Skip to main content

Full text of "Theologische Studien und Kritiken : eine Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Theologie"

See other formats




Google 


This ıs a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before ıt was carefully scanned by Google as part of a project 
to make the world’s books discoverable online. 


It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover. 


Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book’s long journey from the 
publisher to a library and finally to you. 


Usage guidelines 


Google ıs proud to partner with lıbraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 


We also ask that you: 


+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 


+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text ıs helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 


+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 


+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users ın other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance in Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe. 


About Google Book Search 


Google’s mission is to organıze the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 


alhttp: //books .google.com/ 


Digitized by Google 











- 





[1 
[i er . 
r 
* ⁊ 
Pan N 
Due \ . e f > 
» i 
RER x R 
“ Fr 
Re — 
sen 5 
' 
hd \ x 
° | : 
‘ 
% 8 . . A r A 
. 
a ri R 
. * F ⸗ u 
gt — 
* as F 
⸗ 2 
N 
2 = ..°r x ı , | 
——— — 
at nd x Due Zu —— 
— EP 7 Sy ee en 
s%. IM — 
= 
5 * 
1 
2 r { . 
.. \ “u v.. 
Pa ” 
..r r Lie 
m mn r es h 
den 
— J 
F [3 ĩ 


wur 


. . 
‚ 
— 
⸗ 
en: 
* ” 
. B 
R 
a) 
« 
Al y 
er, 


m 


.. 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 


für 


das geſammte Gebiet der Theologie, 
in Verbindung mit 
D. Gieſeler, D. Luͤcke und D. Nitzſch, 


herausgegeben 


von 


D. €, Ullmann und D. F. W. C. Umbreit, 
Profeſſoren an den Univerfitäten zu Halle und Heidelberg. 





| 1834 
Siebenter Jahrgang. 
Zweiter Band. 


— — —— — — 
Hawmburg, 
bei Friedrich Perthes, 
1834 


Theologiſche | 
Studien um Kritifen 


Eine Zeitfhrift 


für 


das geſammte Gebiet der Theologie, 
in Berbindbung mit 
D. Giefeler, D. Luͤcke und D. Ritzſch, 


herausgegeben 


voR 


D. ©. ullmann und D. F. W. C. Umbreit, 
Profefioren an ben Univerfitäten zu Halle und Heibelberg. 





Sahrgang 1834 drittes Heft. 





Samburg, 
Hei geriedbrih Perthee 
183 4 








2 


1. . 
Eine proteflantifche Beantwortung der Sym⸗ 
| bolik von Dr. Moͤhler. 
- Bon | 
Dr. C. 3. Nitzſch. 


“ 


Dritter Artikel, von der Rechtfertigung. “ 





Seit Abſendung des zweiten Artikels habe ich die große 
Befriedigung genoſſen, welche Marheinek e's Recenſton 
der möhler’fchen Symbolik und die gegen daſſelbe Buch 
gerichtete Darftelung des Fatholifchsproteftantifchen Ges 
genfabed von D. Baur .einem nad anfrichtiger, gründ⸗ 
licher und Fräftiger Polemik verlangenden Leſer gewäh⸗ 
ren. Und zwar bat Hr. D. Marheinete auf alle vors 
liegende. Schlagpuncte des Streits mit fo ſichrer Hand 
getroffen, und Hr. D. Baur mit fo durchdringender Ges 
nauigkeit Das ganze Gewebe durchpruͤft und jeden Fa⸗ 
dens Unhaltbarfeit dargethan, daß ich mich gern zurück⸗ 
ziehen und meinen bieherigen Beitrag ald ein Bruchitüd 
das Seine wirken laffen möchte. Indeſſen erfenne ich 
wohl, daß es ja nicht bIoß auf Entkräftung eines indivi⸗ 
duellen Angriffs, fondern auf den damit zufammenhän- 
genden gemeinfamen Anbau ber Wiffenfchaft ankommt, 
und will deßhalb, da ich einen andern Weg der Berhands 
823 * 


482 | Nitzſch 


lung eingeſchlagen habe, auch ferner, was ich noch Eigen⸗ 
thümliches beizutragen weiß, nicht unterdrücken. 

Den erſten Anlauf gegen die proteſtantiſche Lehre 
von ber Rechtfertigung nimmt Hr. D. Möhler mit dem 
fühn hingemorfnen Vorurtheile: unfer Begriff von der 
Rechtfertigung fey zu äußerlich, unfer Begriff von der 
Kirche zu innerlich. Nämlich die Gerechtigkeit Ehrifti 
findet der Gläubige außer ſich, das ift ein zu äußerliches, 
und bie Kirche ift die Gemeinfchaft der Heiligen, ber 
Slänbigen, das ift ein zu innerliched. Ein Proteftant 
dürfte fich Dagegen dad Verhältniß fo worftellen: die rö⸗ 
miſchkatholiſche Lehre von der Kirche gelangt eben deßhalb, 
weil fie nicht von dem Innern ausgeht, zu dem Innerli⸗ 
chen gar nicht; der proteflantifche Begriff von der Rechte 
fertigung aber ift nur in foweit äußerlich, als es äußerlich 
heißen kann, fic im Glauben auf Gott zu richten, aus Dem 
Gefühle des eignen Werthes und Vermögens herans und 
auf die Gemeinfchaft des Herren im Glauben einzugehen. 
Denn in der Subfectivität, ale Glaube und als die im 
Glauben zugeeignete Gerechtigkeit ift die Rechtfertigung 
doch innerlich genug, und unterfcheibet fich gerade in dies 
fer Snnerlichleit von dem, was die Theologie der Geg⸗ 
ner unter bemfelben Worte verficht, von ber bloß Außer, 
lichen Aneignung Durch Dad Sacramtent der Taufe. Nicht 
der Glaube ift Iaut dem teienter Decrete die coausa in- 
strumentalis iustificationis, fondern dag Sacrament 
des Glaubens, die Taufe. Und alle Gegenfüge beider 
Kirchen, die es in dieſem Artikel gibt, beruhen wieder 
daranf, daß die Fatholifche ſich die Heilsordnung nach den 
Momenten bes Firchlichen Lebens, alfo von Außen her 
eonftruirt a). Bon Außen her kommt ed, daß man vor 


a) Apol. Aug. Conf. art. 2. bemerkt daher Melanchthon: Adversa- 
rii nasquam possunt dicere, quomodo detur spiritus sanctus. 
Fingunt sacramenta conferre spiritamsanctum, 











proteflant. Beantwort. d. Symbolik v, Möhle. 483 


der fides ald fiduria (Exovres zugonclaen Hebr. 10, 19.) 
erſchrickt, denn Die fiducia fcheint den Chriſten zu ſelbſtſtaͤn⸗ 
Dig, nämlich zu unabhängig vom Schlüffel zu machen; 
von Außen ber, daß die Buße aus den drei uncoordinir⸗ 
baren Dingen, Zerkuirfchung, Mundbeichte und Genng- 
thuung des Werks befichen fol; das Vorgewicht bed äu⸗ 
Berlichen macht ed, daß Das Sacrament ex opere ope- 
rato wirkt, und daß der Glaube, der fich auf das Wort 
ber Berheißung unmittelbar hinrichtet, im Grunde gas . 
ignorirt ober mır als Die ganz gemeine Vorausſetzung Der 
Rechtfertigung behandelt wird. Gemahnt durch die Re 
formation haben ſich allerdings die Väter von Trient ber 
mähet, die Heildorbuungsbegriffe wieder mit dem göttli 
chen Worte in der heiligen Schrift und mit dem chriftlis 
chen Bewußtſeyn zu verfnüpfen; fie haben mit ftarfer 
Betonung gejagt, fides est initium, fundamentum, radix 
instificationis und dergleichen, aber immer bingugefiigt, 
„weil nihtohne den Glauben Gottgefälligfeit und Ser 
tigkeit zu erlangen ifl.” So füllt ihnen der Glaube immer 
wieber in das bloß Präparatorifchezurüd. Sie hielten ſich 
an den Standpunct der Scholaftifer, deren Lehre von ber 
Heilsordnung auch ihrer ganzen Faſſung und Stellung 
nad) nur Sacramentslehre iſt. Den Scholaftitern ließ, 
mochten fie auch noch fo wenig pelagianifch gefinnt feyn, 
das Firchliche Leben in feiner ganzen unantaflbaren Be⸗ 
ſtimmtheit nichts andres zu, ba es nicht Die Hebung, Ver⸗ 
mittelung, Erfcheinung des chriftlichen geblieben, fondern 
das Geſetz Ehrifti, Ber Weg des Heiles felbft geworben war. 
Wenn man wiflen wollte, was Befehrung und Buße fey, 
mußte man es ans der Kirchenbuße, wie fie allmählich ſich 
geitaltet hatte, begreifen: die unendliche Verwirrung und 
gänzliche Unbeftimmtheit, in welche die Begriffe von poe- 


ex opere operato, sine buno motu accipientis, quasi res vtiosa 
sit. donatio spiritus s. 


nitentis, satisfaetio, bona opera, remissio peccatorum, 
fides, iustificatio, poena gerathen find, rührt eben baher, 
daß die Scholaftit fie aus dem kirchlichen Thun und Leis 
den ſich entwideln wollte und mußte, fo daß einem jeben 
folchen Begriffe Das Aeußerliche angeboren blieb, welches 
ſich num, je nachdem es nöthig fchien, dem Innerlichen 
vor⸗ beis und unterordnete. Die bloße Gefchichte ber 
Kirchenbuße von Tertullian bis zu Tebeld Ablaßprebigt 
reicht zum Beweife hin, daß, wenn einmal der Begriff Der 
Kirche vom Aenßerlichen anfängt, auch ber Begriff ber 

Nechtfertigung und der ganzen Heilsorbnung ein äußerli⸗ 
cher werden muß. In diefer Beziehung darf man behanps 
ten, ber erfte unb entfchiedenfte Bekämpfer des Pelagius, 
Auguftinds, hat den Pelagianismus befördert. Achtet 
man nämlich auf die Anfänge und Vprfpiele des Syſtems 
der Aeußerlichkeit, wie es von den Scholaftifern ausgebil⸗ 
bet worben ift, fo wird man fle immer in Auguftin’s An⸗ 
fichten und Ausdrücken finden. Er fchon hat die Kirchens 
buße Dogmatifirt, er fchon den feligmachenden Glauben 
als Annahme des Fatholifchen Lehrbegriffs fich gedacht. 
Das aber hat er nicht bemerken können, daß er in dieſer 
Richtung auf das Aeußerliche, ohne es zu wollen, bie 
Kirche berfelben Werk» und Tugendlehre zuführte, vor 
welcher er fie fo Fräftig gewarnt hatte. 

Jetzt fragt es fi) aber, wie Hr. D. M. die Aeußer⸗ 
lichkeit des proteflantifchen Begriffs der Nechtfertis 
gung verftehe und erfläre. Glauben wir ihm, fo hat fie 
ihren Grund vornehmlich in der mißverftanpnen Sprache 
des Alterthumd. „Die Alten pflegen bie Form, in wels 
cher das Innere in bie Erfcheinungswelt tritt und nach 
Außen fich offenbart, für das Innere felbft zu feßen, weil 
biefes in feiner Form verborgen zu Tage gefördert wird.’ 
Man merke fidy dieſe Obfervation genau, und höte nun 
bie Anwendung. „Wenn daher im alten Bunde bie 
Rechtfertigung des Menfchen durch und vor Gott in ber 





proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 485 


Form einer menſchlich⸗ richterlichen Thätigkeit vorgetras 
gen ift, alfo eines bloß. äußerlichen Freis und Losſpre⸗ 
chens, fo ift es der größte Serthum und Beweis einer Uns 
bekanntſchaft mit der Denk⸗ und Sprachweile des Alter 
thums, wert man nicht zugleich an eine innere Befreiung 
und Ablöfung vom Böfen denkt.” Alfo, fügt der Bf. bins 
zn, hätten einen Gerhard fchun Die Menge ber von ihm 
eitirten und aus der Gerichtsfprache hHergenommenen Vor⸗ 
ftellungen der Schrift, Richter, Tribunal, . Klüger, Hands 
fchrift, Anwalt ıc. belehren follen, daß fie theilweife eine 
bildliche Bedeutung haben müflen. Hoffentlich nimmt jeber 
Lefer den Nechnungsfehler wahr, den hier Hr. M. fich zu 
Schulden kommen läßt. Errechnet folgendermaßen. Eins 
und Eins, nämlich Sache und Bild oder Sache im Bilde 
thut Zwei; nun aber Eind von Zwei, oder bas Bild vom 
Sache Bild abgezogen, bleibt — Zwei, nämlich bleiben 
zwei Sachen: Seit wann rechnet man wohl fo? Das gött⸗ 
liche Handeln wird im Alterthume im Bilde des menjchlis 
chen, 3. B. im Bilde bes menfchlichen Gerichtswefens vor» 
geftellt. Wohlan! dieß gefchieht in alter und neuer Spras 
che, und Gerhard hat auch ſchwerlich geglaubt, daß 
der vernichtete Schulöbrief in Pergament eriftirt habe. 
Wenn wir uns nun bie mannichfaltigen Borflellungen vom 
richterlichen Handeln Gottes entfinnlichen und den Bes 
griff von diefem Handeln gewinnen, fo muß bad Facit 
Doch eben im Begriffe vom göttlichen Richten in feinem 
Unterfchiede vom menfchlichen oder in feiner Einheit mit 
Diefem beftehen. Unſerm Verf. fcheint es anders. Die 
Borftellungen vom göttlichen Eosfprechen geben, went 
fie entfinnlicht werden, den Begriff der göttlichen Reini⸗ 
gung des menfchlichen Willens, oder vielmehr den Dops 
pelbegriff ber Sündenvergebung und der Heiligung. 
Gott fpricht den Sünder los, das heißt, D er erläßt ihm 
die Strafe, und weil dieß etwas zu Außerliches wäre, 
wenn es für ſich ben Inhalt der Vorſtellung ausmachen 


ass Ritſh 


ſollte, 2) er macht ihn vom Boͤſen ſelbſt los. Iſt denn etwa 
die göttliche Sündenvergebung nichts für ſich, oder das 
bloße Bild von der Heiligung, ober auch dann etwas bloß 
änßerliches, wenn fie dem Glauben zu Theil wird, wenn fie 
das Gefühl der Kindfchaft und Unfchuld wirft? Nein. Sie 
ift felbft nach D. M. ein zugleich innerliches, aber Fein folches 
Innerliche, welches nun auch ein befonderes Außerli- 
ches in der biblifchen Borftellung an fich hätte, Der Miß⸗ 
verftand ber biblifchen Lehrart ift alfo auf Seiten des 
Verfaſſers. Denn die Befreiung von der Sünde ſelbſt 
fanı ber Natur der Sache nach nimmermehr unter 
bem Bilde bed richterlichen Handelns vorgeftellt wer; 
den ; überhaupt kann ein und daffelbe Bild nicht zwei Sa⸗ 
chen und nicht das vorftellen, was es eben gar nicht vor⸗ 
ſtellt. Etwas ganz anderes wäre ed, wenn der Verf. bes 
hauptete: die Schrift fondert, was gar nicht zu fondern 
iſt, oder im wirklichen Seyn nur mit Dem zuſammen fegn 
kann, was durch die Vorftellung noch ausgefchloffen bleibt. 


Darauf wäre denn zu erwidern: was aber nothwendig 


zufammen ift, ober was nothwendig aus einem andern 
ober auf ein andres folgt, das hat eben deßhalb das Recht 
von biefem anderen ald das erfte oder zweite unterſchieden 
zu werden. Die Auskunft, welche von der ernefttfchen 
Schule über die vocabula oeconomiae salutis und iiber Die 
Aemter Chrifti gegeben wurde, gewährte der Dogmatik 
eine nur einfeitige Berichtigung. Die mechanifche Theis 
lung war nun befeitigt, aber an die Stelle des Vielen ein 
bloßes Einerlei gefegt. Ein ähnliches ift e8 mit der Syno⸗ 
nuxymik der Worte dınnoöv, xudapl£sv, teAsoüv, ayık- 
few, &noAovav; fie lehrt, daß mit jebem die Ganzheit und 
Allgemeinheit des ethifchen Heild ausgedrückt werden kann, 
und Doch nicht weniger, daß jede Diefer Vorftelungen,-von 
einem befondern äußern Berhältniffe hergenommen, auch zu⸗ 
nuchſt einembefondern Momente der Erlöfungzugehört. Wie 
Könnte es auch anders ſeyn, da bie Schrift eben fowohl wie 





proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 


bas Bewußtſeyn das Hell bes Sünders nicht bloß im Ges 
genſatze des Unheils oder des unerlöſten Zuſtandes, ſon⸗ 
dern auch als ein in ſich mannichfaltiges, ſich entwickeln⸗ 
des erkennen läßt, und zuweilen wie 1 Cor. 1, 30. coyple, 
duxaıosvvn, Kyınanös, anoAdzgmass, ober Röm. 8, 30. u. a. 
eben die Folge und den Entwidlungsgang zum Gegens 
ftande ber Lehre macht. Auf's allernothwendigfte muß 
fich der Unterfchieb der heiligenden und rechtfertigenden 
Gnade dann heraugsftellen, wenn es eben in der Ratur der 
Sache liegt, daß jene diefe zu ihrer Vorausſetzung habe, 
und daß eben Niemand anders als durch die geglaubte 
Gerechtigkeit Die Ögrechtigleit ber Liebe erlange oder durch 
bie Rechtfertigung, welche individuelle Berfühnung ift und 
an fich nicht® weiter ift, ber Heiligung theilhaftig werde. 
Noch ganz abgefehn vom Dogmatifchen Werthe des beibers 
feitigen KRirchenbegriffe darf man ber proteftantifchen Lehr⸗ 
art eine viel vollfommenere Angemeffenheit zum biblifchen 
Sprachgebrauche zufchreiben, als der fcholaftifchen, wels 
che weder ihre Anfchließung an die lateinifche Vermittlung 
des griechifchen und hebräifchen noch ihre außerhalb ber 
eregetifchen Theologie gewonnene Ausbildung verleugnen 
kann. Die Suftification ift nad) dem tridentinifchen Sprach« 
gebrauche Sündenvergebung und Heiligung oder Erneues 
rung des inwendigen Menfchen, fie ift auch absolutio und 
iustificatio, damit ganz vorzüglich das poſitive Montent 
der mitgetheilten Gerechtigkeit hervortrete; in der Juſtifi⸗ 
Cation werben die Berdienfte des Leidens Ehrifti mit 
getheiltz in der Zuftification die fides, spes, charitas, — 
Gerechtigkeit eingegoffen — wenn nun demnach di- 
scoov a) im N. T. erklärt wird, fo ift nicht abzufehn, wie 


a) Ehryſoſt. noch richtig: dlnaov dropalveıw. Auguftin aber, auch 
hier das Organ des Latinismus, verwirret, obgleich er den Gedanken 
mehrentheils richtig faßt, den Spra & gebraud. Indeſſen 

- denkt erfid) de spir. et lit. Cap. XVI. noch beides, 1) quid enim 
est alind iustificati quam iusti facti 2) aut certe.ita dictum est 


J 


488 | Nitzſch 


die Bibel verſtanden und eine Theologie des Paulus aufs 
geftelt werden fol. Bellarmin war natürlich in dem⸗ 
felben Mißbrauche der Bibelfprache befangen, wenn er von 
dem Mannichfaltigen gegen Calvin fprach, was ſowohl 
zur Ssuftification wie zur Seligfeitgehöre, und erhatte vom 
Worte Suftification jet abgefehn nicht fo ganz recht ges 
gen jenen Neformator als Hr. D. M. S. 99.2. A. voraus: 
feßt, wenn erihn mit den Säßen, beati immaculati in vis, 
qui ambulant in lege domini n. f. w. widerlegen wollte, 
Denn der Kanon des nicht ausgefchloffenen Andern kommt 
Den weit mehr zu Gute, der von bem Fundamente bes 
Heild, ald dem, ber vom abgeleiteten Helle fpricht. Daß 
ber Gilaube das fundamentum, die radix fey, erkannte Die 
Synode von Trient an, nur gar nicht, daß die Suftiftca- 
tion, fofern fie mit dem Glauben gepaart wird, eben auch 
nur das Fundament und Die radix des empfangnen Heiles 
abgebe, und fo Fonnten Feine fchriftmäßigen Lehrmweifen 
entftehen. Das aber würde Bellarmin nimmer fich ers 
laubt haben, wie unfer Df. zu behaupten, Die göttliche Lo s⸗ 
fpredhung von ihrem Anthropomorphismug befreit, fey 
eben die Losmachung von der Sünde felbft, wenn er auch 
noch fo fehr im Worte Juftification beides, absolutio und 
sanctificatio fuchte. Nach dieſer Berhanblung über Worte, 
die zwar ſchon fachlich ift, Sa wir den wichtigern Fras 
gen näher treten. | 

Nur noch Das vorläufige urtheil über die Reforma⸗ 





iustificabunturac si diceretur iustihabebuntür, de- 
putabuntur. Er erläutert ben Doppelfinn mit sanctificare, wel⸗ 
ches auch in sanctificetur nomen tuum anders zu nehmen fey, als 
fonft. Dagegen Op. imp. c. Iulian, II. iustificat Deus impium 
non solum dimittendo, quae male fecit, sed etiam donando cari- 
tatem, quae a malo declinat et facit bonum. Hier iſt caritas 
Dei (Röm. 5, 5.) falſch aufgefaßt, nämlich als active Liebe der 
Gerechifertigten, und daher der ganze ſich durch das Mittelalter 
binziehende Irrthum. 


7 





peoteftant. Beantwort. d Eymbolik v. Möhler. 


toren berühren wir,: welches. ©. 82. d. 2. A. ausgesprochen 
iſt, indem. wir fonft die einleitenden Abhandlungen, bie 
durch die Erörternng der Erbfiinde ſchon hinlänglich bes 
antwortet. find, auf ſich beruhen laſſen. Ueberhaupt, 
meint d. Vf., wollte es den Reformatoren nicht gelingen, 
der aus dem Geifte des Menfchen unvertilgbaren Idee der: 
Zurechnung, worauf Kant fogar den feiner Anſicht nach 
einzig möglichen Beweis des Daſeyns Gottes gründete, 
in ihrem Syſteme eine haltbare Stelle aufzufinden.” ch 
willed den Kennern der Fantifchen Philofophie üherlaffen, 
fich mit der wunderlichen Notiz, Kant habe. den einzig möge 
lichen Beweis des Dafeynd Gottes auf die Idee der Zu⸗ 
rechnung gegründet, zurecht zu finden; ich fiir mein Theil 
glaube, daß es mit diefer Notiz ohngeführ eben fo ficht, 
wie mit ber daran gefnüpften Behauptung. "Denn fo wie 
es Kanten nie beigefommen, als es ihm noch um einen fol- 
chen . einzig möglichen Beweis zu thun war, an bie Zur 
rechnung zu denken, fo iſt es auch den. Reformatsren nie 
mißlungen,. eine Surechnung zu lehren. Freilich haben fie 
dieſe Lehre nicht zur Zerftörung, fondern. zum. Hebel der 
Verſoͤhnungs ⸗und Reditfertigungsbegriffe gebraucht, freie; 
Lich haben fie fie nicht son dem Magifter, fondern aus dem 
Worte Gotted hergenommen. Sie haben nicht mit den 
Gegneru Zurechnung ber Sünde gelehrt,;wo fie die Sünde 
felbft nicht ftattfinden fahen, Feine adamitifche Schuld dem 
Menfchen aufgeladen, der. nur für ſchwach und matt hätte 
gehalten werden müſſen, fie haben nicht zugerechnet zur 
Gerechtigkeit vor Gott, was überhaupt nicht ift oder was 
keine Geſinnuug, fondern ein empirifches Thun ifl, eben 
fowenig,.was in al feiner objectiven Wohlgefälligfeit noch 
fubjective Eitelkeit und Ungerechtigkeit. an ſich hat; fte ha⸗ 
ben nicht von Rechten und Berdienften de‘,congruo oder 
condigno geredet, wo von Gnade und Vergebung aus⸗ 
ſchließlich zu reden war; aber fie haben die Sünde, bie 
thätliche ſowohl als die des Antriebes und der Kichting, 


er ::* 


Die laͤßliche ſowohl als die tödtliche, Dem Geſetze gegenüber 
mit größrer Strenge als ihre Gegner zugerechnet; fie ha= 
ben fich nicht mit. den. überfchüffigen Keiftungen und ſtellver⸗ 
tretenden Berdienften fo ganz und gar verrechnet wie biefe, 
fie haben aber Die göttliche Vergeltung und die Beziehung 
des göttlichen Lebens auf göttlich zugefagte Belohnung 
vollfommen und fo fehr anerfannt, baß fie bier fich fogar 
den Begriff des Verdienſtes gefallen laffen 9. Deßuns 
geachtet flimmen Luther und Melanchthon bem Hrn. Dr. 
gewiffermaßen bei, wenn er die unvertilgbare Zurech⸗ 
nungswahrheit gerabe ihrem Glauben entgegenftehen ficht. 
Naͤmlich daß der Geiſt der pelagianiſchen Scholaſtik ber 
Welt. zwe andern Natur geworben fen, und. daß die Welt⸗ 
weisheit unerleudhter vom Worte Gotted auf ber institia 
logis et rationis beftehen und bie justitia Christi et fidei ner» 
tennen müfle, daran hat Enther b) den Agricola, Dies 
lanchthon c)- Die Gonfutatoren nächdrücklich erinnert. 
Abſichtlich genug führt Hr. D. M. eine gelegeuntliche 
Aeußerung Luthers über Das Gewicht des: Dogmars von 
der Rechtfertigung an — „fällt aber die Lehre, ſo iſt es mit 
uns gar aus” S. 11. 2. A. -; Ba wäre es, er er bie 
oe der Kirche felbft, 3. B. RB: 
. Art; Sehm. P. II. Rom, 3, 24, statuimus ; hominem per 
Adem iustificari absque operibus legis. De.hoc artioula ce- 





a) Apol. IH. Docemus bone opera meritoria esse, non remissionis 
peecutorum, gratise aut iusificatienis (kaec etiim tantamı frde 
., copsequimur) sed aliorum ‚praemiorum corperalium et spiritun- 
lium, i in hacvita et post hanc vitam, quia Paulns ingäit: unus- 
quisque recipiet mercedem iuxta suum laborem. — Mit der 
Sache, wenn auch nicht mit der Ausdrucksart — alle Stimmen bes 
Pproteſt. Bek. einverſtanden. Baer: 
b) Ep. 1522, do Wette III. 137. — Mondus et ratio non capit, 
quam sit cognitio ardua, Ghristum esse iustitiam nostram : ita ope- 
‚ram opinio nobis incorporata, agnatague et innaturata est. 
c). Apol, III. non ignoramus, guantum haec ‚doctrina a iadicio ra- 
tlonis et legis’ abhorrest. —⸗ 


| 


proteſtant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 491 
dere aut aliquid contra illum largiri aut permitiere nemo 


. piorum potest, etiamsi coelum et terra corruant. — Et in 


hoc articulo site sunt et consistunt omnis, quae contra pa- 
pam, diabolum et universum mundum in vita nostra er 
mus, testamur et agimus. — 

Helv. min. 12. in omni evangelica doctrina — ae 
praecipuum hoc ingeri debet, sola nos dei misericordia Chri- 
stique merito servari etc. Bohem. 6. Et hic sextus arti- 
culus (de iustificatione per fidem sdlam) apud nos omnium 
maxime principalis .habetur, ut qui totius Christianismi sc 
pietatis summa est — proinde eum nostri omni diligentis et 
studio tractant — Sol. Decl. 3. Hic autem articulus de iusti- 
tia fidei praecipuus est (ut Apologia loquitar) in tota dootrina 
ehristiana — fid} und Andern recht vor Augen geftellt. Sie 
würden ihn an die umumgängliche Nothwendigkeit erin⸗ 
nert haben, wenigſtens in Rüdficht dieſes Dogma’s, ftatt 
fih in den Tiſch⸗ und Gelegenheitöreden Luthers zu 
ergehen, die Bekenntniffe felbft fprechen zu laſſen. Was 
die Rechtfertigung durch ben Glauben und ihr Verhälts 
niß zur Heiligung anlangt, erklärt fi die Kirche von 
Anfang fo ausführlich, beftimmt und umfichtig, daß ſchwer⸗ 
lid, eine Einwendung vom Stanbpuncte ber Gegner aus 
gemacht werben dürfte, die fie nicht vorgefehn und aus⸗ 
drüdlich befeitigt hätte. Sogar die kurzen anglicanifchen 
Artikel, die doch KI— XV. fchon alle Puncte umfaffen und 
das congruum und die supererogatio treffend abweifen, bes 
rufen fich in dieſem Kalle auf die ausführlichere Homtlie 
de iustificatione. Das vierftädtifche, helvetifche, franzöftfche, 
fchottifche Bekenntniß füllt befriedigend aus; ber Haupts 
grund, der biblifche Wort unds Sachgrund ift deutlich hers 
vorgehoben, und bie Eigenthümlichleit, mit der hin und 
wieder Die Wiebervereinigung bes getrennten iustus und 
sanctus vollzogen wird, entgeht dem fchärferen Blicke nicht, 
ebenfo wenig der Verfuch, die Ordnung des angeeigneten 
Heil im Ganzen darzuftellen. Allein die zugleich polemi⸗ 

Theol, Stud. Jahrg. 1834. 


m RG 


ſche und in biefer Hinficht ganz voliſtündige Darſtellung 
rritt in dieſer Reihe wicht, wohl aber in den drei claſſi⸗ 
(chen Abhandlungen, Augsb. Bel. 20. vergl. der ab- 
usue der Kloftergelübde, Apel. art. II. und HI. und Daclara- 
tio Thorunensis VIII. de gratia hervor. Die Augsb. Conf. 
begnligte ſich nicht, da, wo fie die einfache Darſtellung 
chviſtlicher Lehrſatze beabſichtigte, art. IV— VI., das rich⸗ 
tige Verhaältniß von der Rechtfertigung zu ihren Mitteln 
und Früchten vorgeftellt zu haben, fonbern wiberlegte in 
bbren eigend gegen. vulgüre Berleumbungen gerichteten 
Sätzen XVHI-— XKL dur den zwanzigſten, Den man 
nach Dem dentſchen authentiſchen Terte bei Tittmann les 
fen muß, Dad Borgeben der fittlichen Abſpammung Der 
Menſchen durch die evangelifche Lehre, indem fie in zwei 
unterfchiebenen Ansführsngen, theils Die dynamiſche, pracs 
tifche- Natur des Glaubens, theild Die wit Dem Glauben 
erſt gegebene Möglichkeit, Nothwendigkeit, Wahrhaftigkeit 
der guten Werke in's Ficht ſtellte. Sie machte Babei ſchon 
Die Bemerkung: „Solche unnöthige Wert (Walfarten, 
Feiern, Faſten, Yrüderfchaften, Indulgentien) rümet auch 
unſer Widerpart nm nicht mehr fo hoch als vor Zeiten, 
wiewoll fe dennoch ihre Irthumb nicht bekennen ıc.” Nach⸗ 
dem num bie Eonfutation den Standpunct des Streits 
möglichft verrückt, und einen Schwarm von bibliſchen Stels 
len aufgeboten hatte, um die Nothwendigfeit uud Uns 
verwerflichteit der guten Werke, bie Niemand in Zweifel 
gezogen, zu beweilen, damit aber zugleich die Verdienſt⸗ 
lichkeit derſelben zur Erwerbung der Sündenvergebung zu 
erſchleichen: wickelte Melauchthon den ganzen Streit in 
Der Apologie von Neuem fo vorfichtig und forgfältig ab, 
daß Fein moralifchen oder bibliſches Moment der gegen 
überftchenden Lehren umerörsert blieb, Wur ließ er hin 
und wieder eine gewiffe Unbeflimmtheit nicht ſowohl ber 
Sache abs der Worte mstificatio und regeneratio Abrig, ein 
Fehler, ben bie Suncorbienformel verbeſſerte. Diefe hatte 


proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 493 


über Rechtfertigung in zwo Beziehungen zu ſprechen, in 
Bezug auf die Trennung der göttlichen und menſchlichen 
Natur in der Bewirtung der Rechtfertigung und im Ges 
genftande der gläubigen Vorftellung, zugleich auf die Tren⸗ 
nung ber Losfprechung ımd Rechtfertigung, von welchen 
beiden Dingen in der oftandrifchen Streitigfeit Die Rede 
gewefen war, und dann in Bezug auf Die nun ſchon feſtge⸗ 
ftellte tridentinifche Lehre. Sene Trennungen wurben mit 
hinreichenden Gründen für bie Einheit wieber aufgeho⸗ 
ben ;- alle Simultaneität oder Succeffion des Glaubens 
und der Liebe, oder Der Gontrition und Gonfeffion in S as 
chen der Redtfertigung fchroff und fcharf abgemien 
fen, und dieß anf eine folche Weife, daß wenigftens bie aus 
genommenen Formeln den lebendigen Zufammenhang der 
Sündenvergebung und Erneuerung, ober ber zugerechne⸗ 
ten und inhärirenden Gerechtigkeit nicht mehr recht erken⸗ 
nen ließen, und die Gefahr entftand, ben rechtfertigenben 
Glauben trog den häufigften Broteitationen, die man des⸗ 
falls einftreute, zu theoretifch zu faffen. Nicht ohne Grund 
behauptete Daher Die Declaratio Thorun., ohne dem Pros 
teftantifchen Dogma damit etwas zu vergeben, eine iustitie 
inhaerens int ben Gerechfertigten, wofür fich ſchon aus dem 
früheren Befenntniffen mandjes anführen ließ, — Die Deel. 
Therun., die auch in dieſem Puncte einen Schlußftein des 
proteftantifchen Symbolums bildet, indem fie nod) eins 
mal in acht gefchloßnen Sätzen die Ordunng bed anzueig⸗ 
nenden Heils entwidelt, und dann in achtzehn ausführlis 
cheren die Darüber beflehende Controvers theild vermittelt 
and löft, theils fchärft und beftätigte. Aus Feiner von 
diefen apologetiſch-poleniſchen Quellen, ges 
fhweige ausihrem Zufammenhange, hat Hr 
M. die Darftellung unfrer Nedtfertigungse 
lehre geſchöpft; er hält fich an einige Zeilen der Gone 
corbienformel, bie gerade fagen, Daß bie Gerechtigkeit as 
Ber uns fey, und führt weiter den erften noch nicht poles 
38 ° 


494 Nitzſch 


miſchen Artikel der Augsb. Conf. an. Wollte er aus den 
Privatſchriften Luthers und der Andern ſchöpfen, ſo mußte 
er es wenigſtens mit Vollſtändigkeit thun. Luther antiquirt 
das Geſetz und thut es mit der Schrift, er ſtellt es aber 
auch feſt, und thut es wieder mit der Schrift. Die äußer⸗ 
ſten Behauptungen Luthers, die Hr. M. in leichtem Trium⸗ 
phe aufführt, mußten allerwärts und nicht bloß S. 
160, mit den Erklärungen über die erſte Epiſtel Johannis 
und anderen zufammengehalten werden, dann war er zu 
verftehen. Durch Die Methode des Hrn. Vfs. ift nicht nur 
nicht die Wahrheit der proteftantifchen Xehre, fondern auch 
nicht die wirkliche Schwäche der erften proteftantifchen 
Lehrart an's Licht gefommen. Hr. M. faßte den Protes 
ſtantismus als religiöfe Schwärnteret, ald Abneigung gegen 
das Sittengefeß auf. So fonnte er zu feiner begründeten 
Kritit gelangen. . Der Proteftantismug eines Melanchthon 
- war fich innig und lebhaft bewußt, daß den Glauben als 
den einzigen Canal und Leiter des geiftlichen Geſundheits⸗ 
Stromes geltend und Fenntlich machen, nichts anders fey, 
als das Reich Gottes, Unfchuld und Liebe bauen, und daß 
alles dieß, rechtfertigende Gnade, Ehriftusglaube, Wort 
und Sacrament, ohne Berdienft gerecht werden, nur Mittel 
fey zu einer mehr als Firchlichen, mönchifchen, zu einer wahrs 
haftigen Gerechtigkeit des Himmelreichs zu gelangen. „Dars 
um”, fagt Melanchthon, „werden wir gerechtfertigt, daß wir 
als Gerechte gut zu handeln und dem Geſetze Gottes zu 
gehorchen beginnen. Darum werden wir wiebergeboren 
und empfangen den heiligen Geift, damit das neue Leben 
neue Werke habe, neue Gefinnungen” ıc. Apol. Koethe 
S. 122. Das ganze proteftantifche Lob des Glaubens gilt 
der wahren göttlichen Liebe. Und Die Philofophie ver Sittlich⸗ 
keit hat dieſes große, in der Geſchichte Des Proteftantismus 
nicht unbewährt gebliebene, Moment der wahren Rechtfer⸗ 
tigungsichre bis hieher zu erfennuen und zu fchäßen ges 





proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 495 


wußt a). Die Symbolik, wenn fie zu einer gültigen Kris 
tit werden wollte, mußte von der in beiden Gonfeffionen 
anerfannten Wahrheit des ausfchließlichen Heils in der Ger 
meinfchaft Chrifti ausgehen, und nundie Gegenfäße erfens 
nen und beurtheilen: hier mehr Jacobus, dort mehr Paulus, 
bier mehr Würdigung des Entwidelungsganges, dort mehr 
des Wendepuncts, hier mehr Gewicht der Heiligung, dort 
mehr der Sündenvergebung, hier Gleichzeitigkeit und Iden⸗ 
tität der Losfprechung und Erneuerung, dort Sonderung 
und Folge. Die Wiffenfchaft wenigftend konnte feinen ans 
dern Weg einfchlagen, wenn der Streit auf Grundlagen 
Des Rechts und Friedens geführt werden follte. Es blieb 
Dabei dem Verf. unbenommen, wenn er es vermochte, dars 
zuthun, daß die eine ober andere Richtung wahr durchge⸗ 
führt in die andre hinüberführe oder ben Unterfchied aufs 
bhebe, und baß diefer Erfolg nur auf Seiten der römiſch⸗ 
katholiſchen Intel ligenz anzutreffen ſey. 

Will man den polemiſchen Theil der reformatoriſchen 
Lehre beurtheilen, ſo kommt es nicht darauf an, ob die 
Reformatoren die trienter Decrete entſtellt oder nicht. 
Dieſe waren noch nicht vorhanden und richteten ſich, 
als ſie verfaßt werden mußten, wenigſtens in ihrem Aus⸗ 
drucke nach einem Tone und Takte, der erſt durch die Re⸗ 
formation in Aufnahme gekommen war. Deßungeachtet 
haben die Reformatoren laut D. M. die katholiſche Lehre 
erſt unwahr dargeſtellt, ehe ſie an die Bekämpfung derſelben 
gingen. Sage uns doch der Vf. erſt, wo man zur Zeit des 
ausbrechenden Streites über den Ablaß oder in den nächſten 
zwanzig Jahren die katholiſche Lehre von der Ordnung des 
Heils zu ſuchen hatte und in authentiſcher Faſſung finden 
konnte! Entweder war ſie dieſelbe, die Melanchthon vortrug, 
und aus der h. Schrift mit Zuziehung von Ambroſius und Au⸗ 


a) S. Siefeler über die Bedeutung der Lehre von der Rechtferti⸗ 
gung durch den Glauben für die Sittlichkeit, in d. Seitſchr. für 
gebildete Shriften d. Ev. K. 1823. 2, Heft. 


496 Ritſch 


guſtinus erwies, oder die ihr ſich entgegenſetzende eines Eds 
jetan, der damaligen römiſchen Bullen, eines Eck und Fa⸗ 
ber, wie ſie ſich in der Confutation ausſprach. Eine dritte 
irgendwie erkennbare und benennbare iſt wenigſtens da⸗ 
mals zu keinem Anſehn oder Beifall gekommen. Die Lehre 
nun, die z. B. in der Confutation ſich den Reformatoren 
entgegenſtellte, hatte zwei wichtige Auctoritäten und Or⸗ 
gane für ſich, einmal die mit dem damaligen kirchlichen Le⸗ 
ben verbundene Volksvorſtellung, und dann das Gleichar⸗ 
tige der ſeit Peter dem Lombarden in der Theologie herr⸗ 
fchenden Erfärungen und Unterfcheidungen. Sie war deß⸗ 
ungeachtet in ihrer Einheit auch etwas Mannichfaltiged, 
in ihrer allgemeinen Beftimmtheit auch eine fortgehende 
Richtung. Einzelne Anhänger mißbilligten Daher auch eine 
zelnes an ihr felber, und beflagten die Mißbräuche und 
Uebertreibungen, zu denen fie Anlaß gegeben. Die Refor⸗ 
mation nun gab den Gegnern Zeit und Spielraum genugr 
deßfalls eine Sichtung vorzunehmen; fie unterfchied noch 
immer die firchliche Lehre, fogar die römifche.) von 
dem, was irgend ein Papft oder Theolog gelehrt, die fps 
tere, neue fcholaftifche Lehre von ber beffern älteren. So⸗ 
lange aber dieſe Sichtung allerwärts zugelaßner Lehren 
durch keinen kirchlichen Act vollzogen war, fland es ber Re⸗ 
formation frei, Die ganze Richtung nicht nur in Den ſchola⸗ 
ſtiſchen Grundelementen, ſondern auch in ihren Auswüch⸗ 
fen kenntlich zu machen und zu befämpfen ald eine Eis 
nige. Daß in derfelben Richtung, gegen welche Melanch⸗ 
thon die Schriftlehre aufbot, auch behauptet wurde, quod 
possimus e puris naturalibus Deum super omnia diligere, iſt 
Thatſache. Zürnt der jeßige Katholik über dergleichen 
Lehre, fo darf er deſto weniger den Melanchthon tadelu, 


a) Apol, Aug. Cont. III. Nec statim censendum est, Romanam 
ecclesiam sentire, quicquid Papa aut Cardinales, aut Episcopi, 
aut Theologi quidam aut Monachi probant, 





proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 497 . 


Der, da er fie in .ber Lehrgemeinfchaft der Gegner ange⸗ 
troffen, fie auch ald einen error manifestus gesügt hat, aher 
himmelweit davon entfernt gewefen if, fie zur chriſtkatho⸗ 
liſchen Kirchenlehre zu rechnen. Hätten die Evangelifchen 
bloß die Eden und Spitzen bed Syſtems beurtheilt, und 
Doch dad ganze Syſtem verworfen, fo wären fie zu tabeln; 
allein fie haben die Grundlagen beftritten — z. B. ba 
der Menſch obgleich aus Gnaden felig werdend, doch das 
ewige Leben verdiene, und daß bie Buße nicht den Glau⸗ 
ben, fondern Reue und Geuugthuung in fi faffe — 
und Riemand hat fie des Irrthums ober Betrugs bezlich- 
tigt, wenn fie bergleichen Kehren denſelben Bifchöfen und 
Theologen beilegten, von Denen fie im Ramen der foges 
nannten Kirche als Srriehrer verfolgt wurden. Wird heut 
zu Tage der eine oder andre Kunſtausdruck des damaligen 
Syſtems, z. €. de congruo, de condigno, weil die trienter 
Synode für gut gehalten ihn fallen zu laffen, von einem 
Theologen abgelehnt, von andern bemmod; für kirchlich 
ansgegeben, fo kann das wieber bie Reformation nicht 
eines in die Luft geführten Streiches anklagen, denn dieſe 
Ansdrũcke find fehr gleichgältig, fobald der noch jet ganz 
unbeftrittente Begriff des Berbienftes übrigbleibt. Die 
Synode behamptet ihn feierlichft; und Herr D. M., der 
in den Werfen der Snpererogation eine zarte und tiefe 
Wahrheit zu finden weiß, würbe doch Dergleichen fehr Leicht 
auch in ben ganz dazu gehörigen Lehren von ber Congruenz 


v 


ober Condignität des Berbienend auszuſinden im Stande 


ſeyn. Das Berdienft in der Weife ber Mitwürdigkeit aw 
den Wiedergebornen will und genehmigt Hr. M., und vers 
theidigt es mit Thomas v. A.; es läßt fih aber gar nicht 
abfehen, warum bie aus ‚der freien Bereinigung des Wil 
lens mit der anregenben Gnade hervorgehende höchſte Die- 
yofition zur. Wiedergeburt nicht nach deffelben Thomas 
Lehrſatze, ultima dispositio necessitat formam, auch ein Bers 
dienft in feiner Art, nämlich de congruo, conftituiren folle. 


Fe ** 


Doch laſſen wir das eigentlich polemifche Verhaͤltniß, 
und gehen bIoß auf das apologetifche ein, in dem fich bie 
Reformation befand. Nicht Die Irrthümer der Gegner, 
fondern die h. Schrift und die chriftliche. Erfahrung waren 
die Urfache ihrer Lehren, und es fragt fich, ob fie von Hrn. 
M. lernen könne aus jenen Quellen reiner und wahrer 
schöpfen. Chriftus hat die ewige Erlsfung gefunden, in 
ihm ift Die Welt Gotte verfühnt, außer ihm ift Fein Heil, 
fo lehren beide Kirchen: aber auch Feine leugnet, daß es 
fich nun noch für jeden Menfchen um die Aneignung dieſes 
Heiles handle. Ebenfo wenig wirb anf einer von beiden 
Seiten in Abrede geftellt, daß Die in Ehrifto bewirkte Welts 
erlöfung ſchon felbft die Mittel bei fich führe und in Bes 
wegung fee, durch deren Gebrauch und Wirkung dem 
Sünder der Strom des Heiles zugeführt werben fol. Wort 
und Sacrament find Diefe Mittel des heiligen Geiſtes. Die 
Wirkung derfelben läßt ſich aber dahin unterfcheiden, bag 
fie in der einen Hinficht eine vorbereitende ift, in Deren Vers 
laufe das neue Lebensprincip fich noch nicht im Menfchen 
findet, in der andern eine befehrende und zugleich bewahs 
rende, durch die baffelbe Princip wirklich mitgetheilt und 
zur Entwidlung gebracht werden fol. Die wefentliche 
Veränderung, die den neuen Zufland hervorbringt, heißt 
die Miedergeburt, und man leugnet weder hier noch dort, 
daß die Gnade den Menfchen gerecht, heilig, felig mache, 
dag wo Sündenvergebung fey, auch Heiligung ſeyn müffe, 
wo Gerechtſchätzung auch Gerechtmachung, und daß es die 
Functionen der Neue und des Glaubens, des Glaubens 
and der Reue, des Glaubens und der Liebe, des Glaubens 
und der Hoffnung feyen, in welchen fich die zugeeignete 
Gnade erweife. Soweit befteht die Einheit der Lehre, 
die denn auch lebendig aufgefaßt zwifchen Gliebern beider 
Theile troß dem fo fchneidend.trennenden Begriffe von der. 
Kirche oft einen hohen Grab von chriftlichem Gemeinges 
fühle zu erzeugen und zu unterhalten im Stande if. Nun 





proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 499 


treten aber dennoch, da ſich auf der einen Seite bibliſche 
Grundbegriffe und allgemein ethiſche in einander geſchoben 
haben, und getrennt worden ift, was nicht zu trennen, ges 
einigt was nicht zu einigen war, fo große Verſchieden⸗ 
heiten bei der nähern Erklärung von Grund und Folge, 
von Art und Umfang in jenen genannten Dingen ein, daß 
in ben meiften Berührungsfällen das fonft mögliche Ges 
meingefühl gar nicht zu Stande kommt. Am meiften fams 
melt fich die Differenz indem evangelifchen Begriffe von 
der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben. 
Sagt man, die Differenz beſtehe in der Lehre von der Rechts 
fertigung (ein Wort, das wir vorhin abfichtlich vers 
mieden haben), fo entiteht, vielen unbewußt, eine neckende 
Berwirrung. Denn fofern der Proteftant ſchon weiß, was 
der Katholit durch fchlechte Sprachlehre verwöhnt unter 
Rechtfertigung verſteht, muthet er ihm gar nicht zu, zu bes 
fennen, daß der Sünder durch ben Glauben allein gerechts 
fertigt werde, Eine gleiche Neckerei befteht darin, daß man 
fagt, die Proteftanten verftchen unter Rechtfertigung bes 
Sünders die bloße Zurechnung fremder Gerechtigkeit, die 
Katholiken eine ihn wirklich gerechtmachende Thätigfeit 
Gottes; denn auf diefe Weife wird verhehlt, daß dem 
Proteftanten die äußere Gerechtigkeit, die er im Glauben 
ergreift, durch dDiefen Glauben eine innere wird, und Daß 
ihm Die Rechtfertigung in Erneuerung und Heiliguug übers 
sehe. Man möchte glauben machen, der Proteftant Ichre 
Sündenvergebung und feine Heiligung; darauf wäre bils 
ig zu erwibern, der Katholif lehre Heiligung und feine 
Berfühnung. Die Wahrheit aber ift Die: jener glaubt an 
‚Heiligung durch Berfühnung, diefer an Verſöhnung durch 


Heiligung. Letzteres nennt Melanchthon institiam rationie. 


Faſſen wir aber Die Sache, vom Worte Rechtfertigung noch 


einmal abfehend, in ihrem Grunde. Ehriftus, der Menfchs 
beit neues Leben und Princip, foll ein geiftlicher Lebens⸗ 


anfang im Individuum werben; diefes fol für fich nicht 


— 


500 - Nibſch 


leben, ſondern Chriſtus in ihm; wie Reben am Weinſtocke 
hangen, fo die Erlöfeten am Erlöſer, nicht Durch fürwahr⸗ 
baltenve Gedanken, vielmehr Durch das innerite ungetheilte 
Herz und Leben. Man würde fehr irren, wenn man meins 
te, dieß fey nicht der proteflantifche Begriff der angeeigne⸗ 
ten Erlöfung. Conf. Helv. mai. 15. inanem fidem iactabant, 
qui Ehristum intra se viventem non habebant. Scot. 13. 
Christum in taliım cordibus habitare blasphemum est dicere, 
‚in quibus nullus est sancotificationis spiritus. Allein es gilt 
nun, wie das gefchehe, ſchrift⸗ und erfahrungsmäßig nach⸗ 
weifen, und bei der Mechanik oder Magie der eingegoffes 
sen Gnade fich nicht gnügen laffen. Deshalb erinnert Me⸗ 
Ianchthon Apol. Il. quod fid. iustificet — proferant unum com- 
mentarium in sententias ex tante scriptorum agmine, qui de 
modo regenerationis dixerit; — non docent per verbum ac- 
eipi. Denn fürs erſte handelt Gott in Chrifto mit dem 
Sünder, der geheilt werben fol, durch das Wort. Nicht 
allein durch dad erzählende, vergegenwärtigenbe, fondern 
auch einladende, bezeugende: hier ift Hilfe, laß Dich vers 
fühnen. Melanchthon ebenbaf. cum deo non potest agi —, 
Deus non potest apprehendi nisi per verbum — et vel hine 
srgumentum sumi potest, quod fides iustificet, quia si tan- 
tum fit iustificatio per verbum et verbum tantum fide appre- 
henditur, segnitur, quod fides iustificet; sed sunt aliae ratio- 
nes maiores. Freilich ift nun auch bei ben Gegnern von 
Wort und Glaube die Rede, nur nicht bis dahin, und 
nicht in dem Momente, wo die berufende Gnade in bie 
zechtfertigende übergehet. Allerdings kann laut dem triens 
ter Detrete Niemand gerecht werden vor Gott, ber nicht 
bie Erlöfung und zwar fo, wie fie trientifch ©) gelehrt wird, 
vorweg für wahr annimmt und alfo glaubt: allein von ba 
an cooperirt bie Gnade ohne das Wort ober in bloßer 


'a) Sess, VI. c. 15. post hanc catholicam de iustificatione doctrinam, 
» guam nisi quisque fideliter firmiterque receperit, iustificari non 
poterit. — 


2 


proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 508 


Boransfeßung des fürwahr gehaltenen Wortes mit ben bußs 
fertigen und fehnfüdhtigen Gemüthsbewegungen, bis auf 
den Punct, wo die Gerechtigkeit der Liebe ihm eingegoffen 
wird, zum Heile des Sünder. Der Glaube ift fo wenig - 
bie Function der lebendigen Vereinigung mit dem Hanpte, 
Chriſtus, daß wenn das Glied, der Ehrift, Durch die Tobs 
fünde dieſen Zufammenhang mit dem Haupte verliert, es 
beshalb doch im Glauben fichen mag — denn der Glaube 
ift ein Firchliched Fürwahrhalten —, und nun auch durch 
eine Belehrung das Verlorne wiebererlangen, unter bes 
ten wefentlichen Beftandtheilen der Glaube gar Feine Stelle 
findet. Wie fommt ed denn nun, daß, nachdem für den Kas 
tholifen Wort und Glaube im Gebiete vorbereitender Gnas 
de gewirkt haben, dad Sacrament und die Regung ber 
Liebe in der Sphäre der Rechtfertigung alled allein thun 
müſſen, was zur Vermittlung der Gnade gehört, und wie 
kommt ed, daß für den Proteftanten burch die ganze heilige 
Geſchichte des Menfchen hindurch bie Eopula von Wort 
und Glaube die gläubige Apprehenfion des im Worte ſich 
bietenden Erlöfers es ift, was die Verbindung mit ihm les 
bendig macht und, wenn fie fferben will, wieder und im⸗ 
nier wieber lebendig macht, fo, Daß 3. B. Conf. Gall, 21. 
bemertt, fidem electis dari, non ut semel tantum in rectam 
viam introdacantur, Belg. 22, qui Christum, in quo omnia, 
possidet per fidem, per fidem omnia possidet? Apol. III. — 
Christus non desinit esse mediator, postquam renovati su- 
mus — constat iustificationem non solum initium renovatio- 
nis significare, sed reconciliationem, qua etiam postea 
accepti sumus. Die Urſache hievon wird noch unvollftäns 
Dig angezeigt, wenn das vierſtädtiſche Bekenntniß 
erinnert, die Function der Erfenntniß fey die nothwen⸗ 
big erſte Vermittlung des geiftlichen Lebens unter allen Um⸗ 
ftänden, wo dieſes aus Chriſtus gewonnen werben fol, und 
Deshalb fchon, weil Die Reformation ed aus der Duelle der 
Hlänbigen Erfenntniß und nicht des Werkes und Firchlichen 


502 .. Nitzſch 


Handelns herleite, weiche fie von jetzt gewöhnlichen Lehren 
ab. Cap. 3. und 4. Das erwähnte Phänomen läßt fich auch 
noch nicht allein, obfchon näher, Durch Die Bemerkung er- 
Hären, daß die lebendige Verbindung des Erlöfers mit dem 
fündigen Menfchen auf Seiten des letztern nichtd anders 
als die hoͤchſte Empfänglichkeit und activfte Bedürftigfeit 
feyn..tönne, folglid; der Glaube. Gerechtigkeit, Liebe, Les 
ben find die Gaben, die gratis angeboten werben; die Gas 
. ben nun nimmt man nicht mit der Gabe in Empfang, Die 
Gerechtigkeit und Liebe nicht mit Gerechtigfeit und Liebe, 
fondern mit dem Glauben voller Demuth, voller Zuver- 
ficht, mit Schmerzen und Freuden. Der Glaube ift bie 
sitternde Hand, die in Die rettende des Erlöfers ſich legt, 
oder das eröffnete Organ für alle von diefem fich mitthei- 
Iende Lebenskräfte. So, daß der Menfch, er mag fo heis 
lig und lebendig werden, wie er will, doc, wenn er nicht 
ſich Chrifto gleich oder ohne Chriftus hinftellen will, allegeit 
in und am — ſeine Gerechtigkeit und Seligkeit haben 
muß, nämlichlam Verbundenſeyn ˖ mit Chriſtus, an deſſen 
freier Gnade, an deſſen einziger und ausſchließlicher Voll⸗ 
kommenheit. In dieſer Hinſicht iſt es nicht befremdlich, 
wenn gelehrt wird, die vollkommne Empfänglichkeit für 
den Zufluß des Gnadenſtromes, der Glaube thue und wirke 
allein alles, was Heil heißt in Der Subjectivität, fides iusti- 
ficat, sanctificat, vivificat, salvificat, glorificat. Indeſſen 
das möchten fich Die Gegner der Reformation vielleicht noch 
eher gefallen laffen, ald gerade das einzelne und erſte: fides 
gola iustificat. Sie wiederholen in jener Beziehung fo gern 
den Gemeinfpruch des Hebräerbriefs, ohne Glauben kann 
Niemand Gott gefallen, während fie darauf wenig achten, 
daß der Herr fo oft und mannichfaltig den Glaubenlobt, 
preißt, bewundert, und ihm allein die Hilfe und Erlöfung 
beimißt a), zu einer Zeit und unter Umftänden, wo vom 
a) Die von den Gegnern aus Luc, 7, 46, entlehnte Inſtanz quia di- 

‚ lexit multum bat ſchon Melanchthon Apol, II, befeitigt, indem 


‘.- 


proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 503 


Fürwahrhalten der Dogmen gewiß noch nicht die Rede feyn 
fonnte. Doch das weiß man irgendwie zuzulaffen, fides 
salvat, der Glaube rettet, ‚nur nicht, daß er rechtfertige, 
daß er allein Sündenvergebung erlange, und die Gerech— 
tigkeit Des Menfchen negative oder positive ſey. Wenigſtens 
fol nur fides formata d. i. eben die Liebe gerecht machen, 
fie Die größte der Tugenden, und ift Diefe Gerechtigkeit der 
Liebe nicht da, fo ift auch die Sündenvergebung nicht ers 
wirkt, denn Chriftus hat durch feinen Tod eben nur bad 
verdient, Daß er Macht und Recht hat durch ben Geift der 
Gnade die Gerechtigkeit, habitum dileetionis, ung einzugies 
fen. Sp werden wir denn auf jenen hyperphyfifchen Mes 
chanismus zurück, und von der pfochologifchen Wahrheit der 
Aneignung des Heild durch das Wort der Verheißung, das 
der Glaube ergreift, in der Weiſe abgeführt, wie es ſich 
bei den beftehenden Begriffen von Erbfünbe, die feine Süns 
be ift, eben erwarten läßt. Der lebte Grund aber der pros 
teftantifchen Lehre, von der wir reden, liegt in der noth⸗ 
wendigen Vermittlung. alles Heild und. aller Aneignung 
Deffelben durch — Sündenvergebung, durch Verföhnung, 
und dieß laßt fich ebenfo objectiv an Chrifto, an Dem Evans 
gelium, welche Glauben fordern, wirken und finden, als 
an dem heilöbedürftigen und heilerlangenden Menfchen, 
der da glanbet, oder ſubjectiv erweifen. Der Erlöfer in bie 
Welt gekommen, entwidelt, offenbart fich in Reden, Thas 
ten und Leiden bis zu dem Puncte der Vollendung, wo er 
fie alle an fich zieht, wo er, foviel an ihm liegt, das übers 
all erwiefene, annehmbare, mittheilbare Princip eines neuen, 
heiligen und feligen Lebens der in ihren. Sünden todten 
Menfchheit geworden ift. Daß es nun aber bei Einimpfung 
Diefed ‚Lebens ins Herz ded Sünders und bei Hingebung 


er bemerkt, interpretatur Christus se ipsum, cum addit: fides 
tua te salvam fecit. Vergl. Übrigens Schleiermachers ben 
Texrt betreffende Prebigt in ber dritten Sammlung. — 


