſtlichen, fo wie jedem Freund 
der Geſchichte und Statiftil follte obiges Werl, das eine Frucht lang» 
jähriger Gtubien und ber —— Prüfung iſt, unter jetzigen 
Zeitumſtaͤnden von hoͤchſtem Intereſſe ſeyn. Bis ſegt exiſtirt noch Fein 
Wert, das mit gleicher Genauigkeit und in gleicher Ausdehnung bie 
tichlichen Verhältniffe dee Schweiz darftellte. Als ein Werk, das bie 
äußern Rerbältnifle ber (hweigerifigen atbolifchen Kirche in Zahlen 
und flatiftifchen Angaben barfiellt, darf es mit Recht auf ben Beifall 
beider Konfeifionen zählen. 


Iohann Paul’s ſevana 


&rzieblebre. 
Eine Zufammenftelung der fchönften und wichtigen 
Stellen. 


Zweite vermehrte Auflage. Preis 18 Er. 





Drudfebhler 
&. 192, 3.70, u. I. Una Te. 
©. 192, 3.8 v. u. I. rim ram main m. 





Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 
für F 


das geſammte Gebiet der Theologie, 
in Verbindung mit | 
D. Giefeler, D. Lüde und D. Nitzſch, 


herausgegeben 


von 


D. €. ullmann und D. F. W. €. Umbreit, 


Profefforen an ber Univerfität zu Heidelberg. 


— — — — —— —— 


Jahrgang 1847 zweites Heft. 
ö— — — — — 
Hamburg, 


bei Friedrich Perthen. 
18 471. 


Abhandlungen 


Theol, Stud, Jahrg. 1847. 19 


1. 


Amalrich von Bena und David von Dinant. 





Ein in zur Gefchichte der mittelalterlichen Philofophie 
und Theologie. 


Bon 
D. 3. 9. Krönlein, 


HPrivatdocenten an der Univerfität Gießen. 


J. Anfange des dreizehnten Jahrhunderts, als bereits 
die verſchiedenen gnoſtiſch manichäifchen und rationaliſtiſch 
reformatoriſchen Secten jenes Zeitalters eine weite Ver⸗ 
breitung über faſt die ganze chriſtliche Welt gewonnen 
hatten, wurde zu Paris unter dem Vorſitze des Erzbiſchofs 
von Sens ein ſcharfes Gericht Aber eine Ketzerſchule ge⸗ 
halten, welche die Anregungen zu den ſchweren Verirrun⸗ 
gen in Lehre und Leben, deren fie befchuldigt wurde, Durch 
Amalrich von Bena erhalten haben follte. Das tragifche 
Geſchick der Unglädlichen, ihr näherer oder fernerer Zus 
fammenhang mit den religiöfen und Firchlichen Bewegun⸗ 
gen der Zeit, ihr Verhältniß zu den Bemühungen ber 
damals zur höchſten Blüthe aufftrebenden mittelalterlichen 
Philofophie ‚ die gleichzeitigen Maßregeln gegen Jedes, 
19* 





272 Kroͤnlein 


was moͤglicherweiſe zu ähnlichen Häreflen führen könnte: 
Alles dieß hat das Intereſſe der Kirchengefchichtfchreiber 
wie der Gefchichtfchreiber der Philofophie feit lange in 
dem Grade erregt, daß daraus eine reiche Litteratur über 
unfern Gegenftand erwachfen ift, deren innerer Gehalt 
freilich mit ihrer Weitläufigteit nicht in geradem Berhält 
niffe ſteht. — Zunäaͤchſt find hier Eornerng =) und bie 
magdeburger Senturiatoren b) zu nennen, welde 
die häretifchen Säge aus den Chroniken und fcholaftifchen 
Werken bed Mittelalters zuſammenſtellten, fich aber we 
niger auf David von Dinant — welcher von den fpätern 
Hiftorifern faft durchgehende mit Amalrich und den Amal⸗ 
ricanern iu die innigfte Verbindung gebracht wird —, ale 
auf die legteren einließen. So lüdenhaft auch diefe Samm⸗ 
Iungen find, die fich bei dem geringen Umfange der vor: 
handenen Materialien unſchwer hätten vervollfländigen 
laffen, und fo fehr fie aud der Kritik ermangeln, deren 
es um fo mehr beburft hätte, als auch bie Quellen fehr 
im Argen liegen, fo find doch die meiften fpätern Darſtel⸗ 
ler, unter denen befondere Jak. Thomafius c), Bud» 
deus d), Bruder eo), Eramer f), Tiedemannes), 
Tennemann hy) ımb die Verfaffer der franzöſiſchen 
Litteraturgefchicdte i) namhaft gemacht werden moͤ⸗ 
gen, im Ganzen nicht viel weiter gekommen. Zwar be 


— 


a) Chronic. Corner. ia Eccard. corp. hist. med. aer. Lips. 1598. 
I. 840. et 848. 

b) Centur. Magd. cent. XIII. cap. 5. p. 558 segg. Bas. 1574. 

c) Orig. hist. phil. u. A. 

d) Analect. hist. phil. cap. 10. et 11. Aal. 1706. 

e) Hist. crit. phil. III. p. 688 seqg. Lips. 1748. 

f) Fortſetzung von Boſſuet's Ginleitung in die Geſch. d. Welt, VII. 
@. 10% — 110, Leipz. 1786. 

8) Geiſt der ſpecul. Philoſ. IV. S. 327 — 330. Marb. 1795. 

bh) Geſchichte der Philoſ. VIII. Abth. I. ©, 821 ff. 

7) Histoire lit. de France, XVT. p. 686 — 591. 


Amalrich v. Bena u, David v. Dinant, 273 | 


mähten fie fich theilweife, der Sache baburch eine höhere 
Bedeutung abzugewinnen, daß fie diefelbe alö eine ber 
auffallendften Erfcheinungen jener an zeligiösd kirchlichen 
Geſtaltungen fo reichen Beit, ober ald einen ganz eigens 
thümlichen Sproß_ der mittelalterlihen Philofophie, oder 
gar der philofophifchen Idee überhaupt aufzufaflen ſtreb⸗ 
ten; doch konnten derartige Deutungen natürlich nur fchief 
und ungenügend ausfallen, fo lange die elementare Ars 
beit nicht gründlicher vorgenommen war, Dazu bat im 
neuerer Zeit Engelhardt a) infofern eine Art Aufang 
gemacht, als er wenigſtens Die Quellen befler, wenn gleich 
immer noch nicht vollfiändig genug, audgefchrieben, ohne 
jedech David von Dinant zu berüdfichtigen. 

Ss etwa war der Stand der Sadıe, ald ich vor 
mehreren Sahren den Begeuftand aufgriff und ihn auf 
dem Grunde der erforderlichen Quellenftudien in einer las 
teinifch gefchriebenen Abhandlung b) einer weiteren Bears 
beitung unterwarf. Da fie als afademifche Gelegenheits- 
Ihrift eine faft nur Iocale Verbreitung fand, fo würde dieß 
ſchon die gegenwärtige Wiederaufnahme defjelben rechtfertis 
gen, wenn nicht Überdieß noch zwei ſeitdem neu erjchienene 
Darkelungen mich im Beſondern dazu veranläßten, — 
die von H. Ritter nämlich in dem fiebenten Theile feis 
er Befchichte der Dhilofophie c) und von @.U. Hahn 
in der vorliegenden Zeitfchrift 3. Der erftere hat unver» 
kennbar fchärfer gefehen, als die meiften feiner Vorgän⸗ 
ger, ohne jedoch überall die wöthige kritiſche Sorgfalt 
anzuwenden, abgefehen davon, daß auch er feine neuen 


— 





ı) Engelhardt, kirchengeſchichtl. Abhandlungen. Erlang. 1882. ©. 
253 — 262. 

b) De genaina Amalrici a Bena eiusque sectatorum ac Davidis de 
Dinanto doctrina. Giss. 1842, 

c) Dder Geſch. ber Hriftl, Philof, III. &. 625 ff. 

d) Zheolog. Studien und Keititen, Jahrg. 1846. I. Bd. I. Heft. 





274 Krönlein 


Materialien beigebracht und fich ohnehin nur in Kürze 
über unfere Aufgabe verbreitet hat. Bei Hahn, welder 
fi, übrigens bloß auf Amalrich und feine Schule einließ, 
finden wir, troß einem anzuerfennenden Gtreben nad) 
Gründlichkeit, die beregten Mängel in noch höherem Grade. 
Indem ich deßhalb meine vorfiehend erwähnte Abhandlung 
in den nachfolgenden Blättern ihrem wefentlichen Inhalte 
nach wiebergebe, mögen nur diejenigen Modiftcationen 
in Auffaffung und Behandlung eintreten, die mir in Folge 
der neueften Darftellungen, wie einer nochmaligen Durchar⸗ 
beitung des Stoffed nothwendig geworden zu ſeyn fchienen.— 

Die nachftehenden Ausführungen fondern fich in drei 
Abfchnitte, fo zwar, daß zunächſt von den gefchichtlichen 
Verhaͤltniſſen der bezüglichen häretifchen Erfcheinung und 
dann von den in ihr gehegten Lehrmeinungen bie Rede 
feyn wird, woran fich endlich einige allgemeinere hiftorifche 
und Pritifche Betrachtungen zur Würdigung des Ganzen 
anreihen. 


Aus dem Leben Amalrich’s a) wiffen wir nur fehr 
wenig. Rad; einer Angabe des Rigordus wurde er zu 
Bena in der Diöcefe Chartres geboren und Iebte ge 
gen Ende des zwölften und im Anfange bed dreizehnten 
Jahrhunderts zu Paris, wo er, eingetreten in den geiſt⸗ 
lichen Stand, Vorlefungen über Logik und andere Bil: 
fenfchaften der mittelalterlichen Schulbildung an der Uni 


a) Die Zeitgenoffen und fpäteren GSchriftftellee nennen ihn Amel- 
ricus, Almaricus, Elmericus (Elmenicus), Amauricus und Amor- 
ricus. Da er jebod in dem parifer Synodalbeſchluſſe Amanricos 
und von den Franzoſen Amaury genannt wirb, fo heißt er ohne 
Zweifel Amalricus. Daß er ein Maure geweien und Ghrift ge 
worben fey, oder wenigftens aus einem maurifchen Geſchlecht 
abftamme, wie Grevier (hist. de !’ univers. de Par. p. 309.) 
meint, entbehrt aller hiſtoriſchen Beglaubigung. 


Amalrich v. Bena u. David v. Dinant. 275 


verität hielt. In der Kolge ganz zur Theologie überges 
gangen, erregte er durch feine audgebreitete Gelehrſam⸗ 
feit und die Schärfe feiner Dialektit Auffehen a) und ers 
warb fich fogar die Gunſt des Kronprinzen Ludwig b). 
Bie viel Schlimmes ihm auch von fpätern Schriftfiellern 
uachgefagt worden ift, fo Tiegt doch feine Thatfache vor, 
die feinen Charakter in einem nachtheiligen Lichte zeigte, 
Auch feine Rechtgläubigkeit fcheint erft Furz vor feinem: 
Tode in Frage gefommen zu feyn, ald er nämlich mit 
der Univerfltät über feine Behauptung, Jeder müßte 
glauben, er fey ein Glied Chriftt, in Streit ges 
rieth, welcher dahin führte, daß er fich perfünlich an den 
Papft wenden mußte. Innocenz Il. entfchied gegen 
ihn, und darauf hin wurde er, nach Paris zurüdgelehrt, 
von der Univerfität zum Widerrufe feiner Meinung gend, 
thigt. Er verftand fid; dazu, jedoch nicht aus Ueberzeus 
gung, und verfiel, wie man fagt, aus Scham und Ber 
druß, in eine fchwere Krankheit, an der er ſtarb. Aus⸗ 
geföhnt mit der Kirche, erhielt er ein ehrliches Grab in 
der Nähe ded Kloſters zum heil. Martin des champs c). 


a) Fuit eo tempore Almaricus Curnotensis philosophis et catholi- 
cis quaestionibus singularis. Frasquet. chronograph. ap. Bul. 
hist. univ. Paris. tom. III. p-674. Paris. 1665. — Eodem anno 
— — — Almaricus Carnotensis litteris apprime eruditas cum 
apad Parisios non parvam doctrinae opinionem obtineret, cett. 
— Rob. Gagain. rerum Gallicarum aunal. Francof. ad M.p.100. 

b) Item sciendum, quod iste magister Amalricus fuit cum Domino 
Ludovico, primogenito Regis Francorum, quia credebatur vir 
esse bonae conversationis et opinionisillaesae. — Chronic. Ano- 
nymi Laadan. Canon. bei Bouquet (Recueil des historiens des 
Gaules et de la France. Par. 1818). &, Hahn a. a. O. ©. 185. 

ce) Fuit in eadem sacra facultate studens quidam clericus Amal- 
ricus nomine de territorio Carnotensi, villa, quae Bena dicitar, 
oriundas, qui, cum in arte logica peritus esset et scholas de 
arte illa et de aliis artibus liberalibus diu rexisset, transtulit 
se ad sacram paginam excolendam; semper tamen suum per 
se modumdocendi et discendi habnit et opinionem privatam et 


276 Aroͤnlein 


Da das päpftliche Urtheil nach Hurter im Jahre 1204 
erfolgte, fo dürfte fein Tod in baffelbe oder in das fols 
gende Jahr zu feßen ſeyn. — Er feheint nichts gefchries 
ben zu haben; wenigftens läßt ſich mit Sicherheit Feine 
Schrift namhaft machen, die er verfaßt hätte a). 
Zweifels ohne ftammte die Secte der Amalricaner 
von unferm Amalrich ab, wie auch immerhin das Ber 
bältnig geweſen feyn mag, in weldgem fie zu ihm fland. 
Schon die gefchichtlidhen Umftände würben diefe Behaup⸗ 
tung rechtfertigen, wenn fie von den Berichterſtattern auch 
nicht ausdrüdlich ausgeſprochen worden wäre b). Sie vers 


iadieium quasi sectum et ab aliis separatum. Unde et in ipsa 
theulogia ausus est constanter asseverare, quod quilibet Chri- 
stianus teneatur credere, se esse membrum Christi cett. — — 
Cum igitur in hoc ei ab ommnibus oatholicis universaliter con- 
tradiceretur, de necessitate accessit ad summam pontihicem, 
qui, audita eius propositione et ‚universitatis scholarium con- 
tradictione, sententiavit contra ipsum. Rediit ergo Parisios et 
‚ compellitur ab universitate confiteri ore, quod in contrariam 
praodictae opinioni suae sentiret; ore dico, quia corde nun- 
quam dissensit. Taedio ergo et indignatione affectus, ut dici- 
tur, aegrotavit, et lecto incambens decessit in brevi et sepul- 
tus est iuxta monasterium $. Martini de Campis. Rigord. bei 
F. Duchesn. hist. Francorum scriptor. V. p. 50. 

a) Slaubwürdige Berichte erwähnen nirgends eine amalridy’fde 
Schrift, eben fo wenig das fogleidy anzuführende Decret ber 
parifer Provincialſynode, in welchem body andere mit ber Hi 
xefie in Beziehung gefegte Schriften namhaft gemacht und ver 
dammt werden. Nur Martinus Polonus und andere [p% 
tere Chroniften fchreiben Amalrich ein Bud unter dem Zitel 
„Pifion” zu. Wenn nun Engelhardt und nad ihm H. Ritter 
vermuthen,, daß diefes Buch kein anderes, als bas bes Job. 
Scotus Erigenazagl Yucsag (periphyseos ober periphyseon, 
i. e. de divisione naturae) fey, fo habe ich nur zu fagen, daß 
hierüber gar kein Zweifel obwalten kann, und daß offenbar bie 
Vermiſchung beflen, was Amalrich und was Scotus Grigena an⸗ 
geht, ſich ſogar bis auf biefen Buchtitel erftredt. 

b) Magister Almenicus, qui praeglictae pravitatis Magister erat — 


Amaltih v. Bena u. David v. Dinant. 277 


breitete fi; im kurzer Zeit über einige Diöcefen, zählte 
mehrere Beifkliche und Mönche in ihren Reihen und fand 
auch bei Frauen Auklang. Wie viel Wahrheit den ſchwe⸗ 
ren Anfchuldigungen , bie gegen das Leben umd die fitt- 
lichen Grundſätze der Häretifer von Beiten der Ehroni- 
Ren vorgebracht werden 3), zu Grunde Iiege, if nicht 
auszumachen; doch möchten vielleicht einzelne unter ihnen 
allerdings won Fanatismus und WANRTHTAUME Ertravaganz 
nicht frei zu fprechen ſeyn. 

Die Secte blühte mehrere Jahre im PEN die 
fie, durch die Unklugheit eines ihrer Mitglieder entdeckt, 
vor Bericht gezogen und graufam unterdrädt wurde. &äs 
far von Heiſterbach, welcher in feinen miraculofen 
Geſchichten, die er wenige Jahre nach dem Ereigniffe fchrieb, 
hierüber umfländlich berichtet, erzählt, daß einft der Amal⸗ 
ricaner Wilhelm der Goldſchmidt zu Raoulvon 
Nemours gefommen fey, fich für einen Bottgefandten 
ausgegeben und ihm folgende Sätze vorgelegt habe: „ber 
Bater hat unter gewiffen Kornen gewirkt, nämlich unter 
denen des Geſetzes; ebenfo der Sohn unter gewiflen For, 
men, 3. B. in dem Bacramente des Altars, der Taufe, 


— Caesar. Heisterbac. hist. mem. Lib. V. cap. 22. s. f. Colon. 


1591. — Praedictum autem haeresisrcham Amalricnm, quia 
plane constitit sectam illam ab eo originem habuisse — — 
Rigord. l. Ce 


a) Post mortem eius (Amalrici) surrexerunt quidam venenosa eius 
doctrina infecti, qui eo sabtilius plus quam oportet sapere sa- 
pientes, ad exsufflandum Christum et ad evacuandum N. T. 
sacramenta, novos et inauditos errores et inventiones diaboli- 
cas confinxerunt. — — — Unde et stupra et adalteria et alias 
corporis volaptates in charitatis nomine committebent. Mulie- 
ribus, cum quibus peccabant, et simplicibus, quos decipiebant, 
impnnitatem peccati promittentes, Dominum tantammodo bof 
Burn et non instum praedicantes, Rigord. l. c. — — Unde et 
fornificationem et alia nefanda occulte sub charitatis specie 
deceptis simplicibus committebant. Frasquet. ap. Bul. 1. c. 


278 Krönlein 


und andern, Wie die Gefebesformen mit der Erfcheinung 
Ehrifti gefhwunden find, fo werden jett auch die For 
men fdywinden, in weichen der Sohn gewirkt hat, und bie 
Sacramente werden wegfallen, da fich nunmehr der heil. 
Geiſt deutlich denen offenbaren wird, in welchen er fid in» 
carnirt. Vorzugsweiſe wird er ſich Durch fieben Männer 
(von denen er felbfl einer zu feyn behauptete) ausſprechen. 

Raoul, lifig und verfchlagen, wie er war «), ſtellte 
ſich von der Wahrheit diefer Sätze überzeugt, entlodte 
dem Goldfchmidte die Namen von vierzehn andern Amal⸗ 
ricanern und hinterbrachte Alles den Bifchofe von Paris, 
Peter von Remourd, von dem er fofort die. Weifung 
erhielt, die Sache näher audzufpüren. In Begleitung eis 
ned andern Geiftlichen durchwanderte er nun die Dice 
fen Paris, Langres, Troyes und Sens, wo ed 
ihm vermöge feiner Verfielungskünfte gelang, nicht nur 
Alles zu erfahren, was er wiffen wollte, fondern fi fos 
gar die Freundfchaft und das Bertrauen der Anhänger 
Amalrich's in dem Grade zu erwerben, daß fie ihn voll 
Rändig für fi gewonnen zu haben glaubten. Er eilte 
jedoch nach Paris zuräd und theilte dem Bifchofe ben 
ganzen Erfolg feiner Miffton mit. Diefer ließ alsbald, 
unterftüßt von dem königlichen Vicekanzler Warin, die 
Denuncirten feſtnehmen und gefangen nady Paris brin: 
gen, wo eine Synode unter dem Vorſitze des Erzbifchofe 
von Send, Peter von Sorbeil, zufammentrat, welche das 
Urtheil füllte, va Amalrich ercommunicirt, feine 
Gebeine aus dem Grabeherausgenommen und 
in ungeweihtem Boden verſcharrt, daß ferner 
dreizehn ſeiner Lehre ergebene Prieſter und 
Mönche, fo wie der genannte Wilhelm der 
Goldſchmidt degradirt, zehn von ihnen der 


Bm — 22 De u ve} 





® 
8a) — Radulphus articulosus et astutus et vere catholicus. Ri- 
gord. a. a. O. 


Amalrich v. Bena u. David v. Dinant. 279 


weltlihen Macht überliefert und eznige anf 
Lebenszeit feſtgeſetzt werden ſollten a). Franen 
und minder Gravirte wurden gefchont b). 


Der König Philipp I. Auguft, weicher zur Zeit 


der Synode nicht zu Paris anweſend war, ließ nach feis 
ner Zurückkunft unverzüglich neun oder zehn von bem 
Berartheilten verbrennen. Bei der Erecution entftand ein 
beftigeö Unwetter, in welchem das Volk den Zorn felbft 
des Himmels über die Frevler erblidte c). Sie fand wahrs 





a) 


b) 
) 


Decreta magistri Petri de Corbolio Senobensis archiepiscopi 
et aliorum episcoporum Parisiis congregatoram super haereti- 
eis comburendis et libris non catholicis penitus destruendis. 
Bei Marten. et Durand. Thes. nov. Tom. IV. p. 166. — Cor- 
pus magistri Amaurici extrahatur a cimiterio et proiiciatur in 
terram non benedictam, et idem excommunicetur per omnes 
ecclesias totius provinciae. Bernardus, Gailelmus de Arria 
aurifaber,, Stephanus presbyter de veteri Corbolio, Stephanus 
presbyter de Cella, Iohannes presbyter de Oocines, magister 
Wilhelmus Pictaviensia, Dado. sacerdos, Dominicus de Trian- 
gulo, Odo et Elinans clerici de S. Glodoardo; isti degraden- 
tur, penitus seculari curise relinquendi. Urricus presbyter de 
Lauriaco et Petrus de S. Clodoardo, modo monachus 8. Dio- 
nysii, Guarinus presbyter de Corbolio, Stephanus clericus de- 
gradentur, perpetuo carceri mancipandi. 

— Mulieribus autem et aliis simplicibus, qui per maiores 
fuerant corrupti et decepti, pepercernunt. Rigord. a. a. O. 

— — Quorum perfidia hoc ordine detecta est. Praedictus 
Wilhelmus aurifaber venit ad magistram Radulphum de Na- 
muntico, dicens se esse missum a Domino, et hos infidelitatie 
articulos ei proposuit: „pater sub quibusdam, formis operatus 
est in veteri testamento, scijlicet legalibus, et filius similiter 
sab quibusdam formis, ut in sacramento altaris, baptismatis 
et aliis. Sicat ceciderunt formae legales in primo Christi ad- 
ventu, ita nanc cadent omnes formue, quibus filius operatos 
est, et cessabuut sacramenta, quia persona spiritus sancti clare 
manifestabit se, in quibus incarnabitur,, et principaliter per 
septem viros loquetor (quorum unus ipse Wilhelmus erat). 
His auditis magister Radolphus interrogavit, si aliquos habe- 
ret socios, quibus ista fuissent revelata. Qui cum respondisset: 
habeo multos, supradictos viros nominans, perpendens immi- 


280 _ Lroͤnlein 


ſcheinlich im Jahre 1200 und zwar den 19. November 
ſtatt d). 





nens pericalum ecclesiae, et se solam ad investigandam eorum 
nequitjam eosque convincendos non posse suflicere, ex qua- 
dam simulatione dicebat sibi esse revelatum a Spiritu sancto 
de quodam sacerdote, qui cum eo praedicare deberet sectam 
eorum. Et ut famam suam servaret illaesam, nuntiavit haec 
abbati sancti Viotoris et magistro Ruperto et fratri 'Thomae, 
cum quibus adiit episcopum Parisiensem et tres magistros le- 
gentes de theologia — — —. Qui territi valde iniunxerunut 
praedicto Radolpho in remissionem peccatorum suorum et al- 
teri sacerdoti, ut se fingerent esse de illorum consortio, do- 
nec scientias omnium audivissent et plenius omnes articulos 
incredulitatis sorum explorassent. Magister vero Rudolphus 
et sacerdos socius eius in executione huins laboris cum ’ipsis 
haereticis circuierunt episcopatum Parisiensem , Lingonensem, 
Trecensem et Archiepiscopatum Senonensem in tribus mensi- 
bus, et quam plurimos de eorum secta invenerunt. Ut itaque 
ipsi haeretici plene de ipso magistro Rudolpho confiderent, 
quandogue vulta elevato se spiritu in caelum raptum simula- 
bat et postea aliqua se vidisse dicebat, quae in conventi- 
culis eorum narrabat, et publice eorum fidem de die in diem 
se praedicaturum spopondit. Tandem reversi ad episcopum 
visa et audita enarraverunt, quo audito episcopus praedictus 
per provinciam pro eis misit, eo quod non essent“in civitate, 
excepto uno Bernardo. Qui cum essont in custodia episcopi, 
congregati sunt ad eoram examinationem.vicini episcopi et ma- 
gistri theologi, supposita sunt eis supradicta capite, quae qui- 
dam ex eis in praesentia omninm attestabantur, quidam vero, 
cum resilire vellent et se convinci viderent, cum caeteris sta- 
bant in eadem pertinacia neo negabant. Tanta audita perver- 
sitate, consilio episeoporum et theologorum ducti sunt in cam- 
pum et coram universo clero et populo degradati et in ad- 
ventu regis, qui tunc praesens non erat, exusti. Qui mente 
obstinata nullum ad interrogata dabant responsum , in quibus 
in ipso mortis articulo nullum perpendi poterat poenitentiae 
indicium. — — — — — Qustuor ex eis fuerant examinati, sed 
non sunt eombusti, videlicet magister Guarinus, Ulricus sa- 
cerdos, Stephanus diaconus, qui perpetuo reolusi sunt carcere. 
Petrus vero prae timore monachus eflectys est. Magister Alme- 
nicus, Qui praedictae pravitatis magister erat, eiectus est de 


Amalric) v. Bena u. David v. Dinant. 281 


Die ölumenifche Lateranfynode vom Sahre 1215 vers 
dammte abermals die Lehre Amalrich's, ohne jedoch feine 
häretifchen Säte näher zu bezeichnen a). Dürfte man übri⸗ 
gend einzelnen Andeutungen fpäterer Schriftfteller (unter 
denen anch Berfon) Glauben ſchenken, fo hätten fich Ueber⸗ 
tete der amalrich’fchen Secte noch lange im Geheimen 
forterhalten. — — 

Die pariſer Provincialſpynode verdammte überdieß 


— 


coemiterio et in campo sepultus. — — — Sicque per Dei gra- 
tiam haeresis exorta excisa est. — Caesar. Heist. Hist. illustr. 
mirac. p. 866 sqq. Colon. 1591. Ganz ähnlidy erzählt Rigor⸗ 
was den Hergang a. a. D. 

d) Kigordus, welder gleichzeitig mit Amalrih zu Paris lebte, 
fo wie das Chronicon Antidiss, (vgl. Launoyus de varia Arist. 
ia academ. Paris. fortuna, p. 128.) fegen die Synode und bie 
Hinrihtung der Amalricaner ins Jahr 1209, Damit flimmt 
auch Caͤſar von Heiſterbach infofern übetein, als er erzählt, 
es fey von den Weiflagungen Wilhelm's des Bolbfchmibts inner⸗ 
halb dreizehn Jahren, d. h. bis zur Zeit, wo er fchrieb, nichts 
eingetroffen. Gr hat aber fein Buch im Jahre 1222 abgefaßt, 
wie aus einer Stelle deſſelben (X. c. 43) hervorgeht. In bem 
Synodaldecrete bei Martene und Durand ift bloß der Tag anges 
geben (XII. calondas Dec.), an welchem bie Hinrichtung der 
Unglädlichen erfolgte; am Bande fteht die Jahreszahl „1210” 
beigedruckt. Sie fcheint mir jebody eine bloße, nach vorftehenden 
Bemerkungen irrige Angabe der Herausgeber zu feyn. Auch ihre 
Bermuthung , daß ein anderes, dem erfteren beigedrucktes Decret 
des Königs „ad laicas potestates super modo captionis et reten- 
tionis elericoram’” fi) auf die Mmalricaner beziehe, entbehrt 
eben fo fehr der näheren Begründung, als die Anſicht der Ber: 
foffee ber histoire lit. francaise (XVI. &, 189 ff.), nad 
welcher die Synode vor Oſtern 1210 flattgefunden haben und. 
zwiſchen dem GSynobdalurtbeile und dem Tage der Hinrichtung 
eine Zwifchenzeit von mehreren Monaten verfloffen fegn fol. 

a) Reprobamus etiam et damuamus perversissimum dogma impii 
Amalrici, cuius mentem sic pater mendacii excoecarvit, ut eins 
doctrina non tam haeretica censenda sit, quam insana, heißt 
das Urtheil der allgemeinen Synode. ©. Mansi Sacror. Conc, 
nov. et ampl. coll. Venet. 1778. XXI. 8. 982, 


282  Srönlein 


noch einige häretifche Schriften, unter denen fich auch eine 
von David von Dinant befand, weldhe in dem Synos 
dalbefchluffe „Quaternuli,” von Albertus Magnus an 
mehreren Stellen „tomi, h. e. de divisionibus,” genannt 
wird a), und ba ihr Ariftoteles ald die Quelle dieſer und ans 
derer möglicher Irrlehren erfchien, fo verbot fle zugleich dad 
Studium feiner naturphilofophifchen Schriften b). 





a) Quaternuli magistri David de Dinant infra natale episcopo Pa- 
risiensi afferantur et comburantur, nec libri Aristotelis de na- 
turali philosophia nec commenta legantar Parisiis pablice vel 
secreto. Et hoc sub poena excommunicationis inhibemus. Apud 
quem invenientur quaternuli magistri David a natali domini in 
antea pro haeretico habebitar. — — A. a. O. Davon, daß auch 
das Buch Erigena’s de divisione naturae auf ber parifer Synode 
verdammt worben fey, leſen wir zwar nichts in dem Gyn» 
dalbeſchluſſe, aus dem bie eben angeführten Worte entnommen 
find, aber ver Papſt Honorius III. erzählt ausdruͤcklich in eis 
nem 1221 gefchriebenen Briefe, „archiepiscopum Senonensem (mel; 
der, wie bemerkt, die Synode pyäftbirte) in provinciali con- 
cilio iusto Dei indicio eum (Erigenam) reprobasse, und Hen⸗ 
ricus DOftienfis behauptet baffelbe. S. Gerson. de concordia 
metaph. cum log. — Opp. IV. p. 826. Ed. Du Pin. Hagz. 
com. 1728. j 

b) £aunojus behauptet (de var. Arist. fort. p. 130.), daß auf bie: 
fer Synode alle ariftotelifdhen Schriften verdammt worden feyen, 
und die Gefchichtfchreiber pflegen ihm dieß faft durchgehende bis 
auf den heutigen Tag nachzuſchreiben. Er ſtuͤtzt ſich biebei ein» 
zig auf die Autorität des Rigordus, welcher am meiften Blau 
ben verdiene, „quam $. Dionysii monachus esset et regis me- 
dicus Luteciae degeret, et, quae viderit, ipse monumentis con- 
siguaverit suis.” Aber Rigorbus ſpricht „de libellis solum 
quibusdam de (ab) Aristotele compositis, qui docerent meta- 
physicam,” unb fügt hinzu: „iussi sunt omnes comburi et sub 
poena excommunicationis cantum est in eodem concilio, ne 
quis eos de castero scribere et legere praesumeret, vel quo- 
cungae modo habere.”’ Rigordus behauptet bemnady keineswegs, 
das alle Schriften bes Ariftoteles verdammt worden ſeyen. Es 
ift übrigens nicht ſchwer zu beweifen, daß felbft feine Angaben 
nicht ganz zutreffen. Gäfar von Heiſterbach nämlich, fo wie 
Hugo, ber Kortfeger des Chronio Antidiss., erzählen, daß nur 


Amalrid v. Bena u. David v. Dinant. 283 


Ben David von Dinant behauptete man bis zum Er⸗ 
feinen meiner Abhandlung, — und felbft noch Ritter 
widerfpridgt nicht entfchieden, — er fey ebenfalls Ans 
bänger Amalrich's geweſen. Einen hiſtoriſchen 


die „libri naturales oder de philosophia natarali” des Ariſto⸗ 
teles, unb zwar auf drei Jahre, verboten worben feyen, wels 
ches Legtere jedoch unrichtig fl. In bem in der unmittelbat 
vorhergehenden Rote mitgetheilten, Alles erklärenden Werte des 
Synodalbeſchluſſes, welcher bloß de philosophia natarali libro s 
et commenta des griechiſchen Philoſophen verurtheilt, if von ei’ 
ner Zeitangabe nicht die Rede. Daß ſich aber die Sache fo verhalte, 
erfehen wir zum Ueberfluß aus einem Schreiben des Papſtes 
Gregor IX, vom Jahre 1281, in welchem er, von biefer 
Gymobe ſprechend, gelegentlich erwähnt, es ſeyen durch biefelbe 
Ne axiſtoteliſchen Schriften „‚de naturali philosophia” verdammt 
worben. 
Sourbain kommt in feinem mit Recht geichägten Buche: 
recherches critiques sur l’age et sur l’origine des traductions 
latines d’Aristote (Pur. 1819), auf daſſelbe Reſultat hinaus, 
aus bemerkt er, daß damals die ganze Metaphyſik des Ariſtote⸗ 
les überhaupt noch nicht bekannt gewefen fey, fonbern nur ein. 
jelne Abſchnitte daraus, und daß auch nicht deffen ganze Raturs 
philofophie verdammt worben fey, ſondern nur einvon einem Zuben 
verfestigter Auszug aus berfelben, oder einige Abhanblungen des 
Avicenna und Algazel, weldye bamals als ariftotelifch ges 
golten hätten. S. ©. 214. 

Bald darauf (1215) wurden nicht allein die naturphilos 
ſephiſchen, fondern auch bie metaphyfifchen Schriften des 
Urtfkoteles verboten, dagegen aber das Studium feiner „dia 
lektiſchen“ Ciogifhen) Schriften geboten, — eine Maßregel, 
die der Gardinal Rob. Sourcon traf, welder vom Papfle’ 
den Auftrag hatte, die parifer Yiniverfität zu reorganiſiren. Gre⸗ 
gor IX, erneute biefe Anordnung, jedoch mit der Mobification, 
deß die durch den Gardinal verbotenen Schriften fo lange nicht 
gebraucht werben follten, „donec a suspicione haereseos liberati 
essent”. 

Diefe und ähnliche Verbote hatten jedoch gerade die ent- 
gegengeſegte Wirkung; man las und fludierte die verpönten Buͤ⸗ 
cher um fo eifriger, bis endlich die Kirche die Sache ganz fal⸗ 
len ließ, 

cheol. Sud. Jahrg. 1847, | 20 


284 Krönlein 


Grund hat man dafür nicht angegeben, und es liegt zu 
Tage, daß, da wir faum etwas Weiteres über feine Der: 
fönlichkeit wiffen, ala was in dem bereits mitgetheiften 
Synodaldecret enthalten ift, ein ſolcher auch nicht ange 
geben werden kann. Danadı war er.eben Magifter und 
hatte die genannte Schrift gefchrieben, Die gleichzeitige 
Verurtheilung berfelben mit den Amalricanern mochte zu 
der irrigen Vorausſetzung über feine angebliche Beziehung 
zu Amalrich, wie zu der fonft nicht näher begründeten 
Notiz bei Buläus a) Veranlaffung geweſen feyn, daß er 
im Anfange des 13. Jahrhunderts zu Paris Philofopbie 
und Theologie gelehrt habe. Wahrfcheinlid war er zur 
Zeitder mehrerwähnten Provincialſynode ſchon geſtorben. — 

Daß man auch keine innern Gründe für die Ab⸗ 
hängigkeit David's von Amalrich habe, wird die ſpätere 
Unterfuchung zeigen. Den fpärlichen Fragmenten gemäß, 
die und von Andern über feine Lehre mitgetheilt werden, 
war er ein kühner Dialeftifer, welcher fi für feine Zeit 
ungewöhnlidy in die ariftotelifche Philoſophie und in die 
alte Philofophie und Fitteratur überhaupt hineinftudiert 
hatte. Ebenfo möchte die Eigenthümlichfeit feiner Lehre 
zu der Annahme berechtigen, daß er eine für die Umftände 
ungemeine Unabhängigkeit Dee Eharafterd und der Ge⸗ 
finnung beſaß. 

Auch David fcheint eine Säule begründet zu haben; 
fo nennt Albertud Magnus einen gewiffen Balduin, 
den er ausdrücklich als einen Anhänger des Dinanters 
Beacinet b). — 


m — — — 





a) Bul. hist. aniv. Paris, Ill. p. 678. 

b) Alb. Magn. summ. theol. II. tract. 1. quasst, 4. eu 8. Rach 
einer andern, fpäter anzuführenden Stelle bei Alb, Magn. gab 
e& „quidam haeretici,“ welche biefelbe Dentweile verfolgten, wie 
David, Auch von Thomas von Aquin werden ‘„guidam mo- 
derni philosophi” als Anhänger david'ſcher Jrrthuͤmer bezeichnet, 
in sec. sent. lib. dist. 17. quaest. 1. art. 1. solut, 


Amalrich v. Bena u, David v. Dinant, 285 


Richt leicht dürfte fi ein ähnliches Beifpiel finden, 
wo an fich verfchiedene philofophifche Elemente fo fehr 
dur einander gewirrt würden, wie man folches bei als 
len frühern und noch bei den meiften jüngern Hiſtorikern 
gewahrt, welche diejenigen Häreflen, die gemeinfam durch 
die mehrerwähnte pariſer Provincialſynode verurtheilt 
worden find, darftellen. Selbft Engelhardt und Ritter, 
die forgfältigften unter ihnen, haben das Einzelne noch 
keineswegs fo recht als Unterfchiedliches erfannt und nad) 
Gebühr auseinander gehalten. Um dem Srrthume nicht 
nene Nahrung zu geben, foll in den nachfolgenden Ent: 
widelungen zunächft von der Lehre des Meiftere, dann 
von der feiner Schüler und endlich von der bavid’fchen 
Zheorie bie Rede feyn. Durch die möglichſt fcharfe Uns 
terfheidung der einzelnen Beitandtheile diefer allerdings 
in mehr ald einer Weife zufammengehörigen häretifchen 
Erfheinung wird natürlich die Einficht in das Verhälts 
niß, in weldyem fie zu einander felbft, wie zur wiflens 
(haftlihen und religiöfen Entwicdelung der Zeit ftehen, 
um fo richtiger vermittelt werden können. 


a) Die Lehre Amalrih’e. 

Die Berwirrung, welche ſich die Darfteller der amal⸗ 
tich' ſchen Lehre, — und unter diefen noch Hahn fo gut 
wie die frühern, — haben zu Schulden kommen laſſen, ift 
eine zweifache, indem fie nämlich 

1) die Anfihten Amalrich's und feiner An- 

bänger mit einaudber vermifchen, und, — 
was hier von befonderer Bedeutung if, — 

2) feine Zehrmeinungen mit denendes Joh. 

Scotus Erigena verwedfeln. 

Dem erften Fehler kann nur dadurch begegnet werden, 
daß Amalrich nichts zugefchrieben wird, was ihm nicht 
fraft unwiderfprechlicher Zeugniffe zufommt, follte dieß 

0 * 


286 Krönlein 


auch, wie es freilich der Fall feyn wird, auf ein Minis 
mum rebucirt werden müflen. Der andere aber fordert 
um fo mehr zur Vorſicht auf, ale die Gonfuflon ſchon in 
den Quellen ihren Sig hat. 

Die Quellenfchriften über Amalrich’d mehr angebliche, 
als wirkliche Lehre find alle, fo weit fle und zugänglich 
find und den bisherigen Darftellungen zn Grunde liegen, 
fecundärer Art, indem fie, ſämmtlich nicht von Zeitgenof- 
fen des Häretiferd abgefaßt, auf früheren Mittheilungen 
beruhen. Dahin gehören einige Ehronifen und hiftorifche 
oder biographifche Werke, 3. B. von Martinusd Po: 
lonus a) (welder etwa hundert Jahre nad Amalric 
fehrieb), von Kranz Pipin b) und bem unbekann⸗ 
ten Biographen Innocenz III. bei Muratori co) u. A., 
befonders aber eine Stelle in der Abhandluhg Gerſon's 
(} 1429) ‚de concordia metaphyesicse cum logica” d), bie 
ſich ihrerfeitd wieder auf Martinus Polonus und auf 
Heinrih von Oſtia ſtützt. Heinrich von Oſtia iſt um 
ſo wichtiger, als er der Zeit nach Amalrich am nächſten 
ſteht und aus einer directen Quelle geſchoͤpft hat. Um ſo 
mehr muß ich bedauern, daß ich gerade ſeiner Schrift 
(welche, ſo viel ich weiß, Briefe über die päpſtlichen De⸗ 
cretalien enthält e)) trotz aller aufgewandten Mühe nicht 
habhaft werden konnte und mich deßhalb mit dem bes 
gnügen muß, was Gerfon und Tennemann (in feiner Ger 
fchichte der Philofophie) daraus mitcheilen. Dieß reicht 
jedoch vollfommen zu dem auch anderweit noch zu lägen 


a) Mart. Polon. chronic., dem chronographiſchen Buche des Marianus 
Scotus beigebrudtt. Basil. 1569, 

b) Chron. Patris Fruncisci Pipini, Bonor. ord. Praed., bei Maratorii 
rerum Ital. script. Mediol. 1723. IX. 

c) Die betreffende Stelle in ber Biographie Innocenz IM. ift im 
Ganzen nur ein fehlerhafter Auszug aus Mart. Polon. 

d) Op. omn. tom, IV. Edit. Du Pin. Hag. comit. 1728. 

e) &, Fabricii bibl. Lat. med. aev. voc. Henric. a Segasio. 


\ 


Amalrich v. Bena u. David v. Dinant. 287 


den Beweife zu, daß alle andern Oxellenfchriftfteller und 
nach ihnen die früher ſchon namhaft aufgeführten Hiflos 
rifer in einem argen Irrthum über Amalrich’d Lehre bes 
faugen find. 

Die Sache verhält ſich nämlich fo, Heinrich von Oftia 
berichtet „ daß das Bud Erigena’d de divisione naturae 
dach Die parifer Theologen (auf der vielberegten Pros 
sincialfyrnode) wegen der Sjrrthümer verbammt worden 
ſey, weldye Amalrich aus bemfelben gefhöpft habe. Od o⸗ 
der Kanzler der parifer Univerfität, habe die einzelnen 
barerifchen Sätze aus dem Buche ausgezogen und vers 
dammt, uud von diefem Odo habe er felbit diefelben a). 
Diefe Säbe nun, welche hiernach ausdrüd 
lid Exrigena zugefhrieben werden, haben die 
fpäteren Schriftfieller aufgegriffen und bie 
aufdieneuefllezeitfür die verurtheiltenLehr⸗ 
neinangen Amalrih’sausgegeben. Daß fie aber. 
wirklich und zwar meiſtens wörtlich ausgeſchrie⸗ 


⸗ — 


a) Impii Amalrici dogma istud colligitur in libro magistri Joannis 
Scoti, qui dicitur „periphysica i. e. de nalura,’” quem secutus 
est iste Amalricus, de quo hic loguimur. Sed et dictus loannes 
in eodem libro auctoritates cuiusdam Graeci, nomine Masimi, 
istrodacit. Jo quo libro, qui et per magistros damnatus fait 
Parisiis, multae haereses continentar (bie fofort aufgezählt wers 
den. Es find biefelben, welche in ben naͤchſten Roten folgen). 
Hesricas Ostiensis ad lib. I. tir. 1. cap. 2. decretalium de tri- 
nitate et ide catholica. $.reprobamus. Vgl, ZennemannGeld. 
d. Phil. a. a. O. — Ponitur alius articulus de Theophano, et hic 
est contra Joannem Scotum in libro, qui dicitur „periphyson 
i. e. de natura,” contra quem scripsit Hugo „super coelesti 
hierarchia”, qui liber (Scoti), ut dicit Hostiensis, damnatas 
fait per magistros Parisienses propter alios errores, quos ab 
illo sumpsit dictus Amalricus.. — — — — — Praedictus insuper 
Odo Tosculanus, qui fuerat cuncellarius Parisiensis, notaverat 
et damnaverat errores dicti libri, et ab hoc Odone dicit Ho- 
stiensis se praedictos errores accepisse. — Gers, op. tom. IV. 


p- 826. 


288 Krönlein 


bene Stellen ans dem genannten Buchelrige 
na’s find, davon hätte ein einziger WBli in das letztere 
überzeugen können. Uebrigens beginnt die Berwechfelung 
fhon mit Martinus Polonus, welcher von den fraglichen 
Säten, die auch er mittheilt, zwar bemerkt, fie feyen 
and der. Schrift Erigena’s, fie aber nichts defto weniger 
alle auch Amalridy beilege. Woher er felbft fie hat, habe 
ich nicht ausfindig machen koͤnnen. Jedenfalls war wohl 
Heinrich von Oſtia feine Quelle nicht, denn er führt mehr 
Säbe auf, als diefer, und weicht in Ausdrud und Ans 
ordnung mehrfadh von ihm ab, — fo weit nämlidy aus 
den Gitaten bei Gerfon und Tennemann zu erfehen if. 
Auch darüber finde ich Feine Andeutungen, woher die an: 
dern Ghroniften ihre Notizen haben. 

So fümen wir ſchon vorläufig zu demRefultate, daß 
wir in dem, was bisher hauptſächlich ale Theorie Amals 
rich’& gegolten hat, nur einzelne, aus dem Zufammenhange 
geriffene Sätze Erigena’s zu fuchen hätten, über die wir 
geradezu mit Stilfhweigen hinweggehen Fönnten, wenn 
es nicht einerfeitö erlaubt wäre, Doch wieder einen ge 
wiffen mittelbaren Gebraudh von ihnen zu machen, 
und wenn ed andererfeitd nicht Darauf anfäme, die Rich⸗ 
tigkeit der eben entwidelten Sachlage noch weiter durch 
die Zufammenftellung der verurtheilten Kehrmeinungen mit 
den bezüglichen Terteöftellen aus dem Buche Erigena’s zu 
erhärten. Ich ftelle fie daher in diefer Weife in den Ro: 
ten neben einander und hebe bier nur hervor, daß fie 
die Identität®ottedund des Allsder Dinge»), 


— — — —— —— 


a) Hierher kann man nachfolgende fünf Saͤtze zählen: 

a) Quod omnia sunt Deus. Henuric. Ostiens. bei Tenne⸗ 
mann u. Gerfon a. a. DO. ©. Erig. dedic. ad Max. Schol. — 
ita, ut et Deus omnia sit et omnia Deus sint. Vergl. De di- 
vis. nat. III. 17. und I, 74. Der gewöhnlichere Ausdrud Grige 
na's ift freilih: omnia sunt in Deo. 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 289 


fo wiedie mit dieſer (idealiſtiſch) pantheiftifchen Grundanficht 
zuſammenhängende Borfiellungvonderfchöpferifchen 
Selbfiverwirflihung der göttlihen Ideen») 
und von der Erfenntnißmöglichleit Got 


b) Motum Deo dare non possum, cum in ipso sint omnia 
et cum ipse sit omnia. Henr. Ost. daf. — ©. Erig. — Mo- 
tam Deo dare non possum, quia solus immutabilis est, nec 
habet, quo, vel ad quid se moveat, cum in ipso sint oınnia, 
immo cam ipse sit omnia. De divis. nat. I, 74. 

c) Non facile posse negari, creaturam et creatoremidem esse. 
Mart. Pol. p.211. ©. Erig. — M. „Qnid, si creaturam creatori ad- 
ionxeris, ita at nil alind in ea intelligas, nisi ipsum, qui 
solus vere est ? nil enim extra ipsum vere essentiule dicitur, 
quia omnia, quae ab eo sunt, nil aliud sunt, in quantum sunt, 
nisi participatio ipsius, qui a se ipso solus per se ipsum sub- 
sisit. Num negabis creatorem et creaturam unum esse.” — 
D. „Non facilenegarim, huic enim collectioni resistere videtur 
mihi ridiculosum.” De divis. nat. lib. II. c. 6. 

d) Sicut alterius naturae non est Abraham, alterins Isaac, 
sed unins atque eiusdem, sic omnia esse unum et omnia esse 
Deam. Mart,. Polon. a, a, DO. — S. Erigen. „Quid enim? 
numqguid duo nomina a se invicem sono, non sensu discre- 
pantia in ana eademque natura intelligi non valent,, cum Abra- 
bam et Isaac, patrem videlicet et filium, unam naturam signi- 
Gcare videamus ? Non enim alterius naturae nomen est Abra- 
ham, alterius Isaac, sed unius atque eiusdem.” — De divis. 
nat. lib. I. c. 14. 

e) Deum esse essentiam omnium Creaturarum et esse 
omnium. Martip. Polon. a. 0.0. — ©. Grigen. „Fieri si qui- 
dem aestimatur in creaturis suis universaliter, dum in eis non 
solum intelligitur esse, sine quo esse non possunt, sed et 
eorum essentia est. Esse enim omnium est, superesse autem 
divinitatis, ut s. ait Dionysius.”’ De divis. nat. lib. I. cap. 73. 

a) Secundus (error) est, quod primordiales causae, quae vocan- 
tur ideae, i. e, forma sen exemplar, creant et creantur. — 
Henric. Ost. a. a. DO. Oder, wie Martinus Polonud a. a. DO, 
den Gedanken ausdsüdt: Almaricus asserit, ideas, quae sunt 
io mente divina, creare et creari, quum secundum Augustinum 
aihil visi aeternum atque incommutabile sit in mente divina, 


290 ** Kroͤnlein 


tes in ber Creatur e), ferner die eigenthümliche Mei⸗ 
nung Erigena’d von der Generation der Menſchen 
nnd ihrem gefhledhtlihen Verhältniß üben 


haupt ald Folge dererfien Sünde db), nud endlich 


Aus den zahlloſen Stellen bei Erigena, welche dieſen Gedanken 
ausſprechen, hebe ich nur folgende aus: universalis itaque ne- 
turae — — ea forma socunda enitet, quae creat et creatur, et 
non nisi in primordialibus causis rerum, ut-aestimo, intelli- 
genda est; ipsae primordiales rerum causae a Graecis „proto- 
typa”, h. e. primordialia exempla vel prourismata vocantur; — 
item — ideae quoque i. e. species vel forma cett. De dirvis, 
nat. II. c. 2. — Martinus bat in dem Rachſatze „quum secun- 
dum cett.’” wahrſcheinlich bie in ber mittelalterlihen Philoſophie 
häufig eitirte Stelle aus der Schrift des heil. Xuguftinus de di- 
vers, quaestionib. lib. 88. quaest. 46. im @inne. 


a) „Dixit, quod, sicut lux non videtar in se, sed in aöre, sic Deus 


b) 


nec ab angelo neque ab homine videbitur in se, sed tantum 
in creaturis.” Mart. Polon. a, a. O. — Die Originaiftelle bei 
Grigena ift wohl folgende: „absente luce aör est obscurus, so- 
lis autem lumen per se subsistens nullo sensa corporeo com- 
prehenditur. Cum solare (solis) lumen aöre miscesatnr, tunc 
incipit apparere; ita vero, ut in se ipso sensibus sit incompre- 
hensibile, mixtum vero aeri, sensibus possit comprehendi.” 
Bol. dazu: „at per hoc intellige divinam essentiam per se in- 
comprensibilem esse, adiunctam vero intellectaali creaturae 
mirabili modo apparere, ita, ut ipsa divina, dico, essentia io 
sola creatara intellectaali videlicet appareat ,” — — — ferner: 
— „ut Deus, qui per se ipsum incomprehensibilis est, iu cres- 
tara guodammodo comprehendatur.” De divis. nat. lib. I. c. 10. 
Daß dieß auch von dem Schauen ber Engel gelte, wirb bort 
weiter ausbrüdlidy ausgeſprochen. 

„Asseruit, quod, si homo non peccasset, in duplicem sexum 
partitus non fuisset nec generasset, sed eo modo, quo sancti 
angeli multiplicati sunt, multiplicati fuissent et homines. Et 
qaod post resurrectionem utriusque sexus adunabitur, sicut 
(at asserit) fuit prius in creatione. Et talem dixit Christus 
fuisse post resurrectionem.” Mart. Pol. a. a. DO. — ferner: 
„Tertius (error) est, quod post consummationem secnli erit 
adupatio sexuum sive non erit distinctio sexus; quam aduna- 
tionem in Christo asserit incepisse.” Henr. Ost, a, a, D. — 


Amalrich v. Vena u. David v. Dinant. 291 


die bereinfige Rückkehr aller Dinge in die 
untbeilbare und unwandelbare Einheit des 
göttlihen Seyns nnd Wefens betreffen a). 
Zu den Amalrich untergeichobenen biöher befannten 
Sägen füge ich bier darum zwei von mir nenanfgefundene 
binze, weil fie, wie bie meiften andern durch das Mes 
diam der gerfon’fchen Auffaffung hindurchgegangen, ihm 
gleichfalls nicht mit Sicherheit zugefchrieben werben dür⸗ 
fen. Nach ihnen hätte er gelehrt, daß der menſchliche 
GSeiſt, wenn er fih zur wahren Bernänftig- 
feit erhebe und von der kiebe zu Bott voll, 
fommen dDurchdrungen fey, in feine ewige, gött⸗ 


Bel. folgende Stellen bei Erigena: „Nam si primus homo non 
peccaret, naturae suae partitionem in duplicem sexum non pa- 
teretur, sed in primordialibas suis rationibus, in quibus ad 
imaginem Dei conditus est, immutabiliter permaneret; — — 
— — homo namque solummodo esset in simplicitate suae na- 
turae creatus eoque modo, quo saucti augeli multiplicati sunt 
istellectualibus numeris, multiplicaretur.”” De divis. nat. lib. 
ll. c. 6. p. 49. — cf. ib. c. 9. — „Quae divisio in Christo 
adupestionis sumpsit exordiam, qui in seipso humanae naturae 
restauretionis exemplum veraciter ostendit et futurae resur- 
rectionis similitudinem praestitit.” Ibid. lib. IT.c.6. — — — „et 
quoniam post adunstionem hominis, h. e. duplicis sexus in 
pristinam naturae unitatem, in qua neque masculus neque ſoe- 
mine, sed simpliciter homo erat, confestim orbis terrarum 
adenatio ad paradisum seguitar.” Ibid. lib. II. c. 8. 

a) Dixit etiam, quod ideo finis omuinm dicitar Deus, quia omnia 
reversura sunt in eum, ut in Deo immutabiliter quiescant 
et uaum iadividaum atgque incommutabile in eo permanebant. 
Martin. Pol. a. a. O. — Bergl. Erig. — — quoniam vero nd 
eandem causam (omnium) omnia, quae ab eo procedunt, dum 
ad finem pervenient, reversura sunt, propteren finis omnium 
dicitar et neque creare, neque creari perhibetar. Nam post- 
quam in eam rerversa sunt omnia, nil ulterius ab ea per gene- 
rationem loco et tempore, generibus et formis procedet, quo- 
sam in ca omnia quieta sant et unam indiriduum atque in- 
commutabile manebunt.. De divis. nat. II, c. 2, 


292 Krönlein 


lihe Idee zurückkehre und fogar bie göttliche 
Wefenheit felbft annehme, fo daß er keine 
Creatur mehr fey und Bott nicht mehr in der 
Creatur fhaue und liebe, fondern in Gott 
ſelbſt umgewandelt werde, in Folge beffen 
dann menſchliche und göttliche Erkenntniß und 
Liebe zuſammenfielen ). 

Sind daher die vorſtehend citirten Stellen nicht als 
Ausſprüche Amalrich's ſeldſt anzuſehen, fo berich⸗ 
ten doch alle Gewährsmänner einſtimmig, daß er ſich in 
ſeiner Denkweiſe auf Erigena baſire, und es bleibt dem⸗ 
nach fo viel ſicher, daß fie eine der erigena'ſchen ähm 
lihe war. Es kann nun nicht darauf anfommen, wie 
das Syſtem Erigena’s überhaupt aufzufaffen ſey, — wor: 
über befanntlich bi zur Zeit noch geftritten wird b), — 


a) Fuerunt enim qui dicerent spiritum rationalem , dam perfecto 
amore fertar inDeum, deficere penitus a se ac reverti in ideam 
propriam, quam habuit immutabiliter ac aeternaliter in Deo 
oe... — Dicunt ergo, quod talis anima perdit so et esse 
suum et accipit verum esse divinam, sic, guod iam non est 
creatura, Dec per creaturam videt aut amat Deum, sed est 
ipse Deus, qui videtur et amatur. — — — Hanc (insaniam) 
etiam nisus fuit pouere Almaricus haereticus ab ecclesia con- 
demnatus — —. Gers. de myst. theol. specul. consid. 41. op. 
Tom. III. p. 8%. — — — — ac perinde segnitar, quod 
similitudo , adducta per qualemcungue doctorem de infusione 
guttae aquae in dolium vini fortissimi, ad unionem animae 
contemplautis cam Deo, tanquam sit omnimoda similitudo, re- 
pudianda ost prorsus, tanquam habens errorem, immo insa- 
niem Almarici condemaati, ponentis creaturam verti in Deum 
et in suum esse et principium ideale, sicut notat Hostiensis 
super illud oapitulum: „damnamus cett.’” Gers. op.tom.I. p. 80. 

b) Man vgl. hierüber u, A. befonders bie Vorrebe zur Ausgabe ber 
Schrift de divis. nat. von &. B. Schlüter (Münfter 1838), 
wo bie hauptſaͤchlichen gegenfäglichen Anfichten Älterer und neue 
rer Gelehrten über das Syſtem Erigena's entwickelt und kritiſch 
beleuchtet werden, Berner: Staubenmaier, Job. Stot. Eri⸗ 


Amalrid) v. Bena u. David v. Dinant. 293 


fondern vielmehr, wie Diejenigen es aufgefaßt haben, von 
denen feine wie Amalrich's kirchliche Berurtheilung ausge⸗ 
gangen if. Darüber aber gewährt und gerade die Her, 
vorhebung der als häretifch bezeichneten Säbe aus der 
Schrift de divisione naturae den nöthigen Aufichluß, denn 
ed it Fein Zweifel, daß fie darin (myſtiſch) idealiſtiſch 
pamtheiftifche Irrichren gefehen haben. In diefem Lichte 
muß ihnen nun wohl auch die religiöfe Anfchauung Amals 
rich's erfchienen ſeyn. 

Daraus würde es ſich denn auch erklären, warum 
diejenige Behauptung, von welcher wir allein mit Sicher⸗ 
heit wiſſen, daß ſie von Amalrich ausgeſprochen worden 
if, für häretiſch gehalten werden konnte. Er lehrte näm⸗ 
lich, jeder Chriſt müſſe glauben, er ſey ein 
Glied Chriſti und könne nicht ſelig werden, 
wenn er daran nicht eben fo gut glaube, wie 
andie Gceburtund den Tod des Erlöferg,oder 
an andere wichtige Slaubensartilelea). Ja er 
dehnte nach dem Zeugniß eines Chroniften feine Anficht 
fo weit aus, daß er von Jedem zu glauben verlangte, 
er habe als Glied des Leibes Chriſti gemein 
fam mit ihm am Kreuze gelitten b). Hätte er der 


gena und die Wiffenfchaft feiner Zeit. Frankf. 1834, u. beffen: 
die Philofophie des Ehriſtenthums od. Metaphyſik der heil. Schrift 
1. ©. 536-593. ®ieß. 1840, 

2) Unde et in ipsa theologia ausus est constanter asseverare, quod 
quilibet christianus teueatur credere, se esse membrum Christi 
nec alignem posse salvari, qui hoc non crederet; non minus, 
quam si non crederet Christum esse natum et passum, vel 
alios fidei articulos, inter quos articulos ipse hoc ipsum au- 
dacter audebat dicere annumerandum esse. — Rigord. ap. Du- 
chesn. Tom. V. p. 50. 

b) — — — Amalricus — — — — palam docuit quosque chri- 
stianus membra Christi corporis esse et, dum a ludaeis Chri- 
stas pateretur, una cum ipso dolorem atque afflictiouem gpisse 
revera perpessus, Rob. Gaguin. rerum Gallicarum anırpeg. 100. 


294 Krönlein 


an ſich apoflolifchen Lehre von der Kirche als Leib Ehrifi =) 
nicht eine frembdartige Bedeutung untergefchoben, fo würde 
er ficher deßhalb nicht angefochten und verurtheilt wor: 
den ſeyn. War aber dieß ber Fall, fo liegt die Annahme 
am nädhflen, daß er fie von dem Gtandpunfte einer ers 
ceffiven Immanenziehre aus deutete, fo daß man hierin 
eine Sonfundirung des göttlichen und menfchlichen Gei⸗ 
tes ſah, eine Annahme, die um fo wahrfcheinlicher wird, 
wenn man fid; von dem Geifte der Lehre feiner Anhänger 
auch nur den leifeften Rückſchluß auf den feiner eigenen 
erlanbt. Go würde es denn zugleich begreiflich, wie 
man feine Lehre kirchlicher Seite nicht bloß einfach ale 
häretifch verwarf, fondern fogar als eine „Insana” bezeich⸗ 
nen mochte, und es fände die obige, mehr auf hifkorifchen 
Gründen beruhende Bemerkung über feine wiflenfchaft- 
lihe Srundanfchauung auch von diefer Seite her wieder 
ihre Stüße. 

Wie weit nun Amalrich feine Principien ausgeführt 
hat, ob er auch in andern Punkten merklich von dem or⸗ 
tbodoren Glauben abgewichen ift, ob über dad Ber 
hältniß feines Standpunktes zum poſitiv chriftlichen doch 
auch wieder ähnliche Gontroverfen möglich wären, wie 
über den feines Führers Erigena: darüber ift eine ber 
ſtimmte und zureichende Antwort aus dem einfachen Grunde 
uicht möglich, weil ed über den weitern Inhalt feiner 
Lehre ganz und gar an Mittheilungen fehlt, — und wohl 
für immer fehlen wird; denn ich erlaube mir auf dem 
Grunde meiner Nachforſchungen die Behauptung, daß hier, 
über etwas wefentlich Neues und Zuverläffiges nicht mehr 
zu finden ift, wenn nicht etwa (was jedoch nicht einmal 
wahrfcheinlich if) in den Schriften Odo's, welche noch 
ungedruct in der vaticanifchen Bibliothek liegen follen b). 


— — — — — —— — — 


a) öm. 12, 4, 5. — 1 Kor. 12. — Eph. 14, 6. 
b) Ueber Odo (Tusculanus) vgl, Fabric. bibl. Lat. med. aer. V. 


J 


Amalrich v. Vena u, David v. Dinant. 295 


Uebrigens fcheint er ſelbſt fonft nicht allzu fehr zum Aus⸗ 
Ihweifenden fortgegangen zu feyn. Wie hätte er doch zu 
feiner Zeit niht nur dem Geruche der Keberei bis kurz 
vor feinem Tode entgehen, fondern felbft zu hohem Ans 
ſehen gelangen können, wenn er z. B. den Pautheismus 
fo plump gelehrt hätte, wie er in den ihm untergefchobes 
nen Behauptungen liegt? Wenn Erigena in der Ent- 
widelung feiner fonft unftreitig großartigen Weltaufchan» 
ung Anfichten andgefprochen hat, die fidh nicht wohl mit 
der Kirchenlehre vereinigen laffen, fo mochte er dazu durch 
die neuplatonifche Grundlage veranlaßt worden feyn, 
von ber er ausging, ohne daß fogleich anzunehmen wäre, 
er. habe abfichtlich dem chriftlichen Glauben zu nahe 
treten wollen, — denn für den Sachverfländigen braucht 
nicht erft bemerkt zu werden, daß aus den oben ange» 
führten Sitaten der fpecififhe Charakter feiner Lehre nicht 
su erfehen iſt. Vielleicht dürfte daſſelbe auch für Amals 
rich gelten. 

Wie dem aber andy fey, fo glaube ich wenigſtens, 
die fchlimmen Nachreden über feine fittlihen Princi⸗ 
pien und Lehren um fo cher als unbegründet abweifen 
zu können, als fie bloß von fpätern Chroniſten vorge⸗ 
bracht werden, während bie früheren Berichterflatter ders 
artige Anfchuldigungen bloß gegen feine Auhänger ers 
beben =), 





p. 466. unb Oudin. de script. eccles. III. p. 200. Lips. 1722. 
Aud) die Quellen, welche Hahn zuerft benust bat, find nicht 
primärer Art und enthalten kaum eine einzige, das Verſtaͤndniß 
der Sadye wirklich fördernde Notiz. | 
a) Fait eo tempore Almaricas Carnotensis philosophis et catho- 
licis quaestionibus aingularis, qui doctrina perversam confin- 
gens charitstem sic respondebat, quod id, quod alias pecce- 
tum, si in charitate fieret, peccatum non esset, unde et 
foraificationes et alia nefanda occulte sub charitatis specie 
deceptis simplicibus committebat. loaan. Frasquet. ap. Bul. 





296 Krönlein 


b) Die Lehre der Amalricaner, 


Daß die Lehre des Meifterd und der Schule wohl 
auseinander gehalten werden müſſen, ift oben ſchon bes 
merft worden. Mögen fie in noch fo naher Beziehung 
zu einander geitanden haben, fo müſſen wir an der Ver: 
fchiedenheit beider in fo weit feflhalten, ald es von Sei: 
ten der Quellen felbft gefchieht. Diefe aber, fo fehr fie 
auch darauf beftehen, daß die häretifhe Secte durch 
Amalrich bedingte worden fey, fprechen doch von den 
nachfolgend zu entwickelnden Anfichten als von Anfidys 
ten der Schule und nicht ihres Urhebers. Wohl 
wäre ed möglih, daß fie in den Vorträgen Amalrich’e 
nur die ihnen zufagenden Principien gefunden und fie 
dann auf ihre Weife weiter geführt und audgebeutet 
hätte. 

Ueber ihre Härefien haben wir ziemlich nmfländliche 
Berichte. Außer den weitläufigen Erhibitionen bei Ris 
gordus und Cäſar von Heifterbach befigen wir noch ein 
Actenſtück, — den fchon erwähnten Befchluß der parifer 
Provincialfynode nämlich =), in welchem ihre vorzüglichs 
ſten Lehrmeinungen einzeln aufgeführt werden. Dabei 
bleibt freilich die Mißlichkeit, daß alle dieſe Mittheilun- 
gen von gegnerifchen Theologen und Hiftoritern herſtam⸗ 
men, die, weit davon entfernt,nach dem wiffenfchaft- 





— — — — — 


hist. univers. Paris. Tom. III, pag. 674. — Dixerat etiam 
(Almaricous), quod in charitate constitutis nullum peccatum 
imputabater, Unde aub tali specie pietatis eias sequaces 
omnem turpitudisem commatabant (committebant). Mart. Polon. 
chronic. p. 211. — &igorbus und @äfar von Heiſterbach, weldye 
body die Sache beſſer Eannten, legen biefe Lehre ausdruͤcklich 
bloß den Schülern bei. 

a) Sr findet ſich bei Martene (thesanr. anecdot. IV. f. 169) und 
führt den Titel: Hae aunt haereses, pro quibus quidam sacer- 
dotes et clerici Parisiis igue examinati et consumti sunt, quia 
vonta est in illis inignitas. — Ex MS. Viconicasi. 1210, 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinanf. 297 


lichen Berthe oder Unwerthe der verurtheilten Anfichten _ 
ju fragen, darin nur den Ausdrud eines erorbitant uns 
gläubigen und gottlofen Sinnes ſahen. Doc, haben wir 
auch feinen biftorifchen Grund, an der Wahrheit dee und 
einkimmig Ueberlieferten zu zweifeln, zumal aus einzels 
nen Spuren zu erhellen fcheint, daß es ficher Überfpannte 
Köpfe unter ihnen gab. ben fo mögen fie vielleicht 
auch vom fittlihen Verirrungen nicht ganz frei geblieben 
ſeyn, wie fie in verfchiedenen religiöfen Kreifen jener Zeit 
dänſig genug vorgelommen find. Nicht zu überſehen .ift 
jedoeh, Daß das officielle Document, — der Synodalbe⸗ 
ſchluß, — der Secte gerade in leßterer Beziehung nichts zur 
kaſt legt. 

Dem allgemeinen Charakter nach ift die Theorie der 
Amalricaner pantheiftifch; doch verfolgten fie nad 
den und Gberfommenen Zeugniffen den Pantheißmus kei⸗ 
neswegs in rein philofophifchem, fondern vielmehr in 
praftifchem Intereſſe, d. h. nach gewiſſen hiſtoriſchen, 
dogmatiſchen und ethiſchen Beziehungen. Bon dem Glau⸗ 
ben ſich gänzlich losfagend, fuchten fie die Wahrheit auf 
dem Wege ded denkenden Bewußtſeyns a) und geftal- 
teten fo eine Art Rationaliömus auf pantheifti> 
der Grundlage, mittelft deffen fie die Hauptfäße 
der chriftlichen Dogmatif ausdeuteten oder — wie Ris 
gordus fich ausdrückt — ausleerten. 

Daß es dabei auf eine gründliche Durchbildung des 
dantheismus nicht hinauslaufen konnte, iſt begreiflich, 
deßwegen wird denn auch der Satz: Alles iſt Eins, 
und was ift, it Bott b), weder näher begründet, 


3) item semetipsos iam resuscitatos asserebant, fidem et spem ab 
eorum cordibus exciadebant, se soli scientiae mentientes sub- 
iacere. Decret, ap. Mart. 

b) Omnia uoum, quia quidquid est est Deus, und darauf folgt: 
„uodo geidam eorum, nomine Bernardus, ausas est affirmare, 
se nec posse cremari incendio, nec alio torqueri supplicio, in 





298 Krönlein 


noch beflimmter gefaßt. Nichte deſto weniger iR die 
idealiftifche Färbung ber ganzen Brundanfchauung 
nicht zn mißlennen. Abgefehen nämlich davon, daß fle, 
nach einer, freilich hiſtoriſch nicht allzn feſtſtehenden, Rotig bei 
Thomas von Aquin, in Gott das Formalprincip aller 
Dinge gefehen haben follen =), fo kundigt fich Die bezeich⸗ 
nete Richtung auch im ihren anderen Lehren au, 3. B, 
in der von der göttlichen Dreieinigleit. Das Dogma von 
der Dreieinigkeit, fagten fie, bedeute nichts Anderes, als 
drei DOffenbarungeformen und Stadien der Gottheit In 
der Geſchichte, und daranf hin feyen drei univerfalger 
ſchichtliche Perioden zu unterfcheiden. Die erfte fey 
Die Zeit der Herrfchaft des Baterd ohne den 
Sohn nud ohne den heil. Geiſt, — die Zeit 
des alten Teſtaments, der Aeußerlichkeit des 
Geſetzes und der religidfen Inflitutionen. 
Sie habe gedauert bis zur Incaruation Des 
Sohnes, wo eine neue Ordnung der Dinge 
entkauden fey, in welder die meiften alten 
situellen Formen abgefhafft worden wären. 
Run aber ſey and die Periode des Sohnes 
su Ende und es beginne das Reich des heil. 
Geiftes, in welhem alle äußeren Bermitte: 
Iungsmomente zwifchen Gott und den Mens» 


quantam erat, quia in eo, quod erat, se Deum dicebat. Tum 
Deus visibilibus iadutus erat instrumentis, quibus videri pote- 
rat a creaturis ot accidentibus corrumpi poterat eztrinsecus.” 
Deor. ap. Mart. 

a) Alii dixerant Deum esse principium formale omnium, et haec 
dicitur faisse opinio Amalriauorum. Thom. Aquin. Summ. 
theol. 1. Quaest. 8. Art. 8. Wäre diefe Angabe zuverläffig ge 
nug, fo würben die Anhänger Amalrich's hierin, wie in mehre⸗ 
ven anderen Punkten, mit ben fpäteren Begharden überein: 
ſtimmen. Diele behaupteten ebenfalld: quod Deus sit formaliter 
omne, quod est. — Mosheim de Beghardis et Beguinabas. 


Amaltich v. Bena u. David v. Dinant. 299 


(den wegfallen müßten, indem nunmehr das 
Serhältnig zwifchen ihnen ein rein innerli- 
ed und unmittelbares fey, Wie der Bater 
in Abraham und der Sohn in Maria incars 
niet worden fey, fo werde fortan bis ang 
Ende der Zeit der heil. Geiſt in einem Jeden 
incarnirta), und wirfe Alles in Allemb). Die 
Incarnation ber Gottheit bedeute aber nichts 
Anderes, als ihre Erfcheinung in fihtbaren 
Formen c), Ä = 
Wenn nun fo Alles in den Geiſt verlegt wird, fo 
leuchtet die ideatififche Tendenz der Sectenlehre von felbft 
aa, und darin befunder ſich wohl die erigena’fche und 
amalrich’fche Unterlage. Die weitern Parthien berfelben 
ſind meiſtens nur Ausdeutungen chriftlich dogmatifcher 
Lerſtelungen von dieſem Standpunkte aus. So lehrten 
fe, unter der Auferſtehung der Todten ſey 





ı) Auctoritas s. sic loquitar: opera trinitatis inseparabilia. Hi e 
contra: pater a principio operatus est sine filio et spiritu s. 
usque ad eiusdem filii incarnationem. Item auctoritas: solus 
flias incarnatus. Hi e contra: pater in Abraham incarnatus, 
flias in Maria, spiritus s. in nobis quotidie incarnatur. De- 
eret. . c. — — — Item filias usgue nunc operatus est, sed 
spiritaus s. ex hoc nunc usque ad mundi consummationem in- 
choat operari. ibid. — Inter alios corum errores impudenter 
astruere nitebantur, quod potestas patris duravit, quamdiu vi- 
guit lex Mosaica. Et quia scriptum est: novis supervenienti- 
bus abiicientur vetera, postquam Christus venit, aboleverunt 
omnia T. V. sacramenta et viguit nova lex usque ad illud 
tempus. In hoc ergo tempore dicebant T. N. sacramenta fi- 
nem habere et tempus s. spiritus incepisse, quo dicebant con- 
fessionem, baptismum, eucharistiam et alia, sine quibus 
salus haberi non potest, locum de caetero non habere, sed 
unomqnemque tantum per gratiam spiritus a. interius sine actu 
aliquo exteriori inspiratam salvari posse, Rigord. I. c. — 

b) Ille (spiritus s.) operatur omnia in omnibus. Caes. H. |]. c. 

e) Item: Glius incarnatus, id est visibili formae subiectus.. — — — 
Deeret. 1. c. 

Test. Stud. Jahrg. 1847. 21 


300 Krönlein 


nur die unmittelbare Selbftoffenbarung des 
heil, Geiſtes im menfhliden Bemwußtfeyn zu 
verfiehen, die ſich anf deffen Incarnation 
im Menfhen gründe. Natürlich fahen fie ſich ſelbſt 
ald Auferſtandene ana), Mit dieſen Grundvoraus—⸗ 
ſetzungen hingen auch die beiden anderen Behauptungen 
zuſammen, daß Chriſtus nicht mehr Gott gewe— 
fen ſey, als irgend Einer aus ihnen b), und 
daß Gott ebenfowohl in Ovid geredet habe, 
als im heil. Auguftin co). 

So wird es zugleich von felbit Mar, wie die Anhaͤn⸗ 
ger Amalrich’ö alle äußeren Beranftaltungen zur Vermitte⸗ 
Iung Gotted und der Menfchheit negiren mochten. Sie 
beriefen fich nämlich auf dad innere, unficktbare 
Band, durch welches fie mit dem heil. Geiſte verknüpft 
feyen, in Kolge defien fie die Sacramente und die 
religiöfen Gebräuche entweder ganz verwarfen, ober 
ihnen einen anderen Sinn unterfchoben d), Sie fagten 
confequent, daß Niemand, weldher in der Im 
manenz des heil. Geiſtes ſtehe, fündigen könne, 


a) Item spiritus s. in eis incarnatus, ut dixerunt, eis omnia reve- 
labat et haec revelatio nihil aliud erat, quam mortuorum re- 
surrectio. Item semetipsos iam resuscitatos asserebant — — 
— — — — Decret. 1. c. 

b) Item filius,incarnatus, i. e. visibili formae subiectus: nec aliter 
illum hominem esse Deum, quam unum ex eis cognoacere Yo- 
luerunt. Decret. 1. c. Unde concedebant, quod unusgaisgne 
eorum esset Christus et spiritus s. Caes. Heist. I. c. che: 
lich die WVegharden: „item credunt se esse Denm per naturam 
sine distinctione. Quod sint in eis omnes perfectiones diri- 
nae, ita quod dicunt se esse aeternos et in aeternitate.” Mos- 
heim, de Begh. p. 256, 

c) Deum locutum esse in Ovidio sicut in Augustino. Caes. Heist.l.c- 

d) — — — Hoc siquidem errore decepti, corpus Christi ante 
verborum prolationem visibilibus panis accidentibus subesse 
conati sunt affırmare, 


Quod sic exposuerunt: id, quod ibi fuerat prius formis visi- 


Amalrih v. Bena u. David v, Dinant. 301 


da dieſer ja Alles in Allem wirke a). Deßmegen leug⸗ 
neten fie auch bie Säünbenfchuld und behaupteten, Gott 
fey bloß gut und niht gerecht b). 

Ihre weiteren ethifchen Ueberzeugungen anlangend, 
fo deuteten fie nach Caſar von Heifterbach die bezüglichen 
oberften Gegenfäte auf rein theoretifhe Berhältniffe, 
Himmel und Hölle, fo berichtet er, hätten fie für bloße 
Zuſtände des religiöfen Bewußtſeyns gehal- 
tn; Jeder nämlich hättenachihrer Anficht die 
bimmlifche Befeligung, welcher das wahre 
Öottesbewußtfeyn befiße, — wer aber (deffels 
ben entbehre und alfo) eine Todfünde habe, trage 
die Hölle in fich, wie einen faulen Zahn im 
Munde —.c), 





bilibas, prolatione verborum subesse ostenditar. — — — Item 
de meritis praesumentes, gratiae derogantes mentiti sunt bono- 
rum baptismatis non egere parvulos ex eorum sangninibus pro- 
pagatos, si suae conditionis mulieribus carnali possent copula 
commisceri. Decret. I. c. — Dicebant non aliter esse corpus 
Christi in pane altaris, quam in alio pane et in-qualibet re. 
— — — Altaria sanctis statui et sacras imagines thurificari 
idololatriam esse dicebant; eos, qui ossa martyrum deoscula- 
bautor, subsannabant. Gaes. H. 1. c. 

a) Si aliguis est in spiritu s., aiebant, et faciat foruifhicationem 
aut aliqua alia pollutione polluatur, non est ei peccatum, quia 
ille spiritas, qui est Deus, omnino separatus a carne non pot- 
est peccare et homo, qui nihil est, non potest peccare, quam 
dia ille spiritus, qui est Deus, est in co. Ille operatur omnia 
in omnibus. Caes. H. 1. c. Aehnlich die Begharden: quod 
homo magis tenetur sequi instinctum interiorem, quam verita- 
tem evangelii. Mosh. p. 258, 

b) — — Dominum tantummmodo bonum et non iustum praedi- 
cantes. Rigord. |, c. 

c) Negabant resurrectionem corporum, dicentes nihil esse para- 
disum neque infernum, sed qui haberet in se cognitionem Dei 
(quam habebant), haberet in se paradisnam; qui vero mortale 
peccatum, haberet infernum in se sicut dentem putridum in 


ore. Caes, H. ]. c. 
21” 


302 Krönlein 


Damit wäre denn Alles zuſammengeſtellt, was von 
dieſer für ihre Zeit eben fo verwegenen, als in fich felbkt 
rüdfichtölod confequenten Theorie in zerſtreuten Notizen 
auf und gefommen if. Nimmt man hinzu, daß bie Amal⸗ 
ricaner auch gegen die beflehenden kirchlichen Zuflände 
heftigen Tadel erhoben haben «), fo bedarf e& nach der 
bisherigen Darftelung kaum der befondern Erinnerung, 
daß die ganze Schule weſentlich auf dem Boden des res 
formatorifchen Strebens jener Zeit überhaupt ſteht, wel 
ches fich in ihren Anfichten infofern gleichſam wie in eir 
nem Brennpunkte fammelt, als fie wenigſtens den Anlauf 
zu einer principiellereun Kundamentirung berfelben genom: 
men zu haben fcheint. — 


c) Die Lehre David’d von Dinant. 


Wenn die Amalricaner zu einem förmlichen Wider 
fpruche gegen das beſtehende religiöfe und kirchliche Sy⸗ 
ſtem fortgingen, fo trat David von Dinant in ein 
nicht minder feindliches Verhältniß dagegen, nur daß er 
nicht wie jene das dogmatifhe und praftifch kirchliche, 
fondern vielmehr das rein philofophifche, oder 
näher, das metaphyfifche und fpeculativ theo» 
logiſche Intereffe verfolgte Und zwar hat er diefe 
oppofltive Richtung mit einer Entfchiedenheit augzubilden 
gefucht, wie man fie wohl bei feinem anderen Philofopfen 
ded chriftlihen Mittelalterd wiederfindet. Leider ift von 
feinen eigenen Aufzeichnungen nichts auf und gekommen, 
und die fpärlichen Notizen: Anderer, meiftens ans einzel 
nen und zufammenhangslofen Argumentationen beftchend, 
reichen kaum zu, feine Weltanfhauung auch nur in ihren 
allgemeinften Beziehungen erkennen zu laffen, ob es mir 
gleich gelungen ift, durch Auffindung neuer Fragmente 


a) Dicebat (dicebant) enim, quia Papa esset Antichristus, et Roma 
Babylon. — Du Plessis (collect. Iudic.) 3. f. 180. 


Amalrich v. Bena u, David v. Dinant. 303 


die begüglichen Materialien um mehr ald um bad Doppelte 
ju vermehren. 

Man findet die einzigen Mittheilungen über feine Lehre 
nur bei Albertus Magnus und Thomas von 
Aquin, welde in ihren weitläufigen Schriften, zumal 
in ihren Summen der Theologie und in ihren Commen⸗ 
taren zum Magifter Sententiarum, bie und da einzelne 
Anfichten des Häretikers vorgebracht haben, um fie zum 
Gegenftande ihrer Polemik zu machen. Da die firchlich 
angeordnete Einlieferung und Berbrennung feiner Schrift 
ın das Jünglingsalter Albert’d (geb. 1193) fiel, fo wäre 
ja fragen, woher biefer berühmte Theolog feine Kennts 
nid von der david'ſchen Philofophie hatte. Jedenfalls 
Reht feft, daß er mit einem Schüler des Dinanterd, Na⸗ 
mens Balduin, über eine der oberfien Schlußfolger 
rungen des Meifterd disputirte; die Vermuthung Liegt 
deßhalb nahe, daß er auf dem Wege der Disputation 
auch noch weitere Erfahrungen über die Lehre deflelben 
sachen fonnte, Wenn dagegen Tennemann meint, ed 
müßten wohl einzelne Eremplare des verurtheilten Buches 
der Vernichtung entgangen feyn und von bdiefen eines 
Albert vorgelegen haben, fo wäre an eine Stelle zu er» 
innern, in welcher der leßtere nad, einer längeren An⸗ 
führung david’fcher Sätze fagt: „et haec sunt fortiora, 
que de errore isto (d. h. von der Philofophie David’s) 
ad me pervenerunt a),“ woraus hervorgeht, daß, wenn 
sr auch fchriftliche Ueberbleibfel vor ſich hatte, dieſe nicht 
die ganze Schrift des Häretikers ſeyn konnten. — Tho⸗ 
mad von Aquin hatte wohl Feine unmittelbare Quellen; 
die wenigen Kragmente nämlich, die man bei ihm findet 
und die nichts Neues enthalten, hat er zweifeldohne aus 
den Schriften feines Lehrerd Albert entnommen. 


a) Summ. theol. part. I. 





304 Krönlein 


Aus allen uns erhaltenen Sägen drängt fidh offenbar 
als Mittels und Zielpunft der verurtheilten Lehre der 
Gedanke von der Identität alles Wirklichen im 
Abfoluten hervor. David iſt unerfchöpflich an Argus 
mentationen zur Begründung diefer Anficht, wobei er 
feinen ganzen Scharffinn und die ganze, ihm zu Gebote 
ftehende ſyllogiſtiſche Kunft und Gelehrſamkeit aufbietet. 

Er unterſchied nach einigen Stellen die Dinge in 
brei Sattungen, in materielle oder körperliche, 
immaterielle oder fpirituelle, und göttliche 
oder, wie Thomas von Aquin die letzteren nennt, ewige, 
(von allem endlichen Dafeyn) getrennte Subftans 
zen. Für jede der drei Gattungen nahm er ein allger 
meines, untheilbares und einfaches Princip an, 
und führte fo die Sörperlichen Dinge auf die Materie 
(materia, 54n), die fpirituellen auf den Geiſt (spiritus, 
mens, voös) und bie göttlihen auf Gott zurück. Bei 
der Abftractheit nun, mit der er ben Begriff des Prin- 
cips felbft faßte, lag der Gedanke nahe, baß ben vor 
außgefegten Principien vermöge ihrer abfoluten Einfach⸗ 
heit Feinerlei unterfcheidende Charaktere zufommen Eönn- 
ten, und daß fie darum in ihrem Weſen daffelbe ſeyn 
müßten a). — In anderen Stellen wiegt mehr eine Di» 


— — nm. 





a) Sunt quidam haeretici dicentes Deum et materiam primam et 
vods sive mentem idem esse. Quod sic probant: quaecungue 
sunt et nullam differentiam habent eadem sunt. Idem euim 
est, ut dicit Aristoteles 7. top., quod non differt differentia. 
Deus, sovg et materia prima sunt et nullam differentiam ha- 
beut, ergo. eadem sunt. Quod autem haec tria sint et plura 
principia rerum, ex hoc volebant probare, quod res sint tri- 
plices, scilicet materiales, spirituales et divinae nec ex uno 
principio proprio formabiles. Primum ergo principium forme- 
tionis materialium est materia, ut dicunt, et primum princi- 
pium formationis spiritualium, in quibus principium vitae cst, 
.dicunt, quod est sovg, sive mens. Dicunt enim, quod omnis, 
Quae sunt in uno genere, ex uno aliquo principio simplici for- 


Amalrih v. Bena u. David p. Dinant. 305 


ch oto miſche Unterfcheibung vor, indem bier ber ges 
tremten Subflanzen feine Erwähnung geſchieht und 
Gott gleichſam als die dem Materiellen und Geifligen zu 


mantor, ut patet in omnibus generibus entis, sciliott substantia, 
guantitate, qualitate, et sic de aliis. Similiter divinum esse 
multiplex est, ut dicunt, et necesse est, quod ex aliquo uno 
formetur principio, et hoc dicunt esse Deum. Haec ergo Iria 
sunt simplicia prima, et si sunt simplicia, nullam differentiam 
kabent; quaecunque enim habent differentias, sunt composila. 
Et sic suam volunt probasse intentionem. Et in hoc errore fuit 
David de Dinanto. — Albert. M. summ. part. J. tract. 6, quaest. 
29. art. 2, — — Quoramdam antiquoram philosophorum er- 
ror fuit, „quod Deus esset de essentia omniam rerum.” Po- 
nebant enim omnia esse unum siimpliciter et non differre, nisi 
forte secundum sensum vel aestimationem, ut Parmenides dixit. 
Et illos etiam antiquos philosophos secuti sunt quidam mo- 
derni, ut David de Dinanto. Divisit enim rcs in tres partes, 
in corpora, anımas et substantias aeternas separatas. Et pri- 
mem indivisibile, ex quo constitunntur corpora, dixit „GAnv,” 
primum autem indivisibile, ex quo constituuntur animae, dixit 
„s009’”’ vel mentem, primum aatem indivisibile in substantiis 
aeternis dixit „Deum,’” et haec tria esse unum et idem, ex 
quo iteram consequitur esse omnia per essentiam unum. — 
Thom. Aq.insecund. sentent. libr. dist. 17. quaest, 1. art. 1. solut. 
Man vergleiche damit folgende Stelle bei Albert. Magnus: 
Discipuloe autem eius quidam Balduinus nomine, contra me- 
ipsam disputans, talemlicet vijlem indaxit rationem: quod quee- 
cunque sunt et nullo modo differunt, sunt eadem. Deus et. 
materia et 90% sunt et nullo differunt, ergo eadem sunt. 
(Noög antem Graece, Latine sonat ‚„mens’”.) Et volebat, quod 
ita se huberet voog ad intellectum et intelligibilia, sicut se 
khabet YAn ad sensibilia. Qnod autem nullo modo difierant, 
sic nitebatar probure: quaecangue nullam diiferentiam habent, 
nullo modo differunt. Dicit, enim Aristoteles in VII. top. 
quod idem est, a quo non differt differentia. Simplicia autem 
prime nullam differentiam habent, quia, si differentiam habe- 
rent, composita essent, Deus, Un, vodg simplicia prima sunt; 
ergo nullam habent differentiam; ergo nullo modo differunt, 
et sic per consequens eadem sunt. Et hoc est propositum 
ipsias. — Summ. theol. II. p. 63. cf. de caus. et proc. un. IV, 
5. p. 556. b. 


306 roͤnlein 


Grunde liegende Einheit angeſehen wird. Und ſo wird 
es jetzt ſchon begreiflich, wie auch hier wieder der Satz 
zum Vorſcheine kommt, Alles ſey eins, und das 
Eine ſey Bott). — 

Mit dem letzten Satze hat natürlich David keine 
ihm eigenthümliche, ſondern nur eine allen ſonſt noch 
ſo verſchiedenen pantheiſtiſchen Syſtemen gemeinſame An⸗ 
ſicht ausgeſprochen, und da die nähere Bedeutung, die 
er bemfelben unterlegte, auch aus der vorangehenden 
Beweisführung nicht deutlih und vollfländig genug zu 
erfehen ift, fo hätten wir und noch nach weiteren Be 
bauptungen umzufehen, wollten wir den fpecififchen Cha: 
rakter feiner Lehre im Unterfhiebe von anderen Identi⸗ 
tätslehren kennen lernen. Freilich ift ed wegen ber Unde⸗ 
Rimmtheiten, Schwanfungen und Widerſprüche, denen 
man in ben wenigen und zufammenhangslofen Aeuße: 
rungen, die noch vorhanden find, begegnet, ungemein 
fchwierig, auch nur mit einiger Sicherheit zum inneren 
Berftändnifie der Sache vorzudringen, 

Sogleich tritt ung die Behauptung Albert’3 entgegen, 
der Dinanter babe in Gott dag materielle Princip 
von Allem gefehen, und darauf hin hat man ihn im der 
Regel kurzweg in die Reihe der Materialiften ge 
ſtellt. Er fol nämlich gefagt haben, die materiellen 
Dinge wären aus der erften Materie, und die fpirituellen 
aus dem Geiſte gebildet, — die erfie Materie und der 
Geift wären demnach die urfprünglichen bildbaren Prins 
cipien. Was aber in eine Mannichfaltigkeit 
von gleihartigen Dingen bildbar fey, dad 
nenne man nach eineh ariftotelifhen Grund, 
fage „Materie” oder wenigftend „materiels 
les Princip.” Dieſes vorausgefchidt, käme «6 


a) Omnia esse unum, et hoc unum dizit esse Deum. Vergl. ein 
fpäter beigubringenbes Gitat, 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 307 


baranf an, ob bie erfte Materie und der Geiſt verſchie⸗ 
den wären ober nicht. Wären fie verfchieben, fo müßten 
fie ein gemeinfamee Drittes haben, von welchem 
die Berfchiedenheit ausginge, nnd biefed Gemeinfame 
wäre dann das zu dem Berfchiedenen Bilbbare und in» 
fofern die Materie deſſelben. In diefem Falle aber 
würde der erſten Materie eine Materie vorausgeſetzt, 
was (denn fo mochte er doch wohl die Sache angefehen 
babe»), da die leßtere doch wieder eine erfte Materie 
jue Borausfegung habe, zu einem Kortgange ins Un⸗ 
endliche führte. So bliebe denn nur die Annahme übrig,- 
daß die erfie Materie und der Geift im Weſen daſſelbe 
wären. — Bermittelft derfelben Argumentation wird dann 
auch die Identität beider mit Gott nadhgewiefen a). 


a) Alexander etiam in quodam libello, quem fecit de principio in- 
corporeae et corporeae substantiae, quem secutus est quidam 
David de Dinanto in libro, quem scripsit „„‚de tomis, h, e. de 
divisionibus’”’” dicit Deum esse principium materiale omniam. 
Quod probat sic: quia vodg, h. e. substantia ınentalis, primum 
formabile est in omnem substautiam incorpoream. Primum au- 
tem formabile in res alicuias generis primum materiale est ad 
illa; soUg ergo primum principium est ad omnes incorporeas 
sabstantias. Materia autem possibilis ad tres dimensiones pri- 
mum formabile est in omnes corporales substantias ; ergo est 
primom materiale ad illas. Quaero, si vovg et ınateria prima 
differunt an non? — Si differunt, sub aliquo communi, a quo 
illa differentia egreditur, differunt, et illud commaune per diffe- 
rentias formabile est in utrumque. Quod autem unum forma- 
bile est in plura, materja est, vel ad minus principium mate- 
riale; propter quod in IX. primae philosophiae dicit philoso- 
phus, „„,qauod quaecungue sunt in geuere uno, eorum est materia 
una.”” Si ergo dicatur una/m) materiu(m) esse materiae 
primae et »00g, erit primae materiae materia, et hoc ibit in 
iehnitum. Relinquitur ergo, quod 909g et materia prima sunt 
idem. — Similiter Deus et prima materia et vyoug aut dillerunt, 
aut non. Si differunt, oportet, quod sub aliquo communi, a 
quo differentiue illae exeuut, .differant, et sequitur ex hoc, 
quod illad commune genus sit ad illa, et quod hoc genus ma- 


308 Rrönlein 


Die waterialiftifche Deutung, bie bier ber Begriff 
des Abſoluten erfährt, beruht, wie man ſieht, darauf, 
dag eine gemeinfame Einheit des Berfchiebenen angenoms 
men und darin das bloße Object der Korm gefunden 
wird. Diefer Dentweife lagen offenbar gewiſſe Beſtim⸗ 
mungen bed Ariftoteled über die erſte Materie zu Grunde, 
ans denen David auch noch andere aufgriff, um feinen 
oberften Lehrfag zu erhärten. So madıt er 3. B. daranf 
aufinerffam, daß bei allem Entgegengefehten etwas ans 
genommen werben müfle, welches, felbft Feines der Ent: 
-gegengefeßten ſeyend, ober dem einen oder dem anderen 
von ihnen entgegengefeßt, als ihr gemeinfames Subſtrat 
anzufebhen fey. Da nun an der Mäterie und dem Geifte, 
oder an dem Leibe und der Seele die Gegenfäge des Ac⸗ 
tiven und Paffiven zum Borfcheine fämen, fo müßte auch 
eine neutrale Unterlage voraudgefegt werden, in weldyer 
fie zufammenfielen 9. Und außer Wriftoteled beruft er 


terialis principii sit notitia ad ille, et quod primorum materia- 
lium sit materia, quod inconveniens est, sicat prios habitum 
est. Et ex hoc videtur relinqui, quod Deus et vovg et materia 
prima idem sunt, secandam id, quod sunt, quia quaecunque 
sunt et nulla differentia differunt, eadem sunt. Deus autemet 
voög et materia prima sunt et nulla differentia differunt, ut 
iam probatum est; ergo eadem sunt, dicente Aristotele in IX. 
top., quod idem est, a quo non differunt differentia. Summ. 
theol. ]. tract. 4. quaest. 20. membr. 2. 

a) — — Omne passibile per contrarias formas est passibile etnon 
per subiectum, quod substat contrariis. Et hoc probatur per 
hoc, quod subiectum in passivis omnibus neutri contrariorum est 
contrarium. Anima et Öln passibilia sunt, sentire enim et in- 
telligere pati est. Inde procedunt sic: quod subiectum non est 
passibile nec activum; hoc ideo est, ut dicit philosophus, „‚quia 
in omnibus unum.”’ Anima et #4n sunt duo subiecta, actionem 
et passionem suscipieutia ; ergo propter hoc activa non sunt 
in invicem, quia in omnibus agentibus et patientibus sunt idem 
nullam habentia contrarietatem. Ergo iutellectus et #4n sunt 
idem in substantia. — Alb. summ. theol, II. tract. 12. quaest. 72. 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 309 


fh auch noch auf mehrere andere Philoſophen bes Alters 
thumd, wobel ed faum der Bemerkung bedarf, daß bie 
bier zu Tage treiende Kenntniß der antiten Philofophie 
ih, vom Standpunkte unferer heutigen Einficht in die 
Geſchichte der Dhilofophie aus angefehen, freilih unzu⸗ 
länglich und unfeitifch genug ausnimmt a). 

Scheint demnach unfer Metaphyſiker die abfolute 
Identität im materialiftifchen Sinne verftanden zu haben, 


membr. 4. art. 2. — Man vergleiche weiter: Secundo inducit 
(David), quod Aristoteles dicit in J. phys., qued antiqui phi- 
losophi dixerunt unum solum esse id quod est et illud esse 
iodivisibile et immobile, et hoc esse vn sive primam mate- 
sam. Unum autem, quod est indivisibile et immobile, dicit 
non posse conrenire, nisi Deo; et sic Deum et materiam pri- 
mam dicit esse idem. — Tertio pro se inducit versus Orphei, 
in quibus, ut dicit, Deum universum esse affırmat; et cum con- 
stet universum esse in forma diversum et unum in materia, 
arguit, quod hoc non potest esse, nisi Deus et materia prima 
sint idem. Dicit etiam, quod ipsos versus Aristoteles inseruit 
cuidam libero sao, in quo sermonem facit de Deo. Daſ. 

a) Deinde quaeritur de erroribus Epicureorum et maxime de anti- 
quo errore Anaximenis, qui nuper per quendam David de Di- 
nanto renovatus est, qui dixit Deum et materiam primam esse 
idem, inducens super hoc antiguum Anaximenem, qui dixit, 
omnia esse unum (ut dicit Aristot. ia I. prim. philos.) et hoc 
unum dixit esse Deum. Et illud unum David interpretatur esse 
matersam, eo quod nihil secundum eum verum est, nisi mate- 
ria; formas enim non dicit esse nisi secundum 'sensum. — 
Ioducit etiam discipalum Anaximenis Democritum, qui compul- 
sus segui sensum duo dixit esse, unum scilicet secundum ratio- 
nem et alterum secundum sensum. Dicebat enim, qnod omnia, 
quae sunt unum, sunt indivisibile eo, quod, omni forma ablata 
a materia, substantia indivisibilis est. Indivisibile autem, in 
quo omnia fandantar et tenentur et quod in omnibus est, non 
esse nisi materiam primam, de qua dicit Plato, quod est sicut 
matricula concipiens omnia, Qquae in natura formata suut, et 
de qua Aristot. dicit in fine I. phys., quod est parens in totam 
naturam. Et hoc dixit esse Deum, qnia hoc, quod omnia tenet 
et in qao omnia fundantur, ut in esse permaneant, non potest 
esse nisi Deus. Daſ. 


310 Krönlein 


fo befißen wir doch zugleich wieder einige feiner Aeuße⸗ 
rungen, die entweder nichts davon enthalten, oder gar 
zu einer Art ivealiftifher Tendenz hinneigen. Man 
könnte dahin fchon eine Argumentation rechnen, der ich 
an verfchiedenen Orten begegnet bin, in welcher er, aber: 
mals zur Bewahrheitung feines Hauptfabes, feinen Aus⸗ 
gang von geiftigen Motiven und Beziehungen nimmt. 
Das Erkennen nämlich, fo raifonirt er bier, gebe nur 
in Kolge einer Affimilation des Berftandes zu dem zu er- 
fenuenden Gegenſtande vor fih. Die Affimilation aber 
ſey entweder accidenteller oder fubftantieller 
Art, Die erftere beftehe nämlich darin, daß der erken⸗ 
nende Geift die Korm von dem zu erfennenden Ge 
genftand abflrahirte, — was natürlich nur bei ge: 
formten Gegenftänden (cd. h. bei denen, welche in das 
Bereich der endlichen Welt gehörten) angehe. Da nun 
Gott und die Materie als abfolute Einfachheiten der 
Form entbehrten und doch durch den Berftand erkannt 
würden, fo finde bier nicht Die accidentelle, ſondern Die fub- 
ftantielle Affimilation flat. Das Refultat jener fey eine 
bloße Berähnlihung ded Subjectiven und Objectiven, 
das Reſultat diefer dagegen die völlige Sdpentität, 
welche nur auf dem Grunde der vorauszufeßenden Iden⸗ 
tität des Weſens möglich ſey. Daraus folge dann die 
Einerleiheit von Geiſt, Materie und Gott in der Sub⸗ 
ftanz von felbft a). 


a) — „Intellectus intelligit Deum et Hin» sive materiam, sed ni- 
hil iutelligit intellectus, nisi per assimilationem ad ipsum; 
oportet igitur, quod assimilatio sit intellectus ad Deum et HAnr. 
Haec autem assimilatio vel est per identitatem vel per simpli- 
cem assimilationem, Sed non est per simplicem assimilatio- 
nem, quia assimilatio non fit, nisi per formam abstractam ab 
eo, quod intelligitur, YAn autem et Deus nullam habent for- 
mam. Si ergo intelliguntur, oportet, quod per identitatem, 
quam habent ad intellectum, intelligautur. Intelleotas igitur et 


Amaltih v. Bena u. David v, Dinant. 311 


Auf derſelben Dentoermittelung beruht ed wohl auch, 
wenn er ſich den ariftotelifchen Gedanken aneignet, daß 
das thatfächlich erfennende Subject und das wirkliche 
Erkennen und Wiflen mit feinem Gegenftande identifd) 
fey a). Ta, er fchließt fih gar denjenigen an, welche in 
Gott den „Weltgeift” b) (mens universi), oder auch bie 
„Weisheit und Bernunft ſehen, durch welche 
Alles hervorgebracht, geleitet, getragen und 
verfnüpft werde” c). Denn dieß fcheint Doch, minde⸗ 


sn et Deus idem sunt in substantia.” Alb. Summ. Il.tract. 42. 
quaest. 72. membr. 4. art. 2. — Hanc argumentationem Alber- 
tus alibi ita refert: „intellectus intelligit Deum et 9477 ; Brgo 
oportet, quod habeat similitudinem cum Deo et #in, vel sit 
idem cam illis, quie nihil intelligit intellectus, nisi per con- 
iunctionem intelligibilis ad ipsum. Sed non sunt, nisi duo 
modi coniunctionis, scilicet accidentalis et substantialis. Acci- 
dentalis facit similitudinem, substantialis vero identitatem. Ergo 
necesse est, quod intellectus YAny et Deum altero istorum mo- 
dorum accipiat. Non autem accipit per similitudinem eorum, 
quia per similitadinem nihil intelligitur, nisi quod habet for- 
mam, quae potest abstrahi ab ipsa, sed talem formam non ha- 
bet Deus nec Jin. Ergo non hoc modo accipiuntur, ergo 
sccipiuntur per identitotem, et ita intellectas et Dens et v4n 
idem sunt.” — Summ. de creaturis part. II. quaest. 5.art.2. — 
Cf. Thom. Ag. in II, sentent, lib. dist. 17. quaest. 1. art. 1. no. 4. 

a) Quod scientia secandum actum est res scita; und an einer an⸗ 
deren Stelle: Omnino autem intellectus et intelligens secun- 
dum actum est res intellecta. Daf. 

b) Quinto inducit pro se Senecam sic dicentem: quid est Deus? 
et respondet: mens universi.. Quid est, quod vides totum? 
totam ubique est; opus suum in terra et extra replet; cuide- 
mam magnitudo sua redditur, quo nihil maius excogitari pot- 
est. Haec omnia intelligi vult de materia prima (?), et quod 
haec sit Deus (?). Daf. 

e) Ad hoc etiam indacit versus quosdam, qui scripti leguntur in 
templo Palladis, apud eos, qui Palladem dixerunt esse Deam 
sapientiae. Per sapientiam autem et providentiam 
etomniaproducunturetregunturet continentur. 
Hoc autem dixerunt esse materiam-et Deum (?). Sensusautem 





312 Kroͤnlein 


ſtens geſagt, ſeltſam, daß er, wie Albert behauptet, unter 
dieſen Idealitäten wiederum nichts Anderes verftanden 
haben ſollte, als die erſte Materie. 

So hätten wir denn in einigen Sätzen den Materia⸗ 
lismus, in anderen den objectiven Idealismus gefunden. 
Run fehlt ed auch nidht an Spuren, in welchen fi fo 
gar eine Dritte Rihtung vermuthen liege. Dahin 
gehört außer anderen mehr oder minder bedeutfanen Aen⸗ 
Berungen vornehmlich ein Fragment, in welchem in dem 
Begriffe des Abfoluten alle möglichen concreteren 
Beftimmungen, fogar die der Materie un, 
fin darf hinzufügen, des Geiſtes ausgetilgt wer 
dew, fo daß alfo nur die rein abftracte (logiſche) 
Subfiantialität ale ſolche übrig bleibt «). — — 


versuum iste est: quod Pallas est quidquid fuit, quidquid est 
et quidquid erit, nec aliquis homo detexerit peplum, quo fa- 
cies eius velabatur. — Dicit etiam, quod refert Plutarchus, 
quod vetustissimi philosophorum interpretati foerunt illud 
faisse dictum de Deo, qui peplo tectus est, quia omnes eum 
ignorant et omnes nihil sliud, quam ipsum vident. Peplum 
autem, quo ipse tectus est, videtur esse sensus, qui est in anima 
et forma, guae est in corpore, quibus Mobus circumscriptus, 
ab anıma et corpore apparet ipse Deus in propria sui natura. — 
'Quarto pro se inducit, quod longo tempore post (Aristotelem) 
Lucanus eosdem versus operi suo inseruit, dicens: 

„Seimas et hoc melius nobis non inseret Hammon. 

„Haeremas canctis saperis temploque tacente ; 

„Nil agimus, nisi sponte Deum ... . 
Et post pauca: 

„Estne®Dei sedes nisi terra, pontus et aër? 

„lapiter est, quodcungue vides, quocunque moveris.” Daf. 


a) „Quod etiam haec duo idem sint cum Deo, sic probat Darid: 
idem est, a quo non differt differentia, sicut dicit Aristoteles in 
VII. topicorum, et dat exemplam, quod punctum est principium 
continui et unitas principium discreti, et non differunt in eo, 
quod prima sunt, sed differunt in hoc, quod punctum hsbet 
positionem continui et unitas discreti ordinem. Si ergo abstra- 
hantur ab eis istae differeutiae (cum idem sit, a quo non differt 


Amalrich v. Bena u. Davib v. Dinant. 313 


Haben wir fonac drei verfchiebene Richtungen in 
der Lehre David's anzunehmen oder nur gegenfägliche 
Beſtimmungen, die fich doch wieder unter einander aus⸗ 
gleichen laffen? Gehen wir noch einmal auf den bereg- 
teu Materialismus zurüd, fo briugen Albertus Magnus 
und Thomas von Aquin fortwährend dagegen vor, daß 
die Materie ja doch nur die ftoffliche Vorausſetzung ber 
Form, oder genauer nad, einem arifotelifchen Auobrucke 
dad „primum patiene” oder „suscipiene” fey. Sie übers 
fehen jedoch, daß der Dinanter außer den negativen und 
abfiracten Prädicaten der Einfachheit, Unterfchiedlofigkeit, 
Neutralität, Untheilbarfeit und lnbeweglichleit gerade 
die von ihr ausſagt, daß fie fey dad „Bildbare” 
(formabile) und (ausdrüdlich) das erfte „Empfäng- 
lide” (primum suscipiens), Fällt alfo diefe Einrede 


differentia), punctum et unitas erunt idem in substantia. A 
simili Deus et materia et intellectus sive mens sunt prima, unum 
qaodgue in ordine suo, et (sicut dicit) non differunt in eo, 
quod prime sunt (aliter esset idem principium convenientiae et 
differentiae), sod in hoc, quod Deus est primum efficiens et din 
primum suscipiens. Si ergo abstrahatur ab his diflerentiis, idom 
erunt.: Una ergo substantia est, quae est Deus, Hin et intelle- 
ctus.“ Daſ. — Dean vergleihe damit folgende Gtellen: 
manifestum est igitur unam solam substantiam esse non tantum 
omuium corporum, sed etiam omnium animarum, et hanc nihil 
aliud esse, quam ipsum Deum, quia substantia, de qua sunt 
omnia corpora, dicitur 47, substantia vero, de qua sunt omnes 
animae, dicitur ratio vel mens. Manifestum est igitur Deum 
esse substantiam omnium corporum ei omnium animarum. Pa- 
tet igitar quod Deus et 84n et mens una sola substantia sunt. 
Daf. Und: In omnibus resolutionibus sic est, quod contingit de- 
venire ad unum simplicissimum, quod ulterius non resolritur, et 
in quo non differunt ea, quae resolvuntur. Sed constat, quod 
corporalia ad hoc deveniunt, quod in 9479 resolvuntar, spiritua- 
lia resolvuntur in mentem sive vods in Graeco; et si deducatur 
resolutio, non stabit nisi ia simplicissimo, et hoc non potest 
esse, nisi Deus. Cum ergo omnis resolutio stet in his tribus ut 


in ultimis, oportet, quod haec tria sunt' unum in substantie. 
Daf, 


314 Kroͤnlein 


von ſelbſt weg, ſo bleibt doch der allgemeine Grund der⸗ 
ſelben inſofern ſtehen, als nicht abzuſehen iſt, wie denn, 
wenn ed nur ein Bildbares und Empfängliches gäbe, 
und nicht zugleich ein Bildendes und Kormgeben 
Des, welches ſich des erfteren bemächtigte, überbanpt 
etwas werben und feyn könnte. Dem Daß er etwa, 
den Eleaten ähnlich, felbft auf die Gefahr, zur Mannich⸗ 
faltigteit ded Wirklichen feinen Uebergang zu finden, feis 
nen Identitätsſtandpunkt habe ausbilden und fefthalten 
wollen, — dem widerfpricht der ganze Charakter feiner 
Philoſophie, das wiſſenſchaftliche Intereffe, welches er 
verfolgte, und die ganze gefchichtliche ——— von 
der er ausging. 

Müflen wir deßhalb ſchon vorausſetzen, er werde ſich 
noch nach weiteren Principien umgeſehen haben, um das 
Daſeyn zu erklären, fo findet dieſe Vorausſetzung ihre 
Betätigung in feinen eigenen Aeußerungen. So ſpricht 
er in den bereits angeführten Stellen von einem „Les 
bensprincipe, welhesdem Beiftigeneinwohne” 
(— spiritualia, in quibus principium vitae est), ja er ber 
zeichnet Gott geradezu mit dem ariftotelifchen Terminus 
des „erften Bewirfenden” "(primum efficiens). &o viel 
frheint alfo doch richtig, daß er die Begriffe der Bilbbar- 
feit oder Kormempfänglichkeit, wie der Lebenskraft und 
erſten Wirkſamkeit gleihmäßig ald Prädicate des Abfoluten 
angejehen habe, woraus dann von felbft folgen wärde, 
daß ihm wohl die Seßung bloß desk@inen oder 
bed Andern ale Subject nit als ſtatthaft 
erfhienen feygn fünnte Damit wären wir in bie 
jenige Sphäre der Betradhtung vorgefchritten, von wels 
cher aus allein, wie mir duͤnkt, die Antwort auf die oben 
geftellte Frage ertheilt werden muß. 

Menn man bedenkt, wie unfer Metaphufiter nicht 
nur alle Hebel feiner Dialeftif in Bewegung febt, um bie 
Realität der Alleinheitsidee überhaupt zu 


Amalri v. Bena u. David v. Dinant. 315 


beweifen, fondern in feiner Speculation von ber leßteren 
fo fehr beberrfcht wirb, daß alle feine Argumentationen 
darauf gerichtet find, — man vergleiche nur die jedes⸗ 
maligen Schlußfäbe oder lebten Urtheile berfelben —: 
fo verſteht es ſich von ſelbſt, daß er, wollte man nicht 
annehmen, er habe eine boppelte ober dreifache und ſich 
widerfprecheude Philofophie gelehrt, jede Vorſtellungs⸗ 
weife von ſich abgewiefen haben wird, die irgendwie auf 
ein Dualiftifche® hinausliefe. Solches wäre aber offenbar 
der Zall, wollte man z. B. in feinem „Bildbaren” eine 
qualitãtsloſe, corpusculare, träge Mafle fehen, an welche 
bad „erſte Thätige” von außen heramträte, ganz ab» 
gefehen davon, daß damit die Annahme des thätigen 
Principe infofern wieder überhaupt in Frage geſtellt 
würde, ald ja auch bie fpirituellen und fogar die gött⸗ 
lihen Dinge auf das bloße Bildbare zurüdgeführt 
werden. Ueberdieß kann fchon darum die plumpe Aufs 
faffung des Materiellen bei ihm nicht gut vermuthet wer⸗ 
den, weil er wefentlich von ariftotelifchen Beſtimmungen 
ausging, Die zwar von ben arabifchen und chriſtlichen 
Philoſophen des Mittelalters oft nicht zureichend erfannt 
und verfchieden anufgefaßt, kaum aber jemals zu einer, 
ihrem urfprünglicdhen Sinn fo ganz widerftrebenden Ber 
deutung verkehrt worden find. 

So ſcheint deun nur die Annahme übrig zu bleiben, 
David habe allerdings bie oberfien Begenfäge des Wirk, 
Iihen in ber abflracten Einheit bed Abfoluten aufgeho⸗ 
ben, ihnen jedoch ihre relative Geltung in Abficht auf 
die mannichfachen, gewiflen von einander verfchiedenen 
Kreifen angehörigen Eriftenzen und Entwidelungen wohl 
vindicirt. Erinnert er doch ſelbſt an eine von Ariftotes 
led vorgebrachte Analogie. Das Aehnliche, fagt er, finde 
bei der Einheit und dem Punkte flatt; wie nämlich beide 
darin einerlei feyen, baß fie den Charakter bed Anfängs 
lihen überhaupt hätten, darin aber sinne, baß die 

Theol. Stud, Jahrg. 1847, 








316 -  Keönlein 


Einheit den Anfang des Didcreten, ber Punkt aber ben 
Anfang des Sontinnirlichen bilde, fo feyen Materie, Geiſt 
und Gott auh nur nad näheren concreten de 
zie hungen von einander verfdieden, inſofern aber 
identifch, ald man von den legteren abfehe. 

Wenn es damit den Anfchein gewinnen könnte, ale 
habe unferm Philofophen Die Idee eines rein ſubſſtan⸗ 
tiellen Pantheismue vorgefhwebt, etwa wie fie 
mehrere Jahrhunderte nachher Spinoza (freilidh auf 
feine Weife) ausgeführt hat, fo ſtehen doch einer fol- 
hen Annahme, — und dieß muß ih gegen meine 
eigene frühere Auffaffung bemerten, — vor: 
nehmlich zwei Punkte entgegen. Einmal nämlich wird 
das Geiflige im Ganzen fo wenig in feiner wefenhaften 
Bedeutung hervorgehoben und zum Bellimmungsgrunde 
bes Wirklichen gemacht, das Materielle dagegen wicht 
bloß im Bereiche des Natürlichen,, fondern felbft des hör 
bern Daſeyns fo fehr ‚vorangefteft, daß bie david'ſche 
Grundanfhauung deßhalb unverkennbar einen naturas 
liſtiſchen Strich an fi trägt. . Dann aber erfcheint 
das Lebendige und Kraftthätige in einer Weile 
als herrfchendes Princip, daß man fich, wie gezeigt wor- 
den, zur Borausfegung berechtigt halten darf, David 
habe darin ein Urattribut aller Dinge gefunden. Und fo 
kaͤmen wir enblich zu ber Anficht, feine ganze Theorie 
Taufe auf eine Alleinslehre von recht eigent- 
lich naturaliſtiſch Dynamifher Färbung hin 
and, in welcher freilih der Nachweis der blos 
Ben abfoluten Jdentität alsſolcher vor Allem 
erſtrebt werde. 

Wie er ſich nun anf dieſem Grunde und Boden das 
Verhältniß der letzten Principien im Nähern und Beſon⸗ 
dern gedacht, wie er ſodann von feinem Standpunkt aus 
die Wirklichkeit erlärt haben mag, ob er in der weiteren 
Entwidelung feiner Lehre doch wieder die höhere Digni⸗ 


Amaltih v. Bena u. David v. Dinant. 317 


tät des Geiftigen hervorhob, wozu ihn gerade die ariſto⸗ 
telifche Philofophie forttreiben konnte, ja ob er nur über 
die bloße Grundlegung feines Syſtems hinausgelommen 
it: — dieß Alles find Fragen, auf welche wegen bes 
Mangeld an Nachrichten nicht geantwortet werden fan. 
Vielleicht würbe er in den ung vorliegenden Mittheilun- 
gen feiner Gegner, deren Mängel unfchwer genug zu 
erkennen find, nicht einmal überall feine Grundgedanken 
wiederfinden =). 

Um ſchließlich noch einnlal auf Amalrich und feine 
Schule zurückzukommen, fo braucht nach biefen Ausfüh- 
tungen kaum daran erinnert zu werden, daß David eine 
von ihnen durchaus unabhängige wiffenfchaftliche Stellung 
einnimmt. Während ſich Amalrich an Erigena anfchloß, 
ſo nahm der Dinanter feinen Ausgang möglichit von ber 
ariftotelifchen und antiken Philofophie and Literatur über» 
hanpt b); während jener mehr die myſtiſche Anfchaunug 
ur Dermittelung der Wahrheit angewendet zu haben 


— — 


a) Zur Begründung dieſer Bemerkung hebe ich nur einiges Haupt⸗ 
fählihere hervor. — Man begegnet bei Thomas von Aquin 
mehreren Stellen (7. B. contr. gent. J. c. 17.), in welchen in 
der Weife ber zuerſt angeführten Argumentation bie Identität 
Gottes und der erften Materie bewiefen wird, ohne-daß bes Gei- 
fies, als bes dritten Principe, auch nur Erwähnung geſchaͤhe. 
Gleichmaͤßig Hätte filh auch, mit Uebergehung der erſten Materie 
die bloße Identitaͤt Gottes und des Geiſtes zur Begründung bes 
GSpiritualismus beweifen laflen, Und Aehnliches wäre von einigen 
bereits angeführten Gitaten aus den Schriften Albert’s zu Tagen. 
— Benn ferner von ber Materie gefagt wird, fie fey das „indivi- 
sibile, in quo omnia fundantur et tenentar et quod in omnibus 
est”, fo beißt es ähnlich von ber abfoluten Weisheit und Provi⸗ 
benz: „per quam omnia producantur et reguntur et conti- 
nentur.” 

b) Wollte man an die Achnlichleit des Zitels der Schrift David’s 
„de tomis, h. e. de divisionibus,,” mit dem des erigena'ſchen 
Buches „de divisione naturae” denken, fo ift doch baraus nichts 
weiter zu folgern. 

22°’ 


318 Krönlein 


fcheint, fo bediente ſich dieſer überall der Syllogiſtik, und 
während der erftere vorzugsweife dogmatiſche Beziehungen 
im Auge gehabt zu haben fcheint, fo richtete der letztere feine 
ganze Aufmerkfamkeit auf die oberften Fragen der Metaphyſil 
and fpecnlativen Theologie. Durch den zuletzt hervorgeho⸗ 
benen Punkt, durdy die ganze Richtung feiner Philofophie 
und durch den wiffenfchaftlicyen Ernft überhaupt unterſchei⸗ 
det fih David danı auch von den Amalricanern, welde, 
außer der Ausbildung eines, wie ed fcheint, ganz ober 
flächlichen Pantheismus, hanptfählich die Dogmatik zu 
sationalifiren und die Kirche zu reformiren beftrebt wa. 
ven. Iſt auch das Ipentitätäftreben bei Allen ein gemein 
fames, fo geht doch auch dieſes fogleid wieder audein- 
ander, iufofern auf der einen Seite bad idealiſtiſche 
uud auf der andern das naturaliftifche Element vorwiegt. 

Haben wir, wie früher fchon nachgewiefen, keinen bis 
orifhen Grund, David in perfönliche Verbindung zu 
Amalrich zu bringen, fo liegt alfo am Tage, daß ein folder 
auch aus ber Lehre ſelbſt nicht genommen werden kann >»). 


III. 


Es mag auffallend feyn, wenn man in der mitte: 
alterlihen Philofophie, deren Grund, Träger und Ends 
punft die chriftliche Idee war, einer häretifchen Erſchei⸗ 
‚nung, wie bie vorfichend gezeichnete, begegnet, welche, 
ausgegangen von einer, wie es faſt fcheint, unbemußten 
und unbeabfichtigten Abweidhung von ber pofltiv religiö 
fen Weltanfchauung, bis zu einer entfchiedenen, Durch alle 
Mittel der Dialektif erfirebten Negation derfelben fort 
gefchritten ift, zumal wenn man bebenft, daß fle über 
dieß noch gerade in jene Zeit fiel, in welcher fich die 


a) Einer einzigen Stelle bin ich bei einem unferer Bewährsmänner 
begegnet (Thom. Aq. Samm. I, quaest. 8. Art. 8.), im welcher 
David von Dinant und die Amalricaner zufammen erwähnt wer⸗ 
den, ohne daß fie jeboch in innern oder hiftorifchen Zuſammenhang 
unter fich felb gebracht würden, 





| 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 319 


Hierarchie unter Innocenz II. (reg, 1198—1216) zum 
Höhepunkte ihrer Macht emporfhwang und mit der 
graufamflen Strenge über die Reinerhaltung ber Kirchen» 
Ichre wachte. Und doc enthält fie nichts, was fich nicht 
aus dem Gange der wiflenfchaftlihen und religiöfen Ents 
widelnng, aus welcher fle herausgewachfen ift, zufammen» 
gehalten mit der äußern Rage der Dinge, erklären ließe, 
Bon Amalrich und feiner Schule leuchtet dieß, nach 
dem bereitd hierüber Befagten, unſchwer ein. Was den 
erfteren anlangt, fo ift ed mir freilich mehr gelungen, 
die Rebel zu zerftreuen, womit die fpätere Zeit ihn um⸗ 
geben, und dasjenige von ihm abzufcheiden, was nidht 
jweifellog auf ihn perfönlich bezogen werden barf, ale 
auf dem Grunde erheblicher neuer Thatſachen feinen Cha⸗ 
rakter und feine Lehre ausführlicher zu fchildern. Immer 
bin aber reichen die beigebrachten Züge zu, und mit einer 
gewiffen Sicherheit wenigftend im Allgemeinen die wiſſen⸗ 
(haftlihe Richtung erkennen zu laſſen, bie er auszubils 
den bemüht war. Sie war wohl eine myſtiſche nad 
Ärt der erigena’fchen, bie er fi zum Borbilde nahm a), 
wobei der häretifhe Einſchlag in der Erklärung eines 
dogmatifchen Punktes befonderd aufgefallen feyn mag. 
Dadurch dürfte fich feine religiöfe Betrachtungsweife wohl 


a) Im zwölften Jahrhunderte finden ſich merkwürbigerweife Teine 
Spuren von einer Einwirkung der Schriften Joh. Scotus Griges 
na's, während fie im Anfange bes breizebnten fehr eifrig ſtudiert 
worden zu fein ſcheinen. Ausdruͤcklich nämlich fagt ber Papft 
Honorius 311. in einem Briefe vom Jahre 1225, der Biſchof 
von Paris habe ihm angezeigt: inventum esse quemdam librum, 
qui periphysis tituletur, tot scatentem vermibus haereticae pra- 
vitatis, ut in provinciali Senonensis archiepiscopas concilio iuato 
Dei iudicio eum reprobaverit; Aunc autem librum claustrales 
nonnullos et scholasticos viros studiose legere. Bruck. Ill. p. 
690. — Uebrigens haben wohl andere zweideutige Ericheinungen 
auf dem Gebiete der Wiffenfchaft jener Zeit, 5.8. die eines St 
mon von Zournay (T 1227) keine Beziehung zu Grigena. 





30 . Krönlein 


auch von der chriflichen Myſtik im. engeren Sinne, wie 
fie durch den heil. Bernhard und Hugo und Ri 
‚hard von Gt. Bictor angebahnt und fpäter durd 
Bonaventura, Gerfon u. N. weiter. ausgeführt 
worden ift, unterfcheiden, und er wäre gleichfam ein 
neues Anfangsglied jener (feit Erigena unterbrochenen) 
Reihe von Myſtikern, bei welchen die an fich chriftliche 
Lehre von der Immanenz aller Dinge in Gott und Bots 
te in der Welt eine pantheifirende Deutung 
gewinnt, wie man fie zunächſt in mehr oder minder 
erceffiver Weife bei einigen Gecten ded 13. unb 14. 
Jahrhunderts, 3. B. bei den Beghbarden und den 
Brüdern und Schweſtern bes freien Geiſtes, 
in großartigerer aber unb mitunter felbit ſehr edler 
Durhbildung beidem Meifter Efhart, Ruysbroed, 
dem Berfafler der beutfchen Theologie und vielen 
Andern bie auf Jakob Böhme herab gewahrt. 

Der Richtung wegen, welche die Schüler Amalrich's 
einfchlugen, und wegen der Art, wie fie diefelbe zu ver 
breiten fuchten, meint H. Ritter =) annehmen zu müſ⸗ 
fen, der Meifter habe wohl noch eine Geheimlehre ge: 
habt, deren er ſich zum efoterifchen Gebrauche bedient 
hätte. Es bedarf jedoch diefer Annahme nicht, um es 
möglich zu finden, daß eine Anzahl von Perſonen in 
einer fo fehr mit religiöfen Gährftoffen erfüllten und zum 
Ercentrifchen geneigten Zeit von feinem Standpunkte 
aus zu den oben gefdilderten Anfichten fortgehen konnte. 
War die Lehre Amalrich's eine der erigena’fchen ähnliche, 
fo durften fir nur mit Weglaſſung der theiftifchen Ele 
mente den pantheiflifchen Einſchlag einfeitig hervorkehren, 
— etwa wie ed auch zu einem andern Zwede die yarifer 
Provincialfonode gethan hat, — um eine zureichende 
Unterlage für den Fortbau zu haben, deu fie unternab: 


a) Geſchichte ber Philof. VII. 625. 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 321 


men, Die Oppoſition gegen bie Kirche und ihre Lehre 
theilten fie ohnehin mit ben zahllofen Secten der dama⸗ 
ligen Zeit (Katharer, Pateriner, Albigenfer, Waldenfer 
u. 9.), die gerade um fo üppiger hervorzumuchern fchies 
zen, je mehr der Einfluß ber Hierarchie wuchs. Unter 
ihaen gibt es zugleich Einzelne, welche ſich einer ähn⸗ 
lihen rationaliftifchen Denkweiſe ergaben, — ja «8 fehlt 
nicht an Spuren, welche beweifen, daß mitnnter in jenen 
häretifchen Kreifen der font bominirende guoſtiſch⸗mani⸗ 
häifhe Dualismus zu Gunſten einer pantheiftifchen Welt: 
onficht verworfen worden ift »). Anch zu andern ihrer 
Eehrmeinungen, fogar zu den auffallendſten, bieten fich 
Bergleichungspuntte aus der früheren Zeit b). 

Ihr Standpunkt fcheint Übrigens kein wiflenfchaftlich 
befonder® durchgebildeter geweſen zu feyn, am wenigften 
der rein philofophifche Theil deſſelben. Nichts defto 
weniger ift er fchon infofern intereffant, ald er uns 
ein, zumal für jene Zeit überrafchended, Beifpiel gewährt, 
wie ih ber Pantheismus der chriftlich Dogmatifchen Vor⸗ 
ſtellungen bemächtigt, um fie mit felbftbewußter Feder 
Sewaltfamteit in fein Profruftesbett zu zwingen. Merk; 
wärbigerweife ließen fich fogar mancherlei Analogien 
zwiſchen einzelnen Anflichten unferer Häretifer und einer 
neneften Religiousphilofophie aufweifen, wobei ich nur 
an ihre Deutung dogmatifcher, ritueller und ethifcher 
Berhältniffe auf bloße Borgänge des Bewußtſeyns er» 
inneen will. — 


a) Giefeler, Lehrbuch der Kirchengefch. II. Abth. 2. (2. Aufl.) 
556. ©. Rot. 

b) Dabin gehört z. B. ihre Anficht von ben drei Weltaltern, worüber 
fi) in ähnlicher Weile der Abt Joachim von Kloris gegen 
Ende des zwölften Jahrhunderts in feinen apofalyptiich phanta⸗ 
ſtiſchen Prophetien ausgefprocden bat. S. der Abt Joachim und 
das ewige Evangelium in Engelhardi's kirchengeſchichtlichen 
Abhandlungen. Erlangen. 1832, 


322 Kroͤnlein 


In dem gleich unmittelbaren Rapporte zu den Zeit⸗ 
ſtrebungen wie die Amalricaner ſteht nun zwar David 
von Dinant nit, auch wollte er nicht reformirend und - 
geftaltend in derſelben Weiſe wie fle auf die Dogmatil 
oder gar auf die kirchlichen Verhältniſſe einwirken, un) 
dennoch ruht auch feine Anſchauungsweiſe auf einem 
Compiler von vorgefundenen wiffenfchaftlichen Beziehan⸗ 
gen. Schon der pantheiftifche Standpunkt überhaupt, — 
und dieß gilt in anderer Weife auch für Amalrich und 
feine Schule —, war rüdficytlich der biöherigen Entwicke⸗ 
[ungen der Philofophie Fein fo unmöglicher, ale es auf 
den erften Blick feinen könnte Man durfte nur ges 
wiffe Ausläufe der frühern chriftlichen Speculation haupt 
ſächlich ins Auge faffen und das Unbeſtimmte, Schwan: 
fende und Zweibeutige derfelben mit Abfehen von den 
orthodoren Borausfegungen auf die rein logifche Beben 
tung und den bloßen Wortverftand zurüdführen, um in 
diejenige Sphäre gu gerathen, in welcher zumal unfer 
Dialektiler fi bewegte. So negirte fchon ber heil. 
Auguftin in der Idee Gottes alle qualitativen Beftim: 
mungen, erhob fie in ihrer Allgemeinheit über bie ganze 
Summe der untergeordneten Begriffe und gewann damit 
die Vorftellung einer ganz abftracten abfoluten Wefenheit 
(essentia, ober auch substantia, wie er fie denn doch 
auch nannte), bie er wieder mit der Totalität des Wirk, 
lichen in eine fo nahe Verbindung feßte, daß feine bezüg- 
lichen Aeußerungen eine vollftändig pantheiflifche Auffaffung 
zuließen, wenn man nicht wüßte, daß fle wenigſtens feiner 
Intendion zuwiberliefe 2). Seine Anfichten haben aber 


a) Ut sic intelligamus Deum, si possumus, sine qualitate bonum, 
sine quantitate magnum, sine-intelligentia creatorem, sine situ 
praesentem, sine habitu omnia contineotem, sine loco ubique 
totum, sine tempore sempiternum, sine ulla sui mutatione ma- 

tabilia facientem nihilque patientem. Quisquis Deum ita cogi- 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 323 


auf die mittelalterliche Philoſophie den bedeutendſten 
Einfluß geübt, wie man 3. B. den unten angeführten 
Stellen faſt überall begegnet. In einer ähnlich abftracti» 
von Weife faßte Anfelm von Canterbury die Got⸗ 
teöidee. Sie Iöft ſich ihm nad einigen Stellen faſt ge, 
radezn in das allgemeine Seyn oder den allge 
meinften, weiter niht beftimmbaren Begriffauf, 
gegenüber weldhem der relativen Wirklichkeit kaum eine 
ſeldſtſtändige Eriftenz zugeſprochen wird «). Und noch 
ſchärfer drückt ſich bei ähnlicher Anfhauung Abälard 
bie und da Über die allgemeine Subftantialität Gottes 
und ihres Berhältnifies zur Welt aus b). Auch Gilbert 


tat, etsi nondum putest omuino invenire, quid sit, pie tamen 
cavet, quantum p@fest, aliquid de eo sentire, quod non sit. Est 
tamen sine dubitatione substantia vel, si melias hoc appellatur, 
essentia. De trinit. V. c. 1842. — Deus est quaedem sub- 
stantia, nam quod nulla substantia est, nihil omnino est. In 
psalm. 68. (tom. VIII. p. 722. Bas. 1569.). — ferner: scien- 
dum est, gaod Deus, immutabiliter semper in se ezistens, prae- 
sentialiter, potentialiter, essentialiter est in omni natura sive 
essentia sine sui delinitione, et in omni loco sine circumscri- 
ptione, et in omni tempore sine sui mutabilitate, et praeterea in 
sanctis spiritibus et animabus est excellentius per gratiam inhabi- 
taus. Epist. 57: substantialiter est Deus ubique diffusus. G. 
Ritter, Geſchichte der chriſti. Philoſ. 17. G. 272 ff. 

a) Bei. bei. Monol, 8. und 18. 19. 28. Damit hängt audy fein 
ontologiicher Beweis für das Dafeyn Gottes aufs genauefte zus 
ſammen. 

b) Patet divinam substantiam omnino indiridaam omninoque in- 
formem perseverare ; atque ideo eam recte perfectum summum- 
que bonnm dici et nulla alia re indigens, et sibi ipsi sufhiciens, 
omniaque a se ipso habens, nec ab alio quidpiam accipiens. 
Theol. christ. ap. Marten. thesaur. anecd. tom. V. col. 1264 seq. 
— Haud absurde de his omnibus, quae efficere possumus, Deam 
potentem praedicamus et omnia, quao agimus, eius notontiae 
tribaimus, in quo vivimus, movemur et sumus quique omnia 
operatur in omnibus. ÜUtitur enim nobis ad efficiendum ea, 
quae vult, quasi instrumentis, et sio id quoque facere aliquo 


324 Kroͤnlein 


be la Porrée bob dadurch bie Idee Gottes aus dem 
Kreiſe aller andern Vorſtellungen heraus, daß er den lo⸗ 
giſchen Begriff des Seyns ohne Präbicate auf ihn über, 
trägt, womit er aufs innigfte die negative Beflimmung 
der abfoluten Einfachheit verknüpft a). 

. Als dann Peter der Lombarde in feinen Mas 
gifter Sententiarum — biefem dogmatifchen Coder 
der fpäteren Theologie — diefelbe Betrachtungsweiſe vor, 
gebracht und durch theologifche Autoritäten geſtützt hatte, 
pflanzte fie fich in den Ausführungen feiner zahlloſen Er- 
klärer fort b). Daß fie ohnehin dem Realismus mit feis 
ner Derallgemeinerungstendenz befonberd zufagen mußte, 
obfhon fle ihm nicht allein angehört, mag nur beiläufig 
bemerft werden. Zulegt verdient noch der geiftreiche 
Alain von.Lille (Alauus ab iusulig) , ein Zeitgenofle 


modo dioitur, quod nos facere facit, et posse omnia dicitur, 
quia sive per se sive per subiectam creaturam omnia, quae vult 
et quomodo vult, operatur. Ibid. col. 1351. Wenn v. Eou- 
fin (Oeuvres I. p. 192. Bruxell. 1840.) bemerkt, daß Amals 
sich und David Abälard gefolgt wären, fo Tann von einer Abs 
haͤngigkeit derfelben allerhoͤchſtens in der oben angebeuteten Weile 
die Rebe fegn. 

a) So fagt er 2. B.: Id vern, quod est Deus, quod est, non 
mndo in se simplex est, sed etiam ab his, quae adesse sub- 
sistentibos solent, ita solitarium est, ut praeter id unum pro- 
prietate singulare,, dissimilitadine individuum, quo est, aliud 
aliquid,, quo esse intelligatur, prorsus non habet. In Boeth. 
I. p. 115%. — Gott wird dann wie bei den Fruͤheren ossentia 
und uneigentlich auch substantia genannt. Won der essentia fagt 
Gilbert: Essentia est illa res, quae est ipsum esse, id est, 
quae non ab alio mutuat dictionem et ex qua est essc, id 
est, quae caeteris eandemquadam participatione extrinseca com- 
munscat. Daf. I. p. 1140. 

b) Mag. sentent. I. dist. 8. und alle Erklärungen zu biefer Stelle. 
Hierher gehört ferner noch das ftehende Kapitel de simplicitate 
Dei in allen Summen ber Theologie jener Beit, S. u, a. bie 
von Wilhelm von Paris II, p. 867. 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 825 


Amalrich’d, Erwähnung, weicher in feinen unſern Gegen⸗ 
Rand betreffenden Marimen oft nahe genug an das 
Yantbeiftifche auſtreift ®). 

SR es da unbegreiflic, wenn endlich ein Philofoph, 
ich bloß an die Sache felbit haltend und alle fonflige 
Rüdfiht, die ihm ungerechtfertigt vorkommen konnte, bei 
Seite ſchiebend, bei den abfiractiven Bellimmungen ale 
ſolchen fliehen blieb? Und dieß bildete ja den Angelpunkt 
in der Dialektik David's, daß er vor Allem auf bie Ans 
erfennung der oberftien, allgemeinften und nur negativ 
befimmbaren logiſchen Kategorie drang, in welcher alle 
andern als in ihrem Prädicate verſchwänden, und daß er 
demzufolge das Göttliche ale die oberfte, allgemeinfte und 
nur negativ beftimmbare Weſenheit feßte, in welcher alle 
untergeordneten Wefenheiten aufgingen. Alle einzelne Er» 
wäguugen, alle fyllogiftifchen Operationen, alle Ausſprüche 
alter Weifen, die er herbeizieht, betreffen, wie fchon früs 
ber erwähnt, zulegt fo fehr nur den Nachweis biefer 
Grundanficht, daß die näheren Beziehungen feiner Lehre 
gleichfam bloß beiläufig von ihm vorgebracht werben. 

Bar fo die Totalanfhauung David's in der frühes 
ren chriſtlichen Philofophie ſchon vorbereitet, fo muß dafs 
felbe, wie auch H. Ritter bemerkt, falt noch mehr von 
den einzelnen Elementen gefagt werden, aus denen er fie 


a) Deus est sphaera intelligibilis, cuius centrum ubique, circum- 
ferentia nusquam. — Regul. (de sacra theulogia) 7. — Deus 
est, cui quidlibet, quod est, est esse omne, quod est. Reg. 
8. Solus Deus vere existit, id est simpliciter et immobiliter 
ens, cetera autem vere nou sunt, quiua nuuquam in eodem 
statu persistunt. Reg. 19. Sola forma informis est, qnia for- 
mae non est furma. Reg. 18. Omnes affhırmationes de Deo 
dictae incompactae, negationes vero verae. &elbft das est foll 
von Bott nicht eigentlich ausgefagt werben bürfen. Reg. 89, Vrgl. 
Ritter, Geld. der Phil. VII. &, 595. 


326 Krönlein 


conftruirt hat. „Die drei Principien ber neuern Platoni⸗ 
fer” (der platonifirenden Theologen des zwölften Jahr⸗ 
hunderts), fagt der eben genannte gründliche Geſchichts⸗ 
forfcher mit Recht, ‚Die Vorausſetzung, daß alles Beſon⸗ 
dere im Allgemeinen gegründet fey, die Anwendung der 
Begriffe von Form und Materie hierauf in der Weife, 
daß diele das Allgemeine, jene dad Beſoudere bezeichnen 
fol, alled dieß find Gedanken, die und fhon oft genug 
in Berlauf unferer Gefchichte begegnet find, Auch daß 
David von Dinant, weiter gehend als feine Vorgänger 
im Platonismus, nach dem linterfchiede zwifchen erfter 
Materie, Geiſt und Gott fragte, denfelben nach denfel» 
ben Grundſätzen wie alle übrigen Unterfchiebe behanbelt 
wiffen wollte und, ald er einfah, daß dieß nicht angehe, 
dieſen Unterſchied überhaupt verwarf, wird Feiner neu 
eingeführten Ueberlieferung zugefchrieben werben müflen ; 
Dazu liegt es zu natürlich in der Berfahrungsweife, wie 
fie damals in den logifchen Schulen herrfchte, und unter 
fcheidet den David von andern feiner Zeitgenoflen nnr 
dadurch, daß er bie logifchen Regeln auch auf Gott uud 
- die Übrigen Principien anwenden wollte, ohne durch die 
Lehre von der Ueberfchwenglichfeit diefer Dinge ſich zu» 
rückſchrecken zu laflen” =). 

Rur darin kann ich Ritter nicht beiftimmen, daß er 
David wegen ‚ber angegebenen Motive und wegen der 
Verbindung, in welche er ihn mit den Amalricanern, „ſei⸗ 
nen Zeitgenoflen,” mit Joh. Scotus Erigena ſetzen möchte, 
überhaupt den Platonikern anzufcließen geneigt ift und 
ed geradezu in Abrede ftellt, daß Ariftoteleds oder die 
arabifche Philofophie feinen Pantheismus veranlaßt habe. 
Nach den bisherigen Auseinanderfegungen kann es mir 
nicht in den Sinn fommen, den Einfluß feiner platonis 


a) Geſch. ber Phil, VII. ©. 631. 


Amalrih v. Bena u. David v. Dinant. 327 


firenden Borgänger auf fein Denken in Abrede ftellen zu 
wollen, wohl aber ſcheint mir die Nahrung, die er aus 
der arifkotelifchen Philofophie, und was damit zufammens 
hing, zog, keineswegs fo-gering angefchlagen werden zu 
dürfen, als Ritter meint, Beruft er fidh doch fortwähr 
rend anf Ariftoteled, und nicht bloß auf die Tängft ber 
kannten und benußten logifchen Schriften, fondern auch 
anf feine Metaphyſik und Phyſik! Dann adeptirt er vors 
zugsweiſe deflen techniſche Sprache (prima materia, ÖAn, 
sublectum , voüg, primum suscipiens, primum efficiens), 
und der materialiftifche Anfchein, den feine Lehre hat, 
dürfte vor Allem durch ariftotelifche Begriffsbeſtimmun⸗ 
gen veranlaßt worden feyn. Rechnet man noch hinzu, 
daß die parifer Synode die naturphilofophifchen Schrifs 
ten des Ariſtoteles höchſt wahrfcheinlich deßwegen verbor 
ten bat, weil fie in ihnen die Quelle ſeiner Keberei fand, 
fo it faum zu zweifeln, daß Nitter’d Meinung nnflatt- 
haft if. Vielmehr fheint er fich vorzugsweiſe 
an Ariftoteled gehalten zu haben, und damit 
wäre erder &rfte, welder diefer Autorität 
der fpäteren Scholaſtik in — Grade 
gehuldigt hätte. 

Was von ſeinem vermeintlichen —— mit 
Seotus Erigena zu. halten ſey, iſt oben ſchon erörtert 
worden. Der Grundcharakter der Syſteme beider if 
ein gleich fehr nach Inhalt wie nach der Methode vers 
ſchiedener, und ein biftorifches Band zwifchen ihnen 
fanı ohnehin nicht nachgewiefen werden, 

Fragt man nun, auf welchem Wege David mit Aris 
Roteled bekannt geworben fey, fo koͤunte die arabiiche 
Philoſophie immerhin die Bermittelung übernommen ha⸗ 
ben. Gibt ja doch Ritter felbft die Möglichkeit feiner 
Belanutfchaft mit derfelben zu und bemerkt ausbrüdlich, 
daß das gleichzeitige Verbot eined gewiſſen Rauriting 


328 | Krönlein 


Hispanne anf arabifhen Einfluß gedeutet werben 
könnte a). Für meine Anficht fpricht zugleich der Um: 
ftand, baß er fi auf Auaximenes, Demokrit, Plutarch 
und Orpheus beruft, auf welche die arabtfchen Philos 
fophen oft zurüdgelommen find, obgleich er die geringen 
Notizen über die beiden erften auch Direct aus ben 
arifistelifchen Schriften haben konute. Wohl wäre es 
nicht unmöglich, daß er felbft durch mancherlei verwandte 
Elemente der arabifchen Ariftoteliter fich hätte beftimmen 
offen, 3. B. durch. die naturalikifche Richtung eines 
Avicemdron, den bald nad ihm — Magnus 
fo häufig erwähnt. — | 

Bon dem Vorwurfe des Materiolismus hat fchon 
Jac. Thomafine unfern Philofophen dadurch zu reinis 
gen gefucht, daß er die Bermuthung ausſpricht, er fey 
im Ganzen berfelden Anſicht wie Amalrih und feine 
Schule geweien und habe ſich nur einer crafleren Aus: 
drucksweiſe bedient b). So wenig nun diefe Einrede aud 
zureicht, fo fehr muß doch darauf beftanden werden, daß 
es für den plumpen Materialidömus noch keineswegs ents 
ſcheidend ift, wenn ſich der Begriff des Materiellen in 
den erhaltenen Bruchftüden feines Syftemd etwas ftarf 
hervordrängt. Findet doch das Aehnliche auch bei ande: 
ren Philofophen des chrifilihen Mittelalters ftatt, ohne 
dag fie bed Materialismus beſchuldigt worden wären, 
z. B. bei dem unbelannten Berfafler ded aus dem zwölf 
ten Sahrhunderte ſtammenden Buches über die Battum _ 
gen und Arten (de generibus et speciebus), welches 
ohnehin noch manche andere Analogien zur Lehre Dar 
vid's bietet. Nichte defto weniger ift ed nicht zu mißfen- 


a) Daf. ©. 632. 
b) &. Brucker. hist. crit. phil. III. p. 699. Freilich iſt Thomafius 
ſelbſt über unfere Haͤretiker nur ſchlecht beichrt. 


Amalrich v. Bena u. David v. Dinant. 329 


nen, daß die phyſiſche Auffaffung in feiner Specnlas 
tion dominirt, nur daß fle ſich, den früheren Erwägun: 
gen gemäß , doc wieder zu einer Art dynamifchen 
WVeltbetrachtung verflärt. 

Das Unausgeführte, Zufammenhanglofe und Willlürs 
lihe in den Gedanken des Dinanterd und das Formali⸗ 
Kifhe und Unbehülfliche in feiner Methode liegt fo offen 
in Tage, daß es hier feiner weitern Kritik bedarf. Schon 
Albertus Magnus und Thomas von Aquin haben eins 
jeine Punkte auf das fcharffinnigfte gerügt. Ich kann es 
mir nicht verfagen, wenigſtens eine Bemerkung aus der 
Kritik des letzteren beraudgzuheben. Die david'ſche wie 
jede andere ähnliche Weltanfchauung, fagt der berühmte 
Theolog, beruhe auf einer falfchen Berobjrctivirung der 
rein logifchen Seite des Denkens; was nämlich in der 
Allgemeinheit bed Gedankens sufammenfalle, werde hier 
andy als in dem gegenftändlichen Weſen zufammenfallend ans 
gefehen, nnd da der allgemeinfte Begriff des prädicatlos 
fn Seyns afle andern unter fidh befafle, fo werde au 
eine allgemeinfte und qualitätsiofe Realität geſetzt, in 
weicher alle andern Realitäten aufgingen a). 

In der That ift damit Grund und Urſprung aller 


a) Horam omnium errorum et similium unum videtur esse prin- 
eipium et fundamentum, quo destructo nihil probabilitatis re- 
manet. Plures enim antigquorum ex intentionibus intellectis 
indicium rerum naturalium sumere volunt: unde quaecungue 
inreniuntar conrenire in aliqua intentione intellecta voluerunt, 
quod commanicarent in una re. Et inde ortus est error Par- 
menidis et Melissi, qui, videntes ens praedicari de omnibus, 
locuti sunt de ente, sicut de una quadam re, ostendentes ens 
esse unnm et non multa — — — —. Ex hoc etiam deriva- 
tur opinio, quae dicit unam essentiam generis esse in omni- 
bus speciebas re, non tantam secundum rationem. Thom. Agq. 
in fl. sentent. lib. dist. XVII. quaest. 1. art. 1. solut. 


330 Amalrich v. Vena m. David v. Dinant. 


Alleinslehren, zugleich aber anch der Fleck genau bezeich⸗ 
net, wo zunächſt ber kritifche Hebel gegen fie eingeſetzt 
werben muß. In neuerer Zeit ift man befanntlich wieder 
auf diefen fhon damals vorgebrachten Gedanken von ver 
fchiedenen Seiten ber aufmerkſam geworden und hat 
bavon gegen die jüngeren Geftaltungen des Pantheismus 
die fruchtbarfte Eritifche Anwendung gemacht. 
Nirgendewo fieht man die Geneſis der fpeculativen 


Bereinerleiung ber Dinge deutlicher bervortreten, als bei _ 


unferem Metaphyſiker, weldyer durch fortgefegtes Gene⸗ 


ralifiren, durch immer weiter getriebenes „Abftzahiren” 


(abstrahere) und „Auflöfen” (solvere) auf jened „Aller 


einfachfte” (simplicissimum) gelommen ift, welches er, | 


nachdem er alle pofitiven und concreten Beflimmungen in 
ihm auögetilgt hatte, ald bie abfolute Wefenheit aller 
pofltiven und concreten Eriftenzen auſah. 

Bei allen Mängeln feiner Philoſophie jedoch darf 





nicht vergeflen werden, daß wir unfere Kenutniß uud 
anfer Urtheil über diefelbe doch nur auf theils fehr ger 


zingfügige, theild ganz unkritifche Mittheilungen Auderer 


gründen müſſen. Vielleicht würde die an ſich fchon fo 


intereffante Geſtalt David's ungemein an Intereſſe ge 


winnen, wenn wir weitläufigere und genauere Berichte 
über ihn hätten, oder wenn und gar feine eigenen Schrifs 
ten erhalten worden wären, — 


2. 


Ueber die 
Praͤdeſtination. 


Die auguftinifche, calviniſche und Jutherifche Lehre aus 
den Quellen dargeftellt und mit befonderer Rüdficht 
" Schleiermacher's Erwählungslcehre comparativ 
beurtheilt 

: von 
C. Bed, 
Repetenten am theol. Stifte au Tübingen, 
(Schluß.) 


Zweiter, kritiſcher Theil. 


Nachdem wir die drei hauptſächlichſten Theorien ber 
Prädefination eine jede für fich in ihrem organifchen Zus 
ſammenhange darzuftellen verfudt haben, ift und jetzt 
die Aufgabe geftedt, fie in den Hauptmomenten der Frage 
nebeneinander zu fielen und fie nach dem, was fle ger 
wolt und was fie erreicht, vergleichend zu beurtheilen — 
ein Gefchäft, bei welchem Schleiermacher durdy feine Er⸗ 
wählungsiehre und vielfach den Weg bezeichnet hat. 

Um und nämlich zuerfi im Allgemeinen zu oriens 
tiren, ift ed nothwendig, daß wir und die Standpunkte 
and Principien zurückrufen und klar machen, auf welden 
jede dieſer Theorien ſich auferbauen will. Unſere Frage 
bat zwei Seiten, deren Bereinigung oder Gegenfag von 
entfcheidendem Einfluffe feyn muß, eine metaphyſiſche 
und eine ethifche, oder, wenn man lieber will, eine obs 
iettioe und fubjective, die theologifche und anthros 
pologifche. ine geht von oben herab, die andere 

Theol. Stud, Jabra. 1847, 23 


332 | Bed 


von unten herauf; bie eine bewegt fich' um das ewige 
Weſen Gotted, die andere um bie zeitliche Natur des 
Menſchen. Nach der einen kommt die Präbeftination zur 
Betrachtung, wie fie im ewigen Rathſchluſſe Gottes feſt⸗ 
ſteht, nach der anderen, wie fie in der Menfchenwelt 
ſich realifirt. Es ift aber Mar, daß in der Idee beide 
Wege zufammenfühnen, einander entgegentommen müflen 
und nicht auseinander gehen, nicht einander wiberfprechen 
fönnen. Die Bereinigung beiber wäre ſomit das Problem der 
denfenden Vernunft. Run ift ed aber 1) der gewöhnlice 
Gang der Entwidelung des Begriffe, beide Momente, 


die fich fpäter zu einem Gegenfage ausbilden wollen, in 


verhüllter, unmittelbarer Einheit, in naiver Bereinigung 
erfcheinen zu laflen; es findet ſich eben hier, wenn gleid 
auch dad Eine oder Andere überwiegen mag, doch nod 
feine wirkliche Entgegenfegung, fo wenig, als eine wirt 


liche Einheit, die fich erfi Dur den Gegenſatz vollziehen 


fann. Diefe unmittelbare Einheit nun kommt im 
Spfieme Auguftin’s zur Darftellung Bei ihm fprin 
gen beide Betradhtungsweifen, die metaphyſiſche und die 
ethifche, in einander über, ohne daß fich eine gegen bie 


andere beflimmt abfchließen lönnte. Sein Audgange 
punkt iſt die Allgemeinheit der Erbfünde, aus welder 


die Nothwendigkeit der Gnade fidy ergibt: bier nimmt 
er feinen Standpunkt im Subjekte. Die Gnade aber, 
um wirklich als Gnade ſich zu zeigen, foll nicht allge, 
mein ſeyn: dieß führt auf die Entgegenfehuug ber Ge 
rechtigleit und Barmherzigkeit im göttlichen Wefen, eben 
damit auf die metaphyſiſche Unbegreiflicyleit Gottes, die 
er fo oft lobpreift, zurüd, — alfo auf den entgegenges 
feßten, rein objectiven Standpunkt. Diefe Unbegreif- 
Iichleit Gottes aber ift hinwieberum von der Art, daß 
durch fie die ganze Entwidelung der Welt und des Men⸗ 
fhengefchlechts nothwendig bedingt feyn muß; biefe Ent 
widelung felbft aber wird nicht in der Nothwendigfeit 


über die Praͤdeſtination. 333 


ibred Weſens, fondern in der Zeitlichleit ihres Verlaufs 
betrachtet, fie muß irgend einen zeitlichen Anfangspunkt 
haben. Dies iſt der Sündenfall, und fo wird von der 
Gnade, die jet allen Menfchen nothwendig ift, zurüd- 
gegangen auf die Freiheit bed erften Menichen — dieß 
wieder das fubiective Moment und doch in einer für und 
jenfeitigen, transfcenbenten,, rein äußerlichen, objectiven 
Form. So fliehen denn beide Seiten neben einander: bie 
unerforfchlichen Gerichte Gottes, die Alled befiimmen, 
und die Freiheit bed erfien Menfchen, deren eine That 
von entfcheidendem Einflufle auf die ganze Weltentwicke⸗ 
lung bleibt. Beide fliehen neben einander, fordern einans 
der, fpringen in einander Über, ohne in wahrer Verei⸗ 
nigung ihre Ruhe zu finden. 

2) Salvin aber hält eben dad Eine Moment, das 
metaphyfiiche, das objective des Jinendlichen, feft, um 
von dieſem Principe and jenes andere, ethifche, fubiective, 
das des Endlichen, durchaus beftimmt werben zu laffen, 
und fo wird denn die Differenz, die auf der fubjectiven 
Seite der Ethik ſich ſindet, der Unterfchieb von gut und 
bö6, durch die abfolute Betrachtung ausgeglichen. Hier⸗ 
aus erflärt fi die in die Augen fpringende Differenz 
milden Auguftin und Calvin über den Sünben- 
fall. Diefer iſt bei Auguftin der Ausgangspunkt für das 
Verhaͤltniß von Gott und Menſch, bei Galvin nur ein 
Beifpiel von dem Berhältniffe der Freiheit zur göttlichen 
Ordnung. Bei Augufin fängt gerade mit dem Sünden: 
falle die Prädeftination erſt an, bei Calvin aber ift aud) 
diefer (chem durch die Prüdeflination geordnet. Aber ale 
eine Gomfequenz\ biefer einfeitig objectiven, diefer ſoge⸗ 
nannten abfoluten Betrachtungsweife fteflt fich der Mans 
gel heraus, daß das Moralifchböfe einmal nichtd Anderes 
ſeyn fol, ald eine Negation, das andere Mal aber eben 
ſoll feſtgehalten werden als ein dem Guten ewig gegen» 
überichender Gegenſatz, daß alfo ber abfolute Stand» 

23 * 


334 Bed 


yunft, ber dad Ganze beherricht, bald zu viel, bald zu 
wenig premirt iſt. 

3) Calvin nahm von Auguftin die Abfolutheit Got⸗ 
tes; die Intherifhe Lehre die Linterfcheibung von 
praescientia und praedestinatio. Sie ftellt ſich fo auf die 
fubjective, ethifche Seite der Freiheit. Schon ib: 
ren Ausdgangspunft hat fie mit Auguſtin gemein: es if 
die Erbfünde. Diefe ift die fubjective Erfahrung des 
chriſtlichen Bewußtſeyus. Alle Menfchen find in moras 
lifhem und geiftigem Tode gebanut, alle in elender 
Kuchhtichaft gehalten und können allein dad Leben gewin- 
nen von dem, der ber Urquell alled Lebens if. Daß 
aber nicht Allen dieſes Leben zu Theil geworden, ift all: 
gemeine fubjective Erfahrung. Darum wird deun jet 
der Schluß gezogen: die Schuld muß vom Bubjecte her 
rühren, das die Gnade nicht will. Iſt ed aber fo, fo 
muß es die Freiheit des Subjects gewefen feyn, denn 
fonft fiele ja der lirfprung des Böfen, bed Gegenſatzes 
in das Abſolute. Es ift, wie die obige Darftellung ge: 
zeigt hat, fichtbar, wie bie Kirchenlehre im Jutereſſe, 
den ethiſchen Unterfchieb ded Guten und Böſen fer und 
zugleidh vom heiligen Bott ferne zu halten, die menſch⸗ 
liche Kreiheit zu retten bemüht it, am fichtbarften eben 
in dem im erften Hefte zulegt angegebenen Punkte der gratie 
resistibilie. An diefem Punkte wird aber auch ihr Wider 
fprudy offenbar, daß fie auf ihrem ethifchen Boden eine 
Freiheit geben will, und es doch nur zu einer äußerli⸗ 
hen, d. h. zu gar Feiner Freiheit bringen fann. Dem 
eine Kreiheit, die nur nach einer Seite fid) neigen kann, 
ift Peine, und während zuerft mit ber Erbfünde allge 
meine Knechtfchaft. gelehrt ift, wird mit bem resistere eine 
Freiheit eingeführt, bie aber doch wieber feine if, fon 
dern Unfreiheit. So können Calvin und die Kir: 
chenlehre beide ihr Ziel nicht erreichen: ihre Conſe⸗ 
quenzen führen manchmal zuſammen, aber ihre entſchie⸗ 


‘ 


über die Präbeftination. 335 


dene Tendenz iſt gerade die entgegengefebte. Calvin will 
das Abfolnte, die Kirchenlehre die Freiheit zu ihrem 
Rechte bringen. Dan wende nicht ein, bie Kirchenlehre 
thue ja das im Intereſſe einer würdigen Vorſtellung von 
Gott. Denn das ift gerade dad Bezeichnende, wenn fie 
in Gott zurückgehen, fo hält Salvin das rein objective 
Moment des Unendlichen, die Allmacht, fell, die Kirchen: 
lehre aber will daß fubjective Moment, die Heiligkeit Gottes, 
vor Allem nicht verlieren. Das Intereſſe aber, welches 
fie Hierzu treibt, iſt einmal der ethifche Unterfchieb, welchen 
fie im Subjecte worfindet, und dann, fo wenig man ed 
auch mag Wort haben wollen, das Interefie der gläubis 
gen, wie ber menfchlichen Vernunft, die ſolchen Gegen⸗ 
fat in Gott felbft nicht als principiell zu firiren vermag. 
Puther hat auf calviniſchem Boden in der Schrift de servo 
arbitrio einen zweifachen Willen Gottes unterfchieden: 
den Nachdruck hat ber verborgene, der fih vom Sub» 
ircte abkehrt. Die Iutherifhen Theologen auf dem Bo⸗ 
den der Formula Concordise wiffen auch von einem dop⸗ 
pelten Willen Gottes: die Dauptbedeutung hat für fle der 
nachfolgende Wille, welcher fich dem Subjecte zukehrt. 

Wir fehen fomit, ed handelt fich bei al dem in letz⸗ 
ter Inſtanz um dad Verhältniß des Endlichen und Uns 
endlichen, mit dem es zunächft Die Philofophie zu thun 
hat, und es mag daher erlaubt feyn, eine Parallele _ 
aus der Gefhihte Der Philofophie herbeizus 
ziehen, welche geeignet feyn bürfte, das Verhältniß der 
drei Prädeftinationglehren in ein’ Mares Licht zu feßen. 
Auguftin iſt auf dem Gebiete der Dogmengefcichte der 
Schöpfer der Anthropologie, ber fubjectiven Dogmen; auf 
dem Gebiete der Philofophie iſt der Vater der Subjecti- 
vitätsphilofophie Carteſius. 

Wir vergleichen nun das — ——— Spftem 
mit dem des Gartefiug, das calvinifhe mit 


336 Bed 


dem des Spinoza, das Iutherifhe Dogma 
mit dem Syſteme bes Leibnik. 

Wieder Kundamentalfaß ber carteftianifchen Phl 
lofophie, in welchem das Priucip der neueren Philofophie 
auftrat, war: de omnibus est dubitandum, fo ift die 
ganze auguftinifche Anthropologie gegründet in ber Ber 
zweiflung an allem Berdienfte, im Zweifel an aller menſch⸗ 
lihen Kraft. Wie bei Carteſius als feſter Punkt aufge 
ftellt wird: cogito, ergo sum, fo bei Anguftin die Gewißr 
heit! credo, ergo sum electus, und wie bei Gartefind 
unmittelbar im Bewußtfeyn das Seyn liegt, fo liegt in 
der Prädeftination unmittelbar auch dad donum perseve- 
rantise. Ferner bei Garteflus ift die res cogitans nur eine 
Seite des Gegenfaßes; neben diefe tritt ald bad Zweite 
die res extensa, und boch gehört eigentlich nur bie erfte 
auch dem Wefen Gottes an. Achnlich ſtehen bei Auguſtin 
den Ermwählten gegenüber die Nichterwählten, zu denen 
fich eben Gott in feine weitere Beziehung ſetzt. Endlich, 
wie Gartefluß, um dad wirkliche Princip aller Wahrheit 
zu finden, von dem fubjectiven Standpunkte des Sch zu 
Gott überfpringt, der doch in fich Feine Tebendige Ber 
mittelung der Gegenfäße iſt, fo geht Auguflin von fei- 
nem ethifchen Boden auf den metaphyfifchen-über, auf 
dem das Höchfte gerade der verborgene Rathſchluß Got: 
tes bleibt. | 

Die Aehnlichfeit des Calvin mit Spinoza fpringt 
in die Augen. Wie bei Spinoza nichts ift, al& die Sub⸗ 
fang Gottes, fo ift bei Calvin nichts, als Gott in feiner 
altissima maiestas; wie bei Spinoza an der Subftang zwei 
Accidentien hängen, fo hängen nach Calvin von höcdften 
Rathſchluſſe Gottes zwei Seiten der Prädeilination ab, 
die Ermwählten und Verworfenen. Endlich, wie Spinoza 
erſt ausdrüdlich die res cogitantes und extensae ale Die 
zwei Accidentien einander gegenübergeftellt hat, bie bei 
Carteſius noch nicht fo beſtimmt auseinander treten, fohat 


über die Präbeflination. 337 


erſt Calvin die Berwerfung, bie bei Auguftin nur als 
Kehrfeite der Präbeflination nebenher ging, zu der bes 
Rimmten zweiten Seite der Prädefination gemacht. 

Die Freiheit, wie fie im Intherifchen Syfteme vers 
treten iſt, erinnert an da6 leibnitz'ſche Syſtem ber 
Monaden in ihrer freien Selbfibefiimmung. Ale Einzel: 
monaden aber fchanen auf Bott als die Centralmonas, 
von der fie Effnigurationen find: gerade fo geht im Ius 
therifchen Syſteme die Univerfalität der Gnade von Gott 
auf Alle aud. Aber nicht alle Monaden werden von 
Gott Iebendig bewegt, vielmehr find die einen dormitan- 
tes, in ſich felbft verfchloffen und gleihfam verhärtet: 
die Berworfenen der Kirchenlehre! Dort it präftabilirte 
Harmonie, hier praescieutia et praevisio fidei; die präs 
Rabilirte Harmonie aber ift nur von außen gefeßt, nach 
der jede Monade ſich in eigener Freiheit richtet: ähnlich 
it in der Kirchenlehre die Gnade von außen her gegeben, 
und die Menfchen können fie aufnehmen, oder unbewesgt 
an ihrer Stelle bleiben. 

Gehen wir jeßt mit diefen allgemeinen Bemerkungen 
au das Befondere der comparativen Beurs 
thetlang und nehmen aus dem Bisherigen eben die 
durchgreifende Unterfcheidung der beiden Momente her; 
über, des metaphufifchen oder objectiven und bes fubjec- 
tion oder ethifchen, fo haben wir eben hiernach zwei 
Punkte der Unterfuchung: 1) die göttliche Saufalität; 2) 
die menſchliche Empfänglichleit. Bei dem erften handelt 
es fi um NRothwendigfeit ober Freiheit, bei bem zwei⸗ 
tan um Univerfalität ober Particularität der Gnade. 

1) DObjective Seite: göttliche Banfalität, Noth- 

wendigfeit oder Freiheit? 

Diefe Frage muß hauptfächlich in drei Punkten zur 
Entfcheidung gebracht werden: 1) in dem beflimmten eins 
jenen factum ded Sündenfalls, wo alfo die Sünde erft 
einzugreifen anfängt, muß der Charakter ber göttlichen 








338 Beck 


Drduung beſonders Har fi erkennen laſſen. Nachden 
aber die Sünde da iſt, alſo eine Störung der anfängli⸗ 
dien Ordnung, handelt ed fid 2) überhanpt von dem 
Berbältniffe der göttlihen Berfehung und Vorherver⸗ 
fehbung und 3) um die Bedeutung des Böfen in ber götte 
lichen Weltordnung. 

a) Leber den Sündenfall, um auf biefen jet 
noch näher, als früher bei ber allgemeinen Darfiellung 
des Syſtems möglih war, einzugeben, fagt Auguſtin 
in ber fchon oben theilweife angeführten claſſiſchen Stelle 
de grat. et corrept. 10: Quid de ipso primo homine sen- 
tiamus? Certe sine ullo vitio factus est rectus; eum enim 
peccasse et desertorem boni fuisse veritas ciamat; non 
ergo hshuit in illo bono perseverantiem, et si non habuit, 
utique non accepit. Quomiodo enim accepisset perseveran- 
tism et non perseverasset? porro si propterea uon hebuit, 
quia non accepit, quid ipse non perseverando peccavit? 
Neque enim dici potest, ideo non accepisse, quia non est 
discretus a masse perditionis gratiae largitate, nondum 
enim erat in genere humano haec perniciei massa, ante- 
quam peccasset, ex quo tracta est origo vitii. Quapropter 
saluberrime confiteamur Deum, qui creavit bona omnia 
valde et mala oritura esse praescivit et scivit magis 
ad susm potentissimsam bonitatem pertinere 
etiam de malis bons facere, quam mala esse 
non sinere, sic ordinasse hominum et angelorum 
vitam , ut in ea prius ostenderet, quid posset eorum libe- 
rum arbitrium, deinde quid posset suse gratise beneficium 
iustitiaeque iudicium. Hiermit ift nun ausdrücklich von 
einer ordinatio Gottes die Rede und zwar mit Beziehung 
auf den Sündenfal. Es ift nämlich Far, wenn Gott 
zeigen will, was des Menfchen Freiheit vermöge, fo if 
der Menfch allerdings feiner Freiheit überlaffen, aber es 
it zum Borans Mar, daß nichts damit herauskommen 
fann und nichts herauskommen darf, fol anders bie 


über die Präbeflination. 339 


göttliche Drbunng ihrem wrfpränglihen Plane getreu 
bleiben. Weiter aber: der Menfch kann mit feiner Kreis 
beit nichts ausrichten, alfo iſt er auch nicht eigentlich 
frei. Endlidy ift der Fall geordnet, damit ſich eben Got» 
ted Gnade und Gerechtigkeit ins Licht fegen kann, er ift 
alfo zugleidy georbnet mit dem Rathfchiuffe der Erlöfung, 
der doch, wie die Schrift fagt, von der Welt Grundle⸗ 
gung gefaßt il. Was faun nun Augufiin Dagegen haben, 
wenn wir aus dem Allen den Schluß ziehen wollen, ber 
Sündenfall fey demnach prädeſtinirt. Zunächſt offenbar 
richte. Aber hier fommt 2) Die praescientia herein: homo 
per liberum arbitrium Deum deseruit, Deo quidem 
praesciente, tamen nom ad. hoc cogente, Wenn 
et daher oben gefagt, zur Zeit bed Urſtandes nondum 
füisse jn genere humano perditionis massam, fo wird das 
weiter jegt erflärt durch die Unterfcheidung von ber prima 
etsecunda gratia (c.11.) undihrem adiutorium. 12: aliud est 
adiutorium, sine quo aliquod non fit, et aliud est, quo fit. 
Hätte der Menſch gewollt, fo hätte er eben bie prima 
gratia behalten, durch die er hätte beharren können, Aber 
quod noluit, de libero deacendit arbitrio, quod tunc ita li- 
beram erat, ut bene velle posset et male. Damit wird ofs 
fenbar der Pelagianismus, der nach dem Sündenfalle abs 
gefchnitten werben fol, vor demfelben eingeführt, und 
was nachher dem Menfchen abgefprochen wird, dem Ur⸗ 
menfchen zugefchrieben: war er doch fo frei, ut bene velle 
posset et male, und der Sündenfall wird ja gerade darum 
feine Schuld geheißen, weil er im entgegengefegten Falle 
die secunda gratia verdient hätte, qua fieret ut vellet a), 
&o wäre alfo hier gwifchen Auguftin und Pelagius nur 


a) Accepisset illam merito huius permansionis beatitudinis ple- 
nitadinem, grat. et corrept. 10. und kurz zuvor: quia et non 
mori et non miserum fieri in sua potoestate esse sentie- 
Bat. 12: illi data est, cum qua est conditus voluntas 
libera, et eam fecit servare peccato, 


340 Bed 


der Unterfchied, daß das Berbienft des freien Willens 
vom Einen dem erften Menfhen, von Pelagiud aber 
allen Menfchen ohne linterfchieb zugefprochenwird. Wolte 
man aber fagen, der Urmenſch hätte die secunda gratis 
nur durch das ediutorinm ber prima erreicht, fo iR wicht 
abznfehen, was für ein Unterfchied denn noch feyn fol 
zwifchen dieſem adiutorium, das Adam von der Sc 
pfung her haben fol, und der pelagianifchen gratia cre- 
ans et concreate. Es bleibt alfo rein nichts übrig, ale 
zu fagen: vor dem Sündenfalle hat Anguſtin die Freiheit 
im vollen Sinne des pelagianiſchen liberum arbitrium, 
da® aequilibrium arbitrii behauptet. 3) Das hat man 
denn auch zugegeben, aber gerade hierin eine Inconſe⸗ 
auenz bed Syſtems gefunden, wiewohi als ein ſchönes 
Zeichen der Herzensgüte des Gründer, ber wenigſtens 
bier die Freiheit, die doch Bedingung alles fitrlichen Les 
bend und Zurechnens ſey, feſtgehalten habe. Sch glaube 
aber, man wird D. Baur a) alled Recht geben müflen, 
wenn er von einer Inconfequenz ba nichts finden zu kön⸗ 
nen gefleht, wo eben zwei einander biametraf entgegens 
gefeßte Betrachtungeweifen unmittelbar neben einander 
geftellt werden. Das eben gehört ja zum Eharafter des 
anguftinifchen Syftems, fo wie wir ihn oben auffaffen 
zu müflen geglaubt haben, daß die zwei Betrachtungs⸗ 
weifen neben einander fiehen und in einander Übergehen. 
Noch mehr! das aequilibrium arbitrii tft Dennoch im Sinne 
des Auguſtin — und das macht einen beftimmten Unter⸗ 
fchied gegen Calvin — nicht mit dem Wefen und der 
Ratur ded Menfchen an ſich unvereinbar, fondern nur, 
wie es eben jebt einmal nach dem Sündenfalle if. Die 
Freiheit wird dem Menfchen nicht als dem Enblichen, 
fondern als dem Sündlichen abgefprochen, nicht ſowohl 
aus metaphpfifchen, ale aus ethifchen Gründen. Geine 


— —— — 


a) Gegenſat u. ſ. w., zweite Ausgabe, 130-187. 





über die Präbeftination. 341 


Unfreiheit geht nicht ans feinem Berhältutffe zum Welt⸗ 
ganzen, fondern aus feinem eigenen Innern, wenn man 
will, aud feinem Berhältniffe zum Menfchenganzen her⸗ 
vor; fie ift nicht eine Schwädje, eine Unvollkommenheit, 
fondern eine Knechtſchaft. Darum ift gerade die Freiheit 
ald aeguilibrium arbitrii in Adam nothwendige Forberung 
des Syſtems; und nut and ihr kann der reatus der Erb⸗ 
fünde für jeden Einzelnen genügend erklärt werden. 
Denn der Unterfchied zwifchen Adam und feinen Nach⸗ 
fommen liegt nicht in der Natur, fondern in ihrem vers 
Ihiedenen Zuflande Ale Menfchen haben Theil an dies 
fer freien Selbſtbeſtimmung a), — eben durch bie Selbig» 
keit der Ratur, zu welcher alfo das aequilibrium eigentlich 
gehört —: nur iſt zwifchen ihnen und Adam der Unter⸗ 
ſchied, daß die Freiheit, die wir in Adam gehabt und 
verloren haben, für unſer Einzelbewußtſeyn eine trans⸗ 
ſcendente ift, gerade wie im Ganzen ber status integrita- 
is für das Bewußtſeyn der Gattung etwas Trangfeen, 
dented hat. Man darf darum dem Auguftin keine In⸗ 
confequenz zufchreiben, daß er den freien Willen hinge⸗ 
ſtellt hat ale ein voodusvov, daß über die yawwdusvar hin» 
aus and denfelben trangfcendent ift, fo wenig ald Kanten, 
weil er außer den Dingen ber Erfcheinung das Ding an 
ih poftulirt. Das iſt gerade fein Syftem: die zwei 
Betrachtungsweiſen gehören in feinem Sinne weſentlich 
infammen. Freilich aber, wie oben gefagt, iſt das andy 
iin Mangel, daß er fie, wie im verborgenen Willen 
Gottes, fo bier nur auf eine trangdfcendente Art zufams 
mengebracht hat, und diefer Punkt hat etwa biefelben 
Schwierigkeiten, wie in der neueren Naturphitofophie, 
wo eben die Bedeutung des Böſen erfannt werden foll, 
die trandfcendenten Gelbfibeftimmungen des Sch, durch 


a) Peccaverunt in eo uno omnes, corrept. et grat. 6., und das be: 
fannte in lumbis Adamıi. 


342. Beck 


weiche die menſchliche Freiheit auf die Art gerettet wird, 
baß der Menſch vor feinem Bewußtſeyn fich ſelbſt grund» 
wefentlidh beftimmt haben fol a). Eine unbewußte Selbſt⸗ 
befiimmung aber (fl feine freie. linb doch war nach Aus 
gufin Adam futuri sul casus adhuc ignarus (corrept. 
etgrat. 10.) and wäre (ebendaſ.) erft hernach certissimus ge» 
worden! Durch einen Act feiner Freiheit alfo, die, weil 
feine bewußte, auch Beine wirkliche war, foll er fich feir 
ner Freiheit beraubt haben — das iſt ein Widerfpruc, 
aber feine Inconfequenz ! 

Bei Calvin cvergl. Cons. Generv. 913. 916.) ift die 
claffifche Stelle Inst. 3, 23, B: Cadit homo Deipro- 
videntisa sic ordinante, sed euo vitio cadit. 
Hier fichen allerdings auch beide Momente unmittelbar 
neben einander und wir dürfen auch nach dem Geiſte des 
Syſtems nicht fogleich fagen, dad zweite Moment fey 
von dem erfienabforbirt. Aber wir bürfen eben fo wenig eine 
mechantfche Einheit beider annehmen, denn die Berfuchung 
kommt beim erſten Menſchen nicht von außen, fonderu 
hat ihren Grund in der Freiheit des Menfchen. Diefe 
eine, wefentliche Freiheit wird von Calvin dem Menſchen 
nicht abgefprocdhen, aber fie ift verfchieden von bem aus 
guftinifchen liberum arbitrium. Sie ift die Kreiheit von 
änferem Zwange. Cons. Gener: 933: causelur Adem, ut 
velit, se datae sibi a Deo mulieris illecebris esse dece- 
ptum, intustamen mortiferum infidelitatis vi- 
rus etc. Go fcheint denn mit Diefer Freiheit als innerer 
Selbſtbeſtimmung das Näthfel gelöft werden zu follen, 
aber es tft nicht zu überfehen, daß infidelitatis virus, cou- 
sultrix ambitio, diebolicum audaciae flagellum ſchon In 
Adam bei der Sünde vorausgefeßt worden, und fo konnte 
Calvin hierbei nicht fliehen bleiben. 3, 23, 7: quasi idem 
ile Deus, quem scriptura praedicat fatere, quaecanque 


a) Siehe Bufap. 


über die Praͤdeſtination. 343 


rult, ambiguo fine eondiderit nobillssimam ex suie creatu- 
rie. Liberi arbitrii esse dicunt, ut fortunam sibi ipse 
Adam fingeret, Deum vero nihil destinssse, nisl ut pro 
merito eum traciaret, Tam frigidam commentum si re- 
epitur, abi erit iila Dei omnipotentia, qua secun- 
dam arcanum consilium, quod alinnde non pendet, omnia 
moderstur. Decretum quidem horribile, fateor, in- 
fitiari tamen nemo poterit, quin praesciverit Deus, quem 
exitum esset homo’ habiturus, antequam ipsum conderet, 
et ideo praesciverit, qula decreto suo sic ordinave- 
rat. So if denn zugleich einerfeitö der Sündenfall von 
Gott georbnet, andbererfeitd ber Menſch suo vitio gefallen. 
Wie beides zufammenhänge, das deutet von ferne Calvin 
anl, 15, 8: habebat Adam flexibilitatem ad utram- 
que partem, poesse non peccare et perseverare non ha- 
bebat. Diefe Aexibilites (unbeflimmte Möglichteit, zu 
unterfcheiden von aequilibrium, das ſchon eine gewefene 
Bewegung der Wage vorausſetzt) hatte Adam von Bott 
durch bie Schöpfung , fle gehört mithin zu feiner Ratur, 
und fie ift in diefer flexibilitas von Gott georbnet, welche 
dad posse non peccare nicht hat. Diefe flexibilitas aber 
iR zugleich vitium. Wie kann nun beides vereinigt wers 
den? Mir fcheint die einzige Bereinigung eben in dem 
metapbyfifchen, abfolnten Staudpuntte gefunden werben 
in Können, daß alled Enbliche mit einem Mangel behaf⸗ 
tet fey. Das aber wäre daun eben feine Schuld, daß 
es dem Mangel feiner Ratur gerne nachhängt. 

b) Im Bisherigen war ſchon Implicite die Krage enthals 
ten, mitweldher wir uns jeßt noch ausdrädlich zu befchäftigen 
haben, über dad Berhältnig von Verſehen unb 
Borberfehen in Gott. Die caloinifche und auguſti⸗ 
niſche Anficht hierüber ift genau beſtimmt, aber die Iutherifche 
kehre, da fie Auguſtin nach feinen Andeutungen ſyſtema⸗ 
tiſch zu erweitern unternommen hat, bedarf einer weis 
teren Anseinanderfegung. Auguſtin hatte nämlich, wie 


ZA Bei 


er Gottes Rathſchluß und die Freiheit neben einander 
beftehen läßt, den Begriff der Zulaflung, permissio, und 
Den einer praescientia non praedestinans zugegeben: den. 
persev. 6: nihil ft, nial quod aut ipse facit, aut .ipse heri 
permittit, Und doch auf ber anderen Seite praed. samt. 
20, fagt er: agit Deus quod vult in. cordibus. homisum 
vel sdiuvando vel iudicando. oorrept. et grat. 12: zubven- 
tum est iufirmiteti voluntatis humamae, ut divina gratla 
indeclinabiliter et inssperabiliter ageretur. ibid. 
11: liberum arbiteiumn ad malum suffick, ad bonem autem 
nihil est, nisi adiuvetur ab omnipotenti bono. 

Diefe Grundzüge hat ſich nun die lutheriſche 
Lehre ſyſtematiſch auseinanderzuſetzen, befonders in der 
Korm. Conc. die Aufgabe gemacht. Der Punkt, um ben 
es ſich einfach handelt, war, Best nicht zum auetor pec- 
oati werden zu laffen, wie dieß fogleich in der Con. Ay. 
art. II., vergl, witart. 2., an den Tag tritt. Dieß hat denn 
weites in der resistibilitas gratiae feinen bogme- 
chen Ausdrud gefunden. Hierdurch aber if im ber 
har nichts gewonnen. Denn — und bieß haben wir 
jegt nachzuweifen, — einmal if die Freiheit gu hoch ger 
hatt und dann wird fir eigentlich negirt. 1) Der Frei⸗ 
heit wird zu viel Recht eingeräumt. Denu bei ber 
Wahl des Böfen, wenn der Menfch der Gnade wider 
irebt, reluctatur, fteht er gerade auf eigenen Füßen, 
für das Gute aber bedarf es einer änßerlichen Unter 
ſtützung. Die erfle Freiheit iſt aber offenbar mehr ſitt⸗ 
Ude That, als die zweite. Weiter iR die ganze Natur 
des Menfchen vom Berderben fo ergriffen, daß (Ger: 
hard 189.) Alle ber göttlihen Gnade eutfremdet fcheinen. 
Es würde alfo confequent feyn, es müffen Alle re- 
lustari, und nicht, es können Einige widerſtreben. Offen⸗ 
bar haben die Gegner mit ihrer Einwendung nicht fo 
Unrecht (Gerh. 188.): Wenn die Urſache bee Derwerfung 
im Meufchen liegt, fo muß auch bie Urſache ber Ermäh- 


über die Präbeftination. 345 


lung in ihm liegen. Das Letzte iſt falfch, alſo auch bad 
Erſte. Gerh. entkräftet die Einwendung damit, daß er 
jagt, finalem impotentiam causam meritorism esse damna- 
tienis, oriri autem ex corruptae nostrae naturae vitio, 
geippe in qua nihil pater, nihil flios, nihil epiritus sanctus 
operetar. Damit ift man aber ind entgegengefette Ex» 
tem übergefprungen; benn 2) ed.findet eigentlih gar 
feine Freiheit Ratt, demnach auch Beine Möglichkeit, 
in ihr ben Urfprung des Böfen unterzubringen. Damit 
hatte Melanchthon freilich gang Recht 111, (96.): cum 
premissio sit universalis, mec sint in Deo duse contrarise 
voluatates, necesse est in nobis esse aliquam dis- 
criminie causam, cur Saul abliciatur, David eligatur. 
Dem aber wird von der Kircheniehre entfchieden wis 
der ſpro chen (Form. Conc. 821,). Oder, wenn Gerhard 
de lib. arb. III., ehe er von der Freiheit nach bem que- 
draplex status hominis anfängt, ein velle naturale aufftellt, 
als veluntati essentiale neque post lapsum amissum , Daß 
velle naturale aber offenbar nichtd Auderes feyn kann, als 
die volnutas ſelbſt, — was kann gemeint feyn, als das 
reine Wollen, der Wille im formalen Sinne? Dieß hat 
kuther de serro arbitrio All. nicht mit Unrecht ein merum 
fgmentum dialeoticam genannt. Soll aber das velle na- 
tarale wirklich eine reale Bedeutung haben, fo kann es 
nichts Anderes feyn, ald dad aequilibrium arbitrii, bie 
ibertas rectitudinis, wie fie dem erſten Menfchen zuge⸗ 
(hrieben if. Aber dieſe wird den Menfchen nad dem 
ale abgeſprochen und fo kaun nichts Anderes übrig 
bleiven, als die libertas a iustitie. Wie weit aber biefer 
in der That ber Rame Freiheit gehöre, hat Luther de 
setvo arbitrio 105. auselnandergefegt: Si enim aliquis id 
ibi likerem euse diceret, quod sus virtute nonzisi iu alte- 
ram partem poseit, scilicet in malam, in alteram vero, nempe 
in boaam partem passit quidem, sed non sus virtute, imo 
ulterius duntaxat auxilio, possisetiam risum tenere, amice? 





346 Bed 


Nam sic lapidem aut truncum facile habere 
obtinebis liberum arbitrium, utqui et sursum et 
deorsum vergere potest, sed vi sua nonnisi deersum, alte- 
rius vero auxilio sursum. Daflelbe haben Calvin und 
Schleiermacher geltend gemacht. So Calvin (p. 900.): si 
hoc speciale electis, reliquos ad interitum aptatos esse, 
quia naturse suse relleti: certo exitio devoti sunt, vergl. 
II, 4, 3. 5, 3. Schleiermacher aber fagt: wenn Einer be 
ftimmt wiffe, einerfeitd, daß ohme feine Hilfe Jemand 
fiher in den Abgrund Hürze, andererfeitö, daß er heifen 
könnte, und wenn er nun doch nicht helfe, fo könne das 
nicht Anderes feyn, ald daß er deſſen Untergang gewollt 
babe, und fo könne denn das göttliche Vorherwiſſen kein 
müßiged, unthätiged, fondern nur ein wirkfames feyn, 
nicht die Zulaffung der Berwerfung, fondern die ae 
werfung felber. 

c) IR aber fo, wenn der Menfch nur wie ein lapis 
oder truncus von der Gnade vorgefunden, wenn nicht 
einmal eine capacitas activa, fondern nur passiva, Feine 
Empfänglichkeit, fein desiderium als innere Ergänzung 
der Außerlichen locomotiva potestas, ald Autnüpfunge- 
punkt der Gnade zugegeben wird, die Freiheit in ber 
That aufgehoben, fo Eehrt die Frage mit ihrem ganzen 
Gewichte wieder, die noch nicht gelöft ift: wer ift denn 
nun auctor mali, welches die causa peccati, weldhe Br 
deutung hat das Böfe überhanptinder Welt 
entwidelung? Gchleiermacher faßt den Stand der 
Frage fo zufammen (Ermwählungslehre 467. «)): „Wenn 
einmal gefagt tft, alles Wirkliche müfle durch den fchafr 
fenden Willen Gottes gefebt feyn, und dann wiedernm, 
Gott dürfe nicht Urheber des Böfen feyn, fo ift Beides 
nur auf die eine Weiſe zu vereinigen, wenn man fagen 


a) Schleiermachelr, ſaͤmmtliche Werke, Erſte Abth. zur Theologie. 
2, Band. 


über bie Präbeflination. 347 


kann, daß in Beziehung anf Bott das Böfe gar nicht 
it. Diefe unvermeidliche Formel aber, man mag fiennn 
auflöfen, wie man will, und auf welche Art immer zu er: 
klären verfuchen, wie das Böfe für une fo feyn Fönne, 
daß ed weder durch Gott, noch für Gott iſt, indem näms 
li dasjenige daran, was wirklich ift, die frei wirkende, 
fittliche Kraft, nicht dasjenige ift, wovon Bott nicht Urs 
beber feyn kann, badjenige aber, wovon Gott nit Urs 
beber feyn könnte, nämlich das Begentheil des Suten, 
nicht wirklich ift, Doch aber die Nothwendigkeit der Er, 
löfung auf demjenigen, was davon wirklich ift, beruht, 
und diefe zugleich dasjenige, wovon Bott nicht Urheber 
feyn könnte, in dasjenige auflöſt, wovon er allein Ur⸗ 
heber feyn kann, nämlich in bad Gute: diefe Formel, fage 
ih, kann auf Feine Weife in die Differenz der calvinis 
hen und Intherifchen Lehre verflochten feyn und alfo 
uüflen die Auflöfung derfelben, wenn fie nur erft gefun⸗ 
den wird, auch beide Lehrmeinungen fich aneignen können.“ 
Die Löfung felb aber hat Schleiermacher felbR befannts 
ih im F. 81. der Glaubenslehre (S.451.) alfo verfucht, 
daß er, um neben der Freiheit die göttlihe Allmacht uns 
beihräntt und unverlürzt zu erhalten, behauptet, „bie 
Sünde, fofern fie nicht Fönne in göttliher Urſächlichkeit 
gegründet ſeyn, fey infofern auch nicht für Bott; fofern 
aber das Bewußtſeyn der Sünde zur Wahrheit unferes 
Dafeyns gehöre, alfo auch die Sünde wirklich fey, fey 
fie ald das die Eridfung nothwendig machende von Gott 
geordnet.” Berftchen wir die fchwierige Formel und ihre 
koͤſung (oder vielmehr Schürzung) durch zwei „Sofern” 
richtig, fo Tiegt darin: die Sünde ale rein Negatives iſt 
nicht für Gott, aber fie ift von Bott geordnet, ald noth» 
wendig ſeyend am und nothwendig führend zum Pofis 
tiven, An fich, abfolut betrachtet, iſt fie nur dad Nichts 
feun, das dem Seyn anhängt, aber zur Wahrheit unferes 
menfchlichen Weſens und Bewußtſeyns, de Begriff uns 
Theol, Stud, Jahrg. 1847, 


348. Bed 


fered Geyas gehört eben bad Ineinander von Poſitien 
uud Negation a). Wir hätten alfo zweierlei zu unterfchei- 
den: 1) das Böfe als etwasrein Negatives, 2) die Säude 
ald Bermittelung ber Erlöfung. 

Auf die enfte Seite, Die reine Negativität dee 
Böfen, ſtellt fich Calbin (Inst. 1, 18, 3.): Dei voluntas 
quum una et simplex in ipso sit, nebis multiplex apparel, 
qnis pro mentis nostrae imbecillitate, quomedo idem diverse 
mode nolit fieri et velit, uon capiemus. Der Grund aber, 
warım Bett dad Böfe will, ift eben, weil im Böfen zugleich 
etwas von Realität, etwas von Poſitivem iſt. 2) So iftnadı 
Anguſtin das Böfe nothwendig zur Bermitteluug bes Guten, 
nam nisi esset hoc bonum, ut essent et mala, nullo mode sine- 
rentnr ab omnipotenti Deo. Wollte man aber das Boͤſe 
zum Mittel der Erlöfung machen, fo wirb das von 
Schleiermacher getabelt, denn das hieße nur die göttliche 
Allmacht durch das Böſe befhränft ſeyn laſſen. Es 
ſcheint mir ſomit kein anderer Ausweg zu bleiben, als 
dem Böſen, wie ed nicht bloß etwas Negatives 
iſt, ſondern immer eine Poſition, wenn auch eine verkehrte, 
— dem Böſen, ſage ich, eine poſitive Bedeutung in der 
abſoluten Weltentwickelung zuzugeſtehen: es iſt geordnet, 
wenn auch als ein immer nothwendig verſchwindendes, 
ſo doch als ein weſentliches Moment der Entwickelnng. 
Es ſcheint mir nicht zu genügen, was J. Müller b) 
wiederholt premirt und was in neuerer Zeit mannichfach 
behauptet wird, bas Böfe fey möglich, aber nicht nothr 
wendig, oder nothwendig fey feine Möglichkeit, aber 
nicht feine Wirklichkeit, als das wefentlich Grundloſe fey 
ed auch feiner Erflärung fähig. Denn dann müßte «6 
ald das abſolut Grundlofe auch vom Abſoluten ſelbſt 


a) Vergl. $. 48. Die Lebenshbemmungen find eben fo ſchlechthin 
von Gott abhängig, als die Lebensfoͤrderungen. 
b) Lehre von der Sünde, exfle Ausgabe, Band 1, 469-474. 


über bie Praͤdeſtination. 349 


nicht zu erfennen feyn, vielmehr außer ihm ſtehen: eben 
im feiner Unerforſchlichkeit Hände es als abfolut Gott ge⸗ 
genäber, und wenn die Bernunft darauf nie verzichten 
kann, nady dem Weſen Gottes zu forfchen, und dem 
Ehriften die Ausſicht nicht verwehrt feyn darf auf den 
Geiſt, der alle Dinge erforfcht, felbft die Tiefen der Gott⸗ 
heit, fo wärde ja das Böfe, wenn es nicht foll zu er⸗ 
gründen feyn, in feiner Grundloſigkeit noch höher hinauf⸗ 
geftellt, ald der abfolnte Urgrund in Bott. Diefe Uner- 
grümdlichkeit des Böfen kann daher nicht, wie behauptet 
werden will, eine abfolute feyn, nicht an ſich, fondern 
tar eine relative für und Das Lebtere ift fie denn aller, 
dinge, denn noch immer ift der Grund des Böſen ein 
Problem des Wiffend, aber, wenn auch noch Problem, 
fo doch Problem, was es im anderen Falle vernünftiger» 
weife nicht feyn Bönnte! Da das Böſe bis jetzt immer 
in der Welt fortwirkt, fo muß in Gott felbft ein genil- 
gender und pofltiver Grund für feine Exiſtenz aufgefuns 
den werden Fönnen. Und da weiter dad Böfe alfo noths 
wendig durch feine Eriftenz anf die Entwidelung der Welt 
einwirft, fo muß ed umgekehrt auch in derfelben, als ein 
weſentliches Moment, gegründet feyn. J. Müller will 
war durchaus nur die Möglichkeit der Sünde, keines⸗ 
wegd irgend welche Nothwendigkeit berfelben ſtatuiren. 
Aber er gibt doch zu, daß „von einer Freiheit des Wils 
lens nur infofern die Rede feyn kann, ald er von Ans 
fang und vor feiner erftien That nicht fchon ein beftimmter, 
jendern ein ganz unbeftimmter ifl.” Weiter aber fagt 
a: „Es find Beſtimmungen für ihr da, aber in 
ihm können fie nur dadurch ſeyn, daß er durch Selbſt⸗ 
entſcheidung, aus urfprünglicher Nichtentfchiedenheit her⸗ 
austretend,, fie felbft annimmt. Daran ergibt ſich denn 
allerdings, daß es unzuläffig ift, dem Urmenſchen einen 
anerfchaffenen, pofitiv guten Willen beizulegen. Der 
Wille der perfönlichen Creatur kann von Anfang übers 
24 * 


350 Bed 


haupt weder gut noch böfe feyn, denn er Faun beides 
nur durch feine That werben. Anbererfeits if freilich 
der Wille nicht wirklich außer uud vor der That; dar 
zum verfleht es fidh, daß dieß wor aller That und Selbſt⸗ 
entfcheidung nicht als ein wirklicher Zuftand (vom 
Berf. angeftrichen), als eine erfte Stufe des bewußten 
perfönlichen Lebens vorangeſtellt werden darf” Es fol 
dieß aber auch nicht ein’ aequilibrium voluntatis ſeyn, — 
denn dieß würde ſchon „eine Macht des Böfen im Men 
fchen, eine Sünde vor der Sünde vorausfegen. Eine 
folhe Macht aber hat von Anfang an nur das Gute” 
Der Wille ift fomit urfprünglich weder gut noch böfe, 
aber „vom Guten gelodt, zur Bereinigung mit ihm fols 
licitirt, Denn von Anfang an find in feinem Geifte die 
heiligen Mächte des Gottesbewußtſeyns und bes fittlichen 
Bewußtſeyns wirkffam und in der Negion feiner natürs 
lichen Individualität ift nichts, was diefen Mächten hem⸗ 
mend in den Weg träte; hier ift urfprünglich Mlles in 
ungeflörter, wenn gleich noch unentfalteter Harmonie; in 
zwiefpaltlofer Unfchuld und Unverdorbenheit, nicht voll⸗ 
fommen, aber rein und gut. — Dennod hat der 
Wille gleich vom erften Momente des erwachten fittlichen 
Bewußtſeyns an die Macht, fich dem Gehorſam gegen 
die göttliche Norm zu entziehen und fich dadurch mit feir 
nem eigenen Weſen zu entzweien. Das freilich if ein 
trauriger Irrthum, der dem Geifte die wahre Bedeutung 
ber urfprünglichen Freiheit ganz verhüllen muß, daß ber 
erſte Gebrauch, den der Menſch von derfelben gemacht 
babe, die erfte Beſtimmung, die der Wille fich felbft ge, 
geben, Sünde hätte feyn müffen. Es iſt der plat⸗ 
tefte Pantheismus, der ſich vorftellt, daß der Menfch fid 
von dunkler Naturabhängigfeit und Paſſlvität nicht hätte 
emancipiren und feiner Selbfiheit nicht hätte inne werden 
können in der Gemeinfchaft mit Gott und im Gehorfam 
gegen feinen Willen, fondern nur im Ungehorfam und in 


über bie Präbeftination. 351 


der Losreißſung von Gott — wodurch deun die Willkür 
und dad Böfe zur nothwendigen Vorausſetzung der wirk⸗ 
lichen Perfönlichkeit erhoben und die Alles ſich unterwer: 
fende und Alles durchdringende Bemeinfchaft mit Gott 
ju einer blinden Raturgewalt herabgefeßt wird.” 

Bis hieher fomit nur die Möglichkeit des Böfen. 
Run aber weiter (471.): „„Diefe Uebereinftimmung konnte 
doch nur eine halbbewußte ſeyn, eine kindlich ums 
fhuldige Anfchließung an Gott ohne klares Bewußtſeyn 
von der Bedeutung ded Gehorſams im Gegenſatze gegen 
den Ungehorfam. Eben barum hatte fie auch noch nicht 
die Macht, den Willen in der Richtung auf dad Gute 
zu fihern und zu befefligen.” Hierzu fommt die Anmer: 
fung: „Um ſich Kraft ausftrömend, zur Nachfolge anres 
gend Anderen mitzutheilen und fie vor Abirrung und Kal 
bewahren zu können, muß fie (die Uebereinſtimmung bes 
Willens mit dem h. Willen Gottes) fich erft dem Gegen» 
fage gegenüber behauptet (Hebr.2, 18.5, 8. 9.) oder aus 
dem Gegenfate wieder hergeftellt haben (Zul. 22, 32.).” 
Weiter unten im Zerte: „Das bloße Bewußtfeyn eines 
Willensgeſetzes, wiewohl diefes Soll für den fhon 
geftörten Zuftand auch unmittelbar das Innewerden eines 
Auchanderskoͤnnens mit fich führt, reicht nicht hin für die 
unentzweite Unfchuld. Das Geſetz mußte ihm in der bes 
Rimmten Richtung einer Schranke entgegentreten, — 
alde negative, verbietendes Geſetz, — bamit die 
latente Selbſtheit offenbar würde und ſich felbft überwände 
und verleugnete ... im Gehorfam und durch den Gehor⸗ 
fam gegen das Verbot.” Daß aber (473,) „fich der Menſch 
für das Böſe entfchied, it nichts Geringes; es iſt ver⸗ 
fehlt, wie Marheineke thut, dieſe Freiheit als die ſchlechte 
zu bezeichnen. 434: „Es iſt die unermeßliche Energie und 
Ziefe des Selbſtſeyns in der Perfönlichkeit.” 

Ih kann mich nicht Überzengen, daß mit dem letzten 
Abfage nichts weiter deducirt feyn fol, als eine pure 


+ 


352 Bed 


Möglichkeit des. Bäfen. Die Unſchuld, dad wirb zugege⸗ 
ben, ift nur eine halbbewußte. Deßwegen ift eine Schrante 
nöthig, damit mit der objectiven Möglichkeit des Böſen 
zugleich auch das Bute ind. Bewußtfeyu, alfo aus bem 
„nicht wirklichen Zuftande” zur Wirklichkeit käme. Alfo 
die Nothwendigkeit eined Gegenſatzes, einer Regation — 
Berf. feldft hat 472, „negatives, verbietenbes Sefeh” uns 
terftrihen — iſt gegeben. Der Menſch ift au fih gut 
d. h. er iſt weder gut noch böfe, aber dad Gute ift doch 
zugleich der eigentliche Begriff feines Weſens. Dieß fol 
ihm zum Bewußtſeyn kommen. Dody, ohne Ich kein Du, 
ohne Du Bein Sch: ohne eine Seite des Gegenfabes Fein 
Bewußtfeyn der anderen. Uber bad Oute fol zum Be: 
wußtfeyn kommen, alfo — muß auch die andere Seite 
des Gegenfates feyn. Die Möglichkeit! wird man ents 
gegnen, aber bad Gnte fol ja auch nicht bloß möglid, 
bleiben, es fol wirklich werden. Doc fol die Möglich- 
feit ded Gegentheild ja nur vorgeftellt werden in ber Idee, 
in dem negativen Geſetze. Das wahrhaft Gute wird fo, 
mit dem Geifte gegenüber geftellt in dem Geſetze, als 
Ueberwindung des Böſen. Denu das Gute ald Geſammt⸗ 
bild, als Idee kann noch nicht in den Geift fommen, 
fondern nur in einzelnen Beftimmungen. Diefe, heißt ed, 
müffen als negativ, als Berbote erfcheinen. Warum? 
ift nicht gefagt. Ich glaube, die Sache verhält fich fo. 
Das Gute ald Willensgeſetz, ald Idee iſt dem Geiſte noch 
nicht bewußt; ex kann ed nur in einzelnen Bekimmungen, 
alfo fucceffiv kennen lernen. So aber, wie fie nach und 
nach an ben Geift fommen, kann er fie noch nicht ale aus 
feinem eigenen Weſen hervorgegangen erfennen, fie er: 
feinen ihm als fremd, als negativ. Uud nicht nur er- 
ſcheinen fie ihm fo, fle find es ja auch wirflih. Das An 
und Für ſich des Geiſtes ift dem An fich eben fo auch eut- 
gegengefegt, als mit ihm eins. Jenes iſt ja das Bermittelte, 
dieſes das Vermittelte, Unmittelbare. Das Unmittelbare 


über die Poaͤbeſtination. 353 


kann aber nur in ber Sphäre des Einzelnen erſcheinen 
Die einzelnen Beſtimmungen bed: Geiſtes nun — bieß if der 
natürliche Berlauf, Böunen ihm nur als Beſchrünkungen 
des allgemeinen, erſt im der Ahnungsdämmerung begriffe- 
uen Wefens erfcheinen, in deuen er ſich noch wicht fine 
den Bann. Go weit ift dad Böfe ein formell ald nothwen⸗ 
dig auftretendes Montent. 

Run aber hat der Geiſt den Anftoß zur Entfcheibung. 
Er fängt jetzt an, ſich ans fich felbft zu beftimmen. Aber 
jene Beſchränkungen waren ihm das Nichterfelbfi; fo 
wird das Rochnicht jegt unmittelbar zu einem Nichte 
mehr. Der zuvor erft äußere Gegenſatz des Geſetzes 
it jeßt zu einem inneru geworden. Denn fobald durch 
die Entfcheibung der Ratärlichkeit die ſittliche Entwickelung 
ald eine bewmußte begonnen, fobald das Einzelne ald ber 
ſtimmt ſich ſixirt hat, tritt uun bad Allgemeine dagegen 
im Bewußtſeyn auf, mit der jet exft wirklich geworde⸗ 
nen Sünde des Bewußtſeyns des Böfen (Gen: 3,5. 
Röm. 7, 7.). Diefe Entſcheidung ift allerdingd nichts Ges 
riuges. Es if: ja die Macht des Willens, der eben damit 
feine bewnßte Eutwidelung beginnt, aber fie ift doch ein 
Act der ſchlechten Freiheit; denn es ift ja eben fo noch 
eine formale Freiheit, Willkür, fie fteht noch entgegen 
dem wahren Weſen des Geiſtes. Es iſt Willkür des 
Einzelnen, in ſich ſelbſt ſo, wie er iſt, das Maß des Ge⸗ 
ſetzes ſinden zu wollen... Aber es iſt dieß zugleich der 
große Schritt zum Guten: lieber für etwas Böfed ent⸗ 
(heiden, als gar nie (Apok. 3,15.). Das’ ift freilich wahr, 
daß dieſes Böſe zuerft nur objectiv gegenkbertritt, ehe ee 
Inbjectiv wird; das iſt eben das Näthfelhafte des Ans 
fange, daß der erſte Schritt als nnumgänglich erfcheint 
md doch als Willkür, num auch ald Schub gewußt 
wied, indem eben bie Entfcheibung des unmtttelbaren Sch 
für das Einzelne, Natürliche erft dad Bewußtſeyn des 
Bahren und Allgemeinen hervarraft. Das Natürliche 





354 | Bed 


an ſich if fo niht Sünde, fonderu nur fofern es im 
Gegenfage gegen deu Geiſt fich behauptet. Es iſt Folge 
der Enblichkeit, daß beide auseinander treten müſſen, um 
durch ihre Einigung die wahre, reale Freiheit gu vermit- 
teln, aber gerade darum iſt ed auch zugurechnende Sünde, 
auf ihrer Entgegenfegung zu beharren. Daß der Menſch 
überhaupt ein Sünder fey, ift nothwendig — bieß und 
nichts Anderes kann die Kirchenlehre von der Erbfünde 
befagen wollen —, aber dieß kann nie einen Grund ab» 
geben, ſich für eine einzelne Sünde, für einen beflimm- 
ten Act des Herzens oder der That, oder für eine Reihe 
folcher Acte zu entfcheiden, denn das Gewiſſen treibt ja 
eben, von der Sünde hinwegzutommen und fih im All⸗ 
gemeinen, im Geifte, in Gott zu willen: das Böfe tft 
nicht Natur, fondern Selbfibeflimmung. 

Dieß wäre ein Verſuch, das Böfe ald nothwendig 
dufzuhebendes, aber doch wefentlihee Mo 
ment der Entwidelung zu faſſen. Man mag barüber 
denken, wie man will, fo fcheint mir doch im Allgemei- 
nen der Sat von biefer oder einer derartigen Bedeutung 
des Böfen nicht aufgegeben werden zu können, und es 
ſcheiut mir nothwendig, eben die beiden herausgehobenen 
Punkte in Eins zu faffen. IR es nicht ein nothwendig 
aufzubebendes Moment — fo ift die Heiligkeit Gottes, 
ift ed nicht ein wefentliches — fo ift die Alled beſtim⸗ 
mende Allmacht ded Abfoluten negirt, Nur fo endlich 
fcheint mir fich ein wahrer Begriffder Freiheit zu 
ergeben. Derfelbe ift von Auguftin (don. perser. 17.) und 
Calvin (inst. 2, 2,6.) angebeutet, wenn fie meinen, es fey 
feine Gefahr, ne sibi nimium sdimat homo, dum recupersn- 
dum in Deo discat, quod eibi deest. Bor Allem if feſt⸗ 
zuhalten, daß der Menſch nach Gottes Bild gefchaffen 
fey, d. h. ein.Abbild des göttlichen Geiſtes, feine wahre 
Natur der göttlichen verwandt: Belov yvovs Zouiv (Apg. 
17.), Yelag YpUosag uiroya (2 Petr, vgl. Sal. 3, 9.) — 


über bie Präbeflination. 355 


ber fabjective Geiſt mit dem obfectiven und mit bem 
abfolnten wahrhaft im innerften Grunde eind. So kann 
die menfchliche Natur nie durch und durch von der Erb⸗ 
fünde angefreffen werben, nie zur gänzlihen Abwendung 
umgewandelt feyn, vielmehr muß eben darum immer eine 
Sehnſucht zurüdbleiben nach dem, was die wahre, eigents 
liche Natur des Menfchen it, eine Empfänglichkeit für 
diefe nene Schöpfung, der Zug des Vaters zum Sohne. 
Diefe Beſtimmungen haben aber entfernt nicht bie Abſicht, 
ein menfchliche® Berdienft einzuführen, denn die Sehnfucht 
wird ja eben aus jener Natur geboren, welche fich Nies 
wand als fein Geſchenk und Werk zufchreiben kann, ohne 
durch die hoͤchſte Anmaßung fein fubjectived Ich über 
das abſolute und objective zu feten, oder, wem wollte 
ed einfallen, wenn ein Kranker fich nadı dem Arzte fehnt, 
ju fagen, Daß entweder feine frühere Gefundheit, oder 
feine erfehnte Geneſung damit als fein eigen Werk ber 
jihnet werde? Hieraus folgt aber weiter, wenn ber 
Menſch die Idee ded Allgemeinen in fich trägt, fo kann 
das Boͤſe nicht unergründlich feyn, denn das Boͤſe wider⸗ 
Arebt nicht einer Außerlich allein an ihn herfommenben 
Realität, fondern verfchrt eben die Ordnung der Idee, 
die er in fidh trägt, und firebt gegen fein eignes, wahr» 
haftiges Weſen. So muß denn diefer Widerfpruch, ber 
in feinen eignen Eingeweiden wüthet, entweder zur Ueber, 
windung treiben, oder durch feine eigne Widerſetzlichkeit 
iu runde gehen. Diefe Erhabenheit der Idee, die ba 
Alles beherrfcht, was fich gegen fle verfchließen und auf 
feiner Ichheit ſtehen will — fie iſt die wahrhaft göttliche 
Ordnung; wer mit diefem Gotteswefen eins wird, wird 
wahrhaft frei; denn ererfaßt feine eigenfte Natur, weldje 
aus Gott und zu Bott ift. 

Wir haben und der Eonfequenz nicht entziehen kön⸗ 
um, daß auch dem Böſen eine Stelle in der Entwidelnng 
der göttlichen Orbnung zufomme. Gehen wir von dem 





336 Dei 


Böfen auf die Böfen über, fo entßeht num bie Frage, 
ob ihre Berwerfung im ewigen Rathſchluſſe Gottes ger 
gründet ſey oder nicht, Dieß iſt der zweite. Hauptpunkt 
unferer Kritik: Lniverfalttät oder Particularität der 
Bunde, ober, da wir und nadı dem Obigen jest auf bie 
fsbjectine Seite zu ftellen haben, die Frage: fünnen alle 
Menſchen zur Gnade gelangen oder nicht? 

2. Subjective Seite: menfchlide Empfänglic; 
feit: Univerfalität oder Particularität 
der Erlöfung. 

a) Für die reine Particnlarität fprachen fich, 
wie aus dem Biäherigen zur Genuge hervorgeht, entſchie⸗ 
den aus Auguflin und Calvin. Bon Auguflin mag 
baber bier nur eine Stelle fiehen (praed. sanct. 8.) : gratia 
ea, quae honos discernit a malis, non ea, quae communis est 
bonis et malis. Non enim omnium est fides, cnm fidem 
posse habere sit omnium (vergl. don. persev. 14.). Aber bei 
ihm iſt die Berwerfung nur eigentlich die andere Seite, 
bie. Kehrſeite der Erwählung, eben ein Nichtthun Gottes, 
etwas Privatived. Beſtimmt pofitive Bebentung hat fie, 
als das gerade Gegentheil der Ermählung in den Prä⸗ 
deftinationsrathfchlnß aufgenommen, bei Galvin. Cr 
meint, Dei providentiam, quum ad omnes promiscae ex- 
tendatur, quam maxime extenuari. Darum (Cons. Gen. 
906.) non aliter omnibus praedestinata salus, quam ei in 
prima origine perstareut; non perstare autem divino consilio 
erat ordinatum ; itaque non ommibus praedestinata est salus, 
Die gewöhnliche Unterfheidung einer potentiellen und 
actualen Univerfalität des Evangeliumd wird von ihm 
verworfen: non enim, qualis eit Christi virtus, vel quid per 
se valeat, nunc quaeritur, sed quibus se fruendam perhibeat, 
und da fomme man am Ende auf die Frage zurüd, ob 
Allen gleiched Vermögen zu glauben gegeben: werbe, — 
was einmal nach der Erfahrung. zu verneinen ſey. Sein 
Syſtem iſt fo coufequent durchgeführt bei Gerhard 54. qued 


x 


über die Präbeflination. 357 


Deus non tantum ad. damnationem, sed etiem ad causas 
damnationis praedestinaverit, quaecunque libuerit, m 
sus ebdoxig. 
Die Iutherifhe Lehre dagegen hat die Tendenz, 
diefe reine Particularität der Gnade von der Hand gu 
meifen durch die LUinterfcheidung von Präfcienz und Präs 
deftination, ober, nach ihrem Dogmatifchen Ausdrucke, von 
voluntas consequens und antecedens, Gegen 
die Haltbarkeit dieſes Unterfchiedes aber hat ſich haupt» 
ſächlich Schleiermacher (Erwählungslehre 441 ff.) mit 
Erfolg ausgefprochen. In Gott gebe es feinen Unters 
ſchied des Vorher und Nachher. Auch helfe die Begrüns, 
dung nichts, welche ben antecedens der Guade und den 
consequens ber Gerechtigkeit Gottes zufchreibe, denn das 
heiße den göttlichen Willen theilen, überdieß werden auch 
die Gläubigen nur erft durch den mittheilenden Willen 
Gottes felig, wie die Ungläubigen unfelig, fo daß alfo 
der beabfichtigende antecedens unwirkfam ſey. Sodann 
wäre auch die Befeligung ein Werk der göttlichen Ges 
techtigkeit zu nennen, als bie Erfüllung der Verheißungen, 
und nur bie Gerechtigkeit, nicht die Barmherzigkeit könnte 
die Gläubigen und Ungläubigen fcheiden. So wäre benn 
abermals der voramgehende Wille unwirkfam, und wenn 
ja body Borher und Nachher in Gott zufammenfalle, fo 
wäre das Unwirkſame identiſch mit dem Wirkfamen. 
Auch die weitere Unterfcheidung des göttlichen Gebotes 
ald eines Unwirkſamen und des göttlichen Willens ale 
des Wirkſamen führe zu nichts, denn das erſte, als uns 
wirkſam, fönnte eben gar nicht Gottes Wille feyn. Wollte 
man die Unterfcheibung begründen durch den Gegenfak 
ded Allgemeinen und Befondern und fagen, ber voran⸗ 
gehende Wille habe ben Menfchen ald Menfchen zum Ges 
genftande , der nachfolgende den Verworfenen ald Ders 
worfenen, fo wäre dagegen zu fagen: nichts geſchieht am 
Menfchen ald Menfchen allein, Allgemeines und Befons 





358 Bed 


deres fällt eben in Gott zuſammen; verwirft er ben Ber: 
worfenen, fo begnadigt er den Gläubigen ald Gläubigen. 
Wollte aber ein halber Wille Gottes ſtatnirt werben, 
defien andere Hälfte das Wilfen wäre, dann ginge das 
Wiſſen Gottes über fein Hervorbringen und diefed wäre 
durch ein anger ihm Begebenes befchränft. 

Daher meint Schleieemacher (Erwählungslichre 429.), 
„daß nicht alle Menfchen durch Ehriftum wiederhergeftellt 
: werden , fondern einige begnabigt werden, andere verlos 
ren gehen. Diefed nimmt die Iutherifche Kirche eben fo 
gut an als die calvinifhe. Ed kommt alfo nur baranf 
an, wie Bott berechnet hat. Wenn wir nun einmal von 
der verwirrenden Borftellung eines befondern göttlichen 
Nathichluffes in Bezug auf die einzelnen Menfchen ab- 
fehen und und nur an die unftreitig von Gott verorb» 
nete Art halten, wie das Evangelium verbreitet werden 
follte, und an die ebenfalls von ihm verordnete Art, wie 
vorher fichdie menfchl ichen Dinge geftaltet hatten, fo 
müffen wir wohl fagen, aus beiden zufammen, alfo aus 
dem göttlichen Rathſchluſſe folge nothwendig, dag nicht 
Ale, an welche dad Evangelium erging, ed annehmen 
konnten. Das Judenthum hätte nicht beftehen können ohne 
Eiferer, welche die übrige Mafle zufimmenhielten, und 
unter den Eiferern für eine unvolllommene Sache mußte 
ed auch falfche geben, Eben fo mußte unter den Heiden 
die gewaltige Mafle des Verderbens feyn, wenn einige 
ſich an ein fonft fo verachtetes Volk wie die Juden ans 
fchließen follten und fo das Ehriftenthum an das Heiden 
thum übergehen. Aber unter jener Maſſe mußten dann 
auch die Verächter des Chriftenthums feyn. Alfo fcheint 
bier der gute Erfolg nicht anders ald mit dem Mißerfolg 
auf der andern Seite zugleich berechnet zu feyn.” Go 
kommt denn auch die Kirchenlehre, wenn fich der Unter: 
fhied eines zweifachen Willens nicht halten läßt, fondern 
in Einen Rathſchluß der göttlichen Weltordnung auflöf, 


über die Prädeflination, 359 


in ihrer Sonfequenz; mit Augufin und Calvin zufammen, 
daß, si reete rem intelligas, verbum Dei sit universale, 
spiritus autem sancti efficacia sit — parti- 
ceularis, 

b) Und doch ſprechen auf der andern Seite für bie 
Univerfalität der Gnade fo gewichtige Gründe! 
1) eregetifche, welche Gerhard gründlich entwidelt hat: 
a) die Allgemeinheit des Verdienſtes Ehrifti: Röm. 
5,8. Joh. 1, 29. 4, 42. 1 oh. 2, 2. Gal. 2, 9, Pf. 
14, 2. 3. Rom. 3, 11. 12. 1 Kor, 18, 11, Röm. Al, 32, 
Gal. 3, 22. Luk. 19, 41; b) die Allgemeinheit der Bes 
rafung: Marl. 16, 15, Matth, 11, 38. Apſtg. 17, 30, 
züss zavrayod, Röm. 10, 18. Nach allen diefen Stellen 
fann kaum widerfprochen werden, daß eine einfältige 
Eregefe die Allgemeinheit der Gnade in der Schrift ans 
zuerfeunen nicht wohl werde umhin können. Hiezu kom⸗ 
men auch philofophifhe Gründe. Schleiermacer 
argumentirt in der Glaubenslehre ($.118.) alfo: Um die 
Ausichließung eines Theild von dem ewigen Reben zu 
begreifen, könne man entweder 1) das Zufammenfeyn 
von Gleichheit und Ungleichheit zwifchen uns und Andern 
sn rechtfertigen fuchen, oder 2) Gleichheit oder Ungleich⸗ 
beit für Schein erklären. Im erfien Kal koönne dieſes 
Zufammenfepn gegründet werben auf die a) urfprüngliche 
Einrihtung der menfchlichen Natur. Dann aber müßte 
diefe getadelt werden, was feinen Sinn hat, denn wäre 
fie nicht, fo wären auch wir Menſchen nit. Auch kann 
die Ungleichheit, welche durch die Dazwiſchenkunft Chrifti 
entfteht, nicht urfprünglich feyn, — was vielmehr auf 
Pelagianismus führte. Oder b) die göttliche Heilsord⸗ 
nang. Dann liegt diefer eine fchlechthinnige Willeus⸗ 
befimmung zu Grunde, alfo Willkür. Hiemit werben 
die Andgefchloffenen ein Gegenftand des Mitgefühl und 
in unfere Seligkeit ſchleicht fich ein Gefühl der Unſelig⸗ 
kit ein. Sagt man, an den Einen müſſe Gott feine 


360 Bed 


Gerechtigkeit, an den Andern feine Barmherzigkeit bewei⸗ 
fen, fo find die göttlichen Eigenschaften getheilt, während 
fie doch in einer und derfelben Beziehung ſich äußern 
müffen. Im zweiten Falle ift a) die Ungleichheit eben 
einmal in der Erfahrang des chriftlichen Bewaßtſeyns 
gegeben; b) die Gleichheit. aber wäre Schein in dem 
Falle, wenn es eine urfprüngliche Ungleichheit der menſch⸗ 
lihen Natur gäbe, dann aber würde ihre Einheit zerrifs 
fen und die Conſequenz des Manichäismus wäre nicht 
zu vermeiden. Das Refultat der ganzen Argumentation 
ift fomit, daß die Angfchließung vines Theild von dem 
ewigen Leben nicht zn begreifen feyn würde, 

c) So fprechen für beibe Theile gewichtige und nicht 
zu verachtende Gründe, und doch find fie einander dias 
metral entgegengefett. Welcher Ausweg der Bermitt- 
Iung kann fih da noch darbieten? Kein anderer, glaube 
ich, ald der, welchen Schleiermacher durch die Einfüh⸗ 
rung bes Begriff der Entwidelung bezeichnet hat 
und den wir farz im logifhen Schluß ausdrücken kön⸗ 
nen: 1) Es follen Alle felig werden — Univerfalität. 
2) Aber es find dieß nicht Alle — Particnlarität. Alſo 
3) müffen fie ed noc werden können! Ju der That 
fcheint ſchon Calvin daran geftreift zu haben (910. und 
929.). Die Particularität vertheidigt er hier durch Auf 
werfung der Frage, cur etiam ante Christum Deus legem 
suam non publicaverit et gentibus et cur non ommibus in- 
differenter praedicari evangelium ab initio mundi voluerit ? 
So Inst, 3, 21, 7: externa invitatio abrque interiorie gra- 
tise efficacia, quae ad homines redimendos valida est, me- 
dium est quiddam inter abiectionem totius generis 
humani et electionem exigui piorum numeri. Diefe Ent» 
widelung aber ift fo aufzufaſſen, daß im Anfang Allee 
eingefchloffen it und wieder ein jedes Glied der Ent- 
widelung auf den Anfang zurückweiſt. So muß denn der 
Rathſchluß Gottes nnd feine Realifirung in der Welt fich 


über die Yrädeflination. 361 


gegenfeitig fordern und befiiurmen; vergl. Auguſtin (prued. 
sanct, 5.) Christus in mundam venit, quum Deus fide eum 
ab hominibus acceptam iri praescivit, sed tum Christum 
per Adean acoeptum fri praevidit, quum tempus esset im- 
pleten ji. e. autem venisset tempus, quo eum in mundum 
mittere ab zeterno decreverat. Beide Momente, die prae- 
rise fides und Bas göttliche Wohlgefällen, fordern ſich nach 
Schleiermacherꝰs Glaubenslehre 6. 120. gegenfeitig. „Denn 
das erfte, einfeitig genommen, wlrbe den Blauben im 
Menfchen - unabhängig von Gott vorausfeßen: Pelagiar 
nienus. Das zweite erfcheint nur zu leicht ald ein aus» 
dradlihe® Beginftigen und Zurüdfeken. Alles Einzelne 
aber bedingt einander gegenfeitig und das Ganze in ſei⸗ 
sem ungetheilten Zufammenhang tft vermöge bed gött⸗ 
lichen Wohlgefallens, fo wie es if.” Ermählungdichre 
44: „Stand wir einmal darüber einig, daß, damit die 
Belt vollſtaͤndig ſey, ancdı das menfchlige Geſchlecht da 
ſeyn mußte, fo können wir unmöglich mehr fagen, es 
ſey eine grundlofe Willkür, Daß Bott das menfchlidhe Bes 
ſchlecht, wenn gleich er vorausgefehen, daß ed fündigen 
and fallen werde, erſchaffen habe, da es ja nothwendig 
mit eingefhloffen if in die Eine Alles umfaflende That 
der Weltfchöpfung. ragen wir aber, warum Bott und 
gerade zu Menfchen gemacht und nicht zu Engeln, fo 
vergeffen wir nicht nur, baß wir eben fo gut fragen könn⸗ 
tea, warum nicht auch zu Thieren, ſondern wir fpielen 
an die Frage dahin, wo nichts mehr zu fragen ift, und 
fragen alfo, eigentlich gefagt, auch gar nicht: wenn wie 
nicht zu Menſchen erfchaffen wären, fo wären wir gar 

sicht erfhaffen. Eben fo aber müflen wir auch fagen: 

fol das menfchliche Geſchlecht volftändig ſeyn, fo müflen 

auch für das Gute empfänglichere und unempfänglichere 
Menſchen von allen Abfkufungen neben einander 

ſeyn; denn erfi and dem Zuſammenſeyn aller möglichen 
Compiieationen höherer und nieberer Bermögen und Ans 











362 Bed 


lagen und aus dem Borhandenfeyn aller möglihen Ent⸗ 
wickelungs⸗ unb Sättigungspuntte entiteht jene Bollftäns 
digkeit, in ber allein die Gattung befleht.” So ift (458.) 
„der fündige Menſch zwar in das allgemeine geiftliche 
Leben des menſchlichen Gefchlechte® aufgenommen, fofern 
ein ſolches beſteht, Perfonen aber im religiöfen Sinne 
find folche, weil es ihnen an der religiöfen Selbfibeftim- 
mung fehlt, noch nicht, fondern das werben fie erſt 
burch die Wiedergeburt ... Bor der Wiedergeburt aber 
find fie indgefammt den Wiebergebornen gegenüber bie 
massa , weil fie aud der Maffe noch nicht belebe find, 
nicht weil fie etwa niemals belebt würden. Diefe Bele⸗ 
bung nun vergleicht Schleiermacher (wie ſchon Melauch⸗ 
thon iu der Ausgabe von 1536) ald die zweite Schöpfung 
mit der erften. So muß fidh eben deßwegen auch bie 
geiflige Schöpfung auf bie ganze Menſchheit beziehen, ed 
war ja (476) „von Anfang an Gottes Gutdünken, nicht 
einzelnes Seyn und Leben zu erfchaffen, fondern eine 
Melt, und fo wirft auch der Geiſt Gottes als eine welt⸗ 
bildende Kraft und es wird durch ihn nicht einzelne, 
ordnungslos entfichendes, geiftiged Leben, ſondern bie 
geiftige Welt.” Bon denen daher, bie noch außerhalb der 
Semeinfchaft mit Ehrifto fiehen, miffen wir (Glaubens⸗ 
lehre 8. 119.) weiter nichts, als ihr dermaliged Berhälts 
niß zu Chriſto. In jeder Zeit find Biele berufen, Wenige 
anserwählt, werden mithin Einige von Gott überfehen 
oder übergangen. Gie find noch ohne geiflige Pers 
fönlichteit mitten in die Maffe des fündlihen Geſammt⸗ 
lebens verfentt, aber darum doch als in berfelben gött⸗ 
lihen Borherbeftimmung mit uns befaßt anzufehen.” Er⸗ 
wählungsichre 461: „Das Wahre ift fomit, daß man 
nur Einen göttlichen Rathſchluß annehmen kann, welder 
Alles umfaßt, nämlich den Rathſchluß Über die Orbnung, 
in welcher bie des geiftigen @inzellebens fähige Maſſe 
allmählich belebt wird,” oder Glaubenslehre $. 119: Es 


über die Praͤdeſtination. 363 


gidt Eine göttliche Vorherbeſtimmung, nad 
weiher aus ber Sefammtmaffe des menfchr 
lichen Geſchlechts die Geſammtheit der neuen 
Creatur hervorgerufen wird. 

Nun aber iſt es Erfahrung, daß Einige außer der 
Gemeinfchaft mit Chriſto ſterben! Wie ſteht's hier mit 
dem göttlichen Rathſchluſſe? Es gibt hier nur drei moͤg⸗ 
liche Faͤle: 1) der Eintritt in Chriſti Gemeinſchaft iſt 
ihnen nicht mehr moͤglich, aber ſie ſind doch nur Ueber⸗ 
ſehene, nicht Verworfene — ſo iſt das nur denkbar, ſo⸗ 
fern fie zugleich, weil keine geiſtige Perſönlichkeit, als 
niht daſeyend betrachtet werden. Dieß fcheint Schleiers 
macher's Anficht, und dann ift die Gefammtheit fo 
groß als die Befammtmaffe 2 Der Eintritt if 
ihnen verwehrt, dann find fie nach calvinifcher Lehre 
Berworfene und die Geſammtheit ift kleiner ale 
die Oefammtmaffe. 3) der Eintritt ſteht ihnen noch 
offen; dann wird die Gefammtheit gleich der 
Seſammtmaſſe. 

Der erſte und zweite Fall, die ſchleiermacher'ſche und 
calvin'ſche Anſicht treffen in dem Erfolge zuſammen, daß 
Chriſtus nicht für Alle iſt, aber dieß ſcheint mir die Iden⸗ 
tität der Gattung aufzuheben und an der ſchleiermacher'⸗ 
ſhhen Anficht hängt überdieß der Grundſatz von der Ne⸗ 
gativität des Böfen und die Ertermination der Freiheit, 
wodurch der Menfch nur ald Ratureremplar der Gattung, 
nicht als individuelle flttliche Perfönlichleit in Rechnung 
genommen if. Kür den dritten Fall fpräche die Selbig- 
kit der Gattung, bie Bedeutung der Perfönlichkeit und 
die Agemeinheit des Verdienſtes Chriſti. Dazu aber 
wäre dann freilich nothwendiges Refultat die Mögliche 
fit einer weitern Kortentwidelung nach bem Tode, fo 
daß Ale allmählich in das Neich Gottes gefammelt wür⸗ 
den, ein Refultat, Das Calvin, als es Georgius gegen ihn 
vorbrachte (Cons. Giener. 882,), für eine ——— erklärte, 

Tool, Stud. Jahrg. 1847. 





364 Bed 


das bie Kirche mit der dzoxarderasıg zavrav verwarf 
(conf. Aug. 17.) und dad bie mobernfpecnlative Abneigung 
gegen alle Transſeendenz und Eichatologie zu überwin⸗ 
den hätte, So bleibt denn nur übrig, den Schluß in das 
Dilemma sufammenzufaflen: 
Entweder unbedingter Particularismud ber Er 
wählung, oder Wiederbringung aller Dinge! 
Die Eutſcheidung kaun Keinem, je nach dem Kreife feiner 
Beltanfchauung, zweifelhaft ſeyn. 


zufaß. 

Dem Berf. if inzwifchen Gelegenheit geworben,. audı 
die zweite Auflage von J. Muller's „chriſt⸗ 
liher Lehre von ber Sünde, zwei Bände,” zu 
durchlefen; er bat fi aber dadurch nicht bewogen finden 
können, von feiner im Voraugegangenen entwidelten An 
fiht abzugeben. Denn was die zeitliche Erfcheinung 
des menfchlichen Weſens und Geſchlechtes betrifft, fo 
kommt Müller auch auf die NRothwendigkeit ber Süude 
und felbit bed erften Sündenfalls. Wenn er 5. B.I, 
523. vom Urſtaude fagt:,, So begünfiigte und erbeichterte 
im Urſtand Alles die Folgſamkeit gegen ben oberen 
Zug der menfchlichen Natur und vor Allem gegen bie 
Antsiebe des Gottesbewußtſeyns und des göttlichen Ge⸗ 
ſetzes. Es bedurfte einer beſondern Verſuchung, um die 
Selbſtverkehrung, mit welcher der Wille auch in nuferen 
Stammelsern auf urfprüugliche Weife behaftet war, aus 
ihrer verſchloſſenen Tiefe hervorzulocken,“ — fe fehe id 
nicht ein, wie, die zeitliche Entwidelung ind Auge 
gefaßt, diefe Anfiht von Supralapſarismus und von der 
Beftimmung des menfchlichen Weſens als einee am fich 
böfen ſich unterſcheiden fol, zumal Mäller (5236 fi.) im 
Sündenfall Gen. 3, nicht die Gutfichung, ſondern nur dad 


über die Praͤdeſtination. 365 


Hervorbrechen finden wil. Die wmefentliche Unterſchei⸗ 
dung iſt freilich Die außerzeitlihe Entfheibung 
der gefhaffenen Perſönlichkeit, woburdher (©. 
486 ff.) die Bereinigung der. beiden Säge: „alle Men⸗ 
ſchen find Sünder” und „wo Sünde if, da iſt Schuld” 
bewerkſtelligen wid. Ich muß geftehn, daß ich in dieſer 
Anfiht nur ein neues Räthſel und keine Löfung zu fin, 
den vermag. Mir fcheint vielmehr, was auf der Bühne 
bed Weltdrama’s fich für den Berftand nicht löſen will, 
nur dadurch abgemacht, daß es hinter die Euliffen zus 
rüdgefchoben wird; denn noch ift ed meine Anficht, die 
ja auch Müller immer nur beftätigt, zur Freiheit gehöre 
Bewußtfeyn, eine unbewußte Freiheit fey Leine. Aber 
wenn wir von einem Freiheitdact fein Bewußtſeyn has 
ben, fo haben wir auch in demfelben Feines. Eine wer 
fentlihe Mopification der früheren Theorieen von einer 
intelligtblen That gibt Müller freilich darin, daß der Zus 
fand vor der zeitlichen Entfcheibung fein höherer, kein 
idealer feyn foll, wie 3. B. Schelling gewollt habe (204.). 
Aber eben hierin finde ich 1) den erften Anſtoß. Es ift 
nicht (207.) „die volle Wirklichkeit in biefer zeitlofen Exi⸗ 
Renz, fondern nur eine halbe” 205: „Dieſes ftille zeit 
loſe Schattenreich iſt gleichfam der Diutterfchooß, in dem 
die Embryonen aller perfönlichen Weſen befchloffen lie⸗ 
get” Wenn aber Müller (S. 95.) fagt, gegen die Ans 
nahme eines individuellen Sündenfalld bränge ſich die 
Frage anf, „ob ed denn überhaupt denkbar ift, daß in 
die ſchwache Hand des Kindes die höchſte Entſcheidung 
über die Geftalt des fittlichen Lebens gelegt wäre” — 
und dieſe Annahme ald unmöglich verneint, fo muß ich 
befennen, daß mir die Sache nicht an Denkbarkeit gewon⸗ 
nen hat, wenn nun diefelbe Entſcheidung ftatt in die Hand 
eines Kindes in die „eines Embryonen” gelegt feyn folk. 
2) Das Berhältniß diefer zeitlichen Entſcheidung zum 
Uebergang in bie Zeitlichfeit iſt nicht näher dargelegt, 
25 * 


366 Bed 


darum aber eben die zeitlofe Entfcheidung in den Nim⸗ 
bus einer gewiffen Nebelhaftigkeit gehüllt. Es fcheint, 
aber man weiß ed nicht gewiß, daß, wenn die Entſchei⸗ 
dung eine zeitlofe feyn fol, etwa alle Menfchenfeelen zus 
fammen, die auf die Erbe kommen follen, auf einmal 
biefe Urthat vollbracht hätten, alfo dann offenbar vor 
aller Zeit. Kommen fie aber dann mit diefer Entſchei⸗ 
dung, etwa eben mit Adam, in die Zeit herab, oder bleis 
ben fie nun von ber geitlofen Urthat bis zum Cintritt in 
die Zeitlichkeit zeitlos, ober fällt die Urthat immer bei 
jedem Einzelnen gerade vor die Geburt? — darüber fehlt 
uns alle Anfchanung. Und doch ift die Frage nicht ohne 
Intereſſe. Denn 3) benugt Müller (S. 500.) die Angelor 
und Dämonologie zu Bunften feiner Hypothefe. Damit 
eben fey die Freiheit gerettet; in der Urthat haben ſich 
nur Einige verfchuldet, Andere aber die Möglichleit bes 
Böfen abgewiefen und den Einklang mit Gott vorgezos 
gen. Diefed beweife eben, daß ben Borftellungen von 
Engeln und Teufeln etwas Reales zu Grunde liegen 
müfle. Auf den erften Anblick freilich fcheint bier zur 
Begründung der Angelologie etwas gewonnen, um fo mehr 
aber ift jedenfalls für bie Dämonologie verloren. Denn 
was follen dann Teufel feyn? Sol ihre verfchuidende 
Urthat etwa quantitativ ober qualitativ von der ber 
Menſchen verfchieden ſeyn, oder find nicht eben am Ende 
wir Menfchen allein die Teufel? Aber auch für bie 
Engel gibt ed noch eine Schwierigkeit. Unzählige Wefen 
derfelben Ordnung mit und follen ſich gegen das Böfe 
entfchieden haben, gerade auch folche, in denen fich „der 
Begriff des menjchlichen Geiſtes nach feinen Grundrich⸗ 
tungen realifirt.” Aber die empirifche Leiblichfeit mit 
ihrer Materialität, dad oüue zoixdv ift (503—507.) nicht 
ein Gefängniß für den Geift, fondern als die Raturbafie 
nothwendig zu unfrem Wefen gehörig. Sollen wir nun 
auch den Engeln oder den guten zeitlofen Menfchen 


über bie Präbeflination. 367 


auch ein ompa zoisov zufchreiben, wenigſtens für ben 
Anfang? Das kann freilich nicht ſeyn, denn der Anfang 
ald eine Zeit ift durch die Zeitlofigkeit ausgeſchloſſen. 
Damit it aber eben gefagt, daß das oma zoindv ald 
etwad in die Zeit Fallended nur und, die wir wirklich 
Menfchen find, angeht, die Audern aber find Daun eben 
bewegen feine wirklichen Menſchen, gehören auch nicht 
in unferem Gefchlechte, da die Zeitlichleit zur Wahrheit 
unfered empirifchen Weſens gehört. Die Butgebliebenen 
find alfo wefentlid von unferem Gefchlechte gefchieden, 
und wad zu unferem Gefchlechte gehört, das hat ſich durch 
feine Freiheit Alles zum Böfen entfchieden. Warum? 
Diefe Frage führt und geradezu auf den status Integer 
des gangen Probleme zurüd, wie es (S. 486.) beim Ans 
fang des vierten Kapiteld im vierten Buch durch Die 
jwei widerfprechenden Säße ausgebrädt if. Endlich 
aber, auch die überzeitliche Urthat zugegeben, gelten 4) 
für die Zeitlichkeit in gewifler Art doch wieder alle Ein 
wendungen, welche Wüller gegen die kantifche Theorie 
von &, 106, an macht. Er feht zwar — und dieß ift 
eine zweite Mobiflcatiou feiner Theorie — die Urthat 
nur ald Entfcheidung für die Möglichkeit des Böfen, 
nicht für das Böſe felbfl. Aber doch fagt er ©. 534: 
„wegen der uranfänglichen Selbftverfehrung des Willen 
iR anzunehmen, daß alle Nachkommen Adams an feiner 
Stelle bei hinreichend flarker Verfuchung gefündigt haben 
würden, wie er.” Das Böfe ift fomit jetzt jedenfalls 
nicht mehr bloß möglich, fondern in Adam ift es wirt, 
lih geworden — ja, nad) den obigen Worten, in dem 
Menfchengefchleht auf Erden mußte es wirklich werben. 
SR nun das, fo läßt fich nicht einfehen, wo nach der Ur⸗ 
that noch eine Umkehr in der Zeit möglich feyn fol. Denn 
(5, 502.) „die Entwidlung fann Ihr eignes Princip nicht 
aufheben, die Grundrichtung, die ihr durch daſſelbe gege⸗ 


368 Be über bie Präbeftination. 


ben ift, nicht in bie entgegengefebte ummwanbeln, ſondern 
alle ihre Bewegungen und Veränderungen aus ihr ſelbſt 
gefchehen in dieſer Grundrichtung. Die Befreiung des 
Menſchen it nur dadurd möglich, — dag Bott fich feiner 
annimmt.” Sf, was Müller an Kant tabelt, die Umkehr 
vom boͤſen Leben nad folcher unzeitlichen Enutfcheibung 
nicht Doch abgefchuitten, ift nicht, wa6 Müller (S. 7-49.) 
ald nothwendig halten wollte, die formale Freiheit, 
hiemit doch wieder aufgehoben? — 


Gedanken und Bemerkungen. 


1. 


Die Sünden ber Wiedergeborenen. 


Bon 
- &, Braune, 
Dfarrer in Zwethau, 


Die Sünden der Wiedergeborenen — ift ein Lehrſatz, 
bei dem entgegengefegte Anfichten und Urtheile nicht etwa 
bloß innerhalb der Lehrbücher bis in die neuefte Zeit ſich 
berausfteflen, fondern felbft innerhalb der fymbolifchen 
Bücher; das gefchieht mit Beziehung auf die heilige 
Schrift. Diefer Streitpunkt betrifft aber auch das Indis 
vidnellfte im Leben des Ehriften. Darin liegt, daß diefe 
Auseinanderfegung ein Recht hat, unter Vorausſetzung 
bed Begriffs der Sünde, ber gegen Wider, oder Undhrifts 
liches vor Allem zu firiren feyn würde, zunächſt und zus 
meiſt den Begriff der Wiedergeburt in feinen einzelnen 
Momenten recht Mar hinzuftellen. Das iſt ja offenbar, 
wenn- der Begriff der Wiedergeburt fo abgefchwächt und 
beruntergefegt wird, daß biefelbe mit Erweckung oder auch 
der Bekehrnng zufammenfiele, fo muß es fid mit den 
Sünden der Wiedergeborenen anders verhalten, als wenn 
die Wiedergeburt im Begriffe fo überfchaut würde und 


372 Braune 

| . 
fo überfchwenglich gefaßt, daß fie wäre bie Heiligung in 
ihrer möglichfien Bollendung innerhalb dieſes Lebens. 

1) Das Wort „Wiebergeburt” gibt und die Schrift 
Matth. 19, 28. Tit. 3, 5. Souſt finder fi noch das 
Zeitwort zddıv ylvecdaı bei den LXX. Hiob 14, 14: id 
harre täglich, dieweil ich fireite, bie daß meine Verän⸗ 
derung fomme Oman ann), Die Ueberfeßung meint 
bie Fortfeßung des Lebens nach dem Tode, obgleidy der 
Grundtert davon nichts fagt. Die LXX. haben das Zeit⸗ 
wort in einem Sinne gebraucht, der ganz und gäbe war. 
Hefychius fagt: zaAıyysvsche vd du devrigov dvayavın- 
Hnvar N dvaxuvıodıvar. Bon den Pythagoreern ift be 
kannt, daß fie das Wort wadıyysvsce ald Bezeichnung 
der Seelenwanderung gebrauchten, und die Stoiker nanu⸗ 
ten die Erneuerung der Erbe im Frühlinge ziyw zegiodı- 
av zahıyysveclav vov ölav (Marc. Ant. XI, 1), Gicero, 
fo war das Wort geläufig, bezeichnet die Einfegung in 
feine Würden nach dem Erile hanc zaAıyysveciav nostram 
(ad Att, 6, 6.), ohne hinzuzuſetzen: wt ita dicam. Die 
Reuplatoniler wenben das Wort an, wo fie anf bie 
Wiederbelebung thierifcher Körper hinweifen (Longin.3, 4: 
be Davdrov zalıyyevecde). Joſephus (Ant. Il, 3,9.) redet 
von der zalıyyevscle vus waroldos nach dem Erile. Dazu füge 
id noch, daß Olympiodor (bei Coufin, journal des savans, 
1834, p. 488) fagt: zalıpyevscia sig yvoadsaıs darıy 7 
dvduvnas. Das Wort alfo iſt bei den Griechen fo haͤu⸗ 
fg gebraucht und fo frei angewendet, daß man über feine 
Grundbebentung gar nicht zweifelhaft feyn kann. Es 
gibt das Wort eine Veränderung zum Befleren an, freis 
lich innerhalb der finnlichen Erfcheiuung. Nur beim Aym⸗ 
piodor iſt ed, freilich in bildlichem Ausdrucke, auf geiſti⸗ 
ges Leben ausgedehnt. Aber das beſchränkt die Beden⸗ 
tung des Wortes innerhalb der chriftlichen Sprachweiſe, 
bie ja immer von der Denkweiſe und Denkungsart ab» 
hängig, ja fogar bedingt ift, durchaus nicht. Es kam 


die Sünden ber Wiedergeborenen. 873 


ber außerbibliihe Sprachgebrauh nur als Borrathes 
kammer angefehen werben, aus welcher der göttliche Geiſt, 
der iu der heilenifchen Bildung innerhalb bed römifchen 
Reiches durchbrach, die Gefäße entichnte, in welchen er 
feine Anfchauungen darreichte. Maaßſtab für den In⸗ 
halt, die Bedentung irgend eined Wortes innerhalb ber 
heiligen Schrift ift nur der biblifche, näher der neuteſta⸗ 
mentlihe Sprachgebrauch, der nur in äußerer, nicht in 
der inneren Anknüpfung an den außerbiblifchen gu begreis 
fen if. Das fpringet in die Augen, wenn man Woͤrter, 
wie oapk, zveöüne, Gen, Ddvaros und dergl. ihrem bibli« 
(hen Gehalte nach vergleicht mit dem Inhalte, den fle 
außer der biblifchen uud von diefer unabhängigen Denk⸗ 
und Sprechweife haben. Die Macht des Geiſtes Chrifti 
erweiſt fich auch hierin, daß er in die Wörter ber vor, 
Iommenden und ſchon vernommenen griechifchen Sprache | 
feine, die Welt verändernden Bedanten ergießen konnte; es 
it das bie Herrlichkeit feines Geiſtes, die auch hier, wie 
fie in Kana Waller in Wein, ein Altes, Natinliches in 
ein Reed, Geiſtliches verwandelte. Die neuteflamentliche 
Sprache ift eine wahre Palingenefle der heflenifchen. 
Darum hat man fich zur Begriffebeltimmung ber 
Biedergeburt auf das RN, T. zu befchränten. Bei Mats 
thaͤns ift ed Palingenefle des Mafrofoemusd, beim Paur 
Ind des Mikrokosmas. Es reden ja das N. T. wie von 
einem neuen Himmel und nener Erde, fo au 
von einem neuen Menfhen Warnm aber ift. nicht 
vielmehr dvaysvınaıs flatt zarıyysvecie genommen wor⸗ 
den? Jenes Wort deutet auf die Zengung, biefes auf 
die Geburt; jenes Wort hebt alfo die Vorbereitung und 
Vorausſetzung ber Beränderung, die dieſes bezeichnet, 
hervor, and hat noch gar keine Beziehung auf das Ein- 
greifen der Veränderung in dad Gange der Perfönlich- 
keit und die Geftaltung ihrer Berhältniffe, wie ed in dem 
Vorte zurıpysvsche gefchieht. Wie aber mag denn ein 


37% Braune 


und daffelbe Wort einmal auf bad Univerfum, das anbere 
Mal auf das Individuum bezogen werben können, unb 
noch dazu in Demfelben Sinne? Die Stelle Röm. 8. wo 
von der feufzenden Creatur gehandelt ift, gibt einen Auf⸗ 
ſchluß, und dann liegt es in der Tendenz des Chriſten⸗ 
thums, den Einzelnen nur im Ganzen ans uud aufzufaflen. — 
Bom Grlöfer felbft iR Joh. 3. die Wiedergeburt dem 
Sinne nad genau geung beſtimmt, fo genan, daß man 
das Wort nicht ald eine nur bildliche Bezeichnung, die 
durch einen eigentlichen Ausdrud vertreten werben müßte, 
anzufeben hat. Wenn daher Panlus in ber zweiten Stelle 
Wiedergeburt und. Erneuerung verbindet, fo fol das 
zweite gewiß nicht nur ber eigentliche Ausdruck des erfte- 
ren als des bildlichen feyn; ud ift alfo nicht erplicatio zu 
faffen. In diefer Berbindung iſt gerade ein Fortfchritt 
von bem einen zu dem anderen Momente bed Begriffe, 
alfo gerade ein Linterfchied zwifchen beiden Ausdrücken 
gegeben. Aber welcher? Wiedergeburt ift wie jebe Ge 
burt ein Uebergang und zwar aus einem unfelbändigen, 
niederen, befchränuften Lebenskreiſe in einem freieren, höhe⸗ 
ren, weiteren; ein Uebergang, den man mehr erfährt, 
als ausführt. Die Wiedergeburt führt alfo in einen neuen 
Lebenstreid, der feine angemeſſene Lebensweife hat. Diefe 
ift aber nun nicht etwa nur äußerlich und graduell, ſondern 
innerlich und [pecififch eine andere geworden, fie tft nichteine 
Reparatur, Beine Verkleidung, auch nicht bloß eine Verbeſſe⸗ 
rung, fondern eine völlige Erneuerung, da bed Geiſtes 
Richtung und Haltung, feine Nahrung und feine Gründe 
von allen den im vorigen Leben nach väterlicher Weile 
ganz anders geworden find. Das Lebeneprincip ift nicht 
mehr bie Welt, fondern Bott ift es geworben. Nicht 
Berbeflerung, fondern Beränderung ift die Erneuerung 
ber Wiedergeburt. Palingenefie weiſt alfo auf die Form 
der Erneuerung, Erneuerung aber auf die Aufgabe 
ober Tendenz der Wiedergeburt, Ganz natürlich führt 


über die Sünden ber Wiebergeborenen. 375 - 


aber das Hauptwort auf das Zeitwort, die Stelle bei 
Paulns auf des Erlöferd Wort Joh. 3, 3. 5. zurüd. 
dvoadem if durchaus von oben her zu faflen; das 
verlangt der Ausdruck in dem anderen Berfes dx zveuuaros, 
der ald Erflärung fich gibt, der gemäß Johannes in ſei⸗ 
nem erften Briefe (3, 9.) des Meifterd Wort durch dx 
deoũ beftimmt. Daran ergibt fich als drittes Moment dee 
Begriffes der Wiedergeburt die Kraft, durch welche fie 
vollzogen wird. Daranf weil aud, went man der Er⸗ 
neuerung nachgeht und auf des Paulus Wort trifft: iſt 
Jemand in Chriſto, fo iſt er eine neue Creatur. Abs 
gefehen von dem dv Xoıara sivas, iſt ja einexamn xrlsıg 
aur möglich durch Botte Kraft. Natürlich, der Menſch 
erzengt und gebiert fi nicht ſelbſt, eben fo wenig als 
er ſich felber Schaffen fann. Das drängt aber auf ein 
Bierted, Denn obwohl der Menfch ohne feinen Willen 
bat von Bott gefchaffen oder geboren werden können, fo 
kann doch Gott ihn ohne oder gar wider feinen Willen 
niht eriöfen. Es muß alfo eine Bermittelung ber 
Wiedergeburt gedacht werden, welche eben fo geſchickt ift, 
die Kraft Gottes anf den zu ernenernden Menfchen wirs 
fen zu laffen, als fie abgewiefen werben fanı. Am nas 
türlichten wäre es innerhalb der Schrift und für unfere 
Anseinanderfeßung am bequemften, wenn gleich der Glanbe 
ausdrücklich ald diefe Bermittelung bezeichnet wäre. Daß. 
thut aber nun fo offenbar feine Stelle. Doch weilt der Er⸗ 
löfer ſelbſt (Joh. 3.) auf eine Vermittelung der durch Bots 
tes Kraft zu vollziehenden Wiedergeburt, indem er 2E Ddarog 
mit dæ zvsdnerog verbindet. Man kann um fo weniger 
abgehalten werden, an die Taufe zu denken, je Marer 
Pauline mit feinem Aouroou zalıyyevscias zal dvannıvaseng 
darauf fich bezieht. Eben fo ſtark dringt 1 Petr. 1, 23. 
darauf, da die Chriſten wiedergeboren genannt werden, 
siht aus vergänglichem, fondern aus unvergänglichem 
Samen, nämlich dus dem lebendigen Worte Gottes, das 


376 Braune 


da ewiglich bleibet. In der Tanfe tritt ja das Wort zum 
Waſſer, ſchwebt gleichſam über demfelben, es zu heiligen. 
Das Wafler deutet darauf, der Menſch folle sacer, das 
Mort darauf, er folle sanctne werden. Das im Mens 
fchen lebendig gewordene Wort ift der lebendige Glaube, 
weicher nur innerhalb der Kirche ficher und kräftig ge 
beiht, mit dem Worte und Sacramente zugleich. Diefes, 
bad Sacrament, verbindet mittel des Worted mit dem 
Erlöfer, bildes eine Lebendgemeinfchaft mit ihm und Diefe 
ift der Ausdruck des Glaubens, deffen Weſen Aneignung 
it. Der Glaube aljo muß gelten ald die Bermistelung 
der Geburt des natürlichen Menſchen aus Gott. 

Die Wiedergeburt ift nun der Wendepunkt im Leben 
des Chriſten — denn bie Geburt febt die Zeugung voraus 
— in welchem er der Ainnlichen Befchränftheit, der ohn⸗ 
mächtigen Vergänglichkeit, der fündlichen Weltlichkeit, wo: 
rin er als natürlicher Menfch gefangen war, woran er 
aber fchon Unluſt zu fühlen begann, ale werbender Ehrif, 
entichieden abfagt and eben fo entfchieden der Freiheit 
des Geiſtes, der Macht der Ewigkeit und der Heiligkeit 
Gottes ſich zuwendet; fie ift alfo ein Ereigniß, das zu 
Stande kommt, in dem Gott, das Urbild, in Chrifto, 
feinem Cbenbilde, den Menfchengeift, das Abbild, ans 
leuchtet und biefer in dieſem Lichte fich erhebt zu einem 
neuen Leben vor Gott und in Gott, Die Wiedergeburt 
umfaßt alfo Alles, was den Act vollendet, der in ber 
Belehrung vorbereitet, in der Heiligung aufgenommen 
wird, Der Wiedergeborene iſt nun nicht der in der Wie⸗ 
bergebart fich befindenbe; ift Doch der geborene Menſch 
auch nicht der in der Geburt fich Befindende, ſondern ber 
in dem Leben ſich befindet. Der Wiedergeborene ift alfo 
der in der Heiligung ſich Befindende. Daher hat Schleier, 
macher in feiner Blaubendicehre mit vollen Mechte von 
den Sünden der Wiedergeborenen unter dem Lehrftüde 
der Heiligung gehandelt, Rur das bleibt bei dem Wie 


die Sünden der Wiedergeborenen. 877 


dergeborenen al& unbeftimmt feſtzuhalten, wie weit er im 
Gebiete der Heiligung vorgebrungen if, 

2) Um aber das Gebiet des Begriffes Wiedergeburt 
gehörig überfchauen umd nach Der gegebenen Defcription 
ein einfache Definition geben zu können, muß man auf 
feine Berwanbdten und lintergebenen innerhalb des N. T. 
das Augenmerf richten. Go wird fi dann auch am 
dentlichften nachweifen laffen, was innerhalb des Gebietes 
der Wiedergeburt und im Selbſtbewußtſeyn bes Wieder, 
geborenen vorkommt und vorkommen kann. Hierher ges 
hören Die folgenden Begriffe des N. 7. und cheiftlichen 
Lebens: Imssurgopf, pezdvorn, üysadpös, Lori, Örmelmeıg, 
zuerclkeyf;, vloßresla, xowmvia toü Agıosod und x. od 
zysögerog, auch sAijaıs, pwrıduös, zegızoun Tüg wugpölag, 

Diefe Begriffe ſind nun in Beziehung mit dem Bes 
sriffe der Wiedergeburt zu ſetzen and haben danach ihre 
Stelle einzunehmen. 

Mas vom hebräifchen Staudpunkte aus Insorgogpı, 
eourersio, dad heißt vom heilenifchen and usrdvoıa, 
resipiecentia, sspientia post fectum. Die ueravore. jüdifch 
befchrieben, iſt Diezugzoun vg xapdlag. Jene, Euıargopt, 
begeichnet Die Veränderung dee. bisherigen Lebens in Folge 
eines erfannten und anerfannten Outes, das als Ziel, 
dem wir nachfireben, vorgehalten wird. Das Leben iſt 
derWanbel; da ift das Leben in feiner Aeußerlichkeit gefaßt. 
Die perdvora bezeichnet Diefe Veränderung innerhalb des 
Selbſtbewußtſeyns in Folge reinerer Erkenntniß; da If 
das Leben die Geſinnung, alfo in feiner Innerlichleit ges 
faßt. Weide Begriffe ordnen ſich mit innerer Nothwen⸗ 
digfeis unter, finden in ihr erf ihre völlige Reinheit und 
Kräftigkeit, find alſo ald Boransfegungen derfelben ans 
zuſehen. Galvin fagt daher Cinst. III, 3, 9.): uno verbo 
poenitentiam interpretor regenerationem, nicht recht; es tft 
das eine Bermifchung, die in ber kurz zuvor gegebenen 
Definition der poenitentia (serdvose) recht Har hervor⸗ 





378 Braune 


teitt: est vera ad Deum vitae nostrae conversio, a sincero 
serioque timore profeeta, quae carnis nostrae veterisque 
hominie mortificatioue et epiritus vivißicatione constet; da 
meint man doch vielmehr die Erklärung ber Wiedergeburt 
su haben, welche nach der Vergangenheit hin mortificatie, 
nach Gegenwart und Zukunft vivificatio il, Die aolida 
declaratio (III, 16 ff.) wehrt mit Grünblichfeit der Ber 
wifchung diefer verwandten Begriffe und gibt an, wie 
regeneratio nicht bloß pro sanctificatione et removatione 
genommen, fondern auch mit conversio verwechfelt werde. 
Hatte ja doc ſchon die Apologie (V, 44. 46.) conversio 
und poenitentia, conversio und renovatio mit sea verbun: 
den. Hier gilt gewiß eben fo fehr, was Calvin in Ber 
zug auf epes und fides fagt: quanquam perpetuo inter se 
vinculo cohaerent, magis tamen coniungi volunt, quam 
comfundi (isst. III, 3, 5.). | 
Diefer Ausſpruch Calvin's ift feflzuhalten, wenn wir 
nun andie dıxaladss, instificatio, herantreten. Denn in 
der Apologie (II, 72) heißt es: instificari siguificat ex iniu- 
stis iustos effici seu regenerari. Die Rechtfertigung bes 
zeichnet doch nur ein Berhältniß des Gläubigen zu Bott, 
und zwar innerhalb des Urtheils in Bott. Das iſt das 
Gepräge des Bildes, aber dad Gepräge der Währung 
iſt die zaradiayr, die eben anch das Berhälmiß bes 
Bläubigen zu Gott bezeichnet, aber innerhalb des Selbſt⸗ 
bewußtfeyns in den Berföhnten. Die Wiedergeburt weift 
auf die neue Lebensform, die in unmittelbarer Folge je⸗ 
ned Verhältniſſes eingetreten if. Darum muß man 
Schleiermacher beiftimmen, ber ald die zwei Hauptſtücke 
der Aneignung des Helles in Chriſto die Wiedergeburt 
und Heiligung ſetzt. Jene benennt den Wendepunft, in 
welchem die Stetigkeit ded Alten aufhört und Die des 
Renen zu werben beginnt, diefe aber das Wadsthum der 
Stetigkeit des Neuen. Da ordnen fich ale wirkliche und 
natürliche Stufen des chriftlichen Lebens bie Buße, mit 


\ 


die Sünben dee Wiedergeborenen. 379 


der Reue und. Sinnedänderung, und der Slanbe der Ber 
fehrung unter, und biefe mit ber gleichzeitigen Nechtfers 
tigung bildet dad Geſammtgebiet der Wiedergeburt. Der 
Wiedergeborene hat feinen Sinn geändert, ift befehrt, 
gerechtfertigt und verföhnt; dad, muß man fagen, find 
die Vorſtufen oder Vorbereitungen der fih vollziehenden 
Wiedergeburt. 

Die viodscla ift ein Zuſtand, in den bad Ber 
hältniß des Gerechtfertigten zu Gott, wie ed bie Wieder, 
geburt, die Geburt aus Bott, geftaltet hat, verfegt; 
der aud Gott Geborene iſt Gottes Kind. Zunächft freilich 
beißen wir nur Gotte Kinder. Aber die Realität 
diefed Zuftandes drückt die zoıvmvla Tod Xgscroö und 
roũ zvsdparos and. Der Geiſt macht, daß wir rufen: 
lieber Vater! denn der Sohn Gottes lebt in uns. Diefe 
tebendgemeinfchaft, die innere Seite jenes Kindesvers 
hältniſſes als eines Standes, ift die Erfüllung der Kind⸗ 
(haft, und darım Fundament, Gpige oder Kern des 
Blaubens zu nennen. Denn führt der Glaube in die 
Gemeiufchaft mit dem Erlöfer, fo führt er in die Ge 
meinfchaft mit feiner Vollkommenheit und mit feiner Ses 
ligleit, Davon muß der Wiebergeborene doch einzelne 
Erfahrungen haben; zu einem ununterbrochenen Zufams 
menhange ift ed noch nicht gekommen, aber er findet fich 
doch mehr oder weniger dem fi annähernd. 

Run iſt ed der aysadudg, der den Kortfchritt vom 
Üebergange an bezeichnet. Die Heiligung betrifft Gemüth 
mit dem Willen und deſſen Aeußerung in dem Leben. 
In Bezug auf die Erfenntnig if ed yoarıouds. Wie 
ih vor der Wiedergeburt Zmıorgopt und usrdvom zu 
einander verhalten, fo nach berfelben dyıaouds und 
Yarıopds, fo daß die Emsarpopn durch die Wiedergeburt 
zum dpaspös und peravom ebenfo zum poriopög ſich 
vollendet, Die fer it das in der Wiedergeburt und 
Heiligung zu gewinmende Beben; ed iſt Ziel und Weg in 

Theol, Stud, Jahrg. 1847. 26 


380 , Braune 


Einem; anf ber gewonnenen, erlangten Eon, mit ihr 
fchreitet der Chriſt weiter zu ihr, in fi. Darum bat 
Chriſtus, der die Goy ift, auch won fich fagen koͤnnen, daß 
er fey Weg, Wahrheit und Leben, Das if aber intereſ⸗ 
font, daß das bei Johannes und Paulns fo häufige £5v 
in ber prägnanten Bedeutung meiſt mit ben Begriffen: 
wiedergeboren und geheiligt werden, fich\zufammenlegen 
läßt, und zwar fo, daß im Liv huf bie dritte Geburt 
im Tode bingewiefen wird, als auf dad Ereigniß, bas 
erſt in das völlig freie göttliche Leben einführt. 

Der exfte Anfang if die sAndıs, vocatio. Tu ihe liegt 
ein Zwiefached : die Thätigfeit Gottes und die Empfäng⸗ 
lichkeit des Menſchen. Wie dieſes Doppelte im Anfange 
liegt, fo iſt es auch dad, was im Forigange auch immer 
wieder kommt, bis zu dem felgen Ende, wo der em 
pfängliche Geiſt des Menſchen als nicht zu fcheiden vom 
erlöfenden Geiſte Chriſti gedacht werden muß. 

3) Noch einmal wollen wir Die beftimmmte Abgrenzung 
des Begriffes Wiedergeburt ausfenen. Denn es kaun ihr 
nur Vorſchub leiten, wenn wir nach dem biblifchen erft 
noch den kirchlichen Standpunkt einnehmen und von ba 
and bie ardo oder oecomomia salutis überſchauen. Die 
Grundzüge dazu gaben die Reformatoren ſelbſt und bie 
Symbole, Freilich waren neben der vocatio ihre Earbis 
nalbegriffe fides und iustificatio. Diefe wurden “or Allem 
jgergliebert neben dem ber camvrersio, Hierin nun Liegen 
die Stamina der erft fpäter auf Veraulaſſung der Pieti⸗ 
fen audgebildeten Heildordnung. Deren Bildner muß man 
proteftantifche GScholaftifer nennen. Dad verräth ihr 
Berl Quenſtedt, der am vollendeiften bie proteſtantiſche 
Dogmatik in ihrem fcholakifchen Schematiemus gibt, 
ordnet fo: vocalie, regeneratie, conversio, iustißestie, 
poenitentia, unio mystica, aanchicatie. Dawirb ikkuminstio, 
&e bei Luther (cat. min. II, 6.) durch ben Zufat suis de- 
nis und die Stellung zwiſchen voestio and sanckificatio 


bie Sünben ber Wiebergeborenen. 381 


viel reicher und tiefer gefaßt war, vor conversio gefeht, 
ohne der iustifientio zu gedenken; fie iſt dadurch um ihre 
fittliche Macht gebracht und in einfeitiger Beſchraͤnkung 
anf ben Verſtand gefaßt. Regeneratio und conversio, bie 
durch jene als ihre Spite vollendet wird und In die saneti- 
fiestio übergeht, Pommt da vor Austificatio zu fliehen, fo 
dag auch nicht einmal ber pelagianifhe Anftrich fehlt. 
Poenitentia ift nach ber Austificatio geftellt, was ohne 
Birfennung ber Momente de6 Begriffes Wiedergeburt 
gar nicht gefchehen feyn Tann. Ammon hat auf bie Ein» 
fachheit der Reformatoren zurüdgeführt; er fegt ale 
Helldordunng (summ.ed.IV.p.265.): ut vocati credemns, 
credentes coram deo insontes et iustl habeamur, iusti autem 
deelarati ad meiorem in dies vitae sanctitatem progrediamer. 
Die Berufung fommt an den, der außerhalb des Reiches 
Gottes che; im Glauben folgt er dem Rufe, tritt wit 
der Rechtfertigung Aber die Srenze und bie Heiligung if 
fein Wandern innerhalb bed göttlichen Reichsgebietes. 
Rur das iſt auffällig, daß bei der erften Station, wie 
fie bezeichnet tft, zunächſt die göttlihe Thätigkeit, bei 
der zweiten mit Ades Die menſchliche, dann wieder mit 
instiientio Gottes Urtheil und endlih wit der sanctifl- 
atio die durch Hulfe des göttlichen Geiſtes mögliche 
Thätigfeit des Menfchen in dem bezeichnenden Ausdrucke 
hervorgehoben iſt, alfo ein Wechfel herrfcht, und ein 
Ueberfpringen von Gott auf Menfch und von ihm wie, 
der anf Bott. Soll die Heildordnung beftimmt werden, 
jo it «6 nothwendig, fle entweder von der Thätigfeit 
Gottes oder von den Erfahrungen des Menfchen ans zu 
dezeichnen. Darum Tann man ficher mit Schleiermacher 
bei den zwei Stufen, der Wiedergeburt und Heiligung, 
wohl ſtehen bleiben, zumal die erfte gegliedert ift in Bes 
fehrung und Rechtfertigung, jene wieder in Buße und 
| Glauben, und die Buße in Neue und Ginnesänderung. 
Ganz gut bilder die Nechtfertigung den Uebergang zur 
B * 


382 Braune 


Vollendung oder zum völligen Eintritteber Wiebergebnrt. 
Dabei aber, baß der Glaube einen Fortfchritt in der Ent⸗ 
widelung der Wiedergeburt, einen Entwidelungstnoten in 
den Wachsthume des Gläubigen bilden fol, faun id, 
mich nicht zufrieden geben. Soll der Glaube der ans 
dere Theil der Bekehrung feyn nach und neben der Buße, 
fo ift nicht6 dagegen zu fagen, fobald man mit Calvin (inst. 
IN, 3, 5.) den Glauben fo faßt, als fey feine summe, ut 
a nobis demigrantes ad deum convertamur. Jedoch gehört 
Diefe Befchreibung der erbaulihen Nede an, und: man 
bat ihn vielmehr mit der Apologie, in Uebereinftimmung 
mit Saloin (ebend. 2,8.), al$notitia, assensus, fiducia zu fafr 
fen. Dann aber erkennt man ihn nicht fowohl als ein 
Moment einer Station in der Heildorbnung, als viel 
mehr als die Baſis an, breit genug, bas ganze Ge: 
bäude des Heils zu umfaffen, aber auch tief genug, es 
zu tragen, bid ed in. der unio mystica und glorificatio ſich 
vollendet. Der Ausdruck Bafis, Fundament rechtfertigt 
fi durch Die biblifche Bezeichnung unferer Erlöfung ale 
einer Erbauung. Im Sinne fagt jener Ausdruck daffelbe, 
was die Concordienformel (S. 584.) in dem Gage aus⸗ 
fpridht: confitemur solam fidem esse illed medium et 
instrumentum, quo Christum salvatorem et ita in Christo 
iustitjam, quae coram iudicio dei consistere potest, appre- 
hendimus. Der Glaube ift die Bermittelung des Geis 
fted Chrifti und feines Heiles mit dem hülfsbebärftigen 
und des göttlichen Geiftes einpfänglichen Menſchengeiſte. 
Darin liegt nothwendig zweierlei, einmal, baß er eben 
Sache ift des ganzen Menfchen nach feinem intellectuellen 
wie nach feinem fittlichen Vermögen, und fodann, fo 
fehr er auch Sache des Menfchengeiftes iſt, doch in ſich 
haben muß als das Wefentliche die Beziehung auf dad 
Göttliche. Ohne jened aber entbehrte er der aneignenden 
Kraft in Bezug auf die Erlöfung, die weber bloß eine 
intellectuelle, noch eine bloß fittliche iR; wäre aber das 





die Sünden ber Wicdergeborenen. 383 


Andere nicht, fo fehlte der jeher Verbindung zum Grunde 
Hegeude innere Zug. Iſt aber der Glaube wefentlich eine 
Beziehung auf das Böttlidhe, das doch das recht eigent- 
lich Lebendige ift, fo muß man andy fagen, daß der Glaube 
eben fo fehr Botted, als des Menfchen Werk it, da 
Bett nicht ergriffen, ihm nicht gemaht werden kann, 
wenn. er nicht ergreift und fi naht. Das ftellt den 
Glauben ald die Bermittelung zwifchen Gott und Mens 
hen fell. Das if die Form feines Weſens. Das Mer 
fen des Glaubens aber ift Zuverfiht (Hebr. 11, 1.), nicht 
Uebergeugung, die nur innerhalb der Erfenntniß liegt, 
fondern eine gewifle Zuverficht, eine zweifellofe, verwe⸗ 
gene Gewißheit innerhalb des Selbſtbewußtſeyns, das 
von feiner Richtigkeit und Beichränttheit weiß, auf Grund 
der Ewigkeit und Unendlichkeit Gottes, zu deffen Bilde‘ 
ded Menfchen Geiſt gefchaffen iſt. Der Glaube ift alfo 
völige Gewißheit des perſonlichen Beiftes im Menfchen 
von dem Unendlichen, von Gott; ber Gläubige ift der 
in Gott erhobene und mit Gott erfüllte Menſch. Voll⸗ 
lommen ift Gott, aber nicht die Erkenntniß und Erfaſ⸗ 
fung Gottes im Menfchen. Darin liegt die Möglichkeit 
uud Nothwendigkeit der Vervolllommnung des Glaubens. 
Und dieſe Vervollkommnung liegt nicht ſowohl in der Ver⸗ 
Rärkung der Gewißheit bed Glaubens, der ja völlige 
Gewißheit ift, als vielmehr einmal in der Sicherung der 
ununterbrochenen Stetigleit innerhalb des den Störungen 
und Strömungen ded Lebens unterworfenen Selbfibes 
wußtſeyns, und zweitens in der Bewirtung. immer grös 
ßerer Neinheit und Wirkſamkeit des Gottesbewußtſeyns. 
Darin befiebt dad Wachsthum ded Glaubens, der, ob» 
wohl von Anfang an Glaube an das Göttliche, doch 
noch nicht Glaube an Bott in Chriſto if. So iſt der 
Glaube bleibende Baſis für Aneiguung des Held und 
wird eö immer mehr. 





Der Blid in den Bang ber Heildorbuung weiſt uns 
Die Wirklichkeit dieſer Wahrheit. Der Meunſch if zuerſt 
der Berufene, mag der Ruf fo ober anders an ihn 
fommen. Der Ruf kommt von Bott, befien Worte eben 
fo fehr Thaten find, als feine Thaten Worte werben — 
für den. Bläubigen, ber in feinem Glauben bie ſich Bett 
öffuende Empfänglichkeit hat. Dieſer Glaube If bei aller 
Gewißheit noch unbeftimmt in feinem Gehalte. Bon bie 
fee Uubeftimmtheit löſt ihn Die Annahme des Rufes. Im 
diefer Annahme nimmt er etwas Beſtimmtes an, das er 
auf fi wirken läßt. Die Werke der Schöpfung küunm 
ibm ein Ruf werben, und das Göttliche gilt ihn 
nun ale Schöpfer; ober bad Bewiflen vernimmt den 
Nuf, und das Göttliche wird nun als Befeggeber 
gefühlt; oder aus der Gefchichte ertönt der Ruf und das 
Gsttliche wird erfaßt ald der Herr; oder aus ber hei 
Ugen Schrift redet Bott zu dem Menfchen, und dad 
@öttlihe teitt als heiliger, erziehender Bater 
zu ihm. Leberwiegt hier im Glauben zunädhlt das Mer 
ment, das in der Kirchenlehre notitia bezeichnet iſt, fo iR 
doch eben, weil diefe motitie uur ein Moment des gewiß 
fen Glaubens if, eine fittlidde Bewegung Dabei, wie fie 
ein assensus und durch ihn als llchergang auch Aidaca 
if, Uad das um fo mehr, ba ber ganze Menſch, der 
denken wollende und bad Wollen denfende Gel, ber 
Geiſt des dad Denken und Wollen verbindenden Gemü⸗ 
thes, im Glauben angeregt if. Es kann nun ber Menſch 
nicht anders, ald eine Bergleichung feines Wandels mit 
dem Walten Gottes in der Natur und in der Gefchichte, 
nach dem Gewiſſen, der Stimme, und nach der Schrift, 
dem Worte Gottes, anzuftelen, Die Genauigkeit diefes 
Bergleiches if abhängig won dem burch bie Berufung 
mehr oder weniger beftimmten Olauben, von dem größe: 
ren oder geringeren Gewinn an Beflimmtheit in Folge 
des Rufes. Diefer Vergleich reflectirt auf das vergan 


bie Sünden bes MWBirbergeborenen. 383 


gene Beben, auf das Ziel, das bisher verfolgt, auf die 
Thaten, die bisher vollbracht, auf die Motive, die bis⸗ 
ber geleitet, auf den Zuſtand des Gemüthes, der id 
biöher gebildes, auf deu Charakter, der ſich biöher ents 
widelt. Und je mehr Dad am deutlichſten redende Bots 
tedwort in ber Schrift, in dem lebendigen Worte, in 
Chriſtus, Map und Licht Darreicht, befto Deutlicher und 
befimmier wird Das Ergebniß. Weſentlich wird es darin 
beſtehen, daB gu dem Beifalle an dem erfaunten Gott 
Misfallen an dem eigenen Wefen, wie ed ift, tritt. Bei⸗ 
des zuſammen if die Reue, und indem fie wahr und 
kräftig if, muß fie ein euer feyn, bad die anf einem 
guten Grunde anfgefchichteten Stoppeln, Hen und Holz 
verzehrt, und in die Sinnesaͤnderung fchlägt nochwendig 
die Reue um, indem fie auf bad Bergangene ficht und 
and der Gegenwart fick dev berenende Glaube nach dem 
Zutünftigen ſtreckt. Beides, Rene und Ginnesänderung, 
machen die Buße and. Durch die Buße wird der Glaube 
in feiner fistlichen Beziehung eben fo ſehr verſtärkt, ale 
er darch Die Berufung in der intellestuellen Beſtimmtheit 
gefördert war. So weit if far, daß der Blaube noch 
nicht der eigentlich chriſtliche, der Blaube an Ehriftum 
iſt. Den fittlichen Proceß auch außerhalb bes Chriſten⸗ 
thuus vermittelt ach fo der Glanbe. Gben fo Mar if 
aber auch, daß der Glaube in feiner Gewißheit von dem 
unendlich Börtlichen neben dem Drängen nach größerer 
Beſtimmtheit, in Bezug anf ben Gegenſtand, gugleich 
das Drängen nach fittlidh geheiligter und intellectwell ers 
lenchteter Perfönlichleit hat. Darin liegt ald.ihm inhäs- 
rirend Die Beziehung anf folche Perſönlichkeit. Diefe iR 
und gegeben in Ehrifto, daher auch außerhalb ber chriſt⸗ 
lichen Gemeinfchaft fo viel Hinweife auf Ehriftus, ale 
Spuren des Glaubens ſich finden. Auf die bezeichnete 
Perföntichleit Dräugt num der durch die Berufung und 
Buße in feiner Unbeſtimmtheit anfgehobene und zur Ber 


386 | Braune 


ftimmtheit weiter geführte Glaube, der eben weſentlich 
auf Bildung ber wahren Perfönlichkeit ausgeht, der Per, 
fönlichkeit, die vor Bott gefällig if, Daher der Aufching 
an Ehrifind, das Ebenbild Gottes, den Menfchen, wie 
er ſeyn fol, den Urmenfchen, den Gottmenfchen; das 
innigfte Anfchmiegen an Chriſtus, ber lebendigſte Um» 
gang nnd Verkehr mit ihm. Da wird die Gewißheit bes 
Glaubens eine Gewißheit von Gott in Ehriſto, und Daß 
Gottes Wahrheit und Gnade in Ehrifto offenbar gewor⸗ 
den if. So geht der Glanbe mit dem, der ihn hat, in 
die Rechtfertigung und Berföhnung, und dur und mit 
diefen in die Wiedergeburt ein, mit ber ein neues Leben 
beginnt, das ſich in der Heiligung fortfegt und vollendet. 
Der Glaube bleibt die Vermittelung; er vermittelt Die 
Rechtfertigung und Verföhnung; er vermittelt die Wie⸗ 
dergeburt, er vermittelt die Heiligung. Cine Aenderung 
in feiner Gewißheit erfährt er nicht, aber wie fein Ge 
genftand beflimmter und näher -erfaßt wird, fo wird nun 
um ber allgegenwärtigen Allmacht der Liebe des heiligen 
Gottes in Ehrifto willen die Gewißheit des Glaubens im 
Menſchen vor lnterbrechungen bewahrt und der Den 
Glauben habende Geift vor Trübungen und Verſtimmun⸗ 
gen gefhüpt, fo daß gleichmäßig mit dem Objecte das 
Subject ded Glaubens völliger erfagewird. Darum kann 
man fagen, baß der Glaube felbft völliger wird, und 
daß er es nur wird durch die Stufen, auf die er erhebt, 
muß man dazu fegen. Darum if ber Slaube die Baſis, 
nicht aber eine Stufe des Hell, obgleich fi) nachwei⸗ 
fen läßt, daß ber durch die Buße gereinigte und bie 
Rechtfertigung vermittelnde Glaube ber eigentliche chrifts 
liche, der fellgmachende, der Glaube an Ehriftus gewor⸗ 
den feyn muß. 

4) Run läßt ſich der Begriff der Wiedergeburt Mar 
und fcharf faffen. Sie ift der Act, den ber Ölande an 
den Erlöfer ald unmittelbare Folge der Rechtfertigung 


über die Sünden der Wiedergeborenen. 387 


und Berföhuung vollzieht, alſo ein Act des recht⸗ 
fertigenden Gottes und des verföhnten Menſchen, ein 
Sc, in welchem Ehriſtus entfchieden Princip bed neuen 
Lebens wird, — alfo dad Princip der Sündloſigkeit if 
im Wiebergeborenen. Durch die Wiedergeburt geht ee 
ja zur Heiligung, fo wie ed aus der Rechtfertigung umd 
der Berföhnung in die Wiedergeburt ging. Diefe Stellung 
der Wiedergeburt macht die Stellung des Wiedergebore⸗ 
zen zur Sünde unzweiftihaft und weit darauf bin, daß 
ein fündlofes, heiliges ‚Princip in ibm mächtig umb ges 
fhäftig geworden ift. Allein die Wiedergeburt iſt feine neue 
Schöpfung. Die menfchliche Natur bleibst, bie bisherige . 
Geſtaltung des Lebens bleibt; wie die Beftimmtheit als 
Menſch, welche gar nicht weggefchafft wird und werden 
jol, fo danert auch bie fo und fo gewordene Beſtimmt⸗ 
heit des einzelnen Menſchen; diefe aber foll innerhalb je, 
ner eine andere, eine neue werden. Man kann mit Hin⸗ 
bit anf die Wiedergeburt die Berufung ald Zengung, 
die Belehrung ale die erſten Lebensregungen anufehen, fe 
daß Die Wiedergeburt die Vollendung des in Berufung 
und Belehrung Borbereiteten if. Darum ift ber Wieders 
geborene den alten, Menfchen los geworben, aber nicht 
die menfchliche Natut. Der alte Menſch if weſentlich 
Bezeichnung des unter der Herrichaft der Sinnlichkeit und 
unter der Macht der Bünde Stehenden. Diefe Herr, 
haft und Macht it gebrochen, und aus der Knechtſchaft 
der Sünde if eine Feindſchaft wider fie geworben durch 
die Wiedergeburt. Der Wiebergeborene, vorher Knecht 
der Sunde, feit der Berufung aber ein unwilliger Knecht, 
iR nun ein Diener der Gerechtigkeit geworden. Es tritt 
aber nicht der volkommene Dienk der Gerechtigkeit ein; 
diefe Vollkommenheit bewirkt erſt ber Fortſchritt in der 
Helligung. Der Dienft der Gerechtigkeit, intenfio noch 
nicht vollkommen, Tann bei dem Wiedergeboreuen aber 
auch noch nicht extenſiv fletig, im unnnterbrochenen Zus 


\ 


306 Braune 


ſammenhauge ſeyn. Was jene Volllommenheit noch zus 
rũckhalt uud dieſe Stetigkeit noch unterbricht, iſt daſſelbe, die 
Nachwirkung jener gebrochenen, unterbrochenen Kuechtſchaft 
der Saͤude. Der Wiedergeborene fündigt alſo noch, aber im 
Dienfte der Gerechtigkeit. Das gibt ein Zwicfaches, das 
feRgehalten werben muß. Das Nochfündigen ſpricht 
aus, DaB die früheren Sünden fih wiederholen, alfe 
neue Reihen von Sünden nicht entichen, wiewobl bie 
alte Sünde den Anfang in neuen Richtungen verfuct, 
bei dem Heftigen im Zorne wider fehlende Brüder, beim 
Ehrgeigigen in geiſtlichem Hochmuthe, beim Zrägen in 
Sicherheit; und daß 06 im Diese der Gerechtigkeit ger 
ſchieht, macht Mar, daß der Wiedergeborene nicht als 
ſolcher, alſo nicht ald Diener der Sünde bie Sünbe 
thut, fie alfo eigentlich nicht thun wii, ſobald er fie 
alfo gethau, ſich ſchmerzlich berührt und ersegt fühlen 
wird. 

Daher ſagt Sohannes (1. Br. 3,9.) mit Recht: za 
6 yaysvunplnog ix od BEod apagrlav ol zasi, — wei od 
Odvaseı dungrevsw, Ors da vo Bsod yeyivugsas. Damit 
zu vergleichen it, was Bere 6. gejagt if: zäs 6 dump- 
schvev oby Eagumev adrov, abös Eyymmıy absov. Aber 
Johannes gibt in beiden Berfen die tiefere Einheit für 
feine Behauptungen, indem er bad aivam ivadıa ald Ber 
dingung ſetzt. Se hat fchon Chriſtus gefagt (Ioh.15, 6): 
äkv mei vis uelon dv ipol, Eßirin Ein, og vo Ama, sei 
iinedväy nal auvdyovay avek wc eig zug Bdllove: zei 
zelsraı. Johannes, ber Apoſtel der Liebe, welche bleibt, 
wenn der Glanbe im Schauen aufgeht. und die Hoffnung 
zur Erfüllung wird, Rebt auf einem fo hohen idealen 
Standpuntte für feine religiöfe wie fittliche IBeltanfchau- 
ung, wie fein anderer Apoftel, Lind wie. hier Ansfprüche 
vorliegen, welche die Höhe feines idealen religiöfen Stand⸗ 
puuftes angeben, fo haben wir ein Maß für die. Höhe 
in Bezug anf feinen fittlichen Standpunkt in dem, daß 


n 


über die Sünden ber Wiebergeborenn. 380 


er fagt: Wer feinen Bender haft, der if ein Todtſchla⸗ 
ger. Und boch zicht er das „Bleiben in Ehriſto“ ald Ber 
dingung herein, fo daß man bie Wahrheit Dex Idee, 
welche er gibt, durchaus nicht ald ig Widerfpruche mit 
der Wirklichkeit des Lebend fehen kann. 

‚Can; anders tritt die Meinung ber Wiedertäuferis 
fhen auf, weiche auch behaupten, daß die Wiedergebors⸗ 
nen nicht zum Tode fündigen. Luther macht damit bes 
faunt (Art. Sehm. HL, 42,); er führt ihre Meinung au: 
Alle, die einmal den heiligen Geiſt ober Vergebung der 
Gäuden empfangen hätten und gläubig geworben wären, 
blieben doch, auch wenn fie fündigten, im Glauben uud 
ihnen ſchade die Sünde nicht. Daher ihr Gefchrei: thu, 
was du will; glaube nur; ed fchabet nichts; Der Blaube 
hebt alle Sünde auf, Goldye nennt er sootarıi uud insani 
komines, die er. zur Zeit des Banernkriegs kennen gelerut 
habe. Die Concordienformel nennt ſolche Behauptungen 
(sol. deei. IV, 81.) false et Episures opinio, ja pestilen- 


tiecias persunsie. Hiermit ift ein Extrem gegeben, in dem 
Grundanſicht it, der Blänbige, der Wiedergeborene era 


halte mit und im feinen Sunden doch das Heil und bie 
Geligkeit. Diefe ertreme Behauptung iR wie jedes Er⸗ 
trem, ift wie bei der Pendelſchwingung ein Außerfted, von 
m abs und zurüdgegangen werden muß. Das geichieht 
ganz einfady durch Die Formel, daB man fagt, der Wie⸗ 
dergebosene verkiere Glauben, Rechtfertigung und Gnade 
nicht trotz bee Sunde, zu Der er ja immer die Berges 
bung durch. Bußfertigkeit bringe, 

Johannes faßt im Zuftaude des Wiedergeborenen bie 
Macht ded göttlichen Principe ind Auge, ohue das Ber» 
derbliche der Sünde zu überſehen; die Wiedertäufer aber 
überfehen es, da fie wonnetrunken fich im Aufchauen ber 
Herrlichkeit der Wiedergeburt verlieren. Der Apofel 
feht Die Sünde der Wiedergeborenen ale im Abnehmen, 
im Verſchwinden, nud faßt feine Behauptung vom Stande 


⸗ 


890 Ä Braune 


penslte bed Glaubens und des gewiffen Sieges aus. Das 
su bat er fein guted Recht. Man faßt barum das Res 
fultat bis hieher ficher und um fo lieber mit Auguſtin 
und Calvin, ale diefe eben auf Botted Wort fich, ihr 
Leben und ihre Lehre gründeten; ber leßtere fagt Cinst. 
BL, 3, 11.): Praestat hoc quidem deus, sues regenerando, 
at pecsati regnum in ipsis abolestur ; sed regnare tantum, 
non etiam habitare desinit. 

So ift die Wiedergeburt, in Rüdficht auf dad Ber 
hältwiß des Wiedergeborenen zur Sünde, der Uebergang 
von ber Herrſchaft der Sinnlichkeit und der Macht der 
Sünde in den Dienft der Gerechtigkeit mit völliger Euts 
fchiedenheit des Geiſtes, eben. fo Har in der Erkenntniß 
als fer in. der Willensrichtung. 

5) Wir mögen nun anknüpfen, wo wir wollen — 
an dem chriftlichen Idealiomus des Johannes, oder an 
dem unſittlichen Fanatismus der Wiedertänfer, au ben 
Audfprüchen der größten Theologen bed Abendlandbes 
oder an. der Ansdeinanderfegung des Begriffes der Wie⸗ 
dergeburt, darüber ift fein Zweifel, bag Wiebergeborene 
noch fündigen. Das aber wird in Frage geftellt, ob fie 
durch ihre Sünde wieder aus der Gnade und Wahrheit 
der: Wiedergeburt fallen können. 

Worauf weift die Schrift? Genau genommen, gibt 
ed. mehr als eine Stelle, die entfcheibeube Antwort gibt. 
Sm Briefe an die Hebräer ift einmal (10, 26.) die Rede 
von Solchen, weldye Sxovalmg auagrdvous:, nadıdem 
fie die Erkenntniß der Wahrheit empfangen hatten (pex& 
sd Aaßsiv chv iulyvacıw vg dA.). Sind die unter 1. und 2. 
gegebenen Stellungen uud Nuseinanderfegungen richtig, 
fo iR bier von Wiedergeborenen die Rede. Auch auf das 
Gleichniß von dem Menfchen, von dem ber böfe Geiſt 
ausgegangen ift, fo daß er ein olxog dssapmudvos und 
xexogunutvog und sgoAdtaw)(das ifl: bereit, den heiligen 
Geiſt aufzunehmen, nicht aber, wie Luther überſetzt: müs 


die Sänden ber. Wiedergeborenen. 391 


Big) genannt werben kann, kann man ſich beziehen. Frei⸗ 
lich in bed Erlsſers Beſtimmungen liegt nicht die Begeich- 
nung der Wiedergeburt ale vollzogen, nur alö der vor» 
bereiteten. Aber Petrus beftinnmt feines Meiſters Rebe 
dahin (2. Br, 2, 20.), da er auf Grund dieſes Gleich» 
niffed, wie Bibel erflärend, von Solchen redet, die wohl 
daopvyöwrss ck meddpera od xösuov find und zwar 
By inıyvaassı Tod xuglov jur zul aeijgog’ Indoü Xgıorod, 
und doch wieder äumiandwrss todroıg werden, fo daß fie 
befier av 6809 zig dinaoadvung gar wicht kennen gelernt 
hätten. Hier nun abgefehen von der Zxwlyvadız, beren 
Object freilich vom Petrus noch beflimmter augegeben 
if, als im Hebräerbriefe, fo daß man fieht, er meine bafs 
ſelbe, was wir oben mit dem Principe bed neuen Les 
bens von ber Wiedergeburt an bezeichnet hatten, — fo 
it hier der Begriff dıxasosdvn wichtig, welche nur wirt 
lich it im Gerechtfertigten und Berföhnten, und von deren 
6dös unr die Rebe feyu kann beim: Wiedergeborenen, 

Bor Allem wichtig und entfcheidend iſt Hebr. 6, 46. 
Da find genannt Yarıadivrss, yavddısvor zus dmgsäs 
rüg dmiovgavlov, uiroyoı yerndivres avsduarog dylov, 
zaldv ysuodpsvor Dsod bnua Öuvadnsız cs ulAAovrog alöwog. 
Wenn hier nicht Wiedergeborene bezeichnet find, fo find 
ſie's nirgends. Und trog aller Präbdicate, die auf eine 
gefunde und gefegnete Wiedergeburt‘ hindeuten, wirb ans 
genommen, daß jene doch nicht etwa nur dunprdvovreg, 
fondern zagansodvrss werden Fönnten. 

Dazu nehme ich noch die Gollectioftelle aus Paulus 
Briefen an den Timotheus: deflen wiarıs dvuzöagıros 
(II, 1, 5.) erfreut den Paulus; er nennt ihn fein yurjarov 
tixvov dv alarsı (I, 1, 2.) und erinnert ihn, dvafosvpsiv 
rò ydpıspa sod Beoü, das in ihm fey (II, 1, 6.). Diele 
Babe if ber heilige Geil. Timotheus gilt dem Paulus 
als Wiedergeborener, und dennoch bittet er beufelben, des 
Zengniffes von Jeſus ſich nicht zu ſchämen (II. 1,8.) und 





392 | Braune 


fi zu bewahren bie Zulage durch den heiligen Beift, ber 
in ihm wohne (ebend. 14.); er fchreibt ihm, daß Viele ab» 
treten würden vom Glauben cl, 4, 1.), und ermahut 
yäterlich andringend, ja feſt an ſtehen. 

Die Möglidyleit, daß der Wiedergeborene nicht allein 
fhubige, fondern auch and dem Gnabenſtande heraus—⸗ 
falle, it innerhalb des neuen Teſtaments gefetzt. Wäre 
das nicht, fo wäre ed undenkbar, wie die Kirchenlehyrer 
dazu gelommen wären, peccatam mertale auch in ben 
renatio zu finden uud bie Sünde wider den heiligen Geiſt 
in homine adulte, regenito, setis illuminato (Duenftebt) 
au fegen. Noch weniger aber wäre denkbar, Daß bie Kirche 
zwifchen den Wieder⸗ und noch nicht Wiedergeborenen In 
Bezug auf Sacrament, Wort und Gebet keine Unter⸗ 
fchiede gefeßt haben follte. Die Taufe ik Sacrament des 
Ghriiwerdeng, das Abendmahl das bes Ehriibieis 
bend. Wiebergeborene Ehriften, bie zu jeder Glinde 
nothwenbig, ebemweil file Wiedergeborene find, Buße unb 
Bergebung bringen würden, könnten die vorbereitende 
Beichte nicht in demfelben Sinne gebrauchen als Unwie⸗ 
Dergeborene. Des Worted der Schrift zur Abllärung, 
Berförtung und Befekigung könnten fie eben fo wenig 
im demfelben Sinne als die noch nicht Wiedergeborenen 
bebürftig ſeyn, uud mit der fünften, fechöten und fieben- 
ten Bitte würde es ſich ebenfo verhalten. Der Glaube 
wärbe ja bei ihnen als ein perpetaum mobile wirfen und 
bei folcher Wirkſamkeit müßte es ein andered Bewußtfenn, 
ein anderes Berhältniß für die Wiedergeborenen geben, 
als die Kirche mit ihren Inflitntionen vorausſetzt. Schrift 
und Kirche ſetzen gleihmäßig die Möglichkeit nicht bloß 
der "Günde, fondern auch ber Todfüube ber Wiederge 
dorenen, oder ed wird nicht bloß der Kampf wider bie 
mehr und mehr verfchwindende Sünde in dem Wieder⸗ 
geborenen angenommen, fondern auch bie Möglichkeit der 

Nieberlage. Diefe Möglichkeit aber wirb von Einigen 





die Sünden bee Miedergeborenen. 393 


für eine Unmöglichkeit bei dem wahrhaft Wiedergeborenen 
ober ald Beweis einer Täufchung in Bezug auf die Wie⸗ 
dergeburt feſtgehalten. 

Worin fol das liegen, daß die Günbe ber Wieder⸗ 
gebogenen nicht von ber Art ſeyn ober werden könne, 
fo daß die Wiedergeburt wieder aufgehoben fey? Im 
dem Wiedergeborenen ober in ber Sünde? Iſt der letzte 
Grund Davon, daß der Wiebergeborene durch feine Sünde 
ben Guadenſtand verliert, in der Sünde gm fuchen, fo 
bat man nachzuſehen, wie. fi die Sünbe, bie Anßerlich 
oder innerlich ald That hierbei zu faffen iR, zu bem vers 
hält, der fie thut; denn auch ale Zuſtand ift fie, fohern 
fie nicht völlig überwunden, noch nicht todt, alfo leben⸗ 
big if, nicht ohne durchbrechende Thätigleit zu begrei⸗ 
fen. Daher der Proteſtantiosmus dem Kathelicidmus 
gegenüber , ber beflimmte Sünden als Todfünden nam⸗ 
baft macht, ertlärt, ſolches nicht zu vermögen, und er 
kann denn Anlagen, als fey das Beweis feiner linfitts 
lichfelt, ruhig entgeguen, daß darin vielmehr feine Mittliche 
Strenge, die Strenge inneser Gittlichleit ſich beweiſe, 
da ja fogar Unwahrheit, ganz abgefehen won ber Form, 
in weicher fie auftritt, Todſünde ſeyn kaun. Auf Das 
beſſere Wiffen und Gewiſſen fommt es an, gegen welches 
wit Bewußtfeyn gehandelt wird. Daher Tommi man, 
dad Gebiet der Sünde angefehen, auf die Behauptung 
von der Wleichheit der Sünde. Und wie das Wort wahr 
R: was wicht and dem Blauben kommt, it Sünde, fo 
iR wahr auch, bag Die Sünde nicht aus dem Glauben 
fommen könne. Die Sünde ift ale nicht aus dem Blaus 
ben, alſo auch wider den Glauben zu faflen. Denn wie 
der Glaube eine Sünde Aberwindende Macht if, fo iſt Bie 
Eünde eine den Glauben hindernde, vertilgende Gewalt, 
Eiehiuun das feſt, daß Wiedergeborene noch fündigen, fo 
wird, da in ihnen der Glaube an Chriſtud, dad Pringip der 
Gändlofigkeis, bebendig geworden HR, angenommen, Bo 


394 Braune 


noch etwas im ihmen fey, das nicht Glaube it, vom Glan⸗ 
ben noch nicht ergriffen und überwunden if. So viel 
dem Glauben noch entgegenfteht, fo viel fehlt ihm noch. 
Der Kampf des Glaubens mit der Sünde iſt alfo im 
Wiedergeboreuen gefeht, und mit dem Kampfe auch bie 
Möglichkeit der Riederlage. Die einzelne Sünde if nur 
die Erfcheinung der Sundhaftigkeit, and es heißt nicht, 
daß fie nnd, fonbern daß wir ihr abfterben follen. Dafr 
ſelbe Ich, das den Glauben des Wiebergeborenen hat, 
bat auch dad Bewußtfeyn der Sündhaftigleit und thut 
die Sünde. Die Wahrfcheinlicyleit des Sieges mag anf 
dad Höchfte gefpannt werden, aber mit dem Kampfe ifl 
immer noch die Möglichkeit der Niederlage geſetzt. Wie 
eben in Bezug auf Sünde bie fatholifche Unterfcheidung 
abgewiefen werben mußte, fo gilt es auch, die Fatholifche 
Faſſung des Begriffes Wiedergeburt zu verwerfen. Die 
Katholiken fehen die Wiedergeburt ale eine übernatür- 
lihe Eingießung der göttlihen Gerechtigkeit 
an. Es heißt (coucil. Trid. ses. VI. cap. 7.): Iustificatie 
ılon est sola peccstorum remissio, ned et sanctißeatio et 
renovstio interioris hominis per veluntariam suseeptionem 
gratise et donorum: unde hemo ex iniusto fit insims etc. 
Die einzige formale Urſache ift institis del, qua nes justos 
facit, qua — vere. iusti nominamur et sumus, iustitiem in 
nobis reoipientes. Wit ihnen flunmen hierin Quäler und 
Mennoniten überein. So aber wird die heilige Schrift, 
und das Leben wie das Selbfibewußtfeyn der Wieder⸗ 
geborenen Lügen geftraft. Es if keine rhetorifche Exagge⸗ 
ration, wenn Augnflin dem Hieronymus fchreibt (opp. Il, 
166.): quis denique amicus nou fermidetur quasi futurus 
inimicus, si potuit inter Hieronymum et Ruflnum hoc quod 
plangimus exoririt O misers et miseranda conditie! O 
iafida in voluntatibus amicorum scientia praegentiem, ubi 
nulis est praescieutis futurorum! Sed quid hoc alteri de 
altero gemendum putem, quande nec ipse gaidem sibi homo 


die Sänden der Wiebergeborenen. 395 


notus est in posterum? Novit enim utcunque, vix forte, 
nunc qualis sit; qualis autem postes faturus sit, ignorat. 
Neben der Gewißheit, mie Bott verföähnt, vor ihm ges 
sechtfertigt zu ſeyn, iſt ab und zu Sorge um dad Heil, 
Gurt vor Ber Günbe, Ungewißheit und Gchwanfen. 
Uud wie iſt's denn, wenn die Wiebergeboruen zu ihren 
Sünden die Bergebung bringen? Doch nicht ohme dem 
Schmerz der Reue, in dem Doch bie Gewißheit der Ber» 
gebung noch nicht fofort mit enthalten ſeyn kann, ber fi 
nur in biefe verliert durch die Bermittelung des Erloͤſers 
und feined Wortes; denn hier id Ende des Geſetzes nnd 
ber Drohung und Grund deB Evangeliums und ber 
Verheißung. IR die Neue wahr, dann ift aber auch das 
Gefühl der Unwürdigkeit dabei, und es ift im Wieder, 
gebornen gleichfam eig Schrei, wie bei jenem Bläubigen: 
Herr, ich bin wiebergeboren , hilf mir zur Wiedergeburt! 
Er fühle, wie die Sünde, die gleihfam den Einfchlag 
des das neue Leben webenden Glaubens bilden möchte, 
manchen Faden zerreißt, der ind ewige Leben reicht, 
Sollte denn aber bad decretum iustificationis in deo mutabile 
ſeyn? Wie Gott die Wiedergeburt vorausfieht, fo auch 
den Berinf und die iirnenerung, wie's fommt, Die Wahr 
beit der Idee kommt dach in ber Wirklichkeit nur in 
Bruchtheilen vor, und mit ber Wirklichkeit des Menſchen, 
wie er iR, und ber Macht des Böfen muß man ed eben 
fo genau nehmen, ale man fi hüten muß, die Kraft 
Gottes und Macht Ehrifti in dem Wiebergeborenen unter 
den Begriff eine® perpetuam mobile zu ftellen, das immer 
noch nicht vealifirt if. 

Als Reſultat möchte ich wohl in Schletermacher’s 
Sormel (der chriſtl. Glaube G. 111.): die Sünden derer 
im Staube der Heiligung bringen ihre Vergebung immer 
ſchon mit ſich und vermögen nicht bie göttlihe Gnade 
der Wiedergeburt aufzuheben, weil fie fhon immer ber 

Theol, Stud, Jahrg. 1847. 27 


396 Nupprecht 


rampft werden — bie Wahrheit der Idee ſinden, um 
der Wirklichkeit willen aber fo fagen, daß bei aller Wahr, 
fcheinlichteit des Sieges doc; bie Möglichkeit ber Nieder⸗ 
lage gefegt werden muß, und die Sünden ber Wieder 
geborenen den Gnadenflaud nicht aufheben, fofern fl 
ſofort befämpft werben. 


2. 


Die Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 
Matth, 20, 1- 16. | 
Von j 
Sobaun Matthäus Nuppredt, 
Pfarrer zu Kroͤgelſtein in Bayern. 


Su den ſchwierigſten Parabeln gehört wuflreitig Die 
Parabel von den Arbeitern im Weinberg, mad es hat 
dieſelbe fehr werfchiebenartige Deutungen erfähren, ohne 
daß jeboc ein befriebigended Reſultat erzielt worden 
wäre. Möge die nachfolgende Betrachtung derfelben ale 
ein Verſuch gelten, das Berkändnig der Parabel feinen 
Biele näher zu führen! 

Es geht derfeiden das befannte Geſprüch Ehriſti 
mit dem reichen Süngling voraus, ber fich am Ende trans 
rig entfernte, weil er fi um ſeines Reichthums willen, 
der fein Herz gefeffelt hatte, nicht zur Nachfolge Ehriki 
entfchließen konnte, mit welcher die vollſtaͤndigſte Selbit- 
verleugnung und Verzichtleitung anf alle irdifchen Güter 
verbunden war. Diefem gegenüber richtete Petrus bie 


die Parabel von den Arheiternim Weinberge. 397 


Srage an den Heren: Giche, wir haben Nies verlaffen 
und And dir nacgefolgt: was wird und dafür? Die 
Autwort anf biefe Krage findet ih Kap. 10, 28. in fper 
ciellee Begichung auf die Apoftel, und V. 29, in Bezie⸗ 
tung auf Wille, welche ſich zur Gelbfiverleugnung und 
unbedingten Rachfolge Chrifti eutichließen können. Die 
Jünger Chriſti waren aber damald noch in einem Zu⸗ 
Rande großer Unvollkommenheit und konnten fehr leicht 
in die Gefahr ded Rück⸗ und Abfalld fommen, wie ſich 
davon ein Beifpiel Ich. 6, 66— 71, findet und wie 
Iſchariot wirklich fpäter von den Zmölfen ausſchied, ober 
6 konnte bei ihrer Nachfolge wenigftend noch etwas fehr 
Unreined mit unterlaufen, wie die gleich (B. 20 ff.) fol- 
gende Unterredung mit den Kindern Zebebäi, fowie manche 
andere Stelle beweiſt, and ber hervorgeht, daß felbft Die 
Apoſtel immer an irbifche Herrlichkeit dachten, und wie 
endlich auch jene Frage bed Petrus nicht von Selbſt⸗ 
gefälligleie und Eigennutz frei gewefen zu ſeyn ſcheint. 
Daher ſetzte Chriſtus feiner Antwort die warnenben 
Worte bei: woAlol di Esovras zgW@ro: Eayaroı, xal Eayaroı 
zone. Was wollen diefe Worte fagen? Es beficht 
eine Anficht, nach welcher zoAlol die Bedeutung von 
„Rlle” haben fol, und dieß wirb damit gerechtfertigt, 
daß der Gegenſatz V. 30. ſchon allgemein heiße: Und die 
teten werden die Erften ſeya; daß V. 16. auch der 2. 
20. ſch ein bar beichräntend ausgedrädte Sau allgemein 
gefaßt werde; daB im Gleichniß auch alle Erften die 
Resten werden; daß nah Wahl nodlol auh Alle 
heiße, wie Matth, 20, 28. 26, 28. Aber — um mit dem 
Renten anzufangen — diefe Auffaflung von zoAlol ift 
keineswegs ſprachlich zu rechtfertigen; denn nicht einmal 
ol xoaaoi heißt Alle (vgl. Winer’d Gr. 4. Aufl. S.96.), 
geſchweige das Wort ohne ben Artikel, Auch an den bes 
zeichneten Stellen behält es feine gewöhnliche Bedeutung 
: 97 * 


398 Ruppredht 


Biele, da ſich dort keineswegs eine Andentung findet, 
wie weit fi die Kraft des Erlöfungstedes Ehrifli ers 
firedden werde, und wollte man bieß angebentet finden, 
fo würde gerade an diefen Gtellen dem Worte feine ge: 
wöhnliche Bedeutung zu vindiciren feyn, ba ja keineswegs 
die verfühnende Kraft des Blutes Ehrifti ſich über Alle er- 
ſtreckt, fondern nur über die Gläubigen (Joh, 3, 16. Gal. 
3, 21.). Ebenſo iſt auch an nnferer Stelle nicht von 
dem Quantum die Rede, fonbern bloß der Gegenſatz, 
der zwifchen den vielen Berufenen und wenigen Auder- 
wählten ftattfindet, zu berüdfichtigen. Was fobann Die 
Parabel betrifft, fo verfteht fich von ſelbſt, daß in derſel⸗ 
ben alle Erfien die Leiten werben, da ja nur ein Bei 
fpiel gegeben werben follte, wie die Erften die Legten 
nud die Lehten die Erften werben können, alfo von einer 
Ausnahme in der Sleichnigerzählung gar nicht die Rede 
zu feyn braucht, Daher iR auch der Ausfprud V. 16, 
keineswegs dem Sinne, ſondern nur deu Morten nad 
von B. 30. verfchieben, und iſt eben fo geſtellt, weil er 
fidy ganz eng an die Parabel aufchließt, in weicher bloß 
von folhen Erften die Rebe ift, welche wirklich die Letz⸗ 
ten mwurben, und umgefehrt. Es kann alfo der Siun 
von B, 16. nur ber feyn: So faun und wird es geſche⸗ 
hen, daß die Letzten, d. i. Solhe, welche gegen Andere 
als die Leuten betrachtet werden müſſen, Erſte feyn wer, 
den, nnd umgekehrt. Was endlich ben Gegenſatz oder 
das zweite Glied iu B. 30. betrifft, fo iſt Har, daß aus 
dem erften Gliede zoARol hinzugedacht werden muß, wie 
auch im Deutfchen, wenn wir fagen: Biele Erſte aber 
werden Letzte feyn, und Lebte Erſte. Und dieß iſt auch 
der einzig richtige Sinn diefer Worte, wie ſich auch aus 
der Bergleihung diefed Ausſpruchs bei Lukas (13, 
30.) ergibt, eine Stelle, au welcher nach dem Gonterte 
noch mehr als hier der Ausſpruch im allgemeinen Sinue 


bie Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 399 


zu erwarten wäre, und wo er bennoch in diefer Form 
Reht: zul I80B, slaiv Fayaroı,, ot Esovrzs zgwroı, xel clot 
zg@r0:, ol Edovras Eoyaroı, denn wenn auch bei Lukas 
biefer Ausſpruch bei anderer Gelegenheit gebraucht ift, 
fo flieht er doch in feinem andern Sinne, und dient daher 
fehr zur Erflärung des Sinnes, den diefe Worte an uns 
ferer Stelle haben. Dieß wird auch Mar, wenn wir bie 
Beziehung dieſer Worte an unferer Stelle ind Auge 
faffen. Es find nämlich diefelben mit deutlicher Bezie⸗ 
hung auf die Apoſtel gefprochen, welche ald die Erften 
in der Nachfolge Ehrifti erfcheinen, und fomit als dies 
jenigen, weldye das erfte Anrecht auf die ausgefprochenen 
Verheißungen hatten, und auf den Jüngling, der ja auch 
noch ſeine Liebe zum Neichthume verlieren und zur Theils 
nahme am Reiche Gottes gefchict werden konnte, fo daß 
er dann, wenn bieß wirklich gefchah, gegen die Apoftel 
als Einer der Zayaroı angefehen werden mußte, während 
er bei der Ertheilung des Lohnes unter die zpwroı fon 
men kounte =). Papt für diefe Beziehung der Worte 
auch noch die Bedeutung Alle für zoAol? Mit welchem 
Rechte man aber diefe Hoffnung in Beziehung auf ben 


ı) Wimmer in feiner trefflihen Abhandlung über Matth. 19, 
16-22. in den Stud. u. Arit. 3. 1845 H. I. fagt hierüber: 
„Infofern aber der Vorſchlag Jeſu auch in den Charakterfehlern 
des Jünglings Grund und Halt fand, mußte er einen Stachel in 
der Seele deſſelben zurüdtaffen, durch den feine bisherige Selbſt⸗ 
jufriedenbeit zerſtoͤrt und fo die Möglichkeit einer künftigen Eins 
nesänderung vorbereitet ward, daher ſich auch ber Züngling nicht, 
wie es fonft zu gefchehen pflegt, wenn fidh Jemand eben gegen bie 
Mahnung bes Buten für bas Beharren in feinen Fehlern entichieben 
bat, in @rbitterung und Haß ober mit Spott unb Hohn, fondern 
betrübt von Jeſu entfernt, ein fichtliches Zeichen, daß mit der 
Verwerfung bes Buten ber Kampf in feinem Innern noch Feines» 
wege geenbigt war.” 





400 Rupprecht 


reichen Jüngling unefprechen darf, wie wenig er troß 
feiner Liebe zum Reichthume dem Reiche Gottes ferne 
ftand, das beweift feine fihtlich ernft und redlich gemeinte 
Frage; das beweilt feine Traurigkeit, ald er eine Bedin⸗ 
gung hörte, deren Erfüllung zur Erreichung feines Wun⸗ 
fches ihm unmöglidh fchien; das liegt endlich in dem 
Ausdrude: Aydımdev adrdv, welchen wir von ber Stims 
mung Jeſu gegen diefen Süngling in der Paralleiftelle 
Marl. 10, 21. finden, fo wie in den Worten: xzapk di 
ed advra Övvord (B, 26.) — advra, alſo auch die Herzen 
zu Ienfen, von den Banden, die fie gefangen halten, zu 
befreien und für das Himmelreich gu gewinnen. 

An jene Worte der Warnung nun fchließt fidh deut: 
lih die Parabel ald Erläuterung an, wie aus dem 
ydo V. 1. (vgl. über die Bedeutung deſſelben Winer’s 
Gramm. 4. Aufl. $.57,4.6. 414. und ©. 417.) und aus 
den Schlußworten V. 16. obrooç — Eayaroı hervorgeht; 
und indem wir an die nähere Erklärung des Inhalts 
ber Parabel im Einzelnen gehen, müflen wir und das 
Necht vorbehalten, die parabolifche Erzählung an und 
für fich ohne genaue Ausdentung der einzelnen Züge zu 
betrachten, wie dieß auch bei andern Parabeln, 3.8. bei 
der vom ungerechten Haußhalter, nöthig if. 

Es wird und ein Hausvater vorgeftellt, welcher mit 
Tagesanbruch (&ua goal) ausging und um einen ber 
flimmten Lohn Arbeiter in feinen Weinberg miethete, 
Später ging er wieder zu verfchiebenen Tagedftunden 
aus, fand jedesmal Leute müßig fichen und fchidte fie 
auch in feinen Weinberg, jedoch bloß mit dem Verſpre⸗ 
chen, ihnen zu geben, was recht fey; denn dem ganzen 
Taglohn konnten fle ja nicht mehr erwarten, da fie nicht 
gleih am Morgen in die Arbeit eingetreten waren. Daß 
fie ohne Widerrede der Aufforderung folgten, beweilt, 
daß es ihnen darum zu thun war, Arbeit zu befommten 


die Parabel von den Acheitern im Weinberge. 401 


(Or obdsig Aus iscdaisaro) nnd baß fie Dem Worte 
bes Heren trauten und erkannten, daß fle keinen Anfprach 
auf den Taglohn zu machen hätten. Als der Keierabend 
kam, befahl der Herr des Weinberge, daß zuerſt biejenis 
gen ihren Lohn ausbezahlt erhielten, welche zuletzt in die 
Arbeit eingetreten waren, und ließ ihnen ben ganzen 
Zaglohn ansbezahlen. Da nun die Erfien an bie Reihe 
famen, welche den ganzen Tag gearbeitet, meinten fie, 
fie würden mehr empfangen, und murrten ber ben 
Handherren, da fie ſahen, daß fie auch nicht mehr em⸗ 
pfingen, als jene. Der Herr aber fagte ihnen, daß ihnen 
nicht Unrecht gefchehe, da fie ja den ausgemachten Lohn 
erhielten; überdieß flehe es ihm ja frei, fein Eigenthum 
zu verfchenten, wie er wolle, und er fey vielmehr für 
feine Güte zu preifen, als für ungerecht zu halten. 

Der Hauptgedanke, der durch diefe Parabel verans 
fhaulicht werben fol, ift der, daß in Beziehung auf bie 
Theilnahme an den Gütern nnd Gegnungen des Hims 
melreihd vor Gott Fein Verdienſt gelte, fondern daß 
Alles, was an den Menſchen gefchieht, ein Werk ber 
freien Gnade Gottes fey, 

Es werden nämlich bier die Menſchen nach ihrer 
Beziehung zum Reiche Gottes, und infofern 
fie für diefen ihren himmliſchen Herrn thätig 
oder unthätig find, dargeſtellt. Im erfteen Kalle hei» 
Ben fie Zpydraı iv cm duzsiamı, im audern Kalle sarürss 
tvrd dyopg apyol. Unter dem „Warkte” ift demnach nicht 
die Welt zu verfichen, da andy bie in weltlichen Dins 
gen fleißigſten und. eifrigften unter dieſe Mäßiggänger 
gehören können, fondern der Markt ift vielmehr nur im 
Allgemeinen Bezeichnung ded Orts, wo bie müßigen Leute 
berumfichen, und die Redensart iaravaı dv ij dyogd 
Gpyods ald Bezeichnung derer zu faffen, welche in Ber 
jiehung auf Das Himmelreich noch nichts gethau 


402 Aupprecht 

haben, noch von rein weltlichen Sefluuungen voll ſind, 
noch für rein weltliche Zwede leben, gegenüber den Ars 
beitern im Weinberg, d. i. denen, welche fich bereite dem 
Dienfte Gottes ergeben haben, bie eine göttlihe Gefln- 
nnng in fih tragen und fih auch in dem zeitlichen Bes 
eufögefchäften burch Diefelbe leiten laſſen, alfo in dem 
Sinne fi dem Himmelreihe zugewendet haben, der fich 
in Stellen ausgedrückt findet, wie Matth. 6, 10 11. 38. 
Phil. 3, 20. 1 Thefl. 5, 17. 

Run zeigt fih die Gnade ſchon in der Berufung 
zur Arbeit im Weinberg. Zwar ift hier von einem gu- 
08000da: der erften Arbeiter die Rebe; aber bie widers 
ſpricht diefer Annahme nicht. MicDodcdea: heißt: um Lohn 
miethen oder pachten. Wie geichah das? Der Hausherr 
bot den Leuten, die er fand, Arbeit an, uud verfprach ihnen 
einen befimmten Lohn dafür, welcher Antrag dann von 
denfelben angenommen wurde (Ovupunicag xri. B. 2.). 
Wir fehen fo in dieſem Ausdrud einen deutlichen Fin- 
gerzeig auf jene Frage des Petrus und deren Beautwor⸗ 
tung 8. 19, 27—29. Bir fagen nun zwar nicht: „bie 
erftberufenen Arbeiter find Die Apoftel”, denn im ſtreng⸗ 
fin Sinne wäre auf fie dad moddcacsdeus nidt ans 
wendbar gewefen; aber wohl behaupten wir, daß, durch 
jene Frage veranlaßt, der Herr ein Gleichnig wählte, von 
dem die Apoftel die Anwendung auf ſich maden konnten; 
denn fie hatten ja auf die Frage: Was wird und dafür? 
die Verheißung eines beſtimmten Lohues erhalten. Damit 
ſteht aber nicht in Widerfpruch, wenn wir fagen, daß bie 
Berufung der Apoftel felbft ein Gnadenwerk war, denn es 
hatte ja auch die Berheißung des Lohnes keinen Grüund in 
einem, weun anch erſt zu erwerbenden, Berdienfle, wie ber 
Ausgang der Parabel zeigt und wie — was wir gleich 
al& weitere Anwendung des &EsAHsiv des Hausvaters ans 
geben können — alle diejenigen befeunen, welche bie auf 


die Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 403 


den heutigen Tag wahre Blieder bed Himmelreichs gewors 
den find, indem diefelben wohl wiſſen unb zugeben, Daß 
fie une durch Gottes Gunade geworben find, was fie ſiad 
(1 Kor. 15, 10. Job. 6, 44. 65. ıe.); und daß ihnen Bott 
feinen Lohn ſchuldig if, daß fie vielmehr nur ihrer urs 
fpränglichen Beftimmung gemäß Ichen, wenn fie „Arbeiter 
im Beinberg” find, und daß vielmehr fie foldhe Arbeit 
dem Herrn, ihrem Sort, ſchnldig find. Dieß tritt 
befonder® bei denen fiark hervor, welche unter die fpäter 
Berufenen gehören, denn Soldye müfjen ed ald eine beſon⸗ 
dere Gnade betrachten, daß fie nur noch gerufen wurden, 
und alfo noch einen Lohn erhalten follen, den fie um fo 
mehr der Gnade Gottes anheimftellen werden, je fpäter 
fie in die Arbeit im Weinberg eingetreten fiub, je länger 
fe ald „Müpiggäuger am Marfte geftanden” hatten, je 
weniger fie alfo im Stande find, fich ein Verdienſt zuzu⸗ 
meflen — 5 iv 4 dlumov, den Suiv (B. 4). Wer find 
aber die fpäter Berufenen? oder mit andern Worten: 
was haben wir unter ber Bernfuug gu ben verſchiede⸗ 
nen Stunden au verfichen? 

Dier müflen wir und gleich von vorn herein gegen 
jede Annahme alttefamentlicher Zeitperioben verwahren, 
da die Baaıkela row obgavav (B.1.) im nenen Teflanente 
nie und nirgends anders, als mit der Erfcheinung Chriſti 
anf Erden beginnend gedacht wird, und alle Gleichniſſe, 
welche ſich auf Diefelbe beziehen, von dem durch Chris 
Rum gegründeten Reich Gottes, nicht von ber Zeit 
der Borbereitung anf Daffelbe zu verfichen find. Sollen 
aber beſtimmte Zeitmomente für jede der genannten Tages⸗ 
Aunden angegeben werben, fo wird eine ſolche Angabe, fo 
lange wir bei der hiftorifchen Beziehung der Parabel bleis 
ben, nicht möglich ſeyn, fowdern wir werben vielmehr aus 
nehmen müſſen, daß zwar diefe Angabe beflinmter Gtuns 
den in ber parabolifchen Erzählung nothwendig fey, bei 





404 Rupprecht 


der Buwenbung aber aus im Algemeinen auf Die zwiſchen 
ben Beginn der Arbeit (agad) und das Ende Derfelben 
oder den Eiutritt der Lohnertheilung (dıblag Yyavonduns) 
fallende Zeit gebentes werde, ohne daß gerade eine gewiſſe 
Anzahl und beflimmte Zeitmomente angenommen werden 
müßsen, indem eben nur von foldyen Menſchen Die Rede 
fey, welche nicht fo frübzeitig als die Apoftel, fondern erft 
ſpätet fi dem Neiche Gottes zuwandten oder zuwenden 
würden. Und daß dann auf Solche das Wort des Herrn: 
6 div I Olzasov, dcr Upiv — anzuwenden ift, kann bloß 
in dem Begenfage zu jenem beftimmt ausgeſprochenen 
Lohne (K. 19, 28.) feinen Grund haben. 

Es fragt fih aber, ob man überhaupt diefe hiſto⸗ 
riſche Beziehung beibehalten dürfſe. Thut mau dieß näms 
lich, fo entfliehen Schwierigkeiten, deren Löfung nicht wohl 
möglich feyn möchte. Jedenfalls muß dann die Zeit, in 
ber dad V. 8 ff, vorgeht, auf den jüngfien Tag bezogen 
werben. Hierbei entficht aber zunächft dad Bedenken, 
daB ja die Apoſtel nicht bie zum jüngften Tage in ihrer 
Wirkſamkeit ſtehen, fondern längſt fchon von ihrer Arbeit 
abgerufen find, was auch von jeder Gattung der fpäter 
Berufenen gilt, während doch nach der Parabel Alle bie 
zum Abend arbeiten. Sodann iſt gar nicht abzufeben, 
inwiefern ein Uinterfchied, wie ber in des Parabel an⸗ 
gebeutete, swifchen jenen erften und zwilchen fpäter le» 
benden Jüngern flattfinden könnte. Es muß alfo eine 
andere, als die rein hiftorifche Beziehung geſucht werben. 

Da wirb nun einerfeitd angenommen a), „baß die 
frühere oder fpätere Berufung nur Rebenfache und Hülle 
einer darin verborgenen Wahrheit” fey, indem man 
„nicht fowohl den Außeren Linterfchieb einer längeren oder 
fürgeren Gemeinſchaft mit Jeſu, als vielmehr das lirtheil 


a) So von Fisco, die Parabeln Jeſu. 


die Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 403 


ber Menfchen über ſich felbft, Ihren Werth und ihre Ver⸗ 
dienklichkeit zu verfichen” habe, woraus Dann freilich wit - 
Rothwenbigkeit die oben beſprochene Bedeutung des 
z0Mol, für „Ale, folgen würde, da in denen, welde 
zuerft in den Weinherg eintraten, alfo am längſten ars 
beiteten, „der Mangel an Berteauen und Anſpruchloſig⸗ 
feit,”” in den zuletzt berufenen Arbeitern „bad Vorhanden⸗ 
ſeyn diefer Tugenden dargefiellt wäre. Aber abgefehen 
davon, daB dann die mittleren Stunden völlig müßig da 
ſtänden, werden auf diefe Weiſe diefe fo ſtark hervortre⸗ 
tenden Züge des Bildes gar zu fehr in den Hintergrund 
geheft und, man möchte faft fagen, verflüchtigt, ale daß 
man fich zu diefer Annahme ohne Zwang entfchließen 
könnte. Auch wird dann nöthig, „anch die Austheilung 
des Lohnes ſelbſt nur ale Hülle einer Wahrheit” zu bes 
trachten, und ed wäre diefelbe „und die dabei vorkom⸗ 
menden Reden nur Form, durch welche offenbar werben 
fol, welche Gefinnung dem Herrn des Weinbergs an 
feinen Arbeitern am meiſten gefällt, welche er vorzugs⸗ 
weife begnabdigt, und wie gerecht und gütig er dabei vers 
führt.” Wollen wir aber auch die Annahme einer folchen 
„Form' oder „Hülle einer Wahrheit” in Beziehnng auf 
die bei der Austheilung des Lohnes vorkommenden 
Reden gelten laſſen, fo ift doch ber Ausdruck dblag 
de yevonkung zu begeichnend und ſtark hervortretend, ale 
daß er bloße Ausmahlung der Erzählung feyn, und nicht 
eine Hindeutung auf einen beſtimmt eintretenden Zeit⸗ 
punkt enthalten foflte, fo wie wir auch die Austheilung 
des Lohnes nicht ald Hülle einer Wahrheit zu erkennen 
vermögen, fondern vielmehr darin die Hinweifung auf 
eine wirklich eintretende Thatfache fehen. IR doch auch 
in jener Berheißung (19, 28.), mit der unfere Parabel 
in fo enger Verbindung flieht, eine wirkliche Lohnerthei⸗ 
lung zugefagt und ein beflimmter Zeitpunkt angegeben, 


28 Buppredht 

und feibſt B. 29., wo die Worte: SInarovrauiaulove 
Adbsras, zu dem Lohne gehören können, ben „jede Thä- 
tigfeit für Gott in feinem Weinberg unmittelbar mit fü 
führt nnd den alle feine Knechte ſchon anf Erden ſchme⸗ 
den”, befonderd wenn man bie Barallele Marf. 10, 30. 
und uf, 18, 30. damit vergleicht, wo ausdrücklich dv zu 
suoc vovzo babei fieht, fehlt doch nicht die Hinweifung 
auf deu zu einem beſtimmten Zeitpunkt eintretenden Lohn 
in den Worten: xal form aldwıov zAnpovounias (vergl. 
die Yarall.: xal iv ro alämı rö koyontvo Gary aldwıov). 
Eben fo mißlich ift aubererfeitd die Annahme, daß hier 
die Berfchiedenheit ber Zeit angebeutet fey, in welcher 
die Berufung zur Gemeinichaft Ehriki an ganze Voͤlker 
ergebe, da hiervon bie fchon gemachte Bemerkung gilt, 
daß ia in diefem Kalle in der früheren oder fpäteren Bes 
rufung fein rund eines Borzugs oder einer Zurückſetzung 
läge, und auch offenbar nicht von gauzen Maſſen, fon 
dern von einzelnen Menſchen bier die Rede iſt; oder daß 
anf die Kindheit, die Tugend, das Mannes und bed Breis 
“ fenalter hingedeutet werde, denn wollte man auch ben 
Eintritt deffen, was von B. 8. angefagt ift, auf die Zeit 
des Todes beziehen, (was ja in diefem Falle gefchehen 
müßte, da hier auch ben verfchiebenen Stunden wieder 
ihre beftimmte Beziehung gegeben: ift), fo müßten ja noths 
wendig alle Berufenen das Greiſenalter erreichen, da fonft 
wieder eine große lingleichheit heraus kaͤme und nicht von den 
Erkkbernfenen gefagt werden lönnte, fie haben den ganz 
zen Tag, und ihnen gegenüber von den ketzten, fie haben 
nur eine Stunde gearbeitet! 

Diefe Erflärungen alle laſſen fi fo wenig halten, 
als die rein hiftorifche Beziehung der Parabel. Wir wen- 
ben un® daher zu folgender Betrachtungsweife. 

Petrus hatte gefagt: Wir haben Alles verlaffen und 
find dir nachgefolgt, d. h. wir haben bir aflen unjeren 
Beſitz aufgeopfert und unfer ganzes Leben dir geweiht: 


die Yarabel von ben Arbeitern im Weinberge, 407 


was wird und bafür? unb der Herr hatte ihm ſammt 
den Äbrigen Jüngern eine herrliche Belohnung zugefagt. 
Eine Hinweifung darauf haben wir bereitö im Aufauge 
unferer Parabel gefunden, Run fagt der Herr weiter: 
Andere kommen erſt fpät zu dieſem Entichlufle, erſt im 
der dritten, fechöten, nennten ober gar elften Stunde — 
der Weltzeit? oder des Menfchenalterö? Nein, der 
Lkebenszeit! Denn wir verfiehen das nicht im ber eben 
- ah zurüdgewiefenen Weiſe von allgemein gültigen. Zeit 
befimmungen,, ſondern wir laflen für die verfchiebenen 
Zageöflunden nur eine relative Beſtimmung au, je nach 
der Lebensdauer der Einzelnen. Als Auhaltöpunkt dient 
und dabei die elfte Stunde, welche nad der damaligen 
jüdifhen Tageseintheilung bie nächſte vor ber lebten 
Stunde, alfo in Beziehung auf die Lebensdauer eine 
Menfchen die nächfle Zeit vor dem Tode it, fo baßalfo 
z. B. der befehrte Schädher am Kreuze unter die Glafle 
ber Arbeiter gehörte, welche bid zur elften Stunde mäßig 
am Markte geftanden hatten. Hieraus gebt freilich her⸗ 
vor, daß Riemand willen kann, auf weldhe Stunde der 
Zeiger feiner Lebensnuhr weifet; aber befto erwecklicher if 
eben für Seben diefe Bleichnißrede, da ja Niemand wife 
fen kann, ob nicht feine elfte Stunde fchon geichlagen 
hat, Auch iſt eine genaue Berechuung und Beſtimmung 
der übrigen Lebendftunden nicht nöthig, da Die genannten 
Stunden nur beifpielöweife angeführt And, indem eben 
fo gut die zweite, fünfte, flebente Stunde genannt ſeyn 
könnte, ohne daß der Sache dadurch Eintrag gefchehen 
wäre, Nur bei diefer- Annahme iſt es möglich, eine paſ⸗ 
fende Anwendung ber einzelnen Züge des Gleichniſſes zu 
finden, welche, weun fie auch feine genaue, bis ins Ein» 
jelne gehende Ausdentung zulaflen, doch gewiß ihre 
beſtiumte Bedeutung haben, Zwar fcheint bei biefer 
Auffaffung das Apa zgmi, welches offenbar eine hiſtoriſche 





308 Kupprecht 


Beſichung hat, nicht im dAs rechte Berhältwiß gu den 
Darauf folgenden verfchiedenen Stunden zu treten, 
wenn dieſe verfchiebene Momente der Kebendgeit bezeich- 
nen follen; «ber man bedenke nur Folgendes: Zuerſt 
mußte nothwendig mit der Erfcheinung Ehrifi dad Him⸗ 
melreich gefchichtlich im die Welt eintreten; nachdem es 
aber ba war, trat eö außer feinem gefchichtlichen Fort⸗ 
fehreiten auch gu jedem Einzelnen in Beziehung, ber ſich 
4m zuwaudte, was in Den verfchiebenften Lebensperioden 
geicheben konnte. Ja wir ldanen fagen, feitbem das 
HSimmelreich in wie Welt eingetreten ift, bezwedt bie Dre 
digt des Evangeliums gerade, ed da und dort den Ein⸗ 
zelnen nahe zu beingen, welche dann als Einzelne ober 
durch befondere Guadenwirkung Gottes in größeren Maſ⸗ 
fen in den verſchiedenſten Tebensaltern fich demſelben zu: 
wenden. Nachdem nun Ehrikus, der auch ſchon Kap. 19, 29. 
neben den Apoſteln feine fpäteren Nachfolger ins Auge 
gefaßt hatte, im Blicke auf diejenigen, welche gleich bei 
der erfien möglichen. Anerbietung des Herrn Folge 
geleiſtet hatten (Kap. 19, 27.), und dem reihen Iünglinge 
gegenäber das öbsideiv äua om zri. des Hausherren aus⸗ 
geſprochen hat, führt er, an diefed Aue zgwl antuüpfend, 
die paraboliſche Erzählung dadurch weiter fort, baß er 
4m Bhide auf den reichen Jungling und fpätere Nachfol⸗ 
ger auch Meätere Tagesſtunden erwähnt, ohne daß diefe 
eine weitere hiftorifche Beziehung zu haben brauchen, fon» 
dem fo, daß darin nur praktiſch anwendbare Winke für 
alle diejenigen enthalten find, an weiche auch noch ber 
Ruf zur Urbeit im. Weinberge ergehen würde, ber aber 
andy, wie e6 bei jenem reichen Jünglinge der Fall war, 
das erſte Mal und wohl audı öfter ohne Folge bleiben 
fann, in weldem Falle dann die Parabel nach die er: 
weiterte Anwendung zuläßt, daß der Ruf bes Herren audı 
m ein und daſſelbe Individuum wiederholt, zu verſchie⸗ 


die Parabel von ben Arbeitern im Weinberge. 408 


denen Stunden (der Lebenszeit deö Gerufenen) ergehen 
fann, bie ihm endlich Folge geleitet wird, Diefe Auf⸗ 
faſſung der verfchiebenen Tagesſtunden wirb auch begün⸗ 
ſtigt durch Die Art, wie bie fpäter noch in den Weinberg 
Eingetretenen bezeichnet werben, indem er ſie £ararag 
ev vjj dyood deyods nemmt, was doch unmöglich von Sol⸗ 
chen gefagt werben kann, welche fpäter als bie Apoſtel 
lebten, wohl aber vom denen, die ſich erſt in ihren 
fpäteren Lebensjahren dem Reiche Botted zuwandten. 
Ein ſolcher Wechſel des Bebentung der Bilder einer Par 
rabel findet fich auch Kap.22. und Eut.14; denn Matth. 22, 
10 €. und Ent. 14, 21 ff. verliert ſich fihtlich die hiſto⸗ 
tifhe Beziehung, welche in ben vorhergehenden Verſen 
unleugbar vorwaltet. 

Es Bleibt nun noch die Frage übrig, ob bei Der 
praktiſchen Anwendung ber Parabel nicht auch das Ay 
008 feine Stelle finde. Died kann allerdings gefchehen, 
wenn wir es nach der biöher befolgten Erflärungsweife 
von ber erſten Zeit des Lebend, der früheſten Kindheit 
verfichen. Wir werben es dann auf Solche beziehen mäf 
fen, welche etwa dem Samuel oder Johannes Dem Täus 
fer gleichen, die von Kind anf Diener des Herrn waren, 
der dem Timotheus, wenn man nach 2 Tim, 3, 14, 16. 
auf deſſen geifligen Zuftand, wie er von Kindheit an 
war, fchließen darf; oder, um aus der neuern Zeit Bei⸗ 
fpiele zu nennen, auf Beute, wie Zinzendorf und Gpener, 
von denen man fagt, daß fie nie aus der Taufgnade ge 
fallen feyen; oder auf Solche, welche fehr frühzeitig ſtar⸗ 
ben, aber fon von ihren früheften Kinberjahren an 
deutliche Beweiſe außerordentlicher Gnadenwirkungen an 
ihrem Geiſte und Derzen gegeben hatten, an weicher Art 
Beifpielen es nicht fehlt. Wollte man dabei bas uıchd- 
6e6dm urgiren, fo’ tönnte die wohl — in ähnlicher 
Weiſe, wie die Anwendung davon auf die Apoſtel ſchon 





410 uppreiht . 


gezeigt wurde — auf die mit dem erſten Eintritte ins 
Himmelreich verbundenen Berheißungen bezogen werben, 
wie folche in dem Gacramente der Taufe liegen, während 
auf diejenigen, weldhe aus ber Taufgnade fielen und 
erft nachher, früher oder fpäter durch Buße und Glau⸗ 
beu wieder erneuert wurben, ber Ausdruck: 8 die Z Öl- 
zaov, dose Guiv — feine paffende Anwendung fände. 
Wir wenden und nun zur Betrachtung des zweiten 
Theils der Parabel, der von der Lohnertheilung handelt. 
Wir haben bereitd die Worte oͤplag yavopkung anf bie 
Zeit des Todes bezogen, da ber Feierabend des Lebens 
eintritt, und unterflüpen dieſe Anficht noch mit 2 Tim. 
4, 7. 8. Apot᷑. 14, 13. (dadovs), Enl. 16, 22 ff. 23, 43.; 
und fiher deutet audy die Stelle Matth. 25, 21. 23. 30. zu: 
nähft auf dieſen Zeitpunkt bin, was um fo glaublicher 
erfcheint, als dort bloß von dem, was die Einzelnen 
zu erwarten haben, die Rede if. Den bier erzählten 
Borgang auf den jüngken Tag zu verlegen, iR nicht nur 
durchans kein zwingender Grund vorhanden, fondern 
nach unferer biöherigen Betrachtung erfcheint diefe Ber 
ziehung auch nicht einmal ald angemeflen. Dieß erhellt 
noch mehr, wenu wir und der Frage zuwenden, ob bie 
erfigesnfenen Arbeiter nach der Darficlung V. 10 ff. ale 
vom Himmtelreiche ausgefchlofen betrachtet werden müfs 
fen. Diefe Frage erledigt fich von felbfi, wenn wir bes 
benten, daß hier von lauter wirklichen Arbeitern im 
Weinberge die Rede if, allo von Leuten, welche die Ver⸗ 
beißung eines Lohnes haben und ihn al6 Arbeiter auch 
empfangen müflen, während nur Diejenigen von jedem 
Antheile am Lohne ausgeſchloſſen bleiben können, welche 
bis zum „Ubend” mäßig am Markte fiehen dlei- 
ben. Es ik daher bier nur von einer Ertheilung des 
Lohnes die Rede, und feine Spur von einer Scheibung 
su finden, wie file am jungſten Tage eintreten wird. Auch 


die Parabel von den. Arbeitern im Weinberge. 411 


in Ösays (V. 13.) liegt dioſe Ausſchließung nicht, welches 
ſ. v. a. daögovcs vöv modöv aurav (Kap. 6, 2.) ſeyn Toll, 
wie fchon die Bergleichung mit B. 4, zeigt, wo bafleibe 
Wort in demfelben Sinne wie hier, bloß vom Weggehen, 
Sichentfernen, gebraucht wird. Eben fo Kap.16,23, und 
4, 10., wo die Üble Nebenbedentung nicht im Worte liegt, 
fondern durch dalsn uow ausgedrüdt iſt. In Umayps liegt 
alfo hier bloß die Abweifung des Unzufriedenen. 

Wenn nun aber nit von einer Ausſchließung von 
Himmelreiche die Rebe ift, fo fragt fih, was man. fidh 
bei önmeigso» zu denken habe, und wenn wirflich Seber 
feinen Lohn empfing, worin denn ber Unterſchied zwiſchen 
den Erften und Letzten lag. Ein dnvdosov war ohue 
Zweifel der damals gewöhnliche Tagelohn. Wir deuten 
nun diefe Münze fo wenig aus, als andere einzelne Züge 
der Parabel, welche wefentlich zum Ganzen ber Erzähr 
lung gehören, fondern finden bloß im Allgemeinen den 
Lohn dadurch angedeutet, und ſagen: fo wie in trdifchen 
Verhältniffen der Arbeiter nach der Arbeit feinen Lohn 
bekommt, fo hat auch der, welcher fein Leben dem Dienſte 
Gottes‘ weiht, die Berheißung eines Lohnes, wenn feine 
Arbeitözeit aus if. Und worin befteht derfeibe? Im 
Allgemeinen ift die Antwort fhon Kap. 19, 29. gegeben; 
wo al& dieſer Lohn das Erben bed ewigen Lebend ger 
nannt iſt; denn bad vorhergehende Sxarovraxiaciove 
imbsras, welches. nach Bergleichnng mit den Parall. mit 
Beziehung auf Das zeitliche Leben gefagt if, können wir 
niht dazu rechnen, da hier von dem Lohne die. Rebe 
it, der nad) vollendeter Arbeitszeit erft eintritt, Und 
diefen Lohn ſollen Ale, auch die Erfien, die zu Lege 
ten gemacht wurden, eshalten? Allerdings, weil fie Alle 
Arbeiter im Dienſte des Herrn waren; aber doch mit 
Unterfchied. Ein Uinterfhied in diefer Belohnung im 
ewigen Leben if fchon Kap. 19,28, 29. —— — Ein 

Theol. Stud, Jahrg. 1847, 


e.» 


412 Rupprecht 


folcher findet fig auch an anberen Stellen. Man vergl. 
3. B., wad Kap. 10, 41.42., Kap. 25,28. 29. gefagt iſt. So 
befonder® 1 Kor. 3, 14, 15. Hier heißt eö von dem Eis 
nen: noddv Ayyara, von dem Anderen: Insmdnissscs, 
adrög 05 sadııasru, obroo O wg dk wvodc. Es iſt Mar, 
baß B. 14. von einem befonberen Lohue die Rede ift, 
ben der Aubere verlieren wirb Cinmaodressar), während 
doc) beide mit einander gemein haben, baß fie dad ewige 
Leben haben ſollen (sodrceıras). Zwar könnte man ſa⸗ 
gen, diefer Lohn, ben der Erſte vor dem Anderen voraus 
bat, trete fchon in diefer Zeit ein; aber abgefehen Davon, 
daß dirfer Verluſt dem Anderen durch dem einigen Ge⸗ 
nuß des ewigen Lebens reichlich wieder erfegt wird, weiſt 
doch B.13. und der Ausbrud zavsi (B.14.) gar zu Deuts 
lich darauf bin, daß bier von einem Lohne die Rebe ift, 
Der wit dem jliugften Tage eintritt, deſſen Genug alfo 
ind ewige Leben fällt, Es mäflen Daher nothwendig bie 
jenfeitigen Zuſtände verfchiebene Stufen ober Grade ha; 
ben, oder wenn das nicht wäre, ſo müßte wenigſtens ein 
und derfelbe Zufand für die verfchiedenen Individuen ein 
verfchiedener feyn, je nad ihrer verfchiedenen geifigen 
Individualität. Doc erfcheint dieß Lebtere weniger an, 
nehmbar, ald das Erftere, da ja dann für die Einen der 
Genuß der Seligfeit ein unvollländiger, getrübter, alfo 
kein wirklicher Genuß der Seligleit wäre, während bei ber 
eriteren Annahme keinem Theile an feiner Seligkeit etwas 
abgeht, indem Jeder in feiner Sphäre volllommen felig 
feyn kann, Seder an feiner Stelle zur Berherrlichung bee 
Herren beitragen fann, ganz analog ber Berfchiebenheit 
ber Stände und Berufdarten in den bieffeitigen Berhält- 
niffen; denn Reid und Mißgunſt und Selbſterhebung fällt 
ja dort ganz weg, Liebe nnd Demuth befeelt Alle auf 
gleiche Weile. Auf eine Berfchiebenheit in den jenfeitigen 
Verhältuiffen deutet offenbar auch das bin, was wir ale 


die Parabel von ben Arbeitern im Weinberge, 413 


Aenßerung des Herrn gegen bie Söhne Zebebät (Matth. 20, 
23.) und in ben Berheißungen Apok. Kap.2, und 3. leſen. 
Ja unferer Parabel if das freilich nicht mir Beſtimmt⸗ 
beit ausgefprochen, aber es if doc, angebeutet, indem 
die Letzten zuerft belohnt werden — wodurch theile bie 
Bevorzugung berfelben, theild die Gnade ded Herrn 
deſto ſtärker und bentlicher hervorgehoben werben konnte, 
da hierdurch das darauf folgende Geſpräͤch veranlagt 
wird — und indem fie gleichen vollen Taglohn mit den 
Erſten erhalten, welcher ihnen offenbar mehr war, ale 
den Anderen, wie fich bieß auch in ber Aeußerung umb 
Klage (B. 10-12.) ausprädt. 

Fragen wir nadı dem Srunde, auf welchem biefe 
Zurädfegung ber zuerſt berufenen Arbeiter beruht, fo iſt 
derfelbe im ihrer Gemuthsbeſchaffenheit zu fnchen. Das 
eizev Ept abräv (B, 13.) weiſt dentlich auf die Frage des 
Petrus zuräd, welcher der Stimmführer für bie Abrigen 
Apoftel war, uud was wir bei der Betrachtung jener 
Frage ale Vermuthung andgefprochen haben, daß unter 
derfelben wohl Eigennu und Gelbfüberhebung, bem 
reihen ZJünglinge gegenüber, verborgen gewifen feyn 
mag, das wird hierdurch zur Gewißheit. Wie fchon bie 
Berufung zum Himmelseiche und bie Berheißung eines 
kohnes ein Werk der göttlichen Gnade it, fo auch bie 
Ertheilung des Lohne, Wie die Annahme der Berufung, 
diefelbe mag früher oder fpäter erfolgen, kein Berdienk 
begründet, fo ift and der Lohn Feine Belohnung eines 
Berdienfles, das man fi durch die Arbeit erworben 
hätte, fondern Gnadenlohn. Wie daher der Herr einen 
Kinderfinn als Bedingung der Thellnahme am Himmels 
reihe verlangt, fo wird Jeder, der fich demfelben zuge. 
wandt hat, deſto mehr Werth vor Bott haben, je Heiner 
er in feinen eigenen Augen geworben. Go exfcheint jene 
Frage des Petrus in einem ganz anderen Lichte, als daß, 

2* 


414 Rupprecht 


mas dem Mofes zum Rode nacgefagt wird, wenn ed 
von ihm (Hebr. 11, 26.) heißt: dæéasat yüo eig rim 
pioßanodoclev, denn dort finden wir den reinen Dlid 
auf den Lohn, weicher den treuen Kucchten beö Herrn 
verheißen ift, gegenüber dem glängenden, aber eiteln und 
vergänglichen Lohne, welchen der Geuuß der Belt und 
Sünde bietet, während Petrus fich mit Selbfterbebung 
jenem reihen Sünglinge gegenüberfichte, der fidy noch 
nicht zu dem entfchließen konnte, was die Jünger längf 
gethban hatten... Das if es auch, was durd das Ges 
ſpräch des Hausvaterd mit den erfiberufenen Arbeitern 
dargeftellt werden fol, und ed wird nur noch ald Mo⸗ 
tiv dieſes Berfahrend angegeben, daß ja der Hausherr 
mit feinem Eigenthume nach freiem Belieben zu handeln 
das Recht habe, und als Folge, daß demnach vielmehr 
feine Blüte zu preifen fey, wenn er unverdiente Wohl⸗ 
thaten erweife, ald daß man gu benfelben fcheel fehen 
bürfe, 

Nach diefer Darkkellung erhellt, daB man unter den 
murrenden Arbeitern (B.11.) nicht eigentlich Selbſtge⸗ 
rechte und Werkheilige zu verfiehen habe, da ja ſolche 
gar Seinen Lohn mehr zu erwarten haben ( .. .. modor 
ovx Eysrs zapd TO zarpL Uuhv ch Ev rois oügevoig und 
dxsyovdı röv ucddv auriv, Matth. 6, 1.2.5.16.). Es 
it vielmehr in diefer Darftellung bloß eine Warnung 
vor felblgerehten Gedanken enthalten; und fol 
len dieſe Arbeiter ja gewiffen Menfchen in der Wirklich 
feit entfprechen, fo find es vielmehr wahre, aber noch 
ſchwache, noch nicht bie zur völligen Demuth durchge⸗ 
drungene Chriften, wie die Apoftel damals waren (vgl. 
V. 20 ff. mit Mark. 10, 35 ff. 18, 1 ff. Luk. 22, 24 ff.). 
Somit finden wir in biefer Parabel eine Korderung ber 
Demuth und einen Preis der göttlichen Gnade. 

Nun bleiben aber noch die Schlußworte: zoAlo! yap 


bie Parabel von den Arbeitern im Weinberge. 415 


sic, aAzol, dAlyos.öb Exiexrol — zu betrachten übrig. 
a Diefen Worten fcheint auf den erften Blick eine Wis 
derlegung der bisherigen Erklärung zu liegen, benn fie 
fcheinen der Annahme, daß die erfibernfenen Arbeiter 
auh Theil am Himmelreiche haben, zu widerfprechen, 
Und wirklich kommen biefe Worte audı Kap. 22, 14. in dem 
Sinne vor, daß die dxdzxrol nur diejenigen find, die 
wirklich Theil haben, die Anderen aber, obgleich xAnzol, 
doch ausgeſchloſſen bleiben oder werden, Da aber bie‘ 
angegebenen Gründe hier die Annahme einer völligen 
Ausſchließung nicht zulaffen, fo bleibt nichts übrig, ale 
anzunehmen, daß dieſe Schlußworte eben nicht überall in 
einem und demſelben Sinne fiehen, fondern jedesmal nach 
dem Eontert erflärt werden müſſen a). Derfelbe Fall 
findet ja auch mit den Worten: zoAAol Esovraı zoeüror 
Eoyaros ara. ftatt, indem bei Luk. die Eayaroı im erften 
Gliede diejenigen find, melde aus den Heiden zur Ge: 
meinde Chriſti im Himmelreiche gefammelt werden, und 
im zweiten Gliede diejenigen, welche, urfprünglich dem 
Reihe Gotted angehörend, aus demfelben audgeftoßen 
werden (Uuds ÖE Exßailoutvovg Eo, B. 28.), weil ed 
dort der Bontert fo fordert. Demgemäß müffen wir auch 
in Beziehung anf die Schlußmorte fagen, daß nur dies 
jenigen unter den xAnroig als geradezu vom Himmelreiche 
ansgefchloffen betrachtet werben können, welche die Bes 
tafung ganz ausfchlagen, oder die nothwendige Bedingung 
nicht erfüllen, welche zur Theilnahme am Himmelreiche 
befähigt, wie beides Kap. 22. (V. 6f. u. V. IIf.) der Kal 
it, dergleichen aber in unferer Parabel nicht vorkoms 


a) Bat. Bengel in Gnom. ad h. voc.: Videtur hocloco, ubi,pri- 
mum occurrit, non omnes sulvandos denotare, sed horum ez- 
cellentissimos. 


416 Rupprecht, Die Parabel v. d. Arbeit, im Weinberge, 


men. Wir könden daher biefe Worte nur fo verſtehen: 
Denn Viele find zwar berufen (und haben ber Berufung 
auch Folge geleiftet), aber unter biefen Berufenen find 
Wenige anderwählt, zoüros zu feyn (ſ. das letzte Glied 
der dieſen Schlußworten vorhergehenden Sentenz), weil 
ſich Wenige vermöge ihrer geiſtigen Beſchaffenheit dazu 
eignen, wodurch noch am Schluſſe der ganzen Rede je 
nen, den Apofteln zur Warnung gefagten Worten (Kap. 19, 
30.) ein befonderer Fräftiger Nachdruck gegeben wird, 





Recenfionen 





1. 


Das Wefen des dhriftlichen Glaubens vom Staudpunkte 
des Glaubens dargeftelt von W. M.L. de Wette, 
Doctor uud Profeffor der Theologie. Bafel, Schweig⸗ 
häufer’fche Buchhandlung, 1846. 


Sa einer Zeit, bie dad nonum prematur in annum im⸗ 
mer mehr zu verlernen fcheint, in ber die Brofchürens 
litteratur zur Alles verichlingenden Sündfluth zu werben 
droht, aus eben diefem Grunde aber gediegene, zumal 
Ipftematifche Werke immer feltener werden, — muß in 
der theologifchen Wiffenfchaft jedes Erzeugniß ernften 
Sleißes und gründlicher Beobachtung willfommen feyn. 
Berdanfen wir ein ſolches Überdieß noch einem Manne, 
dem die Wiffenfchaft fchon längft den Ehrenfranz um das 
Haupt gewunden, der nach den verfchiebenften Richtuns 
gen hin Bedeutendes und Treffliches geleiftet, der fein 
ganzes Leben ernfter Korfchung und nie raftender Thä⸗ 
tigfeit geweiht hat, — dann haben wir in unferer Zeit 
ein doppelte Recht, daffelbe mit Freuden zu begrüßen. 
Dad Werk, dem wir diefe Anzeige widmen, fcheint und 
in vollem Maße einer folchen Begrüßung werth. Der 
Berfaffer deffelben hat einen allzu wohlbegrändeten theor 
logifhen Ruf, ale daß der Neid felbft ed wagen dürfte, 
denfelben anzutaften. Seit mehr als dreißig Jahren hat 
er auf den verfchiedenften Gebieten des theologifchen 
Wiſſens mit unermüdlichem Eifer geftrebt und gearbeitet. 








420 De Bette 


Als ein Mufter des Fleißes, ber Ausdauer und wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Eraftes hat er uns Jüngeren vorangeleuchtet, 
und felb da, wo ihm nur Wenige gefolgt find, hat er 
vielfach angeregt und beiehrt. Beine Eritifchen und exe⸗ 
getifchen Urbeiten legen das rühmlichfte Zeugniß ab, wie 
er nie flille geflanden, fondern das docendo discimus ſich 
zum Lebendmotto gewählt hat. Eine Darlegung feiner 
ſyſtematiſchen Anfhauung vom Chriftenthume hatte er 
and feit längerer Zeit verſprochen; und wer follte nicht 
mit Bergnügen und Ausficht auf reiche Belehrung nad 
einem Werke greifen, das die Refultate dreißigjähriger 
Dentarbeit in fi faßt und gleihfam die Summe aller 
biöherigen Leitungen darftellt ? 

Aber nicht nur, weil dad anzuzeigende Werk ben 
theolegifchen Lebensgang einer andgezeichneten Perfdus 
lichkeit gleihfam abfchließt, fondern noch mehr, weil es 
in die religiäfen Bewegungen der Zeit unmittelbar bins 
eingreift und *ben fo fehr dem kirchlichen Leben ale 
der theologifchen Wiſſenſchaft angehört, — nimmt ed 
unfere volle Aufmerkſamkeit in Auſpruch. Es feheint 
überhaupt bie Zeit immer mehr hinter nnd zu liegen, 
weiche die Wiflenfchaft ale etwas Abgefondertes vom Le⸗ 
ben betrachtete nnd der einen bienen zu können glaubte, 
während man das andere kaum beachtete. Das theolo- 
gifche Wiſſen und das kirchliche Leben find ſich gewiſſer⸗ 
maßen gegenfeltig zum Bedürfniſſe geworben; bie 
Refultate der Wiſſenſchaft wollen von der Kirche aner- 
Saumt feyn; die Kirche will ſich ihrer Lebenswahrheiten 
immer mehr theologifch bewußt werben. Das vorliegende 
Werk dient in der That beiden Zweden. Ohne allen 
wiſſenſchaftlichen Apparas iſt ed im runde fireug willen 
fchaftlich gehalten und kann auch, der fchönen und flie⸗ 
Senden Darftellung ungeachtet, nur von wiſſenſchaftlichen 
Theologen ganz verfkanden nnd geuoſſen werden, ohne 
darum für gebildete Laien unzugänglich zu feyn. Geinem 


bad Weſen des chriſtlichen Glaubens x. 421 


oberfien Zwecke nach aber will ed ber Kirche dienen, 
oder noch genauer audgebrädt: ed will den Aufbau einer 
neuen. proteftantifchen Kirche mit herbeiführen helfen, mach 
weldyer die edelften Menfchen der Begenwart fich ſehnen. 
Seinem Brundcharafter nach gehört dieß Werk mithin 
jener Vermirtelnden theologifhen Richtung 
an, weiche, durch den modernen Ratioualiönnd und Or⸗ 
thodoxismus gleich unbefriedigt, wiflenfchaftliche Tiefe 
und kirchliche Frömmigkeit zuſammenzufaſſen firebt and 
weniger eine Partei als eine Befinnung repräſen⸗ 
tirt, Referent bekennt fidy gern als einen Geſinnungs⸗ 
verwandten, womit nicht gefagt ſeyn fol, daß er in als 
lem Einzelnen mit dem Berfaffer Abereinftimmt, fondern 
nur, daß er in der Brundrihtung mit ihm eins iſt und 
eine höhere Bermittelung zwiſchen den Anſchauungen der 
Wiffenfchaft und den Bedürfniffen der chriftlichen Froͤm⸗ 
migfeit für die unerläßlihe Bedingung einer fchöneren 
kirchlichen Zukunft hält. 

Das vorliegende Wert hat demzufolge bei den relis 
giöfen und irreligiöfen Parteimännern unferer Tage auf 
wenig Gunſt zu hoffen. Es wird den einen nicht gläus 
big genug, nnd ben anderen viel zu gläubig feyn. Die 
einen werden fagen, es made dem Rationalismus ges 
fährlidhe Gonceffionen, die Anderen, es verrathe bie 
Wiffenfchaft an den Glauben. Entweder — oder: if das 
Kofungswort der Parteimänner, und wer fich ihnen nicht. 
ganz verfanft, den wollen fie gar nicht, 

Verſuchen wir ed zuerft, das Verhältniß dieſes 
Werkes zum Rationalismus mit deffen Nebenläufern, 
dem Pantheſsmus, Rihilismus u.f,w., darzuftellen. Der 
Berfaffer unterfcheidet mit Recht zwifchen dem „alten 
verflahenden” und dem „neuen auflöfenden 
Rationaliemud” (Vorwort), Zum erflieren hat er fein 
Verhältnis (F. 10.) ganz deutlich anseinandergefegt. Ins 
dem er Röhr nad Wegfcheider als feine Bewährsmänner 


422 de Wette 


nennt, bezeichnet er ihn als eine im beutfchen Volke fehr 
verbreitete dogmatiſche Dentweife, die weniger durch die 
neueren Richtungen Rberwunden, ale zum Stilſſchwei⸗ 
gen (9) und aus der Mode gebradit fey. Sehr gut wird 
dann ald Hauptfehler deffelben bemerklich gemadıt, daß 
er mit „anderwärtsd entlehnten Grnndſätzen und einer 
fhon abgefchloffenen Leberzeugung von dem, was Wahr⸗ 
beit fey, an das Ehriftenthum gehe.” Sagt jedoch ber 
Berfafler: die meiften anderen rationaliftifchen Irrthümer 
entfpringen aus einer einfeitigen, zu weit getriebenen Durch⸗ 
führung der natürlihen Anſicht: fo möchten wir 
umgelehrt fagen, biefe einfeitige natürliche Anficht ents 
fpringe aus jenem Hauptirrthume. Well der alte Ratios 
nalismus Natur und Vernunft zur primären, die Schrift 
zu einer bloß fecundären Offenbarungsquelle macht, fo 
muß daher die natürliche Anficht bei ihm vorherrſchen. 
Gegen die letztere Einfeitigkeit erflärt fich der Verfaſſer 
entfchieden, und er macht neben oder vielmehr über 
der matürlichen eine andere höhere übernatürliche 
Anficht geltend, die er die „gläubige” nennt. Darin 
ift er aber auch wieder gerecht gegen den alten Rationa⸗ 
lismus, daß er die natürliche Anficht nicht verwirft, ſon⸗ 
dern ihr ebenfalls ihre Berechtigung zuerfennt. „Beide 
Anfichten,” fagt er (S.61.), „müffen anerfaunt und audı 
der natürlichen im Bewußtfenn des Gläubigen eine Stelle 
gefichert werden, weil diefed mit dem übrigen Bewußt⸗ 
feyn in Einklang fliehen fol und unfer Geiſt auf beide 
Anfihten angewielen if.” Gewiß fehr richtig! Nur möch⸗ 
ten wir hier noch auf eine Schwierigkeit aufmerffam mar 
chen, welche der Rationalismne dem Berfafler entgegen 
halten wird. Wo fängt nämlich Die Übernatürliche Ans 
fiht an, und wo hört die natürliche auf? Und fönnen 
überhaupt fcharfe Grenzen zwifchen der einen und der 
anderen gegogen werden ? Haben wir den Berfafler rich, 
tig werftanden, fo läßt dDerfelbe Gegenſtand ſowohl die 


das Wefen des chriftlihen Glaubens ꝛc. 423 


natärliche,, ald die übernatürliche Anficht zu. Der Ratio» 
naliemus ift noch in der alten bualikifchen Weltanficht 
befangen, welche Gott und Welt zu Widerfprüchen macht. 
Da if dans das liebernatürliche der Widerfprud des 
Ratürlihen, und aus eben diefem Grunde unglaublich, 
Wenn ed and) der Ratioualidmud nicht gewagt hat, die 
Möglichkeit Übernatärliher Einwirkungen zu leugnen, 
fo ſucht er ſich doch anf jegliche Weiſe der Anerkennung, 
daß ed wirkliche gebe, zu entziehen. Es fcheint und 
ein großer Schritt zur Bermittelung zwifchen der alten 
und modernen Weltanficht gethan, wenn eingeflanden 
wird, daß „natärlich” und „übernatürlich” gar feine Wi⸗ 
desfprüche, fondern die Kormen bed Gegenſatzes find, 
unter dem alles Wirkliche zur Erfcheinung kommt. Denn 
ſtreuge genommen, reicht bie natürliche Betrachtungs⸗ 
weife nirgends aus, und nur der hausbadene Verftand, 
der jedes höheren Intereſſes entledigt it, kann ſich mit 
der Anficht begnügen, daß etwas. nach der hergebrachten 
Regel gefchehen fey. Der Berfafler bemerkt fehr fchön, 
„daß von jedem Punkte der Natur und deren natärlis 
her Betrachtung zur übernatürlichen Anfiht, von der 
Erfenntniß der Mittelurfachen zum Glauben an eine uns 
mittelbare göttliche Urſache aufgefliegen werden müſſe.“ 
Rihte kann ſich der religiöfen Betrachtung entziehen, 
airgends finden wir und durch Die bloß verfländige bes 
friedigt. Wir müſſen den Lefer felbft auf die Auseinan⸗ 
derfegung dieſer Anficht beim Verfaſſer verweilen; es 
fheint und aber wichtig, daß der Satz von der Identi⸗ 
tät des Ratürlichen und Uebernatürlichen recht gewürs. 
digt werde. Vielleicht hätte, da der Berfafler an einer - 
anderen Stelle noch anf den Deismus zu ſprechen kommt, 
die Berwandtfchaft deffelben mit dem alten Rationalids 
mus nachgewiefen werden können. Denn wenn and) die 
Rationaliften nicht „ale gefehichtlichen und kirchlichen 
Hälfsmittel und alle Gemeinſchaft verfhmähen,” wie dieß 


424 be Bette 


der Berfafler (S.373.) den Deiſten vorwirft, fo befchräns 
fen fie ſich doch gewöhnlich auf deu deikifchen Glauben 
„an Bott, Unfterblichkeit und ſittliche Bergeltung ,” und 
die große chriftliche Idee der Gemeinſchaft wird won ib» 
nen nicht gehörig anerlaunt. Das Abftraete, Leere, Un⸗ 
befriedigende, Egoiftifche der deiſtiſchen Weltanfiche if 
von dem Berfafler trefflich gezeichnet. 

Wie aber der Berfafler ſich entichieden von dem al 
ten Rationalismus losſagt, fo erklärt er ſich eben fo ent» 
ſchieden gegen den „Nihilismus von Gtranß u. |. m.” 
(Borwort), gegen den modernen Rationalidmnd und 
die falfhe Zeitphilofophie. Der moderne theologifche 
Radicalismus betrachtet befauntlich die Religion als eine 
bloß untergeorbnete Stufe des Denkens, das ih mod 
nicht zu Begriffen erheben kann, fondern bei bloßen Vor⸗ 
fteßlungen ftehen bleibt. Gonfequenterweife muß biefe An» 
ſicht baranf dringen, daß die untere Stufe durch bie 
höhere allmählich verdrängt werde und bie Menſchen ſich 
in Philoſophen verwandeln. Denn wozu im Rebel ber 
Meligion herumtappen, wenn man e6 im Sonnenfdheine 
der Philoſophie fo gut haben kann? Es it gewiß fehr 
erfreulich, daß der Verfaſſer das vwielbefprochene Berhälts 
niß von Philoſophie und Religion ebenfalls einer Bes 
ſprechung unterwirft ($. 3.) und die Anſicht, daß „eine 
philoſophiſche Erkenntuiß und Lehre von Bott den Glau⸗ 
beu entbehrlich mache, oder höher fiche ald diefer ,” ver 
wirft. Nach dem Berfafler kann die Aufgabe der Philo⸗ 
fopbie Feine anbere ſeyn, ald das Begebene zur Haren 
Erkenntuiß uud zwar für den Verſtand zu bringen. 
Sudem fie mit dem Berftande für den Berflaud arbeis 
tet, erbebt fie ſich nicht Aber den Glauben, fondern res 
fleetirt nur über deufelben, ober hebt ihn iu das ver 
Rändige Bewußtfeyn hervor, Weit entfernt alfo, daß 
der Berfafler dem Glauben im Berhältnifie zum Denken 
eine untergeorduete Stufe anmiefe, weiſt er demſelben 


daB Weſen des chriſtlichen Glaubens ıc. A425 


‚vielmehr eine übergeordnete au. Im Glauben ift ber 
religiöfe Inhalt gegeben; der Glanbe ift das fchaffende 
und bauende Element, Die Philofophie dagegen zerſetzt 
und „vermeint;” denn, fagt ber Berfafler, „die phi⸗ 
loſophiſche Gotteslehre geht nicht nur nicht über den Glau⸗ 
ben hinaus, fondern erreiht ihn nicht einmal; 
beun ihre Erkenntniß il nur verneinend, falfche Bors 
Relungen abwehrend, die Wahrheit reinigend; bie Glau⸗ 
benserkenntuiß hingegen if beiahend, die Wahrheit ſelbſt 
einfhließend.” Mit Recht warnt jedoch der Berfafler vor 
dem Borurtheile, daß Die Philofophie nur anf verneinende 
Ergebniffe führe; aber er Aimmt darin vollommen 
mit den Reformatoren überein, daß, wenn Die Philoſophie 
die Grenzen ihres Wiſſens und Korfchend überfchreite 
und Alles mit dem Berflande ausdenken und umfaflen 
weil, daun ihre Wirkung eine gerftörende werbe, Der 
Verfaſſer fcheint and hiernach ber Philoſophie in relis 
giöſen Fragen eine bloß formale Bedeutung beisulegen 
und ihre Thätigleit ſtreug hierauf beſchränken zu wollen. 
Damit erklärt er aber ber modernen gottfchöpferifchen 
oder vielmehr geottvernichtenden Weltweisheit offen dem 
Krieg. Auch wird ihm kaum ein Philofoph irgend einer 
Richtung beipflichten wollen. Die Philefophie wird bie 
gegen einwenden: auf eine bloß formale Mirkſamkeit dem 
Glaubensinhalte gegenüber befchränft, würde fie alle 
Selbſtändigkeit verlieren und wieder zur Schleppträgerin 
der Theologie werben. Deun die moderne Philofophie 
ſucht ihren hoͤchſten Ruhm darin, bauend und fchaffend 
su ſeyn und fie zählt ihre Emancipation von ber Theo⸗ 
logie zu iheen gelungenften Waffenthaten. 

Nichts deſto weniger beruht die Auſicht des Berfafs 
ferd auf Erfahrung. Die Xheslogie darf fih von der 
Dhilofophie nicht meiftern laffen, am allerwenigfien son 
der Philoſophie der Fleifchesemancipation und bed „Ef⸗ 
ſens, Trinkens und Badens.“ Diejenigen philofophifchen 


426 be Mette 


Anfchaunungen, welche Die neuere Zeit beherrfchen, find 
(mehr populär) beiftifcher oder (mehr mit wifjenichafts 
lichen Anſprüchen) pantheiftifcher Ratur. Beide find 
durchaus widerchriſtlich, weil fie nicht nur die Erfcheis 
nungsform des Ehriſtenthums aufheben, fondern auch die 
chriſtliche Geſinnung vernichten. Bon dem Pantkeidnnd 
fagt der Verf. fehr richtig (S. 374.), „daß er faſt gar 
feine Wurzeln mehr im Chriſtenthume habe und auf einer 
demfelben ganz entgegengefeßten Deuts uud Gefühle: 
weife beruhe.” Eben fo richtig ift feine Bemerkung, daß 
der Pantheismus fehr leicht zu einer gäuglichen firtlichen 
Zügellofigkeit führe, weil er alles perfönliche Bewußts 
feyn, aled Gemüthsleben durch feine auflöfende Dialektit 
zerftört. 

Wir künnen ſchon hieraus entnehmen, daß der Ber 
fafler feinen Standbpunft im Ölauben felbf nehmen 
will, und dadurch ift auch ber Titel bed Buches, wos 
nadı das Wefen des chriſtlichen Glaubens vom 
Staundpunkte des Slaubens aus dargeftellt wers 
den fol, volllommen gerechtfertigt. Der Berfafler bat 
fi die Aufgabe geftellt, die fupranaturalififche Anſicht 
zu vertreten, ohne ihre Eiuſeitigkeiten und Befchräntt: 
beiten zu theilen; ber Glaube ift ihm Hauptfache, das 
Weſen der Religion; nur müſſen wir darüber einig ſeyn, 
was der Berfaffer unter Blauben verſteht. 

Daß er mit dem Blauben nicht den Begriff der äl- 
teren Örthoborie und den neuern Orthodoxismus vers 
bindet: das läßt und fchon Die vermittelnde Richtung 
erratben, welcher der Berfaffer angehört. Schon im 
Borworte fpricht er fi gegen „den wieder ermachenden 
Scholaſticismus aus, welcher den glänbigen Gemüthern 
wieber alte, längit überwundene Menfchenfabungen und 
nufruchtbare Spihfindigfeiten aufbringen und den uufeli 
gen GSonfeffiondftreit von neuem anfachen wolle” Das 
bin gehört auch die Klage, „daß manche Prediger eifrige 


! 
\ 


das Weſen des chriftlichen Glaubens ꝛc. 4727 


und heftige Neugläubige ſeyen, bie das alte Lutherthum 
oder den alten Calvinismus wieder verfündigen” (S. 
364.). Ueberdieß hat der Berfaffer das Bedürfniß gefühlt, 
feinen Glaubensbegriff gleich in ber Einleitung zu feinem 
Merke zu entwideln. Die Berirrungen anf dem Gebiete 
der Religton nach der orthodoren Seite hin liegen ihm 
namlich hanptfächlidh darin, „daß der Glanbe einfeitig 
ale Sache der Erkenntniß geltend gemadt, für das 
Gemüth und das fromme Leben in der Kirche dagegen 
unfruchtbar wurde.” Diefer Borwurf trifft unftreitig die 
alte Orthodorie in vollem Maße. Der Berfaffer ſetzt im 
Gegenfaße hiezu fehr einleuchtenb andeinander, daß der 
Glaube Herzensfrömmigkeit, Hingabe ded ganzen 
Menfchen mit Erkenntnis, Willen und Herz an Ehriftum, den 
Schöpfer des neuen Lebens, den Stifter des Reiches Gottes 
(8.7.), fey. Er zeigt fo fhön und wahr, wie der rechte 
Glaube im Herzen feinen Sig habe, eine Geſinnung 
und nicht bloß eine Erfenutniß fey (OS. 8), 
dag Ref. hiezu nur feine unbedingtefte Beiſtimmung ger 
ben fan. Dabei unterfcheidet der Berfaffer jedoch einen 
tbeoretifhen, einen praftifchen und einen ge 
ſchichtlichen landen. Ohne die Nichtigkeit ber Unters 
(heidung im Allgemeinen in Anſpruch nehmen zu wollen, 
ſchien e6 nnd dennoch, ale ob fie einigermaßen verwirs 
ten könnte. Nach der Definition des Berfaflerd muß der 
Glaube eigentlich immer ein „praktiſches Gefühl” feyn, 
und er felbf gibt zu, daß der gefchichtliche nichts Ander 
res al6 Die Bollendung des praftifhen Glau— 
bene fey. Die Anlage des Werkes brachte ed mit ſich, 
daß der Berfaffer vom Glauben fprechen mußte, che von 
den gefhichtlihden Heilsthatſachen die Rede 
ſeyn konnte, nnd mit bdiefer Anlage hängt auch jene 
Unterfcheidung zuſammen. Allein vom chriftliihen Glau⸗ 
ben Tann doch wohl das Bemwußtfeyn der gefchichtlichen 
Heldthatfachen nie. hinweggebacht werden, wenn nit 
Theol. Stud. Jahrg. 1847, 29 


428 de Wette 


zationaliftifche oder gar deiſtiſche Abwege zu beforgen 
ſeyn follen. Der chriftliche Glaube ruht auf der Heil 
thatfadhe der Erlöfung iu Chrifto, weßhalb uns 
auch die (S. 7.) gegebene Definition bed Glaubens die 
vollkommen entfprechende fcheint. 

Bemerkenswerth ift, daß des Berfafler im gefchichte 
lien Glauben ‚einen idealen nnd einen realen 
Beftandtheil umterfcheidet, Der Berfaffer will damit fas 
gen, ed mühe dem, was als gefchichtlih wahr geglaubt 
wird, immer eine allgemein gültige Idee zum 
Örunde liegen, und daher mäfle etwas nicht ſowohl bars 
um Gegenftand des Glaubens werden, weil ed gejchehen, 
als weil es in ſich felbft wghr und heilbringend fen. Es 
liegt gewiß etwas fehr Richtiges in diefer Unterſcheidung. 
Dennoch fcheint dem Ref, hier einige Gefahr zu liegen, 
Die Bedeutung der gefchichtlihen Realität etmad zu vers 
kennen. Der Berfafler bat bieß felbft gefühlt, und jeder 
Strung dadurch vorgebeugt, daß er fagt, «6 würbe zum 
Heile nicht binreichen, wenn das, was das Evangelium 
über Gott und dad Berhältnig bes Menſchen zu ihm 
lehre, nur au und in fich wahr wäre; erfi dad gebe dem 
Blauben die Vollendung, daß in einem Dienfchen Die 
Einheit der Gottheit und Menfchheit wirflihe That 
face geweien fey. Rur möchten wir ed vorziehen, aus 
ftatt die idealiſtiſche Glaubensauſicht von der realiſtiſchen 
zu trennen, beide Unfichten zu vereinigen. Die evange 
liſche Geſchichte ik zugleich ideal and real; fie faun 
nie eined ohne das andere feyn. Das ift gerade das 
Geheimniß des Chriſtenthums, daß alle feine Ideen 
Thatſachen geworden find, und alle feine 
Thatfahen fih für den Blanben wieder in 
Ideen umfeten laffen. 

Vielleicht könnte einiger Tadel dagegen erhoben wer» 
ben — es ift dieß aber, wie fchon bemerkt, in ber Ans 
lage bed Werks begründet — daß ber Begriff bes Glan—⸗ 


dad Wefen des chriſtlichen Glaubens x. 429 


bens noch einmal im zweiten Abfchnitte des zweiten 
Haupttheiles befprochen wird (S. 385 ff.). Der Berf. 
unterfcheidet, wie oben den theoretifchen, praktifchen und 
gefchichtlichen landen, fo hier den Offenbarungsglauben, 
den Erlöfungsglauben und den Glauben an die Perfon 
Ehriſti. Auch hier Liegen fich vielleicht Zweifel erheben, 
ob Diefe Unterſcheidung nothwendig oder rathſam ſey. 
Kann man den Glauben ſchöner definiren als (S. 885.) 
„die gaͤnzliche Entfchiedenheit des innern Menſchen mit 

Üebergeugung und Gefiunung für das göttliche Leben, 
wie ed im Ghrifto erfchienen if,” und liege in diefer Des 
ſinition nicht Eriöfungsglaube und Glaube an die Perfon 
Chriſti mit inbegriffen? Dabei möchte Ref. in Beziehung 
auf ben Glaubensbegriff des Verfaſſers befonders das 
auerfennend hervorheben, daß er die Liebe hinzunimmt. 
Im Berlaufe feiner Korfchungen über das Zeitalter der 
Reformation iſt es dem Berf, recht Mar geworden, daß 
der Proteftantisnus einen Mipgriff begangen hat, ale 
er die Begriffe ded Glaubens und der Liebe von einans 
der ausſchied und das Heil einfeitig von einem mit 
der kLiede in keiner nothwendigen Einheit. ſtehenden 
Glauben abhängig machte. Dadurch gewann eben jener 
falte Erfenntmißglaude die Oberhand, der die fromme 
Geſinnung and der Kirche allmählich verbrängte und die 
Reaction des Pietiomus zu einer Wohlthat machte. Der 
Berfaffer fagt trefflih von dem Glauben an die Perfon 
Jefn Ehriſti: „Dieſer perfänliche Glaube ift eigentlich 
erft der rechte Blaube, der üder alle Verſtandesbegriffe 
und ſomit andy Aber alle Zweifel erhaben ift; er iſt ganz 
Sache des Herzens, immer Entfchiedenheit, mächtiger 
Zug der Seele; er fliftet ein Iebendiges Lebensverhältniß, 
tnupft Geiſt an Geiſt, vermählt die Seele dem Bräutis 
gam. Erik eins mit der Liebe zu Jefu; denn 
bei aller Liede, auch der menfchlichen, ift das Bertrauen. 
Indem wir ihn als den Wahrhaften, den Reinen, dem, 

29 * 





N 


430 de Wette 


der die höchfte Liebe bewiefen hat, lieben, vertranen wir 
ihm auch, und unfer Vertrauen ift das hödhfte und ums 
bedingte, Glaube zu Bott felbft, weil wir die höchfle 
Liebe zu ihm haben und uns ihm ganz in Liebe binge- 
ben” (S. 395). Mit Freuden unterfchreiben wir ben 
Ausdruck, in den der Derf. feinen Glaubensbegriff zuletzt 
sufammenbdräugt ald „die vertrauensvolle, liebende, ans 
eignende Hingabe bed ganzen innern Menfchen an Ehri⸗ 
flum, den Wiederherfteller und zweiten Stifter der Menſch⸗ 
heit” (S. 396.). 

Mit diefer Darftellung des Glaubensbegriffes hängt 
nun aber die Anficht des Berfafferd von der heiligen 
Schrift genau zufammen, zu welcher wir deßhalb über- 
gehen müflen. Iſt der Begriff des Blaubens einmal ent- 
widelt, fo kann man der Frage gar nicht entgehen, wos 
ber der Glaube denn entfpringe, worauf er ruhe. Daß 
ed gefchichtliche Heilsthatfachen find, auf welche der 
Glaube feigegründet ift, bat unfer Verf. bereits audges 
fprohen. Woher haben wir aber von dieſen Thatfachen 
Kenntniß? Die einfache Antwort auf diefe Frage lau 
tet: aus der h. Schrift. Infofern, fagt nun andy der 
Berf., könnte ed fheinen, „ald ob wir anfern gefchicht- 
lihen Slanben aus der Schrift zu fhöpfen hätten, wie 
die Rechtöfundigen die Geſchichte des römifchen oder 
eined audern Rechtes aus Geſchichtsbüchern fchöpfen” 
(S. 33.). Diefe Frage fteht aber wieder mit einer au 
dern in der genaueften Berbindung: ob wir in den Bür 
ern der h. Schrift (oder auch nur des N. T.) die 
Quelle der Blaubendwahrheiten, oder bloß den Ka 
non (eine Regel, Richtfchnur) für biefelden befiten. 
Nef. muß diefe Frage für eine änßer wichtige halten, 
und erlaubt fich, dem verehrten Verfafler gegenüber feine 
Anficht offen mitzutheilen, Mit vollem Nechte befämpft 
der Verf. eine Anfchauung von ber Bibel, die der. prote 
Rantifchen Grundanſicht und dem ganzen Geifte der Bi- 





dad Weſen bes chrifilichen Blaubens c. 431 


bei wiberfpricht, die unhaltbar geworben ift und nicht 
mehr herrfchend werden kann, wenn nicht alle Erfolge 
der Wiſſenſchaft ungefchehen gemacht werden können. Der 
Berf. nennt dieſelbe (S. 48.) „eine übertriebene und 
falfch gewendete Borfiellung vom göttlichen Anfehen der 
Bibel, welches, deutlich gedacht, darauf hinaus komme, 
daß wir nicht an Gott und Ehriſtum, fondern an bie 
Bibel zu glauben hätten” Daß es falſch ift, eine foldye 
abfiracte Autorität der Bibel für dad gläubige Bewußt⸗ 
feyn zwingend madyen zu wollen und auf etwas als uns 
trüglihe Wahrheit zu verpflichten, weil es in der 
Bibel ſteht: darüber ſollten fih die Gläubigen in uns 
ferer Zeit verfländigen können. Wir räumen alfo dem 
Verf. ein, daß nuſer Slaube „wicht auf den gefchriebenen 
Evangelien und deren unbedingter gefchichtlicher Glaub» 
wärdigfeit beruhen kann” (S. 34.), daß nicht einmal die 
vollkändige evangelifche Geſchichte Gegenſtand bes 
Glanbens ift (©. 35.), daß „auf Forſchung und Nachden⸗ 
fen beruhende Vorſtellungen von dem Berhältniffe einzels 
nen Natnurdinge zu einander nicht (unmittelbar) zur Glau⸗ 
benswahrheit gehören können” (S. 15.) Wir räumen 
ein, daß unfer Seelenheil keineswegs davon abhängig ift, 
wie ſich Die „bibliſchen Schriftfteller” das Himmels⸗ 
gewölbe mit darüber befindlihem Wafler u. f. w. vor» 
ſtellen. Wir find alfo in wefentlichen Dingen mit dem 
Berf. einig. Allein deffen ungeachtet fehen wir nicht ein, 
warum die Schrift nicht in gewiffem Sinne mit gollem 
Achte Duelle der Glaubenswahrheit heißen kann. 
Quelle fcheint uns nämlidh alles bad zu feyn, woraus 
ein Anderes für und abgeleitet wird, Der Verf. bemerkt 
ganz richtig, daß der ältefte Chriftenglaube auf münd⸗ 
licher Ueberlieferung beruht habe, vweiewohl die Einwirs 
fung des alten Teſtaments auf benfelben nicht gar zu 
Hein angefchlagen werden darf. Allein für uns if die 
mündliche Ueberliefernng zurücdgetreten, und der Protes 


432 de Bette 


ftantiömud hat der Tradition gar keine kanoniſche Auto 
rität zuerfannt. Wir haben wohl auch die mündliche 
Predigt des göttlichen Worted, den mündlichen Religiond- 
unterricht u. ſ. w., allein ber Prediger und Lehrer if 
barauf angewiefen, ben Inhalt feiner Mittheilungen aus 
der h. Schrift als and feiner Duelle gu fhöpfen. 

Uebrigend glaube man ja nicht, der Berfafler, wenn 
er die Schrift nicht ald Quelle der Glaubenſwahrheit 
gelten laſſen will, wolle darum ihre Autorität herabſetzen. 
Er nennt die Kritik eined Strauß rückſichtslos, diejenige 
eined Bruno Bauer fredelhaft (S. 34.). Rur if er der 
Anficht und glanbt, hierin mit allen ihrer wahren Stel 
Iung bewußten Kirchenlehrern einig gu gehen, daß ber 
Schrift einzig und allein die Geltung einer Rorm, des 
Kanon, der Richtſchnur und Regel der Blaw 
benswahrheit zuerfaunt werden dürfe. Nach diefer Aus 
fiht wird der Glaube fhou als vorhanden vor 
ausgeſetzt, und nur gefordert, daß er nad der Schrift 
gemeflen, beurtheilt und nöthigenfalls berichtige werde 
(S. 50,). Mehr dürfe von nus nicht verlangt werben, 
ale „daß wir unfern Glauben dem Weſen und Geile 
nach mit den oberften Regeln und Grundſätzen der heil. 
Schrift in Einklang bringen, daß wir und den ehr: 
inhalt derfelben in freier und lebendiger Weiſe nad 
Maßgabe unferer Faſſungskraft und Dentart zu eigen 
machen.” Wir mäflen and bier dem Berfafler in einer 
Beziehung vollkommen Recht geben. Die heil. Schrift 
in der Weiſe zur Quelle der Glaubenswahrheit zu mar 
chen, daß man „über die Kluft ber Jahrhunderte hinweg⸗ 
fhreitet und die Lehre ber apeoftolifchen Zeit mit allen 
ihreu einzelnen Beftimmtheiten ſich aneignet“, iſt ein 
burchaud verwerflidged Beginnen. Es hieße das, den alten 
Irrthum Carlſtadt's und der von Luther fo derb gezüch⸗ 
tigten „Schwarmgeifter” vwieberholen. Allein und will 
foheinen, dieſer Irrthum ſey noch viel mehr da zu be 


dad Weſen bes chriſtlichen Glaubens ꝛc. 433 


fürchten, wo wan bie Schrift zum Kauon, als wo man 
fie zur Quelle ber Glaubenswahrheit macht. IR näms- 
lid Kanon fo viel ald Maß oder Richtfchnur nad muß 
alled Andere nad einem vorhandenen Maße gemeflen 
werben, fo kommt ed nur darauf an, ob man ed mit 
dem Maße genau oder ungenau nimmt Ju dem Bes 
griffe des Kanons liegt es gar nicht, daß man un. 
fern Ölanden nur dem Weſen und Geifte nad 
mit der h. Schrift in Eiuflang zu bringen ſuche. Es if 
leicht möglih, daB Jemand den Bucftaben der 
Schrift für kanoniſch hAft, und dann wehe dem 
Weſen und dem Geiftel Noch mehr: der Berfafler felbft 
gibt zu, daB in der h. Schrift ſowohl Kanonifches ale 
Nichtkanoniſches enthalten fey, und mithin iſt ed nicht 
einmal richtig, die Schrift Kanon zu nennen, indem viel⸗ 
mehr gefagt werden müßte, in der Schrift befinde fich 
der Kanon. Denn kann 3. B. das alte Teftament Richt 
ſchnur für nufern Slauben feyn? 

Biel weniger Schwierigleiten find mit der Annahme 
verbunden, daß die Schrift Duelle des Glaubens fey. 
Denn es liegt nicht im Begriffe der Quelle, daß man fie 
ganz andfchöpfen muß, oder daß, mern das Waſſer trübe 
geworden feyn follle, es nicht gereinigt werden dürfte. 
Und wenn die Schrift nicht Quelle if, wo follte denn 
diefe Quelle fich finden? Die Tradition, wie ſchon ges 
fagt, bat unfere Kicche verworfen; unmittelbare Einge⸗ 
bangen gibt es nad, ihr auch nicht, und wo fidy Einzelne 
ſolcher rühmten, ind fie auch meiſt fehr zweideutigen Ur⸗ 
forungs gewefen. Wo fol unfer Blaube denn Rahrung 
finden, woraus fol er Kraft und Fülle ziehen, wenn 
nicht immer wieder aufs neue ans dem Worte Got⸗ 
tes, das nach dem Berf, (S. 357.) den Kanon bildet? 

Und bier ſtimmen wir nun wieder mit dem DBerf. 
völig überein, wenn er, feinen früheren Satz, Daß die 
Schrift Kanon fey, näher befiimmend, dad Wort Gottes 











434 be Wette 


von der Schrift unterfcheibet.- Freilich unß auch bier 
verhütet werden, daß dieſe Uinterfcheidung nicht abſtract 
und fpröde vorgenommen werbe. Sie ift fo alt ale aus 
fere Kirche, und der genfer Katechismus hat fie ſchon 
(vergl. meine Schrift: das Wefen des Protehantismus, 
Bd, L ©. 132.). Allein nie haben unfere Theologen es 
fih recht Far gemacht, worin die Unterfcheidung beſt ehe 
und wie fie durchgeführt werden könne. Die Gchrift 
gleichfam auseinauderbrödeln und fagen: die ſes Stück 
it Wort Gottes, und jenes iſt's nicht u. f. w., ſchiene 
dem Referenten fchon deßhalb unzuläffig, weil bie Bibel 
ein Organismus If und man dem organifchen Leben 
fein Glied entziehen kann, ohne ihm Nachtheil zuzufügen. 
Entzieht mar ihm gar ein edles Blied, fo kann der Ber, 
Iuft Icbensgefährlich werden. Mef. ift der Anfiht, daß 
auf die echt reformatoriiche Anſchauung zurüdgegangen 
werden muß (ſ. die o. a. Schrift, Bd. I. ©. 225 f.), 
wonach Chriftud der Mittelpuntt und concrete Inhalt 
der Schrift ift und alled das Quelle des Glaubens (oder 
Kanon) für und feyn muß, worin fid) Chriſtus offenbart. 
Auch hierin treffen wir mit dem Derf. wieder auf ungefuchte, 
höchſt erfreulihe Weife zufammen, indem dad vierte 
Hauptflüd des erften Abfchnitted im zweiten Theile feines 
Werkes überfchrieben if: „Chriſtus in der heil. 
Schrift” (S. 355.) Allerdings hätten wir hier ges 
wünfdt, daß dieſer Ehriftus in der Schrift wo moͤglich 
bis ind Einzelne nachgewieſen werben wäre, Wir ſtim⸗ 
men mit dem Berf. auch darin überein, daß er eine 
Schriftausiegung nad) der „fogenannten Analogie des 
Glaubens“ (S. 56.), und nicht nach den fogenaunten 
Drincipien der Dernunft fordert, die bekanntlich am meis 
fien im Gebiete der Exegeſe ſchon viel Unvernünftiges 
zu Zage gefördert hat. Allein die Analogie des Glau⸗ 
bene ift noch ein fehr vager Begriff und von der ſub⸗ 
jectiven Anficht des Auslegers noch fehr abhängig. Da 


dad Weſen des chrifllihen Glaubens ıc 435 


der Verfaſſer nun auch, mach unferer Anſicht, im volls 
tommen richtigen Beſitze des Auslegungsprincipes unfes 
ser Kirche fidy befindet, fo hätten wir gewänfdht, berfelbe 
hätte ed ald das hriffologifche ausgeſprochen. Das 
mit wäre zugleich einem Mißverfländniffe geſteuert wors 
deu. Der Berf. fpricht irgendwo vom Fanonifchen Ins 
halte der Schrift fo (S. 50.), daß Unkundigere meinen 
könnten, «6 fey darunter nur ber Rehriuhalt der 
Schrift zu verfichen. Ehriſtus Dagegen iſt der Lebens 
inhalt der Schrift. Gerade darum ift und die Schrift 
auch Quelle für unfern Glauben, weil fie ihrem chriſto⸗ 
logiſchen Kerne nad) etwas ganz Auderes als Lehre, weil 
fie Geiſt, Leben, Kraft, Weisheit und Wahrheit 
Gottes if. 

Die Frage nadı der Autorität der Schrift fann aber 
natürlich nicht vollſtändig beantwortet werben, ohne daß 
die Frage nach ihrer Infpiration mit in Betracht ges 
zogen wird, womit überhaupt das Berhältniß der 
Kritik zum Schriftinhalte im Zuſammenhange 
ſteht. 

Der Verf. tadelt ed mit Recht am Rationaliömus, 
daß er bei der bloß natärlihen Anſicht von ber 
Schrift ſtehen geblieben ſey (S. 63.). Die Übernatürliche 
Anfiht anf Jeſum anzuwenden, werde uns nicht bloß 
der Glaube der Apoftel und die Kirchenlehre, fondern 
unfer eigened Gefühl mahnen. Allein in welchem Zur 
fommenhange ſtehen nun die Schriften der Apoflel, die 
Evangelien u. f. w. mit der übernatürlichen Anficht ? 
Bei Diefem Anlaffe haben wir und gefrent, die Entbedung 
iu machen, daß diefe Schriften dem Berf., ungeachtet feis 
ned Proteſtes dagegen, dennoch Quellen für den Glau⸗ 
ben find; denn er nennt fie unmittelbare Quellen 
des apoflolifchen Ehriftenthums, und weil Diefes die Ans 
eignung und Wiederherporbringung der Offenbarung ſey, 
mittelbare Quellen der Offenbarung ſelbſt 


436 | be Wette 


(S. 357). Daß ber Berf, die alte Iufpirationsichre 
ganz bei Seite legt, müſſen wir volllommen billigen, 
Seit die reformirte Kirche in der formula consensus die 
Sinfpiration der hebräifchen Vocalzeichen als nnträglichen 
Blanubensfag für alle Zeiten feſtſtellte: welche Erſchutte⸗ 
rungen bat biefer Lehrfag erlitten! Was hat und ber 
Rationalismus von Infpiration noch übrig gelaffen ? 
Daher ift ſchon das Beltreben, deu Begriff nur irgend» 
wie wieder wahrhaft ins Leben zu rufen, ihm einige Gel⸗ 
tung‘ zu verfchaffen, auerfennenswerth. Der Berf. hat 
das redliche Beftreben, das zu thun, wenn ed ihm audı 
noch nicht vollfommen gelungen feyn follte. Allerdings 
ift in feinen Säpen ein gewifles Schwanken bemerklich; 
allein wer wollte auf einem Boden nicht ſchwanken, dem 
alle Stuben abgegraben worden find? Die Annahme, 
daß die nenteftamentlichen Schriftfteller (von den alt» 
teftamentlichen iſt gar nicht die Rede) beim Schreiben 
einen befondern Beiltand des h. Geiſtes erfahren und 
dadurch noch mehr als im Leben vor allem Irrthume bes 
wahrt worden feyen, fcheint er zu verwerfen. „Ge 
win” — fo lautet fein Urthell — „war ihre Geift beim 
Schreiben mehr gehoben und gefammelt als im 
andern Uugenbliden des Lebend.” Wenn aber der Berf. 
gleich beifügt: „Achnliche® erfahren wir fefbft. Der Au⸗ 
genblid, wo wir zu reden, zu fchreiben, zu haudeln has 
ben, erhebt und mehr, ald wir uns felbft zugetraut has 
ben; die Gewalt der Sache, bie wir vertreten, ergreift 
und erhebt und Über und ſelbſt. So fühlten ſich auch 
die neuteſtamentlichen Schriftfieller, wenn fie fchrieben, 
von der Gewalt der göttlihen Wahrheit mehr ergriffen 
und gehoben ale gewöhnlich” — fo möchte fi doch das 
gläubige Gemüth hierdurch nicht ganz befriedigt fühlen. 
Das  gläubige Gemüth fühlt fi gedrungen, nicht nur 
eine Steigerung ber gewöhnlichen Seelenträfte, fondern 
eine ganz andere Seelentraft in den biblifchen 


dad Wefen bed chriflliden Glaubens ꝛc. 437 


Schriftſtellern vorauszufegen, ein Vorherrſchen bed heili⸗ 
gen Geiſtes, wie dieß bei andern Menfchen nie mehr 
ber Fall war. Diefe ſpecifiſche Eigenthüämlichs 
keit des infpirirten Zuſtandes fcheint und von dem Berf. 
nicht genng berädfichtigt, und daher if die ſchwierige 
Frage burch feine, wenn auch noch fo trefflichen, Bemer⸗ 
fangen nicht zum Abfchinffe gefommen. Une ſcheint: es 
muß in dem infpirirten binlifchen Schriftfiellern allerbing® 
eine befondere Thätigleit des h. Geiſt es angenoms 
men werden, woburd fi allein Die ſpeeiſtſche Eigen⸗ 
thüämlichleit ihrer Schriften und ihre Tanonifche Autorität 
erklaͤrt. 

Dagegen find wir mit dem Verf. ganz einverſtan⸗ 
den, daß durchg angige „Unfehlbarkeit” nicht ale eine 
Wirkung diefed Geiſtes vorausgeſezt werben kann, Die 
Infpiration kann nicht weiter audgebehnt werden, ale der 
religiöfe Inhalt der heiligen Schriften geht, und wir 
müſſen dem Kanon des Berf. Recht geben, baß, „je weis 
ter etwad von den Principien abfieht und in das Mittels 
bare, Abgeleitete, Angewendete, Befondere fällt, deſto 
mehr Recht und Grund vorhanben if, das frei prüfende 
Urtheil darüber ergeben zu laflen”, und daß, „was vol 
lenbs außer dem glänbig» fittlihen Bebiete Liegt wie 
Namen, Zahlen und andere Gebächtnißſachen, gerade wie 
bet andern Schriftſtellern angefehen und beurthetlt wer, 
den muß” (5. 358.) Nur fcheint und auch bier davor 
gewarnt werden zu müflen, daß man den Mittelpunkt 
nicht zu fehr einenge, die Peripherie nicht zu fehr aus⸗ 
dehne. Der Mittelpunkt der Schrift — Jeſus Chriſtus 
— dringt mie den feinften Strahlen feines Lichte auch 
bis nach der Peripherie, und nur in wenigen Fällen möchte 
von vorne herein ausgemacht werden fünuen, daß bier 
fin Zufammenhang mit dem gläubig sfittlichen Gebiete 
Ratthabe. Daß ed aber unterfhiedlihe Grabe 
und Stufen in der Inſpiration gebe, das haben ſchon 


438 be Wette 


bie Reformatoren, zumal Luther, anerkaunt, unb nur bie 
alte abfiracte und barum unmwahre Inſpirationslehre hat 
alle Theile der Bibel für gleich infpirirt erklären 
Fönnen. So wenig alle Theile eined Organismnd gleich 
wichtig, fo wenig find alle Theile der Bibel gleich 
infpirirt. ’ 

Bon hier aus fey nus vergöunt, noch einen Blid 
auf das Berhältnig zu werfen, welches. der Verf. zwiſchen 
altem und neuem Teflamente vorandfegt, Seiner 
Darftellung nach könnte ed leicht fcheinen, als ob er bie 
Snfpiration auf die Schriften des neuen Teſtamentes bes 
fhränfte. Doc räumt er ein, daß die altteftamentlichen 
Bücher in einem gewiffen Sinne kanoniſch feyen. 
Im neuen Teſtamente liege nämlich der Kanon, nad, welr 
chem wir bas alte Teſtament gu meſſen haben, unb das⸗ 
jentge fey in diefem kanoniſch, was dem Kanon des neuen 
Teſtaments entſpreche (S. 366.) Damit fcheint und 
jedoch die felbftändige Eigenthümlichkeit des alten Teſta⸗ 
mentes etwas zu fehr zurüdgefeßt; auch will und bedün⸗ 
fen, der Sag laſſe ſich nicht wohl Durchführen, daß bad 
nene Teſtament ber Kanon des alten Teſtamentes fey. 
Wir können uns wohl beufen, wie das vorangehende 
Urfprüngliche, 3. B. das apoflolifche Ehriftenthum, Kanon 
für alles Nachfolgende feyn kann. Der Höhepunkt einer 
Entwidelung ift Kanon für jeden künftigen Fortſchritt 
auf demfelben Gebiete. Wie aber die Fracht Kanon ſeyn 
konn für die Blüthe, ift weniger deutlich. Im alten Te 
ftamente fcheinen uns die Blüthen und Keime des neuen 
Teflamented. Es ift noch Alles umentwidelt, vorbildlich, 
“ Ahnung und Hoffnung. Ehriſtus ift noch verhält unter 
den Wollen des Eeremonialgefeges; ber Geiſt des Zorned 
ſcheint den Geiſt der Liebe gleihfam zu bannen. Das 
alte Teftament fcheint und, organifch gewärbigt, eine 
große gebeimnißvolle Weiffagung anf den, 
der da kommen follte, den Rath Gottes zu erfüllen. Sur 


dad Weſen bes chrifllichen Glaubens ı. 439 i 


fofern hält es den Vergleich mit ber Erfüllung auf Tel 
nem einzelnen Punkte aus, fo wenig bie Morgendämmes 
rung den Bergleich mit der vollen, Haren Mittagefonne 
aushält. Der bämmernde Morgen muß als etwas für 
fih betrachtet werben; er hat feine eigenthämliche jung: 
fräulihde Schönheit, Diefe moͤchten wir auch dem alten 
Teſtamente zuerfannt wien. Das Studium des alten 
Teſtamentes ift auch wie ein Wandeln im Frühroth bes 
Morgens; man ahnt dad Werden des Tages und bie 
Nengeburt einer Heildzufunft. Das Heil ift aber nirgends 
ſchon da, und das war ein Fehler und eine Uebertreibung 
der alten orthodoxen Schule, daß fie die fpecififche Eis 
genthämlichleit des alten Teſtamentes verfaunte und es 
mit dem neuen zufammenwarf. Wir bringen auf nichts 
Anderes, ale daß dieß Eigenthümliche anerfannt, in feiner 
organifchen Schönheit und feinem höheren Zufammens 
bange mit dem neuen Teflamente gewürdigt werde, Dars 
um möchten wir allerdings die Juſpirirtheit des alten 
Teſtamentes nicht auf die gleiche Stufe mit derjenigen 
des neuen Teſtamentes ftellen, wie ja auch die Morgens 
dämmierung nicht fo viel Licht von fi ſtrahlt als bie 
Mittagsſonne. 

Mit der Frage nach der Antorität der Schrift über⸗ 
haupt iſt diejenige nach der Kritik unb Echtheit 
ihrer Bücher aufs Nächſte verwandt. Kein wiſſen⸗ 
fhaftlicher Theologe wird dem Gap des Berf. zu wider 
fprechen wagen, daß diefelben „mit ihrer Sprache umd 
ganzen übrigen äußern Geſtalt in das große Gebiet des 
Schriftſtellerthums und der alten Sprach» und Schrifts 
tunde (Philologie) fallen uud der Grammatik, Kritik 
und Auslegung unterworfen werben müflen” (S. 359.). 
Allein eben fo wenig verkennt der Berf., daß bie Bücher 
der h. Schrift nicht nur vom natürlich en Standpuufte 
and geprüft und ausgelegt werden können. Die große 
Berirrung des Rationalismus in Beziehung auf Exegefe 


> 


240 de Wette 


und biftorifche Kritik beſteht in nichts Anderem, ale daß 
er diefe Bücher wie audere litterarifche Erzenguiffe ber 
handelte und fih bach Aber fie erheben zu dürfen 
meinte, anflatt fih in Diefelben zu vertiefen. Der 
Rationalismus hielt und Hält es noch für vernünftig, 
feinen Maßſtab an die h. Schriften mitzubringen und 
ihren Juhalt nad demfelben zurechtzulegen; wir halten 
ed für vernünftig, dieſen Mapftab aus den h. Schriften 
ſelbſt zu entnehmen und fie in dem Geiſte anszulegen, 
der ihnen eigenthümdlih if. Der Berf. fagt hierüber 
fehr ſchön und wahr: „Das allgemeine und zwar höchſte 
Gefet der Auslegung, daß jeder Schriftſteller aus ſich 
felbR und aus dem Beifte feines Volkes und feiner Zeit 
esttärt werden muß, bringt in feiner Anwendung auf Bie 
nenteſtamentliche Auslegung die Forderung mit fi, Daß 
der Undleger diefer Schriften ſich mit deren Berfaffern 
in geiflige Beziehung und Verwandtſchaft ſetze und fich 
durch innige Bekanntſchaft mit ihnen den Brit aueigne, 
in dem fie lebten und fchrieben” (S. 359.). Wir möchten 
und dabei erlauben, auf eine Regel ber Uudlegung aufs 
merkſam zu maden, bie vielleicht in den Morten des 
Berf. mit enthalten ift, aber andy verdient, noch deſon⸗ 
ders hervorgehoben zu werben. IE nämlich die Lieber, 
jeugung won der Jufpirirtheit der bibliſchen Schriften vor» 
handen, fo, fcheint uns, hat der Audleger vor Allem den 
Beik der Demuth nöthig. Auch der Ausleger vom 
Drofanfchriftitelern kaun diefen Geiſt nicht ganz entbeh⸗ 
zen, weil er fon leicht in oberſlaͤchliches Abſprechen vers 
fat. In viel höherem Maße bebarf jedoch des biblifche 
Undleger deſſelden. Deun er geht an die Auslegung von 
Shriften, bern Geil er ſich mit dem Herzen und ber 
Geſinuung zu unterwerfen hat, die er nicht nach Belieben - 
uud Willlar modeln darf, in Denen er bie höchſte mittel- 
bare Offenbarumgsquelie Gottes verehren fol, Wäre die 
Andlegung immer mit biefem bemüchigen Geiſte au die 


das Wefen des chrifltichen Glaubens x. 441 


heiligen Schriften heramgetreten, fo hätte bad Leben Jeſu 
eined Strauß und die Evangelienkritik eined Br. Bauer, 
von anderen Prodnucten eregetifcher Hoffart nicht zu ſpre⸗ 
chen, nie in Ber Art entfichen können, wie wir eö erlebt 
haben. 

Was nun die Kritik der Echtheit der bibli 
fhen Schriften betrifft, fo behält auch hiex der Ver⸗ 
faffer mit vollem Rechte der Wiflenfchaft dad Recht ber 
- Prüfung vor. „Diefe Prüfung”, fagt ee (S. 360.), „iR 
ſchlechterdings nothwendig, wenn wir uns die Wahrheit 
der Geſchichte unſeres Glaubens und unferer Kirche ver» 
hen und und nicht einem blinden Ueberlieferungs⸗ 
glauben bingeben wollen.” Go wahr dieß ik und fo 
wenig Ref. die Kritik fchent oder fürchtet, fo glaubt er 
doch, daß bie Mefultate berfeiben eine Zeitlang in der 
evangelifhen Kirche überfhäßt worben find. Bis auf 
dieſen Augenblick iſt es nicht gelungen, von irgend. einem 
biblifchen Buche nachzuweiſen, daß es feiner Stelle in der 
Sammlung kanoniſcher Schriften nuwürdig fey; und weis 
den Eindruck würde das auf das chriftliche Bell hers 
vorbringen, wenn die Wifenfchaft der Kische zummthen 
wollte, auch nur das Eleinfte und unbebeutendfte diefer 
Bücher aus deu Kanon zu flreihen? Der Verf. ſieht 
das ſelbſt vollkommen Kar ein, und wir möchten die allzu 
fenrigen Verehrer der biblifchen Kritik um fo nachbrüds 
licher auf defien Urtheil verweifen , ald er mit Recht bet 
erke biblifche Kritiken unſerer Zeit genauut zu werden 
verbient ; ben keiner hat mit ber größten Schärfe und 
Feinheit des Urcheild eine folche Umficht und Befonnens 
heit verbunden, wie bieß beſonders in den leuten Ads 
gaben der bibkifchen Einleitungsfchriften des Verf. her» 
vortritt. Er fagt nämlich (S. 360 F.): „Wie and das 
Ergebniß der Mrisifchen linterfuchung Aber Berfafler und 
Entſtehnugszeit einer nenteflamentlichen Schrift ausfallen 
möge, immer bleibt ihr der Wersh einer Hervorbringung 


442 . de Wette 


bed apoſtoliſchen Zeitalters und einer Darftellung des Ur⸗ 
chriſteuthums und der Befchichte beffelben; nur baß fie 
vieleicht der Dffenbarung nicht fo nahe zu ſtehen kommt 
al& nach der gewöhnlichen Anſicht. Keine diefer Schriften 
ift verwerflihh oder ihrer Stelle in der heil. Sammlung 
unwördig.” Dagegen möchten wir diejenigen einigermas 
Ben in Schuß nehmen, die eine gewifle Scheu oder Furcht 
vor den Anftrengungen haben, welche die Kritik in unferer 
Zeit macht, um ben neuteflamentlichen Schriften möglichf 
die Baſis ihrer gleichzeitigen Entſtehung mit ben Heils⸗ 
thatfachen felbft gu entziehen. Bor der Wahrheit haben 
wir und gewiß niemald zu fürdıten, aber vor der Ent 
fellung der Wahrheit. Und daß es für das chriſt⸗ 
liche Bewußtſeyn gleichgültig fey, ob die heiligen Schriften 
Producte der apoftolifhen Zeit ober des zweiten Jahr 
bunberts nach Ehrifto feyen, köunten wir niemald zugeben. 
Es ift fehr wahr, wenn der Verf. fügt, „der chriſtliche 
Glaube fey nicht, wie ber jüdifche, ein Schriftglaube, 
fondern ein Geifteöglanbe” (S. 300.. Der Berf. fühlt 
fih aber auch gebrungen, hinzuzuſetzen, der chriſtliche 
Blaube fey ein gefhidhtiiher Glaube, ber auf That 
fachen berube. Es kaun daher für die Eutſtehungögeſchichte 
unfered Blaubend nur von großem Werthe feyn, zu wiſ⸗ 
fen, daß diefelbe durch Augenzeugen ober gleichzeitige 
Nachrichten une verbürge ift, und jeder Ehrift ift bei der 
Unterfuchung über die Echtheit der biblifchen Schriften 
in diefem Sinne mit feinem Glauben betheiligt. Das Br 
ſtreben einer jungen theologifchen Schule, gerade biejeni« 
gen der neuteflamentlidyen Schriften, bie für die Glaub⸗ 
würdigkeit der evangelifchen Thatſachen von größter 
Wichtigkeit find, ale Producte des zweiten Jahrhunderte 
nachzuweifen, Tcheint und „anf dem Standpunkte bed 
Blaubens” ein nicht ungefährliched. Sollte ed dieſer Schule 
gelingen, mit ihren Anfichten durchzudringen, fo würde 
bie gefchichtliche Glaubwürdigkeit des Chriſtenthums ger 


: dad Wefen des chrifllichen Glaubens ꝛc. 443 


fhwädt, und diefe zn fchwächen, liegt auch in ihrer Ab⸗ 
fiht, Dadurch müßten ber Kirche wenigftend vorüber, 
gehende Berlegenheiten bereitet werben, Allerdings nur 
vorübergehende. Denn wir müflen dem Geiſte der Wahrs 
heit, der und von dem Herrn verheißen ift (Joh. 14, 26), 
vertrauen, und infofern die Befürchtungen der Ortho⸗ 
dorie einen Mangel an Glauben burchbliden laffen, find 
fie zu verwerfen. Jedoch möchten wir auch bier an uns 
fern Kanon von der dDemüthigen Scriftansiegung 
erinnern. Geit Jahrhunderten hat die Kirche die heiligen 
Schriften anerlannt; wir fagen nicht, dieß fey ein bins, 
läungliher Brund, um ſie auch ferner anzuerkennen, 
aber ein bonum praeludiclum muß eine ſolche Jahrhunderte 
lange Zuftimmung dennoch erweden, und würde dieß 
auch ſchon auf dem bloß juriftifchen Gebiete. Darum 
möchten wir auch den Glanben nicht unter jeder Bebins 
gung „biind” nenuen, ber in ber Firchlichen Ueberliefe⸗ 
rung einen Grund für bie Glaubwürdigkeit der biblifchen 
Schriften findet. Das chriftliche Bolt wird immer fo 
glauben, da man ed dem einfach Gläubigen nicht zus 
muthen Bann, biblifcher-Exeget und Kritiker zu werben. 
Und auf der anderen Seite hüte man ſich aud vor einer 
Hyperkritik, die eben fo blind, eben fo leidenfchaftlidh 
eingenommen für ihre angeblihen Refultate werben kann 
ald die Hyperpiftid. Wir glauben, and) im dieſer Bezie⸗ 
bung dem Berfaffer aus dem Herzen zu fprechen, ber 
ſelbſt am „Heften bewiefen hat," daß man Kritiker jeyn 
kann, ohne Hyperkritiker zu werben. 

Die Antorität der Schrift wird aber in unferer Zeit 
nicht nur binfichtli der Außeru Glaubwürdigkeit in 
Anfpruch genommen; beinahe noch wichtiger möchten die 
Einwärfe feyn, welche man von Seiten ihrer innern 
Glaubwurdigkeit gegen fie- erhoben hat. Es muß unfere 
Theilnahme erweden, zu wiſſen, wie fich der vermittelnde 
Glaubensſtandpunkt des Berfaflerd auch in eieier Bezie⸗ 

Theol. Stud. Jahrg. 1847. 


444 be Weite 


hung geltenb macht. Befonderd die neuere Natur 
wiffenfhaft, nicht zwar in allen, aber in den meiften 
ihrer Bertreter, iſt in einen bedenklich fcheinenden Con» 
fliet mit der heiligen Schrift getreten. So tft z. B. bie 
Schöpfungsgeſchichte vielfach von der Naturwiflenfchaft 
angefochten worden, mwiewohl in neuerer Zeit die bibltfche 
Borftelluug wicher namhafte Bertheidiger gefunden hat, 
Der Berf. hält es für unnöthig, die Schöpfungsgefcdhichte 
zu einem Gegenflande der Apologetik zu machen. „ Denn,” 
fagt er (6. 87.), „Alles, was von diefer Art iſt, was die 
Berhältwiffe der Naturgegenkände zu einander, Die Weifſe, 
wie fie einander bedingen, ihre frühere oder fpätere Ent⸗ 
ſtehung bettifft, ſchlägt in die Naturwiſſenſchaft ein; 
and über Bas Wahre oder Falſche in diefem 
Gebiete entfcheidet allein bie au der Hand 
der Erfahrung gehende Forſchung.“ Aus die 
ſem Grunde fügt der Berf. im Weiteren: „Wir mifchen 
und in diefen Streit nicht, den das Intereffe bes 
Glaubens nichts angeht, ba ja diefer feiner Ra 
tur nad zwar an und mit Raturerfeuntnig zum Be 
wußtfenn Tommt, aber von dieſer ſelbſt verfchieden if.” 
Gewiß hat darin der Verf. Recht, daß der heil. Schrift 
Keller nicht den Zweck hat, Naturkunde zu Ichren, fondern 
die hohe und ewige Glaubendwahrheit zur Aufchauung 
beingen will, daß Gott der Schöpfer von Allem fey. Ber 
fonders damit aber berührt er einen wichtigen Puublt, 
wenn er bie Jugendlehrer davor warnt, den Zwiefpalt 
zwifchen dem Glauben und Willen gu pflanzen und zu 
nähren, inbem fie bad, was in die Naturkunde einfchlägt, 
als göttliche geoffenbarte Wahrheit geltend machten und 
dadurch ihre Zöglinge im Die Sefahr brädkten, einfk, wenn 
fie Naturwiſſenſchaften findierten,, an der h. Schrift irre 
zu werden. Nur könnte hierauf erwidert werden, daß 
biefer Zwiefpalt in unferer Zeit nichts Gemachtes, fon 
dern etwas Gewordenes ift und in noch tieferen Urſa⸗ 


das Weſen des chriftlichen Glaubens ꝛec. 445 


hen begründet liegt. Allein immerhin iſt es bedenklich, 
wenn man den Gläubigen in unfeser Zeit allzu große 
kaſten aufbürdet, und felbft Männer wie Thierfch haben 
neulich warnen zu müfjen geglaubt, daß man die Bew 
pflichtang sum Glauben nicht allzuweit ausdehne. Wir 
lönnen und zwar einen Slauben denten, dem auch bie 
Schöpfungsgefchichte in der erzählten Form Glaubendr 
gegenftand geworden ift, und es wird fogar ſchwer hal 
ten, im Volke einen andern ald diefen Glauben zu pflaus 
gen. Für unsichtig muß es aber immerhin ‚gelten, wenn 
das Heil der Seele oder die Seligfeit von dem Glauben 
an Außere Naturereigniffe abhängig gemacht wirb, und 
fehr gut fagt der Berfaffer, „man koönne deu Phyſikern 
für ihre Erforſchung der Entftehung der Dinge, der Erde 
u. ſ. w. freien Lauf laſſen und doch den Glauben au 
den Schöpfer ungekränkt erhalten” (S. 89 ff.). Deunoch 
find wir aber der Anficht, daß die Naturwiſſenſchaften 
vom Standpunkte bed Glaubens aus eine audere Mes 
haubiung erfahren ald von demjenigen des Unglaubens 
aus. Auch möchten wir es der Theologie nicht gang ver⸗ 
denfen, wenn fie zu manchen Naturforfchern Fein unbe⸗ 
dingtes Zutrauen hat. Wer die Bibel von vorn herein 
für ein Erzeugniß des bloß menfchlichen und natürlidden 
Geile hält, wird ihre Ausſagen über die Natur und das 
Berhältnig derſelben zum Geifte weit geringfchäßiger bes 
urtheilen , ald wer fie ald ein Werk des göttlichen Geis 
ſtes kennen und verehren gelernt hat. Und das wirb 
leider eingefiauden werben müflen, daß fehr viele Natur⸗ 
forfcher fich Über die natürliche Anficht der Dinge nicht 
erheben und am allerwenigiten die {bee der göttlichen 
Immanenz, die unferem Berf. fo viel gilt, zu würdigen 
verliehen. Wenn wir daher die Refultate der Naturs 
wiffenfhaft nicht verbammen wollen, follten fie auch von 
der Bibel abweichen, fo wollen wir es doch sben fo wenig 
80 * 


46 de Bette 


loben, daß die Raturforfchung im Allgemeinen religiös 
indifferent geworben ift. 

Der Stanbpuntt des Glaubens fann aberdieß auf 
einem Punkte nicht ausweichen, mit dem mobernen 
Standpunfte der Naturwiſſenſchaften in Conflict zu kom⸗ 
men. Wir meinen dad Wunder. Lieber keinen Gegen⸗ 
ftaud ded Glaubens bar dad moderne Bemußtfeyn rück⸗ 
fihtelofer den Stab gebrochen, als über diefen, und man 
Fönnte in einem gewiflen Sinne fagen, bie gauze religiöfe 
Gtreitfrage komme im Grunde baranf hinaus, ob «6 
Wunder gebe oder.nicht. Man erzählt von Mirabeam, 
er habe in feinem fiebenten Jahre, ald davon die Rebe 
war, ob Bott auch Diuge machen Lönue, bie ſich wider, 
fprechen, wie 3.8. einen Stod, der nur ein Eude hätte, 
gefragt, ob nicht ein under ein Stod mit einem Ende 
wäre. Go kindiſch wie von dem fiebenjährigen Mira, 
beau wird von dem modernen Standpunkte über das 
Wunder geurtheilt. Es ift fehr erfreulich, daß der Berf. 
dem modernen Bewunßtfeyn bier furchtlos entgegentritt, 
wo ed feine mächtigſte Waffe gefchmiebet zu haben glaubt. 
Neben dem gewöhnlichen Schaffen Gottes innerhalb der 
beitehenden Naturordnung nimmt er nämlich auch noch 
Fälle an, „wo wir theild durch die nnaureichende Kennts 
niß der Mittelurfahen, theild durch das Ungewöhnlidye 
und Außerordentliche einer Erfcheinung in der Natur 
und Gefchichte uns bewogen fühlen, mit Ausfchluß ober 
doch Befchränfung oder Befeitigung der uatürlichen Ans 
fiht und der nach ihr zu erfennenden oder vorauszu⸗ 
fegenden gewöhnlichen Mittelurfadhen, an Gottes freie 
Shöpferthätigkeit allein zu denken, ober eine anßerors 
deutliche menfchliche Geiſtes kraft als Urfache außerorbents 
licher Wirkungen anzufehen und das, was man Wunder 
nennt, zu glauben” (5. 90.) Allerdings beſchränkt der 
Derf. feine Anſicht dadurch, daß er dem Wunderglauben 
die Anerkennung feiner Allgemeingültigkeit verfagt nnd 


dad Weſen des chriflliden Glaubens x. 447 


als Regel fefthält, daß Gott fi der Mittelurfachen ber 
diene. Die einzige Art von Fällen, mo er Wunder ans 
nimmt, gehört ihm in die Gefchichte der Offenbarungen 
Gotted. Er nimmt alfo an, daß Ehriftus und die Apo⸗ 
fill Wunder gethan, oder vielmehr daß Gott dergleichen 
au ihnen, für fie und Durch fie gethan habe, 

Es fcheint une der Berf. befonders darin den volls 
kommen richtigen Weg eingefchlagen zu haben, daß er 
von dem geiftigen Wunder ausgeht und hieran dem 
Sad knüpft, daß, wer die geifligen Wugber annehme, 
wegen des innigen Zufammenhanges zwifchen bem Geiſte 
und der Natur and zur Annahme von phyfifchen Wun⸗ 
dern geneigt ſeyn werde (S. 91.) Wir dürfen uns 
das Wunder niht anders als durch den Geiſt 
vermittelt Denken. Der gegründetfie Einwurf, den 
das moderne Bewußtfeyn gegen das Wunder madıt, bes 
ſteht darin, daß ed Gottes unwürdig fey, die gewöhn⸗ 
Iihe Naturordnung durch Wunder geftört, aufgehoben, 
flilgeftellt zu denken. Der Berf, verwirft auch, und mit 
vollem Rechte, diefen falfhen Wunderbegriff gänzlid. Er 
fagt hierüber: „Der Ausichluß von gewöhnlichen Raturs 
3. B. Heilmitteln iſt noch Leine Störung der Naturords 
nung; die Auferwedung vom Tode kann, ohne einen ges 
wöhnlihen Scheintod anzunehmen, fo gedacht werden, 
daß in dem erflorbenen Organismus doch noch ein Les 
benskeim fchlummerte, der wieder angefacht wurbe u. f. w.“ 
Sp dent ſich der Berf. die Auferweckung Jeſu Chriſti 
als einen „höheren Lebensproceß“, mithin als etwas in 
höherer Weife Natürliches, den gewöhnlichen Naturvers 
lauf nicht Durchbrechendes, fondern Ermweiterndes, was 
im Zufammenhange mit der großen, durch und in Ehrifto 
gefchehenen geiftigen Bewegung und fittliheh Entmwidelung 
der Menfchheit zu denken fey (S. 92 ff.). 

Damit hängt nun aber aufs genauefte bie Frage 
zaufammen, welche Bebeutung bem WBunderglauben auf 


248 ri be Wette 


dem Glaubensſtandpunkte des Berf. zukomme Man 
muß nun gefteben, daß diefe Bedeutung nicht hoch ans» 
gefchlagen wird; denn ber Verf. wünfcht, daß ber Wun⸗ 
derbeweis für die Göttlichkeit des Chriſtenthums von Der 
Apologetik jegt ganz aufgegeben werden möchte (S.30T.). 
„Er bat,” fagt er, „an fi wenig Werth, weil ber 
Wunderglaube wenig Werth hat; jegt aber, wo er eher 
dem Zweifel, ald der Empfänglichkeit begegnet, kann 
er gar nicht mehr fLattfinden. Was dem Zweifel 
bloßgeſtellt iſt, kann nicht zur Befeftigung des Glaubens 
dienen, welcher das Zweifellofefte von Allem feyn fo.” 
Der Berf. erinnert hierbei an die allerbinge nicht zu vers 
fennende Schwierigkeit, die philofophifchen Zweifel gegen 
die Möglichkeit der Wunder zu entfräften und die Glaub⸗ 
mwürdigfeit der evangelifchen Berichte bie ine Eine 
zelne hinein ficher zu ſtellen. „Und auf einen fo unſi⸗ 
hern Erfolg,’ vuft er aus, „wollt ihr ten Glanden 
gründen, deffen Werth und Kraft allein darin beficht, 
daß er das Gemüth feſt und ruhig macht?” 

Man ſollte demnach meinen, der Verf, fpreche dem 
Wunderglauden für unfere Zeit alle Bedentung ab. 
Das tft aber nicht der Fall. Auch könnten wir allerdings 
den Sat bed Verf, daB, wad dem Zweifel bloß⸗ 
geftellt fey, nicht zur Befefigung des Glau⸗ 
bend dienen könne, nicht für zuläſſig halten, Die 
Zweifelfucht hat in unferen Tagen Leinen einzigen Glau⸗ 
bensſatz verfchont; fie bedroht dad ganze Ehriftenthum 
mit Vernichtung; was vor hundert Sahren noch für uns 
antaftbar galt, ift jebt Gegenſtand des Zweifels, ſelbſt 
bed Spotted geworden. And doch gründen taufend Ges 
mäüther den Krieden ihred Herzens, ihre geitliche und 
ewige Hoffnung darauf, und dad, wad Andere mit dem 
Zweifel benagt und aufgelök haben, ſteht ihnen fe wie 
die Berge Gottes. Es gehört zu dem merkwürdigen 
Gegenfaße, der unfere Zeit zerfpaltet, dog, während 


dad Weſen des chrillihen Glaubens ı. 449 


man den Einen durch Aufbrangen bed Munderglaubens 
noch den letzten Reſt ihres Chriſtenthums rauben, man 
den Audern durch Auflöfen des Wunderglaubene bie Voll⸗ 
traft ihrer chriſtlichen Ueberzeugung zerſtören würde. 
Dieſes Letztere darf man zumal vom „Standpunkte des 
Glaubens“ and nicht unbeachtet laſſen, und wir erken⸗ 
nen darin die Umſicht und edle Gewiſſenhaftigkeit des 
Verf. daß er ſelbſt ſagt: „Demungeachtet hat der Wun⸗ 
derglaube ſelbſt in nuſerer Zeit, für unſer Bolt und ſo⸗ 
gar für die Gebildeten und Denker nicht alle 
Bedeutung verloren, und anf die an letztere ges 
richtete Frage, ob fie wollten, daß die Evangelien eine 
Bunder enthielten, dürfen wir ficher eine verneinende 
Autwort erwarten. Mad wären das doch für heilige 
Urkunden, in denen Alles fo natürlich herginge, wie 
etwa in der Geſchichte Eatber’s?” (5. 308.). 

Wir können ſchon aus letzterem Grunde mit dem 
Verf. nicht recht Übereinkimmen, daß der Wunderbeweis 
für unfere Zeit alles apologetifche Intexefle verloren habe, 
und und will fcheinen, mit dem Ausſpruche, daß zum 
Begriffe Heiliger Urkunden das Wunder gehöre, habe 
der Berf. felbft Die apologetifhe Bedeutung bee 
Wunders anerkannt. Bei manchen Zweiflern mag 
der Zweifel zunächſt aus dem Mahrheitöfinne entſprun⸗ 
gen ſeyn; bei fehr Bielen hat er einen weniger fitts 
lihen Urfprung. Warum geben fi die Gegner des 
Chriſteuthums fo viele Mühe, den Wunderbegriff aufgus 
iöfen und befonders die von Ghrifto erzählten Wunder 
ig Mythen zu verwandeln? Wenn ed fich hier nicht 
darum handelte, ein Bollwerk des Glaubens zu ſtürzen, 
würde man fo viele Mauerbrecher ber Dialektik in Ber 
wegung feßen? Der Berf. hat nadı unferem Dafürbals 
ten ganz das Richtige getroffen, wenn er ſich dahin aus⸗ 
fpriht, mit der Anflöfung des Wunderbegriffes in den 
heiligen Urkunden würde benfelben ber Charakter des 





450 de Wette 


Uebernatürlichen, Goͤttlichen, Geheimnißvollen entzogen, 
Es fagt und eine innere Stimme — diejenige einer ex» 
leuchteten Bernunft —, daß neue Sottedoffenbarungen au 
die Menfchheit fih nicht an deu gewöhnlichen Naturver⸗ 
lauf anfchließen können, fondern über denſelben 
hinausgehen müffen. Rur wer überhaupt au feine 
außerordentliche @ottesoffenbarungen glaubt, wer Die 
natürliche Weltanfiht für die einzig mögliche hält, wer 
völlig auf alle religiöfe Weltbetrachtung verzichtet hat, 
wird auch das Wunder für unmöglich erklären Aus 
dDiefem Grunde fcheint dem Ref. die Frage nach ber 
Möglichkeit und Wirklichkeit ded Wunders eine ber wich⸗ 
tigften theologifchen Zeitfragen. Auf den Wunbderbegriff 
verzichten, fcheint ihm fo viel zu beißen, als auf eine 
übernatärliche Weltanficht verzichten. 

Bon hier aus iſt die Beantwortung der Frage leicht, 
ob der Wunderbeweis auch für unfere Zeit noch ein apos 
logetifched Intereſſe habe. Dem Ref, nämlicd, fcheint er 
das apologetifche Intereſſe im höchſten Orade iu Anfpruch 
zu nehmen. Das Wunder muß gegen bie Angriffe des 
philofophifchen Zweifels vertheidbigt werben; dieſe Bers 
theidigung unterlaffen, hieße fo viel ald die Schwäche 
bed Wunderſtandpunktes eingeſtehen. Der Berf. madıt 
übrigens auf treffende Weiſe die Urſache bemerklich, was 
sum das philofophifche Zeitbewußtfeyn für den Wunder 
beweid unempfänglich if. „Der philofophifche Stand» 
punkt,” fagt er, „if nicht der gläubige, und ber Philes 
foph als folcher befinder ſich nicht in ber gläubigen 
Gefühlsſtimmung, welche zur Beantwortung der Wun⸗ 
derfrage erforderlich if” CS. 00.). Die Apologetik ſcheint 
Ref. hiernach zuallervörderſt die Aufgabe zu haben, 
dem Dhilofophen die Einfeitigkeit feines Standpunk⸗ 
ted nachzumeifen unb ihm begreiflich zu machen, daß 
ihm ald wahrem Philofopben auch die Pflicht obliegt, 
ſich auf den religiöfen Standpunkt zu verfegen und in 


daB Weſen deö chriſtlichen Glaubens ꝛc. 451 


dieſen hineinzugehen. Sind wir doch über die Vor⸗ 
Relung hinweg, daß die Philoſophie die Welt erſchaffe; 
ik es doch genug, wenn fie die ſeyende Welt nur bes 
greift und ihrer bewußt wird. Zum Begreifen und Bes 
wußtwerden gehört aber, daß man über die Dinge nicht 
abfpricht, nicht mit Borurtheilen an fie herantritt, fons 
dern mit Liebe fich in fie verfentt und mit dem inneren 
Sinne fie fih aneignet. Darf man der berrfchenden 
Philoſophie nachrähmen, daß fle das mit dem Wunder 
gethan hat? Oder ift fie nicht vielmehr — die angeblich 
vorausfeßungelofe — mit der Borandfegung an das Wun⸗ 
der gegaugen, daß daffelbe etwas Unmögliches ſey 
und darum um jeden Preis vernichtet werden müſſe? 
Gerade der Berf. fcheint nnd auch hier der Apolo⸗ 
getik die richtigen Fußtapfen vorgezeichnet zu haben, und 
weru er einerfeitd die Zwedmäßigleit ded Wunderbewei⸗ 
ſes für die Apologetif beftreitet, fo hat er fie anderer, 
ſeits durch die eigenen apologetiſchen Grundfäge, 
weiche er aufftellt, wieder beftend empfohlen. Er gebt 
sämlih davon aus, daß „die Offendarung der Erfcheis 
nung Jeſu Ehrifti ale des ſündloſen, untrüglichen, voll⸗ 
fommenen Menſchen dad erfte und Hauptwunder fey, 
von weichem alle anderen abhängen” (S.308.). „ Dabei,” 
fährt er fort, „„entfcheidet ed fi, wer mit uns hält, und 
wer nicht. Wer nicht an diefed Wunder glaubt, wit 
dem laſſen wir und gar nicht auf den Glauben an Zefa 
Bunder ein, fondern fuchen ihn allererfi wo 
möglich zu überzeugen, daß er an ihn felbft und 
feinen heiligen Eharakter glaube” Iſt es dem Apolos 
geten gelungen, bier feſten Pofto zu faflen, fo ift ed auch 
nicht mehr fo fchwierig, weiteres Terrain zu erobern, 
Ehe wir aber bie den Wunderbegriff ded Berf. bes 
teeffende Prüfung weiter fortfeßen, müffen wir und ums 
jehen, auf welchen Punkte wir angelangt find. Unſtrei⸗ 
tig hängt, von hier aus betrachtet, die Frage nach dem 


452 ve Wette 


Wunder mit einer höheren: nach der Perſon Ehriki 
überhaupt zufammen, amd es iſt unmöglich, die erſte ohne 
bie zweite zn erledigen. Es fragt ſich alfo, welchen Bes 
griff der Verf. mit Jeſu Perſon verbinde, In dieſer 
Beziehung mäflen wir eine Eigenthumlichkeit des Verf. 
darin finden, daßerSefu wahre und volle Menſch⸗ 
beit old den Hauptpunkt des ganzen chriftlichen 
Glaubens, die Bermittelung und Verwirklichung 
der höchſten Ideen darſtellt (S. 200.). Damit gibt ber 
Derf. felbft zu, daß die natürliche Anficht, die er 
font immer neben der übernatürlichen geltend macht, iu 
diefer Beziehung für den Glauben ſelbſt nothwendig, je 
ein Theil von ihm werde. Daß das wirkliche Menſch⸗ 
ſeyn Jeſu Ehrifi den Gnoftitern alter und neuer Zeit 
gegenüber mit aller Kraft geltend gemacht werden muß, 
darin hat der Berf. vollkommen Recht; in einem gewil: 
fen Sinne möchten wir ed fogar der katholiſchen Kirche 
ded Mittelalters zum Hauptvorwurfe machen, daß fie 
Ehriſtum nicht ald wirklichen Menfchen zu begreifen ver 
mochte und aus diefem Grunde allmählidy den geſchicht⸗ 
lichen Zuſammenhang mit dem apoftolifchen Chriſten⸗ 
thume verlor. Dagegen fcheint und aber der Begriff 
der Menſchheit Ehrifti dennoch zu dürftig uud wohl 
zur Abwehr des Gnoſticismus, aber nicht des Ebioni⸗ 
tismus in der Kicche geichidt. Das fühlt der Verf. ſelbſt, 
wenn er zugibt, daß Manche mit feinem Satze ſich widt 
zufrieden geben werden. Auch ift der Berf, keineswegs 
einer ebionitifchen Anſchauung von Ehrifti Perfon zugethan, 
indem er felbfi drei Punkte hervorhebt (die Erzeugung — 
die Wunder und die Auferfiehung), in denen Ghriftus 
über die Natur, das Bermögen und Loos der Übrigen 
Sterblihen binausgehoben erfcheine (S. 902.) Diefe 
Anficht des Berf. von der reinen Menſchheit Chriſti 
hängt Übrigens damit zufanımen, Daß er im Chriſten⸗ 


das Weſen bes chriflichen Glaubens ꝛc. 453 


thume überhaupt bie Brfcheinung ber reinen Menſch⸗ 
lichkeit erblicdt (S. 248.). 

Wir verfemen die Gründe gar nicht, welde den 
Berf. auh vom Glaubenéſtandpunkte aus vermocht has 
ben, auf den Begriff der Menfchheit Ehriſti ein fo gros 
ßes Gewicht zu feßen. Es ift immer mehr Hinneigung 
in der Kirche vorhanden gewefen, die Menfchheit Ehriftt 
anf Koften feiner Gottheit zu verkleinern und zu ſchwä⸗ 
hen, ald umgekehrt, was am beften die lutherifche Lehre 
von der communicatio idiomatum beweift. In unferer 
Zeit verhält es fich aber andere. Der Glaube fehr Vie⸗ 
ler ift bis zu einem fehr dürftigen Ebionitismus abges 
ſchwächt, und es fehlt unferer Zeit an jenem Organe, 
das fih in die Tiefen der Gottheit zu verfenten weiß. 
Tiefem Schwacdglauben gegenüber haben die Starfgläus 
digen nicht Unrecht, wenn fie den Begriff der Gottheit 
Ehrifti betonen, fie haben aber darin nicht Recht, daß 
fie dieß gewöhnlich auf Unkoſten feiner Menfchheit thun. 
AS wahrer Menſch ift Jeſus Chriftus auch noch feine 
Duelle des Trofted und der Berföhnung für und, Der Troft 
liegt in dem Glauben, daß Gott Menfh geworden 
fey, nicht daß ein wahrer Menfch gewefen fey; 
Gott und nicht der Menſch bleibt das Subject der 
Erlöfung, der Menſch ift nur das Prädicat derfelben. 
Darum fcheint und der Ausdruck Gottmenſch das 
Wefen der Perfon Chriſti am treffendften zu bezeichnen, 
und daß der Verf, diefer Anfchauung gar nicht abgeneigt 
iR, beweift er am beften bamit, daß er die Berfähnung 
eldeine zugleich menfhlihe und göttlihe That 
ſchildert. 

Dennoch ſcheint uns der Verf. den Begriff der 
Gottmenſchlichkeit Chriſti nicht in feiner ganzen 
Fälle entwickelt zu haben. Er hebt, wie bemerkt, drei 
Punkte and dem Leben Jeſu heraus, die über den na⸗ 
tärlihen und menfchlichen Standpunkt hinansgehen, Als 


⸗ 


45& de Wette 


Iein wir Tönnen doch kaum dafür halten, daß bie Mei⸗ 
nung des Berf. dahin gehe, nur in diefen drei Bezie⸗ 
bungen laſſe fih dad Leben und Weſen Ehrifti als ein 
gottmenfchliched nachweilen. Wir müſſen darin der Kir 
chenlehre vollfommen Recht geben, daß fie die Einheit 
Der Derfon durch alle Momente bindurchführen wollte, 
wenn fie anch mit ihrer Abficht an praftiihen Schwie 
rigfeiten gefcheitere if. Die ganze Perſoͤnlichkeit 
Chrifti fcheint uns ale eine gottmwenfchliche aner 
fannt werden zu müflen, worin fich allerdings eine ſpe⸗ 
cififche Verſchiedenheit feiner Perſon im Berhältnifle gu 
allen anderen, felbit zum erften Menfchen ergibt. Diefe 
it aber gerade durch feine übernatürliche Erzeugung ans 
gedentet und ruht mithin felbft auf einer phyfifchen Ba- 
fi. Die Auffaffung der Perfon Chrifti ald des wahren 
Menfchen erflärt fidh beim Verf, ohne Zweifel am beften 
aus feinem Urtheile über die Firchliche Lehre von den 
zwei Raturen, die er eine unbiblifche, untheologifche 
und unmiffenfchaftliche nennt (S. 329.). Gewiß ift diefe 
Rehre in ihrer alten fpröden Form durchans ver 
werflih und einer Umbildung bedbürftig; das Urtheil deö 
Derf. fcheint und aber dennoch etwas zu hart. Unmwils 
ſenſchaftlich ift fie, unbibliſch und nntheologifcdh aber nur 
ber Form, nicht dem Wefen nach. Wir verbinden mit 
dem Begriffe Natur die Borftelung eines wefenhaf 
ten Seynd; bie Natur eined Gegenftandes iſt das, wo⸗ 
durch er befteht und fi von anderen Gegenſtaͤnden uns 
terfcheidet. Die alte Theologie irrte darin, daß fie dad 
Weſen Gotted und das Weſen des Menfchen als etwas 
fich gegenfeltig Widerfprechendes faßte, dieſe zwei ver 
meinten Widerfprüche in die Einheit der Perfon Ghrifli 
aufammenfaßte, den Widerfpruch alfo durch einen Macht 
fpruch, aber nicht wiflenfchaftlich löſte (f. dad Welen 
des Proteftantidmus, a.a.D., S. 357.), Daswird aber 
ugegeben. werben möüflen, daß das Weſen Gottes und 


dad Wefen des cheifllichen Glaubens x. 455 


dad Weſen des Menfdien ja etwas Befondered, Eigen⸗ 
thümliches ift, und daß diefe beiden Befouderheiten in 
Chriſto fi harmoniſch zufammenfdloffen und eine Pers 
fönlichleit hervorbradjten, an welche auch nach des Berf. 
Anficht Feine andere menfchliche hinaufreicht. Der Berf. 
bat unbedingtes Recht, dagegen zu protefliren, daß Chris 
Rus Gott und Menfch geweſen fey, und fowohl wenn 
wir von einem Botte, als einem Menſchen Ehriftus reden, 
fo reben wir uneigentlich und müſſen und mit bem zwiug⸗ 
liſchen Lehrfage von der „Alloiofie” heifen, Im Begriffe 
des Gottmenfhen if die Weſenseigenthümlichkeit 
Botted und ded Menſchen als in einer höheren Einheit 
enthalten. Ä 

Der Berf. Hat ſich die volle Aneignung des Begrifs 
fe6 der Gottmenſchlichkeit allerdings dadurch erfchwert, 
dag er Ehriftum nur in feiner gefchihtlichen Erſchei⸗ 
nung zu erfennen fuchte, Im Begriffe des Gottmenfchen 
liegt allerbings etwas, das über alle Geſchichte hinaus⸗ 
geht. Allein der Verf. fühlt fich auch felbft wieder ge, 
nöthigt, Den gefchichtlihen Boden zu verlaffen und fi 
zu einem Urbilde von Chriſto aufzufhwingen, das 
jenfeitö der Grenzen bloß gefchichtlidher Korfchung liegt. 
„Der gefchichtliche Glaube der Chriftenheit,” fagt er im 
diefer Beziehung, „hat fich nicht in dem engen gefchichte 
lihen Grenzen gehalten, und founte e6 feiner Ras 
tur nah als Blaube nicht, weil fein Gegenftand 
zugleich gefchichtlich und urbildlich it” (S. 323.) Und 
gerade über die Urbildlichkeit Chriſti fpricht fich der Verf. 
fehr fhön aus. „Das göttlihe Keben,” fagt er, „das. 
in feinem irdifchen Leben erfchienen, war durch feinen 
Tod nicht vernichtet, hatte fih vielmehr thatkräftig und 
fiegreih in ihm felbft und außer ihm durch Pflanzung 
des gleichen Lebens in der Menfchheit bewiefen, und 
tchrte nun zn feinem Urquelle, dem Bater, zurüd, aber 
nicht, um in biefen zurädzufließen und in anderer Weife 





. 456 be Wette 


wieber audgefirömt au werben (nach pauth eiſtiſcher Au⸗ 
ſicht) — Der Endlichkeit und dem Kampfe diefer Erde 
entrüdt und zu Gott emporgehoben, entfaltet Chriſtus 
dort die ganze Sieges herrlichkeit; Die Herrfchaft, die 
ihm als Stifter und König ded Reiches Gottes gebührt 
und bie er hinieden noch nicht empfängt, indem bie Sei, 
nigen, und in ihnen feis Geift, noch mit der Welt gu 
fümpfen haben, fällt ibm in der urbiidlichen 
Ewigkeit ganz zu.” Allein fo ſchön dieß ik, fo 
beherzigenswerth pantheiſtiſcher Verflüchtigung gegenüber, 
fo befriedigt es dennoch das gläubige Gemüth nicht ganz. 
Der Verf. treunt das Geſchichtliche und das Urbildliche in 
Chriſto von einander; er will, daß man ſich vom Ge⸗ 
ſchichtlichen zum Urbildlichen er hebe (S. 329.) De 
Glaube will aber Beides zuſammenfaſſen, er wil 
Gott und Menfch zuſammen fchauen; und ed ſcheint und, 
man könnte hier wenigftend mit einigem Rechte an dem 
Berf, audfegen, daß er Gott nicht geuug Menid 
werden laffe. Das Geheimniß, daß Gott Menſch ge 
worden, ift freilich für unferen Verſtaud unergründlid, 
eine ungeheure Thatſache, vor der und dag Denken ver 


geht. Der Berftand wird und muß immer fragen: „wie 


konzte eine abfolute göttliche Perſönlichkeit, wie konnte 
Das ewige Wort, das durch die ganze Welt geht und 
fid; überall fort und fort außfpricht, in einem menſch⸗ 
lihen Leibe eingefchloffen feyn?” Nur ift zu be 
merken, daß die Kirche das Lebtere niemals behaupte 
hat. Höchſtens in der chriſtologiſchen Anſchauung der 
Brüdergemeinde finden ſich Spuren einer fo unver: 
nünftigen Vorſtellung. „Gott ift Menfch geworden,” 
und „Bott ik im Menfchen eingefchloflen ,” find grund 
verfchiebene Ausſagen, und bürfen ja nicht mit einander 
verwechfelt werben. Der Berf. it der Anficht, wenn bie 
Speculation Die urbildlihe Anficht von Chrifto weiter 
verfolgen wolle, fo müſſe fie einen anderen Weg, ale 


das Wefen des chriſftlichen Glaubens ıc. 457 


den ber Tirchlichen Lehre einfchlagen (G. 330.) Darin 
fheint und ber Verf. zu weit zu gehen. Die kirchliche 
Lehre bedarf der Umbildung; dad Prädicat „Menfch ges 
worden” ift von ihr nicht genug anerkannt; Ref. traut 
aber der kirchlichen Lehre, wenn fie fich felbft mehr bes 
greift, die Kraft gu, auch Anderen fid, begreiflicher zu 
mahen, und würde fie fo lange nicht aufgeben, ale fie 
ſich nicht völlig unfähig dazu gezeigt hat. 

Jetzt erſt iſt es und möglich, unfer Schlußurtheil 
über den Wunderbegriff des Verf. abzugeben. Steht 
derfelbe nämlich mit dem Begriffe von der Perſon Chriſti 
in unzertrennlicher Berbindung, fo muß Ach auch die 
Sedeutung des Wunders nad, derjenigen der Perſon 
Chriſti richten. Wo noch die alte abfiracte Auſicht „won 
der Gottheit Ehrifti? herrſchend iR, da find auch die 
Bunder numittelbar göttliche Kraftwirfungen, vos 
einer Stillſtellung der gewöhnlichen Mittelurfacken bes 
gleitet. Wo dagegen bie mehr ebionitifche Anficht Geltung 
hat, werden die Wunder mehr als natürliche oder dem 
Ratärlichen verwandte Vorgänge aufgefaßt werden, Daß 
der Berf., um die Möglichkeit ded Wunder denkbar 
ju machen , nicht einfeitig auf Chrifti göttliche Natur zu, 
rüdgeht, tft gewiß yollkommen richtig; weniger können 
wir ed billigen, wenn er fagt: „Hat Chriſtus wirklich 
und wahrhaft Wunder gethan, fo hat erfie als Menſch 
gethan; deun das Wirkliche an ihm if eben 
menfchlih” (S. 309) Wir müſſen hierauf entgeg» 
zen, daß Bott wirklich in Ehrifto Menfd ger 
worden, daß alles Wirkliche in ihm mithin gott, 
meufchlic war. Und gerade darin, daß ber DBerf. 
einräumte, die Wunder ſtellen Chriſtum über bie Stufe 
des Ratürlichen hinaus, if von ihm fekbft ein Zeugniß 
abgelegt, Daß dad Wunder mehr als menfchlich ſey. 
Deßhalb fcheint uns der Begriff des Wunders auch et 
was zu eng, wenn berfelbe als „unmittelbare (menſch⸗ 








458 de Wette 


lihe) Einwirkung der Geiles; und Willenskraft anf bie 
Ratur” gedacht wird (S. 800.). Die proteftantifche Theo» 
logie hat die Fortdauer des Wunders als eines kirchli⸗ 
hen Charisma geleugnet, weil fie in ihm mehr ale bloße 
Einwirkung des menfchlichen Geiſtes und Willens ſah. 
Wir müflen uns Bott im Wunder auf eine Weiſe gegen» 
wärtig denken, wie er in einer anderen Raturerfcheinung 
nicht gegenwärtig ift, und and ber Menfchheit Sein als 
kein, will und bedünfen, Iaflen fich feine Wunder nicht 
erklären. 

Der Berf. unterfcheidet übrigend von der Möglichkeit _ 
und Nothwendigkeit der Wunder Jeſu deren Wirklich» 
Leit, und nimmt dem firaußifchen Skepticismus gegen 
Aber in dieſer Beziehung in der That einen gläubigen 
Standpunkt ein; denn er entfcheidet fich für diefe Wirk, 
lichkeit. Nur hält er die evangelifhen Wundererzählun⸗ 
gen theild für ungenau, und theild für übertrieben. Ei⸗ 
nen „befonnenen, gemäßigten Skepticismus“ will er aud 
dem „gläubigen Schriftforfcher” erlauben, und er fieht 
eine ungefunde, Mangel au Bildung uud Geiſtesfrei⸗ 
heit, fo wie an Liebe verrathende Empfindlichkeit darin, 
wenn viele Gläubige ſich hierdurch verlegt fühlen. Wir 
geben dem Berf. darin ganz Recht, daß Jemauden and 
der hriftlichen Gemeiuſchaft ausfchließen, weil er einen 
entfchiedenen Wunderglauben beſitzt und dem Skepticis⸗ 
mus hier einigen Ranm läßt, eben fo unverfländig ald 
lieblos wäre (S. 311.); wir halten aber dafür, daß bie 
Gegner des Wunderglaubens dieſe Liebloſigkeit, die wir 
nicht billigen wollen, einigermaßen felbft verfchuldet has 
ben. Sie haben mit roher Hand das glänbige Gefühl 
angetaftet, den hiftorifchen Sinn nicht einmal verfchont, 
den Glauben an alles Ueberuatürliche im Chriftenthume 
verhöhnt, dadurch gereist und eine gerechte Reaction 
hervorgerufen. Ueberhaupt, wer einmal an bad Wunder 
aller Wunder, an den im Kleifhe erſchienenen 


das Weſen bes hriftlichen Glaubens ꝛc. 159 


Gottmenfchen glaubt, dem wird ed gar nicht mehr 
fo ſchwer, die einzelnen Wundererzählungen mit gläubis 
gem Gemüthe zu erfaflen. Wie fchön und treffend fagt 
doch der Berf. ſelbſt, man dürfe nie vergeflen, daß das 
hiſtoriſche Intereſſe bier dem gläubigen untergeorbnet 
ſey; daß hier gar nicht dad Bedürfniß vorhanden, fich 
einer jeden einzelnen wunderbaren Thatfache als einer 
durch gefchichtliche Kritit genau geläuterten und geſicher⸗ 
ten bewußt zu werben; daß es dem glänubigen Chriften 
gar nicht daranf ankomme, genau zu wiſſen, wie es mit 
der Berwandlung des Waflers in Wein, mit ber Aufs 
erwelung des Lazarus eigentlich zugegangen; baß end» 
Ih die Betrachtung der WBundererzählungen in den an, 
daͤchtigen Berfammlungen der Ehriften feru von allem In⸗ 
tereſſe der gefchichtlihen Forfchung zu halten fey (S. 312.). 
Und warum ſollte der „gläubige Standpunkt?” bei einzel- 
nen Bundererzählungen fo ängftlich feyn, ba er bie Thats 
fahe der .Leiblichen Auferftehung für „gewiß und ans 
jweifelhaft” hält (S. 317.). Nur will und fcheinen, auch 
die Auferftehung Ehrifti, welche der Verf. mit der Him⸗ 
melfahrt zufammen als eins betrachtet, unb deren 
Schwierigkeit vom Fritifchen Standpunkte aus er gar 
siht verhehlt, würde als noch zweifellofer dem glänbis 
gen Gemüthe dargeftellt werden können, wenn der Ber 
geil der Bottmenfhlichleit Jeſu mit derfelden vers 
bunden würde. Denn infofern nur die göttliche Als 
wacht dabei wirfend gedacht, die Auferſtehnng mithin ale 
ein göttliche Allmachtswunder gefaßt wird — wird fie 
für den menſchlichen Standpunkt nicht begreiflih. Dann 
wird fie ed erſt — wenn die Perfönlichkeit Jeſu ale dei 
Sottmenfhen die Berwefung feiner leiblichen Hülle gar 
richt zuließ, wenn auch nach der leiblichen Raturfeite 
zwiſchen ihm und deu andern Menfchen eine fpectfifche 
Berfchiedenheit beftand, 

Die Lehre von der Perſon Chriki führt me von * 

Teol. Stud. Jahrg, 1847, 


J 


460 de Wette 


auf des Verf. Anfichten von Chriſti Werke. Die letzte⸗ 
ren hängen aber aufs genauefte mit dem Begriffe zuſam⸗ 
men, den der Berf. von ber Sünde aufſtellt. Sünde 
und Erlöfung find Eorrelate und bedingen ſich gegenſei⸗ 
tig. Je mehr der Begriff der Sünde pelagianifch abges 
fchwächt wird, deſto mehr wirb auch ber Begriff der Ers 
löſung ſich ebionitifch verflächtigen; wirb der Begriff 
der Sünde in voller Kraft gefaßt, fo wird auch derjenige 
der Erlöfuug ein vollkräftiger ſeyn. Wir müſſen dem 
Berf. zuvörderſt Dad Zeuguiß geben, baß er es mit dem 
Begriffe dee Sünde ernft nimmt. Es thut dieß auch in 
unferer Zeit außerordentlih noth. Keine Lehre if vers 
derblicher, als daß der Menſch von Ratur gut fey; 
daß ihm nur Fehler und Schwachheiten anerzogen wer: 
den; daß die Hunft bier gleichfam das Werft der Natur 
verkümmele. Der Erfinder einer foldhen Lehre konnte nur 
ein Menfch feyn, ber, wie Rouffeau, flatt feine eigenen 
Kinder zu erziehen, fie ins Fiundelhans warf und dafür ans 
deren Leuten gute Rathfchlägeüber Erziehung und Bildung 
gab. Der Berf. ftellt die Lehre von der Erbfünde 
allerdings nicht in den Bordergrund, in Gemäßheit der 
Anlage feines Werkes, wonach er fi immer zuerfi an 
das Geſchichtliche und Wirfliche, alfo bier an die wirk⸗ 
liche Sünde hält. Allein er erkennt die Erbfünde an und 
geht infofern auch über die zwingli'ſche Anficht hinaus, 
die in neuerer Zeit einen geiftreichen Berfechter gefunden, 
ale er die Zurechenbarkeit der Erbfünde behauptet. Bir 
freuen und herzlich dieſes Refultates und gehen nur da 
ein mit dem Berf, nicht einig, daB er das Wefen der 
Erbfünde in einen „[fünbhaftsfinnlihen Hang” 
feßt, deſſen ein Feder fidh bewußt werde, der durch Ger 
wohnheit fidy verflärfe und in diefer Berftärfwg ſich 
fortpflanze (S. 195.). Ref. erinnert fih noch gar wohl 
der Zeit, is der es ihm vollkommen einleuchtete, daß die 
Sünde ein Prodact der Sinnlichkeit fey und ihren 





das Weſen des dheiftlichen Glaubens ꝛc. 461 


Urſprung in einer Privation geiſtiger Energie genommen 
babe, iu Folge welcher die Sinnlichkeit ſich eine unwür⸗ 
dige Herrichaft über das Beiftedleben angemaßt. Seit⸗ 
dem bat er ſich überzeugt, daß diefe Auficht zur Erfläs 
rang der Sünde nicht genügend ift und doch mehr oder 
weniger dem Beltreben, ben Begriff ber Sünde abzu⸗ 
ſchwäͤchen, ihre Eutſtehung verdaukt. Die Sinnlichkeit 
erfcheint naͤmlich bei der Sünde doch immer nur ale 
aeceſſoriſch. Eine Sünde, mit verftärkter Siunlichkeit ber 
gangen, iſt Träftiger, energifher, als weun bie 
finntihe Beimiſchung fehlt. Allen auch die Tugenden 
bedürfen, wenn fie Fräftig auftreten und durchgreifen ſol⸗ 
len, finnliher Beimiſchung. In dieſer Beziehung gilt 
jenes ſchöne Wort Haman's, daß bie Leibenfchaften das 
rum, weil fie Gefäße der Unehre ſeyen, nicht aufhören, 
Waffen der Maunheit zu ſeyn. Die Tugend und bad 
after, beide werben durch die Sinnlichkeit verſtärkt. 
Shen daraus folgt, daß die Wurzel der Sünde nicht 
in der Sinnlichkeit liegen Tann; ſonſt müßte eine Hands 
Inng um fo fündlicher feyn, je mehr ihr Sinnlichkeit bei⸗ 
gemifcht wäre. Das ift aber nicht im geringfien der 
Fall; es gibt einen Heiligen Zorn, der den Böfennie, 
derichmettert und ver ſich ohne gewaltige Mitwirkung 
finnlicher Elemente’ gar nicht denken läßt. Die Borftel- 
Iung, daß Sinnlichkeit Sünde fey, hat auch wirklich zu 
den abentenerlichften Borausfeßungen verleitet. Man hat 
;. B. den Zorn, ben Eifer, bad Feuer, bie Wärme, die 
Begeilterung, Geelenzuftände, die ihre Kraft ſaͤmmtlich 
aus dem Boden der Sinnlichkeit ziehen, nicht mehr ale 
ſittlich wollen gelten laſſen und war auf dem Ziege, 
die Grundfäbe ded Stoicismus für die herrliche Moral 
bed Chriſtenthums einzutaufhen. Man bedenke ferner, 
daß diejenigen Sünden, bei welchen die Siunlichkeit die 
Hauptrolle übernimmt, wie 3. B. die Fleifhesfünden, 
nicht die argſten find, fondern erſt dann bie Argflen wer⸗ 
8 & 








462 de Wette 


den, wenn ber raffinirte Berftand fie für feine Zwede 
auebentet. Aufgeregte Sinnlichkeit gilt fogar nicht 
ohne guten Grund bei dem weltlichen Richter für einen 
Milderungsgrund des Verbrechens. Wer mit Falten 
Blute einen wohlüberdachten Mord begeht und ihn mit 
klarer Berechnung ausführt, iſt ohne Zweifel weit firaf- 
barer, aldö wer in der Dite bed Streites ohne Ueberle⸗ 
gung in blinder Aufwallung einen Menfchen erichlägt. 
Des Berfafler halte es und demnach zu Gute, wenn 
wir der Kirchenlehre, die die Wurzel der Sünde in ben 
höheren Geiſtesvermögen — dem Herzen, Verſtande 
und Willen — auffucht, den Verzug vor feiner Auſicht 
geben. Das hauptfächlichite Moment für die letztere Ans» 
ſicht findet ſich allerdings im N. Teſt. felbit, in der pau⸗ 
Iinifchen Lehre vou der odpf. 3. Müller hat aber fehr 
. gut gezeigt, daß diefer pyanlinifche Ausdruck ſich an Haupt⸗ 
fielen mit der Bedeutung „Biunlichkeit” nicht vertrage 
(die hriftliche Lehre von der Sünde, neue Ausarbeitung, 
Bd. J. 8,380 ff.). Und warum follte denn Herz, Ber; 
ſtand und Wille beim Sündenfalle von der Bünde 
unberührt geblieben feyn? Geradèe unfere Zeit fcheint 
dem Ref. ein fprechendes Zeugniß dafür, daß die Sünde 
den Berfiand verborben hat. Man darf nur eine ober⸗ 
flähliche Kenntniß von ber Tageslitteratur, zumal von 
der Journaliſtik befiden, um einzufehen, daß der Ber 
fand ber große Sophiſt ift, der die Wahrheit in Lüge 
verkehrt. Nicht die Lügen, die in Aufwalluug und Leir 
beufchaft zu Papier geworfen werben, — find bie ſchlimm⸗ 
ſten. Die fchlimmften find jene falten, berechneten, dos⸗ 
haften, wohlüberlegten, zu denen bie Sinnlichkeit gewiß 
‚dad Wenigfte beiträge. So if gewiß auch der Wille 
durch die Bünde verkehrt. Der Verf. nimmt wohl 
eine „vielen Kindern angeborene Schwädhe des Willene” 
an, wir haben aber Gelegenheit zu erfahren, daß uufer 
angeborener Wide nicht nur ſchwach im Guten, fow 


das Weſen bes chriſtlichen Glaubens ꝛc. 463 


bern oft auh ſtark im Böfen if, was fi fchon Durch 
den Eindifchen, manchmal bis zum lnerträglichen geſtei⸗ 
gerten Eigenfinn befätigt. 

Im Uebrigen weicht auch hier die Anſicht des Berf. 
von der unfrigen nicht fo weit ab, daß nicht Verſtändi⸗ 
gung zu hoffen wäre. Der Berf, gibt felbft zu (S. 189.), 
daß und Bott als finnliche Geiſtesweſen gefchaffen habe, 
dag Sinnlichkeit an fih nicht Sünde fey. Da 
mit ift wenigſtens mittelbar zugegeben, daß die Sünde 
im Beifte ihren Sig haben müfle Das Abweichende 
des Berf. von unferer Anficht befteht nur darin, daß er 
ald das Fehlerhafte im Geifte eine bloße Schwäche 
vorausfegt, während wir an 'eine Verkehrtheit bes 
Geiſtes dur den Sünbdenfall glauben, Tritt aber 
der Verf. im: Grunde nicht felbft unferer Anficht bei, 
wenn er bei Anlaß der Bosheitsfäüände (S. 180.) 
fagt: „Bei der Bosheitsſünde fehen wir nicht bloß wie 
bei den biöherigen Sünden ben fittlichen Trieb vor dem 
finnlihen zurüdtreten oder fich abflumpfen, fondern 
fogar fih vertehren und in Gift verwans 
dein”? In der That fieht man nicht ein, wie man zur 
Erflärung diefer Sünden fidy mit der fogenannten pri⸗ 
vativen Anficht helfen will, da die Bosheit nicht Pris 
vatton, fondern Poſition im eminenteſten Sinne des 
Wortes if. Hier ift es und auch nicht recht klar gewors 
den, wie der Berf. „zuletzt Alles aus der Schwäche bee 
Willens”? erklären zu können glaubt. Damm müßten ja 
die willensfchwächften Charaktere gerade bie boshaftelten 
feyn, während fidy mit der Bosheit gewöhnlich eine aus 
Berordentlihe Kraft und Ansdauer des Willens vers 
bindet. 

Wir möchten gegen die Anfiht, daß der Siß der 
Sünde in der Sinnlichkeit fey, endlich noch auf die biblis 
fhe Erzählung vom Sündenfalle felbft und berufen. In 
derfelben it wohl keine Spur davon zu finden, daß ber 


⁊ 


464 be Wette 


finnliche Trieb Irgendwie durch den Fall verkkärkt worden 
ſey. Schließt fich der Berf. doch ſelbſt an die Anficht 
von Kant und Sciller an, dag mit dem Sündenfale 
die Eultur, die ein Erzengniß der Berftandesdilbung und 
Willensentwidelung if, ihren Anfang genommen habe. 
Auch deutet fihon der „Baum der Erkenntuiß” daranf 
hin, daß der Berfland der Sünder war in Berbins 
dung mit dem Herzen und Willen, indem er werben 
wollte wie Gott und wiffen, was gut und böfe if 
a Mof. 3, 5). Daß die Luk nadı dem finnlidhen 
Gennffe des Apfels ald Quche des BSündenfalld 
angegeben werden wolle, wird wohl fein befonnener Ere 
get mehr behaupten. Der Anfang der Sünde If viel⸗ 
mehr der Inglanbe an Gott, bad Heraustreten and dem 
Gentrum der göttlichen Liebe, die Berirrung nach der 
Deripherie ber Selbfifuht, Schön nennt in diefer Ber 
ziehung der Berf. (5. 185.) den Unglauben „die legte und 
tieffte Quelle der Sünde” Bielleicht könnte man andı 
gegen die Annahme, daß der unbewußt unfchuidige us 
fand ber erften Menfchen vor dem Sündenfalle Fein 
fittlicher gewefen ſey (S.198.), einige Einfprache erheben. 
Diefe Annahme ſcheint nämlich die auch bei Zwingli vor 
fommende Borftelung in fich zu fchließen, daß Die Sünde 
nothwendig gewefen fey, gewillermaßen das einzig 
mögliche Eulturmittel der Menfchheit. Der Verf. ſelbſt 
aber macht den Sündenfall nicht als eine That der Noth⸗ 
wenbigfeit, fonbern der „‚fittlichen Wilfär” geltend (S. 197.). 
Auch fcheint ed dem Ref. eine Herabwürbigung Gottes 
zu feyn, wenn man den Menſchen aus feiner Hand als 
ein unbewußted Naturweſen hervorgehen läßt, welches 
das Gute ohne alle Freiheit that. 

Kalfch iſt die poſitive Anſicht von der Sünte ge 
wi nur dans, wenn fie in Flacianismus anszuarten 
droht und die fittlihe Freiheit des Menſchen lengnet. 
Daß nach dem Falle gar nichts Gutes, nicht einmal 


N 


das Weſen des chriſtlichen Glaubens ꝛc. 485 


die Empfaͤnglichkeit für das Gute, in ben Menſchen zu⸗ 
ruckgeblieben ſey, if eine gefährliche Uebertreibung. Der 
Sundenfall iſt eine Träbung und Verkehrung, nicht eine 
totale Berfinfterung und Vernichtung bes Gottesbewußt⸗ 
ſeyns im Menſchen, und die kirchliche Lehre bedarf in 
Diefer Beziehung gewiß einer zeitgemäßen Reviſion. 

Erſt jebt, nachdem wir bed Berf. Anficht von dem 
Weſen der Sünde kennen, iſt ed uns möglich, feine Ans 
fihe vom Werte Jeſu und Har zu madhen Zu dem 
Werke Jeſn gehört ohne Zweifel feine ganze Lebens⸗ 
erfheinung. Durd; die treffliche Schrift Ullmann’ 
über die Sündloſigkeit Jeſu wurde das Wert bed Herrn 
zum erften Male auf umfaflende Weife unter dieſem weten 
Geſichtspunkte beleuchtet, indem es als die Erfcheinung 
eines volllommen reinen Lebens aufgefaßt wurde, 
Unfer Berf. hat fchon in feiner chriftlichen Sittenlehre 
die Schwierigkeiten geprüft, weldhe mit der Annahıne 
einer völligen Suündloſigkeit Jeſu verbunden find. Vom 
Standpunkte des Glaubens in biefem Werke brüdt er 
fih (was auch Ullmann in der fünften Auflage feiner 
Schrift anerfennt, &. 148.) jedenfalls entfchiedener und 
poftiver aus. Chriftus hatte, nach feiner Unſicht, nicht 
nur das reinfte und tieffle Bewußtfenn von ®ott, ſon⸗ 
dern auch das göttliche Reben felbft in ſich; die Einigung 
ber Menſchheit mit Bott erfannte er nicht nur, fondern 
vollzog fie auch wmirftiih in feinem Thun und Leiden 
(S. 259.). Er betrachtet daher das Wert Jeſu nicht 
als fein Wert, fondern ale das Wert Gottes, und 
ihn als den, mit welchem und in welchem ®ott war. 
Die Anertennung einer göttlichen Leitung und eines götts 
lichen Beiſtandes, fügt er bei, reiche jeboch nicht ang, 
fondern man möäfje in ihm eine inuerlihe Wirkſamkeit 
und Gegenwart Gottes annehmen (S. 260). In feinem 
Leben erkennt ex ferner eine vollfommene Reinheit von 
aller Selbftfircht oder eine vollkommene Selbſtverleug⸗ 
nung und Dingebung an den Dienft Gotted. „Auch ber 


466 de Wette 


Uebelwollendſte, fagt er, kann ihm nicht vorwerfen, daß 
er in dem, was er unternahm und trieb, etwas für ſich 
gewollt habe. Er ging über bie Erde wie ein höheres 
Wefen, das fie kaum mit den Füßen berührt” Daß id 
nirgends ein Flecken an feinem Charakter gezeigt, könnte 
und freilich noch nicht bewegen, an feine Sünblofigkeit 
zu glauben. „Aber,” fährt er fort, „zu jener Reinheit von 
aller nahweisbaren Sünde kommen noch die uns 
zweidentigſten Beweife einer Zartheit und Tiefe des ſitt⸗ 
lichen Gefühles, welche jede Unlauterkeit des 
Herzens ausſchließt. — Es kann für denjenigen, 
der fid dem Eindrude, den fein Leben macht, ohne vors 
gefaßte Meinung bingibt, fein Zweifel feyn, DaB er der 
erhbabenfte Eharafter und die reinfte Seele 
it, weldhe die Geſchichte aufweik.” Mit allem 
Dem ift freilich die Unmöglichkeit zu fündigen für Jeſum 
nicht erwiefen. Und eine juriftifche oder mathematifche 
Gewißheit wird auch in diefem Punkte nie erhältlich ſeyn. 
„nen Einwurf,” fagt der Verf., „wie Einer, der durch 
die Geburt mit der fündigen Menfchheit zuſammenhing, 
babe ſchlechthin ſündlos, auch frei ven Erbfünde ſeyn 
können, vermögen wir nicht mit gefchichtlicdyhen Beweis, 
gründen abzufertigen. Hier gilt ed zu glanben und 
nicht zu vernünfteln” (5, 273.) 

Diefe Anerkennung des gläubigen Staubpunttes 
und feines Bedürfniſſes iſt fehr ſchön. Rur-will und 
fheinen, daß fo lange dem Ölauben etwas zu viel zu- 
gemuthet werben dürfte, als die Sottmenfchlid keit 
Jeſu nicht ganz uud völlig auerfannt wird. Einen ſünd⸗ 
lofen Menſchen können wir und nicht denken; wir kön⸗ 
sen uud wohl entichließen,, an einen folchen gu glauben, 
allein der Zweifel, den niederzufchlagen nicht in unferer 
Wilkür fteht, wird unfern Glauben unaufhörlich ſtören. 
Den Gottmenfhen können wir und dagegen 
nicht anders als ſündlos denken; denn wie follte 


bad Wefen des chriflichen Glaubens x. 467 


die Güude da mod, beſtehen können, wo das göttliche. 
Weſen mit dem wmenfchlichen wirklich und wahrhaftig 
eins geworden it} 

Das Wert Jeſu Tann nur dann begriffen werben, 
wenn wir ihn ale den füändlofen Gottmenfhen 
gegenüber der fündigen Menfchheit denken. Der 
Berf. hat fich an die kirchliche Eintheilung von den brei 
Aemtern angefchloffen, nur mit dem Unterfchiede, daß er 
das königliche dem priefterlichen Amte voranftellt. Gerade 
das prophetifche Amt Chriſti befteht dem Verf. eigentlich 
in nichts Anderem ald dem Offenbaren der Sündlofigr 
keit. Chriſtus iſt darum nicht bloß Lehrer der Wahrheit, 
wie dieß anch die Propheten waren, fondern die Wahr» 
heit feloft (S. 284.). Die Darftelung dieſes prophetis 
fhen Amtes hat und beim Verf. befonderd angefprochen. 
Der vulgaire Rationaliömus, and) wie er in neueren Er, 
fcheinungen wieder auftaucht, ift darin weit überflügelt. 
Aber auch bier find wir der Anſicht: Ehriftus Fönne die 
Wahrheit nur dann feyn, wenn er Gottmenſch fey. 
Wie follte denn die Wahrheit in einem Menfchen, und 
wäre er auch der erhabenfte und reinfte, perſönlich 
geworben feyn? 

Dagegen hat ed uns fcheinen wollen, ale ob das 
königliche Amt einigermaßen mit dem prophetifchen zu» 
fammenfiele. Es werden darin zwei Momente unters 
fhieden: erftend das negative der lLieberwindung der 
dem Willen Gottes widerfirebenden Sünde; zweitens 
das pofitive der vollen lebendigen Erfüllnug diefed Wil⸗ 
lens. „Beides, fagt der Berf., leiftete Jeſus nicht blog 
durch feine Lehre, fondern dadurch, baß er ein von Sünde 
seines heiliges Reben, wie er es forderte, ſelb ſt in fich 
darftellte, felb erfüllte, und Borbild ward” (©. 
260.). Drüdte fih nun der Berf. ſchon bei Darftellung 
ded prophetifchen Amtes dahin aus, daß Ehriftus als 
Prophet nicht bloß Lehrer der Wahrheit, foudern die 


468 be Wette 


Wahrheit ſelbſt fey, fo flieht man nicht recht ein, wie er 
ſich als König von fih ald Propheten unterfcheiden fol, 
zählt der Berf. zu dem Föniglichen Amte den geheimen 
unmittelbaren Einfluß, dem ein großer, reiner Menſch durch 
das Ichendige Wort, durch Gefichtsausbrnd und Geber⸗ 
Den, durch feine ganze Erfcheinung auf Andere ansüben 
mußte: fo hat ed doch den Anfchein, ald ob das gerade 
zu der Ausübung des prophetifchen Amtes Jeſu gehörte. 
Dadurch, daß er lehrte, indem er Borbild war, und im 
Leben darftellte, was er im Bewußtſeyn hatte, vollbrachte 
er allerdings „durch die höchſte fittliche That uud dem 
thatkräftigen fittlichen Geift die Befreinng der Menſchheit 
von der Sclaverei der Sünde, die Entfeflelung des gebun⸗ 
denen Willens, die Aufhebnng der fleifchlihen Schwäche” 
(S. 289.), 

Die Schwierigkeit, dad prophetifche vom königlichen 
Amte ſcharf und genau auszufondern, ift bei diefem Ans 
laffe dem Nef. wieder recht Mar geworden. Die Refors 
matoren wußten von biefer dreifachen Eintheilung noch 
nichts. Sie gingen bei Darftelung des Amtes Chriſti 
von der „leidenden Genugthuung” (satisfactio passive) 
aus, auf welche fie den weitaus meiften Nachdruck legten, 
und Daneben entwidelte ſich allmählich bie Lehre von ber 
„thuenden Genugthuung” (satisfactio activa), die wir bes 
Fanntlich in der Soncordienformel fchon ausgebildet trefs 
fen. Diefer Sintheilung würde Ref. um ihrer großen 
Einfachheit und Natürlichkeit willen den Vorzug geben. 
Was ihn noch weiter dazn beflimmen würde, will er fo: 
fort auseinanderfeben. 

Die ganze Lehre von der Erlöfung bewegt fich um 
zwei Punkte: Sündenvergebung und Sünden 
tilgung. Wir tönnen uns die eine nicht ohne die an⸗ 
dere deufen. IR die Sünde getiigt, aber nicht vergeben, 
fo ift fie eben darum nicht wirklich getilgt; ift fle verge⸗ 
ben, aber nicht getilgt, fo iſt ie eben darum nicht wirk⸗ 





das Weſen des chriſtlichen Glaubens x. 469 


lid vergeben. Run iſt aber gewiß die Gündenvergebung 
das Erfie, was dem Sünder in Chriſto von Geiten 
Gottes zu Theil wird, und es will und and die 
fem Grunde 'nicht völlig richtig fcheinen, daß das 
priekerlihe Amt Jeſn die leßte Stelle einnehmen ſolle. 
Das führt uns auf die fchwierige Frage von der Ger 
nugthnung überhaupt, von der Art und Weife, wie Ehri⸗ 
find an unferer Stelle für uns genug gethan, und mit 
Gott verföhnt und und Sändenvergebung ermwirkt habe. 
Diefe Frage ift einfach auf die Alternative zurückzufüh⸗ 
ren: ift Die flellvertretende Genngthunng Ehrifti bloß als 
ein fubjectiver Borgang im Menfchen oder als eine 
objective Thatſache in Gott felbft aufzufaffen. Der 
Berf. neigt ſich durchaus zur fubjectiven Auffaffung bin. 
„Das Sühnopfer Ehrifti”, fagt er, „iR für und nichte 
ohne den Glauben. — Der Blaube ift das Ber 
föhnende; denn Berföhnung ift ja nichts, ale der 
durch das Bertrauen auf Gottes GOnade gewonnene ins 
nere Friebe” (S. 292.). „Demjenigen, der und den Weg 
der Wahrheit gezeigt hat, ja die Wahrheit felbft if, dem 
gerechteften, liebevollſen Menfchen, dem Gefandten, 
dem Sohne Gotted, der und Bott als den liebevollen 
Bater fennen gelehrt und ihn mit Vertrauen nm 
Sündenvergebung zu bitten gelehrt hat, — glauben wir 
gern bie mit feinem Tode beflegelte Verficherung, daß 
Gott nicht will, daß die Welt verloren gehe, fondern 
felig werde” (S. 293.). Hier läßt nun aber der Verf, 
das priefterlihe Amt mehr oder weniger in bas konig⸗ 
liche übergehen. „Chriftue”, fagt er hier, „erlöfte und 
vom Uebel und Tode theild Dadurch, daß er deren Grund, 
Die Sünde, tilgte, theild dadurch, daß er im Leiden 
und im Tode felbft die göttliche Liebe "zur Erfcheinung _ 
und Verwirklichung brachte, theild endlich dadurch, daß 
er den Glauben an ein ewiged Leben in feinem Tode 
befiegelte und durch feine Auferfiehung nicht nur ſelbſt 


70 de Wette 


ale Sieger des Todes bewährt wurbe, fondern and 
den Glaͤubigen ald diefer Sieger erfchien und feine 
Auferftehungslehre bekräftigte.” Der Tod Iefu oder fein 
Sühnopfer fcheint und aber, wenn wir bei den brei 
Aemtern ſtehen bleiben wollen, aud ale Sühne gefaßt 
werden zu müffen, während die Darfielung des Berf. 
den Begriff der Sühne hier fo ziemlich audfchließt, das 
gegen denjenigen ded Sieges, der Erhebung über dem 
Tod ſtark hervorhebt. Der Tod fcheint hier mehr nur 
die fubjective Bedeutung zu haben, durch „Anfhaunng 
nud Erfahrung” die Menfchen zu belehren nnd au trös 
ften, weil dieß durch Worte und Begriffe weniger moͤg⸗ 
lich if (S. 295.). 

Jedoch fpriht es der Verf., mit dem wir oft unvers 
hofft wieder gufammentreffen, noch felbft aus, daß der 
Verföhnungstod Jeſu wirtlich ein Sünd⸗ und Sühn⸗ 
opfer fey. Nur mit feinem Begriffe von „Sühne” möch- 
ten wir und nicht ganz einverfianden erflären. Erkennt⸗ 
niß der Sünde und Reue, d. h. Beflerung, zu weden, 
iſt nach ihm der Zwei des Sühnopferd. Diefen Zwed 
können wir aber nicht für den primären halten. Der 
eigentliche Zwed der Sühne war gewiß Audgleichung und 
Wiederherftelung der durch die Sünde verlegten Har⸗ 
monie bed Guten. In diefer Beziehung hat die anfels 
mifche Genugthnungslehre ihre unmiderleglihe Wahrs 
beit. Anfelm hat nur darin geirrt, daß er die Genug 
thuung in dad Gebiet eines gewöhnlichen Rechtshandels 
herabzieht und fo einen ünftlichen, aus der Procefiuas 
liſtik hergenommenen Rechtsfall aus ihr gemacht hat. 
Daß aber die beleidigte Gottheit wieder ausgeſöhnt wer⸗ 
den müſſe, das halten wir für die Grundlage aller Res 
ligion. Der Berf. fagt, Chrifti Büßen verföhne uns 
(S. 297.); nad ded Nef. Dafürhalten ik es aber 
Bott, der mit und verföhnt werden muß, uud 
Chriſti Tod ift demnach eine wirkliche Sühne, eine Ans⸗ 


das Weſen bed chriftlichen Glaubens c. 471 


gleichung und Wiederherſtellung der durch die Sünde zers 
flörten Harmonie ded Guten in ber Welt. Immerhin 
geben wir dem Berf. gerne darin Recht, daß es falfch 
fey, die Berfühnung nur ale einen Vorgang in Gott 
begreifen zu wollen, wie es falfch if, anzunehmen, daß 
fie nur iu und mit dem Menfchen vorgebe. Biels 
mehr muß die Berföhuung fowohl in Gott als auch 
im Menfchen vorgeben, bie Sünde muß fowohl von 
Seiten Sotted vergeben, ald im Menfchen durch deu 
Glauben getilgt werden; und das kann, wie die kirch⸗ 
liche Lehre alleiu confequeut ansdeinanderfeht, nur 
durch einen E ottmenfchen geichehen. 

Die Berföhbnung if ein Geheimniß, in dem 
für den menfhlihen Berfianb die göttliche Liebe mit der 
göttlichen Gerechtigkeit zu flreiten fcheint. Dieſes Ges 
heimniß fuchte Anfelm mit feiner Theorie gleichfam zu 
zergliedern, in feine Theile aufzulöfen; und es iſt ihm 
nicht gelungen. Warum follten wir dad Geheimniß nicht 
mit dem Glauben anerfennen, da es dody unferem 
innerſten Bedürfniſſe entfpricht ꝰ Und wir müſſen es 
auch hier an dem Verf. wieder ehren, daß er die Ergeb⸗ 
niſſe feines ſubjectiven Denkens gern vor der großen, 
geheimnißvollen Thatſache der Erlöſung und Verſoͤhnung 
in Chriſto zurlicktreten läßt. Dieſe Demuth und Bes 
fcheibenheit an einem Manne, von dem D. Lücke mit 
Recht gejagt hat (götting. gel. Anzeigen vom 9. März 
1846), daß er einer der vornehmfien Begründer der heu⸗ 
tigen Theologie ſey, hat etwas ungemein Wohlthuendes 
in fih und kann und nur mit der größten Achtung vor 
demfelben erfüllen. So bellagt er es felbft, daß in unfes 
rer Zeit, in welcher ber menfchliche Geiſt alle Gebiete 
des Lebens mit feiner burchleuchtenden und ordnenden 
Kraft zu durchdringen und fich Alles zu unterwerfen bes 
mäbt fep, die heilige Scheu vor dem Geheimnißvollen 
und Böttlichen immer mehr gefchwächt und dadurch dem 


472 de Wette 


Unglauben Borfchub gethan werbe, während biefe Ber 
ſtändigkeit zugleich dem irdifchen, weltlichen Sinne und 
der Selbſtſucht ſchmeichele und der uneigennüßigen Liebe 
für das Höhere feine Anregungen und Antriebe durch 
große Charaktere mehr zu Hülfe kommen (S. 396.). Be: 
fonderd fhön iM auch die Stelle, in welder der Berf. 
den Gemüthszuftand des Gläubigen fchildert. Und wie 
wahr ift es für unfere Zeit, daß nur Wenige den Frie⸗ 
den mit Gott in feinem vollen Sinne kennen, umd ihn 
wohl Niemand in feiner ganzen Bolllommenheit hat, Wir 
glauben aber, daß diefer Friede nur im hingebenben 
Glauben an den Gottmenſchen zu finden il, nnd zwar 
nicht nur in der ſubjectiven Aneigunng defielben, fondern 
in einer objectiven Bermittelung mit demfelben durch die 
Kirche. 

Der Proteſtantismus hat ben Begriff der Kirche 
während feines erften Entwidelungsftabiumd aud natärs 
lichen Gründen zurüdgefest. Brit dem bisherigen Be: 
griffe der Kirche war er im Kampfe. Es galt damals, 
bad Recht der Subjectivität zu retten und auf dad uns 
mittelbare Gottesbewußtſeyn zurückzugehen; and dem 
Felſen Petri mußte die Ruthe mener Propheten wieder 
lebendige Quellen fchlagen. Seitdem hatte die Subjectiv 
vität fi eine Herrfchaft über alle Gebiete des Zeit 
lebens, zumal auch über ‘das religiäfe angemaßt, welde 
allen Autoritäten, und auch derjenigen. der Kirche, ein 
Ende zu machen drohte. Eine proteftantifche Kirche hat 
es überhaupt nie gegeben; denn die fogenannte „unficht- 
bare Kirche” iſt nur die Idee, nicht aber die Wirk: 
lichkeit der kirchlichen Gemeinſchaft. Das fühlten bie 
Reformatoren wohl, wenn fie fo ernſtlich Anfpruch dar 
auf machten, aus der wahren katholiſchen Kirche 
nientald ausgetreten zu ſeyn. Es ift aus diefem Grunde 
ein natärlicher und geſunder Trieb unferer Zeit, dab 
zeligiäfe Leben nach feinem Wiedererwachen auch kirchlich 





das Weſen bes chrifllichen Glaubens cc. A473 


ordnen und feſtſtellen zu wollen. Als Schleiermacher dem 
Gegenfap zwiſchen Katholiciömus und Proteſtantismus 
fo faßte (Dogmatik, Bd. I. S. 145.), daß erflerer das 
Berhältuiß des Einzelnen zu Chrifto abhängig mache von 
feinem Berhältnifie gur Kirche, letzterer dad Verhältniß 
des Einzelnen zur Kirche abhängig mache von feinem 
Berhältuiffe zu Ehrifto: fo bezeichnete er mit dieſer For⸗ 
mel nicht nur den Bortheil, fondern auch den Nachtbeil, 
in welchem der Proteſtantismus zum Katholicismus ſteht. 
Es ift fehr wahr, daß der Einzelne erfi dann ein wah⸗ 
zes und lebendiges Glied der Kirche iſt, wenn Chriſtus 
in ihm lebt; es wäre aber fehr falich, zu verfennen, daß 
nach bem gefchichtlichen, von Bott felbft geordneten Ders 
gange ber Einzelne zuerſt Glied der Kirche wird, che er 
zu Chriſtus fommt, und daß die Kirche daher gleichfam 
Die erziehende Muster ift, die ihre Kinder zu Ehrifto führt. 
Durch ſich felbk kann ja der Einzelne nicht zu Ehrifte 
fommen; an unmittelbare göttliche Eingebungen zu glau⸗ 
ben, verbietet uns die Erfahrung und das proteftantifche 
Bekeuntniß. Nur der Hyperproteflantiömus, wie er bes 
fonders im Rationalismus feinen Ausbrud fand, konnte 
darauf ausgehen, das Heil von der Bermittelung durch 
die Kirche ganz unabhängig zu machen, und es mußte 
in der Entwidelung des Proteſtantismus daher eine Zeit 
fommen, welche das Bedürfnig nach Sicherftelluug des 
Begriffes der Kirche außer allen Zweifel fegte und im 
möglichft Vielen zum Bewußtfeyn brachte, 

Bon diefem Bebürfniffe ift auch unſer Verf. durch" 
derungen. Es muß uns wichtig feyn, noch die Stellung 
zu betrachten, welche er zu ben kirchlichen Verfaſſungs⸗ 
und Gultusfragen unferer Zeit einnimmt. Daß er die 
unmittelbare Geiſtesgemeinſchaft mit Ehriflo und den 
Ehriften für das höchſte Ziel und Ergebniß bes chriſt⸗ 
lichen Lebens hält, — wollen wir gar nicht tadeln (©. 
418.). Allein ex ſelbſt beiennt, daß im ſtreugſten Siune 


474 | be Wette ö 


feine ganz unmittelbare Gemeinſchaft flattfinde, 
weil dad Berhältmiß der Chriften unter fidy und zu Chriſto 
gefhichtlich vermittelt fey. Ja er geht felbft fo weit, 
ſich eines möhler’fchen Ausdrudes zu bedienen und die 
Berwirkiichung des chriftlichen Lebens in der Gemein 
fhaft — eine zweite Menſchwerdung des ewigen 
Wortes Gottes zu nennen (5. 343.). Richtödeftoweniger 
fieht er jedoch in der Unterfcheibung zwifchen unficht- 
barer und fihtbarer Kirche eine der ſtärkſten Waffen des 


Proteſtantiomus gegen den Katholicismus. Seine Gründe | 


find: 1) der Grundſatz, daß die unmittelbare Gemein 
fchaft das wahre Ziel des Glaubenslebens nnd für einen 
jeden Ehriften die Möglichleit und das Recht vor 


handen fey, zu ihr zu gelangen, fihere und vor der Au 


maßung der rönifchen Hierarchie, vor der Annahme, es 
gebe keinen aubern Weg, zu Ehrifto zu gelangen, ale burd 
die Bermittelung der Priefter ;.2) geflatte er dem Gläu⸗ 
bigen, wo die Benußung des öffentlichen Gottesdienſtes 
nicht ohue Berlegung der Gewiflen gefchehen könne, oder 
wo ein evangelifcher Gottesdienſt gar nicht beftehe, auf 
die äußere Kirchengemeiufchaft zu verzichten und ſich auf 
den Troft, den das Bewußtſeyn der innern gewähre, zu 
befchränten; 3) fey er. ein Schußmittel gegen Schein 


und Werkheiligkeit und todted Gewohnheitsweſen; 4) 


liege in biefem Brundfage, der auch⸗ ſo ausgedrückt wer 
den fönne, Daß alle Formen unwefentlih feyen, 
das Heilmittel gegen alle in den kirchlichen Orgauismus 
eingedrungenen Berberbnifle, fo wie die Berpflichtung 
und Berechtigung zu einer nach Maßgabe ded Beduͤrf⸗ 
niffed von Zeit zu Zeit vorzunehmenden Reformation der 
firchlichen Kormen. 

Niemand wirb befireiten, daß in biefen Sägen zu 
Gunften der „unfidhtbaren” Kirche fehr viel Treffendes 
und Ginleuchtendes enthalten if. Dennoch gehört Ref. 
zu denjenigen, welche ben Begriff einer „unfichtbaren 


das Weſen bes chriftlihen Glaubens ꝛc. 475 


Kirche für einen verfehlten halten und ber Anficht find, 
daß innerhalb des Proteſtantismus viel Mißbrauch mit 
bemfelben getrieben worden ifl. Sobald wir den äußern 
Organismus der Kirche, ihre Formen, Ginrichtungen, 
Beamten, Dienfiverrichtungen u. f. w., für unmwefentlich 
"erklären, fo pflanzen wir ben kirchlichen Indifferentismns 
und entbinden befonderd bie Gebildeten ihrer kirchlichen 
Pflichten, die gemäß ihrer focialen Stellung, ihren dogs 
matifchen Unfichten und ihrer Mtlichen Weltanfhauung 
theilweife fehr gern mit einer unfihtbaren Kirche und 
einem Gottesdienfte im reinen Geiſte fih begnügen. 
Was der Verf. zu 1) fagt, trifft nur die Geiftlichkeites 
kirche; wer wird aber diefe für die wahre fihtbare Kirche 
halten? Was der Verf. zu 2) fagt, ift nur auf feltene 
Ansnahmen anwendbar; aber auch dann kann der Haus⸗ 
gottesdbienft zu Hülfe kommen. Und follte denn ;u 3) 
nicht die befte Abhälfe gegen Schein» und Werkheiligkeit 
in einer lebendigen kirchlichen Gemeinfchaft liegen, 
die ihr Heil nie in tobten "Formen fuchen wird. Die 
äußern firchlichen Formen aber zu 4) für unweſent⸗ 
lich zu erflären, erfcheint und mehr als bebenflih. Es 
kann doc, nichts unmwefentlich feyn, was Chriſtus felbft 
angeordnet hat. 

Freilich hängt das Urtheil hieräber ganz von ber 
Anficht über das Weſen des Gottesdienſtes ab. 
Gicht man den Gottesdienft nur als eine religiöfe Unter, 
weifung für die Zurücgebliebenen unter ben erwachfenen 
Ehriften an, für ein Surrogat deffen, was die Schule in 
der Jugend zu wenig geleiftet hat, fo ift ſich nicht zu 
verwundern, daß man hie und da an ein Schließen der 
Kirchen gedacht hat, zumal feit bie Emancipation der 
Volksſchule fo feurige Vertheidiger gefunden hat. Der 
Berf. if von dieſer Anfidyt weit entfernt, und er bat den 
Begriff der Predigt, die nun einmal den Mittelpunkt 
des proteftantifchen Gottesdienſtes bilder, u und ſchön 

Theol. Stud, Jahrg, 1847, 


476 de Wette 


gefaßt, wenn er fie als „das leute, fruchtbarfte Ergebniß 
der Aneignung und Wiederhervorbringung ber Dffen- 
barung, dad Zeugniß des zur concreten, individuellen, 
Wahrheit gewordenen Glaubens und ale das Erweckungs⸗ 
mittel deffelben Glaubens für die Gemeinde, überbanpt 
als die Bläthe und Frucht des lebendigen Schriftverſtänd⸗ 
niſſes“ fchildert (S, 425.) Nur möchten wir bann bie 
Prediger nicht.ald Beämtete oder Diener der Be 
meinde (S. 420.) begsicdhnet wiffen, eine Bezeichnung, 
die nnd auch neben vielem trefflich Geſagten iu der Theo 
rie ded Cultus von Kliefoth mißfaflen hat. Der Pre 
diger fol, nach unferer Anficht, nie der Diener eines 
Menfchen oder irgend einer menſchlichen Gemeinſchaft 
werden; er fol ein Diener Ehrifti, des göttlichen Wor⸗ 
tes, ein Botfchafter an Ehrifti Statt feyn (2 Kor. 5, 20.). 
Es ift andy nicht richtig, daß der Prediger den Glauben 
feiner Gemeinde predigen folle, was man jeßt fo oft gewiſſen 
Tagesmeinungen zu lieb fordern will, Der Prediger foll 
Bad Evangelium, das Wort Gottes, den Glauben an 
Chriftum predigen, habe feine Gemeinde einen Glauben, 
was fie für einen wolle. Hat fie den rechten noch nicht, 
fo fol der Prediger denfelben in ihr auferbauen. Scheint 
der Verf. voraudzufeßen, daß „nur ber größte Theil der 
Ehriften” des Gottesdienſtes bedürfe, daß es alfo auch 
manche gebe, welche benfelben nit nöthig hätten (S. 
420.), fo find wir auch hierin nicht ganz feiner Meinung. 
Für jeden lebendigen Ghriften, fey er hochgebildet 
oder ungebildet, muß der Bottesdienft ein Bedürfniß ſeyn 
aus eben dem Grunde, den ber Verf. fo unvergleichlich fchön 
bervorhebt: weil der Sottesdienft Die fortwäh—⸗ 
rende „Wiederhervorbringung der Offenbas 
rung” if. In der von Gott felbt angeordneten Er: 
fcheinungsform offenbart fich uns in demfelben das Ge 
heimnig der Eriöfung und Berfühnung. Im Gotteds 
Dienfte bekennen wir uns zu biefem Geheimniffe, eignen 


$ 


bad Wefen des rifllihen Glaubens ꝛc. 477 


uns baffelbe an, ſtimmen ein in die Lob» und Danklieder 
zum Preife des Heren. Manche Prediger erkennen freis 
lich in unferer Zeit ihre hohe Aufgabe noch nicht genug. 
Auch hierüber hat der Berf. Treffliches gefagt. „Unſere 
Prediger”, bemerkt er nämlich, „‚fInd entweder unbelebte 
Altgläubige, vder kraft: und charakterlofe Rationaliften 
oder zu eifrige nnd heftige NReugläubige, die das alte 
Eutherthum ober den alten Calvinismus wieder verkündi⸗ 
gen, oder Rationaliften einer neuern Art, die noch ſchlim⸗ 
mer ift ale die altes; aber erleuchtete Prediger, die fich 
den lebendigen Geift des Evangeliums angeeignet haben 
und mit aller Kraft ded wahren Glaubens und der Be 
geiſternug eine Buße predigen, wie wir fie nöthig haben, 
und wofär die Befleren aller Stände Empfänglichleit und 
guten Willen hätten, wenn ihnen nur ber Weg gezeigt 
wärde, und die zugleich mit ihrem Charakter und Wandel 
vorleuchteten — foldyer gibt ed wenig” (S. 384). Allein 
die Chriſten follten bedenken, daß der Gottesdienſt noch 
andere Beftandtheile ald die Predigt hat, und daß nicht 
gerade ausgezeichnete, fondern nur ernfle, treue unb 
fromme Prediger und noch thun, deren ed doch an vie⸗ 
in Orten gibt. 