508 Me 


biefes Herzens an den Heiland zuerſt auf Suͤndenverge⸗ 
bung ankomme, kündigt fich Ihon in den Borandentune 
gen des Herrn felbft an, die fidy auf fein Ende beziehen. 
Er will fein Leben geben zur Bezahlung für Viele Marc. 
10, 45., will fein Fleiſch geben für Das Leben der Welt Joh. 
6, 41. u. ſ. w. Es folgen die nächſten apoftolifchen Au s⸗ 
legungen ber Thatſachen. Die Summa ihrer Ges 
ſandtſchaft iſt, laſſet euch mit Gott verſoöͤhnen 2 Cor. 5, 20. 
Grund davon V. 21: Er hat den, der von Feiner Sünde 
mußte, zur Sünde gemacht, Gott war in Chriſto weltver⸗ 
ſöhnend, er rechnete ihnen die Sünde nicht zu; warum ift 
Ehriftus Heftorben? die ra napertanera nuov Röm. 4, 
25. Der Hebräerbrief: eine nicht bloß jährliche, zeitliche, 
eine ewige Löfung hat Chriftus gefunden, ein einmaliges 
allgultiged Opfer für bie Sünde im Heiligthume darge⸗ 
bracht. Hier haben wir auf das Wort anordsgmdıg zu ach⸗ 
ten. Es bezeichnet das Ganze der Herftellung, zuweilen 
das Ende, befonderd wenn „des Leibes“ Dabei ftehet, auch 
ohne dieß 1 Eor. 1, 30. durch die Stellung nad; ayıaauös, 
es bezeichnet weiter die Einheit ber -Sünbenvergebung 
und Reinigung wie Tit. 2, 14, ebenfo wie undaglfsrv, &- 
Assovdv im Hebräerbriefe; aber ganz befonbers den Ans 
fang, der alled nachfolgende vermittelt, die Sündenver⸗ 
gebung, und hievon ift außer Hebr, 9, 12. Epheſ. 1, 7. 
das fprechendfte Zeugniß Eol.1,14. dv d Erousv viv dnoAv- 
vecou, iv pscw Tv Auagrıv. Alle Berheißungen näms 
lich des göttlichen Wortes vermitteln fich Durch die Erbie⸗ 
tung ber Vergebung der Suünden und beren Annahme im 
Glauben; alle Bedürfniſſe ber Erlöſung eoncentriren fich in 
dem der äpesig vv duapridv. Der Stachel des Todes tft 
die Sünde, die Kraft aber ber Sünde das Geſetz. Die 
höchſte, vollkommne Erfüllung des Geſetzes und der Vers 
heißung Chriſtus der gefreuzigte und auferfiandene ift Die 
Berföhnung für die Sünde der Welt, und dadurch Die 
ganze Erlöfung; iſt die Rechtfertigung des gläubigen und 





proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 505 


baßfertigen Sanders und baburch ſein Iriede, feine Aufer⸗ 
ſtehung zu einem neuen Leben, fein Heiliger, fein Seligma⸗ 
her. Der Sünder hat entweber die Erkenntniß der Sünde 
und ihres Fluches ober nicht; im Verneinungsfalle erkennt 
er nun auch die Gnade nicht, noch glaubt ex ſie? er befiert 
fich vielleicht, aber es tft feine Belehrung in ihm, ex bleibt 
in unertannter Sünde. Im andern Falle aber ift für ihn, 
der fid, ein Kind des Zorns fühlt, Der Uebergang von 
ber leidentlihen Feindſchaft mit Gott zur Liebe Bot« 
tes und dem neuen Leben folange nicht vorhanden, als er 
nicht Die Verheißung der Vergebung in Ehrifto empfans 
gen und bie Wirkung biefed Wortes „Dir ift vergeben” er⸗ 
fahren hat, cum impossibile sit diligere Deum, nisi prias 
fide apprebendatur remissio peccatorum. Non enim potest 
cor, vere seutiens Deum irasci, diligere Deum, nisi osten- 
datur placatus — facile est otiesis fingere ista somnia de di- 
lectione, quod rems peccati mortalis possit Deum däiligere 
super omnia (per actım elicitum), quia non sentiunt, quid 
sit ira aut iudiclum Dei. Apol. II, „So fann doch das Herz 
Gott nicht lieben, e8 glaube: denn zuvor, Gott wolle gnäs« 
dig feyn. — Wenn alfo das Herz weiß, bag und Gott 
guäbig feyn will und und erhören um Chriftas willen, fo 
Tann ed Gott lieben und anrufen u. f. w.” Augeb. Bel. 20. 
Atqui deum ante omnia amare nemo potest, nisi qui eum 
plane noverit deque ‘eo sibi optime quaeque polliceatur, 
Conf. Tetrapolit. IV. Non igitur diligitur Deus nisi post- 
guam apprehendimus fide neisericerdiam ; ita demum fit ob- 
jectam amabile. Die fatholifche Lehre ift eine beharrliche 
Verkennung dieſes Berhältnifles, die proteftantifche ift ganz 
darauf gerichtet. Wer es fefthält, kann nun nicht anders, 
als den entfcheibenden Moment der Erlöfung in bie zus 
verfichtliche Annahme einer Zufage, eines bis zur fpeciels 
leften Berheißung ſich entwickelnden Gnadenwortes legen, 
Was and immer für vorläufige Anertennungen ber geofs 
fenbarten Wahrheit vorausgegangen feyn mögen, von als 





7 er 


ferlei vorläufiger Sinuedänderung begleitet, foll ed zur 
Rengeburt fommen, fo muß das Wort eben und alfo auch 
der Slanbe an das Wort zur fpeciellftien Entwidlung. feis 
ner Kraft gediehen ſeyn; die Wahrheit und Wirkung des 
Wortes concentrirt fich wieder in dem, gib mir mein Sohn 
bein Herz, komm zu mir, aus Gnaden ſollſt du felig wer⸗ 
den, und. nur dann wird ed wefentlich anders mit dem 
Sünder, wann der aud Demuth und Wehmuth mit Sanfte 
muth hervorgeruftte Hunger nach. Der Gerechtigkeit ſich we⸗ 
. ver in Berzweifelung: verliert, noch auf Werke und eigne 
Kräfterrichtet, fondern in gänzlicher Verzichtung darauf 
und in, wahrhafter Zuflucht zu Gott fich in der Geftalt des 
Glaubens auf die dargebotne Berfühnung wirft. Denn 
muß gerabe das Bewußtfeyn von Dem Unverdienten Zuvor⸗ 
fommenden der Gnade, die allein durch das Creuz Chrifti 
vom Abgrunde rettet, Tünftig den Haß der Sünde und die 
Dankbarkeit anfeuern, in dem die Belehrung befteht, fo 
verfteht es ſich von felbft, daß. von Anfang bie Ende auf 
einem Bertrauen, in einem Glauben der ganze Gnaden⸗ 
fand beruhet, daß der Glaube der erfte Gehorſam, die erfte 
‚ Gerechtigkeit im. Menfchen if. Alfo darf, alfo muß auch 
die dem Glauben zugerechnete Gerechtigkeit oder die götts 
liche Gerechtichäßung ale ein früheres, die aber aus Dem 
Glauben entfpringende Gerechtigkeit der Werke, der dem 
Glauben gefchenkte neue Lebensgeiſt oder die Heiligung als 
das mitfolgende und bedingte gedacht werden. Neque con- 
tritio neque dilectio, neque ulla alia virtus, sed sola fides 
est illud unicum medium, quo gratiam Dei, meritum Christi — 
apprehendere possumus. Redte dieitur: quod creden- 
tes, qui per fidem iustificati sunt, in hac vitaprimum qui- 
‚dem impuütatam iustitiam fidei, deinde vero etiam inchoa- 


. * tam.iustitiem novae obedientiae, seu bonorum operum ha- 


beant, sed haec duo non inter se permiscenda aut simul in 
articulum de iustificatione ingerenda sunt. Sol, Decl. IIL. 
Die Zueignung der Sündenvergebung ald das erfte und 





proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 507 


als die Bedingung bed Andern zu benten, machen fich alle 
Bekenntniſſe zum Gefeß; wie aber das Andre durch das 
Erfte oder mit ihm ober nach ihm gewirkt werde, darüber 
halten fie wenigftens keine entfchiebene Regel des Ausdrucks. 
Die Apologie feßt auch iustificatio mehrmals der regenera- 
tio gleich, indem fie beides annimmt, iustificari fey iustum 
pronunciari s. absolvi und iustum effici, aber fides appre- 
hendens, gratia spiritus fidei donata, novi motus bleiben ges 
fondert und fielen in dDiefer Sonderung den Zufammenhang 
dar, oder iustum effiei, welches auf remissio peccatorum fide 
apprehensa folgt, ift in dieſem Falle foviel ald adoptari und 
salvum fieri. Iustum et salvum evadere wird vorzüglich im 
vierftäbt. Bek. als Erpofition von dıxasodcdeı gebraucht. 
Die Ichottifche Eonfeffion wendet ein statim an, um Folge 
und Zufammenhang darzuthun c. 13.: quamprimum spiri- 


- tus domini, quem electi per veram fidem recipiunt, posses- 


sionem in corde alicuius accepit, tum statim illum rege- 
nerat etrenovatetc. | 

Run entiteht freilich eine Schwierigkeit, an welcher fo 
Diele im Leben wie im Denken gefcheitert find. Es fft näms 
li von der Aneignung des Heils die Rede, und doch 
fcheint der erfte Act derfelben die göttliche Rechtfertigung 
des Sünders, nach proteftantifchem Begriffe genommen, 
ihm eben nichts anzueignen. Denn der Sünder zwar, der 
gläubig geworden, eignet fich etwas zu, aber nicht ihm 
Östt etwas, wie dieß zumal dann der Fall zu ſeyn fiheint, 
wenn die mehrflen Belenntniffe ſchon fagen, dexaıodv ſey 
iustum pronunciare, und dann. die Theologen nicht nur 
actum forensem, iudicis, fondern auch intransitivum daraus 
machen. Derfelbe Anfchein von Widerfpruch haftet der 
Betrachtung des menfchlichen Subjects in der Nechtfertis 
gung an, denn der Sünder wird gerecht gefchäßt um feis 
nes Glaubens willen, und ift es Doch nicht, Gott erflärt. 
was nicht ift, der Menfch glaubt was nicht ift. Herr Dr. 
Möhler wünfcht uns Glück, daß wenigſtens eo. Oft 

Theol. Stud. Jahrg. 1884 


ander und Schleiersiacher id wieder anf bie Spur 
gut atholifcher Lehre geholfen, Er hätte, was bie Neue⸗ 
ren betrifft, vorzüglich noch Soh. Aug. Heinr. Tittmann od) 
anführen können. Ueber Dfiander und Schleiermadher has 
ben nun Andre fchon genug, namentlih Hr. Dr. Baur 
geantwortet, and Hr. D. M, kann fich überzeugen, daß 
jene trefflichen Lehrer den eigentlichen Unterfcheidungs- 
punct — sola Sde — nur noch fefter geſtellt. Alle aber, 
Zittmann nicht ausgefchloflen, frheinen mir in den gegen 
ben aetus forensis gerichteten Beflimmungen fo weit zu ge 
ben, daß fie fich von dem urſprünglichen Sinue Des evans 
gelifchen Belenntuifles ſowohl, ald von dem des Wortes 
Iinsodokteı, mehr oder minder entfernen. Mit Recht haben 
Schleiermacher und Tittmann auf einen linterfchied der 
Rerhtfertigung von ber Sündenvergebung aufmerkfam ge 
macht. Jene nämlich begreift Diefe, dieſe nicht jene ſchon 
in fih. Die Sündenvergebung, felbft fofern fie ſchon dem 
Bewußtſeyn fich zueignet, ift nur negative: Seligfeit, zu 
welcher das Pofitive der Kindfchaft hinzukommen muß; in 
der Rechtfertigung aber ift beides als eins gefeßt. Und bei 
der Siündenvergebung ift noch die Frage, ob fie Die allges 
meine oder befondre, ob fie der Anfang eines neuen Lebens 
oder nicht, nur vermeint, vorausgefeßt, oder erfahren, be. 
wußt, empfunden ift, Die Rechtfertigung aber erledigt ſchon 
alle diefe Fragen, Ohne .diefes Verhältniß beftimmt aus⸗ 
zufpredhen, deutet es Melanchthon allenthalben au, indem 
er.immer beides nach einander und mit einander ſtellt, was 
der Glaube erlange, Vergebung der Sünden und Recht⸗ 
fertigung , oder indem er häufig für Rechtfertigung als 
das erflärende die reconciliatio ſetzt. Beides ganz in 
Gemäßheit der h. Schrift. Denn die xarailloyr, von 
der Paulus Rom, 5, 10. im Vorderſatze fpricht, iſt die 
allgemeine secundum potentiam in Chrifto befteheude, bei 


a) ©, Progr. de summis principiis Confess. Augustanae, Lips. 1830. 
und Anmerk, zur deutſchen Ausgabe d. Confeſſion. 





proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. :509 


der wir.noch &xdgol fenn konnen, biefenige aber, bei ber 
mir nicht mehr Feinde find, welche Taut dem Nachſatze 
actn an uns gefihehn, ift ganz gleich Der drxalmaıg im neun⸗ 
ten Ber. Und wiederum deßhalb wird Rom. 4, 25. 8, 34. 
Tod und Auferfiehbung auf Bergebung und Rechtferti⸗ 
gung bezogen, weil ohne bie Auferftehung bie Vergebung, 
wenn ſchon erwirkt und vorhanden, nicht Tundgegeben wers 
den und alfo Feine Rechtfertigung feyn könnte. Demnach 
babe ich mich auch fonft ſchon gegen bie Behauptung, Rechts 
fertigung fey bloß immanente oder ntranfitive Thätigkeit, 
erffärt, eine Lehre, die nur folange gilt, ald die Eoncors 
dienformel unb ihre Freunde bie Bermifchung berfelben 
mit der Heiligung: abzuwehren und ihren Standpunct ber 
Eingießung gegenüber zu. wahren haben. Die Rechtfers 
tigung ift eine Mittheilung, fie theilt den Frieden Gottes 
mit, indem fie die Furcht hinwegbringt, die dem kindſchaft⸗ 
lichen Gefühle hinderlich it. Röm. 5, 1 — U. fprechen über 
diefe Mittheilungen. Zu dem Mitgetheilten gehört auch 
die Liebe Gottes. nach B. 5, welcher aber durch V. &. 
zu erklären iſt. Denn bie kiebe Gottes, mit welcher 
Gott liebt, nicht Die Kiebe, mit welcher wir, wird in ber 
Rechtfertigung durch den heiligen Geift audgegoflen in un⸗ 
fere Hergen (vergl. 1 Joh. 4 10.), und weundieß nad) dem 
Eonterte der Sinn des feit Anguftinus foviel und fo falfch 
gebrauchten Spruches unwiderfpredglich ift, fo. folgt nicht 
nur, daß das Mitgetheilte, was wir Proteſtanten in ber 
Rechtfertigung fehen, ganz ein andres ift ald das, welches 
bie Gegner, ſondern auch, daß die einzige biblifche Stelle, 
die fie für die Sufufionds Theorie aufbringen Fonnten, ihr 
nen der Wahrheit nach ſich ganz entziehet. Sit nun der 
Rechtfertigungsaet tranfitiv ober mittheilend, fo.Jäßt ſich 
auch erkennen, daß er und wie er beclaratorifch fey. Gott 
foricht fein Urtheil weder nur in fich hinein noch in bie 
Meltgefchichte heraus, ob es gleich da und dert gültig iſt 
und wird; ex fpricht ed in das Bewußtfeyn bed Gluͤnbigen 
ee 


[3 ı Migtzſch 


herein, der Geiſt der Gnade "gibt: Zeugnig unſerm Glau⸗ 
-benögeift, daß wir Gottes Kinder ſind Nöm. 8,-16.: Hab 
it diefer Beziehung glaube: ich. nicht, daß Schleiermacher 
‚Recht habe, den Gedanken der befondern- Kundgebung 
des göttlichen Rathſchluſſes zu befeitigen. Denn ſchon bie 
‚berufende Gnade ift nicht fo zu denken, daß fie lediglich 
die Allgemeinheit des Heiles dem Gemüthe vorhalte, ſon⸗ 
dern fo, daß fie mittels der allgemeinen: Wahrheit. Her- 
ſoͤnlich einlade und anfrage: alfo auch die rechtfertigen 
de fo, daß fie dem Glauben individ nell znfpreche und 
bezeuge. Die lebendige Befonberung der allgemeinen. Wirs 
Kung Chrifti ift nicht nur mit Schleiermacher bei der Bekeh⸗ 
zung, fondern gleicherweife bei der Rechtfertigung zu den⸗ 
ten, nur daß nach Deffelben Gelehrten treffender Beobachtung 
die Rechtfertigung das in Betrachtung ruhende Selbſtbe⸗ 
wußtfeyn, die Belehrung aber mehr die Willenebewegung 
betrifft. Wir wenden und num zugleich zu der tittmannis 
fchen Berichtigung. Sie ift in gewiffen Puncten fehr faß⸗ 
lich, nämlich wo fie zeigt, Daß der Begriff der Nechtfertis 
gung durch den Glauben alled Berdienft und alle. Genug⸗ 
thuung, ja vom Glauben felbft alles Verbienftliche aus⸗ 
fchließe; weiterhin wird fie unflar. Denn „Gerecht ſeyn 
vor Gott und gerechtgefchäßt werden” fol in der ganzen 
h. Schr. N. X. nichts anders heißen ald, „in einem foldyen 
Zuftande ſeines innern Lebens fich befinden, der es möglich 
macht, Gott wohlgefällig zu ſeyn und zu werden, und von 
ihm: Gnade und Segen zu.erlangen.” Est igitur, fagt dag 
Programm, iustificatio beneficium dei, quo homines mise- 
riae peccati obnoxü (infusti, TExva .ögyng).eum naturse 
statum consequuntur, ut a deo probari (pro iustis haberi) 
et gratiam dei aetersamque saluteni merlto Christi: capes- 
'sere possint.: Damit fol der Annahme einer imputata iusti- 
tia Christi, zugleich ber: Meinung de sensu mere forensi, 
ebenfalls dent Borurtheile, als. fey ‚Die:impletio legis. nicht 
nothwendig, gewehrt werben. Soviel iſt Deutlich, die ds- 








proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 511 


xaladız bewirkt einen Zuſtand, verſetzt in einen Zuſtand, 
im welchem man num alles, was zum Heile gehört, erlan⸗ 
gen kann. Dieſer Zuftand, was er fey, wird. gar nicht un⸗ 
mittelbar beſtimmt, fonbern lediglich dadurch: 

H daß wir ihn durch den Glauben erlangen und 2) das 
durd, daß er fähig macht, nämlich Gott wohlgefällig, 
feines Beifall gewiß, und der Seligkeit theilhaftig zu wer⸗ 
den. Er ift entweder ein ganz unbeflimmbares x, oder eben 
bie Identität der Gerechtfhägung und Wiebergeburt, bie 
Entwicklung bes Glaubens zur Qualification für alles. Gu⸗ 
te, Gefühige. und Selige. Es fcheint fogar, als werde der 
Meufch durch den Glauben gerecht gefchäßt, damit er bie 
Begnabigung und Wohlgefälligkeit erlangen könne, er wer» 
de angenehm gemacht, um ſich angenehm gu machen; und 
dann würde allerdings fowohl ber. Begriff des Glaubens 
als der der Rechtfertigung ber Tatholifchen Lehre nahe ges 
bracht worden feyn, nur daß der habitus, der in ber Juſti⸗ 
firation bewirkt wird, von ben Scholaftifern als habitus. 
dilectionis, von Tittmann aber gar nicht weiter beſtimmt 
wird. Auf jeden Fall liegt in der tittmannfchen. Berichtis 
gung eine gewifle Verkennung des Unterfchiedes von Ge⸗ 
rechtſchätzung und Wiedergeburt, von. Verſöhnung und 
Belehrung. Tittmann bemerkt zwar richtig, die h. Scheift 
lehre in biefer Verbindung nicht, die Gerechtigteit Chrifti- 
werde dem Menfchen zugerechnet, fondern der Glaube 
werde gerechnet zu. der Gerechtigkeit. Aber fhon der Bes, 
griff der Zuredinung an und für ſich beweift, daß die von 
ihm ohne weiteres verworfene forenfiiche Bebeutung des 
Rechtfertigungsactes biblifchen Grund habe und bier ſchlech⸗ 
terdings als die erſte gefeßt werben müfle. Die Reforma⸗ 
toren und die proteftantifchen Bekenntniſſe haben reichlich: 
nachgewiejen, daß dızmoüv dem Berbammeu entgegenger: 
feßt werde, und fie hätten nicht nöthig gehabt, bieß die 
hiphiliſche oder hebräifche Bebentung zu nennen, Da es 
auch die claffifche iſt. Keine Erweiterung ber lexilogiſchen 


512 Mh ifaou 


Erkenntniß hat fie bis hieher in ihrer Aunahme bepe 
Was will mar z. B. gegen die ausführliche Mach 
bed Sprachgebrauchs, wie fie bei Chemmitz ſckde 
finden ift, bedeutendes aufbringen? Es tft. aber 
an fich nothwendig, daß in Berfündigung ber Heilei 
zunächft die göttliche Gerehtfhägung für ſich gd 
unb noch vielnäher mit Der Beerbung und. Befeligureh 
mit der Heiligung zufammengebacht werbe. Das zn 
das Iwpsav macht es nothwendig. Mit diefen Vor 
gen nämlich ift Durchaus in den dsxmovusvoıg ein 
ſeyn der Gerechtigkeit geſetzt, nämlich fofern fie Der Ge 
tigkeit wegen immer aus ſich heransgehen und in & 
ſeyn müflen. 

Das gerade wird ihnen zur Gerechtigkeit gere 
daß fie auf dieſe Weife, wie es die Jetztzeit des N. T. 
fidy führt, und nach diefen in der Gemeinſchaft Ehrifti 
gebenen Beweggründen fich felbft nicht rechtfertigen, ni 
Iogfprechen, auf jegliche eigne Würbigkeit, als einzel 
zoımzol Tod vouov, verzichten; dem Das alles liegt in 
larıs, die eine lebendige Ausſchließung der zaurncıs il 
Eben in diefem bewußten Mangel des Selbftruhmes, eb 
in Diefem Wahrdenfen und Wahrnehmen der ausſchließlü 
chen Erfüllung des Gefeges und der Verheißung in Chris 
flus, in diefer Buße, die nicht minder ein Hunger und 
Durft nach Gerechtigkeit ift, werden fle won Gott ange 
fehn und geheilt. Weder ihre Ungerechtigkeit noch ihre 
Gerechtigkeit‘ ift eingebilbet und. putativ. Ihre Ungerech⸗ 
tigfeit ift aber nur wahr vor dem Geſetze, weldes Zorn 
fehaffet, oder: als Bedürfniß der Gnade oder als Urſache 
ber Buße und des: Abfterbend mit Ehrifto, und fchließt al 
ſo diejenige Wahrheit ber Gerechtigkeit nicht aud, welche 
fle nach dem vouognlsreng ald eine durch srgscis, Atpsasc, 
durch ein Aoylksodaı 'slg Ösnnsosvunm bedingte, in-ihrer 
gänzlicher Abhängigkeit von ‚einem Mittler Inne haben. 
Die Schrift unterſcheidet zwei Kreiſe des‘ Verhaltniſſes Got⸗ 














Rant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 513 


nahme bipen Menfchen in Bezug auf Sünde und Gerechtig⸗ 
he Nacherdammniß und Seligkeit; der eine ift der des Ger 
anni fdiver andre ber ber Gnade. Diefe werden nicht nur 
iſt abehrer Verſchiedenheit, ſondern auch nad ihrer Bes 
reit auf einander befchrieben, denn die neue Schö⸗ 
p die Erloͤſung ift nicht ſchlechthin neue Schöpfung, 
guet und bieibt Die Identität Gottes und des Mens 
in ihrem: Berhältniffe zu beiden Sphären. Die Mens 
Wiebe und Freundlichkeit Gottes alſo erweifet fich in 
g auf Das vorhergegangene gefehliche Berhältnig ala 















is ein | 
ber ße, Meberfehung, Vergebung, denn das gefeuliche foll, 
d in ie es nur Erkenntni der Sünde, Tod und Zorn wirs 


konnte, fchlechthin aufhören; ſofern es. aber doch in der 
Jen Liebe, im Geiſte felbft feinen lebten Grund hatte, 
Mem höhern durch die Gnade, nämlich zum vouog 
Me, Öıxauocbvn Oſοũ, entwickelt werden. Geoffen⸗ 
t, gegeben iſt dieſer Uebergang in Chriſtus. Der erſte 
t der‘ Erlöfung Tann ‚daher nichts anders ald die am 
nuthe ſich erweifende Begnadigung und Losſprechung 
zs Sunders ſeyn, und erft- durch dieſe vermittelt ſich Die 
Manze Belebung des: Menſchen. Die Betrachtungsweiſe 
zun der Concordienformel hat demnach an ihrem Orte ihr voll⸗ 
h kommnes Recht. Sie kann ſich anfı Röm. 3, 4. ſtützen, und 
‚nz nimmt dabei ebenſo wie Der Apoſtel die Einheit und Ganz⸗ 
ng heit der ſittlichen Etlöſung durch ˖den Begriff vom Gl aus 
ir ben und dem ihm gefchentten Geifte wahr. 
ed Da jedoch nach der Kategorie von Grund und — der 
n Begriffes Grundes auch die Folge mit in ſich ſchließt und dies 
ſe bloß ausſchließt, wo Die Folge eben als Grund ſich geltend 
machen würde, und da der Begriff des Grundes fogar bie Fol⸗ 
ge nothwendig an ſich zieht, wo ſonſt der Grund als bloße, 
Icere Abſtraction ſich gelten machen wollte (wie die alorig nach 
der Unterſtellung des Jacobus), fo mußte auch-bie Betrach⸗ 
tungsweiſe des —— in der — ihre — 





wor: .-=- 


— 


514 Kibſch 


keit behalten, und konnte ſich auf die heilige Schrift in al⸗ 
len den Stellen ſtützen, wo (wie durch xadegl£uv, reisı- 
eödeu im Johannis⸗ oder Hebräerbriefe) die Reinigung 
von Schuld zugleich als Reinigung von Sünde, ober wo 
Chriſtus als unfre von Heiligkeit: nicht unterfchiebne Ges 
rechtigkeit (2 Sorinth. 5, 21.), wo fein flellyertretender Tod 
als Urſache unfers aufhörenden Eigenlebens (2 Corinth, 
5, 14. 15.), das Seyn in Chrifto ald Schuld» und Sünd⸗ 
loſigkeit zugleid; (Rom. 8,1.) gefebt erſcheinon. Vieles läßt 
ſich am;proteftantifchen Nechtfertigungäbegriffe nachhelfenb 
aufklären und beflimmen, und die Theologie ift wieder auf 
den Weg gekommen, es zu erfennen und zu. thun: es fehlte 
der Zeit. und Kirche, ayß- welcher Die Reformatoren hers 
vargingen, an ber. Fertigkeit und -Gewöhnusg, Die per 
fönliche Erlöfung, die befeligende Lebensgemeinfchaft des 
Gliedes mit dem Haupte vorerfi- ald Einheit ald Gau⸗ 
zes .anzufchauen, der Mißbraud der damit in der Sys 
eramentslehre :oder auch bei den Enthufaften : getrieben 
worden war, hielt Die Reformatoren von dieſer Betrach⸗ 
tung der. ungetheilten Einheit ab; fig blieben bei ſchriftmä⸗ 
ßiger Reconfiruction des Ganzen zu fehr in, Der zerffüdeln« 
ben: Betrachtung, und es: muß ald wichtig qn dem Einfprus 
che Ded Andreas Dfiander angefehu werden, Daß er Das 
Seyn und Leben Ehrifti,in den Gläubigen zu dogmatiſi⸗ 
ren verfuchte (obgleich er weder mit dem Worte Iagoüu 
noch mit der Verfnüpfung von Sündenvergebung:; uud 
Rechtfertigung umzugehen verftand) : allein das haben ung 
die Reformatoren für immer gewonnen in biefer Angeles 
genheit, daß wir.geleitet von ihrer. fouthetifchen Betrach⸗ 
tung und auf bem Grunde berfelben zur richtigen Analyfe 
übergehen können. Durch ihr entfchiebnes Eingehen auf 
ben irrationalen, weil. gofitinen gefchichtlichen -Punet dee 
Chriſtenthums, Chriſtus unfere einzige, Gerechtigkeit, und 
ausfchließlich Durch den Glauben unfere Gerechtigkeit, has 
ben fie uns auf die lebendige Macht des Wortes und in 





proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 513 


den vernünftigen Gottesdienſt des reinen Herzens und ber 
GSemiütherichtung zurückgeführt. 

Abgefehn vom NRechtfertigungsbegriffe verbreitet fich 
Hr. D. M. des Weitern über den Glauben, wie er in 
dieſer Hinficht beiderfeitö zu faſſen ſey. „Die Kirche hatte 
freilich funfzehn Sahrhunderte lang fchon die Wahrheit deg 
rechtfertigenden Glaubens in ihren Chriften empfunden, 
in ihren Theologen gebadjt: allein wie ein Ariug erſt zu 
den Beſtimmungen von Riräa veranlaffen konnte, fo diente 
auch Die Entfchiebenheit, Die Die einfeitige Richtung in Lu⸗ 
th er annahm, der Kirche dazu, nun im Concil von Trient 
zum-völlig Haren Bewußtfenn Darüber zu kommen.” Die 
gelehrten Bifchäfe, Die Dart verfammelt waren, nahmen 
fi nämlich das ihnen durch die Reformation fo Dringend 
nahe gelegte‘ Problem Räm. 3, 28. late rvöponov dı- 
xe0Vodeı, imois Epyav nöuov zu löfen vor, und brachs 
ten alle am Eube heraus, Daß der Glaube, der ja eben nur 
das Fürmwahrhalten der Offenbarung. oder die erfte Ges 
müthserhebung ober.umr der eingefchlagne rechte Weg fen, 
nicht rechtfertige. Hätten Die gelehrten Männer. ſich auf 
die frühere Lehne vom. geflalteten Glauben zurüdgezogen, 
ober. wären fie den Begriffen des Hrn. Dr. M. son dem 
Bertrauen der Liebe in etwas vorangeeilt, fo.wärben 
fie der biblifch-proteftantifchen Wahrheit um Bieles’näher 
gekommen feyn und Das Decret mit einer vollfländigern 
Reflexion ansgeftattet-haben, als es nun der. Zal iſt. Denn 
was ber Glaube ſey, ob er auf dem Puncte, wo bie Hö⸗ 
rer. bed Wortes libere moyentur in Deum, credentes vera 
esse, quae revelsta sunt, atque illud inprimis, a Deo iusti- 
fieari impium per gratiam eius (alfo als fides speeialis mi- 
sericordiae in Christo) noch geſtaltlos (todt, Leer, kraftlos), 
ob er dann, wo Die Dispofltion. den Höhepunct erreicht 
hat, als ber geftaltete etwa wirklich rechtfertige oder ges 
recht mache, erfährt man aus Dem Decrete nicht. Bielmehr 
wird er auf dem Punste ber Eingießung nebſt ber Hoffnung 








- 


and Liebe mit eingegoffen, und tritt hier gar nicht als vollig 
entwickelte motio in Deum, oder apprehensiopromissionis auf : 

woraus denn herdorzugehen fcheint, Daß er auf gar Feine 
Meife rechtfertigt, und wenn dennoch, in der Geſtaltloſigkeit, 
alſo nur wie die negative Bedingung der Rechtfertigung 
auftritt. Dieſe ganze Lehre iſt ſo geſtaltlos, daß ihr erſt die 
Vorhülfe von Thomas und Nicolaus Cuſanus oder die 
Nachhülfe von Bellarmin und Moͤhler Geſtalt zu geben 
vermag, und doch hatiHr. D. WM. hier gerade nicht dem 
Deerete heilfame Unbeſtimmtheit, ſondern die klareſte Bes 
ſtimmtheit nachtrühmen wollen. Deſtomehr verargt er es 
der Reformation, daß ſie den Unterſchied des bloß erken⸗ 
nenden geſtaltloſen, und des in ſeiner Geſtaltung als Liebe 
gerechtmachenden Glaubens verworfen habe. Man dürfte 
fagen, ſchon die hier gerügte-Thatfadje beſtehe nicht ganz. 
Das vierſtädter Bekenntniß F. IL: — WU geht: aus⸗ 
drücklich auf den Unterſchied ein, ſowie Melanchthon auf 
den der generalis et specialis. : Indeſſen wir wollen die 
Thatſachen beftehen laſſen. Die Reformation durfte bes 
haupten, weder mit dem geftaltlofen noch. mit dem geſtal⸗ 
teten Glauben, noch mit beiden zufammen'feh in’der- Scho⸗ 
laſtik die Lehre vom rechtfertigenden Slauben Wahrtkift 
gegeben. Der Begriff des geſtaltloſen Glaubens: wird 
nicht darum verworfen, weil man fick den Glauben ale 
das Ergebniß einer ausſchließlichen Thätigkeit Gortes 
denkt, als weiches er nie erfolglos oder leblos ſeyn Tonne, 
ſondern weil derſelbe Begriff: einen nothwendigen Ur⸗ 
ſprungspunct des Heils und Doch zugleich’ein tobtes Für⸗ 
wahrhalten conſtituirt. Ein: GSiaube; der nicht indiffe⸗ 
rent und nicht mit dent Unglauben eins :ift,'- der wicht 
in der leidentlichen Anttahme ber Kirchenſatzungen be⸗ 
fteht, wielmehr durch Gottes Wort geweckt iſt, hat ſeine 
Animation eben an dieſem Worte der Wahrheit, gefetzt 
auch, vas Vertrauen auf Gnade, das in ihm iſt, fe noch 
nicht ſtark achng, um das Jeugniß bes Geiſtes zu’ entpfan⸗ 








proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 517 


gen oder bie Buße. noch ‚nicht fo rein und wahr, baß fie 
einerfeitd das ganze Bertrauen auf den Mittler bebürfte, 
andererfeitö zuließe. Der Glaube der Erweckten (ben. ber 
Proteſtantismus fehr wohl vom Glauben der Belchrten 
unterfcheiden kann) hat an ihm felber Leben und Wirkſam⸗ 
keit; er ift nicht der todte Schwefel des Seripandus (S. 
146. 3. Audg.), den erft ein fremdes Feuer entzunden muß. 
Iſt denn etwa das fürmahrhaltende und in dieſer Hinficht 
fertige Glauben in irgend einem Momente, wo es ſich noch 
unlebendig (wie 5.3. im Zuftanbe des Tobfimderd) er« 
weift, dennoch initium .et fundamientum iustificationis % 
Doch fchwerer ftoßen Die Reformatoren damit am, daß fie 
auch die Ades formata verwerfen; denn dieſen Begriff uber⸗ 
ſetzte man fogar zu Negensburg 1541. in ſides viva et efl- 
cax, und fo fchienen Luther und die Anden, die ihn den⸗ 
noch verwarfen, ihre eigne Lehre zu verdammen. "Wie 
unzählige Male bezeugt es die Reformation, daß der recht⸗ 
fertigende Glaube keine notitia historica, tmortua, manis, ſon⸗ 
dern ein wollendes, firebendes Ergreifen des Verdienſtes, 
ein velle et sccipere, ein opus spiritus s., ber wahrhaftige 
cultus Dei, felbft ein Wert, ein Gehorſam gegen Gott im 
allerwichtigften Falle fen! Und was bas efficaz betrifft; 
fo ift doch auch durch alle ihre Bekenntniſſe ausgebreitet) 
daß der Glaube gute Früchte der Liebe hervorbringen folle 
und müffe, Buß er ala Canal des Beiftes Chriſti das Herz 
mit neuen guten Bowegungen erfülle und die fonft nur ir⸗ 
gendwie gefenlichen Handlungen erft fromm und heilig . 
mache, daß:er zwar.in.der Rechtfertigung allein geltes 
aber deghalb: sticht allein, nämlich nicht ohne. feine Frucht 
and Wirkung, bleibe. Deßungeachtet if Mar, daß bie 
fides viva et:efficax an bie Stelle der: formais gefegt, nut 
wieder den Irrthum unvermerkt einflihete, den die NRefvr⸗ 
mation befämpfen mußte: Denn es war nicht von der Le⸗ 
bemdigfeit des Glaubens in feiner Richtung auf Gott. in 
Ehriſto und Chriſti Berbienft, ‚nicht von der vollkommenen 


313153.. Mlbſch 


Sntenfloität bed; Vertrauens, nicht von der Das Herz reini⸗ 
genden und erhebenden Wirkung des Glaubens bei denen 
die Rede, die römifcher Seits die Formel genehmigten, 
fondern von dem Lebendigwerben des Glaubens in Der 
Richtung auf die Gebote und das Handeln, in der Bors 
ausfeßung, Daß dennoch nicht der Glaube, fondern die zur 
Liebethätigkeit belebte Erfenntniß des Herrn Vergebung 
der Sünden erlange und al die Gerechtigkeit vor Gott 
gelte. Urſache genug, Die neue Formel ſammt der Altern, 
fides caritate formata, zu befeitigen. Nämlich der Glaube 
iſt nicht ala das formirte, fondern ald das formirende 
zu denken; er geftaltet den ganzen. Menfchen anders, aber 
aimmt-feine Geftaktung nur non dem Worte Der Verheis 
Bung an. Wer anders Ichrt, verunftaltet ſich die Verhei⸗ 
ßung, bie, indem fie freie unverdiente Gnade zum Inhalte 
bat, fchon Dem Vertrauen. und nur dem Vertrauen fich dar⸗ 
bietet, und in Diefes aufgenommen, nach allen Richtungen 
bin den Beitand des geifligen Lebens ernenert und heiligt. 
Was ift nun aber, unterfucht d. Vf., der rechtf. Gl. der 
N roteftanten, wenn er fides formata nicht ſeyn will? -Er 
mißbraucht einige gelegentliche Aeußerungen der Reforma- 
toren (welche fo, wie er fie deutet, von allen Befenntniffen 
klar und beſtimmt widerlegt werben) zur Erhärtung Des 
Nefultates: der vechtfertigende Glaube der Proteflanten 
ald ein bloß werkzeuglicher fey- eine rein paffiwe, unlebens 
dige, im Grunde nicht aneignenbe, mit. jedem Ehebruch 
beftehende .Zueignung Chriſti. Was das letzte anlangt, 
fo fagt die. Augsb. Eonf. 20. „Hieraus iſt auch zu merken, 
wo Glauben fey, und was wir glauben heißen; beuu wo 
nicht Schreden ift. für. Gottes Zorn, fondern Luſt am fünd- 
lichen Wandel, da tft nicht. glauben — wir ‚lehren, Daß 
diejenigen, fo Luft haben. an ihren Sünden uud fortfahren 
in fündlichem Wandel, nicht Glauben haben.” Denn da ber 
rechtfertigende Glaube gar nicht gebacht wird, anders als 
in den erſchrocknen und gebeugten Gemüthern,.oder als das 





proteflant, Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 519 


nädhfte höchfte Bedurfniß derſelben, und ebenſo mit der 
Buße wie mit der Selbſtverzichtung zuſammen iſt, fo kann 
er auch mit gar keiner Leichtfertigkeit zuſammen ſeyn. Nun 
aber bleibt doch immer die Rechtfertigung das erſte, die 
Bekehrung das zweite Moment in der Wiedergeburt, und 
die Heiligung, die hiemit eintritt, ſchreitet nach und nach 
fort, ja es kommt nur durch Rückſchritte zu größeren 
Fortſchritten in der Abſonderung der einzelnen Lebensge⸗ 
biete und Verrichtungen von der Gemeinheit des Fleiſches, 
ed kommt alſo auch zu Sündenfällen oder zu Rüdfällen in 
Sünde. Daͤchte ſich Luther aus dergleichen Fällen die 
Rothwendigkeit der Buße, der Sündenerfenntniß und Geis 
ftesftrafe hinweg, fo möchten wir alle wider ihn feyn, 
und fagen, er mache Ehriftum zum Sündendiener. Allein 
er iſt weit davon entfernt, er denkt fich gerade nur Die 
Nothwendigkeit bes Abfalls von Chrifto, ben Bundesbruch, 
den ſchnoͤden verzweifelnden Leichtfinn hinweg. Der letz⸗ 
tere fpecnlict im Verzweifeln an Begnadigung oder Wies 
derbegnadigung auf Fortfeßung der Sünde, Der Sünder 
fpricht, nun. ift einmal alles verloren, ich bin einmal von 
Gott verlaffen. Oder der vormals erwedte und nun Doch 
durch feinen Fall befchämte Menfch füllt jetzt auf eigne, 
felbfigewählte Büßungen und Genugthuungen, bei bes 
nen der alte inwendige Adam beſtehen kann, und was ed 
für Schlangenwege des Argen mehr gibt. Gegen diefe 
will ihn Luther verwahren, gegen den gänzlichen Abfall; er 
ftärft einen Kleinglauben, ber Unglauben zu werben droht 
oder in Aberglauben übergehen wird. Er fagt nichts anderes 
als die Schrift, wenn fie fagt, „und wenn beine Sünde 
biutroth wäre” Er ftellt auch Feine wefentlid andern 
Beifpiele auf, ald die Schrift in David und andern aufs 
ftelt. Das läßter gar nicht unberüdfichtigt, daß fich durch 
Rückfaͤlle auch das Nochnichtbafeyn Der Wiedergeburt ers 
weilen Tönne, denn warum fagte er fonft si in fide fieri 
posset adulterium ? Doch gehört dieſe Betrachtung einem 


J ” * * 
.,. . » - al ‘ [1 ats 
.# + * ie 


andern Orte an. Es handelte fich bier bloß um bie Frage, 
ob es einen andern Triumph über die vergangne, gegen 
wärtige nder fünftige Sünde gebe, ald den im Glauben 
ergriffenen Ehriftus, ob nicht jeder andre erft durch Dier 
fen errungen werben koͤnne, ob die wiederkehrende Sünde 
die Kraft Gottes und die Schrift befchäme und widerlege, 
ob. nicht vielmehr durch die wahrefte Anjchließung an 
Chriſtus allein alle Zufälle Der zeitlichen Entwidelung, alle 
Gebrechen der eignen Gerechtigkeit fammt Allen Anfechtuns 
gen der Hölle zu befichen ſeyen. Und fo liegt in dem Allen, 
was Luther in folcher Beziehung, wenn fchon hart und 
ſtoßend, unbeftimmt und ſchonungslos, gefagt hat, eine 
tiefere Wahrheit und heiligere Gefinnung — Das pecca 
Sortiter gar nicht ausgefchloffen, als in der ehrbaren Ber 
merfung, Daß es den Gläubigen nicht gezieme, Sünde zu 
tbun. Die Suppofition ift eben Feine Pofition, „Keine 
Sünde,” fagt Luther, „Tann did; verbammen als der Uns 
glaube allein, Fein Wille oder Unwille, nur der Wille, nicht 
zu glauben.” Daraus folgt nicht, daß er ſich wirklid mit 
dem Willen zu glauben jeden Unwilfen zum Guten zufams 
menbentt. „Eine Lüge, behauptet Auguſtinus, wäre Sün⸗ 
de, wenn. auch Durch fie das ganze menfchliche Geſchlecht 
gerettet werden könnte.“ Damit will er ebenfo wenig fas 
gen, daß eine Lüge das Menfchengefchlecht retten könnte, 
oder daß ein folcher Fall mehr als Abftraction ſey, ald Lus 
ther mit den Worten, si in fide ſieri poaset sdulterium, pec- 
_ estum non esset, die nothwendige reinigenbe Kraft des 
wahren Gtaubens leugnen. Was in aller Welt ‚gehen 
aber dergleichen Ausfagen Luthers, gefeßt, daß ſie fittlis 
chen ISndifferentismus begünftigen, fo lange nicht bewiefen 
iſt, daß das proteftantifche Bekenntniß einem fittlich ine 
differenten Glauben die Gerechtigkeit zurechne, die ſymbo⸗ 

lifche Erörterung an? Alle fogenannten exelusivae, näm⸗ 
Ich ans Gnade, ohne. Berdienft, sola fide, wollen fagen, 
daß mein Glaube meine Gerechtigkeit, meine Ungerech⸗ 











proteflant. Beantwort, d. Symbolik v. Möhler. 824. 


tigkeit: nicht anſehen ſolle, daß er ſich gegen jene mit Des 
muth, gegen dieſe mit Muth ans ber Verheißung ftärfen 
müße, folgt daraus, daß er die Gerechtigkeit überhaupt 
nicht anfehe, daß er den Haß der Sünde nicht ſammt der 
Bergebung in Ehrifto in fich aufnehme and dem Leben zurück⸗ 
führe? — Certi sumus, fagt das vierftäbt. Bel, neminem 
iustum aut salvum fieri posse, nisi amet summe Deum, abeg 
dennoch vermittelt e8 bie Vergebung der Sünde durch den 
Glauben allein. 


2, 


Leber die Dignität des Religionsſtifters. 
SinBeitrag zur Ausmittelung de8 Wefend 
ber Frömmigkeit. 

Bon \ 


A. Schweizer, 
interimiftifchem Prediger an ber reformirten Kirche zu Leipzig. 





Ein Hauptbeftreben unferer Zeit ift gerichtet auf Feſt⸗ 
Rellung des Begriffs der Religion, befonders in ihren 
Berhäleniffe zur Philofophie Kine andere, wenigſtens 
für den Thenlogen nidyt minder wichtige, Aufgabe, Die 
Dignität Ehrifti wiffenfchaftlich zu begreifen und über 
das fiheinbar Zufällige hinausgehend auch Die Nothwen⸗ 
digfeit des Berhältniffes zu erkennen, in welchen. ber 
Blaubende ſich zum Stifter feiner. Kirche vorfindet, Liegt 
ebenfalls unferer Zeit zur Löfung vor. Den innern Zuſam⸗ 
menhang aber biefer beiden Beftrebungen, welchen wir. 
fhon daraus ahnen müffen, daß derfelbe Geift ber Zeit 
fih beiden widmet, ins Licht zu ſetzen, bezweckt biefe Ab⸗ 


sa. Cchmeiher 


handlung, indem fie den bisher noch nicht betretenen Weg 
einfchlägt, das Verhältniß des Stifterd der wahren und 
allgemeinen Kirche zu allen übrigen Menfchen als ein noth⸗ 
wendiges zu begreifen und zu zeigen, wie viel Licht das 
durch für das Weſen der Frömmigkeit Tann gewonnen 
‚werden gerade in ihrem Verhältniſſe zum philofophifchen 
Wiſſen. > 

Wenn der Theolog derjenige ift, welcher den Glauben 
mit dem Wiffen zu vereinigen verfteht 9), ober ein Wifs 
fender vom Glauben b), fo muß er fich auch Rechenſchaft 
geben können von feinem und ber gefammten Kirche Vers 
hältniffe zu ihrem Stifter, Die hriftliche Kirche aber 
als hiftorifche Erfcheinung wird man befiniren müffen als 
dasjenige religiöfe Gefammtleben, weldes 
von Chriftus her fein Entfiehen, feine Er hal⸗ 
tung und Weiterbildung ableitet. Diefe hiftos 
rifche Beflimmung ift jedoch offenbar eine foldye, Die nes 
ben dem chriftlichen auch andre religiöfe Gefammtleben 
zuläßt; es könnte daher fcheinen, daß wie eine Menge von 
Staaten, fo auch mehrere Kirchen neben einander, je fitt 
licher der Gefammtzuftand wäre, deſto ungeftörter und vers 
tragfamer beftehen und fich fortbilden müßten, ja daß wie 
die verfchiednen Staaten, fo auch verfchiedne Kirchen uns 
ter einander im Berhältniffe moralifcher Perfonen ftehend, 
einen allgemeinen Organismus bilden fönnten. Auffallend 
genug widerfpricht aber ein allgemeined Bewußtſeyn und 
alle bisherige Erfahrung einem folchen Gedanken, ‚und 
diefes beides kann fich nur darauf gründen, daß Staat 
und Kirche etwas weſentlich von einander verfchiebnes feyn 
müßten. Dieſes zeigt fich zunächft in ihrer quantitativen 
Ausdehnung fo deutlich, daß die Verhüllung dieſer Diffes 


a) Chr. Schleiermach er kurze Darftellung bed theologifhen Stu⸗ 
diums. 2te Aufl. 5.2. 
b) Cie Mar heinecke Dogmatik. 2te Aufl, 5. 6. . 





über die Dignität des Religiongflifters. 523 


renz da wo in Form der Staatsreligion oder. des Reli⸗ 
gionsſtaates das politifche und das religiöfe Element noch 
in unbewußtem In⸗ und Durcheinander find, ung nicht 
mehr irre. machen fann, ſondern leicht als Corruption ers 
kannt wird, indem ja aneinander gebunden wird, was 
nicht daſſelbe Maß haben kann, in Rüdficht auf Ausdeh⸗ 
nung and Verbreitung, und überall, fobald der Zwang aufs 
hörte, mit welchem das eine Element.das andere an fidh 

gebunden hielt, jedes eine eigene Geftaltung annimmt 
von. verfchiedenem Umfange. Da nämlich der Staat.bas 

firt ift auf dad Verhältniß einer zufammengehörigen Mens 

fhenmafle zu einem beflimmten Boden, die Religion hin 

gegen auf das Verhältniß der Menfchen zu Gott, fo wird 

jener in den Maße, als er fittlich ift, beftimmte Grenzen 

anerkennen, biefe hingegen, weil an fein Naturmaß gebuns 

ben, ſich ins Unendliche ausbreiten in ber Enblichkeit des 

Raumes und .der Zeit. Daher rächt fidy die Vermifchung 

des Religiöfen und Politifchen auffallend genug dadurch, 

baß fie beider eigentliches Streben umkehrt. Die Relis 

gion will freie Ausbreitung haben, der-Staat aber ent- 

widelt fi nur wahrhaft innerhalb ber Grenzen einer 

Volks⸗ und Spracheinheit; wenn nun Die Juden in ihrer 

Blüthezeit ſich politifch ausbreiteten, den Unterjochten 

aber ihre Religion nicht gönnten, fo war dieſes eine Um⸗ 

fchrung des fittlichen Verhältniffes, wie wenn heidnifche 

. Bölfer, bei denen das Politifche vorherrfchte, 3. 3. beim 
römischen Volfe, immer mehr fremde Volkseigenthümlichkei⸗ 
ten unterjochten und bie Götter Derfelben in ihre eigene Res 
ligion aufnahmen; denn dadurch verringerten fie die Eis 
genthümlichkeit ihrer urfprünglichen Religion und verwifch- 
tn die Einheit ihres Staates. 

So zeigt e8 ſich überall, daß Staat und Kirche we⸗ 
fentlich verfchieden find ihrer Ausdehnung nach, denn ſo⸗ 
bald jene Formen ber Bermifchung zerfallen, kann das Re⸗ 
ligiöfe fortleben ohne das Politifche, wovon Die jeßigen 

Theol. Sud, Jahrg. 1834, & 


524 Schweizer 


Inden ein ſprechender Beweis find, nud das Politiſche, 
auch wo es bie bisherige Religion verläßt, wie das ramis 
fche Reich ung zeigte, als es zum Ehriftenthume überging; 
‚denn Niemand wird mehr Julians Anficht theilen, daß 
eben diefer Uebergang das eömijche Reich feiner Auflöfung 
zugeführt habe. 

Wir halten alfo diefe Differenz feſt: Se gefunder ein 
Staat iſt, defto mehr bleibt er in feinem Naturmaße, je 
ebler hingegen eine Religion ift, Defto mehr hat fie das 
Streben, ſich überallhin auszubreiten. Da nun aber meh⸗ 
rere Religionen mit diefer Tendenz aufgetreten find, und 
doch offenbar nur Eine die allgemeine werden kann, fe 
fragt e8 fich, wie fie befchaffen feyn müſſe, um Diefem Ans 
fpruche zu genügen. Für Diejenigen freilich, weldje jede 
Kirche nur ald einen Durchgangspunct anfehen möchten, 
wäre erft zu erweifen, daß ed überhaupt eine allgemeine, 
d. h. durch die Totalität des Raums und der Zeit fidy vers 
breitende Kirche geben folle 9. Wir befihränfen uns aber 
barauf, dieſes voranszufegen, zumal e8 fich von felbft mit 
ergeben muß, wenn wir basjenigeleiften, was wir und vor⸗ 
nehmen. 


1) Verhaltniß einer — zu ihrem Stifter. 


Was in der obigen bloß hiſtoriſchen Definition nicht 
der, fondern einer Kirche ald das Zufällige erfcheint, 
nämlich die Befchaffenheit des Stifters, muß feine nähere 
Beſtimmung erhalten, wenn wir diefe Kirche mit der Be- 
hauptung, daß fie eine allgemeine, oder die Kirche ſey, 
auftreten fehen. Und hier trifft mit dem empirifch Borges 
fundenen, daß nämlich nur die hriftliche Religionggefells 
ſchaft den Namen Kirche befommen haf, die fpecnlative 
Wahrheit zufammen, daß nur Eine Religionsgefelfchaft 
die wahrhaft allgemeine ſeyn oder werben kann. Wer als 


a) Hierüber cr. Schleiermader ver chriſti. Glaͤube. 2te Aufl, 
I. 8. 6. .. ® — — 


sun 





über die Dignität des Religionsſtifters. 325 


fo nicht aus bloß zufälligen Gründen den Begriff der Kir⸗ 
che nur fürs Ehriftenthum anwendbar finden will, als ob. 
ein Begriff nur demjenigen Gebiete zuläme, in welchem er 
Hiftorifch fich gebildet hat, und nicht auch allen coordinir⸗ 
ten ®ebieten, der muß entweder jedes religiöfe Gefammtr 
leben Kirche nennen, oder ben nothwendigen Grund aufs 
fuchen, warum nur Einem diefe Benennung zufomme. 
Diefer Grund kann nur gefunden werben it ber Befchafr 
fenheit einer Kirche, dieſe aber. beruht nothwendig auf dem 
Berhäftniffe des Stifter zu den Gliedern berfelben, und 
da das Gefammtleben als religiöſes vom Stifter bedingt, 
hernorgerufen und beftändig dominirt wird, fo lange es 
nämlich befteht; fo wird unfere Unterfuchung fich eigentlich 
befchränfen können, die Beichaffenheit des Stifters zu fins 
den, aus welcher Hann won felbft folgt, wie fidy die um 
den fo and fo befchaffenen Stifter fammelnde Kirche geftals 
ten werde, Wenn wir ader auch nur die Dignität bes 
Stifters ansmittels wollen, fo werben wir wenigſtens als 
Mittel zu Diefem Zwede, aud) die Kirdje felbft zu betrach⸗ 
ten haben, weil ja nur in Beziehung. auf fie jene Dignität 
ihre bifkorifche Bedeutung hat, und ba vollends der Relis 
gionsfifter als zum Theil in worhiftorifche Zeit fallend, zum 
Theil überhaupt ale Stifter eines Neuen, nicht aus ber 
feüheren Zeit zu begreifen ift; fo werden wir erſt aus ber 
Kirche als feinem Werke auch ihn felbft und feine Dignität 
erfennen. Die Kirche aber eben weil fie fein Werk ift, ons 
nen wir gar nicht begreifen, ohne feinen fchöpferifchen und 
erhaltenden Einfluß auf fie mit aufzufaflen. Beides läßt 


ſich nicht trennen, jedoch können wir entweder vom facti⸗ 


fchen Zuftande und Vorhandenſeyn der Kirche ausgehen, 

wobei die Dignität des Stifters fich als Letztes ergeben 

müßte, oder wir können bie Kirche ihrer Genefis nach aufr 

faffen, wobei jenes Legte das Erfte würde. Die beiben 

Zorfchungen müſſen einander ergänzen und fürbern, und 

jede, weil fie eine Abftraction ifl, nur vorgenommen wer: 
; 3" 





04 


526 SCchweizer 


den, mit dem Bewußtſeyn ihres Ergänztwerdens durch die 
andere. 

Wir fragen alſo: Was befähigt den Stifter Anfangs⸗ 
und Mittelpunct einer Kirche, d. h. eines gleich viel wie 
meit in Raum und Zeit fich ausbreitenden Gefammtlebens 
zu werben; erſt wenn fo im Allgemeinen das Verhältnig 
bes Stifters zu einer Kirche und klar geworben ift, läßt 
ſich zu der zweiten Frage übergehen, wie derjenige befchafs 
fen feyn müffe, ber Die Kirche, d. h. das die Totalität des 


menſchlichen Gefchlechtes umfaflende religiöfe Gefammtles 
. ben fliften kann. 


Jenes Erſte nun wird hicht leicht deutlicher erfannt 
als vermittelfi Der Bergleichung zunächſt ded Staates und 


- ber Kirche, denn dadurch fcheidet fich und Das, Gebiet: der 


Frömmigkeit aus von dem bed Staates, erhält alſo feine 
ttähere Beflimmung. Da es und aber darum zu thun iſt, 
den erſtern der oben aufgezeigten Wege zu gehen, d. h. 


‚nicht vom Staate und ber Kirche, wie ſie nun einmal 


als Geworbenes vorliegen, anzufangen, fondern aus ih⸗ 
rer Geneſis die Art und Weiſe der Dignität des Religions, 

ſtifters zu finden, fo ift freilich gleich zuzugeftehen, daß das 
Entfiehen von politifchen und von religiöfen Geſammtle⸗ 
den in, wenn auch zum Theil nur relativ, vorhiftorifche 
Zeiten füllt. Allein da beider Erhaltung hiftorifch ‚vors 
liegt, eine Anflalt erhalten aber und fie ftiften nothwendig 
biejelbe qualitative Willensrichtung vorausfegt, fo gilt 
hier mit Zug und Recht der Schluß aus dem Gewordenen 
auf dad Werden. Wir werben aber um fo weniger in 
ber Luft fehweben, da e8 Aufgabe der Speculation ift, in 
ber Ethik als fpeculativer Darftelung ber gefammten 
menfchlichen Bernunftthätigfeitu) bag Entftehen von Staat 
und Kirche zu deduciren. Auf dieſes beides geftüßt, geben 


*) Bergl, Schleiermacher ber chriſti. Glaube 1. 5, 2, 2, u 





über die Dignität des Keligionsſtifters. 527 


wir die Ausfcheidungbes Gebiets der Frömmig— 
feit von dem des Staates. 

Der Staat entſteht in dem Maße, als nicht zugleich 
das Entſtehen religiöſer Elemente damit vermiſcht iſt a), 
gleichzeitig in einer zufammengehörigen Mafs 
fe, mag nun der Impuls dazu won Einem, ober Einigen 
oder Allen ausgehend gebacht werben und folgerichtig fich 
. bie monarchiſche, ariftotratifche oder demokratiſche Form 
geftalten ; denn was babei vorgeht, ift nichts anbereg, ala - 
daß eine in bloßem Nebeneinanderleben fchon unbewußt 
sufammengehörige Maffe ein von Bewußtfeyn ausgehens 
ber Organismus wird, d. h. ein Zufland, in welchem bie. 
Einzelnen nicht mehr. bloß neben einander, fondern.in, mit 
und. durch einanderihre Thätigkeiten verrichten, vermöge des 
fich feftftellenden Gegenfages von Regierenden und Regier« 
ten. Diefem Satze gefchieht Fein Eintrag durch das Sich⸗ 
ausbreiten eines Staates; benn gefchicht ed durch Erobes 
rung, fo werden die Unterjochten. in dem Maße von den 
politifchen Thätigfeiten ausgefchloffen und als bloßer Stoff 
behandelt, als die Eroberer fich Feiner. Zufammengehörigs 
teit mit ihnen bewußt find; gefchieht es aber durch das 
Uebergehen verwandter. Fleinerer Staaten in bie Einheit, 
fo wird Diefes Entftehen einer höheren Staatsform, unb 
fey e8 nach noch fo langen Schwanfungen und Reibungen 
durch Einen Act conftituirt und hat feinen. beflimmten Um⸗ 
fang eben in dem Maße dieſer verwandten Volkseigen⸗ 
thümlichkeiten. 

Auf ganz entgegengeſetzte Weiſe entſteht ein religiö- 
fe8 Sefammtlebenin dem Maße fucceffio und in un⸗ 
beftimmten Umfang hinaus, als es frei ift von Vermi⸗ 
(hung mit dem Politifchen d). Wenn ein Individuum 


2) Bas wir pag. 523 als eine Corruption erkannten. 
b) Aus biefer Vermiſchung ergibt fi bie eben nicht vein veligisfe 
Art, wie ber Muhamedanismus ſich ausgebreitet bat, doch laſſen 


328 Schweizer 


bie Froömmigkeit, das Gefühl oder unmittelbare Bewußt⸗ 
feyn des Abfoluten, Unendfichen, Böttlichen, in fich hat, 
was immer nur ber Kal fit, wenn dieſes Verhältniß ein 
im Individuum eigenthümlich beſtimmtes wird a), fo zieht 
es verwandte Sndivibnalitäten an, fobald jenes lebendige 
Element mit ihnen in Berührung kommt zur glücklichen 
Stunde, wo fie für den Eindruck aufgefchloffen find b). 
Auch das Entftehen der Kirche ſetzt alfo ein gefellfchaftlis 
ches Leben voraus, anerfennt aber in Feiner beftimmten 
Begrenzung deſſelben eine Grenze feiner Verbreitung. 
Vorausgeſetzt find daher auch ſchon religtöfe Elemente in 
dieſem gefellfchaftlichen Leben, aber zu diefen flehen bie 
Einzelnen in verſchiednem Verhältniffe, entweder vun ih⸗ 
nen dominirt, d. h. gegen fie bloß aufnehmend, receptiv 
ſich verhaltend, ober aber fie bominirend und damit nud 
jene andern Einzelnen, die nun allmählidy angezogen werben 
yon nicht begriffner Gewalt deffen, der über bie bisher 
vorhandnen religiöfen Elemente fich erhoben hat und das 
durch Stifter eined neuen Gefammtlebeng wird. 

Penn nun der Staat durch eine zufammengehörige 
Maſſe hindurch zugleich wird, fo ift ihm damit die natürs 
liche Grenze angewiefen, über die er nicht hinausgreifen 
fol; wenn hingegen eine Kirche c) entſteht Durch ſucceſſi⸗ 
ſich auch hier beide Elemente unterfheiden; wenn politifähe Im⸗ 


pulſe eine volksweiſe Ausbreitung erzwangen, fo theilte ſich doch 
der religiöfe Gehalt den u fucceffiv mit und in unbeftimms 
ter Ausdbehnung.. - - 

a) Marheinede in ber Dogmatit 2te Auflage 8. 26. nennt das 
Poſitive eine Poſition Gottes in der Vernunft. Eben weil es 
eine Poſition iſt, müſſen wir ſie als in der Vernunft jedes Men⸗ 
ſchen, fo wie dieſe ſelbſt, von beftimmt, d. h. indivi⸗ 
duell denken. 

b) Ueber dieſes Sichausbreiten der beftimmiten Religion verſuchte der 
Berfaffer ſich deutlich zu erflären in einer Kritik des Gegenſatzes 
von Rationalismus und Supranaturalismus. Zürich 1838. 

c) Man erlaube der Kürze wegen biefen Ausdruck für jedes reli⸗ 








über die Dignität bed Religionsſtifters. 529 


ves Angezogenwerden an .den Stifter, fo liegt barin bie 
Berneinung jeder. Naturgrenze und von biefer Seite bie 
Möglichkeit, univerfell zu werben. Die nothwenbige 
Grenze einer Kirche ift Feine andere als das in ber Ausdeh⸗ 
nung des Raumes und Der Zeit allmähliche Verſiechen und 


| zu ſchwach Werden jened bominirenden Einfluffes, der vom 


Stifter ausgeht. Eine Kirche breitet fih alfo in Raum 
und Zeit fo weit, aber auch nicht weiter aus, ald der Eins, 
fluß des Stifters ein Dominirender bleibt. 

So liegt das Map einer Kirche im qualitativen Bes 
ſchaffenſeyn ihres Stifters und feinem Verhältniffe zu den 
Anzuziebenden, und die Ausbreitung eiser Religion ift nur 
zu faſſen als Die Vielen gegeinfam werdende religiöfe Ins 
bividualität des Stifters. Wie fehr dieſes mit Der Auffaſ⸗ 
fung Ehriſti übereinftimmt, beweift uns fchon feine Vers 
gleihung der Kirche mit dem Weinſtock; es fol alfo ein 
Sefammtleben feyn, in welchem nichts von Außen hinein 
oder hinzugebzacdht wird, fonbern alles fic ans dem Stifs 
ter innerlich entwidelt, wie em vegetabilifcher Organids 
mus aus feinem Keime; und Alles Aeußere kann nur bie 
Beringungen, nicht einen wefentlichen Theil der Kirche 
bilden. Diefer ganze Vorgang ift nur moͤglich, wenn er 
das Dielen genteinfam Werden einer Individualität iſt; 
wenn aber jeder Menfch einerfeits allen Menfchen Id en⸗ 
tifhes, anderfeitd eine von allen Andern verfchiebene 
Jndividuglität hat, fo haben wir nach dem Gefagten 
die Dignität des Religionsſtifters in feinem Weſen, ſo⸗ 
fern es individuell if, zu ſuchen. Darum will die 
Kirche von Einem Einzelweſen aus nicht nur entſtanden, 
ſondern auch fortgebildet und erhalten ſeyn, ſo lange ſie 
dauert. Auf der andern, Allen identiſchen, Seite muß hin⸗ 
gegen der Staat liegen, da er zugleich in allen Gliedern 
eines Geſammtlebens entſteht. 


sißfe Geſannntleben. Die Kirche bleibt und iſt darum — die 
einzige. 








530 Schweizer 


Allein es ſcheint nun, daß, went bie Religion als poſl⸗ 
tive in der Individualität wurzelt, ed Dann auch viele ſol⸗ 
cher gemeinfame werbenden religiöfen Inbivibnalitäten ges 
ben müßte, und eine Menge einander coorbinirter Kirchen 
entfländen, die ald Vernunft darftellende Gefammtleben 
‚einander vertragfam refpectiren und anerfennen, ja mit 
einander wie verfchiedne Staaten in Verbindungen und 
zulegt in Einen höhern Organismus treten müßten und doch 
hat vielmehr jede Kirche, je ebler fie ift, deſto Fräftiger von 
allem dieſem das Gegentheil angeftrebt und gefordert, die 
einzige, allgemein werdende zu ſeyn. Wie ftehen wir alfo 
hier zu dem, dochafchwerlich zu wiberlegenden, ethifchen 
Sage, daß wie bie einzelnen Individuen, fo die morali- 
fhen oder zufammengefegten Perfonen einander refpectiren 
und nicht ald bloßen Stoff, dem erft Vernunft einzubilden 
fen, behandeln follen ? 

Auch darüber erhalten wir Auffchluß durch Verglei⸗ 
hung des Staates mit der Kirche, indem wir gendthigt 
werden, zu jener Eintheilung aller menfchlichen Bernunfts 
thätigkeit in identifche und individuelle noch eine zweite, 
dieſe kreuzende, Theilung aufzufuchen ). Alle Vernunft 
thätigfeit des Meenfchen, gleichviel ob identifche oder indis 
piduelle, iſt zu betrachten einerfeits als eine fich den Stoff 
anbildende, ihn zumDrgane der Vernunft machende, alſo 
organiſirende, oder als eine Vernunft im Stoffe dar⸗ 
ſtellende, den Stoff zum Symbole derſelben machende, al⸗ 
fo ſymboliſirende. So fehr nun auch beide Ein Ganzes 
machen und nie bie eine ift ohne Die andere, fo wird bei je⸗ 
der unſerer vernünftigen Thätigkeiten die eine überwiegen, 
die eine gewollt ſeyn und die andere als Minimum, mehr 


a) Beide Eintheilungen begrfindet Schleiermacher in feiner zwei⸗ 
ten Abhandlung „Über den Begriff des höchſten Gutes” in den 
Jahrbüchern ber berliner Akademie, vorgelefen 1830; und für die= 
ienigen, welhe ihn hören können, in feinen Vorleſungen über die 
Ethik, on 





über bie Dignität bes Religionsͤſtifters. 531 


zufällig oder begleitend ſich auffinden laſſen. Dieſes leuch⸗ 
tet ein, ſybald wir einerſeits ans Gebiet ber Kunſt bens ' 
Ten, wo offenbar das Darftellen eines Bernunftgehaltes 
im Stoffe die Hauptfache ift, daß das Kunſtwerk aber zugleich 
Organ feyn kann, um andern Vernunftzwecken zu dienen, 
nur zufällig; anbererfeits an bie auf ben Boden gerichtete 
Thaͤtigkeit, Agrikultur, die offenbar verrichtet wird, den 
Boden zum Organe zu machen, Das vernünftige Bebürfnifie 
befriebige, hingegen zufällig diefe Thätigkeit zugleich Vers 
fchönerung der Erdoberfläche ‚wird, alfo ein Zeichen ober 
Symbol der Vernunft. Wie verhält ſich nun das Entftes 
ben und Sichausbreiten einer Kirche zu dieſer Eintheilung? 
Der Ausdrud, eine Kirche bilden, fcheint Deutlich genug an 
die den Stoff bildende Thätigfeit zu erinnern, aber er ift 
eben ein fchiefer Ausdruck, dem wir abfichtlich den des Ents . 
ftehens einer Kirche vorziehen. Die barftellende Thätigs 
keit ift gar nicht nothwendig eine in den.änßern Stoff eins 
tretende, fondern Tann völlig verlaufen in und an dem 
Menfchen felbit, wie und, um: einen Kunſtzweig anzufühs 
ren, fchon die Mimik zeigt. Aber wenn fie ſich nicht ablö⸗ 
fet von dem darftellenden Menfchen, fo ift imihm das eis 
gentliche Wefen der Vernunft anseinanderzuhalten vom 
Leiblichen und Phyſiſchen, alfo auch. vom Schematismus 
Des Bewußtſeyns, welcher eben auch ber Drt, oder, wenn 
man will, Stoff feyn kann, in welchem Vernunftgehalt fi . 
darſtellt und dieſes ift gerade aller Kunft bad Wefentliche, 
Daß fie zuerit im Menſchen felbft ihre Werke darſtellt, und das 
Hinausſtellen in die Außenwelt nur eine Erweiterung hier⸗ 
von iſt. Nothwendig muß daher Alles, was mit dem Wifs 
fen und Selbftbewußtfeyn oder Gefühl zufammenhängt, . 
eine barftellenbe Thätigkeit feyn, wefentlich und zunächft 
einen Bernunftgehalt dvarftellend im Wiffenden und Fühs 
lenden felbft, fein Bewußtfeyn und Gefühl durchdringend 
and, je lebendiger dieſes gefchieht, defto mehr fich auch Durch 
die. förperliche Organtfation Fund thuend in Bewegung ber 


3323 Schweizer 


Oberflaͤcht und der Stimme, worans Mimik und Mupit 
entforingen, felbftftindig oder Die Sprache begleitend, weis 
che felbft aur Das Hinaugftellen Des Denkens if. 

Auf diefer Seite der Vernunftthätigkeit, wo fich biefe 
darfteflen will nach Anden, liege num auch das Religiöſe, 
indem dag Entſtehen ber Kirche nichts anderes ift, als daß 
der Stifter fein religiöfes Bemwußtfegn darftellt uud aus⸗ 
fpricht, die ed Wahrnehnrenden und Auffaſſenden aber 
ach dem Principe ber Wahlverwandtfchaft zu ihm hinges 
zogen werden. Auch dieſe Anficht hat Chriftus deutlich 
auögefprochen, wo er Joh. VI. 44. den Juden, die auf alle 
Weiſe durch Berftandesfchlüffe aus feinen Reden und Thas 
ten fi zu ihm in ein Berhältuiß zu feßen fuchten, aut⸗ 
wortet: Keiner kömmt zu mir, es ziehe ihn denn der Bas 
ter, der mich gefendet hat, Wenn er aber eine Wahldns 
ziehung poftulirt, fo hatte er alfo in irgend einer Form 
dDiefelbe Erfenntniß, in welcher endlich von Kant an faft 
alle nenern Philofophen, Jakobi und Hegel nicht ausge⸗ 
ſchloſſen, übereinftimmen, daß der endliche Berftand näm⸗ 
lich das Unendliche durch Feine Schlüfle finden fünne und 
nicht das Bermögen fey, Das Göttliche zu erfaffen; darin 
jedoch, ob und wiedann dieſes erfennbar fey, find fie freilich 
garnicht einſtimmig. — So wie die Freundfchaft und Liebe 
im fittlichen Sinne nur dadurd, entfteht, daß Menfchen, 
die für einander ihre Individualität manifeftiren, durch 
Wahlverwandtfchaft zu einander hingezogen werben, fo 
oder wenigftens analog fehließt fich der- Einzelne an den 
Stifter der Kirche an und die Kirche ift eben die Totalität 
dieſes Gläubigwerdens der Einzelnen ; wenigſtens gilt Dies 
ſes für die Zeit, während welcher der Stifter noch als ein⸗ 
zelne Perfon auf der, Erbe lebt; nachher aber muß das 
individuelle Gegenwärtigfegn Deffelben vertreten werben, 
theild durch Fefthaltung deffelben in der Einbildungskraft, 
bie durch wiffenfchaftliche Auffaffung geregelt wird, theild 
durch die ſich ausbreitende Kirche felbft, die eben nichts 





über die Dignität des Religionsſtifters. 333 


anbres ift, als die Vielen gemeinfam werdende zeligiöfe 
Individualität des Stiftere. Auch auf diefes Beides, ein 
ideales Gegenmwärtigfeyn als einfache Perfon und. als zus 
fammengefette, hat Chriftus offenbar genug hingewiefen, 
auf jenes in vielen Stellen 3. B. wo zwei ober brefin meis 
nem Namen verfammelt find, bin ich mitten unter ihnen; 
auf diefes in allen ben Stellen, - welche die Gemeinde den 
Leib Ehrifti nennen. — Das Stiften einer Kirche ift alſo 
nie ald Natur bildende, d. h. organifirende Thätigfeit zu 
begreifen, als ob fie einen bloßen Stoff zum Organe der 
Bernunft machen wolle, etwa um Gott damit einen Dienft 
zu erweifen, ſondern auch bie vollendete Kicche kann ims 
mer nur Den Geift in feiner eigenthämlichen Beftimmtheit 
darftellen wollen, der in ihr lebt, den Erfolg erwartend, 
den es bei den diefe Darftelung Wahrnehmenden haben 
werbe, nicht aber ihn herbeizwingend, wie hingegen alle ors 
ganifirende Thätigfeit e8 recht eigentlich baranf anlegt, dep 
Stoff zu zwingen, Daß er Organ der Vernunft werde a). 

Jetzt haben wir den Schlüffel zu jener feheinbaren 
Eollifion zwifchen dem Streben einer Kirche, allgemein zu 
werben und ber Pflicht, andre einfache oder zufammens 
geſetzte Derfonen zu refpectiren und nicht als Stoff zu bes 


a) Schon Zwingli hat diefes deutlich erkannt, wenn er fagt: „Der 
evangelifhe Hirt ift nicht berufen, das Volt zum Glauben zu 
zwingen.” Aud die Apoftel fanden ihren Beruf darin, Zeugniß 
abzulegen und zu predigen von Chriftus. Alle jene verderblichen 
Berſuche, das Chriſtenthum mit Gewalt aufzuzwingen, wie bie 
Spanier 3. B. in America thaten, und überhaupt den Glauben 
erzwingen wollen, entfpringen aus bem Wahne, als fey diefes eine 
organificende Thätigkeit. Aus bemfelben Irrthume fehen wir jene 
Anſicht vieler Politiker entflehen, die Religion ald ein Mittel zu 
Staatszwecken zu brauchen. Verſucht man auf dem, zwar andern, 
Gebiste des Wiffens, die Anbern „zum Verftehen zu zwingen,” 
wie Ficht e es that, fo kann das Möthigende nur wieber im Dars 
flellen der Neberzeugung liegen, aber die Ungebulb muß dennoch 
e8 erwarten, ob Andre es verflehen und die Operation BUmadEn 
können. 


>} Schweizer: 


handeln. : Die Kirche nämlich kann in diefe Berfuchung 
nicht kommen, fobald erkannt ift, Daß fe auf fombolifirens 
der Thätigfeit beruhe; denn fie ftelt nur ihren Geift dar 
in Kultus und Berfündigung, und wird, je mehr fie Die 
wahre Kirche ift, deſto ruhiger und vertranender ben Er⸗ 
folg.erwarten, der als ein freier fich entwideln foll. 

Bon dem Staate bedarf ed, zumal. wir ihn hier nicht 
um feiner felbft willen betrachten, gar nicht Der Nachweis 
fung, daß er hingegen auf organifirender Thätigkeit ruhe, 
Eben fo wenig führen wir die übrigen Puncte an,. worin 
Staat und Kirche verfchieden find; denn auch beider Ver⸗ 
gleichung ftelen wir. nicht an um. ihrer. felbft willen, fons 
dern bloß wiefern fie und Mittel ift, Die Dignität Des Res 
Yigionsftifters und zugleich das eigenthümliche Gebiet der 
Frömmigkeit zu finden. 

Das Wefentliche ift.alfo: der Staat beruht auf orgas 
nifirender, die Kirche auf ſymboliſirender Thätigfeit, 

Wenn. wir nun auch die Art und Weife gefunden ha- 
ben, wie die Kirche entſteht und für ihren Umfang ein 
Map. in der Natur fanden, fondern einzig im bominirens 
den: Einfluffe des. Stifters: fo tritt und Die wichtige Frage 
entgegen ‚, die in unfrer Zeit nicht mehr entweder ignorirt 
ober gleich durch Berufung auf die Gottheit Chrifti um⸗ 
gangen werben darf, bie für die MWiffenfchaft vielmehr 
ihren Ermweid eben aus der Beantwortung jener Frage fin⸗ 
ben kann: „Wie ift es möglich in alter Vergangenheit ein 
Einzelweſen anzunehmen, das als Stifter einer Kirche 
Sehrhunderte lang dominire, ja als Stifter der wahren 
Kirche dominiren müffe bis and Ende der Zeiten, fo dag 
nie einer über ihn hinausfommen oder auch nur ihm gleich⸗ 
fommen Tann?“ Auch in der Kunft und Wiffenfchaft 
zwar gibt ed Meifter, die da Schulen ftiften, aber wo 
würde man einem folchen die Behauptung gelten Iaffen, 
daß er-num für alle kommenden Jahrtaufende fein Gebiet 
vollendet habe und in aller Zukunft nur Iernend bei ihm 





über bie Dignität des Religionsſtifters. 535 


gefchöpft werden müffe? Das ift das Migtrauen, welches 

Viele wider den Religionsftifter mitbringen, ohne darum 
unebel zu ſeyn, fondern oft vielmehr ausgerüftet mit gar 
ftarfem Vertrauen auf die Kraft und Perfectibilität der 
menfchlichen Gattung, gemäß welcher, wie. fie meinen, 
in allen Lebenögebieten immer Beßre kommen follen, übers 
-ragend die Früheren, deren Leiftungen fle ja dankbar bes 
nutzen Tönnten. 

Dieß ift nun der Haupteinwurf gegen die Univerfalis 
tät der Kirche im Raume und namentlich in der Zeit. 
Wir werden nur Licht finden durch Vergleihung bier 
Frömmigkeit mit dem Wiffen und Ausſchei— 
dung jener von dDiefem Daß beide zur fombolis 
firenden Thätigfeit gehören, ergibt fich aus bem oben Ges 
fagten von felbft, und das ift eben ihr Gemeinfames ges 
genüber dem Staate und allen organifirenden Thätigkeiten. 

Faſſen wir das Gebiet des Wiſſens ind Auge, fo bes 

gegnet und, wie im Gebiete der Religion die Kirche, ſo 
hier num die Schule ald Bereinigung von Lernenden um 
den Meifter in irgend einem gelehrten Gebiete. Aber eben 
diefer Gegenfaß zeigt fich gleich als auffallend verſchieben 
Yon dem zwiſchen dem Religiongftifter und feinen Gläu⸗ 
bigen. Zunächſt lehrt und die Erfahrung, daß wiſſen⸗ 
ſchaftliche Schulen, je geiftiger und regfamer bad Gefammts 
leben ift, deflo geringere Ausbehnung und Dauer finden, 
weildas Wiffen die individuelle Geftaltung nur ald etwas 
Zufälliges an»fich haben kann, daher fie auch das Bers 
gängliche und Wechfelnde feyn muß. Nie wagte es ein 
Gelehrter, auch wenn er eine Schule gründete, zu be⸗ 
haupten / daß er nun. fein Feld des Willens, in welchem 
er die Schüler befonderd 'anregte, ganz ausgemefjen und 
erfchöpft habe, daß diefe Wiffenfchaft nun für immer ers 
ledigt fey und von allen folgenden Gefchlechtern nur aus 
ihm und feinen Schriften gefchöpft werden müſſe. Im 
dem Maße vielmehr als einer fein Selbftgefühl folchen Bes 


535 Schweiger 


hauptungen näherte, haben je die am klarſten Wiſſenden 
ihn verkacht und zum Voraus Einfeitigkeiten bei ihm ver⸗ 
muthet, bie auch immer von Spätere find. nachgewiejen 
‚worden. a). Nicht fo die Neligionsftifter, fondern die ha⸗ 
best, .je reiner ihre Zrömmigfeit war, deſty flärfer auch 
immer ausgeſprochen, daß dieſe über ganze Völker, ja 
alle Menſchen fich verbreiten folle, und das haben auch 
je die Frömmften in ihrer Kirche von je her gau in der 
Ordnung gefunden. 

Nehmen wir vollends einen N hinzu , ware 
um der Stifter einer Schule. nie für lange Zeiten, oder 
gar für immer in einem Gebiete dominiren Tann, nämlich 
den, daß alle Theile des Wiſſens eine organifche Fotali⸗ 
tat bilden, alfo gegenfeitig. auf einander fürbernden- und 
hemmenden Einfluß üben, ſo ergibt eg ſich, wie nothwen⸗ 
Dig man jede Behauptung, als habe Einer. ein Feld des 
Miffens: für immer erfchöpft, für nichtig. exflären muß; 
denn follte fie wahr ſeyn, fo müßte zugleich behauptet 
werden, daß, jener große Meifter Das ganze Gebiet alles 
ſpeculativen und empirifchen Wiffeng in allen feinen Their 
Ien und. im Geſammtzuſammenhange vollendet in ſich abs 
gefchloffen, ‚indem ja, wenn er auch nur einen einzigen 
Theil nicht. in ſich hätte, deſſen Weiterförderung durch 
"Spätere.auch nothwendig Das übrige vermeint Bollendete 
weiter bringen müßte, Sp gämzlic, undenkbar ift es, eis 
. nen Gelehrten aufzuftellen, der auch nur einen an des 
Wiſſens für immer vollendet hätte. 

Aus dieſem Grunde haben ſich daher die Gelehrten 
einer Theilung der Arbeit unterzogen und theilen ſich ziem⸗ 


* So regen ſich jetzt ſchon neben den Meinungen, daß H egel die 
Philoſophie weſentlich vollendet babe, unter feinen Schülern und 
- anberwärtd immer beutlichere nicht bloß Ahnungen; fondern Nach⸗ 
weifungen, daß auch diefer große. Denker zwar wefentlihe, uns 
möglich zu ignorirende Schritte vorwärts gethan habe, aber die 
Philoſophie Über dieſelben hinausgehen und Einpitigeiten übers 
winden ‚mäffe. 


’ 





über die Dignitkt des Religionsſtifters. 547 


kich..feiehfam:iu beſtimmte Gebieta des Wiſſens Facultaͤ⸗ 
ten und noch engere Theile, und müſſen dieſes immer 
mehr thun, je weiter das, Wiſſen an Inhalt und Umfong 
gewinnt, ſobald nur jeder in feinem. Gebiete ſich Den. Zur 
fammenhang mit allen. andern / zu ropräfentiren.meiß, und 
we dieſer geſtört if, Talente eines mehr orbnenden “ 
ſchaffenden Geiſtes eingreifend machhelfen. 

Einem Religionsſtifter hingegen iſt eſs nie. beigefalfen, 
er wolle Doch Diefe und jene ‚Seite oder Abtheilung der 
Religion recht tief auffaſſen uud darſtellen, andre hinge⸗ 
gen Anbern überlaſſen, fondern jeder hat immer ein Gans 

zes haben wollen und die ganze, volle Frömmigkeit bary 
— Wenn nun freilich unter den chriſtlichen Theolo⸗ 
gen jenes friedliche Sichvertheilen in die verſchiedenen 
theologiſchen und andern nothwendigen Disciplinen ſtatt 
findet, ſo iſt dieß gerade recht ſehr eine Beſtaͤtigung des 
Geſagten; denn offenbar findet dieſe Vertheilung nur 
ſtatt, wo. es eine Wiſſenſchaft über Die Religion gibt; das 
eigentlich religiöfe Leben aber will gar nicht fich theilen 
Laften und was Paulus über die verfchiedenen Eharismata 
des Geiſtes fagt ift nichts anderes, ald daß nach Maßr 
gabe der Talente diefelbe ganze Srömmigtei in verſchie⸗ 
Denen Formen darzuitellen fey. 

Endlich, um noch eine Berfchiebenheit anzuführen, 
wird ber Stifter einer Schule wie jeder Gelehrte ſich ans 
fehen als einen, der Die Leiltungen Früherer benutzt um 
Bas Seinige binzugetban habe, um die Gefammtaufgabe 
einen Schritt weiter zu bringen. Richt fo der Religions⸗ 
ſtifter, fondeen ſelbſt wo er in.einem ſchau gewordnen res 
ligiöfen Geſammtleben auftritt und geſteht, daß er kenne, 
was der Stifter von dieſem mitgetheilt habe, wird er das 
Reue, das er mittheilt, nicht halten für ein Etwas weitere 
bringen bes Frühern, fondern Die in ihm- eigenthümlich 
beftimmte Religion als. urfprünglich.. in. ſich wiſſen, und 
entſtanden aus einem. durch Teinen andern Menſchen vera 








sss "7. Ze 


mittelten Berhältnife mit Gott. Die Gelehrten: wollen 
eine alte Schöpfung weiter bringen, gefegt auch durch 
totale Umbildung ihrer Formen; der Religionsftifter. hints 


gegen will eine ganz neue Schöpfung nicht nur ‚grünben, 


fondern auch gleich dem Wefen nach vollenden. Jeuer 
weiß und hofft, daß Spätere fein Werk fortfegen und befs 
fern werben, diefer würde einen: ihn verbeffern Wollenden 
für einen Irrlehrer erflären. 

Sp zeigen fih und Wiffen und Frömmigkeit in der 
- Erfahrung als gänzlich verfchieden auch in der. Art, wie 
. ihr Ganzes zu Stande fommt. Dort fol ein Bau erftchen, 
an den Unzählige ein Stüd einfügen, das Ganze fol Res 
fultat der wiffenfchaftlichen Thätigkeit Unzähliger. feyn; 
hier hingegen baut Einer das Gebäude und alle Andern 
können an dieſer Xhätigfeit nur. Theil nehmen, wenn bie 
Eigenthümlichkeit des Banmeiflers die ihrige geworden iſt. 

Wir fuchen für dieſe erfcheinenden Differenzen bie 
‚ nothwendige, fpeculative Begründung, die uns die Froͤm⸗ 
migfeit ausfcheide aus dem Gebiete des Willens. Zu bie 
fem Ende nehmen wir die oben angegebene ‚@intheilung 
aller menfchlichen Bernunftthätigfeit, gleich viel.ob orgas 
nifirenden oder fombolifirenden, in ibentifche.und ins 
dividuelle wieder auf al& fließenden Gegenſatz; und es 
fragt fi nun, nachdem und das Willen und die Fröm⸗ 
migfeit beide. dem Staate gegenüber auf. Seite der ſymbo⸗ 
Iifirenden Thätigleit zu ſtehen kamen, wie ſie ſich nun zu 
diefem andern Gegenfage verhalten. Die Aufgabe aller 
- fombolifirenden Thätigkeit ifl: der ganze Bernunftgehalt 


fol fich darftellen. im Bewußtfenn, und alle Räume und 


Formen des Bewußtſeyns follen mit Vernunftgehalt ers 
- füllt werden, fo daß beide in’einander aufgehen. Da nun 
bie Menfchen eine Gattung find, beftehend aus der Totas 
lität der Individuen, die in je den höhern Gattungen im 
Reiche ber Natur immer beftimmter als von .einander vers 
ſchieden ausgeprägt ericheinen, ſo daß man den Supres 


. 


über die Dignität des Religionsſtifters. 539 


mat der menfchlichen unter allen Gattungen irbifcher. We⸗ 
fen eben. darin finden kann, daß ihre Individuen nicht 
mehr bloße Eremplare find, wie bei Pflanzen und Thieren, 
fondern eigenthümlich von einander verfchiedene Indivi⸗ 
Duen, und diefes unter je Den gebilbetern Völkern immer 
mehr ſich ausprägt: fo muß jede Thätigkeit des Menſchen 
einen zweifachen Eharalter haben, den der Gattung und 
den des Individuums;  vermöge des erftern verrichtet der 
Menfch feine Thätigkeit auf eine allen Menfchen iventifche, 
vermöge des letztern anfeine individuelle Weife; und wenn 
nun auch, fo gut wie ber Menfch mit beiden Charaktern 
eine Einheit ift, auch diefe-beiderlei Xhätigfeiten nie ohne 
einander find, fo Dommirt ‘doch enitweber Die eine oder bie 
andre, gerabe fo wie dDiefes bei der Theilung in organis 
-  firende und fombolifirende Thätigkeit der Fall war. Solche 

fließende Gegenfäge können in der Wiffenfchaft darum die 
allein wahren ſeyn, weil fich in der Realität des weltlis 
hen Seyus auch nur foldhe finden, das Willen aber mit 
dem Seyn in Lebereinftimmung ftehen und eine Einheit 
bilden fol. — Mit dem Staate haben wir die organifirende 
Thätigfeit von unferm Gegenftand ausgeſchieden; und 
nun it eben die zuletzt abgehandelte fombolifirende, infos 
fern fie den identifchen Charakter hat, das Wiffen, ins 
fofern fie den individnellen hat, das unmittelbare Selbftr 
bewußtfeyn oder Gefühl, Im: Wiffen geht jeder von 
der Vorausſetzung aus, daß es Allen identifch ſey, im 
Gefühl aber weiß fich jeder als individuell. Wie nun das 
Wiſſen oder objective Bewußtfeyn eine Richtung hat auf 
das Befondre und Einzelne hin, Die wir empirifches 
Wiffen, und eine Richtung auf das Allgemeine und Ab- 
folnte hin,.die wir Speculation nennen, fo iſt im uns 
mittelbaren Selbftbewußtfeyn die Beziehung auf das Ein- 
zelne die Kunft, auf das Allgemeine und Abfolute Die 
Religion, oder weil die Seite des Gefühle mehr paf- 
ſiv zu faffen ift, fo nennen wir die Kunft ein — 

Theol. Stud, Jahrg. 1884, 


540 Gchweizer 


des Selbſtbewußtſeyns Yom getheilten Seyn, die Nefigion 
pas Afficivtſeyn des — and vom 
abfoluten Seyn. 

Aus diefen in der Ethit —— Saben erffärt 
fich nun jene in der Erfahrung gegebene Differenz zwiſchen 
Kirche und Schule. Es iſt nun begreiflich und nochwen; 
big, daß im Willen, als einer für alle Menfchen identi⸗ 
fchen Operation, in Beziehung auf welche die Einzelnen 
bloß quantitativ verfchieden find, indem die Einen mehr 
wiffen.oder einen andern Theil wiſſen ald die Andern, und 
die Spätern immer von den Krühern, was dieſe mühfıum 
probucirten, leicht aufnehmen und an Neues fid; wenden 
tönnen, unmöglich ein Einzelner ftatuirt werden fann, Der 

für immer etwas abgefchloffen hätte. Auf Seite des Ge⸗ 
“ fühle Hingegen, wo die qualitative Differenz der Indivi⸗ 
Buralitüt Herrfcht, ift jene Möglichkeit, daß eine Indivi⸗ 
buakität die vorzäglichfte fey. Daher verwickeln fich die⸗ 
jenigen in unauflösliche Schwierigkeiten, welche die Froͤm⸗ 
migkeit für ein Wiffen halten und doch in Diefem Gebiete, 
das dann ein für die Thätigfeit Aller iventifches wäre, eis 
nen Religiongftifter wollen, ‘der die ganze Menfchheit Dos 
miniren und in feine Kirche. zufammenfaflen folle ©). Dies 
ſes widerfpricht dem Begriffe des Wiſſens fo fehr, daß es 
vielmehr leicht wäre nachzuweiſen, ‚wie in biefem Gebiete 
felbft jchon dasjenige Dominiren eines Einzelnen, welches 
eine Schule hervorruft, Ießteres nur kann vermöge eben 
eines Imdividuchen, das am Meifter ift, und überhaupt 
das Identiſche immer wenn auch nur zufällig begleitet, fo 
daß eigentlich nie die objectiven Kenntniſſe des Meifters 
die Schule hervorrufen, ſondern vielmehr die eigenthüm⸗ 
liche Beſtimmtheit in der. Art und Weiſe, wie er erkennt, 


a) Man erinnre ſich hiebei an Hrn. Lic. MÜllers intereffante, eine 
Hauptfrage unfrer Beit betreffende Recenfion von Göſchels Schrifs 

‚ ten in den theol. Stud, und Kritiken Jahrgang 1833, Ates Heft, 
worauf wir unten näher eingehen werben. 





über die Dignisät des Religionsſtifters. 544 


trennt, ordnet, verbindet, mit Einem Worte feine Mas 
nier, welcher Begriff ja offenbar aus Dem individuellen 
Gebiete der Kunft herübergenommen ift, wozu dann im⸗ 
mer der verwandte. bed Originellen fich geſellt. Ja fogar 
die im Großen hervortreteude Eigenthlimlichkeit des Wifs 
fens im Nationalcharakter und einer beftimmten Sprache 
find unmöglich abzuleiten aus einem Individuellen, das 
im Wiffen felbft wäre, fonbern entſtehen durch von 
Außen geordnete Raturmaße und Raturbifferenzen, aus 
denen in der Menfchheit Die verfchiednen Rasen und Volks⸗ 
eigenthümlichkeiten herfließen; daher felbft Diefes national 
Individuelle verfchwindend muß gedacht werben, indem 
das Wiffen nur ſich wahrhaft vollendet als ein allen Mens 
fchen Ssdentifches, das Die ihm zufälligen Individualitäten 
überwindet. Weil alfo bier Die Menfchen identifch oper 
riren, fo bat jeder das Recht, was er erfennt,. beizus 
geben dem großen Geſammtwerke; und obfchon der eine 
mehr als der andre leiftet, kann dennod; feiner aldominis 
rend ſeyn. 
Wenden wir uns hingegen wieder zum Gebiete des Ins 
dividuellen, fo beruhen diefe auframalitativen Verfchiedens 
heiten, und wie wir nun, weil diefelben auf verfchiedner 
Mifchung der den Menfchen ausmarhenden Kräfte berus 
ben, fehen, daß ein Individuum für diefe, ein andres 
für eine andre Function das geeignetere ift, alle. Individuen 
aber vermöge bes Principe der Wahlverwandtfchaft ein« 
ander mehr oder minder anziehen und abftoßen, fo müfs 
fen fich bier Gruppirungen bilden um Einzelne herum, So 
haben wir den Ort gefunden, wo aud; Kirchen entfichen 
fönnen, und da hier Feinerlei begrenzendes Maß zu finden 
ift, fo wird felbft die allgemeine Kirche möglich, und ſo⸗ 
bald nachgemwiefen ift, daß eine Individualität bie in relis 
giöfer Beziehung begabtefte und befte ift, fo 019 jene auch 
wirklich. 
Dieſes werden wir erſt aufſtellen köͤnnen, wenn wir 
56 % i 


52 . Schweizer 


auch noch das Gebiet der Kunft von dem ber 
Frömmigkeit ausfcheiden. Beide gehen aus vom 
Gefühl oder unmittelbaren Selbftbewußtfegn und machen 
zuſammen die individuell fombolifirende Thätigkeit aus, 
‚ da jeded Bewußtſeyn als folches ſymboliſirende Thätigkeit 
tft, das objective wie dag fubjectine, leßteres aber, oder das 
unmittelbare Selbftbewußtfeyn nothwendig das wefentlich 
Individuelle ift in jedem Menſchen. Vergleichen wir nun 
in der Kunft das, was man Schule nennt, mit unfern 
Begriffe ver Kirche, fo ift auch dort, wie im Wiſſen, nie 
behanptet worden, daß ein Meifter für immer Dominiren 
ſolle, und nie hat einer die ganze Kunſt umfaßt, ſondern 
nur einen, ſelten einige von den ſo beſtimmt geſchiedenen 
Zweigen der Kunſt; auch wiſſen wir zum Voraus, wie 
weſentlich die Kunſt vom Nationalen ausgeht und der 
Geſchmack eines Volkes oder mehrerer durch ſtarken Ver⸗ 
kehr untereinander ſich ausgleichender Völker, die Be⸗ 
wohner andrer Theile der Erde zurückſtößt, alſo die Kunſt 
recht ſehr mit den klimatiſchen und nationalen Differenzen 
verwoben iſt, ſo daß nicht einmal an einen und denſelben 
Geſchmack im Allgemeinen zu denken iſt, mindeſtens nicht, 
bis in einer Reihe von Jahrtauſenden die Racer ſich gänz⸗ 
Yich vermifcht und ausgeglichen hätten und auch Die in vers 
fchiednen Zonen fo verfchiedenartigen Geftaltungen- des 
hußern Seyns fich ebenfalls überall vereinigen und der 
Anfchauung vorlegen ließen, was annähernd nur erreidh- 
bar ift durch einen höchſt möglichen Grad des allgemeinen 
Weltverkehrs und eines faft unendlichen Apparated des 
Erfenneng, worunter alle möglichen Sammlungen vers 
ftanden wären. Da dieſes Alles bebingt ift durch einen 
höchit möglichen Grab allgemeiner Kultur, wie er erft am 
Ende aller Gefchichte erreicht werben koͤnnte, fo ergibt 
fi, hieraus, daß eine allgemein dominirende Schule, 
wenn fie auch fonft wenigfteng für einzelne Kunftzweige 
gedenkbar wäre, ſich gar nicht gleichgültig verhält zu ber 





über die Dignität des Religionsfliftere. 543 


Zeit, in welcher fie möglich wäre, fondern weit hinab» - 
gerückt fein. müßte in der Gedichte unſres Gefchlechtes, 
Da die Gegenfäte im getheilten Seyn auf eine Weiſe aus⸗ 
geglichen fegn müßten, wie wir es jetzt wenigftend noch 
kaum in der Ahnung vollziehen können. 

So werden wir auf ein ganz Anderes getrieben, als 
was in der Kirche fich geltend macht, wo wir von allen 
jenen Puncten ſchon bei der Bergleichung mit dem Willen 
das gerade Gegentheil fanden, und nun auch dem lebten 
berührten Puncte die Erfahrung gegenüber finden, daß 
hingegen Niemand meint, auch ber Stifter der allgemeinen 
Religion könne erft kommen nahe am Ende aller gefchicht- 
lichen Entwidlung, fondern vielmehr vor mehr als taus 
fend Sahren Muhammed, und noch früher Chrikus, um 
den tiefern Often nicht auch anzuführen, aufgetreten find 
mit der Behauptung, die allgemein werdende Religion in 
ſich zu haben. Die Kunft, ob fie gleich der Religion als 
ebenfalls. von der Individualität ausgehend, viel näher 
fieht ale das Wiffen, welches den identifchen Charakter 
hat, zeigt fich alfo auch ald ein von der Religion ganz 
Verſchiedenes aus der Art, wie beide fich geltend machen 
und verbreiten. Wir fuchen auch für diefen empirisch vor⸗ 
liegenden Gegenfaß die fpeculative Begründung. 

Die Kunft beruht auf einem Afficirtfegn des Selbitbes 
wußtſeyns vom getheilten Seyn (deſſen Totalität wir die 
Welt nennen), alodnois, die Frömmigkeit aber auf dem 
Afficirtſeyn des unmittelbaren Selbſtbewußtſeyns vom abs 
folnten Seyn (das wir Gott nennen). Das getheilte Seyn 
nun gruppirt fich in verfchiebnen Zonen ald eine Mannich⸗ 
faltigfeit von Objecten. So muß aljo in einer beftimmten 
Zone und unter beſtimmten Länderverhältniffen eine ver⸗ 
ſchiedne Art von getheiltem Seyn das Individuum affici⸗ 
ren und von ihm wiedergegeben werden in ſeinen künſtle⸗ 
riſchen Schöpfungen. Dieſe find aber keineswegs ale 
Nachahmung ber vorliegenden Naturobjecte zu begreifen 


344 Schweizer 


ſondern dieſelbe Differenz, bie im äußern getheilten Seyn 
iſt, gehet auch ein ins getheilte menſchliche Seyn ſelbſt und 
ruft eben die Verſchiedenheit der Ragen und Volkseigen⸗ 
thümlichkeiten hervor, fo daß nothmwendiger Weife das 
Genie des Künftlerd nicht anderlei Formen und Geftalten 
als fchön produciren kann, als die von der ihn umgebens 
den Natur auch hervorgebracht werben auf reale Weife, 
und von diefer Seite die Identität des Geiftigen und ber 
Natur gar nicht geleugnet werden fol. Es ergibt fidh 
num eine Berfchiedenheit des Geſchmacks und alle jene Uns 
möglichkeiten, die in der Erfahrung beftimmt abwehren, 
daß fein Einzelner in der Kunft alldominirend werde und 
ein Meifter feine Individualität Darum eben nur Wenigen 
mittheilen kann, weil fie felbft bedingt und abhängig ift 
von einer beftimmten "Modification des getheilten Seyns, 
fowohl des äußern ald des menfchlihen. Die Kuuſt ift 
alfo, fo fehr fie freilich den Geſchmack leiten kann, bens 
noch auch ganz beftimmt Davon abhängig, daß durch aus 
Ber ihrem Gebiete liegende Beranlaflungen die Schranken 
in den Gruppirungen bes getheilten Seyns erweitert wers 
ben, fo wie 3.3. die enropäifchen Völker um ihres Ber; 
kehrs unter einander, um ihrer gemeinfamen Religion und 
verwanbter Abftammung willen nad und nach Eine Kunſt 
erlangt haben. 

Die Religion muß fich als Affteirtfeyn des Selbftbes 
wußtfeyns vom Abfoluten nothwendig auf eine andere Art 
ausbreiten, da fie nicht abhängig ift von jenen Differen- 
zen des getheilten Seyns. Es ift alfo fchon gleichgültig, 
in welchem Theile des Ranmes das Individuum des Re⸗ 
Iigiongftifterd lebe, auch, von hier aus betrachtet, gleich 
möglich in jedem Volke; denn alles Diefes find Modifica⸗ 
tionen des getheilten Seyns, mit dem die Frömmigkeit es 
nicht zu thun hat. Dieß ift der Grund, warım fie jedes 
äußere Maß verfhmäht, dem ſich hingegen Der Staat, Die 
Kunft und bad Willen fügen. Das ift num eben das eigen- 


über die Dignität des RKeligionsſtifters. 545 


thümliche Gebiet der Frömmigkeit, daß fle ruht auf dem 
Berhältnifle des Individuums zum abſoluten Seyn, und das⸗ 
jenige Individuum, weldjes biefes Verhältniß voͤllig auffaßt 
und alle dieſe Maße und Schranten des getheilten Seyns 
davon abitreift,. das dominirende werden maß. Der eis 
gentliche Gehalt ber Frömmigkeit, ihr. reines Wefen hat 
alſo nichts Klimasifches, Nationales und Beſchraͤnktes in 
fich, oder wo ſie es noch hat, Tann fie ſich nur über diejes 
nigen Menfchen verbreiten, welche ſelbſt in Diefen Schrans 
ten leben, geht aber nicht einin Andere; fondern Die Fröm⸗ 
migfeit, welche die allgemeine werden fol, läßt alle jene 
Formen eben nut zu als Formen, Hüllen, Darftellungss 
mittel, die fie ändern kann und ablegen fobald fie es will. 
Durch Die ganze biöherige Operation ift ung alfo das 
Refultat geworben, daß wenn Etwas von einem Einzigen 
ausgehen und Doch über Alle ſich verbreiten fol, fo daß er 
Diefe für immer dominirt, jenes Etwas nothwenbig in ber 
Sudividualität des Einzigen begründet feyn muß. Damit 
ſchied fi) und die Frömmigkeit von dem Wiſſen; denn 
läge jene auf Seite ber identifchen Thätigfeit, fo begreift 
man überhanpt nicht, warum bie Religion nur von Eins 
zelnen und bie wahre nur von Einem ausgehen follte, und 
nicht von Allen oder doch recht Vielen, indem der eine ein " 
größeres, der andere ein kleineres Stüd zu ihr hinzubrädhte 
und fo das Werk entflände als gemeinfames Product AL 
fer, fofern fie qualitativ gleich operiren würden. Nächſt⸗ 
Dem ſahen wir, wie die Individualität affteirt ſeyn kann 
entweder vom getheilten Seyn, dann aber aud, in dieſe 
Getheiltheit ſelbſt verwidelt it, daher nur Schulen, nicht 
aber große Sefammtheiten ftiften kann; ober vom abfolus 
ten Seyn, und nur in diefem Falle, weil alle Getheiltheit 
des Seyns ſich dann gleichgültig zu ihr verhält, eine Kir⸗ 
che begründet wird. Damit ſchied fich und die Frömmig⸗ 
feit von der Kunfl. Se weiter wir. famen in Beflimmung 
Des eigenthümlichen Gebietes ber Frommigkeit, deſto an⸗ 


6 ec 


fchanlicher wurde ber Begriff vom Stifter einer Kirche und 
von feinem Verhältniffe zu dieſer. 

Nun ift aber wohl zu beachten, daß dadurch das Res 
ligton ftiftende Individuum gar nicht fol aus dieſen Nas 
turmaßen der Race und Nationalität heransgeftellt wer⸗ 
den, wodurch ed ja aufhören müßte, ein beſtimmter Menſch 
zu ſeyn, fondern nur das hat fich vielmehr ergeben, daß 
es fich indifferent dagegen verhalte, unten welchen Diefer 
Berhältniffe e8 geboren ſey und auftrete, denn ſoll feine 
Religion eine allgemeine werden, alfo in allen Nasen und 
Bollseigenthümlichfeiten Eingang finden tönnen, .fo muß 
fie auch in jeder derſelben können entſtanden ſeyn, fobalb 
dieß qualitativ dazu befühigte Individuum erfchien. Daß 
aber diefes irgend einem beſtimmten Volke, einer beftimm- 
ten Familie angehöre, verſteht fich theild von felbft, theils 
liegt es gerade in der Forderung, ed müſſe ein beflimmter 
Menſch, ein Sndividuum feyn. — Weil aber alle dieſe ums 
gebenden Verhältniffe auf den Stifter ald Menfchen Einfluß 
haben, fo werden wir ihn in folchen erwarten, Die einer⸗ 
feit8 am wenigften fein reines Afficirtwerden vom Abfolus 
ten trüben und hemmen, andererfeits in folchen, Die der 
Mittheilung und Ausbreitung feiner Frömmigkeit am güns 
ftigften find, was beides als auf gefchichtlichen VBerhältnifs 
fen beruhend fo wenig durch Speculation im Einzelnen bes 
ſtimmbar ift, als das wer? dieſes GStifters ſelbſt; denn 
diefe hat weder bie Richtung, noch das Vermögen, Das ges 
fchichtlic Einzelne zu konſtruiren, fondern bleibt, ob fie 
noch fo weit von oberften Principien aus herunter _fteige, 
nothwendig immer bei einem Allgemeinen fischen, ‚erreicht 
alfo nicht das in der Einzelheit Des vergänglichen Daſeyns 
Erfcheinendee). Ganz beftimmt folgern wir jedoch noch 


a) Ganz folgerichtig wird baher der fpeculative Philofoph, wenn exe 
wie Fichte und Hegel ein -abfolutes Wiſſen in der Speculation 
finben will, das, was biefe nicht erreicht, eben bad Einzelne, Ers 





| 


über die Dignitaͤt des Religiongfliftere., 547 


Einiges and unfern Süßen, fo fehr es den Schein; haben 
fönnte, bloß aus der Geſchichte herübergenommen zu ſeyn. 
Müſſen nämlich für den Stifter einer allgemein merben- 
den Kirche folche Verhaͤltniſſe poſtulirt werben, die fein 
Afficirtſeyn vom Abfoluten nicht trüben und Die Ausbrei⸗ 
tung feiner Frömmigfeit begünfligen, fo poſtuliren wir ihn 
geradezu in einem Gefammtleben, worin das monotheiſti⸗ 
ſche Princip herrfcht, weil jede .numerifche Theilung ale 
aus dem getheilten Seyn her das reine Afftcirtfegn vom 
Abfoluten wenn nicht für den Stifter boch für die Anzu⸗ 
ziehenden während des erſten Eutſtehens der Kirche ger 
fährdet. Ferner poſtuliren wir für ihn eine Zeit, wo Dies 
fe8 Geſammtleben religios im Verfall ift, weil, ſo lange 
Diefes gefund ift, nothwendig die Einzelnen: noch vom 
Stifter desfelben dominirt werden und für eine neue Nells 
gion, Da bie alte fie befriedigt, nur fehr ſchwer empfäng⸗ 
lich wären. Der neue Stifter müßte alfo zur Zeit des 
‚Berfalls eines monotheiftifchen Gefammtlebend erftchen, 
und damit er ſich über den Umfang desfelben hinaus gels 
tend macheh koönne, in der Zeit eines allgemeinen Verfalls 
der bisherigen Religion, wo recht Biele vom Bisherigen 
nicht mehr befriedigt, ein unbewußtes oder hoffendes Ah⸗ 
nen hätten nad) Befferem, ohne es finden zufönnen. Wols 
Ien wir auch für die Familie und Lage des Stifters etwas 
poftuliren, fo wäre es theils ein einfaches Familienleben 
ferne von dem zerftreuenden Geräufch eined wechfelnden, 
die Sinnlichfeit reizenden Lebens, und doch zugleich ein 
bisweiliges Berührtwerben ber Familie vom Geſammtle⸗ 
ben des Volks, denn dadurch wird der Gegenfaß eines 


ſcheinende, Individuelle, Subjective für nicht wirklich, nicht wahr⸗ 

baft feyend ausgeben müffen und den Feind, welchen er nicht uns 

terwerfen kann, nicht etwa wie ſchlechte Polemiker zuerft verkleinern, 

fonbern völlig aus dem wahren Seyn aus dem — heraus⸗ 
werfen und vernichten! 


348 Schmoeiger: 


reineren Lebens mit Dem. verfallenden allgemeinen zur Aus 
fchauung hingeſtellt e). 

les. Bisherige hat fich Darauf befchräntt, auszumit- 
teln, wie ein Religionäftifter miöglic, und nothwendig 
fey, der eine im unbeflimmte Weite fich nerbreitende Kir- 
che zu geünben vermöchte, und es ift nur Schein, wenn 
behauptet würde, daß fhon auf Ausmittelung des Stifs 
ters und der Kirche hinübergeſchweift worden fey; denn 
der wahre Stifter ift auch zugleich ein Stifter neben an; 
dern, daher mußten wir auf Säge fommen, die auch ihn 
"möglich machen. Was nun dazu gehöre, wenn einer Der 
möglichen NReligionsftifter der. Stifter werben und feyn 
fol, welche alfo die Kirche, deren Umfang nicht mehr 
ein Sichausbreiten in unbeflimmte Weite ift, fonbern zus 
fammenfällt mit der Totalität Des menfchlichen Gefchlechts, 
ſuchen wir im zweiten Theile diefer Abhandlung. 


2) Berhältniß des Stifters zu der Kirche, 


So wenig es uns einfallen konnte, bei Aufſtellung der 


Moͤglichkeit und Nothwendigkeit des Entſtehens von Kir⸗ 
chen die Individualität der Stifter zu conſtruiren, da ja 
offenbar genug dieſe fo wie überhaupt die Individualität 
jedes Menfchen ein als ſolche nicht wiffenfchaftlich Con⸗ 
firnirbares ift, noch aus der Perfönlichkeit der Eltern her⸗ 
geleitet werden kann, fondern, weil immer ein qualitativ 
Reues, noch nicht völlig fo Dageweſenes und nie völlig fo 
fich Wiederholendes, nothmendig dafür recurrirt werden 
muß auf einen Act des Schöpferd, dem nicht bIoß über> 
haupt dag bei der Geburt vorhandene Leben, fondern auch 
bie eigenthümliche Beflimmtheit desfelben zugefchrieben 


a) Unwiffenfhaftlicher iſt nicht Leicht etwas, als bie Meinung, daß 
Gott den Religionsſtifter bei feiner Geburt fchon fertig Habe und 
wicht auch durch die a die ervon Außen an ihn bringt, 
mitbilde. 


> 





über die Dignität des Religionsſtifters. 349 


wird, worauf ſich erft wahrhaft die Perfectibilität des 
menſchlichen Geſchlechtes gründet, da mit jedem Kinde ein 
eigenthümlich Neues in jenes eintritt und zu dem fchon Das 
gewefenen eigenthümlich neue Kraft hinzugibt, um bie Ges 
fammtaufgabe zu fördern, woraus alfo entftcher bie Ori⸗ 
ginalität, Genialität, Talente der Einzelnen, ' wie biefe 
mannichfach bald mehr, bald minder erfcheinen,: bald für 
dieſes, bald für jenes Lebensgebiet: fo müffen wir und 
doch nothwendig Rechenſchaft geben über dad, was nun 
einen zu dem Stifter ber Kirche macht und ihn befähigt, 
die ganze Menfchheit in religiäfer Beziehung zu dominiren. 
Ein ſolches Alldominiren ift in allen Menfchen identifchen 
Thätigkeiten unmöglich, benn in diefen Gebieten tft bloß 
quantitative Differenz unter den Cinzelnen, und ba bie 
Aufgaben hier Allen gemeinfam find, Ale bag ihrige hin 
zubringen, fo fehreitet fie in zeitlicher Zunahme fort, kei⸗ 
ner kann alle Dominiren, am wenigften einer, der lebet, 
ehe die Sefammtaufgabe ihrem Ziele naht. Die Religion ift 
alfo nicht als eine Lehre, weil nicht ald ein Willen, zu begreis 
fen, diefe können in ihr alfo nur ein Mittel, nicht die Sa⸗ 
che felbft ſeyn, ein Mittel nämlich, um die Sndivibualität 
des Stifters feflzuhalten, zu überliefern, zur Anfchanung 
binzuftellen; denn die Kirche ift nur möglich dadurch, daß 
des Stifterd Individualität qualitativ Die für Die menſch⸗ 
liche Gattung möglichft reinfte Auffaffung des Abfoluten 
im unmittelbaren Selbftbewußtfeyn habe, Dieß tft die 
urbildlidhe Dignität des Stifters, das Weſen feir 
ner Frömmigkeit. Davon umterfcheidet ſich wie überall 
von der Religion bag, was man Religiofität nennt, d.h. 
die Birtuofltät, jenes Bewußtfenn, jene Anfchauung vom 
Abfoluten mit allen Momenten des zeitlichen Bewußtſeyns 
zu verfnüpfen, ganz analog wie wir die Birtuofität bes 
Künftlerd darin finden, Daß er das in ihm Lebende Ideal 
dem äußern Stoffe einzubilden verftehe auf ungehemmte 
Weiſe. Diefes ift des Stifters vorbildliche Dignis 


30 . Schweizer = 


tät. Dermöge ber erftern wird fein beftimmtes Gottes: 
bewußtfeyn ein. Bielen und nadı und nadı Allen gemeinfa- 
mes, fo daß feine religiöfe Individualität, Die der Menſch⸗ 
heit gemeinfam wird, und nicht andere, fremde religiöfe 
Elemente: in die Kirche hineinfommen, fondern das ganze 
religiöfe Leben ſich nur aus ihm herleitet. Bermöge ber 
feßtern gibt. er mit feinem Gottesbewußtſeyn den Gläubis 
gen auch die Fähigkeit, es allen Momenten des zeitlichen 
Lebens einzubilden. Wenn nun auch bie-leßtere Dignität 
nur in ber erftern ihren Halt hat, fo daß nur um feiner 
Urbildlichkeit willen der Stifter abfolntes Vorbild feyn 
fanna), fo bilden Doch beide fehr beftimmt einen relativen 
Gegenſatz, wie aus der Analogie eined Künftlers anſchau⸗ 
lich wird; nur freilich begreifen wir den Stifter der Kir⸗ 
de einzig, wenn wir ihm abfolut vorbildliche Dignität, 
alfo die Fähigkeit zufchreiben, fein Gottesbewußtſeyn der 
Totalität aller Lebensmomente einzubilden; benn vers 
möchte er gewiffe Arten von Momenten nicht mit Demfels 
‘ben zu durchdringen, fo ergäbe ſich ein Gebiet, wo das 
religiöfe Leben feine Befriedigung fände, folglidy Anzeis 
chen, daß biefer nicht die wahre Frömmigkeit zu byingen 
vermochte, alfo der wahre Stifter erſt noch zu erwarten 
fey. So fehr wir daher bemüht gewefen find, der Relis 
gton ihr beftimmtes Gebiet zu finden, fo ergibt es fich Doch 
von felbft, daß, weil der Menſch eine Einheit ift, fie feis 
nen ganzen Lebensverlauf durchdringen fol; ähnlich wie 
3.2. ber Weisheit ein eigener Ort ausgemittelt wird in der 
menfchlichen Tugend, und ber Liebe ein eigener, und doch 
‚ dabei die Meinung iſt, jede dieſer einzelnen Tugenden 
müffe in allen Lebensmomenten mitwirfend feyn, Erweife 
der Liebe nie ohne die Weisheit und ungefehrt b). 


a) Daher au Schleiermader in feiner Glaubenslehre 2, Bd. 
F. 93, das Urbildliche allein aufftellt für den Erlöſer. 

b) Hier beginnt der Punck, wo wir uns im Widerſpruche befinden mit 
dem Recenfenten von Söfhels Schriften in diefer Zeitſchrift 





über bie Dignität. des Religionöflifters., 551 


Die Virtuoſitat in der Religion nun, auf der das Vor⸗ 
bildliche des Stifters beruhen muß, kann nicht gefaßt wer⸗ 
den als eines mit dem qualitativ beften Affkcirtfeyn vom 
Abſoluten, fondern befteht darin, daß der Fromme das 
gleichviel wie in ihm beſtimmte oder individualifirte Gots 
tesbewußtfeyn zu einen verftehe mit möglichit:sielen Mo⸗ 
menten feines in der Getheiltheit der Zeit und "bes Raus 
mes verlaufenden Dafeynd. Daß fie fo von Wefen der 
Frömmigkeit auseinander gehalten werben kann, tft auch 
immer richtig gefühlt worden, indem man das Präbdicat 
der Religiofität ertheilt ohne Rückſicht auf Die qualitätive 
Beſtimmtheit der Frömmigkeit felbft, fo daß in allen mono⸗ 
theiftifchen oder polgtheiftifchen oder wie immer befchaffes 
nen Religionen der eine religiös genannt wird, ber anbere 
nicht, obgleich beide, nur freilich mit verfchiedener Annä⸗ 
herung an die Gontinnität, denfelben Glauben haben und 
oft fogar auf gleich Iebendige Weife. Die volle Stetigkeit 
bed Gottesbewußtſeyns, d. h. deſſen Einbilden in alle Les 
bensmomente, wird freilich nur feyn koͤnnen in der wahren 
Religion. | 

Müffen wir nun, um den Stifter Der Kirche feiner 
Dignität nach begreifen zu können, eben dieſes zweifache 
haben, feine religiöfe Urbildlichfeit und Vorbildlichkeit in 
abfolutem Sinne, fo fordern wir mit andern Worten, zus 
erft daß von feinem unmittelbaren Selbftbewußtfeyn aus 
betrachtet nichts Hemmendes und Trübendes vorhanden 
fey, das deffen Afficirtwerden vongAbfoluten ftören könnte, 
d.h. Srrthbumslofigfeit im’religiöfen Dingen, ſo⸗ 
dann, daß Feine Lebensmomente da feyen, mit denen das 


1833. P. 1107. flellt er die Disjunction auf, die Religion fey 
entweder nicht wahrhaft vorhanden, ober fie fey das ſchlechthin Höoͤch⸗ 
ſte und koͤnne nicht ein abgefonbertes Lebendgebiet inne haben, und bie 
Philofophie auch eins. Diefe Disjunckion zu ftellen ift ſchon das 
Falſche, gerade fo falfh, wie wenn man fie flellen würde in Betreff 
einzelner Tugenden. Wir werben unten das Geſagte nachweifen, 





SE. Schweiger. . 


num rein afficirte Selbſtbewußtſeyn fich nicht einigen ließe, 
d. h. Sündlofigfeit. Das erftere geht vom Selbſt⸗ 
bewußtfenn aus. rückwärts auf das Aufnehmen: des Abſo⸗ 
luten, das zmeite vorwärts auf Das Hineinbilden Des fo 
aufgenommenen Abfoluten in Die Lebensmomente. Beide, 
Freiheit von Irrthum und Yon Sünde, ſtehen offenbar fo 


fehr in Wechfelwirfung zu einander, und eine bebingt fo | 


fehr die andre, daß beide fich nicht trennen laſſen, fondern 
ihr Ineinander erſt die geforderte Dignität Des Individuums 


ausmacht, welches fähig feyn will, die Kirche zu ftiften und 


für immer zu dominiren. So muß ja aud vom Künftler 
analog ald Höchftes gefordert werden, Daß das zu Stande 


fommen des Ideales in feiner inneren Anfchauung nicht ges | 


hemmt werde, dann aber, daß, wenn es in ihm lebendig iſt, 
er es ungehemmt im geeigneten Stoffe auch äußerlich dars 
ftellen könne, und da heißt jenes die Geninlität, Diefes Die 
Virtuoſität a). 