Der Gotteödienft hat aber noch ganz andere Bes 
Randtheile als die Predigt, und das darf Niemand vers 
geffen, der fi um der ungenügenden Predigt willen von 
bemfelben dispenfirt glaubt. Wir kommen damit auf den 
ymbolifchen Charakter des Gottesbienfted zu fpre- 
hen. Raum wird in unferer Zeit mehr ein Urtheils⸗ 
fühiger beftreiten, daß der Proteſtantismus auf diefem 
Gediete zu viel zerſtört und zu wenig aufgebaut habe. 
Der Rationalismus mit feiner nüchternen, vernünftigen 
Religion hat der Eirchlichen Symbolik noch. den Todes 
ſtoß gegeben, un® hätte confequenterweife fo weit gehen 
mäflen, als die Wiedertäufer im Zeitalter der Reforma⸗ 
tion, die ihre Gottesdienfte im Freien abhielten. Lnfer 

32 * 


478 de Wette 


Berf, zeigt auch in diefem Punkte, wie fche er wit der 
Zeit fortzufchreiten weiß und ihre religiäfen Bebürfnifie 
verfieht. „Es iR”, fagt er treffend, „nur aus der ein⸗ 
feitig dogmatifchen und verfländigen Richtung bed Protes 
ſtantismus erfläriich, daß nach Abthnu aller katholifchen, 
sum Theil allerdings verwerflichen Gebräuche, die ſich 
an die hohen Hefte aufchloffen, die Feier derfelben bie 
jegt auf die gewöhnlichen fonntäglich wieberlehrenden 
Formen bed Gebets und Geſangs befchränft geblieben 
fl. Ueberhaupt fehlt ed und an heiligen Ge⸗ 
bräuchen, indem die alten abgefchafft find und dem 
kirchlichen Leben burd das Liebergewicdht des Begrifs 
fes und Dentens bie Kraft, neue hervorzubringen, wer 
nigftend bis zur Stunde gelähmt ift” (S. 427 ff.). Mit 
vollem Rechte beklagt es der Berf., dag in der reformir⸗ 
ten Kirche der finnreich angelegte Cyklus bed Kirchen, 
jahres aufgegeben wurde, unddverlangt Wiederherfiellung 
deſſelben mit zwedmäßiger Berbeflerung. Sehr fhön bes 
mertt er: „Die drei hoben Feſte mit ber Leidenswoche 
‚ Scheren in ihrer tieffinnigen, ewig jungen Symbolik jährs 
lich wieder, und bieten der SÖffentlihen Andacht einen 
unerfchöpflichen Reihthum von Anktnüpfungspuntten.” 
Es war natürlich, daß in der proteftantifchen Kirche das 
dogmatifche Intereffe mehr als billig vorherrſchte; dafs 
felbe fol auch von dem kirchlichen nicht verfchlungen 
werben, und in diefer Beziehung behält Schelliug in 
feiner vielbefprochenen Borrede zu Steffens nachgelaſſe⸗ 
nen Schriften Recht, daß es ein Unglück wäre, wenn ber 
Proteftantismus in erneuerten Verfaflungsformen Erfag 
für dogmatifche Weiterentwidelungen zu finden hoffte; 
allein gewiß iſt auch wahr, daß das dogmatiſche 
Denten feinen höchſten Ausdrud im kirchlichen 
Leben erhalten muß, fonft wirb da& Chriſtenthum aus 
einer Lebensgemeinfchaft eine Schule, oder zerfällt viel⸗ 
mehr in eine Anzahl von Schulen. 


das Weſen des hrifllichen Glaubens x. 479 


Unfere ganze Firchliche Symbolik befchräutt fich, wie 
der Berf. richtig angibt, auf-die beibehaltenen zwei Sa» 
cramente: bie Taufe und dad Abenpmahl. Ohne 
Zweifel wären auch diefe vom Proteſtantismus aufgegeben 
worden, wenn fle nicht biblifch fich hätten begründen laſ⸗ 
fen. Der Ansdruck GSacrament wird darum auch hente 
noch von Menfchen in Anfpruch genommen, die ihm vor⸗ 
werfen, daß er nicht biblifch fey. Der Verf, thut bieß 
nicht; er fcheint von dem Bedurfniſſe nach kirchlichen 
„Myfterien” durchdrungen, dergleihen alle Religionen 
hatten, und bie fhon darum eine Nothwendigkeit find, 
weil die Religion felpft der Ausdruck für bie ewigen, nus 
erflärlichen Geheimniſſe if. Dagegen muß man es aller» 
dinge mit ihm beflagen‘, daß innerhalb der proteflantis 
ſchen Kirche „eine zwiefpältige Theorie des Sacramentd, 
indbefondere des heil. Abendmahles aufgeftellt worden 
iR” (S. 428). Nur find wir darin nicht ganz feiner 
Meinung, daß er diefen Zwiefpalt nur aus „falfchem 
dogmatifchen Wiflenstrieb und der Sucht, Alles in haar⸗ 
fharf bekimmte Begriffe zu fallen” (S. 428.), herleiten 
will, Es if bier nicht der Ort, auf den tief principiellen 
Gegenfaß des lutheriſchen nnd reformirten Pros 
teſtantismus einzugehen; fo viel ift aber außer allem 
Zweifel, daB diefer Gegenſatz ans guten Gründen in der 
Lehre vom heil. Abendmahle am fchärfften hervorgetreten 
iR. Der Verf. felbit wirft Zwingli vor, daß er „das 
Zerglieberungsmefler etwas zu tief habe einfchneiden laſ⸗ 
fen”, nnd räumt von Luther ein, daß er „an dem gläus 
bigen Gefühle fegehalten habe, im Abenbmahle etwas 
Wirkliches und Wefenhaftes von Chriſto zu em⸗ 
pfangen.” Gewiß ging Luther darin zu weit, daß er die 
zwingli'ſche Anficht nicht mehr als eine chriftliche wollte 
gelten laffen und die brüäderlihe Gemeiufchaft mit den 
Neformirten wegen der Abweichung in der Sacraments⸗ 
lehre anfhob. Der Gegenſatz lag aber eben tiefer, Zwingli 





280 de Wette 


ließ fein Zerglieberungämefler nicht nur im ber Sacra⸗ 
mentslehre zu fehr einfchueiden, fonbern ging überhaupt 
von einer andern hriftologifhen Grundanfhanung 
aus, ald Luther. Ref. hat an einem andern Orte (We⸗ 
fen des Proteſtantismus, Bd. I. ©. 325 ff.) nachgewie⸗ 
fen, daß Zwingli die menſchliche Ratur Chriſti mit der 
göttlihen gar nicht ald eins zu denken vermochte und 
an feine rechte Menfhwerdung Gottes in Ehriſto 
glaubte. Sein Gottesbegriff blieb immer ein jenfeitiger, 
abftracter. Luther war dagegen in den umgelchrten Feh⸗ 
ler verfallen unb hatte die menfchliche Ratur Ehrifli im 
feiner göttlichen untergehen und verfchwinden laſſen (We⸗ 
fen des Proteſtantismus, Bd. I. ©. 313 ff.) Darum 
fiel es ihm micht fchwer, eine gegenwärtige Leiblichkeit 
Shrifti im Abendmahle anzunehmen, da ihm der (feinem 
Begriffe nach aufgehobene) Leib Chriſti überall war, wo 
Ehriftus feiner Gottheit nach. «lieber beide Neformatoren 
wird man milder urtheilen und ihren vermeintlichen Ei⸗ 
genfinn richtiger würdigen, wenn man bedenkt, daß fie 
von verfchiedenen theologifchen Brundanfchauungen aus⸗ 
gingen. 

Nach unferer Anficht bedarf ſowohl das Intherifche 
ald das reformirte Dogma in der Abendmahlslehre der 
Umbildung. Den Fehler des Intherifchen Dogma deckt 
der Berf. richtig darin auf, daß Luther einen falfchen 
Begriff vom Leibe und Blute bed Herrn mitbrachte, das 
heißt, daß er die Reiblichleit, dad Seyn des Herrn 
(Matth. 26, 26.) für ein localesd nahm. Er überfab 
dad Symboliſche ded Abendmahled. Der Berf. fagt 
ganz wahr: „Gegenſtand und Inhalt der Aneignung if 
hier nicht ein Stoff oder eine Subftanz in ihrem Seyn 
oder Befiehen, wie der Leib Ehrifti an fich gedacht wird” 
(S. 433.). Dagegen flimmen wir mit dem Verf. nicht 
überein, wenn er ber Anficht zu ſeyn fcheint, Gegenſtand 
und Inhalt der Aneignung fey nicht etwas, das außer⸗ 


dad Weſen des chriſtlichen Glaubens x. 481 


halb des Bläubigen fey. Was im Abenbmahle augeeid- 
net wird, ift etwas weientlih DO bjectives, etwas, das 
außerhalb des Genießenden if. Darin hatte Luther ges 
gen die Neformirten ganz recht. Hätten wir das Object 
bes Abendmahles {hen in und: fo fieht man nicht ein, 
warum wir zum Abendbmahle gehen follten. Den Glau⸗ 
ben, das fubjective Gefühl zum Adenbmahlsinhalte mas 
hen, ift irrig, und diefer Irrthum ift Schuld daran, daß 
viele Ehriften, welche wenigftend die Predigt noch befus 
den, fi vom Genuſſe des Abendmahls losgeſagt haben. 
Chriſtus — der wirkliche gekreuzigte Chriſtus — If 
dad Dbject des Abendmahles, und derfelbe ift und im 
Abendmahle auf eine Weife gegenwärtig, wie ſonſt 
nirgends. Diefe Gegenwart Chrifti in der fombolifchen 
Anfhauung und dem fymbolifchen Benuffe if das My⸗ 
Rerium des Abendmahles. Der Berf. gibt die 


aunch wieder felbft zu, wenn er die ganze Abendmahls⸗ 


handlung einen chriftlichen Bemeinfchaftsact bilden läßt, 
„in weichem Ehriftus, unabhängig vom Blauben 
des Einzelnen, thatſachlich gegenwärtig ſey, 
jo daß auch der bloße Zufhauer fagen müßte, er ſey 
gegenwärtig” (S. 435.), Damit geht der Berf. fogar 
über den reformirten Standpunkt weit hinaus, ja er 
ſchließt fi dem entfchteden Iutherifchen an, wenn 
er nicht nur die Unwürdigen, fondern felbft die Uns 
gländigen daffelbe, was der Würbige und Gläubige, 
nur aber in einem ihm verderblichen Begenfage vermit⸗ 
telſt des Abendmahlsgenuſſes empfangen läßt. Denn das 
war befanntlih der nnerledigte Streitpuntt zwiſchen 
Butzer und Luther geblieben, daß ber erſtere nur zugeben 
wollte, die indigni, aber nicht die impii genöffen im Abend» 
mahle den Leib und das Blut ded Herrn. Zu hart end» 
lich fcheint uns das Urtheil des Verf. Aber bie Abend» 
mahldichre Galvin’d. Mit der „umfchriebenen” Perföns 
lichkeit Ehriſti im Himmel rettete er die perfönliche Selb⸗ 


— 





482 de Wette 


fländigkeit Ehriſti gegen bie Intherifche Ubiqwirätsichre, 
dagegen lehrte er die wirkliche und wefenhafte Ge 
genwart Ehrifti im Beifte, die er freilich für den Verſtand 
, nicht begreiflich machen Tonnte, Er nahm eine durch ben 
Geiſt vermittelte Einwirkung des Im Himmel befiudlichen 
Fleiſches Ehrifi an, und wollte damit die reformirte mit 
der Intherifchen Borftellung verföhnen, ein Beftreben, das 
wie jedenfalls ehren müflen. 

Entfchieden müßten wir dem Verf. widerfprechen, 
wenn er in dem Sacramente der Taufe nur eine „Weihe 
der in die chriſtliche Gemeinſchaft Eintretenden” fehen 
wollte. Das iſt die alte zwingli'ſche Vorſtellung, die aber 
anch in der reformirten Kirche ziemlich allgemein aufge 
geben if. Ref. hat an einem andern Drte entwidelt, 
daß die Taufe ſchon den Neformatoren das Sacrament 
der Gündenvergebung war, mithin eine fymbolis 
ſche Bezeugung oder Befiegelung, daß im Tode Jeſu dem 
Täuflinge Gündenvergebung zugeſichert ſey. Faßt man 
die Taufe ald Sacrament der Wiedergeburt, wie 
dieß, beſonders durch die Stelle Tit. 3, 5. veranlaßt, 
Biele thun, fo hat man eine fchwere Stellung gegen die 
MWiedertänfer, welche die Taufe ald eine ſymboliſche Ber 
zeugung, daß ein Menſch wiedergeboren fey, geltend 
machen und darum anch erft dann ertheilen, wenn fie 
von ber flatthabenden Wiedergeburt des Täuflings 
überzeugt find. Bon bier aus läßt fih die Kinder 
taufe mit dem beften Willen nicht rechtfertigen, audger 
nommen mit der abentheuerlichen Annahme mehrerer Rer 
formatoren, daß der b. Geiſt die Wiedergeburt ſelbſt in 
nugebornen Kindern bewirken könne, wofür dad Beifpiel 
Johannis des Täufer angeführt wird. Der Berf., wel 
cher die Wiedergeburt ebenfalls für „‚den Begenftand und 
Gehalt des Taufacted” hält (S. 437.), fucht fidh dadurch 
zu helfen, daß er jene für etwas Fließendes, einer Ab 
fiufung und einem Gradverhältniffe Unterworfenes er 


das Wefen des dyeiftlihen Glaubens x, 483 


Härt, für etwas, das in der Taufhandlung nicht ſchlecht⸗ 
hin vollendet und abgefchloflen,, fondern auch nach ders 
felben noch fortgefegt und immer mehr zur Vollendung 
gebracht werben mäfle. Damit fchiene und aber der Bes 
griff der Wiedergeburt in den der Heiligung Üüberzugeben, 
and wir glauben, zwifchen einem wiedergebornen und 
einem unwiedergebornen Menfchen fey nicht nur ein flies 
Bender, fondern ein fefter Unterſchied, wenn fi aud 
sicht in jedem Menfchenleben der Anfangepunft der Bes 
fehrung genau und gleihfam mathematiſch nachweifen 
läßt. Alle diefe Schwierigkeiten löſen fi, fobald man 
die Taufe ald Gacrament der Sündenvergebung faßt, 
was auch ihr urfprünglicher Begriff war. Denn es läßt 
ſich aus dem neuen Teftamente durchaus nicht nachweifen, 
daß die Taufe nur Wiedergebornen ertheilt worden wäre, 
and der Verf. fagt in diefer Beziehung ganz richtig, 
bei manchem Täuflinge möge im apoftoliichen Zeitalter 
die (religiöfe) Seibfkthätigkeit nur erft in einem fehr ges 
tingen Grade vorhanden gewefen feyn (S. 431.). Jeder 
Menfch bedarf der Sündenvergebung; denn Gott will, 
dad alle Menfchen felig werden. Warum follte alfo 
dad Pfand derfelden unmändigen Kindern verweigert 
werden? Ihnen dagegen ein Pfand ihrer Wiedergeburt 
zu ertheilen, das fchien dem Ref. immer zum mindeften 
eine unbegräudete „Prolepfie.’ | 

Unftreitig find nun auch noch bie Anfichten des Berf. 
über Kirchenverfaffung unferer befonderen Anfmerk⸗ 
famteit werth, nm fo mehr, als die Kirchenverfaflunges 
frage eine fogenannte Zeitfrage geworden ift. Wenn jebt 
Manche von einer freien Kirche fchmärmen und in 
beſter Abficht völlige Trennung der Kirche vom Gtaate 
herbeiwünſchen, fo ift der Verf. ein viel zu tiefer Deus 
ter, viel zu umfichtig und zu erfahren, ale daß er in dies 
ſen Wunfch einftimmen könnte. Er vertennt und verhehlt 
zwar Die Mängel unferer Staatöfirche nicht, die den Or⸗ 








438 be Wette 


ganismus des kirchlichen Lebens in feiner Ausbilbung 
bemmte, bie Kirchenzucht abſchwächte und zuletzt aufläfte 
und bie Gelbfithätigkeit der Gemeinden lähmte; aber er 
verfennt eben fo wenig die „unendlich wichtigen Vor⸗ 
theileꝰ (S. 441.), die mit dem Beſtehen einer Staatskirche 
verbunden find. „Wenn das Ghriftenthum nichts als 
Sadıe der Einzelnen und der frei gewählten chriftlichen 
Befelfchaften wäre”, fagt er vollkommen richtig, „fo fände 
die Möglichkeit ftatt, daß ein großer Theil der Staates» 
bürgerichaft nicht chriftlich, entweder jüdifch, oder deiſtiſch, 
oder naturaliftifch wäre, daß fomit aller chriflihe Ger 
meingeift aufhörte und an defien Stelle der Ungeiſt der 
Selb » und Gewinnſucht träte”, Die Regierung würde 
ihren chriſtlichen Charakter verlieren und bald keine ans 
dern Grundfäge mehr. al& die der weltlichen Gerechtigkeit 
und des Nutzens haben, die Aufrechthaltung und Pflege 
einer wiflenfchaftlichen Theologie würbe ihr entriffen, und 
das chriflliche Leben möglicherweife der Unwiſſenheit, 
dem linverflande und Uberglauben preis gegeben. Die 
norbamerikanifchen kirchlichen Zuflände, die nur ein Uns 
wiflender für Rormalzuftände der Kirche halten Tann, 
und die Riemanden zuträglicher find ald der römifchen 


Kirche, die einen feſten kirchlichen Organidmus bat und 


mit dieſem die Seeten überwindet, legen das ſprechendſte 
Zeugniß für die Wahrheit des vom Berf. Sefagten ab. 
Dem Unglauben und dem kirchlichen Radicalismus wäre 
allerdings die Trennung der Kirche vom Staate fehr 
erwänfht. Das Lofungswort zur kirchlichen Auflöfung 
wäre damit gegeben. Die Kirche würbe ſich zwar audı 
in biefem Falle nicht gänzlich auflöfen, fondern nur nen 
gehalten, und der Staat müßte mit der Zeit auf biefe 
oder jene Weife mit der Kirche, die er nicht entbehren 
fann, wenn er nicht fein innerfted Lebendband zerſtören 
will, wieder ein neued Bündniß fchließen. 





das Wefen bes chriftlichen Glaubens ꝛc. 485 


- Bogu aber eine gefährliche, möglicherweife für ben 
Staat ſelbſt verderbliche Kriſe herbeiführen, wenn auf 
dem milden und verfländigen Wege der Reform viel 
Beflereö erreicht werben Tann? Der Berf. fchlägt zum 
diefem Ende die Repräfentatios oder Synodalverfafs 
fung vor, der für die Gemeinden Presbyterien zu Grunde 
liegen müßten. Die Preöbpterien hätten im Befonderen, 
die Spnoden im Ganzen das Kirchenregiment zu 
führen; die Geiſtlichen würden als diejenigen Mitglieder, 
weldhen die lebendigere Theilnahme und die befiere Ein⸗ 
fiht beimohnt, den Haupttheil der Kirchlichen Vertretung 
bilden; jedoch müßten auch Laien, welche durch ihren 
firchlichen Sinn und ihre Einfiht das Zutrauen des Bols 
kes befüßen, hinzugezogen werden, und bie Negierang 
mäßte in den Synoden durch Commiffarien vertreten ſeyn. 
Bir erfennen hierin allerdings die Grundzüge einer orgas 
nifcheren, Icbendigeren Kirchenverfaflung, die in ber refor⸗ 
mirten Kirche auch hie und da ſich ausgebilder vorfindet, 
während dagegen auf bie in Deutfchland und zum Theile 
felbR in der Schweiz an vielen Orten beftehende Gonfis 
Rorialverfaflung von dem Berf. gar feine Rüdficht ges 
nommen wird. Darand entfieht der Uebelſtand, daß, obs 
wehl der Verf. die Staatskirche beibehalten wünſcht, ex 
dennoch den Regierungen zu wenig Einfluß auf das Kirs 
henregiment einräumt. Eine zweckmäßige Verbindung bed 
Synodal⸗ und Eonfiftorialfpftems fchieue dem Ref. befons 
derö anzurathen; denn rein demokratiſche Formen 
fönnten der proteftantifchen Kirche diejenige Feſtigkeit nicht 
geben, weldyer fie zumal der römifchen Hierarchie gegen, 
über bedarf. Auch ift ed uns einigermaßen anfgefallen, 
daß der Berf. gar nicht in Betracht gezogen hat, ob bie 
Eyiffopaiverfaflung, welche Melanchthon fo gerne der 
deutſchen Kirche erhalten hätte, mit dem Principe dee 
Protefantismud unter gewiffen Boransfehungen nicht 
erträglich "wäre. 


66 de Wette 


Mit allem dem, gibt aber ber Verf. felbft zu, wäre 
die Kirche immer noch zu einer bloßen „Anftalt für 
hriftlihde Erziehung und Erbauung herabge 
funten” (S. 441.). Das fittlihsthätige Leben. bliebe 
fomit faR ganz vom Kirchenleben ausgeichloffen (S. 443.). 
Abhülfe hievon erwartet der Berf. allein vom chriſtlichen 
Bemeingeifte und in der freien Bethaͤtigung beffelben 
dar hriftliche Vereine. Damit ift nichts Anderes 
gefagt, ald daß die Staatskirche durch die freien Ber 
eine reformirt werden müſſe, was auch die feſte Leber 
jeugnug des Ref. iſt. 

Es ift gewiß wahr, daß die Mitglieder foldyer freien 
Vereine die beften Ehriften find (S. 379.)5 aber in 
vieler Beziehung auch wahr, was der Berf. au ihnen 
ausſetzt, daß fie meiſtens zu engherzig find, zu viel Bor 
urtheile gegen die Wiffenfchaft haben , fidy die Offenbas 
zung nicht lebendig geung anzueignen vermögen (S. 380.). 
Auf der anderen Seite find aber viele weitherzigere Chri⸗ 
fen hieran ſelbſt Schuld, weil fie feinen Sinu und feine 
Theilnahme, nicht einmal ein Bedürfniß für das freie 
Gemeindeleben haben und gleich Pietismus und „DMuder 
zei” darin wittern. So weit als der Berf. würden wir 
jedoch nie gehen, welcher dad Predigen und die Wahl 
der Prediger den Conventikeln überlaflen und tim öffent 
lichen „Gottesdienfie” das darftellende ſymboliſche Ele⸗ 
ment dergeftalt zum Uebergewichte erheben würde, daß 
die regelmäßigen Andachtsübungen auf bibliſche Borle- 
fung, Gebet und Geſang befchränkt, die Predigt aber 
auf die hohen chriftlihen Feſte und befondere Bettage 
aufgefpart bliebe (S. 444). Wird jekt zu viel gepre 
digt, fo wollen wir wenigfiend nicht in das andere Gr, 
trem verfallen und zu wenig predigen, was gerade zu 
dem, vom Berf. fo fehr verwünfchten, änßerlichen Gere 
moniendienfte führen koͤnnte. 


dad Weſen des chriſtlichen Glaubens x. 487 


Daß ſich die Kirche einſt vollenden werde, das 
iR die große Weiſſagung des N. Te. Der Verf. ers 
wartet diefe Vollendung in der Zeit in einem neuen gros 
den Siege des chriftlichen Geiftes der Wahrheit und Ges 
techtigleit (ES. 449.) Wahrhaft vollender fidh die Kirche 
Chriſti aber erft in der Ewigkeit. Der Berf. hat an bie 
Stelle einer unperfönlichen Unfterblichkeitdichre, die ganz 
dem modernen, mit dem &lauben zerfallenen Bewußtfeyn 
angehört, wieder bie kirchliche Lehreder Auferfiehbung 
von ben Todten gefeht. Dagegen hat er alles vors 
wigige Grübeln darüber fern gehalten, wie der Proceß 
der Auferfiehung vor fich gehen werde, Auch die Frage, 
warum der einzelne Gläubige nicht fogleich nadı dem 
Tode zur Vollendung gelange, und welches ber Mittels 
zuſtand fey, den er durchzugehen babe, weiſt er ale ans 
Gelbſtſucht entfpringend zurück. „Es ift der Wille Gots 
tes ſelbſt,“ fagt er, „daß wir Über diefe Dinge in Uns 
wiffenheit bleiben follen. Linfer Erfenntnißvermögen ift 
fo eingerichtet, daB wir über Allee, was jenfeitd dieſes 
irdifchen endlichen Lebens liegt, nichts Gewiſſes und Bes 
Rinmtes wiſſen können” (©. 459.). Es ift auch pfychos 
logifh fehr wahr, was der Verf. noch fpäter bemerkt, 
daß diefe Unwiſſenheit wohlthuend für uus ſey. „Wäre 
uns ein Willen über diefe Dinge möglich, fo hörten fie 
auf, Begenflände des Glaubens und der Hoffnung zu 
fon, und dem Geiſte wäre das Geheimniß geranbt, 
defiem er bedarf, um feine höchfte Schwungfraft zu Üben” 
(8. 460.). 

Der Berf. fchließt fein Werk ſelbſt mit einem Ges 
heimniffe, demjenigen der Dreieinigkeitslehre. 
Bir können nnd nad) dem Standpunkte des ganzen ers 
kes wohl vorftellen, daß er die Lehre von ber fogenanns 
km immanenten Dreieinigkeit verwirft und fich nur 
an die Dffenbarungsdreieinigkeit hält, welche auf 
die dreifache zur Erfcheinung gefommene Geoffenbartheit 


488 be. Wette 


Gottes ald des Vaters, des Sohnes unb des h. Geiſtes 
gurüdgeht. Die Abneigung gegen die immanente Drei 
einigteitöichre war fchon unter den Reformatoren, zumal 
den reformirten, fehr groß und Galvin hätte fich ſchwer⸗ 
lich jemals wieder zu ihr zurdgeflüchtet, nachdem er fie 
fhon völlig verlaffen hatte, wenn ihn nicht Servet durch 
feine Oppofltion vom Standpunkte des naturaliftifchen 
Mantheitmus aus erfchredt hätte. Dennoch iſt die im: 
manente Dreieinigfeitsichre nicht fo ganz verwerflich; 
denn wenn Unterfchiede aus dem göttlichen Weſen in 
der Geſchichte des Reiches Gottes hervortreten, fo 
müſſen dieſe Unterfchiede in dem göttlihen Weſen felbk 
ihren Grund haben. Das hat der Chriſt ald ein uner⸗ 
forfhlihdes Gcheimniß glänbig anzuerfen 
nen; „die fcholaftifche Speculation aber in das göttliche 
Weſen felbft hineinzuverfegen” (S. 492.), dazu fehlen 
dem Menfchen alle Bedingungen, nnd die Firchliche Lehre 
bedarf in diefer Beziehung heute noch der Neviflon, die 
von den Neformatoren an die Hand genommen, aber 
wieder aufgegeben wurde. 

Mir können nun unfere Bemerkungen über das treff⸗ 
liche und inhaltreiche Werk des Verf. nicht fchließen, ohne 
noch einen Blick auf die ganze Anordnung und Eintheis 
Inng deflelben zu werfen. Daß wir dieß erft jeßt thun, 
hat darin feinen Grund, daß und der Stoff des Buches 
wichtiger ale die formelle Behandinng fchien, und bie 
leßtere erft dann recht verftanden werden fann, wenn ber 
Stoff felbft befanne if. Auch wird in der formellen dw 
handlung zumal eined dogmatifchen Syſtems immer eine 
gewiſſe Freiheit eingeräumt werben müffen, zumal in ei 
ner Zeit, die in den Brundprincipien fo fehr hin und her 
fhwantt. Im Allgemeinen hat der Berf. den von Schleier: 
macher zuerſt betretenen Weg eingefchlagen und nad 
Boranftellung einer Reihe von einleitenden Säßen, welche 
von der Ratur und Darſtellung ded Glaubens handeln, 
zuerft die urfprängliche, aber geflörte Einigung der 


bad Weſen des chriſtlichen Glaubens ꝛc. 489 


Menſchen mit Bott, dann in einem zweiten Theile bie 
durch Ehriſtus wieder hergeftellte Einigung der Mens 
fhen mit Bott behandelt. Diefe Anordnung bat ihre 
großen Bortheile, die ſich hier aufs Reue wieder beftätiget 
haben. Ihre großen Nachtheile hat fie aber auch. Diefe 
liegen darin, daß die ganze Dogmatif auf diefem Wege 
nicht genug objectiven Hintergrund hat, daß ſich die 
einzelnen Sätze aus dem fubjectiven chrifllichen Bewußt⸗ 
ſeyn gleichfam herandfpinnen, aber nicht auf ben großen 
gefchichtlichen Heilsthatfachen ruhen. Dem Ref. fcheint 
ed mißlich, vom Glanben reden, feinen Begriff entwidels 
u müffen, ebe nur vom Objecte bes Glaubens, 
vou Chrifto, irgeubwie die Rede feyn konnte. Und doch 
handelt die ganze Einleitung vom Begriffe des Glaubens. 
Diefe Anordnung führt aud den Nachtheil mit fidh, daß 
jmeimal vom Berf. ber Begriff des Glaubens entwis 
delt wird: einmal in der Einleitung, und dann wieder 
im erften Hauptflüde des zweiten Abſchnittes des zweiten 
Theile® bei der Lehre von der Heilsordnung. Leberhaupt 
ſcheint dem Ref. der dhriftlihe Glaube immer Dffenbas 
rungsglaube zu feyn, und diefer kann doch erft dann 
unvorgreiflich eutrwidelt werden, wenn bie Thatſachen 
der Offenbarung begründet find. Diefer Vorwurf trifft 
aber Schleiermacher zunächſt, und das ift auch ein Haupt⸗ 
grund, warum Ref. bei aller Verehrung wor dem herr, 
lichen Manne fich dennoch durch die fchleiermacher’fche 
Dogmatik nicht befriedigt fühlt. 

Auch in Beziehung auf die Lehre von Gott ift 
der Berf. in Schleiermacher’d Kußftapfen getreten und 
hat die göstlihen Cigenfchaften von einander getrennt 
behandelt. Ref. hat die fchleiermacher’fche Gotteslehre 
immer für einen der fchwächften Punkte feined Syſtems 
gehalten. Wozu dieß Zerreißen und Zerpflüden des Eis 
nen, untheilbaren, ewigen Gottes bei Entwidelnng feines 
Begrifea? Der Begriff fol dad Weſen darfiellen, und 
wo es recht eigentlich zum Weſen gehört, ein unzertrenn⸗ 


490 be Weite 


lihed Ganze zu feyn, da follte audy ber Begriff nicht 
trennen, Ref. hat bei Darftelung des Weſens des Pro⸗ 
teſtantismus unwilllürlih das Bedürfniß gefühlt, die 
Gotteslehre mit der Ehriftologie zu verbinden. "Nur in 
Ehrifto haben wir den wahren, lebendigen. Gott, der die Liebe 


ſelbſt it. Gewiß ift Die Methode der alten Dogmatiler 


eben fo verwerflich, die den locus de Deo der Ehriftologie 
ooranfchiden, ja gar an die Spite des Syſtems flellen. 


Da befommen wir wohl abfiracte, fcholaftifche Formeln 
über das, was Bott nicht ift, aber Das, was Gott 


it — und dad macht doc fein Weſen aus — hat und 
erft der Sohn Fund gethan: Bott if der Bater. 
Dahin gehört dann auch die Lehre vonder Dreieinigfeit, 
und nicht wohl an dad Ende des Syſtems, wohin 


Schleiermacher diefelbe in einer Art von Verlegenheit ver: 
wiefen. zu haben fcheint, ba er fie fonfl nirgends unter 


zubringen wußte. 


Die Stellung, weldhe der Berf. der heiligen 
Schrift in feinem Syfteme einräumt, fcheint und eine 


zu 'untergeorbnete zu feyn. Man hat biöher zwei Prin⸗ 


eipien des Proteflantiämud geltend gemacht: das foge 


nannte formale und materiale. Unter dem erſteren 
verfiand man die heilige Schrift. Ref. iſt der Anficht, 





daß es unrichtig iR, fo zu unterfcheiden, und daß ein 


rein formales Princip ein Unding wäre. Allein wenn 
auch die Schrift fein Princip, fo it fie doc eine Macht 
im Proteftantismus, und ale folche iſt fie nicht mehr an- 
erkannt, wenn fie ihre Stellung im Syſteme unter dem 
Titel: „Ehriftus in der heiligen Schrift,” einzunehmen 
hat. Die Lehre von der heil, Schrift gehört, nad) ber 
Anfiht des Nef., vor die Lehre von Chriſto, weil wir 
zunächft aus der Schrift-von Chriſto wiflen. 

Daß der Lehre von der Kirche im zweiten Abfchnitte 
des zweiten Theiles, wo von ber Aneignung bed Heild 
gehandelt wird, ihre Stelle angemwiefen wird, könnte 


bad Wefen des chrifllichen Glaubens ꝛc. 491 


ebenfalls in Anfpruch genommen werden. Damit wirb 
die Kirche als ein Gnaden⸗ oder Heildmittel betrachtet, 
Sollte fie aber auch im Sinne des Verf. nicht eine höhere 
Aufgabe zu löfen haben? Bezeichnet ber Verf. nicht felbft 
bie Gemeinfchaft als eine zweite Menſchwerdung Gottes? 
Und will fcheinen, die Lehre von der Kirche hätte zum 
nindeften einen eigenen Abfchnitt, wo nicht einen befons 
deren Theil bilden ſollen. Sie tft eigentlich bie Frucht 
des ganzen von Bott in Ehrifto befchloffenen und vollen, 
deten Heilswerkes — die thatſächliche Erfcheinung Gottes 
anf Erben, die Verwirklichung feiner Offenbarung in der 
Menfchheit. Die Lehre von der Kirche bietet nach der 
Anſicht des Ref. für jede Dogmatif die geeignetften Schluß» 
punkte dar. Denn waß ift fchöner, ald mit dem Zubels 
rufe der trinmphirenden Kirche zu fchließen ? 

Aller der Ausftellungen aber ungeachtet, zu denen fidy 
Ref. hie und da bewogen fühlte, trägt er kein Bedenken, 
biefes Merk für eine der [hönften und wid» 
tigften Jiterarifchen Zeiterfheinungen zu 
halten, Wer wollte auch in unferer Zeit eine Dogmas 
tik ſchreiben, in welcher nur zwei felbftändige Theologen 
durhaud einig gingen? Die dogmatifche Einförmigkeit 
gehört überhaupt nicht zum Wefen bed Proteflantigmus, 
und jeder Verſuch, eine foldye erzwingen zu wollen, 
müßte zum größten Nachtheile für unfere Kirche ausfal⸗ 
In; er würde nur eine‘ allgemeine Zerfplitterung in Sec, 
ten zur Folge haben, Unſere Zeit bedarf verfchiebener 
theologifcher Bauleute, aber auf dem Einen Grunde, aus 
ber dem Fein anderer gelegt werden kann (1 Kor. 3,11.) 
Rad; unferem Dafürbalten ift das Werk des Berf. auf 
diefen Einen Grund gebaut, und auch an Silber, Gold 
und Edelfteinen fehlt es nicht, die das Werk feldft fchmär 
den. Und wenn nichts Anderes daran wäre, als bad 
Gold der Wahrheitsliebe, fo wäre das fchon ger 
ung. Der Verf. will keiner Partei dienen, undD. Lüde 

Theol. Stud, Jahrg. 1847, 83 


492 de Wette, dad Wefen des chriſti. Glaubens xx. 


hat darum mit Recht dem Buche das Prognoſtikon geſtellt, 
Daß es von Bielen rechte und links werde verworfen 
werden. Aber eben fo wahr if, daß es auch Vielen will 
tommen ſeyn muß und daß kein Unbefangener daffelbe, 
ohne neue Anregungen erhalten und den Berf. ſelbſt aufs 
neue achten gelernt gu haben, bei Seite legen wird. 
Nef. wird wenigftens die Stunden nie bereuen, die er 
auf ein grändbliches Studium dieſes Werkes verwende 
hat; denn für biejenigen, die nur einigen geiftreichen 
Schaum von den Büchern abfchöpfen wollen, ift es nicht 
gefchrieben. Wir fchließen mit dem herzlichſten Dante 
gegen den Berf. für den großen Dienft, ben er der Wil 
fenfhaft und der Kirche mit feinem Werke geleiftet hat. 
Möchten die Gleichgeſinnten nicht unter eines Menfchen 
Fahne, aber unter dem Paniere der chriftlihen Bahr: 
heitsliebe fich immer näher zufammenfchaaren, um einer 
fett dem wiebererwadhten ftabilen Scholafticidmus, an 
dererfeitd aber befonderd dem frivolen Sanschlottid 
mus zu wehren, der auf den Trümmern der Theologie 
und der Kirche die Religion einer Riebe aufrichten wi, 
Die nichtd glaubt, und eines Geiſtes, ber Fein, heiliger 
Geiſt if. Denn um zur wahren Bermittelung zu 
- gelangen, müflen die falfchen Gegenfäbe Abermunden 
werden, und daß das Wert ded Verf. einen außerordent⸗ 
ich wichtigen Beitrag zu dieſem fchönen Zwecke liefert, 
das werden ihm alle diejenigen danken, welche in unferer 
Zeit der Wahrheit, und nur diefer, zu dienen entſchloſ⸗ 
fen find. - 
Schenkel. 





Ki 
rchliches 





88* 





Ueber die Nichtannahme des koͤnigsberger 
Deputirten, D. Rupp, auf der berliner 
‚Generalverfammlung ded Guſtav⸗ 

7 Adolph = Vereins. 
Aus dem göttinger DeputistensBerichte mit Erweiterungen 
. von 


D. Friedrich Lüde. 


Audiatur et. altera pars! 


— — Ich brauche nicht erſt zu fagen, daß ber Einbrud, 
den Die Dießjährige Hauptverfamminng auf mic gemacht hat, 
— fehr verfchieden von dem nur erfreulichen: Eindrude 
ber göttinger und fluttgarter, — ein höchſt betrüben⸗ 
der geweſen if. Gleich im Anfange leidenſchaftlicher 
Darteiftreit, wie ein Keuerbrand in eine ftille, harmloſe 
Friedenswohnung geworfen, — ein Streit auf Leben und 
Tod des Bereind —, was kann Betrübenderes für ein 
Chriftenherz gedacht werden? 

Indeſſen fehlte ed auch in der berliner Verſamm⸗ 
lung sicht an allem Bruude zur Freude und Hoffnung. 
Richt nur iſt manches einzelne Heilfame einftimmig dort 
beihloffen worden, fondern im Ganzen muß man auch 
bad fagen, daß die urfprünglichen Bande der Liebe, des 
Friedens und der Berfähnlichleit, worauf der Berein ger 
gründet ift, ſich dort noch ftärker und mächtiger gezeigt: 
haben, ald die eingebenngenen zeriörenden Mächte des 
Haderd. Mir iſt es fchon etwas Großes, daß der Ver⸗ 
ein die berliner Berfammlung überlebt hat und an bem 
böfen Zwiſte nicht gleich und gänzlich zr Grunde gegan⸗ 
gen it. Omen accipio. — 





496 Luͤcke 


Was in dem geſchichtlichen Hergange der Zeit nach 
das Erſte war, die vorberathende Verſammlung am 7. 
September Abends und die hier in ſchlimmer Mitter⸗ 
nachtsſtunde beſchloſſene Abweiſung bes D. Rupp, — iſt 
zugleich dasjenige, worauf jeder Freund des Vereins am 
meiſten geſpannt ſeyn wird, und es liegt in der Natur 
der Sache, daß mein Bericht bei dieſem Vorfalle am 
meiſten verweilen wird, zumal da die öffentlichen Ankla⸗ 
dei gegen bie, welche mie ich in dieſer Augelegenheit ger 
flimmt haben, mic, nöthigen, in die Sache genauer eins 
zugehen. 

Als wir am 1. Sept. Nachmittags in dem eine halbe 
Stunde von Berlin beiegenen Luftorte Tivoli zur erften 
Begrüßung zuſammenkamen, Deputirte und übrige Mits 
glieder des Vereins, auch nengierige Zufchauer aller Art, 
— war ed nicht bloß die brüdende Schwüle Des Tages, 
fondern weit mehr die bange Sorge für den Verein und 
die eventuelle Löfung der durch die Tageöblätter ſchon 
vielfach befprochenen und auch fchon zur Demonſtration 
gemachten vupp’fchen Frage, — was bei aller Freude 
ded Wiederſehens und erſten Begegnens eine bange Miß⸗ 
ſtimmung und ein Unbehagen erzeugte, welchem ſich Rie⸗ 
mand entziehen konnte. 

In dieſer unbehaglichen Spannung ging man an 
bemfelben Luftorte zur vorberathenden Sitzung in das 
dazu befltimmte Verſammlungszimmer, welches wohl für 
die allein berechtigte Verſammlung der Deputisten geräumig 
genug fchien, aber für die mit einfirömende Menge meiſt 
nengieriger Berliner weder Platz noch gefunde Luft hattet. 
Indeffen wurde bei allem Gedränge die Verſamulung 
von dem Vorſitzenden des Gentralvorftandes, Superinten 
benten D. Großmann, mit Gebet eröffnet. Aber auch das 
Gebet vermochtenicht, ber Berfammlung die nöthige Stille 
unb Weihe zu geben. Mit Mühe etrangen mehrere Des 
putirte ihren Sitz an dem Tifhe. Als die umfiehende 


&b. die Nichtann. des Eönig6b. Dep. D. Rupp ıc. 897 


Menge anfing, bie Ruhe ber Beratkung vielfach durch 
Zeihen und Worte des Beifalls uud Mißfallens zu ſtö⸗ 
sen, unb ed das Anfeben gewann, ale follte die Berfamms 
lang eine Art von tobender Vollsverſammlung werben, 
drangen mehrere Deputirte entfchieden darauf, daß der 
Saal von allen Richtdeputirten geräumt werden möge, 
was denn auch, aber ziemlich allmählich, gefchah, zum 
Berdruß Einiger, welche in dieſer heilfamen Ordnung 
einen bedauernswerthen Rückſchritt zur Unfreiheit und 
Unöffentlichfeit fanden. 

Das Erſte in den vorberathenden Berfammliungen war, 
wie immer, die nach F. 25. der Statuten geordnete Prüs 
fang and Abnahme der Vollmachten der Deputirten von 
Seiten des Abgeorbnneten des Centralvorſtandes, des Sur 
perintendenten D. Großmann, 

Als Diefer anf die Bollmadht des einen königsber— 
ger Abgeordneten, ded D. Rupp, kam, erllärte er, daß er 
biefelbe file fich weber annehmen noch zurückweiſen könne, 
daß, da fie von mehreren Seiten beanftandet worden 
fey, er ſich nach gefchehener Berathung mit dem Cen⸗ 
taloosftande für verpflichtet halte, die Krage darüber 
an die Generalverfammlung zu bringen. Er müſſe jedoch 
wünfcgen, daß, da vor Allem zuerft ber Borland ber 
biefjährigen Beneralverfammlung gewählt und biefe ſelbſt 
förmlich conftitnirt werden müſſe, D. Rupp fich einſtwei⸗ 
im feiner Vollmacht enthalten möge, bie zur beſchließen⸗ 
den Berfammlung am 9, Sept, au weldye dem D. Rupp 
ber Regreß freiftehe, und in welcher die gewiß ſehr 
(hwierige Frage ruhig und vollfländig erwogen und er⸗ 
ledigt werden könne. 

Alein auf dieſen, wie mir fchien, billigen Wunfd 
wollten fi) D. Rupp und ſeine Freunde nicht einlaffen. Es 
bieß, auch wicht einmal die Wahl des Präͤſidiums könne in der 
Berfammiung rechtlicher Weife vorgenommen werden, fo lans 
ge die fegitimationen nicht in Orduung und vollendetfeyen. 





498 Lüde 


Nach laugem Hius und Herbisputiren, wobei man hie nnd da 
eine auch fonft fchon bemerkte Ciferfucht auf die Macht 
des Centralvorſtandes deutlich wahrnahm, ging man am 
Ende auf dad Berlangen ein, die Frage noch in bie 
fer vorberathenden Berfammlung zu enticheidben. Uns 
ftreitig aber :wäre ber Auffchub viel heilfamer gewefen, 
als die Beeilung einer Frage, welche mehr als bloß Aus 
Berlich: formeller Art war, und auf welche au biefem 
Abende die wenigften Deputirten und Die unbefangeniten 
gerade am wenigften vorbereitet genug waren. Bei ger 
ftattetem Auffchube hätte man ſich unterbeffen beffer mit 
einander berathen, unterrichten und verffändigen können, 
and eine ruhige Berathung an bem ftillen heiligen Orte 
der Kirche würde, was auch das Ergebniß geweſen wäre, 
die Gemüther lange nicht. fo aufgeregt haben. Auch 
hätte man ben großen Bortheil gehabt, bie Hauptver- 
fammlung nicht gleich mit einem feindfellgen Zwiefpalte 
anzufangen. Allein fo eifrig waren die Freunde Rupp’s 
auf rafche Entfcheidung, daß fie, als zue Wahl des Prä⸗ 
ſidiums der neuen Generalverſammlung gefchritten wers 
den follte und darüber Streit entftand, ob D. Rupp bei 
biefer Wahl ſchon mitſtimmen könne, nicht einmal dieſe 
augenblidliche Euthaltung ded D. Rupp von feinem De 
putirtenrechte einräumen wollten. Indeſſen half über 
dieſe geringere Schwierigkeit nady mehreren andern Vor⸗ 
ſchlaͤgen Geheimerath Kransnid von Berlin ſchnell hinweg 
durch den von ber Mehrheit und auch von D. Rupp augen 
bli@lich angenommenen Vorſchlag, das Präfibium möge, 
wie ſchon öfter geſchehen, durch Acclamation gewählt 
werden, und zwar vor Allem möge man zum Präffdenten 
den würbigen Dann wählen, der auf allen biäherigen Gene 
ralverfammiungen das Präfidium zu allgemeiner Zufrieden 
beit geführt habe. Nachdem hierauf Superintendent 
D. Großmann zum Präfidenten ausgerufen worben war, 
befiitumte man anf gleiche Weiſe zum Bicepräfldenten 


db. d. Nichtann. des koͤnigsb. Dep. D. Rupp ıc. 499 . 


den Geheimerath Krausnick, und eben fo wurben durch 
Acclamation auf den Borfchlag des Bräfibenten die Se⸗ 
cretaͤre des Praͤſidiums gewählt. 

Hierauf begann die Erörterung der rupp'ſchen Voll⸗ 
macht. 7 

An der äußern Korm wurde Fein Mangel befuuden. 
Was war alfo Bedenkliches daran? 

Aid D. Rupp von feinem Hauptvereine zum Depus 
tirten gewählt wurde, war er gerade Mitglied ber allge 
meinen preußifchen Landeskirche, fein Mitabgeordneter 
dagegen, D. Wechfler, Mitglied der fogenannten freien Ges 
meinde in Königsberg, welche aud dem Nexus der preus 
filhen Landeskirche herausgetreten iſt. Zwiſchen der 
Wahl aber und der Ausfertigung der Vollmachten hatten 
beide ihre Stellungen zur Landeskirche vertaufcht. Wechſ⸗ 
ler war, weil, wie erzählt wurde, Rupp ale Hauptfüh⸗ 
ser der freien Gemeinde zu orthodor gefchienen, zur fans 
deöfirche, die ihm wohl am Eude freier bedünkte, zurück⸗ 
getreten, Rupp dagegen hatte fich förmlich, wie es laus 
tete, von der evangelifchen Kirche, vulgo Landeskirche, los⸗ 
gefagt und war geiftlicher Zunctionär, Prediger derjelben 
geworben. 

Mar erft mit der vollzogenen Bollmadıt die Wahl 
förmlich vollendet, fo fchien es in. der Ordnung, ſich bei 
der Prüfung an die notorifchen kirchlichen Verhältniſſe 
ber beiden Deputirten zur Zeit der Ausſtellung ihrer Voll; 
macht zu halten. Und fo ift es feltfamer Weife ger 
fommen, was aber ganz in ber Ordnung war, daß, wäh» 
rend D. Wechſler's Vollmacht von Niemand beanftandet 
wurde, die des D. Rupp Anftand fand. 

Es entftand nun eben die Frage: Kann D. Rupp 
als notoriſches Mitglied der freien Gemeinde, welcher 
ih mit Diefer von feiner evangelifchen Landeskirche förm⸗ 
lich losgeſagt hat, als rechtmäßiger Deputirter zur Ges 
neralverfamminng augefehen werben? 





500 Luͤcke 


Die evangeliſche Kirche Preußens hat weder den 
D. Rupp noch feine freie Gemeinde in einer Art von 
Ercommunicationdgewalt von ſich ausgeſtoßen, ſondern 
beide haben ſich in leidenſchaftlicher Aufregung gegen die 
beftehende kirchliche Ordnung von derſelben mehr losgeſagt, 
unb zwar in Folge von Streitigkeiten, im welden bie 
firdyliche Behörde wiederholt erlärt, daß fie eben nm 
die Aufrechthaltung der kirchlichen Ordnung wolle, daß 
fie öffentliche Berunglimpfung eines in der gefanmten Kirdye 
noch allgemein beftehenden öfumenifchen Symbolums von 
Selten des D. Rupp auf der Kanzel vor einermit dem Gegen 
ſtande nicht vertrauten und zur Erbauung verfammelten @e 
meinde, fo wie bie Damit verbundenen Angriffe auf ben chriſt⸗ 
lichen Charakter der beſtehenden evangelifchen Kirche wicht 
dulden tönne, daß ſie aber weit entfernt fey, Dem D. Rupp ir, 
gend einen Bekenntnißzwang anfzulegen, — und außer 
dent fich-einmal Über das andere zu frieblicher Berkänbis 
gung erboten hatte, Die Gemeinde will eben als freie von 
allem geordneten Kirchenregimente unabhängig nud antono» 
mifch feyn in. Berfaflung und Lehre, eine indbependentis 
ſche Diffentergemeinde & l’Anglais, dabei aber nicht ohne 
den Aniprud und den Verſuch, ſich in ben übrigen evans 
gelifchen Kirchen Dentfchlande der preußifchen Landes 
tirche gegenüber Aubang und Anerfenmung zn verſchaf⸗ 
fen; was ihr aber bisher, außer bei einzelnen verwand⸗ 
ten Parteibimmen, nit gelungen if, felbft bei denen 
nicht, welche die Freiheit der Lehre und bie Entwidelnng 
einer freien Berfaflung der Kirche hoch anfchlagen, So 
lange diefe Gemeinde uud ihr Kührer Rupp die Princis 
pien der evangelifchen Kirche nicht gerabezu verleugnen, 
wird man fie zur evangelifchen Kirche im weiteſten 
Sinne rechnen Tönnen, aber doch nur ale eine Secte ober 
Separatiftengemeinde, und zwar als eine eben erſt lei⸗ 
denfchaftlich entfiehende, der ed zur Zeit noch an aller 
öffentlichen und förmlichen Anerkennung fehlt, und von 


üb. d. Nichtann. d. koͤnigob. Dep. D. Rupp ıc. 501 


der man gar nicht fagen Tann, wie fie fich in ihrer weis 
teren Entwickelung zur evangelifchen Kirche poſitiv vers 
halten und ſtellen werde. Schon verlautet, daß Rupp 
und feine Bemeinde das Gacrament der Taufe für be: 
ledig Halten; ein Zeihen, daß fie nicht eben auf dem 
beten Wege find, ſich mit der allgemeinen evangelifchen 
Kirche wieder organifch zu vereinigen. Hiernach wärde 
alfe die Frage beftimmter fo zu faflen feyn: Beruht der 
Buftav s Adolphverein auf der pofitiven, öffentlich aners 
tannten, zu Recht beftehenden evangelifchen Kirche 
Dentſchlands, fomit auf den georbneten Randesfirchen, 
in denen bie deutfche ewangelifche Kirche zur Zeit allein 
ihre hifkorifche Wirklichkeit hat, fo daß die Mitgliedfchaft 
des Vereins und die Deputationsfähigkeit darin durch 
die notorifhe Mitgliedfchaft geordneter öffentlicher Kir 
hen bedingt ift: ober umfaßt der Berein zu gleicher Bes 
rechtigung Alles, was fich felbit irgendwie zur ewanges 
liſchen Kirche in abstracto beliebig, mit Recht oder lin» 
recht rechnet, fomit auch alle Secten, weß Namens und 
welcher Art fie auch feyn mögen, fhwärmerifch behaups 
tende oder Falt leugneriſche, — wenn fie nur aus der 
evangelifchen Kirche äußerlich hervorgegangen find, fagen, 
daß fie dazu gehören, und nicht gerade ſchon beſtimmt 
in die römifchlatholifche oder griechifchorthodore Kirche 
übergetreten find? 

Eine Frage, welche an ih, beſonders aber in den 
gegenwärtigen religiöfen und kirchlichen Bährungen zu 
den fchwierigften Kragen der Zeit gehört und eine eigent- 
lihe Lebensfrage nicht bloß des Vereins, fondern der 
dabei fehr betheiligten Kicche iſt. Eine folche Frage for⸗ 
dert die forgfältigfte und gewiſſenhafteſte Erwägung von 
allen Seiten, und fann am wenigſten in tumnitnarifchen 
Parteiftreitigkeiten und im aufgewühlten Staube der Tas 
gesblätter und tobender Volksverſammlungen durch irs 
gend welches Zauberwort eined allgemeinen Begriffes, 


502 | Lucke 


weder durch das Zauberwort der Kirchlichkeit noch durch 
das Zauberwort der Freiheit und Gleichheit, geloͤſt wer⸗ 
den. Se ſchwieriger Die Frage gerade in praktiſcher Bezie⸗ 
hung ift, deſto mehr hätte es ſich geziemt, fie in gegenfeitiger 
Gerechtigkeit und Liebe gemeinfam zu ‚löfen. Aber kaum 
war die Frage entfchieden, ald man diejenigen , welde 
gegen Rupp geſtimmt, und doch wohl fo gut ihr Br 
wiffen haben, wie Andere, als zelotifche orthodoxe Glau⸗ 
bensrichter,, welche eben kein hriftliches Gewiſſen be; 
ben, zu verfchreien anfing. Es verdient in dieſer Bezie- 
bung gleich hier bemerkt zu werben, daß eben fo vice 
Rationaliſten als Snpranaturaliften gegen Rupp ent 
fchieden haben »). Wenn ohne Unterfchieb der theologi- 
fchen Richtungen, vornehmlih die erfahrenen Freunde 
ber kirchlichen Drbnung, zum Theile die zuhigften und 
milbeften Männer, entfchiebene Freunde freier theologi: 
fher und kirchlicher Entwidelung, die dafür zu ihrer Zeit 
und an ihrem Orte, wo Andere fchwiegen, ihren Mann 
geftanden, — gegen Rupp flimmten, je nachbems fie ben 


Fall der kirchlichen Ordnung für gefährlich hielten, fo 


it es eine reine Wiberfpenftigkeit gegen das nuwider⸗ 


ftehliche Faetum und eine baare Berleumdung, wenn manbie 


Enticheidung der Majorität als ein Glaubensgericht einer 
beſonderen theologifchen Partei ansfchreit. 

Es wäre viel darum zu geben gewefen, wenn bie 
fritifche Lebensfrage gerade der berliner Berfammlung 


hätte erfpart werbeu können, einmal, weil fie überhaupt - 


a) Wenn unwiffende, ſich erhigende Beitungsfchreiber die ganze 
Majorität für einen fogenannten orthoboren Belotenhaufen halten, 
fo thun fie, was fie nicht laſſen koͤnnen; man iſt es nicht beffer 
gewohnt. Aber was foll man fagen, wenn felbft würbige und 
wiflende Männer, wie Prof. D. Theile, fih die ganze Ger 
ſchichte von vorn heraus nad) ben verbrauchten Kategorien 
(etwa aus Reinhardts Zeit) von Rationalismus und Guprana- 
turalismus zurecht ftellen ? 


x 


üb. d. Nichtann. d. Eönigeb. Dep. D. Rupp ıc, 503 


daranf nicht vorbereitet unb infiruirt genug war, fo» 
dann aber und vornehmlich, weil bie gegenwärtige poli⸗ 
tifche und Eirchliche Aufregung in Preußen der Frage in 
Berlin eine Bedeutung und Beziehung gab, welde fie 
an fich nicht hat, und wodurch in die Verhandlung gleich 
von Anfong an eine leidenfchaftliche Bitterfeit gemifcht 
wurde, welche wie tödtendes Gift gewirkt hat. Es war, 
ald hätten die feindlichen Parteien nur auf die günftige 
Gelegenheit in dem freien Guſtav⸗Adolphvereine gewars 
tet, nm eine aucd für andere Verhältniſſe entſcheidende 
Schlacht zu fhlagen. j 

Der Eentralvorftand ift einfichtig und vorfichtig genug 
gewefen, die Gefährlichkeit der Frage gerade für die 
berliner Berfammlung zu erfennen und zu würdigen. 

Ald die erfie Kunde von Rupp's Wahl zum Depus 
tirten auf die Beneralverfamminng fich verbreitete, und 
zwar gleich mit deutlichen Dinweifungen in Zeitungen 
und Broſchüren auf die gegenwärtige kirchliche Krifis 
in Preußen, weldye in der bevorfiehenden Berfammlung 
ded Bereind aud ganz Deutfchland eine Entfcheidung zu 
Gunſten Rupp’d und feiner freien Gemeinde erhalten 
werbe, — hatte ber Gentralvorftand ſich alfobald bemüht, - 
dad drohende Unheil abzuwenden. Er hatte an fein 
ordentliched Mitglied in Königsberg gefchrieben, um wo 
möglich entweder eine freiwillige Verzichtleiſtung des D.Rupp 
ober eine Abänderung der Wahl herbeizuführen. Allein 
die Briefe kamen zu ſpät. Rupp war bereitd nad 
Dentfchland abgereift und der königsberger Berein glaubte 
fi, wie zu erwarten war, nicht veranlaßt ober anfßer 
Stange, auf die Bitte des Eentralvorftandes einzugehen. 

Noch wenige Tage vor jber berliner Verſammlung 
hatten indeß zwei Mitglieder ded Eentralvorftandes, der 
Hofprebiger Zimmermann aus Darmſtadt und Kirchen» 
rat) Schulz aus Wiesbaden, den D. Rupp auf der Reife 
anfgefucht, glücklich getroffen und ihn dringend gebeten, 


504 | Laͤcke 
dem Vereine ben tödlichen Kampf zu erſparen. Aber 
vergebens. Am Tage der Verſammlung in Berlin hatte 
der Centralvorſtand, nachdem er mit Ausnahme wen. zwei 
Mitgliedern die Annahme Rupp’s für bedenklich, ia un: 
thunlich erllärt, biefen durch eine ehrende Depmsation 
von vier Mitgliedern befchidt, um ihn zum freiwilligen 
Rücktritte zu bewegen. Allein er befand auf feinem Rechte 
und foll erklärt haben, daß er fich berufen fühle, dem 
Vereine durch feinen Eintritt zu feiner wahren freiheit 
zu verhelfen. Gelbigen Tages am Nachmittage werfucte 
D. Zimmermann nochmals auf meine befondere Bitte, ein 
guted Wort bei D. Rupp einzulegen, auch in meinem 
Namen. Allein aud dieß gute Wort fand Feine gute 
Statt 

Als die Debatte eröffnet wurde, dachte ich in fillen 
Kriedendgedanfen und wünfdhender Sorge für ben Berein, 
ed werde vielleicht nod möglich feyn, die Sache irgend 
wie zu umgeben oder uufchädlich zu befeitigen. Allein, 
ale und die Mittheilung gemacht wurde, daß ein Zweig 
nereiun des Lönigäberger Hauptvereind, ferner der mün⸗ 
ſterſche Hauptverein und eben fo ber Abgeorbuete des 
deſſauer Hauptvereins gegen die Rechtsbeſtaändigkeit der 
Wahl und die Aufnahme des D. Rupp als Deputirten 
Reclamationen eingereicht, die von Dem Gentralworflande 
doch nicht verſchwiegen oder befeisigt werben konnten, 
ba verfhwand für mich auch dieſe leute Friedens hoff⸗ 
nung. | 

Gleichwohl verfuchte ich noch einmal, ale die Debatte 
fhon in vollem Gange war, mit D. Zimmermann und 
Kirchenrath Schulz ein gemeinfames Wort der iebe. 
Mir wendeten und noch einmal an den gegenwärtigen 
D. Rupp mit der dringendften Bitte, im Angefichte der gras 
Ben Gefahr, in der er ſelbſt den Verein ſchweben jeher 
auf fein formelle äußered Recht mit edler, ſchonender 
Liebe zu verzichten. Aber auch biefer letzte Verſuch 


66. d. Nichtann. d. konigb. Dep. D. Rupp ıc. 505 


mißlang , befonberd mit daburdh, daß ein Deputirter nes 
ben wir unfere dringende Bitte einen moraliichen Zwang 
nannte und ein anderer im heftigen Echo erflärte, er 
werde D. Rupp verachten, wenn er fein unveräußerliches 
Recht aufgebe, was denn freilich ein moralifcher Zwang 
anderer Art war. | 

Sa, dachte ich, bie Liebe zwingt wohl, aber indem 
fie wahrhaft frei macht. Gewiß gibt es Fälle, wo das 
Recht unveräußerlich ift und die Gerechtigkeit feiner Liebe 
weichen darf. Aber war bier ein folder Kal? Wenn das 
innere wefentlie Recht, wie hier, einem edlen Bereine 
gegenüber mehr und weniger zweifelhaft ift, wenn man ferner 
mit feinem äußeren formellen Rechte ben Bruder Ans 
ſtoß gibt, da gilt nicht Fiat iustitia et pereat nundas! 
fondern nad 1 Kor. 8, 8 ff. allein die edelmüthig ents 
fagende Liebe. Diefe war in dem Augenblide die 
einzige Pflicht des D. Rupp gegen den Verein. Hätte er 
dieß erfaunt! Er hätte feinen echten evangelifchen Sinn 
nicht beffer bewähren koͤnnen, felbft wenn er den Muth 
oder Stofz gehabt hätte, diejenigen, weldhe an feiner 
Deputirtenmitglienfchaft Auftog nahmen, fchwache Bräs 
der zu nennen. 

Die Würfel waren geworfen nnd die unvermeidbliche 
Frage mußte zur Entfcheibung gebracht werben. 

Bei dem Mangel an Vorbereitung und Infirnction 
der meiften Deputirten wäre, um bie vorauszuſehende 
firliche Aufregung im beutfchen Volke zu vermeiden, viel 
leicht rathſam gewefen, wenn die Verſammlung eben wer 
gen mangelnder Inſtruction von Seiten der Hauptver⸗ 
eine fich fchlechthin für incompetent erklärt hätte, Wirk 
lich dachte ich während der Berathung einen Augenblid 
daran, allein ich erfanute auch augenblidlich die Unmäg» 
lichleit davon. 

Bielleicht aber denkt noch jetzt Mancher fo, wenn er 
den gefchehenen Schaden befieht, uach dem alten Spruche, 


506 Läde 


daß man klüger vom Rathhanfe herunter geht, als 
hinauf. Aber wenn auch die Kiugheit in höchſt eigner 
Derfon hinaufgegangen wäre, — den Klugen will id 
fehen, der bei dem heftigen, wohlbedachten Drängen ber 
Gegenpartei auf Entfcheidung einem folchen ablehnenden 
oder anffchiebenden Borfchlage Eingang hätte verſchaf⸗ 
fen tönuen. Und in der That, recht überlegt, — die 
Berfammlung hatte, einmal in die Frage gebrängt, 
nicht nur das Recht, fondern auch die Pflicht, zu ent 
ſcheiden, wie bei vielen anderen Fragen, worauf bie 
Deputirten auch nicht vorbereitet und infiruirt waren. 
Als der würbige Präfidentfeine Meinung für die Richt: 
annahme Rupp's in aller Ruhe und Milde barlegte, hob er 
unter anderen auch die Rüdficht auf die hohen Schuß» 
herren des Vereins hervor. Er meinte bamit ſämmtliche 
Regierungen, weldhe, wie er fagte, ben Verein unter 
ber Vorausſetzung, daß er die kirchlichen Ordnungen 
der Landeskirchen inne halten und in keiner Weiſe ſtören 
werde, beftätigt und unter ihren Schuß genommen. 
Mie viel Wahres darin auch liegen mag, — was auch 
fpäterhin Bifchof Reander fehr klar entwidelte, — wobei er 
auf die Bertragsverlebung aufmerkfan machte, welcher fih 
der Berein fchuldig mache, wenn er jeßt den Begriff der 
evangelifchen Kirche in einem anderen Sinne nehme, als 
in welchem bie paciscirenden Regierungen bei der Geſtattung 
des Bereind nach den vorgelegten Statuten benfelben ver: 
fanden hätten: — fo muß id) ed doch bedauern, Daß dadurch 
eine Rädficht gleich in den Vordergrund trat, welche bei 
weiterer Erwägung der Folgen, aber nicht gleich in der erſten 
Erörteruug der Gründe ihre Recht hatte. Es entktand, 
wenn ich nicht irre, dadurch gleich eine Art von politis 
fcher Bezüglichkeit, welche freilich ber Frage fchon von 
ben Freunden Rupp's in den Zeitungen gegeben war, 
allerdings in einer ganz entgegengefehten Art, welde 
aber in jeder Weife der Berathung nadıtheilig wurde 


üb, d. Nichtann. bes koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 507 


und wie ein Funke in daliegenden Zunder fiel. — Dage⸗ 
gen muß ich zur Steuer ber Wahrheit erklären, daß ich 
meined Theils von irgend einer unmittelbaren oder mit- 
telbaren Einwirkung der prenßifchen Regierung, ober 
auch, wie man gefabelt hat, der koͤnigl. fächfifchen, auf 
bie Berfammiung auch nicht dad Mindeſte verfpürt habe. 
Eine ſolche Einwirkung wäre hoͤchſt unklug gewefen; fie 
wärbe gerade dad Gegentheil bewirkt haben. Was hat 
ten auch namentlich ausländifche Deputirte von ber preußis 
ſchen oder fächfifchen Regierung zır fürchten oder su hofs 
fen? Eben fo wenig hat irgend ein verfländiger ausläns 
diſcher Mann daran gebacht, er Werbe von ber eigenen 
Regierung übel augefehen werben, wenn er für D. Rupp 
Rimme. Man bat erzähle, daß in einen Lande, wo 
bie Furcht vor der Gefahr eines demagogifchen corpus 
evangelicorum ben Guſtav⸗Adolphverein länger gurüdhielt, 
bie für Rupp flimmenden Deputirten von ihrer kirchlichen 
Behörde ausdrucklich belobt feyen. Die Conſequenz ift zu 
bewundern. Aber ob wohl dieſelbe Belobung erfolgt 
wäre, wenn Rupp, ein firenger Oyperorthodor, mit jener 
Behörde in Zwift gelebt hätte? Wenn ferner ein preußis 
cher Geiſtlicher ſich in einem Zeitungsartikel Darauf etwas 
su Gute gethan hat, daß unter ben Gegnern Rupp's nadı 
Verhaͤltniß fehr wenig Preußen und die meilten Auslän⸗ 
der gemwefen, was foll man zu biefer verwirrten hochmü⸗ 
thigen Rede fagen? Sind wir Ausländer firchlich gebuns 
dener, unfreier, ald die Preußen? ur Parteiftreite ff 
es leider fehr gewöhnlich, den Geguern außerhalb der 
Sache und des Gewiſſens liegende Motive unterzulegen, 
aber es ift allegeit ungerecht und unedel. Darum will id) 
auch bei jedem Gegner gernein freied Gewiſſen vorausſetzen 
und mir nicht einreden laffen, was id) wohl gehört habe, 
bie nus vorgeworfene Furcht habe auf der anderen Seite 
gar fehr ihre Rolle gefpielt, freilich im anderer Weiſe. 
Über wenn neulich D. Rupp felber gefagt hat, er fey in 
Berlin nicht fowohl ber religiöfen Intoleranz, die doch noch 
Cheol, Sud. Jahrg. 17, 84 


8 Luͤcke 


etwas Religisſes geweſen wäre, als ber kirchlich⸗biplometi⸗ 
ſchen Theologie unterlegen, ſo ſollte er in ſeinen Buſen greifen 
und ſich erinnern, daß er unter lauter kirchlich und theor 
logifch s Diplomatifchen Demonſtrationen, freilich anderer 
Art, nach Berlin gegangen it. Gewiß, bad erkläre ich franf 
und frei, wäre 23 im höchſten Grade unedel, ja mpflt- 
lich gewefen, den leidenden und in wieler Beziehung fehr 
achtungswerthen D. Rupp feinem Kirchenregimente zu 
opfern, aber für eben fo unebel und nuſittlich muß ich eß 
balteu, den Guſtav⸗Adolphverein zu oflenen Demonfratier 
nen gegen irgend welche kirchliche Regierung zu mißbrauchen. 
Ich will jett Turz angeben, was mic in meinen 
Gewiſſen nach längerer reiflicher Weberlegung der ſchwie⸗ 
rigen Frage beRimmt hat, mit gegen D. Rupp’s Aufnahme 
su Rimmen. ben sur diefe meine perfönliche Ueberzen⸗ 
gung, nicht irgend welche Partei, habe ich zu verant- 
worten. Ich habe in der Kirche und Theologie nie 
einer Partei gedient unb werde es uie, Ich will ein 
freier Mann bleiben, auch im Vereine. Habe ich mit meinem 
Votum bie herrfchende Meinung meines befonderen Bereind 
nicht getroffen, ich kann es nicht ändern. Niemand kann 
und fol etwas wider fein Gewiſſen thun. Snßrnetionen 
für Die rupp’fche Frage babe ih vonz B 
ber fie mir zu geben gehabt hatte icht 
nicht verlangt, Die ganze — 
felhaft und ee iſt unse A 
gen Fälle ausreichende, Inſt 
nehmen. Man hat bie & 
Deputirten, welche 
Rupp entfchieben 
Aber ich hat 
ald rechtſ 
Gewillen 
würbg 


i 



















—* 
— 


BR“ 


üb. d. Nichtann. bes koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 609 


ſolchen Auſpruch gemacht, aber bei aller Beſcheidenheit 
hat weine Ueberzeugung fo gut ein Recht gehört zu 
werden, als jebe audere. 

Das Erſte, worauf man bei der rupp’fchen Angeles 
genheit kommen mußte, war die Frage, ob in den Sta⸗ 
tnten irgend etwad über bie rechtmäßige Mitgliebfchaft 
des Vereins nnd der Deputirtenverfammliung -insbefons 
dere beftimmt außgebrüdt fey, wonach man den gegens 

:  wärtigen Ball entfcheiben koͤnne. 

Wenn ed F. 1. der Statuten heißt, der Berein fey 

eine Bereinigung aller berienigen Glieder der evangelifchs 

:  proteftantifchen Kirche, welchen bie Noth ihrer proteftan= 
* tiihen Glaubensbrüder zu Herzen geht, fo Liegt darin, 
3 ba der Berein auf der noterifchen Mitgliebfchaft der 
" ewangelifchen Kirche beruht. Wenn wohlwollende Katho⸗ 
; lifen oder, wie Einige auch gefagt. haben, wohlthätige 
Sfraeliten dem Vereine Gaben geben, fo wird man fie 
hiernach ald Wohlthäter des Bereins betrachten müffen, 
: aber nicht als eigentliche Mitglieder deffelben. Man muß 
aber einräumen, daß in jenem Statnte der Begriff der 
wangelifchen Kirche im weiteften Sinne gefaßt ift, ohne 
ale nähere Beltimmungen. Nur das-fleht Jeder, Die 
liche, beftcehende evangelifche Kirche iſt gemeint, nicht 
| Zufunftöfirche. Vergleichen wir die Anlage 
Eintuten, nach welcher die Beſtimmung ber 
Die Bertheilung der Depntirten auf 
Berhältniffe der deutfchen evangelis 
Segrlinder ift, fo ſcheint auch hieraus 
Der Verein von Anfang an feinen 
eten und zu Recht befiehenden 
Dem entfpricht auch die bis⸗ 
Inbem verfelbe fi von Aus 
Siiebern der beftehenden grös 
örper gebilder und erhalten 
Fantifchen Secten bat er bis⸗ 
Ten und aufgenommen, keine 

8 * 









510 Luͤcke 


Herrenhuter, keine Altlutheraner, geſchweige denn alt 
oder neugläubige Iſraeliten. Allein ich gebe zu, daß der 
Fall, daß ein Gectenftifter oder irgenb eine Secte in 
der evangelifchen Kirche zum Bereine tritt und auf volle 
Mitgliedfchaft Anſpruch macht, im $. nicht vorgejehen 
worden if. Dan hat auf ber frantfurter Generalver: 
fammlung auf eine beftimmtere Faſſung diefed $. in bier 
fer Beziehung angetragen. In feiner fugendlihen Un 
fhuld und Sorglofigfeit hat der Berein damals den 
Antrag abgelehnt. Wer aber die Zeichen ber Zeit recht 
“beobachtete, Tonnte fchon damals willen, daß das Ber 
witter der rupp’fchen Frage gleich mit dem Vereine herr 
aufzog. 

Man hat gefagt, $. 2. beftimme in feiner unzertrenn⸗ 
lichen Berbindung mit F. 1. die kirchliche Mitgliedſchaft 
des Bereind mäher. Indeſſen ift hier unmittelbar bie 
Rede nur von ber wohlthätigen Wirkſamkeit des Bereind, 
und diefe wird befchränkt auf die firchenrechtlich beftehende, 
. wirkliche Iutherifche, reformirte und unirte Kirche, fo wie 
auf diejenigen Gemeinden, welche ihre Uebereinſtimmung 
mit der evangelifchen Kirche fonft glaubhaft nachweiſen. 
Wie unbeſtimmt auch dieſe glaubhafte Nachweiſung ger 
Iaffen feyn mag, fo viel geht aus allen bisherigen Ber 
einsverhandlungen über den Sinn und die Praris diefes 
6. hervor, daß der Berein in keiner Weife willens ik, 
irgend welche die evangelifche Kirche zerſtückelnde und 
anflöfende Sectenrichtungen durch feine linterflügungen 
zu begünftigen. Dan ift deßhalb in Frankfurt anf der 
Generalverfammlung fogar bedenklich geweien, die Wal 
benfergemeinden zu unterfiügen. Davon ift man aller 
Dingd mit Recht zurückgekommen, da die Waldenfer ald 
ber durch ebled Martyrehum hiſtoriſch bewährte mittelalter: 
ihe Stamm und als die angeborene Schutzverwandt⸗ 
fchaft der evangelifchen Kirche anzufehen find. Als Aber 
in Stuttgart die Frage aufgeworfen wurde, ob man anch bie 
eben entfteheuden beutfchsfatholifchen Gemeinden unter 


üb. d. Nichtann. d. koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 511 


flüben wolle, wurde diefe Frage, fo viel ich weiß, gang 
einftimmig verneint, weil nicht nur aller glaubhafte Nach⸗ 
weiß ihrer proteffantifchen Mitgliedfchaft fehle, fondern 
auch diefe Gemeinden und ihre Führer gar Feine Protes 
Ranten feyn wollen. 

Stehen nunD. Rupp und feine freie Gemeinde anf ei: 
nem wefentlich anderen Standpunkte? Ich fage: Rupp 
und die freie Gemeinde. Beide find in der Frage unzers 
trennlih, wiewohl auf der Berfammlung vielfach vers 
füaht worden ift, D. Rupp eben als einzelnen Deputirten 
feined Vereins von feiner Beziehung zur freien Gemeinde 
zu trennen, ba der Berein ihn nicht als Mitglied biefer 
Gemeinde gefendet habe. Das fragte fich aber eben. 

Aber betrachten wir D. Rupp einen Augenblid an 
und für ſich, ift er ein wirkliches Mitglieb der evangelis 
hen Kirche im Sinne ded Vereins ? 

Er gehörte urfprünglich zur evangelifchen Kirche 
ald ordinirter Beiftlicher, aber nachdem er aus dem ges 
fhichtlichen Nexus feiner evangelifchen Landeskirche, die 
doch wohl eine wirfliche evangelifche Kirche ift, ausge⸗ 
Ihieden, zu Reiner anderen wirklichen, geordneten und 
anerfannten evangelifchen Kirche Übergetreten, auch von 
keiner folchen als ein ihr zugehöriges Blied öffentlich ans 
erkannt worben ift, fteht er doch handgreiflich zur Zeit 
außerhalb aller wirklichen Mitgliedfchaft der beſtehen⸗ 
den evangelifhen Kirhe. Er mag, und wenn daß 
Sinn haben fol, muß man fagen, er und feine Gemeinde 
mögen, wie es verlautete, die aflgemeine ewangelifche 
Kirche der Zukunft im Keime repräfentiren wollen, — 
ih meines Theiles babe freilich andere Vorſtellungen von 
den Bildungsgefegen und Bedingungen der Zukunftskirche, 
als ih in D. Rupp's Theologie und Gemeinde finde, — 
aber was hat der Guſtav⸗Adolphverein mit folchen plas 
tenifchen oder nichtplatonifchen,, immer aber phantaflifchen 
Kirchenidealen für die Zukunft zu thun? Sein Blick ift 
auf die wirklichen» Roth» und Leidensflände der wirk⸗ 


e 


512 Lüde 


lichen Kirche gerichtet. Wenn man aber fagt, der ſoge⸗ 
nannten unfichtbaren evangelifchen Kirche gehören doch 
D. Rupp undfeine Gemeinde gewiß an, fo will ich Das gern zw 
geben, ber man veriteht dieſen Begriff ſehr ſchlecht, 
wenn man daraus nicht augenblicklich bie nothwendigt 
Kolgerung gelten läßt, daß dann der Berein feine Mit: 
gliedfchaft über alle Kirchen bis an das Ende der Erd 
erfiredt. Gewiß hat er eine folche unfichtbare, ftille, ni» 
kodemusartige Mitgliebfchaft, wohl auch in der katholiſchen 
Kirche; aber ed handelt ſich hiervon ber fihtbaren, wirt 
lichen, offenbaren. Wird alfo dadurch zu viel bewiefen, 
fo weiß ein Jeder aus ber Logif, daß damit nichts be» 
wiefen if. 

Kehren wir zu $. 2. der Statuten und feiner Der 
bindung mit $. 1. zurüd, fo folgt doch auf jeden Fall 
daraus, daß die volle Mitgliebfchaft des Vereins ß. 1. 
einen eben zu dem Anfpruche berechtigt, von dem Ber, 
eine für diejenige Kirche oder Gemeinde, der er ange 
hört, wenn fie leidet, Unterflüßung zu fordern, Diefem 
zwingenden Schiuffe wird fi Niemand entziehen koͤnnen, 
und D. Rupp wird ed am wenigfien wollen. Wie nun? 
Wurde Rupp ald voßberechtigter Deputirter in Berlin 
anerkannt, fo war es nicht bloß das unfruchtbare formelle 
Recht, was ihm ad hune actum gegeben wurde, ſondern 
die reale Eonfequenz für den Verein war unvermeidlich, 
jedem etwaigen, Durch die Roth und Bedrängniß der Geinigen 
motivirten Antrage auf linterftägung feiner freien Gemeinde 
zu willfahren. Was bedarfin einem ſolchen Kalle ber Verein 
weiter Zeugniß, oder der fonfligen glanbhaften Nachweifung, 
ſitzt doch das Haupt der nothleidenden Gemeinde ald volllom 
men berechtigter Deputirter mitten ia der Berfammlung ? Bei 
ber gegenwärtigen religiöfen Kriſis, insbeſondere beidım 
überhand nehmenden reizbaren Uebermuth und Leichtfiun, 
fi von dem beſtehenden FKirchenregimente bei irgend wel 
her Widerfeglichkeit gegen feine Ordnungen loszuſagen, 
und bei der pridelnden Eitelkeit Bieler, aus Bexanlaflung 


% 


üb, d. Nichtann. d. koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 513 


irgenb einer Zwoiſtigkeit mit der kirchlichen Behörde fchnell, 
wie Aber Nacht, freie Bollögemeinden, Kirchen, zu flifs 
tn, wenn auch enhemere, — werben wir foldyer Fälle 
bald mehrere haben. Es wurden fogar in Berlin auf 
der Stelle welche in Ausſicht geſtellt. Und fo werben in 
natürlicher Eonfequenz des erſten Falles Feine padr Jahre 
vergehen, und der Guflan »Adolphverein wird ſich gens⸗ 
thigt ſehen, in feinen Unterſtützungsrollen zwei Elaffen 
von nothleidenden, bedrängten Gemeinden und Geiſtlichen 
su machen, einmal wie biöher, die Claſſe ſolcher Ge⸗ 
meinden, welde, von Katholiken bedrängt, ohne Schuld 
Roth leiden, fobann die Elaffe der fogenannten Diſſen⸗ 
ters oder freien Gemeinden, welche mitten im Schooße 
der evangelifhen Kirche, in Folge von irgend einer Wis 
derfeßtichkeit gegen die Kirchliche Orbnung, fich von ber 
esangelifchen Kirche dort oder hier für bebrängt halten. 
Unter den gegemwärtigen Eritifchen Verhältniſſen kann die 
Zahl folcher Bei dem Vereine Unterſtützung fuchenden 
proteftantifchen Diffentergemeinden mitten. in der Kirche 
fo wachſen, daß fle einen großen Theil unſerer Unter⸗ 
füyangögelder in Anfpruch nehmen und dabei das Näher⸗ 
recht mit Mecht geltend machen. Daß aber dann ber edle 
Berein feinem urfprünglichen innerften Weſen und Zwede 
nach gerftört iſt, leuchtet von felbft ein. Bisher anf 
Etdanung, Verbindung, organifche Ordnung der evan- 
gelifchen Kirche deutſcher Nation gerichtet, wie dazu ges 
Rifter, wird er fortan dazu dienen, aller Aberniäthigen 
Zerſtackelung and leichtfinnigen Auflöfnung ber Kirche Chor 
und Thür zu Öffnen. Und wie es denn nicht anders 
feyn fann, er wird uns fortan alle Jahre in feinen Gene⸗ 
talverfammiungen das widrige Schaufpiel geben, daß er, 
Ratt die Roth der wirklich ſchuldlos bedrängten Gemein⸗ 
den zu beforgen, fi vor Allem als ein Oberappellationds 
gericht oder auch als kirchliche Jury conſtituirt, vor 
weicher die unterdeflen vorgefommenen kirchlichen Scans 
dale Einzelner oder ganzer Haufen verhandelt werden, 


514 | Läde 


aber jede fogenanute freie Gemeinde, wenn fie es nur 
dahin zu bringen weiß, aus ihrer Mitte einen formell 
bevollmächtigten Deputisten eines Hauptvereins in bie 
Berfammlung zu bringen, im Voraus ficher iſt, gegen 
das geordnete Kirchenregiment Recht zu befommen. Bei 
den Berhandlungen darüber wird ed dann, ba es nicht 
an allem Widerfpruche fehlen wird, erft recht zu einem Glau⸗ 
bene» und Kebergerichte kommen, zu dem fchneliften und 
fchlimmften, welches nach einigen Stunden lebhafter Par⸗ 
teidebatte ohne alle Acten, ohne allen geordneten Pros 
ceß per maiora entfcheidet, verfieht ih, von vorn her: 
aus gegen die beſtehende Kiche zu Gunſten der verhei⸗ 
Bungsvollen Zukunft der Secten. 

Wie, wäre das zu ſchwarz gefehen? Muthete man 
und doch in Berlin an, für Rupp darum zu entfcheiben, 
weil er von dem koͤnigsberger Gonfiftorium ungerecht ber 
han delt worden ſey. Mag feyn, antwortete ich, wiewohl noch 
neulich D. Kling in der jenaiſchen Litteraturzeitung in 
feiner Recenſion von Jakobſon's Schrift über Rupp ganz 
anders urtheilte, und Generalfuperintendent D. Bödel in 
Didenburg, ale ein erfahrener, befonnener Kirhenmann, fein 
Urtheil fuspendirt haben wollte, bid er die Acten fähe, 
— wer hat und zum Oberappellationdgerichte Darüber ber 
let, welches ohne Acten aus freier Hand entſcheidet? 

Bedenke id das eudlofe Unheil und Berberben, wel: 
ches jene unvermeidliche Conſequenz mit ſich führt, fo 
muß ich Gott bitten, daß er davor den Berein, die Kirche 
und unfere ohnehin fchon vielfach zerriffene Nation in 
Ouaben bewahren möge. Aber was hilft es, um diefe 
bewahrende Gnade gegen jene Conſequenz zu bitten, wenn 
man ben erſten Schritt gefchehen läßt und den Bere 
von feinem urfprünglidyen, allein ficheren Boden ber far 
tifchen firchlichen Ordnung losreißt und ihn unbarmherzig in 
den wirren religiöfen Parteiftreit der Gegenwart hinein 
ſtürzt. Das lodgelaffene Walzwerk wird ihn unwiderſteh⸗ 
lich zermalmen, 


db, d. Nichtann. d. koͤnigob. Deput. D. Rupp ıc. #15 


Aus dieſen Gründen babe ich nach Pflicht und Ges 
wien nnd ohne alle Furcht vor irgend Jemand gegen 
bie Annahme ded D. Rupp ſtimmen zu müflen geglaubt, 
und ich lebe fortwährend der feften Leberzeugung, daß bieß 
allein im wahren Beifte und Sinneder Statuten gehandelt it. 

Die Abftimmung iſt ehrlich und ordentlich den Sta⸗ 
tuten gemäß gefchehen, wach vielflündiger, freiefter Der 
batte. Um fo mehr mußte man bie maßlofe Leiden, 
fhaftlichleit, — um nicht mehr zu fagen, — bewunbern, 
mit welcher ein Bertheidiger Rupp's die Entfcheidbung 
der Majorität augenblidlih für den Ausfpruc eines 
Kepergerichtd fchmähend erklärte Das böfe Wort bat 
ein noch nicht verhallendes, vielftimmiges Echo gefunden, 
Man hat es nachher fogar im geiftlichen Ornate von eis 
ner breslauer Kanzel hören müſſen, und Pafter Uhlich hatte 
gleich nach feiner Rückkehr nichts Eiligereö zu thun, ale 
feinen lieben Magdeburgern in der dortigen Zeitung zu 
verfändigen, daß in Berlin gegen Rupp ein Kebergericht 
gehbt worden fey. Das ift wohl fein Fanatismus, keine 
Verketzerung ? 


Zur weiteren Rechtfertigung meiner Anficht gegen 
einige Einwürfe noch Kolgendes: 

. 1) Bel der gegenwärtigen Reizbarteit des religiöfen 
Lebens in der beutfchen Nation, fowie bei der leider fehr 
verbreiteten und durch manche betrübende nulengbare Er⸗ 
iheinungen des kirchlichen Zelotiömns, auch unbebachte 
Mißgriffe, mehr und weniger mit Recht erregten Furcht 
vor Beichränfung und Beſchadigung der religiöfen Kreis 
beit und vor willfürliher Hemmung des lebendigen Forts 
ſchrittes in der Kirche, — wiewohl oft meit mehr Ges 
ſpenſtiſch es, was man fich macht, als Wirkliches gefhrchtet 
wird, — finde ich es erflärlich, daß die Ausfchließung 
des D. Rupp bei der erfien Nachricht auch bei vielen 
tedlihen und verfländigen Mäunern die Kurcht geweckt 


514 | Läde 


aber jede fogenaunte freie Gemeinde, wenn fie ed nur 
babin zu bringen weiß, aus ihrer Mitte einen formell 
bevollmächtigten Deputirten eined Hauptvereins in bie 
Berfammlung zu bringen, im Voraus fidher if, gegen 
das geordnete Kirchenregiment Recht zu befommen. Bei 
den Berhandlungen darüber wird ed dann, da es nicht 
an allem Widerfpruche fehlen wird, erft recht zu einem Blau» 
bens⸗ and FKebergerichte fommen, zu dem fchnellften und 
fchlimmften, welches nach einigen Stunden lebhafter Par⸗ 
teibebatte ohne alle Acten, ohne allen georbneten Pros 
eeß per maiora entfcheidet, verſteht fih, von vorn her: 
aus gegen die befiehende Kirche zu Gunſten ber verhei⸗ 
Bungsvollen Zukunft der Secten. 

Wie, wäre das zu fchwarz gefehen? Muthete man 
und doch in Berlin an, für Rupp darum zu entfcheiden, 
weil er von dem koͤnigsberger Gonfiftorium ungerecht be 
bandeltwordenfey. Mag ſeyn, antwortete ich, wiewohl noch 
neulih D. Kling in der jenaiſchen Litteraturgeitung in 
feiner Recenfion von Jakobſon's Schrift über Rupp gan 
anders urtheilte, und Generalfuperintendent D. Bödel in 
Dldenburg, als ein erfahrener, befonnener Kirchenmann, fein 
Urtheil fuspendirt haben wollte, bie er die Acten fühe, 
— wer hat und zum Oberappellationdgerichte darüber ber 
ſtellt, welches ohne Acten aus freier Hand entſcheidet? 

Bedenke ich das endloſe Unheil und Berderben, wel 
ches jene unvermeidliche Conſequenz mit ſich führt, fo 
muß ich Sott bitten, daß er davor ben Verein, Die Kirche 
und unfere ohnehin fchon vielfach gerriffene Nation in 
Buaden bewahren möge, Aber was hilft ed, mm biefe 
bewahrende Gnade gegen jene Conſequenz zu bitten, wenn 
man den erfien Schritt gefchehen laͤßt und dem Berein 
von feinem urfprünglichen, allein ficheren Boden der far 
tifchen firchlichen Ordnung losreißt und ihn unbarmherzig in 
den wirren religiöfen Parteiftreit der Gegenwart hinein 
ſtürzt. Das Iodgelaflene Walzwerk wird ihn unwiderſteh⸗ 
li zermalmen. 


db. d. Richtann. d. koͤnigob. Deput. D. Rupp zc. 515 


Aus dieſen Gründen babe ih nach Pflicht und Ges 
wien und ohne alle Furcht vor irgend Jemand gegen 
bie Annahme des D. Rupp ſtimmen zu müflen geglaubt, 
.. und ich lebe fortwährend der feften Lebergeugung, daß dieß 
allein im wahren Beifte und Sinneder Statuten gehanbelt if. 

Die Abftimmung iſt ehrlich und ordentlich den Sta⸗ 
tuten gemäß gefchehen, nach vielflündiger, freiefter Des 
batte. Um fo mehr mußte man die maßlofe Leidens, 
fhaftlichleit, — um nidyt mehr zu fagen, — bewundern, 
mit welcher ein Bertheidiger Rupp's die Entſcheidung 
der Majorität augenblidlih für den Ausfpruc eines 
Kepergerichtd fchmähend erklärte Das böfe Wort bat 
ein noch nicht verhallendes, vielſtimmiges Echo gefunden, 
Man hat ed nachher fogar im geiftlichen Ornate von eis 
ser breslauer Kanzel hören müflen, und Paſtor Uhlich hatte 
gleih nach feiner Rückkehr nichts Eiligeres zu thun, ale 
feinen lieben Magdeburgern in der dortigen Zeitung zu 
verfändigen, daß in Berlin gegen Rupp ein Kebergericht 
gehbt worden fey. Das ift wohl Fein BeHSUnNg, feine 
Verketzerung ? 


Em ee 


Zur weiteren Rechtfertigung meiner Anficht gegen ' 
einige Einwürfe noch Kolgendes: 

. 1) Bei der gegenwärtigen Reizbarfeit des religiöfen 
kebens im der dentſchen Nation, fowie bei der leider ſehr 
verbreiteten und durch manche betrübende unlengbare Er⸗ 
ſcheiunngen des kirchlichen Zelotismus, auch unbebachte 
Mipgriffe, mehr und weniger mit Recht erregten Furcht 
vor Beichräufung und Befchädigung der religiöfen Frei⸗ 
beit und vor willfürlider Hemmung des lebendigen Forte 
ſchrittes in der Kirche, — wiewohl oft meist mehr Bes 
ſpenſtiſches, was man fich macht, als Wirkliches gefürchtet 
wird, — finde ich es erllärlich, daß die Ausfchließung 
des D. Rupp bei der erfien Nachricht auch bei vielen 
tedlihen und verfändigen Männern die Furcht geweckt 


916 Luͤcke 


dat, der in kirchlicher Freiheit und zar kirchlichen Freiheit 
geſtiſtete Berein werde fe länger je mehr zu allerlei 
Glanbens » und Bewiffensbefränfangen gemipbraudt 
werden. Nur das wilde Betergefchrei über die gelotifche 
Glaubendtyraunei auf Der berliner Verſammlung finde ich 
weder erklaͤrlich, noch entſchukvbbar. Haben die Berliner 
Tyrannei und Jelotismus geübt, die Schreien des Tages 
haben fie in der lideralſten Weiſe weit Aberhoft, 

Mas aber jene Furcht der Berfländigen betrifft, über 
bie allein werth ift gu reden, fo kann fie eben bei Ber 
Rändigen doch nur fo lange anhalten, ale fie den Her, 
gang nnd bie rein praktiſche Lage der Dinge noch nicht keunen. 

Das Protofol der Sitzung bezeugt, daß gerade bie 
Maforttät wiederholt die Geneigtheit der Gegner zu dogs 
matifchen @rörterungen und Cntfcheibungen iiber ben 
Glauben des D. Rupp abgewiefen. Während jene für 
D. Rupp ex tempore ein Glaubensbekenntniß formulirten, 
am zu Deweifen, daß er ein wahres Mitglied der evan⸗ 
geliſchen Kirche ſey, hat vie Meajorität ſich eiufach am 
das conſtatirte Factum gehalten, daß D. Nupp fi no» 
torifch förmlich vor feiner Behörde von ber evangelifchen 
Kirche, vulgo Landeskirche losgeſagt hat. Diefer factifche, 
Firdyenrechtlihe Standpunkte fiyert allein den Berein vor 
der tödtlichen Gefahr, eine Blaubensanatomie, ein thev⸗ 
logiſches Spruccollegium für Deutfchland gm werben, 
und zwar das fehlechtefte von der Welt, weldied and 
anterwelilen ohne alle Theologie uud Theologen über 
Theologie und Banden reſpondirt. Mauche Haben frei⸗ 
kich gemeint, auch bieſer factifche kirchenrechtliche Staud⸗ 
puntt enthalte noch zu viel Befchräntung der Freiheit; 
der Gentralvorftand fammt der Generalverfammiung 
hätte ſchlechthin jeden formell mangellos bevollmächtig⸗ 
ten Deputirten ohne Weiteres aufzunehmen; die kirchliche 
Mitgliebſchaft des Deputirten habe Ber Hanptverein allein 
and founerain zu verantworten. Aber abgefehen davon, 


Ab. d. Richtann. des Fönigdb. Deput. D. Rupp ꝛc. 817 


daß dann die ganze Bolmachtöpräfuug eine wichtige 
Form wird, fe würde eine foldye Damit ansgeſprochent 
Gonveraimität der Hauptvereine jedes innere organiſche 
Auſanmenwachfen des Bereind auch in anderer Begiehung 
unmöglich machen. Wäre bie evangelifche Kirche im ges 
fanden Zuftunde und jeder Hauptverein im vollen Ber: 
Kändaiß von dem Geiſte des eben erfl werdenden Bereind, 
fo möchte es feyn. Jetzt aber, we die Kirche von allerlei 
bedenktichen umd zerſtörenden Tendenzen und Krifen durch⸗ 
sogen if, fordert der gefunde, gefahrlofe Fortgang bes 
Bereins , daß das Gentrum und bie Repräfentatien bee 
Ganzen dad Reit haben, aud die erforderliche kirchliche 
Disgitedfchaft des Deputirten, wenn fie zweifelhaft if, 
gu yrüfen, d. h. eben nach der Noterieiät darüber gu ent⸗ 
fiheiden. D. Rupp erBlärte freilich, obgleich notoriſch aus 
der eoangelifchen Landeskirche angetreten, gehöre er 
doch noch wirklich zur evangelifchen Kirche. Meinte ſer 
Yamit die wirklich beſtehende, geordnete, und nicht bie 
ideale zulünftige oder unfidhtbare, wie ſollte dieſer fabtile 
Widerſpruch von der Verſammlung ohne tiefere theologi⸗ 
ſche oder dogmatiſche Unterſuchnng auders gelöſt werben, 
als dadurch, daß mau ſich an das objective notoriſche 
Faetum hielt? Oder ſoll man künftig auch jedem moder⸗ 
nen Humanitäts⸗Judenchriſten, der notoriſch die Taufe 
nicht empfangen hat, wenn er geſchickt wird, ohne Wei⸗ 
tere& glauben, er fey ein Glied der ewangelifchen Kirche, 
weil er es eben fagt und ein Berein ihn ſchickt? 

3) Alein man hat nicht ohne Gchein gefagt, ber 
Berein habe durch Rupp's Ansſchließung fein ſchönſtes 
Privilegium, womit eu geboren ſey, aufgegeden, nämlich 
die allgemeine freie deutſche evangeliſche Kirche in ihrer 
Unabhängigfeit von den befchräntten Landes⸗, refp. 
Staats⸗, ja, wie Jemand im Zorne gefagt hat, Polizei⸗ 
tirchen zu repräfentiren. 

Ein foiched Privileginm hat der Verein allerdings; 
daß ich es zu würdigen weiß, babe ich in meinem Berichte 

; F 


518 Lüde 


über die göttinger Generalverſammlung in den Studien 
uud Kritifeun dentlich ausgeſprochen. Bott gebe, daß er 
dieß Privilegiem treu bewahrt! Allein ich kann es nur 
fo verfichen, daß er die allgemeine, freie, aber reale 
Liebes⸗ und Wohlthätigkeitskirche in den wirklichen evangeli⸗ 
ſchen Landes; und Nationalkirchen barfielt. Wider Die recht⸗ 
Itchen Drbnungen der Lanbesliechen, — die freilich Ihre 
firchliche Polizei haben müflen, wenn Ordnung ſeyn uud 
keine kirchliche Pöbelherrfchaft entfliehen foll, und die mit 
dem Gtaate nicht wie mit einem verabfchenten Heiden 
ober rein Indifferenten, fondern als mit dem lebendigen 
chriſtlichen Staate freundlich zuſammenleben mäflen, — 
zur Zerfiörung ihrer inneren und äußeren Einheit und 
Banzheit, zur Auflöfung und Entmächtigung ihrer kirch⸗ 
lichen Yucteritäten, jene abflracte and, wie fie auch 
dialektiſch formulirt werden mag, auf den Winben und 
Wellen seitende allgemeine freie evangelifche Kirche dar» 
ſtellen zu wollen, — ein foldyed Desorgantfationg, oder 
Zerrbildungspriotlegium ‚gegen die gefchidztlich beſtehende 
Kirche hat der Verein nie gehabt und Tann ed nie haben 
wollen, wenn er ſich nnd bie Kirche recht verſteht ud 
nicht ind Blaue oder Wilde bineinlebt. — 

Jenes edle Ziel ainer in den kirchlich organifieten 
kandeslirchen — ich fage nicht Staatekirchen, ſich leben⸗ 
dig dDarfiellenden, aus ihnen organifdı erwachſenden allge⸗ 
meinen deutſchen Nationalkirche mit gehöriger, aber ges 
ordneter Freiheit, ohne Tyrannei gegen die berechtigten 
Eigenthümlichleiten der befonberen Lanbedtirhen, — dieß 
Ziel kann nad meiner Auficht nur auf dem Wege einer 
treu und unverdroſſen fortarbeitenden Theologie, fo wie 
einer ruhigen, befonnenen Berfaffungsbilbung der Landes» 
firden nach einem gemeinfamen Typus in Predbpterien 
und Synoden erreicht werden. Einen anderen unmittel⸗ 
baren Weg fenne ich nicht. Der Guſtav⸗Adolphverein 
hat die ſe Beſtimmung unmittelbar nicht; er kann 
durch gegenfeitige: Berührung deu dentſchen Kirchen in 


üb. d. Nichtann. bed koͤnigsb. Deput. D. Rupp ꝛc. 919 


einem gemeinfamen Liebeswerke mittelbar dazu beitragen, 
Aber, wenn er fich beikommen läßt, durch Begünftigung 
firhlicher Oppofitionen, endlofer Gectenftiftungen und 
jämmerticher Religionsmengereien feinerfeitd unmittelbar 
jur Erreichung jenes Zieled etwas beitragen zu wollen, 
fo it er irr und wire geworden und fpricht ſich in dem 
Augenblicke feiber das Todesurtheil. " 

3) Ein ehrenwertherwürtemberger Deputirter, der für 
Rupp’9 Aufnahme geftimmt, aber in edelfter Weiſe das Ge⸗ 
wiffen Audersdenkender reſpectirt, hat gemeint, Rupp's Fall 
mit dem der jüngft entfiandenen freien fchottifchen Kirche 
Parallelifiven zu müflen, welche doch Jedermann für eine 
wahre wirkliche evangelifche anerkennen werbe. Aber wie 
ed immer bedenklich if, Audländifched unmittelbar auf 
Dentfched auzuwenden, fo darf man nur Sydow und Ead 
anfmerkſam Iefen, um den großen Linterfchieb zwiſchen 
der feetirerifchen Bewegnng der freien koöͤnigsberger Ge⸗ 
meinde nnd der nad) jahrhundertiangen Kampfe endlich 
erfolgten nnd im edelften Kirchenfiyl ausgeführten Katar 
ſtrophe in Schottland zu ertennen, 

4) Jeder Freund des Friedens und bed Bereind muß 
über den in Berlin entfiandenen unfeligen Hader, der 
den Verein an den Grund des Abgrundes gebracht hat, 
den tiefften Schmerz empfinden, und ed wäre wünfchenes 
werth und ein guted Zeichen, wenn diefer Schmerz Durch 
ganz Deutfchland Tant und Öffentlich ansgefprochen würde, 
Aber wenn zugleich dabei gerichtet und geflagt wird, 
daß es der berliner Berfammlung an der wahren chrift- 
lihen Liebe nnd Kingheit gefehlt habe, und ihr vorge, 
worfen wird, daß fie nicht klug und liebevoll genng bei 
dem rein formellen VBollmachtörechte des D. Rupp fliehen 
geblieben fey, fo kaun ich biefen Borwurf, der doch am 
Ende vorzugsweife die Majorität trifft, wicht gelten laſ⸗ 
fen. Das gedrudte Protokoll ergibt deutlich, daß es auf 
der Berfammlung auch in ber Maforität weder an Klugheit 
noch an Liebe gefehlt hat, Wenn aber von der Gegenpar⸗ 





520 Lade 


tel ſcharf umb eutfchieben auf das echt beſtauden wird 
uud zwar nicht bloß auf das formelle Recht an fich, ſon⸗ 
den, weil, wer A fagt, auch B fagen muß, auf alle 
feine realen Gonfequengen, da bift keine ausweichende 
nnd bejeitigenbe Klugheit und Liche. Reine, baare Ger 
rechtigkeit wurde von D. Rupp gefordert, feine Büte 
und Liebe, Da half e6 auch nicht, nm der Liebe willen nad 
giebig das formelle äußere Recht zu gewähren und gegen alle 
realen Eonfequenzen hinterbrein zu protefiren. @imfolder 
Proter würde ben Zwiſt nur noch heftiger gemacht haben. 


Der Prediger fpricht: Wer Wind ſäet, wirb Sturm 
ernten. Der tobende Gturm geht bereitd durch gaxı 
Dentſchlaud in der für den Verein zerſtörendſten Weile. 
Stärmifche Berfammlungen der Bereine, mit zum Theil 
eben erft ad hune sctum für den niedrigfien Beitrag ein 
getretenen — auch wohl geworbenen Mitgliedern, welche 
bis dahin fein Ohr und Herz für den Berein hatten, 
decretiren ohne alle gemauere Kenntnißs des Bergange 
und der Sache a) mit mehr und weniger Majerität für 
Nupp's Aufnahme gegen ben Geutralvorftanb uud die 
berliner Majorität, und interpretiren die Statuten wit 
‚ dem Minfpruche auf Unfehlbarkeit. Es war Schlimmes 
vorausznfehen, aber eine folche tumnituarifche Behandlung 
der ſchwierigen praftifchen Frage, einen ſolchen Sieg 
des leidenſchaftlichen Vornrtheils, der Unklarheit und Ver⸗ 
wirrung der Begriffe über Kirche und freie Vereine haben 
wohl nur Wenige vorausgefehen, nicht gu gedenken ber 
fehamlofen Entfteliuugen und Verhetzungen in ben Parteigeis 
tungen, weldye auch die ruhigſte, einfachſte Berichtigung der 





s) Mir iſt glaubhaft erzählt worden don Mitgliebern eimer foldhen 
Berfammiung , weldge gemeint, man mäßte für Rupp ſeyn, ba 
er die Symbole verwerfe, und zwar mit Recht, benn bie Sym⸗ 
bole taugten nichts und feyen von ber preußifdyen Regierung 
gemacht. Allerdings der aͤußerſte populäre Refler ber Berwir⸗ 
zung! Aber bergleidken immt body mit, 


' 


üb. d. Richten. bes königab. Deput, D. Rupp ıc. 321 


Angegriffenen nicht aufnehmen. — Jndeſſen wird die Ber 
weguug in der einmal herrſchend gewardenen Richtung 
durch ganz Deutfchlaud gehen; die Ruhigen, Veſonnenen, 
die Kenner der Sache werden vorerfi in der Minorität 
bleiben, und die leider, troß aller Warnung, ſchon auf 
nachſtes Jahr angeſetzte barmfläbter Tagesſatzuug wird, 
wie ich fürchte, überwältigt von ber berrfchenden Volls⸗ 
seinung das berliner Majeritätsurtheil caſſiren. Was 
davon die Folge ſeyn wird? Zunächſt ein neuer 
Sturm durch die Kirche, aber ein folder, der deu 
Stamm bed Vereins aus den Wurzeln reißen wird, 
während der dießmalige mehr bärres freuhed Gezweig 
braufend bewegt. Ob dann weiterhin, wie in Ausficht 
geſtellt if, ein do ppelter Buftav« Adolphuerein ent⸗ 
Rechen wirb, ein confervativer und ein liberaler, ein 
schter und ein linfer, und dann vielleicht gar noch ein 
dritter in gerechter Mitte? Gott behüte! Gewiß aber 
R dieß, daß der Verein, wenn nicht noch zur rechten 
Zeit verföhnliche, vermittelnde, verkändigenbe Elemente 
chriſtlicher Weisheit und Liebe Das Mebergewicht erbalten, 
in Darmiladt zu Grabe getragen werben wird, zum ent 
ſetzlichſten Zeugniſſe won der unglaublichen Zerriffenheit 
unferer Kirche und zum Hohngelächter ihrer geborenen 
uuverföhnlichen Feinde, ‚ 

Wer dat nun den Wind zu diefem zerſtoͤrenden Sturme 
geſäet? Doch gewiß nicht die zur Entſcheidung wie 
bei dem Haaren herbeigegogene berliner Verſammlung, 
insbeſondere die Maforität, welche nach ihrer Ueberzen⸗ 
gung deu Kal im Geiſte und Sinne ber Statuten des 
Vereins fo enticheiden zu müffen glaubte, — fonbern die 
jenigen, welche unbefonnen und keck mit freweluder Hand 
den’ Feuerbrand in den Berein geworfen haben. 

Schweigen auch noch jebt die Einfichtigen und Ges 
rechten, — es wird eine Zeit kommen, wo der Nation 
und dem Vereine die Augen darüber aufgehen werben, 
auf weicher Seite die wahre Schuld liegt, Dan hört ſchon 





922 Läcke, üb. d. Richtann. des D. Rupp ıc. 


von Anträgen, welche den Muth haben, den Fönigeberger 
Berein und D. Rupp wenigfieus eben fo fehr in Anlage 
fand zu feßen, als den Gentralvorfand und bie Bene 
rafverfamminng, und jenen ald eigentlichen Streiturheber 
gur Berautwortäng zu ziehen. Aber bid Alle Klar in 
der Sache fehen und gerecht urtheilen und handeln wer 
den, wird es vielleicht ſchon zu fpät feyn, und man wird 
vielleicht fchon binnen Zahresfrift figen und weinen auf 
den üben Trümmern des Bereind. Gott aber fey Dant, 
daß nicht bloß die Furcht, fondern auch die Hoffnung 
, und der Blanbe ihr Vieleicht haben! 

Was aber auch kommen möge, fey und bleibe nur 
jeder feiner Ueberzengung gewiß. Wie fehr ich and mit 
der meinigen in der Minorität ſeyn und bleiben mag, 
e& fol mich Feinen Angenblid irren. Mau muß mit fei- 
uer woblerwogenen Ueberzeugung auch ganz allein ftehen 
konnen vor Bott und feinem Gewiſſen. So lange indeffennod 
unbetheiligte und einfichtige Männer, freie, erfahrene, ges 
lehrte Theologen, wie D. de Wette, D. Gieſeler, 
D. Ullmann und D. Rothe u. N. anf meiner Seite 
fichen und fich dazn bekennen, kann ich andy menſchlicherweiſe 
getroft ſeyn und die weitere Entwidelung ruhig abwarten. 

Der Berein ift von Anfang an, wohl in jeber groͤ⸗ 
Geren und Pleineren Berfammlung, in vielen herzlichen 
Gebeten der heiligen Obhut Gotted empfohlen worden. 
Gottes Segen iſt auch bis jetzt ſichtlich mit ihm geweſen. 
Hoffen wir alfo, daß der, welcher bie Winde zu feinen 
Boten und die Feuerflammen gu feinen Dienern macht, 
anch bdiefen Sturm und dieſe Feuerflamme nach feiner 
Weisheit gebrauchen werde — nicht zur Zertrümmerung, 
— ſondern zur Befeſtigung, Bewahrung und Rünterung 
des biöher von ihm gefegneten edlen Vereine. 

Mit diefer getroften Hoffnung und biefer zuverfiht- 
lichen Bitte zu Bott fchließe ich diefen Bericht und biefe 
Rechtfertigung meines Votums. 

Mitte Novembers 1846. 


. Ein Wort über benfelben Gegenftand " 
von 


D. C. Ullmann. 


Mein theurer Freund Lüde hat gewünfcht, ich möchte 
feiner Erörterung ein begleitendes Wort beifügen. Nun 
haste ich mir allerdings über die Sache, fobalb fie zur 
öffentlichen Streitfrage geworden, meine Gebanfen ge 
bildet, ja großentheild aufgezeichnet; auch hatte ich mit 
meiner Anficht gegen Riemanden, der fie fenuen wollte, 
ein Hehl; aber zur öffentlichen Rede in diefer bald fo 
ſtürmiſch unb wild gewordenen Debatte verfpürte ich 
wenig Neigung. Da ich jeboch fehe, wie die waderften, 
mir befreundeten Männer aud dem Kreife ber berliner 
Majorisät mit jeder Art von Schmach überhäuft werden, 
will ich, obgleich perſönlich nicht entfernt betheiligt, kei⸗ 
nen Augenblid zögern, meine llebereinftimmung mit ihnen 
au vor Jedermann zu befennen und die Schmach, wo 
ed.nöthig wäre, mit ihnen zu theilen. Auch gibt mir viel« 
leicht meine Theiluchme am Guſtav⸗Adolphverein und mein 
Schmerz; über das Ereigniß, das ihn betroffen, ein 
Recht zur Rede; denn wie‘ich früher von demfelben viel 
Gutes gebofft habe auch für die Kirche im Ganzen, fo 
erfüllt weich jegt nicht etwa bie einzelne Thatſache, ſon⸗ 
dern der ganze Sompler deſſen, was ihr verurfachend 
voranging, was ihr jegt fchon gefolgt if und was noch 
weiter ale unvermeidlihe Wirkung aus ihr entfpringen 
zu müflen fheint, mit tiefer Beträbniß, und wenn Andere 
mit dem Gegenflande, als einer unvermeiblichen Krife, 
fo leicht fertig werden und ſich vieleicht u freuen, 

Theol, Stud. Jahre. 1847, 





524 Ulmenn 


daß das gelommen ift, was doch nicht ausbleiben konnte, 
fo kann ich das nicht von mir rühmen, weil ich glaube, 
daß die Sache allerdings gar wohl zu vermeiden war. 
Indem ich alfo meiner Ueberzengung und meinem Schmerze 
Worte gebe, fey ed auch nur, um das dixi et galvarl 
animam geübt zu haben, will ich mich nicht ängftlich bes 
mühen, folche Geſichtspankte, die mein Freund ſchon bes 
rührt hat, die fidy mir aber auch ganz unabhängig von 
ihm dargeboten hatten, zu übergeben, fete aber zugleich 
das von ihm Ansgefprocdhene als befannt voraus und 
werde die Frage auch von anderen Seiten beleuchten. 

Ich habe vor Tahren vom Guſtav⸗Adolphyvereine ges 
fagt, wenn er auch nicht einen eigenthämlichen Stand» 
punlt über den gewöhnlichen Parteien einnehme, fo ſtehe 
er doch auf neutralem Gebiete außerhalb der Parteien, 
und habe damals zugleih die Hoffnung ausgeſprochen, 
ed werde ſich die zunächlt Außerliche Berbiabung mehr 
und mehr zu einer lebendigen, innerlichen Gemeiufchaft 
vertiefen a). Das konnte auch eine Zeitlang als wahr 
gelten, Aber raſch, wie durch ein ploͤtzlich aufgeſtiegenes 
Gewitter, it ed anders geworben, Richt mehr and nar 
außerhalb der Parteien fteht der Verein, fondern er if 
mitten in ihren Kampf bineingeriffen, ja für Die nächſte 
Zeit ein Hauptgegeuftand des Parteihaders geworden. 
Nicht mehr iR auch nur mit einiger Wahrfcheintichkeit gu 
hoffen, die äußere Bereinigungsform werde ſich mehr und 
mehr mit innerem Einheitsgeiſte erfüllen, ſondern «6 
droht vielmehr die hervorgetretene innere Veruneinigung, 
auch die äußere Bemeinfchaftöform auseinander zu 
fprengen. 

Wie war dieß möglich? Aus dem natürlichen Ent 
wickelnugsgange des Vereins konnte es nicht kommen. 
Auf der letzten ſtuttgarter Verſammlung herrſchte mod 





a) Stud. m, Krit. 1844, 2. &, 555 u. 554. 


üb. d. Nichtann. bed koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc.. 525 


der fchönfte Sinn der Einigung in dem gemeinfamen Lie, 
deszwecke; Geber, der ihr unbefangen beimohnte, empfing 
wohlthuende, ja erhebende Eindrücke; Bad Ganze war 
von einem chrißlichen, aber auch freien Sinne getragen; 
ed war da weber etwas Einengendes und Erclufives, 
noch trat eine Erfcheinung hervor, die den gefunden kirch⸗ 
lichen Geiſt hätte verlegen können; und obwohl Mäuner 
ber verfchiebenken Richtungen neben einander faßen: 
Rationaliften und Orthodore, Hegelianer und Pietiften — 
fo zeigte fih doch nicht nur Peine Mißſtimmung, fondern 
man konnte auch keine Ahnung davon haben, daß man 
ſchon von der nächften Berfammlung nach Jahresfriſt fo 
niedergefchlagen, theilmeife fo erbittert nach Haufe gehen 
würde. Der Berein felbft in feiner naturgemäßen, freier; 
wählten Thätigfeit:gab dazu keinen Anlaß; diefer konnte 
ihm nur. von außen, nur mit einer gewiffen Gewaltfam: 
feit anfgedrungen werden. 

Und fo war ed aud. Den Wählern des Fönigeber 
ger Vereins iſt es auf eine höchft betrübende Weife ges 
Iungen , in die berliner Berfammlung eine kirchliche Prin⸗ 
cipienfrage, welche mit den Intereſſen des Vereins fchlechts 
bin nichts zu thun hat, hineinzumwerfen und fle gu deren 
wenigſtens indirecter Löfung zu nöthigen. Dan kann ſich 
ſchwerlich enthalten zu glauben, daß dieß, wo nicht bei 
der Wahl, fo doch dei der Belaffung des D. Rupp als 
Deputirten beabfichtigt war. Oder follte D. Rupp in 
ganz harmlofer Weife, ohne Rüdficht auf feine eigen, 
thämliche kirchliche Stellung, bloß wegen feiner Berdienfte 
um den dortigen Provincialverein gefandt worden feyn ? 
Niemand wird ihm dieſe Berdienfte fchmälern wollen. 
Aber, wer erwägt, daß bie wirklichen Sntereffen des Ber, 
eine, fo weit fie auf Unterſtützung armer proteftantifcher 
Bemeinden gehen, gewiß nit untrennbar an bie Perfon 
des D. Rupp geknüpft waren, baß vielmehr diefelben von 
eines nicht geringen Zahl würdiger Männer vollfommen 

8 e 


526 J Ullmann 


eben fo gut vertreten werben konnten; wer bie religiöfen 
und Kirchlichen Sympathien ber betreffenden Wählerfchaft 
in Anſchlag bringt; wer fid vor Allem erinnert, wie Mor 
nate lang vor der berliner Berfammiung in Brofdüren 
und Zeitungen zu lefen war, alle Welt fey nun auf bie 
Zufammenfunft des Guſtav⸗Adolphvereins gefpannt und 
gegen dieſes Intereſſe trete das für die Reichsſynode 
völlig in den Hintergrund — nicht etwa, weil man be, 
gierig war zu fehen, was doc die Deputirten für ben 
eigentlichen Zwed des Vereins, die Unterflügung bebräng- 
ter Gemeinden, thun, fondern nurwegen ber einen Frage, 
wie fie fich gegen D. Rupp verhalten würden — wer 
das Alles bedenkt, ber müßte felbft eine Harmloſigkeit der 
feltenftek Art befigen, wenn er glauben follte, die Sen⸗ 
dung Rupp's fey nur ein Act naiver Abſichtloſigkeit ges 
wefen und bloß im Hinblide auf die Wohlthätigfeites 
zwecke des Bereind gefchehen. Nein, Jedem mußte ſich 
eben fo unwillfürlich, al& unabweisbar der Gedanke aufe 
drängen: Rupp wurde ald Deputirter gewählt oder bod) 
beibehalten, nicht bloß ungeachtet, fondern weil er 
aus dem Verbande der Laudeskirche ausgetreten war, und 
der Guſtav⸗Adolphverein ſollte ihm die Anerkennung des 
Bürgerrechted in ber evangelifch » profeftantifchen Kirche 
zu Theil werben laffen, welche ex zur Zeit von dem kirch⸗ 
lichen oder weltlichen Regimente noch nicht hatte erlan 
gen können; das Ganze hatte den Charakter einer De 
monftration und der Guſtav⸗Adolphverein war dabei 
mehr Mittel, ald Zwei, Wollen wir aber auch, fo ent 
fhieden ſich jedem der Berhältniffe Kundigen diefer Ge⸗ 


danke nahe legt, ihm doch nicht fchlechthin Raum geben, 


weil über die Abfichten zulegt nur Gott urtheilen 
kann, fo bleibt doch fo viel außer Zweifel: man mußte 
auch in Königsberg willen, daß die Sache ale eine De 
monftration genommen und daß damit ber Beneralver 
famminng in Berlin eine ſchwere Berlegenheit bereitet 


* 


üb. d. Nichtann. d. koͤnigsb. Deput. D. Rupp ıc. 527 


werde; man fah, wenn man die Angen nicht abfichtlich 
verfhloß, die gefährliche Alternative, in die der Verein 
dadurch kommen werbe, voraus und wollte ihm biefelbe 
nicht erfparen. 

Die Würde bed Vereins hätte nun allerdings gefor⸗ 
dert, ſich in ſolcher Weiſe als Mittel nicht gebrauchen zu 
laſſen und die Demonſtration, von wem ſie ihm auch zu⸗ 
gedacht ſeyn mochte, von ſich abzulehnen. Aber eben dieß 
machten die Berhältniffe wieder unmöglich a). Alle Ver⸗ 
ſuche, die Sache gütlich. beizulegen dadurch, daß man 
bie Wählerfchaft D. Rupp's beftimmte, dad Mandat zus 
rädzuzichen, oder ihn ſelbſt, freiwillig darauf zu verzich⸗ 
ten, waren vergeblich; fie fcheiterten theild an den Um⸗ 
fänden, theild an der unbeugfamen Entfchiebenheit, 
womit D. Rupp allen, auch den infländigften und feier, 
lichten Bitten gegenüber, auf feinem formellen Rechte 
befand, Und da nun auch fchon anbererfeitd Proteflar 
tionen gegen feine Befähigung zur Mitgliedfchaft einges 
laufen waren, fo konnte eine Eintfcheibung nicht umgan⸗ 
gen werden, nnd hierbei, weil dem Bereine, fey ed auch 
aur indirect, eine Firchliche Principienfrage anfgenöthigt 
war, mußte freilich ber innere Diffenfus zum Borfchein 
fommen, ber in ihm fchlummerte, der aber auf dem rich, 
tigen Wege der Thätigkeit für die wahren —— 
nie hervorgetreten ſeyn würde. 

Es ſteht jedem Theilnehmenden frei, bie der Gene, 
ralsBerfammlung vorgelegte Frage auch feinerfeitd einer 
Prüfung zu unterwerfen. Bevor wir dieß thun, haben 
wir jedoch noch einige vorläufige Inſtanzen zu erlebigen. 


a) Die PYräliminarien ber Sache, auf bie ich bier nicht im Ein⸗ 
zelnen eingebe, find ausführlich erörtert in dem vorläufigen Bes 

richte über die 5. Hauptverfammlung von D. K. Großmann, 
den auch die Männer von ber entgegenftehenben Seite nidht un» 
gelefen Taflen ſollten. Ohnedieß gibt auch fon Lüde vieles 
bierher Gehoͤrige. 


⸗ 





28 Ä Klmass 


. Man bat erfilich bemerkt, das die Vollmachten yrd- 
fende Mitglied bed Centralvorſtandes bätte die Sache 
einfach gefchäftlich abthun follen und wärbe damit bie 
ganze Schwierigkeit befeitigt haben. D. Rupp war von 
einem berechtigten Vereine orbnungsmäßig gewählt und 
hatte feine richtig ausgefertigte Vollmacht; war diefe m 
Augenfchein genommen und fein formelles Recht feſtge⸗ 
fließt, fo hatte er ohne Weiteres Sig und Gtimme. 
Allein ich weiß nicht, was die Prüfung der Vollmachten 
heißen fol, wenn mas diefe auf das mechanifche Geſchaͤft 
der bloßen Befihtigung eines Papiers befchränft. Bei 
allen vertretenden Körperfchaften will die Präfung der 
Wahlen etwas Mehreres befagen. Sind bie Wahlcorpo« 
rationen nicht fchlechthin irrthumdfrei — und das wird 
die Fönigäberger nicht von ſich behaupten wollen — fo 
töunen fie auch einen Fehler im Materiellen der Wahl 
begeben; fie können auch einmal eine Perfon wählen, 
bie ihrer Befchaffenheit nach nicht wählbar war. Go 
in folchen Fällen die Generalverſammlung nichts Anderes 
feyn, ale eine paffive Waffe, die ſich von den fonveräs 
nen Einzelvereiuen unbedingt Jeden muß zuſenden laflen, 
ohne zuzufehen, ob er auch nur die Qualification zu eis 
nem Depntirten hat? Wein, wenn bie Prüfung der 
Bolmachten Sinn und Bedeutung haben fol, fo muß fie 
fih auch auf das Materielle der Wählbarkeit erfireden. 
Und im vorlisgenden Falle waren von vorne herein Zwei⸗ 
fel gegen diefe Wählbarkeit geltend gemacht warden. 
Das die Vollmachten prüfende Mitglied des Central⸗ 
vorftandes aber entſchied nicht für fich felbit, fonbern 
legte die Frage dem Gentralvorftande vor und biefer 
binwieberum ber ganzen Deputirten«Berfammlung: alles, 
wie es die Wichtigkeit bes Gegenſtandes forderte, in 
befter,, billigfter Ordnung. 

Aber, bier fagt man bann zweitens: die Geueral⸗ 


üb. d. Nichtann. d. koͤnigsb. Dep. D. Rupp ıc. 529 


Berfaumiung war zur Eutfcheibung ber Frage gar nicht 
competent, weil in den Statuten Feine Beſtimmung vor⸗ 
fommt, die fie ermächtigte, ſich über die Zulaſſung eines 
Deputirten beflimmend auszuſprechen. Das Lektere iſt 
richtig, allein darand folge nicht das Erftere. Denn 
wenn wan ſchon überhaupt ber General, Berfammlung 
das Recht nicht wird abfprechen können, über wichtige 
unb dringliche Fragen, auch wenn fie nicht ausdrücklich 
in den Statuten vorgefehen find, eine Entſcheidung zu 
geben, fo am wenigften in dieſem Falle. Kommt nämlich 
auch zunächſt nur dem dazu beflimmten Mitgliede bes 
Gentrals Berfiandes das Recht zu, die Vollmachten zu 
prüfen, fo ſollte doch Diefem bamit gewiß nicht die ſou⸗ 
veröne Gewalt gegeben werben, Deputirte, die er etwa 
nicht für gehörig legitimiert hält, nach bloßem felbfieiges 
nen Ermeflen von der Verſammlung auszufchließen, ſon⸗ 
dern er wird ber Natur der Sache gemäß dem Fall vor 
die ganze Berfammiung bringen. IR damit dann auch 
noch der Depntirte, deffen Legitimation beanftanbet wor« 
ben, einverftanden, fo kann die Sache vollends feinem 
Zweifel unterliegen. Und fo verhielt eö fi hier. Einer 
feitö war von dem Deputirten bed Gentrals Borkandbes 
nad von biefem in Befammtheit die Competenz der Ge 
nerals Berfamminug anerkannt, andererfeitd war von 
D. Rupp ſelbſt aufs Entfchiedenfie an dieſelbe appellirt 
worden: wie hätte fie ſich alfo nicht ermächtigt halten 
ſollen, eine Entfcheibung zu geben? „Und hätte fie 
dennoch, ohne in die Verhandlung der Sache felbfk 
einzugehen, fich für incompetent «erklärt, fo würde fie 
Ah mit rund dem Borwurfe ausgeſetzt haben, unter 
dem Borwande einer Incompetenzerflärung: feige und 
ſchwach ſich einer Pflihterfülung zu entziehen, flatt in 
Gemaͤßheit des von D. Rupp an fie gerichteten Berlans 
gend offen und muthig in eine Prüfung der Frage ein: 


530 . Mlmann 


zugehen und fie nach vechtlicher Ueberzeugung zu eut⸗ 
fcheiden” a). 

Run aber die Streitfrage ſelbſt, worauf bezog biefe 
fh? Nun und nimmermehr anf den Blauben, die theos 
logifhe Denfart, bie Dogmatik Rupp’s, fonbern rein 
nnd allein auf feine Firchliche Stellung. Die perfönlichen 
Ueberzengungen Rupp's Tenne ich felbft nicht genau ger 
nug, um darüber ein anthentifches Urtheil zu haben; 
ader baran zweifle ich feinen Augenblid: der Theologe 
Rupp konnte unbedenklich im Guſtav⸗Adolphvereine ſei⸗ 
nen Platz einnehmen. Längft ſchon hatten in den Ber: 
fammlungen beflelben die verfchiedenften Richtungen ibre 
Stelle und e8 fiel Riemanden von ferne ein, auf biefem 
Sebiete den Keberrichter fpielen zu wollen. Auch jebt 
Sam es gar nicht darauf an, ob ein Mann mehr von 
der Denfart, als deren Bertreter D. Rupp gilt, in den 
Reiben faß, da ohnedieß viele Andere von berfelben Ges 
finnung da waren; und wenn fich das Bedenken hierauf 
bezogen hätte, fo wäre es ja wahrhaft kindiſch geweſen, 
and biefer- Reihe. gerade den D. Rupp, ben in feiner 
Richtung nicht einmal am weiteften Gehenden, herauszu⸗ 
greifen und die Uebrigen aufznfordern, mit über ihn zu 
Gericht zu fiten. Auch if nicht nur nichts in biefem 
Sinne geltend gemacht worden, fondern mau bat fid 
aufs ausdrädlichite gegen Motive der Art gewahrt, nar 
mentlich von Geiten berer, bie ich in ber Kürze bie 
Dofitisgefinnten nennen will. Alfo nichts von Glanbens⸗ 
gericht, fondern Löſung einer kirchlichen Frage, die 
ſich die BeneralsBerfammiung des Guſtav⸗Adolphvereins 
nicht felbft freiwillig anfgeweorfen hatte, fonbern bie 


/ 


a) Worte des frankfurter Deputirten, Schöff D. Harnier, de 

" überhaupt diefe Sompetenzfrage fo volftändig erledigt, daß ich 
biee gaͤnzlich auf feine Erörterung verweiſe. S. Protokoll der 
frantf. Hauptverfammiung v. 4. Nov. 1846. ©. 7. u. 8. 


! 


6. d. Nichtann. des koͤnigeb. Deput. D. Rupp xc. 53T 


ihr wider Willen und trotz Bit: Widerſtrebens aufger 
mungen war. 

Die Frage felbft aber war einfach die: kann ei Sol⸗ 
cher, der eingeſtandenermaßen aus dem Verbande der zu 
Recht beſtehenden evangeliſchen Kirche, reſpective Lan⸗ 
desfirche ausgetreten und nicht in eine zur Zeit anch ger 
feßlich anerfannte evangelifchsproteftantifche Gemeinfchaft . 
eingetreten ift, vollberechtigteds Mitglied des Guſtav⸗ 
Adelphvereind und indbefondere Deputirter deſſelben auf 
feiner Beneral»Berfammiung feyn ? 

Und auf diefe Frage muß auch ich in ruhiger and 
fiherer Ueberzeugaung mit nein antworten, ebenfowohl 
vermöge der Statuten, ald im Hinblide auf die ganze 
bisherige Stellung und Entwidelung des Vereins. 

Was die Statuten betrifft, fo bezeichnet bekanntlich 
der erfte Paragraph ald zur Theilnahme am Bereine bes 
rechtigt: „Mitglieder der evangelifch » proteftantifchen 
Kirche, welche u. f. w.” Schon hierbei wird jeber lin» 
befangene‘, jeder durch die vorliegende Gtreitfrage nicht 
ſchon Beirrte, an die wirkliche, gegenwärtige, fihtbare 
und rechtmäßig befehende evangelifche Kirche denken, 
und es ift offenbar fophiftifch, wenn man fagt, daß um 
diefen realen Beftand zu bezeichnen, nicht der Singular 
„Kicche”, fondern der Plural „„Kirchen” hätte gebraucht 
werden müflen, weil die rechtlich beftehende evangelifche 
Kirche ſich nur in einer Mehrzahl von Kirchen darſtelle. 
Denn jeder Berfländige weiß ja doch, daß man auch die 
Summe biefer einzelnen Landedfirchen unter dem Ger 
fommtbegriffe der enangelifchen „ Kirche” zufammenfaßt, 
und ed wäre in der That fonberbar gewefen, wenn ber 
Guſtav⸗Adolphverein, ftatt fi dieſer ganz gangbaren, 
populären Anfchauung zu bedienen und dafür einen vol, 
lig unmißverfändlichen Ausdruck zu gebrandyen, gleidy 
in der erſten Zelle feiner Statuten an die Setheiltheit 
der evangelifchen Gemeinſchaft in Landeskirchen erinnert 





532 Ullmann 


und bamit gleichſam im erften Worte eine Parobdie auf 
fein Streben nach Einigung audgefprochen hätte. Wide 
tiger in der Einwurf, daß ber evangelifche Proteſtantis⸗ 
mus nicht in diefen rechtlich beſtehenden Bemeinfchaften 
aufgehe, fondern daß man unter evangeliſch⸗ proteſtanti⸗ 
ſcher Kirche auch etwas Allgemeineres verfiehen könne: 
deu ganzen Compiler der Parteien nämlich, die fich auch 
außerhalb der anerfannten Kirchen im Gegenſatze gegen 
die roͤmiſch⸗katholiſche oder griechifch » orthodoxe Kirche 
aus dem proteflantifchen Principe bereits entwickelt ha⸗ 
beu ober in Zufnuft noch vollſtändiger entwideln werben, 
alfo ben allgemeinen, idealen. Proteftantiämus, wohl 
auch die proteflantifche Kirche der Zukunft, Nun weiß 
freilich Jedermann, bag man in der Kirchengeichichte und 
auch fon vielfältig von einem Proteſtantismus in dieſen 
weiten, idealen, meinetwegeu auch propbetifchen inne 
foricht; aber ich denke, wenn man Statuten macht, alſo 
einen einfach praltifchen Zweck im Auge bat, fo wird 
san nicht einen fo ſchwebenden und zerfließeuden Bes 
eriff gu Grunde legen‘, fonbern einen ganz beſtimmten, 
klaren und wohl begremzten. Und daß man bieß in ber 
That beabfichtigte, geht noch weiter aus Folgendem 
bervor. | 

Im zweiten Paragraphen beißt es zunächft: „Die 
Wirkſamkeit des Vereins umfaßt Iutherifche, reformirte 
und unirte Gemeinden.” Hier iſt doch deutlich genng 
von beflimmt abgegrenzten, rechtlich befiebenden Kirchen 
die Rede und zwar um fo ungweifelhafter, ald diefe Be 
ſtimmung aus Beranlaffung einer Discuſſion über bie 
Frage entiiand, ob auch die proteflantifhhen Gecten in 
den Bereich ber Bereinsthätigleit aufzunehmen feyen. 
Man glaubte, bei der pofltiven Bezeichnung der Sache 
(Istherifche, reformirte, unirte Gemeinden) Reben bleiben 
zu können, weil darin von felbft auch die negative (Aus⸗ 
ſchließung des Secten) gegeben fey. Allerdings bezieht 
ſich dieſe Beſtimmung direct nur auf das Object der Un⸗ 








üb. d. Nichtann. des koͤnigob. Dep. D. Rupp ıc, 533 


terſtützung, nicht anf dad Gubject; ed wird damit Die 
Grenze für die zur Unterftägung berechtigten Gemeinden 
gezogen, nicht für die Befähigung zur Mitgliebſchaft am 
Vereine, Aber indireet if auch diefed darin enthalten, 
Denn wenn irgendwo, fo gilt Boch wohl hier der Schluß 
vom Geringeren auf dad Größere. Darf vom Bereine 
nur unterKüßt werden, wer zus Iuthertfchen, reformirten 
oder unirten Sonfeffion gehört, fo wird Doch wahrhafs 
tig anch nur einem Solchen das weit wichtigere Recht zu⸗ 
fommen können, bei ben-Berathungen und der Repräſen⸗ 
tation deſſelben eine entfcheidende Stimme zu haben; unb 
läßt man einen zur Intherifchen, veformirten oder unirten 
Kirche Ricdytgehörigen zur Repräfentation zu, fo ift nicht 
einzufehen, wie man vernünftiger und billiger Weife die 
Gemeinfhaft, der er angehört, von der Unterſtütung 
zurückweiſen kaun. Aus irgend welcher nichtkirchlichen 
Bemeinfchaft einen Deputirten annehmen, dieſe Gemein⸗ 
fhaft ſelbſt aber als Gegenſtand ber Liebeschätigkeit aus⸗ 
ſchließen, wäre nicht nur ein innerer Widerſpruch, fon» 
dern auch eine Inhumanität uud bieße mit ber einen 
Hand geben, was man mit der andern reichlich wieder 
nimmt. &o bedingt bier nach der pofltiven, wie nach 
der negativen Seite der Kreis derer, weldye Unterkügung 
empfangen, zugleich (mit Ausnahme ber fogenannten „Wohle 
thäter” des Bereind) den Kreis derer, weiche als vollbe⸗ 
rechtigte Mitglieder des Bereind diefelbe geben; und ale 
in Granffurt die Aufzählung derienigen, die an bem Berein 
als ſtimmberechtigte Mitglieder theilnehmen Tönnten, bes 
antragt wurde, unterblieb dieß laut der amtlichen Berichte 
über die zweite Danptverfammiung and dem runde, 
„weil für Sehen hinlänglich gefagt ift, weiches Bekennt⸗ 
niß die Unterkügenden haben, fobald angegeben ift, wel⸗ 
ches Belenutniß die zu ENSerRÜBEnDen Bemeinden haben 
müflen” a), 


a) 8, Großmann vorläuf, Bericht, S. 12, 


534 Ullmann 


Indeß die Beſchränkung anf Intherifche, veformirte 
und umirte Gemeinden if ja nicht abfolut; der zweite 
Paragraph läßt auch Solche gelten, „bie ihre Ueberein⸗ 
Rimmung mit der evangelifchen Kirche ſouſt glaubhaft 
nachweifen können.” Bekanntlich ift diefer Zufat mit be 
fonderer Beziehung auf die Waldenfer gemacht worden, 
und gewiß mit dem volleften Rechte hat man dieſe wahrhaft 
evaugelifchen Borläufer der Reformation, die natürlichen 
Schutzverwandten bed Proteſtantismus, bie zugleich mit 
der reformirten Kirche in der nlchiten Belenutniß- umb 
Lebendgemeinfchaft ftehen, in den Bereich der. Liebesthäs 
tigkeit des VBereined gezogen. Aber gerade, dag man mit 
befiimmter Beziehung auf fie eine Ausnahme machte, bes 
weil beutlih, daß man fi fonft um fo entfchiedener 
inuerhalb der kirchlichen Grenzen halten wollte. Exceptio 
üirmst regulem. Doch — die Kormel: „die ihre lieber 
einftimmung mit der evangelifchen Kirche font glaubhaft 
nachweifen können“ — Täßt in ihrer Allgemeinheit and 
noch Anberweitiged zu. Hier ift ein Punkt, der auch nod 
ferneren Anerfennungen Raum gibt und we auch die for 
genannte freie Bemeinde, welder D. Rupp angehört, 
Fuß faflen tönnte, zunächſt als Object ber Unterfiägung, 
baun, wenn man confequent feyn wollte, auch ale zur Ders 
einsthätigleit berechtigt. _E& füme darauf an, daß fie 
ihre Uebereinftimmnng mit der evangelifchen Kirche auf 
eine glaubhafte Weife nachwieſe. Aber diefe mußte fie 
doch offenbar, bevor eines ihrer Mitglieder ale Depu⸗ 
‘tieter ded Guſtav⸗Adolphvereins erfcheinen konnte, ſchon 
glaubhaft nachgewiefen Haben. Oder erwirbt man eine 
Berechtigung fchon damit, daß man fie zu haben behanp- 
tet? Beginnt man die Nachweiſung eined Rechtes damit, 
daß man es ausübt und troß aller Widerrede auf beflen 
Ausübung beſteht? Und bei wem folte bie Nachweiſung 
‚gefchehen? Bei der General, Berfammiung des Guſtav⸗ 
Adolphvereins? Aber war diefe über die Sache anch nur 


\ 


üb. d. Nichtann. des koͤnigsb. Deput. D. Rupp x. 535 


fo infruire, um irgenb gründlich entfcheiden gu Fönnen? 
Und wenn fie es gewefen wäre, if fie ein kirchliches 
Anerkennungötribunal? Gicht man nit, daß man bem 
Berein, wenn man ihn dazu machen will, in äußere und 
innere Gonflicte flürgt, durch die. er unvermeidlich zu 
Grunde gehen muß? Endlich aber mußten Doch, wenn 
in irgend einem Berflande von glaubhafter Nachweiſung 
der Uebereinſtimmung mit ber enangelifchen Kirche die 
Rede feyn follte, dafür zureichende Beweismittel beige⸗ 
bracht werden. Es Tam auch hierbei wieder fchlechthin 
nicht auf die individuelle LUebergeugung bes D. Rupp, 
auf ihn als evangelifchen Ehriften oder Theologen, fon 
dern einzig und allein auf das Bekenntniß der Gemein, 
ſchaft au, deren Glied er ift. Dieſes Belenutnig beſteht 
laut öffentlichen Angaben nach feiner thetifchen Seite le⸗ 
diglich darin, „daß fie die heil. Schrift ald Grundlage 
ihres Glaubens an die Einheit Gottes anerkennt; daß 
fie in Derfelben die höchſten fittlihen Normen für ihr 
Berhältniß zu ihren Nebenmenſchen findet; daß fie bei 
der Erforfchung der Schrift das fortfchreitende fittliche 
und vernunftgemäße Bemwußtfeyn der Bemeinbe zum 
Grunde legt, und daß fie die Taufe und bad Abendmahl 
beibehält”” Darf ich mir nun unter denen, welche biefe 
Zeilen lefen, Solche denken, weldye mit der Reformatich 
und ihren Brundgebaufen, mit der evangelifchen Kirche 
und ihren Belenntniffen befannt find, fo würde ich diefe 
£efer in der That zu beleidigen glauben, wenn ich ihnen 
erſt ausführlich anfchaulich machen wollte, wie durch die, 
ſes Belenntniß, welches nicht ein Wort für die Perfon 
Chrifti hat, welches von Sünde und Erlöfung und 
von der ganzen chriftlichen Heildorbnung nichts weiß, 
weiches mit der unzmweidentigften und barum löblichen 
Dffenheit nichts Anderes ale den einfachen Deismus dar⸗ 
legt — wie durch ein ſolches Belenntniß ein Beweid für 
Die liebereinfiimmung mit der evangelifchen Kirche ent 
fernt nicht gegeben feyn kann; mag man meinetwegen 


N 


536 Ullmann 


das Bekenutniß für das allervortrefflichſte, ja einzig rich 
tige halten, für übereinkimmend wit dem ber evangeli⸗ 
ſchen Kirche wird ed Niemand halten können, ber irgend 
objectiven Sinn hat, uud zwar braudt man babei gar 
wicht an bie formnlirten Bekenntniſſe unferer Kirche, fon: 
dern nar an bie Hauptpriucipien, an bie Weſensgrund⸗ 
lagen ber Reformation zu denken. Allein, könnte man 
fagen, diefe freie Gemeinde, gu der D. Rupp gehört, ik 
ia noch im Werden, fie faun ſich in ihrer Beweglichkeit 
dem Wefenbaften der evangelifchen Kirche ja auch am 
„ähern und innerlid wieder mehr mit ihr zuſammen⸗ 
wachſen. Gut. Sch fehe auch, daß die Zuſtände bdiefer 
freien Bemeinden noch embryonifche und in der Entwide 
kung begriffene find; aber eben weil fie dieß find, wolle 
sau fie auch nicht als fertige und volllommene behan⸗ 
deln. Kein Billiger wird fein Urtheil über eine ſolche 
Gemeinde ein, für allemal abfchließen. Aber fo lange die 
Bade noch fo umreif iR, noch fo ganz in den erften 
Gtadieu der Entwidelung fi befindet, muß mau es je 
denfalls voreilig und zudringlich finden, wenn von ba 
and Anſprüche erhoben werden, bie ſich mar auf bie ber 
veitd erwiefene und anerkannte Uebereinſtimmung mit ber 
evangelifhen Kirche gründen können, und wirb man das 
sin, daB ſich die Generals Berfamminng bed Guſtav⸗ 
Adolphoereins in ihrer MWajorltät diefen Anfprüchen wir 
Derfegt bat, nur eine natürliche Wahrung der Gtatuten 
des Vereins erkennen. 

So verhält ſich die Sache meines Dafürhaltend nad 
dem Worte der Statuten. Noch mehr aber ſcheint wir 
die ganze Stellung und biöherige Entwidelung des Ber 
eines für das zu forechen, was wir behaupten. 

Der Guſtav⸗Adolphoerein ik zwar nicht ein Firchlicher 
Berein im engeren Sinne des Wortes: er iſt nicht um 
mittelbar in den Zixchlichen Organismus eingefügt, legt 
nicht ein beſtimmtes kirchlich firirted Bekenutniß zu Grunde, 








üb, d. Nichtann. d. koͤnigeb. Dep. D. Rupp ıc. 337 


bewegt ſich nicht in Feten kirchlichen Formen und wird. 
nicht nothwendig von firchlich beamteten Männern geleis 
tet; er iſt vielmehr ein freier und vermöge der zahlrei- 
hen Laien, die er nicht bloß ald gebende, fondern auch 
als mithandelnde nnd leitende in ſich faßt, ein weſentlich 
vollöthämlicher Verein. Aber zugleich IfE er von Haus 
aus umd war biöher umbeſtritten ein folcher freier und 
vollöthämlicher Verein, der ſich in lebendiger und ver 
ttauensvoller Verknüpfung an die Kirche anſchloß, ber 
die Kirche gu feiner natürlichen Boransfeßung und Bas 
ſis hatte. Aus Liebe zur evangelifhen Kirche geboren 
und von ihr freudig begrüßt, wirkt er für ihre Zwede, 
Recht mit Dem Kicchenregimente und mit den Lehrern ber 
Kirche In fortwährender fördernder Beziehung, begicht 
die und da einen Theil feiner Mittel aus kirchlichen 
Coflecten, verfammelt ſich in evangelifchen Kirchen und 
geht, foweit feine Verſammlungen gottesdienftlich find, 
durchaus im die Formen bed evangeliſch⸗kirchlichen Enltus 
ein, genießt auch des von ihm machgefuchten Gchußes 
und der shätigen Theilnahme der Träger des ewangelis 
ſchen Kicchenregimentes und hat fich felbfk feine äußere 
Drganifation „auf dem Grunde der politifch « kirchlichen 
Eintheilung” a) gegeben; er if, mit einem Worte, eine 
freie Genoflenfchaft imerhalb der evangelifch-protekantis 
(hen Kirche nud auf deren natürlihem Grund und Bor 
den. Und bei allem dem ift nie die Rede geweien von 
idealer, unbeftimmt allgemeiner, werbeuder Kirche, four 
bern immer won der fchon gewordenen, wirklichen, ges 
genwärtigen; denn nur zu biefer paßte das Alled, was 
wir eben berührt haben. Läßtnun der Guſtav⸗Adolphverein 
ale vollberechtigte Mitglieder. und Repräfentanten Solche 
su, die ſich offen von dieſer wirklichen Kirche losgeſagt 
haben, fo gibt ex unzweifelhaft feine bisherige Baſis 


a) $. 10, der Statuten und Beilage A. 


538 uullmann 


auf; er loͤſt das Band, das ihn, wenn auch nicht durch 
einen ausdrücklichen Pact, ſo doch thatfächlich, mit der 
Kirche verknüpft hatte, und adoptirt ein Priucip, ver 
möge deſſen er ſich außerhalb der Kirche ſetzt. Ich will 
nun keineswegs behaupten, daß nicht der Verein auch in 
dieſer außerkirchlichen Stellung, wenn ex ſich dabei nur 
einen guten chriſtlichen Geiſt zu bewahren vermoͤchte, 
noch ein chreuwerther und wohlthätig wirkender ſeyn 
könnte: gibt ed ja doch fehr wohlthätige und auch chrif- 
lich wohlthätige Bereine, die ganz von allem Kirchlichen 
abfehen und felbft den Gegenſatz des Katholiſchen und 
Protefantifchen ignoriren. Allein erſtlich wäre es doch 
ſonderbar, wenn ſich gerade ein für kirchliche Zwecke wir⸗ 
kender Verein grundſätzlich außerhalb der wirklichen 
Kirche ſetzen wollte; zweitens flünde eben in dieſem Falle 
fehr zu befärditen, daß das Außerkirchliche alsbald in 
das Widerkirchliche und ſelbſt Kirchenzerfiörerifche um⸗ 
ſchlüge, und drittens, was für und hier das Nachſte, 
wäre es daun nicht mehr der alte, der urfprängliche und 
bisherige Guſtav⸗Adolphverein, fondern ein principiell an, 
derer, der ſich auch eine neue Grundlage und Berfafr 
fung geben müßte. Und fo hat, dünkt mich, die berliner 
Majorität ganz aus dem Erhaltungstriebe bes Bisherigen 
gehandelt, wenn fie Die kirchlichen Grenzen wahrte, ins 
werbalb deren fich der Berein von Anfang an aufge 
baut hat. 

Daſſelbe ergibt ſich and; noch von einer anderen Seite 
ber. Der Guſtav⸗Adolphverein hat fich verbunden zu einem 
Werte der Liebe an ben Genoflen nnferer Kirche; er will 
forgen für die, welche der Mittel des Firchlichen Lebend 
entbehren und deshalb in Gefahr find, der Kirche verlor 
ven zu gehen 0). Seinem Zwede gemäß wirkt er nicht 
zunähft und unmittelbar für den Glauben, fondern für 


a) $. 1. ber Statuten. 





üb, d. Nichtann. bes koͤnigob. Deput. D. Rupp ꝛc. 539 


die iußerlichen Bebingungen des kirchlichen Lebens. Zwar 
ruht das gefunbe Wirken der chriftlichen Liebe auf dem 
Glauben ‚and fördert denfelben; und das hat auch beim 
Guſtav⸗Adolphvereine nicht gefehlt: im Glauben begonnen, 
hat er denfelben auch nach innen belebt. Aber fein eigents 
liches Thun ift doch nicht Auf das innere des Glau⸗ 
bend gerichtet, fondern er baut demfelben Kirchen und 
Schulen, er gibt ihm leibliche Mittel und überläßt es 
vertrauensvoll andern Kräften, das, was er nicht unmit⸗ 
telbar vermag, gu leiften, So ift er ein Inſtitut, „welches 
dem Gebiete der äußeren Kirchenorganifation angehört” =) 
und feine Stellung durchaus in der fichtbaren Kirche und 
deren voller Wirklichkeit einnimmt. Aus dem natürlis 
hen Gefühle diefer Stellung heraus hat er von Anfang 
on anf nähere Blaubenebeftimmungen verzichtet, und wo 
Berfuche gemacht wurden, den Verein zu einem beſtimm⸗ 
teren Bekenntniſſe binzubrängen, da find Diefelben von der 
Mehrheit feiner Bertreter mit einem, wie mir fcheint, 
durchaus richtigen Tacte zurldigewiefen worden. Damit 
aber hat der Verein zuverläfftg nicht ausfprechen wollen, 
daß er gegen das Bekenntniß fchlechthin indifferent ſey 
und in das völlig Allgemeine zerfließen wolle, fondern 
er hat zugleich ausdrücklich erflärt, ed genüge die Ber 
Rimmung, daß fich feine Thätigkeit auf die evangelifch- 
proteftantifche, d. h. Iutherifche, reformirte und unirte 
Kirche beziehe, daß er ſich alfo innerhalb der Grenzen 
derfelben halte. Je weniger nun der Verein — und feis 
nem Charakter gemäß mit Recht — ſich auf dad Dogma 
eingelaffen, je weniger er felbfi bei der Beftimmung des 
Kirhlihen das Bekenntniß hervorgehoben hat, deſto wich, 
tiger und nnerläßlicher ift es für ihn, will er nicht völlig 
charalterlos werden, daß er den kirchenrechtlichen 





a) Ban vergleiche eine weitere, fcharffinnige Nachweiſung biefes 
Geſichtspunktes in der züricher Zeitſchrift: Zukunft der Kirche 
vom I5ñten Detober 1846. 


640 Allmann 


Standpunkt behaupte und anf bie äußere Abgrenzung 
der evangelischen Kirche das Gewicht lege, welches feine 
Statuten ‚fordern. Thut er dieß nicht, dans gerade 
wird er umausbleiblich in das verfallen, worüber man 
jet fo unermeßlich lärmt, in Glaubensrichterei. Denn 
alsdann wird er ſich nicht befchränten auf das äußere 
rechtliche Berhältuiß des Inbividunmd oder der Ge 
meinde zur Kirche, ſonders er wirb nothwendig das im, 
nere ind Auge faſſen müllen. Es fey denn, daß mau 
ſchlechthin und überall gar keine Grenze mehr anerken⸗ 
nen wolle, Aber baun wirb man, fo wie biefe Gemeinde» 
oder Sectenbildungen fortfchreiten, unerbittlich von Stufe 
zu Stufe weiter. gezogen werben: von denen, bie ned) 
kaufen, zu denen, die nicht mehr taufen, vom CEhriſten⸗ 
thume zum bloßen Menfchenthume, vom Deiömud zum 
Pantheismus — — und der Verein wird aufhören, nicht 
bloß em kirchlich begrenzter, fondern aud ein chrifts 
licher zu feyn, Will er aber doch irgendwo inne halten 
und Schranten giehen, dann eben wird er fid) auf Dog» 
ma und Speculation einlafen mäfen und zum Berichte. 
hof in Blaubendfachen werden. Denn es Sam „ar 
nicht fehlen, wenn fich die darmſtädter Verſammlung für 
Rupp audfpriht, daß weitere ähslicdhe und anch noch 
grellere Fälle vorkommen, and dann werden wir es orler 
ben, daß die General» Berfammlungen , ſtatt daß fie bie» 
her ein ewhebendes Zufammenfeyn in thätiger Liebe mar 
ren, zu ben unerquicklichſten Stätten theologifchen und phi⸗ 
logophifchen Haderd werden, und falls es dauun andı 
noch eine Majorität für irgend eine Audfcdliefung geben 
follte, fo wird diefe bei ihrer Zurücktunft von den öffent 
lihen Blättern mit deufelben Salven begrüßt werden, 
wie die jeßige berliner. 

Alles dieß will man indeß nieberfchlagen, indem 
man den Unterfchied macht zwifchen Kirche und Landes» 
firhe: D. Rupp, fagt man, ift ausgetreten amd ber preu⸗ 
Bifchen Landeskirche, noch lieber Couſiſtoriallirche, aber 


\ 


&b. d. Nichtann. des koͤnigab. Deput. D. Rupp ıc. 541 


nicht ans der Saugeliſch⸗ proteſtautiſchen Kirche an ſich. 
Das iſt jetzt das Meduſenhaupt, vor dem Alles erſtarren 
ſoll. Aber wenn ich mich nun, wie ein aus dem Traume 
Erwachender, nach der evangelifch:proteflantifchen Kirche 
umfehe, die nicht Landeskirche wäre, fo finde ich fle nicht. 
Deun entweder iſt das wieder ber allgemeine Proteftan- 
tismus, der in Firchlicher Beziehung etwas Zerfließendes 
it, oder, wenn ed bie wirkliche proteftantifche Kirche 
feyn fol, fo muß man fagen, daß biefe nahezır Überall 
nur in Landesfirchen zur Erfcheinung fommt und nur in 
bem feit der Neformation begründeten Berhältnifle zum 
Staate ihren realen Beſtand hat. Das Argument von dem 
Landeskirchen {ft nicht viel anders, ald wenn wie Jemand, 
ber fein Bürgerrecht nachweiſen follte, verficherte, er 
fey zwar nicht Bürger eines beffimmten Staates, wohl 
aber ded Staates an fih. Run will ich zwar hier gerne 
befennen, daß auch für mich diefe Landeskirchen im 
Verhältniſſe gu den gegenwärtigen Bedürfniſſen feine Ide⸗ 
ale der Vollkommenheit find und daß nach meiner Ueber⸗ 
jengung insbefonbere ihre Stellung zum weltlichen Res 
gimente einer -Berbefferung bedarf, auch bin ich herzlich 
gern bereit, nach meinen geringen Kräften dazu mitzus 
wirten, daß dieß auf ordentlichem Wege anders werde. Aber 
nur der Guftay » Abolphverein fcheint mir durchaus nicht der 
Ort, wo diefe Dinge audgefochten und ind Meine ges 
brasıt menden können und follen; der hat Anderes zu 
beforgen, und wenn wir ihn mit biefer Aufgabe verwirren 
wollen, fo werden wir der Kirche nichts nüßen und dem 
Bereine fhaden. Sch kann es indeß auch nicht verſtän⸗ 
dig und reblich finden, wenn man den Unkundigen jeßt 
einen fo großen Schred und Schauder vor bem Landes⸗ 
ticchenthume beizubringen fuccht, namentlidy in Betreff des 
Guftav » Adolphvereind. Denn, was dieſen betrifft, fo kann 
er gewiß auch innerhalb ber Landeskirchen feine ganze Kraft 
entwideln und feinen wahren Zweck aufs vollfländigfte 
36* 


542 - Ullmann - 


erreichen und es wird gewiß feinem Kirchenregimente 
einfallen, ihn fammt der Kirche, auf bie er ſich ſtützt, 
Über Nacht zu einem andern machen zu wollen, ald der 
er felbft feyn will. Und was die kandeskirchen am ſich 
angeht, fo verbreitet fih ja gerade jeht immer allgemeis 
ner die Ueberzeugung, daß fie der Erneuerung und Be: 
lebung bedürfen, und die erleuchtetſten Kürften und Staats⸗ 
_ Ienter bieten felbft dazu Die Hand. Hat dieſes Streben glück⸗ 
liche Refultate, fo werden fie andy dem Guſtav⸗Abolphvereine 
zu gutefommen. Bill ſich aber ber Guſtav⸗Adolphverein un. 
mittelbar in dieſe Dinge mifchen und g. B. Fragen erledigen, 
die nur auf georbnetem kirchlichen Wege erledigt werben 
Föunen, fo wird man ihm einfach fagen, daß dieß nicht 
feines Amtes fey, und es wird ein Bortheil feyn, wenn 
er am Ende nur fich felbft gefchadet hat und nicht andy 
noch Anderem hinderlich geweien iſt. 


Indeß — der Würfel ift nun einmal gefallen. Der 
Guſtav⸗Adolphverein hat fich ber firchlichen Principienfrage 
nicht zu erwehren vermocht und eine Entfcheibung gegeben. 
Der fpaltende Keil if in den Verein hineingetrieben. 
Was erbitterte Keinde nicht beffer hätten ausfiunen kön⸗ 
nen, ift dem Bereine von übereifrigen Kreunden angethan 
worden, und bie Gegner werden fi Babe vergnäglid, 
die Hänbe reiben. 

Und was iſt feit dem fatalen 7. — nicht 
Alles geſchehen? Ich will nur einiges Hervorſtechende in 
allgemeinen Zügen berühren. 

Erſtlich: die Frage, über die man in Berlin disca⸗ 
tirt hatte, ift eine unverkennbar fchwierige; fle kann nicht 
vollſtaͤndig durch den einfachen Wortlaut der Statuten 
entichieden werben, fie it von ber Urt, daß — wir ger 
fiehen es gerne — bei geſundem Berftand und reblichem 
Willen verſchiedene Ueberzefigungen möglich And. Unter 
denen, welche die Majorität bildeten, finben wir Ramen, 
die in ganz Deutſchland befaunt find und dem beſten 





üb. d. Richtann, des konigab. Deput. D. Rupp ıc. 543 


Klang haben, ſittlich ehrenhafte, felbfkäubige Männer, gebie- 
gene. Theologen, zum Theile um ben Guſtav⸗Adolphver⸗ 
ein insbeſondere hochverbient; fle hatten für ihr Votum 
Gründe; man konnte wiffen, daß fie nicht durch firenge 
Gymbolglänbigleit ober ſonſtige Parteifympathien bes 
ſtimmt wurden ; ber Act ber RichtanertennungRupp’6 wurbe 
von ihnen nicht mit Triumph, fondbern mit unverkennba⸗ 
rem Gchmerze vollzogen. Was wäre einer folchen Frage 
und folchen Männern gegenüber das fittlich Rechte ger 
weſen? Dffendar nur dieß: man hätte Davon auszuge⸗ 
ben gehabt, baß es für beiderlei Art zu votiren Gründe 
geben müſſe; man hätte eine tüchtige Widerlegung durch 
Gründe, aud) um bed Vereines willen eine Berftändigung 
anftreben müflen; man hätte dabei mit aller Scärfe 
verfahren mögen, aber man hätte auch Anſtand und fitt- 
lihe Würde behaupten follen. Es durfte auch erwartet 
werden, daß Unparteiiſche, felbfi von der Gegenſeite, 
ein Wort der Mißbilligung Über die unheilvolle königs⸗ 
berger Wahl fagen würden. Im einzelnen iſt dieß auch 
gefchehen und namentlich habe ich mich in diefem Sinne, 
obwohl ich mit dem Inhalte nicht einverfianden bin, am 
dem in .fo anftandsvofler Haltung durchgeführten Aufſatz 
in den Ergänzungsblättern ber allgemeinen Zeitung «) 
erfreut. Aber im Ganzen: wie hat man augefangen und 
bis heute fortgefahren? Mit Verbächtigung, Hohn und 
Schimpf, mit einer förmlich terrorificenden Bearbeitung 
der öffentlichen Meinung; diefelben Männer, die noch vor 
einem halben Jahre gepriefen worden, waren jetzt Dun« 
kelmaͤnner, Dfaffen und Muder, und wenn man einen 
Mann moralifch abthun wollte: was bedurfte man weir 
ter Zeugniß wider ihn, wenn er nur auch über Rupp das freus 
sige ihn! ansgerufen hatte? Dieß kann nicht zum Guten 
führen und wird auch dem Bereine keinen Gegen bringen. 

Zweitens: die Sache war in Berlin durch Majoris 





a) Rovemberbeft 1846. 


Sa = Ulmamı 

tät entfchiebeh Wörsen. Mochte dieſe Majorität nid 
nahe an Stimmengleichheit grenzen, es wat hoch immer 
eine Moforität. Nun gilt in allen Vereinigungen dieſer 
Art die Maforität als entfcheidend. IM man damit wicht 
zufrieden, fo hat man bei der nächſten ordnungsimäßigen 
Gelegenheit auf Entgegengefeßted-anguträgen, Hiet aber 
begann man fogleich mit Proteflätionen und Verwerfun⸗ 
gen; ja theilwelfe mit förlicher Widerſetzlichkteit; man 
ſchlug einen Weg ein, welcher, weiter verfolgt, alle Ord⸗ 
nung im Vereine auflöfen muß; und ich möchte einmal 
Hören, wenn die Maforität auf der andern Seite gene 
fen wäre und die kirchlich Geſinnten hätten fo proteſtirt, 
welches Gefchrei darüber erhoben worden wäre! Und 
wie ging es mit diefen Proteftadenen? Sie erfolgten, 
während doch nicht die geringfle Gefahr Keim Verzuge 
war, Halb über Kopf, che Protokolle und Berichte da 
waren, che man fich irgend gründlich unterrichtet Yaben 
Fonnte, nur frifh auf Sympathie und Autipathie bin: 
fie gefchahen zum Theile durch Mafjsritäten von Solchen, 
welche, Biäher ohne Sntereffe für die Sache des Vereines, 
nur für den Zweck des Mitſtimmens in Biefem befonde, 
ren Falle eingetreten waren: Wahrlich, wenn die Män: 
tter der berliner Majorität auf ihren damaligen Gieg 
nur mit Schmerz hinblicken Ponnten, fo iſt kaum andere 
zu denfen, als daB Manche aus der Minoritär Über den 
Sieg, der ihnen jetzt zu Theile und über die Art, wie er 
errungen wird, erfchreden müffen, und daß fie, auf eine 
gute Zahl der Gehülfen und Anrufer dieſes Sieges 
blickend, ſich des goeche’fchen Wortes erinnern: „ihr 
Beifall ſelbſt macht meinein Herzen bang”. 

Drittens: man ift aber auch noch weiter 'gegamgen. 
Bereitd haben fihoh viele Zweig- und Haupwereine, 
weiche in ihret Majoritat gegen die Ausfchliegung Nitdp’s 
find, definitiv beſchloſſen, wie ihr Deputirter zur näch⸗ 
ſten General⸗Verſammlung ſtimmen ſolle. Dieß hat na 
türlich zur Folge, daß nur ſolche, die damit Ubereinſtim⸗ 





üb. bie Richtann. des Länigäb. Dep. D. Rupp ec. 545 


men, das Mandat Überuchmen können. Da nun zur Zeit 
bie für Rupp ſtimmenden Zweig⸗ und Hauptvereine bie 
große Mehrheit bilden, fo wirb die nächſte Generals 
Berfammiung weit überwiegend. aud Männern von Dies 
fer Seite zuſammengeſetzt ſeyn. Died aber wirb ihr 
nicht une den Charakter der Einfeitigkeit aufprägen, fone 
bern es wird noch etwas anderes Bedenklicheres daraus 
estforingen. Gemmı befehen, werden nlmlich in Betreff 
ber Carbinalfrage, die dort verhandelt werden fol, nicht 
ſowohl Porſonen nah Darmfadt kommen, ale viels 
mehr nur JInſtruction, db. h. nicht Perfunen, die noch 
ſelbſtäͤadig handeln und fEimmen können, ſondern folche, 
bie ſchon gebunden find, nach einer vorher beſtimmten 
Richtung bin fich zu entfcheiden. Hiermit aber iſt die 
Dis cuſſion überfiäffig gemacht, alle Berkäntigung abge⸗ 
fchnisten, und bie Sache fchon im voraus fertie. Will 
man dieß nicht, will man der BerKkämdigung noch irgend 
einen Raum ılafen, fo muß man von den ZweigsDereinen 
zus Landeſ⸗Hauptverſammlang und won biefer zur liche 
ſten Generalverſammlung freie Deyutirte ſchicken, d. hi 
ſolche, vie nicht ſchon inſtructionsmäßig gebunden, fons 
derna, als Manner des Vertrauens, auf ihr beſtes Wiſſen 
wu Gewiſſen angewiefen find. Beharrt man dagegen 
anf: jenem andern Wege und geht auf demſelben fort, 
fo erhalten allerbings bie Einzeluvereine eine Bedeutung, 
wis fie Diefeibe dioher noch nicht gehabt, aber eine foldhe, 
wodurch die Bedeutung der Befammtheit, namentlich die 
der Haupt, und Gmeral: Berfammlungen verloren geht, 
anf welche man dann, wenigftens für wichtige Kragen, nicht 
mehr Menfdren, fondern nur Papiere zu ſenden brauchte. 
Bisrtend: als wor Fahren die Altlutheraner Fitchlich 
und politifch bebrängt waren, als fpäter die Ucheber Der 
freien Kirche in Schottland eine Trennung von der ſtaat⸗ 
lich legisimirten Kirche mit großartiger Hingebung mb 
Energie veizegen, als neuerlich eine refpectable Zahl von 
Geiſtlichen des Wanbtlandes der Ehre der Kirche und 





6 ... Wim. u 2a 


der Würde bes Prebigtantes ihre Stellen zum "Opfer 
brachte, ba war bie Theilnahme ber öffentlichen Meinuug, 
inöbefondere der Preffe, entmeber fehr mäßig,: ja geving, 
oder man gefiel ſich ſogar Darin, bieWebrängsen: umb: Die, 
weiche ich ihrer annahmen, wißliehig zu behandeln. 
Raum aber werben gegen einen Maan, der offentaubigeans 
der befiehenden .evaugelifchen Kirche ausgetreten if, ganz 
einfach die Statuten eines Vereines in Anwendung gebwadt, 
fo erhebt fih für ihn, wie für einen. ſchmer: Berlehten, 
ein braufenber Sture ber Thetlnahme. Weinen : wir 
an; es ſey ihm wirklich Unrecht geſchehen, er fey num 
feiner guten Ueberzengung willen verfolgt, fo haben wir 
dort wie bier uuſchuldig Bedraͤugte, kart: wie. bier für 
ihre Ueberzeugung Leidende. 

Aber warum bat man nur Eifer für. den Einen und 
hatte ihn nicht auch fir bie Anderen 79. Ich glaube, bie 
Antwort ‚wird ſich wohl Jeder leicht geben können: jone 
wollten ein Mehr des Kirchlichen, dieſer will sein Werniger 
oder. Menigſtes; jene ſind mehr aber wwsuiger arthodor 
und opponiren von dem Grunde eines fehr hefkinkuten 
kirch liches Bekenutniſſes, dieſer opponirt gegen und Arch» 
liche Bekenntniß ſelbſt. Alſo die Sympachie der. öffent 
lichen Meinung iſt auf der Seite ber Oppofition: gegen Dad 
Kirchliche; dieſes hat für einen fehr großen Theil den Zeitr 
ges oſſen feine Bedeutung ſchlechthin verloren, und wo ein 
Konflict zwiſchen dem Kirchlichen uad der Oppofition dage⸗ 
gen enutſteht, da hat es die letztere von vorne hereingemauuen 
beider Maſſe derer, die im Yugenblide das.: Wort führen. 

So ſteht eb, Aber wie fol cd werden: " 

Bei der nächlten General-Berfemmiang- iu Davamfiadt 
iſt dad Doppelte möglich: der berliner Majoritätäbefcituf 
wird entweder beflätigt oder . umgeworfen; . biefeibe er⸗ 
klart ſich, auch wenn die Perfon des D. Napp Dabei gar 
nicht mehr in Frage läme, für das Princip entweder ber 
berliner Majorität oder. ber Minorität.. 





&b. d. Nichtann. d. koͤntgeb. Dep. D. Rupp ꝛc. BR 


Der erſte Fall IR nach al ben Beftunungs » Maike 
Retiouen, die bereits hervorgetreten find, höchſt unwahr⸗ 
ſcheimich, ja faſt unmbglich; der zweite kann ſchon jet, 
wen nicht ganz Unvorhergefehenes dazwiſchen tritt, alß 
nahezu gewiß bewachtet werben. Tritt ber erſte Fall ein, 
fo darfte nsohl bein Zwetfel ſeya, daß Alle, die in der 
Richt zule ſſuug Rappio eine Verlehung der: proteßanti⸗ 
ſchen Freiheit fehen, Sofort and dam Vereine ſcheiden. 
Tritt der andere: Fall ein, fo werben, da 06 ſich hier am 
vie eutſcheidende Principienftage haudelt, die lirchlich 
Grflunten wentgſtens in den Berrinen ; wo bie Majori⸗ 
tät gegen⸗ fie iſt, ſich durch Lchergengung und Ehre ger 
wöthige ſehen,: jodenfalls vos den. Aemtern zurückzutre⸗ 
ten; dann wird dieſe Seite uuuerhältmigmäßig ‚gering vor 
praſendirt ſeyn und dieß wird ein, wenn auch allmähliche® 
Ablafſen derſelben vom Meveine zum Folge haben. Mag 
dad Eine oder bad: Andere geſchehen, ſo vüllt der Guſtav⸗ 
Ndoiphuwerein von ſeiner urſpruuglichen Ider ab; er: ver⸗ 
liert die innere Badentung, die er fürr die evangeliſche 
Kirche gehabt hat, eine Darſtellung ihrer Gemcinſambeit, 
ein verbindender Mittelpunkt für ihes verſchiedenen bs 
theiluugen und. Parteien, ein neutraled Grbiet Der Aunös 
herung, Berfiänbigung und Befreundung zu:feye. Ja 
er fchtägt, wie das in feichen Fällen immer geſchieht, 
ind gerade Begenthel um: er wird feld ein Stein bes 
Anſtoßes, eine Parteiſacht nud ein. Yruud moch ſchärferer 
Trennung deu Parteien. Aber freilich. wiirde in beiden 
Fällen die Art der Wirkung eine ſehr verfihiebene fepn.‘ 

Behielte Die berliner Majorität auch in Darmfant 
die Dberbaud, fo würde — darüber darf man ſich nicht 
tauchen — der: Berein bedentend zufammenfcrummpfen, 
feite Einnahme würbe Ach um ein Gutes verringern, 
feine äußeren Zwecke würden nicht mehr in dem Umfang 
erreicht werden: Eöunss. Dieß wird, wenn fid die ber⸗ 
linse Minorisdt is eine Darmfäbter Majerität verwan⸗ 
beit, nicht in dem Bude dar Gall ſeyn; ja ed: if Denk, 





bar, aß darſelbe Parteleiſer, ber fich biäher in auderer 
Meiſe thaͤtig gezeigt: hat, in der nächkten Zeit Die Mitte 
nicht une erfebt, fondern mehr als aufet, welche durch das 
Uinsfcheiden ber Entgegengeſetzten etwa: in Wegfell kommen. 
ber, Ihe befseundeien Männer der hisherigan Minorität, 
glaubet nicht zu raſch au den Gewinmm, den Ihr Damit machet! 

Ein zuhiger Meohlthatigkeits verein nähert ſich mid 
von aufloderndem Parteleifer, ſondern von ausbanenn: 
dem Aufopferungefinne. Die, weide zu einem ganz ber 
ſtimmten Zwecke Euch jcht beigetzeten find. werken deu 
Berein entweder wieder. verlaffen, went. Diefer Zweck ar 
reicht: it, ober, ‚wenn fie bleiben, fo wird das :nämlüuhe 
Jatereſſe, welches fie in den. Verein getrieben hat, fie 
auch treiben, in dem Vereine nach eier beftimmten Rich 
mug bin fort gu handeln; dieſes Jutereſſe bezieht fi 
aber nicht auf Die leidenden swungelifchen Brüder in der 
Ferne, ſondern auf die vreligisſen und kirchlichen Sertitfra⸗ 
gen in: der Nähe; und Ihr werdet fehen, wie bamit. das 
Ariucip. der Uaruhe, der Tageöbemegeung, ber Tinchlichen 
und fonfiigen Dppoſition mitten im ben Berein hineinge 
pſtanzt ik. Mehrere der biöher gehaltenen Berfamminns 
gen laſſen derctlich genug ertenuen, was daun gu erwat⸗ 
ton ſeyn wird. Und aunch in anderen Beziehung werden 
fi die Gonfequenzen unerbittlich vollgiehen und br Ben 
ein wird feinent Geſchicke nicht entgehen. Denn es iſt doch 
ſonnentlar: wenn Mitglieder einer amd der Kirche an 
getwetenen Bemeinfchaft Sie und Stimme im Beseine ha⸗ 
ben, fo kaun diefelbe Gemeinſchaft auch Auſpruch auf bie 
Unterſtühung ded Vereined machen; wenn man ihr dad 
Höhere geſtattet, fo kaun man ihr mis feinem vernünftigen 
Grund dus Beringere. verweigern. Run find aber ge 
rade.dirfe nen fich bildenden Gemeinfchaften von firchlichen 
Mitteln enıblößt, uud ed wäre som Wereine, fobald et 
ſich einme. auf jeum ideal proteſtautiſchen Gtandpnaft 
geftellt Hat, in der That hart, ihnen dieſe nicht gewaͤhren 
sis wollen. Auch melden Ad; ſolcher freien Gemeinden 


ab. d. Nichtann. d. koͤrigob. Deput. D. Rupp ıc. 048 


in machſter Zakunſt vorandflihtli noch manıhe zufeit 
menthun und zwar vor verſchiedenſter Art Unkerſtützt 
fie aber der Bertin, wie er conſequent nicht anders kann, 
fo it die Folge, daB derſelbe Verein, ber gefitftet war, 
um wieftich nothleidenden kirchlichen Gemeinden in las 
tholiſchen Ländern zu helfen, feime Mittel wenigſtens 
theilweiſe auf ſolche Gemeinſchaften verwendet, die ſich 
von der eigenen Kirche losreißen; daß derſelbe Verein, 
weicher für die ſorgen ſollte, „die in Gefahr find, der 
Kirche verloren zn gehen” «), für Solche forgt, weiche bie 
Kirche ſeldſt für verloren halten und fie in ihrer Grund 
lagen bekümpfen; mid einem Worte: v6 iR die Foige, daß 
der Verein ſich im fein eigenes Begentheil verkehrt. 

Und was foR nun gefihehen? Die Sachen ſtehen fo, 
daß dieß fchwer zu fagen if. Meint man, die Geueral⸗ 
Verfanmlung ſolle ed fortan unbdedingt und he jeben 
Rückhalt ven Einzelvereinen überlaſſen, welcherlei Depu⸗ 
tirte ſie ſenden mögen, und es ſolle zut Legitimation bie 
formelle Richtigkeit der Vollmacht ımter allen Umſtünden 
genügen, ſo aumt man din Special⸗Vertinen eine Gew 
verainitaͤt ein, dit fortwährend das Ganze bedrohen muß, 
und erlennt ihnen eine Fehlloſigkeit zu, welche etwas 
rein Fingirtes iſt; denn allerdingo könnten anter den je 
digen Umfänden Wahlen getroffen werden, die ſich nach 
weniger rechtfertigen ließen, ale bie königsberger. Will 
man, die nüchſte Generals Berfauniung möge erflärm, 
unter evangeliſch⸗proteſtantiſcher Kitche 9. 1. fepen nicht 
die Landeskirchen gu verfiehen, ſondern — — ja eben 
diefed „ Sondern” wäre dann ſchwer zu fagen, and for 
mit wäre ber Verein wieder ganz ind Unbekimmte geſtellt 
and das Ganze wäre nar eine Interpretanion des Para⸗ 
graphen im: Sinme der berliner Minvritaͤt. Blaubt man 
dirß poſitiv dahin beſtimmen zu follen, der Verein möge 
Jeden für ein Mitglied der evangeliſch⸗proteſtantiſchen 





a) Statuten F. 1. 





(1 7 ‚Ullmeasn' 


Kirche halten, der fich ſelbſt Dafür erklärt, (0 geſteht man, 
_ba$ es für das Gehören zur enangelifchen Kirche gar 
feine objertine Merkmale gebe, und wird allerdings fehr 
auffallenden Erklärungen entgegeugnufchen haben. Wünfcht 
man enblich, daß zwifchen der einfachen Mitgliebfchaft 
und der leitenden, repräſentativen Chätigkeit im Berein 
eis Unterihied gemacht und die Berechtiguug zu jener 
ohne Ausnahme jedem fi als Proteflanten Bebenden, 
die Berechtigung zu diefer nur ben Angehörigen der 
rechtlich beiiehenden Kirchen zuerkannt werde, fo wäre 
dieß eine -linterfcheibung, die auch erſt in die Statuten 
eingeführet werben müßte, und zugleich eine ſolche, bie 
doch eigentlich ber Natur des Bereind, der wefentlid 
gleichheitlichen Stellung aller feiner Mitglieder wider 
ſtrebte. 

Ich weinestheils kaun nur recht nnd wünſchenswerth 
finden, daß der Verein feiner urſprünglichen Anlage und 
bis herigen Eutwickelung, fo. wie feinen vielleicht noch etwas 
genauer zu faſſenden Statuten getren bleibe und ſich 
ohne irgend welche abſchließende Engherzigkeit innerhalb 
der kirchenrechtlichen Greuzen halte; daß er bemgemäß 
sollen Raum habe für alle Parteien, die innerhalb Der Kirche 
fisd,, nicht aber für die, welche außerhalb derſelben find 
and erflärtermaßen außerhalb berfelben ſeyn wollen. Ich 
verhehle mir aber auch nicht, mit weichen Schwierigfeiten 
zur Zeit Diefer Grundſatz im Vereine zu fampfen haben 
wird‘, und welche Folgen fein Sieg haben dürfte. Darım 
bitte ich Euch, denen wirklich die Sache am Herjen 
liegt: beſinnet Euch, fo lange es Zeit ift! Ueberleget ernf, 
rnbig und liebevoll! Trotzet nicht auf Majoritäten, fon 
dern faflet den Verein ſeldſt, die evangelifche Kirche und 
Eure eigene verantwortungsvolle Stellung in diefer ern 
ften Zeit ins Auge! Vielleicht gibt es noch einen Rath, 
der heifen und zufammenhalten kann; wer ihn bringt, 
fol herzlich willkommen ſeyn. 





Anzeige-Blatt. 


Bei Friedrich Perthet von Hamburg Tommt in ben naͤch⸗ 
fen Tagen zur Verſendung: 
Keander, Dr. A., allgemeine Geſchichte der chriftlichen 
Religion und Kirche. Neue Aufl. Ar Bo. 
wodurch das Werk bis zum 10ten Bd. wieber volßändig zu haben iſt. 
Hierbei made ich nochmals darauf aufmerkfam : 


CZ daß ber 1e und 2e Band ber neuen Auflage den gleichen Zeit⸗ 
raum wie I. 1. 2, 8. der alten Auflage, ebenfo ber Se u, 4e 
Band den gleiden wie 11. 1. 2. 3. enthält, fo daß * IT, 
oder 7. ber alten Auflage fi an ben 4en Band der neuen 
anfdhließt, und alfo ein 5r u. 6r Band gar nicht vorhanden 


Berner iſt durch das Erſcheinen von 


Umbreit, Dr., praftifcher — über de Propheten 
des Alten Bundes. IV. 2. gr. 8 27,6 
seite Wert vollſtaͤndig ee er halt des ganzen 


Ir Band: Commentar zum Iefaiad . aut, un Sgr. 
— zum. u 1 or. 


er Abihl. 1te Hälfte. Hoſea, Soc" — —* 


br 

MH Mia, Nahum, Beat, 
Zephanja. 1 Sgr 

de o „ Haggai, Sacharja, Des 


Sgr 
Der Preis des ganzen Werkes iſt Thlr. 7. , Sgr. 


Bei Friedrich und Andreas Perthes find erſchienen: 


Geijer, Srik Guſtav, Auch ein Wort über die religiöfe 
Trage der Zeit. gr. 8°. gebeftet. 12 ar. 


salarie füc die Archive Deutfchlands. Beſorgt von Be. 
Tr. Friedemann. 18 Heft. gr. 8°. geheftet. gr. 


‘ 


Bildniffe deutſcher Könige und Baier, von Karl dem Großen 
bi8 Marimiliaen, von Schneider u. So a 37 
Portraits und 45 Bogen Fer gr. Lexikon Thlr. 4 

Dieſes vaterländifche Wert ift jett vollfkändig erfchienen; jede 

Buchhandlung hat geheftete und elegapt in Gallicot gebundene Crem⸗ 

plare vorräthig. 


Bei Carl Winter in Heibelberg iſt erfchienen: 
Das 


Leben Ielu 


nah den Evangelien dargeftellt 


von 
Dr. Zob. Veter Lange, 
Drofeflor in Züri. 
18 Buch broſch. 2 FM. 30 Er. oder 14 Nithr. 
13 Fl) 41 Shell 8 fl. 2%, „ 8 „ 
28 Id 8r [3 6 fl. „ „ 
u „Bi „ Af.0 ie „ Ro N) 
Zür die gelehrte und re Shriftenheit wird wohl Diefes 
fo eben erſchienene Werk das wichtiafte und bebeutfamfte fein, 
bas dies Jahr bringen duͤrfte. (Aus einer Recenſion.) 





Preisermäßigung. 


In Folge mehrfacher Xufforderung haben wir die Jahrgänge 
845, 1844, 1845 


er Chrifsterpe, 


Taſchenbuch für chrißt. Eefex, herausgeg. von A. Esapp. Mit Kupferz, 
von dem bisherigen ERBEN von fl. 8. 42 ir. oder 5 Shlr. 
für unbeftimmte det uf . ». . u > 6», „32: m 
und jeden biefer Jahrgänge einzeln auf „ 1. 

berabgeiegt und hoffen, dadurch die Anfchaffung diefer reidgpaltigen 

. Bammiung geiſtooler Kufföge und Poefien zu erleichtern, weiche enthält: 

Mehrere Biograpdien von G. 9. v. Schubert. — Drei Gr: 
lungen von Dr. Chr. Barth. — Monologen. — Züge aus bem 
eben Ludwig Hofackers von X. ee — und eine Reihe poeti⸗ 

ſcher zen profaifher Beitraͤge von €. Arndt, ©. Beder, 

— Biaromsly, A. Bräm, ©. A. Döring, E. Eyth, 
ziet B. A. 813140 C. B. Zug, a. Knapp, 3. 

Kein P. Lange, Landfermann, W. Meinhold, 

Fr. Notter, F. Piper, H. Pucht«, Bieter Strauß, BWap 

ner von Laufenburg, H. R. Bullfchlägel unb mehreren 

Ungenannten. 

Univ.sBuchhanblung von Sarı Winter in Heidelberg. 


Bei Bari Winter in Heibelberg IR exflgbenen: 


Die Geſchichte der Welt vor und nach Chriftug, 


mit RAückſicht auf bie Gutwidelung bes Lebens in Bieligion und Pos 
tif, Kunſt nad Wiffenfchaft, Handel und Induſtrie der welthifipri- 
Shen Böker. Kür das allgemeine Bilbungsbebürfaiß in vier 
Bänden dargeftellt 


von 
Dr. Heinrih Dittmar. 


Erfter Band. 40 Bogen gr. 8. 2 fl. 42 Er. ober 13 Rthlr. 
Zweiten Bandes erfte Lieferung, 2O Bogen, 1 fl. 21 Tr. oder I Mthlr, 


Das vorliegende Merk bat ben Zweck, in mäßigem Umfang eine Dar: 
ſtelung ber Wellgeſchichte für ſolche Lefer zu liefern, melde vom Stanbpuntte 
ver hriftlliben eltanfhbauung aus u einer tieferen, aufammenbin: 
genden Kenntnif 14 gelangen münfden. 

„Neben ber Meiſterſchaft über ben umfangreihen Stoff und feiner Ver: 
„drautheit nicht mur mit den alten — ſondern auch mit ben neue: 
„Ren Forſchungen und Ergebniffen jtebt dem Verfaſſer auch ein Ädht Pünfkle: 
„EN Zalent ber Kudwahl, Anorbnung und @eftaltung bes Stoffs zu Gebot. 
„Gelne durchaus edle, gebildete Darftelungsmweife gibt durch ihre Einfadhheit 
„und Naturlichkelt dem Leſer ben Eindruck, ald wenn bie Sachen von Haus 
„auß Bar baldigen und fo unb nicht anders fein fönnten....... Werbaber 
ut Me ——— eine reichhaltjgere Schrift wüuſcht, als bie 
ewoͤhnlichen hrbücher fein konnen, dem müßten wir keine beffere anzura— 
„then, al& bie vorliegenbe u. f. wm.’ Kus einer Recenfion, 





Wichtiges theologiſches Werk. 





Bei Orell, Füssli und Comp. in Zürich ist so eben 
erschienen und durch slle Buchhandlungen zu beziehen : 


Die Glaubenslehre 


der 


evangelisch-reformirten Kirche, 
daygestellt und aus den Quellen belegt 
von Dr. Alexander Schweizer 


Zweiter Band, zweite Abtheilung, Das nun vollatändige Werk 
kostef geh. 7 Rthlr. 15 Ngr. oder 11 fl. 15 kr. rhein. 


Eipe Dogmatik der reformirten Ganfession ist seit 100 Jah- 
ren nicht erschieuen, eine aus den Qnellen belegte gibt 
es noch gar nicht ia der theologischen Literater. Diese Lücke 
auszufüllen und die bedeutenden Schätze des reformirten Systems 
wieder zugänglich und verständlich für unsere Zeit zu machen, ist 
die Aufgabe dieses für Theologen und Stadiroade wichtigen Werkes. 


» von X. ber Weed in N 
wien ÜB erfenen und In’oden Bucandlungen ju haben: 


Sammfung fombolifäer Bäder der reformirten 
Kirche , beraudgegeben von Meß, Kirchenrath und 
erner. Pfarrer in Neuwied. Des dritten ober legten Bandes 
deine oder Schluß⸗Lieferung. geh. Preis > SE vr 

tr. rhein 


Diefe ‚Lieferung enthält: 


Das Niederländiihe ———— — Die Polniſchen 
Glaubensbekenntniſſe. — Die Ungariſche Confeſſion. — 
Außerdem einen nbang, welcher die Gorref ponbenz der 
evangeliſchen Städte in der Schweiz mit Dr. Lutber 
in Betreff der Wittenberger Concordia (Union) enthält. 

Der 1e Band, die helvetifchen onl. neuen enthaltend , koſtet 

DM Sgr. = 1 FL 12 &r. rh. 

Der 2e Band, die ae SonieN ionen ailbaltend, koſtet 

0 Sgr. = 2 Fl. 24 Kr. rh. 

Des In Bandes 1e Eng enthält die Bekenntniſſe der 
engl. u. fchottifhen Kirchen à 10 Sgr. — 36 Kr. 

Des In Bandes ?e Lieferung enthält das Glaubensbekennt⸗ 
niß-der franzoͤſiſchen Kieche und den Teen ie en (Galvin’s) 
Katehismus Sgr. — 3 Kr. 

Das ganze Werk zuſammen genommen wird für 25 Thlr. 

oder 43 Fl. abgegeben. 


Ya der Riegel’fihen Buchhandlung (Heint und Stein) 
in .. — de a am if fo eben erfchienen und durch alle Buchhandlungen 
su be; : 


Thomas Arnold. 


Aus feinen Briefen und aus Nachrichten feiner Freunde 
genen rei nach dem Engliſchen des A. P. Stanley, 
A. vonKarl Heintz, Hülfsprediger bei der Domlirde 
zu Berlin. 
(255 Bog.) ar. 8°. geb. 14 Thlr. 

Das Bud gibt eine treue Darftellung von bem Leben eines 
Mannes , befien vielfache und bedeutende Leiftungen im Gebiete der 
Abeologie, — und Geſchichte nicht bloß unter feinen Landé⸗ 
leuten, fondern felbfk unter den Deutichen die größte Aufmerffamteit 
erregten. Wenn überhaupt Biographien großer Männer geeignet find, 
zur NRacheiferung Anderer zu wirken, fo bürfte bie vorliegende befon- 


bers dazu befiimmt fein, welche Herr Profeſſor Dr. Reanber in 
einer befonderen Broſchuͤre über bas Originalwerk „The life of 
Thomas Arnold by Stanley” jungen Theologen vorzugswelfe 
als ein in dieſer Beziehung hoͤchſt anregendes Werl empfiehlt. Die 
DOriginalsXusgabe dieles Buches wurde in Sngland mit fo großem 
Intereſſe entgegen genommen, daß in einem Zeitraum von zwei Jah⸗ 
zen bereits die Gte Auflage nöthig wurde. Da nun ber Herr LUebers 
feger bei der Bearbeitung namentlich bie deutſchen Verhältniffe be» 
südfidhtigt , fowie auch vieles Neue hinzugefügt hat (wozu ihm ein 
längerer Aufenthalt in England, fowie nähere Verbindungen mit 
Freunben und Schülern Arnold’s Gelegenheit gaben), fo glauben 
wir, zur Smpfehlung biefes Buches kaum noch binzufügen zu braus 
chen, baß zugleich audy der Preis ein bebeutenb ermäßigter ift, in⸗ 
* Er an den ſechſten Theil beträgt von dem Preife der englifchen 
usgabe. 


Im Berlage von A. D. Geisler in Bremen tft erſchienen 
und in allen namhaften Buchhandlungen Deutſchlands vorräthig : 
Nagel, W. (teformirter Prediger zu St. Remberti_ in 

Bremen), Erbauungsftunden. Zufammenflelung von Pres 
digten. gr. 8. geb. Thlr. 
Die beſte — giebt wohl der Ruf des Verfaſſers und 
ber reihe Inhalt des Werkes, als: Die Predigt. — Die Waffen⸗ 
räftung. — Das neue Teftament. — Die driftl. Gemeinde. — Die 
Bernunft. — Die Erlöfung. — Die Berföhnung. — Die Rechtfer⸗ 
tigung aus dem Blauben. — Die Gnade Gottes in Shrifte. — Der 
Ruhm der chriſtl. Gemeinde. — Der Gruß des Paulus. — Der 
Kern der Religion Jeſu. — Der Friebe Gottes. — Das Leiden ber 
Zugend. — Web Geiftes Kinder? Eliaͤ oder Jeſu? — Das Maaß 
der Lebensforge. — Das Bater Unfer. — Gprüde der WBergprebigt. 
— Der Gottesdienft. — Das Abendmahl. — Weihnachten. — Die 
Paffion. — Der Weg zum Siege. — Die Verläugnung des Petrus, 
unfere eigene Gerichte. — Das Bild der Welt. — Was wir hofs 
fen. — Der Grund der Gemeinde. — Der innere Menſch. 


So eben erſchien in unferm Verlage: 


Sünf Bücher Der Pſalmen. 
Auslegung und Verdeutſchung 


von 
Br. Eäfar vou Lengerke. 
gr. 8°. 2 Bände. (51 Bogen.) Preis: Thlr. 3. 6 Ser. 
Königsberg, November 1846. | 
Verlagsbuchhandlung der Gebr. Bornträger. 


Theol. Sud. Jahre. 1847. 8% 


Am Berlageder Deder’ ſchen Geheimen Ober⸗Hofbuchdruckerel 
be ie ift fo eben erfchienen und in allen Buchhandlungen zu 
aben : 


Berhbandlungen 
der 
evangel. General⸗Eynode zu Berlin 1846. 
Nebſt den Commifjions - Gutachten und vor⸗ 
bereitenden Denkſchriften. 


(Amtlicher. Abdruck.) 
- 95 Bogen in body Royal Ato Format, im Umfchlag 
brofchirt. B — ö 3 Thir. 2 ©gr. 
Fruͤher erfchien in demfelben Verlage: 

Protokolle der im Jahre 1844 in den oͤſtlichen Provinzen 
der Preußifchen Monarchie abgebaltenen Provinzial 
Spnoden nebft den dazu gehörigen Beilagen. (Amts 
liher Abdrud.) 2 Hefte, 3 Zhlr. 10 Ser. 


In der Kößling’fhen Buchhandlung in Leipzig 


. ift fo eben erſchienen und in allen Buchhandlungen vorräthig: 


Dietzſch, C. F. v., Dekan und GStiftöprediger in Deh⸗ 
ringen, PredigtsSfizzen. Ir, 3 Band. ?te ver 
beiferte Auflage. Ieder Band 2 Athlr. 

Mit diefen eben in 2ter Auflage erſchienenen Bänden iſt dieſes 
Werk, beftehend in 6 Bänden, beren jeder einzeln abgegeben wird, 
wieder vollftändig zu haben. 

Der Name bes würdigen Herrn ale ſpricht für ben 
Werth des Werkes felbfi, und wir find demnach jeder weitern An 
preifung überhoben. 


Im Verlage von Joh. Aug. Meifsner in Hambarg er 
schien so eben: 


Novum Testamentum graece, ad fidem codicis principis 
Vaticani edidt Kdnardus de Muralto. Editio 
minar. Gr. 16. Geb. 1 Thlr. 


Dieser Text-Ausgabe folgt zu Ostern 1847 ein Commentar, 
zu dessen Bearbeitung dem Herrn Verfusser, kaiserl. Bibliothekar 
in St. Petersburg, die noch wenig benutzten und reiche Ausbeate 
gewährenden Schätze der Bibliotheken des russischen Reichs su 
Gebote standen. 

Hamburg, im October 1846. 





Im Verlag von ©, ©. in Stuttgart b 
erſchienen und m allen — gart iſt ſo eben 


Entwicklungsgelchichte | 
Der Zehre von der Perfon Chriſti 


von den Klteften Zeiten 
bis auf die nenefte Dargeftellt 
von 


Dr. J. A. Dorner. 
Zweite, ſtark vermehrte Xuflage in zwei Sheilen. 


Erfter Theil 
Die Schre von der Perſon Chritti in den selten 
vier Jahrhunderten. 
1129 unb XXX Seiten. gr. 8, Druck⸗Velinpapier. Preis biefes erſten 
Aheils in 8 Abtheilungen 54 Thlr. — fl. 9. 24 Er, rhein. 


Es wird wohl nur der vorftehenden einfachen Anzeige bedürfen, 
um auch der, lange erwarteten, zweiten Auflage eines jo bedeuten» 
den und anerkannten Werkes, in weldem die Fruͤchte einer tiefen 
und gewiffenhaften Forſchung über das wichtigfte Dogma niederge⸗ 
legt find, eine ungewoͤhnlich günftige Aufnahme zu fihern; die Ver: 
lagshandiumg hat nur noch zu bemerken, daß für die Käufer der 
en Auflage (1889), in weldyer die vier erfien Jahrhunderte nur 
kurz behandelt werden Eonnten, ber oben angekündigte Theil, mit 
einem befondern Zitel verfehen , aud) einzeln abgegeben wird, 


In allen Buchhandlungen iſt zu Haben: 
Vom 
Leben und Wirken, von der Gefangennehmung, 
Verurtheilung und Verbrennung 
des Maͤrtyrers 


Johannes Gufs. 
Eine aus Urkunden entnommene Darftellung. 


(Auszug aus „,Iohaunes Huf,” vom Verfaffer des Armin.) 
Preis: 21 fr. = 6 Nor, 


— — 


87 * 


Bei Julinus Klinkhardt in Leipzig erſchien fo chem: 
Hirtenftimmen 
an die 
Gemeinde im Haufe des Herrn 
| Eine Sammlung 
von Entwürfen zu Advents«, Faſten⸗ Bußtagss und Wochens 
predigten, heraudgegeben von Robert Zlorey, 
Paftor zu Auerswalde. Erſtes Bändchen. 
.  Aud unter dem Zitel: 

Schriftgemäße Prebigtentwäürfe über Texte eines vollftändigen 
Kirchenjahres, Bearbeitet von drei befreundeten Geiftlichen, 
berauigegeben von Mobert Florey. Siebentes Baͤnd⸗ 
chen. 8. broch. 4 Zblr. 

Die fo günftige Aufnahme ber bereits nad) zwei Jahren ihres 

Erſcheinens in zweiter Auflage herausgegebenen erften ſechs Bändchen 
ber „Schriftgemäßen Prebigtentwürfe” veranlaßte den im Fache ber 
homiletiſchen Biteratur rühmlich befannten Berfaffer zur Bearbeitung 
von Entwürfen zu Prediaten in ber Abvents⸗ und Baftenzeit, on 
Buß: und Wochentagen. Es bilden demnach biefe „„Dirtenftimmen” 
ein Ganzes für fi, augleih aber auch den fiebenten Theil ber 
„Sihriftgemäßen Prebigtentwürfe”, unb es fol zur Wervolftändigung 
bes ganzen Werkchens nächſtes Jahr noch ein Bändchen Entwürfe 
zu Neujabre:, Erntefeft-, Kirchweihfeſt-⸗, Sylveſter⸗ und Schulpre⸗ 
digten erjdjeinen, mit welchem das Ganze geſchloſſen iſt. Ale die, 
welche bisher diefe Arbeiten recht zu würdigen und au benugen 
mußten, werden aud) in diefem Bändchen geiftige Anregung und Bes 
dantenfülle, verbunden mit Iebendigem Schriftglauben, finden und 
baffelbe nicht ohne Genuß aus ber Hand legen. 


Bei ©. D. Bädeker in Eſſen iſt neu erfchienen und in 
allen Buchhandlungen gu haben: 


| Expeetoratiouen 
das Studium der Theologie. 
Vade mecum 
für 


meinen Hermann 


und für Cheologie Studirende überhaupt. 
Bon 


Zmil Wild Rrummader, 
Yaftor an der Gt. Salvater⸗ und Marienfiche gu Duisburg. 


Preis 225 Ger. 


allen en Eſſen ik nes erſchienen und in 
Grundzüge 


der 
&hriftliden Neligionslehre 
für den Unterricht 
in der oberften Klaſſe gelehrter Schulen. 
I — — 


Gyanafium a Duitturg. 
Dreis 12 Bor. 


Brocdhans in Leipzig erſchlen und iR in allen 


ei F. A. 
———— zu erhalten: 
Füllebornu(sS. 2), 
Zwei Abhandlungen: 
1) Der Einheitstrieb als die organiſche Quelle der 
Kraͤfte der Natur. 


2) Das Poſitive der von dem Kirchenglauben geſonderten 
chriſtlichen Religion, durch die Einheitslehre anſchau⸗ 
licher gemacht. 

Nebſt einer die — ind als — aa 


&.8. Ge. 1 bir. 


* Das Softem bes Werfaffers, das auf keins ber bisherigen 
eg anne ſich gründet, se aus dieſer Schrift, bie in 
einer jedem Gebildeten verſtaͤndlichen Sprache geſchrieben, vollſtaͤn⸗ 
dig zu entnehmen. Kauſe — — hie und die Regeln 
der Natur ſtehen nach diefem Syſteme in vollkommenem Einklang. 





—— 

Bürger, E. M., evangeliſch⸗lutheriſcher Prediger * Buf— 
falo, Sendſchreiben an die en ee 
rifhe Kiche, zunähf in Wisconfin 
fouri, Preußen und Sachſen. 20 MR a 


i In meinem Berlage if eridgienen ‚unb duch alle Buchhand⸗ 
Iungen zu beziehen: 


Lutber’S Beben. 
Erfte Abtheilung: 


Kuther von feiner &eburt bis zum Ablafsftreite 
(1483 — 1517). 





Von 
Karl Jürgens. 
Zweiter Band, 
Gr. 8 Geh. 2Thlr. 15 Ngr. 


Der erfie Band wurbe zu Anfang dieſes Jahres ausgegeben und 
’ bat —82 —5 * 


E im Geptember 1846, 
en 5.0. Brockhaus. 


Duck alle Buchhanblungen und Poftaͤmter iſt zu beziehen: 


Zeitſchrikt 
fuͤr die 


| - biftseifche Theologie. 

In Verbindung mit der ‘son C. %. Illgen gegründeten 
biftorifch » theologifhen Gefellfchaft zu Leipzig 
herausgegeben von 
Dr. €. W. Niedner. 

Jahrgang 1846. 

Sr. 8. Preis 4 Zhlr. 


Dieſe Beitpähife erſcheint jept in meinem Verlage in vierteljährlicen 
Heften, von denen bas erfte und zweite ausgegeben find. 

Leipzig, im September 1846. 

= $. A, Brockhaus. 








6. Blemming ift erfchienen und in allen Buchhanb⸗ 

—— zu haben: 
Medicina pastoralis et ruralis. 
Gin Hand» und — fuͤr Seelſorger, Aerzte, Lehrer und Men⸗ 
ſchenfreunde. Nach dem neueſten Standpunkte der Wiſſenſchaft uns 
Erfahrung und nad ben beften Quellen bearbeitet von Dr. E. 
Hofner, prakt. Arzt, en ln 46 Bogen. 
er. 8. ge Ir 


So eben erſchienen bei uns in Sommiffion und find durch alle 
Buchhandlungen zu beziehen: 


bericht d läã 
——— ——— —3— —S— 


eitſchrift der Den > morgenländifchen Ge⸗ 
it Erfter * rgang. Erſtes Dot: ! reis des 
Jahrgangs von 4 Heften 2 Thlr. 20 Near. 


Auch find die Statuten derfeiben fortwährend von uns gratis 
iu erhalten. ı 


Leipzig, im December 1846. 
Brockhaus u. Avenarius. 


In der Oftander’fchen Buchhandlung in Tübingen iſt er⸗ 
(dienen und in allen Buchhandlungen zu haben : * 


Das 


Evangelium Marcions 
und das 


kanoniſche Evangelium des Lucas. 
Eine kritiſche Unterſuchung 


von 
Dr. Albrecht Ritſchl. 
gr. 8. br. 1 Rthlr. 8 Ggr. — 1 Rthlr. 10 Sgr. — 2fl. 15 Er. rhein. 











Gotha, Denk der Engeifarb » Reyper'igen Deftagarmirrel, 


Theologiſche 
Studien un Kritiken. 


Eine Zetitſchrift 
für 


das gefammte Gebiet der Theologie, 
in Berbindung mit 
D, Gieſeler, D. Lüde und D. Nitzſch, 


berauögegeben 


von 


D. C. ullmann und D. F. 8. C. Umbreit, 


Profefloren an der Univerfität zu Heidelberg. 





184%. 
Bwanzigfter Jahrgang. 
Zweiter Band. 

Hamburg, 


bei Friedrich PYerthes, . 
1847. 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 
für 
das geſammte Gebiet der Theologie, 
in Verbindung mit 
D. Gieſeler, D. Luͤcke und D. Nitzſch, 


herausgegeben 


von 


D. ©. ullmann und D. F. W. ©. Umbreit, 


Profeſſoren an der Univerfität zu Heidelberg. 





Sahrgang 1847 drittes Heft. g 





Hamburg, 
bei Friebrich Perthes. 
1847. 


v 02 





.. 


Abhandlungen 


Theol. Stud, Jahre, 1847, 38 


—XR 











1. 


Zufäße zu meinen allgemeinen Betrachtungen über 
den Begriff und den Verlauf der chriftlichen 
Philoſophie. 

"Bon 
HH Ritter. 


(In Beziehung auf Prof, v. Baur’s Abhandl.: der Be⸗ 
griff der, chriftlihen Philofophie und die Hauptmomente 
ihrer Entwidelung mit Rückſicht auf Ritter’d Geſchichte 
der chriftlichen Philoſophie. 3, Artikel in Zeller’s 
theol. Jahrb. 1846. 1. n. 2. Heft.) 





Die in der Ueberfchrift genannten allgemeinen Be: 
trachtungen haben vor 13 Jahren in diefer Zeitfchriftihre - 
Stelle gefunden. Sie wird auch wohl einigen Zufägen 
die Anfnahme nicht verfügen, welche mir nöthig fcheinen, 
nachdem andere Gelehrte gegen meine Auffaflung ber 
Sache Bedenken geäußert haben. Zuleut und am ausführ- 
lichſten ift die von Baur gefchehen,, deſſen Einwärfe ich _ 
daber auch ausdrücklich berüdfichtigen werbe. 





I. Begriff der chriſtlichen Philofopbie. 

Er vereinigt zwei Begriffe in fich, welche zu ben 

ſchwierigſten gehören, den Begriff der Philofophie und 

den Begriff des Chriftlihen. Es wäürbe mich nicht fehr 

wundern, wenn gegen meine Ausſaͤgen über biefelben 
+ 


398 . der 


Mandyed mit Grund fi einwenden ließe; beun, um eb 
furz zu fagen, der Wit aller Philofophen und aller Theolo⸗ 
gen hat ſich bis jet vergebens bemüht, fowie den einen, 
fo den andern zu erfchöpfen. Dieß fol uns num nicht 
davon abhalten, nach genauer Bellimmung berfelben zu 
fireben, und ich wurde es daher auch fehr gern annehmen, 
wenn und Baur einige gute Weifungen über fie geben 
Fönnte. Aber leider muß id von vorn herein geſtehen, 
baß feine Aenßerungen mir nicht einmal die Schwierig: 
feiten der Sache richtig zu würdigen fcheinen. 

1. Den Begriff der Philofophie berührt er ausdrück⸗ 
lich gar nicht, Er fcheine zu meinen, daß, nachdem 
Hegel fein Syſtem der Philoſophie eutworfen habe, über 
ihn kein Zweifel feyn könnte. Sollte er von biefer Bor: 
audfegung ausgehen, fo hätte er fie nur ausſprechen 
folen, und ein Seder würde gewußt haben, daß es 
meiner Geſchichte der chriftlichen Philofophie, welche nach 
diefem Mapftabe nicht zugefchnitten if, wur übel ergehen 
könne, wenn fie nach ihm gerecht und befchnitten wer: 
den fol, 

Nur einen Punkte im Begriffe der Philoſophie findet 
er doch nöthig näher zu beftimmen, nämlid, den Unter⸗ 
fhied zwiſchen Philofophie nnd Dogma Er hat von 
jeher mandherlei Schwierigkeiten für die Geſchichte der 
Philoſophie, befonderd aber der chriftlichen Philoſophie 
gemadt. Baur wirft mir im dieſer Beziehung vor, was 
id auch von anderer Geite nicht felten habe hören müſ⸗ 
fen, daß ih Gefchichte der Philofophie und Dogmenge: 
fchichte entweder gar nicht, ober doch nicht genug zu 
unterfheiben gewußt hätte, Um fich felbft von diefem 
Schler frei zu halten, geht er daranf aus, Dogma und 
Philoſophie und die Geſchichte beider begriffämäßig zu 
fondern, 

Dad uun gurrfi die Borwärfe, welche mir hierüber 
gemacht werben find, im Allgemeinen betrifft, ſo muß 





üb, d. Begriff w. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 559 


ih beienuen, daß fie von der einen Seite ſchwer abzu⸗ 
lehnen find, von der anderen Seite aber nur anf einer 
fehr naiven Boraudfeßung zu beruhen fcheinen. 

Was dad Erſte betrifft, fo habe ich die Befchichte 
der Philofophie immer als einen Theil der Geſchichte 
der Wiffenfchaften und wefentlicd, auch der Litteratur bes 
handelt. Wie eng aber Wilfenfchaften umd Literatur 
mit Meinungen zufammenhängen — und Dogmen, welche 
nicht wiflenfchaftliche Lehrfäge find, alfo auch bie reli- 
giöſen Dogmen, find Meinungen — weiß ein Jeder. Daher 
habe ich auch vermeiden weber können noch wollen, die 
philefophifche Entwidelung mit den Dogmen, fey es ber 
alten, fey es der neuen Welt, in ihrer natürlichen Ber- 
bindung barzuftellen, nub mein Bemühen ift nur darauf 
gegangen, jene aus dieſen gleichſam beramszufchälen. 
Daß mir dieß immer gelungen wäre, daß ich nicht zus 
weilen ein Dogma für ein Philoſophem und ein Philo⸗ 
fophem für ein Dogma gehalten hätte, das möchte ich 
wohl von mir rühmen, aber, wie tollfühn ich auch wäre, 
ih vermag ed nicht. Ich denke, wir begnügen und das 
mit, unfer Moͤglichſtes zu thun und übrigens die Philo⸗ 
fophie in ihrer Berbindung mit dem Dogma zu zeigen, 
wie man benm auch nicht vermeiden fan, in die Staa⸗ 
tengefchichte die Geſchichte ber Kirche und umgekehrt zu 
verflechten. 

Wie ſteht ed denn aber in biefer Beziehung mit der - 
Gefchichte der Dogmen? Gewiß ift es von ihrer Seite 
nicht eben leichter, die Örenzen zu bewahren, und eben 
daranf beruht die naive Vorausſetzung, Über welde ich 
zuweilen bei den erwähnten Vorwürfen zu lächeln mid) 
nicht habe enthalten können. Denn follte ihnen nicht die 
Vorſtellung zum Grunde liegen, daß bie theologiſche 
Wiffenfchaft, welche man Dogmengefchichte neunt, wiſ⸗ 
fenfchaftlih gauz feſt ſtaͤnde und ihre ficheen Grenzen 
hätte, bie Geſchichte des Philofophie aber nit? up 


560 Ritter 


ja, wir kennen ja wohl die vielen Lehr, unb Handbücher 
und die dogmengefchichtlihen Werke, in welchen ber 
fihere Beſtand diefer Wiſſenſchaft feit Jahren anerkannt 
worden ift, fo daß es mnter den Theologen für eine 
Ketzerei gelten würde, wenn man biefe Beftalt der Ger 
fchichte bezweifeln ‚wollte, und fo begierig bin ich nicht 
nad) ketzeriſchem Beruche, daß ich eö unternehmen möchte, 
dad gute Recht der Theologen, fie von anderen theologi- 
fhen Wilfenfchaften abzufoudern, zu beflreiten. Aber 
bie, welche anf die althergebradte Eintheilung der 
theologifchen Wiſſenſchaften gar zum ſicher ſich verlaflen, 
am über meine Neuerung, welche unter den Dogmatifern 
auch eine Philoſophie fucht, kurzweg den Stab zu bres 
hen, mögen mir nur erlauben zu fragen, ob wohl die 
religiöfen Meinungen oder Blaubendichren, welche man 
mit dem Namen der Dogmen vorzugsweiſe bezeichnet, 
von den philofophifchen Erkenntniffen, die unflreitig eine 
nahe Berwandtfchaft mit ihuen haben, immer fiher nnd 
ohne Kehl abzufcheiden feyn möchten. Haben fie nie 
mals von der Meinung gehört, daß alled Wahre im der 
hriftlichen Dogmatik nur eine verfappte Philoſophie fey? 
Richt einmal dad Recht des Altbergebrachten werden fie 
für fih in Anfpench nehmen können; denn die, welche 
wir jetzt Dogmatifer zu nennen pflegen, fie haben fih 
. wohl eben fo oft Philoſophen ald Theologen genannt. 

Freilich wäre bie Unterfcheidung, welche wir ſchwer 
finden, für den Theil der Dogmengefhichte und der Ge 
fchichte der Philofophie, welcher hier befonders In Frage 
fommt, für die Befchichte der Kirchenväter uud des Mit: 
telalterd, nicht zu verfehlen, wenn bie Recht hätten, 
welche behaupter haben, es gebe in dieſen Zeitränmen 
gar keine Philofophie, fondern nur religiäfe Dreinungen, 
und ihnen ſtimmen auch einige, ich fage nicht alle, Aen⸗ 
Bernsigen Baur’ bei. Go wie Viele, welche den Geiſt 
der Scholaſtiker nicht zu begreifen vermocht haben, Magt 








üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 561 


er über ihren geiftlofen Formalismus, welchen er als dem 
äußerten Brad_geifliger Knechtſchaft anfieht (S. 59.3; 
feitdem die griechifche Philoſophie aufgehört, meint er, 
habe die Productioität der Philofophie auf viele Jahr» 
hunderte der Gefchichte Leinen weitern Stoff geliefert, 
und der Strom ded immanenten, felbfländigen Denfene 
feine fich viele Jahrhunderte lang wie in eine bürre 
Sandwäfte verloren zu haben, bi gu ben Zeiten des 
Sartefind (S. 62.); erft zu diefen Zeiten fey die Philos 
fophie wieder in die ſelbſtändige Bahn ihrer Geſchichte 
eingetreten (S. 61.), ja, es fey nun erft ihre Aufgabe 
geworden, zur wahren chriftlichen Philoſophie zu wer, 
der (S. 64). Wenn wir diefen letzten Satz wörtlich 
deuten, wie wir nicht anders dürfen, fo würden wir 
fhliegen müſſen, Baur nehme an, bie auf Carteſius, 
oder, wie er fih auch ausdrüädt, wenn man wolle, bie 
zur Wiederherſtellung der Wiffenfchaften (©. 59.) fey 
feine wahre chriftliche Philofophie gewefen, und die vors 
bergehenden Sätze laffen nicht daran zweifeln, daß er 
auch feine unchriſtliche Philoſophie in diefen Zeiten ans 
uehme, mit. Ausnahme etwa der arabifchen, welche er 
ald eine bloße Nachwirkung und Nachbildung ber grier 
hifchen zu betrachten geneigt iſt (S. 53.)." Genug, nach 
biefen Aeußerungen ift ed faum zu bezweifeln, daß er in 
den Schriften der Kirchenväter und der Scholaftifer nur 
religisſe Meiungen, aber keine Philoſopheme finder. 
Andere feiner Aeußerungen fcheinen dagegen barauf hin» 
andzulaufen, daß jene Zeiten nur eine verfappte Philos 
fophie getrieben hätten, wie wenn er behauptet, bie Ge⸗ 
Ihichte der chriftlichen Philoſophie hätte daffelbe Gebiet, 
wie die Geſchichte der chriftlichen Theologie; beide hätten 
es mit demfelben Begenftande zu thun (©. 48. 64.). 
Aber eben dieß ift es, was ich befireiten muß. Nicht 
allein, weil ich in vielen Theologen nichts Merktwürbiges 
für die Geſchichte der Philofophie zu finden weiß, wie 


562 Ritter 


wir benn Baur eine Reihe foldher Männer vorgerechnet 
hat, welche von mir Üübergangen worden wären, obgleich 
fie in Seiner Geſchichte der chriſtlichen Dogmen fehlen 
dürften (S. 49.), fondern noch bei weiten mehr, weil 
ih ed, aufrichtig gefagt, faft unbegreiflich finde, wie 
Mäuner, welche die patriftifche und fcholaftifche Littera⸗ 
tur keunen — uud zu ihnen gehört Baur, wenn aud 
nicht alle meine Gegner in diefem Punkte — nur baran 
zweifeln können, daß in den Kirchenvätern und Scholar 
ftilern Dogmen und Philofopheme mit einander gemifcht 
and von uns zu unterfcheiben find. Sollte es vielleicht 
boch bewegen ſeyn, weil fie ihr Augenmer! von vorn 
berein auf bie theologifch wichtigen Sätze geſpaunt ha 
ben nnd darüber bie philsfophifc wichtigen Lehren über; 
fehen? Sollte es fogar gefchehen, daß fie, was bei dem 
großen Umfange diefer Litteratur fehr verzeihlich wäre, 
nur bie theologifch wichtigen Schriften Iefen, die philo⸗ 
fopbifch wichtigen aber nicht? Sonſt würde man dod 
wohl faum zu verfenuen im Stande feyn, daß z. B. die 
fruheſten Schriften des Auguſtinns faſt rein philofophifc 
find uud keineswegs nur erborgte Philoſopheme ausfüh⸗ 
ren. So iſt es auch mit auderen Schriften der patriſti⸗ 
ſchen Litteratur. Nun aber gar der ſcholaſtiſchen! Bon 
Baur habe ich in meiner Geſchichte der Philoſophie bes 
merken mäAflen, daß er auffallenderweife die Schrift des 
Gilbertus Porretauus de trinitate nicht zu kennen fcheine, 
Eben fie if faft ganz philofopbifh. Baur wundert fih 
auch, daß ich in meiner Auseinanderfegung der Lehre 
des Athanaſius mich „uicht einmal an bie das Trinitätd- 
dogma betreffenden Haupifchriften” deſſelben, fonbern 
„eigentlich nur” an bie beiden sufammengehörenden Bü⸗ 
cher contra gentes uud de incarnatione verbi gehalten habe. 
Wie Tönnte er fich darüber wundern, wenn er dieſe 
Schriften mit jenen reiflich verglichen hätte? Die letzte⸗ 
sen Schriften enthalten das philoſophiſche Syſtem des 








üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 563 


Athanaflus, wie lädenhaft ed auch feyn mochte; die er» 
teren find Hauptidhriften nur für die Theologie, nur 
vom theolsgifchen Standpunkte genommen. Es thut mir 
leid, ſolche Dinge bier berühren gu müflen; aber bei der 
befannten theologifchen Gelehrſamkeit meines Gegners, 
welche Audere für feine hiſtoriſchen Behauptungen leicht 
einnehmen könnte, muß ich ed wohl fagen, daß biefe 
und andere Proben derfelben Art mir einen Zweifel ers 
regt haben, ob er nicht auch, gleich vielen Anderen, in 
feinen Studien über Kirchenväter und Scholaftifer auf 
den gewöhnlichen Wegen theologifcher Leberlieferung gar 
zu unbeforgt einhergegangen feyn möchte, wobei es ihm 
denn freilich leicht begegnen konute, in ber Litteratur der 
Dogmatil nur auf den Heinften Theil ihrer Philoſophie 
zu floßen. 

Doc; das möge. dahin geftellt feyn. Betrachten wir 
die Sache von einem allgemeiuneren Standpunkte. Meis 
nungen und Philoſophie pflegen viele gemeinfchaftliche 
Berührungspuntte zu haben; denn gewöhnlich geht die 
Wiſſenſchaft, ehe fie zur Reife gedeiht, durch die Stufe 
der Meinung hindurch, und nicht ganz mit Unrecht hat 
man gefagt, die Philofophie hätte die Aufgabe, bad, 
was in der allgemeinen Meinung ber Zeit liege, zum 
wiflenfchaftlichen Bewußtfeyn feiner Gründe zu erheben, 
Aber dennoch beden ſich die Gebiete der Meinungen und 
ber Philofophie nicht vöhig. Vielmehr die Meinung zus 
exit geht immer über die Wiffeufchaft hinaus, indem fie 
Manches ale richtig ahndet, was bie Wiffenfhaft noch 
nicht zu ergreifen vermag, Alsdann aber eignet auch bie 
Wiſſenſchaft Mandjes in ihren Erfindungen ſich an, was 
die Meinung weunigſtens in ihrer allgemein verbreiteten 
Geſtalt aufzunehmen nicht im Stande ik. Wenn wir 
num eine Gefchichte der religiöfen Meinungen eines Bols 
kes oder einer Zeit unternehmen, fo werben wir unftreis 
tig wicht Alles einzumilchen haben, was von ben wiſſen⸗ 





564 Ritter 


fchaftlich @ebildeten in diefer Zeit oder dieſem Volke ger 
dacht worden if, fondern nur das iſt Gegenſtaud ber 
Dogmengefchicdhte, was in der allgemeinen Meinung wirt, 
fan geworden ifl. Bon diefer Regel it man in der Bes 
handlung ber chrifllihen Dogmengeſchichte gewöhnlich 
ausgegangen nnd wir werden feinen Grund haben, von 
{he abzuweichen, Daher find denn auch in den Zeiten 
der Kirchenväter und der Scholaftifer die Gefchichte der 
Dogmen und die Befchichte der Wiffenfchaften, beſonders 
aber der Philofophie von einander zu trennen, wenn 
anders in biefen Zeiten es wirklich eine Philofophie ge⸗ 
geben hat, welche die allgemeinen Meinungen der Kirche 
zu fichten und zu fichern unternehmen burfte. Hierzu 
habe ich in meiner Gefchichte der chriſtlichen Philofopbie 
zahlreiche Belege gegeben, welche namentli von Baur 
zu wenig gewürdigt worden find. Nur einige derfelben 
will ich anführen, da, Alles zu erfhöpfen, hier nicht Ranım 
fegn würde. Sollten wohl die Beweife für das Dafepn 
Gottes, welche Kirchenväter und Scholaftifer unabhängig 
vom Glauben und der Schrift geführt haben, der Dog. 
mengefchichte oder ber Befchichte der Philoſophie ange, 
hören ? Der ontologifche Beweis z. B., von Angufin ange: 
deutet, von Anfelm ausgeführt, wird in der Geſchichte 
ber Philoſophie, fo wie ihn Carteſius gebrancht, nicht zu 
Üdergeben feyn; warum follte er bei Kirchenvätern und 
Scholaſtikern nicht feine philofophifche Natur behanpten? 
Das cogito, ergo sum wird gewöhnlich in der Geſchichte 
der Philofophie, fo wie ed Carteſlus aufſtellt, als epoche⸗ 
machend angeführt; ich habe nachgewiefen, daß es ſchon 
Auguftin dem Zweifel entgegeniftellte und daß es feitdem 
nicht in Bergeffenheit gerathen if. Was haben bie Strei⸗ 
tigfeiten über die Trüglichfeit der Sinne, über bie 
Grenzen oder- die Unbefchränftheit des Verſtandes, über 
die Stufen, auf weldhen man fi zur Anfchauung Got» 
tes, d. h. zur Erkenntniß der Wahrheit erhebt, über bie 





üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriftl. Philofophie. 469 


Kräfte der Seele, über das Verhäliniß zwiſchen Vers 
hand und Willen, Fragen, welche in fehr fcharffinnigen 
Theorien von Kirchenvätern und Scholaftifern erörtert 
warden, mit der allgemeinen Meinung zu thun? Ober 
gehört vieleicht die Lehre von der Erziehung der Menſch⸗ 
beit, welche viele Neuere für eine Erfindung Leſſing's 
angefehen haben, in ihrer genaueren Ausführung, fie, in - 
weicher die erſten Verſuche zu einer Philofophie der Ge, 
(dichte gemacht worden find, der Dogmengefchicdte an? 
Gewiß die, welche mir vorwerfen, die Grenzen der Ges 
fhichte der Philofophie nicht bewahrt: zu haben, fie würs 
den noch weniger die Grenzen der Dogmengefchichte innes 
halten, wenn fie diefe Unterſuchungen ihr einverleiben woll⸗ 
ten. Ich darf doch wohl nicht daran erinnern, daß noch 
ein Unterfchied zwifchen Dogmengeichidte und zwifchen 
Geſchichte der Dogmatik ift, und daß diefe vwiel tiefer in 
die Gefchichte der Philofophie eingreifen muß, ale jene. 

Aur einen Vorwand fehe ich, welchen meine Gegner 
gebrauchen könnten, wenn fie fo viele Lehren, die offen» 
bar philofophifches Charakters find, nicht der Geſchichte 
der Philofophie, fondern der Dogmengefchichte zueignen 
wollen, nämlich das abgenugte Gerede, daß die Philos 
lophie der Kirchenväter und Scholaftiter nur im ber 
Sclaverei des Kirchenglaubens und alfo nicht wahre 
Philofophie, d. h. freies Denken gewefen fey. Wird dies 
ſes Borurtheil gegen die Haren Thatfachen fich immer 
noch behaupten Tonnen? Auch Baur benußt es für feine 
Zwede und fucht mir fogar Widerfprüche nachzuweiſen, 
in welche ich gezathen wäre, weil ich jene Selaveret 
nicht hätte zugeben wollen. Ich mag die einzelnen Säge, 
welche zuir hierbei vorgerüdt werden, nicht ned; einmal 
durchſprechen. Möglich, daß ich jenem Vorurtheile zus 
weilen gu lebhaft widerfnroden habe. Um Borurtheile 
in fällen, braucht man derbe Schläge, Aber es kommt 
nicht auf einzelne Worte,  fondern anf ihren Sinn im 











566 Ritter 


Zufammenhange an, Den werde ich auch jetzt noch ver 
treten koͤnnen. Keine Philofophie iſt ganz mabhängig 
von der Meinung. Man muß aber eine boppelte Abs 
hängigleit derſelben unterfcheiben. Die eine läßt fi von 
Jerthümern der Meinung fangen und darans lönmen zur 
Beſchraͤnktheiten, Einfeitigleiten der Philoſophie hervors 
gehen, weil Irrthümer dad Denten unfrei machen. Die 
andere dient der Philofophie zur Anleitung, zu der Bor- 
Rbung, ohne welche die Bernunft nicht zu ihrer Reife 
gelangen faun; fie macht den Philofophen nicht unfrei, 
fondern gibt ihm nur feine natürliche Richtung auf das 
Wahre und fpannt feine Aufmerkſamkeit auf die Erfin- 
dungen , weiche die Meinnng in voraus ahnden läßt; 
mit ihr iſt daher freied Denken und wahre Philoſophie 
vereinbar. Durch Die Erregung meiner Anfmerkſamkeit 
werde ich der Freiheit meines Denkens wicht beranbt, 

eben fo wenig, als ich dadurch aufhöre, philoſophiſch 
zu denken, daß id einen guten Lchrer hatte, der mir 
die rechten Wege oder auch nur das rechte Ziel wies, 
Die erſte Art der Abhängigkeit hat der Philofophie der 
erſten chrifllichen Jahrhnuderte nicht gefehlt; daher iſt 
fie auch in vielen Stüden von Borurtheilen befangen 
gewefen; baß aber auch bie andere ihr zur Seite geflans 
den habe, davon geben die oben erwähnten Lehren ein 
Zeugniß, wenn wicht alle, fo doch einige, weiche fie weder 
ans der griechiichen Philofophie, noch aus dem allgemeis 
nen religiöfen Meinungen des chriktlichen Glanbens ent» 
nehmen Tonnte. 

Doh Baur ſelbſt theilt bie gewöhnliche Meinung 
sicht, daß den erſten chriſtlichen Jahrhunderten alle Phi⸗ 
Iofophie gefehlt habe. Wiewohl es in Widerſpruch mit 
feiner oben vernommenen Aenßerung, daß erſt nach Wie⸗ 
derberftelung ber Wilfeufchaften die wahre chriftfiche 
Philoſophie beginne, zu fliehen ſcheint, nimmt er doch 
eine chriftliche Philoſophie andy in der Zeit der Kirchen- 





üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 567 


väter und der Scholaftiter an, follte ed auch eine falfche 
ſeyn. Rur fehe verborgen muß fie ihm zu liegen fcheir 
nen, denn nur durch eine Kolgerung verwidelter Art 
weiß er fie heranszubringen. Er befennt, was gewiß 
fehr zu billigen ift, daB durch das Chriſtenthum bie 
Dentweife der Menfchen im Allgemeinen nmgeändert 
wurde, und daß auch die Philofophie von ihm ergriffen 
werden mußte (S. 43.); nun finde fih aber vor der 
chriſtlichen Offenbarung fchon eine Philofophie und in 
der neueren Zeit wieder eine Philofophiez dieſe beiden 
Perioden ihrer Geſchichte könnten nicht Durch einen Ice 
ren Zwifchenraum unterbrochen feyn; nachdem einmal 
die Philofophie fich ergeben habe, könne fie dem Geifte 
nicht wieder verloren gehen; baher hätten wir auch iu 
den Zeiten bed Mittelalterd eine Philofophie anzuneh⸗ 
men, wenn gleich eine folche, welche fich felbft entäußert 
und in Religion verloren habe; die Philofophie fey da 
Religionsphilofophie geworden (S. 62.). 

Man wird nicht verkennen, daß biefe Anficht von 
der Gefchichte der Philofophie dem hegel’fchen Schema 
entfpricht. Die Philofophie in ihrer Gefchichte muß den⸗ 
felben Gang gehen, weldyen dad Syſtem und der Geift ' 
durchzumachen haben. Nachdem fie aus ihrer abftracten 
Allgemeinheit herandgetreten, muß fie fich befondern oder 
entänßern und zulegt zu fich felbft in ihrer concreten 
Allgemeinheit zurückkommen. 

Sehr fhwer würden biefe Analogien aa; zu begreis 
fen feyn. Wenn fie nur wahrer wären. Aber mit ihrer 
Anwendung flodt es überall, und wenn man mit Ges 
walt fie durchfeßen will, fommt man zu den unnatürlidy- 
ten Berrentungen. Baur’ Conftruction der chriftlichen 
Philofophie gibt davon ein nicht verächtliches Beiſpiel. 
Afo indem „der Geift fich feiner ſelbſt entäußert,” ges 
langt er in bie Periode der Religionsphilofophie. Baur 
führt dieß Thema noch recht erbanlich a indem er 

Theol, Stud, Jahrg, 1847. 


568 Ritter 


bemerkt, wie der Geil in feiner Knechtsgeſtalt erſtarke, 
in Demuth und Zucht bed Glaubens feine Kräfte euer: 
gifcher fammile, um alsdann feine Bande, die er ſich ſelbſt 
angelegt, zerbrechen zu können (S. 62 f.). Das mögen 
recht fhöne Worte feyn, aber mit der hegel’fchen Philo⸗ 
fophie ſtiumen fie nicht; denn fie belehrt nnd, baß die 
Entäußerung des Geiſtes nicht die Religion, noch wenis 
ger bie Religionsphilofophie iR, fondern die Natur. 
Wenn der Geiſt zur Religion gelangt, iR er ſchon längſt 
wieber in fich gurücigefehrt ; wenn er feine Kräfte ge 
fammelt bat, ift er nicht mehr ander fi. “ Aber nun 
gar die Meligionsphilofephie, fie it doch mit der Re 
ligion nicht zu verwechſeln. Wer fie haben fol, 
muß die Logik, Phyfl und den größten Theil der Philos 
fophte des Geiſtes durchgemacht und fie nicht wieder 
vergeffen haben. Wie iR damit eine folche Knechtſchaft 
des GBeiftes zu vereinen, wie Baur fie im feiner patris 
ftifchen und fcholaflifhen Philoſophie annimmt? Ziehen 
wie auch ein wenig die Erfcheinungen jener Zeiten zu 
Nathe, fo werben wir wohl fagen mäflen, daß fie zu 
einer freien Entwickelung der Religionsphilofophie nichts 
weniger als reif waren. In der Metaphyſik, in ber 
Pſychologie bewegen fich ihre linterfuchungen; zwar haben 
fie ed auch mit der Religion zu thun, aber ſtecken viel 
gu tief in einer Form der chriſtlichen Religion, um ein | 
unparteiifches Urtheil Über das Allgemeine des CEhriſten⸗ 
thums, gefchweige anderer Formen ber Religion, zu ha 
ben. Im Abfchen gegen ben Götendienft konnten fie 
feine Bedeutung nicht würdigen. Bon der Religions: 
philofophie muß man aber doch wohl erwarten, daß fit 
in einer Form der Religion, und wenn ed and bie 
chriſtliche ſeyn ſollte, nicht völlig verfunten fey. Baur 
fcheint eine andere Anficht von der Religionsphilofophie 
zu haben, als Hegel nnd ich; wie es fcheint, verficht er 
umter diefem Ausbrude eine Philofophie, welche in Reli⸗ 





üb. d. Begriff u. d. Verlauf ver chriſtl. Phifofophie. 569 


sion fich verloren hat; aber fo gefaßt, hat feine Reli⸗ 
gionsphiloſophie mit dem, was biefen Namen verdient, 
nur noch den Namen gemein. 

Gehen wir noch etwas genauer in Baur’s Annahme 
über das Berhältnig der Gefchichte ber Philoſophie zur 
Dogmengefchichte ein. Wir lefen darüber (6. 53.) Kolgenr 
des: „Sol fich der Begriff (der chriftlichen Philoſophie) 
in feiner felbftändigen Bebentung behanpten, fo muß 
zwar nicht ber quantitative Uuterfcyied- bed größern ober 
geringern Umfangs, aber der qualitatins bes Algemeis 
nen und Beſoudern gemacht werben. Die Philofophie 
hat ed mit dem Allgemeinen zu than als dem wefentlis 
hen Inhalte des Denkens; auch ihre ®efchichte muß da» 
her vor Allem diejenigen Momente hervorheben, in weils _ 
hen ber allgemeine Proceß des denkenden Geiftes fich 
entwidelt ; fle fragt wicht fowohl, was diefed oder jenes 
Individunum gedacht und gejagt, als wielmehe, wie in 
biefem oder jenem eine allgemeine Form des Bewnßtfeynd 
ihren Ausdruck gefunden Hat. Eben dieß mnß daher 
auch die Aufgabe der Geſchichte der chriftlichen Philofor 
phie ſeyn, ihr eigentliche Object koöͤnnen nur die allger 
meinen, Den zeitlichen Beräuderungen zum Grunde lie 
genden Denkbeſtimmungen ſeyn, während die Dogmen- 
gefchichte diefed Allgemeine zwar auch zu ihrem leitenden 
Geſichtspunkte machen muß, aber dabei noch bie beſon⸗ 
dere Aufgabe hat, den verfchiedenen Mobiftcationen des 
Dogma in ihrer fpeciellen gefchichtlichen Geſtaltung nadır -- 
ingehen.”” 

Bor allen Dingen müflen wir und verfidern, daß 
wir richtig gelefen haben. Freilich möchten ung einige 
Wendungen in den Unterfuchungen Baur’s irre machen, 
aber im Ganzen finden wir doch das hier Befchriebene 
beſtatigt. Baur will im den vorliegenden Abhanbluns 
gen die Geſchichte der chriſtlichen Philoſophie zur Leber, 
ht bringen; er I&ßt fich aber doch in viele Beſonder⸗ 

89 * 


570 Ritter 


heiten ein, welche er ber Dogmengefdjichte in den obigen 
Säben vorbehalten hat. Sogar über eine [ehr ſpecielle 
Stelle ded Gregor von Nyfin belehrt er mich, wofhr id 
ihm meinen Dank abflatte; über die angebliche Schrift 
des Abalarb de generibus et speciebus läßt er ſich herab 
Die Frage von Neuem als fraglich hinzuftellen, und man 
könnte ſolche Befonberheiten noch mehr anführen. Aber 
bierin iſt er wohl feiner Aufgabe nur nich ganz getren 
geblieben und, weil ex fhon lange als Dogmenhiſtoriker 
fi) bewährt hat, einmal wieder in feine alte Gewohnheit 
gefallen. Dieß werde ich ihm um fo weniger verargen, 
fe lieber ich ihm immer auf dem Felde befonberer Unter⸗ 
fucdhnngen begegnet bin und da Wanched von ihm ge 
lernt habe, je mehr er mir feinen eigenen Verdienſten 
zunahe zu treten fcheint, wenn er die befondern Unter⸗ 
ſuchungen auch über Individnen und individnelle Mei 
nungen mit Berachtung von fi weit (S. 49.). Dder 
ſollte er einige Befonderheiten ausuchmen, welche dod) 
der Geſchichte der Philofophie angehörten, während fie 
nur meiftend mit bem Allgemeinen zu thun hätte? Faſt möchte 
ed fa fcheinen, wenn wir feine oben audgefchriebenen 
Worte genauer erwägen. Wenn es da heißt, die Ge⸗ 
ſchichte der Philofophie müßte „vor Allem” diejenigen Mor 
mente hervorheben, in welchen ber allgemeine Proceß 
des denkenden Geiftes ſich entwidelt, fo dürfte man ver 
muthen, ed wäre die Meinung, daß fie doch wenigſtens 
nebenbei auch mit andern Momenten fidy befchäftigen 
dürfte, Wenn gefagt wird, bad „eigentliche? Object 
ber Geſchichte der chriftlihen Philoſophie Lönnten nur 
die allgemeinen Denkbeſtimmungen feyn, fo fcheint «6, 
als ſollten ihr zu ihrem nneigentlichen Objecte doch auch ber 
fondere Denkbeſtimmungen vorbehalten werben. Man könnte 
alfo vermuthen, in diefen ſchwankenden, unbeftimmten And 
drüden würden Hinterthliren offen gelaflen, ganz geeignet 
dazu, alle beliebige Befonderheiten , weldye man eben zur 


üb. d. Begriff u. d. Berlaufder chriſtl. Philofophie. 571 


Hauptthür hinausgetrieben hatte, durch die Hinterthür 
in die Geſchichte ber Philofophie wieder hineinfchlüpfen 
zu laſſen. 

- Doc alle diefe Zweifel über den Sinn der ange, 
führten Stelle verfchwinden gegen bie ſtarken Züge der 
Polemik, mit welcher Baur meine Weife, die Geſchichte 
der Philoſophie zu behandeln, angreift. Da ift nicht allein 
davon die Rede, daß ich über die vielen Einzelheiten ben 
Ueberblid verlöre (S. 72 f), und von dem Ungenü⸗ 
genden der Methode, die Gefchichte der Philofophie nur 
an ben einzelnen, der Reihe nach auftretenden Individuen 
darzufteflen, was nur zn unnäten Wiederholungen führe 
(S. 210.) , fondern Baur fcheut ſich fogar nicht, im heis 
ligen Eifer gegen meine Berfahrungsweife dieſes Lafter 
der Wiederholungen felbft auf fih zu nehmen und immer 
wieder Darüber zu Magen, daß ich fo gar viele Einzels 
heiten and unbedeutende Individuen in meiner Gefchichte 
der Philofophie aufführe. Je mehr diefe Geſchichte in 
dad Einzelne eingehe, um fo mehr gerathe fie in Gefahr, 
dad Allgemeine aus dem Auge zu verlieren. Welchen 
Berth könne es doch für eine Gefchichte der Philofos 
phie haben, die theologifchen Lehren und Vorftellungen 
eined Juſtin, Athenagoras, Theophilus, Tatian, Irenäus 
u. f, w. wiederzugeben? Nur die Wendepunfte der Ges 
fchichte follen berüdfichtigt werden (vergl. ©. 66; 72 ff. 
u. ſonſt). 

Gewiß, wenn mich Baur tadelte, daß ich oft zu 
weitläufig geworden wäre, manches Fremdartige oder 
weniger zur Sache Gehörige eingemifht, daß ich das 
gegen die allgemeinen Geſichtspunkte für die Entfcheis 
dung der Sachen nicht heil genug hätte hervortreten 
laffen, ich würde den Tadel geduldig aufnehmen; ſolche 
Schwächen meiner Arbeit muß ich leider wohl zugeben 
und kann fie nur dadurch entfchuldigen, daß die Sachen, 
welche ich in den vier erken Bänden meiner Gefchichte der 


572 Ritter 


chriſtlichen Philoſophie behandelt habe, zu wenig, ua 
mentlich den Philofophen zu wenig befaunt find, daß es 
mir daher nöthig fchien, auch manche Außerlihe Berbälts 
niffe, unter welchen die Philofophie fich entwidelte, ge⸗ 
nauer audsuführen, als es der Gegenſtand an fidh er- 
heifchen wärbe. Uber die Klagen und Forderungen 
Baur’d gehen weiter; nach ihm fol die Geſchichte der 
Philoſophie des Befondern ſich entfchlagen und nur das 
Allgemeine der Sedantenentwidelung anführen. Gie ers 
innern mich an einen Recenfenten meiner Befchichte der 
alten Philoſophie, welder, auch and der hegel’fchen 
Schule hervorgegangen, vor Jahren an mich die Aufor⸗ 
derang ſtellte, ich hätte mit einem Worte oder in einem 
Sedanten angeben follen, was der Jnuhalt der folratis 
fhen Philofophie ſey. Wie vortrefflih wäre ed, wenn 
id} dergleichen vermöcte. Aber ich bin zu fchwadh. 
Warım mühen ſich doch jene göttergleihen Deuter, 
welche folhe Dinge fordern und unftreitig auch vermös 
gen, um die Schriften eined Menfchen, welcher fo wenig 
eö ihnen gleich zu thun vermag ? 

Wie ich aber eben bin, kann ich nicht anders, ale 
Schirm mir fuchen gegen jene Sonne der allgemeinen 
Einficht, weiche mid wie ein concentrirted Licht nur 
blenden wärde. Und fo fey ed mir erlaubt, meine Mes 
thode gegen Baur’ Einwürfe zu vertheidigen, ale eine 
Methode, welche mir und meines Gleichen doch wohl 
erlaubt werden bürfte, wenn fie auch der allgemeinen Ein⸗ 
fiht meiner Gegner nicht gewachfen feyn ſollte. Baur 
alfo, muß ich bemerken, vermißt Lieberficht in meiner 
Geſchichte der chriftlichen Philofophie, und ich geſtehe, eine 
volfommene lieberficht noch nicht gewonnen zu haben. 
Aber ich meine auch, Daß mehr Weberficht in meiner Gefchichte 
it, ald Baur darin gefunden hat, denn zu meinem Leid⸗ 
weſen bat er fie an falfchem Drte geſucht. Er fucht 
danach in meinen Einleitungen zur Geſchichte der chrift- 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſti. Philofophie. 573 


lichen Philoſophie Kberhanpt und im Befoubern der patrikis 
fhen und wittelalterlichen Philoſophie (vergl. befonbers 
6.183), hat aber nicht bemerkt, daß ich diefe Einleitungen 
nur dazu beſtimmt habe, eine vorlänftge und äußere Lleberficht 
über die einzelnen Perioden meiner Gefchichte zu geben. 
So fchien es mir nöthig, weil ich den kleinern Theil, die 
Geſchichte der Philofophie, aus dem größern Ganzen 
der Geſchichte Überhaupt herandzuheben und babei mid) 
umsufehen hatte, weldye Stellung die Philofophie in der 
einen und der andern Periode behaupten mußte. 
Das find Borkberlegungen, welche noch nicht in dad 
unerfte ber Befchichte, welche ich behandeln wollte, eins 
führen follten ; von dieſem ſtehen wir in der Einleitung 
noch fern, wie jeder Lefer wohl von feibk fi fagen könnte. 
Es gehört nur zu den unnützen Weitfchweiftgleiten, von 
welchen meine Gefchichte der Philofophie fich nicht frei 
weiß, daß zuweilen ausdrüdlich bemerkt worden, in dies 
fen &inleitungen folle nur dad erörtert werden, was 
vorläufig und von außen her, d.h. von ben allgemeinen 
Berhältuiffen der Geſchichte aus, über ben Gang der Phi» 
Iofophie in einer beflimmten Periode fich vermuthen laſſe. 
Sol ich nun fagen, Baur, welcher für die Wiederho⸗ 
luugen und unnützen Weitläufigleiten meines Buches fo 
gute Augen gezeigt hat, hätte doch dieſe nicht fehen kön⸗ 
nen, oder er hätte fie nicht fehen wollen? Bewiß hat er 
fie nicht fehen fönnen. Denn gu widerfiumig ift ihm eine 
folche Methode erfchienen, wie ich fie beobadhte, ale daß 
er ich hätte vorflellen können, ein Anderer bielte fie für 
zwedmäßig und möchte fidh zu ihr bekennen. Mau febe 
fh nur in die Rage eined Mannes, der dad Ganze 
einer Gefchichte Üüberfieht, gleich beim Eingange berfelben, 
ohne nur in die Einzelheiten ihres Verlaufs ſich einge- 
laſſen zu haben, ob ſich der wohl wirb benten können, 
dag ein Anderer fo befchränft feyn werde, biefe @efchichte 
mit vieler Mühe erft von außen und gleichfam von Weis 


574 Ritter 


tem ſich zu betrachten, nur darum bemüht, einen Cinganz 
in fie zu finden? Wenn es fo mit Baur beichaffen KK, 
kann ich mid, eben nicht darüber wundern, daß er meine 
Methode für ungenügend hält. Er Tann nichts daraus 
lernen ; denn gleich, zu Anfang oder noch vor dem Ber 
ginne weiß er. Rur das wundert mich, daß er nid ber 
dacht hat, meine Methode möchte wohl nicht für ihn, 
fondern für eine ganz andere Art von Leuten berechnet 
ſeyn. Sol ed nicht auch ſolche kleine Leute geben, 
welche, ehe fie eine Sache begriffen haben, fih in fie 
bineinarbeiten müflen? 

Sol es nnn wohl nod erlaubt feyu von meinem 
Standpunfte die Apologie meiner Methode gu unterneh: 
men? Ich denke mir Lefer, welche, wie ih, in bie Ges 
ſchichte der chriftlichen Philofophie mit Mühe eindringen 
möchten und nicht gleich von Anfang an den Begriff ih⸗ 
res allgemeinen Weſens durch irgend eine fanle Anfchau: 
ung befigen. Denen würde nur wenig damit geholfen 
feyn, wollte ich ihnen plößlich eine allgemeine Leberficht 
über dad Ganze geben, weldye fie nur auf guten Blaus 
ben annehmen könnten, fondern bei unferm gemeinfamen 
Wege würden wir nicht anders können, ald der gemeinen 
Methode uns bedienen, die befondern Thatſachen fo gut 
oder fo fchlecht, als fie die Ueberlieferung darbieten mag, 
zu unferm Ausgangspunkte zu nehmen und von ihnen aus 
dahin zu fireben, dad Allgemeine zur Ueberficht zu brin⸗ 
gen. Man kennt, denke ich, biefe Methode unter dem 
“ Ramen der Indnction ald die Berfahrungsweife, in wel: 
her alle gefchichtlihen Willenfchaften auferbaut werben, 
und ed wird ſich nun ermeſſen laffen, daß wir im diefer 
Methode zur allgemeinen Ueberficht erft dann gelangen 
föunen, wenn wir das Einzelne und Befondere fo forg- 
fältig als möglich erforfcht haben. Es wird mir ed daher 
Baur auch wohl nit ale Hartnädigfeit auslegen kön⸗ 
nen, wenn ich, feine andere Methode für die Geſchichte 


db. d. Begriff u, d, Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 575 


kenuend, es nur bebaure, daB ich wicht noch mehr Eins - 
jelbeiten, ale ſchon gefchehen ift, habe zufammenbringen 
können, um meiner Subuction die breitefte und ficherfle 
Grundlage zu geben. So gehen wir dem gefchichtlichen 
Fortſchritte der Sache nach, auf welche Berfahrungsweife 
ia an Baur (S. 49.) großen Werth legt; denu ges 
ſchichtlich entwidelt fih die Sache doch wohl nur, in» 
dem fie Einzelnes an Einzelnes reiht, von einer Zeit zu 
der andern übergeht und erſt zulegt eine ganze Periode 
zum Abſchluß und zur Ueberſicht bringt. 

Aber freilich, ed hat etwas gar Niederſchlagendes, 
wenn man neben Andern in feiner befoudern Methode 
einherläuft, ohne im Stande zu feyn, mit ihnen fich zu 
verländigen, um wie viel mehr, wenn biefe ſich rühmen, 
eine viel beffere und leichtere Methode zu haben. Gar 
in gern möchte man auch derfelben theilbaftig werden. 
Laßt uns fehen, welche Hülfsmittel Baur zu unferer 
Verfländigung und darbietet. Wir ehren alfo zu feinen 
oben angeführten Sägen wieder zurüd. Freilich find fie 
und räthfelbaft; dad mußten wir erwarten; fo gut wie 
möglich muſſen wir ihnen beizufommen fuchen. Die Ge⸗ 
{dichte der chriftlichen Philofophie, hörtenwir fchon, und 
die Dogmengefchichte hätten es beide ganz mit demfelben 
Gegenftande zu thun (5. 48.), die erfte aber, lehren die 
obigen Säge, fol das Allgemeine dieſer gefchichtlichen 
Entwidelung zur Erfenntniß bringen, die andere ihre Bes 
fonderheiten auseinander legen. Alſo, ſchließen wir, beide 
verhalten ſich wie Allgemeines und Befondered zu einans 
der, Falſch geſchloſſen; Baur beichrt uns fogleich in 
unfern Säben, daß die Dogmengefchichte auch das Als 
gemeine zu ihren leitenden Gefichtöpuntte machen folle, 
Afo man würde annehmen müſſen, daß die Dogmenges 
ſchichte Alles in fich enthielte, was bie Gefchichte der 
Philofophie, nur noch Einiges mehr; daß diefe nur ein 
unaudgeführter Entwurf, jene dagegen eine forgfältig in 


576 Kitter 


allen Einzelheiten andgearbeitete Wiffenfchaft wäre. Aber: 
mals falfch geichloflen; denn damit will es wicht ſtimmen, 
daß mir herbe Bormürfe gemacht werben, der Geſchichte 
der Phllofophie nicht treu geblieben zu feyn, fondern aus 
der Dogmengefchichte allerlei fremdartiges Material her 
beigerafft zu haben. Das würde ja keineswegs zu tas 
bein ſeyn, daß id; bei der Skizze nicht ftehen geblieben 
wäre, fondern 'eine recht andführliche Geſchichte geliefert 
harte. Genug Baur will für die Gefchichte der Phile: 
fophie ein Allgemeines, weldes mit bem Befonbern 
fih nicht gemein macht, es vielmehr won fidy ausitößt 
wie eine Verunreinigung. Dad gewahren wir nidt 
minder, wenn wir Baur’d Worte beachten, baß die 
Gefchichte der Philofopbie zu ihrem eigentlichen Dbjecte- 
nur die allgemeirien Denfbefimmungen habe, welche ben 
zeitlichen Veränderungen der Dogmen zum Grunde liegen. 
Alſo Das Nicht» Zeitliche, den ewigen Proceß der Gedau⸗ 
ten ſollten wir in der Gefchichte der Philoſophie zur 
Erkenntniß bringen, gleichfam den einen innerſten Kern einer 
überfinnlichen, nicht gefchehenden Gefchichte, um welche 
fih das Zeitliche wie eine äußere Schale der Zufällig 
keiten aufeht und dad Wehen nicht fowohl offenbart ale 
verhält. Da nun aber diefer Kern auch zugleich das Allge⸗ 
meine feyu fol, dürfen wir nun wohl folgern, daß Baur 
ben wahren Grund des zeitlichen Verlaufs im Allgemei- 
nen erkennt? Noch eiumal fehen wir und getänfct. 
Benn Baur aus dem Allgemeinen die zeitlichen Erſchei⸗ 


. augen der Individnen ableiten wollte, fo wärbe er den Pla» 


tonifern fidy anfchließen , welche die universalia ante res bes 
hanpteten. Aber eben biefen Standpuntt der frühern 
Scholaftiter bezeichnet er an vielen Stellen feiner Ab: 
handlung als einen untergeordneten. 