Wir mußten überall in den größern Lebensgebieten, 


wo die Individualität herrfcht, nothwendig und auch in 


ber Erfahrung gegeben finden, daß von verwandten In⸗ 
bivibualitäten Die edlere, für eine beflimmte ‚Aufgabe ges 
eignetere Die fie umgebenden andern anziehe und Dominire, 
alfo ein folcher Proceß hier die Negel, das Wahre und 
Rothwendigeift. Daher fanden wir denn auch im Gebiete Der 
Kunft Diefe Art Des Procefjed, mußten aber bei einer Mehr: 
heit von Schulen ſtehen bleiben, weil ung aus der Getheiltheit 
des Seyns hier Die Nothwendigkeit vieler Maßennd Schrans 
ken erwuchs, die es nicht zu Einer allgemeinen Schule und ih» 
rem Einen Stifter kommen ließen. Sogar ins identifche Ges 
biet des Willens hinüber fahen wir eben um des Indivi⸗ 
duellen willen, das wenigſtens begleitend auch Dort mit iſt, 


a) Die Anficht, e8 genlige im Ehriſtus die wahre Religion zu glaus 
ben, ihn alfo ohne Irrthum zu denken, ohne daß man bie, wie ges 
meint wird, viel wunberbarere Sünblofigkeit mit glauben müſſe, tft 
eine Seichtigkeit, die Bott fey Dank im Verſchwinden begriffen ift. 


. 





über bie Dignitaͤt des Religionsſtifters. 553 


Schulen entfliehen. - Es ergibt ſich alfo, daB es der Judi⸗ 
vidualität wefentlich.-ift, wo fie mit anbern in. einem. Ges 
fammileben in Berührung fleht, ſolche Gruppirungen durch 
Wahlanziehung zu fliften. So allein entfteht.die Freund⸗ 
ſchaft und Liebe, die nimmermehr aus gegenfeitigem Wiſ⸗ 
fen von einander begriffen werden koͤnnte; denn da das 
Individuum viele Menfchen gleich fehr vortrefflich findet 
und als edel erfennt, dennockaber nur mit Dem oder jenem 
ans dDiefen Allen Freundichaft fliftet, fo muß bas eigentlich 
vereinigende Princip im Selbſtbewußtſeyn liegen, alfo in 
der Individualität. Weil aber hier überall dieſe von der 
Getheiltheit des Seyns afftcirt ift, fo bringt diefes Grup⸗ 
piren in Freundfchaft, Familie, Kunſt es nicht zu. Einer 
allgemeinen Bereinigung. Erft in der Religion kann biefe 
Art des gegenfeitigen Lebensverlaufs der Individuen Dies 
ſes im Wefen individueller Thätigkeiten liegende Streben 
zum Ziele bringen, weil hier die Getheiltheit ded Seyns 
die Erreichung jenes Zieled nicht hemmen kann. Wo diefe 
aber in eine Religion eingeht, da freilich kann die allges 
meine Kirche nicht entftehen. Wird aber ein Individuum 
vom Abfoluten rein afficirt, fo daß keine Getheiltheit des 
Seyns fich trübend und hemmend einmifcht in dieſes Ver⸗ 
hältniß: fo kann nicht bloß, ed muß Die Kirche werden. 
Darin nun eben befteht jene für den Stifter nothwendige 
Urbildlichkeit, Die wir ald Irrthumloſigkeit in relis 
giöfer Hinficht bezeichneten; denn das ift der Irrthum, 
wenn flatt rein vom Abfoluten ald Einem affieirt zu fegn 
auf unmittelbare Weife, das Subivibuum Diefe Affes 
etion nur hat, vermittelt durch getheilted Seyn, und fo 
eine Theilung ind Abfolute unwillkürlich durch fubjective 
Täufchung hineinträgt, oder wo nicht eine Theilung, Doc) 
eine Trübung, weil ein Afftcirtwerden vom Abfoluten her 
getrübt ift, fobald es durch etwas, alfo durch getheiltes 
Seyn vermittelt wird. Diefe Irrthumloſigkeit ift alfo ein 
ſchlechthiniges, unmittelbares Afficirtwerden vom Abfolus 


553 Schweizer 


ten. Das getheilte Seyn oder die Welt muß in allen 
Puncten des Raumes und der Zeit afficirt ſeyn vom Abſo⸗ 
luten oder von Gott; denn dadurch nur hat und behält ſie 
ihr Daſeyn, daß ſie in Gott iſt. Dieſes Verhältniß des tota⸗ 
len oder ſchlechthinigen Seyns in Gott, das von der Welt 
überhaupt auszuſagen iſt, afficirt alſo, weil alle Theile des 
Seyns, auch.die einzelnen VBernunftwefen. Das Wirklich⸗ 
feyn dieſes Verhältniſſes ift die. Wahrbeit der Religion an 
ſich; das irgendwie. Innewerben deſſelben, ſey ed nun 
in Form des Gefühle, der. Borftellung, oder des Des 
griffs, ift Die Wahrheit deffelben für uns. Wie beides 
Eins fey, hat die MWiflenfchaft zu begreifen a). Dadurch 
erft, daß wir dieſes an fich ſeyenden Berhältniffes inne wers 
den, wird es auch für ung, d. h. entfteht die Frömmi g⸗ 
feit. Da nnn jenes Berhältniß fo fehr als nur immer 
unfer Afficirtfeygn von der Welt, auch ehe wir deffelben ins 
ne werden, ein Element ift, in dem wir leben, fo werben 
mwir als Vernunftweſen deflelben inne und fühlen dieſes 
Affteirtfeyn vom Abfoluten, weil e8 ein Lebengelement ift, 
im unmittelbaren Selbſtbewußtſeyn b). Hier wurzelt alfo 
die. Frömmigkeit, hier kömmt das Anfich der Religion’ ind 
Individuum hinein, wird für ed, von da aus geht alle 
Frömmigkeit, und gb dann auch diefes fromme Gefühl in 
Borftellungen und Begriffe verarbeitet wird, fo bleibt und 
iſt doch jenes die Frömmigkeit und ihr unmittelbares Leben c) 
und das eben ift das Gebiet, in welchem. wir. Die Kirche 
und den Stifter begreifen wollen. 

Weil die.Religion an ſich eine Wahrheit ift und ein 





a) Wir erinnern bier an Marheinedes Dogmatit $.19. und 58,, 
obſchon wir in Manchem abweichen. 

b) Soviel gibt auch Hegel und ſeine Schule zu. Vergl. Mars 
heinecke Dogm. $.34., wo er bie erſte Zuſtaͤndlichkeit, in der die 
Religion erfcheint, das Gefahi nennt. 

c) Wie ſehr dieſes Reſultat mit Schleiermachers Definition der 
Frommigkeit übereinflimme, bedarf Keiner Erinnerung, 


ud 








über die Dignität des Religionsſtifters. 555 . 


Element, in dem wir leben, ohne das wir nicht ba feyn 
könnten, wie ja nichts Endliches da ſeyn kann, ohne im 
Unendlichen zu ſeyn; fo haben ale Menfchen ein Inne⸗ 
werben von diefem Berhältniffe, flehen.aber zur reinen 
Auffaflung deſſelben in ebenfo verfchiedenem Verhältniffe, 
als ihre Individualitäten unter einander verfchieden find. 
Es bildet fich alfo nad; Maßgabe dieſes reinern oder un⸗ 
reinern Innewerdens des Abfoluten jener Proceß bes 
Gruppirens, den wir fchon befchrieben haben und ent⸗ 
fteht, wie andy fchon gezeigt it, in dem Maße als ein In⸗ 
dividuum das Abfolute auffaßt, ohne es durch Einmifchung 
von getheiltem Seyn zu trüben und dadurch die Berbreis 
tung diefer getrübten Froͤmmigkeit an Schranfen bes ge⸗ 
theilten Seyns zu binden, die Befähigung, aldominirend 
zu werden, urbildlich und vorbildlich. | 

Ehe wir diefe beiden auseinanderhaltend betrachten, 
weifen wir nach, warum in Rüdficht auf beide ein numeri⸗ 
fches Auffaffen des Abfoluten nicht die allgemeine Verbrei⸗ 
tung finden Fann. Da es eine Theilung ind Abfolute bins 
einträgt, fo ergibt fich, Daß dieſes mit getheiltem Seyn 
verwechfelt oder doch vermifcht wird. Der fo Afficirte 
kann die Frömmigkeit dann nur haben, wann gewiſſe 
Theile des getheilten Seynd, nämlich diejenigen, in die er 
das Abfolute hineinmifcht, ihn afficiren, von allen andern aber 
kann er gar nicht fromm affteirt werden, weil er nur jenen 
das Abfolnte beimifcht und in ihnen empfindet, obwohl 
nur auf verworrene Weife; fo wie z. 3. Die Griechen hin⸗ 
ter ihren ins getheilte Seyn hineingegogenen Göttern Die 
dunkle Macht des Verhängniſſes auf trübe Weife ahneten. 
Wie nun der Polytheismus und überhaupt jede Form, die 
mit dem Abſoluten Natur vermifcht oder verwechfelt, Die 
Urbildlichkeit unmöglich macht, fo wird mit diefer Trübung 
md Schwächung aud) die Stetigfeit des religiöfen Ber 
wußtfeyng, alfo die Vorbildlichkeit aufgehoben, weil, obs 
gleich auch in einer folchen Religion die Individuen mehr 

Theol, Stud. Jahrg, 1884. 87 


556 Schweizer 


ober minder Religiofitit haben werden, fich Doch nur ges 
wiffe Arten von Lebensmomenten, nicht aber alle durch⸗ 
dringen laffen von diefer Religion. Fordern wir alfo für 
den wahren Stifter den Monotheismus, fo kann auch damit 
nichts Numerifched gemeint feyn, inſofern baher jener Aus⸗ 
druck Die numerifche Einheit audfagt, wäre er aufzuges 
ben, fonft wirb fich immer gleichfam als ausgleichendee 
Gegengewicht dasjenige regen, was man Pantheismus 
nennt, um Das Abfolute von jener Beſchränkung zu ent 
fhränten. Weil aber auch der Begriff der Allheit eine nu⸗ 
merifche bezeichnen könnte, genügt er ebenfo wenig; denn 
beide, fobald fie Numerifcyes an fich haben, führen zu 
Bermifchung des Abfoluten mit dem getheilten Seyn, und 
laffen weder Reinheit noch Stetigkeit des frommen Ges 
fühle zu, weil weder die Welt als Allheit noch als Einheit, 
fondern nur als Getheiltheit und affieiet, nie aber ſchlecht⸗ 
bin, d. h. ohne daß ein Thun oder Afftciren auch von und 
ans auf fie hinwirkt, fondern nur relativ, daher dieſes 
gänzlich aus dem Gebiete der Frömmigkeit herausfällt. Als 
les diefes iſt religiöſer Irrthum. 

Die geforderte Irrthumsloſigkeit geben wir nun näher 
an als darin beftehend, daß, obgleich unfer Selbftbewußt- 
feyn in beftändigem zeitlichen Verlaufe ift, alfo das Affi⸗ 
eirtfegn vom Abfoluten immer zufammen iſt mit einem 
Momente bes finnlichen (weltlichen) Bewußtſeyns, Dennoch 
durch alle zeitlichen Momente, deren Berlaufwir als Wechfel 
von Luft und Unluſt bezeichnen können, das Afftcirtfeyn vom 
Abfoluten ftetig fortdaure. Diefes wird nur geleiftet, wenn 
das Ich nie aufgeht in einen Moment des finnlichen Le⸗ 
bens, fondern immerfort ſich das Abfolute repräfentirt. 
Sobald jenes gefchieht ohne Diefes, fo erhält der Begriff 
bed Sinnlichen feine üble Bedentung, als ein ausſchließli⸗ 
ches Zufammenfeyn des Sch nur mit getheiltem Seyn. Die 
üble Bebentung muß eintreten, weil dieſer Zuftgnd ein uns 
wahrer ift, als ob nämlich das Ich nur von der Welt und nicht | 





| 
| 
| 


über die Dignität des Religionöftifters. 557 


auch vom Abfolnten beftändig affteirt wäre. Jenes gänz⸗ 
liche Aufgehen des Ich in finnliches Bewußtſeyn, denke man 
nun es ald momentan oder fletig, ift nun nichts andres 
als die Sünde vom religidfen Standpuncte aus betradhs 
tet; und fo kommen wir auf biefen. zweiten Begriff recht 
wie es ſeyn fol, nämlich zugleich mit ber Erkenntniß feis 
ner inneren Wechſelwirkung mit dem erften, bem Irrthum, 
und erkennen beider höhere Einheit. Geht das Ich völlig 
auf in einen finnlichen Lebensmoment, fo ift dieß Irrthum, 
Täufchung, Unwahrheit, weil es bes zu feinem wahren 
Seyn nothwendig gehörigen, immer fortbeftchenden Ver⸗ 
hältniffes zum Abfolnten nicht mit inne wird, fondern ſich 
beredet, bloß in der Welt, nicht auch in Gott zu feyn ; dieß 
it aber zugleich Sünde, weil eine Störung meines höchften 
und Damit auch aller andern Berhältniffe, Die Durch dasjenige, 
was inmir alsinnerfter Kern des Ich alle Berhältniffe und 
Beziehungen zu jedem Seyn vertritt, durch das Gewifs 
fen, mir ald Schuld angerechnet wird. Es ergibt fich hier» 
aus, daß das Ich, wo es im weltlichen Bewußtfeyn aufges 
hend nur feiner Beziehungen zur Belt inne wird, die Reli⸗ 
gionverliert, und von da ausnimmermehr finden kann. Alle 
Beweife Gottes oder der Unfterblichleit find alfo ganz und 
gar unmöglich, weil fie ausgehen von einem Seyn bes Sich 
nur in der Welt, aus diefer Unwahrheit und Lüge aber, 
fey fie wirflich oder nur für die Abftraction angenommen, 
die Wahrheit nicht kann abgeleitet werben; wer alfo das 
Afficirtſeyn vom Abfoluten, d. h. Die Frömmigkeit und ihs 
ren Gegenftand, d. h. Gott auch nur wenigſtens als Wahrs 
heiten, die wirklich feyen, vermuthet, bringt fich um die⸗ 
felben, wenn er von einem Puncte aud, wo fie ihm nicht 
find, fie beweifen will. Gott und Religion find nicht zu 
beweifen, fondern aufzumweifen; fo wie auch unfer Afſicirt⸗ 
feyn von äußerm Seyn, mithin dieſes felbft nicht bewiefen 
werden kann chıs einem Zuftande, wo Sch midy erſt in die 


Luge bineinverfege, daß fle nicht feyen. mr fidy das 
5 % 


558 | Schweizer | 


Ich in diefe Abftraction vom Gottesbewußtfeyn, alfo in 
die Lüge, den Irrthum, als ſey Sch nicht vom Abfolnten 
beftändig affleirt, fo wird eg, weit entfernt, von da aus 
die Wahrheit beweifen zu können, im finnlichen, verftäns 
digen Bewußtſeyn aufgehend durch alles Fühlen oder Rais 
fonniren und Schließen nur Srrthum erfaffen und confe- 
quent in Materialismus und Atheismus gerathen mäffen; 
oder. wenn noch eine Dunfle Ahnung bes Abfoluten nicht 
abzulegen ift, fo wird fie Doch vom zeitlichen Bewußtfeyn 
verfchlungen, ins getheilte Seyn hinüberverfegt, und es 
entfichen Die untergeorbneten Formen der Religion vom 
Fetiſchismus an bis zum Polytheismus. So ift Die Un- 
wahrheit, vom Ich aus als rüdwärts gehend angefehen, 
wie fie Das Afficirtſeyn deſſelben vom Abfoluten ftört, 
Serthum. Geht man hingegen vom Selbftbewußtfenn aus, 
infofern ed von Gott afficirt ift, vorwärts gu den Momen- 
ten des zeitlichen Lebensverlanfes, fo zeigt fich jeder Mo⸗ 
ment, dem das Gottesbewußtfeyn fich nicht einbilden läßt, 
al8 Sünde. | 

Wie nun Irrthum und Sünde wechfelfeitig einander 
hervorrufen und fördern, bebarf Feines weiten Erweiſes. 
Iſt Das Ich in jenem Irrthume, d. h. ſich Gottes nicht 
wahrhaft bewußt, fo wird die Sünde deſto leichter eintre⸗ 
ten, d. h. die mangelhafte Frömmigkeit ift viel weniger im 
Stande, den finnlihen Momenten eingebildet zu werben. 
Umgelehrt wenn das Sch in der Sünde ift, d. h. aufgeht 
in feinem Zufammenfegn mit der Welt, fo ift es ver- 
hindert, das Afficirtfeyn von Gott rein zu fühlen, und fallt 
in Irrthum. Der Srrthum ift die Unwahrheit in paſſiver 
Beziehung, weil der Menſch ſich paſſiv, aufnehmend ver⸗ 
hält zum Abſoluten; die Sünde iſt die Unwahrheit in acti⸗ 
ver Beziehung, weil der Menſch eine Lebensaufgabe zu lö⸗ 
ſen hat, mit deren Momenten das Afficirtſeyn von Gott 
verbunden werden ſoll. 


Fordern wir daher vom — Religionsſtifter, daß 





De) 


über die Dignität des Religionsſtifters. 559 


er wie rückwärts fo vorwärts ohne die Unmwahrheit ſep, 
fo ift Diefes die Freiheit von Srrtham und Sünde, ein Seyn 
in der Wahrheit. Beide find nothwendig zufammen, Es 
würde alfo genügen, auch nur die eine nachzumweifen, weil 
von felbft dann auch Die andere da feyn müßte; die 
Vollſtändigkeit der Wiffenfchaft ift aber nur in beider Nach⸗ 
weifung. 

Wir hätten nun fpeculativ aufzuweifen ein Selbftbes 
wußtfeyn ohne Sünde und Irrthum. Aber da nun Irr⸗ 
thum und Sünde ald Einzelnheiten durch Spyeculation 
nicht erreichbar find, weil fie innig zufammenhängen mit 
dem Einzelnen des zeitlichen Lebens und Seyns, die Spe⸗ 
eulation aber fo gut wie die Sprache immer bei einem All- 
gemeinen ftehen bleiben muß, fo treten ung Sünde und 
Irrthum als Einzelnheiten und nur aus dem Empirifchen 
entgegen, und können nicht in der Ethik als ſpeculativer 
Darftellung der menfchlichen Vernunftthätigkeit vorfommen. 
Wohl aber Finnen Sünde und Irrthum ald Allgemeines, 
d.h, ihr Begriff fpeculativ gefunden werden, fobald von 
der Ethif aus hinübergegriffen wird in die Naturwiſſen⸗ 
fchaft als das ihr parallele fpeculative Gebiet. Ein fol- 
ches Hinübergreifen ift völlig in der Ordnung, eben weil 
beide Wiffenfchaften evorbinirt find, d.h. in einer höhern 
aufgehoben, nämlich in der Weltweisheit oder Dem fpeculas 
tiven Wiffen um das getheilte Seyn überhaupt. Wie nun 
die Ethifden Menfchen begreift, infofern er Bernunftwejen 
ift, fo die Naturwiffenfchaft, infofern er Naturgefchöpf ift. 
Da er aber in beiden Beziehungen, obgleich diefer Gegen⸗ 
ſatz in einer höhern Einheit aufgehoben wird, verfcjieden- 
artigen Gefeßen unterworfen ift, fo entiteht ein Zwiefpalt, 
den wir ald den Begriff der Sünde und des Irrthums er» 
fennen, der fo lange Dauert, als die höhere Einheit des 
menfchlichen Weſens diefen Gegenfab nicht ald einen aufs 
gehobenen in fich hat. Die beiderlei Impulſe, die natür- 
lichen und die vernünftigen können und werben in verjchies . 


560 Schweizer 


dener Mifchung fepn, fowohl unter fich, als gegenfeitig uns 
ter einander; denn was als möglich angelegt iſt, muß in 
lebendigen Gebieten auch wirklich werden, folglich alle diefe 
möglichen Mifchungsverhältniffe, die eben die Indivibnas 
lität ausmachen, auch wirklich werden in der Totalität der 
Individuen. Entweder bominirt nun Die eine Art von Impuls 
fen über die andre, oder dieſe über jene, denn ein gänzliches 
Gleichgewicht ift Darum undenkbar, weil beider treibende 
Kraft dadurd aufgehoben und ein Lebensverlauf unmöglid; 
würde. Nur ift biefe Mifchung in jedem Individuum, jo ge 
wiß die Lebensmomente verfchieden find, Feine conftant fi 
gleichbleibende, fondern nothwendig eine fich verändernde 
Die Aufhebung biefes Gegenſatzes erlangt man nicht Dadurch, 
daß eine Art von Impulſen Die andern gänzlich ausfchließe; 
denn der Menfch, welchem es gelänge, nur Vernunftimpulſe 
zu haben, bie Naturimpulfe aber gänzlich zu tödten, wäre 
gerabe fo einfeitig und in der Unwahrheit, wie berienige, 
dem es gelänge, nur nad, Naturimpulfen zu leben; und 
es lohnt nicht einmal der Mühe, barüber zn raifonniren, 
welche Diefer beiden Unmwahrheiten einen Borzug habe vor 
der andern; fondern die Aufhebung, alfo das Seyn in 
der Wahrheit, ift für den Menfchen nur gegeben in dem 
Afficirtſeyn vom Abfoluten, weil nur im Abfoluten der 
Gegenfag getheilter Vernunft und Natur aufgehoben tft, 
alfo diefe Aufhebung der Menfch fich nur aneignen Tann, 
wenn er vom Abfoluten afficirt ft, das als ſolches gleich 
fehr alle Theile des getheilten Seyns afftcirt. Diefe ben 
Gegenfaß in fich aufhebende Frömmigkeit, die das Abfos 
Inte burch feine Getheiltheit des Seyns hindurch hat, 
fondern unmittelbar anſchaut, iſt alfo die Norm für ben 
Menfchen, ein Menfch ohne Sünde und Irrthum daher 
fo wenig ein Wunder oder Gefpenft, bag vielmehr Sünde 
und Irrthum nur ald Abnormitäten zu begreifen find. Irr⸗ 
thum und Sünde find alfo durchaus nicht darin beftehend, 
daß überhaupt mit bem Gottesbewußtſeyn auch finnliche 





über Die Dignität des Religionsfliftre. 561 


Momente unfer Leben conflitniren, ſondern darin, Daß 
dieſe eine Das Gottesbewußtſeyn augfchließende Gewalt 
über und üben. Sie beruhen alfo weder in einer Verän⸗ 
derung bes Abfoluten, das unveränderlich und afficirt auf 
immer fich felbft gleiche Weife, noch zunächſt in einer Ver⸗ 
änderung des unmittelbaren Selbſtbewußtſeyns, Denn dieſes 
ift in Beziehung auf das Abſolute als fchlechthin paſſiv zu 
denken, alfo auch immer fich ſelbſt gleich, fondern es milfs 
feu die Momente des fianlichen Bewußtſeyns und Lebens 
feyn, Die das unmittelbare Selbſtbewußtſeyn ftören in je⸗ 
ser Beziehung, fo Daß das Abfolute, wie Die Sonnenſtrah⸗ 
len einen getrübten oder chief geftellten Breunfpiegel, 
sucht Das ganze Selbfibewußtfegn erfüllt, alfo nicht Die in 
diefem mögliche Wahrheit erreichen kann. Ein zeitliches 
Bewußtfeyn oder Gefühl kann mich namlich fo gänzlich 
in Aufpruch nehmen, daß auch das Selbftbemußtfenn bar» 
in aufgeht und verfchlungen wird, wie fchon die yopuläs 
ren Anddrüde „ganz Auge, ganz Ohr feyu’ befagen. Auf 
ber andern Seite kann mein Ich fo fehr fich von feinen Bes 
ziehungen mit dem getheilten Seyn zurüdzichen, Daß idh 
faft ganz in Sottesbewußtfeyn aufgehen kann, was man 
den Zuftand der Berzüdung oder Ekſtaſe nennt. Dieß wär 
re die zwei Endpuncte bed möglichen Verhältniffes. 

Die Ethif kann vom Menfchen nichts anderes fordern, 
als dag er in der Wahrheit ſey, alfo in jedem Lebensacte 
ſich feiner Relationen zum gefammten Seyn bewußt bleibe, 
oder Doch das dieſe vertretende Gefühl der Geſammtzu⸗ 
ſtimmung in fich habe. Sie kann alfo nicht fordern, der 
Menfch folle nur feine Beziehung zum Abfoluten haben, 
wicht einmal, daß biefe jeden Lebensact Dominire, fondern 
nur, daß fie mit da ſey, entweder dominirend oder begleis 
tend; dominiren, d. h. Den Impuls geben wirb fie in der 
eigentlich frommen Seite des Lebens, wo aber der Menſch 
auf eine andre hingerichtet ift und feyn fol, um feine Auf- 
gaben im getheilten Seyn zu Iöfen, da ift er auch auf 


362 Schweizer 


dieſe hingerichtet mit Dem Selbſtbewußtſeyn und kann das 
Gottesbewußtſeyn nur haben als begleitend und zuſtim⸗ 
mend. Denn, ift der Menfch eine Einheit von verſchied⸗ 
nen Kräften, fo muß jede derfelben ihr Gebiet finden, wo 
fie dominirt, uud der Ausdrud „dominirt“ flellt Die Sitt⸗ 
lichkeit vollklommen ſicher, da er das Mitdaſeyn aller an- 
dern Kräfte und Beziehungen vorausfeht, über welche 
eben dominirt wird a). Die einfeitige Forderung, Daß 
Das Gottesbewußtfeyn alle Lebensacte Dominiren und hers 
vorrufen folle, führte zu den krankhaften Erfcheinungen 
des ascetifchen, befchaulichen Lebens. Stellt man dieſe 
Forderung auf für die Frömmigkeit, fo muß man ihr eis 
nen Stifter fuchen, der nur ein Scheinmenfch, kann ges 
weſen feyn, welchem ſich alle Aufgaben des äußern Lebens 
durch magifche Kraft löften, ohne daß er feine Intention 
auf fie hätte richten müſſen. Vielmehr ift er ung ein fols 
cher, in dem das Gottesbewußtfeyn jeden Lebensmoment 
Dominirend oder begleitend durchdringt; und. da feine Les 
bensaufgabe dem Religiöfen gilt, fo wird er alle andern 
Thätigfeiten nur um dieſes willen verrichten, Das Reli- 
giöſe alfo da wo nicht unmittelbar, Doc; mittelbar das ihn 
in jedem Momente Beflimmende feyn. * 
Wenn der Religionsſtifter ohne Sünde. und See 


a) Wenn Herr Müller cfr. p.551. äußert, derhabe die Religion gar 
nicht, der fie nur neben Anderm bat, To läßt fich Hier Leicht zeigen, 
wie wenig foldhe verbädhtigende Worte eigentlich fagen, denn wir 
könnten eben fo gut zurüdgeben, wer für die Religion kein eignes, 
intenfivered Gebiet weiß, als das, wie fie fih mit aufs Irdiſche 
gerichteten Thätigkeiten verbinden läßt, weiß Überall nicht, was 
Religion heißt, Indeß haben wir uns hier gar nicht zu vertheidi⸗ 
gen, da und zum Voraus diefe Disjunction gar nicht entſteht. So 
atomiftifch fteilt eigentlich Niemand bie verfchiebnen Lebendgebiete 
auf, und es bedarf bagegen Feiner Polemik, wie fie bort geübt 
wird; denn der befämpfte Feind eriftirt gar nicht, der im Ernfte 
die verſchiednen Thätigkeiten und Lebensgebiete atomiſtiſch neben 
einander ſtelle. Ze 


J 





über die Dignität des Keligionsſtifters. 563 


ſeyn muß, um. alloominirend zu werben,’ fo ift nun zu 
unterfuchen, in welches Verhältniß er dadurch zu allen 
übrigen Menfchen trete. Dieß ift Die Unterfuchung über 


3) das Verhältniß der fpecififchen zur gras 
duellen Dignität des Religionsſtifters. 

Es fragt fich, ob das Den bisherigen Forderungen ents 
fprechende Individuum, welches Dadurch  unterfchieben 
ift von allen übrigen Menfchen, bloß gradw'ell vers 
ſchieden fey, oder aber: fpecififch, womit eben nur die 
Negation des bloß graduellen fol bezeichnet ſeyn, nicht 
aber die Meinung iſt, als ſolle der Stifter dadurch unſrer 
Gattung entnommen und in eine andre species von Weſen 
hinüberverfegt werden; infofern aber er allein ber domi⸗ 
nirende ſeyn kann im Gebiete der Religion, und Feiner 
dieſes mit ihm theilen Tann, oder Doch wenn es einer 
könnte, fich deffen nur als eined vom Stifter ihm mitges 
theilten bewußt wäre, kommt diefem eine fpecififche Digs 
nität zu. Huch dieſes ift ein Begriff, der im iventifchen 
Gebiete des Wiffens feinem Einzelnen zufommt, fondern 
nur Statt hat, wo die Sudividualität berrfcht, die immer 
eine einzige, fich nie fo wiederholende ift. Vermöge des 
fpecififchen Unterfchiedes wäre der Stifter einzig in feiner 
Art und zwar für immer, vermöge Des graduellen Unters 
ſchiedes aber nur primus inter pares. Beide Begriffe fchlies 
Ben aljo einander nicht nur nicht aus, fondern jeder hat 
feine volle Wahrheit nur in und mit der Vorausſetzung 
des andern. Die fpecififche Dignität befagt, daß die gras 
duelle Berfchiedenheit des Stifters Wefen nicht völlig aus⸗ 
drüde, fondern diefed als ein nothwendig einziges und 
einzig bleibendes zu faffen fey; es iſt nämlich offenbar 
eine reine Unmöglichkeit, einen für immer alldominirenden 
Stifter zu flatuiren, alfo eine allgemeine, bleibende Kirs 
che, ohne dieſe fpecififche Dignität anzunehmen, und Diefer 
Widerfpruchift zu auffallend, als daß nicht denen, bie dieſ e 


56% - Schweiger 


Jeugnen, zugefcheieben werden müßte, fie leugneten eigent- 
lich auch die Kirche als ein für immer bleibendes Ges 
fammtleben. Die graduell gefaßte Dignität aber befagt, 
Daß trotz dieſer Einzigfeit Der Stifter Dennoch unfrer Gat- 
tung angehöre, und weil in biefer die Frömmigkeit jedem 
Einzelnen wefentlich ift, fie fich alle zu ihm verhalten als 
verfchieden abgeftuft in religiöfer Beziehung, und ihm Die 
höchfte Stufe zufchreibend. Weil nun die beiden Begriffe 
einander ergänzen, fo muß jeder von einem andern Stand» 
puncte aus entſtehen, der für ſich allein ein einfeitiger 
wäre, wie fich Das auch gezeigt hat, da den bloß ſpeci⸗ 
fifchhen Unterfchied Die Supranaturaliften wollen, bloß den 
grabuellen Die Rationaliften a) ; Daher die Wahrheit in ei- 
ner. höbern Aufhebung beider Standpuncte zu Einem ges 
fucht werden muß. Ohne den fpecififchen Unterſchied hat 
die Behauptung der Allgemeinheit der Kirche fein Funda⸗ 
ment, weil immer ein noch Beßrer fommen könnte mit eis 
ner andern Religion; ohne den grabuellen aber gäbe es 
feine Bermittelung zwifchen dem Stifter und den Anzuzie⸗ 
henden. Die allgemeine Religion ſetzt alfo nothwendig 
das Ineinander Der fpecififhen und Der graduellen Dignis 
tät im Stifter voraus b). Die fpecififche Dignität ift nun 
‘eben jene Urbildlichteit und Borbildlichkeit, infofern fie 
bloß Einem anf urfprüngliche Weife einwohnen kann; der 
graduelle Unterfchied aber beruht auf der nothwendigen 
Anlage aller Menſchen zur Religion, Die fich wie jede all 


a) Man vergl. aud hierüber bie citirte Abhandlung Über diefen Ge- 
genſatz in der Zheologie. 

b) Daß diefes Ineinanber kein Widerſpruch fey, zeigt fhon die Ana⸗ 
logie bon Erfahrungsgegenftänden. 3. B. in einen Brennfpiegel 
iſt offenbar der Mittelpunct von allen andern Puncten fpecififch 
verfchieden, hat eine einzige Beichaffenheit; dabei iſt aber doch je⸗ 

. ber Rabius theilbarin allmählich fich abflufende Puncte. So fteht 
das Gentrum zu allen biefen Puncten in einem einzigen Verhättz 
niffe, das ſich fonft nicht wiederholen kann, unb boch auch zu allen 
andern in einer fich almählie, grabuell abflufenden Reihe. 





über bie Dignitkt bes Religionsſtifters. 865 


gemeine Anlage fehr verfchieden ausbilden und mobificis 
ren fann, von @inem aber am beften. Welcher dieſes fey, 
ift Sache empirifcher Nachweiſung, die fpecififche Dignis 
tät aber ift nur fpecnlativ zu deduciren und gibt erft die 
Sicherheit, aus der Gefchichte den gradnell Beiten anf 
zufinden, weil bloß hiſtoriſches Wiffen nichts kann, ale 
den bisher Beften ausmitteln; und nur wenn der fo 
Nachgewieſene erfunden wird ald dem Begriffe ber ſpeci⸗ 
fifchen Dignitlit entfprechend,, ift man fiher, daß der für 
alle Zeit Befte gefunden fey, über welchen hinauf Feiner je 
fich erheben werde. Statt alfo das Ungenügende nachzu⸗ 
werfen, daß Shriftus überhaupt fehr vollfommen fey, if 
das ganz Beſtimmte nun Aufgabe, daß nämlich feine 
Irrthums⸗ und Sündloſigkeit aufgezeigt werde, oder wer 
nigſtens, da wo die eine ift auch bie andre nothwendig 
feyn ung, das eine von beiden a). 

Diefe Aufgabe führt hinüber anf das empirifche Ge⸗ 
biet hiftorifcher Nachweifung. Möglich ift num, aus ber 
Gefchichte und Entwicklung des Werkes Ehrifti und vors 
zäglich and der Durchbildung feined Geiftesgehaltes im 
chriftlichen Geſammtbewußtſeyn zurüdzufchließgen auf jes 
nen urfprängfichen Gehalt im Stifter felbfi, and dem 
Werte ven Schöpfer zu erfennen, wobei die Hauptſchwie⸗ 
rigkeit iſt, Alles anszufcheiden, was ald freude Bei⸗ 
miſchung ſich mit ben Dogmen verfchmolgen hat. Oder 
man kann and dem eignen Leben Sefu auf fein Innres zu⸗ 
rüdfchließen und fehen, ob Freiheit von Sünde und Irr⸗ 
them herausfomme. Oder man Tann den Eindrud, wel⸗ 
dyen die Selbftdarftellung Tefu auf feine Umgebungen ges 
macht hat, zum Örnmde legen, um von da aus jenes zu ſu⸗ 
chen. Die beiden leßtern Wege werben beffer mit einaus 


a) Bekanntlich ift mit einer Nachweiſung ber Sündlofigkeit Jeſu von 
ulimann dieſe Zeitfcheift eröffnet worden, und biefe Arbeit nun 
duch ſelbſtſtaͤndig erfchienen. Was fie von hiſtoriſcher Seite bes 
zweckt, iſt unfere Abſicht von ſpecnlativer Soite. 


566 Schweizer 


der verbunden, da wir die Selbſtdarſtellung nur noch ha⸗ 
ben zuſammen mit ihrer Wirkung auf die Aufnehmenden a). 
Da wir nun den fpecififchen Unterfchied conftruirt ha⸗ 
ben, der graduelle aber hiftorifcher Nachweifung bedarf, 
fo ift beider Verhältniß zu den vom Stifter Angezogenen 
zu betrachten. Der Begriff der Kirche fordert eben fo fehr 
die fpeckfifche Dignität, d. h. Freifeyn von Irrthum und 
Sünde für den Stifter, als auch, daß hingegen alle Uebri⸗ 
gen dem Irrthum nnd der Sünde unterworfen feyen, aus 
Denen fie fich nicht ſelbſt heraushelfen Fönnen. Die Schwies 
rigfeit ift num nicht Die, nachzumeifen, warum ſich, wer 
einmal in dieſe Corruption gerathen tft, nicht wieder da⸗ 
von abfolut freimachen kann, fondern Die, zu erklären, wie 
der Menfch anfange, fie an fich kommen zu laffen. Eben 
fo groß ift die andere Schwierigfeit, zu begreifen, wie, 
wenn einmal Die Sünde und der Irrthum von einem Men⸗ 
fchen aus das Gefammtleben ergriffen hat, dann wieder 
ein Individuum davon frei feyn könne. Was zwifchen 
biefen beiden Punkten liegt, daß. nämlich wer angefangen 
bat zu fündigen, fich nicht mehr felbft befreien fann, ift viel 
leichter zu beweifen, Die Einheit von Srrethumund Sünde 
ift der Begriff der Negativität, Uinwahrheit, meil fie das 
Sch hindern. in feiner Wahrheit zu ſeyn d. h. in feinem Zu⸗ 
fammenhangemit Dem getheilten und abfoluten Seynz nur 
Das legtere gehört zu unferer Abhandlung, die bloß die 
Religion umfaßt und die übrigen. ethifchen Aufgaben, alfo 
das Zufammenfeyn des Ich mit Dem getheilten Seyn bei 
Seite läßt. Wo das Sch fich nur für fich feßt, oder doch 
als nur zufammen mit getheiltem Seyn, da tft Die religiöfe 
Unwahrheit, der Mangel oder die Unfräftigfeit des Got⸗ 
tesbewußtſeyns. Die Wahrheit ift alfo die abfolute Kräfs 


a) Diefes eben gefhieht von Ullmann über die „Sündlofigkeit Jeſu,“ 
Bu wir uns ald auf den empirifchen Theil aller Ausmittelung 
der Dignität des Religionöflifters berufen, zumal einige Abwei⸗ 
sen bald zur Sprache Eommen werben. 





über bie Dignität des Religionsſtifters. 567° 


tigleit des Gottesbewußtſeyns oder dad Nichtaufgehen im 
getheilten Seyn. Wir löfen alfo den Öegenfag auf in den . 
des nur für ſich Seyns des Sch, und in ein zwar für fich 
aber auch in Gott Seyn des Ich, d.h. felbftifches Bes 
wußtfeyn und Gottesbewußtſeyn. Diefe Reducs 
tion ift feine erfchlichene; Denn was wir bei. Geite laffen, 
ift in ihr mit enthalten, weil im Zuftande der Selbftfucht 
Das Ich nicht iſolirt ift, fondern in Verbindung mit ges 
theiltem Seyn, das Gottesbewußtfeyn aber nie ein auds 
fchließliches feyn kann, fondern immer nur in Verbindung 
mit zeitlichen Lebensmomenten., Wir nennen alfo, diefes 
vorausgeſetzt, Des Stifters fpecififche Dignität die Stes 
tigfeit des Gottesbewußtſeyns, den Zuftand der 
übrigen Menſchen aber das Dominiren der Selbitfucht. 
Wenn man gewöhnlich die Kirche nur auf Ein Wunder 
gründet, auf das Unerflärliche nämlich, wie die fpecififche 
Dignität des Stifters entflanden fey, fo ſtellen wir noch 
ein völlig parallel Unbegriffenes hin, nämlich, wie in den. 
andern (im erflen) Menfchen, infofern fie zuerfi in der 
Wahrheit gewefen find, Irrthum und Sünde entftanden 
fey; denn dieſes ift Sache empirifcher Nachweifung, bie 
aber als folche Fein Werden begreifen kann, fondern, fo 
weit fie auch aufwärts dringt, doch immer bei. einer Erz 
fcheinung, alfo einem ſchon Gewordenfenn ftehen bleiben 
muß und jedes Werden ald Geheimniß anerkennt, jo gut 
wie auch Die Speculation mit dem einzelnen Dafeyn auch 
deſſen Werben als unerreichbar anerkennt. Der Begriff 
der wahren allgemeinen Kirche ruht daher auf zwei gleich 
großen Räthfeln, und ruht beffer darauf, als nur auf dem 
einen Wunder, d.h. dem Stifter, weil dadurch, daß zwei 
räthfelhafte Erfcheinungen vorhanden find, jede derſelben 
viel vom Scheine Des Wunderbaren als einem Unerhörten 
verliert. Muß man nun vollends zugeben, daß wir über- 
haupt Feinerlei Werden und Entitehen feinem erften Ans 
fange nach erkennen, fo reihen ſich jene beiden nur als An- 


68 ee her 


fange unbegriffener Poſtulate, auf denen die Kirche ruht, 
in die allgemeine Kategorie alles Entſtehens ein, und das 
Wunderbare, inſofern es einen Widerſpruch gegen den 
ubrigen Zuſammenhang und Verhalt der Dinge bezeichnen 
ſoll, faͤllt ſo gänzlich weg, daß es vielmehr erſt dann ent⸗ 
flände, wenn wir, die wir als Regel anerkennen, keine Ans 

fänge zu begreifen, es num hier auf einmal im Stande wäs 
ren. Mit diefem Geftändniß und feiner Beleuchtung wird 
dem Begriffe der Kirche befier gedient jegn, ald wenn wir 
uns in Berfuche einließen, das Entfichen von Sünde und 
Irrthum ans dem Zuftande der Wahrheit, und hinwieber 
bas Entftehen eines fünds und irrthumslofen Individnums 
aus einem gefallenen Gefammtleben begreifen zu wollen. 
Diefer Berfuch würde vollends erfchwert Dadurch, daß 
wir Sünde und Irrthum als Ineinander erfannt haben 
und in ſteter Wechfelwirtung; fo daß das Entfichen von 
bloß einem von beiden undenkbar ift, und eine Nachweiſung, 
wie entweber Die Sünde, oder ber Irrthum entftanden fey, 
zum Voraus ald irrig erfchiene, was eben fo zu fagen ift 
vom Entftehen entweder bloß der Sündloſigkeit ober ber 
Irrthumsloſigkeit des Stifters d). 

Iſt nun im Stifter die Stetigfeit ded Gottesbewußt⸗ 
feyng, in allen Uebrigen aber das Dominiren bey Selbfts 
fucht, fo ift fein Einfluß auf diefe nothwendig ein erlöfen« 
der, und der Stifter ift der Erlöfer. Bermöge feiner 
fpecififchen Dignität wirft er alfo in den Angezogenen nicht 
etwa bloß eine Steigerung, fondern eine Umkehrung, eine 
Wiedergeburt, eine nene Schöpfung, die bier nicht mehr 
in die Gcheimniffe des Entftehens fallt, weil fie ald eine 
Mittheilung erfcheint. Was früher im Menfchen bag Uns 


a) Das p. 565. Sefagte widerſpricht biefem Sage nicht, weil bort von 
Aufweifung des Vorhandenſeyns beider die Rede war, nicht aber 
ihres Werdens. Eben weil Sünde und Irrthum in einander find, 
ift mit dem Vorhandenſeyn von einem das beider erwiefen. Nim⸗ 
mermehr aber Tann ihr Werden irgend gefpalten gebacht werben. 








über die Dignität des Keligionsſtifters. 569 


terbrücdte war, wirb nun bad Dominirende. Beibes, ſpe⸗ 
cififehe Dignität des Erlöfers und Wiedergeburt im Erlös 
ſten, find alfo Wechfelbegriffe, feines ohne bas andere. 
Diefer Borgang ift nur möglich in einem Gebiete ,. wo Die 
Individualität herricht und das Princip der Wahlanzies 
hung waltet. Sm Gebiete des Wiffens findet ein folcher 
Borgang totaler Umkehrung nicht Platz, weil fich da nur 
beweifen, andemonftriren laͤßt; mo fich aber dennoch Aehn⸗ 
liches findet, da rührt ed nothwendig her von einem In⸗ 
bividuellen, das am Spentifchen des Willens doch immer 
mit ift; Daher gehören folche Imfchaffungen hier unter die 
Ausnahmen, in der Religion find fie die Regel. — Dieß 
ift der Begriff und die Wirkung der fpecififchen Dignität. 
Es wird fid nun zeigen, daß Diefe totale Umkehrnung nur 
darum Fein Wunder ift, weil fie Die graduelle Differenz 
fchon vorausſetzt, vermöge welcher in allen Menfchen eine 
Richtung ift auf das Abfolute, Die aber in den Einzelnen 
auf fehr verfchiedene abgeftufte YBeife zum Leben fommt. 
Daraus folgt für alle Einzelnen, die fich berühren, ein viel⸗ 
fache® VBerhältniß Des Dominirens und Dominirtwerdend 
beruhend auf dem Gegenfabe der Spontaneität und Res 
ceptivität. Sa der höher Stehende verhält ſich felbfithäs 
tig und Dominirend zu den tiefer Geftellten, die gegen ihn 
receptiv fich verhalten. Auf diefer. Stufenleiter muß Eis 
ner der Höchfte ſeyn, und allmählich alle Andern Fräftigen 
und läntern; denn auch fie find fchon in der Richtung auf 
Die Religion, da fogar das bloße Aufnehmen nichts ans 
ders ift, als felbft eine Thätigfeit, wenn auch der ſchwaͤch⸗ 
ſte Grad. So erfcheint und Die Kirche von einerganz ans 
dern Seite, und der Einfluß des auf der höchſten Stufe 
ftehenden zeigt fich als ein anders geftalteter, nicht aber 
widerfprechend dem Obigen. Bon Allem aus ift auf Dies 
fer Seite die völlige Sind» und Irrthumslofigfeit eigent- 
lich nicht zur beweifen, fondern nur ein hoher, bisher höch⸗ 
fter Grad von Vortrefflichleit. Daher folche empirifche . 


970 = Schweizer 


Nachweiſungen ber Sundloſigkeit Jeſu immer eine Menge 
Züge anführen, die nichts beweiſen als eben jenen hohen 
Grada). Sie werden ferner keinen andern Maßſtab für 


die Handlungen Chrifti zulaffen als den ethifchen b). End⸗ 


lich wird man immer irren, wenn ein einzelnes Factum 
für ſich allein beurtheilt wird, ftatt allgemeine Maximen 
nachzumeifen, unter welche das Einzelne fich einordnet e). 
Aber wenn fich auch Die Nachweifungen an Alles dieſes 
halten, fo werden fie immer nur einen relativ höchften Grad 
von Bortrefflichfeit aufzeigen Fönnen, und den Menfchen 
die Erlöfungsbedürftigfeit im frengen Sinne faum zum 
Bewußtſeyn bringen; denn diefe fehen füch in der Richtung 
‚auf daffelbe Ziel hin und betrachten. ihren Zufland als ein 
Zurücbleiben hinter dem Ideale, wobei man fich leicht bes 
ruhigen kann. Dieſes Gebiet für fid) allein haben die Ras 


tionaliften befonders angebaut, die als bloß folche fich nie 


Darüber Rechenfchaft geben Fönnen, warum fie Chriftum 
als alldominirend feßen und überhaupt die Kirche wollen 


follen. Sie fehen in ihm weniger ben Erlöfer ald einen 


a) So muß, wie auch Ullmann gethan hat, empirifche Apologetik 
immer auf fpeculative hinüber weifen und greifen; benn die Apo⸗ 
logetik cfr. Schleierm. Darftellung des theol, Studiums $. 32, und 
48.2, Ausg. hat es mit beiden Standpunkten zu thun. 

b) Wir hätten alfo niemald wie Ullmann uns für Chriftum auf 
Geſetze berufen, nad) welchen Gott in der Natur wirkt; dem ein 
folches Hinübergreifen hebt die Wirkung gefchichtlich apologetif her 
Unterfuhungen auf. Man fchlage feine Erläuterung der Begeben⸗ 

heit bei den Gabarenern nad), 

0) So erklärt ſich jene Deilung bei den Gabarenern, Chriſtus thut 
was ihm Pflicht ift, ohne fich abhalten zu Laffen durch ben Schaden, 
welchen ſich Andere dabei zuziehen. Er will Meffias feyn, obgleich 
er weiß, daß er das Schwert bringt; er heilt den Befeffenen, obs 
gleich er fieht, daß bie Schweine bei fo nadhläffig unzulänglicher 
Bewachung durd) den noch einmal austobenden Rafenden in den See 

‚gejagt werben Tönnten, Was der Kranke täglich thun konnte, ges 
ſchieht nun gerade bei der Heilung, Die Analogie, wie Gott im 
Gewitter wirkte, een ice 





| 


über die Dignität des Religionsſtifters. 571 


Lehrer, ber fie weiter bringe, als fie ohne ihn fämen, da 
fie ſich überhaupt fehr auf Die identiſche Seite des Wiſſens 
hinüberneigen. Diefe ganze bloß einfeitige Wahrheit bes 
barf der Ergänzung durch die fpecififche Dignität; und 
eben fo müflen die bloßen Supranaturaliften ergänzt wers 
den durch die graduelle Dignität, um Die Vermittelung zu 
finden für des Erlöſers Einwirkung auf feine Erlöften, Die 
fonft ald etwas Magifches erfcheinen würde, der Erlöfer 


als nicht unferex. Gattung, die Menſchen aber als. nicht 


in. ber Richtung auf das Abſolute, wobei auch die Identi⸗ 
tät des Ich unterginge, der Erköfte fich nicht mehr als Dass 
ſelbe Ich erkennen könnte, welches er früher war. Beide 
Einſeitigkeiten jede für ſich allein zerſtören den Begriff der 
Kirche; das bloß fpecififche Verhältniß hebt das Weſen 


‘eines Zufammengehörens und. ſtetigen Fortlebens auf; das 


bloß graduelle läßt Feine Kirche als DOrganifation zu, fons 
dern ein bloßes Berfchwimmen und .ungemeflenes Sichab⸗ 
finfen aller Einzelnen... So folgt das Ineinander der ſpe⸗ 
cififchen und graduellen Dignität ded Stifters mus bem 
Begriffe der. Kirche, und biefer erſt aus jenem, und die eine 
Behanptung kann nicht ſeyn ohne die andere. 

Die ſich anreihenden Erörterungen äber bie Begriffe 
der pofitiven Reigion und der Offenbarung, welche bie 
Frömmigkeit noch mehr vom Willen ausſcheiden müßten, 
nöthigt und der Raum, welcher und vergönnt wird, in 
eine andere Abhandlung zuſammenzufaſſen. 

Schluß folgt.) : 


Theol, Stud. Jahrg. 1884, 38 


572 u Erbmann ·· 


Bir fol bie Yeetigt bechafſen —* — 
Somiletiſche Winke 


: ROoNR J 
Dr Johann Eduard eromann F 
in Bexrlin. 





Eine RER Predigten, ‚weiche im vorigen 
Jahrhunderte gehalten wurden und welche man m uns 
ferm Sahrhumderte hört und lief, ja fogar. ein Blick auf 
die. homiletifchen Arbeiten vor: zwanzig bie dreißig Jahren, 
1ßt uns allerdings das erkennen, daß wir, wenigſtens in 
vielen Stüden, im Bortheile ſtehen. Es tft nicht nur Die 
reinere, edlere Sprache, nicht nur der. beffere Gefchmad 
in der Einfleidung, nicht mir die größere Anmuth der Form, 
welche in den ewigen ‚Divtflonen und Partitionen ganz 


vernachläfſigt wurde, — nein, es iſt Etwas, woraufes 


mehr ankvmmt, worin Die jetzige Zeit vor jener den Vor⸗ 
zug verdient: die Predigten ſind erbaulicher geworden, 
und es iſt allen zum Bewußtſeyn gekommen, daß ſie das 
ſeyn ſollen, und wo man jetzt fragen mag: wie die Pre⸗ 
digt beſchaffen ſeyn ſoll, wird die Antwort nicht fehlen, daß 
fe erbaulich ſeyn ſoll. Aber, fo wahr dieß iſt, fo kann 
doch auch nicht geleugnet werden, daß mit dieſer Autwort 
dem, der ſo fragt, kaum gedient ſeyn moͤchte. In der That 
gibt fie nur eine Beſtimmung der Predigt an; die Er⸗ 
baulichkeit ift Doch nur eine Art, auf den Zuhörer zu wirs 
fen, und fo ift alfo auf die Frage nach der Befchaffenheit 
oder den Eigenfhaften der Predigt, nur ihr Zwed 
zur Antwort gegeben und ihre Wirkung. Wie fie felbft 
aber, auch abgefehn von dem Eindruce, den fie macht, 
befchaffen feyn fol, das ift Die Frage, auf die es ankommt, 
und zu deren Beantwortung bier ein fchwacher Beitrag 
gegebeu werden fol. 


nam 


über den Organiomus ber Preis. 15% 


. Eine ganz genügende und erfchöpfende Antwort: wärs 
be ſich nur ergeben aus dem Begriffe der Ynebigt, und Die 
Begriffsbeſtimmung berfelben muß in der. praktifchen Theos 
logie in ber Theorie bed Kultus vorkommen, und dann 
auch wieberum da, wo die Prredigt als integrirend er Theil 
der Wirkſamkeit des Geiſtlichen hervortritt. Würde nun 
hier, wo natürlich weder die eine noch die audere in wiſ⸗ 
ſenſchaftlichem Zuſammenhange dedueirt werben ſoll, bie 
Idee der Predigt vorausgeſetzt, ſo wärde Das als ein ganz 
willkürliches und unbegründetes Verfahren erſcheinen. Es 
ſcheint darum ſicherer, einen andern Weg einzuſchlagen, 
der dennoch. zum Ziele führen muß. Denn wenn die Idee 
ber Predigt nicht. nur ein todtes und müßiges Hirngeſpinnſt 
ſeyn ſoll, ſo muß ſie auch in der Realität ihre Macht zei⸗ 
gan, und, bei allen Abweichungen, in dem allgrmein Herr⸗ 
ſcheuden ſich nachmeifen bafſen. Wir:wollen darum die 
Predigt betrachten, wie fie faetiſch Vor. und liegt aut in⸗ 
but wir, maß. .allganein:ald ihr weſentlich zugeſtanden 
wird, ind: Auge falten, wikd ſich und ergeben, was für 
Anforderungen mar an ſie machen kann. Allerbings wird 
kabetdle Vorausſetzung gemacht / duß was wir heraushes 
ben.nächt nur zufaͤlliges Beiwerk der Predigt, ſondern, ih⸗ 
rer Idoe nach, ihr weſentlich ſey. 8 ſolches nen. — 
———— zugegeben werden: 

MH Es wird der Hrrdigt überall ein bituſcer — se 
2 Geundbeigelegt, 
N Es wird übern: ber: ein Thema ae — 
8) Die Predigt hat.iberal die Beſtimmung/ in der Ki 
i de gehaltensguuerben. en — a 2 
Bean: wis nun Diefe:brei Punkte ‚als Gefetze für bie Pre⸗ 
digt betrachten, fo. werden ſich bie: Forderungen ergeben, 
die man folgerecht an die Predigt machen darf. 
»I. Erſtlich :alfer der Predigt wird überall 
ein biblifher Text zu Örunde gelegt. Voraus⸗ 
gefet nun, daß dieß zum Begriffe ber Predigt gehört and 
* 


.. .." y* 
er“ . . -efs oe 9. 
574 * — Eromann: er Huren 


alfo immer fo ſeyn muß, fo fragt ſichis Was ſoll Der Tert 
bei der. Predigt, und wie foB fie fid zum Terte verhalten? 
Die Antwort, weldye zunächft jedem Unbefangenen einfitls 
Ien möchte,. ift wohl. bie richtige, daß bie Predigt eben ſeyn 
fol Ertlärung (und Anwendung) des —— Exe 
gefe ber Textesworte. A“. 

.« Sehen 'wir auf bie Praxis, anf: bie hinlkriiche Weife, 
mit der man an jeden denkharen Text jede erbenfbare Pre⸗ 
digt aufnuüpft, leſen wir Die Anweiſungen, welche uns leh⸗ 
zen, wie man ben Text beungen. könne, wie man Haupt⸗ 
perfonen, Nebenperfonen, Zeit, Ort, in: einzelne Worte 
u. f. f. hervorheben und daran die Predigt knüpfen koͤnne, 
wird es als eine homiletifche Geſchicklichkeit geruhmt, Daß 
ber ehrwürbige Reinhard funfzehn Nenjahrspredigten 
über: Luc. 2, 21. gehalten habe, jo ift daß freilich fehr. ges 
gen xine ſolche Meinung ‚gerichtet; und der Tert- fl wicht 
einmal mehr ein Motto, ſondern ganz nnd gar unweſent⸗ 
lich: fire die, Predigt. Dieß flreitet aber gegen bie Aarauss 
ſetzung; nach Diefer hat der Tert eine Bedeutung, welche 
- dt diefe, was ſoll er? — Sagt. man: die Aufmerffantlelt 
Des Medigers anf einen Punkt richten und: ihm die Schwie⸗ 


zigfeit Der Wahl abnehmen, ſo werben wohl bie Meiſten 


ans eigner Erfahrung wiflen, daß es allerdinge eine große 
Erleichterung ift, wenn der Gegenſtand gegeben iftz: aber 
warum dann einen Text, in Demnach jenen Anweiſungen 
unzählige Gegenflände zu finden nd und alfo das Peins 
liche der Wahl bleibt, warum nicht lieber. ein Dogmä, oder 
eine Sittenlehre, ober ein deſtimmtes Wort? — Soll'der 
ZTert wirklich dem Prediger eine Schmale, eine Begren⸗ 
zung ſeyn der umherſchweifenden Willkür, fo kaun er es 
nur ſeyn, indem geſagt wird: Predige, was der Text ſagt 
d. h. erfläre, erläutere ihn. 

Oder man ſagt: (und das iſt wirllich hefchehem der 
Text ſey Dazu Da, damit: der Prediger die bibliſche Lehre 
vortrage, damit er chriſtlich predige, fo Iieinerfeits 


über ben Organismus der Predigt, 575 


zu erwidern: daß nur dann bieß | erreicht wird, wenn 
Die Predigt. nichts. anderes iſt, als die Erklärung des Ters 


te8. Denn ift die Willkür im Behandeln bes Tertes in ih⸗ 


rer Schranfentofigkeit autorifirt, fan anirgend ein Wort, 
oder irgend eine Rebenvorftellung witziger Weife anges 
knüpft werben, fo.möchte es keinen einzigen Tert geben, 
an den ſich nicht die unchriftlichfte Predigt knüpfen ließe: 
Aufder andern Seite iſt nicht zu. leugnen, daß biblifche 
cd. h. material biblifche, die Bibellchre enthaltende) Reden 
fee wohl denkbar find, welchen Fein beftimmter Tert zum 
Grunde liegt. So pflegen 5.8. Biele ihre Caſualreden nie 
an einen Text zu knüpfen, denen man doch zugeftehen muß, 
daß ihre Reden (material) biblifch find. Diefe Bemerkung 


bat denn auch Harms dahin gebradjt, Daß er nit nur . 