Mir meinen Berfuchen zu veritehen bin ich zu Enbe. 
Man rechne nur nad, was in den wenigen Worten ber 
oben ausgefchriebenen Stelle enthalten if. Die Dos: 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philoſophie. 577 


mengefchichte fol ed nur mit dem Befonbern, bie Ge⸗ 
fhichte der Philofophie nur mit dem Allgemeinen zu 
thun haben, ber es fol and die Geſchichte der Philos 
fophie nur zu ihrem eigentlichen Objecte dad Algen 
meine haben nnd nur vor Allem die allgemeinen Mos . 
mente des Denkproceſſes hervorheben und die Dogmens 
gefchichte dagegen foll aucd das Allgemeine gu ihrem lei» 
tenden Gefichtöpunfte machen und nur dabei auch auf 
das Befondere ihr Augenmerk richten, ohne doch das zn 
leiten, was von der Geſchichte der Philofophie gefor- 
dert wird. Hebt bier nicht ein Rur immer wieder bad 
andere auf? Bermehren die Befchränkungen, welche in 
dem Eigentlichen und in dem Bor Allem liegen, nicht 
noch die Berwirrung? Dat ed die Dogmengefchichte nur 
mit der Schale oder auch mit dem Kerne, Die Geſchichte 
der Philoſophie nur mit dem Kerne oder auch mit der 
Schale zu: thun, und wenn die eine oder wenn beide es 
mit beiden zu thun haben follen, warum fol nicht die 
eine die andere umfaffen, oder worin befteht ihr Uns 
terfchied ? | 

Dod nein, wir woßen noch einen Berfuh gu 
deuten machen. Bielleicht ſollen die hin und her ſchwanken⸗ 
den Ausſagen nur andenten, daß auf die eine Seite ein . 
Mehr, anf die andere Seite ein Minder des Allgemeinen 
und bes Befondern falle. -Bergebend. Auch diefer Aus⸗ 
weg ift abgefchnitten. Gleich zu Anfange find wir be, 
Ichrt worden, es dürfe hier nicht der quantitative Un⸗ 
terfchieb des größern oder geringern Umfangs gemacht 
werden, auf den qualitativen Uinterfchteb bed Allgemeis 
nen und des Befondern komme es an. 

Ein neues Räthfel. Aus welcher Logik, müflen wir 
fragen, hat Baur gelernt, daß der Unterſchied zwiſchen 
Algemeinem und Vefonderm nicht-auf dem quantitativen 
Unterfchiede zwifchen größerem und kleinerem Umfange ber 
Begriffe bernhe? 


578 Ritter. 


Vielleicht würde ich eine mildere Einfleiduug meiner 
Frage gewählt Haben, wenn nicht Baur felbft dazu auf 
forderte, ihn an bie Logik gu erinnern, indem er nict 
aufhört, auf feine Logik zu pochen, und die Gelegenheit 
herbeizieht, feiner Berachtung gegen das unlogifche Bers 
fahren Anderer Luft zu machen. Eine Stelle feiner Abs 
handlungen habe ich hierbei befonderd vor Augen, in 
welcher er „die befannten Darftellungen der: Kirchenhir 
Roriter” erwähnt (©. 81.), „welche in ihrem begriffsiofen 
Berfahren ed nicht einmal zu einer logifchen Slaffiftcirung 
der verfchiedenen Kormen der Gnoſis gebracht haben.” 

Es ift eben ein halb erlannter logifcher Irrthum, 
welcher durch bie vagen Aeußerungen Baur’s über Ger 
fhichte der Philofophie und Dogmengeſchichte hindurch⸗ 
blidt, der Irrthum nämlich, daß man Allgemeines und 
Befonderes willenfchaftlich von einander fcheiden Fönne. 
Man follte meinen, dieſer verlodenden Meinung wäre 
nun fchon binlänglich durch fo manche philofophifce 
Lehre begegnet worden, wozu auch noch neuerlicd, bie 
Lehre Hegel's gekommen ift, daß nur durch die Beſon⸗ 
derung hindurch das Abflract » Allgemeine feinen wahren 
Gehalt gewinne und zum Goweret s Allgemeinen werde. 
Aber es ift wie ein Zauber, daß man immer. wieder zu 
dem Abfiract-Algemeinen fid) gezogen fühlt und bie gute 
Fährte zum GoncretsAllgemeinen und alfo auch zum Be⸗ 
fondern hinter fid) zurüdläßt. Daher flammen die Kla 
gen Aber die Ratur, welche in Aeußerlichleiten, in zufällige 
Einzelheiten fich verliere und den Begriff nicht feſtzuhal⸗ 
ten vermöge, über das Bedeutungsloſe der Erfiheinun 
gen, über den Wuſt der empirifchen Gelehrſamkeit, wel 
he nur Unnüged und Übgeflorbenes zu Tage bringe, 
ald wäre irgend etwas abgeflorben, irgend etwas unnütz 
oder ohne Bedeutung anßer nur in dem Wahne befien, 
welcher fein Fortleben und Kortwirken, feinen Nupen 
und feine Bedentung, weil er fie nicht zu durchblicken ver 





\ 


ab. d. Begriff u, d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 579 


mag, zu leugnen ſich vermißt. Bon ſolchen Klagen hat 
auch Hegel ſich nicht zurüdzubalten vermocht; was fols 
in wir und wundern, daß Baur in fie einſtimmt? Aber 
die vielen Beifpiele und das Anfehen berühmter Philoſo⸗ 
phen, welche er für feine nicht rühmliche Flucht vor bem 
Befondern anführen könnte, werden ihn doc nicht abhal⸗ 
ten dürfen einzugeftehen, daß es zur Aufgabe der Willens 
haft nicht minder gehört, das Befondere, ald das Allge⸗ 
meine, und beide in ihrer ungertrennlichen Verbindung 
u erfennen, da er hierzu nicht allein durch das Bedärf: 
niß empirifcher und befonderer Wilfenfchaften, fordern 
dur die Philofophie ſelbſt gezwungen wird, welche ihm, 
wie ed fcheint, unwillkürlich das Geſtaͤnduiß abnöthigt, 
daß fie des Befondern nicht entbehren kann und baß 
wir das Leberfinuliche und Ewige nicht mit dem Allge- 
meinen zu verwechfeln haben. Aber folche unfreiwillige 
Delenntuiffe bezeugen eben unr, daß wir von Baur, 
welcher ſie ablegen muß, wohl fchwerlich gu erwarten 
haben, er werde in klarer und unzweibentiger Rebe 
über den Begriff der Philofophie und ihrer Linterfchiebe, 
ſey ed vom chriftlichen, fey ed vom heidniſchen Dogma, 
und eine fichere Auskunft geben können. 

2. Wenn einem chriklihen Theologen der Begriff 
der Philofophie auch nur in unbeflimmten Zügen vors 
ſchweben follte, fo wird er doch wohl über den Begriff 
des Ehriftlichen beffern Befcheid geben können. Ueber 
diefen erflärt fi Baur auch ausdrücklicher. Wir wollen 
fehen, was er darüber zu fagen weiß, 

Er wirft mir zuerſt (CS. 36) vor, baß ich durch die 
Bevorwortung, es laſſe fich Fein völlig genügender Aus» 
drud finden, welcher den Geiſt des Chriſtenthums be⸗ 
jeichnete, gern der Aufgabe ausweichen möchte, über das 
Weſen des Chriſtenthums und feinen Unterfchied in ber 
Philofophie mich zu erklären. Wenn nun auch hierim 
fein genauer Ausdruck meines Gedankenganges in jener 





580 Ritter 


Bevorwortung liegt, fo muß ich Doch eingefichen, daß ic 
nicht eben vafch zu der Erflärnug über das Weſen oder 
den Geiſt bed Ehriftenthumd mid gewendet habe. Bid 
rafcher als ih iſt Baur, und lüme es bei foldhen Sachen 
anf einen fchnellen Entfchiuß nnd ein fchuellee Wort au, 
wie unbedenklich würde ich ihm das Felb räumen mäflen. 
So ſchnell if er (S. 80) mit feiner Erklärung fertig, das 
Ehriſtenthum fey wefentlih die abſolute Dffenbarung, 
weiches daranf beruhe, daß Gott ſelbſt Menfch gewer- 
den in ihm. 

Sehr gut. über folten wir nicht hier ein glänzen 
des Beifpiel von jenen Formein haben, vor weichen ic, 
wie Baur hätte bemerfeu Tönnen, von vorn herein mid 
verwahrt. habe, als könnten fie genügen, den Geiſt des 
Ehriftenthums auszubräden? Ich meine vor jenen For- 
mein, weiche oft nur halb verkandene Worte an bie 
Stelle des Begriffe fegen, oder, wenn es hoch kommt, 
nm eine begel’fche Kormel zu leichterer Berflänbigung 
zu gebrauchen, für das GoncretsAllgemeine dad Abſtract⸗ 
Allgemeine geben, durchaus würdig jener Phitofophie, 
‚weidye beim Aligemeinen Reben bleiben und das Beſon⸗ 
dere verfchmähen fol, 

Daß die Erklärung Baur’d zu der zweiten Urt der For: 
mein gehöre, daran kaun Bein Zweifel feyn, wenn man bie 
Aufgabe fennt, an weiche ich nur mit ber Erinnerung ge 
gangen bin, daß fie nicht vollſtändig ſich Iöfen laſſe. 
Das Ehriftenthum ift eine Bberfinnlich waltende Macht, 
welche vor mehr ald achtzehn Jahrhunderten fich fühlbar zu 
machen begonnen und ſeitdem Religion, Sitten, Familien⸗ 
weien und Staat umgeflaltet, die Kirche gegründet, in 
Kun und Wiſſenſchaft einen neuen Geil gebracht hat. 
Baur ſeibſt ſagt, es habe dem Bewußtfeyn der Menſch⸗ 
beit einen eigenthümlichen Charakter gegeben und die 
Philoſophie nmgewandelt. Und die Bedeutung dieſes 
CEhriſtenthums follte in jenen abfiracten Formeln von ab⸗ 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf der hriftl. Philoſophie. 581 


foluter Offenbarung und vom Werden Gottes im 
Menſchen genügend ausgedrückt feyn? Nimmermehr. 
‚ Dergleihen Ausdrüde mögen genügen, um eine vorläu⸗ 
fige Vorſtellung vom Ehriftenthume gu geben, das belebende 
Bewußtſeyn, bie Kraft feines Geiſtes theilen fie nicht mit. 

Ich behanpte darum nicht, daß fie falſch wären. 
Es läßt ſich bei ihnen vielerlei denken; die Ausdrücke: 
abfolut, Offenbarung, Gott, Menfch, find bekannt, aber 
auch vieldentig; der Eine denkt fich dabei etwas Anderes 
als der Andere; es würde ſich viel darüber Rreiten lafr 
fen, wer ihre Bedeutung richtig und ob irgend einer 
fie vollſtändig gefaßt hätte. Aber daß fie und nicht far 
gen, wie das Chriſtenthum im Befondern gewirkt, was 
ed ald das wahrhaft Göttliche ins Menfchen hervorge⸗ 
bracht, wie es bie wahre Lehre entwidelt, das Leben 
umgefaltet habe, kann Niemand fich verbergen und das 
ber kann auch Niemand in diefen Formeln einen genüs 
genden, erfchöpfenden Ausdruck für dad Weſen bes 
Chriſtenthums zu befigen meinen, es müßte denn feyn, 
daß er das Befondere verachtete und am Abftract-Allges 
meinen fein volled Genuge fünde. 

Ich fage auch nicht, daß folche Formeln unnüg wä⸗ 
ren. Bielmehr babe ich ſelbſt ähnliche Formeln aufge 
fncht, weil ich ihren methodifchen Werth und ihre Nothr 
wenbigfeit wohl begreife. Nur iſt mit ihnen immer nur 
der erſte Schritt zur Löfung der Aufgabe geſchehn, und 
was ich von der Unmöglichleit ihrer völligen Löfung 
gefagt habe, wird dadurdy nicht im Geringften erfchüttert. 
Denn was das Chriftenthum in feiner ganzen heilſamen 
Wirkſamkeit für die Menfchheit feyn fol, das, meine ich, 
iR bis jetzt zu Reiner Zeit und in feines Menfchen Seele 
offenbar geworden. Noch immer ift feine Heildorbnung 
in Streit gewefen mit den Mächten des Böfen und nur 
einen Theil defien, was es im Leben und in ber Wiffen» 
Ihaft vermödhte, hat es bisher und zeigen können, ein 





582 Kitter 


anderer Theil deffelben liegt noch verborgen in ber Zus 
kunft. In der Offenbarung ber befondern Zeiten wer: 
den wir Daher auch.erwarten müflen, daß fih uns allmäh: 
lich die ganze Bedeutung des Ehriſtenthums enthällen 
werde, vorläufig aber mögen wir und begnägen, in ab» 
firacten Formeln fo viel als möglich zuſammenzufaſſen, 
ale was der chriftliche Geift fi) und bisher offenbart hat. 

Stellen wir aber ſolche Formeln auf, fo mögen wir 
wenigften® dafür forgen, daß fie richtig verſtanden wer 
den und nicht ber erſten von den oben bezeichneten Ar 
ten angehören, welche nur halb verftandene Worte an 


die Stelle bes zu erflärenden Begriffs ſetzen. Wie leicht 


gefchieht es nicht, daß tönende, aber dunkle Worte für 
Gedanken gelten follen, Kormeln, welche mehr der Leber: 
lieferung als eigenem freien Berfländnifle angehören, 
zur Erllärung von Begriffen dienen follen. Die Ger 
fchichte der Meinungen, der Dogmen weit davon unzäh: 
lige Beifpiele auf. Aber Baur wirb vor diefem Fehler 
fih gehütet haben, er, welcher in den Dogmen ber Kir⸗ 
chenväter und Scholaftifer nur eine Selaverei des Gei⸗ 
ſtes fieht und das Bilden und Erklären dieſer Dogmen 
nur mit der Arbeit der Penelope zu vergleichen weiß (S. 57). 
Wenn man nur nicht manchesmal ſchon gefehen hätte, 
daß die, welche gegen Abhängigkeit vom allgemein ver: 
breiteten Dogma waren, um fo fchmählicher in ben Baus 
den eined befondern Schuldogma lagen. 

Mich natürlih muß eine Furcht befallen, daß es 
mit Baur fo beftellt feyn möchte, da er meben feinen 
Formeln die meinigen nicht anertennen will. Seiue Aub- 
drüde, daß Gott ſelbſt Menſch geworden und fo fid 
uns abfolut offenbart habe, fo nahe fle dem gewöhnlichen 
Dogma fiehen, fo fehr bedürfen fie auch einer näheren 
Erklärung. Für die philofophifche Verftändigung wenigſtens 
bieten fie wenig oder nichts dar. Daher mußte ich andere 
Ausdrüde an ihre Stelle fegen, wenn ich zeigen wollte, 


\ 


üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chrifll. Philofophie. 583 


was bie Philofophie durch dad Ehriftenthum gewonnen 
habe. Daß aber meine Kormeln nicht daſſelbe ausfagen 
wollten, was jene dogmatifchen Formeln, wenn fie richtig 
verftanden werben, davon müßte ich noch durch befiere 
Gründe überzeugt werden, ald Banr vorbringt. 

Sn meinen Kormeln habe id an die Berbeißungen 
des Chriſtenthums mich gehalten, die Verheißungen dee 
ewigen Lebens oder der ewigen Seligfeit, und habe 
ansdrädlicdh hinzugeſetzt, daß in ihnen auch bie Bollens 
dung aller Dinge und die Befreiung von allem Uebel 
eingefchloffen ſey. Baur bagegen behauptet (S. 37.), 
dieg wären Beſtimmungen, welche zum Begriffe der Reli⸗ 
gion Aderhaupt gehörten und alfo das fpecififche Weſen dee 
Chriſtenthums nicht ausbrüden könnten. Abgeſehen da: 
von, daß in der abfoluten Offenbarung ja wohl liegen 
müßte, was in allen befondern Dffenbarungen liegt, möchte 
ed ihm auch ſchwer werden, zu beweifen, was er behaups 
tet. Denn es iſt ziemlich bekannt, daß manche Religionen 
von der Berheißung des zukünftigen Lebens faſt gar nichts 
wiffen, andere daſſelbe nur als ein zeitliche unb unvoll⸗ 
fommenes uns. hoffen lafien, noch andere ed nur mit 
der Aufhebung unferer Perfon, alfo nicht für und vers 
ſprechen. Nur das Ehriftenthum verheißt und, daß wir 
voffommen werben follen, wie unfer Bater im Himmel 
vollfommen ift, und dieß habe ich auch bisher für die Beben» 
tung ded Gates gehalten, daß es die abfolute oder voll, 
tommene Offenbarung fey, und ‚Daher geglaubt, daß meine 
Formel mit der von Baur aufgeftellten auf daffelbe hin- 
anslaufe, nur daß ich es für uunsthig hielt, die Bezie⸗ 


bung der cheifllichen Berheißung auf Ehriftus hinzuzu⸗ \ 


fügen, weil fie nur einen Eirkel in der Erklärung abger 

ben würde. Sollte dagegen Baur in der vollfommenen 

Offendarung nicht bie Verheißung des ewigen Lebens 

und den Anfang feiner Verwirklichung, oder follte er in 

ihr mehr, die Verwirklichung ſelbſt fchon ausgeführt 
Theol, Stud, Jahrg, 1847, 40 


584 Slitter 


finden, fo würbe ich im erften alle fagen müflen, daß 
ihm der Begriff der abfoluten Dffenbarung eine leere, 
unverflandene Kormel geblieben fey, im andern Falle, daß 
er einen falfchen Begriff von ihr habe. 

Daß Irrthumer oder Unklarheiten über dieſen Punkt 
bei ihm obwalten, darin kann es mich nur beſtaätigen, 
daß er Aber bad Verhältniß ber chriſtlichen zur vorchriſt⸗ 
lichen Denkweiſe mancherlei Anßert, was zwar nicht neu, 
aber verworren und einfeitig ifl. lieber diefed Berkält 
niß muß man vor Allem ſich verkändigt haben, wenn 
man den Unterſchied zwiſchen chriftlicher und vorchriftli⸗ 
cher Philoſophie feſtſtellen wii, 

in meiner Geſchichte der Philofophie habe ich andr 
einandergefeßt, warnm ich Auſtand genommen, bie Ph 
loſophie der alten Völker heidniſche Philoſophie zu nen, 
nen. Es beruht dieß weſentlich Darauf, daß die Philo⸗ 
ſophie zur heidniſchen Religion ein viel weniger inniges 
Verhaͤltniß hat, als zur chriktlichen, wie dieß Leicht bes 
greiftich ft, wenn man bedenkt, daß jene in den JIrrthü⸗ 
mern des Polgtheismus verſtrickt war, biefe Dagegen 
den wahren Gott und fein Verhältniß zur Welt keunen 
lehrte. Deßwegen ſtand die alte Philoſophie faſt beſtän⸗ 
"Dig in einem offenen oder verdeckten Streite mit dem 
Volkoglauben und entwidelte ſich auch erſt in ben Zeir 
ten, als der alte Glaube feine probuctioe Kraft, welche 
er in der Erfindung religiöfer Mythen bewiefen hatte 
au verlieren und damit fich aufgulöfen begann. Diefem | 
Drocefie der Auflöfung angehörig, hat die Philoſephie 
ſelbſt nicht wenig dazu beigetragen, ihn gu fördern, nad 
ift beßwegen auch von den Kirchenvätern als Zeugin 
der Wahrheit aufgernfen worden und wir dürfen fie mit 
Recht als eine der weltgeſchichtlichen Mächte betradıten, 
welche das Chriſtenthum vorbereiteten. Uber dennoch fleht 
fie nicht auf dem Standpunkte des Ehrikenthums, wel 
cher eben erſt durch eine innere Umkehr des Menſchen 








— 


üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 585 


gewonnen werben kounte, fondern gehört nur den Ueber⸗ 
gängen aus der heidmifchen in die chriftliche Deutweife 
an, Daher durfte ich wohl fagen, baß fie noch befchränft 
fey durch Die religiöfen VBerurtheile des Alterthums, und 
es liegt hierin fein Widerſpruch, wie Baur (S. 34.) fagt, 
mit meiner Annahme, daß fie bemüht war, von jenen 
Borurtheilen ſich Iodzmarbeiten, und im Streite gegen bie: 
felben ſich entwickelte. Wenngleich die alten Philofophen 
den Polytheismus befämpftien und nur einen höchſten 
Gott zuliegen, fo waren fie doch nicht abgeneigt, Mittel: 
götter auzunehmen und nur ein vermittelte Verhältniß 
des Menfchen oder wenigſtens feines Körpers zu dem 
höchſten Gotte anzuerkeunen; wenngleich fie nicht mehr 
meinten, daß die Götter neidifch wären, fo wagten fie 
doch nicht zu behanpten, daß Gott in der Welt feine 
volle Herrlichkeit offenbart habe; -fie meinten wohl, er 
wäre allmächtig, aber doch nicht im Stande, ben UnvoRs 
tommenheiten der Welt abzuhelfen. 

Auf alle diefe Punkte, fee ich num aber, legt Baur 
kein Gewicht; zum Theile beftreitet er fie fogar. In meis 
uen Bemerkungen über die Lehre des Arius habe ich 
audeinandergefeßt, daß fie wefentlich auf die Vorſtellungs⸗ 
weife ber alten Philoſophen zurüdgehe, welche annoh⸗ 
men, ber oberfie Bott, ein volllommenes Weſen, könne 
fih nicht verunreinigt haben mit ber Hervorbringung 
eines fo unvolllommenen Dinges, wie biefe finnliche 
Melt fey, und welche deswegen Bildung und Regierung 
ber finnlichen Welt niedern Göttern, Göttern zweiten 
Ranges, übertrugen. Baur fragt mich Dagegen (5.102.), 
welche Heiden fi zu dem Gedanken eines folchen ober 
Ren Gottes erhoben hätten, indem er dafür hält, daß 
diefe Idee und die daraus hervorgegangene Lehre der 
Alerandriner vom Adyog nur durch Vermittlung der alts 
teſtamentlichen Bottesidee entflanden wäre. Diefe Frage 
klingt mir in der That fjeltfam und räthfelhaft. Denn 

40° 


586 Ritter 

id kann ed nicht Über mich gewinnen, meinem Geguer 
eine Unwiſſenheit zuzutrauen, welche gar gu fchälerhaft 
wäre, weil fie den Platon und bie ganze Reihe der Leh⸗ 
ren vergißt, welde, vow ihm in verfchiedener Geſtalt 
andgegangen, zwifchen den oberften Bott untere Götter 
oder die Ideenwelt, oder die Weltfeele, oder die Seelen 
ber Geſtirne eingefchoben haben, nm durch deren Bermitte, 
Inng die Welt bilden zu laffen. Kaum daß Banr biefe 
allbefannten Dinge im Eifer der Polemik einen Angen» 
blick vergefien haben follte, kann ich mir denken, und 
doch, wozu konnte allzu großer Eifer nicht verleiten? 
Denn fonft, ſollte man glauben, würde Baur doch wohl 
bemerft haben, daß die Lehre vom Adyog, wie fie Phi⸗ 
Ion vorteug, zwar ihre Anknüpfungspunkte auch im 
4.8. fand, aber nicht miuder mit der fpätern Geſtaltung 
des Heidenthume, welche ben Polytheismus durch den 
oberfien Gott der Philofophie zu ergänzen fuchte, im Zur 
fammenhange ſtand. — 

Oder ſollte Baur vielleicht jenen oberſten Gott 
der Philoſophen für keinen rechten Gott zu halten ge⸗ 
neigt ſeyn ? Einige feiner Aeunßerungen könnten zu die⸗ 
fer verzweifelten Annahme verleiten, obwohl die chriſtli⸗ 
chen Lehrer der erften Jahrhunderte und felbft Paulus 
von einer folchen Uuterfcheibung des philofophifchen Bots 
te6 und des Gottes bes Ehriften nichts wiſſen. Gchon 
die Form feiner Frage, welche Heiden zu der Idee eines 
ſolchen oberften Botted fih erhoben hätten, Tönnte 
den Berdacht einer folchen Reigung erwecken. Noch 
mehr beftärtt in ihm die Aenßerung (S. 44 f.), daß erſt 
der lintergang des Außern Lebens, wie es in der alten 
Zeit geblüht hatte, zur Zurüdziehung des Geiſtes in ſich 
geführt und dadurch bie Wiedergeburt hervorgebracht 
habe im Umfchwunge and ber Subjectivität in das Ob⸗ 
jective, im Umfchwunge zur Objectioität ber abfolnten 
Gottesidee. 


t 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 587 


Wir müflen etwas weiter ausholen, um dieſe Ans 
fiht Baur’s zu verfiehen und zu prüfen. Seiner Meis 
nung nach wäre es, wie er fich zuweilen ausdrädt (S. 
64.), in der alten Philofophie nie zum eigentlichen Bruche 
zwiſchen Subject und Object, Geift und Natur gekom⸗ 
men; doch ift dieß freilich nur eine von den unklaren 
Darſtellungen feiner Gedanken, welchen wir oft begeg» 
nen; wie wir aus anderen feiner Aeußerungen fehen, 
wi er nur behaupten, zum Bruche zwifchen Geift und 
Natur wäre ed. wohl gefommen, aber nicht zur Bers 
föhnung zwiſchen beiden, welche nur dadurch hätte ge» 
wonnen werben können, daß bie Ratur dem Geifte uns 
terworfen worden; aber genug, auch bei diefem unei⸗ 
gentlichen Bruche hätten die alten Dhilofophen zur Idee 
Gottes als des abfoluten Geiſtes fich nie erheben ‚kön 
nen, vielmehr trüge ihre Lehre auch in ihrer reinften 
Geftalt immer noch den Charakter einer Naturphilofophie 
an ih (S. 66.). Deßwegen im Bewußtfeyn ihrer Un⸗ 
fähigkeit, den Gegenſatz zwifchen Geift und Natur zu 
übetwinden, wäre ihr zuleßt nichts übrig geblieben, als 
die Zurückziehung des Subjects in fich felbft, in feine 
alles Objective aufhebende, inhaltsleere Subjectivität, 
womit fie am Ziele bed von ihr durchlaufenen Weges 
gewefen fey (5. 64). Wenn wir ed nicht anderswoher 
ſchon wäßten, fo fönnten wir es (S. 43.) erfahren, daß 
mit diefem Ziele der griechifchen Philofophie der Step» 
ticismus gemeint ift, in deſſen Leugnung aller objectiven 
Erkenntniß Denken und Seyn, Subjectived und Objec⸗ 
tives gänzlich auselnandergefallen wären, womit die 
alte Philoſophie in der Subjectivität ihres Standpunftes 
sulegt in ſich felbft fich aufgelöft hätte. Zu unferm Trofte 
wird alddann noch hinzugefeßt, daß biefer Skepticismus, 
weicher nach ber gewöhnlichen Anficht nur der Verfall 
der griechifchen Philofophie gewefen wäre, vielmehr ale 
die Epoche einer neuen Form des Bewußtfeynd, ber Um⸗ 
ſchwung bes Geiſtes aus der Subjectivität bes Bewußt⸗ 


988 Ritter 


ſeyns in die Dbjertivität des Seyns betrachtet werben 
müßte und daß aus dieſem geifligen Proceſſe das größte 
Refultat, das Ehriftenthum ſelbſt, hervorgegangen wäre, 

Wir hoffen, Berzeihung zu erhalten für die allerdings 
nicht fehr erquidlichen Irrwege, Behauptungen und Leng 
nungen, durch weldhe wir unfere Lefer haben führen 
mäffen, wenn fie nun mit uns diefed erfreuliche Ender⸗ 
gebniß erreicht haben. Freilich Bruch und Nicht Brud 
von Subject und Object, von Geil und Natur, ‚Feine 
reine Geiftesphilofophie, fondern der Charakter einer 
Naturphilofophie, aber endlich Alles in Gubiectiwität, 
db. h. in Geiſt, aufgelöflt und dennoch nicht ben reinen 
Geiſt gewonnen, das find Winkelzüge, welche und wohl 
über Die Sicherheit unferer Bahn irre machen könnten; 
aber wer wird nicht folhe Dämmerungen ſich gefallen 
laffen, wenn er nur zuletzt durch das überrafchende Licht 
des Gedanfend, daß aus dem Skepticismus das Ehrir 
ftenthum hervorgegangen fey, fein Auge eranidt fieht? 

Uns könnte die Frage einfallen, welcher Skepticis⸗ 
mus gemeint ſey, der pyrrhonifche, der neunfadenifche 
oder der erneuerte, für deffen Bollender Sertas Empi: 
ricus gilt; — wahrfcheinlich meint Baus doch den lebte 
ren, auch hierin Hegel’d Anweifung folgend; auch ent 
halten wir und der Frage, wie er in diefem alle die 
Entftehung des Chriftentbums aus dem Gtepticidmus 
chronologifch rechtfertigen könne; der Fleine Anachronis⸗ 
mus von 200 Jahren würde in fo großen Rechnungen, 
wie er fie mit der Weltgefchichte abhält, kaum der Rebe 
werth ſeyn; er würde auch vielleicht irgendwie, den Step» 
ticismus verfrühend oder dad Chriſtenthum verfpätend, 
jene 200 Jahre eingurechnen wiflen; foridera nur Die 
Hanptfache macht und Sorge, ob der Skepticismus eine 
folche weltgefchichtliche Wichtigkeit behaupten könne, wie 
fie Baur ihm zuſchreibt. ’ 

Richt ohne Gewicht für die vorliegende Frage wird 
es feyn, daß der Skepticismus keineswegs zuerft im bem 


üb. b, Begriff u. d. Berlauf der hriftl. Philofophie, 589 


Seftalten, welche er zwei Jahrhunderte vor und zwei 
Jahrhunderte nach Ehriſti Geburt annahm, unter dem 
Griechen auftrat. Schon um ˖die Zeiten des Sokrates 
hatten die Sophiften einen ähnlichen, nur noch fiärler 
ausgeprägten Skepticismus verbreitet. Alſo war aud 
damals fchon ber Bruch zwilhen Subject und Object 
eingetreten, welchen Baur als das reiffte Ergebniß der 
alten Philofophie zu betrachten fcheint. Nach ihm hatten 
fi aber erft bie reifften Früchte der griechiichen Willen» 
(haft in der folratifhen Schule ergeben, weldje jenen 
Bruch nicht etwa voruchm überfah, fondern zu über: 
winden wußte, wir wollen nicht fagen ganz, aber doch 
theilweife. Man follte meinen, dieß wäre ein deutlicher 
Beweis, daß der Skepticismus nicht Die äußerſte Spitze 
befien gewefen, was die griechifche Philoſophie zu leiften 
wußte. 

Freilich hatte der. Skepticismus der Sophiften nicht 
buchdringen können. Wie wichtig er auch für Die grier 
chiſche Befchichte feyn mag, eine welthiftorifche Bedeu⸗ 
tung im vollſten Sinne des Wortes wird man ihm doch 
kaum zugefichen können. Aber hat denn ber fpätere 
Skepticismus eine folche in Anfpruch zu nehmen? ift er 
durchgedrungen, auch nur in feiner Zeit? Bergeblich 
ſuche ich nach den Spuren, welche in der Gefchichte der 
menfchlihen Bildung darauf führen könnten. Durchge⸗ 
derungen in ihrer Zeit, herrfchende Dentweife geworden 
find die Lehren der Skeptiker weber vor, noch nad 
Chriſti Geburt. Die neueren Akademiker, fle haben nur 
eine därftige Entwidelung, eine fehr befchräntte Schule 
gehabt, über deren gänzlidhe Unbedeutendheit für das 
keben, über deren GSchulflügelei Polybins mit Recht 
Motte. Uber dennoch ift ihre Schule noch eine glän» 
sende gegen die Schule der eigentlichen Skeptiker zu nen» 
nen, welche fat Fein für das Allgemeine bedeutender 
Schriftkeller des Alterthums erwähnt. Es waren einige 
Aerzte, welche fich den Anfprüchen einer voreiligen Spe⸗ 


590 Kitter 


ceulation in den Naturwiſſenſchaften entgegenfehten, welche 
hauptfächlich die empirifche Methode in ihrer Kunft ge 
gen den Dogmatismus anderer Aerzte zu vertheibigen 
fuchten und nebenbei auch die Hebungen ber praktiſchen 
Kunſt gegen die Theorien der Mathematik, der Gramma⸗ 
tik und ber übrigen fieben freien Künfte durch ihre Zwei, 
fel in Schuß nahmen; diefe belegt man wit dem Namen 
der fleptifchen Schule. Weber die Philofophen oder Ge: 
Iehrten der Griechen und der Römer, mit Ausnahme 
einiger Aerzte und derer, welche über bie philofophifchen 
Secten fchrieben, noch die chriſtlichen Theologen haben 
es für werth gehalten, ihrer groben Einwürfe gegen bie 
Wiffenichaft, weiche fie von Anderen meiſtens zufammen- 
Roppelten, nur Erwähnung zu thun. Wir würden von 
ihnen fo viel wie gar nichts wiffen, wenn nicht bie 
Schriften eined Arztes ihrer Secte von fehr befchränkten 
Gaben, des Sertud Empiricus, ſich erhalten hätten, 
weldye man zu der Zeit bewunderte, ald alle erträglide 
oder fchwer verfländliche Werte des Alterthums für 
Meifterwerke galten und als überdieß der Skepticismus 
befonder® beliebt war, und welche nun Hegel und Baur 
für den Gipfel der alten Weisheit, für ihr letztes und 
höchſtes Product, für ihren Außerften Fortſchritt halten. 

Zu den Behauptungen diefer Art hat nur Die vers 
kehrte Anſicht führen können, daß in der Wilfenfchaft 
das Leute immer bad Beſte ſeyn müßte. Aber wollten 
wir dieſe Anficht auch gelten laffen — und ein gewiſſes 
einfeitiged Recht dürfte fie wohl mit Beſchränkungen in 
Anfpruch nehmen —, fo würde dennoch die daraus ge 
zogene Beurtheilung bed Skepticismus für durchaus 
partelifch gelten müflen. Denn man läßt dabei die philo⸗ 
fophifchen Erzeugniffe, welche dem Skepticismus gleid: 
zeitig find, ganz unbeachtet. Man will Alles im einer 
Spige fehen, was nur in einer Kläche verläuft. Gleich⸗ 
zeitig den Sfeptifern waren die Vorläufer der Neu⸗Pla⸗ 
toniter, unter welchen Rumenius faft Alles befaß, was 








üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 39 


fpäter dem Plotin zum Ruhme gerechnet wurde, Doc 
darf ich Baur gegenüber mich wohl nicht auf biefe Män: 
ner berufen; er wird fagen, wie bem Philen und ben 
Keu » Dlatonitern hätten fih auch ihnen jübifche und 
wohl gar chriſtliche Denkweiſen beigemifcht; nicht ganz 
mit Unrecht, obwohl ich meine, daß bie neuen Erzeug⸗ 
niffe, welche ihre Lehre brachte, noch immer bem gries 
hifchen Alterthume angehören. Doch um fireitiged Land 
fo lange ald möglich zu vermeiden, berufe ich mich lies 
ber anf den Stoiciömnd, welder vor und noch zwei 
Jahrhunderte nach Chriſti Geburt die herrfchende Lehre 
unter Griechen und Römern war, bie theologifchen Ideen 
bed Heidenthums umgeftaltete, andı der fpäteru Zeit in 
neuen Gedanken ſich anzupaflen wußte, zur Bertiefung 
des Geiſtes in ſich antrieb,' dem fittlichen Bewußtſeyn, 
fo wie eine allgemeinere Richtung, fo auch eine innigere 
Färbung gab, Biel ſtärker haben diefe ftoifchen Lehren 
auf die Borbereitung der Geifter für das Chriftenthum 
eingewirkt, als der bürftige Skepticismus; überall bes 
gegnet man ihnen, bei dem Philon, bei den Bnoflifern, 
bei den Kirchenvätern bid auf ben Origenes herab und 
ihn mit eingefchloffen, während über die fleptijchen Ge⸗ 
meinpläge bei allen diefen tiefes Schweigen ift. 

Wenn man aber den Einfluß der Stoiter auf die 
Vorbereitung für die chriftliche Dentweife in Betracht 
sieht, fo ift es nicht allein eine negative, fondern auch.eine 
pofltive Einwirkung, was uns entgegenteitt. Und eben 
hierin beruht der Irrthum Baur's, daß er in der alten 
Dhilofophie nur eine negative Vorbereitung finden will. 
Aus feiner eigenen Auffaflungsweife fann man ihm dars 
thun, daß nicht minder pofitive Erregungen in ihr 
lagen. 

Nicht mit Unrecht bemerkt er (S. 44.), baß Juden⸗ 
tbum und Heibenthum dem Particnlarismus huldigten 
und erft das Chriftenthum, indem es zur Univerfalität 


592 | Ritter 


fi erhob, die abfointe Religion verbreitete, Aber es 
hätte ihm hierbei einfallen follen, daß ſchon ber Steifer 
‚ Zeuon in fosmopolitifcher Beflunung vom Particularis⸗ 

mund ſich lodfagte, auf die gleichmäßig waltende, gerechte 
Herrſchaft eines Gottes über alle Völker dringend, und 
daß auf ihn Philon uud Plutarch in derſelben Geſinnung 
ſich fästen, 

Wenn ferner Baur (5. 44.) fchildert, wie in der 
alten Welt and dem Lintergange des äußeren Lebens, 
aus der Bernidtung alles Rationalen und Individnellen, 
and der ganzen ungöttlichen, unflttlichen und vechtlofen 
Welt, wie fie bei Entftehnng ded Chriſtenthums gewefen 
ſeyn fol, der Geift immer mehr fich in ſich zurückgezogen 
babe, um burch biefe Berinnerlichung und Vertiefung in 
ſich ſelbſt fich zu verjüngen, fo hätte er allerdings wohl 
ben Skepticismus in feiner allgemeinften Bedeutung ale 
ein Ergebniß jenes verzweifelten Zuſtandes betrachten 
mögen, aber er hätte nicht vergeflen follen, daß bie por 
fitive Seite dieſer Zurüdziehung in fi am ſtärkſten und 
mit dem vollfien Bewußtſeyn von ben mweueren Gtoifern, 
einem Muſonius, einem Epiktet, einem Marc Aurel, and 
geſprochen worden ift. 

Wie wenig aber jene Erflärungsweife aus der ne 
gativen Richtung der Skeptiker genüge, wirb man erſt 
recht gewahr, wenn man fragt, warum benn bie Ber: 
sweiflung der alten Welt, welche Baur fchildert, einge, 
treten fey. So völlig, wie er ed ausſpricht, war doch 
nicht alles Gute und Schöne vernichtet, ale das Chriſten⸗ 
thum zum Troſte der Welt erfchien, ſondern in feinen 
angeführten Säben ſind bie rebnerifchen Uebertreibun 
gen nicht gu verkennen. Noch blühten Fünfte, Willen: 
fchaften, Gemeinweſen; bas Privatrecht bildete fich erſt 
jest recht gründlich aus; im Genuſſe biefer Dinge hätte 
man ſich wohl bahinhalten könuen. Die Berzweiflung 
entipringt weniger aus bem Mangel, ale aus dem Be 


üb, d. Begriff u. b. Verlauf ber Hriftl. Philofophie. 393 


wußtfeyn eines bringenben, unabweislichen Bedürfuiſſes, 
weiches man nicht zu befriedigen weiß. Finden wir nun 
bei den Skeptikern ein foldyed Bewußtſeyn auch nur mit 
einiger Lebhaftigkeit ausgeſprochen? MWenigſtens beim 
Sertus Empiricus regt fih davon nichts. Vielmehr 
möchte er den Menfchen auf die dürftigkte praktiſche Be: 
friedigung feiner finnlichen Beduͤrfuiſſe befchränten, ihn 
überreden, damit zufrieden zu feyn, dag bie Erfcheinuns, 
gen ihm erinnernde Zeichen darbieten, an welchen er 
ſich halten Pünnte, um die Abhälfe der drohendften Uebel 
zu finden. Dagegen zeigen unter ben Philofophen dieſer 
Uebergangszeiten die Stoifer vornehmlich das Iebenbigfie 
Bewußtfeyn der geiftigen Bebürfuiffe, deren Befriedigung 
wir fuchen follen. Es ift ihr Ideal des Weifen, welches 
fie aufregt, diefed Weiſen, in weldhem man nicht mit 
Unrecht ein Borbild Ehrifii gefunden hat, wie es bie 
Meffiasidee bei den Juden war. Sie möchten dieß. Ideal 
verwirklichen , indem fie und an die Tiefen unſeres Geis 
fled erinnern, an den Gott in und verweilen, welcher 
über alle Schläge des Schickſals erhaben fey, in dem 
Bewußtfenn nnd dem Rathe der Borfehung lebe, Ges 
wiß, wenn feine Gehnfucht nach Ehriſto in der. Welt 
gewefen wäre, würbe Ehriſtus nicht in die Welt gekom⸗ 
men feyn; aber eine Sehnſucht nad ihm bat auch bie 
Heiden auf feine Ankunft vorbereitet. 

Und nun find wir wieder bei dem Punkte angekom⸗ 
men, wo wir früher Baur's Behauptungen über die 
Gottloſigkeit der alten Melt haben fallen laſſen. Wir begreis 
fen es wohl, wie er die Meinung hegen kann, daß bie 
alte Philofopbie zu der Idee Gottes ſich nicht erhoben 
babe, wenn er ben höchften Gipfel ihrer Eutwidelung 
im Skepticismus erblidt. Er überfieht ihre poſitiven 
Ergebniſſe; nur anf das Negative, welches ihm die Bes 
dingung des dialektiſchen Fortſchreitens iſt, richtet er 
fein Auge, Sonſt würde er gefunden haben, daß dem 


594 Bitter 


% 


heibnifchen Alterthume fo wie bie religiöfe Sehnſucht nad 
dem wahren Gott, fo aud der Gedanke an ihn nicht 
gefehlt habe, ja er würde noch mehr gefunden haben, 
daß nämlich anch die Hoffnung und der Glaube auf und 
an eine Offenbarung diefed Gottes in den Heiden vor; 
handen waren uud baß dieſe Regungen des göttlichen 
Triebes in der menfchlichen Seele nur immer lebendiger 
geworben, wie im Judenthume, fo im Heidenthume, bie 
fie ihre Befriedigung gefunden. Das ift der Funken der 
Gottheit, der auch in der Finfterniß leuchtet, der Game 
bed Adyos, ber osspouarındg Adyos, beffen Begriff die 
Kiechenväter von den Stoikern entnahmen. 

In der That völlig kann and Baur biefen Zumten 
nicht verfennen. Er müht fich und winbet fich in dun⸗ 
Bein und gezwungenen Dhrafen, um die Behauptungen 
der Schule, an welche er glaubt, gegen feine beſſere 
Kenntniß der Thatfachen fiher zu fielen. Da läßt er 
fih (©. 45 f.) folgendermaßen vernehmen: „In ber un 
wittelbaren Einheit des Seyns und ded Denkens, des 
Dbjectd nnd Subject, die man mit Recht ale bie 
Unbefangenheit der griechiſchen Philofophie bezeichnet, 
verhielt fie fidy and; zur Idee Gottes nodj völlig voraud: 
feßungslod. Es war vor ihr ucch zu feiner ſolchen 
Trennung des Subjeetd und Objects gelommen, daß die 
dee Gottes dem Bewußtſeyn des Subjects gegenüber 
dad fchledhthin gegebene Object feyn Fonnte Was für 
bie chriſtliche Philoſophie das Erfte und unmittelbar Gr 
gebene ift, lag für bie griechifche immer erft am Enbe 
ihre Weges, wenn fie das Abfolute, auf das fie kam, 
um aus ihm als ihrem hödhften Principe die Einheit dei 
Denkens und des Seyns zu begreifen, nur ale Gott 
präbiciren konnte und ihm dadurch auch eine Beziehung 
anf das religiöfe Bewußtſeyn geben mußte.” Da erfahr 
sen wir denn zuleßt doch, daß wenigfiens am Ende ih- 
res Weges die griechifche Philofophie zur Idee Gottes 


N 








üb. d. Begriff u. d. Verlauf det chriftl. Philofophie. 595 


fam oder, wie bieß bier ausgebrädt wird, das Abfor 
Inte als Bott begreifen founte and nicht, wie es früher 
fhien, ganz ohne den höchften Bott blieb. Zmweibeutig 
aber bleibt ed in diefer Ansfage, ob hier von ber gries 
chiſchen Philofophie Überhaupt oder von ben einzelnen 
Syfiemen berfelben die Rede iſt. Jenes anzunehmen, 
ſcheint gwar bie ganze Haltung ber Stelle zu rathen, 
weil fie von der gefchichtlichen Entwidelung der griechis 
hen Philofophie handelt; aber das eingefchobene Immer 
fheint doch eine mehrmalige Wiederholung deflelben Pro⸗ 
cefled vorauszufegen unb daher für die zweite Annahme 
u ſtimmen, und überdieß, wenn das Erfte gelten follte, 
mußte da Baur feine Behauptung, daß der Skepticismus 
das Ende der griechiſchen Philoſophie ſey, wicht wieder 
vergeflen haben? Jedoch welcher Annahme wir auch fols 
gen mögen, richtiger find dieſe Säge wohl, als die vor, 
ber befprochene Behauptung, baß die griedifche Philoſo⸗ 
phie zur Idee eines oberiten Gottes ſich gar nicht erho⸗ 
ben hätte, aber falfch find fie doch. Falfch iſt jene Meis 
nung, um zuerſt die erſte Auslegung zu berückſichtigen, 
von der linbefangenheit ber griechifchen Philofophie, in 
weldher von der unmittelbaren Einheit des Seyns und 
bed Denkens andgegangen worden fey, ohne Bruch bes 
Enbjectd und des DObjertd, wie fie denn auch fogleidh 
von Baur felbft befchräuft werden muß, indem er zwar 
einen Bruch beider angibt, aber doch keinen folchen 
Bruch, daß bie Idee Gottes dem Bewußtſeyn bed Sub⸗ 
iectd gegenüber das fehlechthin gegebene Object hätte feyn 
können, eine Befchräntung, welde doch nicht ausreicht, 
weil, wie die Skeptiker richtig bemerkt haben, Elemente des 
Zweifeld durch bie ganze griechifche Dhilofophie hins 
durchgehen. Falſch if nicht minder die Meinung, daß die 
griechifche Philoſophie zur Idee Gottes noch völlig vors 
ausſetzungslos fich verhalten habe. Davon kann Baur 
fih Überzeugen, wenn er die Proceffe Über den Atheis⸗ 





396 Ritter 


mus der Philoſophen, wenn er bie Lehren bes Thales, 
ber Pythagoreer, des Herallit, ded Empebofles und wie 
vielen Anderer! überbenten, wenn er die Stellen des 
Ariſtoteles nachfehen wi, welche die philsſophiſchen Un⸗ 
terfuchungen bis anf die alten Theologen und Poeten 
surädführen. Er wird ans allen diefen Dingen, welde 
viel unummwundener ſich ausfprechen, als feine zweiden⸗ 
tigen Süße, abnehmen können, Daß ed nie eine Philo⸗ 
fophie gegeben bat, welche nicht mit theslogifchen Bor 
ansſetzungen zu fchaffen gehabt hätte. Gollte das ber 
Vorzug der hriftlichen Philoſophie feyn, was ſchen in 
den indifchen Lehren deutlich genug vorliegt? Raum mag 
ih unn noch Worte darum machen, daß die Behauptuns 
Banr’s and im Sinne der zweiten Auslegung falfch ſeyn 
würde. Denn wenn, wie gezeigt, die griedpifchen sicht 
anders als bie chriftlichen Philofophen von theologiſchen 
Boransfepungen ausgingen, fo hätten nur methobiice 
Nädfichten fie dazu beſtimmen können, wenn fie immer 
erft am Ende ihred Weges den Begriff Gottes aufge 
wiefen hätten; im Berborgenen würde er doch allem id» 
ven Philofophiren zum GOrnnde gelegen haben. Doch auch 
diefe Annahme IR unbegründet. Denn bie. Anorbuung 
der griedhifchen Syſteme, welche von ber kLogik zur Phy: 
ft und Ethik fortfchritten‘, ‚geftattet es nicht, ben Ges 
banken Gottes zu Ende ihrer Lchren zu fegen, ba er 
vielmehr in der Logik oder in der Phyſik feine Stelle ſin⸗ 
den mußte. 

Das Bisherige wird hinlänglich gegeigt haben, wir 
wenig die Yielbentigen Aeunßerungen Baur's das Richtige 
treffen. Was an ihre Stelle zu ſetzen märe und wie 
Baur's Meinungen zur Wahrheit ſich verhalten, wollen 
wir noch kurz anzudeuten verfuchen. Weit gefehlt, dap in 
der alten Philofophie, welche der, alten Dentweife nur 
entfprehen fonnte, fein Bruch des Gubjectd mit dem 
Dbjecte Rattgefunden hätte, war berfsibe vielmehr ſchon 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philofophie. 307 


im graneften Alterthume gefchehen unb von Anfang au 
in dee Philoſophie vorhanden und um fo fchärfer mußte 
er in ihr fi amsbräden, je mehr ihr die Verſoͤhnung 
bed Menfchen mit Bott und der Weir fehlte, und biefe 
ſollte ext das Ehriſtenthum bringen. Mit Gott und ber 
Welt fage ich, weil, ohme mit Bott ſich zu verfähnen, 
der Menfch mit ber Welt nimmermebr einig werden kann. 
In ihren Grfcheinungen herrfcht nmerbittlicher Streit, 
auf ihren tiefien Grand muß man zurädgehen, wenn 
man wit ihr in Frieden leben will. Wer aber mit Bott 
verſoͤhnt if, wird anch mit feinen Werken zufrieden 
ſeyn und wit der Welt, fogar wenn fie ihn anfeindet, 
in Frieden leben. Daher konnte erſt in der chriftlichen 
Philsſophie eine verfähnende Anſicht von allen weltlichen 
und göttlichen Dingen fi anebilben und ſelbſt in ihr 
konnte fie nicht fogleich in ficherer, ausgebildeter Geſtalt 
hervortreten, weil bie Anfichten ber alten Wiſſenſchaft 
noch lauge nach der Berbreitung bed Chriſtenthums anf. 
die wißfenfchaftlihe Denkweiſe ber Zeiten einen leitens 
den Einfluß ansübten. In ber alten Philoſophie dage⸗ 
gen war wohl eine Ahndung, aber doch wech nicht eins, 
mal eine Hoffunug des Friedens, viel weniger ein zu⸗ 
verfidktlicher Glanbe an bie Verſöhnung ber in der Welt 
Rreitenden Gegenſaͤtze. Jene Ahndung des Friedens jes 
doch muß man als ein wmefentliched Element ber alten 
Dentweife und ihrer Philoſophie anerkennen, weil auf 
ihr die Vorbereitung der Heiden auf das Chriſtenthum 
und ihre Empfänglickleit für bafjelbe beruht. In ihr bes 
wies ſich chen, daß im Gotzendienſte der göttliche Fun⸗ 
In im Dienfchen nur vwerfchättet, nicht erſtickt, nicht völs 
lig unwirkfam, vielmehr bemüht war, feine Umhüllung 
ju durchbrechen. Denn bie Gnade Gottes iſt auch im 
den Heiden noch lebendig. Die Arbeit des Geiſtes, weis 
her die Banden ded Heidenthums zu Durchbrechen bes 
mähs iſt, bewies fich nun eben in den Zeiten am maͤch⸗ 


598 ‘ Ritter 


tigſten, welche ber Vorbereitung des Ehriſtenthums vor: 
hergeben. Das find Zeiten des Uebergangs, in. welchen 
wenig Glängendes oder aucd nur Abgerundeted voll⸗ 
bradıt wurde, troß ihrer nicht unfenchtbaren Uirbeit, in 
welchen bagegen die Klage über die Uebel ber Welt al, 
gemein und bitter war. Da fommt der menfchliche Geik 
oft zum Spotte Über Ach ſelbſt, ja nahe an die Ber 
zweiflung, und ein Zug ber Entfagung auf das Bee, 
- welche man als den Zwed der Bernunft erfennt, aber 
doc, nicht zu hoffen wagt, ift über diefe Zeiten verbreis 
tet. Auch der Steptieiömug, in welchem Banr den Brad 
erft gefchehen läßt, anftatt zu ſagen, er habe ihn nur ohne 
Hoffnung auf Berföhnung und ohne Ahndung des Be 
dürfniffes einer folchen ausgefprochen, iR ein Zengniß 
dieſer Zeiten, Baur durfte ihm ald einem ſolchen feine 
Bedeutung fichern , aber er mußte beßwegen nicht in bie 
Irrthümer verfallen, welde er über ihn andfprict. 
Diefe find hauptfächlih doppelter Art. Auf ber einen 
Seite beruhen fie darauf, daß Baur den Bruch zwifchen 
Denfen und Object bed Denkens, d. b. zwifchen dem 
Menfchen und der Welt, weldher durch die ganze alte 
Philoſophie hindurchging, erfi im Skepticismns fich voll: 
ziehen läßt; auf der anderen Seite haben fie ihren Grund 
darin, daß er nur eine negative Vorbereitung auf dad 
Chriſtenthum in der heidnifchen Philoſophie anerkennen 
will, weil fie nur im Skepticismus liege. 

Man wird hieraus ermefien Tönnen, wie wenig bie 
Anſicht, welche Baur von ber alten Philofophie hat, 
bad Verhältnig derfelben zum Ghriftenthume zu beim 
men geeignet ift, und eben dadurch uuß ihm auch ein 
bedeutended Moment zur Schäbung bed Ehriftenthumd 
in feinem Berhältuiffe zur frühern Zeit entgehen. Der 
Bruch, von welchem wir reben, ift von Banr nicht gamj 
erichöpfend bezeichnet worden. Er kann im Allgemeinen 
als der Grund der Dentweife angefehen werden‘, welde 


üb, d. Begriff u. d. Verlauf d. chriftl. Philofophie. 599 


wir Dualidmns nennen. Dualismus aber im weiteften 
Sinne des Wortes geht durch die ganze alterthümliche 
Borftellungsweife hindurch; felbft im Judenthume findet 
er fih, nur nicht in theoretifcher,, fondern iu praßtifcher 
Richtung ausgebildet; denn der Particularismus, von 
welchem ſchon oben die Rede war, ſetzt praktiſchen Duas 
lismus voraus; bei den Inden iſt der Begenfag zwiſchen 
dem Bolle Bette und den Heiden der Ausdruck biefes 
Dualismus. Wenn nun in der parfifchen Religion die 
Spitze des Dualismus zu fehen if, fo muß man bagegen 
anerfennen, daß der Polytheismus der Griechen. ſchon 
eine mildere Form defjelben darftellt, weil bie Spannung 
des Gegenſatzes fih fhwächt, fo wie er über mehrere 
Glieder vertheilt wird. Auf eine foldhe Milderung , ja 
auf Ueberwindung deſſelben ging auch die griechifche 
Wiffenfhaft aus. Denn der Wilfenfchaft ift ja über- 
haupt dad Dringen auf Einheit natürlich, und fo ift 
auch die griechifche Philofophie ſogleich auf Monotheis⸗ 
mus gerichtet. Nur ift dabei ein dualiftifche® Ueberbleib⸗ 
ſel, welches von der griechiſchen Philofophie nicht Übers 
wunben werden kann, obgleich fie in einem fortfchreitens 
den Beftreben if, ed möglichſt zu befeitigen. Dieß fehen 
wir befonders an ben Lehren der Alten von ber Materie. 
Wir müſſen bei der Beurtheilung derfelden Davon aus⸗ 
gehen, daß der Gedanke, weicher dem materialiftifchen 
Dualismus der Griechen zum Grunde liegt, eine Befeitis 
gung der Härten des urfpränglichen Dualismus anfirebt. 
Deun wenn diefer einen Kampf entgegengefeßter Prin⸗ 
tipien feßt, fo fpricht er die volle Gewalt der Entzweis 
ung aus; diefe aber war fchon gebrochen, als bie künſt⸗ 
lerifhe Seele der Griechen den Gegenſatz unter den 
Prineipien fo auffaßte, daß auf die. eine Seite die Fünfts 
lerifch bildende Kraft des Geiftes, auf die andere Seite 
nur noch eine leidende Materie zu fichen fam. Hier bas 
ben wir eben bad, was Baur fordert, daß se Geiſt als 
Theol. Stud. Jabrs. 1847, 


600 Ritter 


das herrſchende Princip ſich erweiſen ſoll, und wir ſehen 
dewilich, daß die griechiſche Philoſophie fortſchreitend 
dahin ſtrebte, Dem Geiſte mehr uud mehr die Herrfſchaft 
zu gewinnen: Wenn auf dem Wege ber äfthetifchen An⸗ 
ficht der Dinge, welcher die Griechen vorherrfchend zu- 
gewendet waren, die endliche Berföhuung ber Begeufäbe 
häatte gewonnen werden können, fo würden fie bie GSrie⸗ 
den wohl gewonnen haben. Denn immer höher flrigert 
fih ihr Ideal eined künſtleriſch dildenden Geiſtes, immer 
tiefer ſinkt ihnen die Macht ber Materie herab. Hierin 
haben Platon und Ariſtoteles das Wichtigſte gethan, in⸗ 
dem fie die Materie aller Qualität entlleideren,, fo daß 
fie ganz der bildenden Gewalt bed Geiſtes unterwer 
fen werden konnte. ie drangen dabei bid zu bem Ge, 
danken vor, dab bie Materie nur das Nicht⸗Seyende 
fey; d. 4. nur em Princip blieb ihnen in Wahrheit übrig, 
das andere Prineip, welches die Wrühern und bie ger 
meine Borftelung: vorausgeſetzt hatten, verſchwand ihnen 
: anter den Händen, indem fie meinten, Daß ed mir bie 
negative Seite an dem Werte Bottes, an dem Ban 
des Weltalls, in weichem er feinen kuünſtleriſchen Geil 
verfünder habe, bedeuten konate und dürfte. Die Gpw 
ren des Dnalismus merkt man biefer Lehre freiticd in 
ihrer Form noch at; vom Dualismus if fie hergelom 
men, daher ſetzt fie ſcheinbar zwei Principien; wem fl 
aber erfiänt, dad eine fey nur das Nichts Geyende, die 
Beraubung an den weltlichen Dingen, fo könnte man 
wohl glauben, der Inhalt der Lehre habe dieſe Form 
&bermältigt und die duagaliſtiſchen Meile zu eines bloßen 
Sache der Darfielung gemacht. ber fo iſt es bed 
nicht völlig. Wenn die Meinung berrfcht, die Werke 
Gottes müßten eine -Beraubung in ihrer materiellen Ro 
tur an ſich tragen, als Werke der Kunſt müßten fie doch 
unter dem Künftler bleiben, fie fländen daher unte 
einer deſchränkenden Nothwendigkeit, welche ihre Bol: 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. hriftl. Philofophie. 601 


kommenheit nicht zuließe, fo wird man hierin nodı eine 
Nachwirkung des Dualismus erfennen müſſen, wie felten 
man auch dieſe Erfcheinungen in ihrem rechten Lichte 
erblit haben mag. Beim Platon find die Gedanken in 
Diefer Richtung noch fo mächtig, daß er, ihnen nachgehenb, 
nnter den weltlichen Dingen bie nieberen Grabe bee 
materiellen Daſeyns für unwürdig erllärt, unmittelbar 
aus der Hand des göttlichen Künftlerd hervorzugehen, 
und daher ihren Urfprung auf bie gewordenen Götter, 
die Seelen der Geſtirne, zurückzuführen für nöthig hält. 
In ähnlicher Weiſe drückt fich dieſer duakiftifche Gedanke 
beim Ariftoteled aus, wenn er die unregelmäßige Bewe⸗ 
gung unter dem Monde nicht unmittelbar vom Bewegen 
ded Himmels, fonbern von den allmählid, zum lnvolls 
fommneren herabfleigenden Himmelöfphären ableitet. Was 
nun noch die Stoifer betrifft, fo Tanı man es ihnen 
nachrühmen, daß fie die dualiſtiſche Form der Lehre übers 
wanden md, ohne die Kortichritte der fofratifchen Schule 
aufsugeben, doch zu der monetheiftifchen Lehrweiſe zu⸗ 
rückkehrten, welche fchon beim Beginne ber’ griechifchen 
Dhilofophte aus dem Polytheiomus heraus fich zu bilden 
gefucht Hatte. Doch gewannen fie ben: Gieg fiber die 
dbualiftifche Form nur dadurch, daß fla. Die Materie in 
Bott ſelbſt verlegten und fie ald deu Lebenskeim im ſei⸗ 
nem künſtleriſchen Gelfte betrachteten, welcher ihn aus 
fih felbft neue und neue Welten‘ zu bilden antriebe, 
Daß diefe Lehre nun dennoch ein dualiſtiſches Uebetbleib⸗ 
ſel im fi bewahrte, fann um fo weniger verfannt wer: 
den, je gewöhnlicher fie bei Alten und bei Neueren für 
baaren Dualidmnd gehalten worden if. Daher entſprach 
auch die Form ihrer Lehre nicht ihrem Inhalte, und man 
mag hierin einen der Gründe finden, weßwegen fle bem 
Skepticismus, welcher fich neben ihre in verfchiebenen 
Formen ausbildete, eine reiche Nahrung gab. NIE diefe 
verneinende Seite am den pofltiven Lehren der alten 
41* 








602 Ritter 


Philoſophie begeichnend, haben wir ihn anzuerkennen; 
den Bruch aber zwiſchen Menſchen und Welt, welder 
in der alten Zeit berrfcht, faßt ee nur oberflächlich, 
faft nur von theoretifcher Seite, und ift weit entfernt von 
der Ahndung, daß eine Leberwinbung deſſelben durch 
dad Streben der Bernunft nach ihrer Vollendung uns 
gebeten feyn könnte, 


— — 


II. Entwickelungsgang der chriſtlichen Philoſophie. 

Da wir, Baur und ih, Philoſophie der Alten und 
Shriftenthum in ihrem Berhältniffe zu einander fehr vers 
fihieden benrtheilen, fo iR es nicht zu verwunbern, daß 
unfere Anfichten über den Berlauf ber chriſtlichen Philo⸗ 
ſophie fehr von einander abweichen. Um nicht zu weit, 
läufig zu werben, kann ich nur einige Hauptpunkte her 
vorbheben, 

Drei Hauptperioden habe ich umterfchieben, Die 
erſte, welche Patriſtik und Schsolaſtik umfaßt, hat rine 
vorherrſchend theologiſche, die andere von der Wieder⸗ 
herſtellung der Wiſſenſchaften bis auf Kant eine vorherr⸗ 
ſchend weltliche Richtung; von der dritten, welche in 
unſerer neueſten beutfchen Philoſophie ihren Sitz hat, 
meine ich aunehmen zu dürfen, daß fie darauf ausgeht, 
die einſeitigen Richtungen Ber —— erſten Perioden 
aus zugleichen. 

Davon bin ih nun freikich weit entferat, meine Uns 
fiht über die dritte Periode als eine ummſtößliche be 
baupten zu wollen, Ich babe es nicht verſchwiegen, 
baß mir jedes allgemeine Urtheil Über eine Zeit, in deren 
Neigungen und Abneigungen wir noch verflodgten find, 
unficher und yarteiifch erfcheine. Aber ich weiß nicht, 
wie ich verfchulder haben möge, daß Baur mir vorwirit, 
nach meiner Anficht folge nur Einfeitigkeit auf Einſeitig⸗ 
keit, weil ed nun einmal fa fey, daß die eine Zeit dem Ue⸗ 





üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. chriſtl. Philofophie. 603 


berfchwenglichen der Theologie ſich zuwende, die andere 
lieber mit Phyſik und Ethik ſich befchäftige und an das 
MWeltliche halte, und wenn ed auch endlich zu einer Aus; 
gleihung der Einfeitigfeiten komme, man doch nicht eins 
fehe, . wie dieß anders gefchehen könne, ala fo, daß 
jest zwei Einfeitigkeiten neben einander wären und burdy 
ihren Gegenfaß fich gegenfeitig befchränften (S. 72.) 
Wo habe ich dergleichen von der dritten Periode behaup⸗ 
tet? In meinen kurzen Audfagen über fie Liegt vielmehr 
das Begentheil, Aber Baur hat fie entweder nicht verftchen 
wollen oder nicht verftehen können. Sogar von der zweiten 
Periode habe ich im Allgemeinen zugeftanden, daß fie weniger 
einfeitig die weltliche Richtung in den Wiffenfchaften vertrete, 
als die erfte die theologiſche; alfo muß ich wohl eine allmäh⸗ 
lihe Ausgleichung der einfeitigen Richtungen annehmen. 
Daß fie nicht eflektifch fey, fondern unter einem Prins 
cipe ſich vollziehe, hätte ich das hinzufegen follen ? 
Schr erbaulich führt mir nun Baur zu Gewiſſen, 
ein Gefchichtfchreiber follte nicht tadeln und alfo auch die 
Einfeitigfeiten nicht rügen, die ja freilich überall vorhan⸗ 
den feyn möchten (S. 11.). Noch dankbarer aber würde 
ic ihm für diefe Zurechtweifung feyn, wenn er mir zu⸗ 
gleich durch fein Beifpiel gezeigt hätte, wie man Einſei⸗ 
tigfeiten , ohne fle zu tadeln, als das bezeichnen Fönnte, 
was fie find. Aber wenn ich fehe, wie er in feinen Ab» 
handinngen, welche doch neben ihrer kritiſchen auch eine 
biftorifche Abſicht haben, ſich nicht enthalten kann, über 
patriftifche und fcholaftifhe Philofophie recht derb ta⸗ 
deind fich audzulaffen, wie er ihnen Unfreiheit, geiftlofen 
Formalismus, die unfruchtbare Arbeit der Penelope, 
Geiftlofigkeit vorwirft, eine dürre Sandwüſte in ihnen 
findet, wie er behauptet, man müffe noch immer diefelbe 
Meinung von der fcholaftifchen Philofophie gegenwärtig 
haben, welhe man von ihr faßte, ald man in Pos 
lemif über fie hinwegkam (S. 183,), fo muß ich wohl 


\ 


604 Ritter 


bemerten, daß ihm tabeln leichter wird, als befler mas 
hen. Wir wollen uns über unfere Schwächen mit eins 
ander gemeinfam tröften und auf einen Dritten hoffen, 
welchem es befler gelingt, als und beiden, auf bie par 
teilofe Höhe des Geſchichtſchreibers fich emporzuſchwin⸗ 
gen. Oder follte es nicht mit diefer Höhe eine eigene 
Bewandtniß baden? Wie ed doch fo ſeltſam ift mit ben 
Gemeinplaͤtzen, weldye alle Welt im Munde führt und 
die Wenigſten recht verftehen. Der Geſchichtſchreiber fol 
fein Urtheil nicht einmifchen; aus den Thatfadhen fol «6 
hervorgehen, von felbft fol es die Ergebniffe an dad 
Licht bringen. Dieß ift feine Kunft, hinter den Gegen 
fänden, welche er darſtellt, ſich ſelbſt verfchwinden zu 
Iaffen. Er hat fie zu üben, damit er nicht beftändig den 
Zufammenbang feiner Geſchichte unterbreche und von den 
alten Zeiten auf feine neue Perfon verweife. Aber wird 
fein Urtheil dadurch ausgeſchloſſen? Ohne ein folches 
würde er nicht im Stande feyn, Wichtiged hervorzuhe⸗ 
ben, minder Wichtiges zurücktreten zu laffen, Unwich⸗ 
tiged gu verfchweigen. Nicht einmal die Thatſachen 
würde er ald das bezeichnen Förinen, was fie find. Wenn 
er nun fo überall bei feiner Geſchichte fein Urtheil im 
Stillen hegen muß, follte es da ein großes Verbrechen 
feyn, weun er ed aud einmal lant auefpricht? Ein Ber: 
brechen vielleicht für feine Kunſt, für feine Wiſſenſchaft 
aber nicht. Und auch nicht immer für feine Kunſt. Es 
gibt Wendepuntte in der Gefchichte, weiche und unfer 
Urtheil gleichſam abnöthigen, bei welchen ed wie una 
türlihe Theilnahmloſigkeit erfcheinen würde, wenn es 
nicht herporbräde. Nun will ich nicht behaupten, daß 
ich in allen Zählen, wo ich mein Urtheil eingemifcht habe, 
ed nadı den Regeln der Kunft rechtfertigen fönnte. Aber 
gerade da, wo Baur meinen tadelnden Urtheilen nad» 
gegangen ift, glaube ich fie am leichteften rechtfertigen 
zu können, in den Ueberſichten nämlich, welche ich mei⸗ 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. chrifll. Philofophie. 605 


ner Gefchichte vorangefchicht habe. Im Verlaufe ber Ger 
ſchichte werdeu fie freilich auch micht fehlen; aber auch 
bierin dürfte wohl der Gefchichte der Wiſſenſchaften ein 
andered Maß zu geflatten ſeyn, ald manchen anderen 
Arten der Geſchichte; dach habe ich im Gange der Er⸗ 
sählung ſelbſt dahin geſtrebt, meiſtens, wo es ohne zu 
große Weitlänfigkeit gefchehen konnte, dad Urtheil aus 
den Thatſachen felbft heroorgehen zu laſſen. Dagegen 
mit den Weberfidhten über den allgemeinen Verkauf ber 
Geſchichte if ed ein Anderes, Im ihnen darf man nicht 
unterlaffen,, aus den Hauptzägen im Gange der Entwis 
delung Stärten und Schwächen im Charakter der Zeiten 
herooszuheben und fo Lob und Zabel zu geben; denn 
nur anf diefe Weile fann man zeigen, wo und worin 
die Wendepuntte der Geſchichte liegen. Die Rothwendig- 
feit hiervon fühlt ein Jeder, welcher mit allgemeinem 
Blicke die Befchichte der Menfchheit zu umſpannen fucht; 
gegen fie werden die Gemeinplätze, welche Baur gegen 
das Urtheil des Gefchichtfchreibere aufruft, ſchwerlich 
irgend eine Kraft beweifen können. 

Sonderbar, ic) muß Baur’d Methode gegen Baur 
ſelbſt vertheidigen. Denn fo wie er fordert, daß Die 
Gefchichte der Philofophie nur auf das Allgemeine ger 
richtet ſeyn follte, hat er es eben auf eine Gefchichte ber 
Philofophie nur in großen Leberfichten, gleichſam im 
Lapidarſtyle abgefehen. Dergleichen wird. ſich aber nur 
durch ein ſtark hervortretended Urtheil des Geſchicht⸗ 
ſchreibers ausführen Laflen, welches wie mit einem Fe⸗ 
derfiriche der Genfur alle minder bedeutenden Lehrweiſen 
befeitige und nur dem Allerwicdhtigfien eine Gtelle in der 
Gefchichte verſtattet. Liege darin kein Tadel? Sollte 
Baur nicht wiſſen, was die Eonftruction der Gefchichte 
bebentet, nämlich eine Beurtheilung derfelben vom Stand 
punfte bed Gefchichtfchreiberd, und daß Pie negatine 
Seite, weiche Hegel und Baur für beu Kortfchritt in der 





606 . Ritter 


Philoſophie fordern, einen Tadel im fich ſchließt? Es 
it, als hätte Baur meine eigenen Grundſätze, welde 
dei der Eharakterifirung der beiden erflen Perioden in 
der Gefchichte der chriftlihen Philofophie zur Anwen 
dung gefommen find, ausdräden wollen, wenn er 
(S. 114.) fagt, ed ſey der natürliche Gang des denken⸗ 
den Bewußtſeyns, daß es von der einen Seite auf die 
andere getrieben werde, fobald ed einmal angefangen 
hätte, feiner Einfeitigkeit inne zu werden. 

Es wird fih Banr hierbei wieder über die Biber: 
fprüche in weinen Behauptungen wundern. Gegen 
die Conftruction in der Geſchichte hade ich manches 
Wort verloren und nun billige ich fie doch, Ich denke 
aber, das Eine thun und das Andere nicht Laffen. Die 
Vergangenheit können wir nur aus unferem gegenwärt- 
gen Standpunkte begreifen, und das will die Conſtruction 
der Gefchichte; aber die Gegenwart Föunen wir audı 
nur aus der Vergangenheit begreifen, und daͤzu gehört 
mehr ald Conftruction der Geſchichte. 

Daß aber meine Eintheilung der Sefchichte der chrifl: 
lichen Philofophie aus dem Standpunkte, welchen mei 
nem Urtheile nach gegenwärtig die Philofophie einnimmt, 
heroorgegangen ift, habe ich auch nicht verfchwiegen. 
Nur verwechsle ich dieſen Standpunkt nicht mit ber 
Lehre einer der Schulen, welche ſich fo eben bie Herr 
fchaft fireitig machen, Um fo verbädhtiger wird mein Urtheil 
ben Anhängern diefer Schulen ſeyn und beſonders folchen, 
weiche nad Baur’d Urtheil meine, Kenntniß der neuefen 
Philoſophie abfchägen. 

Gh muß etwas weiter auöholen, um die Verſchieden⸗ 
heit feiner und meiner Meinungen über diefen Punkt in 
das rechte Licht zu feßen. 

Selbfl denen, welche nicht eben ſehr fcharfficktig un 
fere Zeit zu muftern pflegen, bat es nicht entgehen kön⸗ 
nen, wie allmählich die religiöfen Beweggründe mit wach⸗ 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. chriftl. Philofophie. 607 


fender Macht um ſich gegriffen haben. Rur über den 
Anfang bdiefer Bewegungen kann Berfchiebenheit ber 
Meinungen berrfchen. @inige find geneigt geweſen, ih⸗ 
ren Grund in der Zuchteuthe der franzöftfhen Revolus 
tion oder, wenn von und Dentfchen befonders bie Rede 
it, in dem Auffchwunge unferes voltöthümlichen Lebens 
nach unfern großen Niederlagen zu fuchen; noch Andere, 
weihen alled Heil aus der Speculation zu fommen 
fheint, haben geineint, erft bie neuere Pbilofophie, 
weiche fie anf Hegel oder Schelling zurädführen,, hätte 
diefe Wirkung hervorgebracht. Ihnen gehört allem Aus 
[heine nach Baur an. Mir dagegen, wenn id mich auf 
unfere deutfchen Zuftände beſchränke, fcheint es, ale 
müßte man bie religiöfen Bewegungen etwas weiter zus 
rück verfolgen. Wenn ich mir den Berlauf unferer Littes 
ratur vergegenmwärtige, fo finde ich neben dem äfthetifchen 
Intereſſe, welches ihn leitete, auch ein religidfes fehr 
lebhaft vertreten. Um nur an einige Männer, bie 
es zu erfennen gaben, und zwar in fehr verfchiebener Art, 
bier zu erinnern, nenne ich Leffing, Hamann, Herder, 
3. H. Jacobi. Sollte unfere Bhilofophie, die nur ein 
Theil unferer Litteratur ift, nicht auch hieran ihren Ans 
theil gehabt haben? ch glaube zu bemerken, daß es in 
einem höhern Grade der Kal gemefen ik, als man auf 
den erften Anblick vermuthen möchte. In biefer Meinung 
habe ich geltend zu machen gefncdt, daß von ben Zeiten 
Kant's an und vorzüglich durch fein Bemühen die Phi: 
Iofophie wieder eine mehr theologifche Richtung genom⸗ 
men habe, indem Kant das Berdienft in Anfpruch neh⸗ 
men dürfe, den Blick Über dad Gebiet der Erfahrung 
und Erfheinung hinausgetragen und auf das Tranfcen, 
dentale gerichtet zu haben. 

Segen diefe meine Anſicht fann nun Baur feinen 
Unwillen nicht laut genug zu erkennen geben. „Mau 
traut,” fagt er (S. 70.), „feinen Augen kaum, wenn man 


608 Ritter 


eisen Gehrer und Geſchicheſchreiber der Philoſophie über 
die kantiſche Philofophie ſolche Behauptungen aufkellen 
fieht, an deren Stelle das gerade Begeutheil zu ſetzen 
il. Der Urheber der Eritifchen Philofophie fol den Blid 
über die Erfahrung hinaus erhoben haben, er, ber alles 
Wien der theoretifchen Veruunft auf die Erfahrung be⸗ 
fchräntt wien wollte, berfelbe foll der Korfchung wieder 
eine theologifche Richtung. gegeben haben, er, ber alk 
Religion und Theologie in Moral umſetzte, das Daſeyn 
Gottes zu einem bloßen Poftulate der praktifchen Ber 
munft machte, deflen natürliche Conſequenz ber fichte'ſche 
Atheismus war ?” 

Baur fügt diefen Worten noch die Bemerkung bei, 
daß ich wohl mit gutem Grunde es ablehnte, meine Ge⸗ 
fchichte der Philofophie bis auf die neueften Zeiten fort: 
sufenen. Wenn num auch ‚diefer Zuſatz wur eine unge 
nane Erklärung meiner Aeußerungen über biefen Punft 
enthält, fo beflärkt er und was ihm vorhergeht mid 
dach nur in meiner Meinung, daß eine beurtheilende Ge⸗ 
ſchichte der philofophifehen Bewegungen, in welchen wir 
noch fämpfen, ein Unternehmen mebr der Noch ald eine 
freudigen Befonnenbeit und im beſten Falle mehr ber 
Polemik als der wiflenfchaftlichen Kritik angehört. Deun 
es ift eben der Eifer des Streites, welcher meiner Bei: 
nung nach es unmöglich macht, eine reine Geſchichte bier 
fer Bewegungen au geben, weil wir weder Freund nod 
Feind unpartelifch zu beurtheilen vermögen, und Partei 
Schriften geben Feine Geſchichte. Kaum aber hätte ic 
mir gedacht, daß die Feindfchaften, welche ja freilich 
oft und leibenfhaftlich genug unfere beutfchen Philoſe⸗ 
phen entzweit haben, noch gegenwärtig fo Karte Epuren 
eined gehäffigeu Urtheild zurückgelaſſen hätten, wie fe 
bier in Baur’ Bemerkungen gegen Kaut's und Fichte's 
Philoſophie vorliegen. Kaum kaun man fagen, daß ee 
hier nur um die Beurtheilung philoſophiſcher Gedanken 
fi) handle, vielmehr bie Thatfachen ſelbſt werden entſtelll. 


üb. d. Begriff u. d. Berlauf d. chriſtl. Philofophie. 609 


Mit welcher Stira wagt man wohl heute noch uns 
das Mährchen vom fichte’fchen Atheismus anfzuwärmen ? 
Bor nun fait einem halben Jahrhunderte mochte ed wohl 
aufgeregten Theologen, weldye den Zufammenhang der 
fichte'ſchen Lehre nicht durchdrungen hatten, nöthig fcheis 
nen, das Anathem über ben jemaifchen Neuerer zu 
rufen ; aber ſollte es jeßt noch verzeihlich fcheinen, berglei: 
hen Unmwahrheiten nachzufprechen, nachdem der Sinn 
der Wiſſenſchaftslehre Jängft Fein Geheimniß mehr iſt? 
Freilich bat Fichte Bott die moralifhe Weltordnung 
genannt; aber fein Berfuch, das Publicum zum Berfländ» 
niffe zu zwingen, muß wohl an fo hartnädigen Gegnern, 
wie Baur if, gefcheitert feyn, wenn fie feine deutliche 
Unterfcheidung zwiſchen ordo ordinatus und ordo ordi- 
nens nicht haben begreifen koͤnnen. 

Wir können und darüber nicht mehr wundern, wenn 
wir das noch viel größere Wunder fich begeben fehen, 
daß auch die fantifche Lehre in dieſelbe Verdammniß dee 
Atheismus verwidelt wird, weil fie confequenterweife 
anf Die fichtefche Lehre führe. Die alles möchte wohl 
ein befonnener Korfcher, welcher die wefentlichen Unter, 
fhiede beider Syſteme bedenft, nur mit Erſtaunen dar⸗ 
über hören, wie weit die Lehre von der nothwendigen 
Evolution Der phbilsfophifchen Syſteme aus einander 
derbienden könne. 

Die Berwunderung über den kantifchen Atheismus 
wird nur badurdh etwas gemildert, daß Baur doch wer 
nigſtens die Gründe einigermaßen durchfehen läßt, wars 
um ihm die Lehre Kant's über Bott wie Atheismus ex, 
ſcheinen will, Iſt es nicht ein Frevel, daß Kaut der 
theoretifchen Bernunft fo wenig, der praftifchen Vernunft 
fo viel vertraute? Einem ſolchen Menfchen, „der alles 
Wiſſen der theoretifchen Bernunft auf die Erfahrung bes 
Ihränft wiffen wollte,” darf man nicht zugeſtehen, „den 
Blick über bie Erfahrung hinaus erhoben zu haben;” 


610 Ritter 


„er, der ale Religion und Theologie in Moral nmfebte, 
das Dafeyn Botted zu einem bloßen Poftulat der prakt: 
tifchen Vernunft machte,” darf nicht „der Korfchung 
wieder eine theologifche Richtung gegeben haben. ” 
Aber find denn alle diefe Folgerungen Banr’s nur 
einigermaßen haltbar? Man braucht nicht eben ein Ber 
ehrer des Poſtulats der praftifhen Vernunft zu ſeyn, 
um in demfelben doch einen Haltpunkt zu entdecken, welcher 
Kant's Lehre gegen alle die angeführten Vorwürfe Baur’e 
fichert, Freilich ift ed ein ſchiefer Ausdruck Kant's, der praltis 
fchen Bernunft Erkenntniffe verdanken zu wollen, welche 
doch nur durch Die theoretifche Vernunft in ihrer Unter 
fuchung ber ypraftifchen gewonnen werden Tönnen; aber 
auf folhe Mängel in der Darfiellung der Gedanten 
dürfen wir nicht zu großes Gewicht legen, am wenigſten 
Baur, deffen fchiefe Audlegungen noch bei MWeitem die 
unbeholfenen Wendungen ded königsberger Weilen 
überbieten. Wenn Kant in feiner Kritik Der reinen 
Bernunft den ffeptifchen Standpunkt fo lange als mög- 
lich feftzuhalten fich entfchloflen zeigte, wenn er daher von 
den Formen unferer finnlichen Anfchauung und unferee 
Dentens annahm, daß fie, wenn auch keineswegs and 
der Erfahrung ſtammend und felbft zu tranfcendentalen 
ideen der Bernunft führend, doch ald Mittel zw den 
Zweden unferer Erfahrung angefehen werden könnten, 
fo wird ihm dieß ausgelegt, ale hätte er alles Willen 
der theoretifchen Vernunft auf die Erfahrung befchrän 
fen wollen. Als wenn nicht feine Kritif vielmehr dar 
auf ausgegangen wäre, zu zeigen, daß die Erfahrung 
ihre Borausfegungen a priori hätte und daß man, um 
die Erfahrung beurtheilen zu Fönnen, ihre Bedingungen 
feunen müſſe. Da mußte er benn wohl feinen Blid 
über bie Erfahrung hinaus werfen; fein Verſuch, fie zu 
benztheilen, mußte auf die Einficht in ihre Gründe fid 
ſtützen. Aber er fragte freilich auch zugleich, ob dieſen 








üb. d. Begriff u. d. Verlauf d. hrifll. Philoſophie. 611 


Gründen noch eine andere Bedeutung beiwohne außer 
eben nur ber Erfahrung zu dienen und zweifelnd 
und wieder zweifelnd ließ er ed zuletzt unentfchieden, 
was die theoretifche Vernunft betrifft, ob die auf den», 
felben Gründen beruhenden Ideen ber Vernunft, zu 
welchen auch die Idee Gottes gehört, dazu beftimmt 
wären, und auf ein Seyn zu verweifen, welches außerhalb 
dem Gebiete unferer Erfahrung liegt. Heißt nun eine 
folhe fteptifche Vorſicht Atheismus? Oder weil fie. zus 
weilen mit Atheismus verbunden geweſen if, barf man 
darum annehmen, daß fie nothwendig zum Atheismus 
führen müſſe? Solche Folgerungen in Bezug auf die fautis 
fche Lehre zu ziehen, möchte man noch für erlaubt halten, 
wenn miche Kant, laut genug feine Freude Darüber ger 
äußert hätte, daß die Gründe der Erfahrung und ger 
Ratteten, ja aufforderten, außer ber finnlichen eine übers 
finnliche Welt anzunehmen, in Llebereinftimmung mit dem 
Fordernugen, welche die praftifche Vernunft als vernünfs 
tig anzuerkennen uns nöthige, An diefe Forderungen 
(hließt num Kant allerdings : die gilgemeinfien Grunds 
füge an, melde nnfere Religipn billigt, auch die ſoge⸗ 
nannte Lehre vom Dafeyn Gotted. Aber ‚heißt dieß alle 
Religion und Theologie in Moral umfegen und das 
Dafeyn Gottes zu einem bloßen Poſtulate ber prakti⸗ 
(hen Bernunft machen? Die legte Formel würde die 
Annahme gulaffen, daß die praftifche Forderung, es fey 
Gott zu denken, aus theoretifchen Gründen zurückgewie⸗ 
len werden müßte, und dieß würde mit der Meinung 
Baur's ‚Übereinkimmen, daß die Tantifche Lehre con⸗ 
leguenterweife auf Atheismus führe; mit der Lehre 
Kant's jedoch ſteht dieß nicht in Einklang. Noch wenis 
ger iſt es die Meinung Kant’d, daß alle Religion und, 
Theologie nur auf Moral hinauslaufe, vielmehr hat 
Kant ſelbſt fich deutlich genug darüber ausgedrückt, daß 
Religion und Theologie nicht in Sittenlehre, auch nicht 


612 | Ritter 


m ſittlichen Leben berube, fondern in der Erkentriß, 
daß die Gebote der Sittenlehre Geſetze Gottes find. 
Ic follte meinen, der Unterfchied wäre handgreiflid. 

Frage ih mih num, warnm Baur in ben Lehren 
Kant's und Fichte's die theologifche Richtung fo gar 
nicht anerkennen will, fo finde ich Feine andere Antwort, 
als weil er feine andere Theologie zugeben möchte ald 
Die fpecnlative und weil er, das Speeulative im Gegen⸗ 
faße gegen das Prattifche faflend, auch eine jede Theolo⸗ 
gie veradhtet, welche von praktiſchen ober moraliſchen 
Ueberzeugungen ansgeht. Was nicht fpeculative The 
logie ift, fondern aus praftifhen Beweggründen fein 
Webergeugungen: von Gott fihöpft, darin will er amt 
Athelsmus erbliden. Bon diefem Geſichtspunkte aus 
konnten ihm denn freilich Kant’d and Fichte's Lehren 
über Bott nur als Berlengnungen der wahren Theolo⸗ 
gte erfcheinen. Deun fie bezeichnen beide den Stand⸗ 
puntt einer Zeit, welche, von dem eingewurjelten Zwei: 
fel gegen die Theologie zurückkehrend, die ſtärkſten Ueber⸗ 
jengungen des Menſchen, feine fittlichen Leberzeugungen, 
fein Gewiſſen, gegen biefgn Zweifel aufrufen zu wählen 
glaubte. Schon an anderen Gtellen habe ich aufmml 
fam gemacht auf bie Aehnlichkeit dieſes Uebergangs in der 
Philoſophie De nenern Zeit mit ber Epoche in der alten 
Philoſophie, wo Sokrates gegen bie Zweifel der 6" 
phiften auf das fittliche Bewußtfeyn der Menſchen ſich 
zu berufen für nöthig hielt. Aber wie ed dem Sofrated 
gegangen IN, fo müſſen au Kant und Fichte es jebt er 
fahren. Wan har jenen befchuldigt, auf demſelben Stand 
punfte mit den Sophiften zu ſtehen; Diefe fen es Ad 
aefallen Laffen, mit den frangöflichen Atheiften in eime 
Elaffe geworfen gu werden. 

Bon diefem Punkte aus durfte ſich Licht verbrei- 
ten über die Berfchiedenheiten der Meinung, weiche Baur’ 
und mein lrtheil Aber die Befchichte der Philofephie 


ab. d. Begriff u, d. Verlauf d, chriſtl. Philofophie. 613 


trennen. Seiner Meinung nad ift die Geſchichte wer 
fentlidh eine Entwidelung der fpeculativen Idee, d.h, ber 
theoretifchen Vernunft. Dagegen kann ich nicht leugnen, 
daß ih die Entwickelung ber Philoſophie nur ale einen 
Zweig der Geſchichte ber Vernunft überhaupt betrachte, 
welcher, weit davon entfernt, bie übrigen Beſtrebungen 
ver Menfchen gu beherrfchen, vielmehr nur in der Wech⸗ 
felwirfung mit ihnen begriffen werden kann. Die Sefchichte 
der Menſchheit iſt mir ein firtlicher Borgang,. der unter 
Naturdedingungen fi vollzieht und daher auch jebe Rich⸗ 
tung der vernünftigen Thätigleit in gleicher Weife in 
Infprach nimmt; in biefem Borgange kann ich Die Phi⸗ 
loſophie, ja die Wilfenfchaft überhaupt uar ale einen 
Theil Der fittlichen Güter betrachten, welche wir gewin⸗ 
nen foflen. 

Diefe Brundverfchiedenheis unfever Aufichten macht 
fh naturlich auch In unferer BVeurtheilung der nenern 
Dhilsfophle vor Kant bemerklich. Baur tabelt mich, 
daß ich zur GSharakterifirung meiner zweiten Periode 
hanptſaͤchtich auf ihre Ausgänge, anf den fenfualikifchen 
Atheismus des vorigen Jahrhunderts bei Englänbern 
und Branzefen verwioſen habe. Doch meineich darin nur ben 
Graupfap befolgt zu haben, daß man wicht allein ein⸗ 
zelne Menſchen, fonbern auch ganze Zeitraäͤnme an ihren 
Früchten erlennen fun. Wir wollen aber fehen, ob 
Baur aus der Mitte diefer Periode etwas beizubringen 
im Staude if, wad gegen die antitheolegifche Richtung 
ihrer Philoſophie, welche ih behaupte, entfchiedenes 
Zeugniß ablegte. Behr kur; und feined Sieges durch 


den bloßen Schrei! der Namen gewiß, führt er (S.68f.) 


den Gartefius, den Spinoza und befonders unfern Leib» 
niz an, befien angelegentlihes Beſtreben geweſen fey, 
Glauben und Wiffen mit einander zu vermitteln. Soll⸗ 
ten diefe großen Ramen uns nicht fchreden? Im Ges 


614 Ritter 


gentheile, fie forbern uns zu einem freimüthigen -Urtheil 
auf. 

Daß die Theologie ded Carteſins äußerſt dürftig 
war, bedarf kaum eines Beweifed. Das Suterefle ſei⸗ 
ner Forſchung führte ihn nicht nach diefer Seite zu. 
Wenn er auch glaubte, von Bott anfangen zu mäflen, 
um feine vagen Zweifel gegen die Wahrhaftigkeit unferer 
Borftellungen zu widerlegen, wenn er dabei auch den 
Gedanken äußerte, daß die volllommenfte Erkenntniß Alles 
von Gott ale der erften Urſache ableiten follte, fo fprtugt 
er doch alsbald von diefem Wege ab, indem er erinnert, 
daß wir endlich find und daher das Unendliche nicht zu 
erfennen vermögen, vielmehr der Offenbarung in allem, 
was unfern Verſtand überfleigt, glanben and unfer Nach⸗ 
denfen zurüchalten follen von der vergeblichen Erforſchung 
des Uneublien (de princ. phil. I, 24 q.). Ber 
kennt hierin nicht den wiflenfchaftlichen Indifferentismus 
gegen das Theologifhe? Diele andere einzelne Sätze 
ded Gartefiud beweifen ihn. Dann und wann führen 
ihn Lehren Auderer oder fein eigenes Nachdenken auf theo⸗ 
Iogifhe Süße zuräd, 3. 3. auf dem berühmten Gag, daß 
Gott die einzige Subflanz im eigentlihen Sinne fey, 
aber fie blieben unfruchtbar, weil er fie ‚nicht verfolgen 
ag. Außer der Lehre von der höchſten Vollkommenheit 
Gottes, welche zum ontologifchen Beweife bieut, und von 
feiner Wahrhaftigkeit, welche zur Behreituug des Zwei⸗ 
feld gebrandyt wird, finde ich, daß er mis Vorliebe nur bei 
einem Punkte verweilt, bei der Lehre nämlich, daß Gott 
fogleich bei Schöpfung der Welt in fie die ganze Quan⸗ 
tität der Bewegung gelegt babe und diefelbe durch alle 
Zeiten unveränberlih bewahre (de princ. phil. II, 36.). 
Diefe Ausnahme beftätigt die Regel. Denn diefer durch⸗ 
aus willkürliche Sat, er wirb von Gartefius nur dep 
wegen vertheibigt, weil er die Grundlage feiner durchaus 
mechanifchen NRaturesSlärung bilder, welche das eigent- 








üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philofophie. 615 


liche Ziel feiner Philoſophie, ja dad wahre Interefle aller 
feiner wiffenfchaftlichen Beftrebungen ausmacht. Hierin fteht 
Cartefius mit feinem Zeitgenoffen Hobbed, welchen Baur 
ſchwerlich als Zeugen der theologifchen Richtung in der 
Philofophie diefer Zeit wird aufführen wollen, auf ganz 
gleichem Boden, nur daß er, weniger folgerichtig ale 
diefer, zwar die Thiere, aber nicht die Menfchen für 
Mafchinen erflärt. Eben diefe mechanifche Richtung ſei⸗ 
ner Raturlehre macht ihn zum würdigen Vorgänger der 
Männer, welche den Menfchen nicht allein mit den Dflans 
zen, fondern audy mit Mafchinen und Uhrwerken vers 
glichen; le bildet die Grundlage des neuen Atheismus 
von feiner bogmatifchen Seite, indem fle eine einfeitige 
Raturlehre verbreitete, welche, wie auch Carteſlus that, 
von der Erforfhung der Endurfachen ſich abwendete 
uud dadurch die Phyſik fo viel ale möglich außer Zus 
fammenhang mit der Ethik fegte. Wenn ich hierin ein 
Zeichen ihrer antitheologifchen Richtung fehe, fo wird 
wir Baur wahrfcheinlich nicht beiftimmen, weil er in 
ähnlicher Weiſe geneigt ift, das Theologifche fo viel ale 
möglich von der Moral abzufondern. 

Was ferner Spinoza betrifft, fo ift er freilich ein 
Krenz nicht allein der Philofophen gewefen, fondern noch 
gegenwärtig der Befchichtfchreider. Wie fein Leben 
nur in Farger Mittheilung verlief, fo flieht auch feine 
Philofophie einfam da, ohne ihres Gleichen in ihrer Zeit, 
faft unverflanden und nur durch fparfame Fäden mit 
den Richtungen feiner Zeitgenoffen zufammenhängend. Wer 
fle nur flüchtig eingefehen hat, dürfte vieleicht geneigt 
ſeyn, ſie eher einer Uebertreibung als eines Mangels ber 
theologifchen Richtung zu befchnldigen. Denn in ber 
liebe Gottes findet fie alle Tugend und alle Seligfeit, 
in der Erkenntniß Gottes alle wahre und adäquate Er- 
kenntniß. Eben die Säge zieht fie hervor, welche Gars 
tefind als unfrachtbar bei Geite ——— hatte, daß 

Theol. Stud. Jahrg. 1847. 





616 Ritter 


Gott die einzige Subſtanz und bie einzige Urſache fey 
und der Menfch Alles in Bott erfennen ſolle und koͤnne. 
Dennoch wer eine fruchtbare, für bad Leben heilfame 
Theologie fucht, wird vou feinem Pantheiſsmus fich ab» 
geitoßen finden und wohl nicht weniger von faR allen 
den Käbden, durch welche berfelbe mit der Philoſophie 
feiner Zeit zufammenhängt. Wenn man da belehrt wer 
den fol, daß Alles in Ausdehnung und Denken beftcht, 
daß die Ausdehnung nur in einer Reihe von medani- 
fchen Bewegungen verläuft, die nothwendig die eine bie 
andere verurfachen; wenn mit biefem mechantfchen Zu 
famnmenhange der Körperwelt der Zufammenhang der 


geifligen Bewegungen in Bergleich geftellt wird, um zu 


eigen, daß die Freiheit unferes Willens nichts fey; wenn 
Epinoza die Endurfachen verwirft, bie allgemeinen Be: 
griffe für verworrene Einbildungen erklärt und die Zu 
genden fittliher Gemeinſchaft, welche Staat und Kirche 
verbinden, nur auf Jutereſſen der Selbſtliebe zurüchn⸗ 
führen weiß: fo fann man nicht andere als urtheilen, 
daß feine Philofophie den wefentlichen Bebingungen der 
wahren Theologie nicht entfpreche. Sein tiefered Gemäth 
weiß ſich aus diefem Irrſale feiner Lehre nur dadurch zu 
retten, daß ed die Welt aufgibt und in Entfagung auf 
alled Handeln nur in leidenfchaftälofer Erkenntniß Gotted 
feite Tugend ſucht. Es it wohl möglich, daß Baur in 
dieſer Lehre, welche allem Praktiſchen abgeneigt iſt, um 
der Speculation unbedingt fih zu ergeben, einen mäd- 
tigen Fortfchritt der Theologie fiehtz ic) dagegen kaun 
ihn darin nicht erbliden,, auch abgefehen von der Feind 
fchaft des Spinoza gegen alle pofltive Religion, in wel 
cher er ein Borlänfer der Freidenker war und ben Ruf 
eines Atheiften fich 3ug0g. 


In diefem wie in andern Punkten war nun frellic 


Leibniz faſt das volle Widerſpiel des Spinoza. Aber 
eben dieß kann darauf aufmerkſam machen, daß es für 
die Beurtheilung der Philoſophie des fiebzehmten und 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 617 


ber erſten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts faft gar 
nicht auf das theologifche Bekenntniß der Philoſophen 
ankam. Ihre Philoſophie und ihre Religion waren zwei 
Dinge, welche mit einander wenig zu thun hatten, weil 
ihre Philoſophie nicht theologifh umd ihre Theologie 
nicht philofophifh war. Man, könnte dieß jedoch von 
Leibniz bezweifeln, weil er gelegentlich auch mit theolos 
giſchen Händeln, wenn auch nur in Verſuchen, Frieden 
zu fliften, ſich abgab und dabei auch philofophifche 
Gründe nicht verfhmähte, wenn man die weitfchichtige 
Thätigkeit diefes Mannes nicht in Anfchlag zu bringen 
wüßte, welche ihm mit gar mandherlei Dingen zu fchafs 
fen machte, ohne dag dabei mehr ale die Formeln, auch 
bad Herz feiner Philoſophie im Spiele geweien wäre, 
Weis man den Grundgedanken feiner Lehre von mancher: 
lei Anhängfeln, welche er ihm im Spiele feines beftändig 
befchäftigten Geiſtes gegeben hat, zu unterfcheiden, kennt 
man den Grad einer nur ffizzenhaften Ausführung, wel⸗ 
he er ihm zu Theil werben ließ, fo wird man der Bes 
hauptung Baur's gegenüber, welcher diefen Philofophen 
zu einem Haupthelden der neueren Theologie machen 
möchte, nur erftaunen fünnen, wie wenig feine Philofos 
phie das theologifche Gebiet berührt, wie flüchtig, unzus 
fammenhängenb, geiftreich freilich, aber auch wiſſenſchaft⸗ 
lich roh feine Aenßerungen über Gott und fein Berhälts 
nis zur Welt ind. Wird man etwa daraus große Weis⸗ 
heit fchöpfen können, daß er Gott den Ardyiteften des 
Reiches der Natur und den Monarchen des Reiches‘ der 
Gnade nennt, oder daß er will, wir follen ihn als die 
Monade der Monaden bdenfen, d. h. die einfache 
Subflanz, welche dennoch eine Bielheit einfacher Sub⸗ 
Ranzen in fih umfaßt? Oder daß er den Gedanken 
Gottes herbeiruft, um biellebereinftiimmung zwifchen den 
einzelnen Monaden, welche in ihm 'präſtabilirt feyn fol, 
% 43 * 


618 Ritter 


erklären zu können? Oder daß er, wie Thomas von 
Aquino, ihn wählen läßt unter den vielen möglichen 
Welten, damit die beſte Welt gefchaffen werde, melde 
zwar nur unvolllommene Dinge, aber dod andy nur bie 
möglichft Pleinfte Summe des Unheild in fich enthalten 
fol? Oder follen wir es für mehr als flüchtig hinge 
worfene Bilder halten, wenn er fagt, die Befchöpfe waͤ⸗ 
ren Kulgurationen Gottes, und indem Gott rechne, werde 
die Welt? Unftreitig, wenn man in das Berfländniß der 
leibnizifchen Lehre eindringen will, bat man nicht von 
diefer Seite unzufammenhängenber @infälle und nur für 
eine vorläufige Verftändigung berechneter Yeußerungen 
außzugehen, fondern muß mit feiner Lehre von den ein 
fachen Subftauzen und von ihrem Zufammenhange unters 
einander beginnen. In ihr fuchte er felbft den Kern 
feiner Philofophie. Was finden wir nun bier ald bad 
Charakteriftifche feiner Lehre? Sie geht wefentlich dar 
auf aus, die VBerworrenheit der finnlichen Erfcheinungen 
aufzulöfen durch Zurüdführung auf das Einfache, und 


hofft, in dieſer Weife Alles in verftändliche Begriffe aufs - 


zulöfen. Dadurch verfchwindet ihm die förperliche Ma⸗ 
terie, Alles wird auf die Analogie der Seele und ihrer 
inneren Entwidelung zurückgebracht, Alles fol ſich aus 
den angebornen und in der Seele fi entwidelnden Bes 
. griffen des Verftandes erkennen laſſen. Diefe angebor- 
nen Begriffe und apriorifchen Erkenntniſſe findet nun 
Leibniz mit feinen Zeitgenoflen vornehmlich in der Mar 
thematil. Wo man die Erfcheinungen in die Begriffe 
von Figuren, Zahlen und Bewegungen auflöfen faun, 
da iſt ihrer Erklärung Genüge geſchehen. Selten wird 
man bei Leibniz, deſſen fchillernder Geiſt freilich in gar 
bunten Karben fpielt, eine Erörterung über die Erklaͤ⸗ 
rung der Erfcheinungen- finden, in welcher nicht dieſe 
Berufung auf die Mathematik eine Rolle fpielte; in ſei⸗ 
ner Monabologie und feiner Erklärung der Berbindung 


ib, d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Ppilofophie. 619 


unter ben GSubkanzen iſt fie Mittelpunkt feiner Lehre, 
Ale Monaden entwideln fi innerlih, In Bewegungen, 
welche für eine jede einzelne ansihrer innern Natur hervor⸗ 
gehen; die eine Bewegung treibt die andere hervor, fo 
wie in der Körperweit die folgende eine mechanifch noth⸗ 
wenbige Folge ber früähern ifl; der Wille ift nur die Ten⸗ 
denz von dem einen Bewußtfeyn zum andern; das früs 
here Bewußtſeyn erzeugt das fpätere und .ift der zurei- 
chende Grund deffelben, fo wie aus den Örundfägen bie 
Folgerungen nothwendig fid) ergeben; es hängt hier Al: 
led gufammen wie in dem verwidelten Bewegungen einer 
Mafchine, und nur hieraus läßt es fich erklären, daß bie 
Subſtanzen, obgleih nur innerlich ſich entwidelnd und 
in feiner Wechfelwirtung unter einander, democh in 
einer befändigen Harmonie find, wenn man vorangfeßt, 
daß fie im erfien Womente ihres Daſeyns in einer fols 
hen Harmonie waren, denn die nothwendigen Folgen in 
den Bewegungen zweier oder mehrerer Mafchinen müfs 
fen einander entfprechen, wenn bie erſten Zuftände berfelben 
einander entfprochen haben. Wenn man diefe Hauptpunfte 
ber Eehre von den Monaden und ber präftabilirten Hars 
'monie vor Augen bat, fo wird man nicht daran zweifeln 
können, daß Leibniz derfelben Betrachtungsmweife angehört, 
welche die Lehre der nenern Dhilofopbie bis Kant, fo weit 
fie dogmatifch it, im Ganzen beberrfcht hat und welche 
weſentlich darauf ausgeht, burch eine von der Mathemas 
tit erborgte Erklärungsweife alle Erfcheinungen nad 
mechanifchen Gefegen zu begreifen. Damit häugt es 
auch zufammen, daß die leibnizifche wie die carteflanis _ 
ſche Schule die Methode der Mathematik der Philoſo⸗ 
pbie aufbringen wollte Ob aber eine foihe Mechanik 
der Natur und des Beiftes der Theologie zufagen könne, 
diefe frage möge fidh ein Jeder felbft beantworten. Ber 
in der Religion noch etwas Anderes als Theorie fucht, 
wird nicht leicht darüber in Zweifel feyn können. 


Wenn ichı'num dennoch nicht begweißele, daß Diele 
neuere Philoſophie in der carteflantfchen und leibutzifchen 
und nicht minder in der lodefchen und condillacſchen 
Schulte noch den Entwidelangen ber Philoſophie im Fort⸗ 
fchreiten bes chriſtlichen Geiſtes angehört, fo beruht dieß 
auf meiner llebergeugund, daß allerdings der Ausbildung 
der Lehrweife, wie fie bie dahin Rattgefunden hatte, eine 
ſtarke Erfchütterung wie in fleptifcher, fo in dogmati⸗ 
fcher Richtung nöthig war. Die Brände hiervon Hegen 
in der Geſchichte der patriftifchen und Ber mittelalterlis 
chen Philofopbie, befonderd auf der einen Seite in ihrer 
einfeitigen theologiſchen Richtung, auf der andern Geite 
in der Beimifchung bdualiftifcher Lehrpunkte, weiche ihr 
son der alten Philofophie Überlommen waren. Wie jes 
ner bie ganze neuere Philoſophie entgegenarbeitete, if 
einleuchtend genug; daß fie aber. auch diefer ſich entges 
genfegte, geht daraus hervor, daß die mechanifche Ras 
turerflärung der neuern Philoſophie, hierin wefentlicdh 
werfchieden won  Ihnlichen Richkuugen der alten Bhilofer 
phie, Alled anf ein Princip der Bewegung zurückpubrin⸗ 
gen .firebte. Wie abſtract und todt daffelbe auch aufge, 
faßt werden mochte — man glaubte ed zulegt in der 
Gravitation gu finden —, ein Gegengewicht gegen dem 
Dualismus gab ed doh ab. Sogar daß es meiftend 
sur im der Naturerflärung geltend gemacht wurde, wußte 
zur Schwächnng, wenn auch nicht zur Ueberwindung des 
Dualiemus dienen, weil diefer in dem ethiſchen Segen 
fage zwifchen Gutem und Böfen feinen ſtärkſten Helt 
findet. 

Da ich nad Weife der Conftruction der Geſchichte 
von unfern Zeiten räfwärtd auf die Bergangenheit ge 
führt worden bin, fo würde mir nur noch obliegen, über 
die patriſtiſche und mittelalterliche Philofophie das Nö⸗ 
thige zu fagen. Doc mag ich nicht Die Einzelheiten von 
Baur's Kritit durchgehen, aus Furcht, zu weit geführt 


üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 621 


zu werden. Dad Meiſte if fchon im meiner Gefchichte 
biefer Theile der Philoſophie, wie ich glaube, hinreichend 
erörtert; über die vorherrfchend theologifche Richtung in 
der patrißifchen und mittelalterlichen Philofophie ift auch 
Schon hinreichend gefprochen worden; nur über die duas 
liſtiſchen Lehrpuntte, welche aus ber alten in bie fpätere 
Philofophie eingedrungen waren, glaube ich noch etwas 
hinzuſetzen zu müſſen. 

Anch Baur erkennt ſie an. Doch muß ich befürch⸗ 
ten, daß wir auch in ſolchen Punkten, wo wir gemein⸗ 
ſchaftlich ſie finden, nicht gleicher Meinung find, weil 
wir eine verfchiedene Anfiht vom Dualiömus haben. 
Daher wird e6 unerläßlich, über deſſen Begriff uns zu 
verftänbigen. 

Die Berfchiebenheit unferer Meinungen über biefen 
Punkt kommt bei Belegenheit meiner Eintheilung der 
guoftiichen Syſteme zur Sprache, Ich habe fie nämlich 
in dualiftifche und ibealififche eingetheilt. Banr fagt 
dagegen (5. 75.), Dualidmus und Idealismus bildeten 
feinen Gegenſatz. Das iſt richtig; ed kann auch einen idea⸗ 
liſtiſchen Dnalismus, and) einen materialifiifchen Monis⸗ 
mus geben. ber mir kam es begreiflicher Weife nicht 
darauf au, alle Möglichkeiten in einer ſchulgerechten Slafr 
ſiſteation zu erfchöpfen, fondern nur die geſchicheliche 
Wirklichkeit hatte ich vor Augen und da fand ich zwei 
Arten der Gnoſtiker, folche, welche dem Dualismus unbeforgt 
folgten, und folche, welche ihm zu entgehen ſuchten, ins 
bem fie den ibdenliftifchen Weg einſchlugen. Genauer 
hätte ich nun wohl fagen können: moniſtiſch⸗ idealiſtiſche 
Gnoſtiker; aber das wäre eine Genauigkeit gewefen, 
weiche Leſer von gar zu geringem Berftändutffe voraus: 
gefeßt hätte, Vielleicht, wenn ich fo gethan hätte, wurde 
mich Bauer der Pedanterie befchuldigt haben. 

Der Borwurf aber, welchen mie Baur über diefen 
Punkt madıt, trifft and) die Hauptfache gar nicht. Diele 


622 Kitter 


beruht vielmehr darauf, daß ich von vorn herein erklaͤrt 
habe, ich würde von Dnalismus nur da reden, wo zwei 
entgegengeſetzte Urweſen augenommen werben, Baur 
dagegen (S. 76.) meint, der Dualismus ſetze in der Mas 
terie ein von Bott unabhängiges, das Weſen Gottes bes 
fchräntendes Princip, die Befchränfung aber bleibe die⸗ 
felbe , ob die Materie außer Gott oder in Bott fen; 
Gott fey gebunden an fie, durch fie befchräntt, und koͤnne 
ihred Gegenſatzes fi nicht erwehren, auch wenn bie 
Materie nur als der unwiderfichliche Hang, ſich zu ma 
terialifiren, in Gott gefebt fey. 

Diefe Meinung bat ihren guten Schein; ums aber 
zur Wahrheit zu werden, bedarf fie der Beichräufungen, 
nadı welchen fie auch in Uebereinflimmung mit meiner 
Ausdrucksweiſe ſich wird erklären können. Zuerſt kommt 
es beim Dnalismus nicht darauf an, daß eben die Mas 
terie ald das Gott entgegengefehte Princip angefehen 
wird, fondern ed läßt fich auch ein idealiflifcher Dualis- 
mus denken, wie ich fhon bemerkte und wie Baur felbk 
zusngeben fcheint, wenn er das zweite Princip für denl- 
bar erflärt als einen unwiderſtehlichen Hang Gottes, 
fih zu materialifiren, alfo doch wohl als einen geifligen 
Hang. - Diefer Punkt ift nicht unbedeutend für Baur’s 
Anfiht vom Dualismus. Alsdann, wie fol man das 
verfiehen, daß Baur zuerft meint, der Dualismus ver 
lange ein von Gott unabhängiges und ihn befchränfen- 
bed Princip, nachher aber body Dualismus auch noch da ſin⸗ 
den will, wo dieſes zweite Princip in Bott ſelbſt ale ein nuwi⸗ 
derſtehlicher Hang feines Geiſtes angenommen werde, 
alfo feineswegs unabhängig von Gott, andy nicht ihn 
befchräntend, fondern nur eine Entwidelung in ihm her: 
bringend? Denn in foldyer Weife werben wir ja wohl 
den Hang Gottes zu denken haben. Man wird hieran 
wohl bemerten, daß Baur felbft ſchwankt zwifchen meir 
ner und, ich glaube auch, ber gewöhnlichen Anficht vom 





üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philoſophie. 623 


Dualismus und zwiſchen dem vagern Sprachgebrauche, 
in welchem die hegel'ſche Schule das Wort Dualismus 
genommen hat. Auf jeden Fall wird man ſagen müſſen: 
es gibt einen ſtrengern Dualismus, welcher zwei ur⸗ 
ſprünglich von einander geſonderte Principien annimmt, 
und einen weniger ſtrengen, welcher von einem Principe 
zwar ausgeht, in ihm aber ein doppeltes Princip ver⸗ 
birgt und miſcht. Weun unn Jemand fagte, wie ich es 
geſagt habe, er wollte nur jenen ſtrengern nach dem 
gewöhnlichen Sprachgedrauche Dualismus nennen, den 
andern aber nicht, fondern ihn ale ein gemifchtes Syſtem 
betrachten, würde der deßwegen Tadel verdienen? 
Wenigſtens daß er fich offen über feineu Gebrauch 
bed Wortes erflärt hätte, würde man ihm nicht abfprechen 
können. Dagegen ift der Sprachgebrauch, welchen ich 
den vagen genannt habe, der Sprachgebrauh Baur’ 
und der begel’fhen Schuie, in ber That nicht offen nud 
ehrlich, fondern von der polemifchen Natur, welche dem 
Öegner gern etwas unterfchieben möchte und ‚welche man 
mit dem Namen ber Gonfequenzmacherei bezeichnet. 
Wenn da Jemand Bott ale das alleinige und gute Prins 
cip befennt, nachher aber.in ber Welt dad Böſe findet 
und es mit der Güte Botted nicht vereinen kann, fons 
dern meiht, es möchte hervorgegangen feyn aus irgend 
einem Hange der Gefchöpfe zum Böfen, welden fie ohne 
oder gar wider Gottes Willen in ſich genährt hätten, fo find 
die Auffpärer des Dualisſsmus bereit, ihm nachzuweiſen, 
er nähme da ein doppeltes Princip an, Gott und den 
Yang, welcher die Geſchöpfe zum Böfen führe, nnd 
müßte daher zu den Dualikien gerechnet werden. Ober 
wenn Jemand beiden vorher gefeßten Annahmen verfucht, 
ben böfen Hang in den Gefihöpfen auf irgend einen 
Hang in Gott zurüdzuführen, fo muß er nicht minder 
ein Dualiſt heißen, wie eng er auch diefen Hang mit der 
Einheit Gottes verflochten haben möchte, weil feine 





624 Ritter 


Lehre in Bott ſelbſt ein doppeltes Priacip ſetzt, dab, 
welches zum Guten, und das, welches zum Böſen führt. 
Nach dieſer Auſicht ſind Die Stoiker und Leibniz eben 
fo gut Dualiſten, wie Anaxagoras und die Manichäer. 
Ja ſollte es nicht irgend einem Schalte einfallen, audı 
bie Lehre Hegel’6 des Dualismus zu geihen, weil fle ja 
auch einen Hang Gottes ſetzt fi zu befondern und bie 
materielle Welt hervorzubringen ? 

Ader find diefe Folgerungen auf Dnalismus nicht 
richtig gezogen? — Ich beftreite fie nicht. Nur zu einer 
bifligern Beurthetlung möchte ich rathen. Wenn die Ma 
terie, wie Baur fagt, ober, wie ich erweiternb und bes 
richtigend hinzufete, wenn das Princip der Materie in 
Gott geſetzt wird, fo erfennen bie, weiche hierzu fich ger 
drungen fühlen, einen wichtigen Satz ber Wiſſeuſchaft 
an, welder von den Dualiften, das Wort in meinem 
Sinne genommen, verkannt und verleuguet wird, den 
Satz nämlih, daß Wlled, von wie verfchiedener Natur 
ed feyn möge, anf einen Grund zurüdgeführt werben 
müfle, damit es als Gegeufland einer Wiſſenſchaft er 
kannt werden koͤnne. Und in fofern ift ihre Lehre Mor 
nismus. Wenn fie nachher in ihren weitern Unterſu⸗ 
chungen auf entgegengefehte Begriffe geführt werben, 
weiche fie mit der Einheit ihres Principe nicht zu verei⸗ 
nigen wiflen, wenn fie nun Berfuche machen, diefe Ein 
heit wieder zu theilen, fo find das Folgewidrigkeiten und 
Ueberbleibfel ded Dualismus, welche ihr moniſtiſches 
Princip noch nicht überwunden hat. Man foll aber je 
bed Syftem nicht nach den Folgerungen ans ſolchen Fol 
gemwidrigleiten,, fondern nad, feinem Principe benennen, 
font würde man einem und demfelben Syſteme gam 
entgegengeſetzte Namen zu geben haben. Deßwegen 
würde nian auch fehr Unrecht than, wenn man Leute, 
welche in der vorher gefihilderten Weife verfahren, Dua⸗ 
liften ſchelten wollte, Es würde dieß bie Unbilligkeit in 








üb. d. Begriff u, d. Verlauf ber hrifll. Philofophie. 625 


ſich fchließen, daß man ihmen die Erkenntniß abfpräche, 
weiche den Monismus vom Dualismus fcheibet, Die 
Erfenntuiß, daß Alled aus einem Principe abgeleitet wer⸗ 
den müſſe. 

Dieß iR num freilich eine fehr abfiracte Erkenntniß, 
und man würde fagen können, daß fie wenig werth 
wäre, wenn fie bei dem abfiracten Satze fichen 
bliebe. Aber fie bleibt auch gewiß nicht Dabei fichen, 
wenn im Syſteme irgend ein Leben ift, ſondern die Fol⸗ 
gerungen bed Monismus geben fid in manderlei Be, 
fhräufungen der Ueberbleibfel ded Dualismus und in 
einem beftändigen Kampfe mit ihnen zu eriennen. 

Diervou zeugt die Lehre der idealiſtiſchen Guoſtiker, 
der Balentinianer, welche zu diefen Bemerkungen Berans 
laſſung gegeben hat, anf eine fehr merfwürdige Weife, 
indem fie ben Begriff der Materie, des böfen Principe, 
von Bott ganz entfernt hält, keineswegs, wie Baur fidh 
ausdrückt, einen Dang zu ihr in Gott annimmt, fondern 
nur vermittelt einer langen Reihe von Emanatiouen 
dad Böſe ald möglich ſich denkt und die Materie erfl 
aus dem Böfen herleitet. Dabei wird die Materie von 
biefer Lehre auch als etwas völlig Richtiges betrachtet; 
denn nur in einer Berirzung ber Geiſter, in ihren bar> 
aud hervorgehenden Leidenfchaften foll fie beſtehen und 
ebenfo fol fie auch wieder verfhwinden vor der wahren 
Erkenntniß des @efebes, weiches Die niederen Geifter mit 
Sort verbinder. Baur weiß dieß Alles, aber benunsd 
behauptet er (S. 81.), der wefentlihe Mangel der gnos 
Rifchen Syſteme überhaupt fey der unvwermittelte Gegen: 
fat der beiden Principien Geiſt und Materie, in wels 
chem ihre Syſteme, dba es ihnen an einer innern Ders 
mittelung jener Principien und eben beßwegen an der 
Einheit ded Principe fehle, immer wieder audeinander 
felen. Nur feine vorgefaßte Meinung, welche ihn ans 
treibt Die gefchichtlichen Thatfachen unter das Schema ſei⸗ 





626 Ritter 


ner Eonfruction zu zwingen, fan ihn zu ſolchen Be: 
bauptuugen hinzeißen. Meberbleibfel des Dualismus find 
bei den Balentiuianern freilich nicht zu leugnen; fie lie 
gen in ihrer Emanationdlehre, weldye den Abfall vom 
Buten als eine natürliche Entwidelung erfcheinen läßt; 
aber das Princip ihrer Lehre ift moniſtiſch. 

Eben fo gewaltfam wie den DBalentiniauern wird 
auch, dem Drigenes der Dualismus von Baur aufge 
derungen. Er gefteht ihm zwar zu, daß er eine Vermit⸗ 
telung bed Gegenſatzes zwiſchen Geiſt und Materie ver 
fucht habe, und hierin wird fein wefentlicher Linterfchied 
von den Bnoftitern geſucht (S. 81.), aber feine Lehre 
über die Freiheit der Geifter fol ſchlechthin dualiſtiſch 
feyn. Obwohl nicht gelengnet werben kann, daß Orige⸗ 
ned die Kreiheit der Geifter als abhängig von Gett, 
als eine Gabe Gottes betrachtete, behauptet Baur doc, 
er habe fie als ein zweites Princip Gott zur Seite ge 
fielt. Das bekannte Schwanfen des Origenes wird hier 

. au8 abgeleitet (&. 84.) , und anftatt in Diefem Schwan 
Sen ein Zeichen zu fehen, daß die Lehre deſſelben kein 
reines, fondern ein gemifchted Syſtem war, wird zu 
Bunften feines Dualismus angenommen, er fey doch in 
feinem Schwanten der Annahme geneigter gewefen, daß 
die Freiheit der Geiler ganz nnabhängig von Gott 
fey a). Baur gebt hierin fo weit, zu behaupten, die Mar 
terie und die Welt würden nad) dem Origenes durch die 
Freiheit der Geifter (S. 83.), eine Lehre, welche man 
wohl den Balentinianern, aber nicht bem Origenes bei 
legen darf, welcher ausbrädlich den Geiſtern alle ſchoͤpfe⸗ 


a) Anbere Punkte, welche eben fo mwilllürli von Baur in ber 
Lehre des Drigenes angenommen werben , übergebe ich, doch 
will ich bemerken, daß auch die Lehre bes Drigenes, Bott ſey 
kein &zsıporv, auf Dualismus gedeutet wird (S. 85.). Br 
kanntlich lehrte audy Parmenides fo, gewiß nicht in bualifi- 
ſcher Abfict. 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriftl. Philofophie. 627 


rifche Macht abfpricht und nicht einmal wegen der Freis 
heit, fondern nur wegen des Abfalld der Geiſter vermit⸗ 
telft ihrer Freiheit von Gott die Materie und die finnlis 
he Welt fchaffen laͤßt. So entſtellt alfo Baur die Lehre 
ded Origened, um ihren vermeintihen Dnalismus im 
ein recht grelles Licht zu fegen. Dualiftifhe Ueberbleib⸗ 
fel find allerdings in ihr nachzuweifen und fichen auch 
mit feiner Freiheitslehre in Verbindung. Sie beruhen 
darauf, daß er den Abfall der Geiſter von Gott vermits 
telſt ihrer Freiheit nicht allein ale möglich, fondern in 
ber That als nothwendig ſetzt; Denn immer wieder, 
wenn fie auch zurädgelchrt find zu ihrem Urgrunde, follen 
fie abfallen; es liegt im ihrer Natur abzufallen. Diefe 
Nothwendigkeit hängt aber damit zufammen, daß Driges 
nes einen Abftand der Geifterwelt von Gott für nöthig 
hält oder — wenigftend in dieſem Gebanfentreife — 
den Adyog, die Ideenwelt, für geringer hält als Gott, 
und dieſe Anficht hängt wieder mit feiner Neigung zur 
Smanationdiehre zufammen, welche alle Ausflüffe Gottes 
für geringer anfleht ale ihm felbft. Daher find dualiſtiſche 
Elemente aus der Emanationdicehre auf den Origened 
übergegangen und hierin ſteht er mit den idealiftifchen 
Snoftitern auf gleichem Boden. Nur in einem Punkte 
erhebt er fich Aber fie, darin nämlich, daß er jene Aus» 
geburt einer fchwärmerifchen Phantafle, die Lehre von 
einer Reihe von Emanationen, verwarf, welde uns in 
eine weite Ferne von Bott ſtellt. Dieß ift der wefents 
lihe Kortfchritt, welcher die Lehre des Origenes in th» 
rem Verhaͤltniſſe zum idealiftifchen Gnoſtieismus charakte⸗ 
riſirt umd die bualiftifchen Ueberbleibfel in der Emana⸗ 
tionslehre mildert. 

Einen der wichtigften "Fortfchritte zur Ueberwindung 
der dualiſtiſchen Nefte machten nun die griechiſchen Kir, 
henväter, welche von Athanaflus an bie orthodore Tri» 
nitätdjehre ansbildeten. Was Baur über den Gegen. 








628 Ä Bitter 
fa gwifchen der arianifchen unb athauafianifchen Lehre 
fagt (©. 101 ff.), if viel zu unbeſtimmt gehalten und 
läuft zu fehr auf einen Unterfchied nur dem Ueberge⸗ 
wichte nach hinaus, ald daß es die Bebentung jene 
Fortſchritts andı nur von fern bezeichnen könnte. Arine 
foll dem Uebergewichte nach auf den linterfchied, Atha⸗ 
wafus dem Lebergewichte nach auf bie Einheit des Ba 
terd und des Sohnes, und beide zu fehr, gedrungen has 
ben. Ich will nur Far; angeben, was für bie Philoſo⸗ 
phie das Wefen dieſes Streites if. Arins ſtand ned 
auf dem Staudpunkte der alten Anſicht, daß Gott nichts 
gleich ſeyn koͤnne, was von ihm ausgegangen, nnd ſah 
daher auch die Offenbarung Gottes in der Welt für us 
vollkommen an. Er ſtimmte hierin mitder Emanationslehre 
überein. Athanaſius dagegen behanptete die Volllon⸗ 
menheit der Offenbarung Gottes durch feinen Sohn und 
daher auch in der Schöpfung und Erlsſung der Welt. 
Er verwarf damit bie Meinung der Emanationslehre, 
daß jeder Ausfluß Bottes des Baters geringer ſeyn wäfle, 
als Gott der Bater fell. Wenn er daher auch ber 
Formeln der Emanationdichre fidh noch bediente, wie ft 
lange nachher in der chriftlichen Kirche noch ohne Schen 
gebraucht worden finb und felbft in unfern Symbolen 
ihre Stelle gefunden haben, fo befeltigte er doch in 
Wahrheit das dualiflifche Element, welches in ihr liegt, 
nämlich Die Meinung, daß Gott fih nicht vollklommen offenbar 
zen könne und alfo infofern befchräntt fey in feiner Offen 
barung eder unter einer befchräntenden. Nothwendigkeit 
wie unter einem andern Principe che. Daß die Kor 
mein ded Athanaflus weit mehr als bie Darkellunge 
weife der Arianer an die Emanationslehre erinnern, darf 
und in der Erfenntniß ihrer Bebeutung nicht fkören. 
Wenn aber durch die orthodore Trinitätslehre die 
dualiftifchen Elemente der frühern chriftlichen Philoſophie 
von metaphyſiſcher Seite beflegt waren, fo behanpteien 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 629 


fie fi doch noch von ethifcher Seite. Hierauf bat man 
zu achten, wenn man bie. Bedeutung der auguftinifchen 
kehre richtig würdigen will. Aber gerade dieß hat Baur 
niht gethau. Er tadelt mich (S. 95 f.), daß ich das 
Poſitive in dem anfcheinenb negativen Begriffe des Bo⸗ 
jen beim Anguftinud nicht bemerft hätte; doch habe ich 
08 wohl bemerkt (Geſch. der chriſtl. Phil. &.357 ff.), nur 
nicht ganz in der Welfe, in welcher Baur es geltend 
macht, um auch den Auguſtin bes Dualiömns zu zeihen. 
Er meint nämlich, ed finden zu können in dem Willen des 
Menfchen, welcher von Bott oder vom Guten fich abs 
wende. Hierbei konnte ich nicht ftehen bleiben, weil eben 
diefer Begriff nur eine verfappte Verneiuung barbietet. 
Denn dad Abwenden befteht nur im Sichenichtchinwen. 
den, d. h. in dem Mangel der Anerkennung, daß Alles, 
was wir aus und entwideln, nur Babe und Gnade 
Gottes if, wie Auguftinus fehr gut wußte. Daß Baur 
dagegen mit jener verfappten Verneinung ſich begnügen 
lann, fcheint darauf zu beruhen, daß er dad auguftinifihe Sys 
Rem, wenigſtens von der einen Seite, im hegel’fchen Sinne 
deuten möchte. So fagt er (8. 97.): „Das Böfe ſei⸗ 
nem negativen Begriffe nach ift das Princip ber Welt⸗ 
entfiehung und Weltentwidelung. Die Welt kann ale 
Offenbarung Gottes die Vollkommenheit bes göttlichen 
Weſens nur dadurch in fich darftellen, daß fie in ihrer 
Unendlichkeit eine unendlich getheilte if. Das Böfe 
trägt daher felbft zur Bollfommenheit und Schönheit des 
Weltganzen bei, als weſentliche Bedingung deffelben, 
da Schönheit und Vollkommenheit nicht möglich if, 
ohne daß ed auch verfchiedene Grabe des Seyns, ein 
Plus und Minus, einen Mangel an Nealität gibt. 
Sol nun aber diefer negative Begriff des Böfen confes 
Auent fefigeftellt und durchgeführt werden, fo mußte aud) 
das fittlich Böfe als die Negation ded Guten genom⸗ 
men und als nothwendig zur Vollkommenheit der Welt 


630 > Ritter 


betrachtet werben. &8 fehlt beim Augufin nicht an ein 
zeinen Andeutungen diefer Art. — — Allein er it auf 
diefem Wege nicht weiter fortgegangen und fein Begriff 
der Sünde macht ed ſchlechthin ihm unmöglich, das ſittlich 
Böfe nur ald die Negation des Guten aufzufaffen.” 
Daß ich diefe Anficht feiner Lehre nicht hervorgehoben 
habe, wird mir. jum Vorwurfe gemadt. Run will id 
‚ nicht behaupten , daß Anllänge der hier entwidelten Aus 
fiht beim Auguſtin fich nicht finden laflen, aber ich mn$ 
leugnen, daB ihnen für dad Wefen feiner Lehre ein bes 
deutendes Gewicht beigelegt werden dürfe Denn weit 
entfernt davon, daß Anguſtin der Meinung geweſen 
wäre, bie einzelnen Dinge ber Welt müßten ihrem Be: 
griffe nach eine Berneinung, einen Mangel, ein Böfes 
an ſich tragen, ift er vielmehr von ber Ueberzengung bed 
Ehriftenthums, welche bie Lehre vom heiligen Beifte zu 
wiffenfchaftlicher Einficht entwidelt hatte, um fo mehr 
durchdrungen, je mehr er ſelbſt dazn beigetragen hatte, 
fie nicht allein zu verbreiten, fondern auch tiefer zu bes 
gründen, daß die vernünftigen Gefchöpfe dazu beſtimmt 
wären, vom heiligen @eifte befeelt, Chriſtum nnd in ihm 
Gott ungetheilt und ohne Mangel in ſich zu tragen und 
volfommene Abbilder des Vollklommenen zu feyn. Hierin 
beſteht der Kortfchritt, welchen die Trinitätslehre ger 
bradıt hatte und welcher nun von Augufiinus auch auf 
die Lehre von der Freiheit und vom fittlichen Leben au: 
gewenbet wurde, indem er zeigte, daß feine wahre Kreis 
heit im Sinne der Pelagianer feyn könne, weiche nicht 
zugleich Wirkung Gottes und Wert feiner Bnade wäre. 
Aber eben daß Auguſtin hiervon durchdrungen if 
und nicht abläßt, die Allmacht des heiligen Geiſtes zu 
verfünden, macht ed fchwer begreiflich, wie er ſich num 
doch entfchließen kann, dem Reiche ded Guten eine 
Schranke in dem Reiche ber. Berdammten zu feßen. Au⸗ 


üb, d. Begriff u. d. Verlauf ber chriftl. Philofophie. 631 


guſtin's Lehre von der Freiheit fchien Die alte Quelle des 
Dualismus verfiopfen zu müflen, aber hier öffnet ſich 
eine neue. Die Erklärung dieſer Erfcheinung fucht Baur 
(&. 92.) in Auguftin’d Haß gegen das Böfe, welcher ihn 
dazu verleite, Guade und Gerechtigkeit Gottes wie zwei 
Principien von einander zu trennen, und er nennt deßwe⸗ 
gen auch das amguftiniiche Syſtem eine neue Form des 
Dualismus, welche die entgegengefeßten Principien in 
Gott ſelbſt verlege. Hieriu iſt diefelbe Uebertreibung, 
welhe ſchon öfter gerügt wurde. Nur von Ueberbleib⸗ 
feln des Dualismus in einem moniftifchen Syfteme durfte 
geiprochen werden. Auch iſt es nicht richtig gefagt, 
wenn Baur behauptet, Gnade und Gerechtigkeit ftänden 
in Gott unvermittelt einandbeg entgegen, vielmehr flieht 
Anguftin beide nur ald verfchiedene Aenßerungen ber 
göttlichen Güte an, welche gegeu Gute anders ſich vers 
halten müſſe, als gegen Böſe. Aber hiervon abgefehen, 
fühlt Baur felbft, daß feine Annahme, dieſe Denkweife 
bernhe anf dem Haffe gegen das Böfe, doch eine gar zu 
tin pſychologiſche Erklärung gibt, und er führt daher 
(8, 93.) jenen Haß auf die befannte Quelle zurüd, auf 
die Rachwirkang der manichälfchen Weltanficht im Geifte 
des Auguſtinus. Warum aber, muß id nun fragen, 
macht er ed mir zum Bormurfe, daß ich in den Irrthü⸗ 
mern Auguftin’s über biefen Punkt Nachwirkungen heid- 
niſcher Dentweife fehe? Baur wird doch wohl nicht 
leugnen wollen, daß der Manichäismus felbft auf folchen 
Rahwirfungen beruhe. Alfo würde man nur fagen kön» 
nen, ich wäre anf ben eutfernteren und allgemeineren 
Grund zurüdgegangen, während er den nähern, aber 
auch mehr befondern Grund angebe. Und follte ich nicht 
gute Gründe haben, hierin von Bayr und ber gewöhns 
lien Darftellungsweife abzuweichen? Auguftin hatte 
unftreitig den Manichäißmus theoretifch hinter fich, ale 
er feine Lehre über die unbebingte ae. ent⸗ 
Theol. Stud. Jahrg. 1847, 





632 Hitter 


wickelte; was nun beunod von ben Sugenbeinbräden 
des Manichäismus im feiner Seele bamals noch zuräd: 
geblieben feyn mochte, wer Lönnte das fagen? Wer nur 
siychologifche Gründe für eine Lehre von weltgeſchicht⸗ 
lichen Erfolge aufzuſuchen liebt, ber mag barüber feine 
Muthmaßungen fich bilden. Aber eben den weltgeſchicht⸗ 
lichen Erfolg feiner Lehre und feine Brände zu erforfchen, 
darauf müflen wir es abfehen, und ihm aus ſolchen mar 
nichätfchen Reminiecenzen abzuleiten, das hieße von per 
fönlichen Beziehungen eines Mannes gar zu viel abhän 
gig machen. Seltfam, daß ich meinen Gegner hieran 
erinnern muß, ihn, welcher aus der Geſchichte der Phi 
lofophie alles Individuelle ausgefchieben wiffen wollte. 
Aber er bat das Unglück, ebaß ihm das Rechte, welche 
er weiß, nicht immer an ber rechten Stelle einfällt. 
Machen wir einen Berfuch, das Räthfel in ber Deal 
weife Auguftin’s aus allgemeineren Beweggründen, weit 
im Bildungsgange ber ganzen Menfchheit liegen, und 
zu erllären, Den Manichäismus überwand Augufin 
dnrch den Idealismus ber nenplatonifhen Schule uud 
durch ihn gingen bie Lehren der griechiſchen Philoſophie 
auf ihn Aber, wie Platon und Ariſtoteles fie ausgebildet 
hatten. In ihnen fand er zwei Punkte hanptfählid, 
durch welche ex ſich überrebete, daß die Allmacht Gottes 
mit der Nothwendigkeit bes Böfen vereinbar fey, bie 
Lehren von ber Gerechtigkeit Gottes und von ber Schöw 
heit der Welt. Beide bildeten Vorurtheile ber alten Welt, 
welche auch burd das Ehriſtenthum nur allmählich ber 
fiegt werden Tonnten. In welchem hohen Anſehen bie 
Tugend ber Gerechtigkeit bei den Alten fland, weiß ein 
Seder. Gie durfte Gott nicht abgefprochen werben. Es 
ift aber eine alte Lehre der griechifhen Philofophen, von 
Platon und Nriftoteles befonders ausgebildet, bap bit 
Gerechtigkeit in ber richtigen Berthellung der Nemter und 
Baben nach dem Werthe eines Jeden ſich bewähre Sie 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf ber chriſtl. Philofopbie. 633 


fett voraus, daß ber Werth derer, unter welchen zu 
vertheilen iſt, verfchieden fey. Eine folche Berfchieden- 
heit nimmt auch Auguflin als nothwendig an, nicht allein 
unter Steinen und Pflanzen, Thieren und Menfchen, 
fondern befonderd auch munter ben‘ Iekteren nad bem 
Grade ihrer Würdigkeit. Er forbert fie, damit Bett 
feine Gerechtigkeit in ber Bertheilung erweifen könne. 
Mit diefer Anficht verknüpfen fidy aber auch die Leber, 
bieibfel der dualiſtiſchen Vorſtellungsweiſe, welche zwei 
Reiche theilen, das Reich der Guten und bad Reich der 
Böfen, oder, wie bie griedhifchen Philofophen nach ih⸗ 
rem gemilberten Syſteme es faßten, der zur Gerechtig⸗ 
keit und zum politifchen Leben Befähigten, d.h. der Gries 
hen, und der nicht zu ihm Befähigten, d. b. der Bars 
baren. Allen diefen Annahmen folgte Auguftin, nur mit 
einigen Wbänderungen , welche bie Predigt des Chriſten⸗ 
thums am alle Böller gebet. Denn Gott hat nicht biefed 
oder jened Volk ſich erwählt, ſondern er. hatfeine Erwähls 
ten unter allen Bölfern Im feiner Schrift über den 
Staat Gottes, d. b. in feinem Hauptwerke, ſtellt uns 
nun Auguftin dar, wie der Staat ber Gerechten und der 
Staat der Ungerechten mit einander geftritten haben und 
Rreiten werden bis zum Ende aller Dinge, beide unter 
der Regierung Gottes, beide zu einer Ordnung vereinigt, 
um uns Dad Schaufpiel der Weltgefchichte zu geben und 
der eine bie Gnade, der andere die firafende Gerechtig⸗ 
feit Gottes zu offenbaren. Wer kann hierin die alter» 
thümliche Färbung feiner Gedanken verkennen? Nicht 
minder, glaube ich, leuchtet fie daraus hervor, daß Aus 
‚gufiin die Nothwendigfeit des Guten und des Böfen 
auch aus der Schönheit der Welt herleite. Der Ges 
danke der Schönheit ift auf das tieflte allen feinen Leh⸗ 
ven von Gott eingeprägt. Er hört nichtauf, feine Schön» 
beit zu preifen. Gott ift bee Schönfte, der Grund aller 
Schönheit; daher hat er zu feiner Offenbarung auch Alles 
45 * 


63% Ritter 


nad) Maß und Zahl georbnet; deßwegen mußten in der 
Welt verfchiedene Dinge feyn, andy Gegenfäße, weil 
ohne fie nichts fchön feyn würde. Und nun bemerkte man, 
wie bei den Alten Gutes und Schönes für gleichbeben: 
tend gelten. Auch hierin ift Auguſtin der alterthämlichen 
Denkart treu geblieben. Bon ihr and fordert er, daß bem 
Guten audı Böfed beigemifcht ſeyn müſſe, weil, wenn Allee 
gut wäre, Alles einförmig feyn und nichte hervorgläw 
gen würde Wie nachdrücklich bringt er darauf, daß 
durch ſchwarze Stellen die Schönheit bed Gemaͤldes gehoben 
werden müfle, daß ein Kleiner Schler eine große Schön 
heit abgeben koͤnne, daß die Tugend, num zu glänzen, 
zu ihrer Folie das Lafter verlange! Dieß find bie als 
gemeinen Gründe, durch welche Anguſtin nicht allein bie 
Möglichkeit des Böfen, fonbern in der That feine Roth: 
wenbigfeit ſich befchönige, Sollte ich irren, wenn ih 
bierin eine Nachwirkung der alten heibnifchen Denkweiſe 
und Philofophie zn erkennen glaube? 

Die Berfchiedenheit meiner Meinung von der, melde 
Baur vertritt, läuft auch bier wieder darauf hinaus, 
daß diefer nur die metaphpfifchen Beweggründe hervor 
heben und fie durch eine freie Deutung dem Auguſtin 
aufdrängen möchte, während ich den ethifchen Beweg⸗ 
gründen ihre Recht zu bewahren fuche. 

Daflelde gilt für unfere Benrtheilung ber mittelal 
terlichen Philoſophie, über welche ich noch einige Bewer⸗ 
tungen hinzufügen wid. Es geht daran hervor, daß 
Baur bei der Meinung Tennemann’s beharrt, welche in 
bem Gtreite zwifchen Nominalismus nnb Realismus dad 
bewegende Princip der fcholakifchen Philsſophie ſucht 
(5. 203,), während ich biefen Streit zwar keineswegs 
für unwichtig halte, ihm aber doc; nur eine untergeord- 
nete Bedeutung beilegen kann, indem er erft bein Ber 
_ falle der theologifchen Syſteme eine enticheidende Role 

übernimmt. Meine Anficht von ber mittelalterlichen Phi 


üb, d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 635 


lofophte läuft Dagegen daranf hinans, daß ich in ihr bie 
Entwidelung eined theologifhen Syſtems fehe, weiches 
das religiöfe Leben im firengfien Begenfaße gegen das 
weltliche. Leben faßt. Eben hierin trägt fie den Keim eis 
nes unerträglichen Zwieſpalts in ſich, weicher, zur Ents 
widelung gekommen, göttlihe und weltlide Weicheit 
von einander abzulöfen firebte und Dadurch auch zur Aufs 
Iöfung des Syſtemes felbft führte, 

Wenn ich nun durch einleuchtende Thatfachen dars 
gethan habe, daß der Rominalidömus vor bem 14. Jahrh. nur 
eine ſehr unbedeutende Erfcheinung in der Philofophie 
des Mittelalters war, fo fucht dagegen Baur allerlei 
Beweife zufammen, welche ihm eine größere Wichtigkeit 
beilegen follen, @r verräth aber dabei in der That eine 
gänzliche Verwirrung über die Begriffe des Nominalis⸗ 
mus und Des Realismus, wie fie im Mittelalter gefaßt 
wurden. &. 191, findet er einen Widerfpruch darin, daß 
ih einmal dem Joh. Scotus eine idealiftifhe Lehre zus 
ſchreibe, ein andermal behaupte, er ſey entſchiedener Ders 
fechter des Realismus. Als wenn der Realismus des 
Mittelalters, die Behauptung der Wahrheit der allge 
meinen Begriffe, nicht mit dem Idealismus auf das befte 
beftehen könnte. Baur verwechſelt hier den Realismus 
bes Mittelalterd mit dem, was in nenerer Zeit fo ge⸗ 
nannt worben ift, Um ben vermeintlichen Rominaligmug 
Abalard's zu vertheidigen, dba er nicht leugnen kann, 
daß er den Realiömusd behauptet babe, unterfucht er 
(S. 196.), ob ed nicht eine Form ded Realismus geben 
könne, welche vom Rominalidmnd nicht verfchieden fey, 
und findet eine folche in der Lehre von der Realität des 
Allgemeinen in den befonderen Dingen (universalia inre). 
Wenn dieß wäre, worauf liefe der Streit zwifchen beis 
den Anfichten hinaus? Der Nominalisſsmus beftreitet eben 
bie Wahrheit des Allgemeinen auch in den Dingen; es 
iſt ihm nur im abfirahirenden Verſtande; nach feiner 


636 | Ritter 


Meinung HibE es mır Beſonderes. Daher iſt denn and 
die Behanptung Baur’s (S. 208.), baß dee Gegenſatz 
zwifchen Nominalismus uud Realiduns, wenn mau weis 
ter zuruckgehe, anf den Unterſchied zwifchen ariftotelifcher 
und platonifher Philofophie zurückführe, für ierig zu 
balgen. Die Ariftoteliter, welche die unlveraslia in re be: 
haupteten, gehören nicht weniger den Realiften an, ale 
die Platoniker, welche die universelle ante rem a 
nahmen; bie Nominaliſten dagegen lehrten, daß es nur 
aniversalia post rem gebe, db, h., daß jeder allgemeine 
Begriff nur nachher im Berfiande, a posterlori entftehe, 
nachdem die einzelnen Dinge vorher geweien und durch 
ihre finnliche Erfcheinung zur Bildung bed allgemeinen 
Begriffes und erregt hätten. Daß diefe Lehre auf ari⸗ 
ſtoteliſche Satze zurückgeführt wurbe, berechtigt ums nicht, 
fie dem Ariſtoteles beizulegen. 

@den fo irrig iR das, was Baur bei dieſer Gele 
genheit Aber den Einfluß der platonifchen und ariſtoteli⸗ 
fen Philoſophie auf die Theologie des Mittelalters 
ſagt. Er möchte die alte Meinung von der durchgehen⸗ 
den Belanntfchaft der Scholaftiter mit ber ariſtoteliſchen 
Phäloſoßhie aufrecht erhalten und beruft fich. dafür auf 
die Durch das ganze Mittelalter verbreitete Kenntniß des 
Porphyrius und Boethins, auf die Schriften des Abä- 
bard, des Seh. von Galiöbury, fo wie auf die dialek⸗ 
tiſcht Methode der Scholaftifer. „Alles,” fagter (5. 207.), 
„was man hauptfäclich zur artftotelifchen Methode zu 
rechuen pflegt, die Definition, die Induction, der SyUo⸗ 
gismus, gehört weientlich zum wiſſenſchaftlichen Verfah⸗ 
ren der Scholaftifer. Daß fie auf diefem Stanbpumkte 
der logiſchen Abſtraetton und Meflerion ficken, iM für 
ihre Verhultniß gur ariſtoteliſchen Philoſophie weit charak⸗ 
teriſtiſcher, als die Ueberrinſtimmung mit Lehren nad 
Principien der ariftotelifchen Metaphoſtt, bie fich etwa 
bei ihnen nadyweifen IAßt.” 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 637 


Ich mag nmicht von Nenem wicberholen, was ich über 
digen Punkt an einer anderen Stelle (Schneidewin’s 
Philologus. 1846, ©. 61 ff.) gejagt habe, mu aber doch 
Einiges gegen diefe Beweisführung bemerken. Sie läuft 
fat gänzlich auf die Iogifche Verwandtſchaft der Scholas 
ſtiker mit dem Ariftoteled hinans. Denn Porphyr und 
Boethind, wie die Schriften bed Abälard, welche bier - 
gemeint find, auch Joh. von Galiöbury größten 
theils betreffen nur die. Logik des Ariſtoteles. Wenn 
nun hierauf dad Hauptgewicht füge, warum bemüht 
fh Baur, vom Anfelm zu zeigen, daß ee Platoniker 
gewefen (S. 204 f.)? Denn aud er bedient ſich ber 
oben begeichneten Methoden. Baur kann doch gegen 
meine Angaben nicht leugnen, daß es viele Plasonider im 
Mittelalter gegeben; fle alle aber gebrauchten dieſelbe 
Methode. Ja, was noch mehr ift, Platon felbfi ges 
braucht ſte; die Induction und die Definition hatte er 
beim Sokrates Bennen gelernt und ſollte er ſich des Syllo⸗ 
giomus enthalten haben? Das wäre sun wohl ein gar 
zu grober Anachroniömud, wenn wir ihn bewegen einen 
Arikkoteliter nennen wollten. Gebranchen wir nicht noch 
immer alle diefe Methoden? Was Baur den Stand» 
panft Der logifchen Abftraction und Reflerion neunt, die 
meiften oder alle neuere Philoſophen stehen auf ihm in 
ihren linterfachungen zuweilen oder immer. Und nicht 
anders iſt es bei den Scholaſtikern. Sind deßwegen jene 
wie diefe Ariſtoteliker? Man fieht, Baur hat entſchie⸗ 
denes Unglütk, wo ev auf das Gebiet ber. Logik ſich ver» 
irrt. Es wirb wohl bei meiner Behauptung bleiben, daß 
es nicht auf die. Logik, fondern auf die Metaphyfil an» 
fomme, wenn vom linterfchiede der Platoniker und Arie 
Rotelifer im Mittelalter die Rebe ift. 

Baur ſelbſt kann nicht umbin, die Metaphyſik herbeis 
zuziehen, wenn er dieſen Unterfchied erörtert, Wenn er 
den Plateniomus des Ich. Scotus (S. 192.), des Ans 





638 | Ritter 


felm (S. 204. barthun will, hat er es mit metaphyſiſchen 
Begriffen zu thun; obenſo, wenn er behauptet, daß ‚pie 
Grundauſchauuug bed Thomas von Aquino platoniſch 
ſey (S. 218.). In den beiden erften Fällen hat er Recht, 
im dritten Kalle würden feine Behauptungen großer Be⸗ 
fchränfungen bebürfen. Ich führe diefen Fall beſonders 
an, um bemerflich zu machen, wie Baur in feiner Be 
artheilung auch der fcholafifchen Syſteme mit der größs 
ten Gewaltſamkeit verfährt. Er überficht ed ganz, daß 
Thomas in der Form feiner Lehre überall an den Ari 
ſtoteles ſich anfchließt, mehr als alle frühern Scholaſtiker. 
Die Grundanſchauung feiner Lehre findet er darin, daß 
Gott ald das Seyn gedacht werde. Daß Thomas Bott 
ald actus, ald Urfache, ale Schöpfer durch feinen Willen 
denkt, darin findet er nur Widerſprüche mit feinem Prin- 
cipe. Wenn Thomas die Richte Ewigkeit der Welt für 
einen Glaubensartikel erklärt, fo findet Baur darin einen 
Beweis feiner platonifchen Grundanſchauung, troß dem, 
daß biefe Behauptung. überall auf die Lehre des Ariſto⸗ 
tele® fich beruft. 

Noch einen Punkt muß ich berähren, in welchem 
Baur meiner Anficht über die Philofophie des Mittelal: 
ters Aviberfprocken hat. Sich finde nämlich den Unter⸗ 
fchied zwifchen patriftifcher und mittelalterlicker Philos 
fophie darin, daß jene überwiegend polemiſch, Diefe 
überwiegend foftematifch if. Baur wirft. mir Dagegen 
von der Seite ber Kirdyenväter den Origenes und ben 
Auguflin, von der Seite der Schslaſtiker den Anfelmus 
ein (S. 186,), Er hätte wohl beffere Beiſpiele finden 
können. Dad Schwanken des Origenes macht ihn zu 
einem fchlechten Syſtematiker und bezeichnet die Natur 
feiner Lehren als polemifd, Eben fo überwiegend if 
beim Auguſtin die Entwidelung feiner Gedanken im 
Streit. Vom Anfelm habe ich bemerkt, wie feine ein: 
einen Abhandlungen fi zu einem Syſteme zuſammen⸗ 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philoſophie. 639 


fchließen wollen unb er noch an feinem Ende daran 
dachte, dieß Syſtem abzurunden. Solche Einzelheiten 
entfcheiden jedoch die Sache nicht; ed Tommt auf .den 
allgemeinen Charakter diefer Zeiten an. Da wird man 
aber wohl kaum verkennen fönnen, wie mißtrauiſch das 
Zeitalter der Kirchenväter gegen die Syſteme der alten 
Philoſophie it, wie ed nur einzelne Lehren berfelben ſich 
aneiguet umd nur im Gtreite gegen die aus der Philos 
fophie eingebrungenen Keßereien feine Dogmen ausbil⸗ 
det. Das Mißtrauen gegen die alte Philoſophie hatte 
die Zeit im Allgemeinen in Bergeflenbeit gebracht; unter 
den nenern Bölfern fühlte man das Bebürfniß, neben dem 
chriftlichen Glauben anch die alte Wiffenfhaft der Grie⸗ 
hen und Römer nicht ausſterben zu laſſen; bas Mittel» 
alter ift zwar zum Streite der Nenern gegen Reuere ger 
neigt, gegen das Alterthum aber ift es gläubig; es fühlt, 
daß ed zu lernen bat; in feiner trenherzigen Meiſe gibt 
es fich den Lehren des Platon, des Arifteteled bin, wo 
ed derfelben habhaft werden kann. Diefer Dogmatismus 
mußte das Spftem bervortreiben, wie es denn mit wadır 
fender Macht der Gemüther ſich bemteifierte. Skeptiſch, 
kritifch, polemifch it der Sinn dieſer Zeiten im Allge⸗ 
meinten nicht; es bedurfte fehr Marker Gegenſätze, um fie 
aus ihrem Blanben an das Spflem der Wifleufchaft herr 
andzntreiben. Diefe Gegenſätze fehlten aber freilich auch 
nicht und die Eatwidelung berfelben muß man beobadıs 
ven, wenn man den Kortichritt diefer Zeiten begreifen 
will. Baur fireites nur mis einem Schatten, wenn er 
Wlaubt, meine Meinung zu treffen, indem er erinnert, 
daß aus dem Kampfe ſolcher Gegenfäße der Fortſchritt 
in der Entwidelung hervorgehe (S. 188), nur darin 
muß ich ihm widerfprechen, daß der bewegende Gegens 
fa in den Lehren des Nominalismus und‘ des Realie- 
mus gelegen habe (S. 203.). Auch hierin beweilt Baur 
feine Vorliebe für das fpeculative Element in der Theo⸗ 











642 Ritter 


+ 


ihre Unerträglichleit den Umfchwung in eine uene Zeit 
herbeiführen mußte. 

Da ich nur in kurzen Zügen den wenig befannten Gang 
in ber Philofophie ded Mittelalters hier fchildern konnte, 
habe ich andy nur der groben Züge mich bedienen kön⸗ 
nen; erft durch eine feinere Ausmalung würbe das Bild 
fein Leben und feine volle Wahrheit erhalten Tönnen, 
Möge fi Niemand an die Eden flogen, welche geblier 
ben find; daß gegen bie Richtigkeit derfelben Einwen⸗ 
dungen gemacht werben könnten, wird ber Wahrheit der 
Zeichnung keinen Abbruch thun. Um nicht zu weitlänftg 
zu werben, muß man mandye Regel zu allgemein aus⸗ 
drüden, 

Ich fchließe mit der Bemerkung, daß meiner Auficht 
nach in den. Entwidelungen der chriftlichen Philofophie 
auter den Kirchenvätern und Scholaftitern bis auf bie 
neuere Zeit, was ihre Beziehungen zum Dnalismus ber 
teifft, ein fehr verfländlicdher Plan if. Wir haben früher 
bemerkt, daß vor der Entwidelung bed Monotheismus 
-in feiner gangen Strenge und mit der vollen Hoffnung 
auf Erlöfung das Gefühl des Webeld ſich fchärfen, fo 
wie bie idealen Forderungen ſich fleigern mußten. And 
jenem Gefühle des Uebels drangen die dualikifchen Bor: 
ftelungsweifen auch in dad Chriſtenthum ein, fogar im 
ber groden Geftalt, welche wir noch ‚lange Zeit in ben 
manichätfchen Seeten nachwirken feben. Doc wurbe dies 
fer grobe Dualiomus bald als ketzeriſch erkannt. Nicht 
fo ſchnell gelang bieß mit den Leberbleibfeln des Dualis- 
mus, welche in ber Emanationdichre mit polytheiſtiſchen 
Borkellangsweifen fidy verfegt Hatten. Wir haben ge 
fehen, wie fie in der Lehre ber Balentinianer in gröbe⸗ 
zer, in ber Lehre bes Drigenes in feinerer Geſtalt ſich 
erhielten, zuletzt aber durch die orthodore Trinitätslchre 
überwunden wurden. Diefer Sieg bed Monotheismus 
in der metaphyſiſchen Anficht ber Dinge konnte aber doch 


N 


üb. d. Begriff u. d. Verlauf der chriſtl. Philofophie. 643 


die praßtifche Geſinnung, welche den Völkern des Alters 
thums innewohnte, nicht völlig brechen, In der Lehre ber 
Pelngianer, welche eine von Gott unabhängige Freiheit 
ſuchte, hatten ficy noch andere Nefte bed Dualismus er⸗ 
halten. Gie wurben durch Auguftin befiegt, aber in einer 
Weiſe, welche wieder den Gegenfag in der Vorherbeſtim⸗ 
mung Gottes nicht andzufcheiben wußte. Er wurde 
für nothwendig gehalten wegen der Gerechtigkeit Bottes, 
wegen der Schönheit ber Welt. In folder Weife famen 
Ueberbleibfel ded Dualidmus auch auf die neueren Böls 
fer des Mittelalters, bei welchen fie in bem fchroffen 
Gegenfage zwiſchen Firchlichem und weltlichen Leben ſich 
feſtſetzten. Auch diefer Gegenſatz wollte fih ausleben. 
In feiner höchſten Steigerung führte er dazu, daß bie 
Wiſſenſchaft und die Kunſt des Alterthums, welche mit 
dem Chriſtenthume zu vereinigen die Aufgabe war, dem 
weltlichen Leben zugezaͤhlt und mit dieſem für nichtig und 
unbeilig gehalten wurben, Die neuere Zeit hat die Auf⸗ 
gabe gehabt, das Weltliche wieder zu Ehren zubringen; 
fie har aber aud hierin nicht Maß zu halten gewußt; 
anftatt es Durch feine Berfhmelzung mit dem Kirchlichen 
in heiligen, hat fie es zu ihrem Abgotte gemacht. Die 
Einheit, weiche fie fuchte, hat fie in der Natur zu fin, 
den geglaubt und dadurch den Idealen der Vernunft Ab: 
bruch gethan. Wenn wir feit etwas länger ald einem 
halben Jahrhunderte von diefen Abwegen zurüdgelommen 
find, fo ftehen wir doch, bünft midy, noch eine ziemliche 
Weite von der. Bereinigung des Weltlichen und bed 
Geiſtlichen ab, welche wir gewinnen möchten, wie im 
praftifchen Leben, fo in der Wiffenfchaft. 








2. 


Rebukadnezar. 


Eine Unterſuchung über das Verhältniß der Perſer zum 
babyl. Reiche, mit beſonderer Berüdfichtigung der Schrift: 
The times of Daniel, by George Duke 
of Manchester. 


Bon 
Prof. A. Ebrard. 


Es hat biäher im Allgemeinen als eine unbehrittene 
geichichtliche Boransfegung gegelten, baß vor der Sräus 
bung bed perfifchen Reiches durch Cyrus ſchon zwei 
größere Reiche in dem Gebiete ded Enphrat nnd Tigris 
beftanden hätten, erſt dad affyrifche unter Phul, Tig⸗ 
ladpilefar, Salmanaflar, Sauberib u. f. w,, ſodann das 
babyloniſche unter Rabopalaflar, Rebuladuezarn. |. w. 
Schon Joſephus erzählt fo, und feit Joſephus iR — mit 
geringen Ausnahmen — NRiemanden in den Sinn ges 
kommen, bie Richtigkeit dieſer Anfchauung in Krage an 
ſtellen. 

Ein jeder Zweifel mußte auch verſtummen, da ſelbſt 
Manetho (bei Los.c. Ap.) in einem uud demſelben Frag⸗ 
mente berichtet, Nebnkadnezar habe Jeruſalem zerftört 
und Eyrus die Erlaubniß zum Wieberaufbaue gegeben. 
So wird ja die Erzählung der a, t. Bücher (2 Chrom. 
Esr. Neh.) aufs glänzendfte beätigt. Und daß der „Ko- 
vefch” diefer Bücher und der „Cyrus“ des Manetho 
eben jener berühmte Gründer bed perfifchen Reiches ſey 
— wer in aller Welt wollte ed anders vorausſetzen? 

Freilich könnte ed auffallen, Daß Herodot eines fo 
großen und mächtigen Reiches, wie bad babylonifche 


Nebukadnezar. 645 


nach den Berichten bed A. T. geweien feyn muß, gar 
feine Erwähnung thut. Indeffen auch diefer Umſtand 
bat im Ganzen die kinmal feftfichende Heberzeugung nicht 
wankend zu machen vermocht. 

Jetzt aber hat biefelbe plöglich einen gewaltigen Stoß 
erhalten. Es ift, ale ob das fiegreiche Albion, nicht zus 
frieden, die Meere und Küften der Gegenwart in einem 
Umfange zu behersfchen, in welchem die Sonne nicht un 
tergeht, num auch feine Eroberungen in bie graue Bers 
gangenheit ausdehnen und uralte Weltreiche, die biöher 
in den Archiven der Wiflenfchaft ruhig und unanugefoch- 
ten nebeneinander lagen, libereinander ſtürzen und ihnen 
ganz andere Pläße anweiſen wollte Doch Scherz bei 
Geite, fo muß man wohl zugeſtehen, daß auch auf Dies 
ſem Felde mit einem NReichthume von Subfivien nnd eis 
ner Umſicht und einer Entfchloffenheit gefochten wird, 
welche einem Herzog ans dem glorreichen englifchen Könige: 
hanfe zum Höchften Ruhme gereicht, und daß biefer willen» 
fhaftlihe Feldzug fich den irdifchen Waffenthaten feiner 
Ration getroft zur Seite ftellen kann, 

Der Herzog Georg von Manchefter hat in dem1845 
iu London bei James Darling erfchienenen Werte: 
„The times of Daniel, chronological and prophetical, exa- 
mined with relation to the point of contact between sacred 
and profane chronology," ſich zunädft die Aufgabe ger 
Rellt, über die fiebenzig Jahre der Gefangenfchaft, fo 
wie über bie fiebenzig Jahrwochen bis Chriftus ausführ⸗ 
lihe Unterfuhungen anzuftellen, ausgehend von ber 
Hoffnung, daß der theopneuftifche und prophetifche Cha⸗ 
rakter fänmmtlicher biblifcher Bücher fih auf wiffenfchafts 
lihem Wege werde rechtfertigen laſſen. Seine Unterfns 
chungen felbft find, wie wir fehen werben, vorurtheile, 
frei; er macht den Berfuch, wie weit man komme, wenn 
man fürerft einmal die Ehronologie der h. Schrift für 
fih behandle, ohne fogleich im voraus Bergleihungen 


646 Ebrard 


mit der Profangeſchichte einzumengen, und dann erſt bie 
letztere mit in Rechnung ziehe. Wir nehmen keinen Ans 
ſtand, dieſe Methode als eine ſehr vorzügliche und wahr⸗ 
haft wiffenfchaftliche anzuerkennen; wiffenfchaftlicyer, als 
wenn man, ehe man noch die zufammengehörigen Mo» 
numente ber fitteratur eines Einzelvolkes in ihrem Zu⸗ 
fammenhange geprüft hat, fogleich den Kreis diefer Mos 
nnmente felbft Durch vorfchnelle Kritik zerreißt. Die ger 
nane Durchforfhung des kritiſch zu beurtheilenden Ob⸗ 
jected in feiner Ganzheit muß der Kritik des Eingelnen 
vorangehen. Es ift dieß, wie und fcheint, die einzig 
mögliche Art, eine im guten Sinne vorausfeßungslofe 
Wiffenfchaftlichleit mit dem gläubigen Bertrauen, daß 
die h. Schrift fi als Wahrheit bewähren werde, zu 
vereinigen. Und daß ein ſolches Bertrauen weder mit 
ber größten Gelehrſamkeit, noch mit dem feiuften Scharf: 
finne unvereinbar fey, bat der erlauchte Verf. thatfächs 
lich bewiefen, 

Er faßt jene beiden Fragen nicht ifolirt anf; er 
gründet feine Linterfuchungen über die 70 Jahre und 70 
Jahrwochen vielmehr auf eine ungeheure Subfiructiom, 
weiche im Grunde die gefammte biblifche und profane 
Chronologie von Salome bis auf Ehriftud umfaßt. Uns 
fere Abſicht war anfänglich, ſaͤmmtliche Abtheilungen feis 
ned reihen Werkes zu. verfolgen; allein um bieß in 
gründlicher Weife thun zu Pönnen, müßten wir faft ſelbſt 
ein didleibiged Werk liefern. Go wollte ed paflender 
fheinen, eine Hauptpartie aus dem liebrigen herauszu⸗ 
beben: die Unterfuhungen über das Berhälts« 
niß des perfifhen Reihes zu Babel. Diefe 
bilden faft die Hälfte des Buches und dienen allem Fol⸗ 
genden, nämlidy der eigentlichen Frage nach den 70 Jah» 
ren und Jahrwochen, zur Subfiruction. Daß wir nun 
gerade jene Partie herausheben, hat einen dreifachen 
- Grund, Erſtlich bilder fie ein felbändiges Ganzes für 


Nebukadnezar. 647 


ſich und liefert ein Reſultat von ſolcher Bedentung und 
Wichtigkeit, daß, wenn daſſelbe Anerkennung findet, das 
durch eine Revolution in der Gefchichtöforfchung der 
älteften Zeit hervorgerufen wird, ‚nicht minder groß, 
als die Revolution, welche Copernieus in der Aſtrono⸗ 
mie bervorbrachte. Sodann fcheint mir dieſes Reſultat 
in fich geficherter, als das ber darauf weiter gebauten 
Unterfuchungen über die 70 Sabre und Jahrwochen, unb 
jenes kann ſtehen bleiben, wenn auch biefed ſich ale uns 
haltbar erweifen ſollte. Endlich eriftirt in Bezug auf 
letzteres bereitd eine fehr gründliche Beurtheilung von 
Wiefeler Cin den gött. gelehrten Anzeigen v. J.), wähs 
rend auf bie Unterfuchungen über Babel und Perfien 
dafeldft wenig Rückſicht genommen ift, fo daß wir jene 
Anzeige durch dieſe Blätter zu ergänzen hoffen. 

Anfichtlid, fielen wir das Nefultat des Verf. über 
Babel und Perfien nicht im voraus vor die Augen un⸗ 
ferer Leſer, fondern folgen dem Gange ber Unterſu⸗ 
hung, durch welchen ber Berf. auf fein Refultat ger 
führt wird. 

Er beginnt im 2, Kap. mit eine Berechnung 
der Zeit von Salomo bis zum Erile, welche wir, 
obwohl fie nicht in engerer Bezichung zu unferm Haupt⸗ 
objecte fteht, doch in Kürze verfolgen müflen, um den 
Faden nicht zu verlieren. Scharffinnig ift die Vorbemer⸗ 
tung, daß die Negierungszeiten der Könige des Zehn, 
ſtaͤmmereichs häufig nah Jahren und Monaten, 
die der jüdischen Könige aber (mit Ausnahme des Zebes 
tab) immer nur nad Jahren angegeben werden. 
Daraus laſſe fich fchließen, daß die letzteren nadı der 
Abſicht der bibl. Schriftfteler eine fortlaufende chron- 
Reihe zu bilden beftimmt waren, mit anderen Worten, 
daß die allfäfig nöthige Ineinanderrechnung überſchüſſi⸗ 
ger oder fehlender Monate fhon vom bibl. Autor 

Theol. Stud, Jahrg. 1847, 44 


648 0 Me. 


ſelbſt beforgt fey, der Die Regierungézeit her jüb. Kö⸗ 
nige auf die Sahre einer abfoluten, fortlaufenden Nera 
redueirt habe, Diefe Bemerkung if gewiß um fo wid. 
tiger, wenn man fich erinnert, daß es die Weife ber 
ganzen a. 6, Geſchichtſchreibung iſt, ſich am Fader firer 
chronologiſcher ober genealogifch= chrouologifcher Reihen 
fortzubemegen, Damit ift dann aber allen Conjecturen 
von Snterregnid und Synarchien im Reiche Juda ber 
Meg abgeſchnitten. 

Die einzelnen Fälle, wo man folcdhe GSonjecturen 
machen zu müuſſen -glanbte, behandelt der Verf, ſehr 
gründlich. Daß erfilih 2 Kön. 15, 30. Hoſea's Regie⸗ 
sungsantritt, nbgleih nach Jotham's Tode flattfindend, 
dod nach Jahren Jotham's und nicht nach Zahren bes 
Ahas berechnet wird, erflärt ex (nach dem Borgange von 
de Vigunled und vielen Anderen) einfach und richtig dar⸗ 
aus, daß 2 Kin. 15, der Name Ahas Überhaupt noch 
niet genannt wosrben war. Schwieriger finb aber zwei 
anbere Fälle. 

Der eine betrifft die Regierungszeit Amazie’d mu» 
Serobeam’d I. Amazia warb König im zweiten Jahre 
nach Dem Negieruugsantrittg bed Joas von Ifrael und 
regierte (a Kön. 14, 1.) 39 Sahre lang, alfo bie zum 
31. Jahre nad isnem Regierungsantritte, (Wir wollen 
her Bequemlichkeit halber die Jahre von jenem Autriste 
Des Joas am ald eine fire sera lonain betrachten.) Auf 
bafleibe Jahr 31 a. I. wird ber Tod des Amazia verlegt 
ig der Stelle 2 Fön. 14, 17., wo nämlid; gejagt wird, 
Amazia habe den Joas (der 16 Jahre regierte) um 15 
Sabre überlebt O6r15 = 31). Go regierte alfe 
Amazia 2—31 a. I. — Jerobeam ward König im 15. 
Sahre des Amazia (17 a. I.) und regierte (nach 2 Kön. 
14, 23,) 41 Sabre, alfpo: Jerobeam 17—58 a. I. 
Ufa wurbe im 27. Jahre bed Jerobeam König und 
vegierte 52Jahre (2 Kön. 15,1), alfo Uſia 4 — 6 a.Il. 


\ 


Nebufadnezar. 649 


Sacharja beſtieg im 38. Jahre des Uſia ben Thron, alſo: 
Sacharja 82 al. 

Hier fallen alſo in Juda zwiſchen Amazia und Uſia 
die leeren Jahre SL — 44, in Iſrael zwiſchen Jerobeam 
und Sacharja die leeren Jahre 66 — 82. Wirklich nah⸗ 
men Lightfoot, Hales u. A. zwei Interregna an. Aber 
ein ſolches Interregnum müßte irgendwie erwähnt oder 
angedeutet ſeyn; die Stellen. 2 Kön. 14, 21.; 2 Chron, 
26, 1. fchließen vielmehr jede Möglichkeit aus, und ge 
beu deuntlich zu verſtehen, daß der Nachfolger dem DBorr 
Hänger unmittelbar fuccedirte. Der Berf. hält deßhalb 
die Aunahme einer Tertcorruption mit Recht für willen, 
ſchaftlicher, ald jene gekünftelten Oppothefen, Er gewinnt 
folgenpermaßen sine Gorrection. Bon dem Tode bes 
Ufa, der unzweifelhaft mit dem eriten Sabre des Pela 
sufammenftel, rechnet er die Negierungszeiten ber ifr. 
Könige aufwärts (ohne zwiſchen Serobeam und Sacharja 
ein Interregnum anzunehmen); nun war (2 Rön, 14,23.) 
das 18, Jahr des Amazia gleid dem 3. des Jerobeam 
und (nach 2R5n.15,2.) gleich dem 1. des Ufla, Daraus 
ergibt fich, daß Uſia im 18. 3. des Amazia (20a. I.) defr 
fen Nachfolger wurde, und bie beiden Stellen 2 Kön, 
14, 17.; 15, A. müflen corrupt ſeyn. 

So fehr wir hier gerade die kritiſche Freiheit des 
Berf. anerfennen, können wir doch nicht mit ihm über, 
einkimmen. Es if wirklich noch ein Weg ber Ausglei⸗ 
hung vorhanden, der wenigftend geprüft zu werben vers 
dient. Beachten wir, daß (3 Kön. 14, 13.) Amazia von 
Joas nicht etwa getödtet, fondern in Gefangenſchaft 
gefegt Cem), Ierufalem gefchleift (V. 21.) und fein 
Sohn Ufia vom Volke zum Könige gemacht wird, und 
daß es ferner (DB. 17.) beißt: Amazia lebte (midht: res 
gierte) noch 15 Jahre) Hiernach fcheint uns Die Sache 
folgendermaßen zu ſtehen. Joas führte den Amazia ge⸗ 

44 * 


.650 Ebrard 


fangen; ſogleich damals muß fein Sohn Ufia 
zu einer Art von Herrſchaft nuter ephraimis 
tifher Botmäßigkeit gekommen feyn, denn 
Joas nahm Geißeln (marmı2) mit; Geißeln nimmt 
man aber nur zur Gewähr für eine von einem Andern 
dauernd Üübernommene Pfliht, Setzte Joas einen ephrais 
mitifchen Bogt in Serufalem ein, fo bedurfte er Feiner 
Geißeln. Nah Joas Tode lebte Amazia (B. 17.) no 
15 Sahre, und zwar nun nicht mehr in Gefangenſchaft, 
fondern (anfänglidy wenigſtens) (B. 19.) in Serufalem. 
Er muß alfo wohl nach des Joas Tode feine Freiheit 
wieder erhalten haben. Er ward alfo wieder Kö 
nig. Rurfoerklärtfich, wie fein eigenes Volk (V. 21.) 
ihn verjagen und den Ufla zum Könige machen Fonnte. 
Diefe zweite Entthromung muß von ber erflen ver. 
fchieden feyn; denn das erfie Mal war ed nicht das 
Bolt, welches ihn verjagte, fondern Joas, der ihn ges 
fangen fegte. Wir haben Freiheit, diefe zweite Entthror 
nung in das 18. J. ded Amazia (20 a. I), alfe drei 
Sabre nach Joas' Tode, zu ſetzen. Amazia lebte nun 
zu Lachis (noch 12 Jahre, denn 3 + 12 = 15), Wenn 
felbt dorchin ihn eine jüdifche Verfchwörung verfolgt 
und ihn dort töbtet, und wenn ferner Ufla (2 Ehron. 
26, 2 — 6.) nach feines Baterd Tobe fi vor Allem gegen 
philitäifhe Angriffe, gegen Angriffe von dorther, 
zu wappsten bat, fo liegt bie Bermuthung nahe, daß 
Anazia von dort aus Jeruſalem nnd den Thron feines 
Sohnes beunruhigt haben müffe. Noch immer fland ins 
zwifchen Juda im Zinsverbältniffe zu Iſrael, bie zum 
27.%. des Jerobeam (44 a.1.), wo Uſia (2Chron. 26,9 ff.) 
Jeruſalem befefligte und fein Volk frei machte. — So 
fimmen nun alle Angaben zufammen. Bon 44 a. 1. 
an wirb 2 Kon. 15, 1. fein Regiernngsantritt 
im vollen Sinne gerechnet, während bie 52 Regie 


Nebulabnezar. 651 


rungsjahre ebendafelbfi vom Jahre 20 =. I. an zu 
zählen find «). 

Die zweite Schwierigkeit betrifft den König Hoſea. 
Dela regierte 20 Jahre. (Wir rehum die Jahre von 
feiner Thronbefleigung an wieder ale abfolute sera Peca- 
sis.) Sotham regierte von 2 — 18, Ahas vom Jahre 18 
an; über Hofea aber bifferiren nun bie Angaben. Nach 
2 Kön. 15, 30, regierte er vom 20, Jahre nach os 
tham's Regierungsantritte, d. i. vom 4. Jahre des Ahas 
(21 ser. Pec.) an; dagegen nach 2 Kön. 17, 1. vom 21. 
Yahre des Ahas (30 ser. Pee.) an. Der Herzog von 
Manchefter löſt diefen Widerſpruch, indem er 2 Kön. 17, 1. 
Po ald Pindquamp. Überfegt. Allein dann wäre ed allein nas 
türlih, die V. 2 ff, erwähnten Negierungsjahre des 
Hofen für identifh mit den V. 1. erwähnten (ben 
Sahren 21 — 30 zer. Pec.) zu halten. Da dieß nicht 
angeht, weil ja fonft die B. 6. erwähnte Zerftörung 
Samaria’d in das Jahr 30 fiele, während fie doch nad 
18, 10. in das fehle Jahr des Hiskia Calfo39 a. P.) 
fallen muß, fo ift es wohl einfacher, 17, 1. nicht mit 
dem Plusquamp. zu überfegen, fondern fchon hier die zweite 
Reunzahl von Regierungsjahren Hoſea's erwähnt zu 
finden, Das Refultat (dag nämlich Hofen 2x9 Jahre, 
von 21 — 30 und von 30 — 39 regiert hat) if übrigens 
das gleiche. Ein doppelter Negierungsantritt wird 2 Kön. 
15, 30,; 17, 1. in jedem Kalle erwähnt, unb derfelbe er» 
Härt fi fo, daß Hoſea anfangs den Afiyrern zinsbar 


a) Amazia regiert 2 — 16, iſt gefangen 16 — 17, regiert wies 
der 17 — 20, lebt in Lachis 20 — 31. Uſia ift ephraimitis 
fer Satrap 16 — 17, iſt König unter ephraim, Oberherrfchaft 
» — 31, macht fidy frei und regiert unabhängig Bi — 72. 
— Serobeam regiert 17— 58, Sacharja befleigt den Thron 
im 88. Jahre nach Ufia’s erftem Regierungsantritte, d. i. 58, 
alfo nad Jerobeam's Tode. 


652 Ebrard 


war, dann Hder mit ägyptiſcher Hülfe das Joch anf 
eine freilich nur kurze Zeit abfchättelte. 

Es ergibt fih nun von Rehabeam's Regie: 
rungsantritt bis zur Zerflörung Samaria s 
ein Zeitraum von 248 Jahren. 

Die folgende Zeit vom fehflen Jahre des Hi 
fia bis zur Zerfiörung Jernſalems wird ge 
wöhnlich auf 134 Sabre berechnet. Die Richtigkeit die 
fer Rechnung ſteht oder fällt mit der Lesart „zwei” in 
ber Angabe der Regierungsiahre des Amon (2 Kön. 21, 
19.). Die LXX. (cod. Vat.) leſen „zwölf,” und der Berf. 
bemerft, daß andy Arm., Eus. (in den von Mai ebirten 
Kragmenten), Ricephorne, Barhebräus, Profper und Sfr 
dor „zwölf” lafen. Der Berf. unterfügt biefe Lesart 
„zwölf” mit brei Argumenten, wovon aber nur eine 
ftichhaltig iſt ). 


a) Die beiden andern beruben auf einer willtürlichen Auslegung 
zweier propbetifcher Stellen. 2 Chron. 86, 21. weiffagt Jere⸗ 
mias bem Volke einen 70jährigen Straffabbath. Dieſem, fagt 
der Verf., mußten ſechs flebzigjährige Sündentage, alfo 420 
GBündenjahre vorangeben, und ba ber Gtraffabbath mit ber 
Berfiörung des Tempels beginne, fo müfle die Suͤndenwoche 
von der Ginweihung bes Tempels an (275 3. vor Galomo’s 
Tode) gerechnet werben. Won da biß zur Zerfiörung bes Tem: 
pels feyen nur dann, wenn man bem Amon 12 3. gebe, 4280 
Jahre. — Ezechiel rede 4, 5. von 890 Günbentagen Sf 
zaeld und 40 Sündentagen Yuda’s. „Das Baus Sfrael” be 
zeichne ftets alle 12 Städte zufammen. Die 390 Tage bürften 
alfo nicht mit dem Abfalle ber zehn Stämme, fonbern mäßten 
mit dem 3. Jahre Hehabeam’s, wo auch Juda fünbigte 
(2 Ehron. 12, 1.), begonnen werben. Bon ba bis zur Zerſtoͤ⸗ 
sung Serufalems feyen nur dann 890 Jahre, wenn Amon 129. 
regiert babe. (Die 40 Zage Juda's erflärt er von ber Zeit von 
Chriſti Tod bis zur Zerfiörung durch Zitus.) Dieſe Interpre 
tation bebarf nün kaum der Widerlegung. Daß die 890 + 40 
Zage nicht (mit Calv., Lightf., Vitr., 3. D. Mid. Rofenm. u. 2.) 
von den Sahren der Verſchuldung erflärt werben bärfen, 
bat neuerbings der felige Haͤvernick dewieſen (vergl. f. Comm. 
©. 66.). 





Nebuladbntzar. 653 


Dieſes deruht auf einer Berechnung der Sab⸗ 
bath> und Jubelyerioden Hierzu dber bahnt 
nun fhon eine hdronologifthe Parallele det 
legten jud. Könige mit Nebnkadnezar den Weg, 
Das Reſultat diefer Parallele, wie ed aud den verglichenen 
Stellen unwiderſprechlich hervorgeht, ift folgendes. Ne⸗ 
bufabnezar beftieg gegen Ende des 4, Regierungsjahres 
von Jojakim den Thron und ärzte Jojakim in deffen 11., 
feinem 7. Jahre. Da nun Jechonjah's dreimonatliche Re⸗ 
giernng gerade mit dem jüdifchen Jahreswechſel enbigte 
(2 Ehron. 36, 9 fi), fo wurde Jojakim alfo drei Monate 
vor dem Schluſſe bed judb. Jahres geſtürzt (und der 
Anfang feiner Regierung wird um Öftern, nicht mit Uſher 
und Eradock in ben Herbft zu ſetzen ſeyn, weil im letz⸗ 
‘tern Kalle nur 10 J. 3 M. anftatt beiläuflg 11 Jahren 
berausfämen). In den drei Monaten zwifchen dem 
Sturze Jojalim's und dem des Sechonjah begann das 8. 
Jahr Nebukadnezar's; Diefer bat alfo gegen Ende dee 
hd. Jahres zu herrſchen angefangen. — Zedekiah begann 
im 8. 3. des Nebnkadnezar feine Regierung (vergl. Ser. 
82, 1.), aber erft im 5. Monate ded 8. Jahres, alfo erft 
ein paar Monate nach Jechonjah's Sturze. — Wenn Dan. 
1, 1 f. Jojakim's Entthronung in fein drittes Jahr ges 
ſetzt wird, fo ift das dritte Jahr nach feiner Wiederbe: 
freiung and feiner erflen Gefangenſchaft (vom Anfange 
des 2, bid zum Anfange des 5. J. des Nebuk.) gemeint. 

Nun wendet fich der Herzogben Sabbafhperioden 
zu (Kap. 4.), und legt hier eined der glänzenbfien Zeug: 
niffe feined durchdringenden Scharffinnd ab. — Die Zeit, 
angabe Ez. 1, 1: „im dreißigſten Jahre,” weldhe von Sca⸗ 
liger, Rofenm. n. 9. unhaltbarerweife, als eine einer 
(fingirten) nabopalaffarifchen Wera angehörige Iahrzahl 
betradytet worben ift, wird jebt won Ideler und Häver- 
nid nad dem Vorgange von Grotius und Piscator vom 
Jahre der joflas’fchen Reformation an gerechnet. Mit 


654 Ebrard 


Recht wendet der Verf. dagegen ein, daß von einer ſol⸗ 
chen Neformationsära ſich ſonſt nirgends auch nur bie 
leiſeſte Spur finden laſſe, und fo erflärt er nach Kimchi's, 
Jarchi's und Hieronymus’ Vorgange jenes 30. Jahr ale 
das 30, einer IZubelperiode. Daß man nadı Tubelpe 
zioden wirflich gerechnet habe, wird nad) Wiefeler’d Ber 
merkungen über dad odßBarov devsspdzgmrov Chrom. Syn. 
©.225 ff. und 353 ff.) ohnehin fehr wahrfcheinlich. Der Berf. 
feinerfeit® unterftüßt feine Anficht noch durch eine ſcharfſin⸗ 
nige Bemerkung. Ez. 40, 1. erflärt er au un nicht wie 
gewöhnlich als „erftien Monat,” fondern als „Tahresan: 
fang,” und überfegt: „im 25. 3. der Gefangenſchaft, 
„beim Sahresanfange, nämlich am 10. Tage des Mu 
„nate.” Am 10. Tage eined Monats begann aber kein 
andered Jahr, ale das Jubeljahr (nach Lew. 25, 9. 
am 10. Tage des 7. Monate des gewöhnlichen Jahres). 
Daß der fiebente Monat nicht befonderd genannt wird, 
kann nicht auffallen; jeder Lefer des Ezechiel wußte ja, 
in weldhem Monate ber 10. Tag den Anfang eined neuen 
Jahres bildete. Daß „der erfie Monat” nie mit Ua 
raeirı gegeben wird, und daß jene Weiffagung Ez. 40 ff. 
fi) befonderd gut für die Zeit eines Tubeljahres fchidkt, 
dient der Anſicht des Verf. zur Beflätigung. Am wich—⸗ 
tigften nnd merkwürdigſten it aber, daß die beiden 
Stellen Ez. 40, 1. und 1, 1. ein übereinftimmens 
des Refultat liefern. Nah Ez. 1, 1. waren im 5. Jahre 
nah Jojakin's Deportation 30 Jahre feit dem letzten 
Subeljahre verfloffen; das nädhfifolgende Jubeljahr muß 
alfo 20 Jahre fpäter, alfo ind 25. Jahr nad der De 
portation gefallen ſeyn. Und wirklich befagt nun bie 
andere Stelle (Ez. 40, 1.), daß im25. Jahre der Deportation 
ein Zubeljahr anfing. So unterfügen fidy die Erflärungen 
beider Stellen allerdings auf eine aller Beachtung wür⸗ 


dige Weife, 





Nebukadnezar. 655 


Wie ficht ed unun mit den Sabbathiahren? 
Das „vierte Jahr” (er. 28, 1.), das erfte bed Zedelich, 
erlärt der Berf. auf analoge Weife ale das 4. Jahr 
eines Sabbatheyklus und ſtützt dieſe Erklärung damit, 
daß Hananjah (V. 3.) ſagt: „Wenn die zwei Jahre 
um find,” nämlich die noch übrigen bis zum mächften 
Sabbathjahre. Damit fiimmt überein, daß (Jer. 34, 
8—11.)da6 zehnte Jahr dee Zebeliah wieder ein Sabbath» 
jahr war. Nämlich das erfte des Zedelich war das vierte 
nach dem Sabbathjahre, alfo das dritte des Zedek. das fie» 
bente nach dem Sabbathjahre, alfo felbit ein Sabbath» 
jahr; fo war alfo 7 Jahre fpäter, d. h. im 10. bed Zede⸗ 
fiah, wieder ein Sabbathjahr. — Auch biefe beiden Stel⸗ 
len (3er. 28. und 34,) fügen fich alfo gegenfeitig. 

Das ganze Refnltat erhält nun aber den hoöchſtmoög⸗ 
liheu Grad von Feſtigkeit dadurch, daß diefe Sabbath⸗ 
und diefe Tubeljahre felbft wieder gegenfeitig überein, 
Rimmen. Rad der richtigen Erklärung von Lev.. 25, 
8 f. war je das 49, Jahr ein Sabbathjahr und das 
daranf folgende ein Jubeljahr; vom 5L. wurde dann 
wieder ein Sabbathcyklus angefangen (fo daß je zwei 
Subelperioden ein Sahrhundert ausmachten). Ganz dafs 
felbe Refultat ergibt fi num and obigen Datid. Das 
25. Jahr nad) Jojakim's Deportation war ein Subeljahr 
(nach Ez. 40, 1.). Hiernach müflen dad 24., 17., 10,, 4. 
Jahr nach jener Deportation — oder, ba biefe won Ze⸗ 
befiah’8 Thrombefleigung nur um Monate vwerfchieden 
war, das 4., 10., 17., 24. J. ded Zedekiah Sabbath» 
jahre gewefen feyn. Und eben bad ergab ſich ja aus 
Ser. 28, 1.5 4, 8— 11! 

Hieraus ergibt fih nun auch der Beweis, daß 
Amon 12 5. regiert haben muß. Nah 2 Kön. 
19, 29. muß das 15. Jahr des Hiskia ein Jubeljahr 
gewefen ſeyn. Diefed Jahr kann alfo nur SO oder 100 


656 Ebrard 


oder 150 ober 200 u. ſ. w. Jahre vor dad 25. Jahr nach 
Jvjakim's Deportation gefallen ſeyn. Dat Amon nun 
12 Jahre regiert, fo ſiel das 15. Jahr des Hiskia wirt: 
li} gerade 125 9. vor die Deportation, alfo gerade 
150 % vor das Jubeljahr Ey. 40, 1. Hätte aber 
Amon nur zwei Sabre regiert, fo würde das 15. 3. des 
Hiskia, dieſes Jubehjahr, nur 140 J. vor dad Jubeljahr 
@}. 40. fallen, was unmoͤglich if. Alſo muB Amon 
13 3. regiert haben, und die Zeit von der Zerſtoͤ— 
rung Samaria’d bis zur Zerſtörung Jeruſa— 
lems beträgt 144 Jahre. 





Nach diefen Borunterfuchhnngen wenden wir und nun 
mit dem Berf. zu dem Punkte, der und für anfern Zwed 
die größte Wichtigkeit hat. 

Welche perfifhe Könige werden über» 
baupt in der h. Schrift erwähnt? — Der erfe 
it „Darius der Meder” (Dan. 5, SL), welcher nad 
Dan. 6. nicht ein Bafall des „Koreſch,“ fondern ein 
ſelbſtaͤndiger König war, wie denn auch (Kap. 10, 1.; 12,1.) 
die Reiche beider unterfchieben werden. Darins Aha 
vers kann nicht mit Darius dem Weber identifh feyn; 
denn unter ihm iſt Serafalem fchon gebant, nur der Tem⸗ 
pel noch nicht (vergl. Dan. 9, 7 und 17. mit@sr. 4, 12.; 
Sad. 1, 12. and Hagg. 1, 4). Er war alfo vielmehr 
ber auch bei Era, Hagg. und Sacharja erwähnte Rady 
folger des Korefch, deffen zweites Jahr das Jahr ber 
Ruckkehr der Erulanten iſt. 

Darius ber Meder zählte 62 Jahre, als er Bas 
bel eroberte, wird alfo nicht fehr lange mehr über Ba: 
bei regiert haben, Auf ihn folgte Ahasver (Eſth. und 
Dan. 9, 1.), was ein wirftiher Name und wicht (wie 
Haled vermuthete) ein Dynaſtientitel iR, da fon bie 
©relle des Daniel fo wie das ganze Buch Eſther rein 
finnlos würde. Diefer Ahasver kann nicht nach 


Nebuladnezar. 657 


Korefd regiert haben. Die ergibt ſich and einer 
unbefangenen Betrachtung von Eſth. 2, 5 — 71. Der 
Relatiofaß: „welcher mit Jechonjah fortgeführt war,’ 
fan vernünftigerweife nur auf Marbohai, nicht auf 
Kis bezogen werden, ſchon weil das folgende m (3. 7.) 
nur anf jenen gehen kann. (Kis aber ift ber befannte 
Bater Sanl's, auf welchen Mardochai’d Befchlecht durch 
Eimei zurädgeführt wird.) So hat fchon der gried. 
eberfeßer, fo haben die Targırmiflen, fo Abenedra und 
Jarhi, fo Lyra, Bullinger, Brenz, 8. Lavater u. 9. bie 
Stelle verftanden. "Die ganze Regierung Ahabs 
vers fammt der Geſchichte Eſther's fällt alfo 
vor Korefch, fäl lt ins Eril. Man wird einwen- 
den, der Ahasver der Efther Fönne allerfrüheftend Xerres 
feyn. Wir bitten, diefen Einwand einftweilen zu fnöpen- 
diren; wer weiß, ob nicht auch wir berfelben Anficht 
find !! Einſtweilen mifchen wir die  Profangefchichte 
nicht ein, fondern halten und ganz an die Frage, ob 
„Ahasver” gleichzeitig mit oder ob er nach dem Erile 
regiert habe. Das Buch Efther, natürlich ertlärt, weift 
ihn in Die Zeit vor Korefch, in die Zeit des Exils. Mars 
dochai war noch von Nebuladnezar ſelbſt Deportirt worden; 
nach der Rückkehr (Eur. 2. Neh. 8, T.) kömmt wieder ein 
Mardochai, vielleicht derfelbe, vor. Jedeufalls ift aber 
gewiß, Daß die ganze Geſchichte der Eſther nur und als 
lein während des Exils vorgefallen feyn kann; benn nadı= 
ber waren die Juden weder in fo ungeheurer Zahl im 
Oriente vereinigt wie Eſth. 7, 4., noch fo hart gefan⸗ 
gen und gebrüdt wie Eſth. 4, 8., fondern lebten ale 
vereinzelte, freiwillig gebliedene, Endlich wird andy Dan. 
9, 1. ein „Ahasver” erwähnt, der ald mebifcher Kö: 
nig ter Ehaldäa herrfchte, und deffen Sohn am Ende 
des Exils felbft wieder Söhne hatte. 

Auch das hätte der Herzog noch anführen können, 
daß nicht nur im a. t. Kanon das Buch Eſther fo mit 


658 Ebrard 


Daniel, Esra und Nehemia zuſammengruppirt ik, daß 
es unter diefen die erfte Stelle einnimmt, fondern daß 
auch in den LXX., wo die Gefchichtöblächer chronologiſch 
geordnet find, Efther den Borrang vor Esra und Rebe 
mia erhalten hat. 

Auf Ahasver folgt der perfifheKönig Koreſch, 
der ben Juden bie Rückkehr erlaubte (Esr. I, I.). Gleich⸗ 
zeitig mit ihm wird einArtahfchafta erwähnt (Eer. 4, 
7— 33), ein >> Do a). Auf diefen folgt ein Darja- 
wefc oder Darius, der oben fhon befprochene Das 
rius Ahasveri, und nad biefem foll, nad; der Aw 
fiht bes Berf., Er. 7 ff. und Neh. 10.ff. noch ein 
zweiter Artachſchaſta erwähnt ſeyn, was wir einſtweilen 
dahingeſtellt ſeyn laſſen. 

Nach Dan. 11, 2. regierten nach Koreſch noch vier 
Könige, wovon der letzte durch Macedonien beſiegt wer⸗ 
den ſollte. Dieſer letzte muß mit „Darius dem Perſer“ 
(Neh. 12, 22.) oder Darius Codomannus identiſch ſeyn. 
Hiernach ergäbe ſich im voraus folgende Parallele ale 


wahrfcheinlich : 
Darius der Meder Darius Hyſtaspis. 
Ahasver Kerres. 
Koreſch u. Artachſchaſta Artarerres 1. 
Darius Ahasveri Darine Rothus. 
ee Artarerres II. 
N Ochus. 
Darius der Perſer Darins Codomannus. 


Hiernach wäre Ahasver wirklich fein Anderer ale 
Kerred. . Und der Koreſch der h. Schrift wäre ein Su 
trap feines Nachfolgerd Artarerres geweſen. Der Berf. 
zieht indeffen diefe Paraflele noch nicht fogleich , fondern 
beginnt nun erſt eine einläßliche Unterfuchung über die 


a) Ger. 4, 6. hält ber Verf. wohl mit echt für ein Gloſſem. Bis 
werben fpäter barauf zuruͤckkommen. 


Nebuladnezar. 659 


Gefchichte jedes einzelnen diefer Könige, eine Unterfus 
hung, die ihn aber Schritt vor Schritt anf daſſelbe Res 
fultat führt. 

Darius der Meder it Darius Hyſtaspis. 
Beide erobern Babylon, Beide führen zuerft ein Be 
Reuerungefpftem ein «), Darius Hyftaspis erobert nach 
Herodot Indien, und ber Nachfolger Darind dee Mebers 
bericht (nah Eſth. 1.) wirflid über Indien. Gieben 
Bürften erheben den Darind Hyſtaſspis auf den Throm 
nah Herodot, und fieben Fürften umflchen den Thron 
im Buche Efther. Ahasver, der Sohn Darins des Me: 
ders, reſidirt in Sufa, und nah Plin. 6, 37. war 
Sufa von Darius. Hyſtaspis erbaut. Diefe Anficht fin 
det fih fchon bei Porph., Tert., Cyr., Hier. und Maxi- 
mus Martyr (Petan, Uranologie, S. 312 f.) und wirb 
betätigt durch ein Fragment des Megafthenes, welches 
folgende Königsreihe enthält: 1) Baltaffar; 2) Gyrns 
und Darius; 3) Eyrns allein; 4) Artarerres Ahasver, Sohn 
des Darius (alſo iſt Darius Hyſtaspis gemeint); 5) Ey⸗ 
rus Artabanesd und Darius Longimanus, ber erftere 
ale bloßer Prätendent; 6) Darius Nothus; 7) Urtarers 
red Darius Mnemon, Ebenſo nenut ein merkwürbdiges 
Fragment Philo’s einen Cyrus ald Nachfolger deb 
Darius Hyſtaspis und führt dieſe Tradition auf die 
„70 Aelteften” (den Sanhedrin? bie Berff. der LIX,.9 
zurück, und diefe Tradition ift um fo glaubwärdiger, da 
Philo fi nicht auf fie beruft, fondern fie anführt, um 
fie zu widerlegen. 

Daß Herodot den Dar. Hpft. einen Perfer nennt, 
fpricht nicht gegen feine „medifche” Rationalität, die dem 
„Darius dem Meder” in der Bibel beigelegt wird; denn 
6, 94. nennt er den Neffen ded Darius, Datis, ſelbſt 


a) Mit Dan. 6, 2. vergl. Herod. 8, 89., Gtrab. 15. Unter 
Ahasver und Artachſchaſta beſteht ſchon die MWefteuerung 
(vergl. Er. 10, 1.5 Sir, 4, 17.) 


669 brarb 


einen Weber, und daß zur Zeit des Dar. Hyſt. der 
wediſche Stamm ber herrſchende im perſiſchen Reiche 
war, fagen außer Herodot (4, 144 und 165,) auch Thuc., 
Ktef., Pauſ. und Diod, Siculus. Jene fieben Gonfpirato- 
ren fcheinen felbft Meder geweien zu feyn. 

Ahasver if Terres. Beide berrfchen von In⸗ 
dien bis Aethiopien, beibe refibiren zu Suſa. Die Efih. 
3, 13, erwähuse Kinrichtung der Länfer ift nach Dero- 
Dat eine perſiſche. Die Identität des Ahasyer mit Kerr 
sed iſt denn auch von den Meiften auerlannt. 

Darius Ahasveri iſt Dariud Nothus, umd 
nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, Darius Hy 
ſtaspis. Der letztere kann unmöglich fchon vor feiner 
Thronbefteigung das Belühde gethan haben (los. Ant. 
3,3, 1.5 Ger. 4, 43.) Jernſalem zu bauen; wohl aber 
if} dei Darind Rochus, wenn er der Sohn eben jenes 
AhaßsersKerres von der Eſther war, ein ſolches Geläbde 
fehr begzeiflih und hat wiele Mahrſcheinlichkeit. Das 
sind Hyſtaspis konnte feruer nicht „im zweiten Jahre 
feiner Herrfchaft ein Faſten „von Indien bis Aethiopien 
aneranen,” ba er Judien erſt fpäter eroberte; Darius 
Rochus konnte ed, begreiflih, da Indien fchon drei 
Menfchenalten vor ihus erobert war. Auf Darius Hy⸗ 
Baspis paßt nicht, was Dan. 9. und Sach. 1. und Esr. 
4 ff, erzaͤhlt wird, wo er nämlich fchon vom Anfange 
feines Regierung an Über Babel herrſcht; denu jener bat 
Babel erſt nadı mehrjährigem Kampfe erobert; auf Da⸗ 
rius Nothus paßt. natürlich Allee. Endlich: da Dar. 
Hoſt. zuerfi das Beſtenerungs ſyſtem eingeführt hat, uns 
ter Artachfchafa die aber fchon beficht, Artachſchaſta 
alfo «in Nachfolger bed Dar. Hy. war, fo kann er 
nicht zugleich der Vorgänger des Dar. Hyſt. geweſen 
feygn, was body der Kal feyn müßte, wenn Darius 
Ahasveri mit Dar. Hyſt. identifh wäre. — Daß er viel⸗ 


Nebuladrezar. 661 


mehr mit Darius Nothus identiſch ſey, ushmen fchen 
Zert., Sulp.&ev. und unter don Neueren Strauchins an. 

Es verſteht ſich uun von ſelbſt, Daß jener 
Koreſch“ ober Eyrus, der nach Eſsr. 26hron. 
und Manetho den Iſraeliten die Rückkehr 
nach Serufalem erlaubte, nicht jener hero— 
dotiſche Eyrus, der Oründer des perſiſcher 
Reiches, fondern ein Satrapdes Artarerres 
war. 

Es wird un auch begreiflich, wie dis Geſchichte der 
Eher im Exil und gleigwohl unter Kerred fpielen 
fauı «); denn das ganze Erilrüdt num tief bis 
in Die Zeiten des Darius Hyſtaspis, Kerres 
und Artarerreö herab. 

Eine aber fcheint vielleicht minder begreiflich. Wo 
könmt der Dlas für. Cyrus, Kambyfes und 
Smerdis Hin? Bon Nebukadnezar bis in die Zeiten 
des Arsarerred hinein follen nur 30 Sahre ſeyn! 

Der fharffinnige Berf. antwortet anf diefe Frage 
wit einer Gegenfrage: Wer war überhaupt Re 
bufabnezar 


Sonderbar it ed doch, Daß Herobot von Nabopalaſſar 
uud Nebukadnezar gar nichts weiß. Sollte er fie etwa 
dennoch erwähnen, nur unter anderen Ram? Wir 
werben fehen. Aber vor Allem zellen wir ber Freiheit 
und Kühnheit, mit weicher unfer Herzog fich von ber 
traditionellen Combination der biblifchen usb yrofanen 
Geſchichte loßreißt, unſere Bewunderung, uud wir fchör 
pfen Athem und Muth zu dem Entfchlufle, ihm nun aud 
in die überraſchendſten Bahnen, die er bricht, zwar prü⸗ 





a) Die wichtigften Ginwürfe gegen bie Glaubwürdigkeit biefer Ger 
ſchichte fallen nun von felb hinweg. 


662 Ebrard 


fenden Blicks, aber unerſchrocken zu folgen und unfern 
Blick nicht im vorand durch die Schen vor Reuem und 
das Borurtheil für das Gewohnte umdüſtern zu laffen! 

Es muß zwei Nebnkadnezar'é gegeben haben; 
mit diefem Sage begiunt er fein fiebented Kapitel. Ber 
zieht man Allee, was von bem Namen „Rebufaduezar” 
erzählt wird, auf eine einzige Perfon , fo lafien ſich die 
acht Jahre, die von der Vorherſagnug feiner ebenjähri- 
gen Krankheit au (Dan. 11, 18.) bis zum Ende diefer 
Krankheit gerechnet werben müflen, nirgends unterbrin⸗ 
gen. Die Zeiten uämlih von feinem 1. bis 8., fo wie 
von feinem 16. bi 20. Jahre find ohnehin mit Thaten 
andgefält. Zwifchen das 8. und 16. Jahr, und zwar 
- ine 11. fält die Aufnahme Daniel's an den Hof (Dan. 
1, 19.), welcher im 7. Sabre Nebuladnezar’s mit Jojakim 
deportirt war, und deſſen breijährige Ausbildungszeit 
(Dan. 1, 5.) alfo mit dem 10, Jahre Nebuladnezar’s en⸗ 
digte. Ohnehin aber muß ja bie Weiffagung jener Krankheit 
in eine fpätere Zeit fallen. Bom 20. bis 38. J. des Neb. 
it wieder Fein Pla für biefelbe; denn in dieſer Zeit ber 
fagerte er Tyrus, und wäre er da fieben Jahre lang 
wahnfinnig gewefen, fo wäre die Belagerung ſchwerlich 
fortgefept worden. In Die Zeit von feinem 35. 3. an 
bis zum Ende feiner Regierung (10 I. fpäter nach Ser. 
3, 31.) muß der Zug nach Aegypten fallen, der in feinem 
35. 9. geweiſſagt wurbe. Dauerte diefer Feldzug and 
nur zwei Sahre, fo blieben von ben 10 Jahren nur knapp 
die geforderten 8 Jahre übrig, aber keine Zeit mehr für 
die Wiedergenefung. 

Schon dieß zeigt, daß nicht alles von „Rebufabnegar” 
Erzählte auf Ein Individuum geben kann. Es ift aber 
ein noch viel beflimmtered Datum vorhanden. Dasier 
nige „zweite Jahr des Nebuladnezar,” wovon Dan. 2, 1. 
Die Rede ift, und in welchem Daniel fchon eine Stelle 
unter den Magiern einnahm, kann nicht das zweite Jahr 





— u m ne na 0 wi - 


nm, U 


Nebuladnezar. 663 


des Nebnläbnegar geweien ſeyn, der erft in feinem 
fiebenten Sahre den Daniel ald Knaben nad Babel 
führte. Man hilft fich hier gewöhnlich mit der Conjectur, 
bad „zweite Jahr” (2, 1.) werde nidt vom Regie, 
rungsantritte, ſondern von dem Antritte ber „Lniverfals 
monardyie” an gerechnet. Mit Recht weil der Berf. 
diefe Sonjectur als eine haltlofe zurück; denn die „mis 
verfalmonarchie” Nebukadnezarꝰs wurde ja nicht (fo etwa 
wie ein nened Kleid) an Einem Tage fertig, fonbern bis 
an fein Lebensende vergrößerte Nebukadnezar fein Neich 
fortwährend unb machte ed immer univerfefler. 

Es gibt alfo einen Doppelten Nebukadnezar a). Der 
ältere ift identifch mit dem „Rabopalaffar” 
bed Joſephus. Gegen Affyrien war Neo gezogen; 
vier Jahre fpäter, im 4. Sabre des Jojakim, zieht „Ne⸗ 
bufadnezar” (der Erſte) in feinem „erfien Jahre” gegen 
Necho (9er. 46, 23.) und fchlägt ihn. Das flieht fo aus, 
ale ob dieſer Nebuladnezar im Dienfle bed affyrifchen 
Reiches geftanden hätte. Darans, bapihn Jeremias Damals, 
als er Die Gefchichte Diefed Krieges niederfchrieh, einen 
„König von Babel” nennt, folgt noch nicht, baß er, ale 
jmer Krieg geführt ward, fon König von Babel 
wor. Diefe Bermuthung wird aber dadurch unterſtützt, 
baß jener Nebuladnezar (der Erfte) im „erſten Jahre” 
feiner Regierung (Ser. 46, 2.) fchon ein großes Heer 
fchlagfertig ſtehen hat, und daß der Kal des aſſyriſchen 
Reiches, welcher unter Sofa noch zukünftig war (Jer. 
6, 22.5 2 Kon. 23, 39.) mit der Thronbefteigung dieſes 
Nebukadnezar I. ohne Weiteres zufammengefallen feyn 
muß, weil fortan Aſſyrien nicht mehr erwähnt wird, 


a) Der Verf. hätte ale wichtiges Beugniß noch das Fragment bes 
Berofus (os. Ant. 10,11.) anführen können, wo Berofus aus» 
drüdtich zwei Nebucdyobonofor’s , Water und Sohn, König und 
Mitregent, unterfcheibet. 

Theol. Stud. Jahrg. 1847, 45 


664 Gbrasd 


Hiernach ſtellt fich folgender Hergang ald wahrſcheinlich 
heraus. Nebnkadnezar k war affyrifher Feld⸗ 
herr und Gatvap und wurde (im 4. Jahre des 
Jojakim) an dgefaunbi gegen Neo, ſchlug bie 
fen, ufurpirte aber aldbann ben Thron und 
eroberte fpäter Babel. So erllärt es fich, wie das 
Jaht, wo ex Necho flug, das „erfie feiner Regierung” 
genannt merden kann. Go erflärt es fih au, warum 
Nebukadnezar, ald er dann Jeruſalem zerſtörte, von 
Norden ber fam (Ser. 1, 14) — Nun erzähle aber 
Alexander Polyhiſtar ) von Rabopalaffer genan die⸗ 
felbe Geſchichte. Er fey aſſpriſcher Feldherr geweſen 
und habe den Thron ufurpirt und dann Babel erobert. 
Ganz übereinffimmend hiermit nennen Abydenns b) und 
Beroſus c) den Zerfiöger Jeruſalems Nabopalaſſar. 

Welches iß uun Das hronolsgifdge Ber» 
bälstniß Der beiden Rebukadnezar? — Das 2 
J. Rebufaduygar’d I. (Das. 2, 1.) fiel nicht vor das 
11. feines Vorgängers (denn erſt in beffen 0. Sabre 
war Dauniel's Erziehung vollendet) und uicht nad 
dem 15,5 benn vom 16. bis 19, war „ber König von 
Babylon“ in oder hei Serufalem, und von da an iſt 
Daniel ſchon anderweitig in die Geſchichte des Könige 
verwidelt. 

Beſtimmteres ergibt fh aus er. 51, 60. Der 
dort erwähnte Brief wußte burch irgend ein bedentendes 
Ereigniß veraulaßt ſeyn, nach des Berf. Bermuthung 
Dusch den Megieruugsantritt Nebulaunegar’s II, welchet 
wiederum nach Ser. 51, 59. in das 4. Jahr ded Zebe 
kiah fiel, IR diefe Vermuthung gegründet, fo fing Re 


a) Im chron. bes Euſ. S. 59. 
b) Sm chron. des Guf. ©. 64. 
c) Bei Ios. o. Ap. 1, 19. unb in Eus. praep. er. 


Nebaladnegar. 605 


bußadnesar D. im 4. Jahre des Zedekiah, bi i. im 11. 
Rebulapunezar’s L gw:vegieren am 

Aber war ba Rebuladnezar I. ſchon top? Es wird 
vielmehr ein 25. Jahr feiner Regierung erwähnt. Wie 
derum kommt Abydenns und zu Hälfe mit der Nachricht, 
bad Rabopalaffar Lalfo eben Nebulabnezar kK), ale er 
Babel erobert hatte, feinen Sohn dafelbft zum König 
einfeßte. 

Welchem Stamme gehörten beide Nebu⸗ 
kadnezar's an?. Gie waren nicht Babylonier, ſon⸗ 
dern Chaldäer Diefer urſprünglich arwenifche Stamm 
war (ef. 23, 18.) von den Affyresn nach Babylonien 
verpflangt worden und bilbete hier eine eigene Kaſte. 
So redete Rebuladnegar mit den chaldäiſchen Magiern, 
ats feinen Stammverwandten, feine chalbäifche Mutter» 
ſprache, und darım wird ed (Dan, 2, 4) ale etwas 
Befondered erwähnt, daß die Magier mis bem Könige 
in der aramäifchen, ber Sprache der Ufiyrer (ber biplo: 
matichen Sprache zwifchen den Sraeliten unb ben öſt⸗ 
lichen Herrſchern) reden, 

Mer waren aber diefe Chaldäer? Wels 
dem Bolle der Brofangefhichte eutfpreden 
fie? Warum, wenn fie ein fo ungeheured Neid) erober⸗ 
ten und beherrſchten, hat Herodot fie wicht erwähnt? 
Oder befier: warum ſind wir gerade baranf verfeffen, 
fie füy ein. beſonderes Bull neben den bei Herodot ers 
wähnten zu halten? Die Sprache der Ehaldäer, bie 
und noch in. weirigen @igennarken erhalten iſt, war: ei 
medsperfifcher Dialelt. Der Verf. gebt nur einen 
Heinen Schritt weiter und beweifl: fie war Die per» 
ſiſche Sprade ſelb ſt e), 


a) Wir fügen feinen Bemerkungen noch die hoͤchſt wichtige bei, 
daß auch zwei chaldaͤiſche Appellativa uns erhaften find, welche 
zein perfifh find. Die Oberftatthalter im Reiche Rebukad⸗ 

45* 








666 Ebrard 


Wo find wir? — Ueberwinden wir unfern unwill⸗ 
fürlihen Schreck, werfen wir Tühnlich einen Blid auf 
die großartige Ausficht, die fiih eröffnet, und veruchmen 
wir das Refultat: Die Ehaldäer der Bibel find 
Die Perfer der Profaugefhidhte; das dal: 
daiſche und das perſiſche Reich find iden» 
tif. 

Wir könnten fogleich biefem Reſultate des Verf. die 
eigene Bemerkung beifügen, daß in der Esr. 5, 12 — 13, 
mitgetheilten alten Urkunde, bie jedenfalls einen hoben 
Werth hat, Nebukadnezar und Korefch ald zwei „Koͤ⸗ 
nige zu Babel” fo ohne Weitered zuſammengeſtellt wer: 
den, daB man wohl dentlich flieht: der wit Koreſch 
gleihzeitige Schreiber jener Urkunde fah beide 
Zürften für Herrfcher eines und deſſelben Reiches an. 
Der Berfaffer der Urkunde nennt biefed Reich „Babel”; 
der Berfaffer bed Buches Esra nennt baffeibe Reich 
„Derfien” (Esr. 4, 5 — 17.). Esra 4, 15. fchreiben die 
Samarier au Artarerres, daß Jeruſalem daram zerſtoͤrt 
worden ſey, weil die Juden fich gegen „feine Bäter” 
anfgelehut hätten; auch hier gelten Rabopalaffar und 
Nebuladuezar ohne Weiteres. ald die Borgänger in bem 
vos. Artarenred beherrſchten Reiche. 

Wir könnten noch durch mehrere bergleichen Bemer⸗ 
fungen die Airgumente des Berf, unterfiügen, Doc hör 
ren wir füreft ihn felbfl. Er richtet feinen Blid vor: 
nehmlich auf die Mythologie. Der Rame des chutitifchen, 
d. i. nach Ios. Ant. 9, 14, 3. und der allgemeinen An- 
nahme bed perfifchen Botted Nergal (2 Kön. 17,90.) 
tchrt im Ramen der Söhne Nebukadnezars (Jer. 39,3.) 


nezar’s (Dan. 8, 2. u. a.) heißen ups aim, im perfi- 
Then Rede (Eſth. 8, 12.; 8, 9.) heißen fie — ebenfe. 
Die Unterftattbalter beißen dort (Dan. 8, 2. u. a.) yır=, 
bier (Eſth. 8, 18.5 8, 9.5 Reh. 2, 17.) — ebenfo. 


Nebulabnezar. 667 


wieder. Auch Bel war (nach Agathiae) ein perfifcher 
Bott. In „Meſech“ Liegt der Name der (nadı Strabo) 
yerfifchen Gottheit Schech, die an fünf fefllichen Ta= 
gen verehrt wurde. Dagegen bieß die Gottheit der bas 
bylonifchen Autochthonen: Snchothsbenoth (2 Kön. 17, 30.), 


Es entfteht nun die weitere Frage: Mit welchen 
ber bei Herodot genannten perfifhen Kös 
nige find Rabopalaffar und Nebulabnezar 
identifh? Bis zu Darius Hyſtaspis hinauf find die 
Plaͤtze fchon beſetzt; weiter oben aber ift Raum. 

Die nähere Unterfuchung knupft der Herzog an das 
goldene Bild Dan. 3. Diefed Bild wurde anfgerichtet 
nach dem Traume Dan. 2. (da 3, 12. Sadrach und 
feine Freunde fon hohe Beamte find) und vor dem 
Wahnfinne. Findet ſich nun etwas Achnliches in der Pro: 
fangefchichte des perfifchen Reiches ? Um die Einführung 
eines neuen Cultes fcheint ed ſich Dan. 3. zu handeln, 
und fo ift man bei Nebukadnezar II. an Eyrus zu denken 
verfucht, welcher nach Strabo den Dienft der Schech 
und zugleich das S65tägige Jahr einführt. War viel 
leicht Schech die Göttin der Zeit oder der die Zeit re; 
genden Sonne? Dann Hegt die Vermuthung, baß das 
Bild Dan. 3. ein Schechbild geweſen, noch näher; denn 
ed will fcheinen, als ob Nebukadnezar biefed Bild im Ge⸗ 
genfabe zu dem Ausfpruche Daniel’6 (Kap, 2, 39.) ale 
ein Symbol der Unvergänglichkeit feines Reiches aufges 
richtet hätte, 

Doch find wir nicht genöthigt, gerade Nebukadnezar II. 
mit Cyrus zu identiftciren. Auch Nebukadnezar I. lebte 
ja noch, und jener war vielmehr nur Bicelönig Wenn 
alfo nah Strabo unter ber Herrſchaft bed Eyrus ber 
Schechdienft eingeführt wurde, fo verſteht man barunter 
wohl befier Rebuladuezar I. 











668 Ebrard 


NRebulapnezar I (Nabopalaſſur) iſt Cyrnðö. 
Dafür bieten ſich folgende weitere Spuren dar. Die 
foäteren Perſer fchreiben dem Dſchemſchid die Erfin: 
dung des S6Stägigen Jahres au, welche Strabe dem Ey⸗ 
eu 8 zuſchreibt. Ebenſo nennen fie dad von Eyrud ers 
baute Perſepolis „Tekti Dfchemfchid,” Thron Dichem: 
ſchid's. Der Dfchemihid der perfifchen Sage ift alſo 
Cyrus der Befchichte, oder auch fein Mitregent Kambyr 
fe. Run aber: wird von biefem Dfchemfchid weiter 
berichtet, er habe ſich feibft anbeten und biejenigen, 
welche deflen ſich weigerten, ind feuer werfen laſſen. 
Da haben wir die Befchichte (Dan. 3.) von Nebukadne⸗ 
zar I. (Kambyfed) wieder. Kerner heißt ed, Dſchem⸗ 
ſchid ſey ein Herrfcher., mächtig wie Alexander, geweſen 
und gleidygeitig mit Thaled und Pythagoras. — Die 
felbe Geſchichte (Dan. 3.) ehrt aber in der Sage von 
Zerdudfch wieder. Diefer fol nach altperfifcher Sage 
ein frommer Einſtedler gewefen feyn, den einft Flammen 
umhüßkten, aus deuten er unverfehrt hervorging, worauf 
der perfifche König ſich vor ihm geneigt und ihn erſucht 
babe, bei Gott für ihn zu bitten. Zerbubfch aber kann 
sicht vor Cyrus und nicht nach Darius Hnft. gelebt 
haben, 

Nebnladuezar ll. ik Kambyfes Nah Euf. 
(praep. I. 13.) fam Pythagoras nach Babel, „ale die Ju⸗ 
den nadı Babel und Aegypten wanderten 5” nach Cie. de 
lin. 5. fam er unter Kambyſes nach Babel. Jene 
Wanderung fiel nun in dad 19. Jahr Nebukabuezars. 
Mar Darius der Meder Darins Hpftaspis, fo fiel ja 
ohnehin Die Zeit Nebukadnezar's I. in die Zeit des 
Kambyſes. 

Aber herrſchte dieſer Dichemfchid-Rambyfes zu Bas 
bei? Ibn Haukal neunt wenigftend Babel die Glorie 
Jraus, und das Zendaveſta befchreibt eine Stadt „Ber,” 
die Dſchemſchid erbaut habe, fo, daß Alles auf Babel 








Nebukabnezar. 669 


paßt, — Nebnkadnezar⸗Kambyſes blieb als Vicekoͤnig in 
Babel, während fein Vater Nebukadnezar⸗Cyrus weitere 
Eroberungen machte. 

Wir erhalten nun alfe folgende Königsreihe: 
Rabopalaffar oder Nebukadnezar J. Cyprus. 


Nebukadnezar II. Kambyſes. 

Darins der Meder Darins Hyſtaspis. 

Ahasver Zerreß, 

Artahfchafta Artarerres I. 

Darius Ahasveri Darins Nothus. 
— Artarerres II. 
—_— Ochus. 

Darins der Perſer Darius Codomannus. 


Es iſt jetzt nichts weiter übrig, als dieſe Hypotheſe 
durch weitere Beweiſe zu unterſtützen. Der Verf. grün⸗ 
det dieſe Beweiſe theils auf die Specialgeſchichte 
der einzelnen einander entſprechenden Herr 
fher, theild auf die Keilfchriften und Gemmen, 
theils auf die perfifchen Sagen, theild auf ander, 
weitige gefhihtlihe Spuren. Wir werden noch 
einen vierten Beweis, der fih aufdie Geſchichte won 
Eöra und Nehemia gründet, hinzufligen. 


Die Geſchichte des Cyrus entfpricht wirklich in ihren 
einzelnen Zügen der Geſchichte Nebukadnezar's I. Nach 
Herodot war ed Eyrn®, der durch das troden gelegte 
Flußbett in Babylon eindrang; Berofus fagt, Nebu⸗ 
fadnezar habe Babylon fo befeftigt, „daß Fein Fünfe 
tiger Eroberer mehr den Steom fo leicht ſollte troden 
legen können.” Died. Siculus läßt den Cyrus bie hän⸗ 
genden Gärten zu Babylon anlegen; Berofus nennt fie 
ein Wert Nebukadnezar's. Amynthas nennt den Eyrug, 


670 Ebratd 


die h. Schrift den Nebukadnezar J. den Eroberer von 
Ninive. — Nach Alex. Polyh. eroberten Meder und Per⸗ 
fer unter Ahasver und Nebukadnezar Ninive; He⸗ 
rodot nennt den Meder Eyarared; den Anführer ber ber 
gleitenden Perfer nennt er nicht, aber Strabo ergänzt 
ihn, wenn er die Niedermeßelung der Scythen und 
Maffageten vor Ninive und (an einer andern Stelle) 
diefed Blutbad anf Befehl ded Cyrus gefchehen 
läßt. Nach Hales „verwechfeln die perfiichen Schrift 
fteller die Eroberung Syriens durch die Babylonier mit 
der durch die Perfer.” Sie thun wohl fehr recht daran! 
Es hätte fhon lange auffallen follen, daß in den Tha⸗ 
ten der erften perfifchen Könige nichts ald Donpletten 
der Thaten zum Borfcheine kommen, welche die h. Schrift 
den Babyloniern zufchreibt! Aber freilich, nach Colum⸗ 
bus kann Jeder das Ei auf den Kopf ftellen; uud der 
Herzog von Mancheſter hat und nichts übrig gelaflen, 
als die Anerkennung, daß er zuerit fchärfer fah, ale wir 
Anderen. 

Gehen wir zu Kambyfes, fo erzählen die h. Schrift 
(Ser. 43.), Beroſus a), die perfiichen Autoren und nad 
Syncellus aud die phönicifchen von einer Eroberung 
Aegpptens durch Nebuladnezar (den Zmeis 
ten), wiflen aber nichts von einer fpäteren Eroberung 
durch; Kambyfes. Herodot wiederum und Diod. Siculud 
nebft ihren ägpptifghen Gewährsmännern laflen Aegyp: 
ten durch Kambyſes erobert werben und wiſſen nichts 
von einer früheren Eroberung durch Nebukadnezar. Die 
Identität jener und biefer Eroberung, folglich auch jenes 
und dieſes Eroberers ift fomit ſchon an fich wahrfcheinlic ; 
fie erlangt aber den höchſten Grab von Gewißheit da 


a) In jenem Fragmente (los. Ant.10.), wo er bie beiden Rabucho⸗ 
bonofor unterſcheidet. 


Nebukadnezar. 671 


durch, daß die Specialitäten beider Keldzüge dieſelben 
find. Nach Ger. erobert Nebnkadnezar Taphanches (Das 
phnä Pelufiä). Ebendafelbft hatte nach Herodot 3,10.) 
Pſammetich fein Lager gegen Kambyſes aufgefchlagen, 
Ebenfo flimmt die Befchreibung Ser. 46, 21. mit Her. 
3, 11.; ferner Ser. 43, 11.5 &. 30, 10. u. 18. mit He 
tod. 3, 14. u. 27. Hier wie dort dienen Miethfolda- 
ten unter den Aegyptern; hier wie bort werben bie 
Männer getödtet, die Weiber in Sclaverei geführt. 
Endlich ift Ser. 46, 25. mit Herod. 3, 29—37. zu vergleis 
hen, nämlich die Art, wie Kambyſes mit den ägyptis 
fhen Tempeln und Göttern verführt. Auch der heftige, 
leidenfchaftliche Charakter des Kambyſes ſtimmt in allen 
feinen Zügen, wie er bei Herodot erſcheint (z. B. 3, 80.), 
auffallend mit dem Bilde überein, welches im Buche Da⸗ 
niel von dem Charakter Nebukadnezar's II. entworfen 
wirb (Dan. 2, 5—8. u. 15.; 3, 13. u. 19.) 

Am auffalleudfien find endlich noch die genenlogifchen 
Berhältmiffe. Herodot und Xenophon flimmen darin über, 
ein, daß ein Kambyſes der Schwiegervater bes Aſtyages 
war. Sie laffen von diefem Kambyfes erſt wieder Cyrus 
den Großen, den Vater Kambyſes des Großen, erzeugt 
werden: 


Aſtyages Cyrus 1. 
Mandane Kambyſes I. 


Syrus II, der Große. 


Kambyfed der Große. 
Einfacher macht Kteflad Cyrus den Großen felbft zu 
einem Schwiegerfohne des Aftyages: 


Aftyages 
Amytis Eyrus. 
En — 


Kambyſes. 





672 Ebrard 
Merkwuͤrdig iſt es nun, daß Wer. Polyh. ben Nebu⸗ 


kadnezar (den Zweiten) als Schwiegerſohn des Aſtyages 
neunt: 


Aſtyages Nabopalaſſar 
Amytis Nebukadnezar. 
— u un — 


Dieß wird die richtige Genealogie ſeyn. Herodot 
und Zenophon irren, iudem fie den Cyrus und Kambyſes 
verdoppeln. 

Kur Ein Einwurf bleibt. Iſt nicht Ser. 50 — 51. 
von einem Sturze bed chalbälfchen Reiches durch bad 
perſiſche die Rede? Werden nicht alfo hier beide Reiche 
deutlich unterfchieden? Mit nichten. Nur bie worgefaßte 
Meinung der Eregeten hat jenen Sinn hineingetragen. 
In Wahrheit it die Rede von einem Sturze der bie das 

bin berrfhenden chaldäiſchen Dynmaftie durch einen 
mebifchen, wohlgemertt: mebifhen Stamm (Ser. 
51, 28.). Richt Ehalbärr von Perſern werben unterfchie 
den, fondern bie (mit den Perſern identifchen) Ehaldäer 
von den Medern. Das hat aber auch volllommen feine 
Richtigkeit. Pſeudoſmerdis, weicher den Perfer Kamby⸗ 
ſes (d. I, den Chaldäer Nebukadnezar IL) ſtürzte a), war 
wirftiih das Haupt ded medifhen Stammes, mit wel: 
chem Kambyſes ftetd verfeindet gewefen war, 


Die Keilfchriften hat der Verfaſſer nicht fo be 
nußt, wie er gelonut hätte. Wenn er darauf einen gro 
Ben Werth legt, daß in den babylonifchen Ruinen die 
felbe Schriftart wie in. Perfepolid und in beiden fein 
älterer Name ald Darius Hpfiaspis vorkomme, fo iR 


a) Diefe Annahme wirb fpäter noch eine wichtige Gorrectur er 
leiden, 





— — Sy um wm wıa& 


Nebukabdnezar. 673 


ja damit noch immer wicht bie Moͤglichkeit ausgeſchloſſen, 
daß vor dem Palafte zu Babylou, deffen Trümmer noch 
Rehen und Darins ald Erbaner nenuen, nicht fchon ein 
früherer, von einem babploniſchen Könige erbauter 
Palaft könnte eriflirt haben, welcher eben bie auf ben 
Grund gerkört worden wäre. Go ft alfo hiermit anch 
noch nicht die Möglichkeit eines befonderen babylonifchen 
Reiches vor dem perfifihen abgefchnitten. 

&ben fo wenig firingent ift, was der Berf. über die 
babylonifchen Ringe unb Gemmen cHeeren, S. 191.) ſagt, 
deren Embleme anf den von Dſchemſchid (Eyrus) in Pers 
fin eingeführten Ormuzddienſt weifen, Könnte nicht Diefe 
Sitte, ſolche Ringe zu tragen, erft mit Darius Hyſt. im 
Babylon eingewandert feyn? Folgt darand irgend etwas 
gegen die Möglichkeit, daß vor den Perfern ein babylos 
niſches Reich in Babel befland? Kolgt daraus irgend 
etwas für die urfprüngliche Identität der Ehaldäer 
und Derfer ? 

&o wenig aber biefe, vom Herzoge angeführten Um⸗ 
ſtände eine Beweiskraft haben, fo fehr kann allerbinge 
aus den Keilfchriften, nach dem, was Weltergaard und 
Botta neuerdings entdedt haben, ein wichtiger Beweis 
für feine Anficht gewonnen werden »), Wir beachten 
nämlich das Factum, daß von Kerres bie Artarerres TI. 
bie Orthographie und Form der Keilfchrift ſich verändert 
bat; ferner, daB an dem Einen Orte Perfepolis drei 
Schriftarten vorfommen, zwei ältere unentzifferte und 
eine neuere. Die neuere erweiſt fih ale aus der Zeit 
ded Darind und Xerxes. Die beiden älteren müſſen alfo 
älter feyn, als Darins, können aber nicht älter feyn, 
ald Eyrus, da Perſepolis erft durch Eyrus erbant ift, 


a) Berge. Spiegel, „WUeberficht des gegenwärtigen Standes ber 
Forfchungen über die Keilfchrift,” in der ball, Litt.»Zeit, 1845, 
Kr, 251 — 253, 


674 Bbrard 


Diefe beiden älteren Schriftarten ind alfo ebeufalld per⸗ 
ſiſch. Nun finder ſich aber bie eine biefer älteren 
Schriftarten fehr zahlreich in Babylon wieder (neben der 
jüngeren aus der Zeit ded Darius). Wir haben alfo bie 
Thatfache, daB die Bandenkmale Babplons perfifche In⸗ 
fhriften aus der Zeit des Cyrus und Kambyſes tragen. 
Eine andere Schriftart aber, eine ſolche, die fich zu 
Derfepolis nicht wiederfände,, bie man alfo für eine von 
der perfifhen Schrift verfchiedene, chaldäifche zu halten 
berechtigt wäre, fömmt in Babylon nicht vor. Schon 
das ift wichtig, wenn auch nur ein negativer Umſtand. 
Run hat aber Botta zu Chorſabad, in der Gegend bes 
alten Ninive, Scuipturen von Sphinren entdeckt, welche 
alle ohne Ausnahme genau mit den perfepolitanifchen 
übereinflimmen. Nach der gewöhnlichen, hergebrachten 
Anſchauung der Geſchichte jener Reiche iR es gerabezu 
unbegreiflich, fowohl wie perfifche Sculptur nach Rinive, 
als wie ninivitifhe nach Perſepolis gefommen feyn follte. 
Schon vor ber Gründung des perfifchen Reiches fol ja 
— fen ed Nabopalaſſar von Babylon, ſey ed Cyaxares 
von Medien (Herod. 1, 106.), fey es, beide mit einander 
— Rinive zerftört haben. Nach der manchefter’fchen Ans 
ſicht und Eombinationdweife wird Alles begreiflih. Jener 
Rabopalaffar, welcher Rinive einnimmt, ift Cyrus ſelbſt, 
nnd er nimmt Ninive nicht ald Eroberer, fondern als 
Ufurpator, ale aflprifcher Feldherr. Nun wirb es gan; 
begreiflich, daß Eyrus bei der Erbauung von Perfepslis 
Kormen nintoitifcher Sculptur anwandte. Das aflyrifce 
und das perfifche Reich liegen nicht mehr um Sahrhun 
Derte auseinander, fonbern berühren ſich aufs engfte. — So 
erflären fi) dann auch die Negergeflalten anf den Ruinen 
von Chorfabad. Bor Kambyfed kamen jene Gegenden 
mit Afrika in Feine Berührung. War aber Cyrus ber 
Uferpator Cnicht ber Zerfiörer) von Rinive, fo läßt ſich 


Nebukadnezar. 675 


eine productiv⸗friedliche Thaͤtigkeit feiner uud ſeines Soh⸗ 
nes in Ninive wohl denken. 


— — — — — 


Es finden ſich nun auch ſchon in alter Zeit Spuren 
dieſer ganzen Anſchauungsweiſe. Daß Joſephus (ant. 10,11.) 
ſagt, Diokles erwähne des: Nebukadnezar in feiner Ges 
ſchichte des perſiſchen Reiches, hat inſofern einige 
Bedeutung, als die perſiſche Geſchichte wenig Veranlaſ⸗ 
fung zur Erwähnung Nebukadnezar's gegeben hätte, wenn 
diefer lange vor Eyrns ald König eined anderen Reiches 
gelebt hätte. Weit wichtiger ift das Zeugniß des Heca⸗ 
tänd von Abdera (bei Tos. c.Ap. 1,22.), daß „die Der, 
fer die Juden im die babylonifche Gefangenfchaft führten,” 
und das des Eebrennd, ber von „300 Sahren perfifcher 
Herrſchaft fpricht, „wovon 70 der jüdifchen Gefangene 
Ihaft angehörten.” Auch 2 Makk. 1, 19. wird die bar 
bylonifche Befangenfchaft ohne Weiteres als Deportation 
nah Perſien bezeichnet. 

Das aler. und orient. Chronikon erflären beide, Kam⸗ 
byſes, der Sohn bed Eyrus, fey von den Juden Nebu⸗ 
fadnezar genannt worden; Euſebius vollends verfichert 
(im chron.), diefen Ausfpruch bei vielen Hiftorikern ger 
funden zu haben; Suidas (u. Judith) citirt den Afri» 
canus als Gewährsmann für biefelbe Meinung Die 
Gefchichte der Judith fpielt in Perfien (Jud. 16,10. und 
ber yerfifche Rame Holophernes), und zwar zur Zeit 
des Kambyſes (denn Aegypten ift unteriocht) ; der Herr, 
her aber wird Nebufabnezar genannt. Daß er als Kö 
nig von Aſſyrien befchrieben wird, flimmt ganz zu der 
Annahme, daß fein Vater Ufurpator der affyrifchen Krone 
und das dhaldälfche cd. i. perfifche) Reich nur eine Er; 
weiterung des affyrifchen unter einer neuen, chaldätfchen 
(d. i. perfifchen) Dynaftie war. — Endlich erinnern wir 
no einmal an jene uralte Urkunde im Buche Esra, wo 





676 EGEvrard 


Nebukaduczar, der Aufaäͤnger, und Koreſch, ber Beender 
des Exils, ald Kürften in einem und demſelbes babyloni⸗ 
ſchen Reiche genannt werden, und wo danu der Berfaf: 
fer des Buched Esra daflelbe Reich das perfifche nennt. 
Nach ſolchen Zeuguiften Sanı man dee Uinficht dei 
Herzogs von Mancheſter wicht mehr. eine Hopotheſe“ 
nennen. Alle alten, ber Geſchichte jener Länder nahe 
chenden Zengniſſe vereinigen fi für dieſelbe; ſelbſt 
was biöher unlösbare Schwierigkeiten dem Ferſcher in 
ben Meg warf, z. B. die Geſchichte der Eher, bie der 
Subich, wird nun auf einmal licht umb buuchfichtig. Es 
wäre eine wunderliche Aunahme, daß eine Audit falſch 
ſeyn follte, welche, wohm man blidt, überall ſich ale 
paſſend erweiſt, nirgends auf Schwierigfeiten oder Abs 
furda führt. Es wäre bieß um fo wunderlicher, als bie 
entgegenfichenbe , traditionell gewordene Auficht auch nicht 
ein pofitived Zeugniß für fi hat, ſondern eben nur 
su» allein auf der blinden Borausfehung be 
ruht, daß das chaldäifche und perfifche Reich verſchieden 
feun müßten, ‚obgleich alle Quellen, die von biefem er: 
sählen,. von jeuem ſchweigen, uud umgelchrt, obgleich 
hie Geſchichte des einen lediglich eine Wiederholung der 
Geſchichte des andern feyn müßte, obgleich endlidg biefe 
ganze traditionelle Anficht auf allen Punkten in Schwie⸗ 
zigfeiten verwidel. 
Sonderbar tönnte ed nur erfcheinen, wie eine fo 
verfehrte Auficht fidh babe bilden uud allgemeine Geltung 
erlangen können. Auf diefe vom Berf. nicht aufgewor⸗ 
fene Frage antworten wir ftatt feiner. Diefe Thatſache 
erklärt ſich fehr Teiche. Joſephus if der Urheber der 
traditionellen Auficht; ihm folgten Die chriftlichen Kirchen⸗ 
väter (mit jenen wenigen oben angeführten Ausnahmen), 
weil fie bekanntlich der hebräifchen und der orientalifchen 
Sprachen überhaupt uicht kundig waren, uad fo wurde 
die Anficht des Joſephus allgemein, Joſephus aber kam 


4 


Nebubabnuszar. 677 


auf feine falfhe Combination einfach dadurch, Daß :er 
glaubte, jener Koreſch, welcher den Juden die Räckkehr 
erlaubte, fey der berühmte Cyrus. Bon bem fpAteren 
Satrapen des Artarerreds wußte er entweder nichte, 
oder ed lag (wohl unbewußt) in feinen Interefie, : ben 
Römern gegenhber einen. mächtigen . Weltherrfcher ald 
Begänfliger der Juden nennen zu können. 


Auch die pyerfifhen Sagen bei Merihond und 
Ferdouft unterwirft der Verf, (im 8. Kapitel) einer gruud⸗ 
lichen Unterfuchung. Hier ift freilich ein unficherer Bes 
deu, und es laſſen fich auf fle Beine ſichern Schkäffe bauen, 
fondern böchftend Unterflübungsgründe gewinnen. Sch 
will deßhalb auch nur in Kürze das Reſultat feiner Uns 
terfuchung anführen. — Die perfifchen Sagen erzählen 
von einem Kaikoſru eine ähnliche Sugendgefchichte, wie 
Herodot von Cyrus a); dagegen nennen fie einen fpäte 
ten „Korefh” als Befchüter der, Juden. — Kofrn 
iſt Cyrus. Ein Feldherr Baltnaffar (verſtümmeiteds 
„Nebukadnezar“), der Jeruſalem zerſtört und Aegypten 
erobert haben fol, entſpricht dem Kambyſes. CDiefer 
könnte bei der Zerftörung Serufalemsd feinem Vater ge: 
bolfen haben. Doch kann ihn auch die perfifhe Sage 
mit feinem Vater confundirt haben.) Ein König Loho⸗ 
rasp gelangt durch Wahl anf den Thron; Kondhemir 
und der Verf. des Lebtarifh nennen ihn einen Zeitgenofr 
ſen des Jeremia, Daniel und Cara, Wir finden in ihm 
Darins Hyflaspis wieder. Sein Sohn Guſchtasp führt 
die Religion des Zerdudſch ein, prägt zuerft Goldmün⸗ 


a) Hat Nebukadnezar 1. ale affyr. Feldherr ben Ahron feines Kir 
nigs ujurpirt, fo verträgt fih dann auch die Geſchichte, die He⸗ 
rodot von ihm (nämlich dem mit ibm identiſchen Gyrug) er⸗ 
zählt, gar wohl mit dieſer Thatſache. 








678 Ebrard 


gen‘, hat einen feiner Miniſter hängen laſſen, und war 
der Mann einer Jüdin, die von Saul abitammte. Hier 
haben wir bie fpecielien Züge and der Gefchichte uns 
fered Kerreds Ahasver, Sein Nacfoiger Behmen 
führt den Beinamen Darazsdaft, d. h. der Langhändige. 
Ohne Zweifel Artarerres I. Longimanus. Erfeht 
den Sohn Baktnaſſar's in Babel ab und den Kureſch, 
einen Sohn (Bd. h. wohl Nachkommen) des Lehorasp 
und einer Jüdin, an deffen Stelle, und beftehlt dieſem, 
den Juden die Rückkehr zu erlauben. — Solche Befätis 
guagen hätte wohl fein Lefer erwartet, — Wir erhalten 
nun folgende vergleichende Ueberſicht: 





H Schrift, Herodot, Perſer. 
Nebukadnezar 1. Syrus Koſru. 
Nebukadnezar II. Kambyfes — Baltnaffar, 
Darius der Meder Darius Hyſtaspis Lohorasp. 
Ahasver Xerxres Guſchtasp. 
Artachſchaſta Artaxerres Longim. Behmen 

Darazdaſt. 
(Satrap: Koreſch) (Satrap: 
Kureſch). 
Darius Ahasveri Darius Nothus Darib. 
— Artarerres II. — 





— Ochus 

Darius der Perſer Darius Codomannus Darib. 

Eine Bemerkung, die dem Herzog entgangen iſt, 
finde hier noch eine Stelle. Belannt ift die orientalifche 
Sitte, dem Enkel den Namen bed Großvaters zu geben. 
Darius der Meder oder Lohorasp heißt bei Herodot ein 
‚Sohn des Hyſtaspes; Hyftaspes iſt mit Guſchtasp (ober, 
wie er daneben heißt, Kifchtaep) offenbar identifc. 
Wenn biernady. der Bater des Kohorasp ebenfo wie der 
Sohn deffelben Kiſchtasp hieß, fo hat dieß um jener 
Sitte willen die höchfte innere Wahrfcheinlichkeit. 





Nebulabnezar. 679 


Wir wenden und nun zur Schlußbetrachtung. Wir 
wollen zeigen (was ber Berf, übergangen hat), daß auch 
die Gefhihte von Esra und Nehemia einen ins 
directen Beweis für feine Anficht enthält. Diefe Ger 
fhichte verwidelt den Eregeten in unfägliche Schwies 
rigfeiten, welche fich bei jener Anficht aber plöglich Lös 
fen. Ich erinnere nur an Eine Hauptfchwierigfeit. Kos 
red (Kap. 1, 1. 4, 5.) fol nach gewöhnlicher Annahme 
Cyrus feyn. Nun wird (Kap. 4, 5.) Darius als fein 
Nachfolger genannt, und V. 24. wird derfelbe Darius ale 
Nachfolger bes Artahfchafla genannt. Wienun? Ber 
ſteht man unter Darius (wie gewöhnlich) den Darius 
Hopſtaspis, fo war biefer weder ber Nachfolger ded Ar» 
tarerred, noch des Cyrus, und man muß nun entweder 
unter Ahasver und Nrtadfchafta den Kambyfed und 
Smerdis verfichen, was ein Verzweiflungsſtreich if, oder 
man verficht unter Artachfchafta (mit Kleinert) den Ars 
tarerre®, unter Darius den Dar, Hyſt. und muß nun 
gewaltfame Umftellungen annehmen, oder endlid, man 
muß den 5. Vers künftelnd fo deuten, ald werde Darius 
ald mittelbarer Nachfolger des Korefch aufgeführt. 
ketzteres ift aber gegen den offenbaren Wortfinn. „So 
lange Kores lebte,” ruhte der Bau. Und wiederum: „bie 
sur Herrfchaft ded Darius” ruhte ber Bau. Iſt Damit nicht 
offenbar gefagt, daß Kores bis zur Herrfchaft des Da» 
rius lebte? Und kann überhaupt Darins auf Artadı- 
ſch aſta gefolgt feyn? Wird nicht (Kap. 6, 14.) Artach⸗ 
ſchaſta noch neben Darius als Beförderer bed Baues 
genannt ? Nach unferer Anficht ift Alles fehr begreiflich. 
Kores ift nicht Cyrus, ſondern ber babylonifche Satrap 
bes Artachfchafta, alfo mit biefem gleichzeitig. Der Ban 
ruht auf Befehl des Artarerred (Er. 4, 17 ff.) durch 
Vollziehung bed Kores. Wie Kores flirbt, wird Darius 
Rothnd (der nachherige Nachfolger des — 

Theol. Stud, Jahrg. 1847, 





680 Ebrarb 


von Artarersed zum Satrapen in Babel eingefeht; Dar 
rind, der Sohn bed Zerresd nnd der Eſther, it den Ju 
den günflig und erwirkt nun von Artarerred bie Er⸗ 
neuerung der ein von Kores gegebenen Erlaubuiß 
zum Tempelbane, fo daß „der Bau von Statten ging 
„auf Befehl bed Kores, Darius und Artahfchafta” (Esr. 
6, 14.). 

Nicht allein aber diefe Schwierigkeit loͤſt ſich, ſon⸗ 
dern ein ganzes Net vom analogen Schwierigkeiten. 
War nämli Darius Ahasveri oder Nothus anfangs 
nur Gatrap bed Artarerred, und lebte biefer noch fort, 
fo ſteht num nichts im Wege, unter dem Artarerres 
Esr. Tf. denſelben Artarerredl.zu verfichen. 
Daun werden Esra und Nehemia zu Zeitgenoffen 
des Zofua und Gerubabel, und die ganze Ges 
fhichte der Ruckkehr gewinnt eine andere Geftalt und 
eine Schaar von Widerfprücen verfchwinbet. 

Sehen wir dieſe Widerfpräche näher an. Einige 
berfelben haben Veranlaffung gegeben, beiden Büchern 
alle Glaubwürdigkeit abzuſprechen; andere find noch gar 
nicht gehörig beachtet, 

Erft aber vergegenwärtigen wir und die Boranss 
fe&ung , unter”welcher jene Widerſprüche entftchen. 

Esr. 1—6,. foll von einer er ſten Ruckkehr ber In⸗ 
den unter Zofua und Gernbabel, Er, 7 ff. und im 
Buche Nehemia von einer fpäteren Rückkehr einer 
Schaar von Nachzüglern unter Edra und Nehemia bie 
Rede feyn. Das erftemal fey der Tempelban unter 
Eyrud begonnen und unter jenem Darius vollendet 
worden; die Stadt fey aber noch unbefeRigt gewefen. 
Das zweitemal fey die Stabt mit Mauern umgeben 
worden. 

Ader ſchon das erftemal muß (nach Neh. 1.) ein 
Befeſtigungsverſuch gemacht worden feyn, ber aber for 
gleich wieder zerſtört warb, 


Nebukadnezar. 681 


Die Anwohner, die Nehemia (Kap. 1.) in Serufas 
lem findet, follen die Nachkommen der unter Joſua zus 
rückgekehrten Erulanten fepn. 

Nun entftehen folgende Widerſprüche. Bor Als 
len zwiſchen Neh. 7, 73— 8, 1. und Eöra 2, 70—3, 1. 
Eine im Buche Esra enthaltene Urkunde (2, 1 ff.) ſchließt 
nämlich mit den Worten: „Alfo festen ſich Die Priefter 
„und Die Leviten und die Menge des Volks und bie 
„Sänger und Thorhüter und Nethinim in ihre Städte, 
„und alles Iſrael in feine Städte” Es ift von der _ 
Einwanderung des Joſua und Sernbabel die Rebe, 
und Kap. 3, 1. folgt die Nachricht, daß diefe beiden Männer 
im fiebenten Monate defielden Jahres eine große Volks⸗ 
verfammlung religiöfen Charakters hielten. Nehemia 7. 
wird nun wörtlidy dieſelbe Urkunde (ein Berzeichniß der 
mit Joſua Eingewanderten) mitgetheilt und mit berfels 
ben Notiz, daß „die Priefter, Leviten u.f.w. u. ſ. w. ficher 
in ihren Städten wohnten,” abgefchloflen, und bann 
wird ebenfo (Kap. 8, 1) die Rachricht angefchloffen, daß 
am fiebenten Monat ein Feſt gefeiert wurde, aber bei 
dbiefem Feſte fungiren nun Esra und Nehemia. 
Nach der Borausfegung, daß Edra und Nehemia mehr 
als ein Menfchenalter nach Joſua und Serubabel erft 
einwanderten, ift dieß nun natürlich ein ungehenrer 
Widerſpruch, und man ficht ſich zu ber Annahme ger 
nöthigt, Daß der Berf. des Buches Nehemia in grenzen, 
Iofer Unwiffenheit die Geſchichte Edra’d und Nehemia’s 
mit der Joſua's und Gernubabel’d sufammengeworfen 
babe, Daß er dieß gethan hat, iſt unleugbar und 
durch Peine Künfteleien wegzubringen; anf weldyer Seite 
die Unwiſſenheit fey , ift aber freilich eine audere Frage. 

Wir bemerken nämlich, daß noch an mehreren Stel» 
ien folhe „Widerfprüche” (nämlich Widerſprüche gegen 
die traditionelle Boranusfegung!) wiederfehren, db. h. mit 
andern Worten, daß noch Mehreres hier dem Joſua und 

46* 


682 Ebrard 


Serubabel, dort dem Esra und Nehemia zugeſchrieben 
wird. 

Nach Esr. 3, 1 — 4. iſt in der Zeit des Joſua, im 
2. Jahre des Koreſch, ein Laubhüttenfeſt gefeiert 
worden, nnd B.6. leſen wir die Notiz, daß damals der 
Tempelbau noch nicht begonnen war. Dieß Laubhätten: 
feft fchließt fih eng an jene oben erwähnte Volksver⸗ 
fammlung Sofua’s& „im 7. Monate” Run fchließt 
fi aber Nehem. 8. an die Volksverſammlung 
Edra’d und Nehemia’s „im 7. Monat” ebenfalls 
ein Laubhüttenfeft (Neh. 8, 15 — 19). 