Predigten ohne Tert gehalten hat, fondern es in feiner 
Baftoraltheologie ‚geradezu ausſpricht, e8 ſey gar nicht nö⸗ 
thig, Daß die Predigt einen Tert habe. Das Srrige darin 
zu widerlegen, ift hier nicht Der Ort, unfere Boransfeßung 
ift, Daß der Tert der Predigt weſentlich. Das Wahre darin 
ift, daß, bamit eine Rede (material) biblifch ſey, ein Tert 
eben nicht unumgänglich nöthig iſt. — Geber Grund alſo, 
der für den Gebrauch angeführt wird, daß die Predigt eis 
nen Tert habe, erweift fich als ungenügend, wenn nicht 
die Borausfegung gemacht wird, daß die Predigt in aus⸗ 
geführter Korm daffelbefage, was der Tert, und alfo Texts 
erflärung fey. Nicht, Damit die Rede chriſtlich ſey, ift der 
Tertihrnöthig, fondern damit fie Predigt ſey. Iſt aber Die 
Predigteben Eregefe des Tertes, fo iftdie erfle Forderung an 
fie, daß fie formal biblifch ſey, d. h. nicht nur was ihren 
Inhalt betrifft, biblifche Lehre enthalte, fondern es zeige, wie 
fie zu einer beftimmten biblifchen Stelle Die Erklärung jey. — 

Die Predigt fey formal bibliſch d. h. Ere 
gefe des erwählten Tertes. Diefer Forderung wird 
in unferer Zeit durchaus nicht überall nachgefommen, ja 
man hat fogar, wo fie an Die Prebigt gemacht wurde, ges 


576. tn man. 5 


radezu an.bie Homilte O verwiefen, mo Allein fie am habe 
ſey. Was die Homitie hinſichtlich ihres Berhältniffed zum 
Texrte von.der Predigt ımterfcheidet: — Kein -anberer, wich⸗ 
tigexer Unterſchied kann erſt sub Ih zur Sprache fommen) — 
ift dieß, Daß bei den Homilieen ein längerer Abfchnits Der hets 
Ligen Schrift zum Texte genommen wirb, während bei Pre⸗ 
digten, wenigſtens gewöhnlich, ber behandelte Tert ein ein⸗ 
zelner Spruch iſt, oder auch ein Theil eines längeren Abſchnit⸗ 
tes z. B. einer. vorgeſchriebenen Perikope, bit verleſen wor⸗ 
den iſt. (SSo kann z. B. eine Predigt über das Evangelium 
Dom. Trinit. fehr gut eine Anslegung ſeyn nur von Joh. 
3, 3. „Es ſey denn — nicht ſehen.“ Da würde ber ganze 
Unterſchied zwiſchen der Predigt und der Homilie ſeyn, 
daß jene V. 3, dieſe V. 1—15 zum Texte hätte) Wie fich 
eine Predigt, die wirklich ganz denſelben Text mit einer 
Homilie behandelt, von ihr unterſcheidet, wird nachher 
kurz angedeutet werden. Auf keinen Fall kann die Unter⸗ 
ſcheidung fo gemacht werden, daß man ſagt, bie Homilie 
fey allein. eine analytifche Predigt Eine Analyfe deſſen, 
was im Terte liegt, muß eine jebe Predigt enthalten, und 
in fofern muß man an eine jede Predigt die Anforderung 
machen, Daß fie analytifch fey. — 

Dieſe Seite der Predigt ift in Der neueren Zeit beſon⸗ 
berg, in den fchleiermacher’fchen Predigten ausge⸗ 
bitdet worden, welche in dieſer Hinficht ale Meiſterſtücke 
daftehen. Auch der, welcher Schleiermachers Eregefe ſich 
nicht aneignen kann, und dem feine Predigten in mancher 
andern Rückſicht nicht zufagen, kann ihnen dem großen 
Borzug nicht abfprechen, daß fte formal bibliſch find, d. h. 


a) Ich muß, wos man wohl fehon aus dem Eingange fehen konnte, 
noch ausdrücklich bemerken, daß ich hier nur von ber Predigt fpre« 
che, wie fie jest factifch da fleht, fo daß von der Predigt der Apo⸗ 
ftel, ober ber Kirchenväter 2c, hier gar nicht die Rebe ift, alfo auch 
Einwrfe von daher genommen nit treſſen. Den site vom 
Worte Homilie, 





— — — 





über den Organismus ber Predigt. 577 


Predigten über. ben Tert, fo Daß biefer erläutert wird, 
und am Ende dad deutlich geworben ift, was Schleiermas 
«her für ben eigentlichen Sinn bes biblifchen Textes hält. 
Ich erwähne flatt vieler andern Predigten nur feine Ofters 
predigt: Gleichwie Ehriftus ift auferflanden u. f. f. im 
sten Bande feiner Predigten. Oben ward fchon Harms 
erwähnt, der bei ber großen Vortrefflichkeit feiner Predig⸗ 
ten biefe Seite gerade vernachläſſigt. Charakteriſtiſch if 
ed, daß gerade Gchleiermacher das Predigen ohne Text 
an Harms ſtreng gerügt hat. 

IL Das Zweite, was ale allgemein Gültiges und 
überall Anerlauntes-bemerkt ward, war bieß: Jede Pre⸗ 
digt hat ein Thema, und wenn nun unferer Voraus⸗ 
ſetzung gemäß bieß anch ein Gefeß für die Predigt ift, fo 
fragt fihs, was man Daraus folgeredjt an bie Predigt für 
eine Anfordernug machen könne. | 

Wenn nun, um dieß Har zu machen, zuerft beftimmt 
werden muß, was ein Thema ift, fo muß ich als Die erfte 
Beſtimmung, um die Definition Des Thema's zu Stande zu 
bringen, dieß ſetzen: Ein Themaift immer ein Ur⸗ 
theil, oder ein aus Urtheilen zuſammengeſetzter Sat. — 
Das ift nun allerdings Etwas, was einer Nechtfertigung 
bedarf, weil es fchwerlich. allgemein möchte anerkannt wer⸗ 
den. — Es ift nämlich das Gewöhnlichſte, dag man meint, 
irgend ein einzelner Begriff köͤnne Das Thema eitter Pres 
digt abgeben (3. B. die Demuth), aber ein jeder wird doch 
zugeben, daß das Thema wenigſtens in allgemeinen Um⸗ 
tiffen fagen fol, was die Predigt enthalte, was gefpro- 
chen werden ſolle. Ein einzelner Begriff gibt aber dem 
Gedanken noch gar Feine beftimmte Richtung. Unter jes 
nem Titel kann gelehrt werben, daß die Demuth eine Tu⸗ 
gend, ober baß fie eine Albernheit ſey. Wie zwei Puncte 
nöthig find, um die Richtung einer Linie zu beſtimmen, 
oder, um ein paſſenderes Bild zu wählen, wie in ber Mu⸗ 
ft nicht ein Ton Thema feyn kann, fondern nur eine Mes 


878. Erdmann 


lodie (d. h. Töne und das Verhältniß derſelben) — ſo ge⸗ 
nügt auch nicht ein Begriff, um zu beſtimmen, was die 
Predigt enthalte. In jenem Beifpiele ift Die Aufgaberges 
ftellt, Daß von ber Demuth gefagt werben fol, — es fragt 
ſich nun: was von ihr gefagt werden fol? — Dieß hat 
nun Einige bewegt, zu fagen: ein Begriff genüge aller 
dings nicht, aber ein Thema fey auch nicht ein Begriff, 
fondern ein Sag. ber dieſe Definition ift auch zu uns 
beftimmt, denn es ſind Sätze denkbar, bie aus dem oben 
angeführten Grunde (von ihrem Inhalte ganz abgefehn) 
nicht Themata feyn Föünnen, weil fie nur einen Begriff 
enthalten, 3. B. Säte wie: Laßt uns fromm feyn! — Hier 
. auf Erden ift es ſchön! — Laßt und Buße thun! Wir 
werden fterben u. f. f. Soll-ein Sag fähig feyn, ein 
Thema abzugeben, fo. muß er zwei oder mehr Begriffe 
enthalten, die in ein Verhältniß gefeßt find, dann aber 


wiird er entweder ein aus Urtheilen beftehenber Sat feyn 


oder ohne Zwang fich in einen folchen oder ein Urtheil ver⸗ 
wandeln laffen. — In diefem Kalle will ich das Wort 
Urtheil nicht fo urgiren, ‚mit dem ich in logiſcher Weiſe 
jene Forderung an das Thema ausgefprochen habe. (Alm 
bei dem obigen Beifpiele zu bleiben: „Demuth ift un 
fenntniß” kann ein Thema feyn). 

Menn nun der erfien Vorausſetzung nach das Thema 
ber Prebigt wefentlich ift, fo ergibt fich für das Verhälts 
niß der Predigt zu ihrem Thema folgender Kanon, der 
auch ganz mit den gewöhnlichen Ausſprüchen über eine 
Predigt in Einflang fteht, die Predigt ift eine Durchfühs 
rung, Erplication des Thema's. Sft fie aber dieß, fo folgt 
Daraus, daß fie nur enthalte, was das Thema, und Als 
les/ was es enthält. Hat eine Predigt ein Thema rich⸗ 


tig durchgeführt, fo iſt das Reſultat und Die Summe ber 


ganzen Predigt wiederum bas Thema, welches bie ganze 
Predigt innuce enthält. Iſt nun aber ein jebes Urtheil 
| eine Synthefe (der im Urtheile verbundenen Begriffe), iſt 





über den Organismus der Predigt. 679 


ferner die ganze Predigt Erplication bed Thema's, ſo daß, 
was bie Predigt zu Stande bringt, bas ift, was Kurz ges 
fagt im Thema enthalten ift, fo folgt daran, das in jeber 
Predigt eine (die im Thema als Aufgabe gefeßte) Syntheſe 
hervorgebracht wird, und in diefer Beziehung ift eine jede 
Predigt ſynthetiſch. Diejenigen Urtheile nun, welche zur 
Erplication bed Thema's unumgänglich nothwenbig und 
fich unter. einanber-conrbinirt find, find Die. Unterthemätn, " 
bie fich zu Den einzelnen Theilen der Predigt genau fo vers 
halten, .wie das (Haupt) Thema zur ganzen Predigt. 
Mag nun der Gang der Prebigt. ein folcher feyn, daß zus 
erft das Hauptthema hingeſtellt wirb, und daraus die dar⸗ 
unter begriffenen Unterthemata entwidelt werben, bie fich 
wiederum (im Schluffe der Predigt) vereinigen, — oder mag 
die Predigt von ben Unterthematen, in fofern fie mehr iſolirt 
von einander daftehen, beginnen, und in ihrer Durchführung 
zeigen, wie fie nothwendig zufammengehören, fo baß alfo 
erit am Ende das Thema der Prebigt zu Stande kommt, — 
immer muß durch die Predigt ein Thema entwidelt wer⸗ 
den, und zwar fo, daß, wenn nachher das Thema recapis 
tuliet wird, darin die ganze Predigt wiederholt iſt. Und 
fo wäre denn die Definition für Predigtthema dieſe: Es 
ift dasjenige Urtheil (derjenige aus Urtheilen zufammens 
gefegte Say), in welchem bie ganze Predigt gegeben iſt. 

Man Lönnte num freilich fagen, es ſey noch gar Feine 
Rothwendigkeit bargethan, warum eine Recapitulation 
oder Soncentration der Predigt gerade nur ein Urtheil 
fegn müfle, und warım ed nicht zwei fich coordinirte feyn 
könnten, aber wären fo zwei Themata der Predigt da, 
weiche nicht Beftandtheile eines Hauptthema’s find, fo 
würde der Einheit der Predigt Eintrag gethan, fie hörte 
auf ei⸗Kunſtwerk zu feyn, in bem eben nur ein Ges 
danke durchgeführt wird, dem alle andern bienen. Deß⸗ 
halb hat denn auch ber allgemeine Gebrauch dahin ent 
ſchieden, daß jede Predigt ein Thema habe. 


» 
«° . * 2— .r. u 2 ww 


>. "Eben darum kann ich.aber andy nicht leugnen, daß, 
wenn das Thema: einer Predigt nicht ein Urtheil, ſon⸗ 
dern ein aus Urtheilen zufammengefeßter Est ift, Die Dres 
tigt ſchon Etwas von ihrer Einheit eimbäßt, fo daß die 
Theile fi) von einander mehr ablöfen, und gar wohl als 
beſondere Predigten bearbeitet werben ‚Sönnten.. Es fey 
mir erlaubt, ein Beifpiel-anzuführen. Der Text ſey Eph. 
6,1017. Geſetzt, dad Thema wäre gewählt: bie. Schutz⸗ 
und Trutzwaffen bes Ghriften find der Glaube und das 
Mort Gottes. — Darin liegen bie beiden: Urtheile, wels 
che die (inter) Themata der Theile abgäben: 
Der Schilb des Ehriften tft der Blaube, und 
Das Schwerbt des Chriſten iſt das Wort Gottes. — 
Es wirb wohl ein jeder zugeben, baß es paſſender ſeyn 
möchte, dieſe beiden Urtheile, die im Thema nur zufams 
mengeſetzt find, ald Themata zweier Predigten zu bearbeis 
ten. — Dagegen etwa ein Thema, wie dieß: „Glaube und 
Liebe bedingen ſich gegenfeitig”, in fich auch zwei Urtheile 
enthält, ohne daß fich von ihm das Gleiche fagen ließe. — 
Sf das Thema der Predigt ein Urtheil, fo gibt die 
Analyſe defielben wiederum diejenigen Urtheile, welche 
die Themata ber Theile find, und je mehr das_erwählte 
Thema die Eigenfchaft hat, daß es die Themata der Theile 
mit Strenge und Präcifion angibt, fo daß diefe vom ſelbſt 
hervortreten, um fo mehr wird in biefer Hinficht die Pre⸗ 
bigt befriebigen, und wird bie Eigenfchaft haben, welche 
man mandymal fo bezeichnen hört: fie habe eine fo natürs 
liche Eintheilung, Daß dieſe fich fehr tief einpräge. Derrichs 
tige Ausdrud dafür wäre,daß fiemethodifhe Strenge 
hat, und dieſe findet da flatt, wo nur gefagt wird, was 
zur Sache gehört, und auch Die äußere Form chier Die 
Eintheilung und Dispofltion) als in der Sache felbft Lies 
gend erfcheint. Iſt eine Predigt mit wahrer methodifcher 
Strenge geasbeitet, fo wirb man nicht anders eintheilen, 
als fie fich felbft eintheilt. Aber freilich Diefer Forderung, 


über den Organiöumed der Predigt. SER 


daß bie Theile-fich von ſelbſt igrgeben nud mit ziner gewifs 
fen Nothwenbdigfeit im Thema liegen ſollen, wirt felten ges 
nügt; nicht ale vb die methobifche Strenge überhaupt fels 
ten zu finden wäre, foubern weil eine beſtimmte Art ber 
Anordnung in unfern Tagen ‘fo weit verbreitet. ik, Daß 
jede andere auffallend iſt. Wir wollen fixtt aller audetu 
Beifpiele auf die reinharbifchen -Prebigten hinweiſen, weh 
che. diefer. Art Diepofitisiren repraſentiren. Wennu:nu 
gleich heut zu Tage weniger lUnterabtheilungen gemacht 
werden, ald R. deren machte, fo hat ſich doch diefe Art 
ber Dispoſttion erhalten, und ift faſt Die allgemein herr⸗ 
fchende. Ihre Eigenthümlichkeit beftcht darin, daß, nach⸗ 
dem ein Gegenſtand der Predigt beſtimmt iſt, nun gewiſſe 
Geſichtspuncte (Tömoı der Sophiſten) hiazugebracht, und 
mit Hülfe derfelben eine Maſſe einzelner, gänzlich von eins 
ander unabhängiger, Präbicate zu jenent Gegenftanbe als 
bem Objecte hinzugefügt werden; . fo daß fich eine Menge 
einzelner lirtheile ergeben, durch beren Ausführung und 
Beweis die Predigt gebildet wird, — Wir wollen dies 
eben Geſagte an einer remhardifchen Predigt nachweifen. — 
Die Predigt am.2ten Sonnt. nach Trinitat 1792 gehalten 
hat zum Gegenſtander Betrachtungen über die Zerſtreuung. 
Es werden barin betrachtet: 

1. Beichaffenheit und Arten berfelben, unb wird fie eins 

getheilt in 

a) leichtfinnige, b) wollüflige, e) gefchäftige, d) auf 
Betäubung abzielende, 

2. Schäbliche Wirkungen berfelben. Der. Zerfirenung 
fuchende kann: 

a) weder feine Kräfte gebrauchen, noch b). feine 
Würde behaupten, noch c) fein Dafegn genießen, 
noch d) frohe Zufunft ———— 

3. Mittel dagegen ſind: 
u ©) Unparteiiſches Beſtunen, b) Antſchlub, ſeine Be⸗ 
fkftigung feinem Berufe zu weihen; ce) bei 


. 
ee wo. en g ... — 
— — I % % 
. 4 


jeder Gelegenheit · ſich zu — fe; ans 
"Ende zu erinnern. 

Wenn man nun fragt,. was biefer Predigt den trock⸗ 
nen Charakter gibt, ſo iſt es eben der Anſchein von Me⸗ 
thode bei der unbegrengten Willkür ber Anorduuug; eine 
Maffe von Gedanken find an einander gereiht ohne eine 
andre Verbindung, als die im Belieben des Nebners liegt. 
Man konnte eben fo gut Die Zeriiresumg anders eiutheilen, 
etwa in Börperkiche und geiftige u. f. f.. Wenn man. von 


. vieſer Predigt den Inhalt angeben wollte, fo wäre das 


wohl nicht kürzer‘ möglich, als es oben gefchehn ift, und 
die Schwierigkeit, dieſe Prebigt in den Hauptjachen zu bes 
halten, liegt eben barin, daß der Redner ohne eine ges 
fegmäßige Ordnung verfahren if. — Diefer Vorwurf 
teifft, wie ein jeder mir zugeben wirb, nicht nur dieſe, 
tondern, mehr oder minder, alle reinhardifchen Predigten. 
Sft eine folche Art einzutheilen erlaubt, ſo ift es ſehr 
Leicht, eine genaue Dispofition zu machen, ohne daß man 
das Thema kennt, wo es denn deutlich ift, wie die Dis⸗ 
poſition ganz äußerlich, ja ein völlig mechanifches Thun 
werden kann. — Es ſey 3. B. der Gegenfland ber Predigt 
x, man betrachtet e8: 
1. Sn feinen Gründen. 2. Sn feinen Folgen. Diefe 


Diele liegen: find 
A. Sn Andern, A. Für ung felbft: 
a. In Uinterricht und a. In Leiden: Troſt. 
Erziehung. 
b. Sm Beifpiel. b. Sn Freuden: Schuß 
| vor Sünde, | 
B. Su ung felbfl. B. Für Andere. 
a. Anlage, a. Ihr irbifches, 
b. Eigne Selbſtbe⸗ b. Ihr geiftiges Wohl 
ſtimmung. fördernd. 


Schluß. Darum laßt uns dem Beiſpiele Andrer uygd 
ihrem Untertichte folgen, unſre Aulagen —— — 





über ben Orgemibahiß der Predigt. 588 


fo werden ok. in Freud und Leid. und ſelbſt — und Au⸗ 

Lern im: irbifchen und’ geiſtigen Wohlergehn förderlich ſeyn. 
— Es ließe ſich nun, namentlich. mit Hülfe von Antithes 
fen wie: im Leben und Sterben ac. noch: mehr ins Detail 
disponiren, und ich möchte gern wiſſen, welche chriſtliche 
Tugend (mit hinzugefügter Negation ‚gilt: es von zjeden 
Laſter andy) nicht. die Stelle de =’ einnehmen ANunte. Das 
Sämmerliche und Langmweilige: in biefer Eintheilung liegt 


eben darin, das fie abd etwas ganz Aeußerliches zum Chr 


ma gebracht wird, es ft gar kein Grund, warm ſie ba 
iſt. Es fey 3. B. hier x Ehriftenliebe,. fo liegt ed ge 
sicht im Begriffe der Ehriftenliebe ,. daß ſie in ihren Brüns . 
den und. Folgen betrachtet wird‘, — man könute eben fo - 
out eintheilen, 1. gegen Wohlthäter, .:2. gegen Widerſa⸗ 
cher; eben fo bie Unterabtheilungen u. ſ. f. — Solcher Ast 
Predigten beftehn aus eben: fo: vielen ifolinten Urtheilen 
als Umterabtheilungen ba. find,: und der Eindrud, den eine 
ſolche Predigt macht, iſt ber von einer: Maſſe an einanber 
gereiheter Themata, wie. deum wohl Viele aus. Erfahrung 
bezeugen werden, daß man aus jeber reinharbifchen Pre⸗ 
digt fehr viele Themata fchöpfen kann. Z. B. im eben 
angeführten: „Zerſtreuung zielt auf Betäubung ab. ꝛc.“ 
Nur bei- einem richtigen Bewußtſeyn über Die Bedeutung 
der Eintheilung, das freilich ungertrennlich. ik von dem 
über Die Bedeutung bed Thema's, werben. foldye gang 
änßerliche Fragen verfchwinden, ob.eine Predigt dichoto⸗ 
mifch ober trichotomifch ſeyn Tolle. Es läßt fich darauf gar 
nichts antworten, als dieß Eine: fie muß ſeyn, wie das 
Thema e8 erfordert; das Eine wird ſich aller dings ſogleich 
beftimmen laffen, daß, da ein jedes Thema eine Syntheſe 
von (wenigſtens) zwei Begriffen ift, beiden aber ihr Recht 
widerfahren muß, eine Predigt ſtets wenigſtens zwei⸗ 
theilig ſeyn wird. — 

Da hier ertlarter Maßen keine fireng wiſſenſchaftliche 
Debnction gegeben werden follte, ſo konnte es nicht anhers 


6888 32:32 3:2 hen: 2: 


ſeyn / ls daß ich Binled nur verſicherungsweiſe hinſtellte. 
Dagegen: liegt: mie: mit.ob z:"bie.anfgeftelkte. Anſicht gegen 
einige. Einwände gu vartheidigen „die:and folchen Inſtan⸗ 
jen hergenontueen: find, welche idy berüdfichtigen muß. Es 
Jan nämlich ein Einwand, gegen meine Anſicht a) auf 
uns hᷣaftre werden, was ich: felbft.mb I; gefagt habe, nud 
56 Fönnenibi Giamiände: hergenommten menden and.der Bo 
fchaffenheit: Ser Prebigt, wie ſib fantifuiy vor: und Itegt, zine 
Anborität duf .die ich ſelbſt immerfoͤrt · Provocirt Habe, — 
So werde ich drei Einwände herverzuheben — tanz gm 
VeienchteniHaben, ie a 

x...) Es fınır nämlich fcheiseit, als ſey — Pr 
vier Yom heine, gefagt.wurbe, sub I. vom Xerte gefagt, 
mid.e&. frage fich. nun,: welches. das Mahre. ſey? — Indeß 
iſt nach ben Gefägten ber: Untetſchied nicht: zu verkennen. 
BB: vom Tente die Rede war, war Das Refiträtibieß; daß 
Die: Predigt. den Tert arflären:folle,. hier dugegen, 
Bapıfle. une das Thema, nud dad. ganze Chendıerr 
pliciren ſolle. Der Forberumg an bie Prebigf. hinfichtlich 
ihres Berhaltniffes zum Veste: ifb alſo fhuaıentfppochen, 
wenn DerZckt von itgenb: eher. Seite Harigemadht wur⸗ 
den, . er mag ſouſt noch: Seiten: baten, ‚die Die Predigt 
nichtberührt, unb!die.alfo unerlärt bleiben. Eiuesfolcke 
Unabhungigkeit der. Prebigt som Thema. ift nicht erlaubt. 
Bleibt Etwas. vom: Theina unerplicich,.. fo iſt Die Predigt 
witht vollendet, kommt in ihr Etwas vor, was im Thema 
wicht'implicite kag, :fo iſt ein zu enges Thema gewählt. 
Das Verhuͤltniß des Teytes zum Thema, und die Ents 
wirdlungdes letzteren aus jenem deutlich ind Licht zu ſe⸗ 
Gen, iſt der Zweck der Einleitung ber Predigt, und hier 
werben graduelle Unterfchiebe nicht fehlen. Nehmen wir 
den Fall au, daß ber Text felbft Thema ift (wie in der 
erwähnten Predigt von Schleiermacher), fo werben beibe 
Forderungen sufammenfallen, und bie methobifche Erplis 
eatlou des Themn’s. zugleich erichöpfenbe Erlikrung ‘bes 


| 
| 
| 
| 


! 
| 
| 
| 


über den Orgemötniß ber Predigt. . 685 


Zerted'feyn.  : Dielen gluͤclliche Fall, welcher der Prebigi 
eine ganz eigentiyikmliche befriebigende Geſtalt gibts. wird 
aber nur Da Rate: finden, wo der! Tert in, einem, einzel⸗ 
nen Spruche beſteht — Legt dagegen im Teste mehr, als 
das Dhoma, ſo wird bloß eind einzige „Seite, ein einzelner 
Bub des Textes erflärs; undoje ſpecieller, (Cund alfo wer 
niger den gangerii Text darftellend) dieſe Seite ift, um 
fu weniger wird. in allen. Puntten der; Perbigt die directe 
ausgeſprochne Abhängigkeit vom Texte fick finden Könwerh 
Als Grenze tft bier. zu beſtimmen, Ahß: bad: Maß Aber 
fchritten. tft, wenn die Yrebigt nich! achr SErklaͤrung LWe⸗ 
nigſtens einer Seite) Des Textes iſt und alſo mitt ihm mug 
durch ein änßerliches Band C(etwa Gewohnheit ober Vor⸗ 
fchrift) verbunden: ifk Wenn nat fon die Predigt u u min⸗ 
te 1b a re am meiſten vonn Themanabhaugig iſt, fo:ergidt 
ſich uber ihre Abhängigkeit vom Terte folgender Kanout 
dad Verhaltniß ber Predigt zum. Texttzuiſt dar ch das 
Thema vermittelt, und wie ſehr biemesh od iſche 
Predigt der Forderung, for malhib'liſch zu ſeyn, ent⸗ 
ſpricht, Gänge. davon ab, wie nahe das Thema dem zu 
Grunde gelegten Texte liegt, und den Gedanken des Tex⸗ 


Zwei andere Einwände, die gemacht werben können, 
find hergenommen von ber Geftalt, welche bie: Mrebigt 
hat. Es kann nämlich b) gefagt werben. Daß nach biefer 


Theorie einer. Art‘ Prebigten, . welche. body: factiſch ges 


braͤuchlich fep, Der Name Prebigt.gar. nicht beigelegt werr 
den koͤnne, niinelich der Homilie. Nun wird bech.abet 
auch won der Homilie verlangt, daß in ihr: ein Gedanle 
durchgeführt, bie einzelnen Theile aber durch Die. einzelnen 
Theite des Tertes beftimmt feyen. Da muß ich num die 
Forderung, die ich an die Predigt Überhaupt madıe, and) 
an die Homilie machen. Auch fle wird: zum Thema ein 
Urtheti haben, mr wird ſich dies vom Thema einer 


BB... sn. 


mbern Predigt darin unterſcheiden, daß in dieſem Urcheile 
der ganze Text, (oder eine ſolche Vorſtellung, die nur 
durch. alle einzelnen Theile des Textes erſchöpfend darge⸗ 
ſtellt wird) die Stelle des Subjectes (oder Prädi⸗ 
cates) einnimmt. 3.3. Ueber den Text Joh 46 50. 
wärbe gepredigt und in einer Homilie gezeigt, daß, eben 
wie bie Juden bei jedem neuen Zeugsifle für Die Wahrheit 
mehr ergrimmten,-ganz in derſelben Weiſe wir bei bengleis 
hen Zengniffen erbittert werben, ſo würde: dad Thema 
etwa fo lauten: Unſer Sonntags Evangelium 
(oder: das Betragen der Inden mt unſerm Evangelio) if 
ein Bild. derwerfhiednen Grade, in denen fid 
unſere Erbitterung gegen bie Bahrheif zeigt. 
Die Theile ergebewfich dann fogleich, indem die einzelnen 
Theile des Subjestß.,. als eben fo viel einzelne. Snbierte, 
mit dem Prüdichte. des Thema's verbunden werben. — 
Die. einzelnen Züge ſeyen etwa in biefem Evangelio: Auf 
Den: Grund, Den EKhriſtus V. 46 anführt,: ſchweigen 
fte, Denim V. schalten fle für einen Beweis feines Pperſon⸗ 
lichen (nationalen) Haffes (du bift ein Samariter) — V. 51 
laͤßt fie Wahnſinn in ſeiner Lehre fehn, — 64 — 68 läßt 
fie Steine aufheben, — fo ergäben ſich folgende Urtheile. 
1. Ihr Schweigen 
2. She perfönlichen. Haß Vorausſetzen A ift Bild unferer 
3. Ihr Vorwurf des Wahnfinnes. . | Erbittrung ꝛc. 
4. Ihr. Steinigenwollen | 

Auch hier werben fich Annäherungen an die Homilie 
finden, die es ſchwer machen, die Predigt zu claſſificiren. 
Iſt nämlich Subject oder Prädicat des Thema's eine Vor⸗ 
ſtellung, die nur durch einzelne im Texte zerſtreute Theile 
dentlich. gemacht wird (eine Colleetivvorſtellung, gleichſam 
die durch Addition hervorgebrachte Summe jener einzelnen 
Theile), fo nähert fi die Predigt. mehr der Homilie, — 
iſt es mehr ein einzelner Begriff. (bie Eoncentration ded 
Textes r fo tritt mehr der Charakter der Predigt im en- 





über ben Organismus ber Predigt. 587 


gern Sinne hervor. — In der öfter erwähnten Predigt 
von Schleiermader ift in dem Thema: „bas Leben Ehrifkt 
nach feiner Auferftehung, wie ed die Schrift und Darftellt, 
ift ein Bild unferes neuen Lebens” — das Subject: das 
Leben Ehrifti u. ſ. w. eine folche Summe einzelner, in ber 
h. Schr. zerftreuten Züge, und daher nähert fich Die Pre⸗ 
digt einer Homilie, und wäre vollig eine Homilie, wenn 
alle hervorgehohenen Züge in Diefen Textesworten expreß 
ausgedrückt wären, wo deun bad Thema etwa jo lauten 
würde: das Leben Chrifti, wie es dieſe Textesworte bes 
fchreiben ꝛc. Die Theile in dieſer Predigt. ergeben ſich unn 
ganz wie oben, indem mit jedem einzelnen Inge im Leben 
Chrifti (ald dem Subjecte) „Bild.unfered neuen ea 
als Prädicat verbunden wird; alfo: - - a, 

I. Daß er vorher ftarb, Sr, 


II. daß er nach dem Tode d erſ ? ide 2 — iſt ein Bild un⸗ 


war, 
eres n 
I. daß fein Leben allmählich erſtarkten = en, is " 
IV. daß es nur in einzelnen Augen er? 


bliden hervortritt, 

Predigten diefer Art find es, die man mit. Dem Namen 
der fonthetifch » analytifchen bezeichnet hat, eine Art der⸗ 
felben, gegen weldye Harms in feiner Paſtoraltheologie 
wohl ganz ohne Grund fidy ganz und gar erklärt. — Läßt 
man aber bei der Homilie Die Anforberimg nicht gelten, 
daß in ihre nur ein Gedanke hindurch gehe, und werficht 
Darunter nur eine praßtifche Anwendung der einzelnen 
Sprüche, zanz ohne daß irgend ein Zuſammenhang nadjs 
gewiefen wird — (einige Paltoralanweifungen, welche⸗ 
fonderbar geyug, eine. Homilie zu machen, ‚für Trichter: 
halten, fcheinen dag wirklich Darunter zu verftehn) — fo muß 
nach dieſer Anficht der Name Predigt ihr allerdings abge« 
forochen werden. Damitfollaber gar fein Tadel ausgeſpro⸗ 
chen werben. Im Gegentheile, oft wird eine folche unmetho⸗ 
difche Betrachtung zweckmäßiger ſeyn wegen anderer Um⸗ 
ſtaͤnde, als es eine ſtreng gearbeitete Predigt — * dann 

Cheol. Stud. Jahrg. 1834. 


. 
* EN ”.‘. . 
a vocrd- °. ‘ 

F er k 


begrüße man ſich mit der Zweckmaͤßigkeit, und verlange 
micht den Woßen) Namen Predigt für bad, was in andrer 
Hinſicht mehr if, nämlich gefegnete, erbauliche Betrachtung. 
&) Endlich aber kann nach dem, wie.die Predigt facs 
Ih daſteht, der Einwand gemacht werben, daß meine 
ganze Deduction eine Erſchleichung ſey. Indem nämlich 
Menand unter Thema das verſtehe, was ich, ſeyen alle 
Yon: mir: varaus, Daß bie Predigt ein Thema haben müſſe, 
gemachten Folgerungen ungültig. Daß aber in ber That 
Niemand unter Thema Dieß verſtehe, das werde «) durch 
üße Prebigten ˖ bewieſen, denn ba, wo das Thema anges 
kundigt wirb, am Schluffe des Einganges, da werde höchſt 
felten ein Urtheil angekündigt, fondern weit häufiger ent 
weber nur das Dbject der Betrachtung, oder eine Frage. — 
Diefer Einwand findet aber feine Erledigung, wenn nur 
bedacht wird, daß ein großer Unterfchied ift zwifchen ber 
Veberfchrift einer Predigt und ihrem Thema, Jene zeigt 
nur an, worüber „dieſes auch, was gefprochen wird. 
Und das, was am Schlufe des Eingangs angekündigt wird, 
ift gewöhnlich Die Heberfchrift, höchft felten wird das The⸗ 
niu augekundigt, und ich halte das — warum, darüber 
fogleich — für fehr zwedmäßig. Wenn nun etwa die Ans 
kandlgung bed Objects der Predigt mit den Worten geges 
ben. wird; wir wollen betrachten „was Demuth ift,“ fo 
wird es wohl Riemandem einfallen die Worte: Was ift 
Demath? für ein Thema zu halten, fondern diefes 
kommt erft sum Vorfcheine, wenn Die Frage beantwortet 
iſt. Die Frage iſt das Nrtheil, in welchem duͤs Subject 
oder Praͤditat geſucht wird, iff der gefuchte Begriff gefun⸗ 
den, fo iſt erſt das Ursheil volfländig. In diefem Falle 
iſt erſt die aufgeworfene Frage, mit ihrer Ants 
wort-ald ein Say ausgeſprochen, bad Thema. 
Was mid nun bewegt, biefe Weife, wo man das Thema 
nicht nennt, für zweckntaͤßiger zu halten, finb Geſichts⸗ 
punkte der rhetorifchen Taktik. Sie erhält den Zuhörer 
in feibfirhätiger Spannung, und zwingt ihn, den fehlen, 





über den Organisnius der Predigt. 389 


z ı 
ben Begriff mit zu fuchen, während, wo das Thema ganz 
ausgeſprochen iſt, dev Zuhörer ſchon weiß, wohin Ates 
zielt, And eben der Urſache möchte ich es auch in Den Weis 
fien Fallen vorziehn, bei Angabe ber einzelnen Theile auch 
sicht die in ihnen zu erplicirenben Wetheile CiyrsTKematın 
mit dürren Worten auszudrücken, fondern andy hier lieber 
Die Gefichtöpunfte anzugeben, oder die Themata unvoll⸗ 
fländig bb. als Ftagen anzugeben. Dieſe Taktik wird 
num von ben Älteen Predigern ſehr vernachlaͤſſigt, am mei⸗ 
ften von Neinhapd. Er drückt ſein Thema fehr hänffg bei 
der Ankündigung ganz beftimmt aus (z. B. 33. Sonnt. 
nach Trin. 1794, DAB::das Lafter immer fchlimmer wird, 
je mehr man es verbergen will) , oder wenn er das aud) 
beim Hauptthema nicht thut, fo doch bei den einzelnen 
Theiten, z. 3. bei der oben betraditeten Predigt: „Man 
kann die Zerſtreuung eintheilen in Teichtfinnige, wolluſtige 
ui f. w. und nun geht Dev Gang fo-forti.@8 gibt erfilich 
eitie leichtſinnige u. ſ. Ww., Daher: aber auch bei ben meiften 
rein hardiſchen Prebigten das Gefühl, als fey die Ausfuh⸗ 
rung ganz etwas Unnützes, weil in’der That etwas Neues 
nur am Anfernge jedes Theilsin einem Satze gefagt wird. — 
Vergl. etwa in Diefer Beziehung zwei Predigten über 
Ephe 6, 4. son Zollikofer Predd. Lpz. 1772. und von 
Schleiermacher Predd Ab. Hausſtand. Damit will ich nun 
durchaus nicht geſagt haben, daß in einem Kalle das The⸗ 
ma angekündigt werben folle. In ber öfter erwähnten 
Oſterpredigt von Schleiermacher iſt dieß sefchehn.: Da 
hat es aber die Gefahr nicht, daß die Aufmerkſamkeit er⸗ 
lahme, da das, worauf es eigentlich ankommt, bie einzel⸗ 
nen Züge ber Achnlichkeit, von Dem Zuhörer zugleich mit 
dem Redner noch geſucht werben. — Es war der Zweck 
diefer Digreffion Aberhaupt nur der, zw zeigen, daß bie 
gewöhnliche Weife, ven Gegenſtand ber Predigt anzukün⸗ 
Digen, nieiner Theorie nicht widerfpricht, weil bie rhetvri⸗ 
fche Taktik es oft, $a in den meiften Fällen —— — 


das Thema nicht zu nennen. 
89 * 


E 4 


590 ——— Erdmam do 


M Bühtiger.abertöunte der Einwand erſcheinen ger ‚ 
gen die Richtigkeit meiner Definition: von Thema, wenn 
man, auch auf die Erfahrung provocirend, ſagte, Daß die 
Wenigſten, indem fie ihre Predigten arbeiteten, ein The⸗ 
ma in dem anfgeftellten Sinne hätten, und wenn nun etwa 
die, welche anerkannter Maßen die beſten Kanzelrebner 
find, ſelbſt behaupteten, ihre Predigten ſeyen nicht Expli⸗ 
cationen eines Thema's in Dem angeführten Sinne, fo 
fcheint das allerdings dem Behaupteten Den: Todesſtoß zu. 
verfegen, weil jene doch wohl am beiten willen müſſen, 
was ihre -Prebigten feyen. ‚Aber gerade dieß Pete. möchte 
ich, fo paradox das foheint, nicht unbedingt gugeben. Es 
iſt mit den methodiſchen Predigten, wie mit dem Iogifchen 
Denken; wie jeder Verſtändige, auch ohne Logik ſtudirt zu 
haben, ihre Regeln befolgt, fo iſt es ſehr, möglich, dag en 
methodiſcher Sinn den Redner fo: leitet, Daß-feine-Prehigt 
den aufgeſtellten Forderungen ganz genügt, ohne Daß: er 
fich eines Thema's bemußt iſt. Da kann er aber auch nur 
ſagen: ich babe kein Thema durchgeführt, aber fagt. ex: 
es ifkin der Predigt Feins-Durchgeführt, ſo kaun er ſich 


darin allerdings irren, ganz wie Jener vielleicht Recht ha⸗ 


ben kann darin, daß er Feine Togifchen: Regeln (bewußt) 
befolge, aber Unrecht darin, daB alfo fein. Denken ein un⸗ 
kogifches fey. Das Lebtere, Daß in .einer Predigt, ohne 
baß der, der fie machte, fich deſſen bewußt. war, ein The⸗ 
ma ganz erplicirt iſt, iſt fogleich- bewiefen , ſobald jene 
Cohne Thema gearbeitete) Predigt in, einen gum Thema 
paffenden Satz · zuſammengezogen werben kann. Nur wenn 
dieß gar nicht gebt, d.h. wenn durchaus nicht Ein Ge⸗ 
banke. als der Inhalt der Predigt nachgewiefen werben 
fan, dann verbient fie allerdings nad) Dem. Aufgefkelften 
Tadel, dieß iſt aber feltner der. Fall, als man auf den er⸗ 


ſten Anschein meinen woͤchte. — Wenn nun auch der me⸗ 


thodiſche Stan Viele.inflinctartig den oben ‚angeführten 
Forderungen ejtſprechen läßt, fo kann ich doch nicht ums 
hin, zu MER: daß Alle mit; Bemußtichn rinen fireng 





‚über den Organismus der Predigt. 591. 


methobifchen Durchführung bed Thema's ſich befleißigen. 
Zucht ift Jedem zu empfehlen. Es wärde auch bei den 
glüdlich Begabten, denen ſolch methodifcher. Sinn eins 
wohnt (und wie vielmehr bei denen, in welchen er ‚nicht 
ſolche Macht Ha, die Einheit der ganzen Predigt gewin« 
nen, und viele Appige Seitenfchößlinge würden abfallen. 
Dann aber, und das ift das MWichtigfte,. würde bie Art der 
Eintheilung und Dispofition mehr herrfchend werben, die 
der Predigt eigenthümlich ifl. Es würden bie Dispoſitio⸗ 
nen verfchwinden, die Einen wie Uniformen gemahnen, in 
die jeder Gedanke hinein gepreßt wird, der das Ungläd 
hat, Thema zu werden, jene Abtheilungen. und Unterabs 
theilungen, bie fein Zuhörer ohne Mühe behält, weil fie 
von Außen herzugebracht find, und die bei anerfannt treff« 
lichen Rebnern die Predigt fo ungenießbar werden laffen, 
jene äußeren Gefichtöpuncte, die, ftatt die Aufmerkſamkeit 
zu fefjeln, fie vielmehr von dem Gegenftande ablenken, 
eben auf Das Beiwerk hin, was gar nicht im Gegenftanbe 
liegt. Wahrhaft methodifche, organifche Eintheilung und 
Dispofition der Predigt ift das Einzige, was den Zuhörer 
fo mit fich zieht, daß er Feinen Zwang fühlt, fondern das 
Gefühl hat, es können nicht anders als fo die Theile fich 
folgen, und ich kann e8 nicht leugnen, Daß viele fonft treffs 
liche Predigten gerade Durch den Mangel an methobifcher 
Strenge fo kalt und langweiligwerben, indem fle das Ger 
präge einer altmodifchen Pedanterei an fidh tragen. So 
gewiß ich weiß, daß eine Predigt bis in Die Heinften Pars 
tieen hinein, ja bid auf jeden einzelnen Sak ftreng dis⸗ 
ponirt feyn muß, fo muß ich doch auch geftehn, Daß ich 
lieber gar Feine, als eine, nicht mit Nothwendigkeit Durch 
das Thema gegebene, Eintheilung mag. — 

Dieß wären nun bie Einwände, die man meiner Mei⸗ 
nung nach gegen meine Anſicht machen kann, einen andern, den 
nämlich, Daß dann eine Predigt ſich nicht von einer Abhand⸗ 
lung unterfcheide, kann ich erſt unten sub II. berückſichtigen. 

DI, Das Dritte, was ald allgemein zugeſtanden vor⸗ 





N. :. Erdmann 


ausgeſetzt warh, wars Die Predigt hat üherall die 
Beſtimmung, in der Kirche gehaltenzuwerden. 

Sie ſoll gehalken werben. Hat fie. dieſe Bes 
ſtimmung, fo fallt. fie alin fogleich in das Gebiet ver Rede, 
und es fragt fi nun, was Daraus, daß die Predigt eine 
Rede ift, fidy für Anforderungen ergeben, Die man an fie 
machen darf... Das, was der Rebe ihren beftimmten has 
rakter gibt und fie unterfsheidet von jedem auderu Kunſt⸗ 
wert in Worten, ift dies, Daß fie immer den Zweck hat, 
in Dem Zuhörer eine beftimmte Millensentfchließung gu wir 
fen (Atidc. als Zwed der Rede), Wenn nun die Predigt 
eine (geiftlihe) Rebe ift, fo muß alſo auch an fie die 
Forderung gemacht werben, baß fie auf den Willen wirfe, 
und MWillensentfchließung hervorbringe. In dem gemöhns 
lichen Ausdrucke, bie Predigt fol erbauen, liegt daſſelbe. 
Erbauen fügen, alfo Kraft vermehren. Eine Kraft ift 
nicht ohne Aeußerung, eine Erbauung nicht ohne Bezie⸗ 
bung auf dag Leben, and auf die felbfibewußte Kraft, 
worqus das Leben heruprgeht, d. h. den Willen. — Diefe 
Wirkung muß aber eine eigenthümlicher Art ſeyn, denn die 
Predigt fol, gehglten werben in ber Kirche, in der Ger 
meinbe, and fo muß denn Die von der Predigt gewirkte 
MWillenkentfchließung eine folche feyn, Die mit dem Zwede 
des Gottesdienſtes, der Erhöhung des religiöfen Lebens, 
in Verbindung fteht, Die Predigt muß alfo eine religiöſe 
Willensentſchließung wirken. — Hieraus möchte 
vielleicht Mancher folgern, daß ich nur Die fogenannten mo⸗ 
salifchen Predigten ftatuire. Sch muß deshalb hier kurz erin⸗ 
nern, baß ich die Eintheilung der Predigten in Dogmatis 
ſche und moralifche verwerfe, erftlich weil Moral und 
Dogmatik Theile der Wiffenfchaft find, und alfo Mos 
ral predigen fo viel hieße, als Wiffenichaft predigen, was 
ein Unfinn wäre, — zweitens aber, weil nach meiner 
Meinung eine Predigt, die zum fittlichen Leben ermahnte 
ohne eine Beziehung auf den Glauben, Feine chriftliche, 
Dagegen aber die Daritellung einer Glaubenslchre ohne 


über den Organismus ber Predigt. 393 


Beziehung aufs Leben (wenn es eine ſolche gäbe) eine 
todte Lehre wäre, Der Mittelpunct des chriftlichen Lebens 
ift Die Verföhnung mit Gott, jeber geiflige- Lebensmament 


fo wie jede Erregung des geifligen Lebens muß darauf ſich 


beziehn. Wenn nun in jedem Augenblicke entweder vor⸗ 
wiegen wird das Bewußtfeyn der vollendeten Verföhr 
nung, oder das der noch nicht vollenbeten, fo em 
gibt fih von ſelbſt, daß diefer relative Unterfchieb auch 
den verfchiedenen Willensentfchließungen ihren verfchiebes 
nen Charakter gibt. Iſt das Bewußtfeyn vorwiegend, daß 
die Berfühnung vollendet ift, fo wird die religiöfe Willens⸗ 
entfchließung dahin gehen, ihrer theilbaft zu bleiben, herrfcht 
das Bemußtfepn vor, daß wir ald Einzelne ihrer nad 
nicht ganz theilhaft find, fo dahin, ihrer theilhaft zu wer⸗ 
den. Und fo hat denn eine jebe Predigt, ba fie eine relis 
giöfe Willensentfchließung wirken fol, die Pflicht, den 
einen oder den andern. Entfchluß zu wirken. Wo nicht 
Eines oder Das Andere durch fie hervorgebracht wirb, ba 
hat fie ihren Charafter als geiftliche ee ——— 
und iſt eben nicht Predigt. 

Wenn nun aber vorher ſich als das Reſultat uuferer 
Unterfuchung ergeben hat, baß die Predigt nur Explica⸗ 
tion ded Thema’s, und mit dem Thema alſo die ganze 
Predigt gegeben ift, Dazu num aber dieſe neue Beſtima 
mung binzugetreten iſt, fp folgt Daraus: nicht nur, Daß 
Die ganze Erplication des Thema's ber Art ſeyn muß, Daß 
fie auf den Willen wirfe d. h. chetoriſch, ſondern auch dag. 
Thima felbft feine Beziehung auf eine Willensbeſtimmung 
ausivrechen muß. Soll die Predigt praftifih ſeyn, fo kann 
fie eö nur, indem auch fchon ein praktiſches Thema. ger 
wählt ift. Und hier möchte daun auch die. oben ermähnte 
Frage ihre Erledigung finden: worin fich Die Predigt von 
einer Abhandlung nuterfcheide? Die Antwort it: Im 
Thema und alfo auch in der Ausführung. Ein Thema 
für eine Predigt and eine Abhandluug iſt eine Unmöglidhs 
feit, deun jene muß auch im Theme ihre. praktiſche, dieſe 


594 . Erbdmann 


anch im Thema ihre, nicht auf den Willen gerichtete, Ten⸗ 
benz zeigen. Ein Verſuch, das Thema einer Abhandlung 
in.einer Predigt zu bearbeiten, wird es zeigen, wie man 
immer : Die Beziehung auf den. Willen hinzuträgt. Und 
wenn man nun nachher die ganze Summe der Predigt in 
einem Sabe wiederholte (alfo das Thema ertrahirte), fo 
würde fich’8 zeigen, daß auch dieſer Satz die praftifche 
Tendenz enthält, und alſo nicht mehr das Thema der 
Abhandlung iſt. Eben ſo wenig aber, als das Thema ei⸗ 
ner Abhandlung ein Predigtthema abgeben kann, eben ſo 
wenig paßt ein erbauliches Thema d. h. eins, welches bis 
recte ſeine Beziehung auf eine religiöſe Willensbeſtimmung 
zeigt, zu einer Abhandlung, oder es muß dieſe Beziehung 
von ihm abgeſtreift werben, wodurch das ie in der ' 
That ein ganz.anberes würde. 

. Wenn nun dieß paränetifche Element in der ganzen 
N redigt feyn muß, und nicht etwa nur im Schluffe, fo 
folgt alfo, daß auch die Themata der Theile dieſe Natur 
haben müſſen, auch fie Dürfen nicht Themata einer Abhand⸗ 
Kung ſeyn, und fo folgt daraus, daß die ganze Dispoſi⸗ 
tion diefen Charakter zeigen muß. 

Wenn nun eben fo wie Die Forderungen ib I. und IL, 
auch diefe sub.IH. als Maßſtab an unfere Predigtliteratue 
gelegt wird, ſo koönnen wir in dieſer Hinficht ung am mei 
ften rühmen, im Vergleiche mit den vergangnen Decennien 
große Fortfchritte gemacht.zu ‚haben. Hier möchte we⸗ 
gen ber Maffe es fchwer feyn, einzelne Ramen bemerklch 
zu machen, ohne andern zu nahe zu treten. Diefe For⸗ 
derung iſt allgemein anerfannt... Eben deswegen habe ich 
gerabe diefen Punkt nur ganz kurz berührt, hier war Fein 
. Widerfpricch zu erwarten, hier kann auf Vieles verwiefen 
werben, was 3. B. Harms theild praktiſch geleiftet, theils 
in feiner Paftoralthenlogie, theild noch neuerlichk in den 
Stud, und Krit. („Mit Zungen reden“) gelehrt hat. — 
Ich hätte gerade deswegen: Diefen Punct ganz außer Acht 
gelafien, wenn nicht der lebt erwähnte. Einwand zu bes 





> 
N 
n 
) 


- Aber ben Organismus ber Predigt. 595 


feitigen gewefen wäre. Wir. müſſen uns frauen, baß die 
Zeit vorbei ift, wo nur praftifche Klugheitsregein, ober 
todte orthobor klingende Formeln auf bie Kanzel gebracht 
wurden, ber rhetorifche Charakter der Predigt ift mädtig 
hervorgetreten,, aber e8 iſt nicht zu leugnen, daß je mehr 
das Gewaltige und Erhabne, was in diefer Hinficht manche 
Predigten heutiger Tage (z. B. die des jüngern Krums 
macher) leiften, anerkannt wird, daß um fo mehr fich auch 
die Heberzeugung aufdrängt, wie dieß allein auch nicht 
die Predigt macht, und wie mit folcher File der. Kraft, 
wenn die andern Korderungen nicht vernachläfftgt würben, 
auendlich viel mehr — würde. 


Das Refultat dieſer Unterfuchung alfo ift, daß die 
Predigt formal bibliſch, methodiſch und praktiſch 
(rhetorifch) ſeyn fol. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß 
hiermit nicht alle Forderungen ausgeſprochen ſind. Es 
kann eine Predigt dieſe alle erfüllen, und, weil ſie etwa nicht 
den Bedürfniffen der beitimmten Gemeinde enstfpricht u. dgl., 
fehlerhaft feyn. Ich habe nur auf einzelne Punkte aufs 
merkſam machen wollen, die mehr die Form der Predigt 
betreffen, Die aber befonders berückfichtigt werben mußten, 
weil fie fowohl in Predigten, ald auch in homiletifchen Anz 
weifungen verhältnigmäßig außer Acht gelaffen werden. — 
Wo das Erfte jener drei Elemente auf Koften der übris 
gen vorwiegt, ba wird fie mehr einer erbanlichen. Schrifts 
erklärung, wie etwa die alten Homilieen find, ſich annäs 
bern, wo das zweite, wirb mehr eine firenge Begriffs⸗ 
beftimmung gegeben, die für den Religionsunterricht 
paßt, — wo. das Dritte, da wird mehr der Eharafter 
caſueller, auf Einzelne berechneter Reden erfcheinen. Die 
verfchiebenen Bedürfniffenun der Zuhörer, das verfchiedene 
Intereſſe, welches bei Einem dahin geht, den Sinn einer 
ſchwierigen Schriftflele einzufehen, bei dem Andern, feine 
teligisfen Begriffe zu ordnen und in Einklang zu bringen — 
bei dem Dritten, Troft und Stärkung in beflimmten Lagen 


3 


596 Erdmann aber den Drganismma der, Predigt. 


des Lebens zu finden, dieß iſt es, was über eine und dies 
felbe Predigt fo verfchiebene Urtheile füllen laßt. Am we 
‚ nigften abhängig von ber zufälligen Befchaffenheit der Zus 
hörer, eben darum aber auch am meiften ihrem Zwede bei 
Allen entfprechend, wird die Predigt feyn, die alles Drei 
vereinigt. Daß nun die erfte Forderung mit der dritten 
fich fehr gut vereinigen laſſe, wird wohl zugegeben werben, 
weniger vorauszufeßen iſt das von der zweiten. Die fo 
beliebte Trennung von Kopf und Herz (als fey jener herz 
und dieſes Fopflos) hat es dahin gebracht, daß man zu 
glauben ſcheint, wo methodifches Denken ftatt finde, da 
leide das Gemüth und Herz Schaden. Schreiber dieſes 
muß geftehen, daß eigene und fremde Erfahrung ihm ges 
zeigt hat, wie gerade die Predigten am meiften' wirfen, in 
welchen das Methodifche nicht zurücktritt. Eine mehrjäh: 
rige Amtswirkſamkeit bei zwei Gemeinden, deren eine höchſt 
Sebildete enthielt, während die andere nicht nur in Bils 
dung weit hinter jener zurückſtand, fondern auch einer an- 
dern, fehr armen, Spradhe fich bebiente, hat ihm dieß bes 
ftätigt. Selbſt in der lebtern, die auf einer niebrigern 
Kulturfiufeftand, ald man es in Deutfchland finden möchte, 
bei der aber, zum Theile durch Mifflonarien der Brüder 
gemeinde genährt, ein fehr reges religiöfes Leben herrſchte, 
hat fich ihm immer die Erfahrung wiederholt, wie ‚gerade 
die Predigten, weldye am ftrengfien nach den angegebenen 
Zorderungen disponirt und ausgearbeitet waren, nicht 
nur am -meilten ein dauerndes Nachdenken erregten, fons 
dern auch den größten Eindruck machten. | 
Schließlich nur die eine Bemerkung, daß, wenn meine 
Bemerkungen auf größere Schwierigkeiten in bem Dispo⸗ 
niren ꝛc. ꝛe. einer Predigt aufmerkſam gemacht haben, old 
man gewöhnlich darin zu finden pflegt, ich: aufrichtig ber 
kennen muß, daß bamit ein großer Theil meiner Abficht 
erreicht iſt. — 


— — — 





Gedanken und Bemerkungen. 


je 37 1 1 U 








re ñ— — — ——————— — — — 


—2 





Bemerkungen zu. der Abhandlung deö Herrn 
Grashof über: Die: Blasphemie deb heiligen 
Geiſtes in den theol. Stud. und Kritik. 

1888. Hft. 4. 
ei - ei — es 
EER Gurlittt 
. Paltor zu Billwervet bei Hamburg, 
2 — ——“ ee en — 
Die in der Ueberfcheift bezeichnete: Abhandlung. führt 
zu dem Reſultate, daß bie. Blasphemie des heiligen Geis 
fies eine Sünbe fen, welche wirklich durchaus nicht fünne 
vergeben werben , weil. ſie allemal hervorgehe aus einem 
fittlichen Zuftande, in welchen der Menſch ſich durch eigne 
Schuld für Die erſte Bedingung der Günbenvergebung, 
für Buße und Bekehrung, unfähig gemacht habe. : Diefer 
fittliche Zuftand. wind ſodann näher beſtimmt. Es wird ber 
hauptet, daß derſelbe ſich nur bej denen finde, Die zur vollen 
Keuntniß der Wahrheit vorgedrungen find, d. h. Die nicht 
nur das Gute, Gottes heiligen Willen, in feiner Fülle, ſon⸗ 
dert auch nie Verpflichtung, demfelben unbedingt und überall 
zu gehordyen, erkannt haben, und. doch freiwillig (frei von 
dem Einfluffe finnlicher Neigungen, Leidenfchaften, Bors 
artheile u. dgl, aus eigner Selbſtbeſtimmung) fünbigen 
| oder dem Gurten widerfireben ,. eg alſo mißbilligen, vers 
ı werfen, hindern.. Dieß wird auch noch anders — 


600 Burlitt 


Es wird geſagt, daß die Blasphemie des heiligen Geiſtes 
vermittelſt eines völlig unabhängigen Willensentſchluſſes 
hervorgehe aus einem mit dem vollen, klaren Bewußtſeyn 
der ewigen Wahrheit verbundenen Haſſe gegen das Gute, 
als ſolches. — Dieſe Beſtimmungen theils zu widerlegen, 
theils zu beſchraͤnken, und fo den in Frage ſchwebenden 
Gegenitand feiner Erledigung näher zu bringen, ift der 
Zweck der nachfolgenden Bemerkungen. 
NZuerſt leiden die angeführten Beftimmpilgen an einem 
innerg Widerſpruche. Es wird ein Haß gegen bas Gute 





yoftulirt, der auf der einen Seite mit vollfommner Er | 


kenntniß, auf der andern mit freier Selbftbeftimmung ver: 
bunden fey. Diefe Momense. find nicht zu vereinen, wie 


ſich bald zeigt, fobald man nach. der eigentlichen Natur ded 


Haffes fragt. Der Haß ift immer ein Widerftreben des 
Geiſtes gegen irgend eine Befchränküng oder Gefährdung 
entweder des individuellen oder des gemeinfamen Lebens, 
gleichwie die Liebe ein Hinftreben ift zu dem, was eine Er 

weiteruitg oder Erhöhung des Ledens bielet. Wer dem⸗ 
ad daß: Gutehaßt, widerſtrebt Bentfelben',. nie a“ fic 
ihm in dert: Weg ſtellt, fey es in Wort und Schre, wider in 
Thaten und Geſtunungen der Menſchen, uber: in den eige⸗ 
Ken: Gedanken; er thutes aus dem: Grunde, weil er ſich 
dadurch in ſeinen beſondern oder in allgemein menſchlichen 
Jutereſſen und Beſtrebungen eingeengt und: aufgehalten 
ſühlt. Auch wenn man vbn einem Haſſe gegen das Gute 
ails foldjes, von einem reinen Haſſe gegen das Gutsredet, 
kani mean damit nur bevorworten wollen, vaß der. Grund 
des Widerſtrebens nicht: in gewiſſen außerlichen Zufällig. 
kerten bei Erſcheinung des Guten Liege, z. B. nicht Darin, 
daß man dureh die, welche das Gute rhun und fordern, 
fih in feinem Beſitze, ſeiner Ehre angegriffen und beein⸗ 
truchtigt ſieht. Keinesweges aber darf man. leugnen 
wollen, daß bei eitein ſolchen Haſſe ent doch die Idee 
md Offenbarung des Guten an⸗und fr: ſich als etwas 


über die Blasphemie bes heil. Geiſtes. 601 


Baſtiges, Drucendes, Hinberliches empfunden werde. Sonſt 
würden wir hier zuletzt auf eine Lebensrichtung gefahrt, 
die gar keinen Grund und Boden, gar keinen Anfang hätte, 
Gleichermaßen ſchließt der Begriff einer reinen Liebe zu 
dem Bitten allerdings jede Rückſicht auf aͤußerliche Vor⸗ 
theile aus, die etwa mit der Uebung des Guten verbunden 
ſind; aber nicht auch dieſes, daß man in dem Guten das⸗ 
jenige ſieht und erkennt, was das innerſte Suchen und 
Verlangen des Herzens zur Ruhe bringt. — Iſt das rich⸗ 
tig, fo laßt ſich freilich der Haß gegen das Gute mit einer 
deutlichen Erkenntniß des Guten und ſeiner verpflich⸗ 
tenden Kraft in Verbindung denken. Man kann in die⸗ 
ſem Falle fchen deßhalb fich wiber Das Gute auflehnen, 
weit man dadurch verpflichtet werden fol, weil man 
es für eine laͤſtige Feffel hält, die man zerfprengen möchte, 
Allein wo bleibt die freie Selbftbeflimmung? Freie Selbfts 
beſtimmung findet nur da flatt, wo man nad) einer Deuts 
licher ober dunkler gedachten Grundanficht von -den Din 
gen, nicht nady Stimmung und Laune handelt; wo man 
fo handelt, daß man auch bei nüchterner Recapitulation 
deſſen, was man gewollt und ins Werk geſetzt hat, damit 
zufrieden bleibt. Wie kann nun ein Menfch mit nüchternen 
Sinnen fein Widerftreben gegen das Gute billigen, went 
er doch erkennt, Daß er verpflichtet ift, daſſelbe anzundhs 
men und zu Üben? Er könnte biefem: Ich foll nur 
entgegenfegen ein: Sch will nicht, es ift mir einmal 
läſtig und zumwiber ; und darin wäre Beine Vernunft) es wäre 
die Sprache Des Eigenfinnes, der immer auf einen gebunbes 
nen unfreien Zuſtand beittet, ober maıt ginge von ber Au⸗ 
nahme aus, daß der eigne Wille eben fo viel und mehr ber 
deute, ald der göttliche Wille, Der jened Soll ausſpricht. 
ketzteres hieße die verpflichtende Kraft bed Guten leugnen, 
was der Vorausſetzung zufolge nicht gefihehen darf; Erz 
fieres hebt die freie Selbftbeftimmung auf, für welche dems 
nach unter ſolchen Uniftänden Tein Raum übrig bleibt. — 


Indeſſen wie reben bisher von dem Haffe gegen das Gute 
nur in fo weit, als er ein Widerfircben gegen Befchrän 
kungen bes individnellen Lebens iſt. Wie? wenn flatt defs 
fen jemand das Gute haßte, weil er barin eine feindfelige 
Beengung der. menfchlichen. Freiheit überhaupt erblidte? 
Gedenkbar ift der Fall, und dann würde ein ſolches Wis 
derftreben allerdings ans Orundfag, in Folge einer allge 
meinen Auficht-und Ueberzeugung, nicht in Folge der-pers 
fönlihen Stellung zur Sache entſtehen, es würde freie 
Selbſtheſtimmung dabei flattfinden. Aber nun wäre wie, 
ber keine Deutliche Erkenntniß, kein volled, klares Be 
wußtſeyn der Wahrheit vorauszuſetzen. Sonft müßte man 
ia fehen, daß das Gute die gemeinfomen menfchlichen Ins 
tereffen nicht gefährbet, fondern fördert.Ueberdieß iſt 
Haß gegen das Gute:qus Mitgefühl etwas, was. fich in ſich 
ſelbſt widerſpricht, und daher jmmer auf Mißverſtand bes 
ruhen muß. Oder iſt jenes Mitgefühl, jenes Hingusſehen 
über bie Schranken des individuellen Daſeyns nicht bereits 

felbft etwas Gutes? — Daraus ergibt fie) ‚Denn, quod 
erat demonstrandum. Haß gegen das Gute, deutliche Ers 
kenntniß des Guten und feiner perpflichtenden Kraft, 
freie Sefbftbeftimmung find unvereinbare Dinge, aus des 
nen. fich fein Zuſtand eines lebendigen Denihen, conſtrui⸗ 
sen läßt. 