Mehr noh: Er. 2, 63. tritt auf dem Laubhüt 
tenfette Joſua's eine Perfon ermahnend auf, melde 
ohne Weitered anna genannt wird, und Neh. 8, 9. tritt 
auf dem Laubhüttenfeſt Eöra’d Nehemia fels: 
der in der nämlichen Weiſe ermahnend anf, und damit 
ja kein Zweifel über die Identität Nehemia’d mit jenem 
„chirfhata” bleibe, fo heißt ed bier (Neh. 8, 9): 
den Hanptanführern der unter Korefch zurückkehrenden 
Erulanten wirklich neben Joſua und GSerubabel ein — 
Nehemia genannt! 

Nun fteht die Sache fchon nicht mehr fo, Daß bloß 
das Bud, Nehemia die Einwanderung bed Joſua umd 
Serubabel mit der ded Esſsra und Nehemia in Eine Zeit 
zufammenwirft, fondern das Bud, Era und bad Bad) 
Nehemik fichen bier für einen Mann. Wenn wir nım 
aber auf der einen Seite fo beflimmte Zeugniffe für bie 
Gleichzeitigkeit jener vier Männer haben, follten wir uns 
dann nicht billig fragen, welches denn bie Gegengründe 
feyen, die und veranlaffen, folchen Zeugniffen entgegen 
zwei confecutive @inwanderungen vorauszufegen und 
hinterher die Bücher Esra und Nehemia für confus uud 
fabulo6 zu erflären? 


= 


— 


Nebukadnezar. 683 


Dieſe Gegengründe, fie rebnciren ſich lediglich dar⸗ 
auf, daß Joſna und Serubabel unter Koreſch, Edra und 
Nehemia aber unter Artachfchafta eingewandert find, und 
dag Korefch der alte Cyrus ſeyn fol! Sowie aber ein, 
mal feſtſteht, daß Korefch ein Gatrap bes Artachfchafta 
war, fo — fällt die ganze Vorausſetzung in nichts zus 
fammen. Dieß aber fteht ohnehin fe, aus den früher 
angeführten Gründen, es fteht ferner fell aud dem über 
Esra 4. Bemerkten; ja endlich verwandelt fi der Um⸗ 
ftand, daß fo auch unfere jet befprochene Schwierigkeit 
ſich loͤſt, in einen neuen Beweis für die mandheiter’fche 
Anficht. 

Doch ed mag Leute geben, bie ſich fo ſchnell nicht 
beruhigen laſſen. „Findet denn nicht Nehemia (Kap. 1.) 
„Ihon Jeruſalem bewohnt? Findet er nicht das Ders 
„zeihniß der. früher Eingewanderten Kap. 8, 5 f.) ale 
„eine Antiquität vor?” Das ift eben die Frage. Weil 
man Alles durch die Brille jenes einmal gefaßten Bor» 
urtheil® betrachtete, glaubte man, bieß in den Torten zu 
finden; aber wir werben fehen, daß, fobald jenes Bors 
urtheil hinweggeräumt ift, Alles ſich auf eine weit natürs 
lihere Art erflärt. 

Faffen wir die Gefchichte der Bücher Edra und Ne⸗ 
hemia in eine kurze vergleichende Ueberſicht zuſammen! 
Um drei Punkte gruppirt ſich Alles, um die Rückkehr, 
den Tempelbau und die Excommunication der 
Ammoniter und Moabiter. 

Korefch, wie wir wiffen, ein Satrap des Artarerresd 
Longimanus, erlaubt in feinem erften Regierungsiahre 
— es wird nicht gefagt, auf welche Veranlaffung hin — 
ben Inden die Rüdfehr (Er. 1, 1., vergl. 6, 3. und 2 
Ehron. 36, 22f.), Zofua, Serubabel und Nehemia, der 
lettere ald Thirfata, ale königl. Statthals 
ter (Esr. 2, 2 und 63., verglichen mit Neh. 8, 9.), ziehen 
mit 42,560 SIfraeliten (Esr. 2.5 Neh.7.) nah Sudän. 


684 Ebrard 


Im 7. Monate wird" zum erftenmale feierlih Opfer ger 
bracht und dad Lanbhüttenfeft gefeiert, wobei Nehemia 
dad Volk ermahnt und ihm das Geſetz verlieft (Esr. 3.; 
Reh. 8.). 

Näheres über die Beranlaflung jener Erlaubniß und 
über die Bewerkſtelligung der Rückkehr finden wir Reh. 
1 ff. Nehemia lebte in Sufan am Hofe Bed Sonuveraind 
Artarerre J. Da erhielt er Kunde, wie elend es feinen 
Brüdern in Indäa gehe (Neh. 2, 1). Wan trägt bier 
das Borurtheil hinein, daß diefe Brüder in Judäa bie 
unter Joſua Zurücgelehrten feyn müßten. Man hält die 
Worte: „die Manern Jeruſalems find gebrochen und ihre 
„Thore mit Feuer verbrannt,” für eine dem Nehemia neue 
Nachricht von einer feit Joſua's Rückkehr erfolgten 
abermaligen Zerfiörung der Stadt ober wenigſtens 
ihrer Wähle, Allein das Particip nzyen befagt zunädk 
nur: „bie Mauern liegen noch zerbrochen,” und das fol, 
gende ms iſt jedenfalls nur Fortſetzung des in namsc 
begonnenen Gedankens. Wir finden auch nicht, daß Res 
hemia (B.4 ff.) Über eine nee Gewaltthat jammert oder 
den König um Beftrafung ber llebelthäter bittet, ſondern 
er gedenkt Iediglidh daran, daß Bott dem Wolke burch 
die Propheten Berfireuung unter bie Heiden gedroht, 
aber die Berheißung beigefügt habe, es wieder zu fa 
meln, wenn es fich befehre. Hier ift von einer bereits 
gefchehenen Rückkehr aus dem Erile keine Rede. Und wie 
der König feine Traurigkeit bemerft (Kap. 2, 1 ff.), bit 
tet er um Erlaubniß, „die Stadt, wo feine Bäter be 
„graben feyen, wieder bauen zu dürfen” (B. 5.) 
Keine Spur, daß diefe Stadt mittlerweile fchon wider 
gebant und nur ihre Befelligungen aufs Reue gefchleift 
waren! Und wie nan Nehemia nad Serufalem fommt, 
findet er bie Zerfiörung noch fo vollftändig, daß (B. 14.) 
da, wo einft dad Brunnenthor war, „fein Thier nicht 
Ranm fand zu gehen” Wie wunderlich wäre bad ge 


Nebulabnezar. 685 


weien, wenn Sernfalem wieder gebaut und bemehnt und 
nur die Feſtungswerke aufs Reue gefchleift geweien wä⸗ 
ren. Würden ba die Bewohner nicht allerwenigſtens 
an den Thoren den Schutt fo weit weggeräumt haben, 
daß ein Maulthier ein, und ausgehen Tonnte? 

„Aber war Jernſalem nicht dennoch bewohnt? 
„ragt nicht Rehemia (Kap. 1, 2.), wie eö zu Serufalem 
„ginge®” D ja, er fragt, ob noch gar kein Anfang ges 
macht fey, die Stadt zu bauen; er feht voraus, daß 
vieleicht Andere fchon einen Anfang gemacht hätten. 
„Wie war dieß aber möglih, wenn nicht eine Schaar 
„von Exulanten vorher ſchon zurückgekehrt war? Rebus 
„kadnezar hatte ja Alle, auch das gemeine Bolt deportirt 
Eine Schaar brandıt eben nicht zurückgekehrt zu feyn, 
wohl aber können und werden gegen Ende des Exils, 
befonder® als Kerres durch Efiher den Juden günftig ges 
Rinmt wurde, Einzelne ohne Auffehen und Hinder⸗ 
niß fih nach und nad in dad Land gezogen baben. 
„Aber findet Nehemia nicht Prieſter und Oberſten in Je⸗ 
„enfalem, die fon „an dem Werke arbeiteten?” 
(Neh. 2, 16.) Go hat allerdings Luther Überfeht. Aber 
naxber yes heißt fonft allgemein: „den Dienft thun,” 
und der Sinn ift der, daß Nehemia den ihn begleis- 
tenden Öberften, Prieſtern und Bedienfteten den Zwed 
feiner Reife nicht fagte, fondern (V. 12.), ald er nahe zu 
Jeruſalem kam, ſich Nachts von ihnen trennte, drei Tage 
allein mit wenigen Begleitern unter den Trümmern weilte 
und feinen Gefühlen fich überließ, und alddann erft den 
Zwed feiner Sendung fund that. 

Das Erfie, was nun geſchah, war deun auch wichte 
Anderes, als daß die im Lande umber gerfireuten 
Inden gefammelt und beim Baue angeftellt wurden; 
und was man wohlmweislih zu allererſt (und nicht 
nady der traditionellen Aunahme zu allerlegt!) baute, 
waren bie Mauern (Kap.3.). Hierbei find denn Juden 
aus Theloa (B. 5.),7Gibeon nnd Mizpa (V. 7.), Sar 


686 Ebrard 


noah (B.13.) u. ſ. w. thaͤtig. Wozu dieß, wenn die Stadt 
ſchon gebaut und Einwohner an Ort und Stelle waren. 
Daß einzelne der Kap. 3. erwähnten Perſonen „neben 
ihren Däufern” bauen, iſt (wenn wir Neh. 7,4. vwergleis 
chen) fo zu verftehen, daß Nehemia nadıher dard 
Diefe Angaben den Platz, von wo an und wie weit fie 
gebaut haben, bezeichnen will. Uebrigens entſtanden auch 
wohl gleichzeitig mit der Mauer ſchon Häufer und Stra: 
Gen; die Bauenden mußten doch ein Obdach haben. — 
In 52 Tagen (Reh. 6, 15.) wurden die Mauern fertig. 

Mittlerweile hatte Artarerred dem Koreſch Bes 
fehl gegeben, den Erulanten die Rückkehr zu geftatten. 
Diefe famen nun an, und bei Nehemia werden fie im 
5. Kap. zum erftenmal erwähnt. Es erhob fih (2. 1.) 
ein Streit zwifchen dem „Volke“ und den „Juden,“ weil 
(wie natürlih) Mangel au Rahrung entſtand. B. 8. 
fagt Rehemia: „Wir haben unfere Brüder, bie Juden, 
„iosgefauft, die unter bie Heiden verkauft waren, und 
„ihr wolt eure Brüder, die wir erfauft haben, wieber 
„verkaufen?“ Hier ift der Gegenſatz zwifchen den früher 
Angefiedelten und ben fo eben nen Angelommenen Deutlich. 

Daß wirklich die Ordnung dieſe ift, daß erft Nehe⸗ 
mia die Stadt baut, und Dann bie Erulgnten unter So: 
fua binziehen, it aud, Esr. 1, 2. angedeutet a). Denn 
wo Korefch die Erlaubniß zur Rückkehr ertheilt, handelt 
es fich nicht mehr darum, die Stadt wieder aufzubanen, 
fondern nur, „in Serufalem in Iuba dem Herrn ein 
„Haus zu bauen. — 


a) Jene Urkunde (Esr.2.; Neh. 7.) wirb nun nicht mit B. 78., fon: 
dern ſchon mit B.64. (Est. 2, 62.) fhließen ; 8.65. (Esr. 2, 63.) 
wird ja etwas erzählt, was Nebemia ſelbſt weiter vornahm; 
bier fährt alfo der Schriftſteller frei zu erzäbten fort. Daf 
er auch bier noch mit Esra oft wörtlich übereinflimmt, erklärt 
ſich fehr einfach fo, daß biefer jenen benugt bat. Esr.2, 68 — 
8, 4. iſt ein kurzer Auszug aus Reh. 7,65 — 8, 18, 


Nebukadnezar. 687 


Wir wenden und nun zum Tempelbane Die 
Rüdkehr fand flatt im 1. Jahre des Korefch (Esr. 1, 1.), 
d. i. im 20. des Artarerred (Neh. 1, 1. 2, 1.). 

Gm 2. Jahre nach ber Rüdtehr (Eör. 3,8—13,), alfo 
im 3. des Korefch, im 22. des Artarerred, wurde der 
Grund zum Tempel gelegt. Nun verfuchten ed (4,1— 65.) 
die „Widerſacher,“ d. i. ohne Zweifel Tobiad und Sans 
ballat, die ſchon den Bau der Mauern angefeindet hats 
ten (Neh. 3 ff.), nicht mehr mit Gewalt, ſondern mit 
eift, die Juden zu hindern, und gaben dem Kores beu 
„Rath ” der Tempelbau fey ftantögefährlich, und fo 
mußte, fo lange Kored lebte, der Bau ſtille flchen. 
B. 7 ff. wird näher befchrieben, wie die Wiberfacher es 
anfingen =). Sie wandten fi an Artarerred, und auf 
deffen Befehl verbot Kored den Ban. 

Kap. 5. wird erzählt, wie es kam, daß ber Bau 
nach dem Tode des Korefh, im 2. Jahre des Darius 
Nothus (Esr. 4,24.), wieder beginnen durfte. Die Pros 
pheten Daggai und Sadharja mahnten zum Baue; ba 
fingen im 2. Jahre des Darius Nothus (Sad. 1, 1; 
Hagg. I, 1.) Serubabel und Joſua auf eigne Kauft wie 
der zu bauen an, ohne Zweifel in der doppelten Hoff» 
nung, daß der neue Satrap Darius nichts von dem als 
ten DBerbote wiflen werde, und daß er als Sohn ber 
Eſther den Juden günftig feyn werde, Wirklich bedurfte 
es erſt einer Anklage des Landpflegerd Tatnai bei Das 
rind (Esr. 5, 3,), aber die Juden baten biefen, in dem 
Archive, „das zu Babel if,” nachforfchen zu laffen, ob 





a) 8. 6. fehlt in den LXX. und iſt ent weder ein Gloflem, das 
dem Wifverftande feinen Urfprung dankt, indem man unter 
Kores (8.5.) Cyrus, unter Darius (WB. 5.) ben Darius Hyflaspis, 
unter Artachſchaſta (V. 7.) Artarerres verftand und zwiſchen 
beide den Xerres einfliden zu müflen glaubte, oder eine (echte) 
Parenthefe, die auf den Vorfall Eſth. 3. zuruͤckweiſt. Erſteres 
it mir wahrſcheinlicher. 


588 | Ebrard 


ſich nicht das alte Erlanbwißedict bes Koreſch (Esr. 1, 1ff.) 
ſinde. Es fand ſich wirklich, wenn auch nicht zu Babel 
(Er. 6, 2.), und Darius erlaubte, mit Genehmigung 
Des Artarerred (DB. 14.), welcher zur’ Zfoyke „ber 
König von Babel” genannt wird a), den Bau. Darius 
war alfo damals nur noch Satrap. Daß übrigens dieſe 
Satrapen, befondberd wenn fie Prinzen vom Beblüte wa 
ren, andy (secundo ordine) den Titel „König führten 
(Er. 7, 12.), und daß bie Satrapen überhanpt ſehr 
felbftändig in ihrer Herrſchaft daftanden, ift befannt 
(vgl, Herod. 1, 192.). 

Sm 6. Sabre des Darius Nothus cd. h. feiner Sa⸗ 
trapie) wurbe ber Tempel vollendet und eingeweiht. — 
(Run begreifen wir auch, warum Nehemia, nachdem er 
bie Kap. 11. die Erzählung feiner Thaten fortgefekt 
hat, Kap. 12, die Namen der mit Joſua Eingewander: 
ten aufzählt. Darum, weil er und Sofua gleichzei⸗ 
tig wirkten) — 

Wir gehen zur Ausſchließ ung der Ammoni⸗ 
ter. Eöray9f. und Neh. 18. wird noch dieß fpärere Fac⸗ 
tum berichtet. (Daß der Stelle Esr. 9, nicht Neh. 9, 1. 
fondern Neh. 13. entfpricht, iſt deutlich. Ebenſo, daß die 
frühere Reinigung ber Gemeinde (Neh. 9,1.) von der fpür 
teren, wichtigeren (Neh. 13,13.) verfchieben iſt. Denn 
dort war Nehemia anwefend; hier iſt er abwefend,) 

Nehemia war im 20. Jahre des Artarerres, im 1. 
bed Kored, zum erftienmale nad Jeruſalem gekommen 
(Neh.1,1.) und war Laudpfleger gewefen bie zum 32.9. 
des Artarerred (Neh. 13,6.). Bon da au lebte er längere 
Zeit am perfifchen Hofe. In diefe Zeit fällt die And: 
fohließung der Ammoniter und die Einrichtung eines Tem⸗ 
pelkaſtens (B.5.), die er hernach bei feiner Rückkehr alt 
eine unpaflende abfchaffte (V. & ff.). 


a) Bgl. Er. 7, 12: „ber König aller Könige.” 


Nebulabnezar. 689 


Wie verhält ſich nun aber hierzn das Esr. 7. Erzählte? 
Eora 7. beginnt mit den Vorten: „Rad, biefen Befchichten” 
(nämlich der Einweihung bed Tempels im 6. Jahre des 
Darius) „im Königreiche des Artachfchafta.” Daß dieß 
noch immer der alte Artachfchafta und nicht etwa Arta⸗ 
rerres II. iſt, wiſſen wir nun; wir wiſſen, daß Darius 
ald Satrap der Nachfolger ded Satrapen Koreb 
geworden war; wir wiſſen auch aus ben Profanfchrifts 
hellern, daß Artarerres 41 Jahre regiert hat. Nun heißt 
es @er. 7., Esra fey mit einem Geleitsbriefe des Arta- 
serred im Driente umhergereift, habe die dort noch ber 
findlichen Juden anfgefordert, nach Jeruſalem zu ziehen, 
und ſey mit einer Schaar (die von der frühern Esr.2. 
ganz verfchieden ift) nad Jeruſalem gekommen; der Tem⸗ 
yel war (8, 33.) damals fchon gebaut. Nach feiner Ans 
Eunft habe er die Ammoniter ausgefchloflen. 

Offenbar fühlt diefe fpätere Reife Esra's a) in bie 
Zeit nach dem 32. Zahre ded Artarerres, in die Zeit, 
wo Rehemia abwefend war. Sonderbar iſt deßhalb die 
Zeitangabe Esr. 7, 7: „im fiebenten Jahre des Artas 
serred.” Sollte die Stelle corrupt ſeyn? Mir fcheint 
der Schiäffel der Erflärung in dem ebenfalls fonderbaren 
Zufage zu liegen: eb myaun no wen. Iſt der Tert 
incorrupt, fo ift diefer Zufaß ein reiner Ueberfiuß. Ich 
glaube, das Negierungsjahr des Artarerres iſt corrupt, 
der Zufaß richtig. Der im Zufage genannte 2 wird 
der den Juden zunächktfiehende Satrap, ihr Satrap, 
feyn, d. h. Darius. 

Nun war Rehemia im 6. Jahre des Darius, bei der 
TZempelweihe, noch in Serufalem (Neh.12,40.); im 7. 
Jahre, wo Esra kommt und die Ammoniter ausfchließt, 
war er ſchon abweſend (Reh. 13, 6.). Da er nun (Neh. 
a) Run erklaͤrt fi) audy der Ausbrud ruenn Reh. 7, 5f. Wie 


Rehemia ſchrieb, war die fpätere Einwanderung zur frühern 
fon hinzugekommen. 


686 | Ebrard 


ſich nicht das alte Erlanbuißedict bes Koreſch (Eör. I, Iff.) 
finde. Es fand ſich wirklich, wenn auch nicht zu Babel 
(Er. 6,2,), und Darius erlaubte, wit Genehmigung 
des Artarerres (DB. 14), welder zur äfoyhw „der 
König von Babel” genannt wird a), den Bau. Darius 
war alfo damals nur nod) Satrap. Daß Übrigens biele 
Satrapen, befonderd wenn fie Prinzen vom Beblüte wa 
ren, auch (secundo ordine) den Titel „König” führten 
(@ör, 7, 12.), und daß: die Satrayen überhanpt fehr 
felbftäudig in ihrer Herrfchaft daſtanden, iſt befaunt 
(vgl, Herod. 1, 192.). 

Im 6, Jahre des Darius Nothnd ch. h. feiner Su 
trapie) wurde ber Tempel vollendet und eingeweiht. — 
(Run begreifen wir auch, warum Nehemian, uachbem er 
bis Kap. 11. die Erzählung feiner Thaten fortgefekt 
hat, Kap. 12, die Namen ber mit Jofua Eingewanber: 
ten aufzählt. Darum, weil er nnd Joſna gleichzei- 
tig wirkten) — 

Wir gehen zur Ausſchließung der Ammoni— 
ter. Eöray9f. und Neh. 18. wird noch dieß fpätere Fac⸗ 
tum berichtet. (Daß der Stelle Esr. 9. nicht Neh. 9, 1. 
fondern Neh. 13. entfpricht, iſt deutlich. Ebenſo, Daß die 
frühere Reinigung der Gemeinde (Reh. 9,1.) von ber fpü- 
teren, wichfigeren (Neh. 13,13.) verfchieden if. Dem 
dort war Nehemia anwefend; hier iſt er abwefend.) 

Nehemia war im 20. Jahre des Artarerred, im 1. 
des Kores, zum erfienmale nach ernfalem gekommen 
(Reh.1,1.) und war Laudpfleger gewefen bis zum 32.2. 
des Artarerres (Neh. 18,6.). Bon da an lebte er länger: 
Zeit am perfifchen Hofe. In diefe Zeit fällt die And 
fchließung der Ammoniter und bie Einrichtung eines Tem 
pelkaſtens (B.5.), die er hernach bei feiner Rückkehr ali 
eine unpaflende abfchaffte (V. & ff.). 





a) Vgl. Esr. 7, 12: „ber König aller Könige.” 





Nebulabnezar. 689 


Wie verhält ſich nun aber hierzn dad Er. 7. Erzäblte? 
Esra 7. beginnt mit denWorten: „Rad; dieſen Geſchichten 
(nämlid der Einweihung ded Tempels im 6. Jahre des 
Darius) „im Königreiche des Artachichafta.” Daß dieß 
noch immer der alte Artachfchafta und nicht etwa Arta⸗ 
rerre® IT. ift, wiffen wir nun; wir wiflen, daß Darius 
ald Satray der Nachfolger bee Satrapen Kores 
geworden war; wir wiflen auch aus den Profanfchrifts 
ſtellern, daß Artarerres 41 Jahre regiert hat. Nun heißt 
es Esr. 7., Eöra fey mit einem Geleitöbriefe des Arta- 
serred im Oriente nmhergereift, habe die dort noch bes 
findlichen Juden anfgeforbert, nach Jeruſalem zu ziehen, 
und fey mit einer Schaar (die von der frühern @er.2. 
ganz verfchteden ift) nach Jeruſalem gekommen; der Tem⸗ 
pel war (8, 33.) damals ſchon gebaut. Nach feiner Ans 
Eunft habe er die Ammoniter ausgefchloffen. 

Dffenbar fäht diefe fpätere Neife Esra's «) im die 
Zeit nach dem 32. Jahre ded Artarerres, in die Zeit, 
wo Nehemia abwefend war. Sonderbar ift deßhalb die 
Zeitangabe Esr. 7, 7: „im fiebenten Jahre des Artas 
serred.” Sollte die Stelle corrupt feyn? Mir fcheint 
der Schiäffel der Erklärung in ben ebenfalls fonderbaren 
Zufage zu liegen: eb myaun no wer. Iſt der Tert 
incorrupt, fo ift diefer Zufag ein reiner Ueberfluß. Ich 
glaube, das Negierungsiahr des Artarerres iſt corrupt, 
der Zufaß richtig. Der im Zufage genannte 5% wirb 
der den Juden zunächfifiehende Satrap, ihr Satrap, 
ſeyn, d. h. Darius. 

Nun war Nehemia im 6. Jahre des Darius, bei der 
TZempelweihe, noch in Serufalem (Neh.12,40.); im 7. 
Jahre, we Esra kommt und bie Ammoniter ausfchließt, 
war er ſchon abmwefend (Reh. 13, 6.). Da er nun (Neh. 


— — — — — — 


a) Run erklaͤrt ſich auch der Ausdruck N Neh. 7, 5f. Wie 
Nehemia ſchrieb, war die fpätere Einwanderung zur fruͤhern 
fhon binzugelommen. 


6“ Ebrard 


13,6.) vom 32. Jahre des Artaxerres an abweſend war, 
fo muß dieß mit dem 7. Jahre des Darins zuſammen⸗ 
fallen a). Dieſe ganze Combination hat übtigens die 
böchfte innere Wahrfcheinlichleit. Kür bie Abreiſe Rebe: 
mia’d war der Augenblid nach der Vollendung unb Eins 
weihung bed Tempels ein fehr paflender. Ebenſo begreift 
man, wie gerade da, wo ber biöherige Thirfata abtrat, 
ein neuer iu ber Perfon Esra's nöthigwurde. Daber bie 
Ankunft Esra's unmittelbar anf bie Abreife Nehemia's folgt. 
Mar das 7. Jahr des Darius das 32. bed Artach⸗ 
ſchaſta, fo fiel der Tod des Kores und Antritt des Das 
rind in das 27. Jahr des Artarerred. Die Reihenfolge 
der Begebenheiten iſt biefe: 
Artarerr.| Koreſch. 
20. 1. Mehemia fammelt die Inden in Judäa 
und baut SSerufalem, 
Korefch erlaubt den Erulanten bie Rück⸗ 
fehr. 
Sm 7. Monate: Volksverſammlung. — 
Laubhättenfefl unter Esra und Res 


hemia. 
23. | 3. MAnfang des Tempelbaues. Unuterbre 
Ä dung. 
Darius, 
27, 1. |%od des Korefh. Darins Batrap 
von Babel. 
23. | 2. IWiederanfang bed Tempelbaued. 
31. 6. Tempelweihe. Nehemia reiſt nach Per⸗ 
ſien. 
33. 7. Esra kommt dafür nach Jeruſalem zu 


rüd. Ausfchließung der Ammoniter. 
(d Mäckehr des Nehemia, 


a) Esr. 7,7. wäre alfo zu lefen: im 32. Jahre des Artachſchaſta. 


Nebukadnezar. 691 


Wir waͤren nun am Ende. Aber eine Frage kann 
man uns noch entgegenhalten: Sind denn vom 11. Jahre 
Nebukadnezar's J., d. h. des Cyrus, bis zum 20. Jahre 
des Artarerres J. ſiebenzig Jahre? Cyrus begaun 
feine Herrſchaft 559, Artarerres die feine 465. Bon 552 
bie 445 find 107 Sabre, alfo 37 Jahre zu viel. Der 
Herzog von Manchefter hat viefen Punkt wohl ind Auge 
gefaßt. Seine Antwort läßt ſich auf brei Punkte re 
duciren. 

a) Wiffen wir fo gewiß, daß die Chronologie Hero» 
dot's fo ficher iR? Gerade wenn man Eyrus und Kam⸗ 
bufed als Borgänger bed Darius Hyſtaspis betrady» 
tet, entficht die befannte Schwierigkeit, daß Eröfus nady 
Herodot zugleich ein Zeitgenofle des Cyrns und zugleich 
wieder ein Zeitgenoffe des mit Darius noch gleichzeitigen 
Piſiſtratus gewefen feyn fol (eine Schwierigkeit, an ber 
ren Löfung fih J. M. Schulz, Volney, Bentley, Karcher, 
Bouhier, Clinton und neueftend Vomel genugfam abges 
arbeitet haben), Wenn man fämmtliche Data des Heros 
dot zufammenftellt, gelangt man zu dem fonderbaren Res 
Iultate, daß Darius fogar 9 Jahre vor Cyrus feine Res 
gierung müßte angetreten haben a). Go unficher wie 
Herodot iſt auch die Chronologie des enfebianifchen und 
ptolemälfchen Kanon, wie das der Herzog weitläufig und 
mit ſtupendem Scharffinne nnd Gelehrſamkeit barthut. 
Die Hauptverwirrung in biefen beiden Kanone entficht 
dadurch, daß der Rabopalaflar des Joſephus, welcher, 
wie früher bemerkt, mit Nebuladnegar I. identifch ift, in 
den Kanoned mit Sardanapal und Afarhabdon identifi⸗ 
eirt wird. 





a) Die Hauptdata find folgende: a), Aftyages wird (Her. 1, 46. 
u. 75.) von Cyrus geftürgt unmittelbar vor dem Sturze von 
Sardes. Alfo fiel diefer ganz in den Anfang des 
Cyrus (Her. 1,71. erfcheinen die Perfer noch in Belle geklei⸗ 
det), und zwar wohl zwiſchen bas 2, u, 4, Jahr bes Cyrus, da 





69 Ebrard 
b) Wir ſind nun alſo gewiß, daß ber Eyras und 


zwiſchen bie erfte Orakelbeſchickung des Gröfus und feinen Stun, 
etwa 8 Sabre fallen. — b) Die Drakelbeſchickung fiel 
in die 8, Tyrannei des Piſiſtratus. Herod. 1, 64. if 
von diefer bie Mede, und Kap.65. beift eb: roug ur vun 4 
Omvalovg rosaura zöF 290909 roüro» Envsdarero 6 Kgoice 
xarkgovra (ald er den Krieg mit Eyrus begann). Die küntt 
lien Erklaͤrungen, bie das rosasra auf die erfte Herrſchaft 
des Piſiſtratus beziehen wollen, find nur aus Verzweiflung ent 
fanden, um ben Eyrus höher hinauf zu rüden. — c) Gröfst 
muß fogar bis nahe an den Tod bes Pififtratus ge: 
berrfht haben. Miltiades, im Kriege mit Lampfacus ge 
fangen, wird von Gröfus befreit (Her. 6, 37.) unb regiat 
nachher, wie aus der Erzählung beutlicdy hervorgeht, nicht mehr 
ſehr lange in Cherſonnes. In diefe nicht ſehr Tange Zeit fült 
die Ermordung feines Vetters Simon, und damals war Pile 
ftratus fchon tobt (Her. 6, 103.). Alſo farb Piſiſtr. nicht ſeht 
lange, nachdem Miltiades von Gröfus befreit war. Der Herjoz 
beweift durch fcharffinnige Combinationen, daB Gröfus hoͤchſtent 
4 Zahre vor dem Tode bes Pififiratus kann geſtuͤrzt work 
feyn. — d) Hippias regierte hoͤchſtens 4 Jahre, während welcher 
der jüngere (berühmtere) Miltiades in ben Gherfonnes kom. 
Von da bis zum ioniſchen Aufftande find (Her. 5, 55. 6, 40.) 
vier Jahre, von ba weiter bi zur Sinnahme von Milet 6 Jahre 
(der, 6, 81.), und von da bis zur Schlacht bei Marathon (mit 
aus Bgl. von Her. 6, Kap. 31, 41, 43, 46, 61, 62, 95, 10: 
unmwiberfprechlich hervorgeht) 3 Jahre. Sonach fällt bie 
Sinnahbme von Sardes hoͤchſtens 19 Jabre vorbit 
Schlacht von Marathon, und die Hnpothefen,- wide 
tbeils von der Vertreibung des Hippias bis zur Schlacht a 
Marathon 20 Jahre rechnen, theilß die 36 Jahre der Pike» 
tiven (Ser. 5, 65.) erft von der dritten Herrfchaft des Pififre 
tus an zählen, werben von bem Herzoge ſchlagend widerlegt. — 
e) Das 4. Jahr bes Cyrus fiel alfo 19 Jahre vor die Schlacht 
bei Maratbon, feine 2Yjährige Regierung begann alfo 4 Zahıt 
früher ; er regierte 513 — 484. Die Schlacht bei Marathon fiel 
in das 82. Jahr der S6jährigen Regierung bes Darius; biefe 
regierte alfo 522— 486. Beide waren alfo gleidyzeitig. (So 
ftellen fidy die Regierungsjahre beider nach Hero dot. Es wird 
dieß Mefultat fpäter eine Correctur erleiden aus ben genaueren 
Datis ber h. Schrift.) 








Nebulabnezar. 693 


Kambyſes des Herodot den beiden Nebüukadnezar's ber h. 
Schrift, und der Darius Hyſtaſspis bes Herodot dem 
Darius dem Meder entſprechen Woher aber wiſ⸗ 
fen wir, daß bie Nebnkadnezar's Borgänger 
des medifchen Darius waren? Bon Herodot. 
Aber Herodot macht mittelbar den Cyrus wieder zum 
Zeitgenoflen ded Darius! Werfen wir doch nach fo wies 
in Borurtheilen auch noch dieß lebte, nämlich jene pers 
ſiſche Koͤnigsreihe, die wir in unfern Schulbücdern ges 
lernt haben, hinweg! Befragen wir wieber zu allererfi 
die biblifchen Autoren für ſich allein! 

Wird Darius der Meder je ein König von Ehaldäa 
oder ein Chaldäer genannt? Wird nicht vielmehr Dan. 
9,1. fein Sohn Ahadver (Kersed) ein König der Meder 
genannt, der „Über dad Reich der Ehaldäer König 
ward”? Werben nicht diefe beiden Reiche, das (mit 
dem vulgo „perfifchen” identifche) Haldäifche und das 
medifche, unterfchieden? 

c) Der Herzog führt nun auf vollfommen befriebis 
gende Weiſe den Beweis ans vielen gefchichtlichen Documen⸗ 
ten, die wir nicht anführen können, wenn nicht Diefe Abhaud⸗ 
lang zum Buche werden fol, daß Nebukadnezar J. (Ey⸗ 
ne), der perfifche Coder chaldälfche) König von Babel, 
gleihgettig warmitdem medifchen Könige Darius 
Hyfkaspis von Sufa, und daß Nebukabdnezar II. 
(Rambyfes) gleichzeitig war mit dem mebifchen Könige 
Terres. So und gerade fo wird bie Chronologie Hero» 
dot's gerechtfertigt a). 

Der gefchichtliche Verlauf beider Reiche war diefer. 
Nebufadnezar I. (Eyrus, der Rabopalaffar des Joſephus, 
der Koſru der Perfer) ufurpirte bie Herrichaft über Ni: 


— 


a) Im Detail erzählt alfo Herobot (wider Willen!) richtig. Seine 
Gelfammtanfhaunng, als habe Eyrus vor Dariusgeherrfcht, 
beruht auf einem Irrthume. 





694 Ebrard 


nive. Mit Darius Hyfkaspis von Medien (dem Arphach⸗ 
ſad des Buches Judith, dem Aphraſiab der perſ. Sage) 
verbündet, zog er gegen Tomyris in feinem eilften Jahre, 
und fein Sohn Nebukadnezar II. war unterdeffen in Ba 
bei Bicefönig. Es fcheint, daß fchon von da an Rebu 
kadnezar I. eine Art Suprematie ded Darins anerkamt 
bat. Sein Sohn, Rebuladnezar IL, hatte eine Tochter 
ded Darius zur Gemahlin und von ihr den Belfazar 
zum Gohne. 

Im zwölften Jahre bed Rebulabnezar J. im zweiten 
feines Sohnes, hatte diefer den Traum Dan.2. Ju 18. 
Sahre bed erfteren ftellte diefer das Bild Dan. 3, auf. 

Belſazar fheint während der Krankheit fei- 
ned Vaters (die 75 I. nach feinem Regierungsantritte, 
d. 5. dem Tode feined Vaters, begann) an deſſen Statt 
regiert zu haben. Er wurde ermordet, vielleicht auf Ber 
anlaflung der Meder hin, die nad dem vollen Befike 
des chaldäifchen (perfifhen) Reiches trachteten, Seu 
Bruder Evilmerodach folgte ihm. Nach feiner Wieder: 
herftellung unternahm Nebukadnezar II. ( Kambyſes), un 
fi) zu rächen, den Zug nach Aegypten, und als er iu 
rückkam, hatte Korefch den Thron ufurpirt, und da 
durch warb zugleich dem medifchen Herrſcherſtamme die 
Suprematie in dem chalbäifch» perfifchen Reiche. Dens 
nicht um den Kampf zwifchen einem medifchen und einem 
chaldäifchsperfifchen Reiche handelte es ſich, fondern— 
echt orientalifh — um den Kampf zwifchen verſchiedenen 
Satrapendynaftien in dem durch das anfängliche Zufam 
menwirten von Cyrus und Darius entfiandenen Einen 
Weltreihe. Wir müflen und die Stellung 5. B. eines Kor 
vefch zu einem Artachfchafta oder eines Kambyfes zu einem 
Kerres etwa fo denken, wie die des Mehemed Ali zum 
türfifchen Sultan. 

Was nun die fpecielle Chronologie betrifft, fo find 
die Hauptrefultate folgende: 


695 


Nebukadnezar. 


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47 


Theol. Stud. Jahrg. 1847. 


‘ 


098 Eher - 


Die erſte Hälfte diefer Nefnltate ergibt ſich aus dem 
umftändlichen Unterfuchungen des erlauchten Berfaffers 
der Times of Daniel, die andere Hälfte aus bes Ref. 
obigen Unterfuchungen über die Bücher Esra und Nehe: 
mia, Durch bie leßteren wird noch ein wefentlicher Bor 
theil gewonnen. Der Herzog ift genöthige, zweierlei 78 
Jahre anzunehmen, erſtlich 70 Jahre der Gefaugenſchaft 
(503 — 437), die aber gar keinen Abſchluß finden (danad 
feiner eigenen Rechnung auf 437 gar Fein Ereigniß fäht), 
und dann noch 70 Jahre ber Berwüflung (492 — 423), in 
dem er das zweite Jahr des Darius für das zweite ſei⸗ 
ner fouverainen Regierung hält. Wir dagegen erhalten 
eine einfache Zahl von 70 Jahren, die mit der große 
Deportation Jechonja's und der Verwüſtung bes Tem 
peld (2 Kön. 24, 13.) beginnt, im Jahre 505 — 504, und 
mit dem MWiederaufbaue des Tempeld (435 — 434) endet. 
Im 2. Jahre des Darius Nothus waren die flebenjig 
Jahre um (Sad.1,12). 

Wir fließen bier unfere Mittheilungen und find 
und, befonderd was den lebten Theil derſelben, Bie Gleich⸗ 
zeitigfeit des Cyrus und- Darius, betrifft, wohl bewußt, 
daß wir. hier nur Refultate referirt haben. Ar | 
die Abficht mar auch hier vorwiegend bie, die Blicke der 
deutſchen Geſchichtaforſcher und Theologen auf jenes eng⸗ 


liſche Werk hinzulenken und zur Berüdfictigung deſſel⸗ 


ben anzuregen, nicht aber.feine Lectüre Überflüffig zu machen 
Auch was. den früheren Theil der Unterſuchungen betrifft, 
fa glaube Niemand, den Hergog son Mancheſſter wider 
legt gu daben, wenn er etwa deſſen Epitomator und Refe 
renten wiberlegt hat. Ref. ſchreibt ſich wicht im entfern 
teften die Gelebrſamkeit zu, welche nöthig iſt, um als Ber: 
treter und Sachwakter der mancheſter'ſchhen Anficht it 
Deutſchland auftreten zu fönnen; obwohl ex geſteht, da} 
befonders der erſte Theil der Unterſuchungen einen valis 
üÜbergengenben Einfluß auf ihn ausgeübt hat, fo wil er 


IE iu, 





Nebukadnezar. 697 


doch in dieſer Sache lediglich das Verdienſt eines Col⸗ 
porteurs in Anſpruch nehmen, und ſelbſt dieß würde er 
gerne gefchidteren Händen überlaffen haben, wäre er 
nicht perfönlich darum erfucht und freundlich ermuthigt 
worden. So viel hofft er bei jedem Lefer erreicht zu 
haben: das Zugeftändnig, daß diefe Hypothefe der ger 
naueften Prüfung und Berüdfichtigung werth fey. Nur - 
zu oft find wir Deutfche geneigt, uns in unfern Grenzen 
abzufchließen und die großartigen Leiftungen, die anderen 
Nationen, auf dem Gebiete der Theologie aber vor allen 
den Engländern zu verdanken find, zu verfennen ober 
zu ignoriren. Und doch wäre gerade das Studium ber 
engl. Theologen uns fo heilfam; und, die wir fo gerne 
uns in formelle Dialektik und eitle Hypothefen einlaffen, 
das Studium von Theologen, deren Art es ift, erft den 
ganzen erdrüdenden Reichthum von Material zu fanımeln, 
und dann erft nicht ſowohl Hppothefen, als Anfichten 
fih zu bilden; uns, die wir fo gerne bei der erften 
Schwierigkeit, die in einem bibl. Buche und aufftößt, 
dad ganze Buch um ein paar Jahrhunderte hinabwerfen, 
das Studium eined Autors, der die eiferne Beharrlichkeit 
befißt, mit unermüdlicher Geduld erft die ganze Reihe 
der bibl. Bücher unter einander und dann mit ſämmtli⸗ 
hen anderen Gefchichtöquellen zu vergleichen, und dem 
es auf dieſe Weife gelingt, zu einem Refultate zu gelans 
gen, welches, wenn es ſich weiterhin erwahrt, mit vols 
lem Rechte ein panharmoniſches genannt zu wers 
den verdient, 


47" 








Gedanken und Bemerkungen. 


—— — U 


1. 


Sieben Blide in dad erfte Kapitel 
der Geneſis. 


Bm — 
F. W. 6, Umbreit. | 


ko 


Don Neuem ben Anfang aller Dinge in dem Aufa 
ded Wortes der heiligen Schrift betrachtend, werde äch 
von einziger Bewunderung, in anbetender Ehrfurcht 
durchdrungen. Ich möchte die Feder gleich wieder ie 
derlegen, wo fie verfuchen Wil, Die Macht Des Einbruch 
iu bezeichnen, darzuſtellen, ober gar zu fchilberu, ben 
die Gchöpfungögefdjichte in das Gemüth‘ hineinwirſt: 
ine Macht iſt eine Uebermacht! — Wohl it es zuerſt 
dad Gewäth,; dieſe innerlichfie und heiligfte Stätte des 
enpfangenden und zengenden Seiſtes, bie flille Pforte, 
weiche ſich den Dffendarungen Gotted äffnet, welches 
von dem erfien aller Worte: „ed werde! und ed ward,” 
getroffen, erfüllt nub bewältigt wied. Aber bee fragende 
und beobachtende Verſtand AAHt ſich fein angeſtammtes 
Recht auch hier nicht nehmen. 

Wie ſollen wir dich nennen, größter Schöpfer des 
größten Schöpferwortest — Derfaſſer? — D des allge: 


meinen und gemeinen, Falten, widerlich Plingenden Bor: 
tes, dad dich mit einem Male in die breite umd weite 
Mafle großer und Feiner, guter uud fchlecdhter Schrift 
fteller bineinbannt! — Dichter? — Mit diefem Namen 
biſt du genug gepriefen und gefcholten worden. 9a, 
deine Rebe tönet ald ber erhabenfte Geſang, dem wir 
feinen anderen an die Seite zu fiellen wagen; denn ber 
Begenftand, den du beſingſt, ift felbft der erhabenſte; 
er führt und über Erde und Himmel hinaus zu Dem, 
ber beide fchuf und fonderte, und dein Wort, das dieſe 


erſte und hoͤchſte Geſchichte erzählt, ift ein uumittelbarer 


Abdruck ihrer Erhabenheit. Aber dem „Dichten” find 
wir einmal gewohnt unwillärlich ein „er hinzuzufeßen, 
und eine „Erdictung” haft du wahrlich nicht geben mol: 
len , fondern reinſte, 5öttliche MWahrheit, ein Gedicht alſo 
Der urfprünglichften Wahrheit, dir zugefloffen aus dem 
Munde Deffen, der ſprach: „ed werde Licht!” Doc, we 
gen biefes immer leicht möglichen Mißverſtandes mögeR 
du auch wit einem folch’ zweidentigen Ramen verfchont 
bleiben. — Künftler  — und im Befonderen „Mealer!” 
— Man hat ja häufig genug heine Darfellung der Ent 
ſtehung Himmels nud; der Erdr ein Schoöpfuugsgemäalde 
genannt, nud biefed .Eöunteh Au dir ſchon cher gefaßen 
laſſen; denn in der That, wir fchawen uiehrieig BR, 


8: aß wir Iefen ein Gedicht. Aber laͤßt du nicht auf 


bem Vordergrunde deinen. emäldes Das Licht ſchon aufı 


Senchten, bevor: du nach Den Simmel aufgefpanut ud 


ihn mit Gone, Maud und Sternen gefehmädt? — 
Berführt alfo ein Künſtler, der Mann der Befonnenkeit 
and feinen Ueberlegung ?:—: Zwar haben wir: Dich längfl 
von jenem uniberlegten. Borwurfe frei geſprochen, abe! 
wir möchten Dir gerne einen Nanten geben, dem bir Ar 
ner, auch gar Keiner abfprechen könnte. Mit der Kanfl 
geht: es Überbieß,. wie mit der. Dichtung; leicht trägt 
man auch in fie sinen Begriff hinein, der ſicher dir fremd 





fieben Blicke in das 1. Kapitel dev Benefit. 703 


war, den wir weder zu deinem Lobe, noch zu beinem 
Tadel auf dich anwenden wollen. — So verlaflen wir 
denn. dad Gebiet von Poefle und Kunft, und fuchen nad 
einem anderen Namen; denn einen wirft bu doch haben. 
Sollen wir bir den vornehmſten geben, mit dem fi 
Mancher fo groß gedünkt auf dieſer Erde, obfchen er 
feiner Bedentung nach ein gar befcheidener iR — Philo⸗ 
ſoph? — Wohl haft du die Weisheit geliebt, die höchſte 
nud herrlichſte, die von Gott dir zugelommen, und von 
diefer Liebe ift dein Wort erfüllt von Anfang bie zu Ende. 
Aber die Philofophen ‚ wenigftene wie fie geworben und 
wir eine ber Erfahrung entaommene Vorſtellung von ih» 
nen haben, begnügen ſich nicht mit ber Liebe zur Weiss 
heit, fondern fie wollen die Weisheit aus ihrem Denken 
ergründen und mit Formeln, die mit Rothwenbigkeit 
fih aud einander entwideln und mit unleugbarer Folge⸗ 
rihtigleit an einander fich fetten, die Weisheit beſtimmen 
und fegen. Lücheln müßte ein foldher Philofoph, woll⸗ 
ten wir feinen Ramen bir leihen. Zwar einen „Specu⸗ 
Iatteen” könnten wir nach gehöriger Vorherverſtaͤndigung 
immer: Dich nennen; denn erfchaut haft Du von Der höch⸗ 
hen Warte des Denkens den Anfang aller Speculatiom, 
Gott und fein erſtes, lebendig fchaffendes Wort; und du 
haft: nicht nur den Grund aller Speculation in das Wort 
„Bott? gelegt, fondern du haft auch biefen Urbegriff in 
fpeeniativer Weiterfhauung zu Geil, ſich ſelbſt beſtim⸗ 
menden Willen und zum Leben gebracht. Aber du vermits 
telſt die einfachen Brunbtöne deiner Speculation nicht Durch 
Zwiſchentoͤne, bu verbindet hie zeugenden Gedanken nicht 
durch Reflsrion und Argumentation, fondern deine Rede 
febt Mich heraus in der reinften und unmittelbarften Form 
reiner und bloßer Berficherung. Und biefe Berficherung 
koͤmmt fo gar nicht and dir ſelbſt; in der Weife, wie du 
fe ausſprichſt, erſcheint nicht die leiſeſte Spvur, daß fie 
geißig erarbeitet ſey, aus einer logiſch⸗nothwendigen 


708 - .. "Mabweit. 


Schluß folge der Bedanten entſpruugen; du gibt um, 
wad bu mit dem Ohre deines Geiſtes vernommen, und 
wie follen wir biefe unmittelbare That deiner Rede aus 
ders begeichnen, als mu dem ſich feibft bezengenden, bie 
immerlichfte Gewißheit der Ueberzengung beiunbenden 
Worte „Offenbarung? — Aber and weicher Quelle bir 
diefe Offenbarung zugefloflen, davon haſt bu auch wieder 
keine pſychologiſche Rechenſchaft abgelegt, obſchon du fie 
im dem Namen aller Ramen audgefprochen, in dem bir 
ber Anfang aller Diuge gegeben war: Bott! — Ge 
wirft du dir deun auch licher den Ramen eines „Theo 
logen” wählen, ald ben Rolgeren eines Philefophen, ber 
ſich in der Erforfchung der göttlichen Dinge der Voraus⸗ 
fegungstofigkeit zu rühmen pflegt; denn von biefer weißt 
du nicht, fondern du ſteheſt fe anf der erſten aller 
Berausfenungen, auf dem Bewußtſeyn von Bott. Aber 
> wie bir dieſes Bewußtſeyn zum Bewiffeflen geworben, 
zur Wurzel deines Deukens, das ſagſt du wieber nicht; 
du glaub au Bott, und biefer Glaube if bir offenber. 
Diefer Blanbe if die Leuchte, welche bie die durnklen 
Urgewüfler. erhellt, ja dich über fie Hinans in die über 
ſtauliche Region Hinberlritet, we ber Ewige, von Raum 
und Reit geſchieden, in feiner Einſamkeit das Wort fprach: 
„es werde? — Doch vergeffen wir über biefen weinen 
aller Gedaunken, der wie der Geiſt Gottes ſchwebet über 
der Materie, räumlich ud zeitlich in höchſter Freiheit, 
verfuchend, erhebend und. bildend Die Dentktaft des him 
wielwärts: aufgerichteten. uud forſchenden Menſchen, wicht 
bie Form feines Ausdrucks, auf die es uns hier vorzug⸗ 
lich anlömmt, Ueberblicken wir noch einmal alle die Ber» 
ſache, den Meiſter dieſer Form zu benamen, fo will und 
leiner gefallen. Und beſimnen wir und Aber den allge 
meinſten Grund der Verwerfung, fo möchte verſelbe wicht 
fdhwer zu finden ſeyn. Kein Rame genügt, weil der 
Berfaffer namenlos geichzieben, bad heißt aber in unfe 


fieben Blicke in das 1. Zapitel der Geneſis. 705 


sem Sinne, weil fen Subject fo ganz und gar purück⸗ 
tritt, und wir anf ein Werk der vollendetſten Objectivi⸗ 
tät: bien. Daher And wir gewiß: Tönnten wir dich 
fragen, welchen Ramen du dir wünſchteſt, alter Meier 
des objectiven Wortes, bu würdet feinen anderen ver: 
langen, aks ben befdribenften, "nd, d. i. „Schreider” oder 
„Erzählee”, — „Der Himmel erzählet die Merrlichteit 
Gottes, und bie Befte verfänder bad Wert beiner Hände.” 


2. z 

Epiſch Haben wir die: Darftelluag in :bem erſten Ka⸗ 
pitel ver Geneſis genannt. Ja, ed if darin enthalten 
dad alteſte und erhabenkie Epos von der Schöpfung und 
Bildung Himmels und der Erde. Die erzählende Rede 
entfaltet fih won felbft in der reinften Weife, in der 
hachſten Unſchald des befchreibenben, nicht beurtheilen- 
ben Wortes. fo doch Poeſte? — Allerdings! in ber 
wahrſten Bedeutung diefes hohen Wortes. Wie Bott 
ſelbſt in dem unmittelbarſten Bewußtſeyn, daß das, was 
er ſchaffe und mache, gut ſey, das allmächtigees werbe !” 
als nothwendig folgende That vohbringt, fo zeichnet ihm 
der Briffel des Schreiber, den er dazu erwählt hat, 
dad wunderbare Werk feiner Weltpoefle mit der naivſten 
und kindlichſten Treue nad. Und wie Gott nicht bloß 
den nranfänglichen Weltkoff ordnet und bildet zur voll 
endeten Schönheit des Dafeynd, ſondern biefen and 
ſelbſt heroorbringt, fo hat auch unfer Poet den Stoff 
zu feinem Epos nicht vorgefunden, fondern er hat ihn 
durch Eingebung empfangen. Deus woher hätte er ihn 
doch entmehmen follen, da wir anerkannt die Echte von 
eine Schöpfung and Nichts in allen Schöpfungeberichten 
der alt» aflatifchen Welt nirgends gewahren? Run, fv 
hat er ihn aus dem alten Teſtamente entlehnt, in wel⸗ 
heit wie durchgängig auf dieſem Grundſteine bed reiwften 
Glandens an einen heiligen Bett, . Schöpfer Hinmels 


206 Umbreit 


und ber Erde, das fefle Gebünde der Theologie gegräu 
det fehen? — Als wem ver.nicht ber Erfie hätte feyn 
Bönuen, der diefen nennen Gedanken der altteflamentlichen 
Gotteslehre audgefprochen nnd eingefleidet! — Wenn «6 
boh Mofesd gewefen? — das hocdhgewürdigte Wert. 
und NRüfzeng göttlicher Offenbarung?! — Doc wir wol 
len bier weder em kritiſch mindeftend gweifelhaftes Ur⸗ 
theil vorausfeßen, noch und hinter eine dogmatiſch⸗thes⸗ 
logifhe Redeweife verfieden, fondern immerhin zugeben, 
anfer Erzähler habe aus einer vorgefundenen Quelle ge 
fhöpft, To floß ihm dieſe doch nicht in ber Fremde, 
fondern in der urfpeänglichen Heimath feined nationalen 
Bewußtſeyns von dem unbedingten Gott, von dem Schs⸗ 
pfer in dem unbefchräntteften Begriffe der Freiheit, und 
ſo if er wenigſtens, volksthümlich betrachtet, auch ein 
originefler , felbfifchöpferifcher Port. Und fo fällt bier 
auf eine fehr bedentende Welfe Theologie und Boefle in 
: dem höchften und allgemeinften Begriffe der Eingebung 
nud Offenbarung zufammen. Wir wollen jedoch, um 
Anſtoß zu vermeiden, den bedenklichen Vergleich wid 
weiter fortfeben, fondern, wie wir bereitd gethan, den 
Schöpfer des Scöpfuugsberichted nicht einen Dichter 
nennen, wenigftens nicht in Bezug auf ben Zuhalt feiner 
Urkunde. Aber bie Form, in die er ben Geiſt der ibm 
offenbar gewordenen Wahrheit gegoſſen, verfündet ihn 
ficher ald einen Dichter. 


Richten wir zunüchſt nnfern Bli anf die Wahrheit, 
die uns enthält wird, fo befteht fie in ber wunderbar 
Ren aller Berficherungen, daß Bott die Welt aus Nichts 
geſchaffen und allmählich zu der gemeffenen Schoͤnheit 
entwidelt babe, in der wir fie vor uns fchen. „And 
Nichts geichaffen!” Ein Wort, bad dem au die Erfah 
zung gewielenen Verſtande entfchieden Hohn fpricht und 





® 


fieben Blicke in das 1. Kapitel der Benefit. 707 


anf dem erfien Blatte ber heiligen Schrift bie Prebigt 
der Demuth beginnt, welche burch Die ganze Bibel ges 
hört wird. Wir können und nicht verhehlen, und follen 
ed auch nicht, daß, wir mögen und mit pbilofophifchen 
Formeln drehen und wenden, wie wir wollen, in jenem 
Worte für den denfenden Menfchen ein Widerſpruch ent 
balten if, Uber hüten wir uns, einen ſolchen der Un⸗ 
ſchuld der Urkunde felbft anfzubärden, Ihr Anfang if 
„im Anfang”, und wit biefem unfcheinbaren und doch 
vollommen. wefenhaften Worte hat fie den Gedanken, 
daß Gott Leinen Stoff neben fich gehabt, aus ihm bie 
gegenwärtige Welt zu bilden, fondern ihn felbit hervor, 
gebracht, viel reiner, ja fo rein ausgedrückt, ale irgend 


eine Sprache ed nur vermag. Es fteht dieſes „Im Aus . 


fang” fo ganz allein, ohne allen Beifab, ohne irgenb 
ein Objeet, von dem ber Anfang ber Anfang fey; nur 
mit dem „Scaffen” felbk iſt es in die unmittelbarke 
Verbindung gefeßt; dieſes Schaffen war ein uranfängli 
ches. Das Wort wa allein, wenn das nruwya im Terte 
fehlte, könnte dem Borurtheile, ald ob von einer ur⸗ 
fpränglichen Hervorbringung ber Materie in unferem Ka⸗ 


pitel Beine Rede fey, immer noch einige Nahrung geben, 


obſchon wir unfererfeits lexikaliſch dieſe Meinung nicht 
von ferne theilen, aber fo mit neun verbunden, fdhlägt 
es jeden Widerfprud für den, bet den guten Willen 
bat, zu fehen, nieder. Freilich haftet an ihm etymolo⸗ 
gifch Der Begriff des „Sonderns”, aber die zunächſt aus 
finnlihen Eindrüden und Erfahrungen gebildete und zur 
fammengefegte Sprache bot unferem Schreiber kein ans 
deres dar, da ber Menfch, wenn er andy das reinke 
Schaffen denkt, nun einmal von dem „Trennen” nicht 
lodfömmt; darum hat er mit feinem „im Anfang” auch 
der leiſeſten ſinnlichen Auffaſſung recht eigentlich vorge⸗ 
baut. Indeſſen zeigt ja auch das rıyy, das „Machen”, 


weiches er fpäter immer gebraucht, wenn er das folgende 


N 


706 rmbreit 


„Bilden und Formen” bezeichnen will, daß er Dad wa 
von ihm beſtimmt unterfchieben haben wall, wie bean 
auch ‚die darſtellende Mede im A. T., we in manchen 
Stellen dieſes Wort bezichungs« und verbindungsweiſe 
gebraucht iR, klar beweiſt, daß ber Gedaunke das finw 
liche Element in demſelben überwunden habe. ber Bas 
‚Schaffen feht ein Subject voraus, und dieſes folgt uns 
mittelbar auf wyg es iſt wriin, es if der Rame der um 
bedingten, freien Almadıt, es ift Bott; in biefem Na 
men, ift er einmal gefunden, iſt der ummittelbarfte Beweis 
der Möglichkeit, ja Nothwendigkeit einen Schöpfung aus 
Nichte gegeben, und fo liegt der veine Theiomus, das 
A nub das D des alten Bundes, iu den drei erfien Wor⸗ 
ten einfach, tief und Nar enthalten. Daß nun Bas Ob⸗ 
jest der Schöpfung fchen Himmel uma Erde in ihrer 
Getheittheit genannt mird, widerfpricht dem in den drei 
enfben Worten gefundenen Örmndfinne keineswegs; demm 
die altteſtamentliche Sprache hat für „IBelt” alt allum; 
fallende Nüwneikdyleit in Der hier näthigen Bedentung fein 
befondares Wort; obs verfinnlicht die unendliche Zeitent⸗ 
vickelung, wie fie freilich in Die Anfchasung bed Raumsed 

eingefchloffen if. Es iſt aber überhaupt kein Gruud vor⸗ 
hauden, einen anderen Ausdruck, als den gegenwärtigen, 
zu wünſchen, da ſchwerlich der erfie Ders unferes Ka⸗ 
potele die befomdere: Lehre aueſprechen wollte, daß Gott 
Den nogeformten Meltſtoff hervorgerufen ; vielmehr, mens 
wir uns in feine naive Ainfchauung verfeßen, konnte er 
nur bepeugen wollen, daß Alles, was in unfere Sinne 
fällt, alfo nach ber natürlichſten Betrachtung von einem 
Shen und Unten, von Gott urfprünglich gefchaffen wor⸗ 
ben. Irmnerlich, in Gott felbfi, war der Schöpfungsact 
mit einem. Male, ohne nur Ein Zeitmoment in ihn hinein⸗ 
zutragen, fo vollbsacht, daß die vollendete Schöpfung, 
Simmel und Erde, fertig war, wie wir beum, begriff 
lich. gefaßt, Gott Heinen Augenblick ohne Welt denken 





4 


fieben Blicke in dad 1. Kapitel der Benefit. 709 


können, bärfen und foßen.: Unſere Urkunde hat ed aber 
nur mib der Welt ber Erfcheimung zu thun, und fie bes 
fchreibt: der zweite Ders in ihrem erfien Zukanbe ale 
eine finfiere, verworrene, müſte Waſſermaſſe, die ſich 
nad; dem gefaltenden Willen des Allmächtigen in einzel 
nen Epochen zu einer lichten, wohlgeorbneten und bes 
lebten Schönheit entwickelt. 
4. 

Es iſt bewumberungswürbig , wie die Schoͤpfungs⸗ 
welunde gleich im Anfauge mit den einfachften und präg⸗ 
nantefien Worten ben Grund zur monstheiflifchen, rein⸗ 
fen Gotteslehre des A. T. gelegt; wir erbliden hier die 
in beiliger Stille treibenden Keime, weldye der ſpäter in 
die Erfchrinung tretende Prophetengeiſt zu ber herriichen, 
frifch grünenden Saat entwidelt hat, in der «8 raufcht, 
wie auf dem Libanon. Der Gott, der zu Mofes ge 
ſagt: „ich bin Der, der ich bin”, welcher die. Propheten 
mit feinen Geiſte erfüllt und mit feinem Worte erweckt 
und durchdrungen, bezeugt fich bier zuerſt in feiner gan⸗ 
sen elgenthümlichſten Weſenheit. In feinen höchſten, nur 
ihm gehörenden Machtvollkommenheit tritt der Ewige 
Lkebendige in dad Leben der Dinge. Der umnbebimgt 
Seyende, der, weldser ifi, der er iſt, bekundet ih ala 
unmittelbare That der lebendigen und Leben ſchaffenden 
Stärke; der Jehova ik der Elohin, oben wird es hier 
vielmehr im der für den Menſchen nur zeitlich zu begrei—⸗ 
fenden, oder richtiger , vorſtellbaren Schöpfung. Schen 
in Dem Namen Jahoe, wie wir eigentlich ansfprechen 
müſſen, iſt Dad ewige Seyn als ein Iebenbiges und uns 
mittelbar lebendig machendes geiegt, und fo gehört bad 
Schaffen ins nothwendig zu. Wir vermögen im zeinen 
Denken ben Irhova feinen Augenblick als Nicht» Elohim 
Ju begueifen; der Ewig⸗Lebendige iſt die ewige, unaus⸗ 
geſegt ſchaſſende Macht; kein Etohim iſt denkbar in öder 


110 Umbreit 


Einſamkeit ohne Welt, Wer bie Welt iſt nicht Bett, 
foudern in Ihm feloft unterfchieben von ihm; darum hat 
fie auch einen Anfang in ihrer räumlichen und zeitlichen 
Entfaltung, Er aber nicht; er iſt, fie wird; und fo if 
das hochbedeutende rim ein unentbehrlicher Anfang 
für die Schöpfung in ihrer gefonderten Betrachtung von 
dem Schöpfer. Es liegt mehr Phitofophie in der Poefſe, 
ald man gewöhnlich fieht, wenn Himmel nud Erde, ma: 
mentlich die leßtere, auf weiche wir vorzüglich hinge 
wiefen find , in unferer Urkunde, beſtimmter noch in bem 
ibe entfprechenden 104. Pfalme, ſchon als ein gleich ferti- 
ged Kunſtwerk vor Gottes Bingen liegt, aber erſt mit 
einem Schleier verhüllt iR, der binweggegogen wird, 
und. nun beim Jauchzen aller Morgenflerne die höchſte 
Schönheit hell und freudig in bie Augen leuchtet. 


5. 


Bei einem fchärferen Hinblicke auf das Weſen Ber 
tes, wie uns fein Bild im beftimmten Gruublinien vor: 
gehalten wird, gewinnen wir nicht bloß eine dunkel ſchaf⸗ 
fende Kraft, eine lebendige Allmacht, aus der alle Dinge 
hervorgegangen, ein Zengenbes, jondern, worauf es vor 
Allen ankömmt, eine Perfönlidyleit, ja eine Perſon, bie, 
für ſich feyend, denkend hervorbringt, das Gedachte vers 
wirflicht und fich ſelbſt bewußt von ihm unterfcheiber. 
Gottes Bei reget ſich Über der wüſten, finkeren Tiefe, 
“ud Er ſpricht: „ed werde Licht!” — So iſt ber Ger 
und das Wort ewig bei Gott. Offenbaren fie fidy auch 
erft bei der Befaltung der Welt zu ihrer harmoniſchen 
Entwickelnug, fo find fie doch ſchon in Bott, ale er von 
Ewigkeit ſchafft; fie können nicht ruhend in ibm gedacht 
werben, fondern, weil fie denkend Lebendiges wirken, 
‚find fie ewig denkend lebendig in ihm, und fo haben wir 
allerdings ſchon in den drei erfleu Berfen des alten Te⸗ 
flaments eine Dreiheit des göttlichen Weſens — Bett, 











fieben Blicke in das 1. Kapitel ber Genefis. 711 


Geiſt, Wort — aber auch eine beſtimmte, unb zwar auch 
immanente Dreieinigkeit nach der biblifch-heiligen Pſychv⸗ 
logie. Deun erriba, rm und 27 können nicht getrennt den» 
kend und wirkend von einander gebacht werben, fonbers fie 
find in einander, zwar in Unterfchiebenheit fich erfennend, 
aber doch in abfoluter Einheit zufammenhaltend und ſich 
bethätigend. Wir haben fo von Anfang keine, von ber 
Welt zwar getrennte und bdiefelbe fchaffenbe, doch immer⸗ 
bin für die Begriffserfaffung dunkele Potenz Gottes, fon» 
bern eine lebendige und denkend⸗wollende Perfönlichkeit, 
die ſich als folche vorzüglich durch das Sprechen bezeugt, 
fo dag da6 Wort bei der Erfhaffung der Welt recht 
eigentlich zum Hauptbegriffe Gottes wirb, mit vollem 
Rechte, da: Gott ohne Welt undenkbar if. Nur eine 
ſolche Perſonlichkeit Gottes kann ein „es werde!’ aus⸗ 
ſprechen, dem ein „ed ward” nothwendig folgt; Die 
Schöpfung ift Feine Evolution oder Emanation Gottes, 
fondern er fegt in höchſter Freiheit feines Denkens und 
(haffenden Wollend die Welt und bleibt dabei ein We⸗ 
fen für fih. Hier liegt in dem Gottesbewußtſeyn des 
Dffendarungsgläubigen ber unterfcheidende Hauptpunkt 
von aller anderen rein philofophifchen, namentlich pan⸗ 
theiftifchen Denkweiſe; die theologifche Speculation trennt 
fih au diefer Stelle fcharf und unerbittlich von ber phi⸗ 
loſophiſchen; ohne das abfolute „es werbel” und „es 
ward!” fein reiner Theismus. Das Schaffen bes Einen 
für fich feyenden Gottes iſt ein etwas außer fid Ser 
ben, ohne von ſich etwas zu geben oder zu verlieren. 
Zuerſt wird das Licht, aber Bott iſt nicht ſelbſt. das 
kicht, fondern Licht if nur fein Kleid (Pſ. 104, 2). 


6. 


Betrachten wir das ganze Kunſtwerk ber Schöpfung, 
wie es ſich in feinen einzelnen, harmoniſch nach einander 
hervortretenden Bebilden unferen Augen —— ſo feſ⸗ 

Theol. Stud. Jahrg. 1847, 





712 Umbreit 


felt dad letzte und höchſte derfelben unfern Blid. Der 
Menſch, Die Vollendung der göttlichen Arbeit , exrfcheint. 
Indem der Rachzeichner ded lebendigen Schöpfungöge 
möldes zu feiner Erfchaffung übergeht, gefaltet ſich die 
Rede fo, als habe fih Gott bei der Verwirklichung der 
befchleffenen Bildung deſſelben in ſeiner ganzen Macht⸗ 
volllommenheit zuſammengenemmen: „Wir wollen Adam 
machen 1’ Die ale Vielheit im Namen Elohim bezeichnete 
Fülle des göttlichen Weſens macht ſich nachdrucksvel 
auch im Berbum geltend, und es find gewiß nicht in bad 
„Mir“ Die zur Berathung hinzugezogenen Eugel mit 
anfgenotumen; denn, wie der vorurtheiläfrei anfgefaßte 
Ausdruck lautet, hätte biefe Bott wicht zur Berathung, 
fondern zur Theilnahme. an dem Machen bes Menfchen 
ſelbſt aufgefordert, was gegen bie unbefchräntte, fich ſelbſt 
genng feyende Gchöpfungstraft des Einen Elohim verſto⸗ 
Gen würde, worauf doch ſonſt Alles in dieſem erften Ka⸗ 
pitel geſetzt ift; auch wlrbe es unbegreiflich ſeyn, warum 
die Eugel, wenn fie auch nur zum Geheimenrathe Ber 
tes gezählt werben follten, nicht fchon im Borhergehem 
den genmmt wären, ba fie doch nach einer foichen Wär: 
digung Höher fichen müßten, als der Menſch. Aber ti 
iR überhaupt fehr merfwärbig, daß über bie Eutfichum 
ber Engel das tiefſte Stillſchweigen herrfcht; fie ſud im 
u T. da, [on Kap. 6, 2 kommen fie zum Vorfcheire, 
aber wie, wo und wann fle geworben, davon weite 
feine Audentung, ald daß fie „Söhne Gottes” gewann! 
werden, woraus alfo nur fo viel geſchloſſen werben bürftt, 
daß fie unmittelbar von Gott gezeugt und einen ambertä 
Bildungsſtoff ald der Adam gehabt; Ihre Entfehung 
müßte demnach als eine vormweltlihe angenommen wir: 
Den, wo und aber alled Denken über das Wie, Wo und 
Wann gänzlich andgeht und ein Begriff fchlechterbinge 
unmöglich wird. Die Spechlation irrt bier in einem u" 
durchbringlichen Nebel umher, der fich bei der erſten de 
fanntfchaft mit ihnen nur noch mehr verdichtet. Sie 


fieben Blicke in das 1. Kapitel der Genefis. 713 


laſſen fi zu ben Töchtern der Erbe herab, weil fie dieſe 
ale ſchoͤn erkannt, und erzeugen mit ihnen ein altes Ries 
fengefchlecht auf Erden. Wollen wir bei biefer wie ver: 
loren klingenden Erzählung nicht die unvermerkt hervor⸗ 
dringende Nachwirkung einer vorandgegangenen mythifche 
polytheiſtiſchen Beitanficht geftatten, was für bie Annahme 
einer reinen Dffenbarumg Gottes im A. T. wenigitens 
eine große Bebenklichkeit hat, da ylöglich in das heile 
Licht der Einheit wieder ber trübende Schatten einer 
Bielheit, wenn auch une vorübergehend, hereinträte, wie⸗ 
wohl in dem Bewußtfeyn des Erzählers felbft der. Ber 
griff des Einen Botted, der erzürnt ik, daß fin Geiſt 
durch die Vermifchung der Engel mit den Erbentöchtern 
Fleiſch geworden, viel zu beftimmt hervortritt, ale daß 
wir unferexpeitd einer ſolchen Anſicht beitreten könnten, fo 
ſetzt dieſe Stelle dach immer ein Belüfte in den Gottesſöhnen 
nach dem Fleiſche voraus, und fie find ale folche nicht mehr 
gut, fonbern böfe geworden. Aber wie iſt dieſes gefches 
ben, und wie iſt der Fall der Engel gefommen? — Wir 
gelangen nothwendig zu einer Befchichte vor diefer Welt, 
und Doc ift nad unferm Berichte diefe, und nur biefe 
im Anfange, alfo vor aller Zeit, allein gefchaffen. — Wen⸗ 
den wir und daher der beſtimmten und lichten Geſtalt 
bed Menfchen zu, wie fie, mit dem Bilde Gottes geſchmuͤckt, 
die Krone der Töniglichen Herrichaft über alle. Geſchöpfe 
der Erde trägt. Wenn dad ganze Kapitel, in Ferm umd 
Darftellung, den Eindrud der erhabenſten Poefle auf uns 
macht, fo ſchwingt fich Hier die Rede zn emenr kurzen 
Srendengefange empor, und wir begegnen jum eriten 
Male in dem „Gott fohuf den Menſchen in feinem Bilde, 
im Bilde Gottes fchuf er ihn,” dem vielbefprocdenen Pa- 
rallelismus membrorum in feiner einfadıften und erhebend- 
fen Weiſe. Buchen: wir zunächſt Alles zu vergeſſen, 
was die Ansleger von den Atteften bis in die neueſten 
Zeiten in bas Ebenbild Gottes hineingelegt, fo werben 
48% 





71% Umbreit 


wir wohl zuerſt eben das „Ebenbilb” zu vermeiden ha 
ben; denn da wir mit biefem Ausbrude wenigſtens im 
deutfchen Reden und Denken die Borftellung, daß ein 
Gegenftaud, einem andern nachgebildet, dieſem voͤllig gleich 
fey, zu verbinden pflegen, fo verlaffen wir den Text, 
wenn wir alfo überfegen. Das Wort dx bedentet im 
mer nur „Schattenbild,” und der Schatten trägt wicht ba6 
volle Leben deffen, der ihn von ſich wirft, in ſich. Es 
ft von vorne herein auch gar nicht gu erwarten; daß der 
Menfch, leiblich oder geiflig genommen, ald Bott völlig 
gleich gedacht werben folles auch das zur weitern Erkla⸗ 
rung binzugefügte m. darf zu einer foldyen Vorſtel⸗ 

lung nicht verleiten; im Gegentheile das » fcheint den 
Begriff des 2 cher zu verringern, als zu verfkärken: im 
Bilde Gottes fol der Menfc in die Erſcheinnng treten, 
aber immer nicht in abfoluter Weſensgleichheit mit dem 
Bilde, fondern nach dem Bilde; ro ift das Bild Get 
tes, das fich in dem nbx, aber nur in dem chatten of⸗ 
fenbart und abfpiegelt; im folgenden 27. Verſe bleibt 
denn auch diefer Infau hinweg und es wird nur auf bad 
nachdrudsvolfte hervorgehoben, daß Bott den Menſchen 
wirklich im feinem Bilde gefchaffen habe, und zwar is 
der gefchlechtlichen Lnterfchiebenheit von einem Männil 
hen und Weiblihen. Da der Menſch, worauf fein 
Name ir deutet, offenbar als aus Erde geformt ge 
dacht werden fol, fo kann er ja endlid um dieſes 
Stoffes willen nur als ein Schatten Gottes vorgeftell 
werden; denn die Geſtalt Gottes kann doch im Sime 
unferer Urknude nimmermehr eine irdene gewefen ſeyn. 
Daß wir aber bei der Gottdildlichkeit des Menſchen zu⸗ 
er die äußere Geſtalt deſſelben ins Auge faffen fohen, 
tanz nicht in Abrede gefiellt werben; denn fie if dech 
nichts: Zufaͤlliges, fondern der nothwendige Abdrud und 
Ansdrud feines ihm eigenthümlichen Weſens; auch geht 
dieſes ficher aus Kap. 5, 3. hervor; nur würden wir ir⸗ 


ren, wenn wir es mit biefer Bezichung bes Bildes Got 


fieben Blicke in das 1. Kapitel der Geneſis. 715 


ted auf die Leiblichkeit des Menfchen zu genau nehmen, 
oder fie wohl gar nur allein in Betradıt ziehen wollten. 
Das Erfiere iſt deßhalb nicht zuläfſig, weil wir nach der 
gefchlechtlichen Theilung des Menfchen in ein Männlicyes 
und Weiblihed do nur dad Beidem Gemeinfame in 
dem göttlichen Nachbilde fefthalten dürfen, alfo die Schön, 
heit der Form, und vor Allem den anfrechten Bang ; das 
Letztere verbietet die einfache Beobachtung, daß doch der 
Geiſt des Menſchen, der erft feine körperliche Darſtel⸗ 
Iung bebingt, und wodurch er ſich vor allen Geſchöpfen 
ald eine wirklich neue Breatur auszeichnet, die Haupt⸗ 
fache ifi._ Daher wird aud dem Menfchen unmittelbar, 
nachdem feine Gottbilblichkeit berichtet worden, die Herrs 
fhaft über die Thiere zuerfannt, woraus aber keines⸗ 
wege folgt, daß nur in ihr allein, oder wenigſtens vor» 
herrfchend der Begriff von jener zu Inden fey. Diefe 
Herrfchaft if, fo zu fagen, nur der finnlichite, am meiften 
in die Augen leuchtende Beweis, baß der Menſch, zwar 
ein Adam, aus Erde geformt, wie alle anderen Gefchöpfe, 
doch im Bilde Gottes gefchaffen fey, die Bebentung die⸗ 
fed Bildes iſt aber ‚tiefer zu ſuchen und hat fidh ficher 
auch der fchlichteften Beobachtung anfgedräng, Man 
kann ed auffallend finden, daß weder hier, noch im fol⸗ 
genden Kapitel der Sprache, diefer Iauttönenden Belnns 
dung ber öniglichen Erhebung bes Menfchen über die hier» 
welt, im Befonderen gebacht wird; nur wieim Borbeigehen 
wird fpäter erwähnt, daß Adam den ihm vorgeführten Thie⸗ 
ven Namen gegeben, alfo auch dort die Gabe zu reden 
voraußgefeßt. Aber es if eben die Sprache die noth⸗ 
wendige, ſich von felbft ergebende Borausfegung bes im 
Bilde Gottes Geſchaffenſeyns, fo beflimmt, daß gerade deß⸗ 
halb diefes prägnantefte Zeichen der menfchlichen Gottbild⸗ 
lichkeit nicht ausdrüdlich hervorgehoben zu werden brauchte. 
‚Bir aber, wenn wir den Begriff des Bildes Gottes in 
feine Elemente zu zerlegen gebrungen find, müſſen die 
Spracbefähigung ale das erſte heransitellen. Denn was 


716 | Umbreit 


aus Bett ſelbſt, wie er fih ald Schöpfer offenbart, 
vorzüglich und recht eigentlich lautbar wird, iſt eben fein 
Sprechen; dad Sprechen aber iſt eben das unmittelbare 
äußere Zeugniß bed Denkens. Gott iſt vor Allem ein 
denkendes, fich feiner ſelbſt bewußtes, ſich von der Welt 
und ſich felbft unterfcheidendes Weſen, und fo auch de 
Menſch, infofern er das Bild Gottes trägt. Und fo iR 
das GSelbfibewußtfeyn, die Bernunft, das Wert in ſei⸗ 
nem tiefftien Sinne, die Bottbilblichleit des Menſchen. 
Indem fich aber der Menfch in Bergleich mit allen aw 
deren Gefchöpfen der Erde ſtellt, erkennt er feine Unter⸗ 
fchiedenheit von ihnen befonders in ber Freiheit, fraft 
deren er fi über fie im Denken zu erbeben_vermag; 
und diefed Bewußtſeyn der Freiheit im Gedanken macht 
ihn doch nur allein zum wahren Deren der Thiere, zum 
Könige der Erde, ja zum Gebieter über die Natur. 


r T. 

Ueberfchauen wir zulegt noch einmal die Form, in 
welche ber Dffienbarer des Uranfangs aller Dinge und 
ihrer zeitlich geregelten Bildung und Ordnung feine 
göttliche Gedankenſchöpfung gegoflen, fo ſteht fie wirklich, 
wie wir eben dieſes leute Wort mit leberlegung gewählt, 
als das herrlichite Gußwerk in harmoniſch⸗ſchönſter Voll⸗ 
kommenheit vor unſern Augen. Dieſe Form gehört zur 
Poeſle und ſoll nad ihres Meiſters Willen auch wur 
als folche angefehen werden; aber es ift eine heilige 
Doefle: die Welt erſteht in ben ſechs Arbeitötagen der 
mofatfchen Woche und ift vollendet am fiebenten, heiligen 
Tage der Ruhe. Daß der Dichtermweife felbft keinen 
bogmatifchen Lehrfat von den ſechs Tagewerken be 
Schöpfung im eigentlichftien Sinne habe geben wollen, 
verräth er auf dad naivſte für den Unbefangenen da 
durch, daß er erft am vierten Tage, fo zu fagen, den 
Tag entftehen Iäßt. Denn, wenn auch jener längf vor 
gebrachte Einwurf, daß Das Licht vor der Senne dage⸗ 








fieben Blide in da8 1, Kapitel ber Benefit. 717 


wefen, ein nichtiger ift, infofern ja das Licht ald das 
Erfte, Urfprünglichftie und Nothwendigſte vor aller weis 
teren Ansbildung des gegenwärtigen Kosmos betrachtet 
werden fol, Sonne, Mond und Sterne hingegen ale 
ma, d. i. als einzelne große und kleine Lichtörter ober 
Lichtgefäße, an dem Himmel zu leuchten beftimmt find, 
hauptſächlich um zu trennen zwifchen dem Lichte und der 
Finfterniß, fo kann doch jedenfalls feit dieſem Schöpfungss 
werte nur erft von einem Tage die Rebe feyn. Der 
Erfhaffung der Leuchten des Himmels konnte aber nicht 
eher gedacht werben, bis biefer felbft nach dem erften 
großen Trennungsact in der Sonderung des Lichtes von 
der Finfterniß durch den zweiten in ber Berdichtung einer 
Bee inmitten des Waſſers ind Dafeyn gerufen worden. 
Der Belebung des Himmels durch Lichter mußte nun auch 
noch bie Belebung der Erbe, bie nadı der Scheidung 
der unter ber Befte befindlichen Gewäſſer erſt hervor 
treten fonnte, durch Kräuter vorangehen, und fo fonnte 
alfo ber erſte Tag nur am vierten Tage zum Borfcheine 
Iommen. Die bier und da geänßerte Meinung, daß cr im 
unferem Kapitel ald Schöpfungsepocdhe genommen werden 
könne, wird an ber einfachen Bemerkung zu Schanden, 
daß Bott am fiebenten or, alfo an einem eigentlichen 
Zage, geruht habe. Und fo ift ed denn keinem Zweifel 
unterworfen, Daß der Dichter — dem von einem folchen 
haben wir in biefem Punkte das Recht zu reden — Die 
allerdings in einzelnen Epochen in anffteigender Regel⸗ 
mößigfeit zur vollendeten Schönheit durch den Geiſt Got» 
ted ſich eutwickelnde Welt in die hebräifche Woche künſt⸗ 
leriſch eingefchloffen, woburd, ihm zugleich der Bortheil 
erwuche, dem bereitd eingeſetzten Gabbathe feine heiligſte 
Bedeutung fogar durch das Ruben des Schöpfers beis 
äulegen. 


718 Steffenien 


2. 


Ueber Matth. 13, 45. und 46, 


Mit Beziehung auf Wächtler’d Erklärungsverfuch in ben 
Stud. u. Krit. 3. 1846. 9. 4. ©. 939 — 946, 


Bon 
H. Steffenfen, 


Paſtor in Sarau. 


Der in der Ueberfchrift genannte Auffag des Pfarrers 
Wächtler hat es ſich zur Aufgabe geftellt, einer neuen 
Erklärung der befannten Parabel von der töftlichen Perle 
beim theologifchen Publicum Eingang zu verfchaffen. 
Diefe Erklärung verfieht unter dem Perlen fuchenden 
Kaufmanne den Heiland, und unter den Perlen, ein 
fchließlich der Einen Föftlichen Perle, die Menſchenſeelen, 
wie fie fowohl Zwed feiner eriöfenden Liebe, ale aud 
zngleich wiederum Werkzeug neuer Gewinnung find. 

Mas deu Berf. bewogen hat, die in Rebe ſtehende 
Erflärung ber biöher üblichen vorzuziehen, läßt ſich anf 
folgende Punkte zurückführen. Zuvörderſt glaubt er fchon 
aud der Analogie der unferem Gleichniffe im genannten 
Kapitel des Matthäus. vorhergehenden und nachfolgenden 
Parabeln beweifen zu können, daß ber fuchende Kauf⸗ 
mann und nicht die gefundene Perle ber Hauptbegrifi 
fey, von dem die weitere Deutung ausgehen mäfle, und 
fodann glaubt er, aus B.37. entnehmen zu können, daß 
derjenige, der in diefem Kapitel unter dem Himmelreiche 
zu verſtehen, Fein Anderer fey, al& der Herr felber in 
feiner erlöfenden Thätigkeit. 

Der Schluß, den der Berf. macht, iſt alfo wefent: 
lid) dieſer: 13 weil in ben übrigen Bleichniflen dieſes Kap. 








über Matth. 13, 85. u. 46. 719 


immer der Hauptbegriff dem suola Zariv 7; B. z. oög. im 
Dative nachfolgt, fo muß auch hier in diefem Gleichniſſe 
nicht die „Löfliche Perle,” fondern der Kaufmann als 
Hauptbegriff betrachtet werben, und 2) weil. in einem 
früheren Gleichniffe ein ſolcher Hauptbegriff vom Herrn 
felber auf fich gedeutet ift, fo muß auch der in dieſem 
Gleichniſſe vorkommende Hauptbegriff auf den Herrn ges 
beutet werben. 

Es iſt in der That kaum abzufehen, wie ber Herr Verf. 
ed hat über ſich gewinnen können, eine fo gewonnene 
Erflärung für wohl begründet zu halten. Muß denn fo 
ohne Weitered die Deutung des SHauptbegriffe in dem 
Einen Gleichniffe ald normgebend für die Deutung aller 
Hauptbegriffe in allen Parabeln deſſelben Kapitels anger 
ſehen werden? Mir fcheint das eine Aunahme zu feyn, 
die allen Regeln der Hermeneutik fchnurftrade wider 
Rreitet. Freilich hat der Verf, um feiner Annahme mög» 
ih zu Hülfe zu kommen, den Lefer daran erinnert, 
daß es überhaupt bei näherer Bellimmung des Begriffs 
der Bacılzle durchaus nöthig ſey, jedesmal von dem 
Herrn ald dem Nepräfentanten und Inhaber dieſes Rei⸗ 
ed auszugehen u.f. w. Herr Pfarrer Wächtler fcheint 
aber, als er dieſe Bemerkung nieberfchrieb, überfehen 
zu haben, baß es fich bier noch gar nicht um eine nähere 
Beſtimmung bed Begriffe der BacıAsla z. odg. handelt, fons 
bern einfach um die Frage, ob unter dem „drd'gazog 
Enzogog” — der Heiland zu verfichen fey oder nicht. 
Die obige Bemerkung kann gern zugegeben uud babei 
doch die Deutung bed dvdg. Eur. auf ben Heiland bes 
Rritten werden. 

Aber gefeßt auch, ed wäre dem Berf. bie Begrüns 
dung feiner ErHärung aus B.3T. mißlungen, fo könnte 
ja doch der ganze Sinn der Parabel ſich bei feiner Deus 
tung fo leicht and natürlich ergeben, daß fie dadurch fich 
jelbft genugfam vor andern empföhle — Sehen wir denn 
iu, ob das der Fall if. 





720 Steffenfen 


- Der Herr Berf, bat felb gefühlt, daß bie Haupt: 
ſchwierigkeit bei der von ihm vorgefchlagenen Erklärung 
in dem zoAdzıog uugyagleng beſteht, in deſſen Erwerbung 
wir augenfcheinlich das eigentliche punetum saliene deo 
Bleichniffed zu fuchen haben. — Was er aber a. a D. 
fagt, um diefe Schwierigkeit zu heben, bat wohl Je 
dem, der dad Gleichniß unbefangen betrachtet, die Un⸗ 
haltbarkeit diefer Deutung Far machen müſſen. Die Eine 
koͤſtliche Perle ſoll nämlich die Seele bezeichnen, die fähig 
oder empfänglich If, den Heren ganz in ſich aufzunch⸗ 
men. Der Sinn des Bleichniffed würde alfo der ſeyn: 
Mie der Kaufmann für jede gute Perle einen Theil fei- 
ner Güter bingibt, aber für Eine koͤſtliche Perle Alles, 
was er hat, fein ganzes Eigenthum, fo gibt and der 
Heiland jeder nur in irgend welhem Maße empfängli- 
den Seele etwas von feinem Eigenthume bin, aber wo 
er einer völlig empfänglichen Seele bei feinem Suchen 
uad Seelen begegnet, da gibt er ihr fein ganzes Gut, 
den ganzen Reichthum feiner Gnade und Wahrheit zu 
genießen. — 

Wer fühlt aber nicht, daß diefe Deutung an zwei 
wefentlihen Mängeln leidet? Einmal kommt das äve 
dabei nicht zu feinem Nechte, denn bieß deutet offenbar 
barauf hin, daß unter dem zoAdr. uapy. ein Gut muß 
zu verfichen ſeyn, das einzig in feiner Art ift, während 
ed ja doch hoffentlich mehr ale Eine Seele gibt, die 
empfänglich ift, den Herrn ganz in fi aufzunehmen. Fürs 
Zweite aber ift bei der in Rede ſtehenden Deutung ganj 
davon abgefehen, daß der Kaufmann fein But nicht den 
Perlen fchenkt, fondern bem Beſitzer der Perlen alt 
Kaufpreis bezahlt. Wäre alſo unter dem Kaufmanne 
Jeſus zuverftchen, fo müßte gefagt werden: wie ber Kauf 
mann für gute Perlen einen Theil feiner Güter bezahll, 
für die köſtliche Perle aber Alled, was er hat, fo de 
zahlt Jeſus auch für die einzelnen Geelen je mad, ihrer 
Bortrefflichkeit entweder einen Theil feiner Güter, oder 











über Matth. 13, 25. u. 46. 721 


Alles, was er hat. Das wärde aber befunutlic, ber con» 
fRanten Lehre der h. Schrift von dem gleihmäßig für 
Alle bezahlten Köfegelde ſchnurſtracks widerfprechen, weß⸗ 
halb der Berf. willlürlich von dem zizpaxs unb ydpusen 
ganz abfieht nnd fo thut, als ob da nicht von einem 
Verkaufen und Kaufen, fondern von einer Mitteilung, 
einer Hingabe ganz im Allgemeinen die Rebe wäre. Ein 
foiche® Berfahren dürfte fidh aber fchwerlich rechtfertigen 
loffen, um fo weniger, da das GBleichniß nad) der ges 
wöhnlichen Audlegung bie vermeintlihen Schwierigfeiten 
gar nicht darbietet, die der Berf. dabei findet. 

Es verhält ſich nämlich gar nicht fo, daß durch bie 
übliche Erklärung der grammatifchen Wortverbindung 
Gewalt angetban wärde. Sondern, auch wenn man un⸗ 
ter dem &vßgmzog Euzogog den ſuchenden Menſchen und 
unter dem zoldrınog napyap. den Herrn in feiner Gnade 
und Wahrheit als das Centrum bes Himmelreiches vers 
ſteht, braucht man gar nicht, wie der Verf. ed darftelt, 
in erllären, ald ob da flünde: zdAm duola Zueivs; Badı- 
ksle t.00g. Evi zoAvrluo napyaglın, Ovd.E. sbgnausv eto.—, 
vielmehr wärbe darch eine folche Wortfiellung der Sinn 
unferes Gleichniſſes gänzlich verrüdt worden feyn. 

Vergleichen wir nämlich die unmittelbar vorhergehende 
Parabel vom Schage im Ader mit der vorliegenden von 
der köſtlichen Perle, fo wird zwar in beiden ber unver» 
gleihlich hohe Werth des Himmelseiches ald ded Gutes 
der Güter gefchildert. Während aber im erften Gleich» 
aiffe gezeigt wird, wie das Himmelreich fich fofort auf 
den erften Blick ald das Gut der Büter darftellt, fo fol- 
len wir aus dem zweiten Gleichniffe lernen, daß wir 
nicht eher aus der Unruhe des Suchens nadı allerlei 
Gütern heraustommen können, ald wenn wir das Gut 
der Güter in Chrifto gefunden haben. Berhält es fich 
aber fo, dann ergibt fih von felbft, warum im erfien 
Bleichniffe der gefundene Schag, im zweiten aber ber 
fuchende Menfch vorangeftellt wird. 


722 Gteffenfen über Matth. 13, 45. u. 46, 


Uebrigens bemerke ich noch, daß in allen Gleichniß⸗ 
reden, die mit den Worten: dpola äarivr; Bacılsla v.odg. 
etc. , eingeleitet werden, nie bloß der zunaͤchſt folgende 
Hanptbegriff, abgelöft von der zu ihm gehörigen Erzäh- 
Inng, fondern immer der durch biefe Erzählung näher 
befinggte und erweiterte Hauptbegriff ald dem Himmel⸗ 
reiche verglichen anzufehen if. In unferem Gleichnifle 
it das auch grammatifch dadurch angedeutet, daß die 
ganze Erzählung in einem und demfelben Babe fortgeht. 
Wäre dieß von dem Herrn Berf. des befprochenen Er 
klaͤrungsverſuchs beachtet worden, fo würde es ihm wahr 
fcheinlih nicht eingefallen feyn, an der bisher Üblichen 
Erklärung diefer Parabel Auftoß zu nehmen. Diefe Er 
Härnung tritt aber erſt dann in das rechte Licht, wenn 
wir unfere Parabel mit der vorhergehenden auf bie oben 
angedeutete Weiſe sufammenhalten. Wenn es ſich hier 
um eine vollßändige Durchführung dieſer Vergleichung 
handelte, fo wärbde ich namentlich auch noch darauf auf⸗ 
merkfam machen, daß, während ber Heiland in beiden 
Bleichniffen zeige, bad Himmelreich müfle als das nu 
vergleichlich koͤſtliche, werthvolle Sut gefunden wer: 
ben, er im erſten daranf binweife, dieß Finden könne 
dem Menfchen ohne fein Zuthun als unmittelbare Got 
tedgabe zu Theil werben, und im zweiten, ed werbeaber 
Manchem erfk nach längerem oder kürzerem Guchen, da 
rum aber nicht weniger als Snabe, befchieben. 


Recenfionenm 


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1. 


Theologiſche Ethik von D. Rihard Rothe. 
Erfter und zweiter Band, Wittenberg 1845. 


I) 


Erftter Artikel. 





Die theologifche Ethit von Rothe, derm dritter 
Band, die Pflichtenlehre enthaltend, noch zu erwarten iſt, 
begrägt der Einfender ale eine bebeutenide Leitung, welche 
für das ethifche Gediet wiederum eine allgemeinere Theil⸗ 
nahme erregen wird. Sind wir and nicht im Stande, 
das Werf felbft zu beurtheilen, ehe bie Yllihtenichre ex» 
fhienen iR, fo können wir boch die Grundlegung 
vollfommen überfehen und andzugeweife vorführen, wm 
die Bedentung ded Ganzen aufzuzeigen. 

Der Titel ſchon läßt eine eigenthümlich weue Behand 
lang der Ethik erwarten, wenn ja Ethit eine fpecnlas 
tive Wiſſenſchaft bezeichnen fol, während man unter 
Sittenlehre cher eine empirifche verficht; wenn ferner 
nicht ohne Abſicht ſtatt hriftiiche theologiſche Ethik 
geſagt wird. Der Verfaſſer ſchiebt voraus, „nichts Mes 
ſentliches, was man gewohnt ſey, in einer theologiſchen 
Moral zu ſuchen, werde hier vermißt werden, ohne daß 
das Viele, was darüber hinaus dargeboten werde, als 
am unrechten Orte ſtehend erſcheine, obgleich es zum ſehr 
großen Theile nach dem gangbaren Sprachgebrauche mehr 


76 Betbe-. 


dogmatifcher als erhifcher Ratur fey. Obwohl er fid 
gerne an eine der beſtehenden Schulen angefchloffen hätte, 
habe ihm bieß doch nie gelingen wollen; flatt deſſen fey 
ihm nach und nach ein Gebäude von theologifchen Saͤtzen 
entftanden, das ihm eigenthämlich zugehöre, In eimer 
Zeit, da alle theologifchen Standpunkte von Verlegenhei⸗ 
ten umflridt feyen, möge ein Zeugniß, daß für nen 
Bahnen nody Raum fey, immerhin abgelegt werden.’ — 
„Diefe theol, Ethik enthalte nichts won Philofophie, for 
dern ledigli Theologie oder genauer Theofophie, und 
obgleich ihr Beachtung von Seiten der Philoſophen zu 
wäünfchen fey, mache ber Berf. doch ſchlechterdings kei⸗ 
nen Anſpruch, etwas von Philoſophie zu verfichen; iw 
dem er fie ald Dilertant benuße, denke er, fie wenig 
ſtens nicht zu mißbrauchen.“ — Diefe Aeußerung if of 
fenbar zu beſcheiden; es wäre fehr zu bebamern, wenn 
unter ben Theologen jetziger Zeit ſelbſt diejenigen, welche 
mit Geſchick und Einficht die der Philoſophie und Theo 
logie gemeinfamen Gegenflände bearbeiten, wirklich nur 
Dilettanten in der erftexn ſeyn wollten, und wenn irgen 
Theologen . außerhalb der hegel’fchen Schule ein Wort 
mitzufprechen haben in philofonhifchen Dingen, fo dürfte 
der Berf.. unter ihnen eine ausgezeichnete Stelle be⸗ 
haupten. 

„Auf andere theol. Bearbeitungen ber Ethik nehm 
er fehr wenig Bezug; die fo ganz abweichende Anlage 
feined Buches geftatte es nicht anders, obgleich ed in 
Manchem durch jene ergänzt werde, namentlich is dei 
Pflichtenlehre. Defto reichlicher habe er Schleier: 
macer benutzt; obgleich deſſen Lehre nicht die feinige 
ſey, fo ‚möchte er Doch einige der großen ethifchen Brand. 
anfihten Schleiermacher's in algemeinern Gute 
bringen.” — Hier berührt der Berf. eine Schattenfeite 
der Ethik. So wenig eine traditionelle Einerleiheit ſcho⸗ 
laſtiſch feftfichender Methode den theologiſchen Diecipli 


theologiſche Ethik. 727 


nen heilſam ift, fo kann doch nicht erwänfcht feyn, daß 
in der Ethik mehr ald in irgend einer anderen Disci⸗ 
plin Jeder feinen eigenen Weg geht. Dieß aber if 
zur Zeit noch der Fall; feit Schleiermacher im Gebiete 
der Ethik anfgeräumt hat, ift es nicht möglich, ihm und doch 
and den Andern zu folgen; man muß entweder & dh lei: 
ermader zum Grunde legen, ober neue Bahnen verfus 
hen. Der Berf. hat Beides gewollt, treu und gewiſſen⸗ 
haft die Forderungen, welche diefe Wiſſenſchaft S chlei« 
ermacher verdankt, aufgenommen, aber auch in bebeus 
tenden Puukten ihn zu ergänzen und zu berichtigen ges 
ſtrebt. Die Beurtheilung der rothe'ſchen Ethik wird wer 
fentlich in der Beurtheilung ihres Verhältniſſes zu Schlei⸗ 
ermadjer Liegen. Diefe können wir am einfachften zu 
Stande bringen, wenn wir die reichhaftige @inleitung, 
in weicher die Gonftruction der theologifchen Ethik ges 
‚geben wird, Schritt für Schritt verfolgen. Rur ift es 
kaum möglich, bei der mufterhaften Präcifion des Aus⸗ 
drucks, welche dieſes Werk auszeichnet, den Kern zus 
fammenzudrängen,, ohne daß viel von biefem Borzuge 
verloren geht. 

Die Einleitung zerfällt indie drei Hauptſtücke: 1) 
Allgemeiner Begriff der theol. Ethik, 1 — 5. 2) Grund 
legung der theol. Ethik, S.6— 87. 3) Methode und Eins 
leitung der theol. Ethik F. 88 — 2. Es erſcheint alfo 
das mittlere Hauptſtück nach Ausdehnung und Inhalt 
fo ſehr als das eigentliche Hauptſtück, daß bie andern 
beiden gar nicht verdienen, in gleicher Form neben die⸗ 
ſem Hauptſtücke hervorzutreten. Nicht bloß die äußere, 
auch die innere Symmetrie ift beffer heraudgebildet in der 
Art, wie Schleiermacher in feinem Entwurf eines 
Soſtems der Sittenlehre die allgemeine Einleitung dies 
ponirt hat. Die Ungleihmäßigfeit würde freilich weg» 
fallen, fobald man auf anerfannte Sätze anderer Wifs 
fenfchaften bauen könnte, flatt daß jetzt en vorerfl in 

Theol, Stud. Jahrg. 1847, 


128 Both 


Einleitangen zur Ethik große Mchiete anberer Didi 
plinen bergeRellt werden müflen. 

Das Erfte alfo, was ber Verf. eröztert, iſt der alls 
gemeine Begriff der theologiſchen Ethik, 
8.1 fie fey „die MWillenfchaft von dem Bittliden, wie 
es Beides, das Sittlich⸗ Gute und das Sittlich⸗Böſe, un 
ter ſich befaßt.” Diefe Definition will die ſchleiermacher⸗ 
ſche erweitern, indem auch bad Sittlich⸗Boöͤſe mit in den 
darzuftellenden Begriff des Sittlihen aufgenommen wird. 
„Scleiermacher zuerſt habe einen beſtimmten Ber 
oriff des Sittlichen überhaupt gegeben, fo wenig aud 
dieſer ungeheure Fortſchritt beachtet worden fey ; aber 
er babe den Gewinn wieder vereitelt, da er das Sittlid: 

. Böfe nicht wit aufgenommen. Wenn freilich das Eint- 
ſeyn der Bernunft und der Ratur das Sittlide 
ſey, fo könne es ein Sittlich⸗Boſes Überall nicht geben, 
bad Böle ſey dann allerbings fein wiflenfchaftlic com 
firuirbares , fonbern nur ein empirifched.” — Die Dife 
renz beider Definitionen ift zum Theile eine nur fchein 
bare, zum Theil «ine tief begründete. Nur fdaeinbar 
wenn Schleiermarher gar Feinen Begriff des Bit 
kichen kennen fol, als nur den des Sittlidy« Guten; aud 
ex ja redet von dem Sittlichen sensn medio, woöo er DH 
Sphäre der fittlihen Weſen von der bloßen Res 
tur unterfcheidet; im diefem Sinne ift ibm die ſittlicht 
Sphäre das @indfeyn von Bernunft und Natur im menſch⸗ 
lichen Organismus bei gegebener Potenzialität der Ber 
nuuft; aber ber eigentlich fittliche Proceß begiunt nur 
erſt mit der Thätigkeit Diefer in Einheit mit der Natur 
gegebenen Vernunft. Tief gegründet if nun die Die 
senz beider Sittenlehrer, wenn Schleiermacher im 
fittlichen Proceffe ſelbſt bloß das Bunte, die Bernunftihd 
tigleit von ber Idee aus, d. bh. fpeenlativ, eonſtruirer 
wii, Rothe aber fpeculetio d. h. von der Idee anf 
aud die Negation des begriffämäßigen Thuss, auch 





theologifige Ethik. 729 


dad Böfe ale ein In Den Begriff des Sittlichen zu fetzendes 
mit confiruirt. Wir werden [hou von hierans erwarten, 
daß Rothe anf Den Begriff der Selbfibefiinmuug zur 
rüdgehen, dieſen Begriff seneu medie faſſen wirb, 
Shleiermacer aber, bei dem Begriffe der Belleität, 
Willensmägigkeit, als eines höheren Grades von Lebens 
digkeit fiehen bleibend, ben Organismus der Perſoͤnlich⸗ 
keit nur ald den Ort und die Form anfehen wird, im 
weichen die Vernunft ald das eigentliche agens das Sitt⸗ 
liche wirkt. 

Hören wir deu Berf. weiter an G.2,: „Die Theoles 
gie könne den Begriff des Sittlichen nicht von ber Phi⸗ 
lofopie zu Lehen nehmen, fie müſſe ihn ans eigenen 
Mitteln erzeugen auf dem Wege theologifcher Specula⸗ 
tion; denn neben der hifkorifchen und praktiſchen gebe es 
eine ſpeenlative Theologie, und nur von diefer aus lafle 
fh zu einer theologifchen, d. h. gleich fehr religiöfen und 
wiſſenſchaftlichen, Ethik gelangen.” Es wird nun entwis 
delt, was Speculation fey, „ein Ausgehen von etwas 
unmittelbar Gewiſſem, deſſen unbebingte Gewißheit für 
und die abfolnte Bedingung des Denkens äberhanpt ſey. 
Dieß fen das menfchliche Bewußtſeyn ſelbſt in feiner ab» 
foluten Reinheit d. h. nach vollſtaͤndiger Abſtraction von 
jedem beftimmmten Object und Inhalt; ſomit bad rein 
fubjective Selbſtbewußtſeyn. Aber wie fann ed nun nes 
ben der philofophifdyem eine theologifche Specnlation ges 
ben, da nur eine VBerfchiedenheit der unmittelbaren 
Urdata des Selbſtbewußtſeyns diefe Doppelte Speculatis 
ondart begründen könnte? Der Berf. antwortet: „Dad 
fubjeetive Selbſtbewußtſeyn ſelbſt ſey wefentlich nicht 
bog Selbſtbewußtſeyn als ſolches, fondern auch 
religiss beftimmtes, d.h. GSottesbewußtſeyn; fo ent» 
ſtehe eine philofophifche und einetheologifche Speculation.’” 
Diefer Gap ift zuzugeben, fofern das religiäfe Beſtimmt⸗ 
ſeyn des Selbſtbewußtſeyns nach dem reinen Selbfibes 

49 * 


730 Rothe 


wußtfeyn, bei vollſtändiger Abſtraction won jebem ber 
ſtimmten Object und Inhalte, augehört und Die religie 
als innata angefehen wird ; auch dann aber entſtände die 
Frage, wie von diefer Vorausſetzung aus das reine Selbſt⸗ 
bewußtſeyn bald einfeitig nur ale ſolches, bald aber au 
wieber einfeitig nur ald Gottesbewußtſeyn thätig ſeyn 
und dort die philofophifche, bier die theologifche Specu: 
lation erzengen könne. Dieſes zugeflanden, würde fd 
jedenfalld eine fpeculative Theologie uur ale Die eine 
Seite der Philofophie ergeben; denn Speculation fol 
ja nur vom reinen Selbfibewnßtfeyn ausgehen Fönnen, 
fomit theolegifhe nne vom reinen Gottesbewußtſeyn. 
Wenn aber „die theologiſche Speculation für jebe eigen 
thümliche Frömmigkeit eine weſentlich verſchiedene ſeyn 
fol, weil der Ausgangspunkt das eigenthämlich be 
immtefrommeBewußtfepn fey” ; wenn ed „eine hrik 
liche, weiterhin eine confeffionell, 3. B. evange 
liſch protekantifch beſtimmte Speculation” geben 
fol, mag immerhin beigefügt werden, „fie ſey nicht ge 
bunden am bie gegebenen Dogmen, fondern heteroder ia 
ihrem Begriffe, obgleich die h. Schrift als der auchentifche 
Ausdruck des chriftlich frommen Bewußtſeyns ihr Kanon 
bleibe” : fo entſteht dach das Bedenken, ob diefe Theologk 
noch Speeulation, d.h, Sache ded reinen, von jeden 
Object und Inhalte voAfändig abſtrahirenden Selbſtbe⸗ 
wußtſeyns bleiben koͤnne. Denn mag immerhin das Gelb 
bewußtfeyn von den Dogmen abftrahiren, wenn es die 
chriſtliche und proteſtantiſche Gigenthämlid;feit deuned 
behalten ſoll: fo. heißt das, die empirifche Einwirkung der 
Kirche erſt hinterher wegbenfen, nachdem bereits das 
reine Selbſtbewußtſeyn oder Gottesbewußtſeyn dem vol 
len Eindruck diefer Empirie in fich aufgenommen bat. 
Sagt doch der Berf. felbk, „der Ausgangspunkt dieſer 
chriſtlich ewangelifchen Speculation fey das inbivibuch 
fromme Bewußtfepn, in welchem fich das kirchliche Ge 
meinbewußtſeyn reflectirt.” Kurz, die Empirie wird nur 





theologiſche Ethik. 731 


äußerlich abgelehnt, innerlich aber aufgenommen; fo aber, 
fommen wir nicht zu reiner theologifcheer Speculation, 
fondern nur zum fdyleiermadger’fchen evangeliſch chriftlis 
hen Selbſtbewnßtſeyn, von: welchem Ausſagen ald Dog» 
men, wicht aber fpeculatige Säge angehen: können. Der 
Recenfent kann daher das Bedenken nicht uuterdrüden, 
daß unfer Berf, zwar den : Begriff der Specnlation ganz 
richtig beftimme, eben darum aber eine intiwibudl-chrift« 
lich evangelifche Speeulation nicht ableiten: fänne.: Was 
er fo nennt, if vielmehr daß  Sichbefinnen des ſchon 
chriſtlich und evangelifch: befimmten :religiöfen Selbfibe« 
wußtſeyns Aber die aufgenommene Beſtimmtheit, aller: 
dings ein-Neflertiren von innen heraus. &ber. die innen 
res Moment gewordene Einwirfung: und kirchliche Er» 
fahrung, eis :Sichvertiefen der chriſtlichen »Empirie in 
ihr inneres Weſen, aber immerhin ein Abbängigbleis 
ben won Empirie, Gtatt wahrer Speculation. wird bei 
dieſem Verfahren nur ein analptifcher, von der: Sinheit 
jur Bielbeit ihrer Momente, vom runde zu den Erzeug⸗ 
niſſen fortfchreitenbeg. Proceß fich ergeben. 

Mit dieſem Bedenken hängt das andere zufanımen, 
ob denn wirklich der Begriff des Sittlichen ‚als ſolcher 
nicht and der Philsfophie zu eutlehnen, ſondern von der 
theologiſchen Speculation and eigenen Mitteln gu cons 
ſtrniren fey. : Soll diefer Begriff in ber Bhilofophie feinen 
Drt haben und Doch Mit. Sgnerirung davon auch bie 
Theotogie ihm erſt nen erzeugen, fo würde diefe Zweis 
fpaltigfeit des wiſſenſchaftlichen Verfahrens durch Alles 
bindurchgeführt werden müffen. Es gäbe eine Rhetorik, 
weiche man ganz zu igneriren hätte, um eine Homiletik 
aufzufteßten; eö gäbe den Begriff der Geſchichte, welchen 
man er ignoricen müßte, am den ber Kirchengeſchichte 
zu erzeugen; es gübe eine Auslegungswiſſenſchaft, welche 
man zu ignoriren hätte, um die theologifche Eregefe 
zu erzeugen, u. f. w. Der NRecenfent hält es hierin mit 
Schleiermacher, der die im Allgemeinen. von der chriftlis 


7323 Roche 


chen Theologie ſchon vorgefunbenen Begriffe dad 
den Standpuntt des Ehriſtenthumd näher beſtimmt wer 
den läßt, aber file aufnimmt. Auch glaubt ex, die Auf 
ſtellung des Ethiſchen aus eigenen Mittein der Theele⸗ 
gie ſey um fo weniger wöthig, da der Verf. doch gem 
sichtig_ wider Inlins Müller (6. 86 Anmerkg. 4) 
die relative Unabhängigfeit ber Stttlichkeit von der Krim 
migfeit behauptet. 

In 9.3, wird num „bie theobogiſche Ethil ven 
der philofephifchen fo untesfchleden, wie bie theo⸗ 
Iogifche Specnlation von der philoſophiſchen Ach umter 
fcheide, durch Bir verfchiebenen Dorausfebungen, von ber 
nen fie ausgehen; dieſe vom fittligen Wewußtfepn rem 
als folchem,' jene van: dem fittligen Bewnßtfeym, wie es 
in dem der beflimmten Kirche angehörigen chrifttiche⸗ 
Individnum ale religiös eigenthümlich beſtimmdes that 
ſaͤchlich vorhanden iſt, und von bem geſchichtlich gegede⸗ 
nen Ideale ber Sittlichteit in der Erſcheinung des Er⸗ 
löfers. ne 

Daß chriſtliche und philoſophiſche Ethik ſich unter: 
ſcheiden wie chriſtliche Theologie and Philofophie, iR un 
befireitbar; aber von fpeculattver theologifcher Ethil 
Tann nur im fofern die Rede feyn, ale es im Sinne dei 
Berf. eine chriſtliche Speculation gibt; wie fehr fie je 
doc von Empirifchem beftimmt wäre, geigt gevade and 
das ftehen bleibende Ydeat im gefchichtlichen Ehriins, wel 
her als ſittliches Ideal Übrigens nur ſehr uneigentid 
gerade der Erlöſer ift, weit wir, ob nod fo fehr dem 


Ideal uns annähernd, darum Boch keineswegs nah und 


nad felbit and Eriöfer würden. Das Berhättniß der 
beiderlei Ethik zu erledigen, iſt nicht leicht. Cine abſe⸗ 
lute Verſchiedenheit beider hat auch der Verf. nicht ge 
ſetzt; „innerhalb der chriſtlichen Welt mäffen vielmeht 
die Philoſophie und philoſophiſche Ethik eigentlich eine 
chriſtliche ſeyn; aber ein relativer Gegenſad von deider⸗ 


theologiſche Ethie. 233 


kei Eihif trete em in den Maße, ald die Menſchheit, 
welche philsfophist, noch nicht ſchlechthin vom Chriſten⸗ 
hume durchdrungen iſt; danm ſey aber die chriſtliche Ethik 
and Theologie auch noch nicht vollkommen wifftuſchaft⸗ 
lid. Bären beide vollendet, fo würbden--fie materiell eim. 
ander decken und bei Einheit ver Muterien in beren 
Ordmang umterfchisden bleiben” Bei S:chbeiernes 
her iſt dieſer Gas fehr einlenchtend, weill.die chriſttiche 
Ethik ihtr eine euwpirifche ıft, empiriſche une ſpernlative 
Behanslung aber vei ganz deuſelden Mäaterion motho diſch 
serfchieben bleibt. Weniger einleuschten® wird dieſer Satz⸗ 
wenn auch die chriſtliche Ethik die ſpetulative Wet lab, 
Methode Haben fol. Dem Netonſenten ſcheint bie Buyn 
fhiedenheit von beiderlei Ethik ganz etfuch darauf zu 
suben, daß Das Ghriftenitum : immer nod urd wohl im 
mabfehbarer Zukunft hinaus nach feiner hifkorifchen Por 
Atioieät hin ale eine eigenthimliche und befondere Weis 
Reörigtung danr allgemeinen Bewußtfeyn gegenüber ge⸗ 
elle wird; vesfchwinden Tönnse ber Begenfag nur dan) 
wenn Bas cheiſtliche umd die begriffemaäßige Volendung 
des menſchlichen Bewußtfeyns überhaupt znfainmmnrfieler, 
Se lange das nicht iſt and neben den Dewaißfihrungen, 
weile im Ehrikenthume die abfolute Weligion des menſch⸗ 
lichen Geiſtes felbft aufzeigen, immer auch das Antereffe 
da if, dad Ehriſtenthum als eine befondere Geiſtesrich⸗ 
tung feRzuhalten: fo lange wird bie gunge Weltdnfiche 
als chriſtliche und außerchriſtliche ſtch geltend madiem, 
ſomit auch die Ethik. Aber wahrhaft und rein ſpeeulatto 
würde die cheiſtliche Ethik eben: erſt, wenn ſie als bie 
des vollendeten rain menſchlichen Bewußtieyns ſelbſt TI 
begriffen hätte; vorher wird ſie, wie alles Poſitive, dem 
empirifchen Sharufter nicht: ablehen Iönnen. In diefem 
Stadium ſteht die Theologie neben der Phitofophie, aber 
beide ſuchen is mit einander zu vermitteln, bie Theolor 
gie in der Apelogetik, die Philoſophie in der Religions⸗ 





73% Naothe 


philofophie; denn Apologetit iſt eine theolsgifche Dieci⸗ 
ptin nnd fol die Printipien der Theologie für Die Phi⸗ 
loſophie zu erhaͤrten ſuchen; dieſe aber hat in der Res 
ligiensphilofopbie von ihrem Baden and dad Chriſten⸗ 
thum zu begreifen. 

- Dis thesiogifihe Ethik im Sinne bed. Berf. erfcheint 
daher dem Necenfetten nicht vollkommen gerechtfertigt. 
Man könnte mit gleichem Rechte fonft gar vielerlei Ethi⸗ 
fon ‚neben einander anbauen, eine vom menſchlichen "Be: 
wußtfenn überhaupt aus, fpeculativ oder tmpirifch, eirt 
won religiös beſtimmten Gelbfibemußtieygn überhaupt 
andı, femit fpecnlativ, eine. von den geſchichtlich gegebe⸗ 
nen religiöfen Gemeisfchaften durch Fritiiche Bergleihum 
aus, fomit empiriich; dann erſt eine vom :chwilid be. 
ſtimmten Gotteübemußtfegn aus, .wieber ſperulirend, d.h. 
analiysifch, oder ewpiriſch, d. h. ſynthetiſch; endlich von 
proteſtantiſch beſtimmten chriſtlichen Bewußtfeyn aus eben 
fo; und wohin wärbe das führen, wenn doch gar nicht aut 
Die: Ethik, fondern auch andere MWiſſenſchaften im biele 
Bielgefkaltigkeit. einträten ?. Thegisgifche Ethek des Auf 
lich enangelifchen Typus im fpeculativen Shaualter führt! 
zur Vermengung des reinen religiöfen Selbſtbewußl⸗ 
ſepns mit. dem poſitinchriſtlich deſtimmten, zur Ver⸗ 
miſchung der reinen und der poſitiven Theologie. So 
wunig bie Rechtslehre einer gegebenen Volkogemeinſchafl— 
obwohl dieſes individualiſirte, nationale Recht dem Is 
divihnuam nicht: blos äußerlich gegenüber ſteht, fenbern 
auch. als. eine Beſtimmtheit in fein Rechtsbewußtſeyn 
felbit eingegangen if, Darum eine fpeculative, Redhtölchse 
biefen Nation werden Tanz fo wenig. können wir Die 
hriftliche, proteftantifche Ethik ald eine ſpeculative gelten 
loffen. Eine doppelte Behandiungsweife, kann zwar im 
wer vorlommen, man kann mehr won dem äußerlich Ge⸗ 
gebenen zufammenfellend und ſichtend amsgehen, obt 
man kann vom innern Weſen diefer inbinituelen Poſiti⸗ 





theologäfige Ethik 735 


vitäs auögehen und Bad einzelne Gegebene aus ihr ablei⸗ 
ten und begreifen; aber dieſer Unterſchied ließe ſich eine 
facher durch die Bezeichnung einer Sittenbefchreibung 
und einer Süteniehre,. einer fonthetifchen oder analyti⸗ 
fheu Methode veranfchauliden. Cine wahrhaft ſpecnla⸗ 
tive theologifch chriſtlich proteftantifche Ethik läßt ſich 
nicht halten. GE wird ſich zeigen, daß die bed Verf. 
eben doch nichts Anderes werden founte, als eine chriſtliche 
Sittenlehre in derjenigen Methode, welche den gegebenen 
rifiidh,. proteſtantiſchen Typus von innen heraus dar⸗ 
legt, nicht son außen herein. Darum find wir mit bies 
for Ethik einverſtandey, nur nennen wir fie nicht eine 
foeculatine oder Damm. wit eine —— Reine Pros 
teftantifche. . 

Mit diefem Urtheil iR von selb das Meise ge⸗ 
geben über die F. A. folgende gegenfeitige Abgrenzung 
ver sheologifhen Ethik umd der Dogmatit. 
_ „Beide laufen einander durchaus nicht parallel, ſondern 
jene gehöre dex ‚jpetnlattwen:- Theeiogie an, dieſe der bis 
Rosifchen; nicht ber Gegenſtand beider fey verfchieden, 
fondern .die wiflenfchaftliche Behanbinug; Dogmatik fey 
die hikorifche Miſſenſchaft von den gegebenen Dogmen; 
die theologifche Ethik aber habe es nicht mit Den Dogmen 
zu thun, fie müſſe vielmehr rein ſpeculativ verfahren.’ 
Hier trist die originelle Anficht dee Verf. vollends her⸗ 
vor, ir werden einräumen mäflen, daß. Dogmatib 
und Moral biäher ſelten genügend und begriffämäßig uns 
terſchieden werden find, fo wenig als die .ensiprechenden 
beiden Gebiete iu der Philoſophie. „Muh Schleier 
macher habe. diefes nicht geleiftet, wenn er fage, bie 
Degmasif frage: was map feyn, bie Moral: was 
muß werden, weil 2er religiöſe Bemüchägufktand ba if ẽ 
Aber die. Dogmatit umfaſſe Bieles. der leiter Art, z. B. 
im Abſchnine von ber Heiligung, weiche, im Detail aus⸗ 
geführt, immer Tupend rund Pflichtenichre werde. Grs 


T36 .. "Rebbe 

bennen ud Hanbeln fönne bie beiten Wiſſenſchaften nicht 
unterfcheiden, Senn dad Erkennen ſey ſelbſt ein Handeln, 
Theoretiſches und Praktiſches ſey freilich ein ÜBegenfah, 
aber Ethik und Dogmatik vertheilen ſich wicht nach Diefem Ber 
genfaße.” Die hergebrachte Anficht wire alſo vom Berf.ge 
rade umgekehrt; Dogmatik fell wie bei Schleiermadyer eine 
hiſtoriſche Wilfenkhaft feyn, und num foll Der zweite 
Schritt folgen, daß hingegen bie Moral ats fpeexiatise 
Wittenfchaft. gefaßt werde. Eihit als fpeculativ kernen 
wir zwar ven Spino za her und.bei Schleiermaden 
aber nur die phileſophiſche und durgaus wicht in ber 
Meinung, daß ber nicht ethifche «ber Dogmatik autfpres 
chende) Thell der Philoſophie darum 'empixifch geſchicht⸗ 
lich ſeyn fol. Wohl zum erſtenmale treffen wir hier anf 
die Anſtcht, dag die Dogmatik eine hifivrifche, die Erhit 
aber eine fpermiatio theologiſche Miſſenſchaft fey über 
einerlei Gegenſtand, mag er auch‘ nur für bie empi 
riſche Wiſſenſchaft in deu Form von Dogmen gegeben 
feyn. Eine tief liegende Nothwendigkrit, in der Theelo⸗ 
gie Dogmatif und Moral zu trennen, gibt ed betammtlih 
wicht; hat man aber beide doc auch. unterfchleben, fr 
wird ſich ein anderes Trenmungemistel kaum finden laf- 
eu, ald das alte, von Schleiermacher nur genamt 
fosmulirte. Der dognatiſche Abfchuitt von der Heiligung 
trägt in feinen. Begriffe die Schuld au der Einmengung 
von Eiifchem nicht, dena Heiligung ift ald fortſchreitende 
Wiedergeburt gun; und gar noch zur von Gott gewir: 
ben Antigung des Heilslebens ‘gehörte, iſt fich weiter ver⸗ 
wisflichenbe Belehrung. Faßt mun bie Heiligung als 
bie aus Danfbavfeis hervorgehende Antwort des Bekehe⸗ 
sen, als die von ihm nun ausgehende That, fo verwen⸗ 
beit man vermöge eines fehr verbreiteten Mißverſtänd⸗ 
nified den dogmatiſchen Gocus in einem ethifchen. Dieſe 
Berwechfelung. if. aber eiufach zu corrigiren; dam bleibt 
e6 dabei, von Ariklichen Gemüthe puſtund aus zu zeigen, 
wie er von Gottes Gnade gewirkt worben fey, iſt Dog⸗ 


theologiſthe Ethik. 737 


matil; zu zeigen aber, wie er nun, ab noch fo ſehr Durch 
Kraft der Gnade, das Leben beftimmt und wirkſam iſt, 
bad bat bie Moral zu zeigen. Deide haben Einer Ge⸗ 
genftand, aber jede nach einer andern Geite. 

Es zeigt ſich auch hier wieder, wie der Berf. zu 
einer völligen Zwiefachheit aller Wiſſenſchaften fortgetrie⸗ 
ben muubeg fo wie er eine befoudere theologiſch ſpe⸗ 
entatine Ethik fordert neben: der philofophifch ſpeeulati⸗ 
ven nnd: nebe ber emmmirifchen, weiche wirderum bie 
algeniein menfehliche oder die poſitiv chriſtliche ſeyn 
am: ſo maß er nun, da her Ethik die Phpfik coordinirk 
iſt, auch eine theologifch chriſtlich ſpeeulative Naturwiſ⸗ 
ſenſchaft, Kosmologie, Anthropologie fordern neben der 
phsfo mifchen; dann ader warum wicht auch ebenſo eine 
doppelte Mechtswiſſeaſchaft, Heilkunde, Botanik: u. ſ. w. 
Wir geben es zu, daß, fo lange die Wiſſenſchaft nicht 
die eines froumen Bewußtſeyns, das fromme Bewußt⸗ 
ſeyn aber nicht rede wiſſenſchaftlich iſt, von beiden Stand⸗ 
punkten aus, ein verſchiedener Gharakter ſich jeder wiſ⸗ 
ſenſchaftlichen Operation mehr. oder weniger aufdrücken 
wird; aber darf man, darum, als ob jede dieſer Gimfein 
tigketten berechtigt wäre, geradezu ein Doppeig ebände 
der Miſſenſchaft fordern 9 Es ſcheint vielmehr, daß Jeder/ 
weicher das eine oder andere Verfahren ald en ein 
ſeitiges -Buschfchaut, verpflichten if, beim Bufbaue ber 
Wiſſenſchaft diefen einfeitigen Eharafter zu durchbrechen. 
Nicht. aid ob Die fcholakifehe Bermifchung von Philoſo⸗ 
phie und Theologie Das Berechtigte wäre, aber doch wird 
die förmliche Trennung wur für Diejenigen Gebiete ein⸗ 
treten, in denen fie unabweisbar ſich geltend macht. 

Dear Berf. beſtimmt 5. 5 das Derhbältnig der 
evangelifhtheolegifhen @thbilzur Schrift, 
„Gte ſey nicht har Weideres identiſch mit der praftiichew 
kehre der h. Schrift; dem eine biblifche Sittenlehte gebe 
es ſo wenig aid eine bibkifche Dogmatik; wohl aber gebe 





N 


738 Rothe, 


es eine bidlifche Religionslehre mit praktiſchen Ermah⸗ 
nungen, und die Bibel normire auch Die Ethik umbebingt, 
and zwar Die ganze Bibel, auch das A. T., wegen bes 
gefchichtlichen Verhältniſſes der Vorökonomien zum Chri- 
ſtenthume. Aber die bibtifche Bewährung Ber ethiſchen 
Sätze gehöre nit im bie Ethik felbft mittel einzelner 
Eitate; theils ließe fich ein.fohkhes Berfahren doch nicht 
vonftianig durchführen ‚ thelld: würde es ben fpeculatiom 
Charabter⸗ der Ethik ſtören. Die VBewährung ſolle alle 
ſeym eine Zufammenhaltung der Ethik abs eines Ganzen 
mit der bibliſchen Religloöndolehre, welche ein Theil der 
hiſtoriſchen and zwar der exegetiſchen Aeelogie iſt, gleich⸗ 
falls als eines Sangın.”’ - 

.&6 fohr wir ed loben. — daß ver. Nerfoſſer 
bie ältere:, mechaniſch⸗atumiſtiſche Bewährung bes kirch⸗ 
Kıhen dehrſätze an herausgenommenen Stellen der Bibel 
entichieben verläßt und mit Schletermacher eine 
geiſtigere Bewährung des Lehrgeblrudes am Geiſte nad 
den weſentlichhen Tendenzen des in: der Bibel’ ausgeſpro⸗ 
denen Ehriſtenthums, vorzieht; fo. gerne wir ferner bei⸗ 
ſtimmen, daß. in die Ethik ſelbſt dieſer ganze Bewährungd 
proceß weniger eintreten folle, als in die Dogmatik, fo 
hatte doch Diefe letztere Forberung bei Schleierma: 
or seinen :einleuchtenden Brund.für ſich, welcher hin 
gegen: für nufern Berf. nicht vorhanden ik. Schleier⸗ 
mwacher, welchen die Dogmatik Grundlage if, aus 
welcher, die Sittenlehre reſultirt, kann fagen: wenn ic 
die bogmmtifchen Hauptfäge.biblifch bewährt habe, aus 
ihnen aber bie ethiſchen übe von ſeibſt hervorgehen, fo 
ift eine aparte Bewährung biefer ılepteren nicht mehr 
nöthig, wenigſtens viel gleihgältiger. Bei nuferemBerf. 
aber follte man bas Umgekehrte erwarten; wenn Die the: 
logische Ethik eigentlidy der Grund legende, begrändend: 
hell den Theologie if, weichen. zwar ans dem nun ein⸗ 
mal ewangelifchschrifllichen Selbſtbewußtſeyn herauns feine 





theologifche Ethik. 739 


Säge ſpeculativ ableitet, fo muß es höchſt wichtig ſeyn, 
diefe Güte dann ale wirklich mit der Bibel zuſammen⸗ 
treffend aufzuzeigen, Diefe Bewährung, ungefähr in ber 
Weife wie in Schleieemacher’d Glaubenslehre, könnte den 
ſpecnlativen Charakter der Ethik nicht ſtören; denn der⸗ 
jeuige wahrhaft ſpeenlative Charakter, welcher allerbings 
durch ſtete Bezugnahme auf die Bibel geflört würde, if 
nicht wirklich vorhanden; der wirklich vorhandene aber, 
Deduction aus dem chriftlichsenangelifchen Selbſtbewußt⸗ 
ſeyn, wärde hei einiger Borficht durch dieſe Bewährungs⸗ 
operation nicht geftört. - 

Faſſen wir zufammen, was über dieſes erſte Haupt, 
Räd der Einleitung bemerkt wurde, fo vereinigt ſich Als 
les in dem Bedenken, ob der Berf, denn wirklich eine 
eigentlich fpeculative Ethik erreichen könne, wenn er doch 
dad evangeliſch⸗ chriſtlich beſtimmte religiöfe Selbſtbe⸗ 
wußtſeyn zum Ausgangspunkte haben muß; ob es nicht 
angemeflener ‚wäre, nur dasjenige Speculation zu nen⸗ 
nen, was vom reinen Selbſtbewußtſeyn oder vom 
reinen Gottesbewußtſeyn ausgeht. Begeben ift diefes 
freilich auch, aber eben‘ zein gegeben, während ber 
chriſtliche Gemüthszuſtand erworben, durch empirifche Eins 
wirfung in und gefegt werden muß. Auch fo aber if 
es verdienftlich, die chriftliche Ethik nicht aus zuſaumen⸗ 
gelefenen biblifch ober. kirchlich vorgefundenen Gägen 
zu conftruiren, fondern, ähnlich wie Schleiermader, aus 
dem jeßigen chriftlicken Selbſtbewußtſeyn zu bebuciren. 
Wir werden fehen, daB der Verf. doch eigentlich dieſes 
ketztere geleiftet hat. 

Das zweite Hauptflüd der Einleitung gibt die Grund» 
legung der theologifchen Ethik, ein bedeutender 
Abſchnitt, der für fich allein ſchon das Buch zu einem 
werthuollen Buche macht. 

Ganz parallel mit Schleiermacher in ber philo⸗ 
fophifchen Ethik ſucht der Verf. den Begriff des Sitflis 


740 Kothe 


chen zu gewinnen, und pwar durch tcheologiſche Specr⸗ 
lation. „Dieſer Begriff ſey m früheren Theilen der 
ſpeeulativen Theologie zu ſuchen; da diefe aber niegende 
allgemein anerkannte Refultate aufzumelfen Babe, fo 
Fünne man wicht bloß einen Lehrfau ans ihmen herüber⸗ 
nehmen, man fey genöthigt, die vorher gehenden Theile 
der fyecnlativen Theologie fo weit zu verzeichnen, bi 
der Begriff des Sitrlichen herausſpringe. Söwmäffe alfo 
zuerfi die Theologie im engeren Sinne, dank die Ko 
mologie Burchgegangen werden, bie dahin, wo diefe, die 
zuerft Phyſik fey, in die Ethik umfchlage.” Hier zeigt 
es fih nun, welche Menge von befonberen kheologiſch⸗ 
ſpeculativen Wiffenfchaften der Berfafler fordert neben den 
phitofophifchen , eine befondere Gotteslehre oder Theolo⸗ 
gie, eine befondere theologifhe Kosmologie, Phyſik, An 
thropologie; aber fo vollkommen er hiermit Schleier 
macher parallel argumentirt, hat er Loch eine viel 
miplichere Stellung gewählt; denn die von Schleierma⸗ 
cher zur Ableitung der philofophifcken Ethik vorhn 
durchgefehenen anderen Wiflenfchaften, die foecnlatie 
VNaturwiſſenſchaft und die Dialektik (Metaphyſit und Le 
gik in Einem), Haben doch eriftirt, mögen fie auch fehr 
wenig allgemein anerkannt und in allen Schulen gleid 
beſtinute Güte aufweiſen; hingegen dieſe theologifd 
chriſtlich⸗ evangeliſche fpeculative Theologie, KRosmeolegie 
und Anthropologie eriflirt noch gar nicht und der Berl. 
muß fie erſt aufftellen. Das thut er nun guf eine hödk 
intereffante Weife und entmwidelt religionsphiloſophiſche 
Säge, die nur den Wunfch übrig laffen, es möchte ber 
Bert, aus diefem Material eine förmliche Dis ciplin and 
führen und dieſelbe ohne Abertriebene Beſcheid enheit ge 
radezu als ein Gebande der Religionsphiloſophie dar 
geben; denn was er ſo intereſſant entwickelt, iſt ohne 
Zweifel nicht dloß das proteſtautiſche fromme Bewußtſeyn, 


theologiähe Eihil. 0721 


fondern bad reine Bewußtfeyn, zu weldkem das Gottes⸗ 
bewußtſeyn ſchon gehört. 
„Der ſchlechthin feſte Punkt,” heißt es 8. 7., „von 
welchem bie fpecuintine Theologie ausgeht, ift laut $.2. 
dad fromme Bewußtſeyn, für uns Theologen nicht erſt 
zu beweifen, vielmehr alled Theologiſche erſt begründen, 
nur daß wir ed Keinem, welcher außerhalb der Cheole⸗ 
gie feinen Standpunkt nimmt, aufbrängen.’ Gel das 
heißen, Die fubjectin empfundene Wahrheit genügt dem 
Theologen fo volllommen, daß er auf den Nachweis all 
gemein gältiger objectiver Wahrheit dieſes Sottesbewußts 
ſeyns verzichtet, fo bebanert der Recenſent ungemett, Daß 
ein Theologe, welcher fo wenig nöthig hätte, in ber Phi⸗ 
lofophie nur Dilettane feyn zu wollen, fo leicht die Er⸗ 
weißbarfeit des Ausgangspunktes dahingeſtellt ſeyn läßt. 
Aufdrangen wollen wir freilich die Anerkennung des Got⸗ 
tesbewußtſeyns Niemand; Jedermann aber und gerade 
den feine Berechtigung angreifenden Philofophen follten 
wir diefe beweiſen. Schleiermacher hat zwar in ſei⸗ 
ner Zeit gute Brände gehabt, die Dogmatik (nid 
aber die ganze Theslogie) als eine fhon um der geger 
benen frommen Gemeinſchaft willen zu eriftiren berech⸗ 
tiste Disciplin aufzuzeigen und in feiner ironifchen Weiſe 
und gu geben, wie ficher er fich auf Dogmatifhem Ber 
den fühle, obgleich er in demfelben ohne philoſophiſch⸗ 
objestiye Beweisfährung fich bebelfen müſſe; ja er naunte 
ſich nit ungerne auf dogmatifchem Boden Einen, ber 
von der Philoſophie nichts verſtehe und ihre Einmifchuug 
hier ſich verbitten mäfle. Uber andere Theologen, weide 
ſich an ihn anfchliegen, haben diefe Ironie nur gar zu 
buhräblih genommen und gewiffermaßen ein Verdienſt 
darin .gefucht, von der Philofophie ferne zu bleiben, um 
ja nichts in ihr zu verfichen. So war esbei Schleier, 
macher deun Doch nicht gemeint, und wenn er auch ſich 
große Mühe gegeben, nach dem Zeitalter eines alled Mög⸗ 


ı 


Mr Rote ° = 


ice in die chriſtilche Lchre zuſammenwerfenden Rationa- 
liömud, vorerft dad chriftlide Gemuth anf feinen reis 
chen Inhalt ſelbſt zurädzufüheen und das fubjectine 
Vertrauen auf feine eigne Frommigkeit und deren Bor- 
ausfegung zu beleben, fo hat er bach in den bie Dog⸗ 
matik einleitenden Lehrfägen aus der Apologetik, Eihif 
und Neligtonsphilofophie die Aufgabe anerkanut, daß 
die Principien und Grundvorausſetzungen des chriftiich 
Krommfeynd doch vor dem allgemeinen und philoſophi⸗ 
fhen Bewußtfenn gerechtfertigt werben müſſen und füns 
nen. Es ift fehr zu bedauern, daß er felbft feine eigent- 
Ihe Religionsphilofophte oder, da er biefe als eine 
fritifche Religionskande zu faſſen fchien, keine Apologe⸗ 
tik ausgearbeitet hat. Dieſe Aufgabe nicht zu löfen, 
kann doch unmöglich ein theologiſches Verdienſt ſeyn. 
Viele ſcheinen es aber zu glauben und die bloß ſubjec⸗ 
tive Begründung der chriſtlichen Wahrheit für ein blei⸗ 
dended Palladium zu halten. So ift ed denn dahin ge 
kommen, daß die Theologie fich immer mehr won aller 
fonftigen Wiffenfchaft trennt, und fo lange dieß bauert, 
die Philofophen verächtlich auf jene herabfehen, Berdie 
nen wir ed nicht, wenn wir unfere Wahrheit bloß fo 
begränden, wie der Mahamedauer die feinige etwa und 
behanpten faun? Im Zufammenhange wit dieſem von 
Schleiermader, der gerne ſtark auf die leichtere 
Seite ded Schiffes herübertrat, veranlaßten Mißver⸗ 
fändniffe flieht das Beftreben, im Chrikentkume immer 
nur die „eigenthämliche Beitimmtheit des frommen Seldſt⸗ 
bewußtſeyns, die befondere und für draußen Stehende 
nicht weiter zu begrünbende Beiftesrichtung” geltend zu 
machen, ale ob man einfach zu fagen hätte: wir bier 
find nun einmal individuell fo geftimmt, ihr Anderen Iris 
der nicht; Darum bleibt nichts übrig, als die Hoffunng, 
daß auch ihre noch im diefe unfere individuelle Stimmung 
eingehen werdet! Wenn bie Theologen, was für Laien 











theologifche Ethik. 743 


angehen mag, bloß diefe Stellung einnehmen, provoci⸗ 
ren fie es nicht, daß unterdeſſen die philofopbifchen Köpfe, 
welche ſich mit der chriftlichen Religion befchäftigen, ent» 
weder biefelbe ald ein bloß untergeordneted Phänomen 
in der Entwidelung des Geiſtes aufehen, oder bie Idee 
der abfoluten Religion fchlechtbin ftatt des gegebenen 
Ehriſtenthums aufzuftelen ſuchen? So fiellt man das 
Chriſtenthum ald bloße Erfcheinung und das Ghriften- 
thum als bie von der Kirche ganz verfchiebene relis 
giöfe Idee einander entgegen, Gerade ald einen bes 
deutenden Verſuch, diefem fchlechten Stande der Dinge 
ein Ende zu machen, begrüßen wir bie fo fcharf- als 
tieffinnigen religionsphilofophifchen Eutwidelungen bie 
fer theologifhen Ethik. Rothe darf es wagen, in ber 
Erfcheinung des Chriſtenthums empiriſch aufgefaßt bie 
fpecnlatio deducirte Idee der vollendeten Religion felbft 
aufzuzeigen, d.h. das Weſeun der chriftlichen Religion ale 
objectiv wahr darzuthun und die ſchwächlich ſuhjective 
Begründung zu Überfchreiten. Seine Leiftung wird hofs 
fentlih den theologifchen Muth beleben, zumal feine ganze 
Religionsphilofophie für unfere Zeit naturgemäß fowohl 
Schleiermadher, ald Hegel durchgearbeitet und 
beide zu benugen geftrebt hat. Diefes hohe Intereſſe, 
welches der Abfchnitt in Anfpruch nimmt, macht ed dem 
Neferenten zur Pflicht, bier den Gang ber rothe’fchen 
Speculation moͤglichſt vollftändig darzulegen, um badurch 
das Studium des Buches ſelbſt zu veranlaflen. 

Der Anfang ift zwar nicht fo gehalten, wie wir ihn 
wänfchten. „Das fromme Bewußtfeyn,” heißt es ($.7.), 
„it Gottesbewußtſeyn, fo daß fein ſchlechthin primitives 
Object Gott ift, in welchem implicite erft alle übrigen 
Objecte legen. Deßhalb erkennt es alle Objecte mittelft 
der Erkenntniß Gottes.“ Dieß ift offenbar ein zu raſches 
Fortſchreiten. Das fromme Bewußtſeyn (Gottesbewußt⸗ 
ſeyn) ſoll ja Selbſtbewußtſeyn ſeyn; ohne ze wird 

Theol. Stud. Jahrg. 1847, 


744 Rothe 


ed als erkennendes, ein Object auffaffendes , ſomit obiec⸗ 
tives anfgeführt. Weiterhin geht es eben fe raſch vor 
wärts. 

„Es verhält ſich cbenfo mit dem frommen Bewußi⸗ 
feyn des evangeliſchen Theologen. Da fey bie Erkenm⸗ 
niß Gottes nicht mehr bloß gefühlsartige Ahnung Get: 
sed, fondern zugleich verſtandesmäßiger Gedanke Gottes. 
Das fromme Subject befinde fich hier ſchon im Beide 
ded Gedankens Gotted, wie ed immer dazu gefommen 
feyn mag; nur fey diefer Gedanke noch nicht wirklich 
in gedantenmäßiger Korm gegeben, fondern in ber Zorn 
bloßer Borfiellung.” Wir fehgn, der Verf. geht den ph 
nemenologifchen ‘Weg in der Weife Hegel’. Schlei⸗ 
ermacher würde diefed Ausgehen vom noch verwerten 
gegebenen Bewußtfeyn am wenigfien Speculation, ehen 
Kritik nennen. Wir meinen, auch für unferen Berf. liegt 
nichts vor, das ihn nöthigt, dieſe Gottes vorſtellung ge 
zade dem chriſtlich⸗ oder gar dem enaugelifch » frommen 
Bewußtſeyn fpeciell abzunehmen. Er künnte fie eben fe 
gut ald allgemeines frommes Bewußtſeyn geltend machen. 
„Die Unangemeffenheit der Korm wolle aufgehoben, dit 
Berftellung von Gott. Begriff Botted werden durd 
Dialeftifche Reinigung des Gottesgedankens, wie er iM 
religiöfen Bewußtſeyn des Theologiſirenden unmittelbat 
vorkommt. In der unmittelbaren Vorſtellung ſey der 
Gedanke Gottes als der des Unbedingten, des Abſoluten, 
und mit einer Vielheit beſonderer poſitiver Beſtimmtheiten 
behaftet. Beides neben einander widerſpreche ſich; ſie 
ſollen ſtatt neben vielmehr in einander gedacht werden, 
alle als abſolute; dann befchränfen ſie an ſich die Adſe⸗ 
lutheit nicht. Im Begriffe Gottes muß die Abfelut 
heit und die Vielheit der beſonderen Beſtimmtheiten wit: 
gefeßt ſeyn.“ 

$.8, „Unverrüdbare Grundbeſtimmtheit ſey die Ab⸗ 
folutheit, in diefer liege die Afeität fchon, das Be 
dingtſeyn ſchlechthin durch fich feld, Auch die Ewig: 


theologiſche Ethik. 745 


keit ſey nichts Anderes, als die Abfolutheit, namentlich 
wie fie Afſeität it; auch Die Einheit, da eine Mehrheit 
von Abfolutem nicht denkbar iſt. Alle befondern Beſtimmt⸗ 
heiten, die der Abſolutheit wiberfprechen, müffen, fo 
wie fie unmittelbar norliegen, audzuftoßen und auf ihr 
reined Subſtrat zurückzuführen feyn.” 

„Go gelangen wir zum Gedanken Gottes ald dem 
abfoluten, reinen Seyn, d. h. dem Abfeluten unter ber 
Form des reinen, d. h. ſchlecht hin beRimmumnge» 
loſen Seynsz weiter läßt ſich das Negiren nicht fort⸗ 
ſetzen. — Gott iſt ſeyend, nicht etwa daſeyend, 
oder etwas ſeyend, er iſt weſendes Seyn, bad ab⸗ 
ſolute Weſen, das göttliche Weſen, abſolute Sub⸗ 
ſtanz ohne alle beſondere Beſtimmtheiten. Auf poſitive 
Weiſe kann es nicht gedacht werden, obgleich ed bad 
Poſitive im eminenten Sinne iſt; denn Denken iß ein 
Unterſcheiden. Gott als das häöchſte Wefen iſt der 
ſchlechthin verborgene Gott für und und flr ˖ſich ſelbſt; 
aber diefer Begriff Gottes iſt ein nethwendiger, fomit 
ein wahrer.” 

6. 9. „Ein wahrer, aber noch nicht Ber wahre Bes 
griff Botted. Der Bedankte des abfolusen, reinen Seyns 
it der des abfoluten Seyns als abfoluter Negativisät. — 
Es it das abfolute Nichts, nicht — abfolute Auf, 
fondern abſolutes Nicht et was, abfolute Fülle des Seyns 
als nicht etwas, Beftimmted, Beſonderes. Es if ſchlecht⸗ 
hin, aber es iſt nur, es iſt nicht irgend etwas. Der 
Begriff Gottes faßt ſich alſo urſpruͤnglich in der Formel, 
daß Gott ſey das abſolute Seyn unter der Form des 
Nichtetwas. Darin liegt 1) das Nichtetwas ſeyn, 2) aber 
an dem abſoluten Seyn geſetzt, nicht an dem Nichtſeyn. 
Es wird am Seyn das Etwasſeyn negirt, — das Nicht⸗ 
ſeyn des Etwas, welches das abſolute Seyn iſt, nicht 
ein Defeet des Seyns, ſondern abſolute Fülle des Seyns. 
— Darm muß auch das Etwasſeyn in ihm ſchlechthin 

50 * 


746 Rothe 


mit enthalten ſeyn, aber auf rein negative Weiſe, ald 
nicht geſetztes, nicht dafeyendes, nur in ihm enthalten; 
es ift in ihm, aber nicht ba, nicht wirklich, d. h. nur 
als mögliches, aber ale ſchlecht hin mögliches, po- 
tentia, ald Macht, die reale Möglichkeit des abſoluten 
Eiwas, die abfolute Potenz, Macht, rein al 
folche gedacht.” 

„Diefe abfolute Macht, rein als ruhende, if ein Bis 
Derfpruch, über den das Denen binaus mug. Die 
Macht Tann nur wirkſam gedacht werden als Kraft. 
So kann ber Begriff von Bott ald dem göttlichen We 
fen, d. h. ale dem abſolut reinen Seyn, nur ale ein fih 
ſelbſt negirender gefegt werben, der über ſich hinausgeht; 
abfolute Potenz muß als fich abſolut actualifirende Macht 
gedacht werben.” 

6. 10. „Gott iR zu denken ald das göttliche Wefen 
ober abfolut reine Seyn, welches fi feld zum Wer: 
den befiimmt. Da aber diefed Werden das abfolute, 
mithin fein Refultat, das Seyn, mit ihm felbft geſeht 
ik, fo it Bott ald Werden unmittelbar zugleid das 
Seyn, abfolute Einheit des Seyns und Werben, d. h. 
Leben, das abfolute Leben; er ift ber abfolute Proceh, 
ber Proceß feines ſich ſelbſt Actnaliſirens, Lebens 
proceß.“ 

F. 11. „JIndem Gott, ſich ſelbſt actnaliſirend, die 
Form ſeines Seyns als göttlihed Weſen überſchreitet, 
tritt er aus dieſer heraus, nicht in dem Sinne, daß er 
fie abthäte und aufhöbe; er hält fie deunoch feſt. Das 
Sichaufſchließen des abfoluten Weſens ift nicht ein Sic: 
aufheben; indem er fchlechthin actuell ift, hat er die Pr 
tenzialität in fich ſelbſt als durch fich felbft gefegte cansı 
sui, Er if der immanente Lebensproceß.” 

$. 12, „Bott ale das abfolute reine Seyn und alö 
ſolches die reine abfolute Potenzialität actualifirt ſich 
heißt: er ſetzt das potentia ruhend in ihm ſeyende adfo 


theologifche Ethik. 747 


Iute Etwas actu oder als wirklich, Er hebt feine numit- 
telbare abfolnte Identität mit fich felbft, feine abfolnte 
Einfachheit nnd Innerlichkeit auf, unterfcheidet fi von 
ſich felbft, d. b, feinen Inhalt, das abfolute Seyn, von 
feiner Form, der abfelnten Reinheit, d. i. Beſtimmungs⸗ 
loſigkeit, dadurch, daß er das in ihm beſchloſſene abo» 
Inte Etwas fi vorftellt, ſich bewußt macht, ed, und 
damit ſich ſelbſt, denkt. Er beftimmt fein Seyn zu ber 
neuen Beftimmtheit einerfeitd als Gedachtes, anderer, 
ſeits als Geſetztes. Das geſetzte Seyn iſt das Dafeyn, 
das gedachte Seyn iſt der Gedauke, Reales und Ide⸗ 
elles, beide bier als ſchlechthin in einander ſeyend, ba 
dad Gegen und das Denken abfolut find, Er febt fich 
ale das fchlechthin Gedanke feyende Dafeyn oder als den 
ſchlechthin daſeyenden Gedanken, als das ideelle Reale 
und reale Ideelle, als abſolute Einheit des Dafeyns und 
des Gedankens. Dieß ift der Begriff des Geiſtes. Gott 
beftimme ſich als Geift, fein actuelles Seyn ift fein Geiſt⸗ 
feyn.” 6.13. „Und zwar ald den abfoluten Geiſt.“ 

6. 14. „Inden Gott feinen abfoluten Inhalt den⸗ 
kend fegt und fegend denkt, unterfcheidet er fich in fich 
von fich ſelbſt, dirimirt die in ihm verfchloflenen Unter» 
fhiede, entläßt fie als Beftimmtbeiten des abfoluten 
Seyns ans feiner abfoluten Innerlichleit. Die immer 
volftändigere Entfaltung Gottes ale des abfoluten Geis 
ed aus fi heraus in feine befondern Beflimmtheiten 
if ein Entwidelungsproceh ohne alle Beſchränkung.“ 

6. 15. „Die fo herausgeftellten Unterfchiede find 
Beſtimmtheiten des Geiſtes, denn indem er fie durch 
feßendes Denken und dentendes Segen fchlechthin in Einem 
ans feiner reinen Iunerlichleit heraufführt, beftimmt er 
fie eben hiermit ale Geil, Es muß feyn eine fchlechthin 
volftändige Diremtion in die implicite in ihm liegenden 
Unterfchlede, nicht fo, daß fie aus einander fallen und 
endliche würden, fondern er vollzieht in dieſer Discretion 


/ 


748 Aothe 


wieder ihre Sontretion zur Einheit und in dieſer ſeine 
abſolnte Sdentifkt mie ſich febft als vermittelte, wieder 
hergeſtellte. Er ſelbſt iR es, den er ſetzend denkt und 
Ddenkend ſetzt. Indem er die Beſtimmtheiten ſeines We⸗ 
ſens ausbreitet, hebt er zugleich ihre Gefchiebenheit auf, 
Diremtion iſt zugleich Eoncrefion. So abfolut wieder in 
Yie Einheit zurüdgenommen, find die beſonderen Be 
Smmtheiten nicht bloße Beftinnmtheiten, fondern Bo 
mente, d. h. nicht ruhende Beſtimmtheiten, ſondern bie 
eined ald Proceß feyenden Seyns. Alſo Bott if ale 
der abfolute Geiſt die abſolut einheitliche abfolute Tote: 
tität des abfolnten Geiſtes.“ 

S. 16, „Die Form dieſes fidh in feinen Momenten 
vollſtaͤndig erplicirenden abfolnten Geiſtes, wozu er fid 
aus der Potenzialität actualifirt, iſt beſtimmt gedachtes 
md geſetztes Seyn, nicht ſelbſtdenkendes und ſelbſt⸗ 
ſetzendes; ſomit iſt es für ein anderes, es denkendes und 
es ſetzendes Seyn, für Gott, werkzengliches und organi⸗ 
ſches Seyn. Nur gebachtes und geſetztes Seyn if der 
Begriff Natur. Gott beſtimmt ſich in dieſem immanen: 
ten Proceß zur organiſchen Natur als einheitlicher To 
talität, d. h. zum abſolut geiſtigen Naturorganismus. 
Neben dem erſten Begriffe, dem göttlichen Weſen, ergibt 
ſich ein zweiter, dem zufolge Gott der abfolnt geiſtige 
Naturorganismus if, die göttlihe Natur, natura von 
nasci im Gegenfaße von factura, Machwerk, alfo von 
innen geworden, Materialität ift kein Merkmal der Ra 
tur an uud für ſich; das meint aber, wer eine Natur in 
Bott nicht zugibt.” 

$. 17. „Auch hier bleibt das Gott denfende Deuter 
nicht fiehen, Der Immanente Lebenſproceß hat noch eine 
Seite. Wenn Gott fi gur abfoluten Natur beſtimmt, 
zur Bellimmthelt des Gedankens uud des Daſeyns oda 
Des Gedachten und des Gefegten in Einem, fo beftimmt 
er fih dadurch auch zum Denkenden und Gegen 


theologiſche Ethik. 749 


ben in Einem — Sctzenddenken und Denfeubiehen, er 
fabiectisirt ſich ſelbſt, indem er ſich objectinirt, beſtimmt 
ih zum Subjecte” 

G. 18. „Kr nimmt ja die Diremtion in die Einheit 
zurück, vollzieht feine GelbRreflerion in fich felbfi und 
befimmt fi zum ſich ſeloſt [ubjiectivirenden ob; 
jectiven Geiſte, zum ſich ſelbſt denkenden Gedanken, 
gam Ideellen und Reellen. Dieß if das Gelbfibe- 
wußtſeyn — Gedanke als ſich ſelbſt denkender. Das. 
Bewußtſeyn gebt in fein Objest als in fein eignes Sub⸗ 
jet zuräd. Ju feiner Vollendung üt ed die Bernunft, 
Andererfeitd if das Geſetzte ale fich felbft ſetzendes Die 
Selbſtthätigkeit. In der Vollendung if dieß die 
Freiheit: Sich ſelbſt denkend ift er feiner ſelbſt ſich 
fhlehthin bewußt — abfolute Vernunft, und fih 
ſeibſt ſetzend will er ſchlechthin fidy ſelbſt — abfolute 
Freiheit, beide in abſoluter Einheit, d. h. fein Sich⸗ 
ſelbſtbewußtſeyn iſt Sichfelbfifegen und umgelchrt. So 
find beide die abfolute Perfönlidhfeit, abfolutes 
Inſichzurücknehmen des Bntfalteten. Damit ift die gätt: 
lihe Natur der abfolnte ——— ——— Indivi⸗ 
duation Gottes.” 

6. 19. „Perſonlichkeit iR einerfeits ber wefenslidhe 
Abflug der göttlichen Natur, amndererfeitd eine nene, 
für id) feyende Form des Seyns Gottes. In der Pers 
föntichfeit ift Gott Aber feine Natur hinaus bei ſich ſelbſt. 
Dieß dad Seyn Gottes unter dem Modus der Perfüns 
lichkeit.“ 

F. 20. „Die göttliche Perfönlichleit hat die gött⸗ 
lihe Natur gu ihrer Caufalität. Beide haben reales 
Seyn, feine für fich allein ift das wahre actuelle Senn 
Gottes. Eoncentration zur Einheit und. zugleich vollftän- 
dige Entfaltung zur Mannichfaltigkeit it die ſchlechthin 
einheitliche Doppelform. Gottes actuelled Seyn kann nur 
gedacht werden als Geiftfeyu unter der Form der Natur 


750 Rothe 


and der Perfönlichleit, als beibes feyend, Alles nud 
Eines, jened in Form der Entfaltung, diefed ber Con⸗ 
centration.” 

6.21. „So hat fih der Begriff eines dritten Mo 
dus des Seyns Gottes heransgeftellt, der des perfänlis 
hen Geiſtes, der abfoluten Perfönlichkeit. Bott iR zw 
shdgegangen in die nun vermittelte abfolate Iden— 
tität mit fich ſelbſt, die abfiracte Einfachheit if eoncrete 
Derfönlichkeit, lebendige Individuität.” 

6. 22. „Das Verhaltniß der beiden Modi oder Kor 
men bes. actuellen Seyns oder des Geiſtſeyns Gottes, 
der göttlichen Natur und der göttlichen Perföntlichkeit, iR 
das der abfoluten Wechfelwirfung ; dieß if die con: 
crete Lebendigkeit Gottes, Einsſeyn von Judividni⸗ 
tät und NRaturorganismud.’ 

6. 23. „Als die abfolnte Einheit der göttlichen Re 
tnr und der göttlichen Perſönlichkeit iſt Gott Perſon, 
die abſolute Perfon, der offendare Gott. Mit dieſen 
Begriffe ($.24.) iſt der Begriff Gottes gefchloffen. Der 
($. 25.) volle Inhalt des frommen Gotteögebanfene if 
wieder in den Begriff Gottes anfgenommen; die befon 
deren Beftimmtheiten Gottes haben ſich als folche, zu 
denen er fich felbft beflimmt, ausgewieſen und werden 
nun als folche auch gedadyt. Somit ($.26.) gibt es eine 
breifahe Form des Seyns Gottes: 1) bad 
göttlihe Wefen, 2) die göttlihe Natur, 3) die gött⸗ 
liche Perſönlichkeit, jede ein reales, wicht bloß 
modaliſtiſch. Nur indem Gott wefentlich dieſes Dreies 
if, ift er das abfolute Wefen, alle drei ewig, jeden Zeit: 
verlanf ausfchließend, ohne alle Priorität des reinen 
Modus. Die fey nicht der kirchliche Trinitätébegriff, 
aber dennoch ein wirklich teinitarifcher Gottesbegriff; 
nicht drei Perfouen in Gott, noch drei Subjecte.’’ 

6. 27. „Aus dem biöher entwidelten Gottesbegriffe 
ergibt fi eine Gruppe von Eigenfhaften Gottes, 





theologiſche Ethi. 781 


d. h. von eigenthümlichen Modalitäten feines Seyns, 
aber rein immanente, anf dem Verhältniſſe Gottes zu 
ſich ſelbſt beruhende, auf dem Berhältnifle, in welchem 
in Gott fein perfönliches Selbſtbewußtſeyn zu den im⸗ 
manenten Brundbeftimmtheiten feines Weſens fteht, d. h. 
zum göttlichen Wefen, zur göttlichen Ratur und zur götts 
lichen Selbfithätigleit. 1) Das göttlihe Wefen reflec⸗ 
tirt ſich im göttlichen Selbſtbewußtſeyn ale die Allge⸗ 
nugfamkeit, Beflimmtheit Gottes, causa sui zu feyn, 
Afeität als im Selbfibewußtfenn gefeßte; fofern Gott fidy 
weiß als fich felbit fchlechthin bedingend und von nichte 
Anderem bedingt, genügt er fich fchlechthin. 2) Die gött⸗ 
liche Natur reflectirt fih im göttlichen Selbſtbewußt⸗ 
feyn als die Seligkeit, Beſtimmtheit Gottes, einen 
abfoInten Naturorganismus zu haben, als im Selbſtbe⸗ 
wußtfeyn geſetzt; Gott weiß ſich als fchlehthin Seele 
ſeyend, d. h. als ſchlechthin angezogen mit einem fchlecht- 
bin befeelten Leibe, er ift felig; Seligkeit Gottes if feine 
abſolnte Lebendigkeit, ald im Selbſthewußtſeyn geſetzt. 
3) Die ‚göttlihe Selbſtthätigkeit reflectirt fih im 
göttlichen Selbſtbewußtſeyn ale die Herrlichkeit, Bes 
ſtimmtheit, abfolut felbfithätig und frei zu feyn, als im 
Gelbfibewußtfeyn geſetzt.“ — 

Hier können wir flille fiehen und auf diefen erften 
Theil der religionsphilofophifchen Entwidelung zurück⸗ 
fehen, Die bialektifche Bewegung iſt einfach und klar; 
fie mit der der hegel'ſchen Phänomenologie genauer zu 
vergleichen, Tönnen wir hier nicht beabfichtigen.. Bon 
der im theologifisenden, d. h. fih über den Inhalt ber 
Frommigkeit befinnenden Frommen wird ausgegangen, 
wie fein Bewußtſeyn den Gedanken Gottes fihvors 
Kelle. Gedanke und Borfteflungsform find aber ein Wi⸗ 
derfpruch,;die Borftellung will Begriff werden. In 
der Borftelung iſt der Gedanke Gottes der des Abfolus 
ten, Unbebdingten, und doch mit einer Bielheit befonderer 


752 Rothe 

Beimmungen behaftet. Diefe beiten Setzungen wider 
ſprechen ſich, der Wiverfpruc muß aufgehoben werden 
in ben Begriff Gottes. Grundbeſtimmtheit war bie 
Anfolutheit Gottes und muß Baſis bleiben, indem ale 
ihr widerfpeechenden Beftimmtheiten aus dem unmittels 
baren Gottesgedanken anögeftoßen werden. Durch bie 
fed Berfahren kommen wir zum Gedanken von Gott als 
dem reinen, ſchlechthin beſtimmungslofen Seyn. Gott 
IR das Seyn, ohne etwas zu feyn, er ift das göttliche 
Weſen, das Nichte im Sinne von Nicht; Eiwas, wichts 
Befonderes, nichte Beſtimmtes, aber nicht als Null, fon 
dern als Seyn. — Die dialektiſche Reinigung des vor⸗ 
gefundenen Gottesgedankens in ihrem erften Stabium 
dehrt alfo Gott ald das göttlihe Wefen, ald dad 
Seyn ſchlechthin erfennen. — Hier kann man nicht chen 
bleiben, denn im Gedanken des abfolusen Seyns als 
des Nichtetwasſeyns liegt das Allerpoſitivſte in der ne 
gatioken Form. Man muß alfo die pofitive Form bafür 
fuchen unb befimmt ed als die Fülle alles Seyns, ſo 
daß au dad Etwasſeyn, Objectfeyn, in ihm ſchlechthin 
enthalten feyn muß, aber auf rein negative Weife, als 
ein nicht dafependes, ale ein nur mögliches, als 
Potenz und Macht. Gott ift das abfolute, reine Seyn 
beißt alfo, poſitiv ausgedrückt, er iſt die abfolute Macht 
rein als ſolche. Hier haben wir den innern Widerſpruch; 
:abfolnte Macht rein als folche, d. h. unwirkſam, iR ein 
nicht fefzuhaltender Begriff; fomit wird die Madıt ale 
Kraft befiimmt, der abfiracte Gedanke von Gott als 
dem göttlichen Wefen Creinen Seyn) geht über Mich ſelbſt 
hinaus in den der ſich abfolut actualifiremben 
Macht. — Das reine, abfolnte Seyn beſtimmt fich alie 
zum Werden als abfolutem. Einheit ded Seyns und 
Werdens ift das Leben, Gott der abſolute Erben 
proceß, aber ald immanenter. Im dieſem Lebensprocefe 
actualifirt fi Gott, fett das potentia in ihm enthaltene 








theologiſche Ethik. 753 


abfolnte Etwas actu, ſtellt es fich vor, denkt ed und da» 
mit fich ſelbſt. Er befiimmt dadurch fein Seyn als Ges 
dachtes und Geſetztes, als Gedanke und Dafeyn ſchecht⸗ 
bin in einander. Er ſetzt ſich als dad Gedanke feyende 
Dafeyn oder dafeyenden Gedanken, kurz ald Geift, ale 
den abfoluten eilt. Indem Bott fich actualifirt, ſtellt 
er die Bekimmtheiten des Geiſtes heraus und nimmt fie 
doh auch in fich zurück, bleibt bei ſich ſelbſt; er felbft 
iſt's, den er fegend denkt und denkend ſetzt; dieſes Ge⸗ 
dachte und Geſetzte iR die göttlihe Ratur, der gött⸗ 
lihe Raturorganiemud Go gelangen wir vom erfteu 
Begriffe, vom göttlihen Wefen, zum. zweiten, gur 
göttlichen Natur, Setzt aber Gott ſich SFeibk, 
fo beſtimmt er ſich ald feßender und denkender, ins 
dem er ſich objectivire, beflimmt er fih zum Gubs 
jecte, Selbfibewußtfeyn, Bernunft; er felbft 
thut das, ift Selbftchätigkeit und Freiheit, Perſön⸗ 
lihfeit. So gelangen wir zum dritten Stadinm des 
Suttedbegriffe : Bott ift die ap folnte Perfönlichkeit, 
und damit hat fich der volle Inhalt des frommen Be: 
wußtſeyns vermittelt wieder hergeftellt. Allerdings ift 
das Reſultat Fein anderes, als das von der frommen 
Borftellung gemeinte; diefe Dialektik hat den Werth ei: 
ned innern Sichfelbflläuternd des unmittelbaren Gotteös 
gedankens; fie zeigt, daß deffen Widerfprüche keine feft 
bleibenden Widerfprüche find, logiſch und dialektiſch ſich 
befriedigend entwickeln laffen. Die dialektiſche Läuterung 
unfered Gottesgedankens wirb als Eins mit der dialekti⸗ 
fchen Entwidelung Gottes felbft gefeht, was nur dadurch 
möglich wird, daß man die wefentliche Identität des 
menfchlichen und des göttlichen Geiftes anertennt. Die 
von Segel hergenommene Dialektik würde zum bloßen 
Spiele, wenn nicht auch das Grundprineip Hegel's mit 
vorhanden if. Der Berf. hat fih über fein Verhält⸗ 
niß zu Hegel nicht ausdrücklich erklärt, es liegt indeß 
$. 34 — 38, angedeutet vor. Möge er in einer Religions» 


75% Rothe 


pbilofophie weiter zurücd gehen und aus dem Weſen des 
Geiftes felbft die Rothwendigkeit der Gottesidee darthum, 
d. h. objectio wiffenfchaftlich erweiſen. 

Wir laffen ben zweiten Theil feiner Entwidelung 
folgen, welcher bemüht ift, zu zeigen, wie Bott, bie 
ber in feinem immanenten Lebensproceffe aufgezeigt, 
transeunt wird und die Welt hervorgehen läßt. Es 
it wohl zu beachten, wie forgfältig der Berf. die ganze 
Gottesidee zu Stande zu bringen gefucht hat, ohne dazu 
der Welt zu bedürfen, fo baß Gott rein an fidh ſelbſt, 
nicht erfi an der Welt ſich dasjenige Object feßt, ohne 
welches er nicht Subject und Perföntichkeit feyu fan. 
Damit will fi der Berf. desjenigen Pantheismus ers 
wehren, ber mit dem frommen Bewnßtfeyn im Wider⸗ 
ſpruche fteht. 

6,238. „Mit dem fich zur abfolnten Perfönlichkeit 
Beftimmen ſchlie ßt Bott feinen immanenten Les 
bensproceß ab. Er ſetzt ſich zugleich die Rothwen- 
digkeit einer nah außen gehenden Wirffamkeit, 
durch die er außer ſich etwas Neues wirkt, d. b. eine 
Welt fhafft. Die Schöpfung if mit dem ſich ſelbſt 
zur Perfönlichkeit Beſtimmen gegeben. Indem er ſich als 
Ich beſtimmt, denkt und feßt er fein Rihtich, ein Aus 
dered, weiches Richtgott if. Zwar entfieht dad Ich 
durchs immanente LUnterfcheiden von Subject umd 
Object, aber hiermit iſt zugleich der Gedanke feines 
Nichtich mit gegeben; jenes kann nicht feyn ohne dieſes; 
das Nichtich if Bedingung des fih ald Ich Setzens. Aber 
mit dem Geben und Denken des realen Nichtich iſt Got⸗ 
tes Abſolutheit aufgehoben, das Nichtich iſt Schrante 
Gottes. Er muß aber feine Abfolutheit wieder herſtellen, 
indem er das bloße Nichtich ſeyn des Nichtich anf 
hebt, indem er es ald wefentlich zugleich Erſelbſt denft 
und ſetzt, als fein Nichtich, in welchem er feld ik. So 
it ed von ihm unterfchieden, aber nicht fein Begenfaß, 


theologifihe Ethik. 755 


er ift in ihm als feinem Andern fchlechtbin bei fich ſelbſt. 
Er gibt dem Richtich die Beftimmtheit der Adäquatheit 
für ibn und der Einheit mit ibm, fo daß er au 
ihm immer noch fein Nichtich, ein wirlliched Richtgott 
bat, aber nur ein Nichtih, in welchem er ſelbſt fein 
Seyn bat, d. h. fein anderes Ich. Diefer Proceß, im 
welchem Bott, indem er feine eigne Perfönlichleit voll⸗ 
sieht, zugleich einerfeitd fein Nichtich, audererfeitd aber 
ſich ſelbſt in diefem Nichtich ſetzend denkt und denkend 
ſetzt, iſt der Proceß der Schöpfung, und jenes Nicht⸗ 
ih bie Welt. Nicht Vorausſetzung, ſondern Productt 
des Ich ift das Nichtich des abfoluten Geiſtes. Nicht die 
Perföntichheit, nur die endliche hat ihr Nichtich rein au⸗ 
Ber fih, die abfolute Perſönlichkeit kommt fchon durch 
den immanuenten Proceß heraus; wird doch auch das 
endlihe Ich nicht durchs Nichtich, fonft wäre das Thier 
ein Ich; aber das Thier kann die Welt nicht als fein 
Nichtich von fich uuterfcheiden, weil es fich felbft nicht 
ale Ich befigt.” | 

6. 29, „Die Rothwendigleit fchöpferifher Wirkfams 
feit Gottes, einer Selbftmittheilung an Anderes, ift bie 
Liebe, in Bott keine bloße Eigenfhaft, fondern eine 
immanente, wefentliche Beftimmtheit, das die immanenter 
und trandennten verfnüpfende Band. Allgenugfamkeit, 
Seligkeit, Herrlichkeit — und dennoch Liebe.” 

6. 0. „Die Schöpfung ift freilich ein ſchlechthin 
nothwendiger Act Gottes; fo wahr Bott Bott if, 
muß er Schöpfer feyn ; daß er die Schöpfung auch hätte 
unterlaffen koͤnnen, ift die falfche Vorftelung von Will⸗ 
für, ine perfönliche, moralifche Nothwendigkeit, aber 
die Freiheit bejahend, nicht ausfchließend. Er ſchafft 
nothwendig, aber dieſe Nothwendigkeit if für ihn eine 
innere, abfolute Freiheit; in der Liebe liegt die Einheit 
von Nothwenbigkeit und Freiheit. Nur nehme man biefe 
Nothwendigkeit nicht im pantheiftifchen Sinne, d. b. als 


756 NRothe 


Mowent des Selbſtoo Lendungaͤpreceſſes Gottes, ſondern 
als eine notwendige Wirkſamkeit des in feinem Seyn 
ſchlechthin durch ſich ſelbſt vollendeten Gottes. Es gibt 
keinen Gott ohue die Welt, aber Bott iſt er nicht duch 
die Welt. Sich ſelbſt genug ik Bott, aber wefentlid 
infofern, als in ihm ſelbſt die Möglichkeit und Nothwen⸗ 
digkeit der Welt mitgeſetzt if.” 

6. 31. „Der Begriff der göttlidgen Weltichöpfung 
iM, daB Sort fein Nichtich febt, die Welt, fo zwar, daß 
ex dieſes fein Auderes fi felb adäquat ſetzt. Ein Nicht 
ich Gottes, in melden er fein Seyn hat, if denkbar 
nur ald ein wer dendes, aber ein nicht abfolutes Wer⸗ 
den, ein Werben, das nicht abfolgt mit dem Seyn iden⸗ 
tiſch iſt. Die Schöpfung iR ein in der Zeit ih vol 
ziehender , ſucceſſiver Act Gottes.” 

F. 32, „Indem Gott, die Welt als fein Nichtid 
ſetzend, fie ich felb adäquat ſetzt, ſetzt er fie als das, 
was er ſalbſt iſt. Er ift etwas nur unter den Modis 
feined actuellen Seyns, feines Seyns ale Geiſt, d. i. 
alt göttliche Natur und Perfönlichleit, Unter dem Mo 
dus feines rein potenziellen Seyns als das goͤttliche We 
fen ift er nichts; dieſem erſten Medus feines Seyns kann 
er alfo die Welt nicht adäquat ſetzen, foudern nur des 
beiden andern Modis; er feßt die Melt nur, fofern er 
actu iſt, Geiſt if; als göttliched Weſen aber behält er 
fein reines Seyn abfolut außerbaib der Welt.” 

6 33. „Die Welt oder Greatur if als Nichtgott, 
ale das Andere des abfoluten Seyns, jedeufahe Nicht⸗ 
fegn, zugleidg aber ein Seyn, ſomit ein ale Seyn ge 
ſetztes Nichtſeyn, Sepn unter der Form ded Nichtſeyns. 
Das Nichtſeyn ale Beſtiumtheit am Seyn ift das Ende, 
Grenze, begrenztes, endliched Sepn; aber ale dieſes wil 
fie doc, dem abfoluten Seyn Gotted adäquat gedacht 
werden, bad kann fie nur ald unendliche. Die Urend⸗ 
lichkeit it eine eben ſo wefentliche Beſtimmtheit der Erea⸗ 


theologiſche Ethik. 737 


tur, als bie Enblichleit, Die Kreatur ald Welt if ein 
unendliches eundliches Seyn, unendliche Vielheit 
von endlichem Seyu. Als Welt endlichen Seyns iR fie 
dad Andere Gottes, als eine unendliche Welt eublichen 
Seyns kann fie Gott adäquat ſeyn und bie Fülle feines actuel⸗ 
im Seyns in fi aufnehmen; fie if unter der Beſtimmt⸗ 
heit dee Enblichleit, was Gott unter der Beſtimmtheit 
der Abfolntheit. Unendlichkeit iſt nicht Abfolutheit, nur 
ihr Analogon innerhalb der Sphäre des Relariven.” 

5. M. „Bott fegt dieſes unendliche endliche Seyn 
als das, was er felbft nstu ift, als Geiſt, als eudli⸗ 
hen Seift, wenn vollendet, dans ald unendlichen end⸗ 
lichen Beil. Im creatürlihden Beifte kann Gott fein 
Seyn haben, die Geiſter können in einander feyn un⸗ 
befchadet ihrer Selbfländigkeit devyaszog, ddsmekrag.” 

6. 35. „Da Gott der abfolute Geiſt ik .unter ber 
Beſtimmtheit der göttlichen Natur und göttlichen Perſön⸗ 
lichleie, fo ſetzt er den enblichen Geiſt unter der Bes 
Rimmtheit der Natur, d. i. der einheitlichen Totalität 
des aus ſich ſelbſt heraus werdenden, nur gedachten und. 
gefeßten werkzeuglichen oder organifchen Seyns in ber 
voßftändigen Ausbreitung feiner Momente; audererfeitt 
der Perſsnlichkeit, d. i. der vollfländigen Concen⸗ 
tration biefer feiner ‘Momente zu einer ſelbſtdenkenden 
und fegenden concreten @inheit, fo daß wie in Gott 
jedes des andern Ganfalität ift ald Werchfelwirtung. Die 
Welt ($.36.) in ihrer Vollendung ift der unendliche end» 
liche Geift unter dem doppelten Modus des Seyns, ale 
Ratur und Perfönlichkeit zur Ginheit verknüpft. In dies 
jer Welt ($.37.) hat Bott ale göttliche Natur und Pers 
fönlichleit fein Seyn, als jene in der creatürlichen (geis 
Rigen) Natur, als diefe in der creatürlichen Perſön⸗ 
lichkeit, fo daß fein innerweltliches Seyn ald göttliche 
Kater und SPerfönlichkeit ſchlechthin Eins find. Inner⸗ 
halb unferer irdifchen Weltfphäre iſt dieſe ereatürliche 
Perſon der Menfch, ber geiftige Menfch ale Menfchheit.” 








758 Rothe 


F. 358. „Schöpfung iſt Weltwerbung Gottes, dee Gei⸗ 
ſtes, einerfeitö creatürliche Raturwerbung ber göttlichen 
Natur, anbererfeitd creatürliche Perfönlichleitwerbung 
der göttlichen Perfönlichleit, — creatürliche Perfouwer; 
bung Gottes, bed Geiſtes, innerhalb der irbiichen Schoͤ⸗ 
pfuugsſphaͤre Menſchheitswerdung. Dieſer Proceß ($.9.) 
muß ein ſich vollendender, ſein Ziel vollſtaͤndig erreichen⸗ 
der ſeyn, zugleich ein ſchlechthin unvollendbarer, unend⸗ 
licher. Dieſe Antinomie führt auf organiſch⸗ einheitliche 
Vielheit von concentrifchen beſonderen Schöpfungsfrei- 
fen, die fih aus einander beraudgebären, in denen, ein 
jein betrachtet, der Proceß wirklich abfolnt zu Stande 
kommt unter einer eigenthümlichen Bebingung , fomit res 
lativ; ſucceſſiv unter immer vollommneren Bedingungen, 
aber ein Reſt von Inadäquation bleibt unendlich.” 

F. 40. „Endlos ift die Schöpfung aud) anfang% 
los zu denfen, benn wenn Bott feinen Anfang hat and 
als ewig in feinem inneren Lebensproceſſe vollendet gedacht 
werden muß, Damit aber zugleich feine ſchöpferiſche Wirkſam⸗ 
keit nothwendig mit gegeben iſt, ſo muß die Schöpfung eben 
fo aufangslos feyn, wie Gott felbkl, jeder einzelne 
Puunkt des -cseatürlichen Gepnd hat zwar einen Anfang, 
nicht aber die Schöpfung ; der fhöpferifche Act ſetzt den 
Anfang bed Seyus, dieſes Segen felbft aber hat feinen 
Anfang.” 

Mit dieſem Punkte der religionsphilofepbifcen 
Debuctionen hat der Verf. wieder eine Station erreicht, 
den Schöpfungspegriff, und wir können einen 
Ruͤckblick auf diefe Debuction werfen. Das alte Problem, 
wie aus Gott bie Welt hervorgehe, it mit großer Klar⸗ 
heit wenigſtens fo befriedigend als ſonſt irgendwo geloͤſt. 
Die dialektiſche Berisrung, Bott erſt an der Welt und 
durch die Welt und von ihr abhängig Bott werden zu 
laſſen, ift forgfältig vermieden, indem ſchon der immas 
nente Lebensproceß in Bott das Subject» und Perfäw 





— 72 . —>T z u RM. 


m m I, = 2 


A — 


theologiſche Ethik. 7159 


Iichleitfegn erreicht hat. Der Berf. finbet gerabe in ber 
göttlichen Perfönlichkeit den Begriff, in welchem ber im⸗ 
manente Lebensproceß mit bem emanenten oder trands 
eunten ſich vermittelt. Es läßt fidy nur fragen, ob nicht 
die fon angewandte Art ber Dialektik confequenter 
fagen würde, im Begriffe der göttlichen Perfönlichkeit fey 
felb noch eine aufzuhebende Zweiheit enthalten, theils 
das bei fich felbft Seyn und die birimirten Momente wier 
der in fih Zufammennehmen, theild aber doch auch das 
Verhaͤltniß zu einem zu feßenden Nichtich. Statt beffen 
wählt der DBerf, eine etwas andere bialektifhe Form; 
die abfolute Perfönlichkeit habe das voraus, ſchon 
abgefehen vom Nichtich im immanenten Proceffe zu Stande 
zu fommen, nur die enbliche Perfönlichkeit hingegen fey 
in ihrem Zuftandefommen abhängig vom Nichtich. Das 
rum heißt es dann weiterhin, mit diefer immanent fchon 
vollendeten Perfönlichkeit ſey zugleich gegeben bie Noth⸗ 
wendigkeit einer nach außen gehenden Wirkſamkeit. Zwar 
entftehe das {sch durchs immanente Unterfcheiden von 
Subject und Object, aber das könne nicht zu Stande 
fommen, ohne daß in Folge davon Gott zugleich ein 
Nichtich von fich unterfcheide. Nicht Borausfeßung, fon» 
dern Product des Sch fey das Nichtich bed abfoluten 
Geiles. Diefe Prärogative bed abfoluten Sch wird aber 
doch wieder etwas limitirt durch die Andentung, daß 
auch das endliche Sch, genan betrachtet, nicht Product 
bes Nichtich ſey, fondern ſich potentialiter fchon als Sch 
befige, und darum dann actu fich Dem Nichtich gegenüber 
als Ich unterfheide. Es fragt ſich nun, ob dieſes Zur 
ſtandekommen der Perfönlichkeit Gottes fchlechthin nur 
durch den immanenten Proceß wirklich fo fireng müfle 
behauptet werden, oder ob der Verf. nicht eben fo viel 
erreichen fünnte, wenn er wenigſtens die ideale im Dens 
ten Gottes geſetzte Welt als Nichtich Gottes mitwirken 
ließe zum Vollendetwerden ber göttlichen ————— 
Theol, Stud. Jahrg. 1847, 





760 Rothe 


Bleibt ja doch der Unterſchied immer fliehen, daß nur 
das unendliche Ich fein Nichtich felbr ſetzt, alfe auch ſo 
fich felbft zur Perfönlichkeit beftimmen würde, Diefe Lehr 
form erſcheint am fo angemeflener, da die Schöpfunge: 
action nicht als eine zeitlich aufangenbe, fondern ale 
gleich ewig wie der immanente Proceß gedacht wirt. 
Wie der Berf, dei biefer Lehre von der mit Gott, aber 
von ihm immer ſchon gefeßten Welt dennoch fehr be 
flimmt die Abhängigkeit der Welt von Gott gewahrt hat, 
fo dürfte ein aualoged Berfahren die ideale Welt mit ei⸗ 
Moment nennen im Zuſtandekommen ber göttlichen Per: 
fönlichkeit, ohne daß ja darum Bott erft durch die Wei 
geſchichte zu ſich ſelbſt kaͤme und in feinem Bottfeye von 
der Welt abhängig würde, wie der fchlechte Pantheismus 
behauptet. Sollte diefe Bemerkung unrichtig feyn, ſe 
wäre wenigftend dem gerügten zugleich eine dem gan: 
zen Gange der befolgten Dialektik angemeſſenere Fors 
zu geben. — Zu biefer Bemerkung gehört eine ander. 
Der Berf. hebt fchön hervor, wie Bott, obgleich in fi 
ſelbſt allgenugfam, felig und herrlich, dennoch die Welt 
ſchaffe, und findet das beide Seiten Verknüpfende in der 
Liebe. Aber ob dieſes als rein begrifflider Gedankt 
Stich halte, oder mehr nur ein für dad fromme Be 
wußtfeyn erhabener und fchöner Gedanke fey? „Sichfelt 
mittheilen an Anderes” fegt ja bad Andere fchon irgend 
wie voraus, daher denn Schleiermader in rein be 
grifflicher Lehre den Ausdruck Liebe nicht von Bott andı 
fagen wollte. Der Berf. kann das freilich, fofern Gottet 
ewige Greationsthätigkeit ewig Gegenftände der fie: 
hat, aber wo von dem Dafeyn biefer Gegenflände neh 
abfirahirt wird, Tann die Liebe nicht verwendet werben. 
Diefe Doppelbemerkung trifft freilich nicht den Bel 
ſpeciell, fofern feine Debuction der Schöpfung jedem 
anderen Verfuche, dieſes Problem zu Löfen, ſich an dit 
Seite fielen darf; fie gilt der Schwierigfeit des Broblemd 








theologifhe Ethik. 761 


ſelbſt, und will nur andeuten, wie wir bier das abfolnt 
Befriedigende immer nur fuhen. Sehr klar find die 
Erörterungen über die unverweigerliche wiflenfchaftliche 
Pflicht, den Begriff einer Schöpfung in einem Stadium 
der Zeit ale eine bloße Vorftelung anzufehen. 
Es folgt nun $. 41. die Darlegung einer „neuen 
Slaffe von göttlichen Eigenſchaften, welche mit 
dem Borhandenfeyn der Welt durch Gott ald gemorbener 
und noch im Werben begriffener gegeben find für Gott 
im Berhältniffe nach außen bin oder zur Welt, bie re: 
lativen oder transeunten. Sie ſeyen rüdfichtlid 
auf Gottes Seyn überhaupt effengielle, auf den Unter 
fchied feiner befonderen modi bezogene hypoſtatiſche. 
Uebrigens fey hier die Welt noch allgemein zu betrady 
ten, d. h. abgefehen von der fittlihen Sphäre in ihr. 
Die effenzieilen relativen oder trandeunten Eigen⸗ 
Ihaften feyen zunähft negative; Bott if durch bie 
Welt nicht befchränft, d. h. unendlich, und zwar un: 
ermeßlich, d. h. nicht durch den Raum beſtimmt, frei 
von aller Getheiltheit ded Seyns, und unveränders 
li, d. h. nicht durch die Zeit beflimmt, frei von aller 
Succeffion in feinem Seyn. Bon pofitiven, eſſenziel⸗ 
Ien, trandeunten @igenfchaften ergibt ſich hier eine einzige. 
Die göttliche Liebe beftimme fich zur fchon fegenden Welt 
ale Die göttlihde Güte, vermöge welcher er der Creatur 
nah Maßgabe ihrer Empfänglichkeit fich felbft mittheilt. — 
Die bypoftatifchen, relativen Eigenfchaften find Ei⸗ 
genfchaften der beiden modi, der göttlichen Ratur und 
Perfönlichkeit. Sm modus der göttlihen Ratur ergibt 
fih die Allgegenmwart als operativa, daß im Berhälts 
uiffe zur Welt Gotted Seyn unter dem Modus der Nas 
tur abfolute Wirkſamkeit auf die Welt it, fein abfoluter 
Naturorganidmus in abfoluter Wirkfamkeit auf fie ber 
griffen und die Welt fihlechthin Object diefer Wirkfams 
keit. Auf Die göttlihe Perfönlichleit beziehe fi ein 
51 *+ 


762 Rothe 


Daar von Eigenfchaften, aufs Selbſtbewußtſeyn nämlich 
die Allwiffenheit undanf die Selbſtthätigkeit bie All⸗ 
macht; jene ald abfolute Wirkſamkeit des Selbſtbewußt⸗ 
ſeyns Gottes in feinem Berhältniffe zur Welt, bie Welt 
fhlechthin Object des göttlichen Selbſtbewußtſeyns, fo daß 
das göttliche Selbſtbewußtſeyn zugleich abfolutes Weir 
bewußtfeyn if. Die Allmacht fey abfolute Wirkfamteit 
der Selbfithätigkeit ‚Gottes im Berbältniffe zur Welt, zu 
gleich abfolute Weltthätigkeit. Allwiffenheit und Almacht 
ſeyen die concreten Kornen ber Allgegenwart. Die Un 
veränderlichkeit Botted ſey oft fo verflanden worden, 
als ob Gott von der Zufändlichkeit ber Welt nicht af 
eirt würde, was uur eine Unvolllommenheit, Stumpf: 
heit wäre. Vielmehr fey nur zu lehren, baß bie Affec⸗ 
tionen, weldhe Gott von den Zuftänden ber Welt m: 
pfängt, in ihm felbft nicht einen Wechfel von Zuſtänden 
nach fich ziehen, denn ihm ift die Welt nicht bloß fo ge 
geben, wie fie jedesmal tft, fondern auch in ihrer fünf 
tigen Bollendung; auch if fie fchlechthin in feiner Ge⸗ 
walt, er if feined Zweckes ſicher; endlich ift er von je 
dem Geſchöpfe, wie es in der Totalität it, berührt.” 
Stellen wir bie göttlichen Eigenfchaften zuſammen, 
wie fie vor Berüdfichtigung der fittlichen Sphäre im Sy⸗ 
fteme des Verf. ſich ergeben, fo zeigt ſich in anderer 
Form, was ehedem in der Unterfcheidung von Eigen 
fhaften primi und secundi ordinis bei den Dogmatifern 
gelehrt wurde, In der Grundbeſtimmtheit ber Gottesiden, 
in der Ubfolutheit, feyfchon gegeben (8.8.) die Afev 
tät und die Ewigkeit, auch die Einheit und Einfad: 
beit, Alles nur verfchieden geftaltete Ausfagen über dad 
reine, abfolute Seyn, fomit zur Lehre vom göttlichen 
Weſen gehörig. Sehr richtig wird bemerkt, daß bieftd 
reine Seyn, wenn von allen befonderen Beftimmtheiten, 
von allem Etwasſeyn abzufehen iR, auf pofltive Beilt 
nicht gedacht werden kann. Diefes, alled befondern 


theologifche Ethik. 763 


Etwasfeyn Iedige, reine Seyn wird bann ein zwar 
wahrer, aber nur abftracter Begriff Gottes genannt; 
dad Etwasſeyn müſſe fchlechthin im reinen Seyn, das die 
Füße alled Seyns ift, enthalten feyn, aber nur ale mög- 
liched, potentia, ald Macht, abfolute Macht, und 
jwar als thätige, d. h. Kraft, abfolut actualifirende 
Macht (8.9). So ſey Gott das göttliche Weſen, wel⸗ 
ches fich felbft actualifire oder zum Werden beftimme, alfo 
dad Leben. Er feßt fich felbft, unterfcheidet fih von 
fih felbft, indem er das in ihm befchloffene abfolute Ets 
was fich vorſtellt, fich bewußt macht; er beftimmt fich als 
Subject» Object, Einheit bed Daſeyns und des Gedan⸗ 
kens — Geift, abfoluter Geiſt. Erplieirt ber Geift ſich 
in feine Momente, in gedachte® und geſetztes Seyn, fo 
beflimmt er ſich zur geifligen Natur. Diefe fetend 
denfend, beitimmt er fih ald Subject, Selbfibe> 
wußtfenn, andererfeitdald Selbſtthätigkeit. Nun 
it die Perſönlichkeit fertig. Alle bisherigen, im 
immanenten Lebensprocefie Gottes vorlommenden Bes 
immtheiten find fomit immanente, ontologifche, eigens 
thümliche Modalitäten feined Seyns ($. 27.). Die Brunds 
beitimmeheiten find: 1) dad göttlihe Wefen, 2) die 
göttlihe Natur, 3) die göttliche Perfönlidr 
keit. Durch den Nefler diefer Grundbeſtimmtheiten im 
görtlihen Selbftbewußtfenn entfieht vom Weſen aus die 
Aligenugfamteit, von der Natur aus die Selig» 
feit, von der Perfönlichkeit aus die Herrlichkeit. 
Eine eben fo klare, ald originelle Entwidelung! Irgend⸗ 
wie find diefe Beflimmtheiten Gottes immer in ber gött⸗ 
lihen Weſenslehre, genauer für Gott in feinem Imma⸗ 
nentfegn verwendet worden; nur daß man bie abfolute 
Potenzialität, Macht, mit der trandeunten Allmacht oft 
verwechfelt hat. — Richt minder klar und originell wer: 
den dann die auf die Welt bezüglichen, fomit relativen 
und srandennten Eigenfchaften dargelegt. Sie feyen 


764 Rothe 


theilö effenzielle, theild Hypoftatifche, d. h. auf die 
befondern Modi, göttliche Natur nnd Perfönlichkeit, bes 
zogene. Die Örundanfhauung iR alfo: das göttliche 
Weſen, noch abfiract, wird concret im Modus der göttli« 
hen Natur und Perfönlichkeit. Die effenziellen (abſtrac⸗ 
ten) Eigenfchaften feyen zunähft negative, Unends 
lichkeit, in Beziehung auf den Raum Unermeßlich 
feit,aufdieeitiinverändertihfeit; aldpofitive 
ergebe fich nur die Güte ald Wirkfamkeit der Liebe auf 
die fchon feyende Well. — Wir fommen bier auf die 
Frage zurüd, ob ed richtig geweſen fey, die Liebe nü 
her zu den immanenten Cigenfchaften zu ftellen Der 
Berf. muß nun ausnahmsweiſe bier das ſchon Vorhanden⸗ 
feyn der Welt betonen und die Güte darin finden, daß 
Gott der fhon vorhandenen Creatur fich felbft mittheilt. 

Als hypoſtatiſche relative Eigenſchaften im 
Modus der Natur wird die Allgegenwart, im Mo 
bus der Perfönlichkeit die Allwiſſenheit und AlL 
macht gefebt, wieber fehr originell, aber im Syſteme bes 
Berfaflers richtig begründet. 

Weiterhin folgt nun $.42. die Weltregierung 
Gottes, noch abgefehen vom Sittlichen. „Sie vollzieht 
fih ale Weltplan, d.h. in der ewigen Anfchauung Got» 
tes von ber Idee der Welt, Anfchauung des Ziels und 
der Entwidelungeftufen. Goͤttliche Weltregierung iſt die 
ſchlechthin allwiſſend allmächtige Wirkſamkeit Gottes, ver⸗ 
möge welcher er das Spiel der relativ felbfländigen crea⸗ 
türlichen Potenzen in der Entwidelung der Welt aus 
fich ſelbſt heraus fo leiter, daß fich eben mittelft Deffelden 
ber unverrüdbare Weltplan in fletiger Annäherung an 
das Ziel ſchlechthin unfehlbar realifirt. — Ein fchlechthin 
fiheres Borherwiflen der Handinngen auch der freien Ge⸗ 
fchöpfe ſey Gott nicht zugufchreiben, da diefe der Natur 
der Sache nach nicht gewußt werden Fönnen; Borberde 








theologiſche Ethi. 765 


ſtimmung mäfle feyn, aber nicht des concreten Details, 
fondern der Entwidelungspuntte, Das Ziel ftehe feft, 
fo wie die organifche Reihe der an fi nöthigen Stu⸗ 
fen nnd Knoten der Entwidelung ; der weitere Verlauf 
fey dem freien Spiele überlaflen, und wie willfürlich ſich 
das Spiel der freien creatürlichen Urſachen bewege, Gott 
Burchdringe mit feinem Alles zuſammenſchauenden Wiſ⸗ 
fen ihr für ihn nicht verworrened Gewimmel, falle das 
Berhältnig zum Weltzwede ficher auf und habe es in 
der Gewalt, dad Spiel jeden Augenblild zu wenden. 
Den perfönlichen Ereaturen freie Entfaltung der von ihm 
in fe gelegten Selbſtbeſtimmung geftattend, behalte er 
fie in der Dand feiner Allmacht; das eigentlihe Reſul⸗ 
tat ihrer freien Bewegungen fey fein Wert. Nur fo gebe 
es ein Beten, Fatum und Zufall aber nicht; fo nur 
fey die Welt, das Andersfein, wirklich, nicht doketiſch.“ 

Aber da der Berf. doch auch nur ein Spiel der 
freien Urfächlichleiten ſetzen kann, für welches Ausgang 
und Hauptinoten fchlechthin prädeterminirt feyen, fo fragt 
ed fich, ob eine in feinem Sinne bofetifche Welt nicht ans 
nehmbarer wäre, als diefe zwar wirklichere d. h. von. Bott 
Härter getrennte, in welcher doch nichts ald nur ein 
Spiel ald das von Gott Getrennte herauskommt. Es 
fcheint fogar, als ob Gott felbft mit folchen Ereaturen 
nur fpielen könnte. Auch diefe Bemerkung will nur dars 
auf binmeifen, daß wie das Hervorgehen der Welt, fo 
das freier Urfächlichkeiten. ein Problem if, deſſen Loſung 
die Philofopbie noch fo wenig gefunden hat, daß bie 
Anfchauung des Verf. füglidy neben die fonft vorhandenen 
Verſuche fih ftellen darf. 

Der Berf. gibt und nun eine förmliche Loomogos 
nie in höchſt merfwürbiger Eutwideluug, fo daß wir 
fie fat nicht ind Kurze zufammendrängen und doch vers 
ſtändlich erhalten können, Wir müffen ed aber verfuschen, 


. 


766 Rothe 


um ben ganzen Gang bie zur Ableitung des Begrifid 
des Sittlichen zu verfolgen. 

6.43, „Die Schöpfung ift der Act der göttlichen 
Perſönlichkeit, denn fie iſts, welche denkt und ſetzt, 
aber fie vollzieht den Schöpfungsact durch die götts 
liche Natur, an weldher fie den Gefammtorganidmus 
ihrer Wirkſamkeit hat.” 9.44. „Der primitive Akt if bie 
Contrapofition des Nichtichs Gottes; die Sreatur wird 
beftimmt ale dafeyendes Nichtfeyn, Nichtgeift, d. b. reine 
Materie, ſchlechthin unorganifirt, Schatten Gottes, abfolut 
Nichtnatur und Richtperfönlichkeit, daſeyende Einheit des 
abfolut Nichtgedachten und Nichtgeſetzten. Materie if 
das abfolut Nichtgedachte, Nichtideelle, aber als gedacht 
und gefeßt, daſeyend. Es iſt der Gedanke des bingli 
hen Seyns der Dinge, des Etwasſeyns, des beftimm- 
ten Seynd ohne allen Inhalt. Dieß gedachte Nichtding 
ift gefeßt, wirklich da, ed it der Raum, die abftracte, 
leere Form der Dinge, Ort für diefelben, Leere. Anderer⸗ 
feits ift die Materie das abfolute Nichtgeſetzte, Nichtreale 
aber als gedacht und gefeßt, daſeyend, bloße abſtracte 
leere Form des Dafeyne, ohne irgend daſeyenden Inhalt, 
ald gefeßt, ald da. Dieß ift die Zeit ale abftract leere 
Korm des Daſeyns, das abfiracte Nacheinander, abfracte 
Zahl Null, Die reine Materie it alfo der Raum und 
bie Zeit al& reine beide in Einem, leer von jedem Inhalte, 
unendliche Zeit und Raum, denn jede Grenze wäre Be 
ſtimmtheit. Sie find denkbar, aber unvorftellbar, nat 
auf negative Weife deukbar.“ 

6.45. „In diefer reinen Materie gibt fidy Bott alt 
göttliche Natur und Perfönlichkeit im Berfolge des Shi: 
Yfungeprocefied fein Seyn. In ihe denkt und fegt Gott 
Endlichkeit, d. h. Beſtimmtheit des Nichtſeyns an dem 
Seyn. Diefe Grundbeftimmiheit behält die Greatur in 
allen ihren Entwidelungen; ſie bleibt endlich, räumlich 
fowohl als zeitlich, Vielheit Einzelner nach und neben 





theologiſche Ethik. 767 


einander. Wird die Creatur weiter geführt, ſo werden 
Raum und Zeit aufgehoben, nicht an ſich, aber als Schrauke, 
fie werden eine überfleigliche Grenze, Auch an Geiſt ges 
worbenen Gefchöpfen bleiben Raum und Zeit als die For; 
men ihre& Seyns, aber nicht mehr als befchränfende 
Formen, der Raum burchdringlich, die Zeit beharrlich.” — 
5.46. „Raum und Zeit find auch Beflimmtheiten der fchös 
pferifchen Wirkfamkeit Gottes; fie ift eine räumliche und 
zeitliche, d. h. eine fih im Raume vertheilende und im 
Zeitverlauf vollziehende, ertenfive und fucceffive.? 

6.47. „Die reine Materie ift fchledhtweg nur von 
Bott gefegt, von ihr abwärts if Gottes fchöpferifche 
Wirkſamkeit kein bIo Bes Segen der Ereatur mehr, fons 
dern Entwidelung derfelben, Setzen neuer Bildungen 
ans ihr felbft heraus vermöge eines ihr immanenten Pros 
ceſſes. — Die Ereatur ift eine Vielheit von verfchiedenen 
Stufen creatürlichen Seyns, von aus einander heraus er; 
wachſenden Stufen und ſich immer höher hebenden Bildungs; 
formen, Hierdurch ift fie Natur, es gibt feinen Sprung in 
ihr.” 9.48. „Die [höpferifche Wirkfamteit it ein Erheben 
ber jedesmal fhon gegebenen Ereatur zu einer höhern 
Formation. — Gott ſetzt diefe höhere Formation ald Res 
fultat der Differenzirung der frühern Stufe, und zwar 
geht dieß fort, bis die Breatur zur vollen Idee entwidelt 
it, d.h. zur Ratur und Perfönlicyfeit. Aber wegen ber 
Unendlichkeit der Schöpfung if diefe Vollendung der 
Creatur nur die einer einzelnen Greaturs oder Beltfphäre; 
wir befchränten und auf die irdifche, — Die höhere Stufe 
geht immer aus der Auflöfung der nächft niebrigern hers 
vor, fo daß diefe das bedingende Subſtrat bleibt. Aue 
den chemifch zerfeßten Elementen erhebt fich das Mine: 
ral, aud dem verwitterten Mineral die Pflanze, aus der 
vermweiten Pflanze das Thier; fo endlich and dem in die 
Elemente zurüdfintenden materiellen Menfchen der Gei⸗ 
flesmenfch, die Beifteswelt.” 6.49, „Obwohl Entwidelungs: 





768 Rothe 


proceß der Ereatur aus ſich ſelbſt heraus, iſt es ein wirt. 
licher Schöpfungsprocch ans Wirkſaukeit Gottes, ein 
nicht abfoluter Akt, in welchem ein abfoluter mit gefegt 
tft. In den Anfängen neuer Reihen erfcheint ald Wun⸗ 
der, was abwärts bloße Entwidelung if.” S.50. „Die 
Welt iR ihrer Idee nur als die zur Geiſtigkeit vollen: 
dete angemeflen; baher muß jede einzelne Weltfphäre 
bis zu ihrer Vollendung, an fich betrachtet, auch ald Gans 
zes unvollkommen feyn, aber diefe Unvolllommenheit iR 
kraft der fchöpferifchen Wirkſamkeit in fletigem Aufgeho; 
benfeyn begriffen, ein nur proviſoriſches. Mithin beſteht 
die volfländige relative Bolllommenheit der Welt in 
jeden ihrer Punkte; dieß die wahre Theodicee, ein 
noch nicht fertiges Wert kann nicht vollkommen feyn.” 

Nachdem wir die Fodmogonifchen Priucipien bes 
Berf, dargelegt haben, mäflen wir noch gebrängter die 
Dialektik des Schoͤpfungsproceſſes felbft folgen laſſen $. 51. 
u. f. w. 

„Sofern die Schöpfung ein Entwidelungsproceß der 
Greatnr aus fi felb heraus IR, ift das Probuft eine 
Natur, alle Ereatur it eine Natur. Die Scala der in 
jeder Sphäre ſucceſſiv hervortretenden Ereaturfinfen er: 
gibt ſich aus der dem Begriffe der Materie immanenten 
Dialeltil, Die reine Materie geht ihrem Begriffe zu: 
foige n Raum und Zeit ald die ihre immanenten Bes 
Rimmtheiten auseinander, die aber zugleich in unmittel⸗ 
bare Einigung gefept find in der Aeonenwelt, denn 
diefe ift die Indifferenz von Raum und Zeit, Die Aeo 
nenwelt differenziert fich in fich felbft, indem Die in ihr 
unmittelbar geeinten Momente, Raum und Zeit, ſich ge 
genfeitig beſtimmen und fo mit einander vermitteln. Der 
durch die Zeit beflimmte Raum if die Ausdehnung, 
die duch den Raum beftimmte Zeit Die Bewegung. 
Beider Indifferenz ift der Aether oder dad Chaos. 
Der Yether differenzire fih, indem die in ihm zmmittel- 


theologifche Ethik. 769 


bar geeinten Momente einander beftimmen; die burch 
Bewegung beftimmte Ausdehnung iſt die Attraction 
und Repulfion, die Welt der Atome, die Durch Aus⸗ 
Dehnung beflimmte Bewegung ift Die Schwere. Beiber 
unmittelbare Einigung iſt das Weltgebäude, die Welt 
der gravitirenden Materie. Das MWeltgebäude diffe⸗ 
renzirt fich, indem Attraction mit Repulfion und Schwere 
fi gegenfeitig beſtimmen; jene durch dieſe beſtimmt 
it der Stoff, dieſe, dur jene beftimmt, ift die 
Kraft, Beider Indifferenz it die elementarifche 
und, hemifche Ratur. Diefe ſelbſt wieder differenzirt 
fih, indim ihre beiden Momente einander beſtimmen; der 
durch die Kraft beftimmte Stoff it der Körper, bie 
durch den Stoff befiimmte Kraft it die Individuität 
oder Geftalt. Beider Indifferenz ift die mineralifche 
Natur, die ſich weiter differenzirt; der durch die Indi⸗ 
viduität (Geſtalt) beſtimmte Körper if der Organis⸗ 
mus, die durch den Körper beftinnmte Individuität If 
das Leben. Beider unmittelbare Einigung ift die ver 
getabilifhe Ratur, die fidy weiter differenzirt; der 
durch das Leben befimmte Organismus ift der Leib, 
das durch den Organismus beftimmte Leben iſt Die Seele. 
Beider Indifferenz it das Thier ale noch unent 
wideltes. In dieſem treten weiter Die indifferent gegebe: 
nen Momente, Leid und Geele, gegen einander, wodurch 
ber Leib der befeelte, die Seele aber die beleibte wird. 
Da aber die Seele felbft zweifeitig ift, Bewußtfeyn und 
Thätigleit in fich eint, fo wird die gegenfeitige Beſtim⸗ 
mung von Leib und Seele eine Doppelte Reihe. Der Leib, 
wie er durch die Seele ald Bewußtſeyn beftimmt wird, 
iR der Sinn, durch die Seele als Thätigkeit aber die 
Kraft; umgekehrt die Seele, ald Bewußtſeyn vom Leibe 
beftimmt, ift die Empfindung, die Seele, ald Thätig- 
keit vom Leibe beftimmt, iſt der Trieb. So zur wirflichen 
Einheit vermittelt, entfiehbt aus diefen Momenten das 
entwidelte Thier” — 





770 Rothe 


F. 62 f. „Als die wirkliche Einheit von Leib und 
Seele iſt das entwickelte Thier der vollendete Na— 
turorganismus; dieß iſt ein abſchließender Begriff. — 
Aber die Dialektik des Schöpfungéproceſſes geht weiter. 
Die thierifche Seele enthält Bewußtfeyn und Thätigkeit 
nur unmittelbar geeint ald Indifferenz in fih. Auch diefe 
muß vermittelt werden, indem beide Momente gegen eins 
ander treten und fi beflimmen. Dad Bewußtfeyn von 
der Thaͤtigkeit heftimmt, ift dad Selbſtbewußtſeyn, 
es denkt nun aus eigener Spontaneität, Berftand; 
bie Thätigleit aber, vom Bewußtfeyn beflimmt, ift die 
Selbſtthätigkeit, Wille Die unmittelbare Eins 
gung von Selpfibewußtfeyn und Selbfithätigkeit iſt die 
Perſoͤnlichkeit, ein Selbſt, ein Ich, ein Subject; 
Selbſtbewußtſeyn und Selbfithätigkeit, in der Seele wirt; 
lich vermittelt, geben die vollendete Seele. — Die 
Derfönlichleit hat die Seele zur caufalen Bafis, iſt ur 
fprünglich das Product bed vollendeten animalifchen Ras 
turorganismus, fomit materieller Abkunft, genetifch be 
trachtet; aber an ſich betrachtet, iſt fie ein Nicht⸗ ober 
Uebermaterielles, Selbſtbewußtſeyn und Selbſtthätigkeit, 
ſchlechthin ideell. Durch bie Perfönlichkeit iſt der Ges 
danke ale wirklich für ſich ſeyender gegeben; fie geht ale 
Product des vollendeten Raturorganiömud über den Ber 
griff der Materie hinaus, iſt ein geiftartiges gefchöpfliches 
Seyn. — Darum ift ($. 71.) die Perfönlichkeit eine neue 
Stufe, die Materie ift Über fich felbft hinausgeführt, hat 
ihr Gegentheil aus fich geboren. Der Schöpfungsproceß 
war bie zur Stufe der elementarifchen Ratur überwie 
gend ein Auflöfungeproceß, von da an Überwiegend ein 
Berfnäpfungsproceß, ein Organifationsproceh. Die Ber 
fönlichkeit beruht auf fpecififcher Temperirung des mates 
vielen finnlichen Lebens, fo daß das durch dieſes gefebte 
Ich ih gegen daflelbe behaupten, ed von ſich abhal⸗ 
ten faun, .bie Autonomie des materiellen Lebens ift ein 





theologifche Ethik. 771 


gefchläfert. Im Thiere behauptet fich die feelifche Lebens» 
concentration noch nicht, wird vom Strome des finnlidhen 
Lebens durchbrochen. Im Thiere ift der Leib der Orga⸗ 
nismus der Seele, bier hingegen iſt Leib und Seele, d.h. 
der befeelte Reib Organismus für die Perfönlichkeit, uns 
mittelbar die Seele, durch fie aber auch der Leib.” 6.75, 
„Mit der Perfönlichkeit if die Macht der Selbſtbe⸗ 
Rimmung geſetzt. Sie ift bedingt 1) durchs beſtimmte 
Heroortreten eines Selbſt oder Sch in dem Einzelſeyn, 
als GSentralpunft heraustretend aus der Gefammtmafle 
der daſſelbe conflituirenden elementarifchen Punkte, ſich 
beſtimmt von diefen unterfcheidend; denn nur wo die 
Individuität und der Naturorganismus wirklich ausein⸗ 
andertreten und ein Sch wird, ift Selbftbefiimmung mög, 
ih. Die Perfon ſetzt fich ald dad Nichtmaterielle ih⸗ 
rem Raturorganismud entgegen und damit dem gefamm- 
ten materiellen Naturganzen. 2) Durch die relative Un, 
abhängigfeit des Ich oder der Perfönlichfeit vom Natur⸗ 
organismus, gegen deffen Affectionen fie ſich bejahend oder 
verneinend verhalten kann. 3) Daß dem {ich dab Bers 
mögen einwohnt, auf den Naturorganismus beſtimmend 
einznwirten, ihn ald Werkzeug zu gebrauchen. — So 
it das perfönliche Geſchöpf das fich felbft beftimmende, 
d.h. feine materielle Natur ift in die Macht feiner Der, 
fönlichkeit gegeben (relativ nemlich).” 

„Diefe Selpfibeftimmung ift aber noch nicht bie wirk⸗ 
liche Freiheit, welche erſt ein Product des fittlichen Pro: 
ceſſes ift, wohl aber ift fie deren Brundbebingung. Sie 
ift die bloß formale Freiheit, das pfychologifche Ver⸗ 
mögen der Willkür, bei jeder beftimmten Sollicitation 
fidy affirmativ oder negativ zu verhalten.” 

Nachdem der Verf. diefe dialektiſche Kosmogonie bie 
zur creatürlichen Perfönlichkeit fortgeführt hat, kommt 
er näher zur Sonftruction des Sittlichen. ir wols 
len ihm auch durch dieſes Iehte Stadium folgen. (6.76 ff.) 





- 77% Rothe 


jenige Geeintfeyn von Perfönlichkeit und menfchlicher Ra 
tur, welches volfländig Product der Perfönlichkeit ik, 
fen es nun in normaler oder abnormer Weife. 2) Das 
Uns oder Nichtſittliche, d.h. dasjenige Geeintſeyn, 
weiches ein noch unmittelbares ift, nicht von Gelbfibes 
flimmung der Perfönlichkeit her, fey ec nun in normaler 
oder abnormer Weife. 3) Das Sittlichgute, db. i. die 
in normaler Weife durch Selbſtbeſtimmung vermittelte 
and deßhalb normale wirkliche Einheit der Perfönlichkeit 
nnd der menfchlihen Natur, 4) Das Sittlihböfe, 
widerfittlih abnorm buch yerfünlide Selbftbeftimmung 
vermittelte, Darum abuorme wirkliche Einheit — als Pro⸗ 
duct entweder des fich von der menſchlichen Ratur Bes 
fimmmenlaffend ber Perfönlichleit oder des fie abnorm 
. Bellimmens der Perfönlichkeit. . Maximum der fittlichen 
Vollkommenheit ift alfo das vollländige Zuſammen⸗ 
feyn des eigentlich Sittlihen und des Sittlichguten; Mar 
ximum der Unvolllommenheit ift das vollfländige Zufam: 
menfeyn des eigentlid Sittlichen und bed Sittlichböfen; 
in der Mitte liegen näher der Vollkommenheit dad Mar» 
ximum des Sittlichguten bei dem Marimum des Unſittli⸗ 
chen, fodann Minimum des Sittlihböfen bei dem Maris 
mum des Unfittlihen, nach der Unvolllommenheit bin 
das Marimum des Sittlichböfen beim Minimum bed Un: 
fittlihen, dann Minimum des Sittlihguten beim Mari» 
mum bes linfittlichen.” 

Hier ift das zweite Hauptſtück der Einleitung, die 
Gruudlegung der theologifchen Ethik, beendigt. Die thes⸗ 
logifche und kosmogoniſche Deduction gehört zu dem Bes 
deutendften, was die chriftliche Theologie neuerer Zeit 
als folche religionsphilofophifch confruirt hat. Der Res 
ferent wollte es kurz vorlegen, um auf baffelbe aufmerf- 
fam zu machen; eine Beurtheilung‘ aber würde ibn zu 
weit führen. Er nimmt lieber die Ableitung der Eibif 
feld auf und muß wiederholen, daß ber in ber neuern 








theologiſche Ethik. 775 


Philsſophie beimiſche, dialektiſch gewandte Verf. nicht 
nöthig hätte, nur Dilettant in der Philoſophie ſeyn zu 
wollen; daß ferner „die Auffindung des Begriffe des 
Sittlihen rein ans theologifchen Mitteln, um ihn nicht 
von der Philoſophie entichnen zu müflen,” eben doch 
durch eine philofophifche Debuction bewerkſtelligt wurde, 
wie wir denn wirklich nur den Begriff des Gittlichen, 
nicht fpeciell des chriſtlich Sittlichen erreicht ſehen. 

Schr intereffant ift wieder das Verhältnis Rothe’ 8 
und Schleiermader’s in der Ableitung unfered Bes 
griff. Beide haben, auf vorhandene Refnltate oberer Wiſ⸗ 
fenfchaften nicht fußend, diefe Wiſſenſchaften ſelbſt erſt 
durchlaufen und ihrem eigenthümlichen Syſteme gemäß 
nen entworfen. Beide gelaugen zu einer ſehr verwandten 
Ableitung bed Begriffs des Sittlichen, naddem fie aus⸗ 
geholt haben beim abfoluten Seyn. Die bdialektifche 
Bewegungsweife aber ift verſchieden; Rothe bat fidh 
die hegel’fche angeeignet, Schleiermacher befolgt feine 
eigene, Diefe formale Verfchiedenheit in der dialektifchen 
Bewegung ruht auf einer verſchiedenen Aufhauung und 
Behandlung der Begenfähe. Bei Rothe wird jede Ein, 
heit in zwei noch unvermittelt in ihe liegende Momente 
andeinander gelegt, fobald fie aber, zum Begenfaße, ſich 
ſpannend, auseinander getreten find, mäflen fie doch für 
einander feyn, auf einander wirken, einander beftimmen ; 
jeded Moment nun, beflimmt durchs andere, wird ein hö⸗ 
beres, 3.8. die reine Materie, das Etwasſeyn ohne 
allen Inhalt, iſt Raum und Zeit als imdifferent, unmittel 
bar in einander; fie treten auseinander, fpannen fich zum 
Gegenſatze, koönnen aber nicht von einander laffen, beftim- 
men alſo einander; Raum, durch die Jeit beftimmt, wird 
Ausdehnung, Zeit, durch den Raum beftiumt, Bewer 
gung. Diefe beiden höheren Momente, obgleich fie aus 
einem gefpaunten Gegenſatze durch Wechfelwirkung beider 
Blieder entfichen, werden zunächſt wieder — in 

Theol. Stud. Jahrg. 1847. 





rn Rothe 


einander gedacht und ihre Inbifferemte Einheit Aether, 
Chaos genannt; aus diefer Indifferenz ſpannen fie ſich 
wieder ale Gegenſatz, beſtimmen einauber und erheben 
einander wisder zu höheren Momenten, die Dann wieder 
zuerſt old indifferent in einander eine beſtiumte Stufe 
des GSeyns ausmachen, u. f.w. Die [hleiermader- 
{he Dialektik hingegen, wo fie ein Gegenſatzverhält⸗ 
niß erreicht hat, läßt einfach je das eine Glied Dad an- 
dere heftimmen, flellt eines unter bie Potenz des andern 
und gewinnt dadurch neue, höhere Begriffe Nach Schle i⸗ 
ermacder „if jeder Gegenſatz gegeben in der Zwisfäl- 
tigfeit dad Liebergewichtö hier des einen, dort des andern 
Gliedes.“ Dann folgt auch bei ihm ein Ineinander beis 
der lieder, auffaßbar wiederum vom einen ober vom 
andern aus, 3.8. dad Ineinander bed dDinglichen und 
geiftigen Seyns als dingliches if die Natur, ale gei- 
ſtiges aber die Vernunft. Die That des Geifligen 
in der Natur if die Gehalt, die des Dinglichen im 
der Beruunft ift das Bemußtfeyn — Diefe beiden 
Arten von Dialektik find nicht nur formal verfchieben, 
auch die Refultate fehen ſehr verfchieben aud. Bei He 
gel wird das erſte Moment fa nur Mittel zum böhern 
wmeiten, bei Schleiermadher bleibt ed und dauert neben 
dem böhern fort. Daher die wichtige Differenz, bag we: 
nigſtens Diele, die mit Hegel’d Logik gperiren, die From⸗ 
migleit night mehr berechtigt, wenigitens nur alö eine 
niedrigere, aufgehobene. Geiſtesſtufe fichen laffen, we bie 
Wiſſenſchaft erreicht it, während Schleiermacher beide 
gleich berechtigt neben einander hat, — Kehren. wir zu 
unferm Gegenftaude zurüd, fo begnügte ſich Schleierma- 
cher mit einer weit einfachern Ableitung des ethifchen 
Begriffe, Rothe hat eine weit complicirtere, dur di 
Naturphiloſophie hindurch gehende. Dabei hat der letz⸗ 
tere fich zicht beguügt mit dem Gegenſatze won Ber: 
nunft nad Natur, fondern fehreitet meiter fort zum 


theologiſche Ethik. 777 


Gegenfabe ber Derfönlichleit und Natur, was wies 
ber zufammenhängt mit der Art, wie dort Gott ale das 
abfelute Seyn, bier aber ale die abfolute Perfönlichkeit 
sehaßt wird, Der Begriff der Perfönlichkeit iR bei Schleis 
ermacher vernachläffigt geblieben, Rothe hat ein ent⸗ 
ſchie denes Berdienf gerade hier ſich erworben; dort iſt 
Perſönlichkeit als ein Beſchraͤnktſeyn, bier als das Boll 
endetſeyn des Geiſtigen aufgefaßt, darum dort nothwen⸗ 
dig Gott abgeſprochen, hier zugeſchrieben, ohne daß 
darum Schleiermacher Gott niedriger auffaßte; im Ge: 
gentheile ſprach er die Perföntichkeit, une weil er fie ale 
ein Befchräntendes auffaßte, dem göttlichen Weſen ab, 
sicht als fey in Bott weniger, fondern mehr, als das, 
was er Derföntichleit nannte. Abgeſehen von biefem Un⸗ 
terfchieße, daß die Nerfönlichleit da eintritt, wo Schleis 
ermacer die Bernunft ſtehen ließ, findet ſich ſonſt volls 
Rändige Aualogie im Ableiten des ethifchen Begriffe. Die 
Bernunft, geeint der menfchlihen Natur, bei Rothe bie 
Derfönlichleit, geeint dem menfchlichen Raturorganismus, 
iſt das letzte fchöpferifche Product des Weltproceſſes, zu⸗ 
gleich über das Natürliche hinaus; nur kehrt fich Der 
Proceß um, das von der Natur PBrobucirte, die Vernuuft 
oder Perfönlichkeit, wirkt von fich aus anf die Natur, 
and: dieß ift der ethifche Proceß. Die Analogie geht 
noch weiter, bis in die Definition des Ethiſchen. S chle i⸗ 
ermader fagt: das Ethiſche iſt das Jueinander von 
Bernunft und Ratur, durch Thätigkeit der Vernunft ges 
wirft; Rothe: es ift die Einheit der Perfönlichkeit und 
der materiellen (heelifchen, leiblichen und Außern) Nas 
tur ald Zugeeignetſeyn diefer an jene. 

Nun kommen wir zu der Frage zurück, ob der De: 
griff des Sittlicheu auch Bas Böfe umfaffe 
Darüber iR fein Gtreit, dag die Sphäre fittlicher Weſen, 
die fittliche Welt, amd nur fie, beides in fich hat, das 
ſittlich Bute und Böſe; ferner, daß diejenige Einigung 

52" 





718 Kothe 


von Bernunft ober Perfönlichleit und Natur, welche durch 
den fchöpferifchen Raturproceß hervorgebracht, ſomil eine 
unmittelbar gegebene iſt, der natürliche Menſch, wo 
nicht das Sittliche ift, vielmehr diefed erſt beginnt, wenn 
in der natürlichen Einigung die. Vernunft oder Perföns 
lichfeit das Beſtimmende und Thätige wird; endlich iſt and 
darüber Fein Streit, daß, wo ber fittliche Proceß einge 
treten ift, neben dem Onten, eigentlich Gittlichen, and 
dad Böfe vorkommt. Die Frage iſt nur, ob auch das 
Böfe fpeculativ begriffen und deducirt werben kann vor 
oder mit dem fittlichen Begriffe feld. Schleiermadger 
bat nach Bieler Urtheil hierin die Aufgabe nicht befriebi- 
gend gelöfl. Er ficht im Gegenfage des Guten und Bis 
fen (Entwurf eines Syſtems der Sittenlehre, ©. 91.) 
etwas, „das in jedem einzelnen fittlichen Gebiete vorfommt 
ald das Gegeneinanderfiellen deſſen, was barin ald In⸗ 
einander und was ald Außereinander von Vernunft und 
Ratur geſetzt it; das Böfe fey an fidy nichts und komme 
nur zum Borfcheine mit dem Guten zugleich, inwiefern 
dieſes ald ein werdendes gefeht iſt; es fey zum poſitiven 
der negative Factor im Procefle der werdenden Einigung, 
ein Regativer Ausdrud für das urfprüngliche Nichtver⸗ 
nunftfeyn der Ratur, bezogen anf das wirklich gewor⸗ 
dene Ineinander beider, d, h. auf den fittlichen Proceß. 
Der Gegenſatz von gut uud böfe koͤune alfo nicht vor 
der Ethik feitgeftellt werden, fo daß fie auf ihm ruhte, 
fie fey vielmehr die Entwidelung deſſelben.“ Er iſt alfo 
nicht vor, oder hinterethiſch, etwa in ber Theologie aber 
Kosmelogie fhon vorhanden, „wie wenn es einen Be: 
gengott ober eine Antivernunft gäbe, and welcher dad 
Böfe herfloͤſſe.“ Im der That, muß man ein böfes Pria- 
cip ale ſolches aufgeben, fo fan das Böfe nur am Ent 
widelunge&procefie Ded werdenden Buten vorfommen, we 
der vor noch nach demfelden. Damit it Rothe eiuwer 
fanden, wil aber das Böſe nun wirklich in ber ſpeen⸗ 





theologiſche Ethik. 779 


lativen Ethik als ein am Sittlichen haftendes Moment 
ableiten. Gobald wir aber das Böſe ſpeculativ, d. 5, 
aus dem Begriffe felbft, ableiten, ſtellen wir ed, wie alles 
fpecnlatio Wbgeleitete, in die Kategorie deſſen, was nicht 
sufäßig,, fondern nothwendig befleht, Es wäre Daher 
zu wünfchen, daß nufer Verf. fich hierüber geäußert hätte. 
Er fagt uns freilich (F. 81.), vermöge der unmittelbar ge« 
gebenen Ginigung der Perfönlichleit und der materiellen 
Natur wüffe es zu einem Bermitteluugsprecefle fommen, - 
aber vermöge der Selbfibeflimmung hänge die Mobalis 
tät defielben vom Menfchen felbft ab; ed Fönnen das 
ber verfchiedene Modalitätdarten vorlommen, und fo 
zerlege fich der allgemeine Begriff des Sittlichen in wier 
unter ihm befaßte befondere Srundformen. Dieß if 
aber keine fpeculative Dednction des Böfen, wir hören 
nur, Daß ed vorlommen könne, aber daß es wirklich 
und dem ethifchen Begriffe ſelbſt gemäß als eines feiner 
Momente vorlomme, ift nicht erwiefen; dad Problem 
wird einfach der Selbſtbeſtimmung des Menſchen ange 
wiefen, als einem nicht weiter erftärlichen Grunde, Wie 
entfiehen dem Berf. die vier Örundformen des Sittlidhen ? 
„Es fey ein Unterihieb der Qualität und der Quantität 
des Sittlichen möglih. Die Perfönlichleit kann Die mas 
teriele Natur beſtimmen begriffögemäß und normal, 
oder fie kann ſich von diefer beſtimmen laſſen und, von 
diefer beſtimmt, ihre Thätigkeit ausüben, begriffewibrig 
und abnorm; fo Fönne das Sittliche ale das Sittlich- 
böfe oder als das Sittlich gute gefeßt werben. Neben 
diefem Gegenfabe der Qualität feyen die Linterfchiede der 
Dnantität vorhanden, d.h. der Gegenſatz bes Wirklich⸗ 
fitrlihen und bed Unfittlihen, jened ſey das 
Sittliche, wie es wirklich durch die Perſönlichkeit ſelbſt 
vermittelt and durch Selbſtthätigkeit geſetzt ſey, normal 
oder abnorm, dieſes aber ſey dasjenige Geeintſeyn, wel⸗ 
ches noch ein unmittelbares, noch nicht Prodnct dee Per⸗ 


780 Rothe 


ſoͤnrlichkeit M, ſey es normal oder abnorm; dieß könne 
freilich mar ein relatives ſeyn, weil ein Minimum von 
Selbſtbeſtimmung dabei ſeyn müfle.” Hier tritt der Us: 
terfchied von Schleiermacher Mar heraus; ift nicht die 
Thätigfeft der Bernunft, fondern die der Perſönlichkeit 
das Sittliche, fo fcheint es möglich, eine normale und 
abnorme Richtung der Perfönlichleit anzunchmen, wäh 
rend die Bernunft durchaus fein ſolches Inbifferend ſeyn 
wi, welches normal oder abnorm, gut oder biöfe haus 
dein Fönnte; ferner kann von perfönlicher Seilbſtbeſtin⸗ 
nung aus mit nngleicher Energie gebandelt werben, — 
denn darauf ruht, was der Verf. bie quantitativen Un 
terfchiede nennt, vom wirklich Sitttichen bie zum Unſitt⸗ 
lichen 5; — die Perſönlichkeit als felpfkihätige fan ja nicht 
bIöß normal oder abnorm handeln, fondern ihre ſelbſt⸗ 
thätige Energie kann durchdringend Eräftig oder ſchwach 
und etwa auch nur ein Minimum feyn. Aber dieſer gan: 
gen Anſchaunng müflen wir entgegen halten, daß die 
Derföntichkeit, als ein aus fich ſelbſt heraus, mit Selbſt⸗ 
thätigleit handeindes Agens, darum eben nicht die legte 
Quelle des Sittlichen feyn kam, fondern nur ber Ort 
und die Form, in welcher und an welchem ein höheres 
letztes Princip erfcheint und chätig auftritt. Daher fümmt 
Alles darauf an, ob die Perfönlichkeit in Impulſe diefed 
legten Principe handle oder nicht; fie kann vernünftis 
und unvernänftig handeln, fomit gut ober böfe, folglich 
iR die Vernunft das eigentliche Agens fürs fittlidhe Br 
biet, welches in der Perfönlichkeit beginnt. Go Fommen 
wir doch zu Schleiermacher zuräd, das Sietliche fey bie 
Thätigfeit der Bernnnft im menſchlichen Orgauissns, 
wozu er auch den pſychiſchen, auch die ſelbſtthätig per 
fönliche Ratur des Menfchen vedmet, alfo die Bermauft, 
wirkfam im der Perſoͤnlichteit; diefed Sittliche Fey gleich 
vem Begriffe bed Guten; Böfed wntfiche nur, wenn bie 
Perföntichkeit zwar felbfethätig wirft, aber nicht das 





theologiſche Ethik. 781 


Bernünftige als felbfithätigen Impuls im fich aufnimmt. 
Bie kaun nun aber ein abnormes, begriffswidriges, ums 
ordentliched Handeln fpecnlatio, d. b. ald nothwendig 
aufgezeigt werden? Eben darım war die Kirchenlehre 
genötigt, dieſe unvermeidliche Nothwendigkeit des Sun⸗ 
digens an die empiriſch vorausgeſetzte Berwirrung 
des normalen Berhältniffes von Vernunft und Perſoͤnlich⸗ 
keit auzuknipfen, weiche mit dem Sundenfalle eingetreten 
fey. Daher fcheint Rothe gerade zu bezeugen, wie 
richtig Schleiermacher gelehrt hat, das Böfe laffe ſich 
nicht fpeculatio ableiten. Buch mit dem quantitativen 
Gegenfate verhält es fich fo; die größere oder geringere 
Energie der Gelbfibeftimmung muß empirifch aufgenoms 
men werden, ohne baß eine fpecnlative Ethik in diefe 
Unterfchiebe eingehen Tann. Es iſt fehr richtig gezeigt, 
die wahre Vollkommenheit des Sittlihen finde fih nur 
da, wo die Perföntichteit mit voller Energie ſelbſtthatig 
auftritt und auf normale Weife, d. h. vernunftgemäß, 
wirft; meniger vollfonmmen fey das zwar vernunftgemäße 
Handeln, aber mit minder energifcher Selbſtbeſtimmung; 
noch weniger vollkommen fey das nicht der Vernunft ge: 
maß Handeln, aber bei wenig fich ſelbſt beffimmender 
Energie der Perfönlichleit; am alter entfernteften endkich 
von der dee fey dad vernunftgemäße und dennoch mit 
ſturker Energie felbfithätiger Perfönlichkeit verrichtefe Hau⸗ 
dein. Aber fo richtig Diefe Unterſcheidungen find, voter 
Örundformen, weldhe im Begriffe des Siktlichen befaßt 
ſeyen, Pönnen wir fie nicht nennen; es find wur vier ver» 
ſchtedene Erſcheinungsarten des menſchlichen Handelns in 
Bezug anf den Begriff des Sittlichen. Schleiermacher 
nennt dieſe Erſcheirungsarten dad Gute und Böfe, das 
Vollkommene und dad Unvolllommene (Gute und Schlechte). 
Bei Rothe find fie genauer ‚.forgfältiger anfgefußt, aber 
Momente des erhifchen Begriffs find ſie nicht, fonft wüßs 


\ 





782 Rothe 


ten fe als Theilungsgründe verſchiedener Seiten des 
ethiſchen Proceſſes ſelbſt auftreten. 

Endlich im dritten Hauptfiäde der Einleitung 
wird bie Methode und Eiutheilung der theole: 
sifhen Ethik behandelt ($. 88— 95.), in weſentlicher 
Anfchließung an Schleiermacher. Die drei form 
Leon ethifchen Begriffe: Güter, Tugenden und Pflich⸗ 
ten, in deren jedem dad ganze Gebiet des Ethiſchen zur 
Darftellung komme, je in eigenthümlicher Form. 

Unfere Anzeige muß fich für einmal beguügen mit 
der Grund legenden Einleitung Wir wiederholen, daß 
dieſe eine andgezeichnete Leiftung fey, Durch Klarheit, Prä- 
cifion, Scarffiuu und Tieffius hervorragend. Die reli⸗ 
gionsphilofophifche Eutwidelung ift originell, in ihrer 
dialektiſchen Fortfchreitung gefeßmäßig verlaufend, in den 
Refultaten oft Überrafchend. Die Ableitung des Ethifchen 
ſelbſt nimmt Schleiermacher's Leiſtnugen vollländig auf, 
firebt, über fie hinauszugehen, nnd weiß, weſentliche Bes 
griffe. fhärfer zu geflalten. Auch wo der Referent wicht 
überzeugt worden iſt, muß er dad Bedeutende in dem 
Streben ded Berf. anerfenuen. Für jet bleibt Referent 
der Auficht, Daß eine befondere fpeculativ theologiſche 
Ethik im chriſtlich⸗ evangeliſchen Charakter nicht auffleh- 
bar if, und daß das Böfe nicht ein im Begriffe des 
Sittlihen enthaltened, fpeculativ ableitbared Moment 
ſey; daB das Sittlihe nicht ald Action der formalen, 
ethiſch indifferenten Perfönlichleit, fonbern der im Dres 
nismus perföulich gewordenen Bernuuft zu beftimwen 
fey ; endlich, daß der Verf. den Begriff des Ethiſchen in 
ber That philofophifch and dem allgemeinen Bewußtſeyn, 
fomit nicht im Unterſchiede hiervon rein aus eigenen Mit 
tels ber chriſtlichen Theologie abgeleitet habe. Abgefehen 
von diefen Differenzen, hat,der Referent dem Berf. aut 
beiftijmmen können und dankt ihm für die reihe Körbe 





theologiſche Ethik. 783 


rung der Ethik. Möge er ſich entichließen, eine Religi⸗ 
onephilofophie ausguführen, woburd er bei fo ausge⸗ 
zeichneten Befähigung der Theologie unferer Zeit einen 
großen Dienft leiſten würde, wie er jedenfalls andy für 
die Ethik auf fehr bedeutende Weiſe gearbeitet hat. 


D. Ber. Schweizer. 





2. 


Der deutſche Proteſtantismus, feine Vergangenheit und ' 
feine bentigen Lebenöfragen im Zufammenhange der 
gefammten Rationalentwidelung beleuchtet von einem 
deutfchen Theologen (Frankfurt a. M. Druck uud 
Verlag von H. 8. Brönner. 1847,). 





Nicht um eine eingehende Recenſion dieſer ausgezeich⸗ 
neten Schrift zu liefern, auch nicht am eine gründliche 
Prüfung ihrer Hanptfäge vorzunehmen, fondern um das 
theologifche Publicum unfererfeitd möglichft bald auf die⸗ 
ſelbe aufmerkſam zu machen, wollen wir es verfuchen, 
fie kurz gu charakterificen. Sie If aus einem Bebürfs 
niſſe entftanden, das die ganze Zeit mit ihr theilt. Iſt 
ed die Anfgabe unferer Zeit im Allgemeinen, auf bie 
letzten Gründe in allen Dingen zurückzugehen, fo iR es, 
nachdem die Zeit wieder religiös geworben if, ihre Aufs . 
gabe im Beſonderen, die Religion in ihrem Wefen, ihren 
innerfien Wurzeln zu erfaffen. Da nun aber der Pros 
teſtantis mus unbeflritten die dem jeßigen Bewußts 
feyn adäquatefte Religiondform ift, fo hat nnfere Zeit 
and mit Recht dad Wefen des Proteflantismud aufs 
Reue in ernſte Unterfuchung genommen. Wir erbliden 
zunächſt in dem Berfafler einen fräftigen, geiſtvollen Wit 
arbeiter anf diefem großen Arbeitsfelde. Er hat zwar 
nicht das gelehrte Grabſcheit zur Hand genommen, 





7er Der beutfihe Protelanttemus, 


fehlt «3 ja auch an Solchen wicht, die diefen Dienſt der Zeit 
leiten; Daflix arbeitet ee aber mit einem Auge voll der 
feinfien Beobachtung, das eben fo ſcharf in die Höhen 
wie in die Tiefen bringt, und es ift dem Ref. noch ſel⸗ 
ten ein Bach vorgefommen, das an treffenden Bemerkum: 
gen, finnigen Gedanken und lichtvollen Einblicken reicher 
gemwefen wäre, 

Das Alles zwar dient nody nicht dazu, die wefent- 
lich ſte Eigenthümlichkeit des Verf. zu bezeichnen, und 
ihn von allen feinen Borgängern und Mitarbeitern zu 
nnterfcheiden. Diefe beſteht vielmehr darin, daß er den 
Proteſtantiomus nicht bloß auf feinen religiöfen Im: 
halt bin anfieht, fondern in fietem Zufammenhange mit 
dem dDeutfhen Nationalleben betradtet. Es ik 
darum auch der Beutfche Proteſtantismus, mit dem es 
der Berf. allein zu thun hat. Er ſelbſt nennt ſich einem 
„dentichen Theologen.” Wir haben gewiß auch fein Recht, 
dieſes Pröüdicat in Zweifel zu ziehen, ba feine Schrift 
die entichiebeuften Beweife für eine gründliche theolegis 
ſche Bildung enthält Er ift aber nicht nar Theologe, 
er iR in einem gewiffen Sinne uud Staatswann; umd 
eben fo iſt ihm die Reformation nicht etwa nur ein Wert 
ber Theologen, fondern eine große nationalgeſchichtliche 
Thatſache (S. 6.). Darum will er die Lebensfragen des 
Proteſtantiomus von den Lebenöfragen der deutſchen Ra 
tion anch nicht getrennt wiſſen. 

Die beiden erſten Adfchnitte des Baches, zumal 
der zweite, haben vornehmlich den Zweck, nachzuweiſen, 
wie der Proteſtantismus wegen feines eigenthümlichen 
Sufammienhanged mit dem GStaatdleben den „modernen 
Antihriflfianismne” zur Folge haben mußte. 
Der Berf. kommt zu dieſem Reſultate, indem er von der 
Grundanfhaunng ausgeht, der Proteſtantismus habe wr- 
fpränglich und feinem eigentlichen Weſen nach „im ber 
leberndigen Syntheſe des freietten uud ſcharfſten im: 


feine Vergangenheit u. feine heutigen Bebenäftagen zc. 785 


telleetuellen mit dem reinften und tiefſten ethifchen 
Geiſt eꝰ beſtanden (S. 44). Die großen Mißverſtänd⸗ 
niffe, welche über das Weſen der Reformation herrſchen, 
leitet er daher, daß daſſelbe gewöhnlich einfeitig aus 
einer Auftehnung „des intellectuellen Geiſtes wider ben 
intelectuellen Zwang” ertlärt werde (8. 171.), während, 
nach feiner Uebergeugung, der Quellpunkt des Proteſtau⸗ 
tismus nicht im Wiffen, fondern im Gewiſſen gu 
ſuchen ift. Die Reformation if ihm eine That des ſitt⸗ 
lich in feinen Tiefen erregten Volksgeiſtes, die auch nur 
ein echter Bolldmann wie Luther durchführen Tonnte, 
And dem Bewiffenddrange ergab fih bei Luther ber 
Rüdgang auf die h. Schrift, und der ethifche Geiſt der 
Reformation, der keineswegs den Humaniſten zu vers 
danfen ift (S. 57), befreite den intsllectuellen aus den 
Feſſeln der kirchlichen Antorität. 

Diefer et h iſche Bolfögeift, der im Aufange ber 
Reformation nrfräftig durdhpedrungen war, wurbe im 
Staat und Kirhe — das hat der Verf. fhön nachg ewie⸗ 
fen — bald wieder von dem intellectuellen unvolhöthäulis 
chen zurückgedräugt und niedergehalten. Diefe Aufchaus 
ung ift nicht gerade durchaus neu; RB. Menzel bat fie 
zu wiederholten Malen ausgeſprochen, auch feiner „Bes 
fhichte der Deutfchen” zu Grunde gelegt; allein darch⸗ 
aus men und eigenthäimlic, if die ‘Methode, welche der 
Verf. einſchlägt. Die Parallelen, bie er gwifchen ben 
Zuſtäͤnden des Staates und ber Kirche zieht, find ſchla⸗ 
gend. Leberall Kodt im Volke das Beben und zieht ſich 
and bem Körper nach dem Daupte oder vielmehr den 
Hänptern zurück. Der vielgegliederte Organisuns des 
mittelalterlichen Ständeweiend bhöſt fih anf, Alles con⸗ 
centriet ich in den Fürften und ihrem Beamtenheere, das 
zuletzt Den abfiraeten Beamtenſtaat bildet. Auch die Kirche 
geht in dieſem Benmtenfiante auf oder unter: Das Zw 
tereſſe an der Religion hört immer mehr auf, ein pratr 


786 Der dentſche Proteftantiömus, 


sifches, ethifches zu feyn, und dient nur noch dazu, 
den Reiz wiffenfhaftliher Erkenntniß zu befriebis 
gen (S. 6.). Go geht bie Synthefe des Proteſtantis⸗ 
mus, fein urfprüngliched Wefen, verloren; ja ſelbſt der 
fpener’fche Pietiömne, fo fehr er die theologifche Baſis 
bed Proteſtantismus wieder berzuftellen fuchte, drang 
sur urfprünglichen Synthefe nicht wieder vor, weil er 
das Befühiselement einfeitig ansbildete uud die Unwiſ⸗ 
fenfchaftlichleit beförberte (S. 101.). 

Bar nun einmal das religiös fubftantiele Jutereſſe 
einfeitig auf den Boden ber Schule Übergetreten, fo war 
ed nach ber Anficht des Berf. au natürlich, daß das 
Ehriſtenthum ſich gefallen laffen mußte, im Rationas 
lismuas nad den Forderungen einer Schale behar⸗ 
delt zu werben (S. 104). Das wiffenfhaftlidhe Im 
terefie am Pofitiven war in fich verfiegt, von dem Al 
tern Proteſtantismus nur ber negative Factor übrig ger 
blieben, „die Britifche Unruhe am Buchladen der Schrift, 
aber wicht die Eritifche Unruhe an den Pulöfchlägen des 
eigenen Herzens” (S 104.). Das Alles hält mit dem Ban; 
‘ge, den das bentfche Leben überhaupt nahm, gleichen 
Schritt. Die Symbole und Die anf ihnen ruhende Dog» 
matik laßt man noch ſtehen, wie man Das dentfche 
Reich nicht gleich abfchaffte, fondern fo gut wie möglich 
noch ſtehen, d.h. verfallen ließ (S. 108.). Das misi- 
sterium verbi, das immer nur docirt hatte, ward jeht 
recht eigentlich ein „Schulamt und Uufllärungsapoftelar” 
(®&.107.). In diefe Leere hinein Fam „KRauts Mofee” 
(&.116,) immer noch wenigſtens ald ein „Zuchtmeifter auf 
Ehriktum.” 

Der Berf. hat einlenchtend dargethan, wie im den 
Befreiungstriegen mit der nationalen Wiederbelebung auch 
die urfprängliche Syntheſe des Proteſtautismus ſich wies 
der heuzuftellen deginut. Aus der Hemmuug der uationa- 
len Fortentwidelung fucht er dann auch die wieder eintre⸗ 


feine Bergangenheit u. feine heutigen Lebenofragen zc. 787 


tende Hemmung des kirchlichen und religiäfen gefunden 
Lebens zu erflären. „Leber dem Bellapper der Mafchine, 
der Wachſamkeit über fie, vergaß man, daß der Gtaat 
feintr Natur nach keine Mafchine, ſondern ein ſittlicher 
Organismus iſt“ (S. 135.). 

Der Beamtenſtand ſchließt ſich aufs Nene von der 
Nation, dem Volke und ſeinen Jutereſſen ab. Die Wiſ⸗ 
ſenſchaft wird ebenfalls unvolksthümlich. Die Nation 
wird auf eine rein litterärifche Eriſtenz zurückge⸗ 
drängt (S. 148.). Der Polizeiſtaat und wit ihm ber en» 
demifhe Antichriſtianismus erreicht feine Voll⸗ 
endung (S. 167.). 

Diefe reine abſtracte Intelligenz in ber ganzen Ent⸗ 
leerung von praktiſch Träftigen, begeifternden Motiven 
beberrfcht nun excluſtv gerabe die fähigften Köpfe unter ber 
Jugend, und ed bildet fidy nady dem Ansdrucke des Verf. 
eine „intellectuelle Schwelgerei” aus (S. 177.). „Jede 
Sphäre des Lebens hat für diefe intellectuellen Schwel⸗ 
ger nur uoch Intereffe als Object des Wiſſens.“ Jede 
andere Antheilnahme an dem Stoffe als bie wiffenbe, jede 
andere Beziehung beflelben als die auf das wiffende Sub» 
ject und feine Beiftedgenofienfchaft liegt fern, Cinfeitiger 
Hang nah Sättigung und Schärfung bed intellectuellen 
Geiſtes zehrt jedes audere Intereffe anf. Wie den Alten, 
fo auch den Jangen gebricht ed an dem rechten Bewußt⸗ 
feyn von jenen Aufgaben, welche hart an ben Mann 
gehen. Der. fcheinbare Dienft an der Sache wirb ein 
bloßer Dienft am Sch, ein Selbſtdienſt, ein geiftiger Epi⸗ 
kuraismus, ein Spiel des feiner Birtuofltät ſich bewußten 
theoretiſchen Beifled” (S.186.), Wie trefflicdh it mit 
diefen Sätzen das moderne, „and aller praktiſchen Bes 
giehung zu feinem Stoffe gerathene” Schriftſtelerthum 
eines David Strauß und feiner Beifteöverwandten ger 
ſchildert! Und er war noch der Bee von ihnen. Er 


788 Der dertſche Viroteflantiäumns, 


hatte, wie ber Verf. richtig bemerkt, doch ein reges In⸗ 
tereſſe für die wiſſenſchaftliche Arbeit am Stoffe; Andere 
fuchten unr Beförderung, Ehre, Geldgewinn. „Go enis 
Rand die Claſſe des gemeinen litterarifchen Subiertd ohat 
Scham, Ehrgefühl und Bewiffew” (S. 181.) 

So wardein Bruno Bauer möglich, der die „Ihee 
logiſchen Schamiofgkeiten” der Welt euthälte nnd in 
der Stigmatiſirung der „Pectoraltheologie“ ſelbſt der 
Fleck verrieth, wo es ihm und Seinesgleicher 
vor Allen von jeher gefehlt hat (S. 182.). Em 
ber negativen, Britifch zerſetzenden Geiſter überholte jeh! 
den andern. „Um der Gottheit des Ichs willen” , fagt bei 
Berf. ſchön, „gab man das Ich der Gottheit hin, ud 
zöſte Beide anf in die Dialeknt des im der Verſchie⸗ 
denheit feiner Momente feiner Einheit fich bewußt blei⸗ 
beuden Weltgeiſtes, fo daß man mit der Perſoͤnlichleit 
Gottes auch die eigene Perfönlichkeit und umgelehrt sit 
der eigenen auch bie Perſoͤnlichkeit Gottes verlor” (S. 185.) 
Die „freie Sittlichkeit” fchwelgte in „Haremöpkantafere” 
zeh flürzte hinab zum plumpfien, gemeinften Matericlid 
mus, der fchon in Feuerbach mit Baden, Eſſen und Tru 
Sen ein neues Dreigeflirn an bie Gtelle des chrifllicher 
Glaubens, Liebens und Hoffens geſetzt hatte. GEs iſt aid 
. übertrieben, wenn der Berf. davanf hindeutet, daß Ab 
allmaͤhlich durch Die livertät, mit welcher das roh pas 
theißifche und atheiftifche Thema unter und ausgebertet 
wurde, bie Elemente zu einer Gemeinde bes „Bolt U 
und,” zu einer luſtigen Benoffenfchaft von „Brüdern um 
Schweſtern des freien Beiltes,” zu einem Zion im Stole 
von I. Bodhold aus Leiten, gefammelt haben (S. 200.) 
Db aber, fragt er, biefe pantheiftifchen Neigungen, di 
Gettheit in die Maunichfaitigkeit ihrer Momente gerfir 
Gen, ihr kein freies Chen, fondern nur ein Wiſſen sad 
Dem Willen won Aid, ſeibſt Abrig zu laſſen, nicht in eine 
nahe urfächliche Verbindung zu bringen feyen mit ber 








feine Vergangenheit u. feine heutigen debenäftagen ıc. 789 


ebenfalls bloß momentlich zerfließenden, zu Allem wur. 
wiffend fich verhaltenden Exiſtenz des ——— in 
unferem Staatöieben? 

Niemand, der diefen eigentlich wichtigften Thatl der 
geiftuchen Schrift uufered Verf. auch nur in biefem ge⸗ 
drängten Auszuge kennen gelernt hat, wird der. tiefen 
Bedeutung des Geſagten, den mächtigen Wahrheiten, 
die mit edler Aufrichtigleit audgefprochen werden, feine 
Anerkennung verfagen. Möchte Die Gegenwart nur Ob 
ven haben für den Klang fo faster Worte! 

Dagegen find dem Ref. in Beziehung auf einige 
Punkte Bedenken aufgekiegen, die bei näherer Ueberle⸗ 
gung nicht recht weichen wollten, über die er fich gern 
mit dem trefflichen Verf. verfländiger möchte. Und mo 
ſollte Berkkändigung leichter ſeyn, als wo man ſich im 
Innerſten eius weiß? Bon foihen Bedenken wären vor⸗ 
nehmlich zwei hervorzuheben, 

Der Berf. laͤßt das Weſen des Proteſtantismus in 
einer nrfpränglichen Syntheſe des intellectuellen und ethi⸗ 
ſchen GSeiſtes befiehen. Die tiefe Wahrheit, die hierin 
liegt, wi Niemand verkennen. Ob aber dad Weſen 
bed Proteſtantiomus damit erfchöpft ſey? Ob ih der 
Berf. nicht allzu einfeitig anf den anthropesogiichen Stand 
punkt geſtellt hat? Faſt fcheint und der Berf. allzu fehr 
nach jener Anfchanung fih hinzumeigen, welche das Bw 
fen ded Proteſtantismus einfeitig nur in die Befreinng 
des Subjectd, in die unbedingte Subjectivität ſetzt. 
Wohl ift er ſelbſt für feine Perſon tief ergeiffen von ber 
objectiven Wahrheit des Chriſtenthums. Sein Bes 
wiffen findet nur im Erfaflen und Feſthalten dieſer 
Wahrheit Befriedigung, weil es von berfelben objectiv 
getragen ift. Allein daß die Anerkennung, dad Erfaſſen 
einer objectiven, gegebenen, geoffenbarten Wahnbeit 
sum Weſen des Proteſtantismus gehöre — hat ber 
Berf, nirgends ausdrüdlich gefagt. Er befämpft nur die 


7% Der deutſche Proteflantiöumns, 


‚einfeitige Südjectivität des intellectnellen Gei⸗ 
ſtes, aber nicht die ſynthetiſche, Die er vielmehr für das 
wahre Wefen des Proteſtantismus erflärt. 

Nun fey es ferne von uns, zu beftreiten, daß bie 
Gubjectivität ein weflntlihed Moment dei 
Peoteftantidmus bilde. Hierdurch unterfcheibet er ſich ja 
gerade vom römifchen Katholicismus, der das Gubjet 
einer fremden, außer ihm befindlichen Autorität eimfeitig 
unterwirft. Allein dem Proseflantiemund it eben fo 
wefentlih Die Dbjectivität eigen, nur wicht die 
Rarre, änßerliche, fondern die fubjectiv vermittelte, Wir 
tönuen und 3.8. keinen Proteſtantismus mehr deuken, 
wo die objective Autorität der h. Schrift, wenn 
auch aus fubjectio noch fo ehrenwerthen Gewiſſens⸗ 
gründen, .fchlehthin verworfen wird. Und es wir 
uns ein Proteſtantismus, der diefe Autorität wur their 
weife und fehr bedingte zu ihrem Rechte kommen läßt, 
eben fo mangelhaft erfcheinen als ein folcher, der dem 
Subjecte den freien Gebrauch feiner Intelligenz oder ſei⸗ 
ned Bewiflend verfagt. Ein Thamer z. B. mit feine 
Gewiſſensreliglon, die Kid gegen die ShMt erklaͤrte, 
wird uns nimmermehr ein eben fo wahrer Nepräfenton 
bed Proteftantiömus ſeyn können, aldein Luther, welchen 
fein Gewiſſen in die Scheift trieb. Man darf nie ver 
geffen, daß die Gubjectivität nicht nur die Stärke, few 
ders auch die Schwäche de6 Proteſtautiöomus iſt; uud dem 
Mef. will es gerade als bie höchſte Aufgabe ber Zeil 
erfcheinen, zu einem dergeſtalt objectiven Berftänbnift 
des Proteſtantismus durchzudringen, daß das Subiel 
darin feine Befriedigung findet. Hierfür ſcheint und and 
bie Erfahrung zu fprechen, welche beweiſt, daß die neue 
sen Eutwidelungen des Proteſtantismus mit verfärzter 
oder gar anfgehobener Objectivität Feine Befriedigung 
gewähren können. Die Geſchichte des Pietismus wie 


feine Bergangendeit u. feine heutigen Lebensfragen. 791 


des Rationalismus dürfte in diefer Beziehung maßge⸗ 
bend ſeyn. a 

Und ſollte nicht auch die einfeitige Entwidelung des 
beutfchen Volkes darin ihren Grund haben, baß der Ins 
dividualismus dieſelbe immer beherrſcht und bie 
dauerhafte Verbindung des Zufanmengehörigen verhins 
dert hat? Der römifche Katholicismus hat feine Kraft 
an feinem Univerſalismus. Die Kraft ded Proteflanties 
mus bricht fih an feinem Individualismus. Jener fors 
dert unbebingte Unterwerfung bed individuellen Gewiſſens 
unter die überlieferte Autorität, Das ift der Tod der 
religiöfen Gewiſſenhaftigkeit. Sollte aber der Proteſtan⸗ 
tismus das Gewiflen von aller Autorität frei geben? 
Das wäre der Tod der kirchlichen Gemeinfchaft. Es 
muß bier ein Drittes geben, das über beiden Ertremen 
Recht und fie fomit überwunden hat — ein objectives 
Gewiffen der Kirche, das, weiter und freier ald das 
fubjectioe der Individuen, and) mehr zu ertragen vermag 
und verfchiedenartige Richtungen, wenn fie nur in dem 
einen Grunde wurzeln, duldet und zur Eutfaltung kom⸗ 
men läßt. Diefem objectiven Gewiflen ald dem weiteren 
und freieren hat fih dann das fubjective zn unterwerfen, 
ohne feine Eigentbämlichkeit und Befonderheit damit auf⸗ 
zuopfern. Es gibt feine wahre Freiheit ohne 
Gehorfam; der wahre Gehorfamift aber ein 
freier. ? 
Diefed objective Gewiffen der Kirche, dem das 
individuelle Gewiſſen fih dis auf einen gewiſſen Grab 
freiwillig unterorbnet, fcheint dem Proteſtantismus 
immer gefehlt zu haben, Die Orthodoxen waren fubjec- 
tio ansfchließlich wie die Nationaliften. Wegen Mei- 
nungen haben die deutſchen Theologen ſich immer ger 
sanft und wegen Anfichten verfeßert. Zugegeben, daß 
ed diefen Gelehrten Gewiſſens face gewefen ift, gegen» 
feitig fo zu verfahren, fo ift ed eben fehr zu bedauern, daß 

Theol, Stud, Jahrg. 1847, 58 


792 Der deutſche Proteflantismus 


ed an einem objectiven, über den Parteien ſtehenden De: 
derator gefehlt hat, daß dem individuell geftaltenben Triebe 
Alles anheim gegeben war. In berfelben individualiſti⸗ 
fhen Mißbildung liegt auch bie Urſache, warum es den 
Deutfchen feit drei Jahrhunderten an einens rechten 
Volksg eiſte gefehlt hat, Wo Jeder Recht haben wil, 
behält am Ende Keiner Recht. Individuen bringen wohl 
Gedanken, aber Feine Thaten zu Stande. Der Einzelne 
muß ſich ſelbſt bebersfchen und ſich ſelbſt hingeben für: 
sen, wenu dad Ball bereichen fol. | 

Außerdem wollte fih noch ein gweites Bebentn 
nicht ganz abweifen laffen. Der Verf. hat trefflich nad: 
gewieſen, wie mit der religiöfen auch die nationale Bers 
ödung gleichen Schritt hielt. Hieraus fcheint mit Sicher⸗ 
beit der Schluß gezogen werben zu können, daß ein 
sationale Erhebung auch eine veligiöfe zur Folge haber 
müßte. Der Berf. zieht biefen Schluß und macht bie 
Neubelebung ber Kirche von einer befriebigenden Löflang 
ber politifchen Frage abhängig. Wir wollen bie Mög 
lichkeit einer folden Solidarität zwifchen Kirche und 
Staat nicht beftzeiten,, den ethifchen Werth einer natiw 
nalen Erhebnug nicht verkleinern — und doch wii ed und 
bedenklich fcheinen, won ber Löfung ber politifchen Frage 
die Löfung der kirchlihen abhängig zu machen. Daß da 
mit die kirchlichen Intereffen ſtaatsmänniſchen Rückſichten 
zu fehr ausgeliefert werden müßten, wollen wir nur kur 
berühren. Allein dem Ref. will ed Überhaupt fcheinen, 
daß der Proteftantismud im kirchlicher Sinficht immer 
viel zu viel von politifchen Eventualitäten abhängig ge 
weien iſt. Die Kirche vom Gtaate — wenigſtens von 
der directen Einwirkung des Staates — mehr zu befreien, 
ihr eine möglichſte Selbfländigfeit mit eigenen Organen 
zu geben, fie fih zu einem Lebensorganismus burdar- 
beiten zu laffen, fie in biefer Arbeit fo wenig. ald mög 
lich zu behindern und zu flören — das fchiene und fir 











feine Vergangenheit m, feine heutigen Bebendfragen. 793 


der Angenbli@ das Angenteffenfte und Heilfamfte zu feyn. 
Dolitifgen Reformen kann und fol die Kirche nicht ab⸗ 
geneigt feyn, aber fie folk auch ihr Heilin denfelben nicht 
fuchen,, und nie vergeflen, daß fie von dem Augenblide 
an zu verfommen anfing, ale fie vom Staate gemobelt 
wnrde. In England fehen wir unter demfelden Scepter 
die ariftofratfche high church und bie fchottifche freie 
Kirche erblühen: In der Schweiz birgt diefelbe ultras 
demofratifiche Staatöferm den geifteöträgen Papismus 
der Inneren Bantone und den Independentismus ber freien 
mwadtländifhen Kirche in ihrem Schooße. Damit, daß 
in thesi feine der beiden Kirchen irgend einer Staatsver⸗ 
faffung einen abfoluten Vorzug vor der anderen zuerkannt 
babe, {ft auch ber Berf. (S. 495.) einverflanden. Und 
wenn er felöft einmal fagt, daß uns Kein Maßflab an 
die Hand gegeben fey, „mm über biefe oder jene Staats⸗ 
form im Namen des Chriftenthums richtend den Stab zu 
brechen” (S. 513.), ſollte uns diefe fo richtige Erwägung 
nicht zurüdhalten, an gewänfchte, vielleicht auch wünſch⸗ 
bare politifche Umformungen die Zutunft der proteſtan⸗ 
tiſchen Kirche ansfchlieglich anknüpfen zu wollen ? 
So wenig Ref. diefe Bedenken unterbrücden wollte, 
fo wenig konnten fie ihm übrigens den Genuß der treffli⸗ 
hen Schrift fhwäcen, ja ed wäre nicht einmal ein gu⸗ 
tes Zeichen, wenn ein fo eingreifended Buch ohne allen 
Inneren Widerſpruch bis zu Ende gelefen werben fönnte. 
" Bon den bisher befprocdyenen allgemeinen Geſichts⸗ 
punkten aus fchreitet nun der Berf. zudem britten und 
legten Abfchnitte, den Firchlichen Lebendfragen der Ges 
genwart, vor. Nach dem Borausgefchidten wird es uns 
um fo leichter werden, un bier zu orientiren., 

Der Berf, beginnt mit dem Pietiömmg, nicht ohne 
guten Grund, da bie Oppofition gegen die ftarre Objec- 
tioität und Alleinherrfchaft de Dogma's zuerfl von ihm 
ansgegangen Hi. Manches Fönnen wir hier gerabezu nur 

; 63 * 


79% Der deutfche Proteflantismus 


unterfchreiben, fo wahr und treffend tft es gefagt. Mit 
wie großem Rechte erinnert doch der Berf. daran, daß 
der Pietisſsmus zuerft dem Volke die Arme wieder ge 
öffnet habe (S. 245.), wenn er andy feine Kreife bald 
wieder enger zog und flatt einer großen Volkskirche nur 
Heine Bemeindelirchlein in6 Leben rief! Wie wahr ifl ed, 
daß, „wenn einmal ernftlich nach dem Kanon: zeige wir 
deinen Glanbden an deinen Werken, genrtbeilt werben 
ſollte, e6 feinem Zweifel unterliegen würde, gu weſſen 
Bunften die Wagſchale finfen dürfte, ob zu Gunſten dei 
Pietismus oder feiner wider den landen auf die Werte 
pochenden Gegner” (S. 247.) Uebrigens ift der Verf. 
auch gegen die Mängel des Pietismus nicht blind. Er 
weiß auch von einem „voulgären Pietiömus” gu veden, 
der den „wiffenfhaftlihen Kortfchritt zur freien 
MWiedererzeugung des Pofitiven” nicht repräfentiren 
fonnte und niemald können wird, 

Diejenige theologiſch⸗kirchliche Richtung der Gegen 
wart, welche diefe Aufgabe übernommen, wirb daher 
befonders befprochen. Je mehr gegenwärtig die Männer 
biefer Richtung von verfchiedenen Seiten ans in ihren 
Beftrebungen verfannt und mißadhtet werben, deſte er 
freulicher mag für fie die Anerkennung feyn, welche ihnen 
ein Mann: wie der Berf. zollt. Er findet gerade in 
biefen Männern, unter denen er einen Nitzſch, Ullmann, 
Lüde, 3. Müller, Marheinede, de Wette u. f.w. nam 
haft macht, den „unleugbar tüchtigen und im Allgemei⸗ 
nen richtig geleiteten Trieb dogmatiſcher und ir, 
liher Reugeftaltuug,” während freilich bas „we 
derne Bewußtſeyn“ mit der von diefen Männern auge 
bahnten Neugeftaltung fich bereits fehr unzufrieden zeigt 
und diefelbe ganz- anderswo ſucht. Sehr gut fept der 
Verf. die mannichfahen Hemmungen, welche dieſe Rich⸗ 
tung zu bewältigen, die Schwierigkeiten, mit bemen fe 
zu kämpfen hat und die zum Theile auch im ihr felbh 


.m m. -- . —X —— 


feine Vergangenheit u. feine heutigen Lebensfragen. 795 


liegen, auseinander. Dan darf nur daram denken, in 
wie verfchiedenartigem Simne anzegend Schleiermacher 
gewirkt hat. Nichte deſto weniger glauben wir, hat ber 
Berf. ganz das Richtige getroffen, wenn er bie Zu. 
fusft der Kirche unverleunbar indiefen Häns 
den liegen fieht. Aber auch darin hat er Recht, wenn 
er die Aufgabe dieſer Richtung dahin bezeichnet: fie habe 
nicht bloß litterärifc, und nicht bloß firchlich gu ſeyn, fons 
dern Die Syntheſe des Proteſtantismus kräftig zuſammen⸗ 
zuhalten, einerſeits die gefunden Elewente des Pietismus 
und der ältern Orthodoxie ſich lebendig zu aſſimiliren, 
andererſeits poſitive Schaͤtze aus dem fortgefehten Pro⸗ 
ceſſe kritiſcher Wiſſenſchaſt zu Tage zu fördern €G.257:). 

Auch über die theologifhe Reaction der Gegen, 
wart hat der Berf. fehr Beachtenswerthes gefagt. Den 
gewöhnlichen Begriff der Reaction, den man. in den abs 
firacten Kategorien des Rüdwärtd im Gegeufage zum 
Vorwärts, des Niten im Gegenſatze sum Nenen, des 
Pofitiven im Begenfabe zum Negativen, des Geſchicht⸗ 
lichen im Begenfage zum rein Tudeelen zu fuchen pflegt, 
bat. er mit vollſten Rechte verworfen, Er ik der Mei⸗ 
nung, und gewiß jeder wahrhaft Bernünftige wit ihm, 
daß die menfchliche Entwickelung nicht rein und ausſchließ⸗ 
lich inuerhalb einer der obgenannten Kategorien auslans 
fen könne, fondern in beiden neben» und Duscheimauber 
laufen müfle. „Die Meufchheit,” ſagt der Berf,, „soll 
fih vermöge ihrer entwideln, nicht geihidtelng, fon 
dern gefhichte frei” (S. 259.) Damit hat der Berf. 
den politifchen, wie. den kirchlichen Raditalismus auf feir 
nen wundeſten Fled getroffen, zugleich aber auch. deu 
Standpunkt bezeichnet, deu die wahre Bermittelung im 
Theologie und Kirche einzunehmen hat. Mit den belieb⸗ 
ten Schlagwörtern „vorwärte” und „rückwärts“ ift es 
wahrhaftig nicht gethau, und Luther hat gezeigt, daß 
ed ein Rüdwärts gibt, das zum Vorwärts werben kann, 


\ 


796 : . Mes beutähhe Preteliantiämns . - 


wie umgelehrt neuere Beiſpiele nahe Kegen, aus Denen 
zu lernen iſt, wie dad Vorwärts ber Anfang sum Nüdr 
wärts wird. Aus jeder wahren Bertiefung in bie 
Vergangenheit muß gewiß auch eine wahre Erhebung 
in der Gegenwart erfolgen, das Schlimmſte aber, was 
uns begegnen, fünnte, iſt — die Verflachnug. Dei 
ed aber andy eine wirkliche, Berberben bringende Reaction 
gibt, und daß ſich Theologie und Kirche vor derſelben 
zu hüten haben, daranf hat der Verf. ebenfalls ſehr gut 
anfwerffam gemacht. Da iſt fie ihm, Diefe Reaction — 
„wo ein ängfllich vermorrened Pathos ſich an irgend ein 
Element ber zeitlichen Geſtaltung krampfhaft auklammert, 
wo neben ber Bebeutung bed Dbjeckinen bie ber Gubjer 
tioität.. Überfehen:, nubeachtet bleibt, wo man der Rega⸗ 
tion gegenüber fich ſchlechterdings abſchließt, ohne darin 
das Mittel, die Keime einer künftigen Poſition zu erbli⸗ 
den, wo der Egeidmus irgend einen beliebigen Yunlt 
des Dageweſenen wis den abfolut maßgebenden wilfär 
lich zu ſixiren ſich vermißt, durch Anwendung von Be 
walt im ehrlichen geiſtigen Kampfe ind Mittel wit?’ — 
nur da, aber audy Aberall da ift Reaction (S. 261). 
Wie verfcyieben der Berf, den Begriff der Reaction 
von dem Iamdläufig gewordenen: faßt, legt er befonders 
in feinen Erörterungen über die „Synbolfrage” an be 
Tag, die er ſowohl nach 'ihmer „theologiſchen,“ als Ihrer 
„tirchenpolitifchen”‘ Seite prüft. Beſonders angenehm if 
bemi Ref. .Nier die Wahruchmung gewefen,. baß, der Hin 
neigung‘ des Verf. zu einem vorwiegend ſubjectiven Ge 
wilfensftandpuutte wägenchtee, berfefbe dennoch bie große 
objeckive Bebeutung Ser Symbole in theologifcher und 
Eirdylicher Beziehung nicht verkennt. Kein Symbol, ſagt 
er, welched irgend einmal wirklich geholfen habe, «in 
chriſtliches Volk zu fchaffen uud heranzubilden, köonne je 
mals feinen wefentlichen Grundlagen nadı wieder ganı 
obfolet werden; denn bei der durch alle Zeiten hindurch 


⸗ 








feine Bergangenheit u, feine heutigen Lebensfragen. 797 


ſich gleich bleibenden Ibentität der wernlinftig » fittlichen 
Menfchenuatur können auch die al& Ihr entfprechend bes 
fundenen religiöfen Nahrungs⸗ und Heilsftoffe niemals 
ihre Beziehbarkeit und Wirkſamkeit für dieſelbe verlieren 
(5. 283.). Damit if dentlich gefagt, daß die Kirche mit 
jedem Symbole, welches fie anfgibt, einen Lebensfa⸗ 
den entzwei reife. Das Recht, ja felbft die Pflicht, ihre 
Belenneniffe zu revidiren und and dem. reichen Schatze 
bed Alten und des Neuen noch abliquatere Darlegungen 
ihre Glaubens und Lebens hervorgubringen, will Der 
Derf, Der. Kirche nirgends abfprechen. 

Das Widerfireden des theologifchen und kirchlichen 
Radiealismus gegen alle nad jede’ weitere Haltung ber 
Symbole ſcheint und auch hier feinen tieferen Grund im 
einem fchrantenlofen Individualismus zu haben. Das 
Symbol nuterwirft dad empirifche Ich einer objectivch 
Gedankenmacht. Nirgends zeigt es fich deutlicher ale hier, 
daß es unferer Kirche an einem objectiven Gewiſſen fehlt, 
denn das fubjective Gewiffen, von dem Rothe (in feiner 
theolog. Ethik, Bd. I. S. 265.) ganz richtig: fagt, daß, 
wo die Berufung auf daffelbe eimtrete, alles weitere 
Disputiren ein Ende habe und alle objettiven Argumente 
wirtungslos werben, muß als foldyes jeder objectiven 
Blaubendautorität widerfireben. Auch der: Berf: fcheint 
ben Mangel an einem kirchlichen Bewiffen tief zu 
fühlen, wenn er bemerkt, „die ganze Debatte über abfos 
Iute Lehrfreiheit laſſe unwillkürlich den Eindruck übrig, 
als fey die Kirche nur dazu da, um für die Entwides 
lungen des wiffenfchaftlichen Geiſtes einen freien Spiels 
raum, ein auch materielles Subſtrat zu gewähren” 
(8. 306.), Daher kommt es denn auch, daß, wie der 
Verf. ebenfalls fehr wahr erinnert, ed in Nädficht auf 
die Kirchenpolitik noch fo fehr an rechten, praßtifchen 
Begriffen fehlt (&.313.). 

. Mit dee Symbolfrage hängt and, bieienige vom 


198 Der beutfihe Proteſtautiomus | 


Hriftlihen Stante ziemlich nahe zuſammen. Der 
Verf. will folgerichtig den cheiftlichen Staat nicht aufge: 
ben, den er echt proteantifch ale fittlihe Lebens⸗ 
gemeiufchaft erfaßt, die nur als eine chriſtliche wahr⸗ 
haft fietlich feyn Bann. Dagegen verwirft ber Berf. den 
confeffionellen Staat. Die Erfahrung bat aller 
dings gelehrt, daß confefflonelle Staaten nicht mehr 
durchführbar find. Dagegen find mit der Subifferenz bed 
Staates gegen confeffionehe Unterſchiede doch auch greße 
Gefahren verbunden, wobei diejenige bed Iudifferen: 
tismus überhaupt am nächſten liegt, dann diejenige, 
unter dem Scheine der Unparteilichleit doch die eine Con⸗ 
feffion heimlich gu bevorzugen und die Eiferfucht der 
anderen zu reigen. Auch wirb der über den confeffienel- 
len Unterfchieden ſtehende chriſtliche Staat der römifchen 
Kirche gegenüber ſich in ſteter Verlegenheit befinden, weil 
biefe den Anſpruch auf. wahre Chriklichleit an ihr Bes 
kenutniß knüpft. Im Allgemeinen fcheint ber Berf. wit 
feiner priucipielen Grundauſicht vom Wehen des Pro 
teſtantismus nicht gauz befähigt, Die Idee bes chriſtlichen 
©taated durchzuführen. Der Slaube if ihm etwas rein 
Subjectives, Perſönliches, Selbfiglaube (S. 300.). Mit 
dieſem Begriffe des Glaubens kann ſich Ref, nicht ein» 
verſtanden erklliren. Der Glaube iſt vielmehr and 
objectio bedingt: durch feinen Gegenſtand, fein Gegen⸗ 
Raub if die SDffenbarung, und daher muß andy ber 
Ariklide Staat, wenn feine Chriſtlichkeit etwas 

Reelles ſeyn fol, einen durch die objectiven Grundidees 
des Chriſtenthums bedingten Glauben von feinen Geuoſ⸗ 
fen verlangen. Damit hat aber die unbedingte Be 
wiffensfreiheit ein Ende, Wir billigen es zwar ganz 
daß der Berf, die Sectenbildung durch den Gmat 
nicht behindert haben will, und bie Abfiufungen uns 
Rangclaffen von den Landeskirchen bie zu deu. ger 
duldeten Secten haben Bieles für fih (S. 333); 








feine Bergangemheit.u. feine heutigen Lebensfragen. 790 


allein ed: hanbelt ich in der Begenwart nicht nur. am 
bie Anerkennung folcher Diſſidenzgemeinden ober Secten, 
welche ihren Zuſammenhang mit dem Chriſtenthume noch 
glaubhaft vachweiſen können, ſondern darum, ob der 
ch riſtlich e Staat auch ſolche Diſſidenten ſich incorpo⸗ 
riren könne, bie ihre geiſtige Exiſtenz bloß auf die Baſis 
einer deiſtiſchen (alſo nicht mehr chriſtlichen) Moral grün⸗ 
den. Und daß manche Zeitgenoſſen mit dem chrißlichen 

- Dogma völlig, gebrochen haben, wird ber weit und tief- 
bli@ende Berf, gewiß ohne Bedenfen gugeben. Wenn er 
daher allen Secten, welche nicht gerade unſittlich find, 
Duldung von Seiten des Staates zuſichern möchte, fo 
ſcheint Damit Die Idee des chriftlichen Staates wenigſtens 
wefentlich modiſitirt. Um den Lebergang zu vermitteln, wg 
eine möglich große Freilaffung des ſubjectiven Gewiſſens 
jest am Platze feyn; immerhin wird auch der Berf-gus 
geben, daß dieſe Frage noch nicht als erlebigt betrachtet. 
werden Tann, und aus biefem Grunde fcheinen uns auch 
bie Vorwürfe unbsilig, mit denen jede Regierung Aber: 
häuft wird, wehde tem oft rein egoiftifchen Triebe nad 
Sectenbildung nicht gleich mit — —— 
entgegenkommt. 

Jedenfalls billigen wir db dad wilde aud ſchonende 
Berfahren, welches der Berf. von den Regierungen ger 
gen „Lichtfreunde” und „Deutfchlatholiten” eingehalten 
wänfcht, um fo mehr, ale er ſelbſt feine Sympathien 
für Diefe neueſten Erfcheinungen des „chriftlichen Zmithes 
wußtfeyns” an Den Tag legt. In der lichtfreundlichen 
Vereinigung findet er nur „die tanfenderlei berechtigten 
und underechtigten Anſichten, Wünſche, Triebe, Leiden, 
fchaften, welche in der deutfchen noch immer fo unnacur⸗ 
lich erregten Nation pulſiren, wie fie eine Aeußerungs⸗ 
form. fuchten nud nad einem Punkte fi hinwälzten, 
wo der ungefunde Ueberdrang unter einem legitimen 
Vorwanbe ſich entladen zu können ſchien“ (S. 304.). Bon 


800 Der deutfihe Preoteitantisums 


einer „Mien ber Deutſchkatholiken“ te bem Sime, 
wie Gervinns file in Audficht ſtellte, will er gar nicht 
wiſſen; vielmehr if ee ber Meinung, wenn irgend et: 
was und. anıh ferner gegen Rom fchägen werbe, fo ich 
es die Ölanbenspabflang, welche Roms Macht gebrochen 
babe, nicht aber der Strich der gegenwärtigen Bildung 
(©. 450.), und er iſt Übergeugt, daß nur das hiſtori⸗ 
ſche Shriſtenthum, wie ed bie Mutter aller ber her⸗ 
tigen: Bilnung eigenen Idealitüt geweien, fo aud bie 
afletnige Trägerin berfelben unter den Deutfchen bleiben 
werde” (©. 466), Was ber Berf. über Deutichlatheis 
ben uud Lichtfreunde Überhaupt Treffliches nud Unüber⸗ 
treſſtiches geſagt hat, muß man ſelbſt nachleſen, abe: 
wer glanbt unſerer Predigt, heißt ed auch bier. 

Auch der in unferer Seit fo viel befprochenen Kir 
Heuverfaffungsfrage bat der Berf, ein befonde 
res Kapitel gewibmet, Er ift auch hier nicht blind gegen 
die „religiſss höchſt zweifsihafte, bald werthlofe, bald 
entfchieden irreligisſe Gefinnung, vos weicher weuer 
Kug6 ſo oft. bie Forderung einor Seelen Kirchewer⸗ 
faſſung - auögegangen iſt (S. 336.). Es: iſt gewiß nur 
lobenswerth, wenn man ſich durch diefe zweideutige Bl 
Han; nicht abhalten läßt, für eine Umgeſtaltung der bie 
berigen Kirchenverfaffung auf georduetem Wezge ze 
werten. Mit Bufgebung ber veralteten reinen Gonfik« 
rialveraffung betrachtet ed der Verf. üblich wie F.Mäb 
ler als Erforberniß der Zeit, bag ein die Kirche vertre⸗ 
tendes, auf. freier Wahl der Geiſtlichen und Bemeindes 
ruhendes Organ ſich bilbe, welches in einer Landesſynode 
bie höchſte Eoncentration feiner Kräfte beflte und nicht 
bie aus Geiſtlichen, fondern aus gleichberechtigten Arlte- 
Ren als Nepräfentanten der Gemeinde beſtehe, uub ver 
Allem dad Recht habe, Anträge in Baden ber Kirche ar 
ben Lanbeäheren zu bringen (S. 4.) Nur in eine 
foihen Kirche, in weldger die Geſammtheit der wieder 


J 


feine Vergangenheit u. feine heutigem Sebenäfragen, 804 


zu fich feld gelommenen Nation: sepräfentiet 
fey, glanbt ber Verf. werden Struuß, und:feine Geſin⸗ 
nungsverwandten die rechte Wiberlegung finden, 

Wir verkennen keinen Augenblick, wie viel Schönes 
in der Ssdee einer Nationalkirche Kept, und wie viel 
damit gewonnen wäre, weun bie einzelnen zerfiplitterten 
ekandeskirchen in einer foldıen ihre höhere Einigung 
fünden. Wir find.aber auch ber Meinung‘, der Brote 
ſtantiemus würde bei. einer folchen nicht Rehen bleiben, 
weh je überhaupt im’ der Idee des Chriſenthums, ‚Deflen 
angemeffenften: Ausdruck der Proteſtantismus für unfere 
Zeit ſeym fell, etwas liegt, Bad über das bloße Natio⸗ 
nalbewußtſeyn woch weit. hinausgeht. Was ader dev Berf. 
von der praftifchen Aufgabe ben Kirche fagt, und wie 
fie die vernachtäfflgte ſittliche Volköpflege wieder zu 
übernehmen babe, das ift und aus dem Herzen gefchrier 
ben. Luther hat ſich von ber römifchen Kirche losgeſagt, 
weil fie das Volk fittlidh verwahrlofte, und jebt müflen 
fi) unfere Geiftlichen im Punkte der fittlichen Volkspflege 
manchmal von römifchen Prieftern befhämen laflen. Der 
Berf. fast fo wahr, daß ed eine Kaffe von Genoſſen 
der proteflantifchen Kirche gibt, am welche bie veledenden 
Wirkangen einer neuen Kirchenverfaffung nur unter ber 
Bedingung herankommen werben, daß die Kirche ſich 
als eine Macht im Leben zeigt, getragen nicht durch 
begleitende Maßregeln des weltlihen Arme, fondern 
durch Teihlaten der ferien, hingebenden, thufopfernden 
Liebe (5.41%). Uebrigens weiß "der Verf. au bie 
uniserfelle Bedentung des Ghriſtenthums wweiflich zu 
würdigen (&;526.), und wer ſtimmte ihm nicht dei, wenn 
er fagtr „die geiftige Weltherrſchaft der Deutſchen ale 
des Eulturvoits der neuen Epodie brach mit 
Luther u”? (S. 6as.) Diefe univerfalififche Beſimmung 
zunachſt auf dem Grunde eines geſteigerten Nationalbe⸗ 


802 Dee beutfihe Protchantisnus, 


wußtfegns: immer .. mehr zu erfüllen, wird bie Aufgabe 
des beutfchen Proteſtantis mus bleiben. Gewiß hat. der 
Berf. darin Recht, daß die Zukunft Dentſchlands am bie 
Eutwidelung ded Proteſtautismus gefnipft fey, und zwar 
eined foldhen, ber und an „religiös Kitlicker Füllung 
nicht ärmer, ſondern reiches wachen wird.“ Wir glanben 
an eine Zukunft ber. protefanztifchen Kirche, in ber dad 
gläubige Subject wit voller Freiheit feine Befrie⸗ 
digung in den, tiefer gefaßt, ewigen Glauben 
objecten ber Kirche, in. der viele kritiſche Bebanten ihre 
Derfönuung in pofiiven Thaten finden werden. Deus 
daß das Chriſterthum in letzter Juſtanz That-und Le 
ben if: das ſey in einer wert: und bücherreichen Zeit 
auch unfer letzter Troſt. 

D. S ch enkel. 


3. 


Felir Hemmerlin von Zürich. Neu nach den Quellen 

bearbeitet von Balthaſar Reber, V. D. M., Phil D, 

. der baßler hiſtoriſchen und ber ſchweizeriſchen ge 

ſchichtforſchenden Geſellſchaft Mitglied. Zürich, Ver⸗ 
lag upn Meyer und Zeller. 1846. ©. 496. 





Sm, 4 Bande feinen Geſchichte ſchweizeriſcher Eid 
genofenidiaft madıt une Joh. v. Müller mit einem Maune 
befannt, weicher, nachdem er unter feinen Zeitgenofen 
nine ehrenvolle Stelle eingenommen: und eine nit ww 
bedeutende Wirkſamkeit audgelbt, nach ſchweren "Leiden 
und Berfolgungen fein Leben in einem Kloftergefänguifle 
der Stadt Euzern anshanchte, bei feinem Tode bereits 
fo ſehr vergeffen, daß über das Jahr deffelben ein erw 


Felix Hemmerlin. 803 


ßes Schwanken obwaltet (1457 oder 1464). Maller bat 
des Mannes zahlreiche Schriften reichlich uud forgfältig 
auögebenutet, um von der Schweizer Denkungsart und 
Kenntniſſen im 15, Jahrhundert ein Bild zu entwerfen; 
an diefe Darſtellung Mmüpft er eine treffliche Eharafteris 
ſtik des Verfaſſers und fügt bie Bemerkung hinzu: „es 
wäre Berbienft, in folden Sammlungen (feiner Schriften) 
enthaltene Gefchichten und eigenthümliche Gedanken durch 
anthentifche, vollſtaäͤndige Auszüge genießbar zu machen” 
(.0,D.6.219.),. Diefer Gedauke des berühmten Ger 
ſchichtſchreibers der Schweiz hat einen empfänglichen Bor 
den gefunden in ber Seele eines basler Gelehrten, der 
ih fon durch mehrere gediegene Arbeiten im hiltorifchen 
Fache dem Publitum auf fehr vortheilhafte Weife bes 
kannt gemacht hat. Herr Neber bat feinen Gegenſtand 
inderumfaffendfieu und erfchöpfendfien Weiſe behandelt; 
er gibt eine audführliche Biographie feines Delden und 
eine eingehende Charalteriftik feiner Schriften, begleitet von 
sahlreihen und weitläufigen Auszügen, Diefe muß und 
um fo willfommener feyn, da die Schriften im Staube 
der Bibliothelen begraben liegen, oder in bloßen Hands 
Ihriften vorhanden find. Dergeehrte Berf. hat fich in dieſer 
fo wie in jeber andern Beziehung des gründlichſten Quel⸗ 


lenſtudiums befleißigt; feine Arbeit ift ein fchöned Denke 


mal tüchtiger Gelehrſamkeit, — aber zugleich die Probe 
eines wirklichen biftorifchen Talentes, welches fähig if, 
aus vielen Einzelheiten den Charakter eined Mannes zu 
conſtruiren, ein anſchauliches Bild von feinem ganzen 
Wefen nach allen Richtungen bin zu entwerfen, ihm ſeine 
Stelle in feiner Zeit anzuweiſen, die Wirkung, weiche von 


der Zeit auf ihn Überging, und diejenige, welde er auf: 


die Zeit ausübte, zu befchreiben. Der echt hiſtoriſche 
Sinn des Berf. bewährt fi auch darin, daß feine Dars 
Reflung Teine Spur von dem faifchen Beſtreben zeigt, 


+ 


804 ‚Beber 

feinen Helden zu ibeafifiren, deſſen Bedentuüng über Ber 
dühr gu erheben, befien Fehler und Schwachheiten zu 
befchönigen und zu verbeden. Um fo mehr wird aber 
die Anufmerkſamkeit des Leſers gefeffelt und fein Intereſſe 
zu Gunſten des Mannes. rege gemacht. Ja ſelbſt ber 
Umtftand, daß Hemmerlin’s Leiden nicht vönig under 
fehuldet find, thut dem innigen Mitgefühle, das man für 
ihn hegt, feinen @intrag. 

Der Berf. erflärt fi zwar fehr befkkmmt gegen bie 
Anfiht, daB Hemmerlin im Kirchlichen ein Borlänfer 
Zwinglis geweſen (8.9). Doc kann er wicht umbin, 
tum eine Stelle neben Geerg v. Heimburg, Jakod v. Iüs 
terbod, Johann v. Weſel, Sebafllan Braud, Geller v. 
Kaiſersberg anzumeifen. Er finder nur, daß die genann- 
ten Männer noch ſchonungéloſer zu Werke gingen, indeß 
Senmmerlin grunbfäglich mehr ein Kichenmann, Patholi: 
fcher dlieb als fie alle (SS. 116.). So reihe ſich das Werl 
ded Herrn D. Reber an die-bebeittfamen Korfchungen von 
Ullmann über die Reformatoren vor der Reformation 
an und kann abs eine Ergänzung derfeiben, was dk 
Schweiz betrifft, angefehen werden. In biefer Hinfiht 
verdient dieſes Wert in einer theolugifchen Zeitfchrift 
angezeigt zu werden. 

Hemmerlin ift freifich nicht bloß ein Kirchenmann, 
er bat auch einen politifchen Charakter, der Kart genug 
hervortritt, da er zur unglücklichen Wendung feines 
Schickſals wohl das Meiſte beigetragen. Im Mittelalier, 
und zumal in der Schweiz dis auf den heutigen Tag, iR 
- nicht leicht Kirchliches und Polttifche® zu trennen; darum 
ſoll Hemmerlin’6 politifhe Stellung ebenfalls angedentet 
werden. Die widtigfte Seite feines Lebens bleibt immer⸗ 
Hin die der Kirche zugewendete, fo wie denn aud Herr 
Meder feine kirchlichen Schriften als die wichtigfien an- 
ſſeht, — ein Urtheil, deſſen Richtigkeit aus der weitlänf- 


Felix Hemmerlin. 805 


gen Betrachtung feiner Gchriften er Sicherheit ber» 
vorgeht, 

Wie war ber Boden befchaffen, in welchem Hemmer⸗ 
iin wurgelte, and welchen er hervorging , den er durch 
von ihm ausgeſtrente Saamenkörner befruchtete? — 
Die irchlihe und politifche Lage der Schweiz tritt. uns 
in anfdyaulichem Bilde entgegen in dem Zufammentrefs 
fen der Kicchenverfammlung zu Bafel mit dem Kriege 
der Eidgenoffen gegen das üfterreichifch gefiunte Zürich. 
In diefen beiden Ereigniffen And uns die Faktoren an: 
gegeben, bie in Hemmerlin’d Leben und Wirken am kruͤf⸗ 
tigften hervortreten. Er nahm Theil an jener Kirchen, 
verfammlung, er war für fle, wie fo viele Zeitgenoflen, 
wie felbft eine Zeitlang Aentas Sylvius, begeiftert; die von 
ihre fanctionirten Grundfäge an verwirklichen, hielt er 
für die Aufgabe feines Lebens. Ingleich aber hielt er 
ed mit ber Adelöpartei in Züri, mit Defterzeich gegen 
bie demofratifche Urfchweis, gegen das fchweizerifche 
Princip Kberhaupt (S. 180.), and feiner Borliebe für den 
Adel, and feiner Abneigung gegen den Bauern, und Bär: 
gerftand ging fein politifches Hauptwerk, de nobilitate, 
hervor. In Kirchenſachen, fagt der Berf., war Hemmer; 
lin ein Junger, auf den erften Blick beurtheilt, in ber 
Politik ein Alter. Und doch ift bier Sein Widerſpruch 
bei ihm, fährt Here Reber fehr finnig fort. Hemmerlin’s 
kirchliche Tugend war ja nicht diejenige bed 16. Tahrs 
bundertö, die “Jugend ber Reformation, fondern bie des 
15., ed war eine. fehr Iangfame, vorficktige, fehr reife 
Jugend, die nach wenigen Sahrzehnten für hinfäliges 
Alter galt; hingegen der ſchweizeriſche Freiheitsgeiſt trat 
auf in alfo braufender Gährung, daß ſolche Gaͤhrung 
dem mäßigen Semmerlin wahrlich nicht als politifcher 
jugendlicher Flügelfchlag, fondern als Alles vernichtender 
Tobtſchlag erſcheinen mußte. Es iſt alfo hier durchaus Fein 


806 "Weber 


ſtsrender Wipderforuch in Hemmertin’s- Charakter, fendern 
im Gegentheile, es zeigt ſich gerade in dieſem fcheinbaren 
Miderfpruche bei ben bamaligen Umfänden feine innerke 
Eonfequenz” (S. 5.). In der That haben bie kirchlichen 
Beftrebungen, welche ber allgemeinen Kirchenverſanm⸗ 
kung zu Grunde lagen, mit dem bemofratifchen Treiben 
wenig gemein; jene Kirchenverſammlung flellte die kirch⸗ 
liche Ariſtokratie dar, welche mit der politifchen Arike 





kratie in lebendiger Affinität Rand, indeß bie bemolratv 


fen Bewegungen, je nadı den begleitenden Umſtäuder, 
fich entweder dem alten Papalſyſteme auſchloſſen, wir in 
den Hintercantonen ber Schweiz, ober bie allgemein, nu 
tärliche Bafld vorbereiteten, auf welder bie Reformo 
tion fpäter bervorblühte, wie dieß in den Staͤdtetantonen 
der Schweiz der Keil war. 

9. Reber’d Darftellung gibt uns Auffchluß baräber, 
wie ed fam, bag Hemmerlin im Kirchlichen wie im Pe⸗ 
litiſchen die bezeichnete Stellung einnahm. Das Bil, 


bas er von ihm entwirft, läßt uns bis in die kleinſten 


Züge einen Mann erkennen, der theil auf bie Geitede 
Kiccheareformatien, wie man: fie damals verſtand, theili 
auf die Seite der Adelspartei fich hingezogen fühle 
wußte. 


Geboren im Jahre 1389 zu Zürich, einer .gamilie 





angehörig, die früher adelig gewefen zu ſeyn fcheist, 
erhielt er feinen erften Unterricht in der Schule der Greß⸗ 


münftetlicche feiner Baterftadt, und fehon im Jahre 1413 
wurde er Chorherr am daſigen Stifte. Bon lebendigen 


Wiſſensdurſte und Bildungstriebe befeelt, machte er dr 


rauf gelehrte Reifen und befuchte die Univerſitäten Bo 
logna und Erfurt, die beiden berühmteften Lehrankalten 
Italiens und Deutfchlande. . Er war Zufchauer bei MT 
Kichenverfammiung zu Conſtanz und nahm offieießen 
Antheil an derjenigen zu Bafel, Vom Jahre 1412 dis 1428 


Selle Hemmerlin. 807 


wurde er der Reihe nach mit folgenden Aemtern und 
Mürben begabt; im Jahre 1412, wie ſchon gefagt, Chor⸗ 
herr zu Zürich am Großmünfterfifie; im Jahre 1421 
Prob zu Solothurn am St. Urfudflifte; in bemfelben 
Jahre Baccalaureud des kanoniſchen Rechts zu Bologna s 
im Jahre 1427 Probft zu Zürich am Großmänfterftifte 
und Ratt befien 1428 Gantor daſelbſt, und wahrfcheinlidh 
endlich in demſelben Jahre Ehorherr vom Gt. Moripftifte 
in Zofingen. Später, während bee Krieges von Zürich 
in Berbindung mit Defreich gegen die Eidgenoſſen, wurde 
er and) noch Rath bed Markgrafen von Baden, wahre 
ſcheinlich auch des Markgrafen Wilhelm von Hochberg 
und feined Bruders Dite; ferner Eaplau des Herzogs 
Albrecht von Defireich, and endlich and Caplan Kaifer 
Friedrichs UI.; doc, waren dieſe letzten fürftlichen Aus⸗ 
zeichnungen bloße Ehrentitel ohne amtliche Bedeutung 
(8, 18). 

Er erwarb ſich eine außerordentliche Menge von 
Kenutuiffen und Tann wohl als einer der gelehrteflen 
Männer feiner Zeit angefehen werden, Seine Bibliethel, 
aud fünfhundert Bänden beftebend, war für jene 
Zeit eine fehr ungewöhnliche Erfcheinung. Er wenbete 
große Sorgfalt auch auf die Anordnung derfelben und 
rühmt ſelbſt mehrmald, wie gut fie .georbuet und aufge« 
ſtelt ſey (S. 25. 125.). Ueberhaupt Hebte er, als vorneh⸗ 
mer Kirchenmann, nicht nur den Kirchenpomp, ſondern 
überhaupt den Glanz ded äußern Lebens; feine Woh⸗ 
nung, welche eine fchöne Ausſicht auf ben See hatte, 
muß fehr zierlich und niedlich auögefehen haben. — Daß 
ein Mann, der auf folder Stufe der Bildung und 
mit feiner Zeit in ber lebendigfien Berührung ſtand, 
in die Damals fo weit hin verbreiteten und auch dem 
oberflaͤchlichſten Blicke fo nothwendig fcheinenden Refor⸗ 
mationsbeflrebungen einging, das werben or gewiß fehr 

Theol, Stud. Jahrg. 1847, 


808 Reber 


begreiflich finden. Wir werben und aber auch nicht wuns 
bern, wenn er, ber alten Sympathie feines Stiftes ger 
treu umd folgend den Autrieben feiner ariftofratifchen 
Natur, auf die Seite des Adeld and Deſtreichs gegen 
die Eidgenoflen trat und die einmal erwählte Partei leb⸗ 
haft vertheibigte. 

Obwohl Hemmerlin’d Wirkfamleit unb WBebentung 
hauptſächlich in feinen Schriften gefucht werden muß, fo 
it Doch nicht gu verfennen, baß er unmittelbar praktiſch 
gewirkt .hat. Die furchtbar verborbenen Bitten ber Chor 
herren des Stiftes in Zürich hat er muthig bekämpft 
(S. 156,) und eine Reformation derfelben verſucht. Es 
ift dieß um fo mehr anzuerfenuen, ba er fich dadurch 
den Neid, ben Haß, die bitterfte Feindſchaft feiner Gol- 
legen, ia felbft Zodedgefahr zugog (S. 289. 387.). Da 
der Didcefanbifchof von Conſtanz und fein Generalvicar 
Gundolfinger von bemfelben Gelichter waren wie die 
Ehorherren von Zürid (S. 296.), fo entfremdete er ſich 
durch fein reformatorifched Auftreten im Stifte and jene 
beiden geiftlichen Obern; ja er befämpfte fogar den Ge 
neralvicar thätlih CS. 296.) und in feinen Schriften 
(S. 420,), und trng dadurch wohl dazu bei, baß biefer 
ihn nachher fo hart behandelte. Ueberhaupt muß feine 
Gefangenuehmung in Zürid; nebft ben darauf folgenden 
Drangfalen als eine Wirkung feines kirchlichen Anftre⸗ 
tend angeſehen werben. 

Allerdings war fie zunächſt eine Folge des politifchen 
Haffed. Hemmerlin hatte die Schweizer fehr grob be 
handelt und fi im Schimpfen auf fie durch große kei 
denfichaft hinreißen laflen. Als nun Zürich mit den Eid 
genoffen Frieden fchloß, entlud fih der Haß gegen ibn. 
An der Faſtnacht des Jahres 1454 waren anderthalb 
taufend Sünglinge aus verfchiedenen Cantonen in Zürich, 
um die Luftbarkeit mitzumachen. Sie befchloffen, des 


Felix Hemmerlin. (809 


Feind der Eidgenoſſen, bed Papſtes unb bed Biſchofs 
u greifen; fie bemächtigten fich des fill in feinem ſchö⸗ 
nen Stubirzimmer verweilenden Chorherrn und überlies 
ferten ihn in die Hände Gunbolfiuger’d; das Ganze war 
verabredet; geiftliche Bosheit und Heimtüde ſteckte dar 
hinter; die Schweizerjünglinge hatten nur den Arm ges 
lichen, um die von Anderen gefchmiebeten Pläne auszu⸗ 
führen. 

Hemmerlin’d fchriftftellerifche Thätigkeit war fehr bes 
deutend; der Verf. macht und mit 36 Schriften befielben 
befannt, wovon mehrere ziemlich beträchtlich waren. 
Man erkennt in ihnen fehr deutlich den für die damalige 
Reformation der Kirche begeifterten Mann. Geine Ab: 
ſicht iſt rein und gut, einzelne Mißbräuche erfennt und 
rügt er muthig, ja er tadelt heftig den Papft und bie 
päpftliche Curie (S.59.340.). Doch find feine Religionder- 
fenntaiffe noch fehr wenig geläutert, fein Sinn ift be- 
ſchrankt, ungeachtet feiner großen Gelehrfamteit; er hul⸗ 
digt mit einer gewiſſen Treuhergigkeit dem craß fatholifchen 
Aberglauben (5.336. 307.), Vielleicht hat gerade das 
Dämmerliht, worin er fich befand, dazu beigetragen, 
daß feine Schriften weit verbreitet und viel gelefen wur⸗ 
den. Er war ein. beliebter Schriftfieller, man begreift 
das aus Reber's Darſtellung; die meiften Schriften find 
in Form von Dialogen abgefaßt; fie firdmen über von 
Anekdoten, witzigen Einfällen, pifanten Worten, woruns 
ter ſich freilich mitunter Triviales, fogar Schmugiges 
einmifcht. Aber and, ernfte, ergreifende Gedanken find 
darin niedergelegt (5.474) Wir hätten nur gewünſcht, 
daß der Berf. ſich noch mehr beftrebt hätte, und mit dies 
fen ernten Gedanken Hemmerlin's befannt gu machen, 
überhaupt uns in feine theologifche und kirchliche Denk⸗ 
weife tiefer einzuführen. Dieß ift die einzige Fritifche Be⸗ 
merkung, die wir zumachen und erlauben. Max möge ung 

54. * 








810 Reber, Belle Hemmerlin. 


ntcht fo verſtehen, ald ob wir eine rubricirt, ſyſtema⸗ 
tiſch georbuete Zuſammenſtellung der Auſichten Hemmer 
Iin’d vom DBerf. erwartet hätten; es konnte unferem 
Bunfche ein Benüge gefhehen, ohne daß die Methode, 
weiche der Berf. befolgt , verlaffen worben wäre. 

Diefe Eritifche Bemerkung möge übrigend dem ger 
ehrten uud befreundeten Verf. nur zeigen, mit welcher 
Aufmerkfamteit wir fein Buch gelefen; wir wlnfchen, 
daß es noch vielen Leſern denfelben Geunß darbieten 

wöge, den wir daraus geſchöpft haben. 


J. H. Herzog. 





Anzeige : Blatt, 


Bei Friebrih Perthes von Hamburg iſt erfchienen: 
Lücke, Dr. Fror., und Ullmann, Dr. &,, Ueber die 
Nichtannahme des königsberger Deputirten Dr. Rupp 
auf der berliner General Verfanimlung des Ouſtav⸗ 
Adolph» Bereind. gr. 8. geheftet 12 Sgr. 
Bei Friedrich und Andreas Perthes ift erfchienen: 
Perthes, Dr. GI. Th, Die Einverleibung Crakau's 
und die Schlußacte ded Wiener Congreſſes. Eine 
Zlugfchrift. 8. gebeftet. 2. unveränderte Aufl. 6 Sgr. 
Diefe kleine Schrift ift nach wenigen Wochen ihres Erſcheinens 

n flarter Auflage völlig vergriffen, fo daß ein zweiter Abdrud noͤ⸗ 
6 war. 

Wir empfehlen noch folgende Brofchären, bie durch 
die Zeitfragen hervorgerufen wurden: 

Adermann, Dr. &., Die Glaubensſätze von Chrifti 
Höltenfahrt und von der Auferftiehung des Fleiſches. 
16, geh. & Sgr. 

Bröcer, J. P. ©, Der evangeliſch⸗chriſtliche Ges 
mein degottesdienſt aus der Gahrift EIN gr. 8, 

5 


geh. r. 
Geijer, Erik Guſtav, Auch ein Wort über die —8 
Frage der Zeit. gr. 8. geh. 12 Ggr, - 
Martenfen, Dr. H.,' Die chriftliche Taufe und bie 
bapsiftifche Frage. gr. 8. geb. 15 Ser, 
Schwarz, Dr. Th., Der evangelifche Geift im Bunde 
- mit der heiligen Schrift. 8. geb. 15 Sgr. 
Hlmenn, Dr. C., Ueber den nnterfcheidenden Charak⸗ 
ter_ oder das Wefen des Chriftenthumg, mit Beziehung 
anf neuere Auffaffungsweifen und einem Blid auf Ge⸗ 
genwärtiged, gr. 8, geb. | 132 Sgr. 
Ullmann, Dr. &, und Albert Sauber, Zwei Bedenken 
über die Deutfch-katholifche Bewegung. gr.8. geh, 12 Sgr. 
Behörden, Directoren und Lehrer von Gymnaſlen 
und höheren Sculanflalten bitten wir, für die Schul⸗ 
bibliothefen das vaterländifche deutfche Werk zu berück⸗ 
ſichtigen: 
Bildniſſe der deutſchen Könige und Kaiſer von Karl dem 








Großen bis Marimilian I, nad Giegeln, Müuzen, 
Grabmälern, Denfmälern und Original»Bildniflen ge⸗ 
jeichnet von — Schneider, in Holz geſchnit⸗ 
ten in der rylographifchen Anftalt in München, nebſt 
harakteriftifchen Lebensbefchreibungen derfelben von 
Friedvrih Kohlraufch. gr. ker. 8 geh. Thlr. 4. 
Es wurde in mehreren Staaten die Anfchaffung be 
reits von höchfter Stelle empfohlen, | 
Kolgende, theils ältere Werke unſeres Verlags, moͤch⸗ 
ten ſich zu gleihem Zwecke eignen: 


Bindfeil, H. E., Abhandlungen zur allgemein verglei⸗ 
chenden Sprachlehre. 1) Weber Begriff und Object der 
Sprache und Phyfiologie ihrer Raute. 2) Ueber die 
verfchiedenen Bezeichnungen ded Genus in den Spra—⸗ 
chen. Thlr. 3. 20 Sgr. 


Deinbardt, 3. H., der Gymnaffal-Unterricht nach ben 
wiffenfchaftlihen Anforderungen der jeßigen Zeit. 
Thir. 1. 15 Ser. 


Ebel, über gedeihliche Erziehung, für Eltern und Er 


zieher. 20 Sgr. 


Euripides restitutus sive scriptorum Euripidis ingenii- 
que censura, cur. Hlartungus. 2 Vo Thir. 3. 
6, Th., Berfucd Über die zu ben Stadien erforder 
lichen Eigenfchaften und die Mittel, diefelben am Kuas 
ben, Jüngling und Mann zu erfennen. Eine Preis⸗ 
ſchrift. Thlr. 1. 5 Sgr. 
—— Chr. L., die Ausgleichungs⸗Rechnungen ber 
Pr hen Geometrie, oder die Methode der kleinſten 
uabrate mit ihren Anwendungen für geodätifche Auf- 
gaben. Gebunden Chir. 2. 20 Spt. 
Güber, ©. 3, Grundregeln der beutfchen Sprade md 
ihrer Rechtfchreibung. 75 Sur. 
Sartung, 3%. A., Lehren der Alten über die Dichtfunf, 
Durch —— mit denen der beſten neueren. 
Thlr. 1 10 Eyr. 
09, 8., Geſchichte bed Thäringifchen Volkes, für 
vn Bit und die Jugend, : Thl 
Hillebrand, J., die deutſche Nationalliteratur ſeit dem 
Anfange des ISten Jahrhunderts, beſonders feit Le 
fing bid auf die Gegenwart. Hiſtoriſch und äſthetiſch⸗ 
Pritifch. 8 Thle. geh. Thir. 6, 8 Spt. 


hir. 2. 73 8gr. | 





Klanfen, R. H., Aeneas und die Penaten, Die itali⸗ 
fhen Bollereligionen nnter dem Einfluß der griechi- 
ihen. Mit 2 Kupfertafeln. 2 Bde. Thlr. 6. 20 Gyr. 


Kühner, R., Ciceronis in philosophiam ejusque par- 
tes merite. Thlr. 1. 10 Sgr. 
Niebuhr, B. ©., griechifche Heroengeſchichten, an feis 
nen Sohn erzählt. . 65 Ser, 
Hückert, Dr. E., Troja's Urfprung, Blüthe, Unter; 
gang und Wiedergeburt in Latium. Eine mythologifche, 
chronologiſche und ethnographifche Unterfuchung der 
teojanifhsrömifchen Stammfage, Geh, Thir.1. 24 Sgr. 


Folgende eigentlihen Schulbücher bringen wir beim 
Semefterwechfel auch in Erinnerung: 


Petri, Morig, Elementar » Lefebucd der Englifchen 

Sprade. 20 Sgr. 

Dieses Buch hat sich seinen Weg gebahnt; da, wo es 

einmal eingeführt ist, wird es fortwährend beibehalten; es 

sei Lehrern der englischen Sprache freundlichst empfohlen. 

Cinquante fables pour les enfants par Guillaume 

Hey. Sebunden Thlr. 1, 5 Sgr. 

Solor. Thlr. 2, 

Die trefflliche Uebersetzung der bekannten Hoy-Speckter- 

schen Fabeln. Sie werden stets mit grolsem Nutzen beim 
ersten Unterricht in der französischen Sprache benutst. 


Bretfchneider, C. A., Productentafeln, enthaltend die 
2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, Yfachen aller Zahlen von 1 bis 100,000. 
Gebunden 20 Sgr. 

Habich und Berger, Elementargrammatif ber lateints 
[hen Sprade, mit einer Sammlung von Beifpielen 
zum Ueberfegen aud dem Lateinifchen ind Deutiche und 
aus dem Deutichen ind Lateinifche. Thlr. 1. 


Schlimbach, 3. S., Anleitung zum erften Unterricht 
in der Himmelskunde für Bolföihulen. Mit 58 ein» 
gedrndten Holzfchnitten und einer Borrede vom Dis 
tector J. 9. T. Müller Geb. 20 Sgr. 


Schlimbach, Uebungsfragen für den Unterricht in ber 

— Mit 54 eingedruckten Holzſchnitten. 

ebunden 5 Sgr. 

Ersteres ist für den Lehrer, letzteres dem Schüler in die 

Hand zu geben. In unserem Herzogthum ist das Büchelchen 

ia allen Volksschulen eingeführt. Die Zweckmälsigkeit der 
Methode wird auch weitere Einführung erwirken. 


Bibelworte Als Benublage zu einen chriſtlichen Un 
terricht für bie reifere Jugend, nebſt Winken zum Ber: 
ſtaͤndniß der Bibelworte. 75 Ser. 

Georgi, die heiligen Geſchichten des Alten Teſtaments. 
2 Thle. geh. Thlr. 1. 224 Ser. 

Sefeliel, Fr., Kehrfprüche bes Glaubens. Ein Weih—⸗ 
Geſchenk Für die chriftliche Jugend am Konfirmation 
tage. Geheftet 114 Ser. 


Bei Fr. Frommann in Jena find erfchienen: 
Dreöbyterial: und Synodal - Verfaflung 
der proteft. = evangelifchen Kirche. 

Für Geiſtliche und Nichtgeiftliche näher erörtert 
von 
Ehe. F. A. Biruſtiel 
(VBerfaſſer der Geſchichte des Guſtav⸗Adolph⸗Vereind). 
gr. 8. geh. Preis 10 Ger. 

In derſelben Haren, warmen und lebendigen Darftellungsieile, 
womit der Berf. früher feine mit allgemeinem Beifall aufgenommen! 
Geſchichte des Buftan » Adolph» Vereins behandelt hat, entwidelt er 
hier aus dem neuen Zeflamente, der Kirchengefchichte, dem Princiy 
der Neformation und ben — Zeitumſtaͤnden die Drinz⸗ 
lichkeit der endlichen befriebigenden Loͤſung der obigen Lebensfragt 
indem ex zugleich alle bereitd vorgebrachten Ginwendungen dagegen 
mit ſchlagenden Sränden zuruͤckweiſt. 


Discordia Concors 


oder 


Ob wir fämpfen, find wir doch eins! 
@in 
Wort zur Berfländigung in den kirchlichen Wirren der 
Zeit mit Rückſicht auf das Princip des Wielicenus 
von " 
J. E. Lauter. 
4 Bogen. gr. 8. geb. 8 Ber. 


Der Verf., ein bibelgläubiger Rationalift, weift das Priacip bee 
Wislicenus, als zur Subjectivität der Willkuͤhr führend, zuruͤck Di 
tet dagegen den Symboiglaͤubigen die Hand zur Bereinigung auf der 
Grund der gemeinfam anerkannten Autorität der Schrift. 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 


für 


das geſammte Gebiet der Theologie, 
in Verbindung mit 
D. Gieſeler, D. Luͤcke und D. Nitzſch, 


herausgegeben 


von 


D. ©. ullmann und D. F. W. €, Umbreit, 


Profefforen an der Univerfität zu ‚Heidelberg. 





Zahrgang 1847 viertes Heft. 





Hamburg, 
bei Friedrich Pertdes. 
184 1%. 





Abhandlungen 


1. 


Der Kanon ded neuen Zeftamentd von Muratori, 
von Reuem verglichen und im Zufammenhange erläutert 


von 


D. & Biefeler, 
| Profeflor in Göttingen, 


Sn dem theologifchen Kampfe der Gegenwart bildet 
unftreitig eine Garbinalfrage die Unterfuchung über die 
Dignität des Kanond und des darin enthaltenen göttlichen 
Worted. Wie Ddiefelbe zumal bei dem gegenwärtigen 
Stande der Bildung nicht ohne die gründlichfte hiſtoriſch⸗kri⸗ 
tifche Forfchung gelöft werden Tann, fo hat ſich bie durch 
da® vorwiegend praßtifche Intereſſe herbeigeführte theils 
weife Bernadhläffigung derfelben bereits mannichfach ger 
rädt und wird ed aller Wahrfcheinlichfeit nach leider 
noch mehr thun. Junerhalb des Gebietes der hiſtoriſch⸗ 
Pritifchen Forſchung fcheint man indeß wieber allgemeis 
ner nicht bloß ein einfeitiged Gewicht auf die ſogenann⸗ 
ten innern Gründe legen, fondern im ungünftigften Falle 
wenigftene den Verſuch machen zu wollen, nachzuweiſen, 
daß das NRefultat der Innern Kritik mit den anerfannt 
ältefien äußeren Zeugniffen irgenbiwie vereinbart werden 
konne. 


816 Biieisles 


In der Entſtehungsgeſchichte des neuteftamentlichen 
Kanond bildet nun jedenfalls ein fehr beachtungswerthes 
Glied der in der Ueberfchrift erwähnte Kanon von 
Muratori, welder befanntlid daher feinen Namen 
hat, daß ihn, deffen Urheber nicht mit überliefert if, 
Muratori jeßt vor etwa einem Jahrhundert im feinen 
Antiqg. Ital. med. aev. tom. III. p. 851 sqq. zuerſt publicirte. 
Er wies fofort auf feine Wichtigkeit hin, commentirte ihn 
aber nicht eigentlich, fondern ſchickte ihm nur eine kurze 
Einleitung woraus, in welcher er Beichaffenbeit, Juhalt 
und Alter feined Goder befchreibt und als Urheber unferes 
Kanond, welcher nur einen fehr geringen Beftandtheil 
deffelben ausmacht, den römifchen Presbyter Cajus, qui— 
das find feine Worte — sub Victore et Zephyrino pontificibus, 
teste Photio in Bibliotheca codice 48., h.e. qui cireiter an- 
num Christi 196. floruit,, nachzumeifen fucht, eine Anuſicht, 
die nachher von manchen Andern getheilt ift und die wir 
fpäter prüfen werden. Das Document ift in ber Kolge 
zeit, doch gewöhnlich nur an einzelnen Stellen, vielfach 
erflärt worden. ine verdienftlihe Monographie hat 
darüber Zimmermann «) verfaßt. Dankenswerthe 
Beiträge zu feinem Berkändniffe finden ſich namentlid 
in den verfchiebenen Werken über Einleitung ins R, T. 
Doch iſt man über Werth, Inhalt, Entfiehung, Alter, 
urfprünglihe Sprache diefed Documents noch fein 
wegs einig geworden. Rinerfeitd feine unverkennbar 
Wichtigkeit, andererfeitd die mandherlei Räthfel, weldt 
es dem Betrachter darzubieten fchien, veranlaßten wich j# 
einer auhaltenders Befchäftigung mit demſelben. Schen 
im Begriffe, die von mir gewonnene Anficyt zu publiciren, 
trat einer meiner Brüder, Friedrich Wiefeler, Profeſ⸗ 
for der Philologie an hiefiger Univerfität, im Winter 


k 
a) De canone librorum saororum fragmentam a Muratorio re 
pertum. 1805. 8. 





der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori.’ 817 


1845 feine archäologifche Reife nach Stalien an. Da 
derfelbe auch Mailand befuchen wollte, wo Muratori in 
der ambrofianifchen Bibliothef den von ihm verglichenen 
Eoder gefunden hatte, fo beſchloß ich um fo lieber, mit 
der Publication noch zu warten, ald eine wiederholte 
Collation des merfwärdigen Kragments, welche feit Mu: 
ratori a) nicht gefhehen war, für die Andlegung ober 
Conjectur nuftreitig die fidherfie Grundlage bieten mußte, 
In Kolge der Andeutungen von Muratori und unters 
ſtützt durch die Gefälligkeit des Borftandes ber dortigen 
Bibliothek, welchem ich hiermit öffentlich meinen Danf 
ausfprecdhe, fand mein Bruder auch wirklich jenen. Soder 
und hat ihn genau verglichen. Im Banzen if ber Abs 
druck von Muratori treu, nur daß er bie vielen Nach⸗ 
läſſigkeitsfehler des Schreibers, über die er Hagt, nicht 
felten ſtillſchweigend verheſſert. Bei der fchabhaften Ge⸗ 
flalt des Kanond und dem Mißcredit, in welchen er deß⸗ 
halb bei einigen Krititern gekommen iſt, iſt es ſchon et⸗ 
was werth, zu wiſſen, daß auf diplomatiſchem Wege 
dem Texte nicht weiter, als hier geſchehen, nachzuhelfen 
iſt. Die Schreibfehler und ähnliche Irrungen des Ma⸗ 
nuſcripts habe ich indeß auch da beibehalten zu müſſen 
geglaubt, we über die rechte Lesart kein Zweifel ſeyn 
kann, weil demjenigen, der daffelbe nicht in Händen hat, 
dadurch allein eine moͤglichſt authentifche Norm für bie 
vieleicht nothwendige kritiſche Behandlung ber fchwieris 
gen Stellen gegeben wird. 

Zur Einleitung unſeres Abdrucks mögen die Worte 
von Muratori diesen: Adservat Ambrosiana Mediolanen- 
sis Bibliotheca membransceum codicem e Bobiensi acce- 


a) Routh, Reliquiae sacrae Vol. IV. pag. I sqq., Kirchhofer, 
Quellenfammlung zur Geſchichte des neuteft. Kanone bis auf 
Dieronymus, &, 1ff., u. A. geben nur den Abdrud von Muratori 


wieder, 
) 


818 Wieſeler 


ptum, cuius antiquitas paens ad annos mille (aus dem 
8. oder 9. Jahrh.) accedere mihi visa est. Scripte enim 
fuit litteris maiusculis et quadratis. Titulus 
praefixus omnla tribuit Ioanni Chrysostomo, sed immerite. 
. Rachdem nun verfchiedene Beſtandtheile biefed Manu 
feripte von ihm angeführt find, fährt er fort: Ex eodem 
codice ego decerpsi fragmentum antiquissimum ad 
Canonem divinerum Scripturerum spectens. sch füge hin⸗ 
zu, daß die einzelnen Worte in demfelben zwar getrennt 
find, daß die Interpunction aber, mit Ausnahme weni: 
: ger Stellen, noch ganz fehlt, die von Muratori befolgte 
Snterpunction von diefem felber herrührt nnd dem Ausleger 
rüdfihtlih der Verbindung daher ganz freie Hand ge 
laffen if. Anfang und Ende ber Zeilen bes Manufcripte 
find in unferm Abdrude ſtets durch einen verticalen Strich 
angedeutet, und wo im Terte eine Lüde ift, ift dieſes in 
den Noten ausdrücklich angegeben. Meine Conjecturen, 
zu denen auch die Interpunctiongehört, finb zum Un: 
terfchiede vom Texte eingeflammert und, wo es uöthig 
fheint, entweder fogleidy in der Note unter dem Texte 
oder fpäter bei der Erflärung weiter begründet. Am Rande 
des Abdrudd habe ich die Zahl der Reihen des Gober 
noch befonders durch Ziffern bezeichnet, um bei der Aus; 
legung feinen Text in möglichfter Kürze citiren zu kön 
nen. Nach diefen Borbemerkungen laſſe ich, bevor id 
meine Auffaffung im Zufammenhange vorlege, ben von 
Neuem verglichenen Tert des Kanons mit einigen Anmers 
tungen folgen. 


Tert des Kanone, 


— quibus a) tamen interfuit et ita posuii(.) | 
Tertio (um) b) evangelli librum secundo (secundum) Lu- 


a) Das Fragment fängt nach einer längern Lüde etwa mitten auf 
der Geite an. 


b) Die zweite Zelte, mit welcher das Fragment über das Evange: 


der Kanon bed neuen Teſtaments von Muratori. 819 


cam | Lucas iste medicus post acensum a) (ascensum) Chri- 
sti (,)|cum eo (eum) Paulus quasi ut iuris studiosum | se- 
cundum adsumsisset b) (,) numenisuo (nomine suo) | exopi- 5 
nione c) concriset d) (conscripsit —) dominum tamen nec 
ipse | vidit in carne e) (—) et idem prout asequi (assequi) 


um bes Lukas zu reden beginnt, ift von Tertio- Lacam mit 
zother Dinte gefchrieben. Schon hieraus erhellt, daß mit 
Tertio ein neuer Gag beginnt. Dieſes ift, wie aus dem folgen» 
dem libram hervorgeht, tertium zu lefen. Daß o und u, e und 
i, auch e und ae, b und p u. ſ. w. in den Handfchriften nicht 
felten verwechſelt werben, mag bier eins für allemal gefagt fein. 
Ebenſo fehlt m fehr Häufig, indem es durch einen horizontalen 
Strich bezeichnet wurde, ber verblichen ober auch wohl gar nicht 
gefegt if. Gin Beiſpiel hierfür ift auch bas gleidy folgende se- 
cundo für secundam,. Das außerdem fehlerhafte a (secando) ift 
bereits im Danufcript in u corrigirt. 

a) Das erfte s fcheint von derfelben Hand bazwifchen gefchrieben. 

b) d. i. „da ihn Paulus gleichſam als zweiten Bechtöbefliffenen 
dazugenommen hatte.” Vielleicht ift bier angefpielt auf ben 
Rechtsſatz: „das Zeugniß zweier Menfchen ift wahr” (Joh. 8,17.). 
Der Ginn ifl aber ungweibeutig der, daß das Evangelium bes 

Lubkas unter den Aufpicien des Paulus entflanben fey. 

c) nomine suo ex opinione, d. i. „in feinem, bes Lukas, Namen 
nad) der Meinung ;” eigentlich aber ift es das Evangelium bes 
Paulus, ; 

d) Gin b ftatt p iſt von berfelben Hand übergelchrieben. 

e) Die Worte dominum tamen nec ipse vidit in carne bilden einen 
Zwiſchenſatz, fo daß ſich das folgende et idem unmittelbar an 
conseripsit anfchließt: „und eben berfelbe fchrieb, wie er’s ver: 
folgen Eonnte.” Das assequi fheint auf wagnxolovßnudr: 
(2uf.1,3) anzufpielen, welches bereits in ber Itala (vergl. Ladys 
mann’s große Edition) durch assequi wiedergegeben wird, Aber 
was bezeichnen bie erftern Worte? Jedenfalls, daß Lukas ben 
Seren nicht gefehen bat, fein unmittelbarer Schüler nicht gewe⸗ 
fen it, was bekanntlich richtig if. Aber mit wem wird er 
durch das nec ipse in diefer Beziehung auf gleiche Linie ge: 
flelt ? etwa mit Paulus, von welchem kurz vorher die Rede if? 
Schwerlich, fondern mit dem Spangeliften Markus, beffen Evan» 
gelium in unferm Bragmente kurz vor dem des Gpangeliften 
Lukas erwähnt gewefen fein muß; f. fpäter. Denn theils ſcheint 


820 Mieſeler 


potult |ita et ab nativitete lohemnis incipet (it) dicere (.) 
Qearti (um) evangeliorum Iohannis (es) ex decipulisa) (di- 
scipulis.) | Cohertantibus condecipulis (oondiscipulis) et 
10 episcopis auig | -dixit (:) Conieiunste mihi edie (hodie) tridue 
(um) et quid|ceique fuerit revelatum(,) alterutrem (tri) 
nobis ennarremus (enarremus.) Radem nocte reve | latum 
Andreae ex apostolis (,) ut recognis (os) | centibus cuntis 
15 (eunotis) Iohannis (es) suo nomine | cuncta discriberet (de- 
seriberet.) Et ideo licit (et) varia sin | gulis evangeliorum 
principia | doceantur (,) nihil tamen differt creden | tium fidei 
(? es,) cum uno ac principali spiritu de | clarata sint in 
20 omnihus omnia de nativi |tate(,) de passione (,) de resur- 
rectione (,) | de conversatione cum decipulis (dieeipulis) 
suis | ac de gemino eius adventu b) (;) | primo (us) in hu- 
militate dispectus (despectus) quod fo(u) c)|..(it,) secm- 
25 dum (s) potestste regali pre(ae)|clarum d) (s) quod fo- 
turum (futarus) est e)- Quid ergo | mirum(,) si Iohannes 


hierauf der Gag et idem etc. zu führen, theils wird im ol: 
genden beim vierten Cvangeliſten ausdruͤcklich wieder has Ges 
gentheil herworgehoben, baß er gu den Züngern Jeſu gehört 
babe. Denn allerbings Tonnte es bei einem Evangeliften 
nicht gleichgältig feyn, gu erfahren, in welchem Verbältniffe er 
zum ‚Herrn geflanden hatte. 

a) Iſt zu ergängen conscripsit. Die Worte Quarti— decipulis find 
mit rother Dinte gefchrieben. 

b) Nach adventu ein etwas groͤßerer leerer Raum, als am Ende 
anderer Zeilen zu fein pflegt. 

c) Die beiden Endbuchſtaben von Zeile 24 find fo; die beiden Buchta 
ben der folgenden Beile .find etwas undeutlich, aber von mei: 
nem Bruder re gelefen, was keinen Sinn gibt (idy habe fuit 
eonjieirt); dann folgt ohne Zwiſchenraum secundum. 

d) Bor praeclarum 2 Buchſtaben, die ausgeflrichen ober vielmeht 

ausradirt find. 

e) Hier findet ſich, wie an noch einigen bemerkten Stellen im Mu 
nufeript, als Interpunctionszeichen ein oberes Punctum, das fc 
genannte griechifche Kolon. — Die Worte von primo — faturem 


der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 821 


tam conetanter | singula etiam in epistulis (epietolis) suis 
proferat(,) | dieens Insemeipsu a) (in semet ipao:) Quae 
vidimus oculis |nostris et auribus audivimus et manus | 30 
'nostrae palpaverunt (,) haec scripsimus (‚,) | b). Sic enim 
non solum visurem (visorem se) c) sed et d) auditorem 
sed et | scriptorem omnium mirabilium dominus (i) e) per 
ordi|nem profetetur (profitetur). Acta autem omnium apo- 
stolorum | sub uno libro scribta (scripta) sunt (.) Lucas obtime 
(optimo) Theophi|le (0) conprindit (comprehendit,) quia f) 35 





est find fehr dbeprarirt. Ch. Er. Schmid in Kritifche Unterfus 
hung, 0b die Offenbarung Iohannis ein göttliches Buch fey, 
1771, vermuthet: primo in humilitate despectas, quod praeteri- 
tum est, secundo in potestate regali praeclarus, quod futurum 
est. Schon wegen bed Raumes wäre aber dann für praeteritum 
est „‚fait” zu fegen. Ich veflituire: primus (scil. adventus) in 
humilitate despectus quod fuit, secundus potestate regali prae- 
clarus quod futurus est; dad quad hängt dann von declarata 
sint ab. Wie man aber auch lefe, der Sinn iſt unzweifelhaft 
ber, baß der geminus adventus Christi erklärt wird theils ale 
feine Erſcheinung in Niebrigkeit, die bereits gefcheben ift, theils 
als feine Erſcheinung mit koͤniglicher Würde, welche erft Toms 
men fol. 

) Im Zolgenden wird 1 Joh. 1, 1. citirt als Wort des Eyange⸗ 
liften Johannes, woraus erhellt, einerfeits, daß der Verfaſſer ben 
erſten Brief als eine Schrift des Johannes anerkannte, und an: 
dererfeits, daß er bdiefen Brief und bad Evangelium derfelben 
Perſon beilegte. Im Vorhergehenden wird indeß auch von episto- 
lis diefes Johannes im Plural geredet. 

b) Anfang ber zweiten Geite bes Manuſcripts. 

c) Nach visorem ift gewiß se hinzuzufügen, was auch von dem 
Schreiber um fo eher ausgelafien werben Eonnte, als bas aͤhn⸗ 
lie sed gleich darauf folgte. Zimmermann a. a. D. conjicirt 
visorem se et. 

d) Das gewiß urfprünglicdhe et ift bereits in ber Handſchrift über» 
und zwiſchengeſchrieben. 

e) DNS, doch fcheint an dem fchließenden S gefragt. 

f) Die Aenderungen optimo Theophilo und comprehendit liegen 
auf der Hand und find allgemein angenommen. ben fo ficher 
ſcheint aber die an’ fich jedenfalls fehr leichte Aenderung bes quia 


822 Biefeler 
(quae) sub praesentia eius «) singula | gerebantur (,) sic 


a) 


et semote passionem Petri | evidenter declarat (,) sed 


in quas; denn erflens, ba wegen bes vorhergehenden sunt mit 
Lukas unftreitig ein neuer Sag beginnen muß, fo erhält compre- 
hendit erft fo feinen Objectsaccufativ; zweitens muß bas qguis 
jedenfalls geändert werden, dba es einen Sinn gibt; drittens 
bildet comprehendit augenſcheinlich einen Gegenfag zu singula: 
eukas faßte für den Iheophilus das Einzelne zufammen, was 
geſchah. — Der Inhalt der Apoſtelgeſchichte ifl bier etwas 
übertrieben dargeftellt — denn bekanntlich Yat Lukas mandyes 
Einzelne in ihr übergangen — doch nidytübertriebener, alskurz 
vorher in bem acta omnium apostolorum. Der Berfafler 
theitt biefe in ihrer. Allgemeinheit ungenaue Eharakteriſtik mit 
den meiften feiner Zeitgenoffen. 

eine iſt auf Lukas, nicht anf Theophilus zu beziehen. Was 
heißt nun: sub praesentia eius? Etwa biefes, daß Lukas bei 
dem Ginzelnen, was er in ber Apoſtelgeſchichte befchrieben hat, 
immer gegenwärtig geweſen fey, unb baß er nur das Ginzelne 
babe befchreiben wollen, bei weldhem er in Perfon zugegen war? 


Schwerlich wird man diefe unbaltbare Anficyt von ber Apoſtel⸗ 


geſchichte, welche audy zu dem acta omnium apostolorum we 
nig paffen würde, bei der klar vorliegenden Beſchaffenheit der⸗ 
felben, da die erfte Perfon fidh erſt von Apſtg. 16, 10. ab findet, 
dem Verfaſſer unferes Kanone zumuthen dürfen, und zwar umfo 
weniger , als berfelbe gerade von Lukas in Bezug auf fein Ber: 
bältnig zum Evangelium gegenüber der irrigen Angabe Anderer, 
daß er einer der Siebenzig geweſen fey, ebenfalld richtig ber 
merkt, daß er den Herrn im Fleifhe nicht gefeben habe. Es 
werben die fraglichen Worte daber in einem allgemeinern Sinne, 
für tempore eius gefaßt werden müffen. Daß dieſe Erklärung 
richtig fein dürfte, ergibt ſich noch aus folgender Betradstung. 
Das optimo Timotheo enthält anerlanntermafen eine Anfpie 
lung auf das Prodmium bes Evangeliums, wo ber Evangeliſt 
Beranlaffung und Zwed feines Werkes felber auseinander: 
fegt, nämlih auf das xgarısre Gsopıle (Evang. Eul. 1,3.) 
Und deßhalb iſt es an ſich ſchon fehr wahrſcheinlich, daß bie 
Worte quae sub praesentia eius singula gerebantur bloß eine 
in nicht gutem Latein verfaßte Parapbrafe von Ev. Luk. 1, 1. 
æsol ray weningopognuisov dv jaiv agayuarew ſeyn follen, 
fo daß unfer sub praesentia eius dem dv Yjeiw entipredgen 
würbe, 








der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 823 


profectionem Pauli ab ur|be sd Spaniam profleiscentis =) 


a) Die Worte von sicuti et bis prohciscentis find von großer hiſto⸗ 
riſcher Wichtigkeit, und zwar fchwierig, aber, wie ich glaube, 
in ihrem Zufammenbange gefaßt, noch ſicher zu enträthfeln, 
Wir unterfcheibden bie Bragen : was bebeuten fie an ſich? unb dann, 
was bedeuten fie in ihrer Berbindung mit dem Vorhergehenden? 

ad 1) Zunädft die Worte: semote passionem Petri eriden- 
ter declarat, „‚abgefonbert zeigt Lukas deutlich dad Leiden des 
Petrus an.” Zimmermann benlt bei der passio Petri an 
Apft. 5,40. 12,3 ff. Gewiß mit Unrecht. Denn einerfeits mas 
chen es nicht nur die befannte Tradition über Petrus, fonbern 
auch die Worte felber (fowird auch 3.21. in unferm Sragmente 
das Zobesleiden Ehriſti bloß passio genannt) hoͤchſt wahrſchein⸗ 
ich, daß man an dad Zodesleiden des Petrus zu denken 
habe; andererfeits ſpricht semote ausdruͤcklich gegen biefe Auf⸗ 
faffung, da Lukas nad diefem Worte eben nicht in ber Apoftels 
gefchichte, fondern an einem abgefonderten Orte über bie 
passio Petri reben fol. Da nun Lukas die letztere erwähnt has 
ben fol, dieſer aber nur die Apoftelgefdhichte und fein Evanges 
lium gefchrieben hat, fo muß von unferm Berfafler eine Stelle 
des Evangeliums, alfo wohl Auf, 22, 83., gemeint fegn. 
Muß aber unter ber passio Petri ber Märtygrertob des Petrus 
verftanden werden, fo gehört unfere Stelle auch zu den Altern 
3eugniffen über denſelben; über das Alter des Kanons ſ. fpäter. 
Weiter beißt ed: sed profectionem Pauli ab urbe ad Spaniam 
proficiscentis. Zimmermann ändert das sed in et. Gegen bie 
Leichtigkeit diefer Sonjunctur wäre nichts einzuwenben, nur iſt 
fie deßhalb ſchlechthin ausgeſchloſſen, weil, wie Jeder fieht, Lukas 
weder in der Apoſtelgeſchichte noch im Evangelium die Reiſe des 
Paulus nach Spanien evidenter declarat, wie es doch der Fall 
ſeyn müßte, wenn ſtatt sed et geleſen würde. Augenſcheinlich 
ift, wie der durch sed angedeutete Gegenſatz zu bem vorherges 
benden eridenter declarat und bie Sache felbft lehren, hinter 
prohciscentis ein Wort wie omittit ausgelaffen, ober es iſt 
flatt sed nec zu leſen. 

ad?) Weßwegen bat der Berfafler des Kanone einerfeits die Er⸗ 
wähnung bes Märtyrertobes des Petrus bei Lukas und andererſeits 
feine Webergehung ber Reiſe des Paulus nad) Spanien anges 
führt? Hätte er zunädhft eine Charakteriſtik der Geſchichtſchrei⸗ 





bung des Lukas geben wollen, fo hätte er, wie einleuchtet, keine 


unpaffendern Beifpiele wählen können, als dieſe. Zu biefer 

Erörterung treibt ihn unftreitig ein anberweitiges Intöreffe, 

nämlich das Interefle an der Geſchichte der Apoftel Petrus und 
4 


u. .  Wiefeler 


(omittit.) Epistulaea) (Epistelae) autem | Pauli(,) quae (,) 
40 a quo loco vel qua ex causa directe (ae) | sint(,) volan- 
tatibus b) (volentibus) intellegere (intelligere) ipse (ae) de- 
clarant (.) | Primum omnium c) Corintheis (Corinthüs) sey- 


Paulus, mas im Schooße ber römifdhen Gemeine, in welder, 
wie wir fpäter fehen werben, unfer Fragment entflanden ſeyn 
muß, nicht zu verwunbern iſt. Hier müffen damals fchen bei 
Behauptungen ausgefprochen feyn, daß Petrus ben Märtgrerteb 
erlitten babe, und baß Paulus von Rom (ab urbe) nad Ep 
nien — £egteres wegen Römer 15, 24. — gereift fei, unb unier 
Verfaſſer will ſich über die Wahrheit dieſer Behauptungen mit 
Bezug auf die Werke des Lukas ausſprechen. In weldgem Binz: 
er es thut, ergibt fich aus dem Zuſammenhange. Diefer wir 
mit dem Vorhergehenden durch sicati et vermittelt; es muf, 
wie dieſe Partikel barthut, bes vorhergehende allgemeine Ge 
danke näher erläutert und beftätigt werben. „kukas faßt zu 
fammen, was während feiner Zeit Ginzelnes gefchehen war, 
wie er denn auch abgefondert bas Leiden beö Petrus beutlih an 
zeigt —benn ed war zu feiner Zeit gefcheben — aber die Keil 
des Paulus, da er von der Stadt nad Spanien reifte, übe: 
gebt — denn fie war nicht gefchehen.” Gr bejaht mithin gwar 
den Mörtyrertob des Petrus, leugnet aber die Geſchichtlichkeit 
ber fpanifchen Reife des Paulus und, was daraus nothwendis 
folgt, die Gefhichtlichleit der fogenannten zweiten roͤmiſche 
Gefangenſchaft des Paulus, Wir haben bier alfo wahrſcheinlich 
ein altes wichtiges Beugniß, und zwar aus dem Schooße ber ti: 
mifchen Gemeine felber, welches ber Annahme biefer zweiten Ge 
fangenfchaft direct wibderfpricht. 

a) Das bisher flatt epistola vermuthete epistolae findet ſich in ber 
Handſchrift. | 

b) Ebenſo verhält es ſich mit volentibus flatt voluntatibas. Den 
bei diefem Worte ift an u und ta rabirt und bei bem erflem 
der Anfang ber Aenderung in ein a gemacht. 

c) Beifpielsweife führt ber Verfaffer von primum omnium bis pro- 
lixias seripsit aus, qua ex causa die brei bedeutendſten Parli⸗ 
nen verfaßt feyen. — Das primum omnium hat Zimmermann 
reichen Anlaß zum Tadel gegeben, indem er ben Text nicht ver 
flanden hat. Gr meint nämlich, daß dadurch eine Ausfage über 
die Abfaffungszeit ber Korintherbriefe gegeben werben fol; 
und allerdings wäre es irsig, die Korintherbriefe als die zacrk 

‚von Paulus verfaßten bezeichnen zu wollen. Vergleicht man 
die bald darauf folgende Angabe über bie an einzelne Gemeine 








der Kanon bed neuen Teſtaments von Muratori. 825 


sme =) (schisma) heresis (haeresis) in | terdicens (‚) dein- 
ceps Callactis (oder Callastis, d. i. Galatis). cironmcisione 
(circumceisionem,) b) | Romanis autem ordine c) (ordinem) 
scriptararum (,)sed et d) | principium earum esse ©) Chri- 
stum intimans f) (Paulas ?) | prolexius (prolixius) seripsit (,) 45 
de quibus sincolis (singulis) 8) neces | se est ab nobie des- 


— — — — — 





gerichteten pauliniſchen Briefe, fo findet man indeß dieſelbe Rei⸗ 
henfolge: Korinther, Galater, endlich Roͤmer, nur daß an unſerer 
Stelle die übrigen Briefe ausgelaſſen find, weil ber Verfaſſer 
bier nur die widhtigften Yaulinen und die Gemeinen, an welde er 
prolixius ſchrieb, aufführen wollte, Jene Reihenfolge ift aber, 
wie bier audy Zimmermann augibt, deutlich nicht die ihrer chro⸗ 
nologiſchen Entftehung, fondern bie ihrer Anordnung in bes Bis 
bei unferes Berfaflers. 

a) 1 Kor. 1,10. 8,3. 

b) Gal. 5,2.8. Kurz vorher bei deinceps findet ſich noch ein b. 
Dod ift wohl nicht deincepsb beabſichtigt, ſondern bas b wohl 
nur eine Goxrectur bes p: „deincebs.”’ 

c) In ber Handfehrift urfprünglich ornidine ; bei ni ift der Anfang 
zum Rabiren gemacht, wie 3. B. nach ©. 824. Not. h. hei dem ta. — 
Es it für ordine ordinem zu lefen, (Andere aͤndern unnoͤthi⸗ 

. gerweife finem oder cardinem), wie kurz vorher circumcisiv- 
nem für circameisione ; vgl. G. S18. Not. b. Wie ordo legum bie von 
ben Gefegen gebotene Ordnung, fo bezeichnet ordo scripturarum 
die von den Schriften (nach dem Zuſammenhange — denn es iſt 
vom NRömerbriefe die Rebe — bes alten Teſtaments) gebotene 
Ordnung. Der Accuſativ ordinem hängt ab von intimans, pro- 

‚ lizius seripsit ift aber ba Hauptverbum ber gangen Periode, 
welche in den Zertausgaben falſch abgetheilt zu werben pflegt: 
„Zuerſt von Allem den Korinthern den Parteigwift unterfagend, 
darnach den Galatern die Beſchneidung, den Römern aber die 
von ben Schriften gebotene. Ordnung, aber dag Maud) ihr, ber 
Schriften, Princip Ghriftus fey, ankuͤndigend, ſchrieb Paulus 
ausführlicher.” 

d) Hier iſt & und, wie ea fcheint, fpäter geſchrieben, aber in ber 
Zeile. 

e) Zwiſchen esse und Christam fland urfprünglidy sed, ift aber aus: 
rabirt und faft unfichtbar. 

f) Hinter intimans ein kleiner Raum, etwa für 5 Buchflaben. Es 
ift wohl Paulus hinzuzufügen. 

g) de quibus singulis etc., „über welche (naͤmlich Korinther⸗, Ga⸗ 


826 Wiefeler 


putari (disputeri.) Cum «) ipse beatus |epostoles Paulus 
sequens praedecessoris sui | Johannis b) ordinem noaai- 


later» und Mömerbriefe) ale einzelne von uns verhandelt 
wurbe, wie nothwenbig if.” Nur über biefe drei hat der Wer: 
fafler kurz vorher im Einzelnen gehandelt; wegen ihrer Wide. 
tigkeit war es ein necosse est. Es erklären unfere Worte, 
warum er über biefe drei, nämlidy über ihre Abzweckung, vorher 
befonders handelt und nun fofort zu einer andern und daza 
zufammenfaffenden Betrachtung ber Paulinen übergeht. 

Auch der Sag mit cum wird falfy verbunden, indem man vor 

cam fein Yunctum madht, während doch im Folgenden ein neuer 

Gedanke anhebt und jener Say, mit dem Vorhergehenden cen⸗ 

firuirt, Teinen Sinn geben will. Iſt dieß richtig, fo folgt, deß 

der Nadfag zu cum nidt mit verum bis iteretar beginnen 

Tann — biefes muß vielmehr ein Zwiſchenſat ſeyn, und ber 

Nachſatz kann erft mit una tamen bis dignoscitur folgen. Se 

erhalten wir allein einen treffenden Sinn. ‚Da Paulus nur as 

fieben Gemeinen namentlid ſchreibt u.f.w., fo ertennt man, 
daß doch nur eine Gemeine auf dem ganzen Erdkreiſe verbreis | 

tet iſt; denn auch Johannes in der Apokalypſe, obwohl ex a 

fieben Gemeinen fchreibt, Tagt es body zu allen.” Aus der 

Siebenzahl der Bemeinen wird nach einer audy bei andern Kir 

henvätern vorkommenden Sitte auf die Einheit unb Allgemein 

beit ber chriſtlichen Gemeine und ber Briefe des Paulus, welche 
an fle gerichtet find, gefcyloffen. Als Zwiſchenſat gibt andy dei 
verum bis iteretar lebiglidh einen Sinn. Es ift zw leſen: 
veram Corinthiis et Thessalonicensibus, licet pro correptiose, 
iteratur, „aber den Korinthern und Theſſalonichern wird es (des 

Schreiben), obwohl ald Zabel, wieberholt.” Der Berfaffer wi 

fagen: außer den fieben genannten Briefen gibt es nody zwei 

Briefe bes Paulus an bie Korinther und Theffalonidyer; Yes 

find aber nur Wiederholungen berfelben Gemeinen, fo daß ie 

Siebenzahe nicht überfchritten wird. 

b) Johannes iſt der Apokalyptiker, wie bald naher noch eu 
brudtich bemerkt wirb; er richtete feine Schrift an fieben n« 
mentlih aufgeführte Gemeinen (Apok. 1, 4. 2,1 ff.) Di 
Briefe, welche ihm von unferem Berfaffer audy beigelegt werben, 
find an Feine namhaft gemachten Gemeinen gerichtet. — seques: 
etc., „indem er feines Vorgängers Johannes Orbnung befolgt.” 
Bimmermann verfteht nach dem Vorgange Anderer bie Wert: 
fo, als erhelle aus ihnen, daß nach unferem Berfaffer die Ape⸗ 


u, 





der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 827 


ai 2) nomensthn (nominatim) semptem b) (septem)|erelesiis c). 
seribet 4) ordine tali(:) acorenthies (ad Corimthioe) | pri- 50 


1} 





kalypſe vor allen Briefen bes Paulns, weicher ſich nad jener- 
gerichtet haben folle, geſchrieben ſey, und zrinnert, freilid ums 
ter ſtarker Rüge, dab auch Cpiphanius Chaeres. 61.) ihre Abfafe 
fung fälfhliy in die Zeit des Claudius fege. Ich würbe daraus _ 
nicht zu viel machen, ba ähnliche Serthümer aud bei uns alle ' 
Zage vortommen. Indeß ſcheint mir der Borwutf voͤlltg unbegrim:' 
"det zu feyn. Das soquens kann unftreitig. ala Urtheilı bes Berfafs 
fers unfers Kanone oder ats Motiv des Paplus bei Abfaffung- 
feiner 7 Briefe verſtanden werben, und nur im legtern Falle 
{ft der Vorwurf begründet. Daß ber letztere Kal hoͤchſt unwahr⸗ 
ſcheinlich iſt, ergibt fi auch aus der feltfamen Vorſtellung, 
welde man. dann unferem Verfaſſer beilegen muß: weil So» 
bannes an 7 Gemeinen namentlich gefchrieben habe, fo habe 
auch Paulus nur an 7 Gemeinen zu Schreiben beabfidhtigt; ferner 
daraus, baß, wie wir gleich feben werben, bier gar nicht von 
der urfprünglidden Entflehung der pauliniſchen Briefe geredet‘ 
wird, fondern von ihrem Verhaͤltniſſe imerhalb des Kanone und: 
ber QOrdnung, in ber fie bier gelefen wurben. Daß das Ver⸗ 
fahren des Paulus mit dem des Johannes nur verglichen, 
'nidt das eine aus bem andern abgeleitet werden folle, fo. daß 
der allgemeine Sinn if: Paulus habe Wriefe an 7 namentlich 
erwähnte Gemeinen geſchrieben, wie fein. Vorgänger Sohannes, 
erhellt endlach aus den Schlußworten unfers Mbfchnittes: Et Io- 
bannes enim etc., denn audy Sobannes. Er vergleicht bie Briefe 
bei Paulus an bie 7 Gemeinen mit den Briefen an die 7 Gemei⸗ 
nen ber Apolalypfe, weil die allegorifche Erklaͤrung der legtern 
Siebenzahl bereits gäng und gäbe war — fie iſt ja feib bis 
auf bie neuere Zeit herabasführt — und deßhalb aud in jenen 
fließenden Worten ohne Beweis als wichtig vorausgefegt wird. 
Johannes heißt praedecessor als. Vorgaͤnger des Paulus im 
apoſtoliſchen Amte, vgl. Gal. 1,17. 2,9. Deine apoſtoliſche 
Würde wirb hervorgehoben, wie kurz zuvor die des Paulus. 

a) Kür nonnisi ſteht donnisi, doch ift das n von besfelben Hand 
übergefchrieben. 

b) Das soptem iſt urfprünglid; semptae gefchrieben, ae für e, wie 
öfter; doch ift an bem a bexeits radirt. 
c) Urfprünglidy eccleses, über dem legten e find zwei i geſchrieben. 

“ d) Die Reihenfolge der genannnten 7 Paulinen Bann eine zufällige 
und darum gegen bie hergebrachte anftoßenbe feyn; denn daß 

Theol. Stud, Jahrg. 1847, 56 


38 .. Butler 


ma. („). ad: Klesias. (Ephesies) secands (sseunde,) ad Fhi- 
-lipginsee (Pihilippeiises). tes | tie. (,) ad Celosenses (Colsssen- 
ses) quarta (,) ad Calatas (Galatas) quin |ta (,) ad Tensao- 
loneciauis (Thesselenisenees) sexrta‘ ad: Romanos |. septi- 
mw (-) veram. Cörentkeis (Coriuthiie) et "Tenwnolecen 
(Thessalonicen) | sibus a) (,) licet pro correbtione (corre- 

55 ptione,) iteretur (iteratur—) una |tamen per omnem orbem 
terra enclesia | deffusa(diffusa) asedensscitur (digaesckur.) 
Rt Ichenues ‚eaim ine b) (iu A)|pocsiebey (pocalypsi,) 
Heet septem ecciesels (ecciesils) scribat (,) | tamen omai- 
bus dieit(.) Verum ad Philemonem una | et at (ad) Titum 
una, et ad. Tymotheum (Timotheum) dass (duae,) pro ı- 

60 feo} tn.(tu). et dilestione c) (,) in. houore(komerem) tsmes 
eeelerlae ca|tliolice(cae,) in ordinatione ecclesiastice (cae) d)| 
descepline (disciplinae) sanctificate (tae) sant e) (.) Fer- 
tar etiam ad| Laudecenses (Laodieenses,) alia ad Alexau- 
deince Pauli. no.| mine finctae (fietan) ad haeresem f} Mar- 

65 elenis-et alla plu-|ra-(,) quae in catholicam #) ecclesiem 
———— — — 


: der Varfaſſer in derſelben eine vorliegende Ordnung befolgt 

will, ergibe fh aus dem aushrüdlich hinzugefügten ordie 
aali: Diefe Ordnung fe aber, wie allgemein: ansckannt wir, 
feine durch bie Ghronologie ber Wröefe beftimsmte ſeyn, ders 
wie koͤnnte fonft: . B. der Brief an bie Roͤmer zulett und hir 
ter den. Briefen: aus ber Geſangenfchaft bes: Apoſtels ſehen. 
© iſt vielmehr eine eigenthämliche im Kanon ſelber, auf dit 
wir fpäten zuruͤckkemmen werben , wie auch: durch das Praͤſen 

:  scribat, nicht soripaerit, angebeutet: wird. 

a). Statt Tionsaolecemmibus arfprünglidg Desmeolscensikus. 

* 1») Das i größer als gewähntid. 

e) Die genannten Wriefe des Paulus an Private finb zwar au 

Reigung und Liebe, aber doch zur Eher ber Tathetifdgen Kirdt 
geſchrieben. 

d) Hinter occlesigsticae beginnt die dritte Seito des Manufeipl- 

e). Obgteich Briefe an Private, find fie doch zur Edre der kethe 
liſchen Kirche verfaßt und wegen Xnorbwung der Eiedliät 
Dissiplin gegeiligt, in die scriptura sacra aufgenommk. 

f) Das re iſt fpäter uͤbergeſchrieben. 

8) urſpruͤnalich chutholieam, body am. h rabiet, 


ber Kanon bed neuen Teſiaments von Muratori. 829 


recepi (reeipi) nan | potent (possupt),%)., Fel enim cum 
mele misneri non con| gruit(.) Epistela sene Iude (Iudse) 
et supessorietio (superseripti) | kahannja, daas. (dyge) in 
cathnlica habentur (,) et (ut) Bapi | euiia ab, amicis Salomo- 
nis ia honerem ipsius |.aoripta (.) apocnlapae (spocalypsis) TO 
etiam lehanis (lohannis). Et Petri tentam recipimus (,) 
quam (quem) quidam ex nos tris legi im eoclesis nolunt (.) 
Pastorem vero | nıperrime temporibuanostris in urbe | Ro- 
ma Herma (Hermas) conseripsit aedente catlıe | tra (dra) 75 
urbis Romas accclesiae (ecrlezise) Pie eginoape fratre b)] 
eius(;) et ideo legi eum quidem opertet (,) no. pu|phicare- 
vero c) (blicare vero) in ecciesia populo neque inter | pro- 
fettas (prophetas) conpletum (completos). nnmera: neque | 
inter appstolos im finem temporum potest.d) | ‚,- 80 
Arsinei autem seu Valentini vel Mitiadis #3. (Miltia 
die?) | nibil ia totum recipimus, qui etiem. novum | psel- 
morum kbsum Marcioni, cosscripse | runt (.) Una cum Bs- 
silide Assianum (Asianerum) Cstafsy (Cataphry)|eum(gum) 
conatitutarem #3 (nekieimus?). 





a) patest ift ein Fehler des Schreibers für possunt, indem berfelbe 
gedankenlos bad Relatinum quae für den Singularis gen. femin. 
bielt. 

b) Urfprünglich war frater geſchrieben, dann bas fihließende r rar 
dirt und von einer andern Hand ein r zei und Kar vor © 
gelegt. 

c) se publicare, d. i. ſich oͤffentlich hören taffen. 

d) Hinter potest Raum für mehrere Buchftaben. 

e) In Mitjadis ift an bem zweiten und den beiden vorlesten Buch⸗ 
ſtaben gekraht. Der vorlegte Buchſtabe ift ein burcheinander 
geſchriebenes e umb i, doch iſt das i beutlidher als das e. 

f) Das Fragment bört, indem der übrige Raum leer gelaffen ift, 
mitten in einer Reihe auf, obne Punkt ober anderes Zeichen, 
fo daß wir volle Befugniß haben, ein dem Zufammenbange nad) 
nothwenbiges Wort wie reiicimus zu ergänzen. Es folgt eine 
neue Weihe, Die zur Hälfte mit other Dinte geſchrieben ift, 
und es beginnt ein fremher Gegenſtand. j 

56*. 


830 Wieſeler 


Im Vorhergehenden wird hoffentlich ein im Ganzen 
leſerlicher Tert hergeftellt fepn und erhellt haben, daß 
derſelbe durchh die NRachläffigteit und Unkunde bes fpäs 
tern Abſchreibers nicht fo verderbt it, daß er nicht an 
den bei writem meiſten und eigentlich wichtigen Stellen 
aus dem Zufammenhange ober ſachlich befannten That 
fachen auf feine wefprüngliche Geſtalt zurückgeführt wer 
den könnte. Ein nicht geringer Theil des biäherigen ir- 
' rigen Verftändniffes hängt wohl damit zuſammen, daß 
die hterpunotien von Muratori, gleihfam ale wär 
auch fe vurch die verglichene Handfchrift gewährleike, 
faft traditiongfl geworden zu feyn fcheint. Die Hand: 
fchrife iſt micht verderbter als viele andere aus jener Zeit, _ 
"und ich brauche wohl wicht nody zu bemerken, daß and 
der Unkunde des fpätern Schreiber nicht auf eine ent 
fprechende Unkunde des erften Verfaſſers geſchloſſen wer 
beit darf. Unſere biöherigen Bemerkungen And entweder 
kritiſcher Art gewefer oder beſchraͤnken fich auf das naͤchſte 
:"wörtliche Berftändniß oder auf einzelne wenige Bemer 

tungen, die den zufammenhängenden Kortfchritt bes Fol 
genden nur hätten unterbrechen können. Hier wollen wir 
dagegen den Kanon als ein Ganzes Ind Auge faffen und 
über feinen Entſtehungsort, fein urfpräüngli 
hes Idiom, feinen Inhalt und feine Iutegri 
tät, feinen Zwed, fein Alter und endlich über 
feinen Werth verhandeln. In diefer Folge fehreiten 
wir vom Leichten zum Schwerern fort und bie Art, wie 
wir bie vorangehende Frage beantworten, fichert und be 
gründet zugleich die Löfung der nächfifolgenden. 

Der Ort, wo unfer Kanon entftanden feyu muß, 
laͤßt ſich nicht ſchwer beflimmen; er muß Rom ober do 
die nächfte Nachbarfchaft von Rom gewefen feyn. Hier 
auf weiſt ſchon das befondere Intereſſe hin, welches au 
ben Schidfalen der Apoftel Petrus und Paulus genommen 
wirb; vergl. S. 822. Not. a des Fraguientd. Alien Zweifel 





ber Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 831 


aber nehmen die bier gebrauchten Worte: profectionem 

Pauli ab urbe ad Spaniam proflciscentis — Rom heißt 

bier die urbs ſchlechthin —; ferner, was Zeile 73 ff. über 

bie Abfaffungezeit bed Hirten des Hermas hinzugefügt wird: 
sedente cathedra urbis Romae ecclesiae Pio episcopo 
fratre eius. Auch das gleich folgende et ideo legi eum 
quidem oportet fcheint darauf hinzuführen, wenn diefes 
ander® bedeutet: deswegen, weil der Hirte von Her⸗ 
mas in der Stadt Rom, während fein Bruder, der Bis 
(hof Pius, die Kathedra der römifchen Gemeine ein- 
nahm, gefchrieben, derfelbe alfo gleihfam unter Appro⸗ 
bation des römifchen Bifchofs, feines Bruders, erfchie: 
nen iſt; denn fo konnte bei dem damaligen Anfehen dee . 
römifhen Biſchofs wohl nur Jemand fchreiben, der felber ' 
zu feinem Sprengel gehörte. Doc fcheint die letztge⸗ 
nannte Stelle cher auf die Nachbarfchaft von Rom, ale 
auf Rom felber zu führen. Daß er der Kanon von latei« 
nifchen Ehriften fey, ergibt fich ferner aus der Stellung 
der paulinifchenBriefe vor den fogenannten Fatholifchen, 
während in der griechifchen Kirche die umgelehrte Ordnung 
gebräuchlicher ift, und daraus, daß, mit Lebergebung des 
Hebräerbriefes, nur 7 Paulinen a) an befondere Gemeinen 
gezählt werden. Leber den Urfprung unfers Verzeichnifs 
ſes innerhalb der römifchen Gemeine find die Audleger 
auch bereits feit Muratori einig. 

Hieranf fcheint aud Die Sprache, in welcher der 
Kanon uns vorliegt, nämlich die lateinifche, hinzudeuten. 
Dagegen behauptet Hug b) in f. Einleit. Th. J. S. 124ff., 
die Urſprache fey die griechifche geweien und das Fragment 
a) Vergl. Bleek, Ginleitung in ben Brief an bie Hebraͤer, 

©. 128 ff. 

b) Grerike, Einleit. G. 49. ift nicht abgeneigt, dieſer Vermu⸗ 
thung beizutreten, namentlich wegen des erſten Briefes Petri, 
der ſonſt gar nicht und fuͤr den ſonſt die apokryphiſche Apoka⸗ 
Inpfe bes Petrus erwähnt ſey; daruͤber ſpaͤter. 





832 =. Wieſeler 


liege ans jetzt in einer ſchlechten lateiniſchen Ueberſetzung 
vor. Den Beweis findet er in einigen Uederfetzungöfeh⸗ 
lern, die er entdedt zu haben meint. Das sic enim nei 
solam visorem etc. Zeile 31. des Fragments überfeht er 
fo ind Griethiſche zurüd: oßras Päp ob udvov Beam, 
dilk xul dnovosiv re xal ypanuarla advrav Havuasiav 
zod xuplov aadekig Eavıöv Öporoysi. Das gleich fob 
gende acta antem omnium apostolorum bis proficiscen- 
tis überfegt er fo: z&c O6 wodkas dadvrov av daoes- 
Aovy yoaweldas &ls ulav PlßAov Aovxäs To xgariere 
Bsopliu Gvvinkscev, Or xurd uipos tv Ti abroü zagoviin 
iyevhündav, xados, napextös tod Iltrpov nad'nuaros, 6e- 
ps bupanikeı ‚nal vis Exıönulas Iledlov dxd ring adlsms ck 
tasZiravlas Erıdnnoüvros. Endlich die Worte Über der 
Petrus: Et Petri tantum ete. werden fo wiedergegeben: 
Kal Il&roov povnv agaderöpsde, ns ragbE zıves ip 
dvayıvesöneodu iv Exxinale ob Diilovas. Statt tantım 
wird adynvgefegt, um wenigſtens einen Brief des Petra! 
herauszubefommen; damit aber der zweite Brief Pelri, 
wenn auch nur ald dvrileyöuevov, erwähnt werde, wird 
von Hng für quam Ag xcotẽ gefchrieben, wofür Gnerik 
indeß Av vorfchlägt, da ihm jenes zu gewaltſam ſchei. 
Vergleicht man diefe Rädüberfegung mit dem lateiniſchen 
Terte, fo It die Annahme von Hug wohl ſchwerlich ar 
derd als ein fcharffinniger Verſuch zu nennen, bie ver⸗ 


meintlich anfößigen Stellen des letztern aus dem Kann 


zu entfernen. uch dieß muß zugegeben werden, dab 
wenn die Annahme einer folchen den Sinn tetal im 
bernden Nädüiberfeßting richtig wäre, die lateiniſche Leber 
feßung überaus wenig gelungen wäre. Allein dieß tet 
tere fofort vorauszuſetzen, wärde voreilig ſeyn. Daß bei 
den beiden zuerft erwähnten Stellen wenigſtens feine de 
artigen Ueberfegungsfehler anzuerkennen find, bürfte and 
unfern obigen Bemerkungen erhellen. Lieber die briflt 
Beweisftele werben wir fpäter Handeln. As Bene 


der Kanon des neuen. Zefluments von Muratori. 838 


bleibt nur noch übrig in Zeile 66. bed Fragments Das 
quae in catholicam ecelesiam reeipi non potest (Katt 
possumt), wo analog dem Briechifcdyen das Neutrum im 
Plural mit dem Berbum im Singular conſtrairt werde, 
Daß dieß ganz ifolirte Beifpiel indeß weit wahrfcheinlis 
cher bloß ein Verſehen des Abſchreibers if, faun bei 
feiner fonfligen urkundlich vorliegenden Qualität faum 
einem Zweifel unterworfen feyn; man vergl. noch die 
dazu gehörige Mote, in ‚welcher über den wahrfcheislis 
hen Urfprung diefes Schreibfehlere gehandelt wird. Die 
übrigen von und forgfältig mitgetheilten Teptcorruptio⸗ 
nen laſſen ſich — man braucht dazu deu Kanon nur ganz 
flüchtig durchzugehen — in der Regel aber mit ber größ⸗ 
ten Reichtigleit von der Vorausſetzung and verbeffern, 
daß unfer Schreiber ein lateinifches Driginal vor fich ges 
habt habe. Bei dem Mangel aller nur einigermaßen 
ringenten Beweife fürd Gegentheil wird man daher bie 
jenige Spradye als die urfprängliche gelten Laffeu nmüfs 
fen, in welcher bad Document und urkundlich vorliegt. 
Hierfür fpricht denn auch, daß, wie:wir gefehen haben, 
der Ort feiner Entſtehung anerfauntermaßen auf bie 
römifche Gemeine hinweiſt, fo wie bad wohl beabfich 
tigte Wortfpiel 3. 67: „Fel enim cum melle misceri 
non congruit,” und überhaupt Diejenigen un Borhergehen⸗ 
den angeführten Merkmale, zufolge welcher daſſelbe, ab⸗ 
gefehen von feinem Entſtehungsorte, von einem GEliede 
der Iateinifchen Kirche audgegangen feyn muß. 

Wir gehen zu einer nähern Mnalyfe dus Inhalts 
unfere Fragments über, wobei wir jetzt alle Erklaͤrumgo⸗ 
verfuche als willkürlich zurückweiſen dürfen, welche auf 
der hug'ſchen Annahme einer irrigen Ueberſetzung aus 
einem griechifchen Originalterte beruhen. 

Unſer Verzeichniß ber heiligen Schriften umfaßt zu⸗ 
erſt die bekannten vier Evangelien. Ge-if freilich im 
Anfauge verflämmelt, erwähnt indeß das Evangelium 


k 5 

8 Wieſeler 

nach Lukas als birittes Buch des Evangeliums und 
daunu Das Evangelium des Johannes als viertes. Es 
müſſen within die beiden Evangelien des Matthäus und 
Markus kurz vorher erwähnt ſeyn, zunächſt das des 
Markus; beun obwohl die 4 Evangelien befanntlic in 
verfchiedener Ordnung vorfommen, fo gibt ed doch Feine 
Reihenfolge, bei welcher nicht Matthäus vor Markus den 
Bortritt bebielte, Die Anfangeworte unferd Fragmente: 
quibus tamen interfuit et ite posuit, müflen alſo vom 
Evangelium bed Marne gemeint fein. Läßt ſich nun 
noch enträchfeln, was biefe Worte aller Wahrſcheinlich⸗ 
keit nach bebeuten ? Wir haben bereite in S. 819. Rot.e ded 
Fragmente gefehen, Daß nach demfelben Markus eben fo 
wenig ale Lukas felber den Herren gefehen hatte, und 
dieß iR über Markus auch die herrfchende Kirchliche Tras 
ditton. Hieraus folgt, daß das quibus interfuit nit 
auf Anwefenheit bei den Reben Jeſu gedeutet werben 
kann. Dagegen würde ferner dad zwifcheneingefügte ta- 
men ſprechen. Es muß vorher etwas erwähnt fein, 
woran Markus Leinen Theil hatte, nämlich der per: 
fönliche Verkehr mit Jeſn. Wie bereits Zimmermann 
anninımt, wird hier auf bad bekannte Berhältwiß des 
Marias zu Petrus hingewieſen, deffen interpres er nad 
kirchlicher Tradition gemwefen fepn fol. Folgendes muß 
etwa hier geftauden haben: Markus war Fein Zuhörer 
Des Seren und fchrieb die von Petrus vorgetragenen 
Erzählungen wieder, bei denen er indeß zugegen war: 
et ite posuit, „und er ftellte fie fo, wie fie vorgetragen 
waren.” Mit einem Worte, wir haben bier ganz den 
Inhalt ded Zengnifies des Presbyter Johannes bei Par 
piad über dad Evangelium ded Markus wieder, Euseb. 
h. e. 3,39: O xgsoßursgog Eizye: Mdgxog uiv Epuer- 
ws Ilkrgov yevöusvog, Boa Euynuöveudev, dxgıßüs Eyge- 
vev, 00 usvror vabeı Ta vaæò Tod Kauarod 4 Asydtvsa Yxpe- 
divra‘ oürs yag Axovos vod xvolou x. 1.4. 


07 





| 





der Kanon bes neuen Teſtaments von Muratori. 835 | 


3.2--8. handelt vom Coangelium des Lulad. Tulad, 
der ebenfalls den Herrn nicht gefehen habe, habe nach ber 
Himmelfahrt Ehriſti — wie lange nachher, if nicht geſagt — 
unter Dem Beiltande des Apofteld Paulus in feinem Namen 
das dritte Evangelium gefchrieben und begiane mit der 
Geburt Zohanned ded Tänfers. Nach 3. 9 bid cumeta 
describeret in 3.16. hat Johannes, der Jünger des 
Herrn, das vierte Evangelium gefchrieben. Weber bie 
Entftehungsmeife deffeiben wird Folgendes hinzugeſetzt. 
Indem feine Mitjünger und Bifchöfe zu feiner Abfaffung 
aufforderten, habe er zu ihnen gefagt, fie möchten mit 
ibm an dem Tage ein dreitägiged Faſten beginnen, und 
was einem jeden offenbart fey, wollten fie einander ers 
sählen. Roc in derfelben Nacht fey dem Apoſtel Aus 
dreas offenbart, daß, indem es alle (feine Mitjunger 
und Bifchöfe) durchſähen, Johannes Alles in feinem 
Ramen niederfchreiben follte. Das Gewicht diefer in der 
Tradition allerdings gefärbten Erzählung über das for 
banneifche Evangelium ift von Ereduer in Bezug auf 
defien 21. Kapitel Einleit. in das N. T. g. 90. S. 238. und 
in Begug auf die Beranlaffung zur Abfaffung bes Evan» 
geliums 6. M. S. 237. hervorgehoben. Daß und wie weit 
ihr wenigftend in Bezug auf den erfien Punkt Glauben 
beizumeſſen fey, habe ich in einer Differtatiom a), in wel⸗ 
her ich über Marl. 16,9 ff. und Joh. 21. meine Britifche Un⸗ 
fit niedergelegt habe, nachzumeifen verfucht; denn auch 
aus inneren Gründen fcheint zu folgen, daß das 31. 
Kapitet ald Rachtrag zu dem Evangelium von einem 
Mitjünger des Apoftels Johannes, wie ich meine, dem 
Presbyter Johannes, welcher ihn nad) Papias überlebte 
und fich ebenfalls in Kleinaflen aufhielt, verfaßt if. — 
Dieß ift ed, was und ber Fragmentiſt über die vier kano⸗ 





a) Indagatur, num loci Marc, 16,9 — 20. et Joh.21. genuini sint 
necne , ea fine, ut aditus ad historiam apparitionam lesu Christi 
rite oonscribendam aperiatur, p.88 sqq.- 


686 Mieſeler 

wischen Evungelien und deren Entfichungsweife mit⸗ 
theilt, nur daß fein Bericht Über bad Evangelinm bei 
Matthäus leider ganz verloren und ber über das Evan 
gelium bed Markus ur verktiimmelt auf une gekommen 
ik. ‚Im den Worten 3.15: Zt ideo licet varia singulis 
ewsugellorum primeipia doceantur bid quod futurus es 
8. 25. fehließt ſich die verkändige harmoniſtiſche Betrach⸗ 
tung über die vier Evangelien an „obwohl für Die eiuzeinen 
Evangelien verfchiedene Urfprünge(principia, Eutſtehuugs⸗ 
weifen) gelehrt würden, fo mache Bas doch feinen Unterſchied 
für ben Glauben ber Gläubigen (es ift hier die Ledart bei 
Teste: fidei, feſtgehalten), da die Hauptſtücke aber Geburt, 
Leiden, Auferſtehung, Verkehr mit feinen Inngern un 


feine doppelte Ankunft in allen in dem einen und un 


fpränglichen Beifte erklärt feyen.” Wie diefe Bemerkung 
jeden Einwurf in Betreff der weſentlichen Harmonie ber 
vier. kanoniſchen Evangelien zurüdweifen fol, fo folgt 
von den Werten Quid ergo mirum 3.25 ff. bis per or- 


dinem profitetur 3.34. eine tritifche Bemerkung über dad | 
Berhätmiß des Evangeliums zu den johanneifchen Briefen, 


Die, nuabhängig von unferm Fragmente, jet wieder geb 
tend gemacht zu werben pflegt. Es konne nicht auffal⸗ 
len, meint der Fragmentiſt, daß der Evangelift Schar 
nes wit ſolcher Beſtändigkeit (tam constanter) Ein 
seines “) auch im feinen Briefen vortrage; denn, wie er 








feier 12Joh. A. fage, fo habe er als Augen, und Ohr 
zeuge des Lebens Jefn die Briefe verfaßt. Diefe Erliür 


sung des kritiſchen Problems feßt die Anfiche vworand, 
Daß die Anfchanung und Begriffsbildung im Goangeline 
wie in den Briefen des Johannes im Allgemeinen gie: 
cher Weife anf deſſen urfprünglichen unmittelbaren Ber 
che wit Chriſto zurückzuführen fey. 

a) Man denke an die off hervorgehobene Wieberkehr ber gleichen In: 


fhauungen und Worte einerfeits in den im Gpangelium milge 
theilten Reden Chriſti und andererfeite in den jepanneifchen Briefen. 


der Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 837 


Bevsr wir den Abfchmitt Über die Evangelien ver - 
Iafien, bemerken wir noch, daß die vier Evangelien, 
wohl als unmittelbare Urkunden der Thaten und Re 
den des Herrn, wenigflend zur Zeit des Abſchreibers, 
wahrfcheinlicher wohl des Verfaſſers unferd Fragments 
eine höhere Auctorität als die übrigen nruteſtamentlichen 
Schriften gehabt zu haben fcheinen.“ Denn fo oft der 
Beriht zu einem neuen Evangelium fortſchreitet Cogl. 
die Roten zu den Anfangeworten über die Evangelien 
des Lukas und Johannes), wird der Unterfcheibung wer 
gen rothe Dinte angewendet, welche in den folgenden 
Mittheitungen Aber. die andern neuteſtamentlichen Schrifs 
ten nicht wiederkehrt. 

Nach den Evangelien wird munter den Sanonifchen 
Schriften die Apoftelgefhichte, welche von Lukas 
herrühre, erwähnt, 3. 34. Acta autem ommium napostolo- 
rum bis proficiscentis 3. 38. lieber den weiten ubalt . 
dieſes fchwierigen Abfchnitte f. die Noten bed Tertes. 

Bon Zeile 39. Epistelse autem Pauli bie Jeile68. Epi- 
stola sane Iudee wirb von den Briefen bes Apofels 
Paulus, den editen und in. den Kanon der Kirche re 
cipirten (von 3. 39. tie 8.63. Fertur etiam ad Laodioen- 
sen) and den mnechten, verworfenen (von 3.63. bis 8. es. 
a. a. O.), gehandelt, Zuerſt von den echten; m. ogl. we: 
gen ded Berfländniffes im Einzelnen unfere Noten zum 
Terte. Nach der allgemeinen Bemerkung über die Briefe 
des Paulus, daß fie über-ihre Echtheit, ihren Ente 
hungs ort nad ihre Abzweckung felber Auskunft gäben, 
wird wegen ihrer Wichtigkeit der Zweck der Briefe an 
die drei Gemeinen zu Korinth, in Galatien und Rom 
beſonders entwidelt. Unter den Paulinen wird dann ein 
Unterfchied gemacht zwifchen Briefen an ganze Gemeinen 
und zwifchen Briefen an Private. Erſtere, deren Allges 
meinheit mit Bezug auf die Siebenzahl der Gemeinen, 
an weldhe Paulus fchrieb, dargethan wird, werben in 


‘ 


838 Wieſeler 


folgender Ordnung aufgezählt: Briefe an die Korinther, 
Brief an bie Ephefer, Philipper, Kolofler, Galater, 
Briefe an bie Theffalonicher, endlich Brief au die Römer. 
Eine fingnläre Ordnung, die aber nicht zufällig ſeyn 
kann, fondern, wie (S. 837. Note d) gezeigt if, von 
dem Aragmentiften im feiner Kirchenbibel vorgefunden ſeyn 
maß. Sie ſcheint mir urfprüngliher, ale z. B. die Orb: 
nung ber jegigen Bulgata: Römer, Korinther, Galater, 
Ephefer, Philipper , Koloſſer, Theſſalonicher, umd Ich 
tere and der erfiern abgeleitet werden zu können. Die 
leßtere erhalten wir nämlich dann, wenn wir den Brief 
an bie Nömer, Die Briefe an die Korinthber und dem an 
bie Balater ihrer Wichtigkeit wegen vorauftellen und bie 
übrigen durchaus in ihrer frühern Ordnung belaflen, 
wie denn die größere Wichtigkeit ber drei genannten 
Briefe von unferem Fragmentiften bereitd dadurch aner: 
kannt if, daß er lediglich Über fie befonders gehandelt 
bat. Jedenfalls iſt aber Die Reihenfolge der paulinifchen 
Briefe in unferm Kanon — der Brief an die Balatır 
siemlich gegen Ende und ber an die Römer fogar gan 
am Schluſſe — eine thatfächliche Widerlegung von Baur 
Gonjectur a), Die Boranftellung berpaulinifchen Brick 
im Kanon Bed Marcion nad. Epiphanius Chaer. 42, 9.) 
in der Ordnung: Galater, Korinther, Römer, beredtige 
su der-Folgerung, daß wur diefe drei Briefe urfpräug 
li die Elaffe der echten Paulinen bildeten, zu denen 
bie übrigen erft fpäter b) hinzugelommen feyn. — NRadı 
den 9 Briefen an einzelne Gemeinen werben noch 4 Briefe 
bed Paulus erwähnt, nämlich der an Philemon, an Ti 
tus nnd 2 an Timothens. Ob diefe Ordnung eine wil—⸗ 
fürlihe oder eine vom Berf. vorgefundene geweſen if, 


a) Paulus, der Apoftel Jeſu Chriſti, S. 249 ff. 
b) Daß ber Kanon des Marcion chronologiſch gu deuten fey, fol 
an einem andern Orte gezeigt werden. 





+ 


ber Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 839 


darüber laͤßt fich hier ſtreiten, da im Terte nichts Aus⸗ 
drückliches gefagt iR. Doch um ber Analogie wit bem 
Borigen willen ift das Erftere vielleicht vorzuziehen. Daun 
ſchloß ſich der Brief an Philemon wohl deßhalb gumächkt 
den Briefen an die Bemeinen an, weil er wenigflene 
anfer an Philemon aud an Appia und Archtppos und 
an die Gemeine in Philemon’d Haufe (Philem. 2.) adrefs 
firt und der apoftolifche Gruß und der apoflolifche Segen 
( Phil. 3, 0.235.) andy auf biefe bezogen waren. Er bil 
dete alfo gleihfam einen Lebergang zu deu Briefen an 
die bloßen Individuen Titus und Timsocheud, Aber das 
iR beſonders wichtig für die Geſchichte des Kanone, daß 
in der chriſtlichen Kirche wirklich ein folder Unterſchied 
jwifchen Privatbriefen und Briefen an ganze Gemeinen 
gemacht wurde und unfer Berf. von den Worten proaf- 
fectu et dilectione an es noch befouders glanbte rechtfer⸗ 
tigen zu möüffen, warum die Briefe an Titus uud Timo, 
theus dennoch in den kirchlichen Kanon recipirt feyen, 
Es dürfte ſich hieran micht nur bie Stellung diefer Pri⸗ 
varbriefe and Ende der Panliuen, fondern auch Manches 
aus Der Geſchichte der ſogenaunten DARSTOIENNE fehr 
einfach erklaͤren. 

Nachdem der Fragmentiß To 13 echte Paulinen ges 
sählt Hat, gebt er wit den Worten: -Fertur etlaım 'ad 
Laodioenses zur Erwähnung zweier Briefe Über, welche 
mit Unrecht auf den Paulus zurückgeführt würden; diefe 
und noch manche andere Schriften könnten nicht in die 
tatholifhe Kirche aufgenommen werden, weil nit Galle 
mit Donig vermifcht werden bürfe, Jeune beiden Briefe 
bezeichnet er als Briefe an die Laodiceufer und an die 
Alerandriner. Man pflegt gegenwärtig darin Übereinzu⸗ 
fommen, daß der Brief Pauli an die Laodicenfer, wel⸗ 
her unftreitig wegen Kol. 4, 16. erbichter ift, kein ande⸗ 
rer ſey, ald der auf und gekommene apokryphiſche Brief 


1 Cu Biskter 


dieſes Ramend, welchen erſt nenlih Anger =) wieder 
berausgegchen hat. ber: darüber zweifelt man, was für 
eis: Brief unter ber epistola ad Alexandrinos gemeint ſey. 
Sehr vice Kritiker jet Semler bie auf Eichhorn, 
Hug, Schleiermader und Gnerike herab haben 
angenommen, Daß damit ber Brief an Die Hebräer ge⸗ 
meint ſeyn wmiüfle, weldser in uuferem Kanon fonf gar 
nicht erwähnt märde, Bleel:b) und Andere nehmen en 
daß darunter ein opofspphifcher, zu Gunſten und von ci 
wem . Yahänger her Ketzerei Marcion's erdichteter, jeht 
verlosen gegangener Brief zu verfichen fen. Der lebtge 
nannte Gelehrte führt folgende Gründe <>) für feine Is 
Acht on. Unſer Hebrüerhrief gehe wirgende Den Ramen 
eines, Verfaſſers, dem er angehören walle, an, babe 
bätse yon. ihm auch nicht wohl gefagt werden Fönuen, tı 
fey iss Remen bei Apoßels Paulus erdichtet. Ylein ei 


läßt ſch doch nicht leugnen, Daß zur Zeit unſeres Grag 


mentiften Biele diefen wentellamentlichen Vrief, da de 
Nawe Des. Vesf, fehlte, zunächſt aus imern Gräude 
dem Apoſtel Paulus deilaghen. Wenn num derſelhbe chen 
ſals eine gewaſft Aechulichkeit, ſey's mit ber Rage ode 
der Denkweiſe des Paulus, darin wiederfand, ſo fonatt 
er. dieſa weht mahl auf Neckuumg einer beab ſicht igten Did 
mag. ſegen. Swichtiger ſcheint hin Einſprache zu ſeyn 
welcha van Bleel wegen des ad haeresem Moercienis eu- 
hoben wird. Deas allerdiugs kaum ad nicht fo viel wie 
adversus feyn (ed heißt aber auch nicht: zu Guuſter) 


u 


rd) Beiträge zur hiſtoriſch⸗kritifchen Einleitang in -das alte mi 
nene Nakament. Mb. 1. über ben Baobicensrbrief. 1848. 

b) Eiyleit, in ben Brief qn die Hebraͤer, S. 122 ff. 

c) Die feltfame Meinung Hug’s und Anderer, als ob die Borlt 
fel enim cum melle misceri non congruit eine Anfpielung auf 
Sebr. 12, 25. enthielten, wo nach 5 Mof. 29, 18. ftatt dvoglg h 
zur zu lefen ſey, iſt bereits von Bleek und Guerike a, a. O. 
treffend widerlegt, 


der Kanon bed neuen Teſtaments von Muratori. SAL 


weßhalb Buerike geradezu ad hacresem Marcienis refu- 
tandam ſchreiben will. Eben fo wenig kaun genreint 
ſeyn, daß der Hebräcrbrief „zu Gunſten“ der Ketzerei 
des Marcion verfaßt wäre, denn es iſt nichts Miaweisnis 
tifche® , fondern dad Begentheil darin. Uber wir werben 
batd fehen, daß die Worte ad haeresem Marcionis ſich 
noch auders erflären laſſen. Gegen Bleek fpricht, daß ein 
apofryphifcher Brief ad Alexandrinos fonft nirgende ers 
wähnt iſt; fermer, daß es befremden würde, wenn ber 
Drief an die Hebräer in unferem Kanon gar nicht ers 
wähnt wäre, und daß man ihn, wenn er wie auch fon 
in der lateiniſchen Kirche verworfen wurde, gerabe-an 
dieſer Stelle, wo von fälfchlicd dem Paulud beigelogten 
Briefen Die Rebe iſt, erwarten muß; endlich, dag Bleek, 
wie wegen des Plural fietae bei feiner’ Erfiirung auch 
nethwegdig ſeyn würde, den Brief an die Laobicener 
ebenfalls zu Bunften der Keberei Marcions verfaßt foyn 
laßt, wad aber zu dem uns erhaltenen Raodicenerbriefe 
feinedwege paßt. Nun Tönnte man aber ſtatt fictae den 
Singular Bote fihreiben wollen, fo Daß das nomme Pauli 
ficta ad kaeresemm  Marciönis ſich lediglich: anf: den Wrtef 
an die Wlerandriner befchräntte. Allein diefe Eorrectur 
wird aus Gründen des Zufammenhange widerlegt; denn 
ed iſt befamnt und hat gewiß auch gefagt werben follen, 
daß der Saobicenerbrief ebenfalls eine epistol« Pauli ne- 
mine ficta war. - Somit bleibt nichts übrig, ale das ad 
haeresera Marcionis fa zu faflen, daß es doch etmad Az 
deres, als Bleek will, bedeutet. Der Sinn ſcheint mir 
folgender zu fen: Der Laodicensrbrief und der an die 
Alerandriner find im Namen ded Paulus erbichtet ge 
mäß a) der Secte Marcion’s, d. i. wie ed die Seete Mar⸗ 





a) Man koͤnnte ad (oder vielleicht apud) haeresem Marcionis indeß 
auch mit dem Folgenden verbinden: bei der Seete Marcion’s ferun- 
tar et alie plura, d. h. tft audy Anderes mehr in Umlauf u. ſ. w. 
Die Folgerung in Betreff der epistola ad Alexandrinos würde 
immer die obige feyn. 


2 Wieſeler 


cion's zu machen pflegt. Das Verwerfliche ſolcher Schrif⸗ 
tenderfälſchug wird für den damaligen Leſer baburdı 
anſchaulich gemacht, daß er auf bie Analogie der Secte 
Marcion's hingewiefen wird. Gegen Schinß unſeres 
Fragments if wieder von gewiffen Haäretikern umd ihren 
verwerflichen Schriften die Rebe, unter ihnen auch von 
Marcion, IR diefed die richtige Andlegung bed ad hae- 
resem Marcionis, fo wird um fo weniger etwas im Wege 
fichen, daß man. die epistola ad Alexandrinos von unfe- 
rem SHebräerbriefe deutet. Daß übrigens der letztere 
wegen ‚feiner inuern Befchaffenheit nicht an Indenchri⸗ 
en Paläfiina’s, fondern wirtiih an aleranbrinifche Tu 
benchriften gerichtet fein mäfle und, was damit zufam- 
menbängt, von Barnabas verfaßt fen, habe ich bereitt 
in Rheinwald's Rep. Bd. 30. Hft. 38. 1M2.©.193., 
wo ich auch unfern Fragmentiften citire, nachzuweiſen 
werfucht. 

Nachdem ber Fragwentiſt hie Paulinen ſeines Ka⸗ 
nous, die echten und bie verworfenen, aufgezäbit hat, 
exwühnt er bie übrigen Gchriften, vamentlich bie foge: 
nannten Tatholifchen Briefe feinek Kanous (3. 61. 
bie 3. 73,), nämlich Schriften des — Sohannes und 
Petrus. 

Epistela sane ludae et supersoripti' Ichannis dine in 
eatholioa (seil. ecclesis) habentur eto. Der Zufamımen: 
hang iſt folgender: während Die zuletzt genannten Schrif⸗ 
teu im caiholieam ecclesiaem recipi non peesnnt, beſte⸗ 
Sen fich freilich der Brief Judaͤ und andere in ber kathe⸗ 
liſchen Kirche. Es erhellt, daß das in entholicam ecele- 
„am recipi und das in catholica haberi ganz bemfelben 
Sim haben und daß ſchon aus diefem Grunde die Mei 


a) In der Anzeige ber Gommentare zum Hebräerbriefenon Bleek 
und Tholuck. Die hier von mir gegebene Erklärung des ad 
haeresem Marcionis halte ich indeß nicht mehr für richtig, mie 
aus dem Obigen hervorgeht. 





ber Kanon des neuen Teſtaments von Muratori. 843 


nung Schleiermacher's a), ald ob unfer Fragmentift in, 
nerhalb ded Kanoniſchen den von fpäteren Kirchenlehrern 
gemachten linterfchied zwifchen Homologumenen und Au⸗ 
tilegomenen ebenfalls beobachtet habe und die letztere 
Glaffe eben hier beginne, keineswegs gebilligt werben 
kann. . 

Der Brief Judä ift unflreitig der befannte neuteflas 
mentliche Brief: aber wie find die auperscripti Iohannis 
duse zu deuten? Man hat an unfere 3 Briefe des Jo⸗ 
hannes gedacht, indem man den 2ten bloß ald Anhang des 
1, Briefö betrachten wollte (fo Zimmermann und Dug), 
odke an bie beiden letzten, fo daß der erſte bereits früher 
befonders erwähnt worden feyn müßte (fo Schleiermacher 
und Sredner), oder endlich, was das Richtige zu ſeyn 
fheint, an die beiden erften, fo baß der Ste gar nicht ale 
Beftandtheil unferes Kanons aufgeführt wäre. Was ben 
erſten Fall anlangt, fo citirt Irenäus (advers. haer.3, 16, 8.) 
allerdings 2 Joh. 7, 8. als Beſtandtheil des 1. Briefes, 
aber, wie auch von Guerike (S. 478.) augegeben wird, 
in Kolge eines Gedächtnißfehlers. Der zweite Kal hat 
eben fo wenig für fih. Bei Schleiermacher hängt diefe 
Anſicht zufammen mit der von ihm innerhalb unſers Kas 
none Poftulirten, von uns bereitd verworfenen Luters 
ſcheidung zwifchen Homologumenen und Antilegomenen, 
in Kolge deren er im Borhergehenden bebeutende Terted: 
lüden Ratniren zu können glaubt. Denn daß der lite jo» 
hanneifche Brief, abgefehen von dem gelegentlichen Eitate 
3.29 ff., in der Reihe der Tanonifchen Bücher nicht noch 
befonders hätte aufgeführt werben müffen, ift von Schleier» 
macher weder behauptet, noch würde das richtig feyn, 
da ja auch Die johanneifche Apokalppſe bereitö 3. 48 ff. 





a) Sinleit. ins N. T., herausgegeben von G. Wolbe, 1845. ©. 53, 
Die Behandlung des Kanone von Muratori in diefen fonft fehr 
anregenden Vorlefungen fcheint mir überhaupt zu den ſchwaͤchſten 
Yartien diefee Schrift zu gehören. 

Theol, Stud. Jahrg. 1847, 57 





888 Wieſeler 


eitirt iſt und ſpaͤter 3.70, dennoch in der Reihe der fa 
nonifchen Schriften ihren befondern Platz erhalten hat. 
Eredner ca. a. O. S. 690 ff,,) indem er die Worte dei 
Fragments et Sepientis etc. in ut Sapientia ete. Audert 
und zum Vorhergehenden zieht, argumentiert in folgender 
Weife: „Der Berfaffer will fagen: die zwei Briefe des Jo⸗ 
hannes und der Brief des Indas haben, ohne apeſtoliſch 
su feyn, and ähnlichen Gründen eine Stelle im Kann 
erhalten, wie die in den chriftlichen Kanon aufgenon 
mene, vom jädifchen aber ansgefchleffene Weisheit Sa⸗ 
lomonis. Er mußte folglich?) fchon früher in dem ver: 
lornen (2) Theile des Fragmente von den übrigen kathe⸗ 
lifhen Briefen gehandelt haben” Wenn wir nun aud 
die Sonjectur ut Sapientia flatt et Sapientia für richtig 
balten, fo ift Doch darum woch nicht nothwendig, daß 
man bie durch ut eingeführte Bergleihung mit ber Ss- 
pientia Sulomenie zu dem Borhbergehenden zieht, 
vielmehr dürfte dieß eben Beinen zuläffigen Siam geben. 
Jene Beziehung zugegeben, würde aus ber ausdrücklicher 
CEharakteriſtik der Sapientia ald einer nicht von Galome, 
fondern ab amieis Salomonis in henorem ipsius sert 
pta zunächft wohl dieſes folgen, daß der Brief Judä u 
die gemeinten zwei Briefe des Johaumes wie Die Bepieniia 
recipirt ſeyen, obwohl fie nur von Freunden ber ge 
nannten Berfafler geſchrieben feyen, wao body and nad 
Eredner nicht von unferem Fragmentiſten behauptet wer 
den fol. Und wie fol ſelbſt daraus, daß ber Brief Judi 
und zwei Briefe des Johannes mit der Bapientia auf gleich 
Linie geftelt werden, folgen, daß der Berfaffer vor 
den übrigen Tatholifchen Briefen, namentlich dem erſter 
Briefe des Johaunes, fchon fräher gehandelt habe? © 
hätte dann auch die Stelle des Fragmente aufgemir 
fen werden mäflen, in welcher die bei der in ihm be 
folgten Anorduung der neuteflamentlichen. Schriften mög. 
licher Weife hätte gefchehen kännen, während ich feinen 


ber Kanon bes neuen Teſtaments von Muratori. 845 


Kanon kenne, in welchem vie katholiſchen Briefe vor 
den Evaungelien geftellt ind, und ſich von da ab bis 
zu unferer Notiz in dem Goder keine irgend entfprechende 
Lade finder. Endlich muß erklärt werden, warum der. 
erfie Brief des Johannes mit ben beiben andern von uns 
ferm Verfaſſer nicht zugleich erwähnt if. Schleier 
madyer bat deßhalb die bereits beurtheilte Hypotheſe von 
Homologumenen und Antilegomenen innerhalb unferes Kar 
nons aufgeſtellt. Credner fucht nachzuweiſen, daß bie 
beiden letzten Briefe nach unſerem Fragmentiſten von ei⸗ 
nem verſchiedenen Johannes, nämlich dem Presby⸗ 
ter, geſchrieden ſeyen. Er fährt nämlich fort: „Der Zu: 
faß superseripti a) weit uns anf den Johannes hin, 
deſſen der Berfaffer des Bruchſtückes zuletzt gedacht hatte. 
Dieß gilt aber von jenem Johannes, der die Apokalypſe 
gefhrieben hat. So würde dann der Sinn herauskom⸗ 
men, der Berfaffer der zwei Briefe des Johannes fey einer» 
let mit dem Berfafler der Apokalypſe, was nothwendig 
darauf führt, daß der Verfaſſer des Fragmentes zwei 
nenteftamentliche Schriftfteller mit Ramen Johannes uns 
terſcheidet.“ Aber, um nur dieß Eine zu erwidern, daß 
der Evangeliſt Johannes anßer dem erftien Briefe, ber 
hier ausdrücklich citirt wird, noch wenigftend einen Brief 
verfaßt bat, wird ja von dem Fragmentiften 3. 28, 
mit dem Plural in epistolis suis felber behaup⸗ 
tet. — Es bleibe alfo nur Üdrig, was auch von vorn 


a) Gredner faßt bad superscripti in bem Sinne von suprascripti. 
Gewoͤhnlich heißt es „drüberfchreiben” und in diefer Bebeutung 
muß es auch hier wohl beibehalten werden: epistolae Johannis 
superscripti, nicht inscripti. Die johanneiſchen Briefe Haben 
bekanntlich den Ramen ihrers Werfaflers Johannes nicht ats ins 
‚tegrivenden Beſtandtheil, während alle anderen neuteflamentlis 
hen Briefe. unferes Kanons, audy der unmittelbar vorher ers 
wähnte Brief Indaͤ, im Gegentheil uͤbereinkommen. Mit Be: 
zug hierauf ſcheint audy 3. 40. über bie epistolae Pauli gefagt 
iu feyn: quae ... . . directae sint, ipsae declarant. 

57* 


846 Wieſeler 


herein am nächften liegt, anzunehmen, daß unter ben 
zwei Briefe des Johannes erftend jedenfalls ber aus⸗ 
drücklich citirte erfte Brief und dann einer von dem beis 
den legten zu verſtehen fey. Liegt die Sache aber ſo, 
fo kann ed nach der Geſchichte des Kanone, welde de 
zweiten Brief vor dem britten deutlich bevorzugt, weir 
ter Seinem Zweifel unterworfen ſeyn, daß ber britte 
and nicht der zweite Brief des Johannes übergangen 
iſt. Nicht daß man ben dritten für weniger johanneild 
gehalten hätte, fondern man nahm dem zweiten im den 
Kanon lieber auf, theild wegen feiner mehr lehrhaften 
Natur, theild weil man, indem man die xugla 2 Joh. 1. 
nicht auf den Ramen eines Individuums bezog, nur da 
dritten für einen Brief an eine Privatperfon zu halter 
pflegte; vgl. das ©. 839. Bemerkte. — et (ut) Sapientia 
ab amicis Salomonis in honorem ipsius scripta, apot=- 
lapse (apocalypsis) etiam Iohannis. Die Weisheit Sal⸗⸗ 
monis a) ift wohl bie befannte apokryphiſche Schrift dei 
U. T., weldje von vielen Kirchenvätern zum altteſtament⸗ 
lichen Kanon gerechnet wird. In der Reihe der enteo 
ftamentlichen Bücher kann fie nicht als befondere Echrift 
erfcheinen und aus dieſem Gruude ift ſtatt et mit Erd 
ter unfireitig ut zu lefen. Daffelbe folgt daraus, dal 
ihre Erwähnung fonft die Aufzählung der Schriften bei 
Johannes, einerfeits feiner zwei Briefe und andererfeitt 
feiner Apofalypfe, unpaflend unterbrechen würde De 
der Say mit ut, wie wir gefehen haben, zum Folgender 
gehören muß, fo ift zu apocalypsis etiem Iohannis au 
dem Borhergehenden einfach in catholica habetur zu er⸗ 
gänzgen. Der Sinn it: Wie die von den Freunden © 
Iomo’& zu feiner Ehre gefchriebene Weisheit, defindet fd 


a) Uebrigens hatten nady dem Kanon bes Melito bei Eufeb. (h. e.4, 2.) 
auch die Spruͤchwoͤrter Salomo's ben Ramen Weispeit Gale⸗ 
mo’s. 











ber Kanon des neuen Teflaments von Ruratori. 847 


auch bie Apokalypſe bed Johanned in der Tatholifchen 
Kirche, Diefe befand fich wie die Weisheit im Kanon, 
aber der Kragmentift wenigften® hielt fle nicht für echt, 
fondern glaubte fie bloß zur Ehre des Apofteld Johannes 
von feinen Freunden verfaßt. Früher, wo er fie gele⸗ 
gentlich citirt, legt er fie indeß dem Apoftel Johannes bei. 
Achnliche Widerfprüce in Bezug auf die Apokalypſe fins 
den ſich befanntlich auch bei Euſebius. Das Nefultat 
über die johanneiſchen Schriften nach unferm Fragmen⸗ 
tiften ift alfo folgendes, daß fich dad Evangelium, die 
beiden’ erften Briefe und die Apokalypſe in feinem Kanon 
fanden, daß alle diefe Schriften dem Apoſtel Johannes 
beigelegt wurden, daß er felber aber Über ‘die Echtheit‘ 
der Apokaiypſe Zweifel hatte. 

Et Petri tantum recipimus, quam as quidam 
ex nostris legi in ecclesia nolunt. Es find dieß ſchwie⸗ 
rige Worte, man hat fie aber, meine ich, durch eine 
falfche Verbindung noch fchwieriger gemacht. Nach dem 
Vorgange von Muratori pflege man nämlich die vorher⸗ 
gehenden Worte: Apocalapse (apocalypsis) etiam Johannis, 
noch herbeizuziehen. Daß fie mit dem Borhergebenden 
zu verbinden find, haben wir bereits geſehen. Doch 
läßt ſich von biefer Behauptung jetzt Die beflätigende 
Probe machen. Darauf, daß der Schreiber der Form 
apocalapse den Romirativ verftanben' zn haben fcheint, 
win ich kein Gewicht legen. "Aber Apocalypsis etiam lo-' 
hannis et Petri: tantam recipimus gibt‘gar feinen Sinn. 
Menu man üderfeßt: nur die Apokalypſen des Johannes 
und dis Petrus nehmen wir duf, nicht mehr, fo fragt' 
man: iſt das nicht ſchon zu viel? auch die Apokalypſe 
des Petrus? was’ pflegte man ſonſt noch für Apofalypfen 
aufzunehmen? Kerner könnte balin das tantum ſchwer⸗ 
lih an der Stelle,,wo wir es leſen, flehen, und endlich: 
was bedeutet: dann das etiam? Man müßte alfo über 
fegen: die Apokalypſen auch ded Johannes und des Des 


848 ik 
true nehmen wir.zur auf, fo daß had-temium zu red- 
pimus Aehoͤrte. Aber dazu paßt das gleich Folgende 
nicht, weher ber Singular quam, uoch ber Gedanke, 
welcher in ber Form eined Gegenſatzes ausgeſprochen 
ſeyn muß, Es iR aber Erin Gegenſat, zu fagen: bie 
Apokalypſe ded Petrus uehmen wir nur auf, welche aber 
Einige von deu Unſern ine der Verſammlung nicht ge 
lefen wiffen wollen. Worin kann die Beſchränkung bes 
nur Anfnchwend andere befishen, als darin, daß bie 
felpe in der Verſammlung gar nicht geleſen werben folk! 
Beginut daher mit Et Petri ein neuer Sag, fo falt 
jeder Grund des Anſtoßes weg, welchen man daran ge⸗ 
nommen bet, daß hier doch und zwar allein von bet 
Apokalypſe des Petrus gesehet ſeyn ſollte, während 
im Sraguiente ſonſt virgends vou hen Briefen: des Per 
trus ‚gehandelt werde, mas in der Geſchichte bes wentu 
ſtamentlichen Kanons freilich ganz unerbört wäre. Reh⸗ 
men wir die Worte, wie fe der Goder bietet: Et Pein 
tantum 3) recipimus, ſo können wir nur überfegen: „And 
vom Petrus nehmen. mir fo nie gm,” uämlich als kur; 
vorher dem Iohannge. heigelegt wird, alfg. zwei Brieſe 
und eine Anofalgpfe. Die Richtigkeit dieſex Auslegung 
fheint fih dadurch zu heflätigen, daß dem Petrus wir 
lich ‚gerade dieſe Schriften, beigelegt werben. Die zwei 
Driefe finden ſich noch jegt in unſerem Kanon. Diefipe 
kalppſe des Petxrus wird bereits im zweiten Jahrhundert 
angeführt. . Elemens aud Alexqudrien hat eipige Gehen 
aus ihr im den Erceryten aus. dem Guefliler Theodotu⸗ 
(ed. Sylburg p. Mängg.) mitgstheilt und fie nach Eusel- 
h, & 6, 14. mit anderen. Büchern des Kaqnons in. fein 
Hupotgpofen commpmtir Euſebius . felber rechatt Be 
(b. e.3,25,) mit dem Hirten bed Hermap, dem Briefe bed 
a) Wie haben am Gchluffe unferes Bragments eine ganz aͤhnliche 


Wendung: Arsinoi autem. . ... mihil ia totam recipimes. 
Auch hier hängt des Geniüüv von dem Neucum, gikil ab. 











ber Kanon bed neuen Teſtaments von MRuratori. 849 


Barnabas, den dsdarul cv daoardiev und ten zodksig 
Iediov zu den vödos. Rod, zu bed Sozomenns Zeit 
warb fie (nach Soxom. T,19,) in einigen palſtinen ſiſchen 
Gemeinen am ſtillen Frritag öffentlich verlefen =). — Für 
das folgende quam if num wohl quem zu lefen: „welchen 
(Petrus) Einige von den Unſern in der Berfammlung 
nicht gelefen wien wein.” Diem gewinut fo die Ans 
fhauung, daß, während Einige in dr Gemeine alles 
Mögliche von Petrus, auch feine Apotalypſe, aufnahmen, 
Andere im dad entgegengefehte Ertrem verfallen waren, 
num and; nichts von ihm anzuerkennen. Ein folder 
Bampf der Petriner und Antiperriner ließe ich ‚gerade 
im Schooße ber römifchen Gemeine wohl denken. Hält 
man dagegen dad Femininum b) quam feſt, fo müßteman' ent, 
weder hinten tantum ein epistolam hinzufegen, ober etwa am» 
nehnsen, Daß die nähere Erflärung bes fo, wieoben erörtert, 
zu faffenden tentum, weil kurz vorher ſchon ein anderes ape- 
calypeis vosgefommen war, aus Berfehen hinter recipimus 
andgefalten fey, nämlich die Torte: meillset opintolas dus 
et spocaiypein, woran fi} das quam quidam ex nostris ete. 
ſehr gut anfdyließen wiirde, Nach dem Obigen läßt ſich 
indeß nur dieß als ganz ſich er feſtſtellen, daß wenig⸗ 
ſtens der erſte Brief des Petrus ein Deſtandtheil des 
Kaunons unfesed Fragmentiſten geweſen ſeyn wird und 
am unſerer Stelle erwähnt ſeyn muß. 

Des Brief des Jakobas wird umter den katholiſchen 
nicht erwähnt, was aber nicht auffallen kaum, da er 
auch fonf im Alterthume Widerſpruch erfahren hat und 





a) Welteve litterarifche Rachweiſungen f. bei Zimmermann 
a. a. O. S. W ff. 

b) Die noch moͤgliche Verbindung tantum. quam, d. i. „fe viel als,” 
ſcheint mir deßhalb unpaſſend, weil dann nicht geſagt ſeyn 
würde, was von den Schriften des Petrus recipirt ſey. Wir 
baben font aber em ——— Verzeichniß der kanoniſchen 
Schriften. 


850 N Wieſeler 


ihn Euſebins bekanutlich gu ben Antilegomenen rechnet; 
vgl. de Wette, Einleit. ins R. T. ©. 811. 

Bon Pastorem vero 9. .38. bis ans Enbe von 3.80. 
fpricht der Kragmentift über Urfprung und Gebraud des 
Hirten. hed Hermas. Es ift gewiß diefelbe Schrift gemeint, 
welche von GCotelier in den apoflolifchen Vätern und von 
Fabricius in feinem end. apocryphus abgedruckt if, deren 
Verfaſſer fich für den Hermas Röm. 16, 14. audzugeben 
ſcheiut, und weldhe von manchen Kiechenvätern wit Ach⸗ 
tung citirt ift und in den Gemeinen öfter gelefen wurde. 
Nach unferem Fragmentiſten war fie von Hermas, mag 
dieß fein wirklicher oder fein Schriftuame gemefen feys, 
einem Bruder Pius des Erften, während biefer römifcher 
Biihof war, alfo in der Witte des gweiten Sahrhuns 
bertd verfaßt Da die Schrift erſt nuperrime tempori- 
bus nostris, wie der Fragmentiſt bemerkt, umb zwar in 
unmittelbarer Nähe deflelben gefchrieben feyu fol; 
da diefelbe fchwerlich echt und auch aus. anderen Grün⸗ 
deu wahricheinlicd in ber. Mitte a) des zweiten Sahrkun 
derts entflauden. zu ſeyn fcheintz ba endlich dieſelbe An; 
ficht über ihre Entſtehungsweiſe auch anderweitig b) uns 
erhalten if: ſo fcheint mir. allerdings ‚die erwähnte Retiz 
alle Wahrſcheinlichkeit für ‚fi zu haben. Die Gegen 
gründe hat Gieſeler am fcherffinnigken in feiner Kir 
chengeſchichte (Bd. 1. Abth.i. S. 147 ff.) zufammengeftelt. 
Er beruft fih namentlich. Dawauf,. Daß [chen Irenand (4, 3.) 
fie als scripturs citize. Gegen das Ende des zweiten 
Tahrhunderts, ald der. Kampf gegen den Montanismus 
begann, habe fie hier ihre Anfehen verloren, bei den mon 
taniſtiſch Geſinnten, weil fie eine einmalige Buße nad 
ber Taufe geftattet, bei den Gegnern der Montaniſten 
wegen ihrer apolalyptifchen Form. Jetzt ſpreche unfer 


a) Bol. Lüde, Sinleitung in die Offenbarung ‚Johannis, ©. 14, 
b) Bl. die Stellen bei Zimmermann a. a, D. 


der Kanon bed neuen Teſtaments von Muratori. 851 


Fragment die obige Anuficht mus, welche Iremkud' nody 
nicht gelaunt haben könne. Dugegen fey'diefe Schrift 
bei den Alerandrinern, Elemens Alex., Drigenes =), Atha⸗ 
naflus in Anfehen geblieben, bie fie auch in der griechi⸗ 
ſchen Kirche nuch dem arianifchen Streite geſunken fey. 
Zur Zeit des Hieronymnd (vgl. deflen catalog. c. X.) 
wurde fie noch bei einigen griechifchen Gemeinen öffent» 
lich gelefen, bei den Lateinern war fle ein liber paene 
igmotus. Dad Gewicht dieſer Argumentation fcheimt be⸗ 
ſonders bavom abguhängen, in welchem Sinne Irendus 
den Hirten scriptura genannt habe, ob als Beſtandtheil 
ber heiligen Schrift oder nicht. Run baden wir noch bie gries 
chiſche Stelle aus Irenaͤus, wo er den Hirten citirt, bei 
Euseb, &. e: 5,8. Sie läutet wörtlich: xaAle odv sixew 
NYoRph FAbyovan ‘ apirrov Kevin elassvaonv, Ors eis Earıy 
6 Hsög dTk ndvıe' sielsog an va Eins Allerdings wird" 
bier der Hirte von Irenkud gelodt, was ‚ja. felbft :in 
unferem Fragmente bis zu einem gewiſſen Grade geſche⸗ 
bew: ib, 'ulteln der Ausdruck  yoapı 5 Adyovdd,. „die 
Schrift, weiche da fagi” führt doch nicht nothwendig auf 
die Anmahme, Daß er ihn ale Beltandthetl des Kanons 
anerfannt hat. ferner hat der moͤntaniſtiſche Strelt dem: 
Anfchen des Hirten im Adenblande gewiß Eintrag ger 
than, Tertullian ſelber hat ſich ale Angehöriger ber 
kathobiſchen Kirche ganz -anderd: über ihn ‘de Orat.’12. 
ausgefprohen, ald wie er «6 fyäter de pudic. e. 18, im 
monsanififgen Eifer getan hat. Diefe ſeine Beränder‘ 
rung: ſcheint ſich indeß mehr auf den Inhaft Ked Buches), 
abs auf fehren- Urſprungbezogen zu haben. Denn wenn! 
er am letztern ade die rn — eine ab onmi! 


.* 


a) Diefer erflärt in feiner Explanat, ad Rom. 16, 1a ve bier er: 
waͤhnten dermas ſogar fuͤr den Verfaſſer der Schrift; doch iſt 
daniit Nomil. 8. in Nomen, und Hom. 1, fh 2 37, w ka 
gleichen. ; 1.; J 


8 Mieſeler 

eoaneilia eeclesia, ciiem vestrarum, inter apearyphe 
ot fales iudieaia nennt, fa ift mit diefen Worten anf ein 
Lamas bereitd vorliegendes finchengefchichtliched Factun 
hingemieſen. Da aud uafer Fragmentifi nicht mehr ge 
than bat, als daß er jene Schrift dem im Räͤmerbriefe 
erwähnten . Hermas abgefprochen bat, fe braucht daher 
feine obige Notiz auch wohl nicht: erſt im Gefolge der 
mantanififchen Streitigleiteu ſich gebildet zu haben. Rög 
es fi nun mit dem Urſprunge des Hirten werhalten, wie 
ed wolle, mad der Fragmentiß üher ben: non ibm im fir 
ner Zeit zu macenden Gebrauch bemerik, wird daven 
ganz unabhängig foyn. ‚Er fol zwar geleſen, aber dan 
in der Berfammiung dem Wolle weder zwiſchen ben bt 
Zahll ned, abgefchloffenen Propbeten Cd. i. den -aitiehe 
mentlichen Schriften) nech zwiſchen ben Apoſteln eben 
neuteftamentlichen), d. h., da and ben Schriften dei 9. 
und N. T. der chriſtliche Kamen gebildet war, cr kam 
als Bultanbaheil des Raums bis zum Enbe der Zeuen 
nicht Öffentlich vorgetragen werden. Das Deſeſenwerden 
oder Prinaskudimm iſt dem se publiesse ober dem Hffen» 
lichen Vortrage in der Gemeine entgegengefeht. Zu die 
fm wand noch nufenen Feaguentilien nur eine Scrift, 
die. wirklich ein Beſtaudtheil ned Kauens war, zugelaſſen. 
Auf dieſen Varzug batta ber Hirte wegen feiner vrb 
teten Abfaſſung kein Anrecht Er iſt emten canomem m 
deßhalb auch zuletzt erwähnt. — Wie dee Hirte bier 
dem Peisatgupium empfohlen wird, fo erzähle Enfehins 
(h, ©. 3, 335 welcher ihn h. e. 3,05. au deu älter se 
nei, dab: man ihn befonders Den Katechumenen: gegebee 


— 

Am Schluſſe vou 3.80., wo die Andeinanderfepung 
über den Hirten des Hermas beendet ift, findet ih in 
unferm Codex die bei ihm fo. feltene Interpunction und, 
was gar nicht weiter bei ihm vorkommt, ein leerer Zw 
ſcheuraum für mehrere Buchſtaben. Dieß Aues weil 





der Kanon des neuen Keffaments von Muratori. 853 


deutlich darauf bin, daß num eine gang were Materie begiu⸗ 
uen fell, und in ben That werben feine fan enifchen Schriften 
mehr aufgeführt, ſondern Schriften von ———— 
weiche verworfen werden. | 

Der Sinn der folgenden Werte ift im augemeinen 
klar, obgleich theils manche ber erwähnten Perſonen um 
befanms, theils ihre Namen in unſerm Terte ſehr entfellt 
And, worauf aber wenig anfemms; m. vgl. bie daruber 
aufgeftellten Bermuthungen bei Zimmermann, Bon deu 
drei erſten, Aefiuous, Valentinus und Miltiaded, iR der 
witdiege einer der befannteftes Bnoftiter. Gin Härstifer 
Mittindes, ber hier: gemeint ſeyn könnte, wird, wenn. bie 
Lesart ‚wichtig it, beifufsb.ch.e.5, 16.) erwähnt. Diefe 
follen. untes Auderm ein venes Pfalmenbuch für Marcion 
gelhrieben haben. Daß Valentinus Pſalmen, matärlich. 
feine hebraͤiſche, verfaßt bat, erhellt ans: EClemens Aler. 
(Strom. 4, 6.), Tertulliau (de carne Ohr. 0, 20.3. Beflides iR 
bekannt. Der 'constitutor Catspirygum kann ſchwerlich 
ein Auperer alt Montanus, der Stifter der Wantaniäne; 
oder Kataphrygar, ſeyn, und da die Kataphryger in Aſten 
iu Hauſe waren, fa habe ich Aseianum in Asianorum ge 
ündent. Das Uebrige ergibt fich aus dem Eamterte, * 
ih ihn oben feſtgeſtellt habe. 

Nachdem wir den Inhalt des Fragnents bis RR 
Einzelne analyfirt haben, läßt ſich bie Frage nach feinen: 
Integrisät gus-Öntfcheidung bringen. A kauoniſch 
merken erwähnt: bie A Evangelien, die Apaſtelgeſchichte, 
13 yanlinifche Briefe mit Uebergehung des Hebräerbrie⸗ 
fes, weldger wahnſcheinlich ats epissola ad Alexandrinos 
außen. dan Kanen gefett ik, der Brief Iubä, die beiden 
erſten Briefe des Johaunes und feine Apokalypſe, endlich 
von den Schriften des Petrus wenigſtens der erſte 
Brief: deſſelben. Daß der. dritte Brief des Johames und 
der. Brief Jakabi leicht übergangen werben konnten, iR 
bereits ‚gezeigt morden. Sinht man van dem. ſchadhaften 


€ 





BEE en. Wieſeler 


rein am Anfang uud Sqchluſſe ab, weiche aber über die 
Beftanbtheile des nehteftaniertiichen Kanons nichts Renee 
bringen würden, fo muß man fließen, daß uns bie 
Schrift des Fragmentiften im Ganzen noch volſſtändig 
vorliegt, falls er nicht vorher auch noch über deu Kanon 
des alten Teftaments gehandelt hat. Diefe Annahme 
würde aber nur dann etwas für fich haben, wenu bie 
Sapientia Balomonis anders ald vergleichsweiſe erwähnt 
wäre 
>" Wir fragen weiter nach dem Zwede ber Schrift un: 
ſers Fragmentiſten. Diefe beſteht aus einem Verzeichniſſe 
derjenigen Schriften, welche in der Gemeine unferd 
Berfaflers zum nenteftamentlichen Kanon gerechnet war 
ben oder, wie ber Hirte des Hermas, von der Geweine 
geleſen werden ſollten. Doch haben wir feine blog tre⸗ 
dene Aufzählung diefer Bücher, fondern es wird audı 
ihre Entſtehungsgeſchichte befchrieben, und nahe Tiegendt 
Einwürfe werden zurickzewieſen, aber Alles mehr apho⸗ 
rnit und referirend, wie ed erſt wenig eingeweihten 
Befern gemäß iſt. Endlich werben auch mehrere apolkry⸗ 
phifche oder häretifche Schriften verzeichnet und vor ihnen 
gewarnt. it einen Worte, wir fcheinen bier die kurze 
Anweifung eines Kirchenichrerd für Katehnmenes 
einer beſtimmten Gemeine vor uns zu haben, welde jı 
dem: Zwecke abgefaßt wurde, um diefelden Aber bein 
dieſer Gemeine geltenden echten Urkunden des chriftli⸗ 
chen Glaubens zu unterrichten. Abgefehen von dem Gaw 
zen, ſcheint auf diefe Anficht auch manches Winzelne ze 
führen; fo das docesutur 3.18 darauf, daß der Berfal 
ſer im Romen der Lehrer ſpricht, und dad quidam & 
nostris 3. 72. daranf, daß die Lefer wicht zu dem Be 
dern der Gemeine gehörten. 

In weiche Zeit faͤllt die Abfaſſung unferer Schrift, 
und wer iſt ihr Verfaſſer ? Wer die eigenthämliche Gr 
faitung unſeres Kanous vollſtändig erkannt bat, wid 








ber Kanon bed neuen Kefaments von Ruratori. 855 


fhon and diefem Grunde gu der Annahme fid; getrieben 
fehen, daß nufer Berfaffer nicht, mie Zimmermann will, 
im vierten, fondern, wie fchon von Muratori behauptet 
wurde, im zweiten Jahrhunderte gelebt haben müffe, 
Unter manden richtigen biftorifchen Augaben erwähne 
ih nur bie, daß derfelbe nach 3.39, auch noch die Ans 
nahme einer zweiten vrömifchen Sefangenfchaft des Apo⸗ 
ſtels Paulus nicht zu billigen ſcheint. Beſanders deutlich 
bat der Fragmentift feine Zeit in dem bezeichnet, was er 
über den Hirten bes Hermas 3.75]. fagt: Pastorem 
vero nuperrime temporibus nostris in urbe 
Roma Hermas oonscripsit sedente eathedras urbis 
Romase ecclesise Pio episcopo fratre eius, 
Der Borgänger des Bifhofd Pins war Hyginus, welder 
nach Eufeb.Ch.e. 4,10.) im 1. Jahre des Antoninus Pius 
oder 138n,Ch. romiſchen Biſchof wurde 4 Sahre bars 
auf farb Hyginus und machte dem Pins Platz, welcher 
im 15. Jahre feines Amts nach Euſeb. h. e.4, 11. geſtor⸗ 
ben iſt, alſo von 142 — 157n. Ch. daſſelbe verwaltet hat. 
Während feiner Verwaltung ſoll der Hirte verfaßt ſeyn, 
und zwar, wie ber Fragmentiſt bemerit, nuperrime tem- 
poribus nostris. Mithin muß ber leßtere bald nadı 
dem ‘Tode bes Pius gefchrieben haben, wenn man bad 
Dbige hinzunimmt, etwa um 170n.Ch., fpäteftend gegen 
Ende des zweiten Jahrbundertd. Yür das frühere Das 
tum fpricht auch das Zeitalter ſaͤmmtlicher am Schluſſe 
erwähnter Häretiker. Es find Valentin «), der um 140 
n. Eh. nah Rom fam, Martion, zwifchen 140 bis 150 in 
Rom (Arfinous und Miltiades, da fie ebenfalls für Marcion 
Palme verfaßten, müſſen wenigftend gleichzeitig gewefen 
ſeyn), Baftlided um 125 und Montanns um 150n.Ch. 


a) Die chronologiſchen Data über biefe Häretiter find aus ie f es 
lex’ 8 Kirchengefchichte entiähnt, wo ich das Nähere AT 
ben bitte, 


7 


Ueber Dun Berfaffer des Yeagments wiſſen wir 
duo dem Vorhergehenden, baß er ein Lehrer Der römifchen 
uber doch einer Rom benachbarten chriklichen Gemein 
gewefen ſeyn muß. Murateri, weldem Manche gefolgt 
ad, hat ihn für identiſch mit dem römifchen Predbpte 
Gafus erflär. Beine Grlnde find: er war Lehrer der 
söwiichen Bemrine und Icbte um 208. Diefe Rertuak 
paſſen noch anf manche Andere. Wenn Muratori ferne 
bemertt, daß Saijus nach Enfeb. Ch, s. 6,20.) wie unfer Fraz⸗ 
ment wur 13 Briefe des Paulus mit Uebergehung dei 
Hebreäeebriefes anertenne, fo iſt andy dad für einen ri 
miſchen Ritchenlehrer nichts Charakteriſtiſches. Auf der es 
dern Seite hat man mit Recht hervorgehöben , daß ehrt 
dieſer Cajus nad, Enfeb.h. e. 3, 28. ſich Aber die jeher 
neifhe Ayolalypfe, weide er für ein trügliches Madı 
wert des Gerinth zu halten ſchint, fo ausfprach, daß er 
mit unferm Fragmentiſten uumögiich identiſch ſeyn fünm. 
ad fdyeint er nach dem Obigen dazu nicht alt genng 
zu ſeyn. Uebrigens verfchlägt es im Grunde wenig, je 
wiffen, ob Gaius ober, was wir richtig ſcheint, irgend 
ein anderer Eirchenlehrer des zweiten Sahrhundertd um 
for Fragment verfaßt hat. 

Zum Schluſſe noch ein paar Worte über den Werth 
unfered Documents. Seine hohe Wichtigkeit erhellt ſchon 
barans, Daß es nah dem Kanon bed Mareion, weldt 
befummtlich 10 Briefe des Paulus ımd ein Evangelium 
umfaßt, das Altee, dazu in ſich zufammenhängend 
und mit Bewußtſeyn biefes Zweckes verfaßte Berzeidail 
des nenteflamentiihhen Kanone if nad daß in dieſer Br 
jgiehung mit ihm faft nur noch das Verzeöchniß der bi⸗ 
biifchen Bücher in ver Peſchito concurriren Tann. Bor deu 
Kanon ded Häretilers Marcion hat ed aber den entfhie 
denen Vorzug, dap fein Berzeichniß von einem wirklichen 
Lehrer der Kirche ausgegangen und nicht vom einem fü 
jectiven Standpunkte aus, wie diefed zumal von Mar 
cion zugegeben werben muß, verftümmelt if. Wir be 





% 


der Kanon des neuen Keflaments von Muratori. 857 


ben im unferm Fragmente, zumal went man die Phäno⸗ 
mene and gefchichtlicher Analogie zu deuten fucht, eine Ent» 
wickelungsgeſchichte des neuteſtamentlichen Kanons innmuce. 
Bei einer unparteiiſchen Würdigung deſſelben find aber 
folgende zwei Geſichtspunkte fireng feflguhalten. Erſtens 
find innerhalb des Fragments die objectiven Ausſagen 
über den Kanon von den fubjectiven lirtheilen feines 
Berfaffere noch zu unterfcheiden.” Zu den erftern gehören 
namentlich die Audfagen über die Beftalt des Kanone, 
weichen er sticht erſt nach eigener Beliede feſtſtellt, ſon⸗ 
bern fo aufführt, wie er ihn in der Bibel feier Ber 
meine bereit6 vorgefunden hat. Zweitens ik unfer Ka: 
won nicht der Kanon der ganzen Kirche, fondern itur ber 
einer einzelnen Gemeine, der römifchen. Nur iſt dabei 
nicht zu vergeſſen, daß gerade die römifche Bemeine 
Burd ihre Lehrer wie duch Alter und Urfprünglichkeit 
und, was hier nicht ohne Gewicht if, Burch ihren mehr 
objectiven Charakter zu den angefehenften der ganzen 
Ehriſtenheit gehörte. ⸗ 


2. 


Ueber Jeſ. 17. 18., 
als ein zuſammenhängendes Ganzes bildend und nad 
hronologifhem Principe eingereiht. 


Bon 
Prof. D. Moriz Dredsler. 


Die in der Weberfchrift genannten Kapitel des Bus 
ches Jeſaja bieten dem Kritifer und Eregeten in mehr 
als Einer Beziehung nicht unbebentende Schwierigkeiten 
dar, Ramentlich hat die Frage, in wie viele nad in 
weiche Theile das bezeichnete Stud zerfalle, einen nicht 


858° . Drechtier 


geringen Zwieſpalt nuter den Auslegern hervorgerufen. 
Möge es dem Verfaſſer vergömnt ſeyn, dieſer, fo wie 
noch einigen anderen connexen Fragen in den vorliegen⸗ 
den Blättern diejenige ins Einzelne gehende Ausführlich⸗ 
keit der Behandlung zuzuwenden, welche dem, wie fd 
jeigen wird, gar nicht unwichtigen Gegenflande auge 
meflen und die Doch innerhalb eined das Ganze ber je 
fajanifhen Orakelſammluug umfaffenden Commentars is 
feiner Weife möglich if. 

Beginnen wir unfere Audeinanderfeßung damit, den 
gegenwärtigen Stand der Unterfuchung darzulegen. 

Geſenins theilt das in Rebe fichende Stüd in zwi 
verfhiedene Orakel: 17, 1—11. uud 17, 12 — 18, 1. 
Hitzig flimme zwar in die Trennung, trifft aber bie Ein 
theilung anders, indem er Kay. 17. zufammenfaßt un 
Kap. 18, als felbfändige Weiffagung abfondert. Genus 
befeben, theilt er jedoch das Ganze eigentlich in drei 
Theile ‚Sm Sommentare (S.200.) heißt ed: „der Heise 
Abfchnitt 17, 12 — 14. bilder für fi ein Ganzes, dei 
aber, indem es ſich ebenfalls auf Aram und Ephraim te 
zieht und ungefähr and bderfelben Zeit herrührt, bemiel: 
ben (dem Orakel 17, 1—11.) beigefchloffen wurde.” Ham 
dewerk faßt Kap. 17. ſchlechthin als ein Ganzes, Er 
verbindet daflelbe mit Kap. 5. n, 7, 1-9. an Einem Städe, 
während er andererfeite Kap. 18. mit Kap. 19. vereinigl. 


Ewald trifft mit Gefenius infofern zufammen, ale er nah 


17, 11. abfeßt und 17, 12—14. mit Kap. 18. verbinde. 
Dem Kap. 18. aber reiht er unmittelbar 14, 24— 21. u 
and will erſt diefe drei Abfchnitte (17, 12 — 14. md 
Kap. 18, und 14, 24—21T.) ale Ganzes gelten laſſen. Um 
breit handelt unfer Stüd ald in drei befondere Städt 
zerfallend ab: 17,1— 11. und 17,12 — 14. und Rap. 13 
Doc bat die Art, wie er fi über 17,12 — 14. au- 
fpriht, etwas Schwantended. „So überrafhend” — 
fagt er (5.154. feines prakt. Comm.) — „bie anmittl 








über Jeſ. 17. 18. 859 


bare Anzeihung biefer Verkündigung der ſchnellſten Flucht 
der Aflyrer aus dem jüd. Lande an das vorhergehende 
Stück fcheint, fo paſſend iſt fie.’ Deßhalb möchten wir 
aber nicht geradezu dieſes in fich immer beſonders abge⸗ 
ſchloſſene Stud geradezu mit dem vorhergehenden ald 
urfprünglich eins verbinden. Und eben fo wenig ſcheint 
ed und, wie Gef. will, mit dem folgenden Orakel zu⸗ 
fanmen zn gehören, obfchon wir nicht verfennen, daß es, 
feinem Suhalte nad, ale daſſelbe einleitend betrachtet 
werben kann.” Knobel thejlt wie Gef. ab: 17, 1— 11. 
und 13,12 — 18, 7,; Hävernid (Einl. IL, 2. ©. 75. 76.) 
wie Hitzig: Kap. 17. und Kap. 18. de Wette hatte im 
den früheren Ausgaben feiner Einl. unfer Städ in zwei 
Orakel zerlegt: 17, 1—11. nnd 17,12 — 18, T.; in 
Aufl. 6, zerlegt er eö in drei Städe: ar 1—11. und 
17,12 — 14. und Kap. 18. 

Man fieht, bier liegt eine von jenen Erfcheinungen 
vor, an benen bie neuere und neueſte Kritif nicht eben 
arm iſt, welde ganz bazu geeignet foheinen, an ber 
Auffindung irgend einer objectiven Wahrheit geradezu 
verzweifeln zu machen, 

Sehen wir, ehe wir uns ſolch Aenßerſtem bingeben, 
unbefaugen die Sache felbft ein, fo bietet ſich unferem 
Blide vor Allem die Thatfache dar, daß in demjeni- 
gen Theile der jefajanifchen Orakelſammlung, welchem 
Kapp. 17.-18, angehören, jeder unzweifelhafte Anfang eis 
ner neuen Weiffagung, der kleinſten wie der größten, 
durch eine, allenthalben möglichft gieich gehaltene Leber, 
fchrift bezeichnet if. So 4. B. die große Weilfagung über 
Babel in 13, 1—14, N., fo die Feine über daffelbe Ob⸗ 
iect in 21, 1—10.; fo die kurzen und kürzeſten Orakel 
21, 13—17. und 14, 23 —32. und 21, 11. 12. u. f. w. 
Steht dieß fe, fo wird alfo das zwilchen den beiden 
Ueberfchriften 17, 1. u. 19. 1. liegende Stüd ein Ganzes 
bilden follen. Der Urheber der vorliegenden 

Theol, Stud, Jahrg. 1847. 68 


80 Brerheler 


Gamumlinng hat Kapp. 17.18. als eine fu fih ak 
gefhloffene Weiffagung betrachtet wiſſern 
wollen. 

Prüfen wir mun, inwiefern wit biefem äußeren 
Beugaiffe der Inhalt jener Rapp. und überhaupt ber innere 
Befund zuſammenſtimme. 

Bas und Ba gu allererk in bie Augen fallen wird, 
iſt dieß, Haß innerhalb des in Rede ſtehenden Abkchuit 


fo viele verfchiedene Bölfer der Reihe nad zum Beam 
Rande der Weiſſagung gemacht werben. Während d 


ſouſt Brandı if, Daß jebes beſondere Drafel einem br 
ſtimmten Bote, dem tu der Lieberfchrift namhaft gemad- 
ten, gewidmet ift, fehen wir in dem vorliegenden Gtäd 
merſt Damaskus (B. 1.) auftreten, daſſelbe fpäterbin j1 
Bram (B.8.) ſich erweitern, Daneben eine Stadt dei iſ 
zaelitifchen Oftjordanlandes (B.2.) und Ephraim (8.3 
gur Sprache kommen unb weiterhin (V. 4 — 11) zu 
ausfchließlichen Beiprecung gelangen, hierauf A 
(8. 18 — 14.) in den Befichtefreid bes Propheten ein 


ven, endlich ein Land „ienfeite der Ströme von Kuſch“ 


(Kap. 18.) den Reihen fchließen. in, wir geflehen eh, 
falls fi dieſer Cumulirung keine andere Seite als dit 
des Bufälligen und Willkürlichen abgewinnen laffen fol, 
in der That mehr als bedenklicher Umſtand! Wen d 
And dieß ja biefelben Böker, weiche in dem Epoche me 
renden Kap. T. auch neben einander vorkommen. Ya 


Kap. 7. hat es mit Damaskus zu than (7,8) ud mi 


ram (7,1.2.4.5,8.) und mie Iſtael CT, 1.) oder Epkreis 
(7, 2.3.8.9.) und mit Affur (7, 17.18.20.) und mit „MM 
Fliege am Ende der Nile Negpptens” (7,18). Un li 





wie Bram und Ephr. in Kap. T. ald Mliiste erfieimn 


die eben deßhalb aßezeit neben einander genannt werde, 
fo in Kap. 17. eben auch. Deßgleichen, wenn in Kant. 
Aſſur nach Maßgabe des hifterifchen Entwidelungdgss 
ges erſt dann zur Sprache kömmt, wenu ber Prophe 





über Bel. 17. 18. 861 


das, was er Über bie beiden alliisten Könige zu fagen 
hat, ausgeſprochen hat, fo verhält es ſich in Kap. 17. 
in dieſer Hinficht ebeufo. Endlich ber „Fliege am Ende 
ber Nile Aegyptens“ wird in Kap. 7. nach Affur und, 
wie es fcheint, ald in der Reaction gegen baffelbe begrif- 
fen Erwähnung getban. Genau ebenfo verhält es fi 
in Kap. 36. mit dem Lande „ienfeitd der Ströme von 
Kufh.” 

Daß die Ueberſchrift in 17, 1. nur Einen von dieſen 
Betheiligten,, das zuerfi zur Sprache kommende Damas⸗ 
Ind, namhaft madıt und danach das ganze Stüd benennt, 
wird, als durch die fonflige Sitte des Hebräers und des 
Ortentalen überhaupt gerechtfertigt, gar keine Schwierig» 
feit verurfachen. 

@iner näher tretenden Betrachtuug der Rapp. 17.18, 
faun es ferner nicht entgehen, daß dieſelben ihrem ins 
halte nad) ein Ganzes bilden, das fich aus einem und 
demfelben Grundgedanken auf dad Schönfte confiruiren 
läße. Ihr Inhalt ift nichts Anderes, ald die concrete 
Anwendung des in Kap. 2,, näher in 2, 12—18., gang 
allgemein ausgefprochenen Gedankens, und wir können 
die Summe bed ganzen Abſchnitts nicht befler ausdrücken 
als mit den Worten von 2,17.: „und wird gebeugt Hochs 
muth ded Menfchen und erniebrigt Stolz von Männern; 
und iſt erhaben Jehova allein an bemfelbigen Tage.” 
Daß ein Tag herannahe, an weldiem Alles, was auf 
Erden etwas it oder doch etwas feyn will, mit oder 
wider feinen Willen dem Herrn werde bie Ehre geben 
müſſen: dieß der Inhalt der Kapp. 17. 18. Und dieſer 
Grundgedanke ift mit fchöner Steigerung in immer weis 
terem Kreiſe durchgeführt. Zuerſt an den in nädılter 
Nachbarſchaft wohnenden kleineren Keinden, Aram und 
Ephraim, danach an dem fchon entfernter wohnenden 
mächtigen Affur, zuletzt an dem in die fabelhafte Ferne 
hinausreichenden Kufch, welches fich eben deßhalb im 

u: 


862 Drechsler 


18, 3. zur geſammten Menſchheit erweitert. Alle werben 
fle zu Schanden werben, die dem Herrn in entſchiedener 
Feindſchaft entgegentretenden Weltmächte (Rap. 17.) jo gut 
wie die eine mehr neutrale Stellung einnehmenden, mil 
dem Volke des Eigenthums das gleiche politifcdye Jutereſſe 
theilenden (Kap. 18.). Die erfteren werden vernicte, 
die anderen mit ihrem ganzen fo ungeheuren und bed 
am Ende fih fo überflüffig erweifeuden Aufwande ber 
außerorbentlichfien Mittel (18,2.) befhämt. 

Hat ſich durch das Bisherige fo viel ergeben, dab 
der Inhalt des fraglichen Abfchnitts mit dem durch bie 
Ueberfchrift gegebenen äußeren Zeugniffe in vollkommenes 
Einflange begriffen ſey, fo mögen wir nun uoch zuſehen, 
inwiefern etwa an ben Rapp. 17. 18. in allerlei Einzeln 
fcheinungen ein Gepräge der Einheit und Zufammenge 
hörigkeit zu Tage liege, wie fle die ein Ganzes bilden 
Rede in der einen oder in der andern Weife an fh 
tragen pflegt. 

Hierher gehören die homogenen, ja identifchen Bl 
ber, deren fid der Prophet durch bie verfchiedenen Par: 
tien feiner Rede hin bedient. Wenn er das Gericht ber 
Bertilgung, welches über Ephr. fommen fol, veraufdan 
lichen will, fo thut er es 17, 5. unter einem von der 
Frucht des Aders nnd deren Ernte und gleich darauf 
17, 6. unter einem von ber Dlivenernte hergenommam | 
Bilde. Ebenſo läßt er 17, 10. 11, die Ephraimiten wi 
ihren getänfchten Hoffnungen fi in dem Bilde des Bär 
nerd abfpiegeln, der, nachdem er bie Pflanzung, welt 
er alle mögliche Sorgfalt gewibmet, auf das Hoffnung" 
vote hatte heranwachfen fehen, in dem Augenblide da 
erwarteten Ernte feine Ausſicht plötzlich vereitelt fe 
Und ganz und gar in derfelben Weife ſtellt er 1,45 
die Kataftrophe, welche den affprifchen Eroberer eu | 
dann ereilen fol, wenn er feiner Meinung nach gerad! 
im Begriffe it, feinem Werke die Krone aufzuſetzen, u 











über Jeſ. 17. 18. 863 


ter dem Bilde einer Berheerung dar, die den Weinftod 
in dem Momente der der Lefe entgegenreifenden Traube 
eben fo unerwartet ale vollftändig trifft. Alfo, in dem 
verhaͤltnißmäßig nicht eben langen Stüde vier fo homo⸗ 
gene, zum Theile geradezu ſynonyme Bilder! Bon 21 Ber, 
fen nicht weniger ald 6 in Gleichniffen aus einer und 
derfelben Sphäre anfgehend! Und andererfeitd — was 
für unfern Zwed wohl zu. beachten — alle vier Bilder 
doch auch wieder fo gehalten, daß fie einander auswei⸗ 
hen, nicht eined mit dem andern fchlechthin identifch 
wird! 

Bon befonderer Wichtigkeit ift ferner dad Verhält⸗ 
niß der beiden Stellen 17, 12—14, und 18, 4—6. An 
beiden Drten if die Art und Weife, wie von der Katas 
frophe geredet wird, welche Affur treffen fol, genau 
diefelde x). Beide Abfchnitte geben ein Doppelted zu ers 
kennen, erſtlich, daB das Gericht erſt dann kommen 
werde, nachdem vorher ber affyrifchen Macht lange Zeit 
und bis aufs Aenßerſte Raum werde gegeben worden 


a) Hitzig freitich findet in den beiben Stellen, deren genaue Ueber⸗ 
einftimmung wir als ein Argument für bie Zuſammengehoͤrig⸗ 
Leit geltend machen, einen Widerſpruch, den er (neben andern 
Gründen) als die Berbindung von 17, 12—14. mit Kap. 18, 
nicht zulaffend hervorhebt. Er fagt &. 200. : „Dort (17,12—14.) 
wird als gegenwärtig befchrieben, wie die Feinde über alle 
Berge fliehen, und bier (18, 4&— 6.) ſollen fie fammtlich als 
Erſchlagene auf dem Plage bleiben ? Es iſt leicht eingufehen, . 
daß wir hier nur bie zwei ſich ergänzenden Seiten haben, nach 
weichen wohl jebe bebeutende Nieberlage eines großen Kriegs 
heeres betrachtet werben Tann und bie denn audy die hier ges 
weiffagte Kataftrophe bei ihrem Gintritte wirklich darbot (37, 
36. 37. vꝗl. 37, 7. 29. 34.). Dabei ift jedoch recht fehr zu bes 
achten, daß, wenn der Prophet auch allerbings mit 17, 13. vor: 
zugsweife bie in 37, 87. und mit 18, 5. 6. bie in 87, 36. ver: 
zeichnete Seite im Auge hat, doch auch in 17, 14. a. eine nicht 
zu vertennende Hindeutung auf bie in 87, 36, erzählte Krifis 
enthalten ift. 





864 Drechẽeler 


ſeyn, und zweitend, daß die Kataſtrophe, in ber ſich 
bad Gericht vollgiehe, eine plößlihe und eine rabicak 
feyn werde. Namentlich faffe man bie beachtenäwertke 
Ucbereiuftimmung beider Stellen hinſichtlich der in Un 
wendimg gebrachten rhetorifchen Mittel ind Auge. Das 
eine wie dad andere Mal verweilt die Rede abſichtlich 
bei der Schilderung Der ungehinderten Kraftentwidelung, 
zu welcher Affur Raum gegeben werden folle, auffallend 
lange, um mit um fo größerem @ffecte das Gericht in 
feiner ganzen Urplöglichkeit zu veranfchanlichen. Im ge⸗ 
naueften Paralleliömus entfprechen ſich in diefer Ber 
bung 17, 12, und 18, 4.; 17, 18. a. a. und 18, 6. ı >). 


Endlich fey noch Baranfhingewiefen, wie Kap. 17.18. 
den Charakter eines in fich abgefchloffenen Ganzen m 


ber Stetigkeit almählichen Steigens und Fallens dır 
Mede beurtunden. Der Anfang des Drafeld hält fie 


ganz und gar innerhalb der gewohnten Weiſe prephe: 
fher Darftelung, Jeſaja beginnt bamit, den nädta 


Gegenſtand feines Weiffagend zu begeichnen. Er tat 
das, indem er die verfchledenen Parteien, in welche fi 
das nächſte Object gliedert, der Reihe nad anfjällt 
und dabei jeden Theil ganz einfach beim Namen went 
Die Rede bewegt ſich hierbei durch das hergebrachte Te 
bilel der Verbindung nam ehsa rm), einfacher wırmı 72 


oder am fort. So in V. 4; in V. 5, zweimal; Bd; 


B.9. Indem aber der Prophet in B.9., nachdem rin 


Vorhergehenden den Grundgedanken in Beziehung af 
Ephr. bereits vollſtändig durchgeführt hatte, nochmals | 
barauf zurückkommt, das Gericht ber Enttäufchung, wel 


ches die Ephraimiten für ihre unverbeflerliche Abtrünnig: 
keit erfahren werden, zu um fo größerer Eindringlicfet 
wiederholt darzuſtellen, belebt fi ber Puls feiner Rebe. 





a) Auch in dem Wteichniffe 17, 10. 11. laͤßt fich die gleiche Anlıt 


nicht verkennen. 


über Jeſ. 17. 18. 803 


Gie geht mit B.10. in die zmeite Perfon über wud nimme 
am Schluſſe diefer Strophe in V. 11. h. etwas Adgeriſſe⸗ 
ned an. Im Kolgenden erhält und erhöht ſich dieſe Stei⸗ 
gerung. Hier find die lebergänge lyriſch; an die Stelle der 
profaischen Formel tritt die Partikel hr in 17,12.18,1.). 
Die Strophe 17, 12 — 14. zeigt den Charakter des Bis 
fionären. Witten hinein ficht fi der Prophet verſetzt 
in die braufende Brandung tobender Feindesheere. Alles 
it Hanblung, vos dem inneren Auge bed Sehers raſch 
fd entwidelnder Borgang, bis zu dem kurzen biefe 
Strophe fließenden Paran in 17, 14.b. Für Ramen 
it bier fein Raum. Obwohl der Prophet Aſſur volle 
ſechs Berfe (17, 13 — 14. 18, 4—6.) widmet, fo ift dem⸗ 


ohngeachtet der Rame des Feindes auch nicht einmal ger 


naunt. Wit der wahrhaft kunſtreichen poetiſchen Schil⸗ 


derung in 18, 2, iſt es derſelbe Fall. Im 18, 1. umgeht 


Yehnja abfchtli Die directe Benennung. YAaflatt bad 
Land geradezu beim rechten Ramen zu nennen, ſubſtituirt 
er ein Gymbos.n). Weiterhin kehrt im MBerlaufe dieſer 


a) Die Worte ums bebr find — ein wahres Kreuz der 
Ausleger. Ich erkläre dieſelben im Hinbiide auf Deut. 26, 42, 
durch geflügelte Shwircheufhrede. Richt als ob «eb 
die Intention des Propheten wäre, bas in biefer Stelle anges 
rebete Land als Heimath jenes fhäblihen und verheerenden In⸗ 
fects zu bezeichnen. Die eigentliche Meinung des Propheten iſt 
aus eben jenem Kap. 7., zu welchen unſer Städ üͤbethaupt im 
fo naher Beziehung ſteht, zu erklaͤren. So wie naͤmlich in 7,184 
von ber Fliege am Ende ber Nile Aegyptens unb von 
der Biene im Lande Affur bie RKede ift, fo ift gu im 
18, 1. der geflägelte Schwirrer ald Emblem ber Lufcht« 
tifhen Macht, welde damals weithin (nad Strabo bi8 an bie 
Saͤnlen bes Hercules) erobernd auftrat, gu fallen. Eben um 
diefee emblematiihen Eigenſchaft willen if der MWeifag- RIE33 
noͤthig. Da naͤmlich einerfeite bei allen für bie nähere MWeftim, 
mung bes busch babx bezeichneten Inſetto in Betracht kom⸗ 
menden Arten die Entwidelung der Flägel an allerlei Bebin- 
gungen theils bes Geſchlechte, theils der verſchiedenen Entwicke⸗ 


y 


308 Drechdler 


legten Strophe bie Rebe zur Ruhe zuruck, wie denn auch 
den Schlußvers bed Ganzen wieder bie Formel rn; 
wrm einleitet (vgl. 20, 2. 39, 1.). 

Als einen Punkt von minderer Wichtigkeit nenne ih 
zuletzt noch die Verbindungen: cn Yb 17,13. und ann © 
18,3, und runs 18,6. Seine diefer drei Berbindungen 
kömmt außer der refpertiven Stelle je mehr vor. 

Unter diefen Umftänden glaube ich die Zufammenge 
hörigkeit der Kapp. 17. 18. als eine unzweifelhafte That, 
fache betrachten zu bürfen, wenigftend als fo ausgemacht 
und evident, wie es nur immer Dinge der Art irgend 
ſeyn Fönuen. 

Ein nicht geringer Beweis für die Probehaltigfeit 
unferer Anſicht if, dünft mid, darin gegeben, daß 
alle die von den verfchiedenen Kritikern gegenfeitig gel 
tend gemachten Argumente, foweit fie irgend einen Kern 
Bed Haltbaren haben, von unferem Standpunkte and 
bie befriedigendfie Erledigung finden, 

So if unleugbar etwas Wahres daran, wenn in 
Laufe der Verhandlungen über biefen Gegenſtand von ver» 
ſchiedenen Seiten hervorgehoben worden ift, bag fd 
17, 14, als Schluß charakteriſire, fowie 18, 1. einen paſ⸗ 
fenden Anfang gebe. Aber während diefe Wahrnehmung 
allerdings gegen diejenigen zeugt, weldje ed unternehmen, 
17, 12— 14. von 17, 1— 11. abzulöfen und dagegen mit 
Kap. 18, zu einem befonderen Drafel zu vereinigen, ver: 
trägt fie fich mit der von und aufgeftellten Annahme auf 
das Befte und findet bei derfelben ihre vollfte Würdigung. 
Mit dem Schluffe von Kap. 17. tritt ja nämlid, wit 





.. Iungöftufen gebunden iſt, anbererfeits aber für ben ſymboliſches 
Gebrauch in unferer Stelle das Gefluͤgeltſeyn «in weſentliche 
und ganz unentbebrlicher Zug if, fo erfcheint jener Zufag nichte 
weniger als muͤßig. — Daß cm im Hinblide auf 8, 8. k 

- ohne Weiteres von Heeresfluͤgeln verflanden werben könnte, if 
meines Beduͤnkens zeinweg unmöglich. 


über Sef. 17. 18. 867 


wir oben gefehen haben, wirklich ein Wendepunkt ein, 
Der Prophet macht von den dem Herrn uud feinem Reiche 
feindlich entgegentretenden Weltmächten, welchen in Kap. 17, 
feine Rede galt, den Uebergang zu den zwar noch außers 
halb der Gemeinfchaft ber Berheißung, doch nicht im po» 
fitivem Widerſtreben gegen biefelbe ſtehenden Völkern. 
Daher in 17, 14, b. der zuſammenfaſſende, abfchließende 
Charakter a), R 

Demnach ik Haev. gegen Knob. nnd Andere, welche 
die Zufammengehörigkeit von 17, 12—14. mit 17, 1-11. 
nicht anerfennen, ganz und gar im Nechte, wenn er 
(Til, 11.2. S. 75.) darauf hinweiſt, bag gerade in. dem 
Abſchaitte 17, 12— 14, das Thema zu dem Vorhergehen⸗ 
den — er meint damit eben 17, 14. b. — liege and 
dag B. 14. unverlennbar auf 2. 3. zurüdfche Nur tk 
andererfeitd ihm gegenüber, als welder nun umgelchrt. 
den Zuſammenhang zwifchen 17, 22°—14, und Kap. 18: 
leuguet, Knobel eben fo fehr im- Rechte, wenn berfelbe 
behauptet, die Bereinigung von 17,12-—14. mit Kap. 18, 
fey, abgefehen von:der fihönen Abrundung und Bollkän- 
digkeit, welche dad Stüd dadurch erhält, deßhalb noth⸗ 
wendig, weil 18, 5, die Vernichtung eined großen Heers 
verbeißen wird, ohne daß deſſen Ankunft auderswo als 
in 17, 12. angefündigt wäre, 

Und fo hat denn auch Umbreit dad Richtige gefeben, 
wenn er, wie Eingangs referirt, den Abſchnitt 17, 12—14- 
im: Berhältniffe zum Vorhergehenden als paflend ange⸗ 
reiht, im Verhältniſſe zum Kelgenden als daſſelbe einlei⸗ 
tend betrachtet. Nur darin irrt er, daß er fich zu eis 
ner ernftlichen Bereinigung ber drei betreffenden Abfchnitte 
demohngeachtet nicht entfchließen will. 





a) Kap, 17. gipfelt in V. 14.b.; Kap. 18. in 8. 7. Das gegen» 
fügliche Verhaͤltniß der beiben Schelle unferer Rede ift in den 
beiberjeitigen Schlußfägen concentrirt. 


808 Dredsier 


Uebrigens hat die hier durchgeführte Auſicht ſcher 
unser ben Aelteren ihre Bertreter, wie beun Bitringa die 
Zafammengehörigkeit von 17,1 — 18, 1. nicht vertennt. 
Dat, wie er ſich zu 17, 1,a. und zu 17, 13. ausiprict. 

Stehn num aber folchergeftatt einmal fe, Daß die 

Kayyp. 17. 16, Bine zufammenbängende Mebe ausmachen, 
fo gewinwt bie Frage nad dem Zeitpunkte der Abfaſſurg 
eine ganz neue Bedeutung und muß, während fie bidher 
mehr in deu Dintergramd getreten il, von Neuem in de 
arbeitung genommen werben. 
:, Sur Zeit wänlih wimmt man — um and dießmel 
wirber: mit der. Daslegung des gegenwärtigen Stande 
der Unterſuch ung zu beginnen — hinfichtlich der erſten 
Hänfte mnfered Stücks den Zeitraum der ſyriſch⸗ ifraeli⸗ 
then Invaflon in Auba «7, 1.) mit grußer und in ber 
Hauptſache =) totaler Einfimmigfeit ald Termin der Ab⸗ 
feffang au, binfichtiid, ‚der zweiten Hälfte dagegen de 
zeichnet man eben fo eluftimmig die Periode Deo aflyri- 
ſchen Drucks, wmelftentheild geradezu die Zeit karz vor 
der Rieberiage Sanherivbꝰs (Rapp. 38. 37T.) als Aofaſſunge⸗ 
get. So zuverfichtiih ſich unn aber Kritiker und de 
geten in diefer Beziehung anszufprechen pflegen, fo mut 
even body, werm ſich, wie ich glaube, an der Zufammen 
gehörigkeit der zwei Theile nicht zweifeln läßt, nothwen, 
dig Die eine: von den beiden Annahmen unrichtig fepn. 

Mir für meinen Theil ſcheint — wenn ich mir erlan 
ben ‘darf, der Linterfinhung vorgreifend Dieß bier glei 
aus puſprechen — der fpätere Termin der rechte zu fen. 
Ich glande, daß Hugo Grotins die Wahrheit getroffen 
bat, wenn er Kap. 17. in die evften Zeiten des Könige 


a) „Ob es (17, 1— 11.) aber vor bie ſyriſch⸗ iſraelitiſche Invafer 
in Juda (Ew.) ober in diefelbe (Vitr., Lwth., Döberlein, Rs 
fenm., Maurer, Hnbwrf.) oder au bes Ende berfelben, eis die 
Aſſyrier bereits heuansadten (Hieig), ober ſchon das Dftjerden 
land exobert hatten (Geſ., Umbr.), gehöse, iſt fireitig.” Kmeke. 


über Jeſ. 17. 18. 869 


Hiskia ſetzt und bie Drohungen, welche daſſelbe in Bes 
ziehung anf Dawradias enthält, nicht auf Die Heimfuchung, 
die Aram durch Tiglath⸗Pileſar erfuhr, fondeen anf eine 
fpätere unter Salmanaffar bezieht. 

Sehen wir zuoörberft, welche Erſcheinnugen man zu 
Bunften einer früheren Abfaſſung geltend gemacht hat. 

Auf die Gleichzeitigkeit von Kap. 17., beziehungoweiſe 
von 17,1 —11., mitKap. 7 fi. hat man beßhalb gefchlofe 
fen, weil das vorliegende Stück genan dieſelbe Lage der 
Dinge abfpiegele, wie fie die genannten früheren Kapitel 
zu erfeunen geben. Gleich im Eingange (17, 1— 3.) werde 
Ephraim und Damaskus in einer ſolchen Weiſe der Zus 
fammenfafjung behandelt, wie fie ih nur unter ber Vor⸗ 
ausſetzung eines zwifchen den beiden Reihen befiehenben 
Bundesverhältsiffes erflären laſſe. Run babe aber ein 
ſolches nur bie zu dem Linfchreiten von Seiten Affur'd 
Statt gefunden ; in Folge ber Katafeophe Burch Tiglath⸗ 
Pileſar habe es ſich gelöſt. Berner fey 17, 3. von einem 
Königthume bei Dam. die Rede. Much diefem ſey, fo viel 
und befannt, in Kolge chen jenes Kataſtrephe ein u. 
gemacht worden. Pgl. 2Kön. 16,9, 

Ich habe diefer Argumentation ein Doppelte entges 
genzufeßden. Erſtlich Iäßt fie ſich behanptend und lewgr 
nend allın fehr fo an, ale ob undgenane Nachrichten über dieß 
Alled verlägen, während die Quellen im Gegentheile we⸗ 
nig mehr ald Nichts darbieten. Zweitens ik fie mit 
dem wenigen wirklich Borhandenen gar nicht einmal im 
Einklange. 

Es iſt und nämlich von Dam, und von ſeinen Sana⸗ 
falen ans jenem ganzen Zeitraume nichts weiter befannt, 
ale was wir AR6n.16,9. leſen. Mit Ausnahme dieſer 
einzigen Stelle (ind wir von aller und jeder Nachricht 
verlafien und erft im Zeitalter der Propheten Ger. und 
Ez. taucht wieder eine die Gefchichte von Damaskus ber 
rührende Notiz auf, infofern fi aus den Weillagungen 





870 ‚ Dredsler 


der genannten Propheten ergibt, daß jene Stadt damals 
wieder in gutem Zuſtande ſich befunden haben muß. Max 
vgl, Yer.49,23— 27. &5.27, 18, 

Betrachten wir nun die citirte Stelle genauer. In 
28öu.16,9. wird gemeldet, daß Tigl. die Stabt Dam. 
eingenommen (momnn) unb Deportation Über fle ver 
hängt (non) habe, ferner, baß er den Rezin habe toͤd⸗ 
ten laffen. Man flieht, was Tigl. an Dam. that, ſteht 
ganz und gar auf Einer Linie mit bem, was durch Re 
buladnezar an Serufalem bei Gelegenheit feiner erfea 
Einnahme gefchah, worüber und 2 Kön. 24,10 — 16., nut 
watärlid, bier mit viel ausführlicherer Darlegung von 
Detatid, Meldung that. Auch in Beziehung auf Jernſ. 
wird und a. a. O. erzählt, daß Nebuk. Deportation über 
Die Stadt verhängt babe. Man vgl. B, 14 —16, nu: 
mentlich B.14., wo e& heißt: ubeern-ba mu rzum. Gleich⸗ 
wehl wurde Jeruſalem damals nicht zerftört, nicht einmal 
Juda als felbfiändiged Reich vernichtet. Der dal. 
Eroberer ſetzte einen neuen König ein, und dieſer, wie 
wohl unter babyloniſche Oberherrlichleit geſtellt, hatte 
doch Selbftändigkeit genug, num durch ernenerten Abfal 
die chald. Macht zu wiederholter Heimfuchung zu ter 
sen, da dann erft, wie befannt, der gänzliche Ruin Je⸗ 
zufalem’d nnd Inda's herbeigeführt wurde. Die ni 
liche Bewanbtuiß kann es in der afiyr. Periode wit Dam. 
gehabt haben, Unbeſchadet des durch 2 Kön. 16,9. Auf 
gefagten kann auch Dam. nad der Eroberung durch 
Zigl, noch fortbeflanden =), es kann feinen eigenen König 
gehabt haben mn, ſ. w. 

Hiermit ift nun aber ſchon bewiefen, wicht nur, daß 
die und gegemüberfichende Anficht ale ausgemacht au: 
nimmt, was in dem wirklich Gegebenen keinen Grund 


a) Ueber bie Bebeutung desin? Koͤn. 16, 9, gebrauchten wen vergl. 
2 Rn. 14,7. Bon Menſchen gebraucht, heißt es gefangen ach 
men; vergl, Joſ. 8,29. 2 Kön, 14,19, 


über Jeſ. 17. 18. 871 


hat, ſondern auch, daß ſie mit dem wirklich Vorhaudenen 
nicht einmal im Einklange ſich beſindet. Deun klar if 
es, daß die Weiffagung 17, 1. b. nicht auf die Kriſis ber 
zogen werden kann, von welcher 2 Kon. 16,9. handelt a). 
Entweber haben wir in 17,1. b. eine \nnerfüllt gebliebene 
Weiſſagung oder ed bezieht ſich dieſelbe jedenfalls, ſey 
fie nun concipirt, zu welcher Zeit fie wolle, auf eine Ku 
tafteophe von viel verzweifelterer Art. Dem Gefagten 
zufolge kann denn alfo in dem erfien Jahren bes Königs 
Hiskia gar wohl ein Königthum bei Aram gewefen feyn 
(17,3.); Jeſaja kann damals bei feinem Weiſſagen aller, 
lei Berfuche von Seiten Damaskus, ſich ber aflyr. Herr, 
haft zu entziehen, vor Angen gehabt haben, und den 
derartigen Berfuchen mag ein geheimes oder offenkun⸗ 
diged Einverſtändniß mit Ephraim vorangegangen feyn, 
obwohl dieß Lebtere anzunehmen, durch Kap. 17, gar 
nicht einmal zur unabweisbaren Nothwendigkeit gemacht 
wird. Denu geſetzt auch, es bat fidy nach der aflyr, 
Snvafion unter Tigi. das Bundesverhaͤltniß zwifchen Dam. 
und Ephr. niemals wieder erneuert, fo wird in diefem 
Falle doch, was bie beiden vordem alliirten Gtaaten 
im Fortgange der Zeiten auf Abrechnung der durch ihre 
jenesmalige Alliance und während derfelben contrahirs 
den Schuld kraft einer eben damals audgefprochenen 
göttlichen Strafſentenz (7,4.8.16,) trifft, mit dem vollen 
Rechte fortwährend unter dem Geſichtspunkte Des Gemeinſa⸗ 
men und Zufammengehörigen betrachtet. Dabei find wir 
denn abrigens, es fey dem Allen, wie ihm wolle, jeden⸗ 


a) Daß die Relation in 2 Kön. 16, 9. nit etwa eine unvollftäns 
dige, hinter der Wirklichkeit zurüdbleibende fey, erhellt aus der 
fi) unmittelbar daran anfcdhließenden weiteren Erzaͤhlung. Radı 
ZRön. 16,10 ff. yat Ahas dem Zigl., um ihn über feinen fiegs 
reichen Feldzug, fo wie für gnäbdig geleiftete Hülfe feine Huldi⸗ 
gung darzubringen, in Dam, feinen Beſuch abgeftattet, fich audy 
(vergl. 8. 11.) daſelbſt eine Zeit lang aufgehalten und von einem 
dort befindlichen Altar ein Modell genommen, 





872 Drerchäle 

ſalls nicht gewilt, irgeubwie su leugnen, daß KRap.17. 
u Kap. Tff, in einer ganz befonderen, fehr innigen Bezie⸗ 
bung ſtehe. Nur daß dieſe Beziehung nicht eine äußern 
Kcdhe, in dem Zuſammeufallen der Abfaſſungszeit bedingte, 
fondern eine durchans innere if, Dadjenige, was den 
Uusiprud in Rap. 17. mit den Ausfprüchen in Rap. Tf. 
verbindet, ift nichts Anderes ale die Gtetigleit eine 
und deffelben Entwidelungsprecefled, deſſen der Zeit nadı 
audeinanderfallende Momente der Berwirflichung im bes 
bezeichneten Städen unferer Sammlung ihre Darftellung 
finden. 

Durdy das Bisherige iR, glaube ich, fo viel erreidt, 
daß, follte aus irgend einem Grunde die Annahme wi 
thig werden, ed habe Dam, auch nach ber Eroberung 
durch Tigl. noch fortbeflanden :und feine eigenen Könige 
gehabt, die Zulaffung einer ſolchen Annahme Bingefihti 
ber vorkegenden gefchichtlichen Zeugniffe in keinerlei 
Weile bedenklich erfcheine. Alles Weitere wird nun alfe 
davon abhängen, In wieferne Gründe, welche zu befag 
ter Annahme hintreiben, wirklich vorhanden And, 

Mein erſtes Argument iR von der Stellung herge⸗ 
nommen, welche unfer Städ innerhalb der Gammluns 
jefajanifcher Orakel einnimmt. 

Wohl if es mir bewußt, daß ich freilich auf eine 
entgegentommende Willigkeit von Geiten ber Mehrzahl 
ber Lafer gar nicht gu rechnen babe, wenn ich, wie bier 
geſchehen, für bie obſchwebende lnterfuchung einen 38: 
fammenhang zwifchen der Mufeinanderfolge der einzelnen 
Stade nnd ihrer Abfaffungszeit als Präjudiz gelten 
lafle, Allein das Präjudig beruht auf ber übereinflimmens 
den Analogie aller der unzweifelhaften und vollommen 
Maren Data, fo viel fi deren dur das ganze Bud 
hin vorfinden, Oder könnte Jemand wirklich leugnen 
wollen, daß da, wo alle eine ausdrüdliche Bezeichuung 
bed Zeitverhältuiffes enthaltenden Stellen ausnahmelo? 


über Sei, 17. 18. 878 


Die cheenologiſche Reihenfolge beobachten, allerdings ee - 
ipso ein Präjudiz für das Werl im Banzen gegeben 
fey % Auch läßt ſich in der That gar vielfach wahrnehr 
men, wie Ausleger und Krititer ber Macht dieſes Eins 
drude Ad) nimmer ganz entziehen können. Man fehe nur, 
wie ſich Higig in der Einl. zu Kap. 17. 6.190.200. bemüht, 
die Schwierigkeit zu heben, daß ein der gewöhnlichen 
Anſicht zufolge in fo viel früherer Zeit werabfaßtes Stück 
„mitten nuter Drakel aus der Zeit bed Sangon und His⸗ 
fin” geftellt fey; man beachte, wie eben berfelbe Kritiker 
bald nachher in ber Einl. zu Rap. 18. 5.210, die Stellung 
des genannten Kapiteld beuugt, um von ihr aus zu ars 
gumentiren ; man vergleiche, wie Knobel in der Einl. gu 
17, 1— 11. &.116. den Standort biefes Abfchnitte für feine 
Anficht als beweisträftig benutzt »); fo wird man hiers 
innen Die Wirkung eines Poſtulats nicht vertennen kön⸗ 
nen, bad, wenn auch in thesi noch fo fehr zurückgedrängt, 
im praxi ſich doch immer wieder geltend macht, Und fo 
ſcheint fie mir denn ein gutes, ein unbeflreitbared Recht 
zu haben, Diefe Frage, wie biefe Rede, falle fie mit den Res 
den Kapp. 7 — 12. gleichzeitig concipirt feyn follte, hierher 
komme, warum fie nicht am betreffenden Orte, warum 
auch ſelbſt in der zweiten Abteilung unferer Sammlung 
nicht nach derjenigen Ordnung eingeichaltet worden fey, 
wie es der Zeitfolge entfprechend gemweien wäre. Daß 
fi) aber auf diefe Frage von dem gegenwärtig geltens 
den Standpunkte aus eine befriedigende Antwort nicht er: 
theilen laſſe, erhellt vielleicht am Bellen gerade ans deu 
Erfiörungsverfuchen, welche Dig. in diefer Beziehung ans 


a) Gelbft Hendew., ber doch in ber Umſtellung ber einzelnen Be⸗ 
ſtandtheile der jefajanifhen Orakelſammlung mit fo großer 
Freiheit zu Werke geht, kommt gleichwohl von der vorgefundes 
nen Anorbuung, als einen Schluß auf die Verhaͤltniſſe der Ab⸗ 
foflungsgeit begründenb, nicht fo gang und gar los, daß es fi 
nit manchmal auf biefelbe beriefe. Vergl. 3. BI. @,128, 421, 


2 ' Dricheie 

fans nicht gewiiit, irgenbwie gu leugnen, daß Kap. 17. 
u Kap. 7 ff, in einer ganz befonderen, fehr innigen Bezie⸗ 
bung ſtehe. Nur daß diefe Bezichung nicht eine äußern 
Kdye, in dem Zuſammeufallen der Abfaflungsgeit bedingte, 
fondern «ine durchaus innere if. Dadjenige, was den 
Ausſpruch in Kap. 17, mit den Ausfpräcden in Kap. Tf. 
verbindet, ift nichts Anderes ale bie Stetigkeit eine 
und deſſelben Entwickelungsproceſſes, deffen der Zeit nadı 
andeinanderfaliende Momente ber Berwirklichung in der 
bezeichneten Städen unferer Sammlung ihre Darfielun 
finden, 

Durch das Bisherige ik, glaube ich, fo viel erreicht, 
daß, follte and irgend einem Grunde bie Aunahme wi 
thig werden, es habe Dam. auch nadı ber Eroberung 
durch Tigl. noch fortbeftanden und feine eigenen König: 
gehabt, die Zulaflung einer folchen Aunahme Angeſichts 
der vorkegenden gefchichtlichen Seugniffe im keinerlei 
Weiſe bedenklich erfcheine. Alles Weitere wird nun alle 
davon abhängen, in wieferne Gründe, welche zu befag: 
ter Annahme hintreiben, wirklid vorhanden find. 

Mein erſtes Argument iR von ber Stellung herge⸗ 
nommen, welche unfer Städ innerhalb der Gammlun 
jefafanifcher Orakel einnimmt. 


Wohl if es mir bewußt, daß ich freilich auf eine 


entgegentommende Willigkeit von Geiten der Mehrzahl 
ber Leſer gar nicht zu rechnen habe, wenn ich, wie bir 
geſchehen, für bie obſchwebende Llnterfuchung einen 38: 
fammenhang zwifchen der Mufeinanderfolge der einzelne 
Städe und ihrer Abfaffungszeit als Präjudiz gelten 
laffe, Allein das Präjudig beruht auf ber übereinſtimmer⸗ 
den Analogie aller der unzweifelhaften und vohlemmer 
Maren Data, fo viel fi deren durch das ganze Bad 
hin vorfinden. Oder könnte Jemand wirklich leugnen 
wollen, daß da, wo alle eine ausdrückliche Bezeichnung 
des Zeitverhältuiffes enthaltenden Stellen ansnahnslos 


über Seh, 17. 18. 878 


Die hesnolsgifche Neihenfolge beobachten, allerdings ee 
ipso ein Präiudiz für das Werl im Banzen gegeben 
ſey ? Auch läßt ſich in ber That gar vielfach wahrnehr 
men, wie Ausleger und Kritifer der Macht dieſes Eins 
drucks ſich nimmer ganz entziehen können. Man fche nur, 
wie ſich Higig in der Einl. zu Kap.17. 5.190.200. bemüht, 
Die Schwierigkeit zu heben, daß ein der gewöhnlichen 
Anſicht zufolge in fo viel früherer Zeit verabfaßtes Stück 
„mitten unter Drakel aus der Zeit des Sangon und His⸗ 
fin” geſtellt ſey; man beachte, wie eben derfelbe Kritiker 
bald nachher in der Einl. zu Kap. 18. 6.210, die Stellung 
Des genannten Kapitels beuust, um von ihr aud gu ars 
gumentiren; man vergleiche, wie Knobel in der Einl. zu 
17, 1—11. S. 110. den Standort diefed Abfchnitts für feine 
Aufiht ale beweisträftig benutzt a): fo wird man biers 
ianen die Wirkung eined Poſtulats nicht verfennen kön⸗ 
nen, das, wenn aud in thesi noch fo ſehr zurüdgedrängt, 
im praxi fich Boch immer wieder geltend macht. Und fo 
ſcheint fie mir denn ein gutes, ein unbeflreitbares Recht 
zu haben, biefe Frage, wie biefe Rede, falls fie mit den Res 
ben Kapp. 7 — 12. gleichzeitig concipirt ſeyn follte, hierher 
tomme, warum fie nicht am betreffenden Orte, warum 
auch ſelbſt in der zweiten Abtheilung nnferer Sammlung 
nicht nadı derjenigen Ordnung eingeichaltet worben fey, 
wie es der Zeitfolge entfprechend gemefen wäre. Daß 
fi) aber anf diefe Frage von dem gegenwärtig geltens 
den Standpunkte aus eine befriedigende Antwort nicht ers 
theilen laſſe, erhellt wielleiht am Bellen gerade aus den 
Erklarungsverſuchen, welche Hitz. in biefer Beziehung ans 


a) Gelbft Hendew., ber body in ber Umſtellung ber einzelnen Ber 
ſtandtheile der jefajaniihen Orakelſammlung mit fo großer 
Freiheit zu Werke geht, kommt gleihwohl von ber vorgefundes 
nen Anordnung, als einen Schluß auf die Verhältniffe dere Ab⸗ 
faflungsgeit begründenb, nicht fo gang und gar Jos, daß es ſich 
nicht manchmal auf dieſelbe beriefe, Vergl. z3. BI. @,128, 481, 


874 " Drechsler 


geftelt hat 9. Ge hilft ed auch nicht, mit Häwernid 
(Einl. II. 2. S. 75.76.) nach Umbreit gu fagen „das Gtäd 
fiehe paſſend mitten unter den Drafeln gegen fremde 
Rationen, denn 3er. habe fi ja wie ein fremdes Bell 
mit Syrien gegen Inda verbunden.” Einerſeits ik cd 
weder an dem, daß die von Kap. 18. bis Kap. 23. fich er: 
firedende Abtheilung des B. Iefaja ald bie Drafel gegen | 
Auswärtige enthaltend betrachtet werben könnte (vergl. 
Dagegen 22,1—14.0.22,15—25.), noch auch an dem, 
daß in der Gruppe Kapp. T — 12. eine gegen ein auswär 
tiged Volk gerichtere Rede nicht hätte Aufnahme finden 
fönnen (vergl. dagegen 10, 5—34.), anbererfeitd wär 
die eigentliche Frage biermit noch immer nicht erledigt, 
da, auch von diefem Stanbpunfte aus betrachtet, Kap. 11. 
jedenfalls vor 14,28 — 32, ftehen müßte und feine gegen 
wärtige Stellung wur gleichfam ber Orbuung zum Troßt 
hätte erhalten fönnen, 

Dieß das erfte, aber keineswegs einzige Argument. Ein 
zweites entnehmen wir dem Inhalte unferes Stücks, infofern 
fi, in demfelben im Vergleiche Kap.7 — 12. ein Berhältuif 
des Fortichritts wahrnehmen läßt. Das wichtigfie Moment 
bildet in dieſer Hinficht die Stellung, welche in der vorliegen 
den Weiffagung der Iufchitifchen Macht durch Rap. 18, ein 
geräumt if. Sn Kap.6— 12. iſt von einer amalogen 


a) Gr meint unter Anderem, „Zefaja babe das Drakel (Kap. 17.) 
anfänglich feines in der That fehr geringen Werths (?) er 
von der Sammlung ausgefchloffen ; aber nad) Ginreibung bei 
jonas’fcyen Abfchnittse (Rapp. 15. 16.) daſſelde der Aufnahmt 
gleich fehr würdig erachtet (!) und demgemäß ihm unmittelbar 
folgen laffen.” Gr fährt dann fort: „allein vielleicht Hat ber 
legte Rebactene das Drakel an der jegigen Stelle eingereih! 
vor Kap. 18., indem ber zweite Abſchnitt des Orakels, 8.12, 
auf aͤhnliche Art wie Kap. 18. beginnt und bei oberflächlider 
Anficht daſſelbe Hiftorifche Subſtrat vermutben läßt, aber, = 
teennbar von ber erfien Hälfte, dieſe faber nach ſich 10%" 
Bergl, &. 199. 














/ 


über Jeſ. 17. 18. 875. 


Stellung Kuſch's gar keine Spur, Ta bort if unter 
den an dem großen Drama Betheiligten der Kuſchiten 
gar nicht einmal Erwähnung gethan, der Name Kuſch 
überhaupt nur einmal genaunt und ba iu einer ganz 
beilänfigen, dem Eufchitifchen Volke eine völlig unterge⸗ 
ordnete Stellung zutheilenden Welfe (vergl. 11,11.) Ofs 
fenbar ift in dieſen Reden die kufchitifche Macht unter 
Aegypten mit einbegriffen und eine ihr fpeciell geltende 
Andeusung vielleicht nur darinnen enthalten, daß 7,18, 
von „der Fliege am Ende der Rile Aegypteng” 
geredet ift, TR es ja doch aud nicht einmal gewiß, ob zu 
der Zeit, welcher Kapp. 7 —12. angehören und der uadı 
bergebrachter Anficht alfo auch Kap. 17. angehören fol, 
bie Athiopifche Dynaftie (deren dritter Regent erſt ber 
ald Eroberer im größeren Maßſtabe berühmte Thirhaka 
war) auch nur bereitd' ind Leben getreten war =). Nun 
iR ed zwar allerdings an dem, daß das Auge des Schere 
weder au Zeit noch an Raum gebunden if, und wir has 
ben gerade bei Jeſaja mehr als Einen glänzenden Bes 
weiß von der durch Feine Schrante zurüdgebaltenen 
Flugkraft, des Geiſtes, der durch die Propheten redet. 
Allein nichtödefloweniger ift die Weiflagnng ganz unbe⸗ 
fhabet der fo eben heroorgehobenen Seite doch auch 
Sache der Entwidelung, und was in Beziehung auf Ba: 
bel 3.8, ald zwedgemäß und ale nothwendig einer recht» 
fertigenden Erklärung nicht erſt bedarf, das ift in Bes 
ziehnng auf Kuſch, als ein fo ganz uub gar außerhalb 
des hebrätfchen Geſichtskreiſes liegendes, weber in ben 
Gang der ifraelitifchen Geſchichte insbefondere, noch 
auch in die Entwicelung weltgefchichtlicher Berhältniffe 
überhaupt jemald in bedeutungsvoller und bleibender 
Weiſe eingreifendes Bolt, jedenfalls nicht vorauszuſetzen. 


a) Rad) gewöhnlicher Berechnung überfiel Sabaco (der erfte der 
äthiopifchen Herrſcher) Aegypten zwar unter Ahas, aber erft nad 
dem Zeitpunkte der forifchsephraimifchen Invaſion. 

Theol, Stud. Jahrg. 1847. 9 


876 Drechaler 


Aber and in demjenigen, was Kap, 17. binfichilid 
Aram's und Ephraim's an prephetiſchem Gehalte bietet, 
gibt ſich im Vergleiche mit Kapp.7 — 12. ein Berhältnif 
des Kortfchrittd zu erkennen. Man halte einmal bie 
Stein, in welchen Ach die letztgenauuten Kapp. über 
Damashıs audfprechen, mit M, 1. 8. zuſammen und man 
wirb nicht in Abrede ſtellen Bönmen, daß Kap. 17. wie 
weiter gehe, fich in viel ertremerer Weife ausſprich, 
als dieß in 7,4. 8,4. 9,10, der Fall id. Seilbſt die Stck 
7,16. druckt Ach bei weiten nicht fo beſtimmt aus wi 
17,1. 9). Auch was Ephraim berrifft, laßt ch Kap. V. u 
einer Urt und Weiſe vernehmen, wie fie ganz beſonder 
in eine Zeit paßt, welche bie erſtmalige, theilweiſe Erfäl- 
fung der In. den Reben Kapp. T— 12. ausgeſprochenen 
Sentenz beveitö hinter ſich hatte unb nunmehr dem eb 
ten und Aeußerſten eutgegenfah. 

Ueberhaupt finde ich im ber Situation, wie fie fid 
in Rap. 37. abfpiegele, fo Manches, was vorzugeweiſt 
zu dee fpäterm Abfafſungszeit ſfimmt. Bon Aram zu) 
Ephr. veder der Prophet nach einer ſchon früher ange 
ſtellten Beobachtung fo kuhl und fo ruhig; fo wir e 
dagegen auf Affur zu fprechen kömmt, weidye Beweguns, 
weich” ein Anfrahr! Dad paßt fchlecht zu bemieniges 
Zeitpuntte, im welchen durch Die beiden verbändeten 84 
nige die Exiſtenz des Reiches Tuba fo ebeu auf badlie 
mitteldarfte in Frage geflellt wurde, während bie ver 
Seiten Aſſur's drohende Gefahr annoch im Schooße dt 
fernen Zukunft ruhte. Bortrefflich dagegen paßt es 4 
jener fpäteren Zeit, ba Ephraim und Aram bereits ind Ge⸗ 
richt genommen und tin Folge davon für Juda wuufhä” 


a) Alle die aus Kap. 7 ff. angeführten Gtellen, felb 7, 16. ik 
ausgenommen, find von der Art, daß man fich, was ihre Gr 
fällung betrifft, nicht bemüßigt ſehen würde, über 2.Rn. 16°. 
hinauszugehen. In Abficht auf 17, 1. dagegen werhäßt es Ad 
wie wir gefehen haben, anders. 








über Bel. 17. 18. 877 


lich geworden waren, während jebt die Exiſtenz Inda's 
abfeiten Afur’d bedroht war. Auch feldfi daß in bem 
eriten von dem verbändeten Aram und Eyhraim handeln⸗ 
den Theile unfered Orakels Ephr. und die Schilderung 
bed ihm bevorſtehenden Gerichts fo ſehr in den Border 
geund zu fliehen kömmt, während Damaskus, obwohl 
dem Ganzen in der Ueberſchrift den Namen gebend , im 
Uebrigen doch unverbältnigmäßig zurkdtritt, findet von 
unferm Stanbpunfte aus eine befonbers befriedigende Erklu⸗ 
rung infofern, ald den aramälfchen Alliirten bei der frühe, 
ten Kataſtrophe ber dei weitem überwiegende Antheil 
des Gerichte getroffen hatte, während ed bei Ephraim zu 
einer Seyn ober Nichtſeyn betreffenden Krife erft burch 
Salmanaffar kam, 

Died die Gründe, welche mich beſtimmen, für eine 
fpätere Abfaffung bed Stücks Kapp. 17,18. zu fpredien. 
Es iſt nun nur noch das Einzige Abrig, die genannten 
Kapp., was Spracde und Darfielung anbelangt, mit den 
anderen für die obfchwebenbe Krage in Betracht kommenden 
Partieen bed. Buch6 zu vergleichen und zugnfehen, ob bad 
Refnlsat ein unfere Anficht beflätigendes ſey oder nicht. 

Stellen wir zuvörderſt bad VBerhältniß von Kapp. 
17.18, zu Rapp. 7— 12. in diefer Beziehung fe. Daß 
eine Vergleichung beider Rbfchnitte mehrfache Beziehnn⸗ 
gen und Beruhrungen zwifchen denfelben ergeben werde, 
ft won vorne herein mit voller Sicherheit zu erwarten. 
Es find etwa folgende. Gleichwie unfer Städ, fo And 
auh Kapp. T — 13, an Gleichniſſen und Bildern reich, 
welche in den Bereich der Pflanzenwelt einfchlagen. Man 
vergl. 9, 17, 10, 17 — 19. 10, 33. 34. und halte namennlich 
9,9. mit 17,8.9. zufammen. Auf die analoge Symbol 
in 18,1. vergl. 7,18. ift oben ſchon hingewiefen worden. 
Der Zukand der Verwüſtung if in 17,2. b. mit denfel« 
ben Zügen gefchildert, wie 7, 21. 22., beſonders V. 26. b. 
Die Bergleihung Affur’s mit überfchwennmenden Ges 

+ - 





‘878 Drechöler 


waſſer entfpricht 8,7.8. Außerdem Einzelnes: 17,1. b. 
vergh 7,8. b.; 17,2. mars) vergl, 7,16. arm) vergl. 11,3. 
(me) vergl. 7, 3. 10, 19.20 — 22.11, 11.16. 5 17,3.4. (72 
ps) vergl. 8, 7. 10, 3, 16.18.; 17,4. (mm), abo) vergl, 
10,16.; 17,14, (in Beziehung auf Affur vr und rıne ne 
beneinander) vergl, 10,6. 13. (biefelben Ausdrucke gleich⸗ 
falls im Beziehung auf Affur, nur aber auf die beides 
Verſe vertheilt); 18,1. b. vergl. 7,20. russ nrain vy 
m). 
Bor allen Dingen wird, um ein ſicheres Urtheil zu 
begründen, eine nähere Würdigung der vorgelegten Data 
erforderlich feyn. 2 

Mas die in die Sphäre der Begetation einſchlagenden 
Bilder und Bleichniffe betrifft, fo wird durch fie ein ſpeciel⸗ 
led Berwandtfchaftsverhältniß nicht begrünbet, da fie dem 
allgemeinen Charakter jefajanifcher Darftellung überhaupt 
angehören und auch anderwärts vorfommen. Man vergl. 
and Lapp.1— 6: 1,30, 3, 14.5,1— 7. 5,24, 6,13. ; aufır 
dem: 27,2 —4.21,6, 28, 4. 32,19. 37,27,31. u, ſ. w. ü 
fpecielled BVerhältniß würde man nur in dem Yale fe 
gern können, wenn zwifchen den in Kapp.17, 18. nad u 
Kapp. 7 — 12. vorkommenden einfchlägigen Wäldern ein 
fpecififche Aehnlichkeit flatt fände. Dem ift aber mid 
alfo. Im Gegentheile, während ale in Kapp 7-1 
vortommenden Gleichniffe diefer Art vom Walde herge⸗ 
nommen find, von beffen Zerftörung durch euer od 
Beil, ift es bei fämmtlichen in Kapp. 17.18, gebraucht 
Bildern bie Ernte, weiche als vollzogen (17, 5. 11,6) 
„oder geſtört (17,10. 11.18,4.5.) die Pointe andmadt 
Nicht minder ift auf den Gebrauch von Tas in 19,34 
Bein Gewicht zu legen. „Auch diefe Ausdrucksweiſe fi, 
wie die Fälle 5,18. 16,14. 21,16. 22, 24; beweifen, zu ſeht 
eine allgemeine, überdieß auch ihre Anwendung in uniett® 
Stüde aus dem Grundgedanken bed Ganzen, welden 
zufolge es fi um die Nichtigkeit aller uud jeber creatir⸗ 
lichen Herrlichkeit handelt, fpeciell hervorgegangen. An 

















über Jeſ. 17. 18. . 879 


ähnlichem Grunde kann auch “m 17,3. kaum in Betradyt 
fonmen. Etwas Beweiſendes würde es nur bann haben, 
wenn ed a. a, O. in demjenigen fpecififchen Sinne ger 
braucht wäre, in welchem es 7,3. 10,20— 22. 11, 10.16, 
vorfömmt. 

Ein unleugbarer Zufammenhang bagegen findet zwis 
(hen 17, 12.13. und 8, 7. 8, flatt, zugleich aber eben 
ein foicher, welcher unfer Städ ald das fpätere charal: 
terifirt. Diefelbe Ueberfluthung, welde 8, 7.8. ihrem 
Eiutritte nach befchreibt, iſt 17,12,13. als ihr Ende fin, 
dend bezeichnet. Nicht minder ficht 18, 1., fofern meine 
Erklärung der Worte arnın >zbx die richtige ift, mit 7,18, 
im Zufammenhange und wurzelt nad) feinen beiden He⸗ 
miftichien in der Stelle 7, 18 — 20. Aber auch bier ſtellt 
fi das Verhältniß ald ein Berhältniß der Entwides 
lung dar, Der Prophet hat, indem er die Weiffagung 
Kap, 7. von Neuem aufnimmt, einen in der Zwifchenzeit 
erſt anf den Schanplatz getretenen Mitfpieler in einem 
der primitiven Weiffagung entfpredhenden Coſtume einge, 
führt. Auch 17, 2. iſt in ähnlichem Sinne, ale 7,16. auf 
uehmend, an betrachten. 

Was die Übrigen Stellen betrifft, fo it 17,4. in ſei⸗ 
um Zufammentreffen mit 10, 16. jedenfalls bedeutfam, 
die Fälle 17, 1. b. 2. b. 14. dagegen (man vergl. nur zu 
17, 2. b. außer 7, 21. 22. 25. auch 5,5. 17.27, 10, 32, 14,, 
deßgleichen zu 17, 14, außer 10,6. 13. auch 42, 22, 24.) nicht 
geeignet, eine fpecielle Beziehung zu erhärten. 

Der Thatbeftand ftellt ſich fomit nach diefer Seite 
ale ein unferer Anficht durchaus vortheilhafter bar. Bes 
denken wir, daß der ganze Eyflus von Orakeln, zu wel- 
dem unfer Stüd gehört, wefentlich in der Gruppe Kapp. 
T— 12. wurzelt und eigentlich (vergl. des Berf. der 
Proph. Jeſ. S.34.) nichts Anderes iſt ald die weitere 
Ausführung zu 11, 6— 8. 10, 11 — 16.; ferner, daß inner, 
halb dieſes Cyklus die Rede Kapp. 17. 18. in specie die 
Aufgabe hat, die Kapp, 7 — 12. nach ihrem beſonderen 


880 Drechdler 


Objecte von NReuem aufzunehmen uud daſſelbe ſolcherge⸗ 
ſtalt in dieſer Kette von Gerichten zu vertreten: ſo 
kaun man ſich nur wundern, daß der Beziehnugen un 
Berührungen nicht noch bei weitem mehr find =). 

Aber die Rede Kapp. 17. 18. ſteht noch zu eimem am 
bern Abfchnitte unferer Gamminug in einem gewifien 
Abhängigkeitsverhältniſſe, nämlich gu Kap. 2. uf die 
ſes Berhältuiß wurde oben fchon hingebeutet, als es fid 
darum handelte, dem der ganzen Rede zu Grunde liegen⸗ 
den Hauptgedanten anfguwelfen. Alles Zeitiichen 
endlihe Niederlage, des Herrn alleinige 
[hlieglihder Triumph — bieß, wie wir geſcher 
haben, der Gedanke, ans wolchem fi als ans ihren 
Mittelpuntte die ganze Rede fo Im Broßen wie im Kki: 
nen und Ginzelnen entwideln läßt, Uber eben von der 
fatfchen und echten Herrlichkeit, von dem unfehlbares 
Falle der einen und dem endlichen Trinumphe der am 
bern handelt auch Kap..2, und die Kapp. 17, 18. find 
im Grunbe nichts Anderes als die concrete Anwendung 
der in Kap, 2. ausgefprochenen allgemeinen Gäbe. 6 
bildet das berühmte Damaskus, welches abgeſchafft 
werden fol ald Stabt (17, 1.), fo bilden bie Städte 
Aroer’d, die verlaffen werden follen (17, B)., fo die 
Befekigung, (ns3n), welche von Ephraim weichen fol 
(1T,3,), die Feftungen, welche verfallen follen (17,9.), die 


a) Inſtructiv dürfte es feyn, zuzuſehen, inwiefern ſich auch an andern 
Stüden ber von Kap. 13, bis Kap. 23. ſich erftreddenden Abtheilung 
Zeichen eines Zufammenhangs mit Rapp. 7 — 12 entdecken laſſer. 
Man vergl. in feiner Berichung 14,29. u. mi, 8. 10, 5. M.; 1, 
29. b.mit11,1.10;5 16,1. mit 10,82.; 16,2... mit 10, 14. verel. 
31,5.; 16,5. mit 9, 6. 11, 2—5.; 16,14, mit 10, 25, 19, 2, mit 
9, 10,5 19,8, mit 8, 19., 19, 15. mit 9, 18.; 19, 16. mit 10,32. 
11,15.5 19,28, mit 11,15.16.; 20,6. mit 10,8. on fpäter 
©tüden überhaupt: 27, 13, vergl. 11, 15. 16.; 88, 2.17. wsl. 
8,7. 8.; 28,18, vergl, 8,15, 5 38,22, vergl. 10,23. ; 29,4. vgl. 
8,19, ; 29,17. vergl. 10, 25.; 29,23. vergl. 8, 13.; 30,28. vergl. 
8,8. ; 30, 81. vergl. 10,24, Unter biefen Xällen befinden RS 
Reminidcenzen auffallender, als trgend eine in Kapp. 17.18. #4 
findet. 





über If. 17. 18. 881 


Snbdisibualifirung des dusch 2, 15. Aber feben hohen Thurm 
und über jede unbezwingliche (Try) Mauner angefagr 
ten Serichts. Darum wird base Königthum Aram’s 
(17,3.), darum eben bie Herrlichkeit Sfrael’d, welche arm⸗ 
felig werden fol (17,3,4), hervorgehoben, zur Specifici» 
rung mömlidy ded Stolgen und Hohen und des Erhaber 
nen, dem nad 2, 12. ein Tag der Erniedrigung bevor, 
ehe. Die Wilder in 17,10.11, 18,4,6. gehen auf Red 
nung von 2, 13.; das Krembländifche, woran Iſrael fein 
Wohigefallen hat, tabelt der Prophet in 19,10, CArıyar), 
fo wie in 2,6. Und wer an bieß Alles und nicht glaus 
ben wollte, der wird doch bie in 17,7, 8., vergl, mit 2, 
9— 11. 1719,20, 21,, zu Tage fichende Harmonie beis 
der Kapitel wicht leugnen wollen a), bie in eigentlidye 
Reminiscenz übergehende Achnlichleit bed Ausdrucks in 
17, 8,, vergl, mit2,8.20., jedenfalls nicht leugnen Fünnen. 

Unfere Anficht hat ſich aber nach dieſer Seite noch in 
einer anbern Richtung zu bewähren. Wir Gaben näm⸗ 
lich endlich auch zuzuſehen, ob ſich anden Die Kapp. 17,18, 
zunächft umgebenden, d.h. nach unferer Annahme gleich» 
jeitigen oder doch der Abfafiungszeit nach zunächſt fie 
benden Reden etwas von fener Gleichartigfelt der Ans: 
prägusg, welche man an den einem und benmelben Zeit 
raume angehörenden Geiſtesproducten zu ſehen erwartet, 
wahrnehmen laſſe. 

Zuvörderſt, wie billig, ziehen wir das unmittelbar 
vorhergehende Stüd in Betrachtung. Eirklich fcheint 
ed, als ob der inder Weiffagung über Moab Kapp. 15. 16, 
waltende, auf Inbuction uud, fo zu fagen, anf Zerfplitter 
zung des Objects gerichtete Geiſt in unferer Rede feine 
Nachwirkung habe. Namentlich iſt es der Eingang ber» 
felben, die Strophe 17,1—3,, die ald Nachhall des nur 
menclatorifchen Charakters erfdyeint, weldher das Orakel 
Kapp. 15.16, in feinen in lauter Anfzählungen aufgehenden 
Partien dor allen andern Stüden ringsumher auszeich⸗ 


a) 17,1—6=2,17,.a.; 17,7=2,17.b.; 17,8=2,18, 


882 ODrecheler 


net. Ein anderer Punkt, in welchem ſich ein nähe 
Zufammenbang zwifchen den beiben Reden offenbart, 
it durch die in Rapp. 17. 18. gebrauchten Bilder gegeben. 
Diefe, dem Aderbau im weiteften Sinne, der höheren und 
niederen Eultur des Bodens entuommen, ſtellen ſich ir 
ihrer anffallenden Hänfung, fo wie in ihrer ſpeciſiſchen 
Eigenthumlichkeit als durch die Richtung, welche dei 
Propheten Phantafle in der vorhergehenden Weiſſagung, 
näher in 16,8 — 10, genommen, modiftcirt bar. Ramentlid 
vergl. 16,8. mit 18,5,, wo banı audh bie fpecielle Berüb⸗ 
sung ded Ausdrucks in ram und nierny nicht zu überſe⸗ 
beu if. Auch halte man 17, 11. b. mit 16,9, zufammen. 
Außerdem erinnert 16, 14, burch um Tan an 17,3.4, 
durch ed an 17,3,, durch Yan und sp au 17,12; 
16,10, durch neun an 17,3. Etwas anderer Art ik ch, 
daß in 15, 1,, fo wie in 17, 14. (und in 21, 4. gleichfalls) 
die angebrohte Kataſtrophe eine Über Nacht kommende if. 
Als einen innerhalb der ganzen Gruppe weite 
verbreiteten Zug von Familienaͤhnlichkeit hebe ich die 
mehrfach vorkommende Aborbnung von Geſandten, ns 
meutlih au den Sitz bed lebendigen Gottes, hervot. 
Bgl. 14, 32, 16,1, 18,2. 18,7. Auch 21, 14.13. iR ver 
wandter Art. Bermöge diefer Stellen verhalten ſich die 
betreffenden Reben ale Entfaltung von IM,10,, in welde 
Mutterfielle auch 19, 18.19 — 22. 23,18. wurzelt. 
Anßerbem vergl. 19, 6, (>57) mit 17, 4.; 30, 2. ( 
wrm)mit18, 7; 21,1,a.mit18,1,a.; 22,1,2.5.mit18, Le; 
- 22,5. mit 18,2, 7. (ro%29 fommt nur in biefen Stellen vor); 
22,11, mit 17,7. 8,5 23, 2, mit 17,1,; 28,13. 25,2. sit 
17,1, (nam, non fommt nur im dieſen drei Stellen vor); 
24,13, mit 17,6.; 24,16. mit 17,4. vergl. 10,26. 5 25,2 2.2 
mit 17, 1,; 26, 4. 30, 29. (1 von Jehova) mit 17, 10. 
27,1. mit 18,1,; 27,9. mit 17, 8. (die Berbinbung E7®* 
era kömmt nur au biefen beiden Gteflen vor); 27, 1%. 
mit 17,2,; 27,10, mit 17, 6, (emn als Zweige nur f 
diefen zwei Stellen); 27, 12. mit 17,5.6,; 28,2, mitll, 
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über Sef. 17. 18. 883 


12. 18. vergl. 8, 7.8.5; 29, 1,2. 7, mit 18,1,a.; 28,5—8, 
mit 17,12, 13.; 31,1,7.mit17,7.8.; 31,8.9. mit 12, 13. 14.; 
32,10. mit 17,11.b.; 32,12, mit 17,6, (m>°Ye bei Jeſ. nur 
in Diefen beiden Stellen); 32,14. mit 17,2.; 34,17. a. mit 
17,14.b. 

Habe ih nun aber mit dem biöher Vorgetragenen 
das Nechte getroffen, bilden die Kapp. 17. 18. in der That 
Ein Ganzed und iſt diefem Ganzen die Stelle, weldye 
ed innerhalb der jefajanifchen Orakelſammlung einnimmt, 
wirklich in Uebereinftimmung mit bem hinfichtlich aller 
übrigen Stüde beobachteten Berfahren auf ben Grund 
der Abfaffungezeit angewiefen worden: fo fanu ed nicht 
fehlen, ed möüflen dem von unſerer Rede aud vor» 
und rückwärts Blidenden aud dem Inhalte nach aller, 
lei Spuren von Zufammenhang, von Znfammenpafs 
fen und Ssneinandergreifen im diefen eine ſtetige Kolge von 
weiflagenden Reden wiedergebenden Städten entgegentreten. 

So befindet es ſich deun auch. Wir finden Kapp. 
17, 18. mitten unter einer Gruppe von Weiſſagungen, welche 
ih als Einzelbilder zu erfennen geben, beren Enfemble 
Ein großed Gemälde bildet, 

Während der Regierung des Könige Hiskia trat, fo 
viel wir fehen, die affyrifhe Macht in ein neues Sta; 
dinm der Entwillelung ein. Nachdem fie einmal unter 
Tiglath⸗Pileſar in den Ländern dieſſeits bed Euphrats⸗ 
wo man bid dahin noch dem Gedanken hätte Raum ger 
ben dürfen, Affur gegenüber eine ihm dad Gleichgewicht 
baltende Macht zu gründen (aramäiſch⸗ ephraimitifche 
Aliauz unter Rezin und Pelah), feiten Fuß gefaßt hatte, 
tonnte es nicht ausbleiben, daß Die Aflyrer früher oder 
fpäter mit den Aegyptiern in Eonflict gerietgen. Diefer 
Conflict wurde um fo unvermeidlicher und ernfllicher, da 
Aegypten durch die mittlerweile emporgelommene, gleichfalls 
auf Eroberung gerichtete Enfchitifche Dynaftie der aſſp⸗ 
rifchen Macht, als um die Weltherrfchaft concurrirend, 
entgegentrat, Dieß die Urfachen, welche während ber 


88% Drechsler 


Regieruug Hiskia's wiederholte Züge Aſſur's gegen Aegyp⸗ 
ten hin veranlaßten. Daß unter dieſen Umſtaäͤnden bie zwi 
ſchen den beiden Broßmächten liegenden vorderafatifchen 
Staaten zweiten mb dritten Range unter einer Reihen: 
folge von zermalmenden Kriegszugen der Reihe nad 
theitd mehr, theils weniger Htten, verſteht ſich von feld. 
Und dieſe Zeit if es num eben, anf weiche ſich au 
Orabkel bezieht, anf die fich Die meiften der rings umge 
benden Weiffngungen mahnend und vorbereitend beziehen. 