Zum andern iſt ſehr zu bezweifeln, ob man die vollen⸗ 
dete Sündhaftigkeit, Die augravontog xupöle, überhaupt 
als einen Haß gegen das Gute bezeichnen durfe. Wie mar 
darauf verfällt, iſt Leicht einzufehen, Indem man auf ber 
einen Seite in ber reinen Liebe zum Guten die Vollendung 
ber göttlichen Geſinnung fieht, glaubt man auf der andern 
als Vollendung ber. ungöttlichen Geſinnung den reinen Haß 
gegen das Gute fegen zu können. Allein. hier befleht Der 
Hanptirrthum.barin, daß Haß und Kjebe ſich gar nicht cons 
trabictorifch entgegengefeht find, daß Die eine diefer Geſin⸗ 
nungen nie eine vollige Negation ber andern iſt. Beide Diners 


’ 


über die Blasphemie bes heil, Geiſtes. 603 


giren zwar in ihren Richtimgen auf das entfchiebenfte, in 
ihrem Wefen aber find fie verwandt. Der Haß hat mit 
ber Liebe das gemein, daß er feinem Gegenftande eine. Reas 
lität, einen Werth, eine Bebeutfamkeit zuerfennt, und deß⸗ 
halb, darch denfelben in: Bewegung gefeßt oder in Bewes 
gung erhalten wird. Der Unterfchieb befteht darin, daß 
der Haß bie Realität und Bedeutſamkeit feines Gegenftans 
Des von ſich: fern zu halten: und zu vernichten, die Liebe 
aber dieſelbe zu erhalten, zu erhöhen und ſich anzueignen 
firebt. Geſetzt 3: B. ich haffe einen Menfchen ‚wegen feis 
ner Schlechtigkeit; fo wird doch Der eigentliche Grund 
meines Haffes nicht fowohl in - feiner Schlechtigkeit an 
und für fich betrachtet, als vielmehr- in den begleitenden 
Umftänden liegen, barin etwa, daß diefe Schlechtigkeit mit 
Macht, Anfehen, Berftand u. f. w. verbunden ift, alfo et⸗ 
was bedeutet. ‘Den einfeitigen, ohnmächtigen: Böfewicht 
haßt man nicht; man bedauert oder verachtet ihn.: Wie 
denn Göthe mit Recht von dem Teufel fagt: 
Ein Kerl,. den alle Menſchen ala 
Der muß was feyn. 

Jene geheime Berwanbtfchaft nes Haffes md der Liebe 
wird noch deutlicher, wenn man bebentt, daß es möglich 
ift, denfelben Gegenſtand in dem einen Augenblicke zu hafs 
fen and in dem andern zu lieben, ohne dag man in feinem‘ 
Urtheile über den Werth defielben das Geringſte veräns 
dert, bIoß weil man feine Stellung gegen benfelben verän« 
dert hat. Dem Geldgierigen z. 8. ift das Gelb ein Ges 
genftand der Liebe, wo es ſich ihm zugänglich und erreich⸗ 
bar zeigt; wo er fich aber vom Beſitze deſſelben ausgefchlofs 
fen fieht, wird es ihm ein Gegenfland des. Hafles, zunächſt 
des Neides, der aber nur eine befondere Erfcheinung ber 
ganzen nach Bernichtung firebenden Geſinnung ift, bie wir 
Haß zu nennen pflegen. — Demgemäß ift nothwendig derje⸗ 
ige, welcher das Gute haßt, wenigftens Darin Dem Anbern, 
der es liebt, gleich, daß er die — des — ſeine 


Du. 


Macht und Bedeutſamkeit anerfenat, ſich Durch duſſelbe 
beherrfiht und gebunden fühlt; und das iſt nicht anders 
mögftich, ald indem Nnch etwas in ihm, nämlich das Ge⸗ 
wiffen, für das Gute redet, und ſo einen: Widerſtreit zwis 
fchen dem Sollen und Wollen Fühlbar macht. Wo aber 
noch das Gewiſſen eine Stimme hat, wo noch ver bezeich⸗ 
nete Widerſtreit empfunden wird, wie ſehr mars ſich auch 
dagegen ſtraäuben möge; da iſt nwoch ein Schimmer vvn der 
Liebe zum Guten vorhanden, ber inwendige Mounſch, wel: 
eher Luſt an dem Geſetze Gottes hat, iſt noch nicht geſtor⸗ 
ben, die Sünde hat noch nicht ihre Vollendung erteict. 
Denn alödann gebiert; fie eben den Tod. Jac. 1,15. — 
Diefe Betrachtung führt und einen Schritt weiter. Gie 
lehrt uns, daß wir nicht nur im Haffegegen Das Gute, ſon⸗ 
dern in einem jeden Zuftande des menfchlichen Herzens, in 
weldyem die Erfenntniß von der verpflichtenden Kraft bes 
Guten .eine Stätte hat, die Vollendung der Sünde verges 
bens fuchen, daß alfo dieſes Poſtulat durchaus anfzugeben 
iſt. Wir müffen vielmehr einen Zuftand ſuchen, wo bie 
. verpflichtende Kraft des Guten und damit zugleich das Ge⸗ 
wiffen völlig befeitigt ift. Auf keinem ander age rommen 
wir zum Ziele. 

Wie wollen wir uns nun die Moglichkent denken, daß 
ein Menſch mit feinem Gewiſſen vollkommen fertig werde, 
es nicht nur in Augenblicken der Leidenſchaft trotzig zu uns 
terdrüden, fondern auch: bei Harer, ruhiger Befinnung 
gleichmäthig zurückzuweiſen wife? Nicht anders .mag es 
geſchehen, ald nachdem er bei ſich ſelbſt ausgemacht hat, 
daß das Gute Äberhaupt nichts fey, daß der ganze Unter⸗ 
ſchied zwifcyen gut und böfe eingebildet und eine Menſchen⸗ 
erſindung fey; daß es folglich durchaus fein allgemeines 


Geſetz gebe, welches der Menſch beobachten müfe,. fons 


bern daß ein jeder frei und ungehinbert than vurfe, wozu 
er Neigung und Vermögen habe. Denn fe lange man ˖ das 
Gute irgend noch gelten und etwas ſeyn läßt, wird man 


über die Blasphemie des heil. Geiſtes. 605 


bes böfen Gewiſſens nicht los; man muß es durchaus ver⸗ 
leugnen. Hat man es dahin gebradıt, fo iſt dee Staud 
ber Unbußfertigkeit wirklich vollendet. Nun hält mau, nach 
feiner Meinung mit vollem Rechte, alle biejenigen, welche 
von dem Önten reden und rähmen und es barftellen wol⸗ 
len in ihrem eignen Leben, entweder für aberwitzige Tho⸗ 
ren, die einem Phantom nachjagen unb darüber die hands 
greiflichften Vortheile verfchergen, ober für verſchmitzte 
Heuchler, die unter der Maske der Rarrheit ihre pfiffigen 
Anſchlaͤge deſto befjer auszuführen denken. Selbft was 
in der eignen Bruſt noch übrig iſt von Regungen des Ges 
wiflend erklärt man entfchieben für Nachklange frühzeitig 
eingefogener Borurtheile, für Tindifchen Unverſtand und 
Aberglauben, deſſen man fich billig zu fehämen habe, Wie 
ſoll dabei Bekehrung möglic, ſeyn? „Die Furcht bes Hersn 
ift der Weisheit Anfang.” Der Menſch aber, don wir hier 
denten, fürchtet Teinen Herrn mehr; er iſt fein eigner Herr. 
Das erfte Erfarbernig der Buße ift die Erkenntniß der 
Sünde. Aber wie fell ber die Sunde, feine Sünbe er⸗ 
kennen, für Den es überhaupt keine Sünde gibt? Nebet 
in ihn hinein , ſucht fein Gewiſſen zu fchärfen; er hat:kein 


Gewiſſen. Er wird die Mühe belächeln, die ihr euch gebt, - 


wie ein Öefunder ben Arzt belächeln würde, ber ihn durch⸗ 
ans für Frank ausgeben und kuriren wollte. Enblidy, wenn 
ihr ihm mit eurer Zudringlichleit allzu verdrießlich werdet, 
wird er ech im Ernſte bedeuten, daß ihr ihn mit euren Al⸗ 
beraheiten in Ruhe laſſen fol. Kurz, treibt es, wie ihr 
wollt, ihr werdet zu feinem Ende kommen. — Daß übri⸗ 
"gend ein folcher Zuſtand nicht bioß-benfbar ſey, ſondern 
wirklich in der Welt gefunden werde, bürfte wohl als aus⸗ 
gemacht angenommen werben Tönen Pur Eine Frage 
wäre nach anfzuwerfen, nämlich Die: Iſt ber Zuſtand ber 
völligen Verleuguung alled Guten in ber Thar von ber Art, 
dag er, wo er einmal eingetreten iſt, Durchand bleiben 
muß bis in alle Ewigkeit? denn laͤßt er fich jemals aufhe⸗ 
: — 40* 


ben, bleibt es möglich, daß die Nealität des Guten wieder 
anerkannt werbe, nachdem man fich lange völlig Darüber 
hinweggeſetzt hatte; fo ift auch noch nicht alle Ausficht anf 
Buße und Belehrung abgefchnitten. . Hierauf it kaum ans 
ders ald hypothetiſch zu antworten. Liegt der rund, wes⸗ 
halb der Menfdy das Gute verleugnet, darin, daß er daſ⸗ 
felbe bisher noch nicht in unentftellter Wahrheit und unter 
einer feiner Faſſung angemeflenen Form gefchaut hat, Daß 
eö ihm vielmehr in abentheuerlichen Geftalten und auf eine 
gehäffige Weife entgegengetreteht- ift: fo muß man ohne 
Zweifel. hoffen, daß er unter günftigeren Berhältniffen ans 
ders denken und nretheilen lerne. Wäre Dagegen bie reinfte 
Erfcheinung ded Guten im fchidlichiten Momente ohne 
Kraft, ohne Einfluß auf feine Anficht an ihm vorüberge⸗ 
gangen; fo wäre er wohl für immer aufzugeben. In der 
Praris wird man nie zu beitimmter Entfcheidung fommen; 
man wird nie von einem beflimmten Individuum mit voll 
Iommener Gewißheit fagen koͤnnen, daß für daſſelbe die 
Uumsglichleit, Das Gute anzuerkennen, eingetreten fey. 
Allein darum koͤnnte fie doch eingetreten ſeyn, und es ift 
immer zu warıten, daß fie nicht eintreten möge. 

Blicken wir jest, nachdem dieß feitgeftellt ift, auf das 
vorhin Bemerkte zurück: fo läßt fich theils von dort weis 
tere Beflätigung entlehnen, theild von hier aus ergänzen, 
was noch unvollfländig geblieben ift. — Es warb geleugs 
net, Daß der Haß gegen das Gute Das vollendete Gegens 
theil von der Liebe zum Guten fey, weil Haß und Liebe 
immer noch etwas Verwandtes mit einander haben. Nun 
fragt fich, ob denn der Zuftand, in welchen man die Reas 
lität des Guten gar nicht anerkennt, einen vollfönmenen 
Gegenſatz bilde? und das it, däucht mir, getroft zu bes 
jahen. In biefem Zuſtande muß Die Liebe zum Guten, und 
zugleich audı Der Haß gegen baffelbe, ſpurlos untergehen; 
an die Stelle beider tritt Die Indifferenz. Damit foR nicht 
geſagt ſeyn, daß die Indifferenz gegen das Gute in jeder 





über bie Blasphemie des heil. Geifles. 607 


Geftalt nur auf dem Höhenpunfte der Sünde angetroffen 
werde. Es gibt eine Indifferenz aus Trägheit und Unwifs 


. fenheit, wo der Menfch ſich noch nicht entfchieben, noch 


feine Partei genommen hat. Bon ber ift hier nicht bie 
Rede, fondern von ber Snbifferenz aus: Grundſatz und 
Ueberzeugung. Sie ift das beftimmte Gegentheil von der 
Liebe zum Guten, gleichwie auch fonft 3. B. im VBerhälts 
niffe des Menjchen zum Menfchen zwar nicht jebe Gleich» 
gültigfeit Die Liebe vollkommen (auch ald Anlage und Mögs 
lichkeit) ausfchließt, aber doch diejenige Gleichgültigkeit, 
welche auf gänzlicher Berachtung beruhet. Die Verachtung 
aber befteht eben darin, daß. man jemanden in feinen Ges 
danken vernichtet, ihn als nicht eriftirend betrachtet, keine 
Rüdficht auf ihn nimmt, alfo etwas AYehnliches thut, wie 
ber, welcher in unferm Falle die Realität und verpflichtende 
Kraft des Guten nicht anerkennt. — Ferner läßt fich jetzt 
genauer beſtimmen, wie die Gefinnung, von ber wir res 
den, fich zum Haſſe gegen das Gute ftell. Wer das Gute 
haft, möchte ed aus der Reihe ber Wirklichkeiten tilgen, 
fühlt fich aber noch genöthigt, es beftehen zu laſſen. Wer 
dagegen auf. dem Puncte angefommen ift, den wir im Sinne 
haben, hat Dieß Gefühl der Nöthigung bereits überwuns 
ben; er hat erreicht, was ber Haß nur wünſcht. Daraus 
ergibt fidy leicht, daß der Haß gegen Das Gute am Ende 
zur Berlengnung deffelben und zur Gleichgültigfeit führen. 
kann, und-ihr in der Regel vorangehen wird. Weil der 
Menfch ſich Durch die Forderungen des Geſetzes beläftigt 
fühlt und derfelben gern entledigt wäre, ſucht er darin 
ſeine Ruhe, daß er fich einrebet, es gebe Fein Geſetz. Des⸗ 
gleichen kann die Gleichgültigkeit fech zu Zeiten wieberum 
in Haß verkehren, wenn das Gute, das man verleugnet, 
nun doch mit Gewalt. in der Welt Etwas feyn will und 
fol. Allein daß das Eine und das Andre gefchehen kann, 
fließt noch nicht in ſich, daß es andy gefchehen muß. Es 
bleibt ein Haß gegen das Gute denkbar, der nicht bis zur. 


608 | Gurlitt 


VBerlenguung deſſelben gedeiht, und eine Verlengnung bed 
Suten ohne Regungen oder Aenßerungen des Haſſes. Der 


Unterfchied, auf den wir bringen, ift alfo nicht ſcheinbar, 


fondern weientlich. — Endlich koͤnnen wir jeßt entfcheiben, 
wiefern zur Vollendung ber Sünde Erkenntniß der Wahr⸗ 
heit und freie. Selbfibeflimmung erfordert wird. Letztere 
darf durchaus wicht fehlen;. denn erft dann, wenn der 
Menſch nicht blos in Leidenfchaft und Umneblung der Ge 
. danken, fondern bei Flarer, ruhiger lieberlegung ſich von 
dem Guten Iosfagt, ift er für die Anftalten zu feiner des 


fehrung unzugänglich. Wasaber Die Erkenntniß ber Wahr⸗ 


beit betrifft, fo ift bebeutende Einfchräntung nöthig. € 
wird freilid; vorausgeſetzt, Daß der Menich fidy Dem Guten 
nicht wiberfege aus Mißverſtand, indem er einzelne Ma 
nifeftationen deffelben falſch beurtheilt und für böſe achte, 
wie 3. B. Saulus that, als er den Namen Ehrifti mit Er 
bitterung verfolgte; ſondern daß er recht gut wifle, ba% 
jenige, was er nicht will gelten laſſen, ſey wirklich bad 
Gute, was alle Welt unter diefem Namen meine, und 
was man anerkennen müßte, wenn das Gute überall anzu 
erkennen fey. Es wird weiter voransgefebt, daß ein 
Menfch nach der Gelegenheit, die ihm geworden ift, dad 
Gute volllommen hätte erkennen können. Allein das if 
auch Alles, Eine wahrhaft erſchöpfende Erfenntnig in dies 
fer Hinficht müßte nothwendig die Liebe zum Guten nad 
ſich ziehen, und tft daher nimmer mit dem Gegentheil hier 
von zu vereinen, Joh. 11, 3. Adın ös lorıw ) aldviogtami. 
Wie wenig namentlich eine deutliche Erkenntniß von der 
verpflichtenden Kraft des Guten ſich mit. gänzlicher Uns 
bußfertigfeit vereinen läßt, ift bereitö bemerkt, Die Stel⸗ 
len der Schrift, welche bei biefer Gelegenheit angezogen 
find, ftehen ung nicht im Wege. Luc. 12, 47 f. wird freilich 
gefagt, daß der Knecht, der feines Herrn Willen weiß 
und ihn nicht thut, ſtrafbarer iſt, als ein Anderer, der ihn 
nicht weiß, Aber das hindert durchaus nicht, daß rin Drit⸗ 





über die Blasphemie des heil. Geiftes. 089 


ser noch in höherm Maße ftrafbar fey, nänlich ber, weicher 
von ben Willen feines Herrn, ja überhaupt von feinem ' 
Seren nichts wiſſen will 
Die übrigen Stellen find entweder ähnlichen Inhalts, 
oder enthalten nur, was auch wir behaupten, daß ein 
Menſch um ſo ſchuldiger ſey, je mehr er die ihm dargebotne 
Erkenntniß der Wahrheit nicht beachtet hat. Bei Hebr. 
20, 26 ff. aber iſt noch erſt Die Frage, wie ein Menfch Exov- 
slag Fündigen koönne, nachdem ur die Erkenntniß der Wahrs 
heit empfangen hat, und was es überhaupt mit dem aung- 
savsiv in biefem Falle auf fich hat, Die Erklärung hierüs 
ber mag einflweilen aufgefchoben bleiben, dis wir unters 
fucht haben, wiefern Die evangel. Abfchnitte, in welchen 
der Blasphemie des heil. Geiftes Grwähnung gefchieht, Die 
Anficht, Die wir vertreten, unterflüßen. Zu Diefer Unter⸗ 
fuchung fchreiten wir jegt. Zuvor aber fey noch das Mes 
ſultat ausgefprochen, das ſich aus Dem Ganzen ber bishe⸗ 
rigen Berhandlung ergibt: DieBlasphemie des heis 
ligen Geiftes geht hervor aus einem Zufland«e 
völliger Unbußfertigfeit, wo man mit deut: 
iidem Bewußtfeygn und mit Entfchiedenheit 
Die Realität des Guten leugnet, wiewohlman 
keinesweges der günfigen Gelegenheit ent« 
behrte, fih von Der Realität und überhaupt 
vonder wahren Natur des Guten zuüberzeud 
gen; und ſie beſteht barin, baß man Alles, was 
Dffenbarung des heil. Geiſtes in. Wort und 
Leben ift, für aberwigige Thorheit achtet, 
weil man eben mit ber-Mealität des Guten inds 
gemein auch bie Exiſtenz Des heil. Geiſtes, bier 
das Gute fihafft, für ein Unding hält. 
- Wir wenden uns alfo zu der Geſchichte, welche Matth. 
2, 22 ff. und an den PBarallelitellen: berichtet wird, und 
fragen, wiefern. die Gegner Jeſu, bie Pharifüer, ihm _ 
duch ihe Benehmen Veranlaffınıg: gaben „ von ber Blas⸗ 


610 - Burlitt 


phemie des heil. Geiſtes zu reden? denn eine Beranlaflung 
mußten fie gegeben haben, und finden. wir, worin biefe bes 
ftand, fo ift zu hoffen, daß fie uns Auffchluß über Die cis 
gentlihe Meinung Sefu biete. — Die Pharifäer hatten ges 
fagt:.Ovrog oox EußaAleı ca daıuovın, el um dv vo Besifs- 
Bor, Apyovz ziv daıuovlov d.h. er iftfelbit von einem Däs 
monion befeffen, und zwar von dem ärgften unter allen, 
von dem Haupte der Dämonen ſelbſt; von Diefem getrieben 
und in deffen Kraft thut er folche Wunder. Zum Belege 
dient. Mark. 3, 22., wo die Pharifäer fprechen: "Orı Besi- 
&sßovA Eyeı nal Ozı dv to ag. 26, fo wie auch V. 30, wo 
ald Grund der Warnung Sefu dor der Blasphemie des 
heil, Geifted angeführt wird: "Orı EAeyor wveüuer dxadag- 
rov Eysı. Ferner kann hieher gezogen werden Joh. 10, 21, 
wo einige Juden von Jeſu fagen: radra za anuere ova kon 
Önıuovifousvov' un Öaıuovıov Övvaran TupAcv IpdaAuovs 
@volyeıv; benn in dieſer Aeußerung wird ed als eine natür⸗ 
liche Folgerung vorausgefest, daß, wenn Jeſus ein Bes 
feßner fey, das Dämonion durch ihn handeln müffe. Wer 
alfo wie die Pharifäer auf. umgekehrte Weiſe behauptete, 
das Dämonion handle durch ihn, meinte Damit höchſt wahrs 
ſcheinlich, daß er ein Befeßner fey. Was aber weiter die 
ſes ſagen will, daß einer von einem Dämon beſeſſen ſey, 
iſt nicht unbelannt. Es will nicht fagen, daß jemand,ein 

böfer, gottlofer, fatanifcher Menfch ſey, ſondern Daß er 
das. blinde Werkzeug einer fremden Macht des Wahnes 
and Berruged, daß er.an Leib ober Seele oder an’ beiden 
feiner felbft nicht mächtig, daher in wielen Fällen, daß er 
ein Berrüdter ſey. Lebteres-findet hier feine Anwendung, 
da Jeſus, der fich leiblich wohl befand, num geiftig von dem 
Einfluffe der Dämonen leiden konnte, wenn man einmal 
dergleichen von ihm behaupten wollte, Deshalb lefen wir 
auch Joh. 10, 20.. in.unmittelbarer Verbindung die Aus⸗ 
fage über Sefum: dauusvıov Eysı xal nalveras; und wenn 
Mark, 3, 21, 22, bie Phariſäer fagen:-örı Besafeßovs Ex, 








über bie Blasphemie des heil. Geiſtes. 611 


fo fagen Andre (ol xap avrod) : Orı &&barn. — Jeſus wider 
legt nun zuvorderſt diefe Befchuldigung. Wenn diejenigen, 
ſpricht er dem Sinne nady, die in ber Macht der Dämonen 
ftehen, ſich unter einander von folder Macht befreien kön⸗ 
nen, wenn Verrückte fähig find, Verrückte zu heilen; fo 
ift ja das Reich der Dämonen in ſich felbft uneind und iſt 
ein Wunder, wie es beftehen mag. Dann aber geht er zu 
ernfter Warnung über. Daß ihr mich, will er fagen, der 
ich in ber Kraft des heiligen Geiftes handle, für einen Däs 
moniſchen, für einen Berrüdten erklärt, ift freilich fträflich, 
doch mag es euch verziehen werben; es ift denkbar, daß 
ihr dieß aus Serthum thut, weil ihr den Geift Gottes, 
wie er fich durch mich offenbart, nicht erfennt und begreift. 
Hütet euch aber, daß ihr nicht. am Ende überall, wo ber 
heil. Geift waltet, Spuren ber Verrücktheit zu entdeden 
glaubt und fo im Grunde eures Herzens eigentlich diefen 
Geift felbft für ein Unding haltet. Diefe Sünde könnte 
euch nie vergeben werben. — Mir bäucht, der Zuſammen⸗ 
hang der Gedanken iſt auf diefe Weife ganz natürlich und 
ſtimmt volllommen zu dem, was wir über Die Blasphemie 
des heil. Geiftes aufgefunden haben. 

Sekt mag: auch die Stelle Hebr. 10,26 — 29; zur Bes 
trachtung kommen, weldye wir bis hieher verfpart haben, 
und in welcher und gleichfalls eine Beftätigung unferer An⸗ 
ficht zu Liegen fcheint. Man bedenke nur, welcher fpecielle 
Sinn Dafelbft mit dem apagravsm verbunden wird. Es 
iſt nicht‘ Die Rebe ohne Unterſchied von allen, welche 
Die Erfenntniß der Wahrheit empfangen haben, und nun 
doch auf irgend eine Weiſe vorſätzlich fündigen ; fondern 
es iſt die Rebe von denen, welche dieſe Wahrheit, zu der . 
fie fich eine Weile bekannt haben, hinterher ganz verwer⸗ 
fen, fie für.erlogen nnd falfch erklären und nichts mehr 
mit ihr wollen: zu fchaffen haben. Darauf führt ber ganze 
Zufammenhang der Stelle rückwärts und vorwärts. Sm 
dem Nachfolgenden ift beſonders hervorzuheben die Vers 


= 


613 Gustitt Aber bie Blacphemie bed heil: @eiftes. 


gleichung mit denen, bie das Gefeh Moſis nermerfen 
(a9srsiv), und die nähere Befchreibung, die von der Art 
der Sünde gemacht wird, die hier foll verſtanden werben, 
daß man nämlich, indem man fie begehe, den Sohn Got 
tes unter Die Füße trete, das Blut bes Bunbes für gemein 
‚ achte, und fchnöde handle an dem Geifte der Gnade. Der; 
gleichen läßt fi nur non dem fügen, ber Chriftum und 
fein Wert gar verlengnet, ihn felbft dadurch zu einem Ver⸗ 
führer und Betrüger oder zu einem fich felbft betrügenden 
Thoren herabwürdigt, feinen Tod für bebeutungdlos, und 
bie Snabdenwirfungen bed Geiſtes für einen Wahn. erklärt, 
Man jehe übrigens, was in Demfelben Briefe Gap. &, V. 6, 
gefchrieben fleht. Wenn nun denen, die alfo, und zwar 
wit Wahl und Ueberlegung (&xovalag) fündigen, Die Ber 
gebung abgefprochen und ein fchredliches Gericht. verkuͤn⸗ 
det wird; fo fieht man wieder, daß bieß harte Urtheil micht 
ſowohl die trifft, welche die Wahrheit haſſen, ala. bie, 
welche fie ganz verleugnen und. verachten. Ferner wird 
von denfelben freilich vorausgeſetzt, daß fie Die Erfenutnif 
der Wahrheit einmal hatten, aber nicht, Daß fie auch wähs 
rend ihres Abfalls noch im Befige derfelben waren: ba has 
ben fie dieſe Erkenntniß eben aufgegeben und hei. ſich vers 
richtet. - Zu überfehen ift endlich nicht, daß ihre That mit 
Nachdruck als eine ſolche bezeichnet wird, die mit Bedacht 
geſchah. Nimmt. mar bieß Alles zuſammen, ſo findet fid 
Darin die von und aufgeſtellte Schritt für Schrikt 
gerechtfertigt. 

Gaanz ˖im Allgemeinen mag zum Sqlaſſe ned;baranf . 
hingewiefen werben, baß:nach ber geſammten Scheift A 
und N. Teſtaments der Gipfel.der Sundedarim beſteht, 
wenn ber Menſch ſich ſelbſt zum Gotte macht, dagegen 
Gott und ſein Geſetz für nichts achtet, wenn er handelt 
nad Dem Grundſatze Sap. Sal, 2, 11,:” Bas you % dorus 
vöuogchs Iunamoudung. —. Die auf en 
Gegenſtand bedarf keiner Ausführung. 





813 


2. 
Sündfluth oder Sinfluth Sudluthe 


Von 
ER Piſchon, 
Archidiaconus an ber Nicolaikirche u. Profeſſor am koͤnigl. wedettencorpe 
in Berlin. 


Schon bei der flüchtigſten Vergleichung der beutſchen 
Bibelüberſetzung mit dem hebräiſchen, griechiſchen und la⸗ 
teiniſchen Texte muß es und wundern, daß bie Wörter 
biefer Sprachen 9, xaraxivopag und diluvium im Deuts 
fhen mit Sündfluth überfegt find, da eine wortgetreme 
leberfeßung doch nicht dogmatiſche Rückſichten nehmen 
kann nud in keinem der drei genannten. Wörter ber. Ber 
griff: Sünde zugleich umfaßt wird... Denn das hebräis 
fhe Jan, deffen wahrfcheinlicher Stamm das Wort >=: in 
der Bedeutung: heftig ſtrömen, regnen, it, kann nichts 
anderd als heftige Strömung, Regen, Fluth bedeuten, 
wie auch Die verwandten Wörter: 533 mit om verbunden 
ea-h3? Zef. 30. 3. 25. Wafferftröme und bar Fluth, Bad, 
Jerem. 17. B. 8. von Luther überfeßt werden. Einen aus 
dern Sinn haben auch die griechifchen und lateiniſchen 
Ueberſetzer nüht in dem Worte gefunden, denn xuraxiv- 
ouog ber LXX. und des neuen Tefkaments von. seruuuduko; 
überfpülen, überfhwenmen, kann auch uur Leberfpälung, 
Ueberſchwemmung, Ueberfluthung, wie dag lat. diluvium 
gedeiitet werben, ohne Daß Damit irgenb wie der Begriff 
von Sünde verbunden wäre. Darum haben auch neuere 
Ueberfeßer, wie de Wette, ſtatt Sündfluch nur Fluth 
überfet, wie auf der andern Seite in unferer Iuthertfchen 
Ueberſetzung auch die Stelle Siradı 39. V. 27., wo von den 
noachiſchen Fluth und einer Strafe der Sünden gar nicht 
die Rede ift, ſoudern vielmehr bie Fülle ber Segnungen 
Gottes dDargeftellt werben fol, übertragen wirb: „denn: 
fein Segen fleußet baher wie ein Strom und tränlet die 
Erde wie eine Sündfluth (waraunAvonos). 


614 | Piſchon 

In den altdeutſchen Bibelüberſetzungen findet ſich, wie 
man glauben könnte, nichts, was uns darüber aufklärte, 
wie Luther zu biefer Ueberfegung gelommen wäre, Bei 
Ulphila nämlich, wo das Wort in der Stelle Luc. 17, 
3.27. vorlommt (denn Matth. 21. B. 38, 39. und Die im 
Petrus fehlen und im Gothifchen), iſt xaraxAvopog durch 
midjasweipains ausgedrückt von sweipains, Die Lleberfchwens 
mung,“und midja, die Mitte, in dem Sinne der allgemeinen 
Ueberſchwemmung wiemidjungerds, der Erbfreis, die Welt; 
was uns alfo Peinen weitern Auffchluß gibt. — In Ot⸗ 

frieds Evangelienharmonie Sec. 9, iſt die Stelle Matth. 

24. 8. 38. (coll. Luc. 17. B.27,): „denn gleich wie fie wos 
ren in ben Tagen vor ber Sündfluth, fie aßen, fie trun 
ten u. f. f.,bid an den Tag, da Noah zu ber Archen :eins 
ging.” Buch IV. €. T. 3.50, 51. alfo wiedergegeben: 

so fu uuas untar liutin. bi alten nödes zitin. . 

So siethaz uudzar thar biffang. fo er ériſt thia ärks 
ingiglang. 
wo alfs nur Waffer überſetzt if. — Die altfächfifche 
Evangelienharmonie Sec. 9. umfchreibt — Stelle 
c. XI. 22.: / 

ſo famo fo thiu flod deda an furndagun: the thar 

mid lagu ftromun liudi farteride bi Noeas tidiun, 
d.h. fo wie die Fluth that in frühern Tagen, die ba 

mit Wafferfirömen Leute verzehrete bei: Noahs 

Zeiten; 

benn lago heißt angelfächfiih: Waffer, Meer; und lago- 
Hod, wie-dort diluvium überfeßt wird, entfpridyt Diefem 
Jagu-stroma. — (m gedrudten Tatian fehlt die Stelk, 
worin das Wort Sündfluth vorkäme). — Notker in ſei⸗ 
ner Pfalmenüberfegung Anf. Sec. 11. endlich gibt Die Stelle 
Palm 29. V. 10. „der Herr fißet eine Sündfluth ans 
zurichten” auch nur durch: „truhtin habet sin gesaze an 
dero fluohte.* 

So zeigen uns alfo bie älteften Ueberfegungen in’ der 


— 


Sundfluth ober Sinfluth? 615 


Mutterfprache nur, baß in ihnen eben fo wenig wie im 
Griechifchen und Lateinifchen bei der großen Stuth an den 
Begriff: Sünde zu denken ift. 

Dagegen fommt uns ein Aufichluß in den alten Glofs 
fen. In dieſen nämlich, wie in den monferifchen. vom 
Anfange Sec. 9., fo wie nun öfter in althochbeutfchen 
Sprachdentmälern vom neunten bie zwölften Sahrhuns 
derte, finden wir dilavium mit sinuluot oder sinflaot übers 
feßt, wofür nur einmal (zufolge des bekannten Anfchlies 
fens der tenues und mediae an den vorangehenden Nafens 
ton deſſelben Organs wie banım, Fanng: umb, fumber, 
ring®, fo auch d und t ann: feint fürfein) flatt sinflunt: 
sintfiuoth fich findet und wir müffen glauben, bag aus 
Unfunde dDiefe erfte Sylbe in Sünds verwans - 
delt worden tft, wie ſchon Fügliftaller bei Erklärung 
eines Bruchſtücks and Tatian a) fagt: sin-Aläot, diluvium 
wniversale, bie Ueberſetzung in Sund⸗fluth ift Thorweis⸗ 


heit neuerer Zeiten. 


Es fragt ſich nun, was dieſes sin bedeute und ob 
ſich noch andere Wörter damit zuſammengeſetzt finden, 
woraus es fich erflären laffe. Herr Negierungsrath Graff 


hat mir aus feinem hoffentlich bald erfcheinenden Wörters 


buche der althochbeutfchen Sprache b) folgende Zufams 
menfegungen mit sin im Althochdeutfchen nachgewiefen: 
sinawel, siniwel, sinewel, sinuwel, sinwel: teres, 
tornatilis, rotundus, tostas, limpidus (lapis), woqu 
auch sinawelli: globus, sinwelb: globosus, orbi- 
culatus; sinwelbi: globus, rotunditas, gehören. 
sinweräfi: runcins, Hobel. | 


a) In ben Lanbeöfpradhen ber Sqhweiz v von $. J. Stalder. Aarau 
1819, ©. 267. 

b) Möchte doch auch diefe Erwähnung beitengen, jenes fo überaus . 

. wichtige Werk, das eine Bierde der deutfchen Literatur ſeyn würde 
und für das fid doch erſt fo wenig Teilnehmer gefunden haben, 
aufs Eräftigfte zu förbern, 


ME 3°. Piihen, 


.. sinwerpal: recavus, tamatilis ‚' rotundas. 
- sinwerpali: conus, — (case), eircaitio. 
sinhiıun: coniuges. 
. sincalikho: iugiter. 
-‚singruna und sinigrana: pervince , a im 13, 
Sahrh. 
+ simtrarwe, crocus im 13. Jahrh. 

FKügliftaller nennt noch simblum ober simplum 
mit simplig nnd ſtellt es mit dem lateiniſchen semper, 
sinal, simplex, und dem franzöfifchen ensemble zufammen, 
rechnet auch das gothifche: sin-teins, sin-teimo hier: 

ber, wozu ich noch das gothifche sineigs zdi. zenez, alt, 
mit sinista, der Aeltefte, and sinistars, bie. Borfahren, 
mniores,. wie die burgundifchen Wirdenamen des Die 
prieſters: Sin iſt e, ftellen möchte. 
Das Wort sinawel in feinen verſchiedenen Formen 
iſt bis in Das fechözehnte Sahrhundert in häufigen Ger 
brauche. So heißt e8 im Hohenliede von Williram (um 
1000) 5..8. 14, Abfchu. 92. Sine hente sint gäldin, sämo . 
sineuuel (Cod. Wratisl., sinowolde Cod. Lagü.), älse 
ste gedrät. in. Seine Hände find golden, ſo rund als ob 
fie gedreht (gedrechfelt) And. — Im Wigalois (Sec.13.) 
Ren das Wort häufig gebraucht: 
1. Das hus (e. einzeln fiehende Laube) was sinewel 
: Bediewet unabe und umbe wol.. 
8%1. Ir stirne was ir sinewel (gemölkt). 
926. Ouch was ir diu kel 
Sleht, und sinewel.(von einen ſchönen Halſe). 
3302. Ez (ein ſchönes Zelt) was hach, sinwel unde wit. 
5059, Der Wurm (Drache), der was sinwel 

.. Als ein kerze. 

8305. Daz gewelbe daz was sinewel u. öfter. | | 

Sm Eluridbarius (von den wunderbaren Sachen 
der Welt, aus Sec, 15.) heißt ed: Der Himmel ift fine 
wel, die Erbe ift finewel und. Geiler von Kaiſersperg 


- 








Sandfluth vder Sinfluth? 613 


inf: Bec. 103 hat fihun :nkte verjühlebeiten · Naudungen 
unterfchieden and ſagt in feinen Prebigten: Brögslin Ink 
62%. . „Beiß ein umterfaheid fin kugeleeht,, retund, rund; 
ds da ein Kugel ii, Siuwel teres, .uls.ein Spies, als ein 
ganz, hanz. :fisheibeleoht. als «in Heftien;, 'als ein ‚Bellen; 
Ringiecht, als ein ring und ein. reiff in. Zirckeisweils, .. Aus 
alfem biefen ergibt fich Bar, daß der zweite Theil dei 
- Wortes mit Welle und Walze zuſammenhängt, ber erſte 
sim aber ben Begriff von im mer, —————— überall 
an ſich traͤgt. 

Dieß erhellt auch überzeugend aus dem Worte: sin 
grana ober sintgruua, was noch jetzt bei und Immergriün 
beißt (deunn daß sin, wie Frifch meint, eine.tlcberfeßung 
aus dem Slaviſchen sin,.d. h. grün ſeyn follte, daß alſo. 
Grängrän geſagt würde, wird wohl keiner glauben), 
alſo mit unferm Sinn und finnig nichtd zu. fehaffen hat 
und aus sintvarwe: die immerbanernde Fenerfarbe des 
Erocus. 

Daſſelbe ergibt ſ ſi & and der x Uederfetzuug ‚bes:tatianis 
fchen Wortes simblum. In Tatiand (Sec.9.) Evangelien⸗ 
harmonie (im St. Gallenfchen Mſpt. Nr. 56; ©. 155.) fagt- 
nämlich in der Parabel vom verlernen Sohne (Luc. 15 
B. 31.) der Vater zum Alteften Sohne: kind, thu bis sim» 
blum mit mir: Kind, du biſt immer bei mir (Euth. 
Mein Sohn, du bifi allegeit bei mir). Daſſelbe Work 
kommt in der. Form simbolon bei Otfried. mehrmals Yor, 
wie IV. 29. 112, simbolen. thariane: immer darin; als 
simbler bei Iſidor, als simle und simble int Angelfächft- 
ſchen. — Hier ft wegen des folgenben Lippenlauts sin in 
sim übergegangen und wenn aud; pham oder. pol, weni es 
nicht wei it, ſchwer zu erflären bleibt, es müßte denn 
nur eine adverbialifche Endung wie per im lat. semper 
ſeyn; fo ift Doc) Die Bedeutung von immer auch hier er⸗ 
wiefen. 

Eben fo wink ve im Gathifeen: — alt, liegen. 





Man Fännte beim erften Aublicke glauben, dieß Wort fey 
nur eine: Uebertragung. bes Inteinifchen senen; : aber ein, 
mial find ‚die. Adjectivfornien auf eige wie gabeigs, reich, 
und die verwandten-auf age und ahs wie audags, glücklich, 
wulthags, herrlich, stainaha, fteinig, zu gewöhnlich und mit 
nnfrer Endſylbe ig gleich, ald daß man eine Uebertragung 
und noch dazu aus dem Lateinifchen annehmen könnte; 
dann aber würde auch fohwerlich eine fremde Form fi 
fo bald auf die Weife haben einbürgern können, daß dw 
von eigenthümliche Superlative, wie sinista, der Aelteſte, 
gleichfam der am längften banernde, würben gebilbet 
worden feyn. Daneben ift aud) der Begriff alt und Bor 
fahren im Leben fo häufig vorkommend, bag ber: Gothe 
Dafür doch immer ein Wort haben mußte, che er mit Grie⸗ 
chen und Römern zuſammenſtikß. Das Wort Siniste iſt 
unftreitig Daffelbe, womit die Burgunder ihren Oberprie 
fter bezeichneten: der Aelteſte (wie presbyterus unb Prie⸗ 
fter felbft), was feinen deutichen nn hinlänglich 
beweift. 

Die übrigen Wörter sinhiun, sinealikho, sinwerpal, 
sinwerafi und das gothifche sintteine werben ſich ebenfals 
der angegebenen Bedeutung fügen. 

Sinhiun, der Gatte, kommt in feinem seiten Theile 
anch allein vor ald Braut und Bräutigam, Berlobte, wie 
in Otfried IL 8. und 9, von ber Hochzeit zu Cana: 

Thiu hiun uusrun filu frs. 
Die Brautleute waren fehr froh. 
. Das Wort fommt von heiwan: verheirathen Praet. 
gihit, wie Otfried kurz vor unfrer Stelle fagt: 

‘ Ni uuard i6 in uuörolt zitin ,: thin zifämene gihitin. 

thaz fih geo guati fulichero rüamti 





Nie war: es je in der Welt Zeiten, bie gufanmen 


heiratheten 
Daß ſie ſich folcher guten Gaſte sühmten. 





Suͤndfluth obet Sinfluth? 619 


pi -MRittelhochbentfchen: iſt denn Men für verheirathen 
gewöhnlich, wie Wigalois 6076: swenne sin tehter würde 
gehit zeinem biderben manns. — So könnte auch hier 
sin immer bedeuten, auf immer verbunden, wenn man 
nicht darin. die Wurzel von sufammen findet wollte, 

Sincaliliho oder sincalih von sin nad ealih, Gleich, wird 
im den Bloffen iugis:  immerbauernd erklärt, sinwerpal 
hängt mit hwergan, Stamm von Wirbel u. a., zufammen, 
heißt. alſo: immer überall gewirbelt, geründes, alfo rund, 
wie sinewel und sinweräfi: Yon werfän, werfen ‚ober, 
bad Geräth, das überall gleich macht, Beim gothifchen 
vinteins ift aint ſtatt sin zu Denke wit Der gewöhnlichen 
Adjectivendung eins zufammengefegt wie alweins, ewig, 
sunjeins, wahrhaft, fo ainteins, perpetuns, immerdauernd. 
— Sb man euch das Tateituifhe-semper, den Stamm von 
nenex und senior u. a, hierher ziehen und das altdeutſche 
sinnen d. h. gehen, wovon Gefinde und unfer ſamen, 
mfamnien, für. dewfelben — halten Tönnte, : darf 
hier unentfchieden bleiben, 

Auf jeden Fall wird aus dem bisher Geſagten erhel⸗ 
len, daß der Begriff des Stammes sin zunächſt in der 
Zeit der bed Dauernden, bed Immerwährenden iſt, wel⸗ 
cher ſich dann auch auf ben Begriff des Haumes, beffen 
was überall if, itberträgt , wie in sinwel, daß alſo sinfitot 
die Dauerfluth oder Die allgemeine allverbreis 
tete Fluth ausdrücken wüurde. 

Da nun der. Sinn dieſer bei der noachiſchen Fluth 
hoͤchſt paſſenden Bebentang auch wagen bes im Ganzen nur 
feltenen Gebrauchs des Wortes. leicht verloren gehen konn⸗ 
te, ift e8 erklärlich, wie bie ſpaͤtern Bibelüberfegingen, da 
die Fluth als Strafgericht Gottes über Die Sünde der Mens 
fhen gefommen war, ans Sinfluih, Sün dfluth oder 
Sintfluth: Sündfluth machten, oder wie die af "bers 
ger und augsburger, nach der Vulgata überfegten, vorlu⸗ 
therifchen Bibeln öfter era Sündenflu hi | 

— Stud, Jahrg. 1884 


620 — Piſchon 

Wenn man ſchon ans dem Obigen die Wahrheit die 
ſer Berwechfelung erfennen wird, muß fie und gang ums 
amftöglich erfcheinen, wenn wir Die altlucherifchen 
Bibelauögaben vergleichen und fehen, daß Luther in ben 
beften Ausgaben. jelbft nie Sündfluth, fondern fie 
Sindfiuth gebraucht hat, obfchon er überall Sünde 
fehreibt und Die von ihm gewiß benußten und verglichenen 
Bibeln feit 1483 Sündfluß oder Sündenfluß neben Sind: 
fluß haben, ja er felbit in der erften — dieß zuwei⸗ 
len gebraucht hat. 

Dieß deutlich zu zeigen, habe ich auf der beiſtehenden 
Tabelle ſowohl die vorzuͤglichſten Stellen der Schrift, we 
Sinbfluth vorkommt, als die vorzüglichiten Ausgaben der 
dentfchen Bibelüberfegungen neben einander geftellt, wor 
aus fich zeigt, wie fich exft wieder allmählich Sirnpflut) 
ſtatt Sindfluch eingefchlichen. hat. Unter den Stellen 
habe:ich gewählt: . 

3. Gen. 6.8.19, —2 Gen. 1. B.6:10.u. 17.—3. Pfalm 
29. B.10,— 4. Weish. Sal, 10. B.4.— 5. Sirach 9. 
V. 27. — 6. Matth. 24. V. 38. 3.— 7. Luc 17.8. 
:231.— 8,2. Petr. 2. B.5.—9. 2. Petr. 3. V. 4. 
woneben ich, um zu zeigen, wie dagegen Sünde und Süns 
derinn überall mit ü und nicht mit i gefchrieben ift, wo 
doch Sindfluth fieht, noch flatt aller andern bie 
Stellen Ä 2 
10. Luc. 7. B. 37. 39, 47. 48. und 49, 
verglichen habe, Von den mir. — berühmtes 
ſten Ausgaben ber deutſchen Bibel aus verſchiedenen Zei⸗ 
ten habe ich folgende vierzehn zuſammengeſtellt: 
1. Die vorlutheriſche von 1483. Nürnberg fol. 
2. Die vorlutherifche. Augeb. 1518, fol. (doch nur Theil 2) 
. 8 Die vorintherifche niederdeutſche. Halberſtadt 1522. 
Sol, 
4. Das nam Teftament nad) lawt ber aeiſtlichen eirchet 


‘ 
v; . 





Suͤndfluth ober Sinfluth ? | 621 


bewerten Tert u. ſ. f. moxxvij (1527.) Drefden, fol 

Cvon Jeronpuus Emfer.) 

5. Das Lilte ynd Newe Teſtament mit Fleyß verteutſcht. 
Nürnb. 1524. IL fol. (Erfie Sammlung der Iuthes 
rifchen Ueberfeßung des a. u.n, Teft,, worinnur die 

. Propheten und Apokryphen fehlen) 

6. Die gange heil, Schrift deudſch auffd New sugericht. 
D. Mart. Luth. Gebr. zu Wittemberg (Hans Luft) 
1541.2 Vol. fo. . 

7. Diegante heilige Schrift deudſch aufs new zugerichtet 
D. M. Luther. Durch Hans Lufft. Wittemb. 1545. 
(Bei. diefer Hauptausgabe Luthers Fonnte ich ein 
Eremplar aus Melanthons Bibliothek benugen.) 

8. Biblia. dat ys: de gantze Hillige Schrifft. Verbüdts 
fchet dorch D. Mart. Luth. Uth der beften Gorrectur 
merdiid vorbetert ynde⸗ mit grotem vlyte corrigert. 
Tho Magpebord). 1545. 

9. Die ganze heilige Schrift, deutſch durch D. M. Lu⸗ 
ther. Frank. a. M. bei Joh. Feyrabend. 1589, fol. 

30. Die ganze heilige Schrift, deutſch durch D. M. Lu⸗ 
ther. Wittenberg 1604. bei Lorenz Seuberlich. 
Spätere lutheriſche haben nun immer Sünd⸗ 

fluth und find nicht weiter zu vergleichen noͤthig. 
Ich ftelle nur noch hinzu die nicht Iutherifchen: 

11, Bibel Teutſch, alle Bücher A, u. N. Teftaments auffs 
alfertrewlichit verteutfcht. Zyrich 1548. 4. (NReformirt.) 

12, Bibel, das ift Alle Bücher Alts und News. Teltas 

ments nad Alter in chryftlicher Kyrchen ‚gehabter 

Translation trewlich vertentfcht und mit vielen heils 

famen Annotaten erleucht durch D. Johann Dietens 

berger. Cölln 1574. fol. (Katholifch.) , 
13, Das Neue Teftament aus dem Griechifchen ind Deuts 

ſche verfeßet. Gedrudt im J. 1630. 8. 

(Die von Joh. Crellius u. Joach. Strymann beforgte 


fociniauifche Ueberfegung.) 
4 * 


622 | See Piſchon a, 


"14, BibHa Peniapin d. ie Büchet der heiligen Schrift 
nach fünffacher deutfcher Verbuwetfehung ı(niimt. ka⸗ 
tholiſch, Intherifäh, reform. von Piscator, jüdiſch, 
wofür imn. T. eine u ———— Hamb. 
ır11. 3. Vol. 4. 


Aus diefer Bergleichung ergibt ſich nun, daß die vor 
Intherifchen Bibeln, wenn fie nicht anders Überfeßen (mie 
Waſſer der Fluth), gewöhntich ſündfluß, doch auch zu 
weiten fintfIuß und ſy ndfluß, die wieberdeutfche immer 
fyndflo et oder ſyntflod leſen, Emſer immer findflut 
oderfintfiut. Sn den drei Intherifchen Ausgaben aber findet 
fich nur in der erften von 1524 einmal Pf. 29.8. 10. fündflut 
und zweimal Luc. 7. und Petr. 2. fündfluß, übrigens aber 
kommt much in Diefer "Ausgabe wie in ber yon 1544: und in 
der mit fo großer Sorgfalt durchgefehenen als Die eigent- 
fihe Schluß⸗ und Hauptausgabe daſtehenden von 158 
nur allein Sindflnt vor, was in der Stelle Pf. 29. mit 
Sintflut abwechfelt, daß alfo Luther Das wohl nur durch 
Schuld des Seßers in Die erfle Ansgabe noch Dreimal ein: 
gefchlichene ſünd forgfältig heranscorrigirt hat, Ebenfo 
hat die niederdentſche von 1545 nur Syndtflöth, Synt- 
flöth und Sintflöth. — Die franffarter von 1589 fängt 
. zuerit wieder an zn ſchwanken und hat in Den zwölf anges 
führten Stellen achtmal Sin dflut und viermal Sin dflut, 
und vbenfo die Fatholifche von Dietenberger -neunmal 
Sindfluth oder Sin dfluß und Dreimal fün dftut und 
Sundflut. In der wittemberger von 1604 aber iſt Sünb-. 
ſtut ſchon überwiegend ſechsmal und nur fünfmal Sind 
flut, während die ſchweizeriſche immer Sündfluß hat. 
Die folgenden aber, wie die foeinianifche von 1630 und 
dann alle fpäteren, fennen nur Sündflut. 

Da aber überall, wie die Stellen aus Luc. T. zeigen, 
Sünde, Sünderinn u.T. f. gefihrteben wird, auch bei 





Sundfluth oder Sinfluth ? 623 


„Qusher nie ee Diefer aber ben feühern Bibeln in. der‘ 
Schreibweiſe Sändflur nicht gefolgt ift und feine: erfte 
Ausgabe verbeffest bat; fo muß man fehließen, daß der 
richtige Begriff des Wortes Sinfluth oder Sintfluth ihm 
wohl befannt gewefen ſey. Ob er fich ſelbſt irgendwo dar⸗ 
‚über geäußert habe, ift mir unbelannt, denn in feinen Er- 
Härungen ber heil. Schrift behandelt er die Stnfluth nur 
ascetifch und läßt fich auf das Wort ſelbſt nicht ein,. Doc 
fchreibt er auch in andern Schriften 3. B. im: Tauffbüch⸗ 
Iin, verdeutfcht durch Martin Luther Wittemb. Mdrriij 
©. 5. findflutt, ©. 6, findflutt. S. 7. findflut, wähs 
rend auch da ©: 6, in bemfelben Sage J unden für Sün⸗ 
den ſteht. 

Wir werden alſo in Zukunft nicht mehr von Suünd⸗ 
fluth, fondern um das wahre Wort und Luthers richtige 
Bibelüberſetzung wiederzugeben, nur von S influth (Sin d⸗ 
fluth, Sintfluth a) zu reden haben b). Daß Dadurdy der 
dogmatifche Gehalt der noachifchen Fluth fo wenig anders 
beſtimmt wird, als Durch Daß griechifche. xaraxAuguòsg und 
dad lateiniſche dimvinm, ift kaum nöthig zu erinnern, 

a) In meinem Lehrbuche der allg. Geſch. der Volker und Staaten Th. I. 
Geſch. des Alterthums S. 4. habe ich diefen Gebrauch wieber eins 
geführt und mich auf biefe Unterfuchung bezogen, | P. 

b) Wiewohl der Herr Berfaſſer vorſtehender Abhandlung der Schrif⸗ 
ten Anderer über ben fraglichen Gegenſtand Überhaupt nicht ge⸗ 
dacht hat, fo verdient doch hier bemerkt zu werben, daß neuers 
dings vornehmiih Jacob Grimm — Deutfhe Grammatik. 
Th. 2, 18%. S. 498. und fpäter in ben götting. gel, Anzei⸗ 
gen — die Schreibung Sünbflut für unrichtig erklärt und bie 


erſte Sylbe dieſes zen auf ben Stamm Sin zurüdgeführt 
hat. D. Corr. 


624 3 
Vergleichende Weberfiht der Schreibweiſe 
Gen. 7. — 20. |Beist. 0 | 





. 6.8. 


7. 


6. 10, 17 8, 10, 








: Bibeln, 








Nürnberg 1483. ſfuͤndfiuß San waß ſfun dflußfehlt 





Pen sn ———————— —— —— —————— ü⏑ 


Miederdeutſch. Sa, vordrunke⸗ 
1598, ploet Imateroloet ne extept 


FRneih:; SPRHESER....... .. ZRHRENEER, VENELHARUSEE, — ⏑ 















A Cl finds fin dfluß er fünpflut | fehlt 


— — ————— ee ee u — 





ee 19° indllut * — Sintflut |Sinppt 


ds 1. 
8 Niederd, Magdeburg Sy nd: nf 2 mall Sindt: | Syndts 
1545, | fiött u.S Fir de] flöth floͤth 


9 grankf. a M. 1680. ſSind flut Simon Studflut Sin dflut 








— — — —— — — — — — — 
10 | Wittemberg 1604, Sindflut = ® nn Suͤndflut S ün dflut 
— RAN: er en Sündfluß a — 
11 Zyrich 1548, 4. Waſſerguß ſu. Waffer-| fü n dfluß waſſerguß 
—— — — ⸗Auß2ↄmal — 
12 Edin 1574, kathol. Sin dflut SER dſut Sun dflut) ſuͤ n dflut 
N. Teſt. 1630, 8, oci⸗ | 
is 7 | - = rn 
14 |Biblia pentapla 
’ I Sünds | Sünd | Sünk 
a. katholiſch Ba fluht. fluth fluth Waſſer 
b. Sins Sünd | Sünts 
Waſſer⸗ | Suͤnd⸗ 
c. reformirt fluth desgl. desgl. flut 
d. = | Saab 
juͤdiſch od, neü — Auth 


e. hollaͤndiſch vloet — — 
Hamburg 1711.4. 


‘ 


"625 
von Sinftuth und Sünde? 


EEE EEE 


2 Petr 
Siradı 39. Matth,24. — V. B. x u Ai 


8.27. B. 38, 39 Luc, 7.8. 37. 39. 47. 48. 49. 











ſin en Fu. 
ſy n tfluß ſ — —28 ſuͤn derin Zmal fünde 8mal 





ſuͤndfluß urn u \fünsmug |finftupu| fuͤn derin fund — 





umſchrieb. 
ſyn dfloet ai * ſpnoioeh ton tMedu.| "Funderinne—funde— 
u. füogt Mondfloe ten, ſun derinne — Funde — 


———— fin dflut — ſun derin — ſunde u. fund 


fehlt — — 668 fünderin — ſuͤnde — 
— zu Sinne Sale Sünterin—Süundeu.fünde ' 
mal —— 


Sin dſ Sin Sindiut Shmdrist Suͤn derin —Suͤnde u. ſuͤn de 














Syndt⸗Syndt⸗ | Syndt: |Sintfloth — 
Asch Imst 2mall Aöth 7eeeSüͤn deriane — Soͤnde 3 mal 





Suͤn dflut end Sünpflut ey Suͤn derin — Suͤnde — 














Suͤn dflut Sin dflut en ebenfo 
Beaffergus] En none | FünderinTünd— 





——— — — — — — ——— 
Sindfut|o Sündfluß,|Sünberin u, Sünde 2 mal 
ſi n dilut | "2 maı en ann, fünderin u. fünd 


j fün ündpiat optiye [Tün! SU fünderin 2malfünde 3 mal 


— — ——7 





8 — 
Suͤnd⸗-⸗Suͤnd⸗ 
Sun dflut fluth — fuß — F 


I &ünb- B 
Sänb- Suͤn d⸗ uht 
fluth deögl. — Fluht & ün > Sun derig u. Suͤmn nde 
| | Ara | überall 
Sünd | Sünd: |. m gar. | 
Vaſſerflut flüt — üth Ruth Vaß | 
(Suͤnd⸗) C(Suͤn d⸗) (Suͤnd⸗) — 
Kut— .1 flube rd E25 — 
Sund⸗ 


Sund⸗ (Suͤnd⸗)vloet 
— I viovt —vloet und ISon dareſſe 2m. Son de 3m 


2. Böttcher 


= ; i Z 3. 
Gegenbemerkungen 


zu 
Prof. Rettig's exegetiſchen Analekten, IV. 
(Theoll. Studd. u, Kritt. 1834, 1, 81 ff. 
Von 
Dr. Jul. Friedr. Böttcher in Dresden. 


Der etwas raſch hingeworfene Aufſatz uber Susnꝰe 
Ex. 1, 16. Ser. 18, 3. (Winer's Ztſchr. f. wiſſ. Theol. I., 
1,49 ff.) hat in dieſen Studd. u, Kritt. a. a, O. eine über 
Erwarten erfreuliche Beachtung gefunden; wobei bie als 
„kaum zweifelhaft” gegebene Ableitung des Dual-No- 
men (x verwandt mit ein, Ex. 14, 25, jen, er K’tib, v. 
Ex — 170), Die auch ſchon Michaelis u. A. Ser u. a. O. 
den Deutungen der Alten unterlegen (M. Supplem. I, 7. 
Fuller Miscell. V, 19, Crit. sacri VII, 280, Robertson The- 
saur. 4), in ihren fihern Gründe anerkannt, die Beftrei- 
tung der verglichenen „Mühlfteine,” fo wie der „ſteiner⸗ 
nen Dedel-Wanne,” felbft gegen eine viel geltende Auto⸗ 
rität gebilligt (vergl, Lpz. Littztg. 1833, 7), und haupt 
ſaͤchlich nur die als „nicht immwahrfcheinlich” hingeſtellte 
Vermuthung, über die Entbindung der Hebräerinnen 
auf Topferſitzen, eben fo überzeugend als. gelehrt und 
gründlich widerlegt worden ift. Allein der Schluß Diefer 
Widerlegung, der in wenigen Zeilen (5. 99,) ein eignes, 
mit jener Wortableitäng vereinbared Ergebniß darſtellen 
und begründen foll, fcheint die Löfung des Räthjels nur 
noch weiter hinauszurücken; die Hauptpuncte dabei find 
dem Einfender auch nach Befragung von Gebnrtshelfern 
und andern Sachkennkrn theild undentlich, theild ungenit- 
. gend geblieben; und ſowohl im Einzelgen ald im Ganzen 
hat die neue Verhandlung des Gegenflandes, um zur end⸗ 


Mh ——— 4 


.. 