In der unferem Stüde unmittelbar vorhergehenden 
Rebe Haben wir von einer Berfiörung des moabitiſche 
Landes gelefen, welche wir auf feine andere als bie al» 
ſpriſche Macht zurlichführen können. Wir haben in 16,1. 
gehört, daB der Herr in 3 Jahren diefe Heimfuchung übe 
Mond werde fommen laffen, Was ift da wohl natärli 
der, als Daß die Seißel, welche laut Rapp. 15.16, dad 
ganze Gebiet Moab's traf, welche laut eben jenen Kup. | 
das Bebiet in Ofen des Jordans weit hinanf Über du 
Arnon (die eigentliche Greuze Moab’s) ſchlug, daß eben 
Diefelbe Geißel auch Aroer (17T, 2.), ja ſelbſt Damaskui 
“und überhaupt Aram erreichte. Man denke an bie Ev 
pedition jener vier Könige des grauen Alterthums, von 
weicher Gen. 14. berichtet. Auch fie Tamen and dem 
Öflichen Wien und ſtreiften das ganze Land im Ofen 
des Jordans vom tieffien Süden an bid zum höcfen 
Norden, bis nach Damaskus hin, wo fie Abraham er⸗ 
eilte, in Einem Zuge ab, 

Aber auch fihon das frühere, das in 14, 28— 32. ge 
gen die Philiſtäer gerichtete Orakel hat wit der 14,31. 
ald vom Norden berfommend angeländigten Brand: 
fadel die Ruiegefurie im Auge, welche bald nachher vor 
Aſſur aud über den ganzen Eompler von Reichen zu ar 
gehen anfing, Bon der Erfühung jenes Geſichts ober 
vielmehr von einer anf Grund ber in 14, 31. ſummariſch 
geſtellten Rechnung betreffenden Abſchlagszahlung gibtunt 











ST 


über Bel. 17.18. 888 


dann gleich eined ber auf Rapp. 17.18. felgendeu Stucke, 
Kapp. 20,, in der beilünfigen Notig 20,1. Kunde, 

Roc deutlicher and ſchöner bewährt ih in ber 
Gtellung unferer Rebe Plaumaͤßigkeit uud Befaumenhaug 
nach der andern Beite hin, im Verhältniſſe zu den nach⸗ 
folgenden Reden. Es iR Mar, wie unfer Stück durch 
Kap. 18, den liebergang bildet zu den Mächten afrikani⸗ 
ſchen Bereiche, In deu folgenden Orakein hält ber Pros 
phet Diefe Richtung feſt. Gleich in Kay. W. macht er 
durch Die Weiffagung über Aegypten die in ber vorhergehens 
ben Rede nur beiläufig zur Sprache gebrachte Sphäre 
zum auddrädiihen Geg enſtande feine Weiſſagens. Auch 
Kap. 30. liegt noch in derſelben Direction aub nimmt 
nun den Dusch Kap. 18. fo wie den durch Kay. 19, im 
diefer Richtung angelnäpften Kaden zuſammen auf x). 

Ueberhanpt reihen ich bie Reden, die ber Prophet 
nach Abſchlaß der Gruppe Kapp. T— 18. in Uebereinſtim⸗ 
mung mit der Richtung, welche der Bang der Greigntfie 
von da an nahm, vorzugeweife gegen auswärtige Völker 
hielt, keineswegs fo plans und orbuungeled aneinander, 
Die erfte derfelben, gegen Babel gerichtet, 13, 2 14, 27., 
fchließt Ah auch innerlich an Kapp. 7 — 12. ummittelbar 
an. Sie bildet gewiffermaßen die Fortſetzung von 10, 
5— 34. läßt nur die Scene über Aſſar hinaus in Immer 
fernere Hintergründe, zn immer weiterer Proſpection fich 
vertiefen. Deß zum Zeugniſſe faßt auch ber Prophet 
burd; 14, 24 — 27. bad, was er in 13, 1—M, 23, über 
Babel gefagt hat, in Me Einheit wit dem Ausſpruche 
über After in 10,5 — 36, zuſammen und führt Damit feine 
Rede anf die Gegenwart ald den Punkt, von welchem 
er ausgegangen, zuräd, Mit ber gegen die Phikiftier 
gerichteten Rede 14, 20 — 32. beginnt (oergl.14,26.) Die 
Reihe derjenigen Orakel, welche dem vorhin befprochenen 

a) Wie fehr Kap. 18. mit Kap. 19. im Zuſammenhange flche, zeigt 


ber Irrthum Hendewerk's, welcher gerabezu deide Kapp. zu Eis 
ner Rede verbindet (©. 220 iQ. 


⸗ 


886 Drechsler über Sef. 17. 18. 


Zeitraume ‚afiyrifcd; = Agpptifchen Gonflicts angehören | 
Es möchte auch in diefer Beziehung nicht ohne Beden⸗ 
tung feyn, daß das Orakel, fo Kein es ii, mit einen 
Zeitangabe au ber Spitze auftritt. An die Philiſtäer 
aber wendet fi dad Wort der Weiſſagnung unter all 
den bei biefen Wirren betheiligten Bölfern vielleicht def: 
halb zuerſt, weil gerabe fie des Ahas Regierung fich recht 
zu Nutze gemacht hatten, um Iuba Abbruch zu thun 
(2 Chr. 28,.18.), und bisher ohne alle Ahndung geblidm 
waren. Bon ihnen anhebend, nimmt der Prophet dann 
suvörderki die kleinen Dränger, bie bem Reiche Jude 
unmittelbar im Raden figenden Peiniger durch, die Mon 
biter (Rapp. 15.16,), die Aramäer (Rap. 17.), die Ephrai⸗ 
miten (ebendaſelbſtz. Er macht fonach die Tonr ringe 
um das jubäifche Land, indem er daſſelbe von Gübwei 
aus durch OR nad dem Rorben zu umkreiſt. Nachden 
der Kreislauf folchergefalt einmal durchgemacht if, wie 
Derholt er fi in weiterer Peripherie. Das Wort de 
Weiſſagung richtet fih nun an die bem Weltweſen an 
weiterem Bereiche angebörenden Völker, namentlich as 
die Eroßmächte, Indem der Prophet dieſen zweiten 
Kreidlauf in derfelben Direction wie den erſtern engen 
zurüdiegt, wendet er fich zuerſt (Kap. 19. Kap. 20.) sad 
Sudweſt au Aegypten und Aethiopien, hernach (Kap. 21.) 
nad, Südeft nnd DR an die anp 22, an Babel, endlid 
(Rap. 23.) nach Norden an die Phoͤnicier. Die Rede 
Kapp. 17, 18. alfo ‚vermittelt den Uebergang vom erſten 
zum ‚zweiten Rundgange. In 17, 1 — 11. ſchließt fie die 
erſte Umſchau ab, in Kap. 18, leitet fie auf bie zweite ein. 
Der zwifchen den beiden nach entgegengeſetzten Seiten hin 
weifenden Theilen mitten inne liegende Abfchnitt (17,12 14.) 
it Aſur gewidmet, derjenigen Macht, in weicher fi für 
die damalige Zeit alles Weltweſen, die Herrſchaft def 
Welt einerfeits, fo wie andererfeitö das ihrer harrendt 
Gericht, ale in einem Inbegriffe barftellte, 











Gedanten und Bemerkungen. 


— — ——— — 


1. 
Die Bedeutung der Eantifchen Philoſophie für die 
nenere Theologie. J | 
Ein afademifcher Vortrag j 
von 


Lic Dietlein, 
Privatbocenten in Königsberg. 


' 


Rs fühle ganz, indem ich bey Lehrfluhl ber Albertina 
sum erſten Male beſteige, dad Gewicht ded Augenblicks, 
weldyes auf meinen Schultern uw fo ſchwerer laſtet, ba 
ed nicht darch meine eigne Geltung, ſondern im Gegen: 
fage vielmehr zu den geringen Mitteln, Die ich bingu- 
bringe, durch Fügung her Umflände in. dieß Ereignis 
gelegt il. Es gefchieht, daß ich an diefe Stalle trete, 
nicht ohne Beziehung zu dem ſchweren Verluſte, hei 
durch das Abſchriden eines hochverdienten Lehrers dieſe 
Unisexfität vor noch vicht Jahresfriſt erlitten. hat, Den 
zu erfeßen ich nie gemeint ſeyn kann, won beflen Arhaitds 
felde ich nur gewagt habe einen Fleinen Theil, zur Be 
ſtellung mis allem Fleiße und aller Treue, mir abzu⸗ 
grenzen, | 

Wo ber Tod die Reihen lichtet, müflen auch bie 
Ungeübten vortreten, Und gelichtet Kat er bier. Es 
war der erfie Act der Univerſität, au dem ich mich bes 
theiligen Tonute, die Ermweifung der legten Ehre au den⸗ 
jienigen, durch deſſen Abforderung wir in neue ſchwere 
Betruͤbniß verfebt wurden. Da, als auf hie eunfle Feier, 


890 Dietlein 


mit welcher über ihm die Erde geſchloſſen wurde, bi 
Warte niederfah, die ex, um den Himmel und anfzufälir: 
Ben, gebaut hatte, da Fonnte ich des Mannes Bedentumg 
ahnen, den näher zu. würbigen außerhalb der Greuze 
meiner Studien liegt. Aber eined Andern, mit dein 
Verdienften mid zu befchäftigen mir näher liegt, eine 
Andern, Aeltern, mußte id) mit dort gedenken, weil er, wie 
jener, in einer Zeit der Nacht, Die ſich Aufflärung nanatı, 
eine Warte hier bei und gebaut hat, die menſchliche Us 
zulänglichleit zu überfchauen und die Kerne des Sie 
meld zu ermeflen. Kant ift der Dann, feine Stermmart: 
die Kritik der reinen und die Kritik der praftifchen Be: 
nunft. Erlauben Sie mir, feine Bedeutung für men 
Wiſſenſchaft, wie fle in neuer Zeit. fich geftaltet hat, zum 
Gegenſtande diefer Borlefung zu machen. 

Die Bedeutung der kantiſchen Philofophie für dr 
neuere Theologie, Was innerhalb der Philoſophie feihk 
und in deren allerneneften Beſtrebungen der Ramıe Kanti 
für einen Klang hat, iſt Ihnen bekannt. Nachdem durd 
Fichte, Schelling, Hegel diefer Wiſſenſchaft eine Bed 
gegeben worden, in welcher mit dem Kriticismus Kal 
jede änßerlidye Aehnlichkeit ihr verfchwunben war, bi 
num Doch wieder vom Behaupten und Darftellen die Phi 
loſephie abermals eine entfchiedene Wendung zum Kritifiren, 
von ber Frage nach dem Was zur Frage nach dem Ob gene: 
men. Und zwar nicht bei denen allein, bie über die Gegen: 
Rönde unferes Nachdenkens felbft, über menſchliche un 
göttliche Diuge in Zweifel und Berneinung gefallen fd; 
auch nicht bei denjenigen allein, welche gegen bie Phi 
fophie und die von diefer beſondern Wiflenfchaft ala be 
fonderer für die Erfennmiß angebotenen Mittel eine ud 
feinde Stellung eingenommen haben; endlich and mid 
bei denjenigen allein, die gegen die neueren, nach⸗kaun⸗ 
fhen Leitungen dieſer Kacultät mißtrauiſch geworde® 
find, Vielmehr vom Gebiete der hegel'ſchen Dhilofepi! 














die Bedeutung ber kantiſchen Philofophie ıc. 891 


aus, da, wo fie noch ale ſolche fi will, ift auerfannt 
worden, daß 'wir mehr vielleicht, ‚ald wir wiflen und 
wollen, auf Tantifchen Wegen uns befinden und an ihn 
und zu halten haben. 

So die Philofophen. Die Theologie dagegen, nach» 
dem fie eine Zeit hindurch die philofophifchen Beſtrebun⸗ 
gen des Jahrhunderts als das ihr ſelbſt Heilung und 
Nahrung Gebende anzuſehen gewohnt war, hat fpäter 
von da hiuweg zu audern Ausgangspunkten umdb von 
diefen alsbald gegen die neuefte Philofophie ſich gewen⸗ 
det. Und zwar gegen biefelbe zunächſt als die neuefte: fo 
mochte wider hegel’fchen und fchelling’fchen Dogmatismug 
ihe der Fantifche Kriticismus für die eigene Entwidelung 
um fo bebeutenber erfcheinen. Aber dabei biieb es nicht, 
Denn 0b der Philofophie Aberhaupt bisher die richtige 
Stellung zur Theologie gegeben fey, kam nur in Frage. 
Und wenn man das Hell bis dahin von jener für dieſe 
hatte erwarten wollen, fo fühlte fih nun die Theologie 
Kart genug, anf ihre eigene Grundlagen fidh zu verlafr 
fen und ihr Verhältniß zur andern Facultät als ein 
felbftändiged — mehr noch: ald das der gebenden zur 
enpfangenden — mehr noch: ale das der alleinherrfchen: 
den zur abhängigen, wenn nicht ganz bei Seite zu ſchie⸗ 
benden, aufznfaflen. 

Diefe Stellung nun der Yacnltäten Können wir bier 
nur ald Thatfache angeben; eine Entfcheidung des Streis 
tes, auch nur mit andeutenden Worten, baran zu nüpfen, 
liegt mir um fo ferner, als ich überhaupt nicht das 
menfchliche Denken unter den Geſichtspunkt einer dop⸗ 
pelten, an neben einander gehende Wiffenfchaften vers 
theilten Entwidelung Bellen möchte. Auch handelt ee 
bei der Frage, was für die Theologie Kant zu bedeuten 
habe, ſich nicht um die Stellung zweier Biffenfchaften 
zu einander. Nicht was von kantifher Philofophie die 
hriftliche Theologie, fondern was von Tantifcher Phile: 

Theol, Stud, Jahrg, 1847, 60 


802 Dietlein 


ſophie und Theologie unſere heutige, bad Ghriktentkum 
verstehen wodiende Theologie und Philoſophie für Frucht 
habe, laſſen Sie und als Frage fielen. Sollten wir 
zu einem Ergebniffe darüber gelangen, fo wird, ohne baf 
wir uns beſonders deßhalb bemäbten, darin ſchon wit 
eine Entfcheibung liher die Frage gegeben ſeyn, ob über 
menſchliche und göttliche Dinge, dee vorangehenden Eut 
widelung zufolge, weiter zu forſchen, in zweien ober in 
einer eingigen Miſſenſchaft — unfere Zeit für bad Richtigere 
halten müſſe. 

Ohne weitere Borbeseitung beun: was if ed, was 
Kant gedacht, gewollt, gefagt hat? Nun freilich dieß 
mis zwei Worten barzufiellen, Dad, was Ber Welt ven 
ſtaͤndlich zu machen, der Mann felbft in feiner Iasıgen 
Wirkfambeit nicht Jahre genug fand, im Laufe einer 
Stunde zu sriehigen, und fo zwar, daß wir noch Zeit 
behalten, Darüber eines Weiteren zu veflectiren, bieß fcheint 
fo gewagt, daß fall die Flucht davor anf Eutfchuipigun 
hoffen könnte, wenn etwaäa ich mir bie Erlaubniß aud- 
bäte, die Keuntniß Mer keutiſchen Miilsfophie bei der 
ganzen Berfammlung, wie billig, noraussnfepen na 
nun fofort, ala kimen wir van einer Darfiellung derſel⸗ 
ben, zu allerhand Erörterungen darüber zu ſchreilen 
Doch aber kann ja dieß nichts helfen. Wir mäſſen wii 
fon und in aller wäglichen Rürze, unb bo fo ſcharf, 
als es bei aller Kürze möglich ik, uns barlber vereini⸗ 
gen, was und als eigentliche Summe der kbantiſches 
Philoſophie erſcheine, damit wir willen, wenn wir weiter 
reden, worlher? und ob in der That wir über daſſelbe 
reden. 

‚ Richt gerade auf Kant's Merte, auf bie Bunfand: 
drüde feines Syſtems foll ed aulommen, Lecherfegt in 
die im Augenblicke und gelhufigfien was 
iR feine Meinung? 





bie Bedeutung der kautiſchen Philoſophie ꝛc. 893 


Der Gegenfland des menſchlichen Nachdenkens, das 
ſagt er, iſt einer, iſt die Welt der Dinge, die mich um⸗ 
geben, die als Stoff durch Erfahrung von mir vorge⸗ 
funden werden. Es gibt daneben Fein zweites Gebiet. 
Anfhauungen, Begriffe, Ideale — das find die Formen, 
unter Denen wir die Erfahrungswelt beuten ; falſch aber iſt 
ed, Ideen und Ideale noch einmal für fich zum Gegen» 
ftande des Denkens machen, neben ber Welt der Dinge 
noch ein Willen von einer darkber liegenden Welt haben 
sun wollen. Das Seyn, dad Gewußtwerden kommt dem 
Dinge zu; umfer Denken darkber iſt nicht wieber ein 
Ding; dad, was wir Über dad Seyende beufen, iſt eben, 
falls Sein Ding, Man hat das Denfen der Dinge fälfch- 
lich unter dem Namen Seele zu einem Dinge, zu einem 
Seyenden, einer Subſtanz gemacht, und allerhaud dar⸗ 
über wiſſen zu können ſich eingebildet — ein Paralogis⸗ 
mus, ſagt Kant, für ben wir keine Garautie aus ber 
Erfahrung haben. Man hat ferner das, was wir bei 
den Dingen denken, unſere Begriffswelt, wie ſie in höch⸗ 
ſter Zuſpitzung zu einem oberſten Begriffe zuſammen⸗ 
läuft, unter dem Namen Gott zu einem Seyenden und 
Wißbaren machen wollen — ein Ideal, fagt Kant, für 
das wir keine Garantie and der Erfahrung haben. Auf 
ienem Paralogismus beruht die ganze Pſpchologie, auf 
diefem Ideale die ganze Ontologie; — beide Dieciplinen, 
mit weichen bid dahin über die Erfahrungswelt ber 
Menſch in feinem Willen hinausſteigen zu dürfen meinte, 
zerſtört die Kritik der reinen Bernunft Durch Die einfache 
Bemerkung, daß das Denken auf dad Denken anzuwen⸗ 
den, ein Paralogismus, daß das Denken auf das bei 
dem Durchdachten Bedachte anzuwenden, eine Verwech⸗ 
lelung von Ding und Ideal fey. 

Welt, Bott, Sch — Diefe Drei Objecte für fein Den- 
ten und Willen glaubte der Menſch zu haben, Kant nimmt 
ihm zwei davon — aber er geht im Berengerunoch weiter. 

60* 


8a Dietlein 


Sm Denten der Welt gerathen wir auf Widerſprüche. 
Wie kommt bad, da doch die Welt der Gegenſtand if, 
anf den wir ohne Paralogiemnd die Kategorien unferes 
Berfianded anwenden? Und doch, fobalb wir zu den 
Kategorien der Quantität greifen, entficht der Wider: 
ſpruch, daß. die Welt fowohl unendlich als begrenzt iR; 
nach den Kategorien der Qualität ergibt fi; die Anti⸗ 
nomie, bag die Welt fowohl ein Ganzes ale ein umenb- 
lich Getheiltes iR: die Kategorien ber Relation verwidels 
und in den Widerfpruch, Alles ald verurfacht auguichen 
und doch wieder, um bie Reihe nur erfi anfangen ju 
fönnen, ein Freied zu feßen; endlich in Bezug amf bie 
Modalität erfcheint die Welt ale nothwendig einerſeits, 
und als bloß möglich uud auch nicht feyn könnend anberer- 
feite, je nachdem ich fie gerade zu faflen beliebe, entweder 
ale dad alle Möglichkeiten nmfchließende Eine oder alt 
bie einzelne unter vielen Möglichkeiten wirkliche. 

Sie fehen, meine Herren, die kantiſche Kritik der rei: 
nen Bernunft geht unbarmhberzig mit und nm. Wir 
bringen iht unfer gefammtes Wiſſen zur Prüfung enter 
gen; wir find gefaßt darauf, und manche Schwäche 
nachweifen zu laflen ; unfer Wiffen fey Stüdwert, befes- 
nen wir mit dem Apoſtel. O über bie eingebildete Be 
fcheidenheit. Nicht Stüdwert, fondern Illuſion, Schein, 
Täuſchung, Wortkram ift vor der Kritit dad gauze Wil: 
fen. Kein Städwerf, fondern ein Lappen, ein überall 
geflidter Lappen, der, wenn wir ihn sach oben anziehen, 
über die Füße nicht reicht, und wenn wir die Füße ba- 
mit bebeden wollen, den Öberkörper bloß läßt; und 
beim Hin» und Herzerren reißt er noch überall, fo daß 
die gänzliche Nacktheit überall armfelig durchſcheint. 

Drei Gebiete des Wiffend glaubten wir zu haben, 
Gott, Seele und Welt. Zwei nimmt und die Kritik wit 
einen Federfiriche; und das dritte? Dem dritten aller⸗ 
dings ift inſofern nichts anzuhaben, als es doch wirklich, 








bie Bedeutung der Tantifhen Philofophie ıc. 895 


nicht bloß eingebildeterweife, Gegenſtand des Denkens 
it, Gegenſtand unſeres Wiſſens ſeyn Fünnte, wenn — 
unfer Denken wirklich ein Wiffen wäre, nicht bloß ein 
Herumfpielen der unferm Berftande geläufigen Formen 
an einem Objecte, das felbft davon unberührt, undurch⸗ 
derungen bleibt. Den Kern wollten wir verſchlucken, und 
doch an der bloßen Schale zerbeißen wir und die eige- 
nen Zähne, mit dem obern Gebiffe die Unterkiefer, mit 
dem untern die obere Zahnreihe zerarbeitend. Iſt ed 
nicht diefer Eindruck, den von unferm Wiſſen die kanti⸗ 
fhe Kritik mit ihrem Rachweife der Antinomien und zur 
ruckläßt. Unfere Kategorien, fatt die Dinge zu begrei« 
fen, werden Kategorien gegen einander ; eine verklagt, 
widerlegt die andere. Alle Wirklichkeit ift fo möglich 
als nothwendig, alfo weder möglich noch nothwendig. 
Alle Wechfelmirkung ift fo gewirkt als frei, alfo weder 
frei noch verurſacht. Alles ift Eins und iſt Vieles, alfo 
weder ˖ Eins noch Vieles. Alles Begrenzte iſt und iſt 
nicht; ſo iſt es weder noch iſt es nicht. Ja ſo verkehrt 
der letzte Satz klingen mag — denn Sie wiſſen, daß 
man als von ben einfachſten Denkgeſetzen widerlegte Ver⸗ 
wirrung es anzuführen pflegt, wenn Jemand die Alter⸗ 
native ſtellt: A. iſt B, oder iſt nicht B oder keins von 
beiden. Und doch zuletzt als unfrer Weisheit Summe 
erfcheint Diefe Verwirrung. 

Bon den drei Gegenftänden: Welt, Bott, Ich, blieb 
die Welt allein; aber von dieſem einzig bleibenden Ge» 
genftande des Wiffend bleibt ungewußt und unerfannt 
das Ding an fi, und auch von ihm fehen wir nun, daß 
wir nichts wiffen fönnen. 

Wir haben Kant's Kritik — dieß war unſer Auds 
gang — mit einer Sternwarte verglichen, Ich möchte 
nicht, daß Sie dieß nur wie ein gelegentlich aufgegrifs 
fenes, halbwege yaffendes Gleichniß anfähen. Es ift 
durchaus die Stellung unſeres Philofophen der des 
Sternbeobachter6 gleich, der fih hoch Über Die dunſtige 


896 0, ‚Mietlein 


Schicht der vom ber Erde und niehen zur Erde Reigen 
den Wollen vereinfamt hat, lautlos und leidenſchaftslos. 
Die da unten umherlanfen, bebünten ich, viel zu wiſſen 
und zu haben. Sie haben bdreierlei, den Beben, ſich 
felbft und den Himmel. Der Boden grünt und wimmelt, 
der. Hisemel ſchwirrt und träufelt, fie felber rennen und 
kaufen. Da iſt Alles greifbar uud wirklich, dad Ich feb 
ner ſelbſt ſe gewiß wie des Bodens, auf dem es ſteht, 
und der Himmel zwar tranfeendent, höher ald Erde 
und Menſch, aber doch voller Leben und Wirklichkeit, 
eine zweite Welt, ein dritter Gegenftand, aber ash 
eine Welt, auch ein Gegenſtaud. Kant fleigt auf die 
Warte; und was fiebt ee? Der Himmel if ka 
Gewölbe, kein Ding wie der Boden, auf dem wir Be 
hen, ee Firmament, fondern unenblidhe Herne © 
wie dem Aſtronomen der Himmel aufhört, ein Reich vos 
Wolfen und gefiederten Luftbewohnern zu ſeyn, fo len; 
nete Sant ‚die Realität — diejenige, die der Dutolog 
damald ausmalte — die Realität ber trauſcendentes 
Welt, und zeigte, daß das Tranfcondente nichts al 
Ideal der reisten Vernunft fey. Go ferner, wie der Akte 
nom aufhört, fih felb als Süück der am Boden hials 
benden Welt anzufehen, weiß, daß, ſo weit er der Erk 
angehört, er nicht Betrachter if, weiß, baß dieß nod de 
Erde Angehören nicht ihm als Betrachter zukommt: 
fo tfolizte Kant dem Objecte des Wiſſens gegsmüber zwei⸗ 
tend das Ich, ine Piychologie ald Stüd aus dem 
Erfahrungswiſſen, ein Willen vom Ich, fofern es wil 
lich zur Welt gehört, verabrebete er nicht. Uber das 
Sch ale Betrachter des Nichtich ift nicht wieder ein Wichtid 
— (fo Tritifirte er) — das ‘ch nach feinem Weſen wieder 
zur Subſtauz, zum Objecte ded Wiſſens, zum GBegenflandt 
von Behauptungen zu machen, verbot er ; roine Pſychologit 
iR Iluſion, Paralogiemus, falſches Uebertragen deſſes, 
was vom Objecte gilt, auf das das Objeet Denkende 
Aber wenn ber Beobachter auf der Warte von der 


Die Bedeutung ber kantiſchen Philofopbie ꝛc. 897 


Belt den Simmel und ſich ſelbſt iſelirt hat, unb bag 
das von ber Erde Geltende vom Himmel und won Ber 
obashter nicht gelten könne, zum Bewußtſeyn gebracht hat; 
fo bleibt ihm ja, fellte dan denken, der Boden, von dem 
er aufftteg, um fd mehr bad, wad er if; um fo fchlirfer, 
ums fo realer wird fein Erkonnen in Bezug anf den fo ale 
eigenttidye Grundlage feines Schauens wor ihin liegenden 
Gegenſtand ſeyn. Nichts weniger. Bom Ideale, von den Pa⸗ 
ralso gismen geht die Kritik zu den Antinomien. Das Object, 
fo fern gerückt, fo ſcharf firiet, ſchwindet zum Punkte zus 
fammen. Der Begenitand, der dem Erkennen bleibt, der eine 
wirklich reiche IBelt von Erkenntniſſen verſprach, ſchrumpft 
ua Dinge an ſich, zum unerkennbaren zuſammen. Die 
ſelben Wolkenſchichten, die den Himmel zu eimem Abbilbe 
der Erde zu machen trüglich Den Untenſtehenden veranlaßt 
hatten, lagern fi vor ben Dbeufichenden ald Syindbermifte für 
eine Einficht in das indische Treiben. Die Formen miſeres 
Berfiaubed, von Venen fo eben nachgewiefen war, daß 
man fie nicht als ideale zweite Welt behandeln dürfe, fordern 
nur zum Begseifen ber einzig Gegenftand feyenden realen 
Melt anwenden müfle — Diefe Kormen erweifen füch jetzt 
als zum Begreifen biefer realen Welt gänzlich umfähig: 
die Karegorien ad nur Denkformen, ſelbſt Raum und 
Zeit find nur Anſchauungsformen. Stoff ſelbſt für den 
SGehanten And nur vie Dinge an ih — oder das Ding 
an fi, Denn wie follen wir fagen? Die Dinge ? das Ding? 
FR es nicht Jorm unferes Verſtandes, wenn wir dem Stoffe 
dad Pradieat der Einheit oder der Bielheit leihen. Aifo we- 
der Ding noch Dinge, fordern durdand nur Stoff, das 
reine, anqualificirte Seyn. Uber audy das Seyn ift zu viel 
prädicios; denn auch bad möchte nur eine Form, ein Gedanke 
feyn, wit dem wir gegen die Wahrheit den Gegenſtand ſchmü⸗ 
den. Es bleibt, um ganz ficher zu gehen, nur die verneinende 
Bezeichnmung Nicht⸗Ich Abrig; und in der That war es 
eigentlidy nichte Nenes, ald Fichte dem {sch auch noch das 
tantifche Ding an ſich nahm, und durchaus demfelben ges 


898 .: 2. Dielen 


genüber nur das Nichtich duldete, nicht als ein Etwas, 
von dem irgendwie ein Seyn, ein wenn auch noch fo 
bürftiges, behamptet werden wolle, fonberu als bie reine 
. Berneinung des Ich, das ebenfalls nicht if, 

Aber wer Ohren bat zu hören, der höre. Soll Kant 
in den Wind geiprochen haben? Hat ex Recht oder 
Unrecht? Ich frage, m. H. in Beziehung auf jene For: 
men unfered Verſtandes, bie feit Arifioteled den Namen 
Kategorien führen, hat Kant Recht oder Unrecht? Recht 
in dem Saße, daß biefe Kategorien fein Wiffen enthalten, 
deffen Gegenſtand fie felber wären, fo daß nur Täuſchuug 
ift jedes noch fo künſtliche Syſtem von Begriffen, wenn 
es als Logik oder Metaphufit oder Ontologie oder Lehre 
von Sott in feinem Anfichfeyn oder als abfiracte obme 
Anfchauung des geſchichtlich offenbaren Gottes — um 
ja Gott nicht bloß nad feinem Wirken, ſondern nach ſei⸗ 
nem Tiefen zu betrachten — confiruirte Theologie ſich 
ausbietet? Hat Kant dagegen Recht? Hat er zweitens 
Recht in dem Sape, daß die Kategorien auch fein Wif: 
fen enthalten, deſſen Gegenſtand die Wirklichkeit iR, fo 
daß nur Täuſchung ift jedes noch fo fcharffianige Be: 
räfonniren der Welt nach den Kategorien, 3. B. ob mar 
fagen müfle, die wirkliche Welt fey nothwendig oder fie 
hätte auch anders ſeyn können? ob man fagen könne, es 
gefchehe Alles nach den ewigen Befeßen von Urſache und 
Wirkung oder dieß Geſetz werde durch Freiheit gebre 
chen? ob man fagen müfle, daß die Schöpfung unbegrenjt 
fey oder begrenzt ? ob man fagen müfle, daß alles Eins 
oder Vieles — mit andern Worten, daß eine moniſti⸗ 
ſche oder monaditifhe Weltanfchauung die richtige ſey? 
Iſt nicht das alles Kategorienfpiel, worauf ch nur aut 
worten läßt: bad if. richtig, oder iſt nicht richtig oder 
Feind von beiden, je nachdem man ed nimmt. Se nad 
dem man ed nimmt, denn die Wahrheit kann ich haben 
und nicht haben bei jeder von beiden Behauptungen, 
aber fie let in Seiner diefer Behauptungsformen. 


bie Bedeutung der Tantifihen Philoſophie ꝛc. 899 


Ich frage alſo: bat Kant Recht mit feinen beiden 
Sätzen: unfere Ideen enthalten Fein Willen von ſich fel« 
ber, und unfere Ideen enthalten fein Willen von den 
Dingen? Hat er Recht damit, fo wird er vieleicht auch 
Recht damit haben, daß er das Willen wo anders ge 
fucht hat. | ; 

Formen find etwas Schönes, wenn fie nicht mit der 
Sache verwechfelt werben follen. Das Disputiren über 
Anwenbung der Berkkandesformen iſt eine Kunft, die, wo 
fie daS hat, was jede Kunſt zur Kunft macht, dad Maß, 
das innere, heilige, der. Sache Inwohnende, bie ba eine 
Kunft iſt wie jebe andere. Alle Künſte dienen durch Schön» 
heit der Wahrheit, durch Form der Sache. Mancherlei 
Formen hat der Menfch, Linien, Flächen, Farben, Rhpth⸗ 
men, Kategorien. Rhythmen nnd Kategorien: die For» 
men, die der Menfch hat als redender, als Dichter und 
Denker. Die Weifen von jeher, die Erfahrnen, die For⸗ 
fcher des Wahren, die haben von jeher der Formen ſich 
bedient, um in Schönheit die Wahrheit gu überliefern. 
Den Dichter und Denker machte nie dad Spiel der For⸗ 
men, fondern der Ernft der Wahrheit, den fie in Rhyth⸗ 
men oder Kategorien überlieferten, das Spiel im Dienfte 
bed Ernfied; fo bei den alten Dichtern, weldye Lieder 
fangen, oder Sprüche dichteten, oder in Dialogen, wie 
Plato die Kategorien fpielen ließen. Denn folge Spiele 
zu ernflem Dienfte find jene bialektifchen Kunftwerte; 
wo man aber vergeblich fragen würde, wo benn am 
Schluſſe die Entfcheidung bed Dichterd flede, ob jene - 
Kategorie, ob dieſe die richtige fey. Wer fo fragt, der 
verfieht die platonifchen Dialoge fo wenig , ald wer den 
Sophofles fragen wollte, ob in feinen Jamben oder in 
den Rhythmen der Chöre die Wahrheit ſtecken ſollte. 

Aber dieß, wie gefagt, waren die weifen Männer 
von jeher: erſt Forfcher, dann Former der Wahrheit, in 
gebundener. und ungebundener Rede. So fangen die Elea⸗ 
ion vom ewig Einen, und vom ewigen Fluſſe auch Her 


vallit noch, in gebundenen RMythmen. Biber ihre Weis⸗ 
beit ſchien ihnen weder in den Rhythmen zu liegen, noch 
in den Kategorien, ſondern in dem ethiſchen Verſtänd⸗ 
niſſe der whyfiichen Welt, in dem geheimnißvoll Unfet: 
basen, was fie, die Sichtbarkeit dnrchferſchend, fans 
den und audfprachen. Die Phyfld zu umfpannen, bad 
Echos zu erfaffen, war ihre Aufgabe. Die Philoſophen 
— dad waren die Erforſcher des Natürlichen und bed 
Sittlichen — es gab nicht zweierlei Wiffenfchaft, eracte 
und fpecwlative, nicht Empirie und Phileſophie, ſonders 
die eine Wilfenfchaft, Die Joder nad feinen Kräften zur 
Weiöheit zu gehalten fuchte. Da fam bie Berfaligeit: 
flatt Der Dichter traten Verſemacher auf, Ratı der Wei⸗ 
fen die Kategorienmacher, Die Sophiſten, die Aheteren, 


: die Klopffechter, die dad Wiſſen in der bloßen Form fa- 


ben, Spiel ohne Ernfi trieben, aber mit der Wahrheit 
anch bad Gptel verdarben, Form an Form zerrieben, 
dem Mexnſchen das ſich felbis Aufhebende, Antinemeiktifche 
in feinen Verſtandesformen aufzeigteen, aber, weil fie 
die Wahrheit (ches längft hatten verfliegen laſſen, nun, 
nachdem fie das Eitle als eitel anfgewiefen, nichts zum 
Erfaps im Leben übrig. behielten. 

Da it Sokrates aufgetreten, ein Kritiler der reinen 
VDernunft. Er wußte, daß wie nichts willen, daß, fo 
kange unfer Denten ein bloßes Rechnen mit Den Formen 
unſeres Verſtaudes iſt, eine die andere aufgebt, eine der 
andern wiberfpricht — dieß wußte er mit größerer 
Schärfe al je ein Sophiſt vor ihm. Aber dieſe Weis: 
heit des Nichtwiffene war ihm wicht das Einzige; cr 
machte auch fein Weſen Davon, er hielt Darüber wicht, 
wie die Sophiſten, fhwer bezahlte Vorleſungen, fondern 
Öffentliche wor gemiſchtem Pablicam: fein Babitorium 
ber Markt von then, Über währens die Sophiſten 
ſchloſſen, daß, weil es mit unferem Berkaude nichts fey, 
es mit deu Wahrheit überhaupt nichts ſey, lehrte Sw 
krates durch die Selbſterkönntniß vorbringen sum Blau 








Die Bedeutung der kantiſchen Philofophie ꝛc. 904 


ben an den Geiſt in und, der wir feibi nid find, und 
in dieſem fistlichen Gsgreifen des ewig Wahren die heilige 
Ironie gewinnen, bie alle Formen und allen Schein nur 
deßhalb preis gibt, weil Welt und Menſch und Bott 
dem Mexrſchen nur ficher ind, wenn er als fittliche Per⸗ 
ſoͤnlichkeit Sichtbared uud lnfichtbared, dieſe ganze Wolt 
der äußern und innern Erfahrung ſich zu eigen macht. 
Die Wahrheit — das If die Summe bed ſokrati⸗ 
ſchen Wiſſens — die Wahrheit iR nicht Ergebniß der 
seinen , leeren, thatlos anſchanenden, theoretiſchen Ber» 
nunft, fondesn was if fie? Poſtulat ber praktiſchen Ber: 
nunft, d. h. etwas dem Menfchen durch und durch nur 
darin Gegebenes, daß er zur Erfahrung una dem im 
der Erfahrungswelt offenbaren Goͤttlichen im. ſittliches 
Verbätniß tritt. Alle Wahrheit if dich, bemerten Sis 
das wohl, Kami hat ed fo allgemein zunächt nicht and. 
gedrädt. Gott, fagt er, iſt Poſtulat der praktiſchen Ver⸗ 
nunft. Aber Freiheit und Unſterblichkeit doch auch. Und 
was heißt nun Bott, Freiheit, Unſterblichketd? Die Idee 
der Freiheit, das iſt: Daß wir willen, wenn noch fo fehr 
unter dem Widerfprucdge unferer Berftandeöbegriffe von 
Freiheit und. Nothwendigkeit, Bedingtheit und Unbedingt⸗ 
heit die Welt vor unfern Mugen zum Disge au ich, d. b. 
zum Michts verſchwindet, jo weiß her fittliche, freiheits⸗ 
bewußse Menſch doch die Gewißheit des Freien ſowohl 
wie des Bedingten, Gottes ſowohl als ber Welt, fefs 
zuhalten. Die Antinomien der reinen Vernnnft lehrten 
uns, daß wir das Seyn weder von Bedingtem noch Un⸗ 
bedingtem behaupten dürfen, ohne ſophiſtiſche Widerle⸗ 
gungen uns gefallen laſſen zu müſſen. Der Glaubde aber, 
diefe That der Freiheit, die Im Menſchen, der in fich gebt, 
der Damon wirkt, wirkt fchöpferifch aus dem Nichte 
der Verzweiflung die unüberwindfiche Gewißheit in ihm: 
Im Anfang fchuf Gott Himmel und Erde, Cine ſchö⸗ 
pferifche Kraft iſt diefer Glaube. Aus der uneublichen 


Reihe von Urſache uud Wirkung zum Aufange zu Tommen, 
war ber Theorie numöglich; von dem Gedanken des Un 
bedingten aus zur Welt, wo jebe Urſache ſchon als Bir: 
fung einer vorangehenden erfcheint, herabzuſteigen, war 
gleichfalls unmsglich: da wurde dem Menſchen Blar, daß, 
theoretifch betrachtet, ev weder als Gott noch ald Belt 
das, was er erfährt, zu denken berechtigt fey, er hate 
eben nichts, als das Ding an fi, dieß Nichts, Dielen 
bloßen Gtoff der Erfahrung. Leber der umenblicen 
Kluft zwiſchen dem Bedingten und Unbedingten fchwebt 
er; von Seinem zum andern faun er kommen. erben 
wir und bewußt, m. H., was in uns vorgeht, wenn wir 
troß dieſer Rathloſigkeit des Verftandes nun Doch ed uni 
nicht nehmen laflen, Bebingtheit uud Unbebingtheit, Gott 
und Welt feflzubalten, die Kluft, die der Verſtand nic! 
ansfüht, wir überfpringen fie doch; während der Ber: 
ſtand vom linbedingten aus Leinen Anfang machen Tann, 
ergreifen wie doch den Gedanken des Anfangs, dei 
Schaffens: Gott fchuf die Belt, ber Freie hat eben ba 
Anfang der bedingten Welt gemacht — da haben wir 
Sott und Welt, und Freiheit und Bebingtheit — und 
bie Sophifterei der einander anfhebenden, Bott und Bel 
anzweifelnden Kategorien erfcheint ald Verſtandeszerrüt⸗ 
tung, nicht heilbar durch Argumentationen, fondern heilbar 
allein anf pfychtatrifchem Wege, durch fittliche Erziehung, 
dadurch, daß der Menſch Iernt, die Formen feines Ber 
ſtandes nicht für wahrer als die Welt, die er mit diefen 
Formen denkt und zerdenkt, zu halten. 

Ein Sophiſt bewies, daß es feine Bewegung gebe; 
da ftand Diogenes auf, that ein paar Schritte, und wir 
derlegte damit den Sophiften. Daß es feine Bewegung 
gebe, laßt fidh dem Berftande unmiberleglidh darthun; 
wer aber deßhalb daran zweifelt, den nennen wir einen 
Berrüdten. Wie wird nun diefen der Arzt heilen? Durch 
Schlüfle gewiß nicht; aber er laffe ihn laufen; ba wird 
er ſchon müde werden, unb mübe werben and feine 


bie Bedeutung der kantiſchen Philofophie zc. 903 


Einbilbungen. Daß es keine Freiheit, keine Perſönlich⸗ 
feit, daß es keinen perfönlich Kreien über der Welt des 
Bedingsen gebe, Tann ebenfalls dem Berftande, weil 
jede Urſache immer fchon eine vorher gewirkte Urſache 
vorausfegt, unwiderleglich dargstbau werden. Wie 
wird nun ben Zerrütteten, der an Bott uud Freiheit ans 
Aberglauben au feine Berftaudesformen irre geworden, wie 
wird Der Arzt ihn heilen? Durch Schlüffe gewiß nicht: aber 
er Iaffe ihn frei, er mache ihm frei; er erziehe ihn zum 
Erleben der Thatfache, daß es Freiheit und Perfönlich 
keit gibt; er wede das Bewußtſeyn in ihm bes Sitten. 
geſetzes, des Fategorifchen Imperativs, dieß Bewußtſeyn, 
das, wenn noch fo ſehr der Verſtand den Menſchen nöð⸗ 
thigt, all ſein Handeln als unfrei, als von gegebenen Be⸗ 
dingungen bedingt anzuſehen und zu fagen: Phomme 
machine, und zu fagen: le monde machine, das Bewußt⸗ 
feyn, das dem Allen Trog bietet mit der einfachen Thate 
ſache: der Menſch iſt frei, und wie über dieſem feinen Mir 
krokosmus fein Ich mit Freiheit, fo fteht über der Welt der 
freie Schöpfer — und ber Glaube ift wieder da au Bott 
und Freiheit, und an Linfterblichkeit, weil dad Seyn bes 
fittlihen Ich und fein Berhältuig zu dem Du, das big 
Belt zufammenhält, zum Bott der Lebendigen, weil dies 
ſes Seyn und dieß Verhältniß ſich ale Thatfadhe, ale 
von feiner Schlußfolgerung aus dem Verſtricktſeyn alles 
Gefchehenden in ewigem Determinismus, von keiner fol 
hen Schiußfolgerung widerlegbare Thatfache dem ſitt⸗ 
lichen Bewußtfeyn, der praftifhen Bernunft aufbrängt. 
Sie fehen, m. H., was der kantifchen, ber foratifchen 
Weisheit Summe il. Was Paulus fagt: Alles, was 
Menſch heißt, werde zum Lügner: Gott allein bleibe 
der wahre, Die Gefepe, bie der Berfiand an den Stoff 
unferes Denkens heranbringt, erweifen fich als Lügnerifch: 
ale wahr allein das Sittengeſetz, das der Menſch nicht 
gibt, dem vielmehr in radicaler Boswilligkeit zu wider, 
ſtreben er fich bewußt ift, mit welchem er fi als dieß fo 


08 ODietlein 


und fo bebingte, determinirte Stud bes Weltganzen in 
Widerfprud weiß, dieß Sittengefek , das er dennoch au 
zuerkennen, und Damit ſe Freiheit anznerkennen — go 
zwungen iſt. 

Auf einer Warte — ber Menſch, wir wählen anf 
dieß Gle ichniß zurlicfommen, Über won deu Feruroͤhren, 
den in die Unendlichkeit hinaus gerichteten, hat er einem 
Augenblick fich weggewendet; Über feine Rechnungen bat 
ee ſich geſetzt. Er probt, er gehdeit, er hat ſich werred: 
net, es ſtimmt nichts mehr. Da fieht ex ſich um, wol 
nur der Himmel? Er fieht ſich zwiſchen feinen vier 
Yfühlen, und feine Arbeitdlampe belenchtet nichts ald bie 
Sloben und Karten und Recmungen — alles WBertı ſei⸗ 
nes eigenen Geiſtes. Wo ift nun die Unendlichkeitk if fr 
nicht ein Traum, den ich aus bem eignen Hirn geiyen 
nen habe? ein Traum meiner Ratio, der neck baya bei 
nlherer Berechnung auf irrationale Brößen führt. ©o 
fpinnt ſich in der Einbildung, daß alles Einbilbung ſey, 

der Rechner fort, und würde fich ganz einfpinnen, wenn 
wicht die Worberungen des fittlichen Lebens ihn zwängen, 
ben Traum als Wahrheit mitzumachen; bie orderas 
gen, Die an das Herz ſchlagen, wie die Stürme wider 
bie Mauern des engen Vartthurms, in den der Sterr⸗ 
beuter ſich zurückgezogen hat. Da bricht die Welt, bie 
Heine, zurechtgemachte, zuſammen wie eine Breterbude 
und herein fchaut der ewige, unendliche Himmel mit feinen 
‚Räthfeln und mit feiner Klarheit, und der Menſch, wenn 
die Bandbigen Trümmer um ihn her verfiogen ſind, wird 
knieend gefehen, — betend — weiler das Ich uud bad Du 
erfannt hat, weil mit dem Bewußtſeyn feiner unendlichen 
Kleinheit das Bewußtſeyn feiner unendlichen Bröße ju 
gleich ibm aufgegangen if, mit dem Bewußtſeyn, daß er 
einen Deren habe, das Bewußtfeyn, daß er ein freier ſey. 

Die Gewißhelt nun, die der Menfch über Gert und 
Freiheit durch die Thatſache, Daß er ſeldſt eine fittlie 
Perfönlichkeit ift, gewinnt, nannte Raut den meraliihen 


die Bedeutung ber kantiſchen Philofopbie ꝛc. 005 


Glauben oder eine Forderung ber praktiſchen Bernunft, 
Er drüͤckte ſich darüber fo aus, daß er fagte, es fen dieß 
eigentlich Bein Willen, eö fey feine Gewißheit, daß wirfs 
lich Gott und Freiheit fey, fondern nur eine Nöthigung, 
fo zu handeln und fo Ach zu verhalten, ald gäbe 8 
Freiheit, Bott, Unſterblichkeit. Im der That aber if 
dieß eine Unterfcheidung, die feinen rechten Sinn hat, 
die auch auf nichtö weiter beruht, als anf einer noch 
nicht ganz befeitigten, ungehörigen Nachgiebigleit gegen 
jene falfche Anficht von ber Natur des menfchlichen Wiſ⸗ 
fend, deren Bekämpfung eben die kantiſche Kritit unter 
nommen hatte, bie falſche Auſicht, daß es eine Gewiß⸗ 
heit gibe, die ſich beweifen, der erfenuenden Beruunft, 
obue daß eine fittliche That dazu nöthig wäre, anfbrins 
gen I6ßt. Dem gegenüber erflärte Kant, er gebe zn, 
daß Die höheren ſittlichen Wahrheiten ſich nicht fo bewei⸗ 
fen laſſen, aber daß die flttlidye Perfönlichleit gensthigt 
werden Sana, zu glauben, ale ob fie wirklich wären. 
Sie ſehen, die Unterſcheidung liegt nur im Ausdrucke: 
ein Berhalten des fitttichen Ich, fo, als ob etwas wäre, 
iR wit andern Worten bie Ueberzeugung, daß es fey; 
denn daſſelbe Ich iſt es, welches handelt und erkennt; 
ja die Erkenntniß ſelbſt iſt eine Art des Haudelns, und 
das erkennende Verhalten, ald ob — iſt nichts ale die Er⸗ 
kenntniß, daß. Die Unterſcheidung kam auch nur daher, 
daß man das richtig Über Die Ratur des menſchlichen 
Wiſſens Befagte unrichtiger Weiſe zunächſt noch meinte 
nus auf einen Theil dee Wahrheit befchränten zu mäffen. 
Gewiſſe Wahrheiten, fo fagte man, 3. B. die mathemati⸗ 
fen, 3. B. daß 2x 2 gleich & ift, oder dad ein Kör⸗ 
per 3 Dimenfionen hat, die wiffe der Menfch ohne fltt« 
liche That, die höheren Dagegen glaube er nur and ſitt⸗ 
licher Nöthigung. Aber diefe Unterſcheidung — Kant 
ſelbſt war es ja, ber fie bereits fchon richtig wiberlegt 
hatte. Denn Haste er nicht nachgewiefen, daß wir von 
der Wirklichkeit unferer Borfellungen über Raum und 
I 


906 Dietlein 


Zeit eben fo wenig aus theoretiſchen Grunden überzeugt 
feyn können, als von der Wirklichleit Gottes und ber 
Freiheit. Der bioß erkennenden Bernuunft, dem Verſtande 
erfheinen Raum und Zeit ebenfalld nur als Formen, 
die wir zu dem Erfahrungsftoffe hinzubringen, von beren 
Wirklichkeit wir nichts wiſſen. Und fo zeigt ſich Leicht, 
daB alles Willen Glaube if. Zwar iſt, an bem Gabe, 
daß 2x2 == 4 zu zweifeln, Berrüdtheit; aber iſt es 
denn nicht eine fittlihe That, nidt verrädt zu feyu? 
Daß ed Bewegung, baß ed Körper gebe, wer zwingt 
mich, das zu wiflen, wenn ich ed nicht glanben wii? 


Wer aber eben nur erfennend, nicht glaubend, fi zu 


der Welt der Erfahrung verhalten will, wir ſehen es ja 
an der Santifchen Kritik, wir fehen es au den Sophiſten, 
der wird verrhdt; denn dad Ich, von feiner ſittlichen 
Ganzheit abftrahirend und dem Gpiele der Verſtandes⸗ 
formen einfeitig fich hingebend, iſt bereitö aus Der richti- 
gen Stellung hinandgerüdt. Den Irrfinnigen num, ber 


etwa zweifelt, daß fein Leib ein Körper fey, wie bein 


wir den, wenn nicht Dadurch, daß wir ihn veranlaflen, ın 
gehen , ſich zu bewegen, ſich zu verhalten, ald ob er einen 
Körper babe? Da wird von ſelbſt ber Verſtand im die 
rechten Fugen kommen: jener Zweifel war nicht® als bas 
Verhalten, als ob den Berfinubes- und Anfchauungsfer 
men keine Wirklichkeit entſprͤche — das entgegengefebtt 
Berbalten alfo, das Berhalten, ald ob es fo ſey, iſt die 
Gewißheit, daß es fo fey. So nun in Bezug auf Raum 
. und Zeit, anf Dualität nnd Quantität, auf Gott und 
Unſterblichkeit. Auch bier iſt der Zweifel Verrücktheit, 
d. h. entſittlichter Verſtand; auch hier iſt das Wiedereis⸗ 
lenken zum ſittlichen Verhalten, als ob — dieß Wieder 
einlenten if nicht ein Surrogat für die Ueberzengung, 
daß —, fordern es iſt die Ueberzeugung ſelbſt. Jene lin 
terſcheidung iſt nicht ſtichhaltiger, als wenn ich einem, 
der mich fragt, ob id; gehen koͤnne, antworten wedte: 
Gehen zwar nicht, aber ich kann mich dadurch, daß ic 





die Bedeutung der kantiſchen Philofophie 2, 907 


einen Fuß vor den andern febe, von der Stelle bes 
wegen. 

Der moralifche Glaube alfo ift wirklich die einzige, 
er ift aber auch Die ganze und volle Gewähr der Wirk, 
lichkeit deffen, was wir nicht fehen. Alles deſſen, was 
wir nicht fehen, und was gehört dazu nicht Alles? Etwa 
Bott allein und göttliche Dinge? etwa das Freie allein 
und Attlihe Dinge? Hingegen Die Gefete der fichtbaren 
Belt, Urfache und Wirkung, Eigenfchaften, Größen, Dis 
menfionen — die And ja wohl fihtbar? Nicht ſichtbarer, 
ale Gott es if; denn gefehen, fagt Kant mit Redht, 
wird das Ding an fi; was aber wir daran fehen, das 
find die unfichtbaren Formen unferer Anfhauung — und 
woher nıın bie Garantie, daß bieg nicht bloß unfere Kor» 
men find? Meine Herren, Sie fehen, bie kantifche Kris 
tie if eine Predigt über den Tert Hebr. 11.: Es if der 
Glaube die Gewißheit und die ſiegreiche Ueberführung 
von der Realität des Unfichtbaren, und (B.3.) durch den 
Glauben vwilfen wir, daß die Welten bereitet find durch 
Gotted Wort, fo daß nicht Sichhtbares zum Sichtbaren 
wurde. Der Sprung vom Denken zum Willen, zur 
Ueberzeugung, daß unferm Denken Wirklichkeit entfpricht, 
diefer Sprung ift überall nur fittliche That, nur Ber: 
halten, als ob, nur Poftulat, nur moralifher Glaube. 
Mathematifche, phyſikaliſche und fittliche Wahrheit find 
darin ganz gleich; es ift Verrüdtheit, an Bott, wie an 
der Mathematif zu zweifeln; und Glaube gehört bazu, 
von der Gleichheit der Scheitelwintel, wie won der Un⸗ 
Rerblichleit überzeugt zu feyn. 

Ich möchte dieß fo einleuchtend als möglid, machen. 
Ich kenne die Schwierigkeit. Wir können es nicht laflen, 
mathematifche und ethiſche Wahrheit zu unterfcheiden 
und die Stellung bed Menfchen zu jener anders als zu 
diefer zu denken. Daß, um an Gott zu glauben, "ein 
fittlicher Eutſchluß nöthig ift, weiß Jeder a Aa 

Theol. Sud. Jahrg. 1847. 





a“ Diele 


aber Daß das Waſſer feuchter und. daß bas Helle leuchtet 
— daß wir, das zu wiffen, ebenfalld einer fittlichen The 
bedürfen, das werten wir nicht. Daxan zu zwcifeln, 
märe Berrüdtkeit, fagt man, Ja gewiß, aber Berrädt: 





heit iſt, das wiederholen wir, Unglaube und Unfiti 


geit — mu dem Grade nad, nicht. der Urt nad vou 
Zweifel on Gatt und Freiheit unterfhieben, Wir mierien 
ed nur nicht, weine Herren, wie nahe au der Br 
bed Mahafund ber Meufch durchgängig ſteht, uk ha 
es ſtets nur ffttliche Arbeit ik, wodurch er vor Dem He: 
abgleiten in ben anfgeihanen, Abgrund ſich verwahrt. 
Jedes Sichgehenlaſſen in einfeitiger Verſtandesthätigleü 


iſt ein Schwindeln über dieſern Abgrunde. Nur dab 


Gott ſey Dank, bie ſittliche Thätigkeit durch Erziehen 
und Gewöhnung hei den Meiſten fo kräftig, ſo — Mt 
895 fie ſelbſt es willen — im Gange if, daß, in der Ver⸗ 
ſtandes abſtractias eine gewiſſe Grenze erafbaftgrmak 


zu übexſchreiten, ihnen wicht beikomt. ES iſt weie ait dae 


Thatigkeit unſeres leihlichen Organismzuch; der athuch, 
verdaut uud tranſpixixt, Gott ſey Dank, auch ohne dal 


wir es beabſichtigen. Über wenn wir ya leſen won bei 
Sophiften, daß Fr am her Bemagsing zmeifelten, ober jenl 
dergleichen, oder an deu Senfuglifen vor Kant, dei 
Ge die Geſetze vom Urſache una Wiakung für bloße Er 
fiudung exllärten: fo nehmen wir ad wicht Exuf dem, 
in new einfachen Bewußtſeyn: fie müßte ja, wenn es 
wit diefen Zweifeln ihnen Graf mar, wercüdt geweia 
fon. Und in ber That, foferu fie Dad wide waren, ſo⸗ 
fern ift ed ihnen auch unmäglich Eruſt damit geweſen 





Aber laffen Sie ums bedanken, ob es mit den Zwallı 


gu Gott und Unferblichkeit anders if. Es iſt fhon bir 
fig ausgesprochen worken, dag es doch im runde 


gentlidye Gottesleugner gar nicht gebe. Es fin 


Grüfte der Menfch die voͤllige Abſtraction nom den Ali 
chen daR Leben heherrfcheuben und in. ihm ſeldſt wider 





die Bebeutung ber bantiſchen Philofophie c. 909 


Willen und Wollen mebeitenden Mächten nicht vollziehen. 
Der Menſch muß frei ſeyn, ſelbſt wenn er ſelbſt fich füreine 
Maſchine serlärt.. Er mag noch fo fer die fittliche Ges 
wißheit verleugnen, das Gewiſſen ſpricht in ihm doch, 
Aber um fo gewiſſenkoſer iſt es auch, Gewiffen und Ge⸗ 
wißhet Uber die ſittlichen Wahrheiten als etwas fo dem 
Zweifet antyeim Gegedenes: darzuſtellen: gewiſſenloé, 
unſittlich — kurz nicht ein Irrthum des Verſtandes allein, 
ſondern ein Abirren, des Berflandes allerdings, aber ein 
Abirren und fi Losreißen von ber ſittlichen Gauzheit, 
als welche der Menſch ſich gu verhalten verpflichtet iR. 

DR wie nun, was wir hier und klar machen, von 
Kant geſagt, oder find ed Conſequenzen aus ihm, oder 
iſt es unfere eigne Auſchanung? Nun ich geftehe, daß, 
wäre ed hier daraufangefommen, das unvermifchte, reine 
kantiſche Syſtem barzuftelen, wir und Ausführungen er⸗ 
laubt haben, die folder Aufgabe nicht ganz entſprachen. 
Aber unfere Abſicht HE, die Bedeutung der Fantifchen Kris 
tie für Die neuere Theologie zu finden. Laſſen Sie und 
ſehen, was für dieſen Zweck aus dem bisher Erörterten 
fh gewinnen läßt. 

Die große Neuerung Kaut’d war, daß er das We⸗ 
fen dad mienfchlichen Dentend, Willens, Weberzeugtfeun® 
anders, als bie. dahin geſchah, auffaſſen lehrte. Anders 
a6 bis dahin, amd zwar von wo ab? Wenn wir da® 
Bewußeſeyn der Zeitgenoſſen fragen, fo wurde es damals 
ausgeſprochen, daß ein folder Umſchwung feit Ariſtoteles 
nicht: gefehen worden fey. Wir haben alfe die geſammte 
vorkantifche Philoſophie als ariftoreltfche, umd dem ent- 
gegen die kantiſche. Was if num ber Unterfchied? Er 
muß fih, wenn unfere bieherige Betrachtung bad Rechte 
traf, im Kurzem angeben laffen. 

De Menfch, ale mit dem Berfkande Dentender, hat 
nur Berfiandedformen, die die Sache wicht begreifen, 


und. Dem gegemüber die Welt ald unbegriffened und uns 
61* 


» 


MH ....r Dietlein. 


ergeiffenes Ding au ih. Der Menſch bat die Wahrheit, 
indem er ſich fittlih zum ihr verhält. So Kant. Und daß 
er diefen Berg mehr ats ein Gurtogat für die Bahr: 


heitserfenntniß, denn als. wirkliche Erkenntwig auffaßte, 


dieß rechnen wir dem Kantianidmnd nicht ala weſentlich 
zu, fondern fehen es als das noch nicht Kantiſqhe hai 
ihm an, worte wie kantiſcher ald Kant ſelbſt zu ſeyn, 
und für berechtigt halten. 

Darfiellen, als Thatſache das, was wir ale fit 
liche Derfönlichleit thatfüchlich erleben, barftellen — bat 
it, wenn die kantiſche Kritit das Rechte getroffen hat, 


die Aufgabe des denkenden Menfchen, nicht eis Auwer⸗ 
deu von Berftandesgefegen, die der Wenfcdy im Abſehen 


von feinen fittlichen Erlebniffen in fich findet, nicht ein 
ſolches Anwenden auf einen Stoff, ben vor biefer An 
wendung der Menſch der Erfahrung entnimmt. Ein fel: 
ches Anwenden war das Denken bis zur kantiſchen Kritil. 

Laffen Sie uns fehen, ob wie biefe VBehanptuns 
rechtfertigen können. 





Es hat in der Zeit gwifchen Ariſtoteles nnd Kan 


Glauben gegeben und Unglauben. Ja gewiß. Die Ent: 
ſtehung des Chriſtenthums, alfo auch die Eutfichung der 
chriſtlichen Glaubenslehre fühlt im diefe Zeit. Es harte 
kantiſchen Kritik weder bedburft, noch wäre es ihr mög 
lich geweien, der Welt die Wahrheit zu geben, ober and 


nur die Erkenntniß der Wahrheit. Und die Theologie 


bat auf Kant nicht gewartet, um die Wahrheit barje 
Rellen, die deu Menfchen in Ehrifto Gott vor Angen gr 
flelt hat, daß er durch die fittliche That des Blanbent 
ſich ihrer bemächtigen ſollte. 

Diefe fittlich erlebte Wahrheit in menſchlicher Net 
darzuftellen, haben Taufende geftrebt. Die Apoſtel fh. 
ven den Reigen, und zwar fie, die GSchriftfieher dei 
N. T., mit dem Bewußtfepyn, daß alle Kehre und Erfemt: 





niß nichts fey, als folche Darſtellung, alled Belehrtwer⸗ | 


bie Bedeutung ber kantiſchen Philofophie c. 911 


den nichts ald das Bewnßtwerben bed Belehrten über 
feine eigene innere Erlebniß, ein Bewußtwerden, das in 
ihm Die heilige Wahrheit ſelber dadurch, daß fie and 
ihn die Wahrheit erleben läßt, bewirkt. Ich glaube, das 
sum rede ich, die Rebe ift nur der Ausdruck des Glau⸗ 
beus. Die Rede, die Lehre, die Ausbildung des Glau⸗ 
bensinhaltes als Wiſſenſchaft ift nicht eine Thätigkeit, 
die neben dem fittlichen Verhalten des Menfchen nach ihr 
ren befondern Geſetzen vor fidh geht, fondern der Aus» 
den des fittlichen Verhaltens, weil ber Menſch es nicht 
laſſen kann, wie Stein und Karben und andere Stoffe, 
fo auch die Sprache zum Ausdrucke feines Innern zu 
machen. 

Nach den Apoſteln die Väter und Lehrer der Kirche; 
nicht aber mit gleich flarem Bewußtſeyn über das, was 
fie thaten,, über die Natur der Wiflenfchaft und dad Ber: 
haͤltniß der Wiſſenſchaft zum Willen. Glaube und Lehre 
wurde nicht mehr betrachtet als ſich zu einander verhals 
tend wie Inneres und Aeußeres, wie fittliche® Erleben 
und fittlihe Bethätigung, fondern der Glaube war ſchon 
auch ein Aeußeres, und darım ftellte ſich die Lehre das 
neben als ein zweites Aeußeres mit nod) einem befondern 
Inhalte. Es war nun die Theologie nicht mehr die Res 
henfchaft, die man vom Glauben gab, fondern eine an⸗ 
dere, eine, wie man meinte, höhere Korm, die der Glaube _ 
bei den Eriennenden hat, während er eine einfachere 
Form fon ale Glaube für die bloß Glanbenden hat. 
AS wäre nicht der Glaube, ſowie er in Rede übergeht, 
ſchon fofort Erkenntniß, und bier der einzige Unterfchied 
vielmehr nur in der mehr oder weniger künftlerifchen, 
ſyſtematiſchen Behandlung. Weil nun ein Anderes das 
Ausfprechen des Glaubens, ein Anderes das Erkennen 
ieyn follte, was wurde aus diefem fogenannten Erlen» 
nen? 

Scolaftit wurbe daraus. Was ift Scholaftif? Sie 


912 ae Dietlein 


nimmt ben Bögefpradenen Gitauben sımdb will un ned 


etwas Aparted daraus marken. Mine Erfeuutnig wil 
fe darans maden, bei der ed nur auf Erkeuntaiß au 
bemmt. Da operirt una ber abſtrahirende Verſtand wü 
Dingen, von denen er nichts verßcht. Im Grunde nun, 
das ſahen wir fchen, ift eine ſolche Abſtrartion gar nicht 
möglih: der Verſtand, fol ee überhaupt eimen Inhalt 
‚ haben, muß diefen aus dem vom Menſchen als fittlicer 
Ganzheit Ertebten entuchnen. Die Abſtraction beſteht 
nun nur Sarin, daß er einen beliebigen Theil nism 
and bad Uebrige hinauswirft. Bit jenen Stucke der Wahr 
heit hält er Haus; was brüber ift, das reducirt er auf 
fein kleines Maß, oder er verwirft ed. Das Rebucire 
nun beforgten die Scholaſtiker, dad Verwerfen beforgk 
der Unglaube. 

Reduction, Berdünuung, Anfrwäcdnng ift alle Ede 


laſtit. Der anfelmifcge Beweis J. B. für die Erik 


Gottes if nichts, als Daß der veige Inhalt des Gedar⸗ 
tend von Gott verdünnt wird zum Gedanken bes ale 
voltommenfien Weſens. Die aufelmifche Benugikaunge: 
lehre iR nichts, als daB Die Begriffe von Schuld au 
Strafe auf die von mangelnder Leiſtung und Erſatz je 
rückgeführt werben. 

Alles, um dem Verſtande ed bequem su machen. Abe 
der Verſtand kann ed nicht bequem genug haben, ihm if 
nicht wohl, ald wenn er ganz andgeweidet if. War ihr 
zuerſt der Begriff der Schöpfung gu geheimnißvoll, machte 
er die Welt zur Maſchine, fo wird ihm bald and ber 
Begriff des Werdens unbequem, dan der ber. Bewegung 
dann der der Qualität, dann des bes Seyns, fo daß er 
zuletzt am gar nichts glaubt, dem Sch gegenäber bie Weit 
nur noch als Nichtich hat. 

Aber wiederum, diefe allzu große Bequemlichkeit und 
Leere wird dem Berftande unbehaglich, unheimlich. 9a 
xathſamſten findet er es alſo, inconſequent zu ſeyn, für fein 


die Bedeutung ber kantiſchen Philofophie ꝛc. 913 


Mühle wenigſtens fo viel Kom zu behalten, daß doch 
die Muͤhlſteine fich nicht einander zerreiben. Da, ſtatt 
einzugeſtehen, daß er, fich ſelbſt Aberlaffen, weder Gott 
noch Welt hat, behält er vom - Blaubensinhalte, fo viel 
ihm dienlich fcheint (und zwar der eine mehr, der anbere 
weniger), milbert feine Antinomien fo weit, daB fie Dies 
fen Hausbedarf nicht angreifen, und proclamirt bie fü 
gemilderten als reine Vernunftgefeße, aus denen, wie 
er meint, jener Hausbedarf entnommen, nad) beiten, wie 
er meint, vas, was drüber hinandreicht, widerlegt fey. 
Diefe Selbfibelügung, meine Herren, Hi es, die dem 
abftrahirenden Berftande ed moͤglich Macht, die Wahrheit 
in den mannichfachiien Graben der Berbäunmg fellgus 
haltet und damit groß zu thun. Wäre er ehrlich, fo 
würde er eimfehen, daß das einzig confequente Syftem 
der fogenannten reinen Beraunft Die gänzliche Verzweif⸗ 
ung iſt. So aber find feiner Syſteme unendlich viele, 
Riyiliemms, Senſualismus, Deismus, was eben jeber 
wii. Denn stat. pro ratione voluntas, d.d. anf Deutſch: 
der Verſtand oder die fogendunte reine Vernunft, went 
fie von den fittlichen Erlebniſſen abſtrahiren wid, muß, 
weit fie dad im Grande nicht kann, an Stelle ber gans 
sen ſittlichen Wahrheit wenigftens vinen Theil, ein nadh 
Belieben und Bequemlichkeit abgebrochenes Gtikk ber 
Wahrheit feſthalten. | 
Bon biefer Gelbfideligung, wis kaun von ihr uns 
gründlich erlöfen, als die ehrliche Kritik der reinen Ver⸗ 
nunft, wie fle Kant geliefert hat? Ich hätte nun gern, 
wenn bie Zeit es erlaubte, gefchichtlich aufgegeigt, wie 
viel in der That das durch Kant geweckte Bewußtſeyn 
über das Verhälmi von abfiractem Denken Und Moralis 
Them Gtanden dazu beigetragen hat, daß der Menſch, 
Hart nach bequem zurecht gemachten Verſtandesgeſetzen 
die Wanrheit gu meiftern, fich der in Natur unb 
Geſchichte redenden Wahrheit gehorſam zu unterwerfen 


914 Dietlein 


und ihre Geſetze und Scheimnifie zu belaufchen, wieberum | 
lernte. Und zwar hat mit bem wiederlchrenden Gehe: 
fam die alte eingerwurgelte Willkür ſich zu den mannich⸗ 
fachſten Bizarrerien zufammengemifcht, Da fchoflen de 
Spfieme wie Pilze auf, da beeiferte man ſich wohl, wäh 
rend man früher in der Aufllärung und Oberfläcdlidteit 
fi nicht genugthun konnte, nun tieffinniger als die 
fchlichte Wahrheit, geheimnißvoller als die Offenbarung, 
katholiſcher ald die Lehre der evangelifchen Kirche zu feyı. 
Das find,aun die Aprilftürme, die dem Mai vorangehen. 
Mir werden dergleichen nicht befhönigen. Aber fern von 
und die Verdammung, fern auch bie zwar wicht ver 
bammende, aber doch in der Behaglichkeit bed Beſitzes 
ſich erhebende Undankbarkeit. Es wird jet Mobe, du 
Kämpfe in Philofophie, Poefle, Theologie und Leben, 
wie fie in jenen Jahrzehenten durchgefodhten find, ver 
nehm anzuſehen, als hätte ed deren nicht beburft, alö 
wäre neben biefer Entwidelung durch Zweifel zum Glas 
ben eine andere fietige nebenher gegangen, die für fid 
allein die alten Schätze uns zu erhalten hingereicht habe. 
Wenn aber dem fo wäre und zur Erhaltung bie alten 
Apologeten, Lilienthal, Cruſins, Sad und wie fie heißen, 
hingereicht hätten, fo rühmen wir uud doch jebt aud, 
uicht bloß das Alte zu haben, fondern das Alte im neuer 
Schönheit, und in eigenthämlicher Weife, nnd mit tiefe: 
rem Bewußtfepn, daß unfere Erkenntniß unferes eigen 
ften fittlihen Lebens und Erlebens Ausdrud ſey. 

Aber noch ein Wort, ein allgemeineres, über biefe 
Undankbarkeit. Wir fuchen eine gefchichtliche Perfönlid- 
keit, fey’d Denker, Dichter, Kriegsheld, oder font wer, 
in feiner gefchichtlichen Eigenthümlichkeit aufzufaflen, feine 
Bedeutung zu verfiehen. Die Frage aber, ob er für die 
gefchichtliche Entwidelung unentbehrlich war, oder od’ 
aud ohne ihn gegangen wäre, ift nicht nur eine altfinge 
die Sefchichte nach unzureichenden Kategorien meiſternde, 


die Bedeutung der Bantifchen Philoſophie c. 915 


fondern aud eine unziemliche, tactlofe. Man wird in 
guter Gefellfchaft an eine Jeden Eigenthümlichkeit fich er⸗ 
freuen. Wer aber beim Andeinandergehen überlegen 
wollte, ob wohl. biefer oder jener entbehrlich gewefen 
wäre, ob wohl ber Beitrag, dem biefer ober jener gab, 
nothwendig war ober auch anderweit fich hätte erfegen 
laſſen, der möge doch erſt fich felber. fragen, ob er wohl 
ſelbſt in Gottes Welt und ber Menfchen Befellfchaft ein 
nothwendiges oder emtbehrliched Moment fey. 

Meine Herren, es ift eine gute Geſellſchaft gewefen, 
bie, aus welcher wir Epigonen fommen, die Dhilofophen, 
Dichter, Theologen, Staatömäuner — und wen nenne 
ih noch Alles, die aus dem vorigen Jahrhundert in das 
unfrige hinüberführten, Wir gehen angeregt, fpät, aber 
nicht ermüdet, nadı Hanfe. Durch die nächtlichen Strar 
ben fchreiten wir. Schwärmende, überwachte Beifter bes 
gegnen nnd Überall, Nachtgefpenfter, die das Ausſchla⸗ 
gen der Mitternachtfiunde überhört haben. Wir laffen 
und nicht ſtören, Morgeniuft weht und an. Wir treten 
vord Thor, da fleht die Steruwarte, verwaift uud ſchwei⸗ 
gend. Wir fteigen hinan: ob's wohl von Morgen ſey? 
O die Bergfpigen röthen fi fhon, und wenn bie Thä⸗ 
ler noch fo fhwarz erfcheinen, fo iſt es nur, weil wir 
fhon mit dem fernen Lichtfireifen fie vergleichen können, 
Mer nun eine Lerche Reigen flieht, ber fage fie an; wer 
einen Gegenſtand fchärfer ſich abgrenzen flieht, Der mache 
darauf aufmerffam. Und wenn die Sonne kommt, fo 
fey, ihren Aufgang zu feiern, unter den Warten Deutſch⸗ 
lands die Albertina nicht bie lebte. 


2. 


Atteflamentliche Stellen und Stine, 
erflärt 
von 


D. 3. Ohr. & Hofmann, 
ordentlichem Preofeffor der Theoldgie gu Grlangen. 


Bf 19, 

„Der Malm fIngt das Lob Gotted ans der Nam 
und aus der Offenbarung.” Mit diefen Worten meist 
auch Hitzig noch die Einheit deſſelben ind Licht gefebt zu 
haben. Aber fo erhellt weder die Angemeſſenheit des 
Schluſſes, noch erflärt ſich die Unverbundenheit der Städt. 
Und wenn ed ſich um Gottes Lob aus der Dffenbarıy 
gehandelt hätte, fo würden bie Thaten Jehova's an fer 
nem Bone nit haben fehlen dürfen. Es ſpricht aber 
auch das erſte Steh nicht von der Herriihleit der Ru 
tar überhaupt, ſondern bloß vom Hinntelögewätbe. 8.2 
dat nämlich zwei Sudjecte, die uber Ber Sache nad eb 
nes find, eraein und pn. Auf das Teptere beziehen fie, 
wenn ich recht fehe, die VBerba von B.5., anf das erftere 
das Suffirunt von op in V. 4. Oder will man liebe 
bei der hergebrachten Kaffung des 3. Verſes bleiben, nad 
der ein Tag zum andern, eine Nacht zur andern fprit, 
während Doch, wenn die Unaufhörlichkeit dieſer Rebe te 
zeichnet werden follte, vielmehr der Tag zur Radht, die 
Racıt zum Tage fprechen muß? Ich nehme lieber cr 
ars und er für einen Ausdrud von der Form wie 
eb mp, und habe dann einen in den Zufammenhang leid» 
ter yaffenden Gedanken, dad Himmelsgewölbe Aröm 
Rede aud, ſpreche Erfenntnig aus von einem Tage jum 


altteftamentlice Stellen und Städe. 917 


ande, yon einer Macht gur andern, alfe ale Zeit Damit 
erfülend , kumbläfftg. SHengkienberg, welcher dad Rich⸗ 
tige Aber die folgenden Suffiva, wie überhanpt dad Rich⸗ 
tige Über den ganzen Pſalm fieht, fan Damit ben von 
ihm in gewöhnlicher Weiſe erBlärten 8. Vers wur gezwun⸗ 
gen, nämlich nur fo vereinbaren, daß er ſchreibt: „jene 
Suffau zeigen unwidereuflich, daB man Die Rede and 
die Ginficht, welche nach V. 5 Tag und Nat verfäns 
digen, aid ihnen von den Himmeln mitgetheilt druken 


muß” Daß ich dad Suffirum von dep auf mann ge 


rückbeziche, habe ich mit andern Auslegern gemein, aber 
nur erft, wenn B. 3. in der eben awgegebenen Weiſe ers 
Höre wird, bleibt feine andere Beziehung beffelben mehr 
möglich, man müßte fi) denn entfchließen können, wit 
de Weste zb zu ergänzen nad "ae je, und dann jenes 
Saffirnm auf or uud ara gu deuten. Ich wüßte nicht, 
welche andere Ueberſetzung des 4. Verſes fich Fprachiich 
rechtfertigen Iieße und zugleich einen paffenden Sinn gäbe, 
ald diefe: „es gefchicht Seine Rede, es geſchehen Feine 
Worte, ohne daß fein,. des Himmels, Ruf gehört würde,” 
Wie (onf ein Partickpialfag mit 7 angefügt wird, wenn 
geiagt werden fol, das Erſte geichehe, während das An» 
dere; fo wirb Hier einer angefügt mit der Negation "5a 
vergleichbar mit Sen. 43,3., um zu fagen, das Erſte ge 
fchehe wicht, wo nicht Das Andere Alfo Allee, was fonft 
gefprodyen werben mag, wird begleitet and überbanert. 
von jewem Rufe des Himmels, welcher Gottes Herrlich 
keit verfünber, Und zwar erfiredt fi folder Ruf über 
Die ganze Erde und bis an das Ende derfeiben, wie B.5, 
fagt; und der Känfer, welcher feine Bahn durchmißt mit 
der Freudigkeit eines Bräutigams und mit der Kraft eis 
ned Kriegshelden, und defien Wirkung nichts entzogen 
bleibt, er hat feine Stelle am Himmel, gehört zu ihm 
und Hilft ihm Gottes Herrlichkeit über bie Erde hin-ver- 
kündigen. Dan muß 2, wo es vom Himmel gebraucht 


918 Hofmann 


if, in keiner auberen Bedeutung nehmen, als bie cö 
ſonſt hat, fonbern vergleiche dieſes np wrr mit bem mn 
mp Ser.31,39.: es gibt feinen Theil der Erde, über ben 
nicht ded Himmeld Mepfchunr gezogen wäre, und ihre 
entlegenfien Enden ſtehen unter des Himmels Befehl, 
Den auszurichten die Sonne ihren Weg läuft. Die Wert: 
ey In og Wonb hat man mit der Stelle Hab. 3, 11, ver⸗ 
glichen und dennoch dabei an den Sonnenuntergang ge 
dacht, während doch an jener Stelle Dar der Drt if, 
wo Gonne oder Mend ſich gerade befinden. Kengfex 
berg's Auffaſſang beider Worter, ıp und Ir, trifft mi 
ber meinigen zuſammen. 

Nach diefer Erklärung der erſten Hälfte des Pfalmi 
kann man nicht fagen, daß fle Gottes Lob and ber Ru 
tur finge, fondern fie fchilbert, wie der Himmel faumt 
der zu ibm gehörigen Sonne die ganze Erbe überall und 
allezeit mit feiner Verfündigung Gottes und göttliher 
Ehre umfpanne Folgt nun hierauf plötzlich und ohm 
allen Uebergang eine Schilderung der Ordnungen Sehe 
va's, deren fich Iſrael erfreute, wie dieſelben allem Be 
bürfnifie bed Menfchen genügen und zwar mit imma 
bleibendem Beſtande: fo wirb dadurch ber Leſer weran 
laßt, eine Bergleichung anzuſtellen zroifchen dem Himmel 
und dem Geſetze Iſrael's, wie von jenem bie Erde, von 
diefem des Menfchen Leben, beide Mal unter Verkündi⸗ 
gung des Lobes Jehova's, ihres Schöpfere, umnfchlofen 
gehalten werde. Und dieſes dem Himmel und fein 
Sosne vergleichbare Geſetz befeunt dann der Gänge 
auch zu feiner Erleuchtung gu befiten, uud muß ded 
zugleich befennen,, daß er öfter dagegen fündige, ale tt 
ſelbſt wiſſe. Aber der fich den Himmel zum Redner fe 
ner Herrlichkeit gemacht und bed Geſetzes köſtliche Pre 
digt gegeben hat, wird fih doch auch dad Wort de 
Sängers zu ihm gefallen laffen, der von ſich nur Günde 
und Schmadheit gu. fagen weiß. Wenn Hengſtenderßz 
V. 2—7. eine Einleitung nennt, welche den Zwed habt 








altteftamentliche Stellen und Stüde. 919 


an bie Gottheit Jehova's zu erinnern, fo fann ich ihm 
hierin ſchon deßhalb nicht Recht geben, weil dann auch 
in jenen Berfen der Rome mim wit TIERE getrancht 
ſeyn müßte, 


Ueber Pf. 29. 

Man muß fi doch verwandern, daß de Wette von 
einem erhabenen Oymuns auf Jehova, wie er den 29. Pſalm 
nennt, feinen andern Inhalt anzugeben hat, als bieſen: 
„Aufruf an die Engel, Jehova zu preifen; Schilderung 
der Macht und Mafeltit Jehova's ale Domergottes; 
dabei if} er Regent und Schntzgott feines Volke.” Und 
Ewald ficht in demfelben num gar wieder nur bie Schil⸗ 
derung eines Karten Bewitterd, welches der Dichter ers 
lebt hatte. If denn nicht das Allermeifte, was ber Pfalız 
von nm Dip ausſagt, dem Donner fchlechterbinge fremd? 
wie mar bean auch Blig und Erdbeben zu Hülfe nehmen 
und deren Wirkungen in die des Donners eintragen maß, 
am die einmal über den Yuhalt des Pſalms gefaßte Mei⸗ 
nung durchzuführen. Daß rhm Dip ein weiterer Begriff 
it und alle vernehmbare Kundgebung Jehova's in der 
Ratur bezeichnen kann, erficht mau aus Amod 1,2, wo 
der Donner bed Erbbebend fo heißt. Erſt fo begreift 
man, baß berfelbe mim Sp, welcher Über den Waffern 
droben .zuai Donner wird, auch Gedern zerbricht, WBäl. 
der entblößt, euer bebaut, Berge hüpfen und Wüſten 
freifen macht. Wo Jehova redet, da iſt rm. p: er 
fpriche aber im Sturmwind und im Toſen des Erdbe⸗ 
bens fo ‚gut, wie im Donner ded Gewitters. Und nun bes 
merke man den Fortgang des Gedanken im Pſalme. Jehova 
iſt es, fo beginnt er, dem alle Geiſter, alle Bötter dienen, 
Jehova iſt es, fo fleigt er erbewärts nieder, deffen Ruf 
man hört droben über den Waſſern, wenn es donnert, 
Und ſtark mie prächtig ergeht Fein Ruf. Wenn Gebern 
im Gturme brechen, die Gedern Libanon’d —, denn deſſen 
Hanpt ik ja dem Himmel am nädften — fo ed Je⸗ 


920 Goſnann 

hopas Nuf, der folches thut: ja Hbanem umd Sirien 
fehl hanfen empor, weas dieſe Stimme fie erſchüttert. 
mb wie der ſtarke Cederuhanm und das ſeſte Gebirge, 
fo erfährt auch das unbildfame Feuer die Macht dei 
Rufes Jehova's, der, wie ein Gedernbrecher, fo ein 
Flammenbehauer if. Denn bie Bedeutung „zerhauen,” 
welche man für zurı bier augeaommen hat, Haßk Beh we: 
der erweiſen, nach bedaef man ihrer: daß wer Muf Se 
hava a im Sturmwinde den mild auflodernden Plane 
Richtung: und Geſtalt anfnothigt, einem Sunfi lar verglei⸗ 
ber, weideer Holz und. Stein behant und ie VBeſalteag 
bringt, des iſt, daͤchte ich, ein augemeſſenet md sanmentı 
lich auch dieſem Zuſammenhange augenteſſener Bebastı 
In dem, wad hiesauf feige, hat nım Cwald Bas Ber- 
daltuiß des Porkicipielfages: Tray ak. ihn Ybarrızı gu den 
vorhergehenden Berbid. uiid. beadrtet, aber- auch ned 
ahne Midficht darauf, daß biefe alle im zweiten Modes 
(chen. Ride Indfegen won Thalfachen, ſondern von 
mögsihen Hüllen haben wir im diefen Berfen Der ii 
Jehoua's neg winken, daß Die. Wäfte fi im: reife be 
wegti,. wide erzitternd, fondern vom Wirbeliwiube umge 
wählt. baß-aifo das Tohtekein Schmergbewegemg Tom, 
wie, menu es gebären wollte — oder welche WBäfte wäre 
toater, ale die von, Kades? — er mag wirken, daß ba} 
ftachtige Thier, die Hindi, das. ſonſt dem Gchreden ſe 
gut zu entrinnen weiß, Kill halten muß var Mieugk und 
wer her Zeit gebiert, ober. daß ben dichte Walb, fo voll 
lebendigſtat Graus, kahl wird und stadt, entdioͤßt won 
feinen belaubten Aromen: bei allem dem hört man ine: 
bona’d himmslifcher Prachtwohnung nichts Anderes, ald 
Tan: mad Iegend droben iſt in Heiligthewe Han furict 
nur ap. Diefe Schrecktifſe hier unten find Dreben law 
tere: Ehre. Gotted, Und wie. in allem dem der außen 
menfchlidren Welt, fo: baweiſt füch. ychove auch dem Men⸗ 
ſchengeſchlechte. Br bat ſfich demſelben bewieſen in der 
gunßen Sluth, die "allein ben. Ramm kemrı. führt, med 











altteflamentliche hellen und Stüäde VER 


bat fich damals in den Himmel geſetzt, als Sönig über 
es hier unten gu herrfihen. Seinem Polke aber wird 
er Stärke geben, fein Bolt wird er fegnen mis Heil und 
Srieden. Er wisd diaß thun, 7m, mar: mit diefer Hoffe 
nung fihließt der Palm. 

Jehova it der Geiſter angebeteter Hewr, der körper· 
lichen Schöpfung almächtiger Beweger, des WMenichen- 
geſchlechts Gebieter und Richter, feinem -Baife aber wirb 
ex sin, Segenſpender ſeyn. Je größer der Gegenſatz er⸗ 
ſcheiat, in welchem ſolche Hoffnung zu den vorhergegan⸗ 
genen Ausſegen ſteht, Sehe bewuuberungsmürdiger er 
ſcheit fie and, zu deſte aubetun gsvollerem Danke for 
dest fie auf. 


Pf. 36,2 — 3. | 


Panzer zieht an zux Ueberſchrift des Pſalms und lief 
5 Ratt aa, wonuuch dem fo weräuderten Barfe nur Der laexe 
Gab bieibs, hab der Gouteſe gottlos ik. -Emald ſchreibt 
auch ab und haſßtt zwar am hei. Diefem Bexfe, trennt 
aber in Widerſurnche mit Dan Aecentes sinb vom Saarza, 
wodurch deu feltiame Bebaufe autſteht, der Gottloſe habe 
ein Orakel, oden vislmahr einen Oxalelſpauch, der Sünhbe 
in ſeigem Degen, Garz ebenfo hat-Kuapy hie Mount« 
gelefen und gefaßt, und if aud in. Deufeiben Irrthum 
gefalleg wie Ewald, ald ob fich jener Bedankte wis dem 
andern, frailich auch ganz inhalisleſen, vertauſchan laſſe, 
daß des Gettloſen Hert ein Sitz des Laſters fen, wah⸗ 
rend bo Wedy immer nur ein eingelmer Ausſpruch 
ſeyn kanc, licherfegt man, auch noch gagen Die Accente: 
„Der Gottloßgkeit Auſſuruch au ben Fresler,- one, in Gin⸗ 
Hang mit. don Yeranten: „Ausſpruch der: Gottloſigkeit des 
Freylersꝰ: fo folgt kain folcher Ansſpruch, fondern viel⸗ 
mehr eine Ausſaege des Sängers über den Gotaloſen 
Warum folite man nun die Warse nick verfichen dürfen, 
wie der zweite Theil bed Verſes fie felbi erllart? m 


922 oMofmann 


sun iſt eine Verbindaug wie Nah. 1,1, muımwn. So nimm 
ed denn auch de Wette und faſt fo Hitzig. Allein inden 
Bann: beide die zweite Berähälfte wiedergeben: „Kurdt 
Gottes If nicht vor feinen Augen,” fo haben fie nu 
wieder jenen inhaltsleeren Satz won ber Gottloſlgkeit dei 
Sottlofen. Man fagt aber auch von der Gottesfurcht 
nimmermehr, daß fie Jemand feinen Augen gegenüber 
habe, fondern Tr> -n» beutet auf etwas, bad ber Bolt: 
loſe fi gegenüber, alfo anßer .fich fehen ſollte oder 
fünnte, aber nicht flieht oder nicht zu fehen befomm. 
Und von etwas Solchem haubelt der Ausſpruch, jobalt 
man nur Sri ra fo nimmt, wie Jeſ. 2,10. Dam m 
gibt fich der doppelte Gewinn, baß der Dichter etwat 
fagt, was der Mühe werth iſt gefagt zu werden, näm 
lich wie der Ungerechte in feiner Abfälligkeit verbleibe, 
weil ihm nie ein Schreden Gottes vor Angen trete, mi 
zweitens, daß ih der bejahende: Satz des dritten Berfei 
ungegwurigen an ben verneinenden anſchließt, weichen wir 
eben gefunden, eingeleitet durch die Beiahungspartite, 
weiche wir nach deu Verneinung mit „ſondern“ Rberieden, 
und nicht wie be Wette mit „dem. IA num der zweit 
Vers des Inhalts, wie ich ihn angegeden, fo wird mar 
im dritten eine Ausfage von dem Gottloſen, fondern 
von Bott erwarten, ber ihm feinen Schrecken nit 
erfahren gibt, fondern ſich anders gegen ihn begeigt. 
Wir braunen alfo weder phrm imperfomaliter zu neh 
men: „es ſchmeichelt thin,” wie Ewald, noch rim reflerivt: 
„er ſchmeicheit fich,” wie Rofenmäller ober de Bett 
noch und nie einem fo ungereimten Gedanken zw begir 
gen, wie Knapp, als ſchmeichle der Uugerechte dem Gette, 
ben er Body weder: ehrt, als ein Mbewimniger, noch and 
fürchtet, Gegen bie zuletzt erwähnte Auslegung fpri! 
auch noch dieß, daß bei ihr das Sufſttum won rı72 anf 
Bett gehe foll; und nicht; wie man’ nach dem gegenſeb⸗ 
lichen Berhältatffe. ber beiden Verſe erwarten follte, gleich 


altteflamentliche Stellen und Stüde.. 923 


dem Yon va 2b, auf den Ungerechten. ben fo wenig 
folte man erwarten, baß bie Suffira von Tr und Tor7 
auf verfchiedene Subjecte gehen, wir beziehen alfo beide 
anf den Ungerechten, während Gott Subject if von 
om. Dann erhalten wir einen gu vyy mas rd Ten 
dem entfprechendften Gegenfag ausmachenden Gedanten; 
daß Gott, fo viel ber Ungerechte flieht, nicht die rauhe, 
Ihredende, ſondern die glatte Seite gegen ihm herauskehrt. 
Denn geradezu „fchmeicheln” heißt prorm niemals, es ſtehe 
uun db dabei ober nicht, fendern „glatt. ſeyn Laffen” 
oder „glatt thun? paßt Überall beffer, nicht dloß Pf. 5,10 

wo auch de Wette der Meinung il. Rachdem ſich * 
fo der weſentliche Juhalt beider Verſe ſchon herausge⸗ 
ſtelt hat, ſo ſind wir auch in der Erklärung der noch 
übrigen Worte nicht mehr fo vielen Möglichkeiten über, 
loffen: Niemand wird jet in dem folgenden Abſichts⸗ 
lage etwas von dem Ungerechten Beabſichtigtes zu lefen 
erwarten, fondern vielmehr, was Bott bei fo auffallendem 
Dezeigen im Sinne habe. Finden will er, fo lautet des 
Dichterd Ausfpruch, die ‚Berberbtheit des Ungerechten 
xeb, Da dieſer Infinitiv kein Suffieum bat, fo wird er 
nicht einen Gab für fich bilden, fondern mit dem Sub⸗ 
Rantionm zufammengehören, welches ihm zum Objecte 
dient, ab yır iſt Untugend, die man haffen mu. Hier 
aber, wo > ſchon als Object einem Sage angehört, hat 
man es vor n30b in @edanfen zu wieberhelen, ähnlich je⸗ 
nem miersrm, „was ift das zu Thuende ? Jehova will, 
wenn er ausgeht, nach der Berberbuiß des Ungerechten 
zu fehen, dieſelbe fo finden, daß er fie haffen mnf. Der- 
weilen fährt diefer fort, feinen böfen Weg zu wasbeln. 
Aber ber Fromme wird darum nicht irre, fondern kennt 
Jehova's Gerechtigkeit gewiß, und wenn er bann betet, 
daß des Bottlofen Hand ihn nicht ins Elend treibe, fiehe! 
fo ift es ſchon gefchehen: enp "bar an rl zus Yoyb Sony um. 

Theol, Sud, Jahrg. 1847, 62. 


924 GHefmann 
Bf. 62, 7. 

Die Worte gro ira umurım faßt man inögemein fo, 
daß ey von ya ober doch von a abhängt, ‚mau 
mag nun darunter bie Hermoniter verftchen, ıwie Knapp, 
ger, wie bie Neueren, den Hermon. va m iſt 
dann entweder Appofition zu sure, wenn man es Aber: 
fegt „Berg der Kleinheit,“ ober Name eines andern un 
befaunten Berge, weun man an für einen Eigennamm 
anfieht. Die letztere Annahme bleibt immer bedentlid 
und eine Auskunft der Roth, die erfiere aber Iäßt den 
Dichter etwad Ungereimtes fagen. Yührt nicht Die Ehen 
mäßigteit der beiden Satzglieder: jıy aa "Tu un 
re ra woran auf eine andere Erflärung? Wird nid! 
viren parallel fichen mit Jehova, auf welchen das Gaff- 
zum bed Berbumd geht? Da meine Seele fo unruhig if, fen 


der Dichter, fo will ich, um fie. gur Ruhe zu bringen, aa 


dich gedenfen, o Jehova, won Sorbanlande aus, wo id 
fo ferne bin von Jernuſalem mund. deinem Heiligthurt, 
will an den gipfeldeichen Hermon denken, das hohe Gr 
birge, non einem Berge ber Kleinheit aus, auf dem id 
wich befinde. Er vergleicht Jehova, den gewaltigen Be 
ſchüger, bei dem man ficher if vor allem Aulanfe, mi 
dem mächtigen, hohen Dermon, weichen er eben deßhalb 
pluraliſch beneunt, nud vergleicht feine gegemmärtige Bag 
mit dem Stanbde auf kleiner Höhe, wo man gegen an 
ſtürmende Ziuthen, zu deren Erwähnung er eben vor 
‚ hier aus übergeleitet wird, nur fchlechte Sicherheit fie 
det. Ich bemerkte noch, daß es mir leineswegs nöthis 
fcheint, NyR aus dem 1. Berfe weg in Vers 6. hiaäbe 
zuziehen und a u niymen au lefen. Der Didem 
fchließt Die erfle Strophe feines Liedes mit ber Hoffanug, 
daß er Bott, nämlich bie von Gottes Autlitz ausgehen 
den Thaten dei Heild naoch wieder zu yreifen habs 
werde. Biber er muß Gost auch als feinen Bon erken⸗ 
nen und anrufen, muß auch gewiß werden, daß ihm 


altteſtamentliche Stellen und Stuͤcke. 925 


Heil und Hflfe fommen fol. Daber hebt er wieder au 
mit dem Nufe mie, und führt fein Lieb bis fo weit, Daß 
er mit ben Worten any m rar min Ti fchließen 
kann. Denn Pf. 43. gehört gewiß nicht mit Pf. 42. zur 
fammen. Ich denke dein, drum ift meine Seele nuruhig — 
meine Seele ift uuruhig, drum denke ich bein: dieß find 
die beiden Wendimgen, in welchen fick ber Pfalm abs 
fchließt und vollendet, ohne eime dritte zu erfordern 
oder and) nur zu vertragen. 


Ueber Pf. 49. 

ie Maurer zu Pf. 42, 6. bemerkt: „certo oertius le- 
gendum est rhaı u nimmer,” fo Ewald zu Pf. 49, 18.: 
„unftreitig it nach 8.21. Par gu verbeffern.” Ich kann 
dieſes fo wenig glauben wie jened. Ewald meint, der 
Kernſpruch des Pſalms müfle beide Wale gleich lauten, 
Aber gerade darin, daß er beide Male werfihieben lautet, 
liegt der Kertfchritt des Gedankens. a buab run, mit 
Diefen Worten Teiter der Sänger feinen ran ein uub 
will damit gewiß etwas Anderes fagen, ald baß er, wie 
De Wette ſich ausbrädt, dem Liede laufchen wolle, weis 
ches ihm in der Seele liege. Jener buy Bann nicht in ihm 
felbR liegen, fondern muß fih ihm von auderwärts her 
zu vernehmen geben. Ein fliegended Wort, einen ger 
meinen Spruch greift er auf, fein eigenes Kuufwort, 
feine rm daran zu fchließen, Der Sin lantet wie V. 13., 
Die daraud gewonnene rn wie V. 21. Die gemeine 
Rede begnägt ſich mit der Andfage, daß der Menſch feis 
nes Bleidens nicht hat in den Derrlichleiten dieſes Le- 
bend, daß er daven muß nicht befier ala das Vieh, ber 
Weiſe aber wandelt diefen Spench in den andern, Daß 
ein Menſch, der die Herriichleiten dieſes Lebens, aber wicht 
den rechten Berftand des Lebens befigt, ein Ende Himmt, 
nicht beffer als das Vieh. Daher fehen wir auch in den er» 
ſten acht Berfen des Geſangs, Die Einleitung (B.2-— 5) ab⸗ 

62 * 


® 


924 Hefmann 
Bf. 42, 7 

Die Worte yz2 "ra num foßt man inögeweis fo, 
daß rrtann von yrum oder doch ven a abhängt, ‚mas 
mag nun darunter bie Dermoniter verfkehen, wie Kuapp, 
sder, wie bie Neneren, den Herman. we m 
dann entweber Appofition zu curam, menu man ed Aber: 
fegt „Berg der Kleinheit,“ ober Name eines andern um 
befaunten Berge, wegn man "un für einen Cigennamm 
anfiebt. Die letztere Annahme bleibt immer bebeafüd 
and eine Auskunft der Roth, die erfiere aber läußt de 
Dichter etwa Ungereintes ſagen. Führt nicht bie Ehe 
mäßigfeit der beiden Gabglieder: Try ya Tue u 
ya mm vounm auf eine andere Erflärung? Wird nid! 
woran parallel Rehen mit Ichova, auf welchen das Gaff- 
zum bed Berbumdgeht? Da meine Seele fo nurubig if, ſey 


der Dichten, fo wii ich, um fie gur Ruhe zu bringen, a 


dich gebenfen, o Jehova, wom Serbanlande aus, weh 


fe ferne bin vor Jernſalem und deinem — 
will an den gipfelteichen Hermon denken, das hehe Ge 

birge, non einem Berge der Kleinheit and, auf bem id 
mich befinde. Er vergleicht Jehova, den gewaltigen ve 
ſchützer, bei dem man ſicher iſt vor allem Aulaufe, mu 

dem mächtigen, hoben Hermon, weichen er eben beßhel⸗ 
pluraliſch beneunt, und vergleicht feine gegemmmikrtige dagı 
wit dem Stande auf lleiner Höhe, wo man gegen eu 
Rürmende Fluthen, zu deren Erwähnung er eben vos 
„ bier aus übergeleitet wieb, nur ſchlechte Gicherheit fir 
bet. Sich bemerke noch, daß es mir keineswegs nöthl 
ſcheint, iR aus dem 7. Berfe weg in Vers 6. hinkbe: 
zuziehen und ben m nimm gu leſen. Der Diäten 
fchließt Die erfie Strophe feines Liedes mit der Hoffeuet 
daß er Bott, namlich Die von Gottes Autlig audgeher 
den Thaten bed Heils ned, wieder zu yreifen hab 
werde. Aber er muß Gott auch als feinen ort eri 
nen und anrufen, muß andy gewiß werben, baf ih 


altteftamentlihe Stellen und Städ. 925 


Heil und Hulfe kommen fol. Daher hebt er wieber au 
mit dem Rufe de, und führt fein Lieb bis fo weit, daß 
er mit ben Worten Ton m ram ae 19 fchließen 
kann. Denn 9f. 43, gehört gewiß nicht mit Pf. 42. zus 
fammen, Ich denke dein, drum ift meine Seele unruhig — 
meine Seele ift unruhig, drum denke ich bein: dieß find 
die beiden Wendungen, in welchen fig ber Palm abs 
fchließt und vollendet, ohne eime britte zu erforbern 
oder auch nur zu vertragen. 


Ueber Pf. 49. 

le Maurer zu Pſ. 42, 6. bemerkt: „certo certius le- 
gendum est rbaı m niyen,” fo Ewald zu Pf. 49, 18.: 
„anftreitig iſt nach 8.21. 722 zu verbeffern” Ich Tann 
Diefes fo wenig glanben wie jened. Ewald meint,: ber. 
Kernſpruch ded Pſalms mäfe beibe Male gleich lauten. 
Aber gerade barin, daß er beide Male verfchieben lautet, 
Kiegt der Fortſchritt des Gedankens. rn Tejaa ram, wit 
Diefen Worten Leiter der Sänger feinen ran ein ud 
will damit gewiß etwas Anderes fagen, ale daß er, wie 
De Wette ſich ausdrückt, dem Liebe laufchen wolle, weils 
ches ihn in der Seele liege. Jener win kann nicht in ihm 
felbR liegen, fondern muß fi ihm von auberwärt6 her 
zu vernehmen geben. @in fllegendes Wort, einen ger 
seinen Spruch greift er auf, fein eigenes Kunſtwort, 
feine mer daran zu fehließen. Der >un lantet wie V. 18., 
Die daraus gewonnene rn wie ®. 21. Die gemeine 
Rede begnägt fich mit der Ansfage, daß der Menfch feis 
nes Bleibens nicht hat in den Herrlichkeiten dieſes Le⸗ 
bens, daß er davon muß nicht beſſer als das Vieh, der 
Weiſe aber wandelt biefen Spruch in den andern, daß 
ein Menſch, der die Herrlichleiten dieſes kLebens, aber wicht 
Den rechten Verſtand des Lebens befigt, ein Ende Wimwt, 
nicht beffer als dad Bieh. Daher fehen wir auch in ben er⸗ 
fien acht Berfen des Geſangs, die Einleitung (B.2-—- 8) a b⸗ 

62 + 


926 Hofmann 


gerechnet, nur den Satz ausgeführt, daß Sterben das kood 
Aller ſey und Reichthum nicht davor bewahre, dagegen 
in den andern acht Verſen der Unterſchied heramdtriti 
zwifchen bem Tode derer, welche göttlichen Verſtand hu 
ben, nnd bem Tode derer, welche ihn nicht haben. „Died 
if,” beginnt der Pſalmiſt, nachdem er den Sprud 8.13. 
mitgetheilt, „bießift der Weg derer, welche Zuverſicht ha 
ben, und an deren Weife man Gefallen bat hinter ihnen 
drein: wie eine Schafheerde bringt man fie ind Todten⸗ 
reich, der Tod weidet fie, und am Morgen find Redige 
finnte ihre Gebieter worden, ihr Bild aber, bei der Ber. 
nichtung des Todtenreiche hat ed feine Wohnung mehr”. 

Ich mache bier aus pab nicht „balb” ober „im Bälde,” 


wie.de Wette, Hitzig, Ewald: denn die Heerde bringt 


man in den Pferch, die Nacht darin zuzubringen; ſo 
fragt es ſich alſo, was mit jenen gefchieht, wenn be 
Morgen anbricht. Alsdann wirb der Pferd abgebror 
chen, die Todtenbehaufung hat ein Ende. Das 5 in mE 
Yırıd ebenfo zu nehmen, wie das in „pab ober wie is 


der Nedeusart „pa nimb, wird feine Schwierigkeit haben 


und ſo ift bei meiner Auffaffung regelrecht gebraudt, 
wie Hiob 11, 15.5 21, 0.; Prov. 20,3. Wenn nun alſo 


jenes das Geſchick des Thoren if, daß’feine Geſtalt keine 


Wohnung mehr hat, fobald die für ihn nur zum Pferd 


dienende Todtenbehanfung vernichtet wird: fo weiß de 


gegen der Pſalmiſt, daß Gott feine Seele aus biefer zu 





fich nehmen: wird. Und wer ihm gleich gefinnt iR, da 


ruft er zu: „Db- der Reiche feine Seele fegnet bei feinen 
Lebzeiten, fo wird man dich preifen, bag du bie Gute 
ſchaffeſt; fie kommt zur Wohnung feiner Väter, für im 
mer werden fie das Licht nicht ſehen.“ Mit welchen 
Nechte überſetzt Hitzig im 20. Berfe: „du wirft fommes 
zum Geſchlechte ‚deiner Väter,” ohne anzumerken, daß er 
priax. lefen wolle Ratt max? Ewald nimmt nod wei 
tere Benderungen in biefem Pſalme vor, indem er im & 


2 


altteftamentliche Stellen und Stuͤcke. 927 


Berfe me flatt rm und mer flate men, im 12, aber nad 
dent Borgange Anderer ar=p flatt ann gelefen willen wid. 
Letzteres erfcheint unnöthig nach Bergleichung von Pf. 5,10: 
ein Gegenfaß zu B. 13. wird erforbert, gerade wie ihn 
der Text bietet, nämlich, daß ed Menſchen gibt, welche 
feinen andern Inhalt ihres geifligen Lebens haben, ‘als 
ihre DHänfer, welche fie für die Ewigkeit bauen, und thre 
Ländereien, welche nach ihnen benannt werben, während 
body kein Menfch in biefen Herrlichkeiten feines Bleibens 
bat, fonbern alle davon müflen, gleich dem Viehe. Die 
Aenderung im 8. Verſe hat befiern Schein, aber doch 
auch nur träglicken , indem der Pfalmift fagen will, er 
babe feinen Grund zur Furcht, wenn Solche, die auf ih» 
ven Reichthum trogen, ihm feind feyen: zu dem, wor⸗ 
auf ed dem Menfchen allein ankomme, zur Erlöfung aus 
ded Todes Macht würden fie ihm mit ihrem Reichthume 
doch nicht heifen können, fie felb aber müſſen trog dem⸗ 
felben des Todes Beute werden, und gehen leer aus, 
wenn Gott den Gerechten aus ber Tobtenbehaufung gu 
fih nimmt. 


Bu Pf. 73, 


B, 1. Den Gccenten angemeflener, ald die herge⸗ 
brachte lieberfeßung, wäre bie Verbindung von >anty 
erdn zu dem einen Begriffe, der ſich Gal. 6, 16. findet, 
6 Iogadk zod.Bs0Ö5. Und auch ber Gedanke des Berfes 
gewänue dabei. Denn der mit bemfelben beginnende 
Pſalm will ja nicht aufzeigen, daß Bott eitel Bäte if 
gegen Iſrael, fondern daB es NRiemanden in Wahrheit 
wohl ergeht, als allein denen, welche reined Herzens 
find und demnach den gottgefälligen Theil Iſrael's aude 
machen, 

B.4 Daß > jemals geradezu „biö” heiße, glaube 
ih, in meinem Buche über Weiffagung und Erfüllung 
di. S. 226.) widerlegt zu haben. Man kann alfo Tr 


- 


926 Hofmtam 


eneb nmyrı nicht mit be Wette umb Maurer überfehen 
„tie haben feine Schmerzen bid an ihren Tob.” Die 
ſprachlich leichtefte Erklärung aber, der Hibig folgt: „ihr 
Tod det Beine Schmergen,” gibt eben fo wenig einen paſ⸗ 
fenben Sim, als bie andere, ſchen etwad gezwungenere: 
„fte haben keine Schmergen, daß fie Aärden’”’; denn Bei: 
des fagt viel zu wenig, da ed andere Leiden geung gibt 
außer Beuen, welche mau im Sterben erfährt, ober denen, 
welche den Tod bringen. Aber muß man denn mir 
wit „Grhmergen’”’ überfehen, und nicht vielmehr wie 
Jeſ. 58, 6., wo es „Bande” heiptY man riszyı find bir 
Bande, weiche der Lob um ben wirft, welchen er zu fe 
nem Gefangenen machen will. Irgend wann werben na 
freidich jene auch bed Todes Gefangene, aber noch fiad 
Beine Anſtalten dazu getroffen; Bande bes Tobes, da 
fie ſterben werden, find noch nicht ausgeworfen. So be 
dürfen wir der Aendernag in cr wb nicht, welche Ewald 
vorfchlägt, und welche ohnehin dieß gegen fidh hat, daj 
un niemals fü gebraucht vorkommt, wie es bier in der 
Berbindung xx)Jꝛa an der Fall feyn würde. 

V. T. Die Verbindung as wer ift immer hart, nad 
zu fchreiben we ift gewagt. Den Sinn des letzteres 
haben -wir, wenn wir our aus bem vorigen Verſe für 
Subject von wgr nehmen. Der Frevelmuth, der wie ea 
ſdattlich machendes Gewand um ihn liegt, bringt ihm zw 
gleich aus feinem Innern durch Die fettuwfchweilruen 


Augen hervor. .ayb rim ray verſtehen wir dauı am 


ter Bergleichung der Stelle Pf. 17, 3. von ben wide wer 
bovgen bleibenden, fonbern durch Auge und Mund über 
Beunmwenben Szerzensgebilden, womit ein paflenber Lieber 
gang zum mächken Berfe gegeben iſt. 

V. 10. Mit welchem Rechte nimmt man na fad 
ſtautiviſch? Wie ma (1 Kön. 8,2.) ein immer fleßender, 
ſo if du, was in foldyer Verbindung wohl anging, ei 
voller Bad, Dann führt man natürlich zuur wicht anf 


altteflamentlide Stellen und Stuͤcke. 929 


nzu zurick, ſondern auf no, Die Leute wenben ſich, 
son den gefchilderten hockfahrenben Reden angeledt, zu 
dDiefen bin, und finden fi nicht getänſcht, fondern fehen 
ſich bei ihuen, wie ein Wanderer, der an. den vollſtrö⸗ 
menden Bach gelommen, gar wohl befriedigt. 

B. 18. Sollte rugu nicht leichter von sa abguleis 
ten ſeyn, ald von rind, eine Form wie Wahn uud mit ber 
Bedentung vubliettes ? | 

B. 23, Trapif Adjectionm wie Pf. 46,14. ; Eyech. 28,1. 


Pſ. 84, 

Die Anleger können nicht genug fagen, Wie wohl 
ihnen der Gebdanke gefalle, weichen fie im 4. Werſe finden. 
Lieblicher Gedanke, ruft de Wette, und elogantissimn et 
vere poelies sententia, ruft Maurer: „Sperlinge und 
Schwalben find giürlicher als ich; fie niſten im Tempel.” 
Aber im Tempel, fagt der Pſalmiſt nicht, ſondern die 
Altäre Irhova's benennt er ald bed Vogels Neil. Wie 
faun man nun glauben, daß man Sperlinge anf dem 
goldenen Räucheraltare wiften ließ, oder daß Schwalben 
fi) den Brandopferaltar zn ihrer, wahrlich allerumbes 
auenften, Stätte wählten ? De Wette ſagt zwar, bei ben 
Ultären feibR habe man ſich freilich Feine Neſter zu den⸗ 
fen, ſondern im Gebälle oder Dachwerke oder Ger 
mäues, woraus bansı folge, daß hier der. ſteinerne Tem⸗ 
pel, nnd nice das Gezelt der Stiftshütte vorausgeſetzt 
werde: mau muß, meint er, ben Auodruck bes Pſalms 
nicht genau nehmen Allein warum muß man das? 
Man fagt wohl, der Lazzarone finde feine Schlafftätte in 
den Daläften, aber nicht, er finde fie in den Gemächern 
der Reichen. Diefen Uebelſtand hat ſchon Knapp ges 
merkt, und er überfeht deßhald: „Selbſt ber Vogel fin» 
det eine Wohnung, die Schwalbe ein Neſt, ihre Zungen 
u bergen — ich, deine Altäre, Schowa.” Der Bere iR 
etwas elliptifch, bemerkt er hierzu: aber wer hat je eine 
ſolche Ellipſe gefehen? Und doch hat er an Mendelsfohn 


einen: Radıfolger gefunden. Mir num fcheint, fpradlic 
leichter als bie letztere, und fachlich angemeſſener ald bi 
erſtere Erllärung, daß man bas, womit verglichen wir, 
Schwalbe und Sperling, gleich flatt des Werglichenen, 
nämlid) ſtatt Iſrael's geſetzt ſeyn laſſe. So beißt Yiradl 
Pſ. Te, 19. ram "im. Alsdann ergibt ſich andy ein ſchid⸗ 
licherer Fortgang der Gedanken. Deun nachdem de 
Sänger mit dem Ausrufe begonnen: „wie lieb find dk 
Räume, da du wohnft, Jehova,“ fo foricht er zuerſt fen 
Berlangen aus, dahin zu fommen, und wie er jubeln 
wolle zu dem lebendigen Botte, wenn er dahin gelom 
men. Oder täue ich Unrecht Daran, baß id} "om fun 
rifch: Überfege? Was kaun nun ſchicklicher folgen, ald di 
Stltärung, wie der Sänger ſolche Hoffnung haben könnt, 
Die Erflärung, daß, wo Irhova wohne, auch Yiradi 
MWohwflätte.fey?. Auch dad Böglein hat ein Hand gefun 
den, nud die Schwalbe ſich ein Neft, dahin fie ihre Sm 
gen geborgen hat — denn rn® heißt ed, und nicht ran —: 
bad iſt aber Fein geringerer Ort, ald die Altäre %: 
heva’s, iu dem der Sänger feinen König erkennt, welde 
alſo dort feinen: Palaſt, nad feinen Bott, welcher aljı 
dart.feinen Tempel hat. Diefee Ort der Majekät un 
Heiligkeit. iR für Iſrael, was für das Böglein, bei 

, Schwache und wehrlofe, fein Neſt ift, in welchem es fid 
- mb feine Jungen geborgen weiß; denn ebeufo hat fd 

Iſrael, Das an fich fo ſchwach nud Flein geweſen, an den 
Altären feined Gottes geborgen geſehen, ſich ſelbſt, ale 
ſich Jehova feiner zuerſt annahm, und feine Zukunft und 
Nachkommenſchaft für immer: Daher kann nun ber GSaͤn⸗ 

ı ger andrafen: mya atir- "re, womit er aber weder die 
Leviten, noch die Befucher bed Tempeld meint: die lehzte⸗ 
ven nicht, weil 38 diefe Bedeutung nicht hat; bie le 
ren. nicht, weil man nun fehon flieht, Daß es wicht mm di 
bloße Dertlichleit oder um Holz und Stein des Tempel 
zu thun if, und weil der Beiſatz hm vis nur auf 


altteflamentlidhe Seellen und Stuͤcke. 931 


Solche hinweiſt, die wicht bloß Außerlich, fondern von Her⸗ 
zen Jehova, ihrem Gotte, dienen. Wohl glädlich find 
Die, weichen Jehova's Wohnung zur eigenen geworden, 
Aber indem der Sänger dieß ausruft, tritt ihm die Gr, 
wägung entgegen, daß es dahin noch nicht gekommen iſt. 
Daher läßt. er ein zweited Hell! nachfolgen, welches be: 
nen gilt, die an Jehova ihre Stärke haben: denn bie 
wiffen gebahnte Wege, auf welchen fie fiher zu Bott 
gelangen, der anf Zion wohnt. Daß man bieß nicht 
von bloßen Feſtreiſen, fondern von einer Wanderung 
entgegen dem Ziele der Berheißung Iſrael's zu verfichen 
babe, beweifen bie übrigen Berfe des Pſalms, in welchen 
der Sänger bittet, Jehova wolle feinen Befalbten anſehen 
und das Reich deffelben fördern, Damit die erfehnte Zeit 
herbeikomme, wo man bleibend in der Nähe Gottes, in 
feinem Hauſe weilt, jene Zeit, auf weldye die Frage dee 
15. Palme hinweiſt: Tuır "na Joa Tariıya Tan rim. 


Hiob 19, 26. 


Sollte nicht doch apı ein Subflantivum ſeyn, gleis 
cher Form wie nröps, nur daß rn in chaldälfcher Weife 
abgeworfen wäre, wofür doch die Formenen amd 2 in 
Bergleich gezogen werben können. mir flänbe nadı wie 
280n.1,2.; Pf.80, 15. Die Bedeutung von 'ap}. würde 
feine Schwierigkeit machen; denn fa gut. Hiob fagt 
(Kap. 19, 6.) man 2 rm, eben fo gut Tanner feine 
Haut rıapı nennen, al& bie ihm rundum anliegt. Dann 
wäre aber natürlich "rın unmöglich mit zeitlicher Beden⸗ 
tung. gebraucht, fondern na und Ta entfprächen. fich ähnlich 
wie in dem Satze Hohesl. 2, 9. von ner as ren 
rosem-a rmiee. Hinter meiner Hant, fagt Dieb, hinter 
eben diefem Umzuge, der mich jetzt umzogen hält, mid 
befindend, uub von meinem Fleiſche aus, das alfo nicht 
zuvor der Verweſung auheimfällt, werde ich Bott fchauen. 
Denn er kennt feinen Exlöfer, der ihn.wieber in feinen 
Stand einfegen fol und wird, wie daß derfelbe lebenbig 


932 Gefmann 


it und eim felcher, der auch hernach ſeyn und Alledüber; 
leben und als immer fphterer, ia lehter auf Erden fi 
erheben wird, während andere Grlöfer ſterben müſſen 
und une bie gu gewifler Fri auftreten und hülfreich 
ſeyn können. Se: dem Ausſpruche biefer Zuverficht ade 
ich recht die Mitte des ganzen Bude. Demm Schon 
bringt den A beflagenden Daider nicht dadurch zus 
Schweigen in Geduld unb Demuth, daß er ihn bad 
Löfung des Schickſalsräthſels in Worten widerlegt und 
überführt, ſondern Dadurch, Daß er feld ihm erfchein 
und felbft zu ihm redet. sim "re rına, ruft Hiob an 
8. 43, 6, nnd bereut fofort, was er gegen Bott geſpre⸗ 
dyen, ob er gleich noch in feinem Elende ſitzt und len 
Wort der Deutung über baffelbe vernommen hat. Abe 
Bott hat ih zu im befannt, er ift gu Jehova im pet 
ſönliches Berbältuis gelommen, wie ein Menſch zus 
andern und wis frarl zum Gchöyfer aller Welt, um 
dieß gibt Ruhe und Stile in das Herz mitten unter 
den Räthſeln der Gegenwart. 


Die erſte Hälfte des 7, Verſes fpriche vom Lande, ſofen 
es bewohnt, die zweite vom Lande, foferu ed angepflaug 
iſt. Bom letztern beißt ed erſtlich, daß Fremde feine 
Ertrag verzehren, und dann, daß es verödet, alſo ler 
von Planungen ik, ary nammm. Wenn Hitzig hier 
bemerft, daß wur nicht „verheeren” heiße, fo bat a 
Recht; wenn er aber hierauf ver für fremdes Land, ja 
für ein beftimwintes fremdes Land, das ſodomitiſche, er⸗ 
Märt, fo hut er den Worten uuerträgliche Bewalt m. 
„er heiße „umlehren” und Tann deßhalb von feld 
Umfkürzung und Verkehrung gebraucht werben, als burd 
Erdbeben oder ähnliche Naturbegebniſſe geſchieht. Abe 
auch, wer den Boden pflugt, kehrt ih mm: vertere ter- 
ram oder glebas, ſagt der Lateiner. Darf man hiervoe 


altteflamentlicye Steiken und Stuͤcke. 988 


anf anfere Stelle Auwendang wachen, jo fagt der Pros 
phet, der Boden fey öde von Pflanzungen, wie ed ber 
Fall ſeyn muß, wo Kremde ihn umgelegt haben, bie 
ihn nicht mit dem Pflage umlegen, um ibm tragbar gu 
machen, fenbern etwa mit den Hufen der Gtreitrofle 
oder Den Rädern der Kriegswagen. 

Im 8 Berfe bleiben die Worte nu; rn, wenn 
man fie wicht fo willfhrlich dehandelt, wie Hitzig, Immer 
nur mats und bedentungeled, bie man einen folchen Ge⸗ 
danken in ihnen findet, wie ihn Arnoldi durch feine Aen⸗ 
derung: my van, hineinzubringen verſucht hat. Dieß 
kann aber ohne Arnoldi’d Aenderung, bloß durch feine 
Berbindimg der Worte gelingen, indem die zweite Vers⸗ 
hälfte, von der erfien losgetrennt, den Gedanken gibt, 
ein Rachtlager in einem Burkenfelde und eine behaltene, 
beivahrt gebliebene Stadt fey eind und daſſelbe. Das 
doppelte > vergleiche nicht, ſondern ſtellt gleich, hebt 
allen linterfchieb auf, wie 1 Kön. 22,4. So behält dann 
72, parallel mit nn geftellt, feine nämliche Bebeutung, 
wie Ezech. 6, 12, neben "En. 


Geh 2, 22. 


Die Ermahnung vrena 2a} Dın fanıı weder fün 
eine Gimfchaltung, wie Geſenius, noch für den Schluß 
einer Strophe, wie Ewald meint, fonbern, wie Hitzig 
recht gefehen, nur für ben Anfang von etwas Neuem 
gelten; fie ſteht parallel der Ermahnung bes 5. Verſes 
Bar bach im Boransgegangenen nicht von Vertrauen 
auf Menfchen, nach der Anficht jener, fondern von der 
Freude an Selbfigewolltem nnd Selbſtgeſchaffenem die Rede; 
wohl ader folgt nun, daß Jehova alle die und alle Sol⸗ 
che aus ſeinem Volke wegſchaffen werde, die in irgend 
einer Weiſe vor Anderen etwas gelten. Einer ſolchen 
Drehung, wie ſie hier mit > augefchloffen wird, kann 
möglicherweife die Ermahnung vorhergehen, daß bie 


934 Zu . efmann 


geringen nicht auf. höher. ſtehende Menſchen ihr Vertrau 
fegen,, aber andy. die andere, baß die höher Acheadu 
ihr Bermögen nicht gegen geringere mißbrauchen ſolu 
Es kommt darauf au, wie einestheild die Ermahnıy 
ſelbſt lautet, und wie anberutheild die darauf folgen 
Drohung näher gefaßt, beftimmier geſtellt iſt. Was nuukı 
erſten betrifft, fo hat Bitringa natürlich Recht, daß 1 mi 
folgendem 7a beides gleich gut bedeuten faun, einem unange 
fochten, oder einen unbeachtet laſſen. Wir werben: alfo di 
Euntfcheidung für die eine ober Die andere Möglichkeit worte 
Beichaffenheit des Objectd und feiner nähern Bezeichnung 
abhängig machen müſſen. Und fo haben es die Auslege 
auch gehalten, wenn fie die Worte ea roch ai cr. 
entweder gleich überſetzen oder doch nachträglich erklären: 
„Der Menſch, in deſſen Naſe ein vergänglicher Hauch if, 
ein Athem, über welchen er felb feine Gewalt hat 
Allein die Worte fagen doch nichts won ber Bergänglik 


keit oder Abhängigkeit dieſes Hauchs, fondern bezeihsn 


den Menfchen ald einen lebendigen. Ein lebenbign 
Menſch aber will eben deßhalb, weil er eim lebendige 
Weſen if, geachtet feyn. Trägt man alfe nicht willir 
lic, etwas hinein in die nähere Beſtimmung bes Object, 
fo gibt Biefe dem Berbum Sm jene erſte, und mit Di 
weite Bedeutung. Damit trifft dann die weitere Be 
grändung jener Ermahnung: wur sem maso, eben fo lid! 
zuſammen, als mit der ewtgegengefehten Demtung. fid 
man rmas mil dem Tone ber Frage, fo fagt ber begrär® 
dende Sag, der Menfch ſey nichts zu achten: lief ma 
es dagegen mit dem Tone bes Ausrufs, fo ſagt er i⸗ 
SGegentheile, der Meunſch ſey werth zu achten. Se mel 
man num hieräber durch das Vorausgegangene neh 
nicht in Sicherheit iR, hat man fich bei der mit w ange 
ſchloſſenen Vorherſagung Raths zu erholen. Gtellt dirk 
einen Zuftand der Dinge in Ausſicht, wo es mit dh 
Menſchen, fofern er Lebensodem.hat, ein Ende nehm 
wird, einen Zufland alfo, wo des Menfchen Leben di 


altteſtamentliche Stellen und Stüde. 935 


Tode anheimfällt, dann hat man rmz fragweiſe leſen 
muſſen. Dagegen - auöruföweife will es gelefen feym, 
wenn die angebrohte Zukunft ins Licht ſtellt, daß alles 
Andere, was ein Menfch außer dem Leben ift und hat, 
ihn nur zufällig über die Menge erhebt: in Zeiten, wo 
alles dieß verloren geht, lernt man ben Werth recht ken⸗ 
nen, welchen der Menſch nur dadurch fchon hat, daß er 
da iſt und lebt. Was fagt nun der Prophet? Es kommt 
eine. Zeit, da nichts von allem dem vorhanden bleibt, was 
jest fo nöthig feheint für ben Beſtand des gemeinen Wer 
fend, wie Wafler und Brod für den Lebensunterhalt; 
eine Zeit, dba Niemand vorhanden if, dem Beruf oder 
Rang oder Wiſſenſchaft eine bevorzugte Stellung gäbe; 
ja eine Zeit, da Niemand ſolche Stellung haben mag, fon» _ 
dern Jeder froh ift, nur zu leben, und wäre ed nody fo 
kümmerlich, weil Oberfter im Volke zu feyn, alddann nichts 
einbringt, fondern nur koſtet. Soldye Zeiten fommen in 
Folge des Mißbrauchs, melden jegt die Hochgeftellten 
mit Amt und Gewalt nichtöwärdig treiben; darüber fie 
heimgufuchen, die Geringen an ihnen zu rächen, gegen welche 
fie Raub und Ungerechtigfeit, das Volk, gegen welches fie 
harten Drud und launenhafte Gewaltthat üben, dazu 
bat fich Jehova bereit geſtellt. Schließt fich nicht demnach 
das Ende des Abfchnittd 2,22 — 3, 15. in der Weife mit 
dem Anfange deflelben zufammen, baß, die etwas vers 
mögen in Juda und Serufalem, wenn fie nicht folchem 
Gerichte verfallen wollen, ablaffen müffen, ihr Bermögen 
gegen denjenigen zu mißbrauchen, welcher immerhin werth 
genug zu achten ift, wenn ihm auch kein befonderes Glüucks⸗ 
gut Auszeichnung verleiht, werth genug, weil er ein 
Meuſch if, hemz rradı un? 


Zu Jeſ. 3, 12. 
Den Pluralid Tess für das Subject von >ain zu 
halten, bleibt unmöglich, man mag es Drehen und wen, 


086 J Sefaamn 


den, wie man will, und baß 5>orsm gleich viel fey wie 
Sy, „Kind,” ift eine unerwiefene Annahme, währen) 
bie anderen in Anwendung gekommenen Bedeutungen dei 
Stammes >43 einen paſſenden Sinn geben. Geholfen 
wäre, wenn man >brs für ein Deuominativum won >%, 
„och,” hadten dürfte, wie gleich nachher dyv von 029 und 
wit einer Bedentung ber Gteigerungeform, ähnlich ieser 
von 13 Deut, 21, 16. Das Volk trägt feine Bebrhder 
als fein Joch. 


gef. 4, 4—6. 

Gehört denn wirklich Yin yry ar ale nachgebradter 
Norberfap zum 3. Berfe? Die Berbiubung wit bee 5. 
Verſe gibt Doch den fo angemeſſenen Bebaufen, def Je⸗ 
hova, wenn er zuvor den Ilsrath ber Töchter, die Blut: 
fchulden der Söhne Ierufalem’s mit einen feharfen Haudht 
des Gerichte bisweggetban hat, dem Zion, wie ed dam 
ſeyn wird, einen Schutz und Schirm wider alle ſchaͤdliche 
Wirkung fchaffen will. Abgeſehen davon, baß fid bi 
ber andern Berbisdung die Werte zberyrez — 
zwifchen "5 Tan Erz und An vr om laſtig und NN 
zweifchenein ſchieben, möchte die vorgefchlageme and bei 
dalb den Vorzug verdienen, weil dann in Vorderſad un 
Nachſatz etwas ausgefagt if, dad Jehoba am Terafalem, 
der Stabt, vollbringen, und nicht das eine Mal, was 
er an der Stadt thun, und dad andere Mal, was von 
deu Einwohnern gelten wirb, Die mit jenem Hanche ge 
veinigte Stadt iſt ſolchen Schutzes werth, wie ihn Je⸗ 
hova verheißt, und iſt feiner allenthalben werth. 7% 
mit „Raum” zu überfeßen, geht doch wohl nicht an; wie 
heißt es etwas Anderes, ald was auch nach dem Stamm: 
worte zu vermuthen ift, nämlich „Ort für etwas, das 
daranf feſtſtehen ober ruhen fol.” Dann wirb aber and 
gan yoorbe nicht gleich viel ſeyn mit Yan be, for 
dern man bat gu überſetzen: „iche Etätte bed Verges 


J 


altteflamentlige Stellen und Stuͤke. 037 


Zion's,“ wie pr ya 55, „ieber Baum bed Bartend.” Un⸗ 
ter xxxyꝝ verfiehe ich mit Ewald nicht unnöthigermeife bie 
Halle der Berfamminng, ſondern wie 1,14. die Verſamm⸗ 
(ung felbft. Jede Stätte, wo man wohnt oder ſteht, und 
jede Zuſammenkunft, weiche gefchieht, flieht fich gebedt 
‚durdy eine Wolke bei Tage, durch einen Glanz bei Nacht, 
wie Iſrael gegen die nachdringenben Aegypter gebedit ges 
wefen if. Und zwar ſoll man ſich nicht eine Wolfe den» 
fen, bergleihen den Himmel überziehen, keine Waſſer⸗ 
wolle, fondesn eine Rauchwolke, aufſteigend wie von 
Fener, und den Glanz fol man fich denken, wicht ale 
vom Lichte, foudern ebenfalls wie von flammendem 
Feuer. Daher ſteht er nachträglich hinter cur pr, and 
nun, da einmal an foldhe nähere Beſtimmung erinnert 
id, reora Um gleich hinter v05 und noch vor ro. Denn 
Schau gegen Yeinbfeligleit, die von branfen kommen, 
auf Erben fidh erheben möchte, if hier noch gemeint, 
Schutz Ber Urt, wie jemer geweſen, welchen die erſt 
dundele, daun plötzlich feurig auflenchtende Molkenſaule 
gegen Pharao's Heer gewährt hat. Hieraus ergibt ſich, 
was man von einer Verbindung der Worte zu halten 
hat, welche ein abtreunt von car 2. Noch viel wenis 
ger aber geht ed an, das andere Beröglieb: abıray p 
ram, in den nächften Vers hinlibergunehmen. Dean man 
ſieht ja jet, Daß die VBerheißung mit den Worten mp1 
mn eine ganz andere Wendung nimmt, indem fie von 
dem Schutze gegen Feindfeligkeit, die won braußen 
fommen könnte, übergeht zu dem Schntze gegen [chäbliche 
Wirkungen, die etiva fonft von oben fommen. Ob num 
Subſtantwum oder Berbum ik, beſtimmt ſich nad der 
Ueberfegung von Tuaerın; heißt biefes „alle die Herrlich, 
keit,” fo gilt rar fehidlicher für das Sudſtantivum, heißt 
e6 aber „lauter Herrlichkeit,” jo kann ren nur Berbum 
ſeyn. Da wir nun nicht leſen Tara, fo überfeßen 
wir entweder „jede Sherrlichleit,” ober, wie barııa 


938 | Hofmann 


Pſ. 39, 6. „lauter Herrlichkeit.” Erſteres gäbe ein 
nichtöfagende Wiederholung des vor D vorhergegangenen 
Gedankens, während letzteres den Grund anzugeben 
dient, warum eine Wolke übergebreitet wird, naämlich 
weil hier nichts als Derrlichkeit ift, die alſo geſchützt zu 
werben verbient. 


Seh 5,18. 

Und wenn ed auch Hendewerk noch, öfter wieberholte, 
daß in der Bibel der Begriff der Handlung fo inıy 
verbunden mit bem Begriffe des Lohnes und ber Strafe 
gedacht worden fey, daß fih bie Worte für jewen Be 
geiff zugleich für diefen öfter geſetzt finden, fo heißt 
doch weder jw noch mar jemald Strafe oder Berderben, 
fondern es gefchieht nur dieß oftmals, daß im Habräiiun 
das Berurfachende, die Sünde, genannt und zum Sub 
jecte gemadht wird, wo wir das Bernrfachte, naͤmlich dei 
Unheil nennen würden. Es verficht ſich von ſelbſt, daf 
dann immer der Zuſammenhang feinen Zweifel über die 
Meinung ded Gedankens läßt. Worans follte man aber 
in obiger Stelle erkennen, daß⸗ „die Güude ziehen” ie 
viel ſey, ale „dad aud der Bünde kommende Unheil 
ziehen”. Befehen wir und ihr Einzelnes! Erſtlich ur 
heißt nicht „zu ſich ziehen” oder „heranziehen,’’ fendern 
immer entweder „lang ziehen” „der „längehle,” „fort⸗ 
oder „vorwärts ziehen.” Sodann weiß ich. nicht, mit 
welchem Rechte Hitzig unter nr böfe Gefinnung verſteht, 
im Gegenfage zu döfen Hanbiungen; in ber Lieberfehung 
gibt er ed, weber bierza, noch zur wahren Bedeutung 
von a5 paflend, mit „Zrevel.” me iſt Alles, deſſen Dr 
fchaffenheit in Widerſpruch ſteht mit dem, was bavos 
erfordert wird, oder mit den, was fein Anfchein ver 
fpricht; daher iſt ed vornehmlich bie Richtigkeit und Lüge. 
Wer nun die Sündigkeit und Berbrehtheit gieht mit Sei⸗ 
len der Lüge und Nichtigkeit, der tft. mit biefer ange 


altteſtamentliche Stellen und Städe, 939 


fpannt an jene und zieht mittelft derfelben jene fort and 
weiter. Ber da Lüge: „es ift kein Gott,” den fpannt 
diefe Füge an den Wagen leichtfinnigen Weſens. Welche 
Lüge an unferer Stelle der Prophet meine, fagt er ſelbſt 
im nächften Berfe. 


Bu Je ſ. 5, 24. 
Es wäre mir leid, wenn Jeſaja in dem genaunten 
Verſe auf die Vergleichung mit der Stoppel, welche das. 
Feuer verzehrt, und mit dem Zufammenfinten dürren 
Halms, den man in Flamme gefeut hat, das Verglichene 
in dem anderen Bilde des Verfanlens einer Pflanze, des 
Wurmfraßes folgen ließe; denn unfchön wäre dieß doch 
gewiß. Ic kann aber auch die Worte nicht fo verfichen. 
„Ebenſo,“ fährt er vielmehr fort, „wird fie mein Zorn 
verbrennen, daß ihre Wurzel feyu wirb wie ber Moder⸗ 
fanb unb ihre Gewächs wie der Aſchenſand.“ Als eine - 
Pflanze. zwar ftellt er fie dar, um zu fagen, daß nichts 
von ihnen übrig bleibt, aber diefer Pflanze widerfährt 
nichts Anderes, als was bie vorhergegangene Verglei⸗ 
hung an die Hand gegeben hat. Die lebensträftige, das 
Leben von ſich ausfendende Wurzel wird feyn wie das 
Ergebniß der Todesverweiung, und das gefchloffene, ge, 
altete Gewächſs, in welches die Pflanze ausläuft, in 
welchem fie fi) vollendet, wird feyn, wie jener aſchen⸗ 
artige Staub, welcher keinerlei Seftalt und weder Ges 
wicht noch Anfehen bat. 


ef. 5, 30. 

Wie fonnte nur Ewald die Worte rby > über 
feßen „und über einem wird's toben,” und fo dem amı 
und dem 759 zugleich ihre unzweifelhaften Subjecte neh: 
men? Es iR platterdings. unmöglich, Sri? anders zu vers 
ſtehen, als von dem, von welchem ed noch eben, indem 

Theol, Stud, Jahrg. 1847. 63 


940 Bofesanz 

en mit Amen werglihen murke, zrım hieß, wämlid vom 
Geoberenuolte nud Toy anders zu verſtehen, als mit Be 
zug anf bem, weldger zum Bente merden ſollte, wämlid 
vom ifranlitifchen Volle. Und eben fo numöglidh if es, 
am anders zu überfeßen, ald wenige Werte vorher, alfe 
nicht „toben,” wenn man vorher „ſtöhnen“ überfebt bat. 
Aber ern ift aud) weder ſtöhnen noch toben, aud nicht 
nes Kuuxren junger Löwen, weldhes noch Fein Deilen 
‚ genauuk werben nun, ſondenn «6 bezeichnet, wie and 
Deu Gteflen Prop. 19, 12. 30, & 26, 15, erfehen werben 
Yan, jenes dumpfe Murren, jenes verhaltene Beh 
ned Löwen, er ſey jung oder alt, welches dem Angrift 
anf dem Feind: verhergeht; deu une fe fan has Er- 
grimmen: eines Königs damit verglichen werden, auf we 
ches fo gewiß Beuherben folge, als auf jenes verhals 
Brullen. Daher folgt auch um au unferer Stele wi 
, memit Das: laute Brüllen des daherko menden dr 
wen gemeint iſt, und hat, mach ſich zo irn: ben Feind 
anfichtig, gemorden, bricht: er in jenes desmpfe Narrer 
ans, dann flürzst er ſich über denfelben ber. Wie zum 
dieſes or an das dampfe Taſen bed zlinmenden Macs 
erinneru kann, leuchtet won ſelbſt ein. Warum aber der 
Prophet dat Ein winderheit,. daranuf autwortet das 
beim zueitan Male beigegebeus Thy: was vorher aflgemein 
gefagt war, das gilt jetzt infonderheit dem ifrnelitifhen 
Volle. Diefem. wird der Zosurnf bed grimmigen Feindes 
in bie Ohren fchallen, wie dad Bräflen der tobenden 
See, mb van folgt unmittelbar auf rerz, und bed 
überfeßt man unbedenfikch ya mit „Erde,“ im Gegen 
faße zum. Himmel, fo daß dadurch Ewald foger werleitel 
wird, arm» vom Donuen droben zu verftehen. Bildet es 
denn aber nicht vielmehr einen Gegenfag zum Were! 
Schaut nicht der. vom tafenben Meere Bebrehte rädwärt) 
nach dem Sande, ab ew ed erreichen, dorthin fich reiten 


altteftamentlidye Stellen und Stuͤcke. 941 


könne? Iſt nicht ſeine Lage deßhalb ſo verzweifelt, weil 
er landwärts nichts als Finſterniß ſteht, während von 
der anderen Seite bie wilden Wogen gegen ihn daher⸗ 
braufen? fo daß folche Lage wie mit einem Worte fo bes 
zeichnet werden fan: ramsa yar Tianı 2? Diefe Worte, 
verfichert Geſenins, malen ganz unlbertrefflich den Kampf 
zwifchen Licht und, Finſterniß, Glück und Unglück, eben 
und Tod, Furcht nnd Hoffunung; er ſetzt nämlich voraus, 
daß man Hiderfegen dürfe „bald Angit, bald Licht.” 
Aber die Stellen, mit welchen er beweifen will, daß man 
öfter „bald, bald” hinzudenken mäfle, bieten, wie man 
von vorn herein erwarten fann, für biefen Zwed gar 
nichts. Nicht getrennt wollen, wenn man bie Bocale beibes 
hält, die Begriffe Az und "ir gedacht feyn, fondern viels 
mehr wie einen einzigen wollen fie ausmachen. Darum aber 
braucht Yix nicht aufzuhören, Subject von "Terı zu feyn; 
die folgenden Worte find nur deßhalb durch einen Die. 
flinctions abgetrennt, weil fie ſich nicht mie "he zuſam⸗ 
men fpredyen ließen, fo wie diefed zufammen mit "2 in 
einem Athem gefproden feyn will. Beides auf einmal 
foflte gefagt werden, Bedrängnig von ber einen Seite, 
und auf der andern Licht, zur Finfterniß geworden. Die 
Bedeutung „zerfiörte Trümmer” für rrns ft mit um fo 
mehr Recht anfgegeben worden, als mr auch Hof. 10, 2, 
nicht „zerftören” heißt, fondern feine gewöhnliche Bedeu⸗ 
tung hat, welche der fprachlühne Hofen nur ungewöhn⸗ 
lich, aber defto fchöner, auf Altäre anwendete. Aber von 
dem ar Deut. 32, 2. bid zu dem Begriffe „Himmel” iſt 
doch ein gar zu weiter Weg; felbft Nebel oder trübes 
Gewölk liegt noch zu ferne. Bedenken wir, daß die Form 
mit  ald Subftantiv vorzüglich dient, Sahreszeiten nad 
dem zu bezeichnen, wa® darin geſchieht, und daß bie 
Piuralia wie zum, erp&s gerne die Handlung im Allges 
meinen auddräden durch die Bielheit der einzelnen, fie 
63 * 


942 Hofmann 


zum Inhalt habenden Vorgänge: fo werden wir für 
erw die Bebentung „‚Negenzeit” in Anfpruch nehmen 
dürfen, bei welcher ſich dann auch dad auf 77 bezägliche 
Suffirum bequemer flellt, al& bei jenen anderen angenem: 
menen Bedeutungen. Das Land hat feine Regenzeit, 
fein winterliched Regenwetter, und in bem iſt das Licht 
zur Finfterniß geworden, fo daß der vor den drohenden 
Meeredöwogen fich Flüchtenbe, indem er rückwärts fchazt, 
nichtö fieht, ale Finſterniß. Ebenfo, meint der Prophet, 
wird Sfrael daheim nichts finden, als. winterliche Trok- 
loſigkeit, wenn es fidy vor der von auswärte heranbran 
fenden Gefahr zu feiner fonftigen Zuflucht, zu feinem hei 
mifchen Gott und Gottedtempel wenden wird. 


3u Sad. 9,1. 


Seitdem Hengfienberg gründlich und erfchöpfend be 
wiefen hat, daß mau von einer Stadt oder Laudfchaft rt 
nichts wiffe, begnügt man ſich, dieß zu bekennen, ohne 
doch die Meinung anfjugeben, daß ym für einen & 
gennamen gehalten feyn wolle. Was Hengfenberg Abt 
die Unmwahrfcheinlichkeit diefer Meinung unb über die wahr: 
ſcheinlich fymbolifche Bedeutung des Wortes nicht minder 
gründlich und richtig bemerkt, hat man umbeachtet gelaf 
fen. Ich möchte aber anf feine Darlegung nicht hinge 
wiefen haben, ohne zugleich zu fagen, wo ich von ihr 
abweihe. Das perfifche Reich kann ſchon deßhalb nid! 
rn par heißen, weil es ein Reich iR und kein Land; 
fodann aber auch deßhalb nicht, weil es bie beiden Ad, 
jectiva, aus welchen diefer Name zuſammengeſetzt er⸗ 
fcheint, nidyt wohl zu Prädicaten haben könnte. Denn“ 
beißt nicht „kräftig“ oder „mächtig,“ wie Hengftenberg 
unverſehens vorausſetzt, fonderu „‚Icharf,” welchen Aus—⸗ 
druc auch wir ebenfowohl vom Laufe des Roſſes, «ld 
von der Schneide des Schwertes gebrauchen. Zu dieſer 


altteftamentliche . Stellen und Stuͤcke. 943 


Bedeutung von m bildet I einen angemeſſenen Begen- 
fa, indem es auch nicht „Ichwach” heißt, fondern „zart, 
zärtlich ,” eine Bedeutung, in welcher ed 2 Sam. 3, 39, 
nicht weniger paßt, als font. Nun konnte man. aber 
vom yerfifhen Reiche weder Keurigleit und Schneidig« 
feit, noch auch Zärtlichleit und Empfindlichfeit ausfagen, 
wie ed denn auch dem Daniel in der Geftalt eines Bis 
ren erfcheint. Es kommt hinzu, daß die ganze Kap. 9,1. 
beginnende Weiffagung Sacharja's innerhalb Paläftina’s 
oder, richtiger gefagt, inner dem Bereiche der davidi⸗ 
{hen Herrfchaft bleibt und des perfifchen Reiches weiter: 
bin mit keinem Worte gedacht wird. Doch auch abger 
fehen von dem Inhalte der folgenden Berfe, läßt ſich aus 
bem Namen felbft beftimmen, welches Land gemeint fey. 
Wo findet fich die auffallende Verbindung entgegengefehs 
ter @igenfchaften, der Schneibdigleit des Schwerted und 
Feurigkeit des Roffes auf der einen, der Zartheit eines 
Kindes auf der andern Seite? Denn nicht erſt folgen foll 
die eine Eigenſchaft auf die andere und eintreten flatt 
der andern, wie es ſich Hengſtenberg zurechtlegt, fonbern 
der feltfame Widerfpruch im Namen muß fi auch fin» 
den in den Benannten. Wo anders aber findet fich dieß, 
als im Volle Iſrael, das nicht bloß jekt ein Wurm und 
dereinft ein fcharfer Drefhwagen, fondern das feinem 
Weſen nad) beides zugleich ift, das eine von Natur, das 
andere durch Jehova's Beil, weßhalb auch eined nach 
dem andern hervortreten und diefelbe Zion, die jeber 
Unbill preiögegeben fcheint, nach unferes Propheten Wors 
ten (Rap. 9, 13.) zum Heldenfchwerte gemacht werden kann ? 
Diefes Volkes Land ift Kanaan von der Grenze Aegyp⸗ 
tend bis Damaskus und Hamath. Seit David’s Reich 
zerfallen war, rechneten fich auch die Philiftäer nicht mit 
Iſrael zufammen, gefchweige die reichen Phönicier und 
die Syrer des fchönen Damaskus; ber Prophet rechnet 


968 Hofmem, allleſtamentliche Ctellen und Ctäde. 


fie alle zur rm ya und nemut Damaskus gleich woran, 
und Daun Hamath, von dem er fagt: ma-Dash muron, 
Daß >33 mit folgendem = bie Bedeutung habe „an etwas 
grenzen,” ſcheint wir fehr zweifelhaft. Sonſt heißt cd 
„sine Grenze maden,” entweber von dem gebyandt, 
welcher die Grenze sicht, oder von dem, was ale Grenze 
dient. Hiernach überſetze ich: „auch Hamath fo eine Brenze 
machen oder bilden im Lande Scharfgart,” nämlich, indem 
ed auch zum Lande gehört, ein Gebiet befieiben aut 
macht. 


KRecenfionen 


— — — —— 


1. 


Die Glanbenslehre der - evangelifch = reformirten Kirche, 
dargeftellt und aus den Quellen belegt von D. Alexan⸗ 
der Schweizer. -Erfier Band. Zürich, bei Orell, 
Füßli und Comp. 1844. ©. 498. XXIII. Zweiter 
Band. Erfte Abtheilung. 1845. S. 274. 


Der Muth ded Herrn Berfaflers, der feit Langem 
verfanstenden Klage Troß zu bieten, daß die wiflenfchaft- 
liche Gegenwart bei ihrer gerfplitternden Detailarbeit oder 
ihrer abforbirenden Dienfifertigkeit gegen die unmittelbas 
ren Tageöforberungen der ausdauernden Soncentration 
ermangele, um dad Ganze einer Disciplin umfaflende 
Werke and Fichte zu ftellen, tft um ſo höher zu achten, 
weil er fi ein Dbject gewählt hat, das von Manchen 
unter :die numöglichen Aufgaben gerechnet wurde. Ich 
meine damit nicht jenes befannte Urtheil fehr lauter Stim⸗ 

men, welche. die unlengbar in der Zeitanfchanung einge 
tretene Erfchütterung der Principten aller pofitiven Dog» 
matid geradezu und in vollſter Zuverficht als den völligen 
Tod der gefammten Theologie proclamiren, fondern ich 
ſinde, daß Männer, deren Wort einen guten Klang hat 
unter den Wuictoritäten der Theologie, dasjenige, was 
der Berf. zu leiften begonnen hat, als etwas kaum Aus⸗ 
führbares begeichneten. So Nitzſch in der Necenfion von 
Tweften’s luth. Dogmatif, Stud. u. Kritifen 1836, ©. 825. 
Der Verf, wußte, was er that, wenn er fich von folchen 


948 Sehweier 


Stimmen wicht irren, fondern bloß bie Schwierigkeit der 
Sade zum Bewußtfeyn bringen ließ, wenn er nicht bloß, 
weſſen die Borrede gedenkt, die hundertiährige Brache 
veformirter Dogmatik durch einen neuen Auban belebte, 
fondern auch, um eine kirchliche Dogmatik der Refor- 
mirten gu gewinnen, den conſtanten Ufus der biblifchen 
Begründung aufgab, und die fonft fo differirenden Re 
thoden der Gruppirung und Behandlung zu verfchmelzn 
füchte, damit ein ganz im Geiſte und Tone ber ref. Recht⸗ 
glaupigkeit gehaltened Werk mit. einer dem gegeuwärtige 
Stande der Dogmatik angemeflenen Architektonik und unter 
dem Lichte der modernen Theslogie auftrete. Die Groß 
artigleit bed Unternehmens, die wahrhafte Zeitgemäfheit 
ber Leiflung wird Anerkennung finden, wenn and dad 
almähliche Drientiren über manches Ungewohnte und le 
berrafchende, dad und geboten wird, da und bort Zweifel 
erweden mag, ob denn wirklich überall Die ref. Kirchen⸗ 
lehre rein nud allfeitig bargefiellt ſey, ob ber Berf, wirt: 
lich Die unter fo divergenten Gchulformen werborgen 
liegenden gemeiufamen Ideen genügend erhoben, ob er 
wicht vielmehe Doch nur Eine Seite Ber ref, Dogmalil, 
einen varhersichenden Typus berielben mit allzu geringer 
Beachtung der anderen und wit alles raſcher Leberita 
gung moberner Anfchausmgen auf beufelben gegeben habe. 
Aber wie bem auch fen, ben -größten Dank verdient der 
Verf. immerbin, Daß er ein Der theolagifchen Gegenwart 
fo entſchwundenes Gebiet derſelben wieder nahe gebramt 
bat, und wenn, wie es ſcheinen wid, bie nenanftanchende 
Conſeſſlons polemit dabei irgendwie ſollicitirend mitwirlie, 
fo wollen wir es und gern gefallen laſſen, daß fie ſoiche 
Srüchte hervorruft, können auch Dem verbreiteten behag- 
lichen lnionsfisehen kein heilſameres Befchent wänfchen, 
als eine fo recht in die Kiefe gehende Aufhellung der 
differenten Principien. Ref. bat ſchon früher auf die 
noch angehobenen Schätze hiugewieſen, weiche die altıt 


x 


die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche. 949 


formirte Dogmatif in fich birgt, und freut (ich nun, im 
Berf. einen rüfligen Bearbeiter biefed Schachtes zu Nu⸗ 
Gen und Frommen ber Gegenwart zu finden. 
Einleitungsweiſe beginnt der Berf. mit einer Ders 
äudigung über den eigenthümlichen Geiſt und Charakter 
der reformirten Gonfeffion, welchem vielleicht unnöthig, 
oder wenn ja paflend, dann in faum entfprechender Kürze 
eine Sharakteriftit des Proteſtantismus Kberhaupt gegen 
den Katholicismus Yorausgefchicdt wird. An derfelben 
it für das Folgende nur von Belang, was er über bie 
wei Typen fagt, in welden fi der Proteſtantiomus 
verwirklicht hat, in vier Saͤtzen, welche feine Auficht liber 
dad Weſen der Differenzen und über die ethifche Stel⸗ 
lung beider proteftantifchen Kirchenparteien zu einander 
ausbräcden und wovon ber erfte Sat (©. 5.) fo lautet: 
„Die Berfchiebeuheit beider proteſtantiſchen Typen tft 
nicht ald eine nur geisgentliche, zufällige, bloß in gewile 
fen Lebrpunften vorhandene aufzufaflen, ſondern als 
durchgeführte coufeſſionelle und kirchliche Befonderheit.“ 
Mag dieſe Behauptung vielen Theologen der Megenwart 
fehr. ungewohnt lauten, fo ift bieß eben assch ein Reichen, 
wie .nöthig ed wer, Daß einmal Durch eine zufammens 
bängenbe und eingehende Darfichung des reformirten 
Lehripftems dem fchwächlichen Geſchwaͤtze, dad ſich in Kolge 
der Uniensbeſtrebungen über die bogmatifchen Differen⸗ 
zen breit macht, ein Ziel gefeßt werde. 6. 2, zeigt, daß 
der refarmirten Eonfelfion im Unterſchiebe vom Iucherifchen 
Typus ein eigenthäwlicher Geiſt und Charakter innewohnt, 
der ſich in der ganzen Dogmatik, wie im kirchlichen Les 
ben Tundgibt. Die Bewertungen bed Verf. zum Nach⸗ 
weiße feiner Theſe gegenüber der oberflächlichen Meinung, 
ald ob a6 ſich bloß um etliche. Controverspuntte handle, 
find eben fo überzeugend, als einfach, indem er zeigt, 
wie Die werfchiedenen Gontroverfen weder bloß von eres 
getifgen, noch von ſpeculativen Differenzen ausgehen, 





950 Schweiger 


noch auch ohne inneren Zufammenhang find, und wie felbk 
einzelnen ref. Lehrern die einheitliche Duelle der Beſonder⸗ 
heiten ihres Lehrbegriffe zum Bewußtſeyn kam. Die 
einheitliche Duelle muß: fofort von der Urt feyn, daß je 
der Eontroveröpnnlt daraus abgeleitet und diefelbe Be 
fonderheit der Geiſtesrichtung in den vom Gtreite [ches 
bar gar wicht mit ergriffenen übrigen heilen des Lehr 


begriffs nachgewiefen werden kann. Ein weiterer Schritt 


it fofort, zu zeigen, daß die gemeinfame eimheitlice 
. DOnelle der Differenzen in einer eigenthumlichen Befliumt- 
beit des Seldſtbewußtſeyns, sicht außerhalb deſſelben, ewe 
in der vorhaudenen Weltanficht berube. Zu dem Erde 
werden die Mbleitungsverfuche der bedeutendften Theole 
gen durchgegaugen, unb das Ungenügende derfelben nad. 
gewiehen. Weder in politifchen Verhältniſſen, noch in 
ſoientiſiſchen oder pſychelogiſchen Eigen humlichkeiten der 
Reformatoren iſt der Grund der verſchiedenen Kircher⸗ 
nud Lehrbildung zu ſuchen. Auch die von Auberen [chen 


angedenteten Erklteruugen aus eiwer eigenthämlichen reli⸗ 


diöſen Duelle werben beigebracht wub ungenügend befu 
den. Wenn dieß auch -mit der von Herzog gegebene 
gefchieht, weiche der Werf. dennoch wieder im Weſent⸗ 


lichen. als feine eigene aufnimmt, fo wäre ein weiteres 


Eingehen anf die Auſicht dieſes Belchrien: erwänfct gu 
weten, fchen damit alle Gerechtigkeit erfüllt und bemfelben 
das Berbieufi eines höchſt glücklichen und lichtvollen Ap- 
porgu,, webches ſeitdem fo ziemlich fihen ale Bemeingnt 
behaudett wird, in dieſen Werke gewahrt werbe. Eigen: 
thumlich . gehört dem Verf. an der durch eine Ueberſich 
ber vefonmirten Dogmen gegebene Nachweis der antipe 
ganifcyen Gruudrichtung des reformirten Yrotekautidun. 
„Dar alle befonderen Dogmen ber ref. Gonfeſſlon zieh! 
fich alfo die gemeinfame Grundrichtung, alles Heil, alın 
Heilsentfcheid, alle Heilswirkſamkeit ſchlechthin allein Gott 
azuzuſchreiben, als der unbebingt Alles beftimmenben Mad 


die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche. 951 


nirgends hingegen das Heil von creatärlichen Eutſchluſſen, 
Handjungen oder Dingen und Ceremonien abhängig, oder 
Gott in feinen Rathfchlüffen dadurch bedingt, oder auch 
nur mit beftimmt zu benten.” 

Der Berfafler fährt fort zu zeigen, daß diefes Prin⸗ 
cip ſich aud Einfluß verfchafft habe auf Diejenigen Dog 
men, in welden Feine beftinmte Gontroverfe hervorge⸗ 
treten iſt, daß das ganze traditionelle Material dadurch 
modifteiet worden fey. Hier wird ſchon von der Satis⸗ 
factionstheorie in einer Weife gehandelt, die allerbinge 
ald Eonfequenz des firengen Denkens erfcheinen muß, bie 
wir aber fpäter zu befprechen Gelegenheit haben werden. 
Gebt geht der Berf. zuräd und beleuchtet bie oben anger 
"führten Erflärungsverfuche näher, indem er fie zum Theile 
ganz zurüdweilt, ale befeitigt burch dad gewonnene Res 
fultat, theild ihre bedingte, fecundäre Geltung angefieht, 
fo der humauiſtiſchen Bildung des Reformationdzeitalters. 
Den Schein eines Widerfpruch® vermeidet er nicht, wenn 
er (S. 28.) fagt: Die reformirte Eonfeſſion it im Unter⸗ 
fhiede von der Intherifchen namentlich aus ſtärkerem 
Einfluffe der bumaniftifchen Bildung zu begreifen”, nach⸗ 
dem er oben diefen Unterſchied Doch auf eine audere Ei⸗ 
genthümlichkeit des religiöfen Selbſtbewußtſeyns redutirt 
hatte. In der Ausführung befchräntt ex jenen Satz wies 
der auf einzelne Dogmen, deren Qualität er früher gleich- 
falls von jenem Einen Grundprincipe abgeleitet haste, 
Natürlich wird mit biefem Humanismus in Berbindung 
gebracht das kritifche Princip ber alleinigen Anerkennung 
der h. Schrift als poſitiv normirendes Prineip. Daun 
aber wirb die flärtere Hervorhebung der h. Schrift wies 
der abhängig gemacht von der. überwiegend antipagani⸗ 
(hen Proteftation, und zulegt aus der Alles beherrſchen⸗ 
ben und beftimmenden Grundrichtung begriffen. Diefe 
Grundrichtung, Beſtimmtheit der. hriftlichen Froͤmmigkeit, 
Geſiunung, Tendenz, Jntereſſe ıc., wird beſtimmt im Ges 


987 Schweiger 


gerfade des Intherifchen Princips der Redgtfertigung 
vdurch den Glauben, das ein authropologifches fey, als 
vas theologifche der alleinigen Abhängigkeit ſchlechthin 
von Bott. Auch das wird vielen Ohren ungewohnt and 
widerwärtig Ningen, daß dad Princip der Rechtfertigung 
durch deu Glauben nicht Bas Marerialpriucip der refer 
mieten Kirchenſehre fey. Aber darin wird der Verf. ſieg⸗ 
reich Recht behalten, gefeht auch, daß feine Befliunmung 
des reformirten Materiatprineipe noch angefochten wer⸗ 
den könnte, Daß das Bewußtſeyn fchlechthinniger Ab: 
hängigfeit alles Ereatärlihen von Bert das eigentliche 
Matertalprimeip der reformirten Confeſſton ſey, nicht ein 
Dogma neben andem, fondern die alldurchdringende 
Seele im der ganzen. Dogmatit, das erweift er zumal 
ans dem ihr eigenthumlichen Lehren, ſodaun amd ben ie 
neren Streitigkeiten ımd aus den vorzüglichſten Angriffen 
wider dieſe Gomfeffion. Die eigenthümlichen Lehren wer: 
den nach Budde und Stapfer angeführt, auch der Gtreit 
über die Fundamentalartikel und die Zuläffigkeit einer 
Maion hierher gezogen und nachgewiefen, daß ſelbſt über 
bas formale Schriftprincip das materiale der gioris dei 
geſlellt ſey. Die Innern Streitigkeiten antangend, fo de 
wein fon die amabaptifiiiche Negung, welche iw ihrem 
bogmatifchen Grunde nur eine gefühtig ſchwärmeriſche 
Ueberbietung des veformirten Principe war und amd von 
Zwingli dafür erkannt wurde, ſowie die antitrinitariſche, 
ale eine in der Edionitismus zuruckgehende verſtandes⸗ 
mäßige Proteſtation wider den Paganismus, für die an 
gegebene Eigenthümlichkeit des Princips. Godanı bildet 
der Arminianismus eine mißverftändliche Reaction gegen 
dieſes Doch im Ganzen wieder anerkannte Princip ſchlecht⸗ 
hiniger Abhängigigkeit, wie auch die Theologie von San 
mar, wogegen bie dortrechte Befchtüflfe und der consensu 
bie Grundeigenthümlichkeit vor ihren Abſchwächung 
fchüßten. Damit hängt zuſammen ber Hauptvorwurf, 


die Glaubenslehre der evangelifchsteformirt. Kirche. 953 


daß das Syſtenm Gott zum Urheber der Ghude made, 
daß es bie Freiheit aufhebe und bie Meral untergrabe, 
Diefe beideu werden erklärt und: Bad Wahre davon anf 
jenes confequent fefigebaltene Princip redneirt. 

Ohne Zweifel liegt eines der Hauptverbienfe vorlie⸗ 
genden Werkes in diefer Debaction, und fowohl bie in» 
geniöfe Heuriſtik, ald der Scharffinm und die Gelehrfams 
teis, womit die Momente zuſammengeſtellt und auf das 
beabfichtigte Ziel hingelenft werden, mäflen Anerfeunung 
finden. Ueber dad Refultat felbk und die gewomene 
Eaflung des eigenthämlichen Principe iſt noch ein gewiſſes 
Schwanken der Aufichten bemerkbar. Reformirte Theo: 
Iogen haben ſich über diefen Punkt nur mit zweifelndem 
Bedenken erilärt (ſo im fchweizeriichen Kirchenblatte). 
Allerdings find die Ausſtellungen und Bedenken etwas 
nunfiher. Nur Eines fcheint beachtenswerth, daß der Verf, 
fo ohne Weiteres das Princip Ber reformierten Dogmetif 
und das eigenthümliche Princip der veformirten Confeſſton 
ober Kirche identiſch nehme, Freilich kann dieß nicht ge⸗ 
nügen, dem Verf. entgegenzutreten, noch weniger, wenn 
Andere bloß von einer willkurlichen Uebertragung fchleiers 
macher’fcher Kategorien auf das alte Syſtem ſprechen. 
Die Wichtigkeit der Sache und der Wert des vom Berf. 
in jebem Kalle GSeleifteten, das nothwendig von jebt an 
der Audgangspundt jeden dießfallſigen Discuffion werben 
muß, erfordert ed, bag wir hier etwas tiefer eingehen. 
Wenn er am Scluffe (S. 83.) zuſammenfaſſend fagt: 
„So iſt der reformirte Lehrbegriff gegen die paganifch 
anfgefaßten Mißbrauche der. Kirche confequßnt auf das 
ſchlechthinige Abhängigkeitögefühl aufgebaut ıc.,’” fo kann 
man fürs Erſte zugeben, daß hiermit die Tendenz und 
das Intereſſe der reformatorifchen Lehränderung bezeich: 
net fey und daß eine mit folchem Ssutereffe zufammenr 
bängende Gautel die ganze folgende poſitive Dogmenge- 
Raltung bee veformirten Kirche geleitet habe, befonbers 


954 Schweizer 


im Gegenfage gegen bie Intherifche, in welcher man im⸗ 
mer noch katholiſche Reſte zu bemerken glaubte. Allein 
damit ift doch keineswegs das materiale Princip diefer 
: Dogmenbildung ſelbſt gegeben, fonft müßte fih ja ame 
jenem ſchlechthinigen Abhängigkeitsgefühle die Lehrerpli- 
cation ableiten laffen. Run aber ift das geſammte Ma⸗ 
terial der Dogmen dad traditionell Uebernommene, wenn 
auch mit Borherrfchen der Anficht, es bioß.der Schrift 
entnommen zu haben. Das Bewußtſeyn des Gündens 
elends umd ber durch Chriſtus gefchehenen Erlöfung iR 
fo ſehr der Brundton auch der reformirten Frömmigleit 
und deſſen Ichrhafte Firirung fo fehr audı die Hauptauf—⸗ 
gabe der rveformirten Dogmatik, daß man wohl fager 
kann: in ber Art, wie jenes Bewußtſeyn im Bubjecte 
verwirklicht und wie es von der Dogmatif Ichrhaft ſi⸗ 
rirt wirb, if allerdings das Gefühl der fchlechthimigen 
Abhaͤngigkeit von Bott witgeſetzt, und biefes gibt jenem 
Stoffe feine beſtimmte formelle Geſtalt; allein dieß Ge 
fühl fchlechthiniger Abhängigkeit ift nicht das urfpräng 
lihe Grundgefühl, welches jemed Bewußtfeyn gleichjam 
. trägt und aus fidh hervorgehen läßt, fondern bafelbe 
entfieht für die reformirte Frömmigkeit erſt aus dem Be 
wußtfeyu der Sünde und Erlöfung und mobifteirt fo rea⸗ 
girend dieſes Bewußtſeyn wieder auf eigenthümliche Weile. 
Der Urquell des Autipaganismus iſt nicht jenes ſchlecht⸗ 
binige Abhängigkeitegefühl in feiner abftracten Geſtalt, 
fondern das Bewußtſeyn des alleinigen Heils in ort 
burch EChriſtus. Kürd Zweite muß zwar allerbings eine 
gewiffe Einheit des urfpränglichen Reformationsprincipe 
und des Principe der reformirten Lehrbildung feftgehal: 
ten, aber dabei muß ein Zweifadhes wohl beadytet wer 
den, einmal, wie fid dad Reformationspriueip gerade 
in feiner urfprünglichen Aeußerung zu ber Dogmenbilbung 
überhaupt verhalten hat, fobann, wie der allmähliche Aus: 
bau des Lehrſyſtems von wmannichfaltigen anderen Ein: 


— 


Ta w. 


die Glaubenslehre der evangelifchsreformirt. Kirche. 959 


fiaffen bedingt war. Allerdings gehört das leßtere mehr 
der dogmengefchichtlichen Betrachtung an, aber auch die 
rein ſyſtematiſche, fofern fie doch eine verſtändliche Res 
production des gefchichtlih gegebenen veformirten Lehr: 
foftems feyn will, kann fi kaum von einer Rüdfichts 
nahme daranf diöpenfiren, wenn fie nicht z. B. was bloß 
nachweisbare Schulconfequenz iſt umb Product der bes 
Rimmten Zeitform des objectiven Bewußtſeyns, übereilt 
and jener angenommenen Grundbeftimmtheit des from: 
men Selbſtbewußtſeyns ableiten will. Die treibende Seele 
der Reformation Zwingli’d war nun anerfannt die Tens 
denz, die rechte Gottesverehrung herzuſtellen, das ger 
fammte religiöfe Leben zu reinigen. Als Norm für diefen 
praßtifchen Zwed, al6 Antrieb und Grundlage für das 
praktifche Berhalten der Frömmigkeit Überhaupt war ihm 
das rveinere Gottesbewußtſeyn aufgegangen, galt ihm 


: jene alled Greatürliche durchdringend überragende gött 


: lihe Allwirkſamkeit. Um das durch folched reinere Gots 


: teöbemußtfeyn beftimmte hun des Subjects hambelte 
ſich's ihm vor allem, weilmur in folder Gottgemeinfchaft 


on a WW 


-— 


— 


dad Heil des Subjectö beſteht. Es möchte nun nicht fchwer 
feyn, wachzuweifen, daß die gefammte eigenthüumlich res 
formirte Dogmenbildung , fofern fie auf religiöfe Brände 
snrüdgeführt kaun werden, demfelben Impulſe folgt und 
dad puenmatifche, gottbeftimmte, der Bottbeftimmtheit be; 
wußte Handeln, das perfönlich thätige Mitbetheiligtſeyn 
des Subjects bei den Gnaden⸗Z und Heildacten Gottes, 
durh Die Blanbenswahrheit hervorzurufen und alfo 
die glorla dei auszubreiten firebt. Hierher gehört die ei⸗ 
genthämliche praktiſche Myſtik fo vieler Antworten des 


heidelberger Katechiömus, fo wie. der felbft in fcholaftis 
‚ Shen Eompendien den Kapiteln angehängte usas practicus, 
Ich fagte oben nicht ohne Urſache: fofern fie auf religiös 


ſen Grund zurüdgeführt kann werden, benn allerdings 
hat, wie bei Zwingli u. 9. die milde, fo häufig 
Thbeol. Stud, Jahrg. 1847, 





956 . Schweizer 


und gerabe bei deu Korpphäen der Dogmatik bie jari: 
ſtiſche Bildung , fpäter die philoſophiſche Schullehre dei 
Remus (bei den Genfern feit Wedel herrſchend) und Car⸗ 
teſius ſehr bedeutend eiugewirkt, Uebrigens hat gerad 
jene praktifche Tendenz des Dogma bem Zug anf Ber 
ſtaͤndigkeit fo mit fich geführt, daß ſich hier gar leid 
jede Reflexionsphilofophie anfchließen konnte. Wollte ma 
nun die ſyſtematiſchen Eonfequenzen des Determinidmu, 
welche ſich immer weiter ins Einzelne entwidelten, mi 
Abſehen von der dualiftifchmechaniichen Weltanſicht, we 
durch fie mobiftcire wurden, doch auch von jenem religis 
fen Grundgefühl ableiten, fo würbe man verkennen, wu 
gerade bei Calvin, indem doc das religiäfe Erunbgefäll 
am lebendigen war, fie nicht gezogen Find, wie ſeht 
bald die freie Bewegung der Dogmatif bei ſtockender Pal 
firung des frifchen religiöfen Lebens in eine fleife Conſer 
vation ded gewonnenen Syſtems überging , welde bie 
noch eine formelle Bewegung gefattete, und wie gerade 
um die Zeit des Abſchluſſes ꝓurch die bordrechter Synede 
bei den Theologen dad Bewußtſeyn ausgeſprochen wer, 
daß man in folchen Eonfequenzen nur ber sana ratio felj‘ 
(Vedelius, Rationale theologicum in der Debicatiet: 
Drittens fällt es auf, daß der Verf., der den Anabaptile 
und Unitariern die Ehre anthut, fie zu Zengen bed 1m 
formirten Principe zu machen, vom Methodismus, we 
cher fich gerade au der Älteren, reineren euglifchen kitlo 
ratur aufrankte und in weiten Kreifen ber ihr Blanker* 
bewußtfenn reflitnirenden reformirten Kirche eine Mad! 
geworden if, fchweigt und den Pietismus fo hartsälü 
dem reformirten Weſen entgegenfebt, ba doch gerade fr 
formirte Einfläffe auf Spener biftorifch gewiß find sm 
ein Eindringen reformirter Eigenthümlichkeit in das kuther 
thum durch den Pietismus anerfannt iſt (Gobel). Den ker 
ren bIoß ald Reactiongegen das lutheriſche Princip derKedt 
fertigung aflein burch Den Blanben aufzwfaffen, iſt jedenfele 


N 





die Blaubenslehre der evangelifchsreformirt. Kirche. 957 


ungenan, denn biefe Thefe ſtand den Pietiften ſtets fe, 
aber den Glauben und die Rechtfertigung beftimmten fie 
reformiert. Bei dem Gebrauche, der von den Anabap⸗ 
tiften und Unitariern gemacht wird, fcheint ed nothwendig 
zu feyn, baß der Berf. auch die charalteristifchen Unter⸗ 
fhiede der reformirten Richtung von der auabaptiftifchen 
and muitarifchen beſtimmter herandgehoben hätte; dieß 
um fo mehr, da er die Eonfequenz ber reformirten Lehre 
fo fehr rühmt und den Anabaptiömud doch auch nur 
für eine ertreme Conſequenz des reformirten Principe ers 
klärt. Wenn er jenes that, fo würde er auf eine Ans 
fiht von der Geltung des Aeußeren, von hiftorifcher 
Eutwickelung und Gontiunität der Tradition geführt wor⸗ 
den feyn, weldhe einige Mobificetion in feine Beſtim⸗ 
mung bes reformirten Principe gebracht hätte. Biertens: 
daß der Arminianiömus, wie der Berf. zeigt, felbit faſt 
kirchlich werden konnte, alfo echt reformirt und nur eine 
temperirte Orthodoxie iR, daß fogar die fchärfere Faſ⸗ 
fung ber Lehre zu Dordrecht ihm gegenüber nicht die fs 
pralapfarifche Conſequenz auöfprach: beides könnte man 
umgelehrt ald Beweid gegen den Verf. geltend machen, 
wenn er die Seele der reformirten Confeſſion in dem 
theologifchen Principe ber abfoluten Determination durch 
Gott findet. Gerade bie dordrechter Verhandlungen zei⸗ 
gen, wie ed fo wenig als bei Auguflin die Theologie 
war, aus weicher jene Lehren .entfprangen, fonderu ber 
anthropologifche Boden, das Gebiet der individuellen 
Heilsgewinnung, gleichwie hier die arminifche Abwei⸗ 
hung entſtanden war. Alle theologifchen Säte find of 
fenbar bloße Hülfefäte und drüden nicht die Alles beftims . 
mende GÖrundanfchauung aus, fonft mußte die Scheu 
vor dem theologifch nothwendigen Supralapfariömus über: 
wunden werden. Der Kampf gegen Saumur ift unleugs 
bar bloß eine Frucht der Schulfteifheit, da weder bei 
ben Solmurienfern ein geringeredö Gewicht auf. die 
64 * ⸗ 


958. Schweizer 


zuletzt Alles bedingende Heilsgnade gelegt wurde, neh 
bei den Gegnern, die fi bloß an dem abweichenden 
Ausdrucke Kießen, eine Entgeguung vorkam, welde anfbie 
geradehin theologifchen Gründe jener Abweichung einging, 
vielmehr noch in der nachzitternden Augſt z. B. der Züricer 
diefe Neuerung gerade nur die Furcht über die Befähr 
dung der reinen chriftlihen Moral hervortritt. Yänftens 
laͤßt ſich gegen die argumentative Benupung der Lehr 
fireitigleiten innerhalb der reformirten Kirche, fo gtäd 


lich im Allgemeinen der Gedanke derfelben it, bod Feb 


gendes bemerken: Zu einer Induction reichen bie ange 
führten nicht bin, geſetzt aud, was wir wicht zugeben 
tönnen, daß fie durchweg ins rechte Licht geſtellt wäre. 
Sind fie auch die für Die Sefchichte der reformirten Kirct 
wichtigften, fo find fie gerade für die Lehrbildung nic 
die wichtigften. Selbſt die Bäter von Dorbrecdht ware 
nur confervativ; Nemes ift bei ihnen nicht zu Tage ge 
fonımen. Sie find aber and wicht vollfländig. Di 
Streitigkeiten mit den Antinomiften (ferilich meint de 
Berf., die reformirte Kirche fey von Aminomismus fi 
geblieben), die übrigen Streitigkeiten mit den Solmuries 


fern (Zurechnung), ja felbfi die über Infpiration der de ⸗ 


cale find dogmatifch auch höchk- bedeutend geweſen, die 


Iegtere namentlich von Bewußtſeyn begleitet, die ref 
mirte antipaganifche Eigenthümlichkeit gu bewahren. Tab 
lich die fo intereffante und eingreifende pißcatorifche Com 
troverfe über den thätigen Gehorſam Chriſti, von web 
cher eine angenfcdeinlihe Modification der Lehre vom 
Amte Ehrifti herbatirt, wird wohl nicht weniger in Be 
tracht kommen dürfen, wenn es ſich um Belenchtung dei 
reformirten Princips durch die inneren Lehrbewegange 
handelt. Mit Nüdfiht auf dieſe, den obigen beigefelt, 
ließe fich wenigftend eben fo gut fagen: das eigenchäm 
liche Princip der reformirten Doctrin wurzelt im DM 
praftifchen Lehren der Anthropologie. Cine eigentid 


die Glaubenslehre ber evangelifchereformirt. Kirche. 959 


theologifche Arbeit hat die Kirche in ber griechiichen Blü⸗ 
thenperiode verrichtet, und ed gehört zu den auerfannten 
Geſichtspunkten der Dogmengefchichte, daß die gefammte 
abendländifche Dogmenbildung von der Anthropologie 
audgehe. Sollte nun die Reformation, diefe Emancipas 
tion der Bnbjectivität, und zwar gerade die reformirte 
Reformation, dieſe vollſtändigſte Emancipation des Subs 
jectd, jene unbegreifliche Anomalie darftelen? Sollte das 
Eine Prädeflinationsdogma (denn von dem übrigen theos 
logiſchen Inhalte ift ja zugegeben, daß er im reformir; 
ten Spfleme kanm eine eigenthümliche Behandlung er- 
fahren bat) hinreichen, biefe Behauptung zu begründen ? 
Immer mößte dann wenigfiend die theologifche Ratur 
des Prädeſtinatiousdogma's ſelbſt ficherer fteben. 

Hat der Verf. auch entſchieden Recht, Lange's Ent⸗ 
gegenſetzung der lutheriſchen und reformirten Doctrin, 
wonach jene von der Theologie, dieſe von der Anthro⸗ 
pologie ausgehen ſoll, zu verwerfen, fo möchte feine um⸗ 
gefehrte Theſe eben fo wenig bewielen ſeyn. Ueberhaupt 
it mit folchen Kategorien gar wenig gewonnen; eine fchein» 
bare Begründung läßt fi immer geben, Ref. wäre z. B. 
nicht verlegen, durchzuführen, daß die Iutherifche Docr 
trin hauptfächlich chriſtologiſch, die reformirte pneuma⸗ 
tologiſch ſey. WIN man das Iutherifche Princip ber 
Rechtfertigung durch den Glauben, das ja ein göttliched 
Thun auf den Menfchen febt, ein anthropologifches neus 
nen, fo if das reformirte der fchlechthinigen Abhängig> 
keit, wenn wir und diefen Ausdruck gefallen Iaffen, nicht 
in höherem Grade ein theologifched, fondern nur ein abs 
ſtrakteres. Goncret wird ed dem reformirten Frommen nur 
als Bewußtfeyn der Gemeinſchaft mit dem heilfchaffen- 
den Gott, das bad Bewußtfeyn des Heilsbedürfniſſes 
vorandfeßt und fich vollendet in der certitudo salutis, 
nämlich ald der durch Ghriftus gewonnenen salus des 
Subjects. Wir werden fomit beide eben fo theologifch 














960 . Schweizer 


wie anthropologifch nennen dürfen. Iſt doch bie gloria 
dei uur ald etwas, bad auch durch mich und au mir fel 
verwirklicht werden, und worin id) eben weine Seligkeit 
habe, Princip der Religion, und zwar fo gut ben Luther 
ranern als den Neformirten. Die eigenthümliche Ber: 
fchiedenheit beider Doctrinen liegt ganz anderswo, ald 
woher fie Lange und der Berf. ableiten. Es iſt eine an⸗ 
bere religiöfe und ethifche Pſychologie, welche ſich mit 
Hinzutreten objectiver Begriffe zum verfchiedenen Dez: 
menſyſteme geftaltet und den traditionellen Glaubens 
off eigenthümlich modifteirt. Auch hier möchten Herzogs 
Andentungen die richtigen Fingerzeige enthalten. Der 
Lutheraner bebarf bei vorherrfchendem Schuldbewußtſegn 


ber Rechtfertigung. Er gewinnt fie in dem durch dm | 


Geift gewirkten Glauben an Chriſtus. Der Moment, 
da dem landen die Rechtfertigung wird eben als ein 


objectine göttliche Action, deren Gegenftand das Subjet 
it, iſt bier der eigentlich prineipale. Mit ihm beginnt 
der Gnadenftand für den Lutheraner, deffen Gottes: 


wußtſeyn vornehmlich ift der Koefficient des zurecdhnenden 
Gewiſſens. Der Reformirte hat vorherrfchend das Gr 
fühl der Hemmung, des Elendé; er bedarf der fördern 
den Heilung. Diefe beginnt mit der Entftehung dei 
Glaubens. Der Glaube, wenn rechter Art, eine wirt 
lihe unio cum Christo, hat ſchon im erſten Moment 
alle Heilsſchätze in ſich und die einflige Seligkeit gewiß, 
wenn ihm gleich diefe Gewißheit erft nach und nad auf 
geht, Aber ob ich den rechten Glauben habe, alfo mit 
Ehriſtus unixt und feiner Gnadenſchätze theilhaftig bir, 
deſſen kann ich nur gewiß werben durch meine Werfe. 
Das religiöfe Selbſtbewußtſeyn hat fih ale ſolche⸗s nat 
feft in der Energie des Willend. Der objective Grund 
meiner Werke, ald wozu ich durch den Glquben ſtets ge⸗ 
trieben bin, und meines Glaubens, als ihrde Wurzel, iR 
Gottes wiedergebärende Gnade. Hire if} nicht bie ZA 


* 
ı 





die Glaubenslehre ber evangelifchsreformirt. Kirche. 961 


Iung ded Glaubens mit Rechtfertigung, fondern die Ent: 
Rehung des Glaubens ſelbſt der principale Punkt; das 
Sottedbewußtfeyn hauptfächlich der Goefficient des ans 
treibenden , vorfchreibenden Gewiſſens, das als h. Geiſt 
in der novitas das Alte andlöfcht. Hierauf berußt der 
Intherifche Borwurf der judatftifchen Gefeblichkeit, hierauf 
aber auch die Rothwendigkeit, eben um das Bewußtſeyn 
des Heild aus Gnaden feitzubalten und die Dazu nöthige 
Reinheit des Strebend zu wahren, ed ſchlechthin auf 
Gottes Than, auf die freie Bnade, auf den ewigen de- 
lectus gnrüctzubegiehen: Bon diefer Seite, alfo ausgehend 
von der. beiderfeitigen Berfchiebenheit des religiöſen Les 
bene felb und ben darauf bezüglichen boctrinellen Feſt⸗ 
kelungen, würde ich die Eigenthümlichkeit der reformir« 
ten Lehre im Gegenfaße zu der Iutherifchen zu beftimmen 
ſuchen und gerade glauben, die religiöfe Eigenthümlich⸗ 
feit reiner zu erhalten, ald auf dem Wege des Verf, 
weicher Baum gegen die Befahr geſchützt feheint, feinem 
ziemlich abfkracten Principe durch bloße fecundäre, fchon 
der Schulwelßheit angehörige Hälfsvorftellungen fcheins 
baren Nutzen zu geben und daher eine reiche Entwicke⸗ 
lang eigenthümlich reformirter Glaubensvorſtellungen ig» 
noriren oder befeitigen zu müflen. eine Geringadtung 
ber Gonfeffionsichriften, feine völlige Nichtbeachtung der 
fo lehrreichen nnd an dogmatifcher PBräciflon nicht zurück⸗ 
ſtehenden Tatechetifchen Fitteratur (nur Leydecker ift anges 
führe) fcheint von einer Anficht bedingt, welche bie eis 
gentliche Syſtematiſirung höher ſtellt, ale die Natur der 
veformirten Doctrin erlanbt und ſich das Berhältniß bes 
Dogma’d zur elementaren religiöfen Vorſtellung übers 
haupt burch das Intereſſe des objectiven, philofophiichen 
Erkennens trüben läßt. Freilich, da der Verf. nicht bloß, 
was er zumäghft verheißt, eine unferer Zeit verftändliche 
Darlegung: 8‘ orthodoxen Lehrſyſtems der reformirten 
Kirche geben: wollte, fondern fein Buch auch dazu bes 
Me Fr : 


7 


962 5 Schrweiger 


ſtiennt hat, in demſelben ein Muſter confequenter Durch⸗ 
arbeitung zu zeigen, das für die Weiterbildung ber Dog⸗ 
matit überhaupt dienen fol, fo wird er für fein Berfab- 
ren das Recht der Eigenthümlichkeit in biefer Beziehung 
um fo mehr in Anfpruch nehmen dürfen, ale er fi da 
mit nur den von ihm verzeichneten Borgängern anfchließt, 
welche der jededmaligen Zeitphilofophie einen fehr großen 
und temperirenden Einfluß geflatteten, überhaupt aber 
die reformierten Dogmatiler der Uebereinſtimmung mit 
der sana ratio auch vor GSartefind ſich geru erfreuten. 
Kap, II. behandelt die Geſtaltung und Litteratur ber 
reformirten Dogmatik faumt den Onellen, aus welden 
das Lehrfuftem gefchöpft wird. Die fogenaunten Gym 
bole reichen nicht and, um daflelbe vollftändig und feharf 
zu entwideln. Sie werden auf eine Art charakteriftt, 
wie bieß. wohl fonft von Intherifchen Polemikern gefchab, 
nämlich ald der eroterifchen Lehrart angehörig, hinter der 
fih eine efoterifche, Die eigentlich dogmatiſche, verbarg. 
Der fel, Scheibel fände bier feinen Lieblingsvorwurf von 
seformirtem Spiepriefteethume beflätigt. Nur aus ber 
Schuldogmatik fey gu ſchöpfen, wobei die gerühmte Gen 
fequenz zu Hülfe tomme, dad eigentlich Kirchliche von 
Privatanfichten zu unterfcheiden (9). ine Ueberſicht der 
Haupteutwidelungen der Schuld ogmatik ſchließt ich an, 
- welche mit einer Charakteriſtik Schleiermader’s im Ber 
hältniffe zum reformirten Lehrſyſteme eudigt und fobanz 
die verfchiedenen Methoden befpricht, die aber alle zuleht 
auf Einen Grundtypus zurückgehen. Wir können uns bei 
dieſem werthvollen Abſchnitte, in welchen der Verf. eine 
ſeltene Bekauntſchaft mit den älteren Dogmatikern ver 
räth und höchſt lehrreiche Fingerzeige gibt, nicht anfhal⸗ 
ten und bemerfen bloß, baß er der reformirten Dogma 
tif al& einer wefentlich fpeculativen Die deducirende Mer 
thode vindicirt, welche, von der Idee Gottes ausgehend, 
zu feinen idealen Thätigleiten und beren realer Ausfäd 





die Glaubenslehre der evaugeliſch reformirt. Kirche. 963 


rung fortſchreitet. Der Intherifchen Dogmatik, meint er, 
fey die Methobe aufgegeben geweſen, welche vom Men⸗ 
fhen ausgehen nud bei Gott und feinen decretis enden 
follte._ Nun fey .diefe aber fchon von Melanchthon vers 
wifcht werden, welcher ebenfalls fpeculativ vom Grunde 
aller Dinge, von Bott, ausging, daun zu ben Mitteln 
der Seligkeit, zur Beſtiumung des Menfchen überging, 
was dann bid Calirt conflaut geblieben ſey. Es mund 
nun höchſt auffallend erfcheinen, daß die Imtherifche Dog» 
matik gerade in der Zeit der räftigftien orthoderen Blüthe 
ſich der reformirten Methode bedient, alfo gänzlich ihre 
eigene Natur entäußert haben fol. Zu diefem Auffallen« 
den anf der einen Geite kommt ein nicht minder Auffals 
lendes anf der auderen. Wie fern ift gerade Galein, dee 
Bater der reformirten Dogmatil, von diefer Methode? 
Zwar ſucht ihn der Berf. (S. 100.) ganz anf demfelben 
Gange zu finden, geht aber flüchtig darüber hinweg umb 
führt felbfk eine Ausnahme au, welde geradezu die ganze 
Behauptung vernichtet. Sodann aber it wohl zu beach» 
ten, daß feit der Ginführung des heidelberger Katechts⸗ 
mus auf den meilten reformierten Lehranfalten der dogs 
matifche Uinterricht nur in: einer Analyſe dieſes Lehrbuches 
beftand, das von jener Methode am allerweitchten ent⸗ 
fernt if. Diefe ganze quantitatio fo audgebehute nnd 
qualitativ fo mannichfaltige Elaffe Dogmatifcher Lehrbu⸗ 
cher, als beren erfied Ursini explicatto erfcheint, und welche 
die bisherigen loci commımes, die auch gar nicht dedu⸗ 
cirenb waren, ablöften, muß der Berf, ignoriren, um 
feine Theorie von der dedneirenden reformirten Methode 
feftzubalten, welche nur von einer verhältnißmäßig Fleis 
nen Zahl von Dogmatifern befolgt wurde. Schon das 
Weitere, was ber Berf. als befonders charakteriftifch für Die 
reformirte Behandlung anführt, Die fehr beliebte Unterſchei⸗ 
dung ber Födera nnd Delonomien, weift aufeine ganz andere, 
als jene fpecnlativo dedneirende Methode hin. Gerade'in dem 


Buubeöverhältuiffe wird eine Gelbkäudigleit des religiſer 
Oubjectö geſetzt, welche beider theologifchen Debuction dei 
Berf, ich nicht wohl ergibt, und ſelbſt die Ginkleibun 
bed ewigen Heildrathfchinfies in bie Form einer Bunder⸗ 
verbaudblang ift angenfcheislich nur Übergetragen and der 
unmittelbaren religiöfen Berhältuiffe ded Jadivibuume. — 
Höchft erwänfcht für Die Mehrzahl der Leſer wird die 
Ueberficht der bebentendfien reformirten Dogmatiler feys 
($. 22.), da dieß ganze Tilteraturgebier zu ber terrı = 
ooguita deu neneren Theologie gehört und in den Gem: 
pondien der Dogmengeichichte kaum won dem einen od 
audern Rotiz genommen if. : Ueber bie Art ihrer Be 
nusung ‚Außert ſich der Verßẽ dahia⸗ daß für jede Ent 
wickelyugophaſe einige anerfisinte. Lechrbucher zu gebras: 
hen: ſeyen. In der Borrebe gibt er aber zw, daß hierin 
beine: Gleichmäßigkeit herricht. Ref. wärde:ale hierin ar 
zuſtredendes Ziel betrachten, für jeden Lehrſatz aus alın 
befonderen Schulen die Hauptzengen zu wählen un 
biefe um ‘die fymbolifchen Beſtimmungen 'umb die um 
fprünglichen FZaflungen der Reformateren zu gruppise. 
Aus diefer Mannichfaltigkeit der Erpefition Kieße ich au 
ficherieu das gemeinfame Riformirte, wie es burd alt 
seitlichen Formen und Methoden burchichlägt, erfcams; 
die einzelnen Dogmen ließen fich in größter Reinheit faf- 
fen, und das ſcheint für den Augenblick wichtiger, ald 
bie Sphtematifisung, weßhalb Ref. bei aller Auerfeuauss 
ber nom Verf. gewählten Architektonik, auf die wir frd 
ver zurücdtommen, doch die urfprüngliche Localmethode 
gewählt wänfchte, welcher nur eine genane Gherakıri 
Rit der. auderen complicirteren Methoden voranszuſchider 
war. “Sehr geiſtreich hat der Verf. die alte Unterſcheu 
dung von foedns neturae unb gratise und bie fpätere vor 
religio ‚neturalis und revelata auf einander rebacirt zn 
darauf feine @incheilung ber Dogmatil gegründet, ab! 
eben dadurch, auftatt beiden gewöhnlichen Methode 


die Blaubensiehre ber evangelifihereformirt. Kirche. 965 


gleichmäßig zu Ihrem Rechte gu verhelfen, eine britte neme 
geltend gemacht, von welcher ſchwerlich wird gefagt were 
den Birnen, daß fle in gleichen Grade der altreformirten 
Behandinngsart der Dogmen, mie den Begriffen der 
modernen Religionsphilofophie entfpricht. Ueberhaupt 
iſt nicht zu verfennen, daß der eigentlichen Religionsphis 
loſophie ein Einfinß geftatter ift, wie ihn wohl faum nur 
die eine und andere (Schule der reformirten Dogmatif 
würde gutgeheißen haben, und wedurd der größte Theil 
der Schulen abgehalten werden würde, firenge Drtho⸗ 
dorie anzuerkennen. Hätte der Berf. babei nur dasjenige _ 
abgewifcht, was in der älteren Dogmatik der bamaligen 
objectiven Weltanfchauung angehört, und dafür den al 
ten religiöfen Stoff nur in der modernen Vorſtellungs⸗ 
und Begrifföform verarbeitet: fo wäre fein Berfahren 
im Allgemeinen wohl über Einwendungen erhaben. Us 
lein es if fehr Die Frage, ob durch die vorgenommene 
Umgeftaltung ber Gehalt des fromm empfindenden Selbſt⸗ 
bewußeſeyns, das fpecififch reformirte Gefühl nicht vielfach 
alterire worden iſt. Wahrfcheinlich muß dieß ſchon der Um⸗ 
fand erfcheinen laffen, daß der Berf. einerſeits (S. 88.) die 
reformirte Orthodoxie in der Form eines der damaligen 
mechantfchen Weltanfiht angehörigen, aͤllzu mechaniſch 
Vorgeftellten Determinismus finder, nnd doch anderer, 
feits (S. 137.) den Gründern des Lehrbegriffö die nicht 
mechanifche immanente Gottedvorftelung vindicirt, ale 
den mit dem religisfen Grundgeflhle nahe verwandten 
zweiten Factor der Dogmenbildung, welche nur fo nadı 
der wahren dogmatifchen Grundidee vor fich gehen fonnte. 
Entweder fcheint er fo der fpätern orthodören Dogmens 
bildung eine Berunreinigung des religiäfen Grundgefühls 
feld Schuld geben zu müffen, weil diefes nur in der 
Einheit mit jener Weltanficht fich als die dogmatifche 
Grundidee bethätigen fann, dann füllt aber das Recht 
dinweg, diefe ausgebildete Orthodorie bei der Darſtellung 


* 


des Lehrſoſtems zu Beuude zu legen, oder er mm cu 
gewifle Unabhängigkeit des religiöfen Stoffes amerfennen, 
vermöge weicher derfelbe auch in deu Gebilden fein 
mechanischen Weltanſicht fich erhalten mochte, und dam 
wäre auch jener urfpränglich zweite Bactor ber Des 
mwenbildung, bie nichtmechanifhe Weltanficht der Re 
formatoren, wicht vom derjenigen bogmatifchen Wichtiz⸗ 
keit, welche ihm der Verf. zufchreibt, und woranf bin er 
id, Umgefkaltungen der Dogmen erlanbt; der. Verf. muft: 
auch in der eigenen ſyſtematiſchen Darkelung den sel. 
giöfen Stoff in feiner Unabhängigkeit von fpecnlativa 
Elementen hervertreten laflen. Sehr richtig fagt er(S. 135.) 
„In der Dogmatik jeber Gonfeffion und jedes Zeitalter 
drädt ich ſowohl die vorhandene Frömmigkeit ans, ai 
auch die vorhandene Weltanfiht, wie fie populär Ale 
vorſtelendes objectives Bewußtſeyn erfült und im der 
Zeitphiloſophie organifh fih zu begrdude 
ſtrebt. Das Dogma if immer und überall eine Bar 
fchmelzung beider Elemente des Geiſtes.“ Aber es darl 
ber gefperrte Gab nicht, wie der folgende verwifcen 
andeuten Tönnte, alfo mit dem vorherigen verband 
werden, ald wäre das Kleid des Dogma’s, d. h. it 
Ausdruck der religiöfen Empfindung und Strebung, W 
philofophifch begründete Weltauficht, fonbern dieſes Kkid 
iR zunächſt nur die populäre, als wedurd die religiält 


Vorſtellung entficht. Diefe eiguet der Eonfefflon, vn 


Lehrbegriffe, mag das Schulſyſtem noch fo wiel von pr 
lofopbifchem Apparate, von philofophifch durchgebildeten 
Begriffen aufnehmen, um die Glaubenswahrheit möglichl 
in der Form der höchften Zeiterfeuntuiß darzuſtellen. Dei 
Berf. ſcheint dieß wicht gehörig unterfchieden zu haben 
wenn er, von einer ber gegenwärtigen Zeitphilofophie an 
gemeffenen Grundidee, weiche er dem religiöfen Grund 
gefühle der Neformatoren verwandt findet (Calvia's Er 
Härungen gegen Gervede wären bier übrigens noch I 


die Slaubenslehre der evangeliſch. reformitt. Kirche. 967 


beachten), ausgehend, die geſammte dogmatiſche Probuction, 
weiche mach ihm felbft auf einer dualifiifchen WBeltanficht 
beruht , jener conform macht, ohne Nädfiht darauf, ob 
durch folde Metamorphofe nicht wefentliche religiöfe 
Strebungen nnd Empfindungen, wie fie die alte Vorſtel⸗ 
Iungsform in fi fchließt, verwifcht werden. Dadurch 
konnte es gefchehen, daß er die Apofataftafe, diefen hor- 
ror der gefammten alten Dogmatiler, ald orthodor nach⸗ 
wies. Der Berf. ift ſich ſelbſt einer Snconvenienz bemußt 
geworden, wenn er in der Vorrede bedauert, die jedem 
6. beigegebene Beleuchtung und bie Kritik nicht beſtimm⸗ 
ter unterfchieden zu haben. „Richt felten it aber die Dars 
legung” bed gegebenen Stoffes felb von der Art, baß 
man nicht, die alte Lehre der Kirche, fondern fchen die - 
Transformation bed Berf. darin erhält. Indem wir die 
Behandlung der einzelnen Dogmen einem fpätern Artikel 
vorbehalten und auf die Vollendung des Werkes verfchies 
ben, ſollen für das bisher Gefagte nur zwei Erempel 
zengen, ber locus de scriptura uud de praedestinetione. 
Es ift in neuerer Zeit gewöhnlich geworben, den 
reformirten Schriftgebraud; zu dem Iutherifchen in Ge⸗ 
geufag zu ſtellen und auf die Berfchiedenheit der beider⸗ 
feitigen Schriftiehre mehr oder minder Gewicht zn legen 
(Bödel, Dorner). Ein alter, and vom Berf. erwähnter 
Ruhm der Neformirten iſt ed, daß bei ihnen Das Schrift⸗ 
priucip fchärfer gefaßt werbe. Während nun aber ſonſt 
der Berf. jeden Unterfhied von den Lntberauern mit 
Eifer aufſucht, unterläßt er es hier, die Abweichung zu 
martiren, und ſtellt vielmehr die ganze Lehre fo dar, daß 
gerade dad, was man wohl der Intherifchen Weiſe zu 
bindiciren liebte, als reformirte Eigenthumlichkeit erfcheint, 
z. B. daß bie heil. Schrift nicht einzige Quelle der Staus 
ben6wahrheiten, foudern nur Rorm und Regel fey, neben 
welcher die kirchliche Lebenstrabition ihre Bältigkeit habe, 
daß fie nur die Darkellung ber neueſten Dffenbhrunges 


trabition fey. Aurz, es wird ungefähr bie ſchleiermacher⸗ 
ſche Schriftlehre als die altorthodore dargelegt und «ia 
der mobernen Betrachtung fehr mundgerechtes Kapike 
herausgebracht, Rur wie im Borbeigehen erfährt mas 
bei der JInſpiration, in der Schlußkritik und ſonſt ud 
(163.) von den Uebelſtänden und Steifheiten, welche bie 
fed Dogma brüden. 

Hier tft eine Bermifchung verfchiedener Tendena 
fihtber, ein Schwanken zwiſchen werftändblicher Darleguy 
Der altorthoderen Beſtimmungen und Aufſtellung eine 
Die Gegenwart befriebigenben Dogma’d. Ich habe un 
auch die Ueberzengung, daß fich die reformirte Schrift 
lehre wach ihrem wefentlichen Geiſte und mit hiſtoriſcher 
« Erklärung ihrer Steifheiten und Auswächfe anf eine burd- 
aus uneuftößige Art darſtellen läßt. Aber dieß wird 
nicht möglich ſeyn durch eine fo unmittelkane Anwendung 
und gewaltiame limprägung älterer testiimonia, wie ft 
Der Verf. vornimmt, wenn er z. B. für den Gag, daß die 
Schrift nicht Quelle alled chriſtlichen Glaubens und fr 
beus fey, fondern die kirchliche Tradition neben ſich habe, 
eine Stelle aus ber Vorrede von Musculus lock beibriag, 
worin biefer über die fchlechte Methode ber berner Pro 
diger Elagt, welche nur pastillariter irgend eisen textun 
seripturas tractiren und keinen loeus communis vrdentlich, 
fondern confuse nnd impertinenter erplicizen. Diefe 
Tadel. gegen eine bequeme aualytifdge. Predigtweiſe lam 
doch ‚fein testiinonium ſeyn für bed Verf. Theſe, asd 
nicht, daß Andere der theologia zunächſt die loci communes 
and daun erſt Die Schrift. zur manteria geben. Deus dk 
theelogie ift eben die fchulmäßige Behandlung ber Reli 
giondichre; diefe aber wirb fo fehr nur ald Gchrifticht 
gewußt, daß, wie ſchan Calvin _mit fcholafifchen termiek 
thut, weiche nicht in der Schrift enthalten find, noch iM 
17. Sahrhunderte vielfach ausdrädlich dad Recht unter 
fucht nad and der Schrift vindiciet wird, die Gchriftlehtt 





die Glaubenslehre der evangeliſch reformirt. Kirche. 969 


audh in ein oompendinm doetrinae, einen rÜzog uyıuwörsenn 
Adyaaw zufammenzuftellen, ja daß Göbel geradezu fagen 
kann, die Neformirten wollen eigentlich gar feine Dogs» 
matik, welche etwas Weiteres fey als bloße, reine Gchrifts 
iehre (vgl. Zwingli in Expl. simpl. IV. 67., vom Berf. 
ſelbſt angeführt ©. 33: Non vel lote unum docemus, quod 
non ex divinis oraculis didicerimus). 

Wenn es biäher gewöhnlih war, in ber Stellung, 
welche ECalvin dem Prädeſtinationsdogma gab, deu reli⸗ 
giöſen Ort zu finden, wo dieſe Vorſtellung für die refer: 
mirte Frömmigkeit naturgemäß entſteht (Baur), und bie 
Htneinbildung beffelben in die göttliche Eigenſchaftenlehre 
als eine ſcholaſtiſche Berirrung zu bezeichnen (Nitzſch), fo 
hat der Berf. dagegen Calvin's Anorbunng fa nur ent 
fhutdigen zu müflen geglaubt nnd die geſammte Prä⸗ 


deſtinationslehre mit allen ihren dem fubjectiven Gebiet 


_—. — 


angehörigen Auneren unter die ben @igenfchaften des Bas 
ters im trinitarifchen Sinne entiprechenden Tchätigfeiten 
gegogen. Es entfpricht bieß einerfeitd volkommen bem 
ſyſtematiſirenden und theologifirenden Streben des Verf., 
ſchließt aber doch auch eine Doppelte Reuerung in ſich, 
von denen nur Die Eine zu begründen verſucht wird. 
Die erſte if eine der ref. Lehrdarſtellung fat fremde Ber» 
türzung bes Theile, der von der Heildaneignung handelt, 
der an dieſem Orte freilich nur ſehr mager behandelt 
werden kann ‚(eortitudo), die andere das Uebertragen 
defien, was vou ben Alten uno ore der gefammten Trini⸗ 
tät zugefchrieben und bloß attributioe dem Bater beige, 
legt wird (Belege ©. 248.), auf den trinitarifch unter 
ſchiedenen Bater. Dabei muß natürlich ganz anfer Acht 
bleiben, daß die Alten gewohnt waren, dem Präbeftinas 
tionsbecrete das pactum salutis an die Seite zu ſtellen, 
in welchem bie drei Perfonen als gegen einander iu res 
ſpectiver Thaͤtigkeit befindlich vorgeftelt werden und in 
pecie der Adyos ald Repräfentant der Glänbigen das 


foodus eingeht. Daher denn audı elite elsetio prepter 
Ohrietum gelehrt wird. u vorliegender Darfeliuss, 
weiche Ehriſtus in jedem Betrachte nur ber exoentis bed 
deoretum angehören nud felbft qua Adyos von dem pr& 
deſtinirenden Bater geſchickt werben Iäßt, Tann biefe ganze 
Borfielung keinen Raum finden. Iſt fie ja dod nicht 
Aunderes als der in die vorzeitlicde, ewige Region dei 
göttlichen Lebens suridfallende. Refler derjenigen Ber: 
haltniſſe des inwern Lebens, ald deren nächfter Auddrsd 
die Lehren von der Eriöfung, Genugthuung, Redhiiertv 
gung, Heilönerficherung baftehen, alfo gerade jemer eigen 
Wüntiche chriſtlichen Geelenbewegungen, welche dem Batl. 
möglich verblaſſen in das fchlechthinige Abhängigkeits 
gefühl von der mit ber Naturhervorbringumg ibentifchen 
Heilsastuofktät Gottes. Daß aber die Hellduetuoktt 
Gottes ſich eben im der objectiven Heilsanſtalt verwir: 
liche und durch die Heilsmittel den Einzelnen erfafle, iß 
Die conkante Meinung der ref. Froͤmmigkeit gegen die 
anabaptiftiiche Schwärmerei, welche nach dem Berf. bi 
Buade vein innerlich ohme geordnete media wirken tät 
(8, 55.), Wie nun mein Hell mir nicht anders fehle 
ben Tann als in meinem ewigen Erwähltfeyn, fo if wei 
Heil kein anderes, ale das in jenem ewigen mic eis 
fchließenden pastum eingeſchloſſene. Mein ſchlechthir⸗ 
ged Nohängigfeitögefüähl von der ewigen Heildacmefiät 
Gottes (obgleich die zeformirte Frömmigkeit gewiß sid! 
zufrieden iR mit den Oroszeie des bloßen Mbhängig 
feitögefähie) oder dasjenige Abhängigkeitögefänt, welches 
Mi ale Electiounvorſtellung ausbildet, ob es entficht au 
der Idee der allgemeinen abſoluten Actworktät Geotich, 
angewandt auf die Aueignung bes Erlöfungähells, oder 
aus dem wirklichen concresen Bewußtſeyn des Heilsbeſiter 
in Shrifte nach feiner fpecififgen Natur ale Sänderkeild 
— das ſcheint die Hanptfrage, von deren richtiger Br 
antwortung nicht ‚bloß bie Entfdyeidung abhängt.Aber die 


die Glaubenslehre der enangelifchereformirt. Kirche, 971 


fadhgemäge Stellung feines Dogma’s in einer Dogmas 
tie, welde ihren Boden nicht verleugnet oder durch ſpe⸗ 
eulative Gebilde uberwachſen läßt, fondern auch die Ent: 
fheidung über des Verf, Recht einer fpecififch theologi⸗ 
Ihen Kundamentirung der rveformatorifchen Dogmatil. 
Menn ich mic nun gegen ben Berf. zur zweiten Ans» 
fiht befenne, fo mag ich dem Syſtem immer noch zuge⸗ 
fichen,, daß es die Prädefination unter bie theologifche 
Lehre ind Kapitel von ben Werten Gottes heraufnehme, 
aber nur als theoretifche Anticipation, welche für manche 
fpäteren Lehren als modificirende Cautel dienen kann, nicht 
aber ald Ausflug der göttlichen Wefends und Eigenfchaftens 
lehre ſchlechthin, als wodurch die religiöfe Ratur des frage 
lihen Dogma's alterirt und es faſt unmöglich wird, den 
göttlichen objectiven Heildveranflaltungen zur Execution 
des Prädeſtinationsdecrets ihre dem Bewußtfeyn ber 
reförntirten Frömmigkeit entſprechende Bedeutung und 
Kraft zu vindiciren und dem anabaptififchen Zuge zu 
widerfichen. Der Verf. folgt der entgegengefehten Ans 
fiyt, — ob dazu genugfam berechtigt durch Zwingli’s 
Aeußerungen (der nur in fehr befchränktem Sinne der Bar 
tee der reformirten Lehrbildung heißen Tann) ober durch 
den usus der fpäteren Scholaftit und durch manche bei 
ſchon feſtſtehender Prädeſtinationsvorſtellung ihr beige⸗ 
gebene theologiſche Stütze — ob nicht vielmehr dem ſpe⸗ 
enlativen Factor der Dogmenbildung zu lieb als dem 
reformirt religiöfen, — dad wäre bie Frage. Da dieſer 
Punkt von entfcheidenber Wichtigkeit iR für ben Geil - 
und die ganze Haltung ber reformirten Dogmatif a), fo 


a) Wäre die Präbeftinationsicehre, weldye ins gange Dogmengebiet 
fo charakteriſtiſch eingreift, theologiſchen Urſprungs, fo wäre, 
weil die Bottesibee nady Einer Geite hin ber fpeculativen Mes 
dandlung ſich barbietet, jede aus ſolcher hervorgehende Modifi⸗ 
cation in ber Auffaffung der Prädeflinationsidte, mithin über- 
haupt ein Princip der gefammten Dogmenbilbung und Umbils 
bung gerechtfertigt, von welchem ber Verf. Gebrauch macht, 

Theol. Stud. Jahrg. 1847, 8 


92 Schweiner 


erlaube ich mir, in der Kürge meine vom Berf. abwei⸗ 
rende Wnficht über die wahre Natur der Geneſie — 
Pradeſtinations vorſtellung aus zufuhren. 

Schon daß alle Stimmen ermahnen, une in PR 
die eigne Ermählung zu fuchen, weiſt anf den erſt biefeitt 
der Heilsoffenbarung in Ehrifte liegenden Ort him, we iv 
wer Gedanke eutficht. Es iſt die eufahrene Kraft jemes Ge⸗ 
rachs des Lebens zum Leben, was mit ber Wahernchmung, 
Daß er auch Geruch des Todes zum Tode wird, das dem 
thige Herz zurüchſchauen läßt auf die umverbiente, frei 
Auswahl Gottes, im weicher ed allein ſein Seil wu 
fiher weiß. Es if die continwsliche Spannung dr 
Willensenergie im Heilsleben, welche nur. indem fi 
(ich gewollt weiß von der abfolunten, heiligen Emergit 
ihren Beftand und ihre Reinheit behaupten kann, Aw 
ihr aber gebt allein die zuftändliche Heilögewißheit, dir 
Gewißheit ded eigenen Glaubens und Blanbenseft 
für dad Subject hervor. Wenn der Berf. nach Zwingli 
einfach fagt: der Blänbige ift feiner Erwählung gewä, 
ſo können natürlich auf diefem theologifchen Boden, m 
er die gange Sache hält, die Bermittelungen diefer oertitude 
aelutis wicht Dargekellt werben; als eine eertitudo fidd 
hängs fieab von denjenigen Bermittelnagen ‚, durch weidt 
bas glänbige Seibſtbewußtſeyn ſich ſelbſt has, won der 
Willensbethätigung (heidelb. Katech. 86). Wie nun hir 
für gegen den Pelagianismus und Indaismus bie noil 
wendige Vorkehr it, daß nur actus agit, die Idee dei 
heiligen Geifled, der unio eum Christo (Ohristes non otie 
ns), fo if als letztes und tieffted Fundament für dit 
energiſche Zufändlichkeit der alle jene Vorfiellungen tra 
gende Gedanke ber göttlichen Wahl gegeben. Se ihm 

weiches aber nicht als das ſpecifiſch reformirte betrachtet mi: 

den Tann, wofern es fig mit der Prübeflinationuiehre ſelbſt an 
ders verhält, wofern dieſe vielmehr ans ber cancreien Deiimmd 
heit bes chriſtlichen Heilöbewußtfegns als folchen hervongeit. 


die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche, 978 


ruht gleichſam Die durch Willensthätigkeit ſich herſtel⸗ 
lende Heilsgewißheit, gleichwie in ſolcher Ruhe bie Wil⸗ 
lensthatigkeit ſich ſtets nen erfriſcht und reinigt, Wir 
werden hierauf weiter unten zurückkommen. 

Schon die Stellnug, welche Calvin dem Dogma 
gibt, und die Art, wie er daſſelbe andführt, beweiſt ge⸗ 
rade weil er ver keiner theolagifchen Conſequenz ſich 
fchent, für bie Geneſs der Borflellung aus dem ſudjec⸗ 
tiven Boden. Auch wenn wir fonft die Geſchichte der 
Formation bed Dogma’d verfolgen, werben wir durch alle 
Die theslogifehen Gründe hindurch, wemit nadı Zwingii’s 
Dorgang die einmal adoptiste uud in die Theologie her⸗ 
aufgenommene Borkellung geftügt wurbe, ben urſprüng⸗ 
lichen Ton des Dogma's durchklingen hören. Musculus 
handelt no, wie Calvin, erfi nach ber Ades von Ber 
Pradeſtin ation und hebt befoubers hervor, quanta cerli- 
tudo salutis in cordibus Adelium ex co nascatur, quod 
credunt se Deo curse fulisse ante conditum mundum. 
Daß wir nur in Bott respeotum elentionis nostrae fuchen, 
dazu zwingt und propriae vilitatis ac depravationis sen- 
aus. Die@rwählung fchließt in fich eine Bemeinfchaft der 
electi und des aligens. Dieſe ooniunctio der ſo verfchias 
denen Naturen, Gottes uud bes Menfchen, kann abeqıe 
mediatoris giutime nicht gefcheben. Diefer ift Chriſtus; 
durch Die eleetio And wir fo an Chriſtus gelnüpft; une 
fer Glaube an ihn ruht anf Dem älteſten, dem ewigen 
Fundamente, Quare mysterium ‚hoe debemus — in Christo 
inspioere ot ad oertitudinem salutis mostrae in cordihus 
nostris confirmandem cenesiderare, qguomode eodem consilio 
Dei, eodem aeternitate adeogue et similitudine eloctio noatri 
cam mysterio Christi nitatur et subsistat. Au Chrikum 
glauben fann.derjenigenicht, quidegratia electionis et adop- 
tionis dubitat. Kann es einen Deutlicheren Beweis geben, daß 
nicht der abſtracte Sag: alles Heil kommt allein aus Bott, 
ſondern der concrete: das Heil an Ghrifte dit durch Got⸗ 

65 * 


974 Schweizer 


tes Gnade mein, die Baſis des Electionsbegriffs if. 
Nicht die Notiz, daß der Glanbe an Chriſtus und der 
Heilseffect deifelben nur durch Gottes Bade in mir axfı 
gegangen, fondern bie Zuverficht, daß ich, durch den Blaw 
ben an Ehriftus in den Beſitz des Heils geſetzt, daſſelbe 
fiher und unverlieerbar habe, indem das Heil im Ehrife 
auch mir, dieſer beflimmten fündhaften Perſon, fen 
bei dem ewigen Heildrathfchluffe zugetheilt worden, ij 
der Kern des Dogma's. Die häufige Unterfcheibung: 
provisio est de omnibus futuris tam bonis quam malis acti 
onibus, providentia sive dispositio est de hominum e«cti- 
onibus, praedestinatio est de hominikus ‚salvandis sr 
de hominam extrema salute,, wird auch von Hyperius au 
gewandt, aber fo, daß er von der praedestinatio vor dei 
Providenz und Schöpfung handelt, zum deutlichſten Beweik, 
daß die perfönlich fubfective Heildgewißheit, nicht bie objet- 
tive Gottedlchre die Wurzel bed Dogma’s ift, das dem 
auch vornehmlich nach feiner fubjectiven Seite, nad fi 
nem praftifchen Momente erponirt wird als Antrie 
zur Heiligung. 

Wenden wir und'zu einer Geitenbetrachtung. Bela! 
iR, daß die Lutheraner dem reformirten Dogma vorwarfen, 
eine die Erbfünde abwifchendesanctitas uterina der Erwaͤhl⸗ 
ten zu Ichren, daß ferner die Antinomiften aus dem eige 
nen Schooße den Satz auffiellten, bie electifeyen nungusm 
non auch regenerati, iustificati etc. Wenn nun bie dt 
thobore Lehre mit allem Nachdrucke gegen Beides fi er⸗ 
Härte, fo fann ber Grund davon nicht in dem mechari⸗ 
fhen Dualiemus liegen; vielmehr wärde, gerabe de 
Dualiömus vorandgefegt, fi aus dem Präbdeftinationd 
bogma, als einem theologifchen Probucte, ald eine 
Ausdrucke für die abfolnte Actwofltät Gottes, für die Er: 
wählten durchaus jener Sag ergeben, wonach bie nere 
Schöpfung ber vocatio interna und eflicax unferm Berl: 
heißt eine prima conservatio und bie belebenden Anfänge 
ber Erecution, zu den weiteren Heildführungen gefehlt, 


die Glaubenslehre der evangelifchsreformirt. Kirche. 975 


weit zurüdtreten gegen bie eigentlich hervorbringenbe 
Action im göftlihen Rathſchluſſe (S. 138.). 

Die FZolgerung ift, — gerade den Dualiemus in fei« 
ner Schroffhgit, wie ihn bie Kirche hat, vorausgeſetzt, 
eine unabweisliche. Was tft nun wohl ber. Grund, daß 
ſich die Orthoboren nicht bavon abbringen laffen wollen 
zu behaupten, der electus fey vor der regenerstio dem 
Sünder durchaus gleidh, revera ein filius irae, ein da- 
mnandus, bie Wiedergeburt und Belehrung mithin eine wes 
fentlihe und gänzlihe Umänderung, mithin nicht bloß 
dad aufgehende Bewußtfeyn um das fchon von Anfang 
im Kerne der Perfönlichkeit vorhandene wahre Seyn; baß 
fie nicht müde werden, folches zu behaupten, troß dem 
daneben fefgehaltenen Sage: jener wirkliche Sünder und 
filius irse fey im ewigen Electionsdecret als ein fidelie 
und salvandus begriffen und fomit feinem finalen Seyn, 
und feinem ewigen Geſetztſeyn nach toto coelo verfchieden 
von dem reiectus, dem er ald Sünder ganz gleich ift: 
was anders kann der Grund hiervon feyn, ald daß ih—⸗ 
nen dad Prädeftinationsdogma eben nicht eine theologis 
ſche Sonfequenz, nicht eine Folgerung aus dem abfoluten . 
Adhängigkeitögefühle war, daß ed ihnen vielmehr felbft 
nur entflanden war aus einer Beſtimmtheit des Selbſt⸗ 
bewußtſeyns, in welcher die fittlihe Idee unmittelbar 
galt nnd Die angegebene Schärfe und Lebendigkeit hatte, 
daß ſelbſt die nächflen Eonfequenzen aus jener Vorſtel⸗ 
lung, abgelöft von ihrem mütterlichen Boden, zurückge⸗ 
wiefen wurden? Halten die orthodoren Lehrer gegen eine 
aus dem Präbeftinationddogma ſich darbietende Gonfe- 
quenz die widerfprechende Ausſage des unmittelbaren 
fittlichen Bewußtfeyng fer, legen fie mithin in das letztere 
eine Realität, gegen welche felbft die aus ber ewigen 
göttlichen, Alles beftimmenden That der Election fließende 
Folgerung nicht aufkommen kann: fo ift ber Gedanke ein 
unmöglicher, daß jene Präbdeflinationsvorfielung aus 





978 Scchwetzer 

Der Gottesibee ſelbſt einfach und originciter hervorge⸗ 
wachſen ſey, wett fie fonft durch ihre theologiſche Geburt 
jede anthropologiſche Hemmung ihrer Gonfegnenz hätt 
ſprengen müflen. Beharren die Nedytgkäubigen mit Rad 
druck Darauf, daß auch der electus totaliter in dem Zu 
Rande des reiectws ſey vor der Wiedergeburt, ebenfo um 
ger ber tra dei, wie jerter ; tft ihnen alſo die Wiedergeburt ein 
qualitativer, nicht bloß phanomenologiſcher Proceß: fe 
kann die der letztern zu Grunde liegende Election in ih 
rem Unterſchiede von der Nejection ber Andern ner ca 
fheotogifch reflectirter Gedanke feyn für jenem uwerklärl: 
dien Herganz des innern Lebens zum verſtändlichen Ant 
Brude des Bewußtfeynd: durch Gottes Gnade bin ie, 
was ich bin. Nur die Gegner und bie extremen unlird 
lichen Fanatiker der Tigenen Partei ziehen and dem Dogm 
eine Folgerung, welche die reformirte Kirche auch, ziehm 
mußte, wenn ihr das Dogma auf theologifchem Bode 
gewachfen wäre, Wenn der Verf. bie Folgerung in ko 
ner Weife aud ziehen und doch dabei Bie veformirk 
Gegenbehauptung in feiner Weiſe gleichfelis feſthalte 
kann, fo verdankt er dieß feiner principiellen Berwichtum 
des Dualismus, von der erfi nachzuweiſen wäre, daß ft 
im Beifte des veformirten Glaubens ſyſtems gelegen ie 
das doch nicht fo unbedingt zuſanmengeht mit adfolate 
formeller Sonfequenz. Gerade der fo fireng feftgehalten 
und mitunter fo mühlelig und ungefchidt vertheidizn 
Dualiömus der Präbdeftination, welchen man wicht arf 
dem Wege von oben gewonnen hätte, weift auf ben anden 
Weg von unten, und zwar hätte wohl ſchwerlich biel 
die wahrnehmende Erfahrang ober Specutarion bahin ge 
trieden,, ihn fogar im Weſen Gottes gu ſiriren, wem 
nicht das flttliche Bewußtſeyn im aller Starke dad rei 
piöfe Heilebewußtſeyn begleitet und fo die Bebartößätt 
bed ganzen Dogma’d abgegeben Hätte. Denn daß M 
bloße mechaniſche MWeltämficht nicht hinderte, dad ein 


die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche. 977 


allgemeine Mokataſtaſe zu Ichven, uud daß das einmal 
von der göttlichen Wefendichre abhängig gemachte Dogma 
ohne jene anderweitige Reaction bahin treiben mußte, 
daß alſo jenen Flaffenden hietus in das göttliche Wefen 
nur die Stärke des unmittelbaren fittlichen Bewußtſeyns mit 
feiner Diseretion herbeiführen fonnte, liegt auf der Hand. 
Die obige Betrachtung Fäßt ſich noch weiter verfols 
gen. Es iſt gezeigt worden, daß die Wiedergeburt ein 
wefentlicher nicht bloß phänomenologifcher Proceß ſey, ein 
den qualitativen Grundwerth des Subjects reell veräns 
dernder. Dieß wird am deutlichſten aus folgender Erwü⸗ 
gung. Der Wiedergeborne iſt beharrlich. Das neue Le⸗ 
ben kann nicht mehr verloren gehen; der gewordene fillus 
dei kann nicht wieder ein Alius irae werden, nicht wieber 
tsteliter und finaliter fallen, wie fchwere Sünden er auch 
noch begehe, felbft folche, die ihm wielleicht auf Lebens⸗ 
zeit Das Bewußtfeyn der. Kindfchaft rauben. Umgekehrt 
in den Berworfenen können innere Zuftänbe -eintreten, 
die fich, rein pfychologifch betrachtet und für deren eiges 
ned Selbſtbewußtfeyn, in gar nichts unterfeheiden von 
den Zuftänden der Erwählten und Wiedergebornen, und 
die Doch nur ein Schatten derfelben find. Alſo es bes 
ſteht noch ein wefentlicher Unterschied zwifchen bem mo⸗ 
mentan gläubig und glaubensfelig geftiinmten Nichtwie⸗ 
dergebornen und dem in ſchwere Sünden verfaßlenen, bie 
ira empfindenden, des Kindſchaftsgefühls berambten Wie⸗ 
dergebornen. Der beiderfeitige Perfönlichleitötern iſt 
doch toto coelo verfchieden, und zwar beruht biefe 
Berfchiedenheit in letzter Inftanz anf der göttlichen Präs 
deftination, deren Unveranderlichkeit es mit fich bringt, 
daß die begonnene Electionsverwirklichung in dem Einen 
nicht mehr durch feine Sünden entrealifirt werden, ber 
noch fo fcheinbare Zuftand bes Andern nicht ale Heilsver⸗ 
voirflichung betrachtet werden Tann, Die wefentliche 
Berfchiedenheit beider erweift ih darin, daß ein folcher 








978 Schweizer 


gefallener Wicbergeborner immer wieber durch ben Fal 
zu neuem Aufſtehen getrieben wird, als wozu die Gua— 
denkraft ihm bleibt, der gläubig geflimmte reioctns abet 
troß aller feiner Gnadengenüfle, troß aller momentaua 
Borfäge nicht finaliter beharrt. Ihn macht al die gleice 
Wirklichkeit der inneren Güter nicht gleich dem Andern, 
weil fie für ihn wahrheitslos find, nicht perſönliche Hell 
güter, wegen feines Richtbeharrend. Einem Solchen if alle 
fein wahres Selbſtbewußtſeyn des Heils, kein feſtes Ei 
tiondbemußtfeyn möglich, fondern sur ein täufchender 
@lectionswahn, Er ift in feinem sensus ein Erwählte 
und boch verworfen, während der Andere vielleicht lange 
mit verbüftertem Bewußtfeyn ringt, und Doch ermwählt 
iR. Wie entſteht aber und wie befchaffen iſt das wahr 
bafte Electionsbewußtfeyn als certitudo GNdei? Es fü 
snfammen mit dem Bewußtſeyn der Perſeveranz, an 
wie fi das letztere ſtaͤrkt aus jener Vorſtellung der ewi⸗ 
gen Auswahl, fo muß auch wieder gefagt werden: 
jene Borflelung Tann ich nicht anf mich beziehen, fans 
mich nicht in die Election eingefchloffen willen, ohne mid 
perfeverant zu wiffen, d. h. ohne der Willendenergie 
nach perfeverant zu feyn. Der fletd nen fidy erfrifchend: 
Entſchluß der obedientin, des heiligen Lebens in der Gott‘ 
gemeinfchaft ift ber einzige modus, wie ich die perlön 
liche Gewißheit meined Glaubens⸗ und Bnadenflaudet, 
die Gewißheit meiner Erwählung als eine Glanbensge⸗ 
wißheit haben kann. Was ift fonach die Electionsvor⸗ 
Rellung anders, ale die für dad gegenflänbliche Vorſtelen 
firirte Form, theild der inneren zuftändlichen BeRimat- 
heit ald einer wahren Realität bewußt, theild ihrer ald 
abfoluter Selbſtbeſtimmung froh zu werden? Wie ließe 
fih, die Election ale eine theologifche Conſequenz gedacht, 
biefe fubjectiofte, ganz auf den perfönlichen Willen geſtelte 
Bedingung des Electionsbewußtſeyns begreifen ? Wie ließe 
fi) jene oben gefchilderte wefentliche Differenz zwiſchen 
dem in Sünden gefallenen und doch das göttliche Leben 


die Glaubenslehre der evangeliſch⸗reformirt. Kirche. 979 


bewahrenben Electus und dem vom tänufchenden sensus 
ber Wiedergeburt betrogenen Rejectus feſthalten? Sind 
nicht beide Zuftände in formell gleicher Weife von der 
göttlichen Alwirkfamkeit gefeht, fo fehr, daß Calvin 
ausdrücklich den heiligen Geiſt ald den Factor jenes trüs 
gerifchen sensus nennt? Daß der sensus nicht trägt, dag 
gewinne ich durch die perfeverante Willendbefimmung, 
weiche, wenn and momentan unterbrochen von fleifchlis 
hen Trieben, wenn auch momentan unterliegend der as 
türlichen Schwadhheit, doch fich immer wieder herſtellend 
erhebt vermöge des wefentlichen Perſoönlichkeitskerns, wels 
her oft nad langer Berdunfelnug wieder emportaucht 
und feine Gontinuität mit den früheren Acten der wahrs 
haften Selbſtbeſtimmung erfeunt. Darin fteht das eigent- 
liche Heilswirken des Geiftes. 

Daß das einmal gewonnene perfönliche Geiſtleben 
nicht mehr verloren werden kann, das iſt in der That 
nicht eine Kolgerung aus der göttlihen Mobalität feines 
Entfiehend im Snbiecte, denn auch jener trügerifche sen- 
sus des reiectus, der bie Kräfte der fünftigen Welt 
ſchon gefchmedt hat, ift vom heiligen Geiſte entftanden, 
ein göttliched ludibrium, und bie göttliche regeneratio 
hindert doch auch nicht, in ſchwere Sünden wider das 
Gewiſſen ſelbſt auf einen Grab zu fallen, daß oft bie 
and Lebensende niemald mehr die Zuverficht entfichen 
fann. Sondern jene linverlierbarteit beruht darauf, daß 
das Geiflleden zum eigentlichen Leben der Perfönlichkeit 
geworden if, weiche fih von allen noch mit unterlaufen, 
den Sünden immer wieder herficlt.e Das Urtheil von 
der Unverlierbarkeit Cbei zugegebenem Verſchwinden für 
die Wahrnehmung, ja für das eigene zuſtaͤndliche Bewußt⸗ 
feyn) iſt nicht ein auf theologifchen Prämiffen ruhen. 
des Urtheil, ift fein fpeculativer Sag, aus der Gottes⸗ 
idee deducirt, fondern ein anthropologifchsethifcher,, dem 
ſich die theologifche Form bloß als Hälfsvorftellung leiht. 
Denn für die theologifche Gonfequenz wäre genug ger 





* Schaczer 

ſagt wit dem Lutheriſchen, daß ber niesins nicht fimaliter 
fallen konne. Warum er auch nicht totaliter fallen könne, 
d. h. warum ber thatfädlidyen Unterbrechnng des Guss 
beubewnßefeynd durch grobe Sünden nicht zugelafın 
wird, deu eigentlichen Gnabeuflaud abzubrecken, dieſer 
vielmehr als perfönliches Leben der Wiedergeburt fort, 
danern fol in ben ſchwerſten Sünden, das iſt nicht «si 
dem Electiensdogma firenge zu entuehmen, weil das 
gleiche erwählte Subject in ſchon einmal ein wirkliche 
Slius iras war. Die Abweichung von bes Intherikhen 
Betrachtungsweiſe iſt alfo and) hier wicht eime cheslogi⸗ 
fe , ſondern eine anthropologiſch⸗ ethiſche. Es iR «in 
Urtheil über bie Qualität des geworbenen neuen Lebens, 
es iR die ſeſtgehaltene Gontinwität des wahren Selbſtbe⸗ 
wußtfeynd durch alle noch fo fchwere Trübumgen hinburd, 
weiche berfelben identiſchen Willendbethätigung weichen 
mäflen, durch welche jenes urfprünglich erfaßt wer. 
Der lebte Ausdruck dafür, anf weldgen die andern von 
der Furbitte Ehriſti, feiner Knigsmacht, der höheren Fe 
ſtigkeit des Gnadenbundes vor dem Werkbunde zuletzt re⸗ 
ducirt werden, iſt der, daß Gottes ewige Auswahl kraͤf⸗ 
sig iR, Die deutliche Anzeige, von der Natur dieſer Ber 
ſtellung. Gewiß, fo wenig jener Troß des ſichte'ſchen Ic, 
weiches die Elemente herandfordert zum Kampfe und 
(ch unzerfiörlich. weiß und ewig geborgen ver ihrem das 
tifchen Gaͤhren, hervorgeſproßt ift aus der Gottesidee 
des feligen Lebens, fondern umgelchet diefe ein reflec⸗ 
tirtes Product des abfeluten Ich, fo ‚wenig ſind bie 
Busführungen des Pradeſtinationsdogma's, welche bit 
Haupteigenthämlichkeit gerade der reformierten Heilslehre 
ausmachen, bloße Entwidelungen der theologiſchen her, 
fondern vielmehr in der reformierten Hauptmodificatior 
der Theologie, dem Präbeflinationdbegma, iR ein 86 
wäh ber. eigenthümlichen Bekimmtheit bes —— 
Lebensgebiets gu erkennen. 


die Glaubenslehre der enangeliffä-teformirt. Kirche. 9ER 


Keineswegs alfo ſte Nach dem Bisherigen die Sache 
fo, daß die Lutheraner, urfpringlich von berfelben Got⸗ 
tedidee andgehend, durch anthropologifche Jutereſſen ver» 
hindert worden find, die Conſequenzen derfelben fick 
entwideln zu laſſen, die Reformirten dagegen den theo⸗ 
logifchen Intereſſen einen den Ausſchlag gebenden Bow 
rang einräumen. Sondern wie die entherauer einestheils 
gerade auch aus theologifchem Intereſſe, um Gott nicht 
zum Urheber der Sünde zu machen, dem reforminten 
Zuge Einhalt geboten, anderntheils aber durch deu 
ethiſch⸗ reiigtöfen Grund des Hauptgewichts, das ber 
RNechtfertigungoproceß gewann, veranlaßt waren, Die Ber 
ziehnng Gottes als der unbedingten Cauſalität auf Die 
Entſtehung der fubiectiven Rechtfertigungsbebingung is 
den Hintergrund treten zu laflen gegen die Beziehnng 
Gottes ald des Techtfertigenden: fo war es umgelchrt 
edenfalls die eigenthümliche Auffaffung des chriſtlichen Ber 
benoproceſſes, wobei die Rechtfertigung nur fehr unterge⸗ 
orbnete Bedeutung hat und bie perfönliche Gewißheit des 
Erlöfungsheild vom thatkräftigen Wirken und reiner poſiti⸗ 
ver Willensbeftimmung abhängt, was auf reformirter Seite 
dahin geführt hat, auf die göttliche Cauſalität gerabe in 
diefer Richtung dad Hauptgewicht zu legen unb fo dem 
Begriff des Heiſs aus Gnaden auf den der Wiedergeburt 
und in letzter Inſtanz anf ben der Erwählung zn grün, 
den. Richt wie Theologie und Anthropologie ſtehen fich 
bier beide Kirchenlehren gegenüber, ſondern jede hat ihre 
eigene religlöfe Pſychologie, ihre eigene Betrachtung bes 
inneren Heilsproteſſes. 

Und fo möchte ed nicht allzu fchwer fen, Die vom 
Berf. oben angeführten Beweife für einen vorherrfehend 
theologifchen Charakter der reformirten Dogmatik fo zu 
wenden, daß fie vielmehr für dad Vorherrſchen ded an, 
thropologifchen Geſichts punktes, aber eben einer andeven 
Anthropologie als im Lutherthume zeugen. . Der refor⸗ 


. 982 Schweizer 


mirte Bottmenfch, von den Mheranern als neſteriani⸗ 
ſches Gebilde gerade und vorzüglich theologifch bekämpft 
(„fie wiſſen nicht Die Kraft Gottes“), zeichnet fich befon 
ders durch forgfültigere Ausbildung ber wmenfchlicen 
Seite aus, wie ed fchon bie Idee des caput eleetorum, 
die ſtaͤrker premirte Vorbildlichfeit des Chriſtns für die 
Befalbten mit fich bringt. Gerade den Reformirten ik 
die Bergleihung ded Berbältnifies beider Naturen mit 
dem Berhältniffe bed epiritas zur caro in deu Gläubigen 
eigen. Die Abweifung der Iutherifchen Fdeencommunis 
cation, flatt deren eine communicatio chariematum gr 
lehrt wird, ging hauptfächlich aus dem Beſtreben hervor, 
eine wahre Menfchheit feſtzuhalten, als mit welder al 
lein dad Bemußtfeyn der myftifchen Einheit, fomit der 
Erlöſung möglich fchien. Die reformirte Lehre von den 
Snadenmitteln, Sacramenten ıc. iſt nichtd Anderes ali 
der natürliche Anddruc jener nicht von außen bekimm 
baren Gelbfländigkeit des fubjectiven Geiſtes, welcher 
bloß Sollicitationen davon aufnimmt, bie nur von innen 
durch entfcheidende Selbſtbeſtimmung zur yperfönlicen 
Heilsbeſtimmtheit werden. Ale die tiefen Gühnungen, 
Bupgefühle, VBorfäge, Tröftungen, welche z. B. ber Abend» 
mahlsgenuß mit fid führen mag, find nur ein Schatten, 
der vergeht, nicht eine communio cum Christo, wo bt 
Glaube nicht in Perfewerang thätig, der ganze Kern 
der Perfönlichkeit in der Tiefe bed Willens göttlich ger 
richtet if. Daß die reformirte Lehre von der Kirche die 
felbe fpröde Selbkändigkeit des Subjects gegen das Aen⸗ 
Gere verräth, ift längft behauptet worden. Wenn ber 
Berf, für den Gab, daß die befonderen Lehren ber res 
formirten Kirche aus dem Bewußtſeyn fchlechthiniger 
Adhaͤngigkeit von Gott entfliehen (49.), reformirte Pole 
miter ſelbſt anführt, fo ift dagegen im Allgemeinen zu 
halten, was er gleichfalls fagt (S. 9.), daß gewöhnlich erſt 
fpätere Würdigung das inuere Princip dageweſener Po 


Die Glaubenslehre der evangeliſch⸗ reformirt. Kirche. 983 


Lemit zu begreifen vermag, und in specie über Stapfer - 
Defien Wolfianismne zu bemerfen, der ihn kaum befons, 
Ders geeignet machte, die eigentlih religiöfe. Differenz 
zwifchen beiden Gonfeflionen in ihrer Reinheit zu erfafs 
fen. Was ift endlich der Antipaganidmus der reformir, 
ten Kirche und Kirchenlehre überhanpt andere als bie 
Proteſtation bes fubjectiven Geiſtes gegen alle im Aeußern 
fowohl ale in ber Dem Aeußeren zugewandten niederen Natur 
liegenden Hemmungen feiner im Gottmenfchen gewonne⸗ 
nen Gemeinfchaft mit dem abfoluten Geiſte, die ſich bes 
thätigt im abbildlichegottmenfchlichen Leben? 

Wenn Ref, in dem Bisherigen dem Berf. mehr nur 
entgegengetreten ift, fo fol dieß der ausgezeichneten Ach⸗ 
tung vor der Gelehrſamkeit, dem Geſchick und Talent, 
womit er nadı feinem Geſichtspunkte bie gewählte Auf⸗ 
gabe gelöft hat, und welche bei der Betrachtung der eins 
zelnen Dogmen noch befonderd zu bethätigen Anlaß ſeyn 
wird, feinen Eintrag than, fondern zunächſt nur eine andere 
Betrachtungsweife geltend machen, weldye neben der dem 
Berf. beliebten ſich darzuftellen, wenigftend das hiftorifche 
Recht hat, und welde vielleicht andy bogmatifch, das 
Wort in dem von Schleiermacher beflimmten Sinne ges 
nommen, die fruchtbarere ſeyn möchte, Hoffnung und 
Wunfc des Ref. it, daß vorliegendes Wert, eine wärs 
Dige Repräfentation der zwingli'ſchen Richtung für Die 
Gegenwart, das Studium der kirchlichen Dogmatik ber 
Reformirten Präftig beleben und fördern und namentlich 
auch die Leichtfertigkeit neulutheriſcher Polemik zu gründe 
licher Kenntnißnahme des von ihr Angefochtenen nöthie 
gen möge. 

Schuedenburger. 


Sartoried. 


2, 


Die Lehre von der heiligen Liebe oder Brand 
züge der evangelifchstirchlichen Moraltheologie vor 
Ernft Sartorins, D. der Theologie, Zweite 
Abthellung. Bon ber verföhnenden Liebe. Gtutt: 
gart. Verlag von &. ©, Lieſching. 1644. 


Der Berf. fagt im Borworte, es könne bie zweite Ab: 
theilung feines: Lehre von ber heiligen Liebe andy als 
eine felbfländige Monographie über die Verſöhnnng be 
trachtes werden. Als foldhe will fie Rec, nun nehmen, 
indem er auf den erſten Theil nur infoweit Räckficht 
nimmt, ald er die Principien für den zweiten enthält. 
Denu ba das Werk noch nicht volleudet iſt, fo Fan uch 
sin GBefammturtheil darüber gegeben werben. Doch 
aber iſt dafelbe eine fo erfreuliche Erfcheinung auf dem 
Bebiete der theologifchen Litteratur, dag es wunſchens⸗ 
werth sricheint, ed auch in dieſen Blättern noch vor Boll 
enbung bed Ganzen anzuzeigen und zu beurtheilen. Wenz 
Rec. vorliegendes Buch eine erfreuliche Erſcheinnug nennt, 
fo bat er übrigend habei jeßt nicht Die darin verſuchte 
Derbindung der Dogmatik und Ethik im Auge, Denn ik 
auch ihre Berbinbung, mit welcher Nitzſch voraugegangen, 
and, einer Seite bin ein weſentlicher Zortfchritt und 
kann eben jegt, nachdem durch die zeitherige principiele 
Trennung beider die Eigenthümlichkeit und relative Selb 
ſtändigkeit derfelben klarer ind Licht geftelt marben, Beſſeres 
bierin geleitet werden, als es vor jener Trennung der 
Fall geweſen, fo vermag doch beim vorliegenden Werke 
erft nach Erfcheinung des dritten Theils auch darüber 
etwas gefagt zu werben, ob und inwieweit Die verfuchte 
Verbindung eine gelungene zu nennen fey. Rec. bat bei 
lener anertennenden Aeußerung vielmehr die Auffaſſung 


die Lehre von der heiligen fie. 66860 


and Behandlung des in diefem zweiten Theile deſproche⸗ 
nen Stoffes ſelbſt im Auge. 

Der Verf. hat ſich zur Aufgabe gemacht, die kirch⸗ 
liche Lehre von der verſoͤhnenden Liebe Gottes dem Be 
dürfniffe unferer Zeit gemäßer darzuftellen, fe ihrem Ber⸗ 
ſtaͤndniſſe zugänglicher zu machen. Die Weiſe, wie ex 
diehß gethan, begründet‘ den befonderen Werth des Bus 
ches. Wenn fi) in mufern Zagen fo Viele an den Slam 
benslehren der Kirche ftoßen, fo hat bieß zwar im All 
gemeinen feinen Hauptgrund darin, daß dad Evangelium 
eben überhaupt Den Juden ein Aergerniß und ben Heiden 
eine Thorheit ift: fie ſtoßen fih daran, weil ihr Herz 
den heiligen Ernuſt fcheut, der in dem Worte von Ehrifto 
liegt. Allein nicht bei Allen iſt's alſo. Gar Manche ev; 
kennen das Bedürfnig göttlicher Offenbarung an nwb 
fühlen ſich mit einem tiefen Zuge ihres Innern zu feier 
gnadenvollen Wahrheit hingezogen; nur die Form, in 
welder die Kirche ihnen diefelbe darbietet, ſtößt fie zus 
rück, und daß die Kirche ihnen bamit als mit einem Pos 
fiulat entgegentritt, ohne diefelde ihrer Bernunft durch Bar 
ziehung auf ihre fonftigen Borftellungen zu vermitteln 
ober durch ben firengen Complex der einzelnen Theile 
mit wiffenfchaftlicher Auctorktät ald wahr zu erweifen, 
So fuchen fie denn ſelbſt nach einem dem Bedürfniß ih 
res Geiſtes genügenden Andprude für ihren chriftlichen 
Glauben und laſſen bie Firchliche Faſſung beffelben ale 
etwas Beralteted liegen, Daß dieß zu beflagen ſey, leuch⸗ 
tet ein. Iſt zwar freie individuelle Regung, wenn auf 
irgend einem Lebensgebiete, fo anf dem des Glaubens 
nothwendig, welcher eine Sache des eigenfien, weil inners 
ſten perfönlicden Lebens ift, fo kann dieſelbe, weil die 
tieften Beblrfniffe des perfönlichen Lebens zugleich gew 
meinfame find, doch auch nur innerhalb des Gemeinledens 
eine gefunde. Nahrung finden. Deßhalb ift es licht 
der Kirche, ihren Mauben, ohne fein Weſen zu beein 


66 Sartorius 


träcdtigen ober fein Geheimniß zu profaniren, mit den 
tieferen Borfiellungen des allgemeinen Lebens und den 
Erfahrungen des Gemuths in Beziehung zu ſetzen und 
in die wiflenfchaftlihe Fortbildung jeder Zeit überze- 
führen, damit jeder aufrichtige Siun ihre Wahrheit 
ſich aneiguen und auf ihrem feilen, breiten Beben, 
der zu individueller Entwidelung, wenn man ihn nicht 
geflifientlich verengt, des Raumes noch genug bietet, alle 
Geiftlichgefiunte in treuen Bereine zur Erbauung nad 
innen und zum Schuße nach außen fichen mögen. Wax 
kann nicht leugnen, daß bie kirchliche Lehre, wie fie aus 
den früheren Jahrhnuderten auf und übergefonmen, Bie 
led an fi trägt, was and; den, ber ſich mit ihr im 
Grunde Eins fühlt, befrember und unbefriedigt läßt. 
Die -einzelmen Lehren fliehen als loci neben einander, ohne 
wahrhaft organifch verbunden und aus Einem Principe 
mit innerer Conſequenz entwidelt zu ſeyn. Die Lehren 
ſelbſt find mit fholaftifcher Dürre und Breite, zum Theil 
Aenßerlichkeit dargefiellt, durch weiche nur ſchwer das 
warme Leben, das in ihnen waltet, burchgefühlt wird, 
und die fchroffe Auctorität, mit welcher fie auf Grund 
ihrer Uebereinſtimmung mit der heiligen Schrift der na 
thrlichen Bernuunft gegenüber fidy geltend machen, deßglei⸗ 
chen die dis ind Einzelnſte burchgeführte Beſtimmung ihrer 
möglichen Seiten weift jede freiere Regſamkeit individnel⸗ 
ler Anſchanung innerhalb ihrer Grundlinien wit herber 
Strenge zurück. Bon diefen Mängeln bemüht ſich der 
Berf. die Kirchenlehre zu befreien, wie er ſich Ddiefelbe 
Aufgabe fchon in feinen früheren Arbeiten geftellt hat. 
SR auch Rec. der Anſicht, daß die Kirchenlehre nad 
mancher ihrer Seiten mit noch freierer, energifcherer Hand, 
als es vom Berf. gefchehen, and ihrem Rarren Degme- 
tismas müfle gerifien werden, und gilt es nach feine 
Meinung insbefondere, die Einheit des Principe , welde 
übrigens im diefer Schrift zu ihrem Bortheile mehr als 


die Lehre von ber beiligen Siebe, 987 


in dem früheren des Verf. durchleuchtet, mit noch firen, 
gerer Conſequenz durch alle Lehren hinburchzuführen, wor 
durch theils diefe ſelbſt untereinander inniger verknüpft 
wärben, theild vermöge beftimmterer Hervorhebung, Feſt⸗ 
Rellung und Umgrenzung ded Wefentlichen im evangelis 
{hen Glauben ein deſto freierer Raum für mannichfaltis 
gen Ausbau des Einzelnen gewährt würde, fo ift doch 
bad, was ber Berf, im vorliegenden Buche geleiftet bat, 
bereitd von großer Bebentnng und ein fehr willfommen gu 
beipender Beitrag zu dem Merle, der Firchlichen Lehre 
auf Dem Gebiete der heutigen Wilfenfchaft # feſte, 
eingreifendere Stellung zu verſchaffen. Zumaf"aber hat 
das Buch feinen hohen Werth für die ſtudierende Jugend, 
fie im eim nicht bloß klares, fondern zugleich lebensvolles 
Verſtändniß deffen zus Teiten, was ihren weiteren Studien 
zur Grundlage dienen fol; ferner für diejenigen Theolo⸗ 
gen, deren Beruf es ift, ihre wiffenfchaftlichen Studien und 
theologifchen Liebergeugungen für dad Bebürfuiß der Ges 
meinden zu verarbeiten, und endlich von demfelben Ges 
ſichtspunkte aus für alle gebildete Laien, denen ed um 
tiefere, ledendigere Erfenutniß der Kehre ihrer Kirche zu 
thun ift. Für diefe Behandlung der Dogmatik ift dem 
Berf. eine vorzügliche Babe verliehen. 

Die Darftellung ift mehr thetifch als polemiſch. 
Begentheilige Anfichten werben zwar berüdfichtigt, aber 
nur, infofeen fie dazu dienen, des Berf. Anficht durch den 
Begeufag in ein helleres Licht zu ſtellen. Sie pflegen 
einfady nur genannt und zurücigewiefen, feltener mit Eins 
würfen befämpft oder mit Gründen widerlegt zu werden. 
Ueberhanpt tft es des Verf. Weife nicht, die Wahrheit 
der anfgeflellten Lehre auf dem Wege dialektifcher Ent⸗ 
widelung darzuthun. Es ift mehr befchreibende Darftels 
Iung des Gegenſtandes. Durchweg aber begegnet barin 
eine einfache Anorbnung, natürliche Folge, faßliche Ver⸗ 
bindung unb ruhige Entfaltung ber —— ‚ und bie 

Tbeol. Stud. Jahrg. 1847, 


u. .| &asterind 


große Elarhrit, weiche in der gefammien Dauftelung bevejcht, 
laßt fo ben Gegenſtand mit ber unmiltelbauen Madıt 

feiner Wahrheit und Größe befte überzengender anf ben 
Leſer wirken. Wo es gilt, denfelben noch mehr gu be 
leuchten oder fein Geheimnis dem matärlichen Berkänd- 
niffe näher zu bringen, werben Bilder gewählt, die wit 
bloß immer wirkliches Richt geben, ſondern ſehr häufig 
and; durch die innere Verwandtſchaft von Bild uud Sache 
tiefer in das Weſen des Begenftandes einführen, Nicht 
fo zu billigen iſt es, wein ber Berf. auflatt ber weiteren 
Ausführgug und Begründung eines Gedankens Bibel 
fprüche AMeimander reiht, in welchen berfelbe enthalten if. 
Deun da die Bibelfprüche vermöge ihred anderen 38 
ſammenhangs noch andere Beziehungen mit dem betref- 
fenden Gedanken verbinben , welche der hier behaudelten 
Sache ferner liegen, fo tragen fie, wenn fie den Gen 
gen orgauiſch eingeorbmei werben, eher zur Ablenkung 
von der Arengen Gedankenfolge bei, als fle erkäuterndes 
Licht auf den Gegenſtaud werfen; fie follten nur ald be 
gleitende Belege dienen. 