40 














Gegenbemerk. zu Rettigs exeget. Analekten. 677 


lichen Entfcheidung zu führen noch au zu berückſichti⸗ 
gen übrig gelaſſen. | 
Warum wäre es, fengen wir. Herrn Rettig, ges 
ſchicht lich ſo unwahrſcheinlich, daß die Morgenlaͤnder 
in den Jahrhunderten des Targum und der Miſchna 
au 2: n, Chr.) Geburtöftiihle gekaunt und gebraucht Häts 
ten? Könnten doch felbft die Hegypter zu Moſis Zeit 
(and nur nach agyptiſcher Anficht hätte ja auch ihr Pha⸗ 
Tao zu den hebräifchen Wehmüttern geſprochen) bei ihrer 
uralten -technifchen Kultur, bei der Sorgfalt ihrer Köryers 
pflege, wie fie fich. in ihren Mumien fowohl (Gen. 50, 2ff.) 
als in ihrer Befchneidung, ihrer Dittetif und in den viel 
fahen Elaflen ihrer Aerzte zeigt (Herodöt.-2, 84. 104.), 
wohl ſchon einen „Blyoog Adysiog” gehabt haben, ohne 
daß „dieſes Inftrument” als mögliches Kunſtgeheimmiß 
oder doch als ein Bedürfniß der innerften, gebeimften 
Hänslichkelt, aus dem Bereiche der daheim bleibenden 
Franuen, aus dem anderthalb Sahrtaufend lang für Eu⸗ 
ropa verfchloffen gebliebenen and felbft in den lebten vor⸗ 
chriſtlichen Sahrhunderten wenig gräcifirten Nillanbe, ans 
dern Völkern des Alterthums fo leicht wäre mitgetheilt 
worden. Daß „eher Alles als dieß glaublicdh gemacht wers - 
den möge,” iſt jedenfalls eine übertriebene Behauptung 
(A 97.). Nicht ald gefchichtlich unftatthaft, nur ale 
fprachlich unvereinbar mit arsax müffen wir den rabbis 
niſchen Geburtsftuhle) für Ex. 1,16, verwerfen. 
Iſt, wie die Anal, als unbeftreitbar anerkennen, aa 
als Drehfchtiben» Paar Jer. k6, B. durch den Zus 
ſammenhang binlänglich geſichert, und die Ableitung von 
ER Rad und Jar — re, Drehen, (wovon zunächft ex, 
Bedrehtesy eben ſo ſprach⸗ als füchgemäß begründet, 


a) Daß auch Luthers Weberfegung den Geburts; Stuhl,” 
nicht etwa, wie Unkundige wegen V. 19, wähnen Löngten und ges 
wähnt haben, den Stuhl dee Hebamme meint, zeigt bie rabbinifche 
Eregeſe des 16ten Jahrhunderts, welcher Luther gefolgt iſt. 


2. °. Wöttcher 

unb eben darum durch eine Menge Analogien empfohlen»): 
fo bleibt nur noch auszumitteln, ob daſſelbe Drehſchei⸗ 
ben⸗Paar, ober (mit vielleicht veränderte Punkten) 
etwas Anderes vonzen, Drehen, Benanntes, oder end- 
lich fonft ein in mau erfennbares Nomen fid am 
leichteften und fichdrften in den Sach⸗ und Wortbeitand 
von Er. 1,16. fügt. Zunächſt hat ed natürlich das Meifte 
für ſich, das dortige aan) nach dem Borgange der Punc 
tation für Ein und daffelbe mit jenem bei Ser. zu 
nehmen. Nicht bloß die Vokaltradition, anch das gleich⸗ 
mäßige >> fpricht dafür, das eben fo vor bem verwandten 
aan Pr. 25, 11. wiederfehrt. Aber nothwendig ift dieſe 
Einerleiheit dennoch nicht; um nicht gleich im Anfangs⸗ 
puncte der Unterfuchung einfeitig befangen zu irren, müſ⸗ 
fen wir dem Sprachgebrauche, wie dem Zufammenhange 
. der Stelle, audy jedes Andre zur Prüfung anbieten, was 
fich in araanıı 55 vermuthen läßt. Und ber Zufammens 
bang wenigitens öffnet bier einen viel weitern Kreis 
von Möglichleiten, ald das Trilemma ber Anal. 
(86.), das der eichhorn'ſchen Deutung entgegengefebt 
wird. Jener AdverbialsZufag 

ersanrı 55 zu Inn, 
if, dem Wortverbande nad, fchon a priori betrachtet, 


a) Bemerkenswerth ift, daß auch in arabifhen Wörtern mit YD ber 
— vor dem 7 ganz analog en B, vi — opl 


3, Ener 5, 6 


les, statera. 
Analoge Benennungen ber Zöpferfceibe find 270, —* 
5⸗ 


5 Am), 790205, rota, roue, potters wheel, Zöpferrad, ( pro⸗ 


vinc.) u. a. m. Fuͤr rota braucht Plin. H. N. VII, 56. auch ein⸗ 
mal orbis, aber nur zum deutlichern Unterſchiede vom agenrade, 
vergl, dagg. XXXV, 12, 





Gegenbemerk. zu Retkig's exeget. Analekten. 629 


die Geburtshelferin⸗ 
nen nach dem Geſchlechte 
des Neugebornen ſehn 
ſollten oder konnten, 


entweder A) der Ort, wo 
oder B)die Zeit, wann 
oder C)die Art, wie 





und A) als Ort wiederum . 
entweber 1) der ört am 
oder 2) der Ort Des 

a) bei der Gebärenden, oder 
'b) bei der Geburtöhelferin, 

oder. 3) der Ort der Gebärenden, . 

oder 4) der Ort der Geburtshelferin. 

Gehn wir kurz diefe Reihe Möglichteiten Durch, fo muß ſich 

ja die Zuläffigkeit einer einzigen neben der Unzuläffigkeit 

oder Uinftcherheit aller andern defto gewifler ergeben, und 
die Entfcheidung, deutlicher als in den Anal. wird end⸗ 
lich möglich werden. 

A. 1. Das Erſte und ſcheinbar Nächfte erledigt fe 
von felbft. Wo die Wehmütter am Kinde felbft nad 
dem Gefchlechte zu ſehn hatten, bedurfte der Angabe nicht. 
Die Bezeichnung diefer Körpergegend (2332 72) wäre in 
jedem Falle, mag man nn imperative oder temporell neh⸗ 
men (W. 51. 52.), fehr überflüffig gewefen, hätte ſich auch 
fchwerlich mit 52 geben laffen; und wie wollte man in traam, 
jey’8 mit den gegebenen oder andern Vokalen, etymolos 
gifch die Gegend der Geſchlechtstheile finden? Bleibt dieß 
doch gleich unmöglich 

A. 2, a) für den Ort Des Neugebornen bei den 
Gefchlechtötheilen der Gebärenden! Am tiefiten hat 
fich hier die Rabbinen » Weisheit, und nach Andrer Bors 
gange auch ihr Hauptſprecher Dav. Kimchi verftiegen. 
Er erflärt im eronen “20 (ed. Bomberg p.8.), wahrſchein⸗ 
lid dem mißverflandenen targumifchen anıno (Mawa) zu» 
folge, eraar „feiner Einficht nad” Crs 5) gerabehin 
für die vulva felbft Cross ann), gleich unbefümmert um 
das dazu unpaffenbe >> (f. dagg. ſchon Fuller a. a. D. 


Neugeb ornen, letzterer 


60: Bottchee 


S. 237%), wie mn die Anfgabe der Hehamme, die babei 
vor bem völligen Austritte des Kindes beffen Geſchlecht 
ſchon im Mutterleibe unterſuchen ‚ oder nach reujüdifchem 
Glauben an dem aufs oder abwärts gefehrten Geſichte 
des vorausfommenden Kopfes hätte erkerinen müſſen 
( Nxvob map napam mumb, ven Ham). Das Wunderlichſte 
dabei, womit Diefer ganze rabbinifche Wig vollends zuſam⸗ 
menfällt, ift Die Etymologie yon Baar, die auch, Abuls 
walid, der Gewährsmann für Die mühlfeinartigen To: 
pferfcheiben (&esen. Thes. p. 16. 17,) , gegeben hat, nadı 
Kimchi a. a. O. Spa non paar amar;s pa ran na moon 
en om. 55 man, haec vox derivata est. ex a et Da, et 
Aleph est prostheticum. Nicht beffer die Erflärung Des 
Duales aus ben ww m> mm Dr arm mmaa Did mar 
ran "Tx, cardines (aus 1 Sam. 4, 19.), qui sunt in ostio 
vulvae, qui sunt duo, ut duo cardines ianuae! Auch ähn⸗ 
lich mit PR, von jom Drehen, hätte doch die Bärmutter 
nimmermehr der Xöpferfcheibe homonym, im Dual bes 
nannt, werben können. Aber wenn Kimchi etwa Dem >> | 
und der Natur gemäßer mit ar das Aeußere des Muts 
terfchooßes gemeint hat, fo ift er wenigſtens im Nefultate 
mit Grotius Ahnung („x videnturesse feresuteri?’) und 
mit der Behaupsung der Anal, zufammengetroffen, wel: 
che die weiblichen pudenda fogar unſern Drebfcheiben 
ans Ser. 18. anzupaſſen willen. „Was kann,” heißt es 
©. 9., „die Scheibe, die Töpferfcheibe andres 
gem, ald die Schaam, welche in ihren: freifelnden 
Wendungen unter den Händen der Hebammen, wie ein 
Geſchirr unter.den Händen des Töpfers heraorfteigt, 
Ad) aufwinden läßt.“ Wir müffen geſtehn, daß aus biefe 
Achnlichfeit zwifchen caummıs puerperae und rota ſiguli un⸗- 
erkennbar geblieben iſt. Die Bergleichung felbft fehwanft 
zwiſchen Geſchirr und Scheibe; wäre die kindliche 
Schaam gemeint, fo bliebe diefe in ihrer Drehung mit Dem 
ſich entwiubenben Körpergangen aud) nicht dem Gefrhirre 





Gegenbemerk. zu Rettig’3 exeget. Analekten. 63% 


vergleichbar;  foll’ed aber, woran man zunächſt denken | 


muß, bie mütterTiche ſeyn, wieließ fich dieſe nur, auch 
während des Geburtsactes, nach Der Aehnlichkeit wait Ber 
Töpferfcheide benennen? Kundige“ Geburtshelfer wiſ⸗ 
fen wohl ‚von Wendungen’ den Bärmutter und des Sin 
Des, aber nicht „ver Schaam,’” die nur innere Stöße und 
äußere Spannung barftellt ; und wenn auch die Situa⸗ 
tion bed noch in der Geburt begriffenen, nod 
nicht vonder Mutter Iosgetrennten Kindes, bildlich 
nen 9, noch auf der Scheibe, heißen tonnte (f. uns 
ten B.), fo ließ fich doch deshalb fein übrigens dieſem Ges 
räthe fo unähnlicher Ausgangsort in ernſthafter 
Rede nicht wohl mitm, Drehſcheiben ſelbſt be⸗ 
zeichnen. Auch für den erſten Aufnahme⸗Orxt des Kin- 
des, noch am Körper der Mutter, für die genua, die 
Clericus z. d. St. bloß des Duals wegen nad). 1 Sam, 
4,19. (Hm) in omas vermuthet, müßte vielmehr aaa 
oder fonft ein andres Nomen gebraucht ſeyn. Denn 'R 
tönnte auch nadı einem freiern, der Etymplogie ſchon ent 
fremdeten Sprachgebraudye höchſtens die Kniefcheiben 
Genuam orbea, Ovid; Met.8, 808. vgl. ne ©. 628.5 bedeu⸗ 


ten. Die verglichenen arab. Plurilitera ur und — 


(vom kanernden Sitzen) find viel zu entfernt, viel zu —* 
durch ihre Endluute mobdiſicirt, als daß fie fir "hs einen 
Anhalt geben koͤnuten; und am wenigſten Tieße die Tüpferr 
arbeit Ser. 18, 3. den gelehrten Einfall zu: „Fortassis 
figuli eodem situ corporis (X '>9 Iin genibus) operi sus 
ineumbebant. - Wie follte doch dabei Die Oberfcheibe. om 
denſelben Händen gebreht werben, unter Denen’ ſich das 
Geſchirr Bilden follte (er. 18, 4)? Nurvom Gebären 
ift es nit unwahrscheinlich (vgl. Anal. 93, a), daß eb 
auch bei. andern femitiichen Frauen eben‘ fo wie ‚bei Dem 
Hethioperinnen” (Tadoi hist. Asth. I, 15, 101.) gleidy:oft 
m KRrieen als im Bigen geſchah. Denn 1 Sam. 4 





632: - Boͤttcheet 


ſehen wir die in die Knie geſunkene Abortirende von den 
Umſtehenden nicht ſofort in eine andre Lage bringen; nach 
Jer. 30, 6. müſſen ſich die Kreiſenden auch noch bei ſtärke⸗ 
ren Wehen auf den Beinen erhalten, oder doch außer dem 
Bette befunden haben; und neben dem targumiſchen nam 
sedit bei ber Geburt (2. Sam. 22, 5. Hof. 13, 13.) gibt die 


Pefchito Ex. 1, 16. doc; auch ein Beifpiel von ya == SE, 
yovvxsteiv Ind. 5, 27. Mt.17,14.27,29. Aber wie auch Die 
Lage der Gebärenden geweſen ſeyn mag, einKörpertheil 
derfelben a8 Ort des Neugebornen läßt fich aus 
man etymologifch nicht erzwingen, wenn es 
gleich im Zufammenhange dem Befehle Pharao’ am 
gemäßeften wäre, das Kind nod an der Mutter 
felbft, bei der erften Wahrnehmung des Gefchlechte zu 
tödten. Diefer Vorzug für den Zufammenhang gene mehr 
oder minder 


A, 2, b. dem Orte des Neugebornen bei der 
Geburtshelferin. Wie wenig bier die neueſte „ſte i⸗ 
nerne Badewanne” ald Dual von jax und als Er 
kenntnißort des. Gefchlechts fprachlich fachlichen Halt has 
ben fonnte, ift zur Genüge fchon in den „Berfuchen” 
(W. 49, 51. 52.) dargethan. Aber auch unfre Etymologie 
von jun gäbe höchftens eine Scheibe, etwa als Präſen⸗ 
tirs Teller. für das tollere infantem, oder (wie im Deuts 
fchen vom Wenden benannt) Windeln, wofür das Hebr. 
fhon nenn, wuab hat, und babei bie eritere ohne allen 
Grund für die Mehrheitss&ndung , die lebtern ohne beuts 
lichen Anlaß der Dualform, beide ohne allen weitern ges 
fchichtlichen oder fprachlichen Anhalt, und beide enblich 
von zu geringem Intereffe, um zur Ortöbeftinmung für 
das Wahrnehmen des Gefchlechtes zu dienen. Ob bie äls 
tere, von Kimdi a. O. angeführte rabbinifche Dentung 
x = bo nm npa locus, in quem incidit puer ober „se- 
des, in qua recipitur foetus” (Fagins und Glericus zu 





Gegenbemerk. zu Rettig's ereget. Analekten. 683 


Er. 1.) hierher oder unter A, 4, gehört, ift aus den Wor⸗ 
ten felbft wicht. far. Sie kann menigftend nicht etymolo⸗ 
giſch begründet, fondern nur aus dem Zufammenhang ers 
rathen ſeyn. Wenden wir uns alfo von Reuem:. 

A, 3. zu dem Orte der Bebärenden, deſſen Ans 
nahme wenigſtens die Wortverbindung im Terte nicht hins 
Derte (W. 31, 9.2). Das Nächfte dabei, den Worten _ 
nach, war allerbings die Vermuthung, daß die Entbins 
dung auf einem Zöpferfiß Cvgl. Ser. 18.) erfolgt feyn 
müßte. Aber wenn auch Vieles, was die Anal. Dagegen 
einwenden, leicht zu befeitigen wäre; wenn bie Töpfer 
funft, durch darauf eingelernte Sklaven, und (wie noch 
jegt) durch‘ Thonlieferungen aus der Ferne ermöglicht, 
wirklich mehr als die Anal. zugeben, häusliches Gemeins 
gut des frühern Alterthums, wenn der Töpferfig felbit 
durch Stemmleiften zur Seite der Unterfeheibe, wie wir fie 
wirklich vorgefunden, und auch wohl Durch die nahe Wand 
der Werkſtatt als mögliche Rückenlehne, mehr ald nad 
Anal, S. 89. zu Entbindungen geeignet gewefen wäre: fo 
bleiben Doch zwei Hauptpuncte, wie und eine noch⸗ 
malige eigne Anfchauung überzeugt hat, entfchieden genug 
dagegen, die Untrennbarkeit ver Scheiben non ber 
Bank des Töpfer, bie Anal ©. 90. ſachgemäß erklärt 
wird, und daueben doch das Hinderliche dieſer Schei⸗ 
bei für das Hebammengefchäft. Wollte man aber 
auch aus der hebr. Du al form im Vergleich mit dem Sing. 
andrer Sprachen fchließen, daß die hebr. Töpferfcheiben, 
ald Haare angefchaut und benannt, außer der Arbeit von 
der Bank abgenommen worden wären: fo bliebe doch mit 
ihrer Wegnahme für. bie Entbindung fein zureichender 
Grund, gerade eine Töpferbant, bie ohne Scheiben vielen 
andern Bänken glich, ald befondern Sitz der Gebärenden, 
und diefen Siß ftatt bloß ald Bank, oder Töpferſitz, 
vielmehr noch nach den Drehfcheiben bemaunt anzunehmen. 
Und dieß entfcheidet auch gegen bie. Boransfegung, ale 


hätte jeber GBeburtsſtuhl bloß megen des dem Töpfer 
ähnlichen gefpreizten. Sitzes darauf bie Bezeichnung >5 
essoyn veranlaſſen können. War nicht wirklich einmal eine 
Töpferbanffanımt Drehſcheiben zu Entbindungen gebraucht 
werden, ſo konnte man hoöchſtens von einer Kreiſenden 
fagen,. fie füße ran >32, nicht aber arı 5y ıntmn für fer 
hbet:nadı anf dem Stuhle Die Schwierigteit eine 
folchen figärlichen Ausdrucks war fchon in den „Berfuchen” 
gefühlt, und eben darum bie Bermuthung von Entbinduns 
gen auf Töpferfigen noch mitgegeben worden. Tu den 
häufigen altteftamentlicdyen Befchreibungen der Kreifenden, 
. dei den wiederholten Vergleichungen angfvoller Zuftände 
mit den Wehen der Geburt (Gef. 19, 8. 21,.3. 66, 7. Jer— 
6, 24. Mich. 4, 9 u.a. m.) würde, wenn jene Bermuthung 
Grund hätte, wohl aud einmal Etwas von den Drebs 
fcheiben nder der Töpferbant Dabei vorgekommen ſeyn. 
Wenn wir aber für den Geburtsſtuhl, en Jarchi 
als eb vr men Soro zunächſt auch nur in dem targumis 
fchen ware gefunden hat, die Benennung nady. den Drehs 
ſcheiben aufgeben müſſen, fo bleibt für ihn nur noch bie 
ſprachwidrige baffifch »eichhornfche Etymologie (bie 
ach. für: Die Töpferbunt genügen ſoll h, zri=s,. atrmetnre, 
von rm2, wobei der Grund für den Dunl od. Plur. eben 
fo unſicher, As das x ;prosthet. mit O⸗aunmmd vor a im 
Hebr. caußer dem Fremdwort um) beiſpiellss iſt. Ful⸗ 
rer's. Sitz ſcheiben Misc. a. a. O. &, 280, Boseumüller 
Schel: IF, 18.), für Gebärende ſowohl als für: arbeitende 
Töpfer, gleich Mühlfteinen zu einem niedrigen Seſſel fiber- 
einamder gelegt, find ohne alle Analogie innen beiderſei⸗ 
tigen, erfahrungsmäßigen Bedurfniſſen, bloß aus dem 
Duale von in herausbuchſtabirt. Bon der ſteten Baar 
zung der Drehſcheiben bei den Töpfern Faun Der gelehrte 
Herr, ben Schlußmorten feiner Abhandlung nach, gar 


Richts gewußt haben. — So wäre denn von ben mägli 


den Loc.al⸗ Erklärungen nur. noch 


‘ 
- 


Gegenbemer?. zu Rettig's ereget. Analelten. 635 


A, 4 der Drt der Geburts helferin übrig. 
Aber wenn auch Anal ©. 88. die Auffaffung von 
Bra  ossan mit Unrecht ald Sonderbarfeit verworfen 
wird, da ja ber Artikel hier (nr 59) jenes beftimmende Pros 
nomen vertreten kann (vgl. Pf. 18, 90— 33. 47. 48.): fo 
Liegt doch allerdings für Die Hebammen, die das Kind zus 
nächſt mit ihren Händen und auf ihrem Schonße aufnehs 
men, ihr etwaiger Seffel („sella quaedam, cui obstetrix 
insidet apud puerperam” Anal. 99.) bei der Beſtimmung 
des Drted, wo: fie bad Gefchlecht des Kindes wahrgunehs 
men haben, ziemlich fern. „Auf eurem Stuhle” wäre bei 
„wenn ihr nachfeht,” oder „fo fehet nach” fehr müßig, unb. 
wenn es bad „auf der Stelle Cehe ihr zu weitern Bemüs 
hungen vom Seſſel aufſteht) bezeichnen follte, doch fehr 
undeutlich zugefegt. Was Fönnte'man auch etymologiſch 
aus ara für einen Hebammenfeffel herausbringen als 
etwa einen, den Töpferfcheiben ähnlichen, mit breiter Bas 
fiö verfehenen, Drehſtuhl, der wohl zum Entbindungss 
gefchäft in einiger Hinficht bequem, aber auch als Rulturs 
product noch Fünftlicher und gefuchter wäre als der Ges 
burtöftuhl! Brauchen doch felbft unfre Hebammen nur 
diefen, ohne eine befondere Art Seffel für fich zu haben! — 
Berfuchen wir es alſo, da nach allem Diefen die Orts bes 
fimmung in keiner Weife zu Worten and Sadıen fh 
ſchicken will, vielmehr ° 

B) mitber Zeit, wann die Geburtähelferinnen nach 
dem Gefchlechte des Kindes zu fehen hatten! Die „Zeit” 
allein und Überhaupt, wie fie Michaelis CSuppl. 


A sa 
J. 9.) aus dem arab. wbl für Ser. 18. ſowohl als Er. 1. 


herholt, kann freilich unmöglich genügen. Ser. 18, 3. ift 
Nichts fo erbärmlich.überflüffig ald „ipsum Zempus, quo 
vas perficitur,” und wie käme auch biefer Zufag „des 
Topfmahens” zu bem bloßen man 52 „in ber 
Zeit” Hinzu! Iſt nicht eben fo an unfrer- Stelle das der 
Cheol. Sud. Jahrg. 1854 42 





EB 


amfchreibenden Bulgata abgeborgte „partus” zw Dem „in 
tempare” als „in ber Geburtözeit?” erfchlichen? Und wollte 
man auch dieß in. tempore natürlicher iind dem Zufammen; 
hange gemäßer ald „bei Zeiten” oder .„Zwlxuıgov, jn 
rechter Zeit,” nehmen: wo ift ein ficheres heb.r. Bei 
fpiela) dieſes Temporals Gebrauches von >23? wo eine 





a) Bas dv za avrod, in tempore suo, für TIER 52 Pr. 35,11. 
ift-von Symm. und Hieronym. fihtbar aus dem Zufammenhange 
| gerathen, und hat, aus jenem arab. Nom. erklaͤrt, dieſelben Schwie⸗ 


. rigkeiten des hebr. 29, bes Dual ober Plural und der Seltenheit 


. ‚eines fo vielfach benuöbaren Wortes wie waıgös, Jo wie außerdem 
= noch das anderwärts für. diefen Begriff gebrauchte INY3 Pr. 15,23. 


"gegen ſich. Nach Analogie von 25, 12 ff. (T’272) Hat man ſtatt 
27 737, wo das fonft unerhörte NIT nur dem Targ. gemäß, 


"um beiderfeitd Sachen vergleichen zu Laffen, den Gonfonanten auf: 


gedrungen ift, höchſt wahrſcheinlich mit faft allen Verss. 127 =" 


zu leſen, fo daß‘, in TIER auf 12T zurückgeht. Darm Eann aber 


RER DI noch leichter ein fprichwortlicher, von dem häufigen 


° 
DS 
— 


Abpferhandwerk ober von andrer Mäberbewegung entlehnter Aus: 


druck feyn, auf feinen Drehſcheiben oder Rädern f. über 
Etwas, worauf der Redende eingeübt, eingelernt, we 


= ‚ganz zu Haufe, in feinem Elemente ift, oder aud mit 


"ber Geläufigkeit eines gerade barin Geübten, Gewand— 


-. ten, oder aud nur in feiner Schnurre fort, "geläufig, 


-gbne Anftoß, vergl. fandi rotae Auson,;comm, prof. 4,16., 
auf dem Zeuge f. rüflig, munter, Weber bie erſte Vershälfte, bie 


bloß ohne Beziehung zwiſchen 3 u. by (vergl. V. 12,) etwas 
= Koſtbares und Liebliches Überhaupt bezeichnet, |. „Verſuche“ W 


©. 65, d. Zu TIER bs felbft theilt ung ein gelehrter Freund, ber 


£ Herausgeber des Abulfeda, Dr. Fleiſ ch er, nachftehende arad. 


Analogieen mit, wovon aber gerade die erſte wegen der Mehrheits⸗ 
form von de unpaffend igein und die andern ug nur 23 237 


treffen. 


„Mit * TEN ö9 Prov. 25, ſcheint bemrendt zu ſeyn das ara⸗ 


biſche — ie (Ay wie En3B bon we. = = ra) suo 





Gegenbemerk. zu Reftig’& ereget. Analekten. 637 


Dualform für ſolchen Begrif? Die Zeitbenennungen 
Sry a. 2 erklären fich ganz anders mit ihrem Dual 
(Ew. 332); und folte x ihnen ähnlich das bieffeit und 
jenfeit eines Zeit « Wendepnntted ausdrücken, warum 
dann nicht u ya oder Sun? : Selbft der Plural, wenn 
man mit den Puncten den Dual aufgibt, wärde wohl-auf 
eine Zeitdauer und für ein Zuſtandswort ‚oder eine zuſam⸗ 
mengefeßte Action (Ew. 326 ff. Geſen. Gramm. 10. A. 
S. 106, 2.), aber nimmermehr zu * als -Zeitpunct paſ⸗ 
fen. Und warum ſollte endlich ein fo gangbarer Begriff 
wie xaupog unter ben hebr. Wörtern eine fo. rara avis, nur 
in 2 bis 3 Eremplaren übrig, geblieben ſeyn? Die ge 
lehrten Exegeten pflegen dieſen Punct, daß unter felt- 
nen Wörtern am wahrſcheinlichſten auch ein 
ſeltner Begriff verftedt iſt, bei an. Asyol. u. dgl, 
noch viel zu wenig zu beachten. Weit cher als „in tem- 
pore”” ließe ſich x 52 etymologiſch etwa über her. Dres 
hang, mwährend der Hervorwindung cded Kindes) 
denten; wenn nicht auch Dabei ber Dual oder Plural ent- 
gegen wäre, und das wefentliche Hervor im Begriffe. von 
Dr car) fehlte Das von- Batablus angeführte „inrpro- 
einctu,“ od. eig. „in propenden.d.o (Gum propendet puer, 
EraR nach ja pondus) iſt zu EN oder ekelhaft contort, 


‚modo; fo wird auch das Wort AR: Igin, eigentiich die Bale des 
Weberftuhles, anf weiche ſich das fertige Gewebe aufrollt, trop. as 


Art und Weife gebraucht, 3 2. —2* As (se; 
f ou. ⸗ 6 ⸗v 2 

hoc modo, 8 * M (ie is 8 factum est hoc 

u ad hen alius, Kehnlich iſt die Dredemeife (sie As 7 

5, s a r eucurrit E hoc in surriculo illius, i. er ean- 


in rationem secatum est.” 
2” 


638 Bsoͤttcher. 


als daß es Gegenbeweiſe brauchte. Aber der Zeit punct 
des Kindes⸗-Austritts, den alle dieſe Deutungen 
ſuchen, und alle alten Verss. auch ſchon ausgedrückt 
haben, laͤßt ſich mit den Drehſcheiben von Jer. 18, 
ſo zuverſichtlich fie Michaelis „ad Ex. L., 16. inepta“ finden 
mag, doch -recht gut und Leicht ohne weitern NRothbehelf 
vereinigen.: Das Hervorkommen eines neuen zarten Mens 
fchengebildes unter den Händen der Wehnnitter, fein Her⸗ 
vorwinden DA 20 (Deut. 28, 57.) behält immer in vies 
len Stüden mit dem drehenden Hervorbilden des Kruges 
- oder Topfes, zwifchen den Schenfeln des Meifters auf der 
Scheibe, die gleich anfangs bemerkte, auffallende Aehn⸗ 
> lichkeit (W. 52. 55% Wenn nun fchon nach. allgenteinterer 
und oberflächlicher Vergleichbarkeit der Menſchenſchöpfung 
und Leibesgeftaltung mit. der Thonbildung die Dichter 
fat immer in Ausdrücken von der Töpferarbeit über die 
Hervorbringung des Menfchen fprechen (Sef. 29, 16. 45, 
9, 64, 8. Ser. 1,5. Pi. 94,9. u. 8.), und von der fehr 
gangbaren irdenen Waare wie von den Berrichtungen ih- 

rer Verfertiger überhaupt oft Bilder entlehnen Geſ. 41, 
25. Ser. 18. Thr. 4, 2.-9f. 2, 9): warum follten nicht die 
mit den Umfländen der Kindesgeburt, wie mit ber Zube 
reitung des vielfächen thönernen Hausbedarfs Doch noch 
vertrautern grauen und Hebammen in ihrer Sprade 
über Entbindungen gern auch Redensarten vor Der fo 
ähnlichen Topfbildung gebraucht haben? Das Fortſchrei⸗ 
ten der Geburt vom Austritte des Kopfes und Hervorwin⸗ 
den des Leibes bis zum Ablöfen des Nabels glich fo ſehr 
der allmählichen Bildung Des Thongefäßes vom erften run⸗ 
ben Klumpen bis zur endlichen Lostrennung der hervors 
gedrehten fertigen Rundgeflalt, daß fich die einzelnen 
Epochen der Entbindung recht wohl nach Unterfchieden 
bei der Topfbildung benennen ließen, und don dem 
Kinde, wenned während feines Austrittg noch 
nicht — den — von der Mutter 





Gegenbemert. zu. Rettig o exeget. Analekten. 639 


gelöft war, eben fo wie von dem noch im Empors 
drehn begriffenen, noch nicht mit dem Drabt 
abgezognen und weggeſetzten Topfe anuper 52, 
noch auf der Drehfcheibe, gefagt werden fonnte. 
Man brauchte fich Dabei unter „Der Drehfcheibe” nicht 
mit Beflimmtheit Die genitalia oder den ganzen Mutter⸗ 
ſchooß oder die ganze Perfon der Mutter in übertriebenen 
Bergleichungen (A., 2,2.) vorzuftelen. War doch ſchon 
ohnedieß die Situation des Neugebornen und 
ber befondre Zeitraum der Geburt und des He⸗ 
bammendienftes vergleichsweife Deutlich genug bezeich« 
net: „Sehet auf den Drebfcheiben“f. fehet, wenn 
ihr Das Kind noh niht vom Mutterfhooße 
(das neue Gebild noch nicht von der Scheibe) 
gelsft habt. Und gerade dieſer Furze Zeitraum iſt es, dem 
jener pharaonifche Befehlam paflendften zur Wahrnehmung 
und Tödtung des männlichen Gefchlechts beflimmt. Vergl. 
was auch die Analekten bemertten, ©. 99. „Noch ehe das 
Kindlein” u.f.f. S. 100, „Wieder Töpfer feine Gefchirre, 
gefallen fie ihm nicht, auf der Scheibe zerfnittert, fü 
Gott feine Gefchöpfe” Nur die „Quelle Des ganzen 
bildlichen Ausdrucks“ "ur>3 können wir in Diefem Gedan⸗ 
fen nicht finden. Uebrigens aber bleibt die damit, anges 
deutete Erflätung, fo verdeutlicht und entwidelt, wie. 
wir es eben verfucht haben, und vonder Schaam ale 
Drtsheflimmung auf den bloßen noch uirgetrennten 
Zufammenhang mit derfelben, als 3 eitbefiimmung 
übergetragen, doch wohl die ungezwungenſte, leichteſte 
Löſung des fo vielfach verfannten philologifchen Räthfele. 
"Die Deutung trifft, ohne allen etymologifchen, hiftoris 
fchen oder rhetorifchen Nothbehelf gerade das Hauptinters 
effe des Zufammenhangs, und bleibt den Worten-und 
Saden, wie den Lmfchreibungen der Verss. nach allen 
Seiten gleich angemeſſen. Es wäre ſchon unficherer und 
weniger finnlich anfchanlich, wenn man "ser 59 allgemeis 


640 Boͤttcher Gegenbemerk. zu Rettig'6 exeget. Analekt. 


ner fprichwörtlich und nicht in nächſtem Bezug anf Ges 
burtözuftände, etwa mit noch bei guter Zeit, nmoch 
re integra, wo fi, wie auf der Töpferfcheibe, noch 
Alles abändern (vgl. Ser. 18, 4. Horat. epp. II, 3, 22.) 
und zu nichte machen läßt, erflären wollte, vgl. das Eis 
fen fohmieden, weil e8 warm ift, aus Dem GStegreif, auf 
der Stelle cf. ohne erft abzufleigen, erft weiter zu gehn), 
e vestigio u. dgl, Mehr Anfprechendes hätte 

€) ald Art, wie die Geburtöhelferinnen nachzuſehn 
hatten, auf den Drebfcheiben fpridhwörtl. f. in 
der größten Geſchwindigkeit, flugs, vergleich, 
bar mit Redensarten wie „am Schnürchen, wie gefchmiert” 
(auch bei Räderbewegung). Wirklich Dient auch Die Tös 
pferfcheibe, und ganz fachgemäß, fchon den älteften Dich⸗ 
tern ald Bild gewandter Schnelligkeit, vgl. Hom. Il. 18., 
600, Plant. Epidic. IH., 2, 35. Sn der Stelle Pr. 25, 11, 
war auch eine ähnliche fprichwörtliche Auffaffung von rızn 
faft nothwendig (B, Not. d.); und im Aram. wie im 
Arab, find felbft Adverbial » Ausdrüde für Schnelligkeit 
und Eile Erra) von einem Berbalftamme für Rollen 
ausgegangen; aber an näheren Analogieen für Die Fors 
mel 'xr 5» fehlt es doch, und namentlich würbe ihre hies 
fige Verbindung ‚mit na fehr befremdend bleiben, wenn 
fie nicht fchon bis zur Vergeffenheit der eigentlichen Bes 
deutung abgenußt gewefen wäre, wogegen wieber ihre 
Seltenheit im Bibelterte fpräche, Die unter B .gegebne 
viel haltbarere Erklärung kann und Diefe legte eregetifche 
Ausflucht füglich gleich allen andern erfparen. — 





| 


— ——— — — — — ar = 


er 641 


4. 
Ueber ben Ausdrud DIN Is 
von \ 


M. Guſtav Morig Redslob, 
Privatdocenten in Leipzig. a) 


Der Seremia 18, 3.und Erodug 1, 16 vorkommende 
Ausdruck zuaerı 59, der vor Kurzem zwei fehr ausgezeich⸗ 
nete Unterfuchungen, nämlich von Herrn D. Böttcher 
Winer's Zeitfchrift Bd. 2 Hft. 2) und Herrn Prof. Rettig 
(in dieſen Blättern 1834 Hft. 1) erfahren hat, ſcheint mir 
auch gegenwärtig noch eines Verfuches zur Aufklärung zu 
bedürfen, namentlich in Beziehung auf die Stelle des Eros 
dus. Sch erlaube mir Daher, in Folgendem meine Betrach« 
tungsweife aufzuftellen, ohne jedoch in allen einzelnen 
Puncten derfelben anzugeben, wiefern für mich in denſel⸗ 
ben Hinderniffe liegen, einer der gangbaren Meinungen 
beizutreten. 

An der Stelle des Jeremia wird man durch Zufams 
menhang und Wortform auf das faft einzige eigenthüm- 
liche und deshalb auch eines eigenthümlichen Namens bes 
bürftige Werkzeug des Töpfers, die Töpferfcheibe, fo ges 
trade hin gewiefen, daß man ſich kaum verſucht fühlt, an 
irgend etwas Anderes zu denfen. Aber audy in Bezug auf 
bie zunächft an die Hand gegebene, jedoch in den genannte 


a) Da diefer Gegenftand in den Studien einmal zur Sprache gekom⸗ 
men ift, fo ſchien es mir zwedimäßig, die hier folgenden und eine 
eigenthümliche Anficht enthaltenden gelehrten Bemerkungen, die 
mir während bes Drudes des dritten Heftes zulamen, mit der 
voranftehenden Abhandlung zu verbinden; doch erlaube ich mir gu: 
gleich die Erklärung auszufprechen, daß es nun hierbei fein Bewen⸗ 


den haben mag und bie Acten Über viefen fpeciellen Punct für uns . 


ſere Zeitſchrift geſchloſſen find. 
GC. Ullmann. 





642 KRedslob 


ten Abhandlungen beſtrittene Ableitung des Wortes, nach 
welcher der unſerer Form zu Grunde liegende Singularis 
ja als eine Nebenform von ax Stein erſcheint und dem⸗ 
nad das Wort etwa „Die (beiden) Steine” bezeichne, 
fcheinen Die vorgebrachten Bedenklichkeiten mir nicht fo ers 
heblich, daß fie zu einem Fünftlichern Berfahren auffors 
derten. 

Die Töpferfcheiben find gegenwärtig allerdings von 
Holz und mögen es fchon feit langen Zeiten feyn. Das hins 
dert aber nicht, daß uranfänglich von der Natur gebotene 
paffende Steinplatten zu diefem Zwecke angewendet wur 
den, welche zu finden und zu befchleifen den Töpfern uns 
ter Den älteften Bölfern ficherlich leichter war, als hölzerne 
Scheiben fich zu verfchaffen. Wer ſich durch einen Verſuch 
überzeugt hat, mit wie geringer Kraft ſich der auf feiner 
Are ruhende Mühlftein in Bewegung und Schwung feben 
laßt, wird nicht glauben, daß eine ſolche unvergleichbar leich⸗ 
. tere feinerne Scheibe fo gar fchwer in Bewegung zu feßen 
gewefen fey, und endlich, find ja wohl alle Werkzeuge in 
ältern Zeiten unbehülflicher gewefen, als ihre fpätern ver 
volfommnmeten Formen. Auf’ etwaige Proteftationen uns 
ſerer Töpfermeifter möchte ich wenigftens nicht mehr geben, 
als auf eine Proteftation unferer jegigen Kriegsleute gegen 
die Handhabung der fehwerfällig coloffalen Waffen unferer 
Deutfchen Borfahren. — War aber der Name für die Sade 
zu jener Zeit mit Recht Steine gewefen, fo blieb er hers 
nach, auch unabhängig von feiner eigentlichen und ur 
fprünglichen Bedeutung, gerade wie jan noch in der Be 
deutung Senfbleiblich, als man bereitd Blei flatt eines 
Steines zu gebrauchen pflegte. a) 


a) So find bei uns Saiten eigentlich nur die aus Därmen gefertigs 
ten, wie nennen aber aud) fo die metallenen Drähte, ſowie bie mit 
feinem Draht umfponnenen feidenen Fäden, bie unter beftimmten 
Umſtänden an bie Stelle ber frühern Darmfaiten getreten find. 
Auch nennen wir die Steine im Bretfpiel Steine, obgleich fie 





über den Ausdruk ENNT Sp 643 ' 


Aber andy felbft zugegeben, Daß es niemals fleinerne 
Töpferfcheiben gegeben habe, fo muß ja gar nicht alles 
Stein feyn, was wegen irgend einer änßerlichen und uns 
wefentlichen Aehnlichkeit fo genannt wird. Die Hebräer 
fagen ma mu. Darf man darum glauben, daß der Hagel 
jemals aus wirklichen Steinen beftanden habe, daß er nur 
für ſteinern gehalten worden ſey, oder will.man deswegen 
ax hier für ein ganz anderes Wort halten? Der Bern 
ftein ift niemals Stein gewefen und hat Doc; diefen Namen 
erhalten, Die Steine (d. i. Kernhüllen) des fogenannten 
Steinobftes hat ficherlich noch kein Menfch für wirfliche 
Steine gehalten und doch heißen fie fo. — Hierzu kommt 
noch, dag ja ja gar nicht jax ift, daß die Vokalverſchie⸗ 
benheit es fehr nahe Legt, daß eine Verfchiebenheit des Ges 
brauche flattgefunden habe, wie bei 2x9 und axs, rm» und 
rap, caudex und codex, den deutfchen Ohr und Dehr, 
daß insbefondere die natürlichere Form (mit dem A⸗Laute) 
Pr ſich vorzugsweife an die eigentliche, Das geſuchtere 
Pr dagegen ſich an eine entferntere Bedeutung hielt. Ges 
rade diefe auf Holz Übergetragene Bedeutung (vgl, unfer 
Steineiche) hat nun auch das unferm Worte entfpres 


chende arabifche Rt welches, nach Golind, neben einer 


andern, fogleich zu erwähnenden, ebenfalls uneigentlichen 
Bedeutung, nodus in ligno bezeichnet. Wenn man fi nun 
die alten Töpferfcheiben nur gröber zugehauen und Klötzen 
oder Ambofen etwas ähnlicher denkt, fo würde mir der 
ganze Stein des Anftoßed gehoben zu feyn fcheinen. Das 
mit man aber nicht glaube, auch das arabifche Wort hange 
mehr mit ei en 4: ax zufammen, fo fey noch bemerkt, 


PP 5-..£ — 
daß das Wort a na = Pe ) mit Kst dieſelbe Ue⸗ 
gar gar nicht mehr mehr aus Stein gefertigt werden, und wir koͤnnen fo 


gut, als ber Hebräer Fear Jar MAP" JAN fagte, von elfen- 
beinernen und hölzernen Steinen ſprechen. 


644 2Redslob 


bertragung auf den Kehlkopf hat, welcher demnach der 
Stein im Halſe, nicht das Rad im Halſe iſt. «) 

Schwieriger ift die Erklärung des Ausdruckes in der 
erwähnten Stelle des Erodus, Denn daß hier Töpfer: 
Scheibe auch nicht im entfernteften paßt, braucht gar nicht 
erwähnt zu werden. Aber-auch durch tropifches Rüſt⸗ 
zeng und Kunft einen bequemen und natürlichen Sinn aus 
diefer Bedeutung and Licht zu fürdern, möchte bis jet 
noch nicht als gelungen erfcheinen, und wahrfcheinlich nie 
mals glüden. 

Denn jedenfalld heißt ersar an fich weiter nichts als 
die (beiden) Steine, und befommt Die Bedeutung Toͤ⸗ 
Bferfcheibe entweder Durch den befondern Zufaß im, 
oder dadurch, daß eben vom Töpfer und feinem Gefchäfte 
die Rede ift und der befondere Zuſatz deshalb üiberflüffig 
wird, wie in ber Stelle des Seremia, wo „sr felbft uns 
mittelbar vorhergeht, fo daß man füglich an etwas Andes 
red, was etwa dieſen Namen noch führte, nicht benfen 
fann. So fteht Deut. 25, 13 jax für Oran jax, und Jeſ. 34, 
‚ 11 für Das jan, weilin dieſem Zufammenhange die ger 
nauere Bezeichnung überflüffig if. Sp reicht unter den⸗ 
felben Umftänden das Iateinifche rota und das Dentfche 
Scheibe ebenfalls gar wohl hin, um bie rota figularis 
und Töpferf cheib e zu bezeichnen, wie ſich zeigt, wenn 
wir die Stelle des Jeremia überſetzen wollen. So wenig 


man aber Deut. 1. J. jax durch Bleiloth und Jeſ. LI. 


a) Jonathan Überfegt, recht gut im Einklange hiermit, NITO 55, 


und Nettig führt dazu an: „Stamm — jedem Stoffe, der in 
feinem Aeußern demfelben ähnelt, (dah. Ambos) und wegen ber 


runden Flaͤche des Stammes am Abfänitt = Rab, Scheibe und 


Alles, was biefem nahe kommt. — — 719 est lignam crassum 


etc. Sota fol. 11,2, —“ Ich füge hinzu, daß d. Pur, TITO | 


NO darum geradezu der Wagen bebeufet. — Dies für bie: 
jenigen, welche nun einmal rota, rgozög ald zunachſt vermittelnde 
Bedeutung betrachten wollen, 





[8 
l 


i 
I 
| 


| 
j 
r 


über den Ausdruck DNTt Ip 685 


durch Gewicht uͤberſetzen kann, fo wenig man carpenta- 


rius fabricatur rotas überſetzen kann: der Wagner 


verfertigt Töpferſcheiben, oder auf ähnliche Weiſe 
es verſtehen kann, wenn wir ſagen: Der Glaſer 
macht Fenſter und zieht Scheiben einz eben fo 
wenig fann man or=x an einem Orte, wo von Geburt und 
Entbindung die Rede ift, durch Töpferfcheibe überſetzen. 
Es heißt allemal zuerft wieder: Die (beiden) Steine, & 

Wenn ich nun ſchon glaube, daß aus der Stelle des 
Seremia ſich auf Die Des Exodus nichts in Bezug auf die 
Bedeutung des Wortes zmax übertragen läßt, fo fcheint 
mir außerdem auch noch Die Sonftruftion der Formel an 
beiden Drten verfchieden zu feyn. er. heißt es namlich: 
Baar, by and rs und unfre Worte bilden hier offenbar 
einen abverbialifchen Zufag: auf der Scheibe. Im 
Erodus dagegen heißt ed: era ds ma und gewiß 
wird jeder es für das Natürlichfte halten, 59 mit mm zu 
verbinden ( wie Ex. 5, 21. 59 =s mp» Iob. 14, 3) und 
zu überfegen: fo ſehet auf Die oder nach den (beis 
ben) Steinen, Für dieſe Eonftruftion fprechen nämlich 
folgende Gründe, 1) Wäre’am, >s hier ein abverbialifcher 
Beifag, fo ſtünde rıay inder Bedeutung wie beobachten, 


Adt haben absolute, ohne Nccufativ. Aber wo rm in - 


diefer Bedeutung vorfommt, wird es ftetd das Objekt bei 
fi) Haben, wenigftens wo es absolute fteht, hat es gerade 
dieſe Bedeutung nicht (f. d. Lex). Es müßte Demnach wohl 
eing erbum hier ſtehen, welches auch absolute geſetzt we⸗ 
nigſtens feinen Mißverſtand gäbe. 2) Würde man ſich wun⸗ 
dern müffen, Daß ber wenig bedeutendellmftand, unter 
weldyem gefehen werden follte, angegeben wäre, währ 
tend der ungleich wichtigere, worauf gefehen werben 





a) Mit diefem Gebrauche des Wortes war’ Zoynw vom zunãchſt lies 
genden Segenftande Ser. 1.1. ſtimmt auch insbefondere Überein die 
Setzung des Artikels eraanrı, ber es faft gleichbedeutend macht 
mit, Yan 59, 


646 Redslob 


ſollte, nicht angegeben wäre. Und noch dazu iſt erſteres 
um ſo überflüſſiger, da ſchon die Zeit und Gelegenheit der 
Beobachtung angegeben iſt, naͤmlich 797%°3, und letzteres 
am fo unentbehrlicher, da das folgende ar 72 um zu 
fchroff. auf das bloße yrman folgt und man zwifchen beides 
‚ einen’ vermittelnden Gedanken braucht, wie: welches 
Gefchlechtes das Kind ift, welcher aber bei Diefer 
Auffoffung nicht hinreichend angedeutet if. 3) Würde in 
dem Ausdrude eine für die umftändliche hebräifche Profa 
zu harte Zufammenziehung ftatt finden, Denn 'arı 5s wäre fo- 
viel als entw. ’nıı 59 janmııa, oder ’an 59 Invırıa oder 
"an 59 bon nen vgl. Gen. 2, 15. 4, 14. 

Beurtheile ich aber hiernach die Meinungen, die über 
die Bedeutung ded Wortes aufgeftellt find und gegenwär: 
tig noch zur Sprache kommen Tönnen, fo kann ich mih 
nicht zur Annahme von einer derfelben verfichen. Mit 
Herrn Dr. Böttcher foheint mir Die Deutung durch Ba- 
Dewanmne nichtig, namentlich weil die Hebamme lange 
vorher ſchon, ehe fie das Kind über Die Badewanne bringt, 
das Gefchlecht deffelben zu erfennen Selegenheit hat, weil 
ferner das Gefchlecht des Kindes Cbefonders wenn Leben 
und Tod auf dem Spiele fteht) ein fehr intereffanter Um- 
ſtand für die Eltern deffelben ift, die es in.der Regel 
fhon vor der Geburt gern wifjen möchten und die Hebam⸗ 
me zur Aufmerffantkeit darauf jedenfalls fo bald veran⸗ 
laſſen, ald nur irgend Die Kennzeichen deffelben fichthar 
werben, und weil endlich die Form bes Wortes einexgjols 
hen Bedeutung gar nicht günftig ift. Denn gefeßt auch, 
ery3, welches man hier zu vergleichen vielleicht geneigt 
ſeyn möchte, hieße wirklich ein mit einem Deckel verfchlof- 
fener Topf fo fiher, daß es ſich zu einem Belege eignete, 
und man wollte demgemäß an eine Dedelmanne denken, 
fo würde doch einzugeftehen feyır, daß der. Dedel einer 
Badewanne gar nicht ein fo nothwendiges Stüd derfel- 
ben ausmacht, daß er für eine wefentliche Hälfte derfel- 








über den Ausdrud un 9 . 647 


ben anzuſehen wäre, während bisweilen... B. bei’m fü» 
genannten Dämpfen ber Speifen und bei mandjen chemis 
ſchen Verrichtungen) bei einem Topfe die Verfchließbarkeit 
durch einen Deckel etwas Weſentliches ſeyn kann und ge⸗ 
wiß nur aus dieſer Rückſicht einem ſolchen Topfe die Dual⸗ 
form gegeben werden konnte. — Mit Herrn Prof. Rettig 
aber ſcheint mir, aus allen den Gründen, die er ſo übers 
zeugend ans einander ſetzt, auch Die böttcher’fche Erklä⸗ 
rung durch Geburtöftuhl verwerflicd. Zu feinen Gründen - 
füge ich nur noch ben hinzu, Daß Der Name der Sadıe 
von Der Töpferfcheibe hergenommen ift, was mir nicht 
nur, wie:ich oben auseinander gefeßt habe, willfürlich 
und unftatthaft erfcheint, fondern geradezu unbegreiflich 
ift, weil, was einer Töpferfcheibe nur im Mindeften ühs 
nelt, fich ficherlich zu einem Lager für eine Gebährenbe 
nicht eignet, gefchweige denn, daß eine Löpferfcheibe ſelbſt 
für dieſen Zweck nöthigenfalls mir anwendbar fcheinen 
könnte, — Endlich aber kann ich auch der Meinung des 
Herrn Prof, Rettig nicht beitreten, weil der Tropus eben» 
fans in der Töpferfcheibe liegt und. an ſich wohl. sbenbwein 
noch fehr ſubtil und Fünftlich ift, auch ſich nicht gut den⸗ 
ten läßt, wie vor Dem Austritte aus ber Mutterfcheibe 
die Hebamme über das Gefchlecht des Kindes in Gewiß⸗ 
heit feyn kann. — Alle.drei Meinungen zuſammengenom⸗ 
men aber Inboriren an dem, was mir die Annahme von j 
a 59 als abverbialifchen Beiſatz ſchwierig macht. 

Kurz, der anderweitige Gebrauch des Wortes fcheint 
mir Fein Licht auf unfere Stelle zu. werfen, Die alten Vers 
fionen denfelben abfichtlich umgangen zu haben’a), die 
überhaupt in Betracht kommenden Erklärungen aber uns 
zuläſſig, wenigftens unbefriedigend zu ſeyn. Und unter 
foichen Umflärden werde ich‘ nichts Ungehöriges zu thun 
fheinen, wenn ich ben gordifchen Knoten mit einer- er 
jectur zu zerhauen verſuche. 


a) Mit Ausnahme des Onkelos, von welchem beranad) unten. 


‘ 


. u r 
... “ L Zr 3 ® 4 


ZIch gehhe davon and, daß zu conſtruiren ifl.>> rm, 
ſehen aufzetwas, nach etwas, und daß hier bu 
Name eines Gegenſtandes zu erwarten ſey, der über das 
Geſchlecht des Kindes den hinlänglichen Aufſchluß geben 
konnte, ‚auf welche Weiſe überhaupt nur eine natürliche 
Verbindung mit dem folgenden "m za fich herftellen läßt. 
Jedenfalls aber find das Erkenntnißmittel des Gefchlechtes 
eines Kindes nur die Gefchlechtötheile deflelben, und du 
die männlichen Kinder der Gegenftand des pharaoniſchen 
Befehls find, wäre ich vollfommen geneigt, beiden bew | 
den Steinen an die männlichen Teftifein: zu Denfen und 
den Außdrud für einen Euphemismus zu ‚halten, an web 
chen für dergleichen Gegenftände die Sprachen der ven 
ſchiedenen Völker einen ziemlichen Borrath zu haben pfle 
gen,.und. der hier ftatt des eigentlichen YBortes dem Ph 
‚rau ald Könige und Manne den Hebammen gegenüber 
vielleicht mit befonderm Grunde in ben Mund gelegt wäre 
... Daß die Dualform für eine folche Bebeutung ganz an 
ihrem eigentlichiten Drte fey, wird niemand. bezweifeln. 
Auch etymologiſch aber fcheint Die VBermuthung einer bins 
Länglichen Unterſtützung nicht zı7 ermangeln. "Allerdings 
babe. ich. in feiner verwandten Sprache ein ganz entfpres 
chendes, d. h. ein von Demfelben Bilde ausgehendes und 
anf. denfelben Gegenftand übertragenes Analogon finden 
können, Doch fiheint mir dieſer Umftand an. fich nicht won 
fo bedeutender Wichtigkeit zu feyn und zum Theile dadurch 
erlebigt zu werben, Daß das in allen Dialekten in dieſer 
Bedeutung fo gewöhnliche mars im Hebräifchen wenigſtens 
kein Beifpiel irgend eines uneigentlichen Gebraudyes hat, 
was wohl zu. der Bermuthung führt, Daß dem Hebraer 
ein anderer Gegenftand zur Bezeichnung der Sache das 
Bild geliehen habe, — Wie wir oben ermähnt haben, hat 
aber das. hebräifche ax ſchon einen mehrfadren uneigentli⸗ 
chen Gebrauch, namentlich in Beziehung auf kleinere, härs 
tere, Eugelige Körper., Unter diefen ſcheint mir nun der 


raber den Ankh nam. 689 


Ausdruf Yaan ganz:befonbers verwmittelungsfahig für 
unfere Bedeutung zu ſeyn und:ein faſt ſprechendes Bild 
zu liefern, wenn ‚man ſich Den. Beutel mit den Gewicht⸗ | 
feinen als zen: Gürtel herashängend vorſtellt € of ibn 


— coriaceum eta ‚sitniljtudine gerotum. G ol. ). Wie 
aber die künſtlichere Form } ah Rast a8 für eine folche künſt⸗ 
lichere Bedeutung nicht nut geeignet, Kane IeIeR ges 


macht feyn könnte, . fo bite bad entſprechende ri (und 
a mit feiner Bedeutung Kehlkopf wieder ein klei⸗ 


nerer, härterer, Tugeliger Körper) wenigftens eine Ueber 
tragung auf-einen Theil bes thierifchen Körpers,. Wenn 
wir aber den Dual zuan geradezu für .scrotum nehmen, 
wie im Arabifchen nach Golins Kuna, testicalus.und deu 
Dual due pelliculae testiam, scrotum bezeichnet, und Lus 
dolph im Athiop. Ler, bei nsox bemerft „in plurali pro ' 
scroto accipiendum videtur,‘‘ fo feßen wir hiermit nicht eins 
mal ein Synonymum zu Tör, und befommen einen Begriff, - 
für welchen im Hebräifchen überhaupt ein Wort fich we⸗ 
nigſtens nicht erhalten hat. 

Die Etymologie des hebräifchen Wortes TER und des 
äthiopifchen now von > (f. Ges. Lex. man.), nach Der. 
der Gegenftand eigentlich heißt, index, testis virilitatis 
(vgl. d. lat. testiculus) zeigt, daß man gerade dieſen Theil 
der Genitalien ald Kennzeichen benust hat, womit überein, 
flimmen würde, daß auch an unferer Stelle gerade auf ihn 
die Hebammen verwiefen werden; und medicinifcher Seits 
ift mir verfichert worden, daß dieß mit gutem Grunde ges 
fhehen fey, weil bei Neugeborenen gerade Das scrotum 
vor den benachbarten Theilen auf eine Die fpätern Vers 
hältniffe weit übertreffende Weife, häufig felbft bis auf 
einen befrembenden Grab ausgebildet fey. 

Sn vollem Maße barin einverflanden, daß das 


4 


650 Redslob über den Ausdruck Warnty 
warn des Ontelos a. u. St: nichts anderes ſey, als 


“ayo, nadz,. glaube ich, daß dieſer Interpret Die Bedeutung 
bes Wortes, die ihm befanntfeyn mochte, nur irriger Weife 
auf die Organe der Mutter (oder bes Kindes weiblichen Ges 
fchlechtes) bezogen habe, indem er diefelbe zu weit aufs 


faßte, wenn nicht vielleicht ſelbſt anzunehmen iſt, daß eraan, 


wie das arab. Wort de testiculi duo et vulvae labra 


(f. auch Roſenmüller zu unſrer Stelle) bedeutet, von den 
Genitalien beider Gef chlechter habe gebraucht werden füns 
nen, was endlich felbft auch von dem chald. x)ae gelten 
se 

Die Meberfeßung des Verſes würde demnach feyn: 
Wenn ihr die Hebräerinnen entbindet, fo beobachtet die 
Zeftileln. Wenn es (nämlich das Kind, von beffen Te 
ſtikeln Die Rebe ift) ein Knabe ift, fo tödtet ihn. 





Recenſionen. 


- 


Theol, Stud, Jahre. 1834. 0048 


1. 


Der Prophet Sefaja, überfeht und ausgelegt von 
Dr. Ferdinand Hitzig, der Theologie Licentiaten 
und öffentlichem, ordentlichem Profeſſor an der Unis 
verfität zu Zürich. Heidelberg, 1833. bei C. 5. Wins 
ter, Univerfitätsbuchhändler. KLU und 650 ©. gr. 8. 


Erſter Artikel 


Gar Prof. Hitzig, den mit feinem erften literärifchen Ver⸗ 
ſuche, betreffend Die kritifche Behandlung von Jeſ. 2,24, 
der Unterzeichnete im gelehrten Publikum eingeführt (vgl. 
diefe Zeitfchrift, Sahrg. 1829 H. 2. ©. 349, tritt jebt, 
nachdem er fich ingwifchen noch durch andere zur Kritik des 
A. T. gehörige Schriften von der vortheilhafteften Seite 
befannt gemacht, mit einer vollſtändigen Ueberſetzung 
und Auslegung des ganzen Propheten hervor. Es ges 
teicht Rec. zum befonderen Vergnügen, ſchon in jener klei⸗ 
nen Abhandlung des Verf. ex ungue leonem gezeigt, und 
des einftigen Zuhörers Talent zu Tritifch » eregetifchen Are 
beiten fowohl zuerft erfannt als zur weiteren Ausbildung 
deffelben fleißig ermuntert zu haben. Der Berf. hat fich 
in feiner neueſten ausführlichen Leitung. ein bleibendes 
Denkmal feiner tüchtigen Forfchungsgabe, feiner gebiuger 
nen Gelehrſamkeit und feines ausgezeichneten grammati- 
43 * 





654 zZ Higig’s 


ſchen und kritifch s eregetifchen Scharffinnes geſetzt. Seine 
Bearbeitung des Propheten Jeſaia gehört ohne Zweifel zu 
denjenigen Werken auf dem Felde der altteftamentlichen 
Auslegungsktunft, welchen das unverlennbare Gepräge 
der Wiffenfchaft aufgedrüct ift. Aus dieſem Grunde wür- 
digen wir hier diefelbe einer eigenen genau eingehenden 
Kritik, zugleich, um dem Verf. auch nach feiner Entfernung 
von und einen Beweis unferer fortdauernden Hochfchäßung 
zu geben. 