Was der Berf. fagt, iſt immer von wirklicher Be 
besstung für den Gegenſtand. Er bat fidy wit Liebe in 
denfelben verſenkt, mit gründlichen Ernſte ihn durch dacht. 
In das MWeſen der göttlichen Liebe eröffnet er bie tief, 
fen Blicke, Die Hoheit und Demuch in der Perſon Ehriki 
geichutet er mit großen, die Gerle ergreifenden Zügen, 
und mo er von Zuſtänden menſchlichen Eebend Jede, br 
gegnet mau Bherali den treffendſten Bemerkungen und 
feinen Beziehungen, weiche von reicher Meufchentenat 
nis und Erfahrung zengen. Den Eindrud bawon abır 
empfängt man um fo reiner, als die Sprache mit ber 
Auffaſſung des Gegenſtandes ganz in Einklang ſteht 
Es iſt ein Fehler der meiſten wiſſenſchaftlichen Werke un 
ſerer Zeit, daß fie abſtraeter Terminolo gien ſich bedienen, 
ja duß die Gedanken ſelbſt auch und ihre Folge abſtraci 


die Lehre von der heiligen Liebe. 389 


find. an fage nicht, das. erforkere die Wiſſeuſchaft, 
weil nundard; Lodiäfung von der Wirklichkeit und durch 
Losfchälung Bed Allgemeinen aud dem Befonderen die im⸗ 
manente Entwideinug des Gegenſtandes zur Erfcheinung 
fomme. Go wenig bie wahre Posfie ba beginnt, wo bie 
Natur aufhört, fe wenig bie wahre Wiſſenſchaft. Wie 
Die Wirklichkeit ſelbſt poetifch iſt und der Dichter ihr bie 
poetifdye Seite une abzugewinnen hat, fo zieht fidy durch 
die wirklichen Zuftände bed änßern und Innern Lebens 
ein Marer Faden eng sufammenhängender und fireng 
fortfchreitender gättlicher Defonomie nnd menfchlicher Er⸗ 
fahrung hindurch, den die Wiffenfchaft eben nur zu erkennen 
und nachzuweiſen bat. Je mehr fie bei ihrer Darftels 
Inng inmerhalb der Aufhanungöwelfe bed Lebens bleibt, 
deſto größer wird ihre überzengende Macht ſeyn. Diefen 
Berzug hat vorliegende Arbeit. Zwar läßt fie «6 tms 
merbin hie und da an Beftinmtheit der Erfafiung, am 
Praͤciſion des Ausdrucks und au Bünbigkeit der Darflels 
Inng etwas fehlen; aber biefe Mängel werben durch edle 
Einfachheit der Sprache, welcher geiftreiche Antithefen zur 
Würze dienen, durch anfchauliche Lebendigkeit und wohl⸗ 
thueunde Wärme wieder aufgewogen, und der Lefer wird, 
indem fein Geil den Gedanken folgt, zugleich in feinem 
ganzen iunera Menfchen erfaßt, empfängt mit Körberung 
feiner Einficht unmittelbar and) Erquidung und Erbanung 
feines Gemüthe, 

Diefer zweite Theil des Buches zerfällt in vier Ka⸗ 
pitel, Deren erfied vom Berföhnen handelt, das zweite 
von der Berföhnnng durch bie vollfommene Geſetzes⸗ 
ertällung oder das genugthuende Dpfer des Berföhnerg, 
das dritte von der Aufnahme iu Die Gemeinfchaft bes Ver⸗ 
ſöhners durch die Öuadenmittel des heiligen Geiſtes 
in ber chriſtlichen Kirche und das vierte von ber Aneig- 
nung der Berföhnung oder von der rechtfertigenden Liebe 


und dem Glauben .an biefelbe. 
66 * 


90 Gartorius 


Der Gedankengang ik folgender: „Fie heilige 
Liebe Gotted reagirt mit heiligem rufe geggp bie um 
Heilige Selbſtſucht der Sünder, bie ihr Berberben ik; 
fie zürnt ihr mit gerechten Zorne. Die für diefelben bar: 
ans folgende Scheidung von dem Lebensqueli ifl der leib: 
liche und geiftliche Tod, Im Gewiſſen wird ber Biber: 
wille Gottes gegen die Sünde ald Zurechnung berfelben 
oder ale Schuld empfunden, welche die perennirenbe, die 
ewige Strafe bes Böfen if, während die einzelnen Straf; 
acte nur ihre einzelnen Erfcheinungen find. Diefer Ger 
genfat der Heiligkeit Gotte® gegen das Böfe kann nun und 
nimmermehr von Seite des fünphaften Menſchen vwerfähnt 
werben, da demfelben nicht bloße Befeitigung von allerlei 
Ablen Folgen, fondern Aufhebung des Gchuidverhältuif: 
ſes ſelbſt, Wiedervereinigung mit Gott in heiliger Liebe 
neth thut. Nur Gott feld Bann die durch fein Geſetz 
gefchehene Scheidung und Strafe wieder aufheben. Er 
thut es durch ſeite Gnade, durch die Selbfiverleuguung 
heiliger, erbarmender Feindesliebe. Offenbarung dieſer 
kiebe iſt die Menſchwerdung des Sohnes Gottes, welche 
weder Alterirung der göttlichen noch der wwenfchlichen 
Natur, fondern liebende Bereinigung ihrer zwiefachen 
Weſenheit in der Einheit des perfönlichen Bewußtſeyns 
bed Erlöfers il. Der Sohn Gottes hat die menſchliche 
Natur in die Gemeinſchaft ſeines Selbſtbewußtſeyns anf: 
genommen, iſt als zweiter. Urmenſch geſchaffen, zugleich 
aus dem alten Geſchlechte als Sohn David's geborer. 
So iſt er Gottmenſch, Gottes⸗ und Menſcheuſohn zu: 
gleich, zwiſchen welchen beiden Naturen dem Weſen der 
Liebe gemäß eine Mittheilung der Eigenfhaften beſteht. 
Während diefe Menfchwerdung auch ohne die Bünde 
uud ihre Folgen Rattgefuuden hätte im paradieflfchen 
Stande, fo hat er nun ſelbſt Kucchtsgeftalt angenommen, 
bat in ber angenommenen Menfchheit fidy erniedrigt. 
Aber wie die göttliche Natur ſchon hinieden der menſchli⸗ 


die Behre von ber heiligen Liebe. 994 


hen von ihren Kräften (vgl. bie Wunder Iefu) mittheite, 
fo tritt jenfeitd ein Zuftand volfommener Erhöhung diefer 
ein, wo ſie, von ber Gottheit bewegt, in freiefter Beweglich⸗ 
feit, wie Strahlen bed Lichte, auch in bie Kernen dringt.” 

„Der Berföhner iſt zugleich unfere Verföhnung, Die 
Bereinigung ber Bottheit mit ber Menfchbeit in Sefu hat 
nicht in ihm ihren Zwed, fondern fie iſt Mittel, und Je⸗ 
ſus ift der Mittler, der Mittelpnukt, von dem and götts 
liches Licht und Erben über ade der Finfterniß und dem 
Tode verfallenen Menſchen erneuernd auskrahlen fol, 
JIudem er, das Haupt der Menfchheit, in der vollkom⸗ 
menften Liebe und GSelbfiverlengnung dem Geſetze gehors 
fam war, bat er ein weltverföhnend Opfer gebracht, 
Denn da6 Weſen bed Opfers ift Selbftverleugnung, 
Selbſtverleugnung um Gotted Willen, wider ben alle 
Sünde fireitet, völlige Liebe in leidender und thätiger 
Selbſtverleugnung. Ein vollkommenes aber ift ed durch 
feine Größe, Heiligkeit und. Barmherzigkeit, durch feine 
Größe, da der Sohn Gottes fich felbft zum Opfer brach⸗ 
te, feiner ewigen, göttlichen Herrlichkeit fich entäußernd, 
durch feine Heiligkeit, da er in demüthiger, bienender 
Liebe den eignen Willen feinem Vater im Leiben aufs 
opferte, durch feine Barmherzigkeit, da er dieß Alles für 
die Menfchheit that. Durch diefe Barınherzigfeit des Soh⸗ 
ned, wie durch den Willen bed Vaters ift es ſtellver⸗ 
tretend, womit mehr die juridifche Seite ausgeſprochen 
wird, während dad Opfer die theologifchsethifche bezeich⸗ 
net. Beide gehören übrigens zufammen (wie auch diefe 
jene nicht ansfchließt, fondern in der iurisprudentia divina 
mit ihr geeinigt IR), da es fich nicht bloß um quantitas 
tive, fondern vielmehr auch um qualitative Genugthu⸗ 
ung handelt, Sufofern diefe im ganzen Leben, nicht bloß 
in abgefenderten Momenten, fich ſelbſt entäußernde, ganz 
Bott nnd dem Nächten ſich bingebende Liebe zugleich ein 
gefegerfällendes Thum in ſich fchließt, wirb bie Satis⸗ 


| | Garterius 


parken auch zur Satidfaction, fo daß Chrifti Opfer nit 
bioß unſer Straf⸗, ſondern auch unſer Schuidverhäitun 
aufhebt. So iſt Etzriſtus der Verſoͤhner zwiſchen Sett 
und Menſch, wobei Gott ebenſo der Berfühuende if, 
inſofern er ven Sohn als Opfer für die Welt dahingegeber, 
ald der Verſoͤhnte, infofern der Sohn als Menſchesſen 
dutch Entäußernng und Gehorſam ſich Gott geopfert kai. 
Die Aungahme diefed Dyfers iſt aber vom Bater badırd 
beglaubigt, daß er deu Bohn auferwert und zur Ham 
lichkeit wieder erhoben bat, weicher Stand der Erhöhs 
die Derlärung und Berewigung bes hienieben volbrad 
ten Berföhmumgewerled des Sohnes if.” 

„Nachdem nun die centrate Einheit uud Fulle des 
Helle: in Ehriſto vollendet if, kanm fie in dem Umkren 
der Mitteilung und Gemeinſchaft Abergeken burd deu 
heil, Beil, Hiergu' Bient ihm ale wernehmfes Drges 
das Wort. Schoͤpferiſch bezeugt er ſich durch daſſelbe ia 
den Propheten und Apoſtein, um ein authentiſches, ſchrift⸗ 
liches Zeugniß der Eirche für immer zu geben, erhal) 
hingegen anf Ormmd deffelden in den Zeiten ihrer weiten 

‚Emtwidelung. lm aber die Guade zugleich fichtbar, i 
ſiuulich torcreterer Form weitzutheilen, und um fie ſpeeiel 
auf den Einzelnen zu beziehen und factifch zu übertragen 

"bedient er ich ber Sacramente, welche md in die Ge 
meinfchaft des Opfers Ehriſti, baffelbe uns zweiguen, 
fegen und uns hiermit auch in bie gliedliche Gemein 
fehaft mit feiner Bemeinde aufnehmen, Es ſind zwi: 
die Taufe, das Bad der Wiedergeburt, welche ebjedit 
durch dad mit bem Worte Gottes verdnadene und zus 
Drgane der Gemeinfchaft mit dem Leiden Ehriſt geweibl? 
Waffer und ſubjectiv durch den heil, Geiſt gewirkt wird 
— nnd das heik Abendmahl, wodurch das wit der Zant 
in und gefchaffene nene Leben erhalten wird. Wahrend jere 
mehr nur eine Berkhräng mit der Gegenwart Eheiliik, 
eine Befpeengung mit feinem Blute, fo. fett dieſes dv 


bie Lehre vom ber Heiligen Eiche. 993 


gegen, als ein eigentlihes Myſterium ber Liche, feine 
Gegenwart in und hinein, Inden es Chriki für und ges 
opferten Leib und fein für und vergoflenes Blut durch 
Bermittelung bed geſegneten Brodes und Weines in wirk⸗ 
licher , wiewehl verflärter Weſenheit — inwendigen 
Menſchen zu genießen gibt,” 

„In Kraft dieſer farramentlichen und wörtlichen (in 
der Abſolution an den Binzelnen fid; wendenden) Mit⸗ 
theilung des Berföhnopfers Ehriſti werben dene Menſchen 
ſeine Bünben vergeben, und bie Gerechtigkeit Chriſti ihm 
mugerochnet. Diefs Rechtfertigung iſt nicht bloß eine ob⸗ 
jeetivoe: Sentenz von Seite Gottes, welcher ein durch Dem 
Gtauben bebingter Erlaß äußerer Strafe folgte, wehl 
iM fie ein Bmadenurtietl‘ Bostes, aber zugleich audı eine 
Gradbempirtung, weiche die Seele innig mis ber Liebe 
beechbringt umb erfüllt, womit fie von dem Colt bes 
Onabe geliebt wire. Sie ift die Einathmung ber gött⸗ 
lichen Liebe, von außen nach innen wirlend, während Die 
Heiligung Die Audathmung Dieter Liebe ifk und alfo von 
maen nnch außen wird, Der Begriff der Rechtfertiguug 
fließt jede Zuthat and und leidet wie bee Begriff Der 


Gerechtigkeit Teine Steigerung, weder von des Meaufchen, . 


noch auch von Gottes Geite. Erforderlich bag iſt won 
Seite dead Menſchen nur dieß Zwiefache: 1) Die Emmpfänge 
lichkeit, weilde in ber durch das Geſetz und den Geil 
Gottes gewirkten, Bad ganze eigne Thum und Weſen 
richtenden und fivafenden Buße beſteht, mb 2) Das Ems 
pfangen, welches durch den Glauben geſchieht. Dex 
Glaube bringt nicht Die Rechtfertigung hervor, bie num 
ms Ver Fülle Ehriſti quillt, aber er ift die firbjective, 
bewußte Autiguung derſelben, wodurch er das höchſte 
Gut nicht bloß empfängt, ſondern auch hat und genießt. 
Gr if übrigens etwas Anderes, als die Kenntniß und 
dad Forwahrhalten der bibliſchen oder Firchlichen Lehr, 
füge überhaupt. Allesbingd dat er wohl dad Moment 


. —— Gartesins 
der Erkeunntniß in ſich, und: zwar fowehl der Selbſt⸗ alt 
Gottes erkenutuiß, aber dieſe Erkenntuiß, welche bie Groͤſße 
der Güude nud Guabde decrifft und alſo ethiſchen Gehal⸗ 
tes iſt, gehört weſentlich in das Gebiet des Sewiſſent 
and der Beifall, dem ihr die Seele gibt, und das Ver⸗ 
tranen, womit fie ihrem Objecte fi hingibt, umd der 
Friede, den fie empfängt, geben nicht ſowohl das Wiſ⸗ 
fon, ald vielmehr das Herz; uud den Willen an. Jaſe⸗ 
fern iſt bee Eiaube die tiefſte Gelbäverieuguung. Buße 
und lautes begränden deu großen fittlidyen Akt der 
Wicbergeburt oder Belehrung des fügdigen Menfcer. 
Der alte Menfi, welcher eben erneuert werben fol, 
thut diefen Aet wicht und kann ihn nicht than, fonbern 
er leidet nur, daß er in ihm geſchhteht durch die wirken 
GBuabe; fobald ew aber durch fie neue Kräfte gewommn 
bat, fo. wirkt er durch diefe auch lebendig weit zum Bad 
thume feines: nenen Lebend, Der neue Liebesgeherfamif 
beghalb nicht Goefficient der Belehrung, aber er if dad 
integrirende Refultat, die nothwendige Folge derfelben.” 
Aus dieſer Inhaltsüberficht geht hervor, daß de 
Verf. in den Grundgedanken und im Hauptgange bet 
kirchlichen Lehrauffaſſung folge: Doc, it es nicht bloße 
Miedervorfährung eined Alten, etwa nur in lebendigerer, 
jeitgemäßerer Form, fondern ed waltet barin zugleid 
auch ein neues Clement, dieß nämlich, daß der Ber. 
Alled and einem principielen Gruudgedanken ermadien 
zu laffen verfucht. Diefer Grundgedanke ift ihm die heir 
lige Liebe. : Wie er fie ſchon im erfien Theile bes Bw 
ches ale das Weſen Gottes bezeichnen, weiches in allen 
feinen Eigenſchaften das eigentliche, erfüllende Leben bilde, 
wie er ans ihr bie Schöpfung entfpringen läßt, is De 
zug auf fie dad Weſen der Side erfaßt and bad Be 
feg als ihre Energie der Sünde gegenüber ans ihr ber 
leitet, fo begegnet und auch im zweiten Theile Alles in 
ihrem Lichte, Und dieß eben, daß er ihr Walten in der 


bie Lehre von der heiligen Liebe. 995 


ganzen Dekonomie verfolgt, IM «3 vor Anderem, wasden 
Berf. theils über manche Dürre und Aeußerlichbeit frühen 
rer Darftellungen der kirchlichen Lehre erhebt, theils im 
neue Tiefen der göttlichen Wahrheit führt. 

So faßt' er den Zorn Sottes gegen den Sünder nicht 
ald eine Aenßerung feiner Gerechkigkeit im Begenfaße feis 
ner Liebe, fondern ald eine unmittelbare und wirfliche 
Yenßerung der Liebe felbft; vergl. S. 2: „Der Eifer 
der göttlidyen Liebe für das Seil ihrer Geſchsöpfe wurbe 
zum Eifer gegen dad Unheit’derfelden, gegen die 
Sünde. Die heilige Liebe reagirt mit heiligem Eruſte 
gegen die unhellige Selbfifucht der Sünder, bie ihr Ders 
derben iſt; fie zürnt ihr mit gerechtem Zorne, und eben 
diefer Zorn, dieſer Ernft Gotted gegen das Böfe iſt 
die wefentliche Strafe deſſelben.“ Damit iſt zugleich eine 
tiefere Erfaſſung des Weſens der Strafe ausgeſpro⸗ 
chen, Über welche es (S. 3.) weiter heißt: „Die zeitlichen, 
änßerlichen Strafen, wozu jegliche Ereatur ihrem Gebie⸗ 
ter dienen far (Weish. 5, 18. 16, 24.), find nur aceidens 
tel, die Subſtanz, das ewige Weſen derfelben ift der 
heilige @ifer des heiligen Gottes gegen das Unheilige, 
fein Widerwille gegen das Widergättliche, fein Berwers 
fen des Verwerflichen.“ 

Auch bei der Lehre von dee Menfhwerdung, 
in welcher er ſelbſt zu der ganz nochwendigen Somfequenz 
fortfchreitet, daß diefelbe „auch ohne die Sünde und ihre 
Folgen flatigefunden hätte im paradieſiſchen Stande,” 
bieter ihm das Princip der Liebe eine ficherere und tiefere 
Begründung der kirchlichen Wahrheit, wenn er über die 
unio der beiden Naturen (&.12.) fagt: „Die Liebe hebt, 
wie überall, fo auch hier, nur die Scheidung auf, aber 
nicht die Unterfchiede, nur dad Zwiefpältige, aber nicht 
das Zwiefältige, fie ift vielmehr das Band des linters 
Ichiedenen.” Und ‚5.20. fügt er hinzu: „Gegenfeitige 
Mithellung der Cigenfchaften (communicatio idiomstum) 


1 7° 2: \ 


iſt dad Beten jedes Bunbes, ſeder Lickedgewrtinfcheit; 
nur der Egelomns, der all fein Eignes für ſich behalten 
will, widerſtrebt ihr; denn der will Immer nur thei⸗ 
len, aber nie mätt heilen. eur heilige Conmunien 
der Bortheit weit Der Meuſchheit in Ehriſto Tan nicht 
ohne die vertrantefie Mitcheilung three beidenfeitigen Ei: 
genfihaften, ohne die intimite Einigung ihrer Gegenſtte 


gumal aber ifk es die Lehre vom Opfer, wo der 
Berf. vom Priacipe der Lebt geisttet, tiefere Bike er⸗ 
sffnet. Er geht unf ben urfprhuglichen Begriff des Wor⸗ 
tes „ofane, Syingabe” zurick, und ſaßt Dad Opfer al 
Entäußerung wid Darbringung des Eignen, abls Beibb 
tigung der Seibſtverleuguung. Een heiligen Charalin 
erhült es dadurch, daß bie Selbſto erlengnung um Gottes 
willen geſchicht. Jedes Dpfet will hiernuch den Mer⸗ 
ſchen und feiner egoiſtiſchen Gebundenheit, and fen 
Berfelbfiigung herausheben. Entweder iſt es eine Betha⸗ 
tigung, ein Andbruf der Liebe (wie das Opfer bed Lo⸗ 
6 md Dankes) und ſetzt dann die Deuieinfchaft der 
Liebe ſchön voraus, oder es will bie darch bie Gäu 
geteermte Bemeinfchaft derſelben verföhnend wieber her 
flellen und einen neuen Licbesbund Riften, wie dfe Sütw 
opfern, Das Dpfer uber, weiches bein Gott; der bie hei 
lige @icbe ift, wahrhaft genugthut, iſt die wöllige Liebt, 
die een fo völlig in leidender als thaätiger Gelpftweeimp 
nung dad ganze Herz, bie ganze Geele ud bad gasit 
Semuth ihrem Bott hingibt. Leidend wird fie für der 
Sünder fpechell im Dalden ber göntlichen Steafe, weidt 
Die Redetion der heiligen Liebe Gottes gegen feine Sürde 
iſt; und eben biefe freiwillige Uedernahme mat die 
Strafe zum verföhnenem Opfer. Diefer reinen Verleng⸗ 
nung aber ift ber in Seibtſucht gefugene‘ Günber nid 
fühl. Rur der, welcher, felbft unendlich, die Kraft did 
mubischen, uwoergängtichen Lebens im ſich ige, Pan 


die Lehre von ber Gelligen Liebe. 997 


in das .wergängliche, embliche Leben fie hineintragen. Das 
ran Tann war Gott ſelbſt die Welt mir ihm felber vers 
föhnen Gen Derföhnungsopfer hat mit der Annahnıe 
ber menſchlichen Natur in ber Armften Kindes⸗ und Knechts⸗ 
geſtalt begonnen un» hat ſich ald vollklommene Geſetz es⸗ 
erfüllumg in heiliger, datmherziger Mebe thuend umd lei⸗ 
dend durch dad ganze menſchliche Leben des Sohnes Bert, 
tes hindarchgezogen, bis es am Kreuze vollbracht und 
vollendet wor den. Indem mat das Gewicht exeluſto auf 
fein ſteloertretendes Strafleiden legt, bezieht man die 
Erlöfung:.aue auf die Strafe, nicht auf die Schaft, Des 
ven Folge nur die Strafe iſt; aber eben Das Schudver⸗ 
hältniß, welches eo ipso Rtafend und, wo es zum Bis 
wußptfeyh gelommen, die weſentliche Strafe der Sünde 
Mt, muß ‚aufgehoben werden.” Dit dieſer Auffaſſung Hi 
ein weſentlicher Fortſchritt gefchrhen. An die Stelle der 
anantitwtiven Auſchauung iſt bie qualitative getteten, bie 
wiltöikoliche Beziehumg der Berſohnung auf einzelne Mo⸗ 
mente im Leben Jeſu iſt gefallen, fein ganzes Leben wird 
als Ciue diebedthat gefaßt, die Anperliche Treunung won 
Than und Reiben IR, wie allerdings Icon die Contor⸗ 
dienfiermel hierin vorangegangen, durch ven Begriff des 
Gehorſams überwunden, nnd diefer wiederum durch das 
Leben Ser Liebe in ihm zur Innertichleit und Fülle erhes 
ben wonden, — kurz, ber Begriff des Opfers iſt von 
feiner furiftifchen Einfeitigkeit befreit, und Dagegen Der 
Kernpunkt ver Sache, von ws aus bie Übrigen Seiten 
ihr rechtes Licht erhakten, in der „Riebeswerkengnung” 
anfe beſtimmteſte hervorgehoben. 

Ebenſo hat der Berf. auch beim heil. Abendmahle 
die iunerſte Bedentung deſſelben erkaunt, wenn er es ein 
Mahl ber Liebe nennt. Muß ja doch das Sacrament, 
wenn es eine weientliche Bedeutung für den Ehriften ha, 
ben fol, in die engfle, ummittelbarfte Beziehung gar 
Quelle alles Heild gefegt werben. Die vbloße Mitthei⸗ 


WM... Werkorins 


Iung von Reib und Blut, auch von feinem geapferien, 
kenn für uns keine Gnadenkraft haben, wenn nicht bad, 
was des Opfers Wefen it, Durch diefe Mittheilung des 
Bespferten in ungern iawendigen Menfchen fick einfent. 
A das Weſen des Opfers Berieuguung der Liebe, ft 
taun das Abendmahl nichts Auderes ſeyn, als That ud 
Gabe biefer Liebe, die, wie eben al ihr Thum gegen bes 
Günder ſelbſtverleugnend iſt, in der Zuwendung bei 
Opfers an deufelben felbft noch den lebten, tiefſten Be: 
leuguungsſchritt that, indem fie mit ber ganzen, durd 
ihre zeitliche Gelbihingabe erworbenen Buadeufülle auq 
leiblich in des Sunders unwärdige Natur einkehrt. Hin 
über laßt fidy der Verf. (&.120.) vernehmen: „Die Lie 
i8 es, welche den Bater bewogen, ben Gohu bakiıs 
geben in die menfchliche Knechtoögeſtalt uub überhaupt die 
innigfie Communion der göttlichen wit ber menſchlichen 
Ratur zu ſtiften; die Riebe if ed, weiche den menihge 
worbenen Gottesſohn bewegt, fich an feine Meitmenfchen 
hinzugeben und mit ihnen in die Communion feines kw 
beö und Bintes zu treten und dadurch ihnen mitzmtheils 
allerlei Botteöfülle. Das heil. Abendmahl febt jene 
Opfer der tiefien Liebe und Selbſtoerleugnung vorasdı 
weldyes am SKrenze vollbracht worben «ld die vollen 
mente Hingabe in des Vaters Hand, und es iftfelbh 
wiederum eine Hingabe zwar nicht an Gott, weil 
eber an bie Menſchen, die der Berfähuung und Wieden 
vereinigung mit Bott bebürfen. Alles athmet hier Lich, 
Altes zielt anf Union, Eommunion, Gommuntcation.” 
In die engfte Verbindung mit dem Principe, vn 
welchem er ausgegangen, ſtellt der Berf. ferner auch die 
Echre vom Glauben, wodurch biefeibe außer ledende 
gerer Fülle zugleich eine feſtere Umgrenzung erhaͤlt. Det 
Obiect des Gianbens iſt ihm wicht ein Berfchiedend, 
kaun nicht zufallig jetzt dieß, dann jenes ſeyn, ſondern H 
allezeit Eines nur: bie Liebe; nad ebenfo kaun bie Bird! 


die Lehre von der’ heiligen Liebe. 9% 


wieder nur auf Einem Wege als Tolche erfahren werben, 
auf dem des Glaubens, wie der Berf. (S.162.) fchön fagt: 
„Jede Liebesgemeinfchaft hat in fih das Lieben und Ges 
liebtwerden; das erfte, die vom Subjecte zum Öbjecte 
ausgehende Liebe ift feine Sache ded Glaubens, fonderr 
ded unmittelbaren Gefühls und Bewußtſeyns; aber das 
Geliebtwerden oder die vom DObjecte auf das Subject 
eingehende Liebe Tann für diefes nur Sache ded Glan» 
bens feyn. Lieben und Glauben find Daher correlat wie 
Activum und Paffivum, wie Geben und Empfangen ber 
Liebe, Das Lieben habe ich im Gefühle, welches zum. 
bewußten Wollen wird, das Geliebtwerden im Glauben, 
weiche® zum bewußten Gefühle und fo zur Gegenliebe 
wird. Es gibt alfo Feine Gemeinſchaft der Liebe (infor 
fern diefe nothwendig ſowohl bad amari ald dad amare 
involvirt) ohne Glauben, und alfo auch keine Gemeine 
fchäft der Geelen, bie eben im Bunde -der Liebe befleht, 
ohne Glauben, und daher ohne ihn überhaupt Fein Sees: 
lenglück. Denn keine Seele it glüdlich in fich felber, 
für fi allein; jede nur in Gemeinſchaft mit anderen, in 
der Liebe; unfelig ift, wer an keine Liebe glanbt, wos 
mit er geliebt wird, und wie ein Verdammter geht um⸗ 
ber, wer fich von Allen gehaßt glaubt.” Der Verf zeigt 
Bann in einleuchtender Weife, wie dieß fhon von bloß 
menfchlichen Verhältniffen gelte, und gebt von ba auf 
das Verhaͤltniß des Sünbers zu Gott über, wo er fagt 
(8. 155.): „Eine Fülle der Liebe und Bnade gießt fie 
über den armen Sünder aus und wendet reichen Gegen 
in himmliſchen @ütern durch Chriftum ihm zu. Seine 
Armuth bat nichts zu geben ,. nichts zu bringen; fie hat 
nur zu nehmen, was ihr geboten, nur zu empfangen, 
was ihr gefchentt wird, und fie nimmt und empfängt ed 
Durch den Blauben. Der Glaube iſt die Hand, ift ber 
Mund der Seele. Die Hand bewirkt nicht die Gabe, 
welche dargeboten wird, fondern fie uimmt fie nur; Der 





I  . NQarterius⸗ 


Mund bereiten nicht Die Speiſe, ſonders er ergreift fe 
um, So bringe Der Glaube auch nicht nbiectio die Rech⸗ 
fentigung hervor, die nur aus her Fülle Ehrifi quilt; 
Aber er if die ſuhjeetive, dewußte Aneignung berfeiben, 
aba welche ihre Objecsinität eben fo vergeblich if, wie 
eine Gpeife, Die wicht genoſſen wird.” Der Berf. hätte 
Bis Eonſequenz nur noch weiter ziehen und im Glauben 
ſelliſt audı das Liebeweſen nachmailen ſollen; denn da 
Gleiches nur von Gleichem kann verſtanden und erfaßt 
werden, fo muß der wahre Glaube, der Gottes Liebe hin: 
aimmt, bat und genießt, ſelbſt auch eine, wiewohl au 
ned) receptive, Liebedbeweguug des Gemäthe fen, wei 
der die fpontane aber als nothwendiges Erzengriß vos 
ſelbſt folgt, Aber zu diefer Conſequenz gebt der Bei. 
nicht fort, und hieß hat zur Folge, daß bei der Lehr 
con ber Wiedergeburt und Belehrung das Berhalten dei 
Menfchen, wie unten noch gezeigt werben wird, niet ia 
feinse vollen Lebendigkeit erfcheint. Daß der Berf. and 
fonft auf dem Gebiete der kirchlichen Lehre ſich fteier be» 
wege mad fie, ſtatt fie in ihren äußeren hiſtoriſchen Fer 
men feſtguhalten, vielmehr von innen heraus organiid 
gu verſtehen fuche, bafür dieus, was er (S. 82.) von ber 
Anſpiratirn der heil. Schrift fagt: „Salcher orga⸗ 
wifche Begriff der heil, Schrift, wenech Moſes und dir 
Propheten, und Die Apoſtel una apoßoliſchhen Männer, 
bie, vom Geiſte Ehrifi (1 Petr. 1,12.) beſeelt, ie geſchrie⸗ 
den haben, ſich dienend gliedern um das Haupt des Herrn, 
gibt Die rechte Wärbigung berfelben. Ein Organismus, 
je lebensvoller er geſtaltet iR, um fo mannichfacher find 
feine Glieder; nicht haben alle Glieder gleichen Werth, 
gleiche Nothwendigkeit, gleiche Geiſtesfülle; einige fichen 
in näheren, andere in entferuterem Verhaltniſſe zum Her⸗ 
zen und Haupte; dennoch. find fie alle Durch Einen ke⸗ 
bendgeift verbunden und dienen Einer Seele. Sehr us 
gleichartig And Die Sieber der heil. Schrift, bie einzel 








die Lehre von des Beiligen Liebe, 1008 


nen Schriften, weiche bie Bibel bilden; nicht mit: gleich⸗ 
färmiger ‚Energie geht das Walten des heil, Geiſtes 
durch alle hindurch. Ye bekimmter ber Zug des Geiſtes 
zu Ghrifte ald dem, der bed Geſetzes Ende if, je Has 
rer und kraͤftiger das Zeugniß von ihm als dem Ballen, 
der ded Evangeliums, um fo intenfiver iR bie Ins 
fpiralion, dig ſich demohngeachtet aber auch in jene fer 
neren Regionen der heil, Schrift ertenbirt, welche zu dem 
Mittelpanfte nur in mittelbarer Beziehung fichen.” 

Mer. könnte ded Bortrefflichen, was das Buch im 
Einzelnen enthält, noch gar viel hervorheben, fürchtese 
er nicht, allen Raum, welcher biefer Anzeige gewährt 
werben Tann, dafür wegzunehmen, während er 06 doch 
nicht weniger für feine Pflicht hält, auch die weſentlich⸗ 
ften der ihm im Buche entgegentreteuben Mängel zu bee 
zeichnen. 

Seine Gegenbemerkungen betreffen aber vorerſt das 
aufgeſtellte Princip und deſſen Durchführung. 
Zwar iſt er weit entfernt, dagegen etwas einwenden zu 
wollen, daß der Verf. alle Offenbarnugen Gottes won 
feiner Liebe ausgehen laſſe, vielmehr Hält er dieß, wie 
oben audgefprocdhen worden, für einen Hauptvorzug des 
Buches. Demm die Liebe ift, wie ber Berf. im erſten 
Theile 18.9.) richtig fagt, „wicht eine bloße Eigenſchaft, 
welche Bott hat, fondern vielmehr das Weſen, welches 
er if.” Und es werben beßhalb alle Eigenſchaften und 
alle Werke Gottes wur fo weit richtig erfannt, als das 
Walten und Wirken Der Liebe darin erkaunt wird, Aber 
eben deßhalb muß e6 Rec. für einen Überflüffigen, ja 
fiöreuben Beifag halten, dap ihr bad Präpkae „heilig? 
noch beigegeben iR. Ueberflüſſig — weil es durchaus in 
ihrem Weſen liegt, daß fie heilig fey. Es läßt fich feine 
perfönlihe Liebe denken, die nicht heilig wäre, und nur 
fo weit fie heilig iR, iſt fie wirklich auch Liebe; jedes 
Momente der Unheiligkeit träge ein Moment der Gelbfis 


& 


wor . Bauterius 


ſacht in fie hinein. Stürend aber — weil ber Ghein 
daraus erwüͤchſt, ald ob die Liebe bei ihrer Offenbarung 
nur wach diefer Geite ihrer Eigenfchaften wirtfam ſey. 
Oder wäre die Schöpfung aus ihrer Heiligkeit allein 
gu erllären? fchafft die Liebe nicht zugleich ale eine al: 
mächtige? und that fie irgend etwas, darin ihre Wais⸗ 
beit nicht ebenfo mitwirkte, als ihre Heiligkeit? Selle 
aber der Beifau in der Räckſicht gemacht fegn, daß ge 
genüber ben freien Thun des Menfchen eben dis Seite 
Der Helligkeit in der Liebe vor andern in Betracht kaͤme, 
und deßhalb in einem Dogmatik und Ethik verbindenden 
Merle dieß der leitende Geſichtspunkt ſeyn müſſe, fo läßt 
Ach dieß doch nicht wirklich auf ale Theile anwenden 
Denn der Ratbfchluß, die fündige Menfchheit zu erloͤſen, 
bat feinen Grund nicht in der Heiligkeit der Liebe; nicht 
weil fie heilig iſt, erlöft fie, fondern weil fie barmberzis 
it (wiewohl fie auch in ihrer Barmherzigkeit heilig bleibt). 
Und es müßte deßhalb dem Präbicate der Heiligkeit wer 
nigßend noch das ber Barmherzigkeit beigefügt werben. 
Man kann auch nicht bafür anführen, daß Die Barmher 
‚ gigleit in der Liebe ald die Eonfequenz ihrer Wahrheit 
enthalten fey und fomit Feiner befonderen Auführung ber 
bürfe; denn die Heiligkeit ift nicht weniger darin ent 
halten als ihre Borausfegung. Nur infofern ließe ich’ 
einigermaßen rechtfertigen, ale im Worte „Riebe” die 
Selbfimittheilung das beftimmende Moment des Begriffe 
bildet, wovon die Barmherzigkeit nur eine Modificalion 
audfagt, während die Heiligkeit ihre Selbſtbewahrung 
bezeichnet, die im Begriffe nicht unmittelbar als integrir 
rendes Moment erttgegentritt, obwohl es im ihr liegt, da 
feine wahre Gemeinfchaft ohne Selbfibewahrung möglid 
il. Aber in diefem Kalle liegt die Gefahr fehr naht, 
doch wieder einen Dualidmus von Heiligkeit und Lieb, 
woran die kirchliche Lehrdarftellung leidet, in die Ent 
widelung Sereinzubringen, während jewed Ausgehen von 


3 


die Lehre von der heiligen Liebe. 1003 


dem beftimmten Principe der göttlichen Liebe bavor eben 
bewahren foflte. Und dieſer Gefahr ift der Verf. auch 
nicht ganz entgangen, 

Eine genaue, eingehende Darlegung bed Weſens der 
Liebe wärde ihn am ficherfien haben davor bewahren 
fönnen, aber diefe gibt der Verf. nicht. Er zeigt wohl 
(Bd. I. S. 4) in fchöner und tieffinniger Weife, daß es 
ohne Liebe Fein wahres Erkennen gebe, da in Allem, 
was ift, die Liebe das geiftige Band ſey, welches allbes 
berrfchend die ganze Welt fo burchdringe als umfchlinge, 
fo erhalte ala regiere und fittlih ordne, und (S.7ff.), 
daß alle Eigenfchaften Gottes in dem Begriffe der abſo⸗ 
Inten Liebe zufammengehen, daß Geift, Unendlichkeit, 
Ewigkeit, Heiligkeit und Geredhtigfeit hohle Abftractionen 
find, wenn fie von der Liebe los gedacht werden, daß 
aber fie in ihnen allen er der Urquell, das Leben und 
ihre Füͤlle fey. Aber was die Liebe ſelbſt fey, iſt nicht 
gefagt. Da, wo der Berf. zu erweifen fucht, daß Gott, 
weil er die Liebe ift, ein dreieiniger fey, — ein Geheim⸗ 
niß, welches allerdings am annäherndften aus dem We⸗ 
fen der Liebe erfannt werden kann, — da bemerft er 
wohl über diefelbe, daß ihr Wefen Mittheilung fey, alfo 
bas der vollfommenften Liebe, welche Bott ift, die voll, 
kommenſte Selbftmittheilung, und auch fonft finden wir 
an verfchiedenen Stellen fehr wahr und tiefer einführende 
Bemerkungen darüber. Allein folche gelegentliche Bemer⸗ 
fangen tönnen nicht genügen, wo es gilt, ein ganzes 
Syſtem der Lehre darauf aufzubauen, einen lebendigen 
Organismus gefchichtlicher Offenbarung daraus zu ent 
wideln. Es müßte nicht nur eine vollltändige Beſtim⸗ 
mung ded Begriffe vorausgefchidt, fondern, was von 
noch wichtigerem Belang iſt, ed müßten die verfchiedenen 
Seiten ihres Weſens und deren gegenfeitige Beziehuns 
gen dargelegt, es müßten die Gefete ihres Lebens aus 
ihr felnf gefunden und daraus bie a ihrer Offen» 

Theol. Stud, Jahrg. 1847, 


1004 Sartorius 


barang gefolgert werden; dann würde die Stellnig dr 
Heiligkeit zur Liebe klarer erkannt werden, dann aber auf 
die ftrenge Durchführung ber Liebe ald des aflbebingenden 
Principe durch alle Theile der Lehre fidyerer geſchehes 
fönnen, 

Diefe mangelt in manchen Stellen des vorliegenden 
zweiten Theil, Go ©. 3., nachdem der Berf., wid ober 
angeführt worben, den Zorn ald Energie ber Liebe ge: 
gen die Gände dargeſtellt hat, heißt ed weiter: „Die 
Ermangelung feine! Liebe, dad Geſchiedenſeyn von ihr 
tft die Unfeligkeit; benn feine Liebe ff die Quelle ale 
Lebens; fieift das ewige Leben ſelbſt; die Scheidung von 
der Lebendaquelle ift Tod, leiblicher Tod, infofern dem 
Leibe die belebende, erhaltende Liebe fich entzieht, geif- 
licher Tod, infofern die Seele der beſeligenden und hei. 
figenden Liebe ernrangelt, und diefer gefftlihe Tod wir 
jum ewigen, inter und doch nimmer fierbenden Tode, 
wenn die Seele, nachdem fie gegen beit heiligen Gott 
fi) verftodt hat, verworfen wird von Gott und verlaf 
fen von der göttlichen Liebe, bingegeben iſt ber Be 
dammniß quülender und gequäffer Selbſtſucht.“ Iſt Eiche 
das Weſen Gottes, fo muß er die Liebe gegen jedes ſei⸗ 
ner Gefhöpfe feyn, und wahrhaft verlaffen kaun er kei⸗ 
ned derfelden. Populär ausgedräcdt, Hat diefe Verwer⸗ 
fung und Berlaffung ihre Wahrheit, wiſſenſchaftlich, nicht. 
Bielmehr lebt umd wirft Gott auch‘ im den Gottloſen, 
und zwar ale die Liebe; nur, weil fie ſelbſt, Die ganzis 
Selbftfucht aufgegangen find, ver Liebe im Grunde ihrer 
Weſenheit feind find, können fie biefelde mar als eine feind» 
liche, abftoßende erfahren. Ja eben dus iſt Ver eigen! 
lichſte Srimm ihrer Qual, daß diefe Liebe, die am id 
heilig, alfo ihrer Sünde feind it, in ihnen ale unant: 
tilgbare höhere Macht wohnt, wie bieß fchon aus der 
Dual des Gewiſſens hienieden erkennbar iſt; und durch 
nichts würde ihre Qual mehr erleichtert, als wenn diele 


die Lehre vor der heiligen Liebe 1005 


fhredlihe Gegenwart ihrer reinen Herrlichkeit von ihnen 
wiche. Auf die gleiche Conſequenz deutet zwar auch das 
bin, was der Berf. (Thl. 1. S. 140 ff.) trefffich Aber das 
Weſen ded göttlichen Zornes fagt, allein wirklich durch⸗ 
geführt iſt dieſelbe auch dort nicht. 

Auch noch an manchen andern Stellen möchte man 
das Princip ber Liebe klarer in jedem Momente der Ent, 
wickelung durchleuchten und durchwirken fehen. Zumal 
wird öfterd, wo Gerechtigkeit, Geſetz, Schuld. und Strafe 
im Verhältniſſe und Gegenfage zur verföhnenden Liebe 
befprdchen werben, diefer Gegenfat in einer Weiſe urgirt, 
daß man dad auch in ihnen waltende Weſen der Liebe 
nimmer erfenit. Schon wo der Berf. im erften Theile 
vom Geſetze redet, legt er zwar großes Gewicht, und mit 
Recht, darauf, daß bie Liebe, d. 5. die Liebe des Men⸗ 
(hen gegen Gott und den Nächſten, des Geſetzes Inhalt 
fey, aber daß das Geſetz in der Liebe, d. h. in der Liebe 
Gottes gegen und, auch feinen Grund habe, eine noth⸗ 
wendfge Offenbarung ihrer felbft auf Grund ihres Innern 
Lkebensgeſetzes fey, das tritt fehr zurück, während doch 
vor Allen nad) dieſer Seite das Princip der Liebe hier 
durchzuführen Wäre. Nur dadurch wird man an den Zu⸗ 
ſammenhaͤng beſſelben mit der Liebe erinnert, daß der 
Verf. — und hiermit erhebt er fich allerdings fehr Aber 
die gewöhnliche änßere Auffaffung des Geſetzes — zeigt, 
wie das Geſetz nichts Anderes fey, ald bie in Kolge des 
Widerſpruchs der Sünde nun auch in Widerfpruch gegen 
ihn getretene bee bed Menfchen oder feine Gotteseben⸗ 
bitdlichkeit, welche durch ben göttlichen Liebeswillen bei 
der Schöpfung in ihm manifeſtirt und realifirt worden 
war, und zum Andern dadurch, baß er das Geſetz als 
eine Yeußerung bed Zorned Gottes gegen die Sünde bes 
zeichnet, welcher Zorn die heilige Reaction feiner Liebe 
gegen dad Begentheil berfelden ſey. Aber jenes führt 
nur fehr ummittelbar zur Liebe zurück, und dieſes wird 

67 a 


Sn 


- 


1006 Sartorius 


bei der nähern Ausführung mehr aus der Heiligkeit für 
fi, ſtatt aus der Liebe als folcher (fo DaB auch die Hei⸗ 
ligkeit als Liebesäußerung erfchiene) begrünbet. Der ſeht 
tief in die Sache führende Gedanke, welcher bort (8. 140.) 
audgefprochen it: „Gott wäre nicht Die heilige Liebe, 
wenn er nicht zürnte ‚ben, was gegen bie Liebe iR; ie 
mehr er liebt und das Wohl feiner Gefchöpfe liebt, un 
fo mehr zürnt er dem, was ihr Liebel und Verberben if, 
d.h. der Sünde,” — diefer Gedanke müßte noch volllän 
diger aus dem Weſen ber Liebe entwidelt und bewieſen 
werden, wenn man ſich ganz befriedigt fühlen follte. Inebe⸗ 
fondere wäre, indem der Zorn nicht bloß auf die Sünde, fer 
dern auf den Sünder ſelbſt bezogen wird, darzuthun, daß die 
Liebe, wenn fündlicher Widerfpruch fich gegen fie erhoben hat, 
eben nur in ber Mittheilungsweife bes Zornes Lich 
bleibe, und zwar nicht bloß an ſich, fondern ſpeciell and 
gegen den, dem fie zürnt, daß fie nicht bloß zürne, us 
ſich feluft zu erhalten, fondern um fi dem, der it 
feind ift, auch jeßt noch nad dem ganzen Maße feine 
Empfänglichkeit mitzutheilen, wie das in ihrem Bela 
liegt. Der hier gebliebene Mangel macht ſich nunis 
zweiten Theile noch fühlbarer, wenn Schuld und Strafex. 
immer nur auf bad Geſetz zurückgeführt erfcheinen, nu: 
gende mehr aber das Weſen der Liebe in ihnen verfpün 
wird, vielmehr ſelbſt Stellen vorkommen, wo fie im Ge⸗ 
genfage gegen bie Liebe auftreten, wie S. 46., wo id 
heißt: „Das Geſetz mit feiner Strafe ertödtet die für 
dige Seele (Röm. 7, 10—13.), aber es belebt fie nicht, 
ed kann ihr Fein neues Leben, keine nene Liebe geben 
(Sal. 3,21.); die Liebe allein aber beffert, nicht die 
Strafe; die Strafe ſchlägt wohl nieder, was ſich fe 
ſüchtig aufblähet gegen Gott, aber fle richtet das Rie 
dergefchlagene nit auf, fie erbauet nicht, n dyaam 
olxodogsi (1Kor. 8,1.).” Dffenbar erfcheint bier die 
“ Strafe ald Gegentheil der Liebe (worunter, wie an 








die Lehre von ber heiligen Liebe. 1007 


der beigefügten Schriftftele und aus der Parallele zum 
Geſetze erhellt, vom Berf. die göttliche verſtanden wird), 
während doch die Strafe felbft ein Ausflug der Liebe 
ift. Was der Verf. hier Liebe ausfchließfich nennt, ift 
nur die höhere Offenbarungsftufe derfelben Liebe, welche 
auf der niedrigeren Stufe Strafe ift, fo daß eigentlich 
ftrafende und vergebende Liebe einander entgegengefeßt 
werden follten, Nur auf anderen Grundlagen oder im 
populären Sprachgebrandye darf die höhere Offenbarung 
der göttlichen Liebe im Gegenfage zur Strafe ıc. mit 
Liebe felbft bezeichnet werden. Wo aber, wie im vorlies 
genden Werke, von der Liebe ale alldurchdringendem 
Principe ausgegangen wird, kann biefer Grundbegriff 
nicht wieder für eine einzelne Seite deffelben gebraucht 
werden, wenn man nidyt, während man über den un—⸗ 
aufgehobenen Gegenſatz von Gerechtigkeit und Liebe in 
der älteren Firchlichen Anficht erhoben zu werden hofft, 
doch in diefen wieder zurücgeführt und im Ideenkreiſe 
diefed Gegenſatzes gehalten werden fol. 

Auch bei andern Punkten würde es der Darftellung 
ſehr zu flatten gefommen feyn, wenn das Wefen ber Liebe 
von vorn herein nach allen Seiten gründlich entwidelt 
worden wäre. Go fagt der Verf. wohl fehr richtig über 
die Weife der Menfchwerdung (S.21.): „Die verföhnende 
Menſchwerdung Gottes in Ehrifto ift der größte Beweis 
der heiligen Liebe Gottes, weil fie der Selbſtſucht der 
Melt gegenüber die tieffte Selbfiverleugnung des Höch- 
ften ift, der ſich als Menſch bis zur Knechtsgeſtalt er: 
niedrigt hat. Nicht etwa nur eine bofetifche Verhüllung 
(xg5Hı5) der göttlichen Herrlichkeit fand darin ftatt, ſon⸗ 
dern eine wirflihe Entäußerung (xEvaaıs, Phil. 2, 7.), 
zwar nicht der ewigen Potenz berfelben, was unmögs 
ih, wohl aber ihrer unendlihen Actuwofität in der 
Endlichkeit.“ Aber anftatt daß dieß nun aus dem We⸗ 


1008 Sartoriußs 


ſen der Liebe erwieſen wärbe, folgt nur folgendes as 
fich fehr ſchöͤne und erllärende Bild: „Das Auge, wel 
des Himmel uud Erde mit den Strahlen feines Blidi 
umfaßt, entäußert fich nicht der Schkraft, wenn es id 
ins Dunkel begibt oder dad Augenlied fchließt, fordere 
. nur ihrer weitherrfchenden Wirkfamkeit; fo ſenkt dır 
Sohn Gottes auf Erden fein allumfaffendes Ange ud 
hegibt fich ind menfchliche Dunkel und öffnet darin ali 
ein Menſchenkind fein Auge ald das allmählich aufgehent: 
Licht der Menſchenwelt (kLuk. 2, 52.), bis er ed zur Reh: 
teu des Baters leuchten läßt in völliger Herrlichkeit.” 
Ebenſo wänfchte man den (S. 32.) ald Uebergang von 
erften zum zweiten Kapitel gewählten, fehr tief in das 
Berftändnig der Berföhnung leitenden Gedanken: „de 
Berföhner it unfere Berfühnung,” dadurch näher begrüß 
det, daß gezeigt würbe, wie bie Liebe, indem fle fd 
felbft gibt, damit eo ipao Gegen bringt, und fprciel die 
göttliche Liebe den Segen, weldyen die fündige Menſch 
heit bedarf. Zwar fleht 5. 34. und 35. eine Stelle, i 
welcher bie unmittelbar gegebene Immanenz des Werft 
in der Perfon noch weiter ausgeſprochen it, ed ih di 
bie fchöne Stelle: „Die Vereinigung ber Gottheit mi 
ber Menfchheit in Jeſu hat nicht im ihm ihren Eudzwel 
als habe nur ihn als Individuum Gott erkoren, um ihr 
die Fülle feiner Liebe ausſchließlich mitzutheilen; nei, 
fie ik Mittel und "Iefus der Mittler, der Meittelpusft, 


von dem aus göttliches Licht und Leben über alle, dt 


Finſterniß und deu Tode verfallenen, Menfchen erneuern) 
audftrahlen fol. Es if das Wohlgefallen geweſen, daj 
in ihm alle Fülle wohnen ſollte (Kol. 1, 19.), damit au 
feiner Fülle Ale nehmen möchten Gnade um Ga 


(Joh. 1,16,). Eines bedingt hier das Andere; bie Je 


tenfität feiner Perfon begründet die Extenfirät feınet 
Wirkſamkeit; je mehr im ihm concentrirt iſt bie Bereit 





die Lehre von ber heiligen Liebe. 4009 


gung ber Gottheit mit der Meufchheit, um fo mehr era⸗ 
biirt von ihm die verföhnende, die wiederversinigende 
Kraft auf ale Sünder. Die Lehre von der Berföhnung 
it unverkändlich, mo bie Perſon des Verſöhners und 
eben damit die univerſale und centrale Stellung verfannt 
wird., fraft deren er ald König und priefterliched Haupt 
der menfchlichen Gemeinfchaft alle ihre Gligder unter ſich 
befaßt, ja als der Herr, durch den und zu dem alle 
Dinge geſchaffen find, das Oberhaupt der ganzen Welt 
iſt.“ Allein damit, daß die Vereinigung der Gottheit 
mit der. Menfſchheit in Chrifto vermöge der.centralen Stel: _ 
Iung deflelben zu dieſer auch eine mit Gott vereinigende 
Kraft anf. alle Sünder ausühe, ift jene Immanenz bag 
Werkes iu her Perfon noch nicht vollkammen dargethan, 
wenn nicht auch auß dem Weſen der Liebe, welche chen 
in Ghrifto perfünlid offenbar geworden, erwiefen wird, 
daß fie in ihrer Selbſthingabe eo ipso wiebervereinigend 
wirfe, und daß, mas ald Zweck ihrer Selbfihingabe er» 
Scheint, daß ihr Werf, und fpeciell Die Grunbfeiten def: 
felben, Licht, Leben und Berfähnung, welche der Verf. 
bier gelegentlich anführt, als integrirende Lebensmacht ip 
ihr felbft befchloffen liegen. Auch wenn her Verf. hier, 
indem er von wieberpereinigender Kraft der Liebe rebet, 
diefelbe ohne Weiteres mit der verfühnenden ibentificirt, 
fann ihm Rec. nicht beiftimwen, weil jenes eine allges 
meine Bezeichnung if, welche, wie der Verf. felbit ed 
auffaßt, Licht und Leben als untergeordnete Momente in 
fih fchließt, während die Verſöhnung ein fpeciellereß, 
juriſtiſches Verhältniß bezeichnet, welchem Licht und Les 
ben wohl ald Wirkung folgen mag, body fo, baß fle 
nicht als inbegriffents Moment in den Kreis des Be⸗ 

griffes ſelbſt gehören. 
Doch dieß führt Rec. auf einen zweiten Punkt, auf 
welchen er bei Beurtheilung vorliegender Schrift näher 

ö R 2 —— 


De 





1010 Sartorius 


eingehen muß a). Er betrifft die Stellung ber Ber 
föühnung innerhalb der Liebesötonomie Bor: 
tes felbfl. Der Berf. faßt die ganze Licbedthätigket 
Gottes für den Sünder iu den Einen Begriff der Ver⸗ 
föhnnng zuſammen, indem er der fchöpfertifchen Liebe bie 
verfähnende gegenüberftellt. Diefem entfpricht daun arf 
Seite des Sünders, welcher im Glanben diefe Liebe anfı 
nimmt, die Rechtfertigung, welche „das Empfangen der 
Liebe ift, womit wir geliebt werben, während bie Heil, 
gung das Geben der Liebe iſt, womit wir lieben.” Un 
dieſe Anficht wird baburch noch fefter geſtützt, daß ta 
Gewiffen als ber innere Grund aller Religion (fomit di 
Theologie ald Gewiffenswiffenfchaft) bezeichnet wird. 
Dieb Einzelne fleht unter fi, in engem Zufamme 
bange, und der Berf. ift hierin nur confequent. Abe 
nicht in gleicher Weife findet Rec. diefe Sonfequen; in 
dem Berhältniffe obiger Säge zum Principe ber Liebe, 
wovon der Verf. ausgeht. Gorfequent wäre es um 





dann, wenn dad Gewiffen bad Organ wäre, womit di 


göttliche Liebe als folche von Geite des Menfchen aufge 
nommen wird. Aber, wiewohl ich allerdings im Gewiſ⸗ 
fen die göttliche Liebe erfahre, fo erfahre ich fie in dem 
felben doch nicht als folche, in der unmittelbaren Hingabe 
ihres Selbſts, fondern nur nach der Gelbfibefchräntung, 
welche fie in dieſer Hingabe beobachtet, d. h. nach ihre 
Rechtsſeite. Das Gewiſſen ſteht in ausſchließlicher Be 
ziehung zu meinem freien Thun, weßhalb daſſelbe aud 
früher nicht erwacht, als der Menfch fich felbft zu be 
ſtimmen anfängt. Es ift nicht das Organ, dur wel 





a) Indem Rec. dieß thut, will er damit bas, was er über denſel 
ben Gegenftand in einer felbftändigen Abhandlung („über da 
Verhaͤltniß der perfönlichen Gemeinſchaft mit Chriſto zur Ev 
leuchtung, Redptfertigung und Heiligung“ in biefer Zeitiärift 
1847. Heft 1.) gefagt bat, nadı einigen Seiten noch ausführ 
licher begründen, 


5 





die Lehre von ber heiligen Liebe. 1011 


ches ich mir meiner Abhängigkeit von Gott überhanpt 
bewußt werde, fondern nur jener Abhängigkeit, vermöge 
welcher über meinem Willen ein höherer Wille als deſſen 
Geſetz ſteht; und mein Gewiſſen fagt mir alfo nur dieß, 
daß auf Grund und in Folge meines eignen freien Bers. 
haftende Gott diefe oder jene Stellung zu mir eingenoms 
men habe, oder daß ich zu dem inneren, fich ſelbſt glei⸗ 
chen, heiligen und gerechten Willen Gottes in diefe oder 
jene Stellung eingetreten ſey. Die Liebe if felbft wohl 
dieſes Recht. Indem fie ſich nämlich hingibt, nimmt fle 
eben damit auch eine beitimmte Stellung ein, und weil 
fie fih immer nur nach dem Maße der Empfänglichkeit 
ihres Objects, bei der perfönlichen Greatur alfo nad 
dem Maße der ethifchen Smpfänglichkeit, hingibt, nimmt 
fie von felbft zugleich eine ethifchsrichtende Stellung ein. 
Und diefer werde ich eben im Gewiffen inne. Aber dars 
in geht das Weſen und Wirken der Liebe nicht auf. Sie 
erwibdert nicht bloß fremdes Thun, fie bietet und gibt 
auch Neues aud dem eignen Schaße, fie vergilt nicht 
bloß, fie fördert zugleich, fie fchafft nicht bloß Recht, 
fondern, wie der Verf. (S. 34.) feldft bemerft, auch . 
Licht und Leben. Diefe letztere Wirkung aber erfahre ich 
nicht im Gewiſſen, fondern in den übrigen Seiten meines 
perfönlihen Lebens. Gegen die Nechtöfeite der Liebe 
verhalte ich mich rein paſſiv, eben weil fie nur erwidert 
(wie das Gewiffen auch ein folch rein objectives Organ 
ift, wobei mein perfönlihes Ich ſich bloß leidend vers 
hält); um aber ihr Licht und Leben zu empfangen, bebarf 
ed auch activen Verhaltens, zwar immer noch zuerſt in 
Neceptivität, doch nicht in reiner Paſſivität. Die Liebe 
felbft jedoch in ihrer unmittelbaren Totalität, worin eben 
die Perfon, wie fie ift, fih ganz gibt, kann von ber 
Merfönlichkeit nur wieder nady der unmittelbaren Totalis 
tät ihrer Eriftenz, alfo im innerftien Kernpunkte ihres 
Weſens aufgenommen werden, wo Paffivität und Actis 


1m Gartariuß 


pitat ſich darchdringen, wo die verſchiedenen Vermigu 
bed perſoͤnlichen Lebens noch in unentwickelter Eindeu 
geſchlaſſen liegen, mo das bewußte, freie Leben der Pers 
fönlichleit auch von der Baſis feines natürlichen Lebens 
ſich noch wicht gelöft hat, fondern mit dem Trieb⸗ und 
Gmpfindungsieben der Ratur nad unmittelbar geeinigt 
zubt. Diefer innerfte Lebensgrund der Perfönlichken iſt ct, 
was wir Gemüth nennen. Nur das Gemäth foht und 
erwidert bie Liebe als ſolche, nr im Gemüthe nimm 
and gibt fi geganfeitig Die Pexfäulichkeit in ihre 
anmittelbaren Ganzheit. Und da Gott in feiner Liebe 
fih ganz dem Sünder gibt in Ghrifto und der Günder, 
Gottes Liebe durch ben Glauben in den innexſten Grund 
ſeines Weſſens ziehend, aus diefem in ungetheilter kick 
ſich Bott wieber hingibt, fo iſt die Theologie, weldt 
biefe Delonomie des Reiches Gottes barzuftellen hat 
nicht ſowohl Gewiſſens⸗, ald Gemuͤthswiſſenſchaft. Ge 
wiſſeuswiſſenſchaft könnte man bloß die abflracte, vom 
chriſtlichen Boden gelöfte Moxal nennen, welde nur eis 
fogmelled Thun nach .eiferuem Geſetze keunt. Die chriß⸗ 
liche, auffchließlich aus dem Boden bey. Religion erwach 
fene Moral aber eutmickelt Alles aus der perſönliche 
Einigung bed Menſchen mit Bott, der in Chriſto durd 
ben heil. Geift in und Sündern Wohnung macht, ſo dad 
die gläubige Kiebe nothmwendig das fubjectine Prince 
ihrer Sittlichkeit bildet; fie ift alfo dur und duch my 
ſtiſch; Myſtik ift aber das religiöſe Leben bed Gemüthe, 
icht des Gewiſſens. Diefes. ift nur feine objective den 
ausſetzung. 

Um bier ſicher zu gehen, muß man die Anfchauunpe 
zweife, welche dieſe Gruublräfte des Geiſtes als eingelav- 
neben cinander chende, abgefonderte Vermögen brraı 
tet, verlaſſen. Dadurch zertrennt man den Menden 
and kommit zu feiner lebendigen Borftelung. Dear Bil 
des Menfchen it Einer. Infofern er, von anderem Sep 





die Lehre von her beiligen Liebe. Ad18 


ben fich unterſcheidend, dieſes ſich gegenſtändlich zu ma 
chen vermag, und zwar nicht bloß feiner äußeren Er, 
fcheinung, fondern zugleich feinem innerften Weſen nad, 
als Product göttlichen oder creatürlihen Geiles, wofür 
er alfo die verwandte Kraft in ſich trägt, nennen wir 
ihn vernünftig. Infofern er, was nur auf Grund biefer 
Gegenfändlichfeit fremben und eigenen Weſens gefchehen 
ann, ſelbſt Urfache feiner Lebensrichtung zu ſeyn, fich 
felbR ans fih zu beftimmen vermag, fchreiben wir ihm 
Wille gu. Die Vereinigung dieſer beiden Kräfte macht 
ihn zum Seife, zum Ebenbilde Gotted. Aber weil er nur 
Abbild, nicht Urbild if, fo bleibt ihm dieſes nothwendige 
Norm für feine freie Bethätigung; und dieſes innere 
Sich fund mb geltend machen der göttlichen Idee bes 
eigenen Weſens gegenüber feiner freien Bethätigung iſt. es, 
was wir ald Function dem Gewiffen zuſchreiben. Zu 
diefen drei Grundſeiten bed menfchlichen Geiſteslebens 
Kommt aber noch gine vierte hinzu. Alles Thun des 
Geiſtes nämlidy iſt im leuten Grunde nichts Anderes, 
als ein Eingehen in die Gemeinſchaft anderer Geilter, 
bes göttlichen und der verwandten creatürlichen. Dieß 
kann nur in ber Hingabe der innerſten Perfönlichkeit 
gefchehen. Diefe Seite des Geiſteslebens, nach wel⸗ 
cher der Beil mit feinem eigenften Selbflleben fi 
bargibt und das gleiche innerfte Leben göttlichen oder 
fremden creatürlichen Geiftes in fich aufnimmt, bezeichnen 
wir mit Gemüth. In diefem bat der Menſch fomit feine 
Inuerlichkeit und Fülle; und nur was und fo weit ed in 
diefes Sich einſenkt, wird es fein wahres perfönliches Eis 
genthum, nicht - mehr bloß einzeln anhaftender Beſitz, 
und, nur was und fo weit etwas qus bem Gemüthe kommt, 
ift es wahre volle perfönliche That des Menfchen, nicht 
bloß natürliche oder. abftracte Selbftbewegung des Ichs. 

Tritt nun in die menfchliche Perfönlighkeit die Stö⸗ 
sung ber Sünde herein, fo kann man nicht fagen, nur 


= 


+ 


1014 Gartorius 


bieß oder jenes Vermögen fey bavon inficirt, ein anbes 
red nicht, wie 3. B.Bernunft und Wille feyen es, das Bes 
wiffen nicht, fondern der ganze menfchlidhe Geiſt, der 
ein einiger it, ift ed. Nur äußert ſich natürlich biefe 
Störung nad jeder Ridhtung des Geiſteslebens in aus 
derer Weiſe. Da fich derfeibe feinen Weſen nach in ſei⸗ 
ner fittlichen GSelbfibeflimmung von einem höheren Wil⸗ 
Ien abhängig wiffen muß, fo kann dieß Verhältniß durch 
die Sunde nicht aufgehört haben, die Idee bes göttlichen 
Rechts kann nicht zerfiört worden feyn (wiewohl and 
bier eine Träbung zu erfennen ift, wofür der Nachweis 
in der Nothwendigkeit einer äußern Gefekesoffenbarung 
vorliegt), dagegen aber wird fi das innere Zeugnif 
nun in anderer Form, in der der Scheidung nämlich, 
dem Ich kundthun, nnd dieß ift hier Die eigentlichſte 
Störung. So haben and, die Übrigen Seiten des per: 
fönlichen Lebens eine Störung erlitten, und zwar zeigt 
fih diefelbe, da fie fubjectiver Art find, hier als eigent- 
lihe® Verderben; doch aber ift auch in ihnen noch bie 
angeborne Bellimmung, die Beziehung nad oben er: 


kennbar und lebendig geblieben, fo dunkel und ſchwach 


fie auch geworden, Nicht ift das Gewiffen das einzige 
Organ, worin bie Ebenbildlichteit noch zu finden, das 
göttliche Keben des menfchlidhen Beiftes noch wirffam if. 
Weiß der Geiſt ded natürlichen Menfchen nur noch von 
einem höheren Geſetze, alfo einem heiligen und gerechten 
Gott, nit von einem höheren Weſen, durch welches Als 
les tft, überhaupt? Ja mehr noch, fühlt er nicht noch ei⸗ 
nen tiefen, ob auch ohnmächtigen Zug nady einer höhes 
ren, allbebenfenden, erbarmenden Liebe? Und zeigt nnd 
regt fich fomit nicht auch in den übrigen Geiten des perfön- 
lichen Lebens die anerfchaffene Gottesebenbildlichkeit? 
Wenn nun die Liebe Gottes in ihrem unenblichen Drange 
dem Menſchen wieber zur Gemeinfchaft fih dargeben 
wi, fo knüpft fie nicht ausfchließlich an eined der Ber 


die Lehre von der heiligen Lie. 10185 


mögen, fonbern an jedes nach feiner Weile an, um bem 
ganzen Menfchen in Gemeinfchaft mit fidy wieder zu ers 
heben. Allerdings wer die erbarmende Liebe Gottes ganz 
ſoll fallen können, muß nicht bloß wiflen, daß er in Elend 
liege, fondern daß er durch eigne Schuld im Elende liege, 
d. 5. er muß die im Gewiſſen fich kundgebende Heilig: 
teit und Gerechtigkeit, welche bie unverrüdliche Lebens⸗ 
grunblage in der Liebe Wilder, anerkennen, und wirb ihr 
Erbarmen deßhalb als Schulderlaffung und Rechtferti⸗ 
gung inne werde Allein andererfeits, wo bloß bes 
Gewiſſens Zeugniß wad iſt und der Menſch Chriftum 
nur ergreift, um dieſes zu befchwidhtigen, ba iſt nody 
fein Erfaffen der Liebe Gottes als folder — nnd nur 
diefe kann ja wahre Hülfe bringen, — fondern eine Vers 
zweiflungsthat abergläubifcher Furcht. Es muß vor 
Allem der Zug bed inuern Menfchen, des Gemüthes, nach 
höherer, heifender Liebe lebendig und wirkſam ſeyn, 
wenn wir der göttlichen Liebe als folder follen theilhafs 
tig werden. Daburch, daß die Perfönlichkeit des Men⸗ 
fhen, dad Gemüth im Unglauben von der göttlichen 
Liebe abwendend, aus der Gemeinfchaft Gottes ſich los⸗ 
riß, ift ja alles Elend über ihn bereingebrochen, welches 
er in der Verblendung feiner Vernunft, in der Knecht⸗ 
Schaft feines Willens und in der Zerrüttung feiner gans 
zen geiftigsleiblichen Natur erfährt, und welches ihm im 
Gewiffen als felbfiverfchuldetes zugerechnet wird. Nur 
dadurch nun, daß er Gottes zuvor» und entgegenkom⸗ 
mende Liebe mit dem Gemüthe wieder ergreift, daß er 
im innerften Grunde feiner Perfönlichkeit mit der menſch⸗ 
gewordenen Perfönlichleit des Sohnes Gottes in Ges 
meinfchaft tritt, kann bie alfeitige Hulfe aus feinem Sün⸗ 
benelend ihm wieber zu Theil werben, welche allein im 
der Liebe Gottes, allein in Chriſto, in welchen dieſe er» 
fchienen it, für ihn befchloffen liegt. Dieß gefchieht im 
Glauben, da die Gemeinfhaft im erften Momente nur 


1016 Surtorius⸗ 


m der Form ber Receptivität voltzogen werden Fam, 
ber Glaube aber die Hand iſt, womit dad Gemüth die 
Liebe hinnimmt. Die im Glauben vollgogene perſoͤnliche 
Gemtinſchaft (unio-inystica) iſt alſo die innere Borand 
fetzung, Grundlage und Duelle (ja det Inbegriff ſelbſt) al 
kes Heils für den Meuſchen. Richt glaube ich, weil id 
"gerechtfertigt bin, ſondern dadurch, daß ich glaube, d.h. 
Chriſtum mir perfönlich zu eigen" mache, werde ich ge 
rechtfertigt. Es verändert die Sache nit, wenn man 
hervorhebt, daß der Haube die Rechtfertigung miht ber 
wirke, fondern bloß empfange, fomit doch fle die obie, 
tive Vorausfeßung des Glaubens fey. Denn das Objec⸗ 
tive, das ich ergreife, iſt nicht bie Rechtfertigumg , for 
dern die Verſoͤhnung in Ehrifto, welche erſt Dadurch zur 
Kechtftrtigung wird, daß fie mein perföntiches Eigen 
ham geworden. Chriftus muß buch Einſenkung in der 
inneren Pebendgrund des Menfchen mit diefem erf it 
wahre perfönliche Geueinſchaft getteten feyn, d. h. er muß 
im Gemäthe wohnen, um ſich ihm im Gewiſſen bezeugen 
jr koͤnnen. Bom Gemüt aud aber Abt Chriſtus, da er 
die Gemeinfchaft unit dem Menſchen nach Allen Beziehun⸗ 
gen feines Lebens vollziehen wi, fette Gnadenwirkun 
nicht bloß auf das Gewiſſen, ſondern auch anf die übri 


gen Grundverhögen: Vernunft und Wille, d.h. indem 


der Sünder mit Chriſto, in welchem thnt Gottes Lich 
Aüberſchwenglich ettgegengefommen, durch den Slauben per 
föntich fi einige, wird er nicht bioß inne, baß bie 
Berfaffung der Seele; wo fie ganz tur von unendlichen 
Liebederbarmen leben wit, die allein rechte, Gott gefäl 
Iige fey, fondern in ihren Lichte vermag er auch Act 
zu erkennen, weil diefe Liebe alles perfoͤnlichen und un 


yerfönlichen Weſens Grund if, and, von ihrer fanften - 


Gewalt übdermocht, empfängt er Kraft umd Freiheit, hin⸗ 
fort nimmer ſich felbſt zu leben, ſondern in den Fußta⸗ 
pfen deſſen zu wandeln, der fſich uns gu Lieb im dem 


die Lehre von der heiligen Liebe. 1017 


Tod gegeben. In welchem Berhälttifie diefe drei: Rechts 
fertigung, &rleuchting und Heiligung, num wieder zu 
einander fliehen, ift für die gegeberle Frage nimmer von 
Belang. Bildet auch die Verſoͤhnnug des’ Gewiſſens für 
die geiftliche Durchdringung der Bernunft und des Wil) 
end den bedingenden Angelpunkt, well die Finfterniß 
und Knechtſchaft det Sünde durch: Selbftverfchuldung 
eingetreten ift und deßhalb nur Auf Grund der Aufhe⸗ 
bung dieſer Schuld getilgt werden kann, und fiellt ſtch 
und nach dem allgemeinen inneren Borgange bie Erleuch⸗ 
tung als nothwendige Bedingung, die Hefligung aber 
als ihre Wirkung und Folge dar a), fo geht doch immer⸗ 
hin die erleuchtende und heiligende Kraft nur von Ehrifto 
aus, der im Gemüthe durd; den Glauben bes Menſchen 
Lebensprincip geworden, fo daß feine Gnadenwirkung 
an ung fi nicht in der Rechtfertigung, wie der Berf, es 
barftellt, zufanımenfchließt, fondern in der unfo mystica, 
worih' Die Rechtfertigung nur ein Moment if. Seftit 
für das chriftlih = ethifche Handetn ift die Rechtfertigung 
nicht, wie ed etwa fcheinen könnte, die einzige VBoraudfts 
tzung, ſondern die Erleuchtung iſt's nicht weniger; wie 
wollte der Ehrift fonft weife feyır in feinem Thun! Der 
lebendige Quell aber, aus weichem ber geheiligte Wille 
fort Ad fort fein Leben fchöpft, ift das gländig fiebende 
Gemürh, fo daß affo ver Wille nicht deßhalb allein ſtich heilig 
bethätigt, weil das Gewiſſen verföhnt ift, fordern auch 
— doch fo, daß der caufale Zufammenhang Aberall ein 
anderer it, — well die Vernunft erleuchtet ift und dad 
Gemüth durch Hlänbige Liebe mit Ehriſto in perfönficher 
Genreinfchaft. 

Ganz dem analog ftellt fih und das Werk Ehrifti 
dar, welches er für die Menfchheit ein, für allemal voll⸗ 
braht hat, Wie dort die Wiedergeburt des Sunders 


a) Siehe übrigens Näheres darüber in der angeführten Abhand- 
lung bes Rec,, St. u, Kr. 1847, Heft 1. 


1018 Sartorius 


in der Gemeinſchaft mit Gott in Chriſto vollzogen wird, 
fo die Neuſchöpfung der ſündigen Menſchheit in der Ge 
meinfchaft Gottes mit derfelben in Chriſto. Diefe Bir 
derberftellung ber burdy die Sunde zerriffenen Gemein 
fhaft zwifchen Bott und Menfchen, welche in der Menſch⸗ 
werbung bes Sohnes Gottes audgeführt und durch ein gas 
zes Menfchenleben bie zum Tode burchgeführt worden, fleit 
felbft dad Werk, wodurch die Menfchheit erlöft if. Un 
diefelbe übt nun ihren Einfluß auf alle Verhältniſſe un 
Sphaͤren ded menfchlichen Lebens. Es fällt diefelbe nicht, 
wie ed bei dem Verf. gefchieht, mit der Berfähnung zu 
Tammen, fondern ald Berföhnung Felt fie ſich nur dat, 
infofern fie zur Schuld ded Menfchen in Beziehung ge 
fegt wird, Verſoͤhnung ift fie bloß, von ihrer Rechtöſcite 
gefaßt. Nicht weniger aber ald bad Recht ift daurch ſie 
auch die Wahrheit und das Leben für die Welt offenbar ge 
worden; nicht weniger liegt in jenem Mittleramt anfer 
bem bohenpriefterlichen auch bag prophetifche und koͤnig⸗ 
liche befchloffen. Darauf wird der Verf, wiewohlend 
nur auf jenes befchränten will, ſelbſt auch hingeführ, 
‚wenn er(&,35.) beides verbindet. In feiner Darftelun; 
aber findet der Berf. für das prophetifche und königliche 
Amt Feine Stelle, fie gehen im hobhenpriefterlichen anf. 

Dadurd wird nun zwar — und das ift ein groß 
Verdienſt in ber Tendenz und Darftellung biefes Balke, 
wie wir oben ſchon audgefprochen haben — der Rechts⸗ 
begriff feiner Aeußerlichkeit entlleidet. Der Verf. foft 
bie göttliche Rechtsthat zugleich als wirkliche Liebesthat; 
das Opfer, welches jnridiſch ftellvertretende Kraft hat, ik 
ihm göttliche Kiebeöverleugnung ‚, die Rechtfertigung „eint 
Gnadenwirkung, , welche die Seele innig mit der Liebe burd- 
dringt und erfüllt, womit fie von bem Gott der Gnade gr 
liebt wird.” Allein der Nechtebegriff hat andererfeitd du 
durch auch wieder feine beflimmte Begrenzung im Ber: 
hältniffe zur Liebe verloren. Das Wefen und Wirken der 











die Lehre von der heiligen Liebe, 1019 


Liebe geht darin auf, Recht zu feyn und Recht zn fchafs 
fen, und alle andern Seiten, wie die intellectuelle und 
ethifche, erfcheinen bloß theils als inbegriffene Momente, 
theils als Folgen diefer Rechtöherftellung, wodurch offenbar 
ihr unmittelbare Berhältniß zur Liebe beeinträchtigt ift. 
Denn unmittelbar aus der Liebe fließt, wie alles Recht, fo 
anch alles Licht und Leben. Und wenn Gott, als er in 
feiner Liebe den Menfchen fchuf, ſich zu ihm nicht bloß in ein 
Rechtöverhältniß fegte, fondern ihm zugleich die Quelle al’ 
feines Erkennens und felbfifräftigen Wirkens ward, eben 
weil er die Liebe, nicht weil er das Recht für den Mens 
{hen it, fo muß nun Ehriftus daſſelbe gleicherweife in 
der Hingabe feiner Perfönlichkeit feyn: er ftellt dem Sün⸗ 
der nicht bloß fein Recht vor Gott wieder ber, indem 
er ſich Gott als den Reinen an ded Sünders Statt dar: 
tet, fondern vermöge feiner Einpflanzung in die Menſch⸗ 
beit ift derfelben aud das Princip alles göttlichen Ers 
fennend und Wollens unmittelbar eingepflanzt, — auf 
weiche alfeitige Wirkung der myſtiſchen Bereinigung vom 
Berf. felbft, doch fo, daß er fie allerdings nur mit dem Rechte» 
verhältniß in Berbindung bringt, hingewieſen wird, wenn 
er (S. 7.) fagt: „Der verwilderte Baum der Menfchheit 
fann wohl aus eigener, inwohnender Kraft mannichfache 
Blätter, Blüthen und Früchte hervortreiben, aber ohne 
Einfentung eined höheren, edleren Reiſes ſich ſelbſt 
- veredeln und erneuern fann er nicht,” 

Erf dadurch, daß die Wiedergeburt als zunädft im 
Gemüthe vorgehender und von da nach den andern Seiten 
des perfönlichen Lebens ſich Fundgebender und wirken⸗ 
der Act gefaßt wird, erhält auch das feine völligere theile 
Begründung, theild Berichtigung und Ergänzung, was 
der Derf. über dad Berhältniß des menfchlichen zum 
göttlichen, Thun bei der Belehrung fagt (S. 168): „Nur 
Unverftand fann hier fagen, daß, wenn die Belehrung 

Theol. Stud, Jahrg. 1847, 85 


i N 





1020 Sorterius 


fein Berl des Menſchen ſey, er ſich nur were ein tebieh 
Werkzeug dabei verhalten und fie nicht won ihm gefordert 
werben koͤnne. Es wird and nidt von ihm gefordert, 
daß er fie ſelbſt made, wohl aber, baß er Be leide, da 
er dem Geiſte Gottes fich nicht. verfchließe, ſon dern iha 
durch das Wort Gotted (wer Ohren hat zu hören, de 
böre, Röm. 10, 17.; Gal. 3,2.) ein nenes Leben in fh 
wirken laffe.” Bezieht man die Wirkung ber Gnade me 
mittelbar nur auf das Gewiffen, fo kann der Mexik 
allerdings nur eine reis paffive Stellung eiunchmen, wit 
ja dieß das allgemeine Berhältmiß des Menſchen zu fei⸗ 
nem Gewiffen if. Und gerade dieß war für die älter 
Dogmatit ber Hauptgrund, der Rechtfertigung dieſe 
©tellung zu geben, weil dadurch jeded Verdienſt dei 
Menſchen ausgeſchloſſen wurde, Dean ficht jedoch be 
diefer reinen Paſſivitat nicht ein, warnm banız nicht in 
eined Jeden Gewiſſen die Gnade ihre rechtfertigende Wir: 
tung kundgebe. Es Tann nur am Menfchen liegen, de 
sen einer glaubt, der andere nit. Dieß ſagt wohlaud 
die ältere Dogmatil. Allein wenn diefer Blaube wirklich 
eine Sache ber Perföntichkeit ſeyn fol, fo darf er nicht 
ale bloß formelles Hinnehmen gefaßt werben, wodurd 
der Empfang des Heild zu etwas am Ende von zufäli 
gen äußeren Berhältniffen Abhängigen würde, wie Möb 
ler nicht ganz ohne Grund der kirchlichen Dogmatik vor 
wirft, fondern diefe Hinnahme muß ihren guweichenden 
Grund im Innern des Menfchen ſelbſt haben, Es glaubt 
Jeder auf Brund des in ihm wohnenden Bebürfniffte 
nach göttlicher Liebe, wiewohl diefed Bebürfwig, welche 
mit der Beſtimmung zur Gotteögemeinfchaft in dem Mus 
fhen von Natur geſetzt it, ſelbſt ebenfalls erſt dard 
die vorandgehende Erziehnng der göttlichen Liebe and 
der Unterbrüdung, in die «6 durch bie Uebermacht der 
weltlichen Luft gerathen war, befreit werden muß. De 


die Lehre vom ber heiligen Liebe. to21 


Glaube ſelbſt ift der activ gewordene Zug des Herzens 
nach Dem Herzen Gotted. Aber eben weil der wieberge, 
bäreude Slaube eine receptive Bewegung der innerfien 
Perſönlichkeit zur göttlichen Liebe, ein Act perfönlicher 
Semeinichaft mit Ehriko ift, fo if in der Wiedergeburt - 
ebenfo die Einheit von Activität und Paffivität als bie 
Ausschließung des Verdienſtes bei wirklicher Selbſtthä⸗ 
tigleit gefeßt. Es ift richtig, was ber Berf. (5. 168) fagt: 
„Der alte Menfch, welcher eben erneuert werden foll, 
that diefen Act nicht und kann ihn nicht thun, fonbern 
er leidet nur, baß er in ihm gefchieht durch die wirkende 
Gnade (gratis operans)”; allein es wäre zu wünfchen, 
dag die Zurückweiſung ded Einwurfs, „der Belebtwers 
dende verhalte fih Dabei als ein todtes Werkzeug,” vom 
Berf, noch mehr begründet worden fey. Derfelbe. beruft 
fi nur auf „das Verhältniß der Receptivität und Spons 
taneltät im Gebiete des Lebendigen” und hebt hervor, 
dag in der Lehre von ber Rechtfertigung „Alles darauf 
bingehe, neues Leben angufachen,” und daß, „damit bieß 
recht lebenskraäftig gefchehen könne, es nicht aus der erſt 
zu belebenden Grftorbenheit ded alten Menſchen, fondern 
aus der ewigen Lebendquelle und Licbeöfülle Gottes ab» 
geleitet werde.” Diefed aber gibt über dad Maß von 
Selvfithätigkeit bei der Wiedergeburt ſelbſt noch kein 
Licht, umd jenes ift nur eine allgemeine Andentung. Als 
lerdings Tann jenes Leiden nicht eine reine Paffloität 
feyn „ da dad Wirkenlaffen im Gegenſatz eined gedachten 
möglichen Widerftanbes in ber Perfönlichkeit eine zuftims 
mende, mithin irgend thätige Bewegung des inneren 
Menfchen vorandfegt. Aber ihre Erklärung findet diefe 
relative Selbfithätigkeit erfi aus dem Weſen des Gemüths 
und aus dem Wefen der Liebe, deren receptive Seite 
der Glaube if. Weil das Gemüth die unaustilgliche 
Beflimmung der Semeinfchaft und fpeciell der Botted» 
68 * 


1022 Sartorius 


gemeinschaft in fi trägt, fo kann ed — wie ja gun 
Theile fchon in Folge der natürlihen Wege Gottes ein 
Schuen nad oben fi in demfelben zu regen beginzt, 
— wenn die göttliche Liebe in Ehrifto ihm entgegen 
kommt und ihre Segendftröme in dafjelbe leitet, nict 
gleichgültig, nicht rein paffiv bleiben, fondern auf Grund 
der eingeborenen Berwandtfchaft muß ein beſtimmtes 
Für oder Wider fich regen. Jenes „Für” ſchließt aber 
Darum doch nichts weniger ale ein Verdienſt in fi; 
denn nicht nur wäre alled Schnen und Sich Ausfreden 
bed inwendigen Menfchen nadı oben-ja vergeblich, wenn 
nicht von oben die Gnadenfraft ihm gereicht und in 
ihn gefenft würde, Durch welche er ſich wirklich zu erhe⸗ 
ben vermag, fondern bie Liebe der Greatur wurzelt aud, 
wie dieß Rec. in oben erwähnter Abhandlung näher dar: 
gelegt hat, fo durchaus auf dem Triebe der Selbſterhal⸗ 
tung und Befriedigung, daß noch viel weniger Die Liebe 
ded Sünders, welche ald Glaube die göttliche Liebe him 
nimmt, ein Moment eigentlichen Verdienſtes in fid tra 
gen kann. Daß hiermit die Erfahrung, nach weldyer die 
Einen diefe Liebe im Glauben faffen, die Anderen nicht, - 
noch nicht wirklich erklärt fey, wäre thöricht, verneinen | 
zu wollen; der Wille ded Menfchen iſt und Bleibt eine 
wirkliche Saufalität und kann infofern nie erllärt werben. 
Allein auf dem gezeigten Wege wird in dad Verhältniß 
. menfchliher und göttlicher Thätigfeit bei der Bekehrung 
wenigſtens tiefer und ficherer eingedrungen und, ohne 
daß das, was dem kirchlichen Bewußtfeyn als gewiſſe 
Erfahrung vorfchwebt, alterirt würde, jenen zum Theile 
gegründeten Einwärfen gegen die. kirchliche Lehre be 
gegnet. 

Eine dritte Bemerkung des Rec. betrifft die Lehre 
von den Sacramenten. Auch hierüber find der tref 
fenden und tiefgehenden Gedanken in dem Buche sic. 


J 


die Lehre von der heiligen Liebe. 1023 


So die Verbindung, in welche das Sacrament mit dem 
Opfer gebracht wird, die Beziehung der Taufe zur Blut, 
taufe Sefn, zumal was der Berf. von dem Werthe der 
Kindertaufe für chriftliche Erziehung fagt. Aber Eines 
vermißt man: eine fefte, klare Beſtimmung von dem chas 
ralteriftifhen Wefen ded Sacraments, von feinem Bers 
hältniffe zum Worte und feiner von ber ded Wortes uns 
terfchiedenen Wirfung. Zwar gibt der Berf., an die kirch⸗ 
liche Faſſung ſich anlehnend, bie Beſtimmung (5. 93.): 
„Aber damit der Glaube die Gnade um fo beflimmter 
und gewiffer fidy zueignen möge, gefchieht die Mittheilung 
oder Schenfung auch in der concreteren Form des Gas 
craments durch finnliche,, fihtbare Zeichen, welche von 
Ehrifto felbft eingefett find als Träger feiner überfinnlis 
chen Güter, ald Zeugniffe des göttlihen Gnadenwillens 
gegen und (augsb. Conf. Art. 7... Deßhalb wird das 
Sacrament treffend auch das ſichtbare Wort oder bad 
fihtbare Zeichen der unfichtbaren Gnade genannt (Apolog. 
S. 200 f.). Doch nicht bloß die Sichtbarkeit und finnlis 
chere Concretheit der Form unterfcheidet das Sacrament 
vom Worte, fondern auch die fpecielle Beziehung und 
factifye Uebertragung deflelben auf jede einzelne Perfon, 
der es gereicht wird, während die Predigt ded Wortes 
mehr in dad Allgemeine oder an die ganze Gemeinde 
geht und der Thatfächlichleit ber facramentlichen Hands 
lung ermangelt.” Rec. geſteht, dadurch nicht befriedigt 
zu feyn. Was fürs Erfte dad zweite Merkmal ans 
langt, fo findet ſich der Verf. ſelbſt dadurch in die Roth: 
wendigkeit verfeßt, der Gewalt der GSchlüffel ebenfalls 
einen gewiſſen facramentlichen Charakter zuzugeftchen 
(S. |. Anm.). Und ebenfo würde dad Wort auch dann 
allezeit einen folchen annehmen, fo oft es in der Seel: 
forge fpeciell auf den Einzelnen bezogen wird. Diefer 
Unterfchieb ift ſonach ein durchaus fließenber, und das 





1024 Sartsrius 


wefentliche Eharakteriſticum Töunte nur im eriten liegen 
Dieſes iſt aber einmal in der vorliegenden Form a0& 
wicht deſtimmt genug umfchrieben. Ein ſinnlich ſichtba⸗ 
re&,Zeichen if offenbar Handauflegung und mandı' an 
deres auch. Um alſo derlei audzufchließen, wärbe ma 
beffer den Ausdruck: „Außeres irdiſches Element” wäh 
in. Wein auch wenn dieß geſchieht, bleibt doch ned 
eine gewiſſe Incongruenz bei Bergleichung der beide 
Sacramente. Dffendar tritt nämlich im Gacramente dei 
heiligen Abendmahls em neued Moment auf, weldei 
wir in der Taufe nit finden. Mit der Taufe hat dei 
heilige Abendmahl außer der Einfehung -Ehrifi dieß ge 
mein, daß ein Außered Element vorliegt, und daß daſſelbe 
durch ben Hinzutritt des feguenden Wortes zum Träger 
der allgemeinen Berföimungsgnade Chriſti für deu Sir 
der wird. Aber außer diefen Momenten findet ſich bein 
Heiligen Abendmahle noch eine himmlische Leiblichkeit. Gol 
diefe etwas für den Sacramentöbegriff Gleichgültiget, 
3ufhlliged feyn? Welcher Unterfchied ift bedentungsvoller, 
der, daß in der einen Handlung himmliſche Leiblictei 
witgetheilt werbe, in der anderen nicht, oder baß in be 
einen Handlung ein fichtbares Zeichen (greifbared Ele 
ment), in der anderen der hörbare Schall zum Träger 
ver göttlichen Gnade gemacht wird? Offenbar doc dat 
Erflere? Und ſteht denn nicht die Taufe dem Worte, von 
welchem fie bloß durch eine andere Form äußerer Ber 
mittelung geſchieden iſt, ungleich näher, ald dem Abend⸗ 
mahle, in welchem die Gnadengabe felent als eine ſpeci⸗ 
fiſch neue ſich barflellt® Auch wenn mm bei der Tauft 
den heiligen Geiſt als die himmlifche Guadengabe, weld 
mitgetheilt wird, bezeichnen weite, auch dann würde f 
mit dem Worte, weiches ja ebenfalls eim Träger des hei⸗ 
ligen Geiſtes iR, auf Einer Stufe ſtehen. Und dei 
Heidye gilt, wenn man Die Gemeinfchaft herdorhebt, ie 


— 


die Lehre von Dee heiligen Liebe. 1025 


woche ber Taufling dadurch mit der Trinität trete, 
Denn immerhin führt das Wort noch unmittelbarer im 
Die Gemeinſchaft des breieinigen Gottes, ald das heilige 
Abendmahl. Iſt es aber richtig, den Grund zur Haupt⸗ 
eintheilung, wie die von Wort und Sacrament, von dem 
unmefentlicheren lintesfchiede herzunehmen, Dagegen den 
für die bloße Unterabtheilung, wie die von Zaufe und 
Abendmahl, von dem wicdtigeren? Wollte man jedoch 
auf das in ber oben angeführten Stelle zuletzt Geſagte 
Dad Hauptgewicht legen, daß nämlich Die Predigt „der 
Thatfächlichleit der faczamentalen Handlung ermangele,” 
daß alfo die Sacramente eine Thatfächlichleit hätten, 
Die der bloßen Predigt fehle, fo läßt fi zwar beim 
Abendmahl ein feed Objectives, von fubjectiver Verfaſ⸗ 
fung und Stimmung Unabhängiges erkennen, nämlidy die 
Leihlichkeit Ehrifti, welche der Ungläubige wie ber Gläus 
bige empfängt. Bietet aber die Taufe unter dem ſichtba⸗ 
sen Zeichen des Waſſers nichts Anderes ale die Gabe des 
heiligen Geiſtes oder die Gemeinſchaft der. Trinität, 
weiche wir im Worte ebenfallß dargeboten erhalten, fe 
it nicht einzuſehen, warum Das fichtbare Zeichen eine 
Obiectivitat der Gnade bedingen folle, dagegen der hör: 
bare Schall nit, während doc beide auf finnlichen 
Wege dem Beilte Geiſtiges vermitteln. Offenbar bedarf 
hier die Kirchenlehre wech einer weiteren Ausbildung. 
Aus dem, was die heilige Schrift über die Taufe fagt, 
allein wird man allerdings zu ficherer, beflimmter Auf 
foffung ihres Weſens und au klarer, fcharfer Unterſchei⸗ 
dung ihres Berhältuiffed zum Worte und Abendmahle 
nicht fommen Bönnen. Denn es liegt in der Natur der 
Sade, daß über bad, was den Keim für alle weitere 
Entwidelung büdet, die Ausbrüde nod am unbeftimmter 
Ren gehalten And, nicht nur dephalb, weil bie Anfänge 
alles Ledens Aberbaupt vor nuferm Ange verborgener lies 


1026 Sartorius 


gen, alö die fpäteren Stadien des Wachsſthums, fonders 
auch, weil im Keime die mannichfaltigen Kräfte fih be 
reitd zu regen beginnen, die fpäter auf bem eimzelue 
Stufen in beftimmter Sonberung zur Erfcheinung fom 
men, fo daß fie vom Keime bereitd auch ausgeſagt wer: 
den können. So wählt wirklich die heilige Schrift aud 
für die Taufe Beides, theild die allgemeinſten, theild die 
mannichfaltigften Bezeichnungen. Sie laͤßt die Taufe bald 
gefchehen im Namen der gefammten Xrinität (MRatth.28,19.), 
bald nur im Namen Jeſu Ehriſti (Apoſtg. 2,38.), bald nennt 
fie diefelbe ein Begrabenwerden mit ihm in feinen Tod 
zu gleicher Auferfiehung mit ihm (Röm.6, 3. 4.), bald ein 
Anziehen feiner ſelbſt (Gal. 3, 27.), bald wird ale ihr 
Kraft und Wirkung die Vergebung der Sünden und der 
Bund eined guten Gewiſſens mit Gott (Apofig. 2, 9; 
1Petr. 3,21.), bald die Wiedergeburt und Erneuerung dei 
heil. Geiſtes (Tit. 3, 5.) bezeichnet, Will man hier alje 
fihere Schritte thun, fo muß man von dogmatiſches 
Principien, von den Grundgedanken des Reiches Gottes 
felbft ausgehen. Nur wegn man das Wefen der Gemein 
fchaft und fpeciell der perfönlichen Gemeinfchaft mit Ehrife 
sad feinen Hauptfeiten und nothwendigen Beziehungen, 
wenn man innerhalb des perfönlichen Lebens, fomit and 
der perfönlihen Bemeinfchaft, das Verhältniß der Ra: 
tur zur Perfon und die Bedeutung des Leibes für bie 
- Entwidelung der Perfönlichkeit, wenn man bie wichtige 
Stellung der Leiblichfeit in der Oekonomie des Reiches 
Gottes überhaupt und ben Unterſchied und das Berbält: 
niß der bimmlifchen zur irdiſch⸗ materiellen Natur Mat 
erfannt hat, nur banı wird man auch das Meſen dei 
Sacraments und feine hohe Bedeutung für den Ehriken, 
feine innige Beziehung zum Worte und ſeine won dieſen 
unterfchiebliche Wirkung, nur dann auch die innere Roth 
wendigfeit der Zweizahl der Sacramente und die Wahl 


die Lehre von ber heiligen Liebe. 1027 


finnlicher Träger und eben diefer Träger für biefelben 
ganz verftehen. 

Rec. hätte noch Über manched Andere in dem Buche 
feine Bedenken auszuſprechen. So ſcheint ihm eln magis 
ſches Doppelleben in der irdifchen Perfönlichkeit Jeſu 
nicht überwunden zu feyn, wenn in feiner Knechtsgeſtalt 
die Gottheit der Art wirkfam angenommen wird, daß 
die Wunder, die er gethan, auf feine göttliche Natur zus 
rückgeführt werden (8,27), und er, hienieden wanbelnd, 
zugleich Himmel und Erde regiert, wie aus dem S. 20, 
Gefagten die Folgerung gezogen werden muß. Ferner 
wird der Charafter der Buße, infofern fie der Wieder» 
geburt nur Bahn bricht und infofern fie währendes Mo⸗ 
ment im Leben der Gläubigen bleibt, nicht unterfchieden, 
wenn fie durchaus nur vonf Geſetze abgeleitet wird. 
Doch der Raum reiht nicht, auf diefed und Anderes 
näher einzugeben. Zudem möchte es leicht den Schein 
gewinnen, als erblidke Nec. in dem Bude mehr Mängel 
als Vorzüge, während ihm doch jene im Berhältniffe zu 
dieſen gering zu ſeyn fcheinen. Und es find alle Gegen» 
bemerfungen, weldye Rec. hier gemacht hat, von ihm in 
dem Sinne ansgefprochen, daß er die beſondere Hochach⸗ 
tung und Verehrung, welde er gegen den Verf. hegt, 
bei Beurtheilung dieſes Buches nicht beffer an den Tag 
legen zu Eönnen meinte, als indem er möglichft genau 
auf die darin ausgeſprochenen Gedanken einging, 


e. Schoeberlein, 
Repetent in Erlangen. 











1028 Magte 


3. 


Davib Matzke, die natürliche Theologie des Rair 
mundusd von Sabunde. Gin Beitrag zur Dog 
mengefchichte dee 15, Jahrhunderte. Bredl. 1846 
104 ©,8, 


Die Periode der „Reformatoren vor der Refern⸗ 
tion” hat im der neueften Zeit vorzugsweiſe eine fleißig 
Bearbeitung gefunden. Der Grund davon if wicht blef 
ta dem Juntereſſe zu ſuchen, welches Überall an das ıu 
Eunftreiche Keimen nnd Werben eines neuen Princin 
mit befonderer Liebe ſich anfchließt, fondern auch baris, 
dag in jener Periode biefed Reue in fo muenblich mas 
nichfaltigen, eigenthümlichen und originellen Geflalta 
auftritt. Wie ein vontcanifcher Boden zuerſt an vieler 
Duntten zugleich feine Krater fich öffnes, Bis er eines 
jige Spitze feiner Eruption gewinnt, welche dann jen 
früheren verflummen Ihßt, fo bricht der Drang bed prw 
teftantifchen Geifted zuerit an unendlich vielen Yunlıı 
gagleicd, an das Richt, im den verſchiedenſten Bilbunges, 
weiche alle, weil es noch feiner von ihnen gelingt, da 
Princip im feiner Boßenbung, d. b. in wahrhafter Algo 
meinheit audzufprechen, einen individnellen Charakter a 
ih tragen, eine perfönliche Färbung, wodurch fie von 
felbft zu monographiſchen Darfiellungen einladen. ln 
erft durch das Zufammenfaflen der ganzen Reihe more 
graphifcher Arbeiten biefer Art wird es möglich, in ie 
neu dem erften Anfcheine nad, mehr ober weniger ifelin 
ten Geflalten das Allgemeine, durch welches fie ak 
innerlich verbunden find und ihre gefchichtliche Bedentum 
erhalten, ſcharf und beftimmt Aufzufaffen nnd fo eis 
Einfiht in das eigentliche Werden und den ganzen Um 
fang des proteflantifchen Principd zu gewinnen. Be 


d. natürliche Theologie d. Raimundus v. Sabunde. 1029 


diefem Geſichtspunkte aus Tann man auch die dorliegende 
Arbeit Über den mehr befannten ald erfanuten Raimund 
von Sabunde nur willkommen heißen, Denn wenn bers 
felbe auch nicht zu den prophetifchen Geiſtern gehört, 
welche ahnungevell die Reformation in pofitiver Weiſe 
vorbereiten, da fein Bewußtfenn no durchaus im In⸗ 
halte der katholiſchen Kirchenlehre befangen if, fe hat . 
er doc durch feine eigenthimliche, der ſcholaſtiſchen mit 
Bewußtfeyn und Rahdrad entgegengefeute Methode, 
durch die Keime wiffenfchaftlicher Freiheit, Die in derfels 
ben verhält liegen, durch bie tüchtige ethifche Haltung, 
welche er der einfeitig metaphufiichen Tendenz ber Scho⸗ 
fait und ber Tirchlichen Praris feiner Zeit gegenüber 
rinnimmt, jedenfalls im negativer Weile dazu beigetras 
gen, den Boden der Reformation zu ebnen, wie ihm 
denn auch Ullmann in feinem befannten Werke in dieſem 
Sinne eine Stelle angewiefen hat. 

Der Berf, behandelt feinen Gegenſtand in folgenden 
6 Abſchnitten: 1) Leben und Schriften bed Raimund; 
2) fein Berhältmiß zn feiner Zeit; 8) fein Standpunkt; 
4) fein Princip; 5) feine Methode; 6) fein Syſtem. Den 
1. Abſchnitt koͤnnen wir füglich ganz übergehen, da der 
Verf. wegen ber Düärftigfeit der Nachrichten bier nichts 
Neues geben konnte; bie Betrachtung des 2. und 8. Abs 
ſchnittes verfparen wir und bis anf das Ende unferer. 
Anzeige, da erſt and der Erfenntniß feines Principe und 
Sypſtems herand die Stellung, welche Raimund innerhalb 
der Beftrebungen feiner vielbewegten Zeit einnimmt, ans 
gemeflen beſtimmt und fein Standpunkt im Allgemeinen 
charakteriſirt werben kaun. Uebrigens ift es weniger un» 
fere Abſicht, eine fortlaufende Suhaltdangabe ber vorlie⸗ 
genden Schrift zu geben, als vielmehr an wichtige Punkte 
der Unterfuchung ıumfere kritiſchen amd ergänzenden Be⸗ 
merkungen anzufchließen. 


1030 : Kaffe 


Wir Weauchen wohl nicht zu fagen, daß ber Titel 
„nwathrliche Theologie” bei Raimund nicht in der Beben 
tung zu nehmen fey, welde diefer Name im vorigen 
Jahrhunderte bei Wolf und feiner Schule erhalten hat; 
vielmehr fol damit eine Theologie bezeichnet werden, 
die ihrem Inhalt nicht aus der Schrift, nicht durch me 
taphufifche Dialektik, fondern durch NRaturbetradgtung ge 
winnt, eine Theologie, die nach der eigenthämlichen Ber 
beutung, welche fie der Ratur gibt, nicht weniger eine „pe 
fitive,” eine „geoffenbarte” ift, als diejenige, welche auf die 
Schrift ih ſtützt. Radı Raimand ift nämlich Die Selbſter⸗ 
kenntniß das Princip alles Willens. Da aber der Munich 
in feinem empirifchen Zuftande nicht bei fich ſelbſt, ſonden 
außer ſich ift, in endliche Beziehungen verflochten, fo müf 
fen die ‚Dinge außer ihm ihn zn ſich ſelbſt zurüdführen; 
nur durch fiufenweife Erkenntniß der Ratur kann er zu 
Selbfterfenntniß gelangen (8. 26 ff). Denn zwei Bi 
her find dem Menfchen von Gott gegeben, bad Buch der 
Greatur und dad Buch der Schrift. Jenes ift Allen ger 
meinfchaftlich und zugänglich, dieſes nur den Klerikern; 
Njenes iſt unzerftörlich und unverfälfchbar, dieſes der Ber 
fälfhung und dem Mißverflänbniffe ausgeſetzt. Offenbar 
iſt nun das Berhältniß, in welchem Raimnnd die beiden Bi: 
cher auffaßt, für die Beſtimmung feines wiffenfchaftliches 
Charakters von höchſter Wichtigkeit; gerade hier fest 
nnd die Darftellung des Berf. bie nöthige Schärfe ver- 
miffen zu laffen. Er identificirt nämlich das Berhältuif 
zwifchen dem Buche der. Natur und dem Buche bet 
Schrift ohne Weiteres mit dem zwifchen Wiſſen ad 
Glauben. Dabei überficht er aber, daß bei Raimund dad 
Buch der Ratur nicht weniger ald das der Schrift eine 
durchaus objective Bedeutung hat; beide find Wellen 
göttlicher Offenbarung ; dort manifefirt ſich Gott in Tha⸗ 
ten, bier in Worten, beides auf gleich unmittelbare, 








d. natürliche Theologie d. Raimundus v. Sabunbe. 1031 


ſelbſtändige Weife (vergl. Tit. 210). Wollte ſich der Berf. 
dagegen auf die Stelle berufen, wo Raimund behauptet, 
„es fey Manches in der Schrift enthalten, was dem fich 
ſelbſt überlaffenen Menfchen auf ewig verfchloflen geblie⸗ 
ben wäre, fo iſt ja diefes nur gefagt, um den fupranas 
turalen Urfprung der Schrift zu beflätigen,, aber nicht 
im Gegenfaße zum Buche der Natur, vielmehr konnte 
Raimund mit gleihem Rechte auch von Dem lehteren, vers 
glichen mit der bloß menfchlihen Ssntelligenz, daſſelbe bes 
haupten. Denn auch das Verſtändniß des Buches der 
Ratur beruht auf einem dirinum iudicium, tft nicht ein 
autonomes Wiffen ded Menfchen, da diefer auch hier, 
fo wie der Schrift gegenüber, nichtd weiter ald „ad sus- 
cipiendam aptus” ift und jenes Buch nur leſen kann, 
wenn er von Gott felbft erleuchtet und von der Erbfünde 
gereinigt if. Damit ift dad zu Grunde liegende ratlos 
naliftifhe Kundament auf ähnliche Weife verdedt, wie 
bei den Myſtikern der Idealismus des religiöfen Ger 
müths als eine objective Quelle — das innere Wort — 
gefaßt wird. Und nur aus diefer Wendung erklären 
ſich die weiteren höchſt freimüchigen Gonfequenzen, die 
Raimund aus jenem Berhältnifle beider Bücher zieht. Das 
Bud) der Natur ebenfo wie die Schrift umfaßt alle Fülle 
der Wahrheit, es beantwortet alle Fragen über göttliche 
und menfchlicdhe Dinge, ed bedarf nicht der Ergänzung 
durch das Buch der Schrift, fondern hat vielmehr den 
Borzug der Urfprünglichleit, da jened nur gegeben iſt 
„in defeetum primi libri (creaturarum) eo, quod homo ne- 
sciebat in primo legere.” Solche Aeußerungen Iaffen fich, 
wie ich glaube, mit der Behauptung des Verf, Raimand 
befenne fich binfichtlich des Berhältnifles von Glauben und 
Wiſſen direct zu dem Grundprincipe des Auguftin und 
Anfelm, nicht wohl vereinigen, und ſchon die päpftliche 
Kritit, weiche — was dem Berf. gewiß nicht unbelannt 


1092 Maske 


war — den Prolog der natürlichen Theologie in ben 
index libb. prohibb, geſetzt hat, hätte ihn aufwerkſan 
machen mäflen, DaB bier eine fühlbare Differenz von der 
hergebrachten kirchlichen Theorie ſtattſinde. Run kom 
men allerdings auch Stellen bei Raimund vor, wo die alleis 
‚ige Autorität der Schrift auf das entſchiedenſte her 
worgehoben und jeue gleichberecktigte Duplicität der Of⸗ 
fenbarung gänzlich iguerirt wirb, ws gefagt wird, daß 
die Schrift and dem Herzen Gottes, die Creaturen aber 
and dem Nichts hervorgegangen und deßhalb Bett ger 
wiffermaßen fremd feyen, und daß eben deßhalb audı 
das Wort des Menfchen als einer Greater neben den 
Worte Gottes gar kein Recht haben könne. Schon ans 
dieſer letzten Beziehung erhellt, daß bier jene ohjeriw 
Bebeutuug ber Natur, als eines won Gott gefchrichenen 
Budyed, ald einer göttlich geordneten Depsfltärin der 
abfoluten Wahrheit, gänzlich bei Seite geſetzt fey, un 
ed hat bier die treffende Bemerkung von Baumgarten 
Erufius (Cehrb. d. Dogmengeich. II.©. 800. Anuerf.) ihre 
Stelle: „Raimund’s Buch. würde ſich widerfprechen, wen 
wir nicht annähmen, daß er bald die ideale, bald bir 
wirkliche Menfchennatur im Sinne gehabt habe (vergl. 
Borrede und Tit. 216.).“ In feiner abfoluten Bebentung 
ale der Schrift ebeubärtige Offenbarung, als ein göttl- 
ches Buch, wird bie Natur nur von dem erfannt, bermit 
ungeblendetem Auge, mit dem Auge des idealen Bew 
ſchen fie anzufhanen vermag. Diefen idealen Stand 
punkt, der Natur gegenüber, auf dem man dad Buch dr 
Schrift gar nicht vermißt, vindicirt ich Raimund felbkin 
Brologe, während der Menfch, wie er uun einmal ih, 
Durch die Bünde corrumpirt, biefe abfeinte Bebentung 
‚nicht zu faflen vermag und eben deßhalb an die Shrift 
zu verweifen ift, welche ja „in defeetum primi libri” gege⸗ 
ben ward, Bon dem letztern Gtaubpunfte and fönntt 





d. natuͤrliche Theologie db. Naimundus v. Sabunde, 1083 


demnach bie Ereaturen überhaupt gar nicht mit ber Schrift 
verglichen werben. 

€8 fragt ih ann: auf weichem Wege kann von Dies 
fee Borandfegung aus, aus ber Betrachtung des Buches 
der Ratur jene Selbſterlenntniß gewonnen werben, bie 
wir oben ale Princip der natürlichen Theologie bezeich⸗ 
net habe? Die Greaturen bilden — fo argumentirt Rai⸗ 
mund — in ihrer Totalttät eine gegliederte Reihe, gleiche 
fam eine Scala, durch welche hinaufſteigend der Menfch 
bei fich ſelbſt ankommt, fofern ex ſelbſt Die höchſte Stufe 
bildet. Zuerß find alfo Die Stufenunterfchiehe der Rasur gu 
beflimmen, fodann if der Menſch nach der pofltiven und 
negativen Beate, nach feiner Convenienz und Differenz 
mit den ihm untergeordneten Stufen zu vergleichen, und 
aus biefer Vergleichung ergibt fich endlich durch einfache 
Schlüffe der Fortſchritt zu einer höheren, göttlichen Sphäre. 
Daraus entſtehen denn die vier Theile der natürlichen 
Theologie: Bergleichung des Menfchen mit der Rasur: 
1. binfichtlich der Convenienz a) im Allgemeinen (Zie. k-—55,) ; 
b) im Befonderen (Kit. 56--59.); IE hinfichtlich der Difs 
ferenz a) im Allgemeinen (Zir.60 — N.) ; b) im Befondes 
ren (Tit. 93 — 330.). Das ift die einfache Methobe, das 
Schema ber natürlichen Theologie, und biefe it, wie ber 
Berf. fagt, recht sigentlidy eine argumentstio ad hominem: 
der Menfch it der Schlußpunkt einer unendlichen natürs 
lichen Reihe, der Mittelpunkt einer menſchlich⸗ſutlichen 
und intellectuellen Welt und damit wiederum ber Anfanges 
punft eined höheren, göttlichen Seynd. Die Raturfymbos 
lik, welche der Berf. daneben ale ein gleichwichtiged Moment 
bee Methode Raimunds hervorhebt (S. 39 ff.), wonach 
für jedes geiſtige Verhältniß ein natürliches herbeigezo⸗ 
gen wirb, wonach z. B. der Wein bie Unſchuld, ber 
Weineſſig die Gorruption des Meufchen abbildet, ſcheint 
und nur von untergeordnete Bedeutung zu feyn. Die 


L 


1034 Matzke 


Stufeneintheilung ber Natur iſt nun eine vierfache, und 
zwar folgende: 1) Seyn (esse); 2) Leben, Organismus 
(vivere); 3) Selbftempfindung, Befeelung (virere); 4) 
telligen; (intelligere et velle), und zwar bewahrt jede hoͤ⸗ 
here Stufe das Wefen der vorausgehenden ald Moment 
in fi auf, Der Berf. nennt diefe Eintheilung wit Recht 
eine alte Kategorie; ed wärewünfchendwerth, dieß durch 
einen Turzen hiſtoriſchen Ruͤckblick näher dargelegt zu ie 
ben. Bekanntlich fpielt ſchon bei Ariftoteles die Einthei⸗ 
lung der irdifchen Natur in Seyendes, Lebendiges und 
Deufendes eine große Rolle, ebenfo bei den Reuplatoni 
tern, welche biefe Gliederung mit ihrer Zriplicitat 
‚des Abſoluten in Berbindung bringen. Häufig fommt 
fie bei Dioupſtus Areepagita vor, und zwar fo, daß er 
wie Raimund zwifchen den Geiſt und das Reben die Selbſ 
empfindung in die Mitte fchiebt (vergl. 3. B. de div. non. 
VIII, 3.) und über dad Menſchlich⸗Geiſtige Crd Aoyızör) 
noch eine höhere Intelligenz (rd vosgöv) ale fünfte Stufe 
ftellt, gemäß der befannten Tendenz feiner Schriften, ein: 
Zugabe, deren Raimund, beflen Ziel die Erkenntniß did 
menfhlichen Weſens ift, volllommen entrathen fonatı. 
In gleiher Weife findet fid) jene Eintheilung aud be 
dem Nachtreter des Areopagiten, Marius; endlich, wr 
der Verf. bemerkt, bei Thomas von Aquin. Raimand bi 
diefe Eintheilung nicht gedankenlos, fondern mit felbkar 
diger Einficht aboptirt. Wenn er mit der unserken Etui 
bem Seyn, d. h..der anorganiſchen Qualität, begiunt, io 
weiß er doch, daß dieſe nicht das’ Urſprüngliche iR, for 


dern, wie wir fagen würden, nur das Unmittelbare; et 


fagt trefflich, die ganze Stufenreihe der Natur fey „ıe- 
lieite per hominem,” babe einen „aspectus ad intellecten, 
was auch die neuere Speculation anerkennen muß, de 
fie ja das Nefultat zugleich ald Princip begreift. Dal 
nun freilich diefe Stufen nicht durch innere Dialektik die 





d. natürliche Theologie b..Raimundud v. Sabunbe, 1035 


‚Höhere aus. ber niederen entmidelt, ſondern in ihrer 
Folge empirifch aufgenemmen BE kann uns nidyt 
under nehmen. 

Zuerſt alſo — und damit Gele das eigentliche 
Spyſtem der natürlichen Theologie — ift ber Menſch nad) 
feiner Convenienz mit den brei ihm voraudgehenden 
Gtufen :zu vergleichen, und zwar zunächftim Allgemeinen, 
d. h. fo, daß jene drei Stufen, zu einer Totalität zuſam⸗ 
mengenommen, ihm gegenüber geſtelt werben, wogegen 
die ſpecielle Convenienz auf jede einzelne der drei Stufen 
befonderd ſich bezieht und fo ebenfalls eine breifache ift. 
Jene allgemeine Eonvenienz des Menfchen mit der Natur 
befteht nun darin, daß er alle ihm vorausgehenden ſub⸗ 
Rantielen Unterſchiede derſelben in ſich concentrirt; ber 
Menſch iſt die Totalität aller Principien der objectiven 
"Welt, und zwar fo, daß. er fie alle auf menfchliche, gei⸗ 
Rige, verllärte Weife in-fid) umfaßt (nobilitantur et digaifi- 
eantur), — ein echt fpecnlativer Gedanke, ben aber unfer 
Berf. viel zu wenig hervorgehoben hat, wie er deun 
überhaupt gerade für bie fpecnlativen Elemente feines 
Autord geringe Aufmerkfamkeit zeige. Nehmen. wir nun 
hinzu, was weiter unten bargeflellt werden fol, daß ber 
Menſch an feiner Freiheit bad Ebenbild Gottes, ein 
Organ zur Aneignung des göttlichen Lebens befigt, fo 
erfcheint er damit als die Mitte, ald das Gentrum des 
Univerfums, in welchem die creatürliche und bie göttliche 
Sphäre zur einheitlihen Geftalt zufammengefchloffen 
find «). Die Borkellung von dem Menfchen ale dem 
siniov zeiansrngelaseng, wie Nemeſius ſich ausdrüdt, als 
einer officina totius naturae, einer medielas et adunatio 


a) Apparet, quod homo est quoddam medium inter deum et inter 
creaturas, per quod creaturae iuferiores coniunguntur cum deo 
et redeunt ad deum. 


Theol, Sud, Jahrg. 1847, | 69 





1935 Mage 


Wiirklul cfoösteirnunı, vble Gcotad Gekgena fügt, iſt aife ia 
Der Naturauſchaumg Naimumd's von hödfter Brick 
tung. Bon biefem Punkte aus gelangt er nun fehnelen 
Säarimes zum Bezriffe Gottes, unb gwar, wie fit aus 
feitter gain Vorausſetzung fihon vermuten Täßt, auf 
Ddem tiestogifchen Wege Dieſes Argument faft er 
aber in veinerer Norm, als es gewoͤhnlich Feſchieht, win 
ch nmicht fo, DaB er Bie Außere Swedteiunuung zur 
Hamptſache mad, wonach bie vinzeiwen Rutargealten 
ae auf Kußerlidye, zufallige Weiſe auf eiuumber beje⸗ 
gen find, eine Bezirtzuug, die nur in bad Subjeet, nit 
a das Weſen der Diwge ſelbſt Hülle, ſordern bie inwr: 
Zwedmüpigbeit ser Wele, wonach die Dinge w efentiid 
auf einander beyogen find, das vine wit innerer, ver⸗ 
minftiger Nethwendigleit auf das andere hinweiſt, und 
ale ‚eine Orbmeng, eine Harmonie, eine Hierarchie 
ansmacden (Kit 43. Daß danrben deſſen umgestet 
auch jene äußere Zuedhuäpigtet bri Raimund ſich breit 
malt, tft frellich anf ber andern Seite nicht Mi 
Tenghen. us viefem elrheitlichen Bufaumentumge des 
Gyraniieliüyen geht nun für Raimund auch Die Einheit 
Bones hervor. Dieſelde folgt auch aus der natürliches 
Stufenreihhe fell. Dam hebt ſchon der Menſch die 
Wielheit der Gattımgen ‚und Arten, in welde die Gr 
- Nalten der anteren Grabe zerſplittert find, gur Einheit ber 
Gutteng in fich auf, und hat war am ber wumendichen 
Bvoelhrit Der Individuen noch feiwe matärliche Enbilchleit, 
fo wird nach diefer Amalogie, und da Überall, je größe 
Die Energie eines Weſeus, veſto imtefhart fedwe Giuheit 
aAſt, Gott im abfoluten Sinne der Eine ſoyn. Mach bie 
fen und anderen Vorausſetzungen (vergl. S. 50.) ged! 
nun Raimund zur näheren Wefkiinimump des giösftichen Br: 
fens ſelbſt fort, offenbar einer der iktereffanteften Punkte 
der natürlichen Theologie, von Hrn. Maple aber nid 





d. natürliche Theologie d..Maitkundus v. Sabunde. 4037 


eingehemb genug behenbelt. Nechwendig uhfien — bas 
feigt mus Naimuud's Matnrauffeflung von felbk — alte 
sone ſubſtautiellen Unterſchiede der Natur auch in Gott 
gefeut werden, und durch dieſe fehle Inbaltöbehkimmung 
umterfiheider ih Raiunuds Birgumentation gu ihrem 
Bortheite von der ähnlichen, aber viel unbekimmienen, die 
wir dei Anguſtin Cie lib. arbitr. H, 5 seggq.), bei Anſelia (mo- 
nelog. 4.) and Anderen antreffen, wo „aus den Graden, Die 
fi unter deu Dingen finden,” bie Exiſtenz Batied «er: 
wiefen wird, ſofern der Fortſchritt vom Mieberen zum 
sögeren feinen notwendigen Schluß in einem abſolut 
Vollkommenen haben mäfes aber biefe Volllommenheit 
beide eben gang abfirant und unberimmt, während fie 
bei Raimund, jenem Aufenmäßtgen Zortfehritt entſpre⸗ 
end, ganz beſtimmte Momente, Seyn, Reben, upfſin⸗ 
bung, Beil, in ih umfaßt. Wie verbaiten ih nun 
dieſe Momente im göttlichen Weſen zu einander? Die 
win Raimund im Einzelnen werfolgen und fpricht zu⸗ 
ft von dem esse dei, in weichem alles Uebrige gegrün⸗ 
det ſey. Zam Ungelpunkte feiner Exrpofitien macht or 
Mer Den gefährlichen Bag: „qued ia deo idem sunt vi- 
vere, veutire, intelligere et.omuia alia Idem sunt, quodssse, 
et idemmet 'esse” (Tit. 10); weil man dn Gott feine 

Verſchiedenheit denken könne, fo ſeyen alte jene Momente 
. gu einer ſchlechthin einfachen Weſenheit zufammenzufef: 
fen, Bas Leben ſey daſſelbe, was das Seyn, die Gelb 
«mpfindung baffeibe, was dad Seyn u. f. ſ. Wir ſag⸗ 
ten, es fey dieß «win gefährlicher Sag. Dem alle Bes 
Rimmmmgen, welche Bott gegeben werben, werden ja das 
mit, daß ihre innere Derfchiedenheit und alfe ihre Ber 
Riusmtheit gebenguet wird, wieber su bloßen Ramen uud 
fubpeeriven Beſtimmungen verflüchtigt, umb es bleibt Bott 
nichts ale diefe in ſich umerſchiedsloſe Ddentität des 
Sryns, dern Erfüllung eine bloß ſcheinbare ik. Alles 

69 * 


1038 . : Mahtzke 


Weitere, was über das Seyn gefagt wird, koumt anf 
die beiden, natürlich feinen Inhalt hinzubringenden Ber 
ſtinmungen zurück, daß bad Seyn Gottes kein abgeleite⸗ 
tes, ſondern durch ſich ſelbſt ſey, und daß es ferner ale 
Negation, alles Nichtſeyn abfolat von ſich andſchließe. 
Jene erſtere Beſtimmung if der ontologiſche Beweis in 
der Form einer einfachſten Aſſertion: Gott iſt das neth⸗ 
wendige Weſen, fein Begriff iſt unmittelbar fein Geya; 
die andere felgt cbenfalld aus dem Begriffe des reinen 
Seyns, da dieſes nach außen und nach innen keinen Ge 
genfag hat. Es erſcheint alfe bier derſelbe Gottesde⸗ 
griff, der, aus dem Neuplatonismus aufgenommen, bei 
Auguſtin ſich findet, wenn auch mit anderen Elementen 
verhüllt, ferner beim Areopagiten umd bei Scotus Erigens 
foRematifch durchgeführt ift, der thowiſtiſchen Theolsgie 
‘gu Grunde liegt und erfk in der germanifchen Myſtik we: 
'niger durch den Procch bed Denkens, als burd bie 
‚Energie ‚religiöfer Erfahrung überwunden wird. Die 
Beftimmung nun: Gott ift das reine Seyn und fließt 
‚alles Richtfeyn aus, führt und auf bad Berhälmiß dei 
‚endlichen zum abfoluten Seyn. Der Begriff des letzteren 
fcheint zu fordern, daß auch alles enbliche Daſeyn, weil es 
ift, eben dadurch Theil habe amı abfoluten Seyn, daß dieſes 
dad Subfirat alles Beflimmten fey, bad esse formale respectu 
omniem, wie Thomas fi ausdrädt. Im ber That bat ja 
auch das allgemeine Seyn keine andere Exiſtenz als nur in 
dem beftimmten Dafeyu. Raimund aber verfelgt ſei⸗ 
nen Grundſatz, daß das Seyn Gottes alles Richtfeya aus 
fchließe, noch weiter. Es ſcheint ihm naͤmlich wicht ent 
gangen zu fern, daß das reine abſolute Seyn, obwohl 
die Gruudlage aller endlichen Beſtimmtheiten, doch dieſe 
felbft außer fich liegen laffe, fomit in bir Negation ge 
ſtellt ſey, und diefen Dualismus fucht er fo zu überwin 
den, daß er die Fülle aller eadlichen Unterſchiede und De: 


d. natürliche Theologie d. Raimundus v. Sabunde. 1039 


ſtimmtheiten ind abfolnte Seyn mit aufnimmt. Gott if 
ihm alfo, nicht das reine Seyn, fondern das abfolut Volle, 
die plenitudo essendi, dad mare infinitum essendi sine ter-. 
mino et sine fundo, und „quidquid pertinet ad esse, est‘ 
necessario iu deo.” Nur dadurch unterfcheidet fidy das 
Seyn Gstted von dem ber endlichen Eriftenzen, daß dies 
fen die Schranke, die Regation anhafter, während Bott, 
weil er fie alle gleichmäßig umfaßt, auch feine Schrante 
feines Seyns hat. Wir erlauben uns, die merkwürdige 
Stelle, welche der Verf. zu unferer Verwunderung ganz 
unberädfichtigt gelaflen, unten vollftändig auszuheben =). 
Doc gleichfam zurüdichredend vor biefem Refultate nimmt 
Raimund eine andere Wendung. „Sed tamen” — fagt er — 
„duplex eut esse terrae, aquae, ignis et omnium allorum, 
unum in se et in natura propria, quam videmus, aliud in 
esse dei, quod non videmus.” Das Biel alfo, bei welchem 
der Pantheismus gewöhnlich anfommt, erreicht Raimund: 
nicht. Denn jener fchwanft ſtets zwifchen diefen beiden, 
daß er einmal alle Uinterfchiede des Endlichen, welche der 
gewöhnlichen Betrachtung in unendlicher Zerfplitterung 


anseinander zu fallen fcheinen, in der einen. Subſtanz 


" a) Tit. 14. Quia dictum est, quod esse dei fugat a se omne 
non-esse et per consequens nullum esse ei deficit, quia nullum 
esse est extta ipsum, sicat per contrariam diximus, quod homo 


non habet esse terrae nec esse aquae nec esse ignis nec arbo-. 


ris nec asini et sic de omnibus aliis ita, quod homo habet 
tot non-esse, quot aunt res, quae removentur ab eo. Et ideo 
esse hominis non fugat totaliter non -esse, sed solum fugat 
unum non-esse. Et quia esse dei fugat a seomne 
non-esse, ideo habet necessario omne esse. Et 
per consequens sequitur, quod esse dei habet in 
se esse terrae, esse aquae, aöris etignis et esse 
omnium quatuor graduum et omnium, quae con- 
tinentarin ipsis gradibu's, quia nullum esse deo 
deficit. Etideo esse dei est unirersale omniam. 


1040 Rep 


zuſammenfaßt uud auf der anbeven Seite doch wieder 
leugnet, daß damit im der Allgemeinheit ber Faubſtenj 
irgend welcher Underſchied geſetzt ſey; fo wisd Die Poß⸗ 
tion durch Die Negation immer wieder aufgehoben, bie 
Sultan; , weiche Alles umfaflen fol, umfaßt bed is 
Wahrheit gar nichts, fofern jede Beftimmcheit in ihrer 
unbeftinsmten, indifferenten Identität immer wieder ver 
flädhtigt wird. Zu Ddiefem Ziele kommt num Ratmmd, 
wie gefagt, nicht, er meint vielmehr — und mit volifem- 
menem Rechte —, daß, wenn auf dieſe Weiſe alles „Ber: 
änderliche,. Theilbare, Endliche im Gott verfammelt 
werde, diefer damit ſich ſelbſt verliere und der Endlichkeit 
und Zerfplitterung bingegeben fey. Er unterfcheibet deß⸗ 
halb, obgleich ohne Klarheit unb Bekimmtheit, eine re 
elle (osse rerum in propsia nasure) und eine ideelle Erik; 
aller Dinge, und nur die letztere fällt in Bott, fe daß 
diefer, frei von ber Endlichkeit, dennoch Ales — anf ideelle 
Weiſe — in fih umfaßt. Aber auch bei dieſer Unter⸗ 
fheiduug kann Raimund nach dem Früberen keine Ruhe 
haben. Dens ihm ſchwebt ja immer jener fire und per 
tous durchzuführende Grundſatz wor Augen: „‚dens habet 
in se omne esse et excludit omne non-esse.” Iſt nun mit 
jener Unterfcheidung dieſer Forderung genug gethan?- 
Gewig nicht. Denn umfaßt Gott and alle Eriftenye 
ideell, fo fallen doch Die Realitäten außer ihm, find für 
ihn ein non-esse. Go kehrt derfelbe Dualiemud wieder 
und treibt den Raimund in der That zu feinem odigen 
pantheiftifchen Ausdrude zuräd. Was er fo eben aufl 
entfchiedenfte, gelengnet hat,- das behauptet er nun wie 
der: esso omnium rerum in propria nalura est etiam is 
esse dei et in deo. So ſchwankt er eime ganze Weil 
zwiſchen jenen beiden Entgegenfeßungen (vergl. Tit. 13.) 
und verliert das Eine, wenn er dad Andere feſthalten 
will, Obgleich er fa über das Berhältuiß. des emblichen 


d. natürliche Sheologie b. Meimyendus v. Sabunde. 104% 


nnd abfelnten Seyns Eeinedwege im Klaren if, fo bieikt 
er doch endlich dabei fiehen, daß das reelle Geyu der 


Dinge außer dem Seyn Gattes falle, und erponirt num 


ziemlich meitfchmeifig diefen Gegeufag. Das ideelle Weſen 
aller Dinge id aber von Gmigfeit is Belt nu) man, 
um wicht Die Einfachheit des göttlichen Weſen« zu ge⸗ 
fährden, if es idem quod deus et esse dei; wie aber 
Dabei anf der andern Geike die Vielheit der Ideen bes 
mahrt werden könne, darum kümmert Sch Raimund wicht 
weiter. Daß ferner über das Berbältnif des Reellen 


und Ideellen felbft fic vielfach widerſprechende Ausſprüche 


finden, wird nad dem Borigen Niemand) Wunder nehmen. 
Nadı dem Seyn behandelt Mpimund die übrigen Ma⸗ 


mente des göttlichen Weſens, entfprechen® den ſubſſan⸗ 


tielen Linterfchieben der Natur, alfo zunächſt dad Laben. 
Was auf diefe Erpofition zn geben fey, da der Haupt⸗ 
grunbfat: „ emmia in deo sunt idem quod esse,” auch hier 
feſtgehalten wird und keineswegs das Seyn burdı eine 
in ihm felb mit Nothwendigkeit geſetzte Bewegung zum 
deben fortgeführt wird, liegt auf der Hand — wir foma 
men trotz alled Redens nicht über dag Seyn hinaus, 
und auch die Prädicate des Lebend find ganz diefelben 
ald die bed Seyns (vergl. Tit. 27. mit Tit. 11. Wie 
fi) übrigens Raimund das Leben Gottes felbit gedacht 
habe, bleibt unklar, und noch mehr kommt ex bei dem 
dristen Womentse, dem sentire, ind Bebränge. Faſt ſcheint 
es, ale ob ihm hien Die eigewe, anf feiner Naturauffaſſung 
bernhende Methode, wonac alle fubftansiellen Scufenbe⸗ 
flimmtheiten der Natur auch im Gott zu fegen find, uubes 
quem wände, fie wird hier in der That zum bloßen Kors 
walismus. Denn wie fol ber Theiſsmus, und zu dieſem 
kehrt ja Raimund trotz jener Hantheiftifchen Abfchweifungen 
wieder zurüd, die Empfindung, die animaliſche Beſeelung 
ale Moment des göttlichen Weſens fich deuten? Go fagt 


1042 Matzke 


denn Raimund, in Bott ſey Geſicht, Gehör m. ſ. w., aber 
uicht fo, wie in ben Ereaturen, das fey unmöglich, fondern 
nobilissimo et perfectissimo modo! (Tit. 29.) Uad feine 
ganz abfkracte Anficht von der Sache wird offenbar, we 
er von ber „Lörperlofen, fpirituellen, intelectuellen” Eins 
nesempfinbung Gottes redet (Tit. 33.) Nachdem er 
ſodaun über das intelligere in Bott gefprodhen und ncod 
einen Zufat über bad posse gemacht, dad zwar beim End» 
lichen von der Exiſtenz verfchieden, bei Gott aber mit 
feinem actuellen Seyn abfolut identifch ſey — was fid 
sach der obigen Erpofition fiber das Seyn vom felbfl vers 
flaud — , fchließt er dieſen Adfchnitt mit einer Betrachtung 
über die Trinität. Diefßbe fcheint uns, obgleich fie Her 
Matzke an zwei Stellen feiner Schrift ziemlidy weitläufg 
behandelt, durchaus unbedeutend; es find nur in populärer 
Weiſe die verfchiebenen fcholaftifchen Argumentationen 
wiederholt. Natürlich werden- dabei gemäß Der ganzen 
Anlage des Werks die Analogien aus der Natur am 
meiften hervorgehoben, daß jede Raturgeftalt im fich den 
Trieb habe, fich hinzugeben, ihr eigenes Wefen in Auderes 
binüäberzuftrömen, daß es des Menfchen höchſte That fey, 
das Ebenbild feiner felbft zu erzengen u. dgl. Jene tiefere 
Analogie aber, wonach in jeder Geſtalt der Natur und 
vor Allen im Menſchen ein innerer, lebendiger Gegenfab, 
ein Abbild der göttlicdhen Triad gefunden wirb, wie bad 
Auguftin und im fpäteren Mittelalter auf geiftvofle Weiſe 
Savonarola verfucht hat, eine Betrachtung, zu ber: ihe 
fein Princip fo beſtimmte Veranlaffung gab, bleibt gänzlich 
außer dem Gefichtöfreife Raimund's liegen. 

Indem wir den 2. Theil. der natürlichen Theelogie, 
die Dergleihung bed Menfchen mit den Greaturem nad 
ihrer fperiellen Convenienz, gaͤnzlich übergehen, werfen wir 
nur noch einen Blid auf den 3. Theil, der die allgemeine 
Differenz zum Gegenflanbe hat. Diefe befteht in. der Iw 


d. natuͤrliche Theologie d. Raimundus v. Sabunde. 1048 


teligeng: und im Willen. Bas Raimund über.die Suteliin 
gen; und die daraus entfpringenden Geſetze bed Erken⸗ 
nens aufftellt, hat unfer Verf. (S. 28 ff. 58 f.) genügend. 
entwidelt. Wie der erkennende Verſtand den Menſchen 
auf Gott hinweiſt, fo noch beflimmter der Wille. Hier: 
ſchließt fih nun bad moralifche Argument an, weiches vor 
Allem dem Raimund einen Namen in der Dogmtenges. 
fchichte gemacht hat, da er der Erfte war, welcher es mit: 
Beftimmtheit und in Form eines Beweiſes entwidelte.. 
Denn wenn fih aud bei Anderen vor ihm, beſonders bei: 
Abälard, beiläufig ähnliche Reflerionen finden, fo wird 
ihnen doc Feine voifienfchaftlihe Form und Bedeutung 
gegeben. Den Raimund aber mußte feine Methode, von 
allen Momenten des wmenfchlichen Weſens aus zum 
Anfolnten fortzugehen, feine überwiegend ethifche Haltung 
und die. Stellung, welche er dem Willen unter den übrigen 
Seiten-bed Geiſtes anweiſt, mit Nothwendigkeit gerade auf 
diefen Beweis, als den wichtigſten und fruchtbarften hin⸗ 
führen. Die Relation des Verfaſſers ift gerade an diefem: 
Punkte wieder fehr kurz, fo daß wir einige ergänzende: 
Bemerkungen einfchalten, nebft einigen Worten über das 
Berhältniß des raimund'ſchen Beweiſes zum kantiſchen. 
Als reies Weſen — fo beginnt Raimund — vermag ber: 
Menfdy nach der Seite des Guten oder ded Böfen fich zu 
entfcheiden, er ift zurechnungsfähig; Berdienft und Schnib 
find die Refultate feiner Freiheit. Durch das Böfe verlegt 
und zerfiört er die Ordnung der Ereaturen, die Harmonie 
des Alls, welche eben barin befteht, daß jebe Ereatur 
ihrem Wefen volllommen entfpricht; durch das Gute volls: 
endet und verlärt er diefe Harmonie. Run fehen wir. 
aber — bier tritt das teleologifche Argument mit ein — 
in der Natur einen durchgehenden zweckmäßigen Zufam⸗ 
menhang der Dinge mit einander, Eins if: weſentlich 
und nothwendig anf das Andere bezogen, hat. am: Ande⸗ 


1043 Boote 

von fein Complemenſs, feine Begenfeite, weit welchet ci 
tm lebendigen Proceſſe ih, wie bad Licht wothwendis 
auf da6 Auge, bin objective Vernunft: (res inteltigibiie) 
worhwendig auf bie ſubjettive Gintellneius) fich beziehe; 
wie fan nun in ber höchften, in den mweretifchen Gphän 
jene Ordnung vermißt werden, die und hen ig der 
natürlichen entgegentrict? Daraus felgt alfo, daß au 
in der Weit der Freiheit die That des Miewfchen zit 
oleidfam „ine Leere hin’ gefchehe, fondern daß andı fr 
ihe nothwendiges Gomplement habe, d. h. Daß Leho od 
Strafte ihre Folge fey. Mie aber Die Orbunug ber m 
tiwlichen Welt mit Nothwendigkeit auf einen Bett hie 
führte, fo nicht weniger bie ber moratifchen. Alle Eigen 
fehaften Gottes folgen. mist Leichtigkeit hieraus (Lit. 83. 
bis 86.) Fragen wir nun, wie ſich Raimund mit biefer 
Argumentation zu Raus verhalte, der ja bekauntlich oben 
falls diefed Argument befonderd fchäßte, fo ſpringt zwerl 
in die Augen, dad Raimund einen objectiuen Aundgangi 
punkt nimmt, nämlich die Orbuung der natürlichen Walt, 
weraud er fodann die Conſequenz für bie moraliſcht 
zieht, während Kant bagegen fubjectie won Begriffe dei 
hächſten Buted ausgeht. Nach Kant finder der Menſch 
im ſich das meraliiche Geſetz, welches mubebingte Erfil⸗ 
lung fordert, ohne Rüdfiht auf Glückſeligkeit und cl 
fonfigen Motive, Daneben finden fidh aber auch empiriſche 
Triebe, der Dvang nadı Glückſeligkeitz beide, mit einas: 
der werfnüpft, geben das Ideal des höchſten Gutes. Di 
Einheit der Tugend nub Glädfeligkeis im hächſten Gate 
iR alfo, um kantiſche Ausdräde zu gebrauchen, wicht ein 
omelptifche, ſondern eine fonchesifche; wit der Zuge 
hängt nicht notwendig bie Glückfeligkeit zufammen, dieſt 
ledtere iR vielmehr äußerlich bebingt uud liegt im de 
Befriedigung empirifcher Triebe, ber Menſch kann daher, 
da er der Tupenb nubedings und allein ſoigen fell, bei 


[4 


d. natürliche Theologie d. Maimundus v. Sabunbe. 2085 


hochftle Gut nicht ſelbſt verwirklichen. Dennoch aben Kogb 
in feiner Natur dad berechtigte Streben danuach, ud es. 
if ſomit ein praktiſches Poſtulat, ein Weſen amguuchmen, 
weiche® jene ditparaten Elemente harmonifch werkuinfe 
und bad höchſte Ent für den Menſchen realifive. Obme 
weiter auf die Schwächen Diefer Argumentation einzu⸗ 
gehen, fo ift bei Raimund im Gegentheile bie Einheit der 
Ingend und Glüͤckſeligkeit, ebenfe der Simbe und ber 
Strafe nach Tantiihem Ausdruck eine anaiytifdie, da es 
ja in der Drbmung der wmoraliſchen Wels begründet iſt, 
daß jede That am fich felbft eine ausfpreckeude Folge habe. 
Liegt e& im Begriffe des Guten, Daß es nothwendig dem 
Lohn, Die Geligleit mit fi führe, nun, fo ik je dad 
Poſtubat eines Weſens, wolched beides erſt äußerlich vers 
Müpfen fol, durchanus überflüfle. Conſequenterw eiſe 
müßte Raimund dann freilich Lohn und Strafe aldi ein 
Innetliches, im Clemente des Geiſtes ſebbſt ſich Bollzien 
hendes faffen, und an einigen Stellen thut er dieß auf 
das entſchiedenſte (remuneratia corsespendet radici, quse 
nem esk cerporalis; vergl. Tit. 88.5 Auf ber anderen 
Geite ift aber Raimund’ Argumentakion von dem Grund⸗ 
mangel der Tantifchen frei, inden ed ihm nicht von ferne 
m den Sinn fommt, Die praktiſche nnd theoretiſche Ver⸗ 
nunft yon einander snzeißen, Sant's „praktifcher Blanbe,”’ 
ſobaid er ind Bewußtfeyn erhoben wird, fülk ja damit 
ind Bebiet der Theorie, muß alfo wieder negirt, feimer 
objectiven Bedeutung beraubt und ins Subject zurieck⸗ 
genommen werden, währen» bei Naimund die Gewißſheit 
der theoretiſchen Beruunft durch biefes Poſtulat ber 
Praris nur aflfeitiger und ficherer wire. Daß fodanı 
die Unſterblichkeit auf bemfelden Wege bewiefen. wird, 
braucht nicht erſt erwähnt zu werben. 

Es fetgt der A. Theil des Werkes, welcher die ſpe⸗ 
cielle Differenz des Menſchen und ber Creaturen zum 


1046 Metzke 


Gegenſtande hat; dieſelde beſteht nicht, per hebere, sed 
per oognoscere se habere,” beſteht alſo im Selbfibewußt: 
feyn, welches Raimund merkwürbigerwmeife von der 
Intelligenz und dem Willen abtremmt. Erfi bad Bewaft 
feyn aller Gaben, welche der Menfch empfangen hat, 
begründet feine Verpflichtung gegen den Geber. Raimund 
betritt alſo bier das erhifche Gebiet, deſſen Inhalt wir 
in der Haren und vollſtändigen Darfielung bed Ber. 
(S. 64 ff.) nachzuleſen bitten. Den Mittelpunkt bildet 
Die Liebe. zu Bott, und Raimund gibt eine volllänbige 
„scientia de natura amorla” in 64 Kapiteln. Hier ik 
er ganz in feinem Elemente, auf der Höhe feiner Arbeit 
angefommen,. Hier bewegt er ſich lebendig, mit höchſter 
Selbfibefriebigung, und ohne Zweifel gehört diefe Partie 
der natürlichen Theologie zu dem Bellen, was übe 
chriſtliche Ethik im Mittelalter gefchrieben if. Der Wilke 
it ihm das Derz des Geiſtes, das Majeſtätsrecht dei 
Menfchen, das vollendete Ebenbild Botted (vergl. S. 22) 
und deßhalb auch dad Organ, die Form bes höchken 
ethifchen Princips, der Liebe, über deren Auffaffung wir 
weiter unten noch einige Worte zu fagen haben. Die 
Liebe in ihrer vollendeten Realität ift die Einheit mit 
Gott, und fo kehrt in ihr die ganze Reihe der von Gott 
gleihfam entäußerten Greaturen durch die Bermittelung 
ded Menfchen zu. Gott suräd. Und aus dieſem Gentrum 
gebt nun bie Darfteflung in die Breite auseinander und 
entwidelt eine Fülle von Erfcheinungsmeifen, welde au 
fih in dem Principe der Liebe umfaßt und präfermirt 
find. Die weiteren ethifchen Bellimmungen und. Gegen 
füße ımd bie biefen augefchloflenen Dogmatifchen Erör 


terungen über: bie Dignität Ehriſti, die Eugel, bie Sa 


tisfaction, die Sacramente, die Gnade, die Herifalifche 
Gewalt: u. f. w. finden fich ebenfalls bei Hrn. Maple 
mit; gehöriger Klarheit und. Vollſtaͤndigkeit dargeſtellt. 


d. natürliche Theologie d. Raimundus v. Sabunde. 41047 | 


Schließen wir an biefen Ueberblick über Prineip, 
Methode und Inhalt der natürlichen Theologie noch 
einige Bemerkungen über bie hiſtoriſche Gtellung ‚und 
Bebeutung ihres Urhebers. Auch Herr Matzke hat im 
dem Bewußtſeyn, daß bei hiſtoriſchen Monographien bie 
Rädficht auf die allgemeine Entwidelung des Geiftes bie 
Hauptſache fey, diefem Punkte einen befonderen Fleiß 
jugewandt, Davon audgehend, daß man bei Raimund 
von vorn herein die feltefte Anhänglidjleit an die Kir 
chenlehre vorausſetzen mäfle, weit er auf den unheilvol⸗ 
len Zuſtand der Kirche des 15. Jahrhunderts bin und 
ruft Dann and: „Bounte Raimund dieſem allgemeinen 
Auflöfungsprocehfe ruhig gufehen ? Konnte er es über fich 
gewinnen, die. mühfem errungene Bilbung des Geiſtes 
und Herzens, die fpäte Krucht fo vieler Menichenalter 
dem Alles unterwühlenden und zerftörenden Zeitgeifte 
zum Opfer zu bringen? Gewiß, wenn wir bebenfen, daß 
ein-für bad Erhalten der einmal liebgemonnenen Sach⸗ 
lage beforgted Gemüth bad Gewiffe dem lingewilfen im, 
mer vorziehen wird, und wenn wir binzunehmen, baß 
Raimund mitten in die Verwirrung und Zerrättung hinein, 
geſtellt war, in der gewoöhnliche menſchliche Berech⸗ 
nung noch gar nicht vorausſehen konnte, welcher Zuſtand 
darans hervorgehen würde, fo befremdet ed und gar 
nicht, daB er die alte Ordnung der Dinge gegen das 
Andringen feindlicher Elemente wohl zu fchüßen ſuchte 
00. Der Repräfentant biefer Bertheidiger des Alten 
ift Raimundud.” Sein Zwer war demnach, die wankende 
Kirchenlehre in den Herzen feiner Zeitgenoffen neu zu ber 
gründen: Wenn ſchon wegen biefed populären, praktiſchen 
Zwecks Raimund ſich zu der unpraltifchen, übergelchrten 
Schotaftit nicht ohne Weiteres‘ hinwenden konnte, fo 
noch viel weniger deßhalb, weil die lehtere damals ‚übers 
haupt ſchon dem lintergange verfallen unb in der Auf: 


1048 | er 


Söfeng begeiffen ww, Naimundb ſah ſich wife memäthigt, 
eine nene Meihobe zur Biuwerbung ‚gu briagen, won ber 
Art, be dad Ball bei Handhabung Sarfelben einzig ua 
wilein feinem gefunden enfdyewsesfinube Yolgen derſte. 
ie mupte anf einem fidheren Eruudre zubhen, Damit bi 
wit ihrer Hülfe gefundenen Wuhrheiiten Ducchans wiht 
umgefboßen werden Bonnten Neues Material beizubra 
en war gar nicht von nöthen, ſoudern ber Zweck wor 
volllommen erreicht, wenn ber reidıhaktige Wewten der 
Arbrit der bedentendſten Schtlaſftiber weiſe ‚benngt za 
Sas Alte wen vernebritet wurde.” Dieß im Kergern bi 
Anſicht des Berf. Eüelten wie wun auch gugeben, bai 
Naimund bei ſeinem Merle diefen uligemeinen prakithche 
Zwei vor Angen zehubt habe, und Daß ihm alſo die 
Reformation der Cheologie war Awad Geuuhkued, via 
Berf. hinter dieſer apologetiſchen Seite Die ambere ned 
vorwärts gewandte ber wiſſecqſchaftlichen Seubilbun 
wiel gu fehr zurucktreten, obgleich gerade fie mach unfere 
Auſicht Die intersffontefte ‚uud Hiftorifch bebeutrubfle H. 
Usb wenn Der Werf. erſt auf Dem letzten Mblaste feine 
Abhandlung ſagt, Natmmmb’s Syſtem fey ein necheht: 
Ages Denfwal des Geiſtes, weiter unabläffig ring, 
son Anferen Umtorititen fi gu emancipiren, Te geht 
2a wenighend aus feiter Daufkeliuug wide befiimmi 
herwon 

Dom der Scholcttik hat ſich Rakmuib = Bewaft 
ſeyn odgefagt. Dusch feine watärliche Theologie, ſag 
ee im Prologe, könne man in eine Mongate mehr ler, 
als wonn man hundert Jahre Die dooteres ;istitere. Scher 
Dieß, den 'gangen Inhalt ver Thrologie aus Mus Ginhe! 
tined Priacips gu bagreifen mad zu ent wickein, uud Re 
muud meuigftend aflmebt, Kegt ber Scholaſtik fern, web 
er eben ‚jene primeitfielte Ginheit ‚abgeht, weiche gem 


d. natürliche Theologie db. Riduambus v. Sabunbe. 1049 


anf dem Stanbpuntte des veflatisenben Verſtandes Beht 
and wur wit einzelnen rationellen Grunden bie eimgelnen 
Motende ver verauögefehten Küirchenlehre gleichſam zu⸗ 
yıuten aud in wine dam damaligen wiſſenſchaftlichen 
BDewußtſeyn zufagense Korn zu bringen ſucht. Und num 
voſtends von ber Erfahrung audgugehen, biefelbe geifätg 
zu darchdringen, ift der abftracten Metaphyſik der Sch» 
(after geradezu entgegengefegt. Wenn alfe der Verf. 
fagte „Der ganze Plan dei Raimmd war, daß wir 
kurg vegtideen, darauf angelegt, Die Scholaſtik gu popu⸗ 
tarifienı,” fo iſt dieß mindeſtens ſchief auägebnädt. Kine 
Wiſſenchaft und vor Allen eine folche, die ihren Juhalt 
nmicht frei aub ſich produoirt, charalterifirt ich ja weſent⸗ 
lich durch ihre Metiſode, die Rirchenlehre iſt vielmehr 
der en Raimunud mit den Scholaſtikern gemeinſame Stoff, 
ud wenn er daneben vielfach auch ſcholaſtiſche Argumen⸗ 
rtarionen und Diſtinetionen aufnimmt, fo kaun dieß un⸗ 
mögfich aus ſeinem bewußten Diane erklärt werden, ſon⸗ 
Vera daraus, daß Raimundes ganze Bildung innerhalb 
ner Scholakit erwachſen iR, während fein eigenthäm⸗ 
liches Yrimeip und feine Methode, wären fie überall mit 
Bewaßtſeyn feſtgehalden und durchgeführt, ihn gerade 
von der Aufnahme jener. Siemente hätten abhalten undifr 
fen. Hatte ver Nominaliomus, im deſſen letzte Zeiten 
Raimund fhdt, fein Ende gefunden in Der Berzmeiflung 
un altem objectiuen Willen, an ber ganzen bogmmtifchen 
Welt, weldye doch noch der einzige Inhalt Des Dewußt⸗ 
ſeyns war, uud war er bamit nothwendig, :weil sur Kris 
the noch nicht Hart geung, in Den craſſeſten Autoritäts⸗ 
giauben und die abftzaete Trennung von Glauben und 
Wiſſen umgefchlagen, fo wußte bei dieſem Reſultate der 
Trieb ſich geltend machen, in eier neuen, lebens volleren 
Weise, durch eine tiefere Vermittelung ben im Bewußt- 
fegn sinmal wo feſtſteheunden Olaubensinhalt dem Gelt 








150: "Maple 


bewußtfeyn zu eigen -zu machen. Die unmitteibasfe Ev 
fcheinung dieſer Yofltiven Oppofition gegen ‚ben Forms 
lismus der Scholaſtik iſt die Myſtik; in wiſſenſchaftlicher 
Weife erſcheint dieſelbe Oppoſition bei Raimuud. nd 
ser ſucht ein anderes Fundament als das ber ſcholaſtiſche 
Neflerion und ber bloßen kirchlichen Autorität, aber et 
fircht es in der Wilfenfchaft, nicht, wie bie Myſtil, in der 
‚Inneren Selbſtgewißheit der religiäfen Erfahrung. Ba 
braucht nur den Prolog feiner natürlichen Theologie un 
befangen zu lefen, am zu fehen, wie bedentend hier ſche 


"die Selbſtaäͤndigkeit des ſubjeetiven Erkennens der Ir | 
torität gegenüber .fich geltend macht, ganz verſchieden von 


bem alten: Berhältuiffe ber Ades zum intellecten, wen 
Kaimund auch demüthig all fein. Erkennen der Kirche uw 
terwerfen und den Schein ſubjectiver Freiheit baburd 
verzueiden will, daß er feine Wilfenfchaft nur als Ba 
Leſen eines göttlichen Buches, ald das Aufnehmen ein 
fertigen Offenbarung darſtellt. — Baur (die Lehre von 
der Dreieiniigleit 11. S. 885.) führt den Raimnuud unit 
den Myſtikern anf und bezieht ſich Dabei auf dem in de 
"oben ausgezogenen Stelle enthaltenen pantheififchen Bor 
tesbegriff. Aber abgefehen davon, daß Raimund did: 
Auffaſſang nicht feſthält, ſondern zum Theismns zuräd 


:fentt, iſt doch dieſelbe auch von der ber Myſtiker weint 
lich und prineipiell verfdieden, wenn auch bei dem lehlv 
‚zen fich Hin und wieder Ähnliche Ausfpräche finden ſol⸗ 





ten. Raimund würde, wenn er jene Auffaſſung couſequent 


-fefthielte, bei Dionypus Arsspagisa.antommen, währe! 
‚die germanifche- Myſtik auch bei ihrem Botteöbegriffe a 
her veligiäfen Erfahrung, von der Gewißheit der ſubjec 
riven Unendlichkeit ansgeht und durch Regation bed «m 
piriſchen Ich bad Abfolute ind Subject felbft himeinzieh. 
Durch diefed Moment ber unendlichen, gottburchbrungt 


en SBubjeettoität iſt Die Auffaſſung des Abſoluten une 


d. nathrliche Theologie d. Maimundus v. Sabunde, 1051 


lich concreter als jene abfiracte, nur fcheinbar"allumfafs 
fende Subſtanz. Noch näher aber fcheint Raimund dort 
as die Myſtik zu reifen, wo er von ber Liebe als der 
das Menichliche in das Göttliche trausformirenden Wacht 
ſpricht. Wie das Elementariſche durch die ihm einges 
borne Beſtimmung, burch einen inneru Zug in dad Or⸗ 
ganifche ſich wandelt, fo muß auch der menſchliche Wille 
ale die höchſte creatürliche Beftalt, über weldher zur 
Gott ſteht, felbft ind göttliche Seyn gewandelt werden, 
die Liebe zu Gott muß den Menfchen felbft göttlich mas 
chen a). Auch nad den Myſtikern hat der Menfch nur 
ein Ziel, die Liebe zu Gott, oder wie fonft diefe eine 
myſtiſche Tugend genannt werden möge; bie Bergottung 
des Menſchen durch die Liebe kehrt auch hier immer 
wieder, oft, wie auch bei Raimund, durch bad Gleichniß 
Der Che verfinnbildlicht. Aber der Unterſchied ift ber, 
daß die Myſtik jene Einheit der Liebe gründlicher und 
tiefer erfaßt, auf die urfpränglich präformirte Einheit 
bed Weſens, anf die Gewißheit der Berfühnung mit 
Gott zurüdführt: Gott fordert gleihfam von jedem 
Menſchen feinen Sohn uud Jeder, der Gott nicht liebt, 
der befchränkt damit das göttliche Leben felbft. Diefe metas 
phyſiſche Vorausſetzung macht Raimund nicht, er unters 
fucht nicht, ob denn jene Einheit auch an fi in bem 
Wefen Botted und des Menſchen und in dem Verhält⸗ 
niſſe beider begründet und möglich gemacht fey, er hält 
banebeu unbefangen die alte Satiöfactionstheorie in ihrer 
ganzen ſtarren Objectivität feft, bleibt einfach beim Wil⸗ 


a) Ita ergo vuluntas in sua libertate debet mutari in melius et 
io altiorem gradum, scilicet ut ipsa matetur in esse divinum, 
aliter ipsa faceret contra totum ordinem universi et contra so 
ipsam . .... Quia amor convertit voluntatem nostram in 
rem primo amatam, ideo convertit, mutat et transformat to- 
taliter hominem in deum et in suam voluntatem (Tit. 241.). 


| Theol. Stud. Jahrg. 1847, 70 


nv" 


len als ſolchem ſtehen, reißt ihn ſogar von ber Inteligen 
los, während im der Myſtik vielmehr Lieben und Erken⸗ 
nen Eins ift, beides in ungetheilter Einheit des Gelbk: 
bewußtfeyns zufammengehalten. Die mepfttiche Liebe hat 
deßhalb einen vorwiegend ideellen, abſtract innerlichen 
Eharakter, fie ik das Schauen Gottes, Ansruhen in Bett; 
wer, über ſich ſelbſt erhoben, in jene Stille der Liebe rin 
gekehrt ift, für den tritt dann das Handeln als eine u 
tergeoranete Stufe zuruck, da dieſes feiner Natur nah 
Retd nach außen gewendet und in bad Gnblidhe werflod. 
ven il. Daher die Paſſivitaät, der Quietismas ber Myſtil 
Ban; anders bei Raimund, da er ja den Willen ale den 
eigentlichen und alleinigen Heerd der Bermittelung des 
Menſchen mit Gott beflimmt. Der Wille ift aber weint: 
lich Thätigkeit. Wenn alſo die myſtiſche Liebe einfad 
in ſich iſt, thatenlos, einſames Spiegeln der Seele im 
Abſoluten, fo iſt dagegen die Liebe bei Raimund ein ener⸗ 
gifcher Peoceß, ein Princip, das ſich praftifch erweiſen, 
eine Füße von Erfcheinnugen and ſich fegen und wieder 
in ſich zurücknehmen muß. Die eine funbamentale Lich, 
fagt er, iſt zwar umfichtbar, aber zugleich die fruchtbar 
Wurzel von vielerlei kiebe; fie treibt einen Baum aus 
fi hervor, deſſen Zweige nach allen Seiten audeimandır 
sehen (Tit. 134.). — Damit ift ber ethiſche Standpuult 
Raimund's im Allgemeinen charalteriſirt. Unufer Bei. 
hat denfelden klar erfaßt and bargeflellt; bei bem um 
foffeuden Zwede feiner Abhandlung konnte man abe 
erwarten, daß er ihn innerhalb der eihifchen Begenfäßt 
jener Zeit und im Berhältniffe gu Raimund's eigenen dog⸗ 
matifchen Erörterungen 5. B. über die Gnade noch ei 
gehender betrachtet haben würbe. Es leuchtet eim, wie 
weit Raimund mit feiner ethifchen Ueberzengung vor 
der Praris der katholiſchen guten Werke fich entfernl, 
indem er alle Aeußerung des flttlichen Thuns auf bie 


d, natärliche Theologie d. Raimundusn, Sabunte. 1053 


eine Idealitüt des Willend bezieht, wenn gleich ihm anf 
Bercanderen Seite die unendliche Bafid uud Vorans⸗ 
ſetzung dieſer Spealität, Die reformatoriſche Ades, ned 
verborgen blieb. — Wenn man nun die eben berührten, 
nicht ganz wegzuleugnenben myſtiſchen Aullünge berück⸗ 
ſichtigt, ſo wird man vielleicht die Anficht aufteilen dür⸗ 
fen, daB Raimund in feiner Schrift eine Vermittelung 
zwifchen jenen beiden geiſtigen Mächten feiner Zeit ver 
fucht babe, in dem Sinne, die Theologie fey allerdings 
Wilfenfchaft, aber dad Ziel ihrer Erkenntniß nicht das 
Wiſſen feloft, die Theorie, fondern die Praris, die Liebe 
als der thatſaͤchliche Beſitz bes Bsttlichen. 

So originell nun Raimund's Princip und Methode 
iſt, fo tachtig und anerkennenswerth feine Tendenz, fo 
kaun nnd dieß doch andererſtits für die Schwächen ſei⸗ 
ned Werkes nicht blind machen. Seine Anffaflung ber 
Matur ald eines vernünftigen Syſtens om Stufen, biefe 
Ahnung einer organifhen Dialektik aller Wirklichkeit if 
ein tiefer, fruchtbarer Gedanke, aber die Entwidelung 
deſſelben, die wirkliche Einfiht in das Wefen der eins 
zelnen Stufen und Raturgeftalten ift eine durchaus dürfe 
tige, überfleigt nicht die affergewöhnlichfie Kenntniß und 
ift wohl faum mit dem Streben nad) Popularität zu ents 
fchuldigen. Ebenſo ift das Princip der Selbſterkenntniß 
Höchft coneret und inhaltereich, aber die Durchführung 
ift großencheild eine fehr äußerliche und oberflädhliche, 
und kann feine andere feyn, ba ja für Raimund die 
Kirchenlehre von Haus aus als Refultat feſtſteht, und 
fo die Kraft des Principe, befonders fobald er ind Des 
tail der Kirchenlehre hineingeräth, durchaus gebrochen 
erfcheint, ja er fällt, obgleich er offenbar im Principe 
die Scholaftif überwunden hat, an vielen Punkten total 
in die fcholaftifche Argumentarion zurück. Die Methode 
endlich, wie er fein Princip durdyführen will, ift ihrer 

P 70 * 


* 


1054 Maple, d. nat. Theol. d. Raimundus u. Sabunde. 


Idee nad) ganz angemeſſen, aber fie wird aus eben jenem 
Grunde, je weiter fie zu ben Spiben der Kirchenicht 
fortfchweitet, um fo mehr zum unerträglichen Formal; 
mus. Das ganze Syſtem der bierarchifchen Gewalt fe 
det in der natürlichen Theologie feine Mechtfertigung. 
Der Verfaſſer hält in feinem Urtheile über Raimuad 
bie verfiändige Mitte zwifchen Ueberfchäbung und Bering 
fhägung. Ueberfhägt wirb er häufig von Solchen, bit 
weites nichts ald den Prolog keunen, zu gering gefhäßt 
bisweilen von denen, welche das ganze Werk findiert 
haben, wo bann die Refignation, mit welcher man fid 
allerdings bei manchen Partieen waffnen muß, nicht fel: 
ten ber linbefangenheit des Urtheils Über das Gary: 
Eintrag thut. Sedenfals hat Herr Maple durch fein: 
durchgeheuds klare und objectio gebalteue Darſtellung 
zur richtigen Würdigung des Raimund von Gabuade 
beigetragen und damit eine wefentliche Küche unferer day 
menbiftorifchen Ritteratur ausgefüllt. 


D. Frauz Holberz 





———— nn — — 


1054 Maple, d. nat. Theol. d. Raimundus v. Sabmde. 


Idee nach ganz angemeſſen, aber fie wird and eben jenen 
Grunde, je weiter fie zu den Spitzen der Kirchenlehre 
fortfchreitet, um fo mehr zum unerträglichen Zormaldı 
mud. Das ganze Syſtem der hierarchifchen Gewalt fe: 
det in ber matürlichen ‘Theologie feine Rechtfertigung. 
Der Verfaſſer hält in feinem Urtheile über Raimumd 
bie verfländige Mitte zwifchen Ueberfchätuug und Gering 
fhägung. Ueberſchätzt wird er häufig von Golden, die 
weiter nichtd ale den Prolog kennen, zu gering gefhäßt 
bisweilen von benen, welde das ganze Werk Radiert 
haben, wo dann bie Refiguation, mit welcher man fid 
allerdings bei manchen Partieen waffnen muß, nicht Ir: 
ten der linbefangenheit des Urtheils über das Ban 
Eintrag that. Jedenfalls hat Herr Matzke durch fein 
durchgehends Mare und objectio gehaltene Darfchum 
zur richtigen Würdigung bed Raimund von Sabunde 
beigetragen und damit eine wefentliche Lücke uuferer dog: 
menbiftorifchen Litterasur ausgefüllt, 


'D. Franz Holberg. 








—— — — — 





Iſt der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 
Beantwortet 
vom 
Prediger Diedrich 
in Magdeburg. 





Don jeher ift dem Rationalismus der Borwurf gemacht 
worden, daß er in fi; nicht die Kraft und Fähigkeit 
trage, eine kirchliche Bemeinfchaft zu fliften und zu ers 
balten. Ebenſo if in unfern Tagen den kaktholiſchen 
Difientergemeinden, weiche fich auf rationaliftifcher Grund» 
lage bildeten, fowohl von Katholifen ald von Proteſtan⸗ 
ten zugerufen worden, Daß fie eines feſten Fundaments 
für ihre religiöfe Bemeinfchaft entbehrten, baß fie, falls 
fie nicht Yon dem Boben einer bloßen Raturs oder Ders 
nunftreligion aufden Boden des Yofitiven chriftlichen Df⸗ 
feubarungsglanbene zurüdträten, den Sturz ihres eiger 
. nen Bebändes ſelbſt vorbereiten würden und leicht, noch 
ehe ein Menfchenalter verfiriche, erleben könnten. — Bon 
Seiten des Rationalismus iſt jenem Borwurfe nie gränd: 
lich begegnet werden, vielmehr hat er ſich mei nur bar» 
auf beichränft, denfelben, wo nicht ale eine völlige Un⸗ 
wahrheit, doch ald eine ticbertreibunggen bezeichsen, und 
nicht unterlaffen, feinen Glauben an eine kirchenbildende 
Fähigkeit feines Syſtems mehr ober minder zu betheuern. 
Eben fo wenig haben bie neufathelifchen Diſſidenten durch 


. 


1058 Diedrich 


jenen Vorwurf ſich bewegen laſſen, von dem betretenen 
Irrwege auf den rechten Weg zurückzukehren nnd, Ratt 
“eine vage Bernunftreligion zu proclamiren, um fo fee 
an den pofltiven Grundlagen ded Chriſteuthums feſtzu⸗ 
halten, je entfchiebener fie fih vom römifchen Katholi: 
cismus lodfagten und je härtere Berurtheilungen ober 
doch Berdächtigungen fie von blind zufahrenden Gegnern 
erfahren mußten. Im Ganzen iſt befanntlich bie Anzahl 
der katholiſchen Diffentergemeinden, weldye nicht bloß 
irgend ein Glaubensbekenntniß, fondern auch ein am die 
pofitiven Grundlagen bed Chriſtenthums ſich moͤglichſt 
eng anfchließendes aufgeftellt wiffen wollen und auch aufge: 
ſtellt haben, im Verhaltniſſe zu den übrigen fo Mein geblie- 
ben, daß auf Seiten der letzteren fich bis jetzt, trotz bes 
mit männlichen Muthe und anzuerfennenber Freimäüthig⸗ 
keit abgelegten Glanbensbe kenntniſſes bes fchueidemähler 
Reformators, immer eine überwiegende Majerität erhal 
ten bat. Die Berhältniffe der Gegenwart legen daher 
tn der That die Frage recht nahe, ob und in wie weit 
dem Rationalismus eine kirchenbilbende Kraft zuerkannt 
werben koͤnne. . 

Wenn wir zunäcft den Berfud machen wollten, 
auf hiftorifchem Wege hinſichtlich unſerer Gtreitfrage 
ein beflimmtered Ergebniß zu gewinnen, fo würden wir 
allerdings mandherlei Data vorfinden, welche zu einer 
verneinenden Antwort berechtigen, allein fie wärben bed 
fchwerlich ſchon ansreichend ſeyn, um bie Sache zur völi: 
gen Evidenz zu bringen. Zunächſt hat der Rationaltemus 
biöher im Ganzen und Großen moch Beinen Berfuch gr: 
macht, ſich als eigene Kirche zu conflituiren. Weder die 
um Wegfcheider und Röhr fi fchaarenden Anhänger eis 
ned mehr theolog hen Rationaliemus , noch bie an den 
Brüften der hegel’ichen Dhilofophie ſich nährenden Bela 
ner eines höheren fpecnlativen Nationalismus haben es 
allen Ernſtes zu einem Bruche mit ber evangeliſchen 


‘ 


iſt der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1059 


Kirche kommen laffen. Und. wie lofe auch immerhin ber 
Zufammenhang eines großen Theils wenigſtens der Lehr 
teren mit der Kirche ſeyn mag, fo führen ſie Doch bie 
jet noch mit uns denfelben Ramen evangelifcher Chris 
ften und es umfchließt fie mit und noch ein und berfelbe 
äußere Kirdyenverband, Es find allerdings ſowohl im 
Schooße ded Rationalidmus felber, als auch unter den 
Bertretern des firchlichen Intereſſes fon öfter Stim⸗ 
men laut geworden, weiche ihn aufgefordert haben, bie 
Halbheit und Inconfequenz der eigenen Stellung aufzu⸗ 
geben, fi von der Wutterfirche, der er ja doch nicht 
mehr wie ein rechtes Kind mit ganzem Herzen zugethan 
fey, völlig logzulöfen und ganz auf eigene Hand eine 
kirchliche Bemeinfchaft zu gründen. Allein diefen Auf» 
forderungen hat er fich bie jeßt: immer entzogen. Wie 
ed nicht im Interefle der Kirche liegen Tann, die fo zahls 
reichen Anhänger des Rationalismus gewaltfamerweife 
von fidy auszuftoßen, weil ein folcher Gewaltsact noth⸗ 
wendig eine Abfchwächung des eigenen Körpers herbeis 
führen müßte und zugleich für fo viele kranke Glieder 
eine fhonungslofe Härte feyn würde, ba nur, fo lange 
fie im Berbande mit dem Leibe bleiben, eine Heilung für 
dDiefelden möglich if, fo fan ed auch nicht im Intereſſe 
des Rationaliemud liegen, einer etwaigen gewaltfamen 
Ausſtoßung durch freiwilligen Andtritt zuvorzufommen, 
weil für ihn dann feine ganze Eriftenz auf dem Spiele 
flünde, weil er bei confequenter Entwideluug feines Prin⸗ 
cips nad, innen und praftifcher Ausführung and im 
äußeren Leben zulegt nur einem einzelnen philofophifchen 
Syfem oder, wie man auch fonft fagen könnte, dem 
Zeitgeifle zur Beute anheimfallen würde. Selbſt die 
deutfch-Fatholifchen Bewegungen der jüngften Bergangens 
heit und Gegenwart, welche ihn auch innerhalb ber rö⸗ 
mifchen Kirche gleich ein Heer von Bundesgen oſſen hätten 
finden laſſen und ihm einen etwaigen Bruch mit ber 


41060 Diedrich 

evangeliſchen Kirche erleichtert haben wlrben , find, wie 
verführeriich Die Belegenheit auch war, gleichwehl für 
ihn nicht Beranlaffung geworben, bie Gemeinfchaft mit 
: der Mutterkirche durch einen auch äußerlich erfeunbaren 
und bebenutfamen Gchritt aufzuheben; er hat dem Fener⸗ 
geiſtern unter Freunden und Feinden entgegengesufer: 
Bedeufet das Ende, und felbii da, wo es den Anfchein 
hatte, als wollte er den Rubicon Üüberfehreisen und den 
Krieg auf Tod und Leben beginnen, den ſchor erhobe⸗ 
nen Zuß wieder fallen laſſen, um nicht das Aeußerſte ı5 
wagen und fi wenigfiens die Diöglichleit einer Wieder 
ausſöhnung mit der Kirche zu ſalpiren. 

Bon dieſer Unentſchloſſenheit, welche bie Anhänger 
bed theologiſchen oder des fogenannten vulgaren Re 
tionalisuus charalterifirt, haben fich nun allerdings bie 
Belenner des fpeculativen Rationaliomus frei zu er: 
halten gewußt; unter ihnen hat ed vielmehr eine Menge 
sühriger Geifter gegeben, bie, ihrem Charakter getreu, nicht 
mit befonuener reformazorifcher Weile, ſond ern mit ſtür⸗ 
wifcher revolutionärer Eile eine neue Zeit heranfzuführen, 
es offen ausiprachen, es fep an der Zeit, den Verſuch eis 
ner völligen Emancipation von der Kirche zu mache, 
während Andere freilicd, mehr einen Schleichweg einſchlu⸗ 
gen und die Welt überreden wollten, daß die Miner 
des Fortſchritts in ihrem Sinne die Getrenen ber pre 
tchtantifchen Kirche, dagegen die fogenannten Glaͤubigen 
nichts als Abgefallene, daß fie ſelbſt eigentlich die Kirde, 
die Anderen Dagegen nur eine Secte wären. Indeß and 
von jenem rährigeren Theile läßt fih doch im Garzer 
nur urtheilen, daß fie mehr Lärm als Eruſt wachten, daß 
fie die Emancipation mehr forderten, als im praktiſches 
Leben verwirklichten. Wenn im Jahre 1843 In den öffent: 
lichen Blättern von einem „Bereine der Freien” zn Bew 
Un fehr wiel die Rebe war, bie zwar ihre Kinder ned 
taufen und eonfirmiren , ihre hen noch kirchlich einfeg- 


mw — — = - 


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ift der Rationalismus fähig, eine Kirche zubilden? 4061 


nen laffen, dagegen jede Theilnahme au der Ahendmahls⸗ 
feier und den Befuch des öffentlichen Gottesdienſtes grunds 
fäglich aufgeben wollten: fo ift jener Verein fchon da⸗ 
mals todt geboren, und gegenwärtig findet man faum 
int den Tagesblättern noch dann unb wann eine Erinne⸗ 
rung baran, daß ein folcher Verein projectirt worben 
if, gefchweige denn, daß berfelbe irgendwo ernflere Fol⸗ 
gen für die evangelifche Kirche bliden ließe. Bedeutſa⸗ 
mer erfcheint ber vor Kurzem von Rupp in Königäberg 
gemachte Verſuch, eine im Sinne ber modernen Philefos 
phie freie ewangelifche Gemeinde zu gründen. Judeß bes 
zechtigt Dad, was biöher Über dieſe neu sevangelifche 
Gemeinde verlautete, nidit zu ber Hoffnung, daß ihr 
Beiſpiel viel Nachahmung finden würde. 

Einftweilen würde und aber gleichwohl die Befchichte 
noch nicht berechtigen, dem Rationalidmus eine kirchen⸗ 
bitvende Kraft abzufprechen. Es wäre ja immer ber 
Kal denkbar, daß er jene Kraft in fi tragen könne, 
auch wenn fie in der praftifhen Geſtaltung bed Lebens 
ſich noch nicht Documentirt hätte; es könnte nicht fowohl 
in der inneren Schwäche, als vielmehr in der Un⸗ 
gunſt der Zeitumſtände der Grund davon liegen, 
daß von Seiten bed Rationalismus noch kein ernftlicher 
und erfolgreicher Berfuch gemacht if, eine eigene Kir⸗ 
chengemmeinfchaft zu gründen, und das, was in der Ber, 
gangenheit ihm weder gelungen noch auch nur ernftlich 
angeftrebt war, könnte unter glüdlichern Zeitverhältnäfs 
fen verfucht nnd erreicht werben. 

In der That appellirt der Rationalismus oft genng 
an die Zukunft, ja hofft von ihr die glänzendſte Rechts 
fertigung. Er hat zu wiederholten Malen ausgefprochen, 
daß für die Bertreter eines pofitiven Offenbarungsglau, 
bend nur deßhalb ein fo erwünſchter Umſchwung Der 
Beiten eingetreten fey, weil die Staatsmacht mit ben 
Orthodorie im Bunde flehe, und gibt damit zu verfichen, 


1062 Diedrich 


daß er hofft, es könne leicht ber umgelchrte Fall eintre⸗ 
ten, daß die Bekenner ſeines Syſtems den eigentlichen 
Kern der Kirche, die ſtreng Bibel⸗ und Kirchengläudigen 

dagegen nur eine Secte bildeten, ſobald die Staatsmacht 
den Bund mit ber Orthodoxie aufgede und wit ihm ſelbſi 
fchließe. Allein wenn zu jeder Zeit gleiche Urſachen auch 
gleiche Erfcheinungen hervorrufen, und infofere die Bers ' 
gangenheit und die Zulunft immer fchon im voraus ans 
Dentet, fo können wir jene Hoffnung des Rationalismud 
wur ale eine voreilige bezeichnen. Es ir nämlich eine 
nicht hinwegzuleugnende Thatfache, daß alle Gecten, wels 
he eine rationaliftifche Färbung haben, nirgends einen 
langen Beſtand gehabt, nirgends eine weite Verbreitung 
gewonnen haben, daß ihnen Überall jene lebendige Trieb» 
kraft fehlte, welche die Secte wie mit unwiderſtehlichen 
Drange zur Kirche anwachfen läßt und fie nach innen and 
anßen fo zu organifiren vermag, daß fie inneren und äußeren 
Feinden gewachſen if. Die älteften Vorläufer des Ra» 
tionalismus, die Socinianer, haben ed weder in eure 
päifhen noch in Hberfeelfchen Landen vermocht, ſich zu 
einer größeren Kircheugemeinfchaft auszubilden; die eng⸗ 
liſchen Deiften uud franzoͤſiſchen Encyklopädiften find for 
gar unfähig geweien, ſich auch nur zueiner Gecte zu con» 
foltbiren und ſich in irgend einer Weife firchlich zu orga⸗ 
nifiren; der GEultus der Vernunft, welcden bie frangöf- 
ſche Revolution aus ſich gebar, war eine Mißgeburt von 
sben fo grauenhafter Geſtalt ald kurzem Leben; die Phi⸗ 
Ialethen zu Kiel haben in ihrer „Bittfchrift an deutfche Für⸗ 
ften” ein einziges Lebenszeichen gegeben und find baum fpur: 
los verfchwunden, und die neufrangöfifche Kirche des Abbe 
Ehatel fcheint auch nur mühfam ein ſieches Dafeyu zu friften, 
wie ſchon vor ihm gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bie 
chercheurs de la veritd einem frühen Grabe entgegemweltten 
und etliche Decennien nach ihnen auch das, Nene Licht” zu 


ift der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1063 


Amſterdam in eben fo großer Stille erloſchen war, ale 
ed mit lautem Kuiftern zu brennen angefangen hatte. 
Es verlangt nun allerdings die Gerechtigkeit, dem 
Rationalismus das Zugefländniß zu machen, daß er mit 
den genaunten biftorifchen Erfcheinungen feinem Inhalte 
nach nicht auf eine Linie geſtellt werben darf. Er hat 
ja zu wiederholten Malen namentlich Über die Frechheit 
der voltairefchen Schule upd gie Gräuel der franzöfls 
ſchen Revolution das firengfie Gericht gehalten. Es 
find augenfällige Differenzen, welche den Rationalismus 
der Gegenwart fchon in feiner Gefammterfcheinung von 
jenen Spftemen- früherer Zeit trennen. Der theolo⸗ 
gifhe Rationalidmus verfchmäht in dem Kerne feiner 
Belenner durchaus den ſittlichen Leichtfinn, der fa alle 
jene Syſteme charalterifirtz; er ift ein erufter, Prediger 
des Geſetzes auf alttefkamentlihem Standpunfte; er hat 
fih ferner troß feiner Ueberfhägung der menfchlichen 
Vernunft an den pofltiven Kern des Ehriſtenthums, wo 
nicht anzufchließen, doc anzunähern gefurht auf dem IBege 
formaler und materialer Accommodation; fehlt ihm auch 
die volle Entfchiebenheit für Die ewangelifche Wahrheit, 
fo ift fein Syſtem doch nicht ſowohl ein unchriftliches, 
als ein untheologifches, fein Chriftenthum nicht ſowohl 
ein Widerchriftenthum, als ein fragmentarifhes 
Shriftenthum a). Der fpeculativ e Rationalismus hat im 
der hegel’fchen Philofophie offenbar fich ganz neue und 
in gewiffer Beziehung großartige Bahnen gebroden, 
um feine Sache zu führen, und ift, in manchen feiner 
Repräfentanten vom Haupte bie zu ben Küßen in Stahl 
und Erz gekleidet, auf dem Schlachtfelde erfchienen, um 
mit den. Waffen firengfier Wiffenfchaft feine Sache aus⸗ 


a) Wir adoptiren biefen Ausbrud von G. A. Kämpfe in feiner 
Schrift: „Antwort auf Uhlich's Belenntniffe.” Wagbeburg bei 
Heinrichs hofen 1845, 


1064 Diedrich 


zufechten, wenn ſchon aus dem Munde von nicht Weni⸗ 
gen gerade unter denen, welche am lauteften werfänden, 
daß allein in der Spechlation das Heil zu finden fey, 
die baare Encykiopädistenweichelt des vorigen Tahrban- 
dertö ſchallt; auf der anderen Seite läßt ſich aber nict 
in Abrede ſtellen, daß alle jene Syfteme früherer Jahr⸗ 
hunderte anf einem und demfelben Boden wit 
dem Rationalidmus gemgchign find, daß fie einen Stand⸗ 
punkt vorausfegen, auf welchem die Bemüther einem 
pofltiven Offenbarungsglauben fremd geworben waren 
nnd entweder dad Ehriftenthum zu einer bloßen Bernunft- 
religion machen, oder auch ohne das Chriſtenthum der 
Welt eine Bernunftreligion geben wollten ; Yinfichtlich des 
Princips muß ed der Rationalismus zugeſtehen, daß 
fie „Fleiich von feinem Fleiſche, Bein von feinem Bein 
find.” Uber fogar in Hinfiht der Geſtaltung des 
Principo im Spſteme zeigt fi mitunter eine große 
Verwandtſchaft; fo 5.8. fteht der gewöhnliche theologi⸗ 
ſche Rationaliemus feinem Inhalte nad Dem Syſteme bei 
Socinianismus gar nicht fern, und die Polemil des er 
ſtern hat fich daher immer nur gegen einige grobe Inconſe⸗ 
quenzen nnd handgreifliche Auswüchſe des letzteren ges 
richten, während er fich als eifrigen Lobredner der Der: 
nunftmäßigfeit feines Syſtems im Bangen and Gros 
Ben erwiefen hat. 

Es Meist num immer ein bedeutfamer Fingerzeig der 
Geſchichte, daß ade and bem Principe des Rationalisuus 
bisher hervorgegangenen Syſteme nirgends die erforder 
liche innere Lebenekraft bewiefen haben, um einen in 
ſich fen abgefchloffenn uud genau gegliederten Kirchen: 
verband zu Stande zu bringen, und daß da, wo bieh 
einigermaßen gelungen war, bie Kirchengemeinfchaft nie 
eine größere Ausdehnung, nie eiue bleibende Bedeutung 
für die Geſtaltung der Wiffenfchaft oder des kirchlichen 
Lebend gewann, vielmehr ihr eigemed Daſeyn immer 





ift der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1083 


nur mit Mühe und Roth friſtete. Dieſe bifkorifihe 
sThatfache gewinnt noch einen. auffallendern und bebentfas 
mern Charafter, wenn man erwägt, DaB diejenigen Sec⸗ 
ten, welde fi auf dem Boden des pofitiven Offenbas 
wungöglaudend gehalten haben, nicht nur gleich bei ih⸗ 
rem Entfichen eine mächtige Trieb⸗ und Organifationds 
Praft bemiefen, fondern diefelbe auch Jahrhunderte lang 
zu erhalten gewußt, und fowohl für die Belebung des 
chriftlichen Lebens in ihrer eigenen Witte, ale auch für 
Die Berdreitung des Gottesreichs namentlich in der heibnis 
fchen Menfchheit mit wahrhaft bemunderungemwürdigem 
Eifer und Erfolge gewirkt, ja fogar in diefer Beziehung 
Die an Umfang ungleich größere Mutterlirche oft weit 
fiberftrahlt haben. Welch einen merfwürbigen und lehr⸗ 
reichen Gontraft bilden nicht die zahlreichen Secten der 
reformirten Kirche gegen die Secten rationaliftifcher Farbe! 
Die Staategewalt hat den erftern ihr EntRehen wahrs 
lich nicht erleichtert a), vielleicht hat von allen Secten 
Großbritanniens und Nordamerika's aud nicht eine, ale 
fie ine Leben trat, einen fo gänfligen Boden vorgefuns 
den, ald der Rationalismus ihn ig der letzten Hälfte 


a) Gs ift bei uns ein Begenftand ber Verwunderung, baß die May: 
nooth= Frage unter der proteftantifchen Bevölkerung Englands 
eine fo große und fo allgemeine Aufregung hervorgerufen hat; 
wie konnen es uns kaum denken, baß man ben unglüdlichen iri⸗ 
fdyen Katheliten jene an ſich gar nicht bebeutende Unterflägung 
nicht gönnen follte. Allein der Grund jener Aufregung Liegt 
tiefer. Man würde ihnen jene Beihülfe von ganzem Kerzen 
goͤnnen, wenn der Staat nur nicht einem fremden Kinde Brod 
gäbe, während er die eigenen darben läßt: den Gecten der pros 
teftantifchen Kirche gewährt der engliſche Staat gar Keine Unter« 
ftügung, vielmehr befolgt ex ihnen gegenüber ben Brunbfag : „Bes 
fteht ohne mich oder gar nicht.” Diefen Grunbfag gibt er nun 
zu Gunften der Katholiten auf, ohne auch zu Gunſten der pro: 
teftantifhen Secten. Leätere find noch heute ganz an fich felbft 
gewiefen, und müflen Alles, was die Erhaltung ihres Kirchen⸗ 
verbandes erfordert, aus eigenen Mitteln beftreiten. 


1066 ° Diedrich 


bed vorigen Jahrhunderts unter der Aegibe aufgellärter 
Fürften gefunden haben würde, wenn in ihm der leben: 
dige Drang nach einer ſelbſtändigen Gränbung einer 
Kirhengemeinfchaft vorhanden geweien wäre. Aus eige: 
sen Mitteln haben die erſten Secten ihre Kirchen nnd 
Schulen gegründet, aus eigenen Mitteln ihre großartiges 
Miſſions⸗ und Bibelgefellfchaften ind Leben gerufen, und 
noch heute find in vielen Gemeinden, wie 3.3. unter den 
Methodiften, die Prediger lediglich auf die freiwilli- 
gen Beiträge ihrer Pfarrkinder gewiefen. Und gleid» 
wohl haben fie es zu einem feltgefchloffenen kirchlichen 
Organismus gebracht und aud bei Lleinerm klmfange 
doch eine fo große innere Trieb» und Lebenskraft offen: 
bart, und wenn auch nicht für die Fortbildung der these 
logifhen Wiſſenſchaft, doch für die Wedung des erfor 
benen chriftlichen Lebensgefühls und für die Berbreitung 
des Ehriſtenthums unter den heidnifhen Völkern eme 


ganz außerordentliche und höchſt ſegensreiche Thätigkin 


entwickelt. 

Dieſen Zenguiffen der Geſchichte gegenüber bleibt 
ben Rationaliswus pur ein doppelter Ausweg. Er koͤnntt 
zunächſt die Beweiskraft jener Zeugniſſe fo weit anerfen- 
nen, daß er den Glauben an die Firchenbilbende Krafı 
des Rationalidemus mehr oder minder aufgäbe, dann aber 
zu der Behauptung fortfchreiten, daß die Wahrheit bei 


Inſtituts der Kirche zu ihrer Erhaltung in der zu imme 


größerer Mündigkeit heranreifenden Menfchhrit gar zict 
bedürfe, und Daß folglich auch der Rationalismus unge 
achtet feines Unvermögend, eine Kirchengemeinfchaft zu 
gründen, wie in ber Vergangenheit, fo auch im der Zw 
kunft fein Beftehen haben werde *). Er könnte aber aud 


a) So ſpricht fi) unter Andern auch der Verf. einer jüngft ane⸗ 
nym erſchienenen Schrift: „die Beredhtigung des Nationalismus,” 
in einer von der gewöhnlichen rationaliſtiſchen Betrachtungsweiſe 
ganz abweidgenden Art aus. Er meint, man muͤſſe vor eine 


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iſt der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1067 


jener hiſtoriſchen Beweisführung gegenüber erinnern, daß 
in den rationaliftifchen. Syſtemen ber Vergangenheit fein 
Princhp nur erft eine mehr oder minder unreine Aus⸗ 
prägung gefunden, daß jedoch in eben dem Maße, ale 
bafjelbe in der Zukunft eine normale und gefunde ſyſte⸗ 
matifche Durchführung finden werde, auch bie ihm: inner 
wohnende tirchenbildende Kraft zur Erfcheinung kommen 
und alle biöherigen Zweifel nieberfchlagen bärfte, 

Wir find fomit an einer Stelle angelommen, wo ber 
Streit von dem gefchichtlichen Boden anf einen rein phi⸗ 
lofophifchen verpflanzt erfcheint uud allein ans Innern 
Gründen entichieben werben kann, ob und inwieweit dem 
Rationalismus eine Firchenbildeude Kraft zuerlannt wer, 
den bürfe. | . 

Die Kirche als die Heilsanftalt zur Berwirklichung 
des Gotteöreiches auf Erden macht zunächft baranf Ans 
ſpruch, eine die ganze Menfchheit umfaffende religiöfe 
Gemeinſchaft zu feyn. Ihre Tendenz gebt dahin, bie in 
unendlicher Mannichfaltigleit durch die Natur gefebten, 
fowie durch die gefchichtlihe Entwidelung ber Bölter 
herbeigeführten Unterfchiede auszugleichen und in eine 
höhere Einheit fih auflöfen zu laffen, alle von Anfang 
an fich vorfindenden ober durch die Jahrhunderte aufge⸗ 
führten Scheibewände unter den Rationen hinwegzunchs 
men und fo die ganze Menfchheit zu dem zu machen, 
wozu der Staat nur das einzelne Volk erheben kann, 
nämlich zu einer großen Familie. Mag bie Kirche 
dieß Ziel bisher auch nur unvolllommen erreicht haben, 
fo hat fie es doch ſtets angefirebt, und ihre Todesſtunde 
würde fchlagen, wenn der leßte Funke eined ſolchen Stres 
bens in ihr erlofchen wäre, Aber nicht durch gewalts 
fame Uuterdrüdung der menfchlichen Subioibualität, nicht 


folgen Sonfequenz durchaus nicht zurädfchreden, audy wenn fie 
den verweichlichten Ohren eine „harte Rebe” bünlte, - 
Theol, Stud, Jahrg. 1847, 71 


1068 - --- Diriiedtich 


burch Ignorirung ber fo tief gehenden und fo weit geei- 
fenden Volksnuterſchiede, nicht Durch eine Verkehrung 
der Natnrorbnung oder ein Burkdffchranben der geſchich⸗ 
lichen Entwidelung hat das Chriſtenthum durch das Dt: 
gan der Kirche jene allumfaffende Gemrinſchaft ia der 
Menfchheit herbeiführen können, ſondern vielmehr kur 
dadurch, baß es ſich an die verſchiedenen Sudisibwetitk- 
ten fo innig als moͤglich anſchloß, ader nur mm fie u 
verflären und durch Hinwegräumung aller Selbſtſucht 
ans den Gemüthern fie um ſo felter gufammenzufuhließen ; 
nur dadurch, daß es die Menſchheit zu einer höheren imum: 
lichen Einheit erhob, wohel bie buch Die Naturorbunng 
und hiftorifche Eutwickelung nothwendig gemachten Mater 
fchiede immer noch fortbeflehen konnten, aber doch fe, 
daß Fe nicht mehr ald Ausflug und Ausdruck einer auf 
fündlihe Weife tfelirenden und trennenden Geldſtſacht 
in dem Bewußtfeyn der Böller wie der Individnen ſich 
ſchmerzlich fühlbar machten. Es geſchah dieß dur die 
Einführung eines neuen Lebeuspriscips in Der Mexrſch⸗ 
heit gu ihrer religiös⸗ fittlichen Wiedergeburt: objectiv 
durch Die Erfcheinnug. des Erlöfers in ber Perfon Ehriſti, 
ſubjectiv durch die Anerlennumg Chriſti ale des Ertöfers 
in der Kraft eines lebendigen Glaubens. 

Es drängt ſich hier ganz won ſelbſt bie Frage anf, 
wie ed möglich gewufen, daß wit ſcheinbar fo kleinen 
Mitteln fo Großes bewirkt worden ift, daß alle dyrifil- 
hen Rationen in eben dem Maße, als fie find, was fe 
heißen, obfchon fie in verfchiebenen Sprachen unb Zen 
gen reden, gleidiwohl wie Glieder einer Familie ſich 
fühlen, ein Herz; und eine Seele werden, gleichfam eine 
Sprache und Zunge reden, daß die Menſchheit trob ber 
durch tanfend Abftufungen fich Yindurcdhzieenden Ber 
Ifchiedenheit der geiftigen Bebürfniffe der Einzelnen, wie 
Diefelbe durch Stand und Alter, Beruf und Bildung, 
Schidfal und Beſitzthum, Geſetß md Sitte merhwendig 


ift der Rationaliemus fähig, eine Kirche zu bilden? 1069 


herbeigeführt wird, gleichwohl Wile im Ehriftenthuute Les 
ben und volle Genüge finden und von dem Evangelinm 
gerühmt werden kann, daB es Allen Alles geworden, kurz 
daß feit dem Eintritte des chriftlichen Lebensprincips im 
der Menfchheit alle Unterſchiede, eine wie weite Kiuft fie 
auch fonft wie zwifchen ben Individuen, fo zwifchen den 
Bölkeen ſetzten, allmäͤhlich in einer höheren Einheit aufgin⸗ 
gen, wie alle Diffonanzen burch das Genie des Tonkunſt⸗ 
lers fi in reine Harmonie auflöfen? Es hat (um fofort 
den Haupt⸗, oder vielmehr alleinigen Grund anzugeben) 
darin feinen Grund, daß Alles im Chriftentfum in ber 
lebendigen Perfſönlichkeit Ehrifii ben gemeinfamen 
und ewig unverrädbdaren Mittelpunft und eigentlichen 
Lebensheerd hat, daß Alles im organifchen Zuſam⸗ 
menhange mit dieſem Mittelpunfte eine coneret lebens, 
dige Geſtalt und innere Xriebkraft empfängt, daß bas 
Chriſtenthum nicht als eine Welt abfiracter Begriffe aufs 
getreten, fondern als eine thatſachliche Enthällung 
des göttlichen Heildrathfchluffes zur Erlöfung der Menſch⸗ 
heit, kurz, daB es feinem eigentlichen Wefen und feiner 
gefammten Erſcheinung nah Geiſt und Leben, und 
nicht bloße Lehre tft. 

Den Kern und Stern: bed Chriſtenthums bildet die 
in ber Weltgefchichte einzig Daftehende gottmenſch⸗ 
Liche Perfon Ehrifti, deffen Eintritt in der Menſchheit 
nnd gefammte Wirkſamkeit die unendlidhe Vaterlicbe 
Gottes anf die eindringlichfte, das Gemuth wahrhaft 
überwältigende Weiſe zur Erfcheinung bringt and in dem 
gerade das, was das MWeſen des Lebens in der Gemein, 
haft mit Bott ausmacht, in fo fonnenheller Klar,» 
heit, daß es auch nicht durch den leifeften Anhauch der 
Sünde getrübt ifl, und zugleich mit einer ſolchen innern 
Kraft fi darkellt, daß ed anf jedes Gemüth, wel- 
ches das Gottesbewußtſeyn nicht gewaltfam in fich nie- 
berhäft, auch eine mächtige Anziehungskraft auskbt. 

TL* 


1070 Diedrich‘ 


Wenn der Anblid des heiligen Lebens Jeſn in feiner Ge 
fanmterfcheinung einerfeitd auf dad Gemüth deu Eindrud 
tiefer Befhämung macht, weil die Reinheit feines göttlis 
chen Bildes ung vdgirce des eigenen wie einem lla⸗ 
ren Spiegel zeigt, fo gleichfam in ehrerbietiger Ferne 
fiehen zu bleiben gebietet, fo reißt es und auf der an 
deren Seite nach dem Gruudgeſetze, daß dad Berwanbt 
auch fletd das Berwandte anzieht, nur um fo umwibder 
fiehlicher: zu fich felbft hin, weil in ihm und mit einem 
Male jenes heilige Bild vor Augen tritt, bad wir au 
und felbft fo gern zur Erfcheinung bringen möchten, ob 
ſchon wir mit aller Sehnfucht ded Herzens und aller Au 
firengung der Kraft, fo lange wir uns ſelbſt überlafen 
bleiben, es an und zu verwirklichen unvermögenb find. 
Das Leben bed Heren if ein in allen feinen Thet 
len in volllommener Harmonie zufammen 
ſtimmendes Banze, es erfcheint in ihm Allee vom 
erften bis zu dem leuten Augenblide durchdrungen vou ei 
nem und demfelben Geifte vollenbeter Gottes⸗⸗ uud Men 
fchenliebe, es ift Alles der gleihmäßige Ausdrud 
einer über der ganzen WMenfchheit erhaben baftchenden, 
von der Sünde erlöfenden gottmenfchlichen Berfönlichkeit. 
Darum ſtellt fi die Perfon Ehriſti gleich in ihrer un 
mittelbaren Erſcheinung jedem nicht verbärteten und 
irgendwo einen Anfchließungspuntt darbietenden Gemüthe 
als den Erlöfer der. Welt dar, wie die Soune durch bie 
ihr innewohnende und von ihr ausgehende Strahlenfühe 
fich ganz von felbfi al die Himmelsquelle des Lichte er 
weifet, welche fle ift; darum ift der erfie Eindruck, den 
der Anblick der heiligen Perfönlichkeit Chriſti macht, für 
dad unverdorbene Herz ganz ˖ derſelbe, ald wie er fid 
ausfpricht in den Worten des Philippus: „Wir haben 
den gefunden, von dem Mofe im Geſetze uud die Pre 
pheten gefchrieben haben ;” und wenn irgendwo, fo bat 
bier Schiller’ Wort feine Gültigkeit, Daß es dem 


— 


ift der Rationaliemus fähig, eine Kirchezu bilden? 1071 


Bortreffliden gegenüber Feine Freiheit gibt 
ald die Liebe. Jener unmittelbare Eindruck findet 
nun aber in jeber weiteren, detaillieteren Betrachtung 
feine volle Beflätiguug und erhebt die Ahnung des 
Herzens zur freudigftien Gewißheit, Der unmittelbare 
Glaube will auch auf dem Wege der Reflexion feiner 
feld gewiß werden, in der zlerıg liegt ein mächtiger 
Zug zur yvacıs bin, aber die legtere wird, fall fie nicht 
auf Irrwege fich verliert, immer nur das erfte urſprüng⸗ 
liche Lebensgefühl in feiner Wahrheit aufweifen und dem 
Glauben uur neue Stüßen unterbauen, weil Chriftus ale 
denfelben, ald welchen er im Ganzen feines Lebens 
fich erweifet, fi auch in jedem einzelnen Theile defs 
felben darftelt, nämlich als die welterlöfende Per: 
föntichfeit, Seine Wunder zeigen ihn gleichfam 
fhon von Kerne als den von Gott verheißenen und 
von Gott in der Fülle der Zeit gefandten Heiland der 
fündigen Menfchheit, wie etwa die hochragenden Zinnen 
unferer Tempel und die weithin fchallenden Glodenfchläge 
fhon in der Ferne dem Wanderer verkündigen, wo er 
ein Gotteshaus finden kann; jene außerordentlichen, fo 
ftart in die Augen fallenden Thatfachen und Begebens 
heiten zwingen und gleichſam, unfere Blide immer wie 
der auf die Perfon Chriſti zu lenfen, und reizen ung, 
näher zu treten und zu forfchen, was aus Nazareth Gu⸗ 
tes gefommen, da wir der Frage nicht ausweichen können: 
„Wer ih der, dag ihm Wind und Meer gehorfam find?” 
Und wenn das. Wunder wie ein Brief und Siegel fiber 
feine göttliche Sendung ihn und auf Außerlichshiftos 
rifhem Wege beglaubigt, fo koönnen wir feiner anch 
auf dem Wege lebendiger innerer Erfahrung 
gewiß werden: fein Wort fpricht burdh Die innewohnende 
Kraft der Wahrheit mächtig zu jedem Herzen, dad den 
Stimmen der Wahrheit fich nicht muthwillig verfchließt; 
in. feinem Wandel ſtellt fih uns das Urbild eines volls 


or2 Diedrich 


kommenen, heiligen Lebend vor Augen; ans ſeinem Lei 
Den und Sterben weht und ber Geiſt einer Gott uud 
Menſchen verföhnenben Liebe wie ein heiliger Lebensodem 
an, und macht und in den inuerfien Tiefen unfered Ber 
müthed gewiß, daß Gott mit ihm und Allied gefchentt 
bat, was bie höchſten Bebürfniſſe bed Herzens fordern; 
‘in feinen Sacramenten befiben wie bie Unterpfänder 
für feine bleibende perfönlide Gegenwart nad 
fortgehende erlöfende Wirkſamkeit. So wit 
Alles harmoniſch zufammen, um es und zur mmzweile- 
haften Gewißheit zu machen, daß er allein der ik, anf 
den alle vorangegangenen Jahrhunderte hofften, in dem 
alle Geſchlechter gefegnet werben follen und ber Allen Le⸗ 
ben nnd volle Geuüge geben ann. 

Aber wenn nun bie gottmenfchliche Perſörlich⸗ 
keit für alle einzelnen Individnen eine foldye Bebentung bat, 
fo folgt baraud mit Nothwendigkeit, daß fie auch eine ges 
meinfhaftfliftende und firhenbildbeude Kraft 
haben mäfle. Was die Fähigkeit in fich trägt, Alle an ſich 
zn ziehen und mit fich in Gemeinſchaft zu bringen, Das wirb 
eben darum ganz von felbfk der Berührungd- uud Ein 
heitöpuntt für Ale Wie in einem Kreife alle Ro 
dien, wie weit fle auch in ber Peripherie von einander 
abfiehen mögen, gleichwohl in dem Centralpunkte zuſam⸗ 
mentreffen, fo können ungeachtet aller die Einzelnen trew 
nenden Unterſchiede gleichwohl afle Völker uud Geſchlech⸗ 
tes aller Zeiten fidy in Ehriſto zu einer großen Gemein 
Schaft einigen, weil tn feiner lebendigen Perfönlichkeit 
fidy Alle finden, fich ein Alle anziehender und eben darum 
auch Alle in fich zufammenfchließender Mittelpunkt dar: 
bietet. Ja es iſt gar nicht denkbar, daß es einen Er⸗ 
löſer ohne eine Gemeinde der Slänbigen, ein CEhri⸗ 
ſtenthum ohne eine Kirche geben könne. Was inner⸗ 
lid zuſammengehört, das findet ſich auch Aw 
berlich nud tritt ganz won ſelbſt zufammen; 


ift der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1073 


was das Gepräge Ehrifi geiftig an fi trägt, 
das wird fih aus freien Stüden um ihn 
fhaaren; was feine Stimme hört, wird fich 
auch unter ſeinem Hirtenſtabe zu einer Heerde 
ſammeln. Selbſt daunn, wenn wir aunehmen wollten, 
Shrikus habe gar nicht beabſichtigt, eine äußere Kirchen⸗ 
gemeinschaft unter deu Menfchen zu fliften, ſelbſt dann, 
wenn wir nicht in der Anordnung gemeinfamen (Gebete 
und fortwährender Prebigt bed Evangeliums, in ber 
Stiftung der heiligen Taufe und des heiligen Abendmah⸗ 
les, in der Einfeßung des Schlüflelamted und einer yon 
ihm ſelbſt in fo beftimmten Zügen gezeichneten Ueberwa⸗ 
chung des Gemeindelebens die ungweibentigften Zeichen 
hätten, daß es ihm nicht um ein ſchlecht hin innerli⸗ 
ches und unfichtbares Reich Gottes, fondern auch um 
eine fichtbare und als ſolche fofort erkennbare religiöfe 
Bemeinfchaft zu thun war: fo würbe eine foldye aus Dem 
angebeuteten Grunde felbft ohne jene von ihm ſelbſt herr 
rührende Grundlage gleichwohl ind Dafeyn getreten ſeyn 
und ſich auch in der Menfchheit erhalten "haben: Die 
Kirche iR die nothwendige Lebensform für die chriftliche 
Welt, wie der Staat die nothmendige Lebensform für 
die fich ſelbſt Überlaffene Menfchheit if. 

Aber Alles ändert fich, fobald man, das Gebiet eis 
ned poſitiven Offendarungsglaubens verlaſſend, auf dem 
Boden eines bloßen Vernunftglaubens eine fo umfaflende 
religioſe und- in fich fo genau gegliederte Gemeinfcheft, 
wie die Kirche if, gründen will. An die Stelle einer le⸗ 
bendigen Perſönlichkeit tritt Daun die abſtracte 
dee; an die Stelle felbfiredenber hiftorifcher Thatſachen 
ein Subegriff von gewiflen Dogmen und meralifchen Bor» 
fhriften, Die chriſtliche Religion ift dann, objectin bes 
trachtet, ihrem Urfprunge und Weſen nadı nicht ein in 
einer lebendigen Perfönlichkeit zur Erfcheinung kommen⸗ 
bes und von ihr aus die ganze Menschheit ergreis' 


107& Diedrich 


fendes Lebensprincip, fonbern im Brunde nichts als Lehre, 
ſubjectis betrachtet, nicht Glaube, der geſchichtliche 
Thatſachen zu feiner fehlen, unverrädbaren Baſis hat, 
fondern Ueberzgeugung ans bloß imnern Gründen anf 
dem Wege der bloßen Refleriongewonnen. Mag man unter 
der Vernunft den durch bie verfchliedenen Syſteme als 
feine nothwendigen Entwidelungsfiufen ſich hindurchbe⸗ 
wegenden allgemeinen Menſchengeiſt vwerfichen, 
wie der höhere fpecnlative Rationaliömus, oder, ohne id 
anf eine tiefere Unterfuchung des Weſens der menfdli- 
chen Bernunft einzulaflen, Dabei fliehen bleiben, das, was 
Die erleuchtetfien Geiſter aller Zeiten gemein 
fam ale Wahrheit erfanntund gelehrt haben, 
ale Erzeugniß der echten Dernunft zw bezeichnen: immer 
tritt auf dem Standpunkte einer bloßen Bernunftreligien 
die Perfon des Neligionsftifterd eben fo fehr in den 
Hintergrund, ald die Lehre in den Borbergrumd, und 
confequenterweife bleibt dad Wefentliche einzig und 
gllein Die Lehre — eine Folgerung, der fidy auch der ge 
wöhnliche theologifche Rationalismus nicht damit entziehen 
kann, baß er fidh der Philoſophie gegenüber rühmt, nicht 
bloß die Lehre, fondern auch das Borbild Chriki ange 
erfennen; denn das Borbild Ehrifti gilt ihm ja ner ale 
thatfählidhe Belehrung, ed gehört alfo auch nuter 
ben Begriff der Lehre, und das Lebendig « Eoncrete 
hat alfo auf jenem Standpunkte niht ale ſolche s, fon: 
dern nur ald zufällige Erläuterung uub Ber 
anfhanlihuug der abfiracten Idee, ald Er 
empel zum Moralgebote feinen Werth. 

In dem Maße nun aber, ald ein Syſtem deu rei» 
giöfen Glauben mit Ausfcheidung des Hiſtoriſchen als 
ded bloß Zufälligen auf die bloße Idee als das allein 
Nothwendige gründen will, wirb feine Unfähigkeit zunch- 
men, die Menfchheit zu einer alumfaflenden religiöfen 
Gemeinfchaft zu vereinigen Nie wird es einen größe 


iſt der Rationalismus:fählg, eine Kirche zu bilden? 1075 


ren Erfolg erringen, als hödhitend den, daß es eine phi⸗ 
loſephiſche Schule oder innerhalb der Kirche eine Secte 
bildet. Die Gefchichte Ichrt es unwiderfprechlich,, daß 
es immer nur eine fehr Meine Anzahl von Menfchen iſt, 
welche in den Geift und Inhalt eines philofophifchen 
Syſtems einzubringen vermag. Auf dem Wege eines 
kindlich einfahen Glaubens Tann man ſich ber 
phllofophifchen Idee nicht bemächtigen: fie will auf dem 
Wege fireng wiflenfchaftlichen Denkens errungen und ers 
arbeitet fegn. Auch hier gilt das alte Wort: „Im Schweiße 
deines Angeſichts ſollſt du dein Brod effen.” Wer nicht 
die Kraft in fi fühlt, dem Meifter den hohen Fing des 
Gedankens nachzuthun, der kann auch nicht fein Jünger 
feyn ; ein philofophifches Syſtem laßt fich nicht in wer 
nigen Lehrfäben wie ein fertiges Object nieberlegen, ſo 
daß num nicht® weiter als das logifche Berftändniß jener 
Säge und Annahme ihres Inhaltes nothwendig wäre; 
ed ift vielmehr die organifche Entwidelung einer Grund» 
idee, und wird nur dann unfer Figenthum, wenn wir 
daſſelbe nach dem inneren Zufammenhange feiner Theile 
und der nothwendigen Mbleitung des Einen aus dem Ans 
dern erfaßt und fo einen lebendigen Dentproceß durchge⸗ 
macht haben. Mit einemmale fih an’d Ziel zu. flellen, 
ohne den Weg Schritt für Schritt durchlaufen zu haben, 
ein Philoſoph feyn zu wellen, ohne philofopbirt zu has 
ben, wäre ein baarer BWiderfpruch: ja man könnte fagen, 
ed ift den Philofophen oft mehr zu thun um das Phis 
lofophiren, ale um das Philofophbem, mehr 
um dad Streben nach der Wahrheit, als um 
den Befiß der Wahrheit). 
Diefe eigenthümliche Befchaffenheit jedes philofophis 
fchen Syſtemes einerfeitd und die unendliche Verſchieden⸗ 
heit. der eingelnen Individuen hinſichtlich der Fahigkeit 


a) Welche wohl bleibt von allen ben Philofopbieen ? Ich weiß nicht; 
Aber die Philoſophie, hoff’ ich, foll ewig beſtehn.“ Schiller. 


⸗ 


ara Diedeich 


sum ſyſtamatifchhen Denken andererſeits And bie heiben 
ewig bleibenden und ewig wirkſamen Facte⸗ 
ren, welche mit Nothwendigkeit ſewohl inverhalb der 
philoſophiſchen Schule, als and zwiſchen ihr und dem 
übrigen Theile der Menſchheit einen Bruch herbeifüh⸗ 
ven. Innerhalb der Schule ſelbſt wird es theils Solche 
geben, welche das einzelne Syſtenm nach Priucip, In⸗ 
halt und Form ſich vollſtaͤndig anzueignen, ſich auf bie 
Höhe deſſelben zu ſtellen, ja noch über dieſelbe zu erhe⸗ 
ben im Staude find, theild Solche, welche umz die mas 
terieiken Beſtandtheile bed Syflems im Allgemeinen 
zu erfaßßen vermögen, ohne is das inngge Getriebe und 
Gefüge eine tiefere Einfiche zu gewinnen, ja welche ok 
felat nur die XZerminologie des Syſtemes fi au 
eignen wiflen, und daher eigentlich nicht mehr auf dem 
Boden des Spſtemes, fondern nur Dicht am feiner 
Grenze ihren Stand haben. Durch jede philoſophi⸗ 
ſche Schule zieht fih daher von Anfang an ein Riß hin⸗ 
durch, ber ſich unausbleiblich zum Unterſchiede von Eſe⸗ 
terttern und Eroterilern erweitert. Alle Uebrigen 
Dagegen — und dieſe werben ſtets ber Zahl nad eine 
ungeheure Majorität bilben — werden gar feinen Ber 
fuch machen, dem Syſteme näher zu treten, weil fie fid 
bemfelben oöhig fremd fühlen, oder, wenn fie ben Ber 
ſuch gleichwohl machen wollten, mit den Worten: „pre- 
cul este, profeni!”’ von den eigentlichen Vertretern des Sy 
ſtemes zurüchgewieſen werden müſſen. 

Wenn nun aber in dieſer Beziehung jedes philsfe 
nhifche Syſtem durchaus einen particwlarikifchen 
Charakter hat, weil ed als. feldyes dem Bollsbemuptfeyn 
ftetö fremd bleiben und daher immer nur einen Pleinen 
Kreis verwandter Semüther um fidh verfammein wirb, fe 
fönnte dieſem Mebelflande doch vielleicht dadurch abge 
holfen werden, daß das philoſophiſche Syſtem feiner ei⸗ 
genthümbichen Einkleidung ſich entaͤnßerte und eine Ein 


iſt der Rationalismus fähig, eine Kürche zu bilden * 1077 


führung ſeines wefeutlichen Inhaktes in das Volls⸗ 
bewußtieyn anf dem Wege gemeinfaßlicher Darſteluug 
verfachte. Die ſtolze Königin könnte won ihrem erhas 
benen Throne beramserfieigen und Knechtsgeſtalt aunch« 
men, die Philoſophie — Popularphiloiophie werden: dann, 
meint man, würhe Die Philoſophie einen fo Meinen Berein, 
wie eine philoſophiſche Schule fey, zu eimer fo umfaſ⸗ 
feuden Bemeinfchaft, wie die Kirche ſey, allmählich heran 
wachſen fehen. Un derartigen Berfuchen, die Phileſo⸗ 
phie zu popularifiren, hat es nun allerdinge wicht gefehlt. 
Richt bloß damals, ald die fantifche Philoſophie in vol⸗ 
leg Blüthe Hand und Schiller frhrieb: 
Wie doch ein einziger Meicher fo viele Bettlen in Nahrung 
Setzt Wenn die Könige baun, haben die Kaͤrrner zu thun, 
ſondern aucd in unferer Zeit hat Ban es gefehen, daß 
felbft die Philoſophie, welche fidy brüftet,, die „abfolnte” 
zu feyn, fich für möglichkt weite Kreiſe in ein populäres 
Gewand kleidete, ja daß fle feibft in brieflicher Form 
bem Franengeſchlechte zugänglich ‘gemacht werden ſollte. 
Mein dabei wird nicht in Anfchlag gebradkt, daß in dem 
philofophifchen Syſtene Form und Inhalt einam 
der fo genau durchdringen, daß die Alteres 
tion der erfiern auch eine Alteration des letz— 
tern if. Es verhält ich mit jedem echt philoſophiſchen 
Spfeme wie mit einem Kunſtbauwerke: wer das innere 
Befüge oder die and ber Idee des Gauzen hervorgegans 
genen Berzierungen antaftet, ber wird nur ein Gebände, 
aber fein architeftonifhes Wert, ja zuletzt nur 
noch eine Steinmaſſe oder einen Trümmerhaufen übrig 
behalten. Dber, um bei dem von Schiller gebrandhten 
Bilde zu bleiben, zu Kärruern ſinken bie Könige herab; 
wenn die Philofophen zu Popnlarphilofopten werden: 
Die Meifter der Philoſophie haben es baher unummnun⸗ 
ben ausgeſprochen, daß. die Popularphilofophen nur noch 
mißbrauchsweiſe fih Philofophen nennen aber fo 


\ 


1078 Diedrich 


genannt werden könnten; fie haben ed geradezu ver 
fehmäht, ihre Lehren in andern als in Sreifen verwand⸗ 
ter, ja völlig ebenbürtiger Geiſter verbreitet zu fehen; 
es hat fie wicht geläftet nach dem Ruhme, eine Kirche 
in der Menſchheit zu ſtiften; fie haben ſich begnägt mit 
dem Ruhme, das Haupt einer philoſophiſchen Schule zu 
feyn. „Die Philoſophie darf nie vergeflen,” fo wird den 
Popularphiloſophen entgegengerufena), „daß fle ihrer Ratur 
nach efoterifh if, daß bie Wahrheit immer mu 
das Eigenthum Weniger feyn kann, weil fie nicht atö 
fertige Münze von einem Dritten überkommen, fondern 
gefucht, erlebt, errungen feyn will. Unter bie urtheilloſe, 
an die Scholle gebundene Maſſe geworfen, wird be 
edeifte und höchſte Gedanke ebenfo zum Zerrbilbe werben, 
wie ein griechifches Bötterantlig, wenn man es ſich in 
einem Hohlſpiegel brechen läßt.“ 

Es iR num allerdings zuzugeben, daß die Philoſophie, 
auch ohne die Vermittelung der Popularphiloſophie m 
gewöhnlichen Sinne des Wortes, in taufend Ninnen 
und Bächen Zugang zum Bollöbewnptfeyn zu fenden weiß. 
Bermöge der vielfachen Berfchlingungen des wirklichen 
Lebens erſtreckt fi der Einfluß der Philoſophie wicht 
bloß auf die, weiche ihren Lebensheerd in den einzelnen 
Soſtemen zunächft umfichen, fondern and, über wiel wei. 
tere Kreife, und wenn die letztern ihr zu ferne ſeyn ſol⸗ 
ten, als daß fie ihnen belebende Wärme zuſtrömen laſ⸗ 
fen könnte, fo vermag fie vieleicht doch noch ihr Licht 
ihnen. aus weiter Kerne leuchten zu laffen; ja es koͤnnte 
die Philofophie eben fo unmerklich, wie die Atmoſphaͤre, 
worin wir athmen, ihren Einflaß aud bie auf bie uw 
terfien Bollsrlaffen ausdehnen, ohne daß diefe ein Be 
wußtſeyn bavon hätten. Allein felb® in biefem Falle 

könnten wir noch nicht die Kolgerung ziehen, daß bie 
a) So leſen wir in Schwegler’s Jahrbüdern ber Gegenwart 
1844, Juliheft, ©. 688. 


\ 


iR der Kationalis mus fähig, eine Kirche zu bilden? 1079 


Philoſophie eine kirchenbilbende und erhaltende Kraft in 
fih trage. Denn die Kirche ift ja ein lebendiger Or⸗ 
ganiemus, in dem ber Einzelne nur danı wahrhaft 
und bleibend eine Stelle einnehmen kann, wenn die Seele 
bes Ganzen fih in feinem Eingelbewußtfegn auch wirk⸗ 
lich fühlbar macht. Wenn wir daher auch der Phi⸗ 
lofophie den ansgedehnteften Einfluß zugefichen können 
uud müſſen, fo kann biefelbe gleichwohl nicht für bie 
Menſchheit einen gemeinfamen Berühruuge- umb 
Einigungspunfe bilden, weil ihre Einfluß fi im 
Bewußtſeyn der Einzelnen nicht ald folder fühlbar 
macht. Wenn ed unleugbar ift, daß in ber großen Mafle 
des Volks die Philoſophie fo wenig ald befiimmenbes 
Moment für das religiöfe Bewußtſeyn der einzelnen In⸗ 
dividuen empfunden wird, ald der Name eines philoſo⸗ 
phifchen Syſtems oder feines Urhebers ihuen befannt if, 
wie follte man erwarten können, daß Alle wie in gemein; 
ſamen Drange fih ganz von ſelbſt um dad Panier eines 
philofophifchen Syſtems fchaaren uud zu einer in fich feſt 
geglieberten und lebenbig ſich bethätigenden Gemeinſchaft 
sufammentreten follteu ? 

Auf einem andern Wege hat nun der nicht-fpe> 
culative Rationalismus das Ziel zu erreichen gefischt, 
das biöher uur das Chrißenthum in ber Form eines po⸗ 
fitiven DOffenbarungsglaubens erreicht hat. Die Unfähig⸗ 
feit eines einzelnen philofophifchen Syſtemes, bie Meuſch⸗ 
beit zur Berwirflihung des Gottedreichd auf Erden im 
kirchlicher Gemeinſchaft zu vereinigen, geficht er zu, aber 
unvermögend, ſich zu dem Standpunkte einer philoſophi⸗ 
fchen Betrachtung zu erheben, auf dem alle einzelnen 
Spftieme nur ale flüffige Momente und nothwendige 
Durchgangspunkte des allgemeinen Menfchengeifteö gelten 
und nur im Ganzen ber Entwidelung ihre eigentliche 
Stelle und Bedeutung finden, hat er den Weg eines 
philoſophiſchen Eklekticismus eingefchlagen, um 


008 ° . Diredrich 


eine Art allgemein verſtänbliches und allgemein gültiget 
religionsphilsſophiſches Glanbdensſsbekenntniß heransp⸗ 
bringen. Er ſtellt ſich auf den Standpunkt des gefunden 
Menſchenverſtandes, nnd ſtillſchweigend von der Behaup⸗ 
tang ausgehend, daß in ber Hauptſache die erlenchteten 
Geiſter aller Jahrhunderte eins geweſen feyen, ſtellt er 
Mm einer Summe von Glanbensſaͤtzen und moraliſchen 
kehren das zufammen, was ihm die Beſten aller Zeit ge 
meinfam zu haben fcheinen und als allgemein güftiger 
Ausdrud des gefunden Menfchenverftandes gelten könne 
und 'mäffe. Die Unmwiffenfchaftitdjleit eines ſolchen Ber 
fahrende HE namentlih in der Zeit, wo Hafe einem ber 
Haͤnpter des rattonnaliftifchen Syſtenns den Fehbehanbiceh 
hinwarf, Ihlagend dargethan worden. Schon darkter 
würde fofort der Streit emtbreunen, wer zu jenen „en 
lenchteten Geiftern ” zu rechnen fey und wer nicht. Gchen 
in dieſer Beziehung find ja bie Urthetle fekbſt gebilbe: 
ter Männer einander diametral entgegengefebt. Den 
Spinoza hat die hegel'ſche Schule mit der Philofophen 
krone gefhmüdt, während die Männer ber Anfklerunz 
des vorigen Jahrhunderts von ihm nur wie von einem 
„tödten Hunde” «) redeten; den Jakob Böhme wollten | 
Campe und Anbere ins Irrenhaus gebracht wiffen, wäh 
rend jeßt won ihm gerühmt wird, daß er auf dem philo⸗ 
fophifchen Dreifuße geſeſſen Bade w. f. w. — Und wie 
dürfte man num hoffen Pönmen, daß ein von trrikumt: 
fähigen Menſchen aus den Schriften irrthumsfühiger 
Menſchen sufammengelefened Glaubensbekenntniß ale au 
Thentifher and allgemein gälfiger Audbrud der Wahr 
Heit anerfannt werde? Leber Fichte's Verfuch, in ge 
meinfaßlichen Borträgen das Wefenfliche der Religien 
zu entwickeln, dat Hegel mit ſchneidendem Gartadmud 
geäußert, „es fe eine Religion für anfgeffärte Juder 


a) Schon Leifing in feinem befannten Gefpräe mit Jacobi äußert: 
darüber feinen Unwillen. 





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ift der Rationalismus fählg, eine Kirche zu bilden? 1081 


und ldlamen, Far Staatörliche, für Kotzebue und feines 


Gleichen.” Rohres Grund⸗ und Glaͤmdensſatze ſind — 
mit Ausſnahme einer Retenſion, deren Berfüffer in feinem 
Enthuſiaſsmus ich allerdings bereit. evlärt hat, fich für 
jenes rationaliſtiſche Slaubensbekenntuiß det Kopf ab 
ſchneiden laffen gu wollen a) — von ber öffentlichen Kri⸗ 
tie überall zurligerwielen und felu von foichen Männern, 
die ihre Lanze fonft gern für den Rationalismus einlegen, 
für eime Mißachtung des rarionalififchen Principo erflärt 
worden. Aber nicht bloß die Männer, welche auf den 
Höhen bei philofophifchen Bildung fielen, würden ſich 
losſagen von einem Glaubensbekenntniſſe, das auf der 
Grundlage des gefunden Menſchenverſtandes nach dem 
Ermeſſen eines Einzelnen oder Etlicher wie eine Anthos 
logie aus den Schriften der erlenchtetſten Deuter aller 
Zeiten zuſammengeſetzt wäre ,. fondern ſelbſt alle biejenis 
gen, welde im bewußtern Denken auch wur ben erfien 
Anfang machen, and welche man wohl unter dem Ramen ber 
fogenannten ‚gebildeten Stände” zuſammenbegreift, wers 
den fi auf Die Dauer rin folhes Glaͤubensbdekenut⸗ 
niß nit gefallen laſſen. Denn den Urhebern deſſelden 
gegenüber betrachten fie fih als Solche, die mit ihnen 
ganz auf einer Linie ſtehen; mit deuſelden Dachte unb 
unter beimfelden Namen der menfchlichen Vernunft, under 
welche jene bad Blandensbelmutuig aufgeſtellt haben, 
wärben fie ed ganz verwerfen ober nur theilmeife aner⸗ 
Tenten; fie würden Teine Garantie haben, daß jenes 
Glaubensbekenntniß auch wirklich das Bepräge der Wahr⸗ 
heit am ſſch trüge, und würden fräber ober ſpaͤter wicht 
verfehten, Neber auf eigene Hand fl ihr Gaudensde⸗ 
kenntniß zu mechen, flatt es ans freuder und doch im⸗ 
mer auch nur menſchlich er Hand entgegenzunchwmen. 
Geſetzt z. B., ver Rationalismuo ſchritte DAgR fort, ſtatt 


a) Siehe Haſe, theologkſche Streitſchriften, S. 29, 





1082 Diedrich 
der Bibel, worin auf feinem Stanubpunkte Wahrheit und 
Dichtung, Gefchichte und Mythe fo gemifcht iR, daß es 
erſt eines langen kritiſchen Scheidungsproceſſes bedarf, 
um das, was wirklich chriſtlich, d. h. vom Ehriſto ber 
rübhrend iſt, herauszufinden, ein Buch zu verfaſſen, das 
in der Weife, wie die Bibel für das bifterifche Chriſten⸗ 
tbum, für fein eigened Vernunftſyſtem die urkaudlice 
Darfielung wäre: würde er — fo möchten wir fragen — 
in den Gemeinden Glauben finden? Würde fie and wohl, 
wenu etwa aus ber neuen rationaliflifchen Bibel der Pre: 
biger feinen Tert vorläfe, ehrerbietig ſich erheben, zum 
Zeichen, daß fle fi vor ber göttliden Wahrheit benge, 
wie es gegenwärtig noch in unferen Kirchen ber Fall if, 
weil die Gemeinde in dem Evangelium von vorn herein 
das Wort eines unträglichen gottgeſandten Lehrers und 
Propheten fieht? Nein, man würde nur hierarchiſchen 
Hochmuth und einen offenbaren Raub an bem allgemei: 
sen Menfchenrechte darin finden, wenn von einem Ein 
zigen ober von Etlichen ein Verſuch gemacht würde, bad 
Erzengniß ber eigenen Weisheit an die Stelle der Bibel 
zu fegen und ein Hoheitsrecht für fih in Anſpruch zu 
nehmen, das die Gemeinde gegenwärtig dem Erlöfer, 
aber (wohl gu merken) nicht als bloßen Menſchen, 
fondern ald dem eingebornen Gottesſohn um 
einigen Mittlerzwifchen Gott und Meufchen, zuerlennt, 
Es ſey und bier noch ein Rädblid auf bie Geſchichte 
erlaubt, Wollte man und nämlich entgegnen, daß es 
auch außerhalb der chriftlihen Welt umfaſſendere religiöfe 
Gemeinfchaften gegeben babe und noch immer gebe, ſo 
räumen wir bafjelbe bereitwillig ein, wir würden aber 
darin nur einen neuen Beweis finden, daß die abſtracte 
Lehre als folche nie gemeinfchaftkiftend gewirkt bat. 
Ueberall, wo eine in: der Geſchichte bedeutfame religiöfe 
Gemeinſchaft auch in der nicht hriftlichen Melt entkan 
den iR, knüpft fie ſich nicht an die abfkracte Lehre vos 


— — — — — A — 


iſt der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1083 


göttlichen Dingen, ſondern an das Auftreten großer, 
vermeintlich gottgefandter Perſonen, deren 
Lehre nicht ald ihre Lehre, fondern als bie Verkündi⸗ 
gung eimer höhern, vom göttlichen Weſen felbft mitge⸗ 
theilten Wahrheit angefehen wurde, Gonfucius, Zores 
after, Ruma, Mahomed — fie alle galten ihren Anhängern 
als gottgefandte und gotterlenchtete Lehrer. Und felbft da, 
we der Urſprung der Volksreligion fich nicht fo beſtimmt 
an einen einzelnen Namen knüpft, wie 3. B. bei ben 
Griechen, finden wir gleichwohl, daß es der Hande an 
eine heilige Geſchichte, nicht der Blaubs an bäoße 


abſtracte Ideen und Lehren war, weicher Die Menſchen 


zur veligidfen Gemeinſchaft führte; ihr gefammter Enultue 
ruht auf einer mythologiſchen Grundlage, d. h. auf 
heiliger Sage, wo nicht von hiſtoriſchem Grunde, bod 
biftorifcher Kaflung, und mit ihrer Mythologie ſteht und 
fällt ihre Religion, wie denn z. B. in der Zeit, wo die 
Sophiſten die religiöfen Sagen des MWolles angriffen, 
auch die Religion feldft in Verfall gerieth, 

Es bleibt uud am Schluſſe nun noch Abrig, dad Res 
ſultat unferer Unterfuchung auszuſprechen. Der philoſo⸗ 
phifche oder fpeeulative Rationalismus wird immer and 
uberall feine Anhänger in kleinern Kreifen oder Schulen 
fanmeln können, aber nie die ganze Menſchheit zu einer 
kirchlichen Gemeinfchaft vereinigen: er vermag bad Letz⸗ 
tere weder, noch will er es, und hat auch beides oft ge 
nug und unnmwunden audgefproden. Eben je wenig 
vermag es der gewöhnliche theologiſche Rationallsmus; 
denn wenn er auch die kehren des gefunden Menſchen⸗ 
verftandes in die weiteflen Kreife bed Vollslebens einzu⸗ 
führen vermöchte, fo würden doch alle ftreng fyſtematiſch 
denfenden, alle zu wiſſenſchaftlicher Eonfequenz fortſchrei⸗ 
tenden, d. h. alle in felbändig philoſophifcher Eutwi⸗ 
delung bed allgemeinen Menſchengeiſtes die höchfte Auf⸗ 
gabe findenden Kreife fi von ihm losſagen. Und wollte 

Theol. Sud, Jahrg. 1887, T2 


1088 °. Diedrich . 


er, wie ein Polyktates von feines Scloffed Ziunen auf 
das beherrfchte Samos, mit vergnügtem Sinne anf dad 
mit feinen zahlreichen Anhängern bevöllerte Gebiet von 
feiner Höhe herabfchauen, fo würden wir ihm getrof 
entgegen: „Biel. Köpfe und doch noch feine 
Kirche!” Es würde ihm nicht gelingen, Die Seinen 
durch das eigene Princip fih auf die Dauer getreu zu 
erhalten. Nur in eben dem Maße nämlich, ale der Ras 
tionalismus in Ehrifto nicht bloß einen neben andern 
großen Männern, fondern ben über ihnen Stehenden, 
auch über allen Philoſophen aller Zeiten Thronenden 
ehrt und, dem Worte: „Einer ift ener Meifter,” ſich 
mit größerer oder geringerer Berleugnung des Principe 
einer autonomen Bernunft fügt, wird er eine zuſammen⸗ 
haltende Kraft ſich bewahren können, Dagegen fie in eben 
dem Maße verlieren, als er nicht bloß in der Theorie, 
fondern.. auch :in der Praris fih von bem pofltiven Le 
beusgrunde des chriftlichen Offenbarungeglaubeng lo6reißt; 
denn in diefem Falle würde er zum fpeculativen Ratie⸗ 
nalismus ſich umgeſtalten, und jede kirchenbildende Fähig⸗ 
keit in ſich vernichten. Da nun in der Gegenwart trotz 
aller Irren und Wirren Doch immer unter ben Auhängern 
des Nationalismus fich ein befferer Kern findet, der in 
dem Erlöfer mehr flieht ald einen der erleuchteten Geiſter 
neben Hunderten und Tauſenden feines Gleichen, ber 
Ehrikum noch immer bat und hält, und wäre es and 
nur am Saume feines Kleides, fo können wir es 
auf der einen Seite nicht billigen, wenn ihnen von manchen 
zu eifrigen Vertheidigern des hriftlichen Dffenbarungsglan- 
bensbefländigzugerufen wird: „‚Ienua patet! exite foras,” 
weun man über alle ohne Unterfchied die Beißel 
fchwingen will, wie über offenbare Tempelfchänder, und 
au einer ‚gewaltfamen Ausſtoßung aus dem Heiligthume 
der Kirche Anſtalt gemacht zu fehen wüufcht. Auf der 


ik der Rationalismus fähig, eine Kirche zu bilden? 1085 


anderen Seite aber können wir mit der Warmung nicht 
zurücdhalten, daß der Rationalidmud, geflachelt durch 
fhon öfter laut gewordene Aufreizungen aus feiner .eiges 
neu Mitte, nicht Übereilterweife den Berfuch einer vol, 
ligen Emancipation von der beficehenden Kirche mache, 
Berführerifch genug klingt die Aufforderung, daß er fein 
Heer muftern, feine Köpfe zählen, feine Kräfte meſſen 
und dann der Kirche auf Tod und Leben den Krieg ans 
tündigen möchte, aber die praftifhe Ausführung einer 
derartigen Kriegserflärung würde ihm felbft ben Todes⸗ 
ftreich verfeßen; denn die Conſequenz würde ihn — wir 
wiederholen ed — in feiner gegenwärtigen halb philofos 
phifchen, halb sgläubigen Geftalt vernichten und ihn in 
einen rein fpeculativen Rationaliömus verwandeln. Es 
ift ein ſchwerer Irrthum, in wie weiten reifen er auch 
verbreitet feyn mag, daß unfere Zeit auch bald genug 
eine rationaliftifche Kirche fehen follte, wie fchon längft 
ein, rationaliftifche® Chriſtenthum beftehbt, wenn nur bie 
Fürften Muth bätten,. mit dem Schwerte die beftehende 
evangelifche Kirche zu zerflüden und die eine Hälfte den 
Dffenbarungsgläubigen, die andere den Bernunftgläubigen 
zu Überlaffen. Der gewöhnliche theologifche Rationalis⸗ 
mus hat vielmehr alle Urfache zu wünfchen, daß nie ein 
Fürft eine Zerſtückung, wie der König Salomo fle zum 
Scheine an dem von beiden Parteien in Anſpruch genom⸗ 
menen Kinde vornehmen ließ , in der Wirklichkeit an der 
Kirche vollgöge; denn er würde feines Beſitzes nicht lange 
froh werden; ed würde ſich das Trauerfpiel auf kirch⸗ 
lihem Boden wiederholen, das auf flaatlihem Gebiete 
im letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts in Krank, 
zeich aufgeführt worden if, als die Girondiſten a), die 
mit Gewalt begannen und mit dem Geſetz enden wollten, 


a) Thomas Garlyle in feinem Werke über die frangöfifche Staats⸗ 
ummwälgung nennt fie bie „Pebanten” ber —— 


1088 Diebdrich/ ik d. Rat. fähig, eine Kicche zu bilden ? 


im blutigen Kampfe deu conſequentern und energievollern 
Jakobinern erlagen. Es würden bald geung bie rabice 
leg Religions⸗ und Kirchenverbeflerer mit den Worten: 
@ib ums unfer Erbel fi erheben, und ber gemäßigte 
Rationalismus würde es früher ober fpäter erleben, baf 
er fein Haus nur ſchön ausgeſchmückt, ums ed einem 
fatfchen Freude als um fo bequemere Wohnung gu bins 
teraffen, daß er feinen Ader une beflelte, um Andere 
men zu fehen. Hier würde auf eine bem moderaten 
Rattenalistınd gewiß unerfrenliche Weile der Spruch 
wahr werden: „Der Eine fäet, ber Andere ſchneidet.“ 


Anzeige : Blatt. 


Bel en Derthes von Hamburg erſchien fo eben: 

Neander, Dr. A., Geſchichte der Pflanzung und Leitung 
der chriftlichen Küche durch die Apoftel. Ate ſtark veränderte 
und vermehrte Auflage. 2 Theile, mit einer von H. Kie 
pert neu gezeichneten Karte. 2 Blatt. gr. 8. hie. 4, 

Die Karte von H. Kiep ert ift auch einzeln zu Ber für 
Bei Friedrich und Undreas Perthes erfhienen: 

Meich, Georg, die Lehrfortbildung in der — ge 
teftantifhen Kirche auf dem Grund der Augebınge 
feſſion. Ein Verſuch als Beitrag zur Verſt — * 
die dogmatiſche Aufgabe der Gegenwart. gr. 8, geh. 24 Sgr. 

Serrmann, Dr. W. die fpeculative Theologie, in ihrer 
Entwidelung durch Daub dargeflellt und Fit — gr. 8. 
gebeftet. 18 Sgr. 

In — bringen wir: 

Botticher, W., prophetiſche Stimmen aus Rom, oder 
das Chrißliche im Tacitus der typiſch⸗ — 
Charakter ſeiner Werke in omg au a uf Roms Verhaͤlt⸗ 
niffe zu Deutfchland, gr. 8. 2 Zhle. Thlr. 3. W Ser. 

a Joh., nad gedrudten und ungedrudten Quclien 
von Sul. Hartmann und Karl Jäger. 2 Thle. FE Da 


Ebrenfeuchter, Friedr., Theorie des Tree Cult, 


gr, 8, r. 2. 75 Ser. 
enry, P., das Leben Johann Calvins. — Ausgabe 
Bo inden on 8. ’ ir. 10, 15 &gr 
Kleine —* in 1 Bd. gr. 8. » 4 
Das Portrait I. Calvins ap. » — 16 ; 


Klaufen, R. H., Aeneas und die Penaten, "Die itali⸗ 
ſchen Bolksreligionen unter dem Einfluß ber er 
ge. & 2 Bände mit 2 Kupfertafeln. Thlr. 


Köliner, ©. mbolit aller chriſtlichen Gonfeffionen. 
2 Bde, gr. 8, = — Thlr. 6. g0 Sn: 


Meier, die Lehre von ber Xrinität 2 Thle. gr. 8 
Thlr, 2. 5 Ser. 


Meher, I. A. G. NatursAnalogien oder die vornehmften 
deinungen des animalifchen Magnetlemus in ihrem 
Zufemmenhange mit den Ergebniffen der gefammten Ra; 
turwiflenfchaften, mit befonderer Dinficht auf die Stand: 
punkte, und Bebürfniffe heutiger Apeelene: t. 8, 
bir. 2. 33 Gar, 
Pelt, Dr. 4. Er. L., Theologiſche Encyclopädie als Sy⸗ 
ſtem im Zuſammenhange mit der Geſchichte der theologi⸗ 
(hen Wiſſenſchaft und ihrer einzelnen Zweige. gr. 8. 
Thlr. 9. A Egr. 
Neunchlin, Hermann, das Chriſtenthum in Frankreich in: 
nerbalb und außerhalb der Kirche. gr.B. Thlr. 2. 10 Sgr. 


—  Geichichte von Port:Royal. Der Kampf des 
reformirten und bed jefuitifhen Katholicismus unter 
Louis XII. u. XIV. 2 Bände. gr. 8, Thlr. 8, 


Schliemann, Ad., die Clementinen nebſt den verwandten 
riften und der Ebionitismus. gr. 8. Zhlr. 2. OO Epr. 


Wiefeler, K., chronologifche Synopfe der vier Evange 
| Thlr. 2. W Ger. 


lin, gr. 8. 


In unserm Verlag ist so eben erschienen: 


Maurer, F.1.V.D., Commentorius grammaticus cri- 
ticus in Vetus Testamentum, contin. A. MHeilig- 
stedt. Vol. IV. Sect. I. Oommentarius 
in Iobum. 8mai. 15 Thir. 

Etiam sub’ titulo: 

Meiligstedt, A., Commentarius grammat. crit. in 
Hobum. Smai. 15 Thir. 

Das Erscheinen der Fortsetzung dieses trefflichen Commentars 
nach fünfjähriger Unterbrechung wird den zahlreichen Besitzern 
der ersten drei Bände willkommen seiu; wir zweifeln nicht, dafs 
die schwierige Arbeit des Herrn Heiligstedt, durch gründliche 
Kenntnils der hebräischen Sprache und tiefe exegetische Stadien 
ganz besonders dazu befähigt, Anerkennung finden wird. — Die 
Xte Abtheilang dieses Bandes, den Commentar zum Hohenliede 
und dem Prediger Salomonis eathaltend, schliefst das Ganze und 
erscheint bis Michaelis 1847. | 
Vol. I— TII. kosten 8 Thir.s daraus wird 

einzeln verkauft: Jesaias 14 Thir.; Asechiel et Da- 
niel 3 Thir.; Hosea, Joel, Amos, Obadia 21 Ner.; 
er etae minores 15 Thir.; Psalmi 14 Thir.; 
verbia $& Thir. 8 
BBenger’sche Buchhandlung in Leipuig. 


". v wa 


Die Literarifche Zeitung if vom Anfang 1847 an in ben 
Verlag ber unterzeichneten Handlung übergegangen. Es erſcheinen 
wöhentli 2 Nummern, jede zu einem Bogen im größten Quart⸗ 
format, zum Preife von 5 Thlrn., au welchem fie durch alle Buch⸗ 
bandlungen und Poftanflalten bezogen werben kann. Ber biblio» 
graphiſch-krifiſche Theil wird über die neueflen literarifchen 
Erſcheinungen des Ins und Auslandes planmäßige und voll 
fländige Nachricht geben; außerdem werben von Zeit zu Zeit 
Ueberfidhten die Kortfchritte einzelner Wiffenfhaften 
in ihrer Gefammtheit beleuchten. Die erfien Rummern enthalten 
unter andern geößern Auffägen: Ueber oͤffentlichen Unterricht und 
gelehrte Schulen in Nord⸗Amerika. — Des Bürftlen Wallerſtein 
bayerfches Kirchenſtaatsrecht. — Ueber Wilh. v. Humboldt's pe 
tiſche Schriften. — Weber die Gymnafialbildung des geiftlichen 
Standes. — lieber die Bollandiſtiſchen Acta Sanctorum. 

Berlin. Buch⸗ und Kunftbandblung von 


3. Schneider u. Comp. 


In alleo Buchhandlungen ist nun vollständig zu haben: 
Biblisches 


- Realwörterbuch‘ 
sum Handgebrauch herausgegeben 


von 


Dr. Georg Bened. Winer, 
‚ Königl, Kirchenrath, Professos, Bitter u. 4. w. 


Dritte sehr verbesserte und vermehrte Auflage. 
Erster Band, 44 Bogen in gr. Lex.-8. Subscr.-Preis 84 Th 


Der 2te und letzte Band dieses wichtigen Buches erscheint 
noch im Laufe dieses Jahres. 


Bei Sulins Klinkhardt in Leipzig iſt fo eben erſchienen 
und an alle Buchhandlungen verfandt worben : 


Grundlinien ber evangelifhen Homiletik 


von . 
Licent. theol. Chrift. Gotth. Fider 
Pfarrer in a tb. Si a 

gr. 8. broſch. Preis 15 Zhlr. 


Infofern bier bie evangeliſche Homiletit als eine felbfilänbig 
chriſtlich⸗theologiſche Wiſſenſchaft behandelt iſt und unter ihr bie An: 
weifung verflanden wird, das aus der Schrift zu fchöpfende und 
nad) ber Schrift zu normirende Botteswort fo zu prebigen, daß da⸗ 
durch das Heil der evangelifhen Kirche überhaupt und das ber oͤrt⸗ 
lichen Gemeinde infonderheit gefördert werde, inſofern alfo in biefer 
Homiletit Diejenigen Momente, welche eine evangelifche 
Predigt bedingen, alfo die Schrift, die und Die 
Gemeinde, befondere Berüdfitigung gefunden haben, iſt auch 
bie Bedeutung diefer Grundlinien für den gegen gen Gtanbs 
punkt der chriſtlichen Theologie ausgeſprochen. 





— m ag mg 


Bet E. Anton in Dat iR fo chen wofchiucen usb in ollen 
Duchhandlungen au haben 
J. W X Wichellaus, de leremise versione alexandrins. 
geh. Preis 24 Sgl. 


Tod &v aAyloıg Ilargög 7 
ander kernel EIIIXXOIIOV MOTTYOTNOr 

üldygor zul dvargomig ın7s Yardand yescuas Prßlia airıı. 
SANCTI IRENABI Episcopi eg et rer detectioais 
st erorsionis falso re aguitionis sive contra omnes har- 
reses libri ge Accedunt tum emmia hucusque a Halloizio, 
Pfafio, Angelo ‚ Cramero, aliis, praes ertim ex Catenis MSS. 
eruta et edit tum inodita fragmenta. 

Textum Graecum et Leatinum nova Codicum MSS. Betavorum 
et Germemorem dollatiens emendevit, lectionis varietatem primum 
integram notarit; ex annotationibus et observationibus editis Nic. 
Gallasii, Billii, Frontonis Ducaei, Fr. Feu-ardentiüi, Grabii et Mas- 
sueti et ineditis Francisci Funü optimas elegit suasque insuper 
ediecit; locupletissimis glossarüs et indicibus hanc editionem illo- 
man! et uberiora Prolegomena addidit ; 

elpkun Stieren, 
Too — — Teac in Ifterarum unlversitate Ienensi Theob- 
docens, Societatis —E— Lipniendis andalis ordinarius. 

Zu a neuen ————— benugte ber Herausgeber außer bem 
von ihm ſelbſt verglichenen —— Codex Vossianus noch zwei 


” Manuferipte; mit weichem Serie, asüber gibt des Herausgebers 


eben erfchienene Abhandlung: de — Vossiano seu Barellieno, 
nähese Auskunft. Der griechiſche Text bed Irene iſt auch einer 
usbenugten Hanbfchrift des Epiphanius fougfültig weoikist. Aufen 
dem ib unebirte Obfervationen von Franciscus Junius benugt, In⸗ 
dem ich auf die bedeutenden Werbefferungen biefer neuen Ausgabe 
binweife, habe ich babei den befondern Zweck vor Augen, bie Ge 
lehsten vor dem Anlauf eines bloßen Zertabdruds nad den bishe 
rigen , ven heutigen Beduͤrfniſſen durchans aidyt mehr genügenben 
Ausgaben zu warnen. 

Der Drud diefer vortrefflichen nut: — raſch vor, und 
«8 wird dad Zenkere 9 getreue incfmile von Mamıktiple u. 1 m 
allen Anforderungen entiprechen. Pekeduseen nehmen bereits alle 
Buchhandlungen en. 

Leipzig, am 6. Aptil 1847. 

3. O. Weigel. 


Ya Verlag der H. W. Nitterihen Buchhandlung in Wiek 
baden if fo eben erſchienen: 


Predigten und Reben 


Gonftrmationem 


8.8. ‚Saulf, Sie Dem und Dforrer zu Wiesbaden. 
Pr. 1 Zi. 48 Rc. oben 1 Mihir, 





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