Der Berf. erklärt fich über den Zwed der Abfaffung 
ſeines Buches im Borworte alfo: „theils wollte ich für eis 
nen fo wichtigen und vielgelefenen Schriftfteller den Theo: 
Iogie Studirenden ein bequemes, nicht allzumweitläuftiges, 
und darum nicht zu fehr Eoftfpieliges Hülfsmittel in die 
Hände geben; dann aber war ich fchon länger der Meis 
nung, unfere Commentare ſeyen, feit den neueflen Fort 
fohritten der hebräifchen Grammatik, einer gänzlichen Um⸗ 
arbeitung bebürftig geworden; und ich befchloß, von dem 
Grunde oder Ungrunde dieſes Glaubens mich dadurch zu 
überzeugen, daß ich, fo weit Kraft und Ausdauer reichen 
würden, die jeßt geltenden grammatifchen Grundfäge mit 
Gonfequenz auf Einen ber biblifchen Autoren in Anwen 
bung brächte.”” Nach dieſem offenen Bekenntniſſe, welches 
durch die Dedication des Buches an Herrn Prof. Ewald 
in Göttingen, in welcher Diefer „Neubegründer einer Wifs 
fenfchaft Hebräifcher Sprache, und dadurch der Eregefe des 
Alten Teflaments” genannt wird, in Dem unzweibeutigs 
ften Lichte erfcheint, wird. man erwarten, Daß, wie ber 
Verf. auch, felbft fagt, „auf die Meinungen eines gefeierten 
Erflärerd des Jeſaia öfter ausprüdlich und ausführlich 
polemifche Rüdficht genommen worden”, und Rec. gehört . 
gewiß nicht zu denjenigen, welche bes Verf, Erflärung, 
„daß er fein Buch, welches zu fohreiben ihm ein Recht zu⸗ 
ſtand, weder für noch wider eine Perfon, fondern im 
Dienfte der Wahrheit verfaßt habe,” in Zweifel ziehen 


1 





Ueberfegung und Auslegung des Propheten Sefaja. 655 


möchten. Auch Rec. :ift fich bewußt, nar im; Dienfte der 
Wahrheit an bie Kritif feines Werkes gegangen: zu ſeyn, 
und glaubt nad; der Stellung, die: baffelbe eingenommen; 
feiner Recenflon den belehrendften Zufchnitt zu geben; wenn 
er auf die hauptfächlichften Differenzpuncte ber. Huslegung 
zwifchen Der des Herrn D. Geſen ius und der bed. Herrn 
D. Hitz ig bei der Prüfung vorzügliche Rückſicht nimmt. 
Rec. wird ſich dabei von jenem exegetiſchen Tacte leiten 
laſſen, den ihm der Verf. ſelbſt öffentlich zugeſprochen. 

Wir beginnen mit der Prüfung des Commentars, 
gehen dann zur Ueberſetzung über, die ja erſt aus dem 
Commentare erwachſen iſt und den Geiſt der Auslegung 
in ſeiner feſten Beſtimmtheit des treffenden Wortes darſtel⸗ 
len ſoll, und ſchließen mit dem, was zur fogenaunten Eins 
leitung gehört und die Refultate. der. Fritifihen Forfchung 
enthält. Denn nach Diefem Gange werden.wir am wenig⸗ 
ften Gefahr ‚laufen, in’ den gewöhnlichen Fehler der. Mes 
eenfenten zu fallen, : allgemeine Berfiheruhgen: ftatt- be« 
fiimmter Beweife zu.geben. In der Benrtheilung des Gonts 
mentard handelt es fih um die fprachliche und hermeneu⸗ 
tifche Richtigkeit der. einzelnen Erflärungen, und da ber 
Berf. wegen der neuen Begründung einer Wiffenfchaft hes 
dräifcher Sprache die gänzliche Umarbeitung der exegeti⸗ 
fhen Werke über Das Alte Teflament für nothwendig ers 
achtet, fo werben wir bei feinem praftifch gegebenen Bes 
weife einer ſolchen nenbegründeten Auslegung forgfältig 
nachzufehen haben, wie viele feiner Erklärungen benn 
wirklich neu und haltbar feyen. Denn auf dieſe Weife al 
Iein können wir zu dem ficheren Urthieile gelangen, mitıwels 
chem Rechte Herr: D. Hitzig feinem Werke eine a 
machende Bedeutung beilegen dürfe. 

Gap.’ 1, 3 ftimmen wir bem Verf. bei, wenn er x 
sm .abfolut faßt, wie Rec. diefe Erklärung fchon inr Sahre 
1820 gegeben, al& er ben Propheten zum erften Male als 
Privatdocentin Göttingen auslegte, und ihre ſeitdem im⸗ 








(>) ee .)711'7 8 


mer treu. geblieben. Nur möchten wir die Ueberfegung von 
Befenius „kennt ihn: nicht,” aus dem Grunde nicht falſch 
nennen, weil. Jehova felber fpreche und doch weder rı» 
. wech Isa Israels fey. ‚Denn warum follte Jehova nidt 
ſchicklich als Käufer und Herr des Volkes gedadt 
werben, da bie altteftamentlichen Schriften fo oft an bie 
Loſtaufung und Befreiung Iſraels ans der Aägyptifchen 
KRuchhtfchaft durch die Gnabe Gottes erinnern. Heißt es 
erg in unferm Buche Cap. 43, 3 und 4; Ä 
. : Sch gab ald-Löfegeld für dich Aegypten, - 
0. Kufch:und Saba für dich hin, - | 
Weil du theuer bift in meinen Augen, 
"2 @eehrt, und ich Dich liebe, 
So gebꝰ ich: Menſchen bin für Dich, 
Völker anſtatt deiner. 

uch das trifft nicht, wenn der Verf. bemerkt, ann 
‚würde. zu Schwach ſeyn, wenn: sm.85 fic auf Jehova ber 
ziehe: „denn das Volk könne natürlich nicht auf Jehova 
achten, wenn ed-einen.andern Herrn gewählt habe.” Wo 
ſteht im Texte, Daß ed einen andern Herrn gewählt habe? — 
Es ift ja nur von dem Nichtkennen des Herrn die Rede, und 
iſt dann nicht bag Nicht. auf ihn achten ſtärker? — Paarm 
iſt iiberhaupt ein fehr ftarfer Ausdruck, und bedeutet hier mit 
der Regation verbunden: es gibt ſich gar feine Mühe um die 
Achtſamkeit, ed hat den Willen garnicht, auf Gott feine Ges 
danken zu richten, Bergl. Hithp. deffelben Berb. in derfelben 
Karten Bedeutung: feharf einen Gegenftand in's Auge faflen 
Sap. 14, 16 und Hiob Cap. 31, 1, wo Doch gewiß nicht 
ber. unmittelbar auf eine Sungfrau geworfene Bi als 
Sünde fol gerechuet werben, fondern nur das abſtchtsvoll 
berechnete und begehrungsfüchtige Hinfehen nach ihr. — 
Aberr-jebenfalld reichen wir mit dem abfoluten Gebrauche 
von Ir ad volllommen aus, ja wir gewinnen fo einen kräf⸗ 
tigeren Sinn und Schluß des Verſes. — V. 5:entfpricht die 
gewöhnliche Erflärung von Geſenius ſicher mehr dem 





Ueberfegung und Auslegung bes Propheten Jeſaja. 657 


Zuſammenhange mit V. 6, als die von Hitzig von Saad. 
Vulg. und Vitringa angenommene, nach welcher rarbs 
in der Bedeutung „wozu? auch mit Ywroinzu verbinden fey.” 
Sprachhärte kann wenigitend Rec. nicht finden, wenn wir 
mo won burch das natürlich ausgelaffene Relativ. cr 
unmittelbar an den vorhergehenden Satz anfchließen. Der 
Zufammenhang wird im Weſentlichen derfelbe bleiben, wenn 
auch im zweiten Gliede des Verſes die Ueberſetzung: „fes 
des Haupt iſt Frank, und jedes Herz ift matt,” die fprhch 
lich am meiften begründete feyn follte. Denn der Prophet 
faßt, wie B. 6 zeigt, alle Einzelnen des Volkes in ein Gans» 
zes zufammen, und wenn dann jeder einzelne Kopf flech und 
jebes einzelne Herz frank ift, alfo, äußerlich und innerlich, 
der Bolkeförper elend — wohin fol Gott ihn ferner fchlas 
am? — B.6 hat dann der Prophet bei det Anfchaunng 
des Volles ſchon mehr das Land im Sinne (wie ſolche Ueber 
gänge auch fonft vorfommen, 3. B. Gap. 23, 13), auf weis 
ches er Dann V. 7 in beftimmter Rebe übergeht. Indeſſen 
fi die von den meiften Erklärern angenommene Ueber⸗ 
feßung: „das ganze Haupt ift krank, das ganze Herz ift 
ſiech,, auch nicht fchlechthin zu werwerfen; denn was bie 
Durchaus für nothwendig gehaltene Seßung des Artifels 
nach 55 betrifft, fo fehlt derfelbe auch in andern Stellen, wo 
jenes durdy ganz überfebt werden muß, z. B. 5 Moſ. 4, 
20. — V. 7 überſetzt der Verf. das anftößige en naerran „wie 
zerftörtes Land ber Fremden,” und gibt Davon die kunſtli⸗ 
he Erflärung: das Land biete einen Anblick dar, wie etwa 
ein fremdes, das Jehova, weil ein folches feine nom für , 
ihn fey, verwüſtet habe. Der Prophet dente aber auf ein 
beftimmted Land, das Jehova wirklich fchon verheerte, 
nämlich Sedom und Gomorrha, von deren Zerftörung 
bloß raBr19 immer vorkomme. Vgl 5 Moſ. B. 29, 22. und 
Serem. 49, 18. Richtig erinnert der Verf. allerbinge gegen 
die Ueberfehung von Geſenius: „eine Wüfte iſts, ale 
von Feinden verheert,” wo Dada al6 kaf verltatis genom⸗ 


658 — — Hitzig s = 


men wird, daß zennicht bloß verbeerenfey. Aber wir 
werben einfacher verfahren, wenn wir 871 in feiner Grund⸗ 
bebeutyag umwen den urgiren: „eine Wüſte — wie von 
Fremden umgewendet?’! rrasuin beziehen wir auf Das im 
erſten Versgliede ſtehende aa zurüd, wie ya, welches 
die mit Feuer verbrannten Städte und Das von den Frems 
den. abgeweidete Fruchtland zufammen begreift, genannt 
worden: und zwar ift dieſe Wüfte eine ganzliche Verödung, 
ber Boden ift wie umgewendet. Mag es immer feyn, baß 
ſonſt je nur von dem Zerftören Durch Gottes Hand ges 
brausht. wird, philologifsh iſt es gewiß nicht unrichtig, 
wenn wir es hier einmal in dem Grundbegriffe Der gäanzs 
lihen Zerſtörung, auf die Feinde zunächft beziehen. 
Und waren denn dieſe nicht. von Gott zur Züchtigung des 
Landes (vergl. B. 6 und 8) geſandt? — -war es alfo nicht 
immer. eine Umwendung, Die von Gott ausging? — Nach 
biefer Erflärung ergibt. fih auch mr für die Auffaffung 
leichter, als bei Hißig, Der es fürfand der Fremden 
nehmen muß. Wenn er fagt, der Ite Vers beftätige feine 
Erllärung, fo können wir das. wenigftens nicht finden; 
denn da heißt es ja ausdrücklich, daß die Bewohner nicht 
wie Sodom und Gomorrha geworden... — Das nieler« 
Härte Maxz 992 V. 8 gibt der. Berf. „wie. ein- einfamer 
Thurm der Wacht,” zum Theil Scheid folgend, Der ſchon 
9 „Wactthurm? erklärt. > iftihm wie 2 Kön. 17, 9 
f. v. a. Sao und rmız2 ad formam nyad, sm, mars ein 
Nomen. f. v. a. Huth, Wacht. Gut iſt's nicht, daß. der 
Berf. in Die Ueberfegung das „einfam” zur Verdeutlichung 
des Gleichniffes eingefchoben. Und was die Erklärung be⸗ 
trifft, ſo weicht fie freilich von dem herrfchenden Sprach⸗ 
gebrauche der Wörter bedeutend ab, und können wir dieß 
durch -Aufftellung. einer andern vermeiden, iſt's beffer. 
Daher begnügen wir uns lieber. mit dem Gewöhnlichen, 
und überfeßen nadı, Dem Borgange der Lxx: „wie eine bes 
lagerte Stadt.” Inder VBergleihung.lage dann der Begriff 





Ueberfegung und Auslegung des Propheten Sefaja. 659 


bes Einfams-Ahgefchloffenen. Gefenins ſtimmt Arno Ist 
bei und überſetzt: „fo die gerettete. Stadt,” mit ihm Yır2 
lefend, und das Doppelte> wie Cap. 24, 2 auffaffend. Runs 
ber Elingt jedoch der Ber, wenn wir > auch zum britten 
Male ald Bergleichungspartitel nehmen; wie denn. auch Die 
arnoldiſche Erflärung einem, obſchon recht glüdlidh 
gewählten, Nothbehelfe ähnlich fieht. Ein noch. paflendes 
res Bild Der. Bereinzelung der. Stadt würbe fich Durch Die 
einfache Verwandelung des mz3 in nmmıs2. ergeben, wels 
che Leſung vielleicht auch der .Vnlg.: zu Grunde liegt, 
nach der Luther überfeßt: „wie eine verheerte Stadt,’ 
wo aber die urfpränglicshe Bedeutung des Abfchneibeng,. Die 
im verb. na3 liegt, in: der abgeleiteten Des Zeritörend (vom 
Weinberge hergenommen,. vgl. Ser, 49, 9) irrig aufgegrif⸗ 
fen ift, indem die andere Des Unzugänglichmachens und 
Befefligeng ‚der Stadt weit näher liegt. Bel. 5: Mof. 1, 
28; 3, 8 und Jeſ. 2, 1593 man. Wir überfegen: „wie. 
eine felte Stadt.” Man darf bei der Bergleihung nicht . 
überfehen, daß der Prophet bei Jra-na vorzüglich an die 
Einwohnerſchaft non Jeruſalem gedacht haben will. — 
V. 13 betrachtet der Berf: , als Prädifat der folgenden 
Nomina und zieht nayin. np zum vorhergehenden Gate, 
während Gefenius erflärt: Rauchwerk — ein. Greuel 
iſt es mir. Nah Hitzig' s Anficht folten wir aber das 

5 vn cher am Ende der drei Nomin. als zu Anfang ers 
warten, wie denn überhaupt Der. ganze Ausdrud im Munde 
Jehovas hier zu ſchwach erfcheint: Eins tft mir Reumond ıc, 
Eine gleiche Stellung des pron, :person. |. 2 Moſ. 31, 14, 
Wenn der Berf. gegen die Erflärung von Gefenins ans 
führt, daß bei;ihr Die-folgenden Nomina zu abgeriffen ſte⸗ 
hen würden, verkennt er die rhetorifche Kraft der Rede ger 
rade in dieſer Ahgeriffenheit: denn Jehova redet. in heili⸗ 
ger Entrüftung. Keinesweges ſoll ja musin auch gu um 
na amp nun bezogen werben, vielmehr find biefe mit 
dem Begriffe ‚des leuten Satzes zu verbinden, dergeſtalt, 


60 Hisig’d 


baß fie in dem rıız2 enthalten find. Folgende Ueberſetzung 
feheint den Sinn des Driginald treu wiederzugeben : 

- Bringt mir nicht ferner nicht’ges Speifeopfer, 

Rauchwerk ift mir ein Greuel; 

.. Reumond und Sabbath, Berufung feftlicher Bers 
fammlung — 

Sünd und Feſt — das kann ich nicht! 

B. 18 ſtimmt der Verf. in der Erflärung mit Geſe⸗ 
nius überein, aber Rec. kann dieſe Erklärung nicht billis 
gen. Nach dem Zufammenhange nämlich fcheint nicht ſo⸗ 
weht ſchon von der Reinigung der Sünde oder deren 
Hmwegtilgung durch Gott Die Rede zu feyn, ale vielmehr 
erft von dem Eingeftändniffe derfelben. Demnach denken 
wir bei Scharlach und Purpur nicht an die bIntrothe Farbe 
der Sünden, nad B.16, welches überhaupt dem guten 
Geſchmacke wibderftrebt, fondern, was auch nach den Wörs 
teen a und sohn näher liegt, an die ftärffte Ueberfärs 
dung derfelben, fo daß fich im Gegenſatze der rothen Farbe 
mit der weißen des Schneees und der Wolle der paflende 
Sinn ergibt: wenn die Frevler ihre Schuld auch noch fo 
fehr verbergen und mit Scheinheiligfeit übertünchen, fo 
wird biefelbe, kei fie fich. in einen Rechtsſtreit mit Se 
hova einlaffen, in ihrer nadten Blöße hervortreten. — 
Ebenſo geſchmackwidrig iſt die ann des Berf. V. 20, 
wo er überfegt: 

Wenn ihr euch ſtraͤubt und wiberfirebt, 
fo müffet ihr das Schwerdt verzehren. 

Es ergibt fich aus dieſer Anffaffung der überkräftige 
Sinn: ihr werdet gezwungen werben, das Schwerdt zu 
‚ verzehren, d. i. Daffelbe in eure Leiber aufzunehmen, gleich 
wie Speife. Rec. gefteht, nicht einzufehen, warum ſich 
nur dieſe Erflärung grammatifch rechtfertigen laſſe. Zur 
Bildung des fchärfiten Gegenſatzes mit dem zweiten Gliede 
von B. 19 iſt unftreitig das Pi. onen ale flärkfte Paſſiv⸗ 
form gefetzt: ihr ſollt verzehren gemacht werben (benn auf 





Ueberfegung und Auslegung des Propheten Sefaja. 661 


den Ausdruck der Paffivität Fam es dem Propheten bier 
beſonders an) d. i. aber, wie fhon Gefeniug richtig 
“ bemerkt, für: ich Jehova will euch vergehren laſſen, welche 
dem Sinne nady erforderliche Ausdruddmeife aber Jeſaia 
Deswegen verfchmäht,. weil er gegenfäßlich auch der Form 
nach Die genauefte Abrundung mit "Fasn bezwedtt. Jehova 
wi fo auf das Beltimmtefte feine Activität an.bie Stelle 
ihrer Activitat feßen: a if dann dad Inftrument, durch 
welches Jehova folches bewirkt, und muß grammatiſch nis 
Accus,. adverb. „in Anfehung des Schwerdtes“ aufgefaßt 
werben, d. i. dann freilich eben fo witl als: ich will das 
Schwerdt euch.verzehren laſſen. — Eap.3,4 folrbbm Hu- 
delung, Mishandlung, Tyrannei ſeyn, ald nom. von Hithp. 
Sem gebildet, mit Bergleichung von Cap. 66, 4 u. 1 
Sam. 6, 6. Recht geben wir dem Berf., daß das nom 
nicht wohl Durch Kinder mit Geſenius überſetzt wers 
den fünne (denn man fieht gar nicht ein, warum biefer 
abſtracte Ausdrud im Syebräifchen follte gewählt worden 
feyn), aber dem Parallelismus gemäß fcheimt es paſſender, 
eabsn für Rindereien zu nehmen: Kinderpoflen d. i. 
Muthwille und Willkür follen über fie herrfchen. — V. 12 
nimmt der Verf. an der gewöhnlichen Erflärung: ‚die Bes 
drüder meines Volkes find Kinder’ unnöthigen Auftoß, und 
will dafür überfeßt haben: „meines Volkes Gebieter ift ein 
tändeinder Knabe”, indem er bemerkt: „das Prädikat dürfte 
nur, wenn, Daß biefelben (die Kinder) Bedrücker fegen, hypo⸗ 
thetifch ausgeſprochen feyn follte, im Ging. ſtehen“, mit Bes 
rufung auf Ew ald's Gramm. 8.571. ($.351.©.643,) Al 
lerdings wird an der angezogenen Stelle gejagt, daß in enge 
verbundenen Wörtern deffelben Sates mit dem Plural vie 
Mede nicht anfangen, und dann auf einen einzelnen: der 
Menge übergehen künne, welches nur in allgemeinen Säz⸗ 
zen ftatt finde; jedoch,” fest Herr Ewald ausdrücklich 
hinzu, „Fann ein particip. ſchon einen kleinen ſich ſon dernden 
Satz bilden.“ Und iſt denn uns kein Particip %— Wir com 


66 Hitigo 


ſtrniren und überfeßen: was mein Bolt betrifft, fo find feine | 
Bedränger Kind, d. i. jeder einzelne dDerfelben ein Kind. Der 
Singular ift hier ganz am Ort, Da ed dem Propheten aufbie 
Begriffsbeſtimmung des Kindifch » d.h. Schwachſeyns in jer 
bem einzelnen das Volk beherrfchenden Tyrannen, nicht aber 
auf die wirkliche Aufzählung der Gebieter als eigentlicher 
Kinder ankommt. Deswegen trifft auch der Einwurf gegen 
die gewöhnliche Heberfegung nicht, „Daß Die Bedrücker, da 
der Zuftand B. 4 erft Fünftig eintreten folle, keinesweges 
Kinder feyen.” Wir brauchen übrigend nicht hartnäckig bei 
der Bedeutung „Bedränger” in der Erflärnng von ni zu bes 
harren, und. können recht wohl überfegen: „feine Gebieter 
find Kinder”, denn Sach. 10,4 hat was Diefe Bedeutung ficher. 
Indeſſen, gute Herrn waren diefe Gebieter gewiß nicht, wie 
Der Zufammenhang zeigt, und unfere angenommene Bebeus 
tung kann und fprachlich nicht nur nicht freitig gemadht 
werben, fondern fie tft fogar wahrfcheinlicher. Es verhält 
ſich mit wsiumgelehrt wiemit a. Was endlich das beider 
Anficht Des Verf. auffallende suffix. plural. betrifft, fo will 
er zwar, wir füllen ung an demfelben nicht ftoßen, aber 
wenn man es nun doch thut? — Die Berufung auf Ewald 
S. 123 faun den Zweifler nicht vollfommen zufrieden ftellen, 
der einmal von unferer Betrachtung der ganzen Stelle außs 
geht, und dabei den Parallelismus beachtet: denn Taie ift 
Doch eigentlich im Plural zu faffen. — Cap. 5, 12 bemerkt 
der Verf. richtig, daß rrrmea ein Nominativ. fey, ‚und 
überfegt: „Da macht Cither und Harfe, Paufe und Flöte 
und: Wein ihr Gelag“, was unſtreitig beffer. ift, als wie 
Geſenius den Vers gibt: „fie haben Either und Harfe, 
Haufen, Flöten und Wein bei ihren Gelagen.“ B. 14 vers 
dient Dagegen die Ueberſetzung und Erklärung von ® efes 
nins vor der von Hißig wieder den Borzug, indem ber 
letztere die suffix- fem. gen. sing. auf Sird) bezieht, und die 
einzelnen abstracta pro concretis nimmt, wodurd; ein hars 
ter Sinn gewonnen wirb,. weicher fich in ber Ueberſetzung 





Veberfegungund Auslegung des Propheten Sefaja. 663 


darlegt: „unb hinab fährt ihre Pracht, ihr braufenb und 
tobend Heer, und wer ob ihr froklodt”, wobei wir bes. 
merken, baß 2 bei 19 ald den Grund des Frohlockens an⸗ 
gebend genommen ift. Gegen die Örammatif verftößt aber 
bie Heberfeßung von Gefenius gewiß nicht: „und hins 
ab fährt ihre Herrlichkeit, ihr Reichthum, ihr Toben und 
was darin frohlockt“, und es handelt fich bier nur um den 
Gefhmad der Auffaffung, in welcher Beziehung Herr 
Hitzig die Frage aufwirft: „die Unterwelt wird doch 
nicht etwa, ben Schall der Flöten u. f. w. verſchlingen fols 
Im?” Da die Unterwelt der Ort bes tiefiten Schweigens 
it: warum nicht? was wäre in fühn » poetifcher Sprache, 
in welcher doch offenbar hier der Prophet redet, Dagegen 
einzuwenden, daß es heißt, wie wir überfegen: „und hins 
ab fährt ihre Herrlichkeit, ihr Sau und Braus, und was 
darin frohlodt.” Freilich kommt bier Alles auf den richs 
tig gewählten Ausdruck in der Ueberfeßung an. Vom 
„Berfchlingen” ift im Texte gar nicht die Rede, was natür⸗ 
lich fehr unpaflend wäre; aber der Berf.'fchiebt dieſes 
Wort dem Propheten unter, ber ja m gebraucht. Die 
Sufßxa beziehen wir übrigens ohne Schwierigkeit auf Je⸗ 
rufalem, welches der Prophet bei der Beichreibung des 
üppigen Sündenlebend vorzugsweife im Sinne hat. V. 17. 
überfeßt Der Berf. Das 2te Glied: „und freffen wandernd 
ab die MWüfteneien der Widder.” Er zweifelt, ob er 
23 zu der Perfon im Verbum ale Ergänzung betrach⸗ 
ten fol, malend, wie die Heerden wandernd im Weiters 
ziehn jene Felder abweiden, oder ob ed als Appefition zu 
ara zu ziehen ſey, welches dann ebenfalls das Subject im 
Sage wäre. Der Prophet erkenne den Heerden Die vers 
ödeten Gefilde ebenfo zu, wie B. 14 der Hölle die zu ihr 
Hinabfahrenden. Einen Fräftigeren Sinn gewinnen wir 
aber unftreitig durch die Erklärung von Geſenius: 
„unb auf der Reichen verödeten Gefilden ernbten Fremde”, 
die wir in ber Ueberſetzung nur fo verändern möchten: 


662 | Es 


„und in ben Wüften ber Fetten eben ſich Fremdlinge 
nähren.” urn ſteht allerdings zuerſt von fetten Schafen, 
aber ed kann dann auch recht gut auf wohlgenährte Reiche 
fibergetragen ſeyn, befonders in unferm Berfe, wo in ber 
erften Hälfte der Prophet =aa2 vor Augen hat. eben 
falls Dürfen wir den ausdrucksvollen Gegenfat der Wis 
ften und Fetten nicht Überfehen : die fruchtbaren Felder 
"der wohlgenährten Befiger find jegt Wüſteneien geworben, 
in welchen fremde Hirten mit ihren Heerden herumzichen 
und dafelbft ihre Nahrung gewinnen, Der Liebe der Orien⸗ 
talen zur Anigmatifchen Redeweiſe ift der Ausbrud ganz 
angemeflen: Fremdlinge verzehren die Wüſten der Fetten. 
Wie kann man Wüſten verzehren, und wie können Wüften 
fett machen? — Die gegebene Erklärung löft das Räthfel, 
welches nach der Ueberſetzung von Geſenius ungeloͤſt 
bleibt; denn freilidy erndten kann man auf verödeten Ge 
flden nicht. Die feine Ironie der prophetifchen Rebe geht 
Dann verloren. — Recht hat Hitig gegen Geſenius, 
wenn er im gleich folgenden 18ten Verſe is und ren 
nicht durch Strafe und Verderben, fondern durch Schuld 
and Sünde gibt: denn der Prophet fehildert die hartnäcki⸗ 
gen Böen, welche mit Harem Bewußtfeyn über ihr geſetz⸗ 
loſes Leben wie mit Gewalt Schuld auf Schuld häufen; 
freilich Fönnen ihnen auch die Folgen der Sünde nicht vers 
borgen bleiben, ſie wiffen secht gut, fo zu fagen, daß 9 
Schuld und Strafe zugleich bebeutet, und infofern ift es 
nicht geradezu falfch, mit Geſenius zu überfeßen: „wehe 
been, die die Strafe herziehen an Striden des Laſters, 
und wie mit Wagenjeilen das Berderben”; aber an pfychos 
logifcher Tiefe gewinnt unflreitig Die Erklärung, wenn wir 
ben Grund der Strafe in der Ueberfegung hervorkehren. — 
Ehen fo billigen wir V. 19 des Verf. Heberfegung: „es = 
beſchleunige fich fein Wert”, ſtatt: „er befchleunige u. f. w. 

wegen des Parallelidmus, wiewohl Die letztere auch son 
Gefenins angenommene Erflärung richt gegen bie 





Ueberfegung und Audlegungded Propheten Jeſaja. 665 


Sprache ftreitet. — B. 30 werben die Worte der letzten 
Hälfte von unferm Berf. überfegt: „man fchaut zur Erbe, 
und fiehe da Finſterniß der Angit. - Und zum Lichte — es 
ist verfinſtert durch ihr trüb Gewölk.“ Diefe Ueberfetung 
beruht auf einer originellen Betrachtung der Stelle. Vor 
allem follen wir nicht Die Paralleiftellen Ssef. 8, 21. 22 und 
Ser. 4, 23 überfehen. Ans ihnen gehe hervor, Daß wir zu 
van 223 einen Gegenfat haben müſſen: wor "xy fey alfo 
durchaus die Präpofition > ausgelaffen, und fomit 1% mit 
er zu verbinden. Daß in für Himmel oder Sonne ges 
fügt werde, ſey vortrefflich, weil 7er fich fehr gut anfchließe 
und TEH vorausgegangen ſey. Was nun die Abtheilung 
der Worte betreffe, fo fen bei Ten der Munnach, bei 2 
das Sakef, bei "im aber Sakef gadol zu feben, 1 mit, zu 
präfigiren, wie 512 Sam. 13, 26. In den letzten Wors 
ten beziehe fich das suffix. an ES auf yır, und mmııg 
verwanbs mit >a72 bebeute urfprünglich das Herbſtgewoͤlk, 
mit Dem gegen die Regenzeit der vorher immer heitere 
Himmel ſich überziehe, fey aber fpäter im allgemeinen 
Sinne gebräuchlich geworden. „hr trübed Gewölk“ fey 
das, welches fich über ihr lagere. Seitbem Rec. fich mit 
ber Auslegung bes Jeſaia befaßt, hat er immer das suffix, 
bes legten Wortes auf yax bezugen, und ftimmt alſo in 
diefem Punkte dem Verf. volllommen bei. Deögleichen hat 
er immer ir mit mir verbunden, und hat die von Geſe⸗ 
nius adoptirte Ueberſetzung: „bald Angit, bald Licht,” 
etwas gefucht gefunden. Er theilt auch den Tadel des 
Berf. gegen bie gewöhnliche Erklärung, Daß nach derſelben 
gerade 13 und Tin verbunden werden, „der eigentliche Aus⸗ 
druck dem umeigentlichen für das Gegentheil coordinirt, fo 
dag eine Umftelunig von Ta und 13 wünfchenswerth fey.” 
Aber verlaffen muß Rec. ben Verf. in dem Ausfpriche, Daß 
die Worte ya> wa nach der Auffaffung: „fchant man 
aufs Land,” völlig lahm und nichtöfagend daſtänden, wäh» 
rend doch Ssefaia fichtbar affectvoll endigen wolle. Sm Ge⸗ 


666 Hitzig's 


gentheil ergibt ſich nach der gewöhnlichen Erklärung ein 
kraͤftiger Sinn. Der Prophet läßt uns zuletzt nicht blos 
hören, wie einſt mit Meerestoben der Feind gegen fen 
Volk antoben werde, fondern er laͤßt ung auch einen Blick in 
fein hartbedrängtes Land hineinwerfen, wie es da ausſehe. 
Sollte ein fharfer Gegenfag zwifchen Pr und Yin bewahret 
fepn, iſt's wenigftend nicht im Geiſte einer vom Verf. gefun⸗ 
denen affectvollen Rebe, daß vor "ix dag 5 praefix. aus⸗ 
gelaffen worden, wofür wir gerne das 7 hingeben würben. 
Auch will fich das suffix. an Pa nicht recht ausnehmen, 
wenn yıw hier die Erde und nicht das Land bedeuten fol.” 
„Das Licht ift verfinftert durdy das trübe Gewölk, welches 
fidy über ihr Iagert”” — näher hätte dann jedenfalls dem 
Propheten zu fagen gelegen, das Licht verfinftere fid 
Durch das Gewölk, das fich über den Himmel Iagere. An 
beftimmter und klarer Anfchaulichkeit gewinnt aber das Ge 
mälde, wenn uns der Prophet das Land Juda mit ei 
nem dicken Nebelgewölk überzogen zeigt, wodurch ed ganz 
finfter in demfelben wird, — Cap. 6, 9 madıt der Berf. 
bie richtige Bemerfung, daß der an Jeſaia gerichtete Auf 
trag Jehovas in zwei parallelen Sägen ausgedrückt fey, wos 
von jeber einen pofitiven und einen negativen Befehlenthalte; 
der letztere ſey durch den Imperativ mitdx ausgebrikckt, wie 
es die Regel erheifche; davon fey der Fall zu unterfchei- 
den, wo zwei Smperative, oder flatt des leßteren n> mit 
Dem zweiten Modus, fo verfnüpft werden, daß der zweite 
die gewiſſe, nothwendige Folge der Erfüllung des er- 
fteren Befehles ausbrüdt: welche Folge alfo mittelbar 
ebenfalls befohlen fey, und daher im Imperativ flehe; 
wogegen der erite Imperativ beinahe den Sinn eines Bes 
Dingungsfaßes erhalte. (Ser. 27, 175 1Kön. 22, 125 2 Kön. 
5, 13 vergl. 10.— Ser. 26, 27; 2 Kön. 18, 32, wo ein Im⸗ 
perativ nebft einem. zweiten Modus mit x> den Nachſatz 
bilde, und Jeſ. 8, 9. 10, wo den zweiten Modus ohne 
> im Nachſatze der Wechfel der Perfon verlange.) Hier 


Weberfegung und Auölegung des Propheten Iefaja. 667 


num finde der erſtere Fall ſtatt, alſo ſey die Ueberſetzung 
der Lxx, welcher man zu folgen pflege, durch das Futurum 
falfh. Während daher Geſenius überfegt: „hört nur 
immer, ihr werdet nichtö verſtehen, feht nur, ihr werdet 
es nicht einfehen?”, gibt unſer Verf. die Wortefo: „höret 
immerfort, aber verſtehet nicht; und feht fortwährend, . 
aber feht nicht ein.” Sec, ſtimmt dem Sinne nad) diefer 
Ueberfegung vollkommen bei, obfchon er fte den Worten nach 
anders formt. Aber nicht fo kann Rec, die Erklärung des 
Berf. unterfchreiben: „Sefaia fingirt hier am Ende feiner 
Laufbahn, auf die gemachte Erfahrung zurückſehend, es 
ſey ihm von Jehova die Erfolglofigfeit feiner Beſtrebun⸗ 
gen vorandgefagt worden. Als feine Anftrengungen frucht⸗ 
[08 gewefen waren, mußte er dieß natürlich als vorher; 
gefaßten Beſchluß und Willen Jehova's anfehn; und er 
fagt nun, indem fein Befehl an das Volk zugleich Befehl 
Sehova’s ift, Jehova, welcher ihm freilich ganz andere 
Aufträge gab, habe ihn angewiefen, feinen Befehl an das 
Bolt, verftodt und einſichtslos zu feyn, zu überbringen‘: 
paſſend dieß, weil, nach dem Erfolge zu.urtheilen, man 
nicht anders hätte glauben follen, als: Jeſaia habe zur 
Verachtung feiner Prophetie und zu ewiger Verfennung 
der Wahrheit aufgefordert.” Bon einem Fingiren bes 
Propheten am Ende feiner Laufbahn ift da gar nicht 
die Rede. Als wenn ſich Sefata nicht zu Anfang. berfels. 
ben die alte Erfahrung, die ſchon Mofed gemacht hatte, 
wie fein Volk ein durch und durch widerfpenftiges fey, 
hätte vor Augen flellen Fönnen. Der Verf. überficht den 
tiefen Wahrheitsfinn und die feine Sronie Der grammatifch 
richtig erklärten Worte, Sefaia kennt den Geift des. echten 
Widerfpruch gar wohl, wie er ſich befonders in feiner 
Nation immer mächtig erwielen: je mehr.ffe feine Worte 
hören würde, ift er überzeugt, deſto weniger würbe. fie 
ihn verfichen. Diefe Ueberzeugung, von Sefata im Namen 
Theol. Stud. Jahrg. 1854, 44 


aller hebräiſchen Propheten ausgeſprochen, und gegran 
der anf die pſychologiſche Wahrheit, daß Die Unfähigkrit, 
etwas einzufehen, were fie im Willen Fliege, Durch den no 
ſitiven Gegendruck her Lehre immer vergrößert werde, iſt 
nun in bie beftimmete weiffagende Gottesſprache eingeklei⸗ 
det. Die Ironte des Ausdrucks liegt aber eben darin, daß 
der Prophet im Namen. Gottes dem Volke verbieten fol, 
was er ihm doch kraft feines Lehramtes ;gerabe gebieten 
muß. Daß Jehova dieſe betrübende Wirkung ber pre 
phetifchen Thätigfeit fo ſtark hervorhebt, davon müfen 
wir der. Orund m dem voraudgegangenen entfchlaffenen 
Ausrufe des Jeſaia are. aa ſuchen. Wiewohl aber 
Jeſaia den Erfolg feines Strebens vorausfteht, fo kann 
er fich Doch dem inneren Nufe, zu predigen, nicht ent 
ziehen; feine Lippen find einmal mit der Fewergluth 
heiligender Gottesweihe berührt worden. — Gap. 7,11 
Kimemt der Verf. mit Gefenius darin überein, daß 
er rin ald Wahrzeichen in der Weife faßt, daß es 
fi auf Die Vorherfagung einer zweiten Begebenheit 
beziehe, deren früheres Eintreffen dann die ſichere Gewähr 
für die Erfüllung ber fchon voraudgegangenen erfteren, 
auf die es eigentlich anfomme, geben folle. Nec. in einer 
foüheren, in dieſer Zeitfchrift mitgetheilten Abhandlung 
Gahrg. 1830. H. 3.) Hat diefe Anficht von Geſenius 
sicht theilen können, aus Berüdfichtigung des Zufammen: 
hanges; denn wie kann der Prophet, wenn ihm rim nur 
die Borandverfündigung einer Begebenheit wäre, gleich im 
Folgenden fagen: „fordere es in der Tiefe, oder hoch in 
dev Höhe!‘ (nach der Heberfeßung von Gefenius)? Die 
fer Ausleger hat fidy allerdings bei der ‚Begriffsbeftims 
mung won min durch V. 14 leiten laffen, wo das fraglice 
Wort freilich eine Weiffagung zu bedeuten fcheintz aber 
eigentlich iſt ed doch nicht fo, wie in ber eben angeführten 
Abhandäung gezeigt werben, ſondern es kommt bore nur 


' 
L 


Ueberfegung und Auslegung des Propheten Jeſaja. 669 


anf die Erſcheinung der maby als einer folchen an; ſie 
ift ein Symbol, Durch weiches. Gott redet und die Worte 
des Propheten beftütigen will. Aber Rec. kann auch Herrn 
Hitzig nicht Recht geben, wenn er.verlangt, daß: man, 
um ben Begriff des rim vein Darguftellm, dem Zeichen, 
welches V. 14. gegeben werde, zuvörberft keinerlei @in- 
fluß auf das V. 11. angebotene geftatten duͤrfe; denn fie 
feyen beide verfchledenen Weſens. Diefe letztere Behanp- 
tung fommt aber: eben daher, weil der Verf; die beiden 
doc offenbar im engften Zufammenhange ftehenden Stel⸗ 
len bei der Begriffsbeftimmung von rin nicht zuſammen⸗ 
faffen will, wofür gar kein hermeheutifcher Grund 
fpriht. Sm Gegentheil erfcheint diefe geforderte Ausein⸗ 
anderhaltang der beiden Stellen willtürlid und gewalts 
fan. Warum follten wir nit son vorne herein bem Pro» 
pheten zutrauen, daß er fich in der Beſtimmung des ri 
werde gleich geblieben feyn® — Thun wir diefes nicht, 
nehmen mir mit dem Verf. min zuerft als wirkliches Wun⸗ 
der, dann aber als ein ganz natürliched Wahrzeichen, fo 
gerathen wir in eine höchft bedenkliche Anficht von dem 
prophetifchen Charakter des Jeſaia hinein. Der Verf; fagt: 
„daß übrigens Jeſaia glauben konnte, Jehova werde durch 
ein ſolches Zeichen ihn als feinen Geſandten Tegitimiren, 
ift ganz im Geifte des partitularen Monotheismus; und 
es ift dieſer Glaube eine Frucht, wie feines feſten Gottver⸗ 
trauens, fo des tiefen Gefühls von wirklich prophetiſchem 
Berufe und pflichtgetreuer Welffagung des Wahren. 
Dhne ed zu willen, fpielt Sefaia hier ein gefährliches 
Spiel; denn hätte Ahas die Propofition angenommen, fo 
hätte Jehova vermuthlich feinen Diener im Stiche gelafs 
fen, und dieſer wäre an feinem Gott und an fich felber 
iste geworben. Jeſu hellerer Geift hatein foldyes Zeichen 
feiner göttlichen Sendung beharrlich abgefchlagen Matth. 


12, 38 ff. 16, 1 ff.” Bedenke der Verf. doch noch. einmal 
44 * 


“ 


670 , Aa JS Ze Higig’s. ud ee # — a, 


die ganze Conſequenz dieſes Satzes im theologifchen Zus 
fammenhange! — Die einfachfte Apologie des frommen 
und befonnenen Propheten ergibt fich Durch die Auffaffung 
der ganzen Stelle, wie fie Rec. in dieſer Zeitfchrift fchon 
vorgelegt hat, und darum hier nur darauf verweifen darf. 
Weil fich unfer Verf. in dieſe gotterfüllte,und in dem hodyz 
begeifternden Glauben frei fich bewegende Betrachtung der 
Natur als eines in vielen Zeichen redenden großen Sym⸗ 
bols nicht zu finden weiß, worüber wir ung wundern, da 
es ihm fonft an einer frifchen und lebendigen orientalifchen 
Anfchauungsgabe nicht gebricht, fällt er mit Geſenius 
in denſelben Irrthum, daß er unter rmaby das Weib des 
Propheten verficht, und nur. darin von jenem abweicht, 
daß er nicht an eine erft Verlobte des Jeſaia denkt, fon 
dern an bie wirkliche Gattig beffelben, indem er feine 
Meinung hauptſächlich auf Die Beobachtung fügt, „daß 
er feinen Sohn Immanuelnannte (vgl. Cap. 8, 8.) und daß 
er felbft überhaupt für Erfüllung feines Wahrzeichens 
Sorge trug Cap. 8, 3.” Der Berf. ftellt auch hier, durch 
die confequente Entwidelung der Anficht, daß mix ein 
Mahrzeichen fey, welches die Weiffagung eines zufünftis 
gen Ereigniſſes als fücher eintreffend durch eine andere in 
Erfüllung gehende Borherfagung beglaubige, den Prophe- 
ten in ein gar unwürdiges Licht, wobei überdieß in bie 
Augen füllt, daß dieſe Betrachtungsmeife derfelbe Bors 
wurf trifft, den man öfters ber alt= meffianifchen Erfläs 
rung des Berfes gemacht hat, daß nämlich die Weiſſa⸗ 
rung eines in bie Zukunft hinausgerückten Greigniffes gar 
nicht am Drte gewefen feyn würde, mo es Doch auf die 
gegenwärtige, ja augenblidliche Einwirkung auf den uns 
gläubigen König vor allem angekommen. jeder Anftoß 
wird hinweggeräumt, wenn wir die fombolifche Exfcheis 
nung ber ma>y in ihrer Bebentfamfeit als einer mit Angft 
und Schmerzen Gebärenden, ſich aber dann der glüdlis 





J 


Ueberſetzung und Auslegung bes Propheten Jeſaja. 671 


chem Geburt: Erfreuenden in. der ganzen Scene, die uns 
vor Mugen geſtellt iſt, auf die Weiſe hervorheben, wie es 
in der ſchon mehrmals angeführten Abhandlung gefches 
heu. — Den; folgenden 15ten Vers erflärt der Verf. für 
eine Roſſe. Denn „D ſtehe er zum vorhergehenden ‚vers 
vindungslos, und es ſey nicht abzufehen, warum von dem 
Ruaben befonder& ausgeſagt werde, was nach V. 22. von 
Ahlen! belte.”. Der Vers fteht ‚aber keineswegs verbin⸗ 
dungslas⸗: wenn der Verf. feithält, daß ber Name de 
Sohnes, Immanuel, mit Bezugauf die Zeitbegebenheit, die 
Befreiung des Landes Juda von den Syrern und Ephrais. 
miten, gewählt worden, was natürlich auch feine Meinung 
HE : Der Prophet bedient ſich dann nur bes ſchon Durch 
feinen: bebeutfamen Namen zum Collectivum der Nation 
geweiheten Knaben, um an feiner. Perfönlichkeit ferner 
die Einwirkung der Zeit auf das ganze Volk zur Anfchauung 
zu bringen, und fo kann ed gar nicht widrig auffallen, 
daß von ihm befonders ansgefagt wird‘, was nad) V. 22, 
von Allen gilt. Indeſſen geben wir Diefe Zufammenfaffung 
unfres Berfes mit dem 22flen von unfrem Standpuncte 
aus nicht einmal zu; denn fie hängt von der dem Verf. 
eigenthämlichen Anficht ab, daß mit V. 14. die Langmuth 
Gottes. zu Ende gehe, umd der Prophet nun gleich zur 
Borherverfündigung Des Verderbend durch die Affyrer 
weiter ſchreite. Zwar läßt er dieſe Weiffagung, wie Ges 
ſenius und Rec., erft mit V. 17. beginnen, aber er ers 
Härt.fich die Dazwifchen Tiegenden Verfe fo, daß er ben 
Hropheten „zum Wahrzeichen für das Eintreffen dieſes 
Orakels in einer wirklich glänzenden Wendung ein Ereigs 
niß fausti ominis machen läßt, nämlich, daß ein Weib, 
welches jetzt ſchwanger werde, ihren Neugeborenen Imma⸗ 
nuel Gott mit uns nennen werde, zum Andenken an 
die durch Ueberziehung ihres Landes bewirkte Befreiung 
des Landes Suda von den Syrern und Ephraimiten.“ Dem⸗ 


» 
r vn® rıyı 20 18- FR X —— 2 Bot. Pr ) 
. .. v4 tur luca yesa + hasdıe hun 


sach ‚foll es auf Die erſt V. 17 beſtimmt ausgefprochen: 
Weiſſagung der Berheerung des Bandes durch Die Aflyrer 
dem Prophesen ſchon jetzt ankommen, wodurch freilich auch 
Die dazwiſchen liegenden Verſe 15. nud 16. einanderes An; 
ſehn gewinner. Indeſſen würde dieſe Auffaſſung des Zu⸗ 
ſammenhauges des ganzen Stückes bes feſten philologi⸗ 
ſchen Haltes entbehren, und wenigſtens eine ſehr ſtreitige 
vom ſogenannten Geſchmacke abhängige Meitiung bleiben, 
wenn der Verf. nicht unwiderleglich beweiſen könnte, daß 
V. 15. unecht ſey: denn jeue Anficht iſt mit Der Betrach⸗ 
tung dieſes Verſes eng verbunden. Wie ſich dieſes ſchen 
bei dem erſten Einwande gegen die Echtheit des Verſes er⸗ 
geben, fo bemerken wir es noch weiter. 2) „Der Vers 
asticipire den 22ften, und zwar darum ungefchidit, weil, 
warum Sahne, und nicht Milch, gefpeift wird, erſt bort, 
nicht, bier, motiviert fe.” Es bedurfte des Motinirend 
gewiß nicht, warum der Knabe Sahne und nicht Milk 
fpeifen werde; im Segentheil wuͤrde ſich eine ſolche bes 
ſtimmte Erklärung in der bier recht abfichtlich orafelmäßig» 
kurzen Borherfagung wicht einmal gut ausnehmen. Wir 
betrachten unfern Vers nicht ald eine Anticipation Des 
Aſten, fondern laflen in dDiefen den Propheten jenen eben 
gebrauchten Ausdruck nur umſtändlicher wiederholen. 3) 
„8.16, habe ein falſches Dem 22. widerfprechenbed Metiv.” 
In dem Falle nämlich, fegen wir hinzu, wenn man Das 
den Ders beginnenbe"> in der Bedeutung von deun nimmt, 
obhse fich itber nen Zufammenhang der ganzen Stelle gründs 
Eich gu verſtündigen. Rec. hat Die Bedeutung Doch von 
> bereitd zu Hiob 23,10. gegen Herrn D. Hitz ig vertheis 
digt, und findet an unferer Stelle nur eine Beitätigung 
feiner dort entwidelten Behanptung. Um bie Dort geges 
bene Erflärung gu befeitigen, ſieht fih der. Verf. genäthigt, 
yr in der einer anbefangenen Betrachtung gewiß fernlies 
genden Bedeutung „erwaͤhlen“ zu nehmen... Was aber bie 


m mm 








cberfetengiunbMadiegung des Prepheten Jeſaja. 673 


andere. vom Rec: beigebrachte Stelle 2 Samı 1,9, betrifft, 
fo kann ihn der. Verf; von der Unbrauchbarkeit derfelben, 
">.in der Bedeutung von Doc zu erweifen, nicht übers 
zeugen, wenn er einwendet: „Die Stelle gibt zwei, coordi⸗ 
nirte Gründe; warum der .Amaleliter deu Saul töbten 
ſoll: weil Saul, vom Schwindel erfaßt, ſich nicht ſelbſt 
vollends tödten kann, und auf der anderen Seite, weil 
er: eben, ob gwar ſchwer verwundet, noch brim Leben iſt.“ 
Alſo wir ſollen nach 5. überſetzen: tößte mich: Denn mich 
hat Schwinbel’stgriffen: denn mein Leben ift noch ganz in 
mir. So muß auch wirklich Die Heberfegung buchſtäblich 
hebrüifch - Deuttch lauten, und in Diefem Sinne hat Rec 
2 ſeine fefte Bedeutung Denn nie ftreitig gemacht, wenn 
der-Berf. feine Worte a, a. O. noch einmal nachlefen will, 
Es handelt fidy ja nur um die Uebertragung des m in uns 
ſere deutſch⸗ geiftige Berbindungsweife, und da liegt Diefe 
Heberfegung auf der flachen Hand: tödte mich: benn mich 
hat zwar Schwindel ergriffen Cich bin meiner nicht mehr 
mächtig und dem Tode nahe), doch ift das Leben noch ganz 
in mir Cich bebarf alfo, Da ich doch bald erlöft ſeyn möchte, 
deiner Hülfe, den Tod zu finden. So laffen wir nun 
auch an unferer Stelle "2, hebräifch betrachtet, in feiner 
Bedeutung denn uugefährbet, und mollen ja nur, Den 
Sak in feiner Berbinbung dentſch gedacht und ausgedrückt, 
dafür das verfchmähte Doch in der Ueberſetzung gewählt 
haben. Wenn übrigens ber Berf. zugibt, daß er in ber 
Schrift: Begr. der Krit. S. 160. daranf, Daß nicht Doch 
bedeute, zuviel Gewicht gelegt habe, fo können wir ihm 
für. Diefes offene Eingeſtändniß wiederum einräumen, daß 
an unferer Stelle »> wohl audy burd; denn überfegt wer, 
den könne. Dann müflen wir und aber einmal redt Far 
md unbefangen über den Zufammenhang der ganzen 
Stelle verftändigen. Um nämlich > zu Anfange bes 16ten 
Berfes richtig zu faſſen, müflen wir auf das zweite Glied 


674 Dipig’8: Uebel. u. Ausleg. des Propheten: Defaije. 


des vorhergehenden’ ISten Verſes befonders unfere Auf 
merkſamkeit richten. mb faflen wir mit Geſen ins in 
dem Sinne „bis er lernt,“ und halten und zu Diefer Er 
klaͤrung eben burch das parallele rosa im nächften Bere 
berechtigt, wie das auch: Laxx., Saad. und der Chald. 
richtig erkannt haben. Der Prophet will demnach ſagen, 
wenn wir den ganzen Zuſammenhang der Rebe in V. 14. 
15. u. 16, nody einmal zufammenfaflen: bei ber Geburt des 
Kindes wird man Urſache haben, auszarufen: Gott mit 
ans!.infofern, da das Land von. ben Feinden befreit feyn 
wird, Freilich wird ed noch die Folgen der Verbeerung 
tragen, fo daß der mit Bezug auf die glückliche Wendung 
‚ ber Dinge benannte Knabe Immanuel ſich mit ben Speifen 
der Wäfte, Sahne und: Honig, wird begnügen müſſen, 
Doch nur fo lange, bis er verftehen wird, Gutes und Bö⸗ 
ſes ‘von einander zu unterfcheiden, alfo nur wenige Jah—⸗ 
re: denn bis zu der Zeit hin, ehe noch der Knabe ver- 
fiehen wird, das Böſe zn verwerfen und das Gnute zu er 
wählen, wird fchon das Land, vor deffen beiden Königen 
dem Ahas graut, felbit verödet ſeyn, ſo daß alfo in der 
Zwifchenzeit Suda, vor dem gefürchteten Bündniß der Sy 
rer und Ephraimiten, Die es jegt mit Dem mächtigen Affys 
rer zu thun haben, vollkommen ficher, in Ruhe und Fries 
ben neu aufblühen kann. Der Berf. erficht ans biefer 
forgfältigen Entwidelung des Zufammenhanges der aller 
dings nicht leichten Stelle, wie wir „Das Land Des Grauens” 
auch für Die Sregeten, glüclich umfchifft, und es feinen 
rechtmäßigen Herren, Rezin und Pelah, gelaffen haben. 
D. F. W. C. Umbreit. 





Gommentar zu den Viefen an bie Korinther. 675 
BE 2 Se 2 u 2 Ze 

EB a 2. ee "0. 
CEommentur zu ben Briefen bed Paulus an Die: Corin⸗ 
: then. Von BGuſtab Billeoth, Dock und Private 
bon‘ — an ter Univerſ. ns iu. 1689, 


Ein — * — Bedürfniß/ und 


zum GStlilck iſt die Atbeit in ſehr gute Hände gefallen. Bei 


dem jegigen Staude Dev neuteſtamentlichen Eregeſe gehoͤrt 
viel dazu, ummuch nur: billige Anforderungen zu vefriedi⸗ 
gen; aber Hr. B. it mit den nöthigen Kenntniffen «und 
Gaben ausgerüſtet. Bor Allem thut tüchtige Sprachlennts 
niß und. graumutiſch⸗philologiſche Ausbildung nothh, um 
uf dem von Winter U -eingefchlagenen Wege ſortzu⸗ 
gehen, und die beim Ni T. fo ſchwierige philologifche Auf⸗ 
gabe zu köſen; Hr. B. ader iſt in: dieſem Stücke geibt; ges 
nau und ſcharfſichtig. Ein guter exegetiſcher Takt, den 
rechten Sinn zu treffen, fehlt ihm ebenfalls nicht, ned mit 
Klarheit weiß er im Kürze Verwickeltes zu entwirren. Waͤre 
er nur nicht zu oft Der Modeſucht, eregetifche Ercerpte zu 
liefern, gefolgt! Weit beffer hätte er den Sinn der ges 
wöhnlich weitfchweifigen alten Außleger in kurzen eigenen 
Worten mitgetheilt und fo viel Papier gefpart. Biswei⸗ 
len hat er auch feine Unentfchtedenheit hinter die Exrcerpte 
verſteckt, und den Lefer unbefriedigt gelafien. Auch in der - 
Sacherklärung hat er Ref. befriedigt. Er faßt Die apoftos 
liſchen Borftellungen in ihrer gefchichtlichen Beftimmtheit 
auf, und um fo unbefangener, als er nicht in dem unglüds 
lichen, unfre Zeit fo verwirrenden Wahne ftcht, alles, 
was und wie es bie Apoſtel lehren, fey für uns Glaubens 
norm. Er unterfchlidetzwifchen Borftellung und Idee; 
und wenn. er leßtere auch burch bie Dialektit der Kegel’ 


\ 
EB nn. 4 41:04) 0ER DAL TEE — — 


ſchen Schule, der er zu unferm Bedauern zugethan ift, ins 
Licht zu feßen fuchtz fo hat er ſich hierin Doch fehr der 
Mäpigung befliffieng. unbannmeriftehted ja deuunie einer 
anderil Dinlattif:falgt, frei, bas hegel ſche Philofophem 
in ein xudres unzufetzen ¶ Mit durch. eine ſ ſolche Auffaſ⸗ 


ſung des apoſtoliſchen Chriſtenthumẽ lüßt ſich cthir Freiheit 


unſres religiöfen Lebens retten. 

Wir wollen nun von der Auslegung des Vfs. Proben 
geheuzund dabei eine gewiſſe Glaffifisatian.begolgen: . Wir 
haben. den· CommentaunSchritt per Schritt durchgepruüft, 
und alles, wos darin eigenthümlich und chemerons werth 
if baachtet; maſſen Se Bus ee: — (ber 
Amann! eos Be i J age FR, 

Zur —— Genanigteit gehört 9085 
—* bie richtige Behandlung ber Rerttleies und: Dabei 
gnige Ach zugleich,. Sb man der exegetiſchen Dinlektik zur 
Auffaſſung des: Zufammenhangsiund der Denkweiſe mädı- 
tig iſt. Butift.yeg erläutert. 1. Br-3,31.10, 1:3 54 1,4, 18,; 
adv 1:10, 195: wa 1,4 35 01, % 21:11,4,.18, 6, 21: 
Lv ap un .yvovrer üpaozlar: — „das ur, auf weiches 
Miner S. 400. die Bemerkung anwenden zu fönnen glaubt, 
daß Die Griechen oft, wo ſie recht entfdiieden und unbe 
dingt verneinen wollen, un ſetzen, erklärt ſich, wie mich 
dünkt; ganz leicht dadurch, daß man annimmt, Paulus 
wolle den Standpunct vom Geiſte Gottes aus bezeichnen: 
Dens eum, qui non novisset, (ovᷣ yv. wäre, qui won nove- 
rat) pecentum fecit.” Eben fo der Artikel 1,9, 19. 15, 28 
(221 f)5. dav.f. nl, 6, 16; ev I,7,5.5 Das empha- 
tiſche nad. E 7, 11.5 der Gebrauch des Particip. mir’zsivar 
IE, 6,:1% (S. 310)3 .deg Pagtic. aor. Dewsvog. H, 5, 19. 


- Daß etz — ira, 5, 13. bezeichnet nach Dem Berf. nicht 


verfchiedene Faeta, fordern verſchiedene Seiten, Benr: 
theilungen deſſelben Kactums, ramlich Da des Ruͤhmens; 
und dadurch erhält: die Stelle ein ganz aubersd- Lidyt. 





Commentar zu ben Briefen an die Korinther. 877 


Mandımal aber verfällt Hr. B. auf Subtilitäten, z. B. 
in Anfehung des Dafinitivg mit Tod I, 5, 31.5 des dunpro 
IL 2, 1;, welches gu. meinem Beſten heißen foll; des sgrs 
F, 3, 21. Dagegen haf er I, 9,:26. das ws.gu erflären uns 
terinfien. — Lexikaliſche Merkwürdigkeiten ſind und nicht 
viele anfgeftoßen.: Der Verf: Hat mit Mecht die -Erdrtes 
rang der Bedentungen meiftend dem Worterbuche überlaſ⸗ 
fen. 381,13, 29. begweifekt er bie Bedentung alioguin won 
Esl, und gewiß iſt dieß Teine Bedeutung, ſoudern nur im 
gewiſſem Zuſamnienhauge der Sinnz. ineder angegebenen 
Stelle findet diefer aber in der That ſtatt, was Hr: B. mit 
Unrecht zu bezweifeln ſcheint. Eben ſo bezweifelt en: zu L 
14, 30:.bie Bedeutung: zum Beiſpiel von der Formel 
&rdyor, and wohl mit Recht: nur glanbt Ref. nicht, daß 
fievielleicht, fondern: si forte ita.ceciderit, wenn 
fih8-trifft, heißt. Vgl. Stephan. s: v. zuyrdee.: . -- 
‚Seinen guten eregetifchen Kalt hat der Berf. bewiefen 
in ber treffenden Auffaſſung Des Sinnes in folgenden Stel⸗ 
lm: 1,.2, 8. 709 xugıpu vg. ädäng, nicht r. x. Evöofon, 
ſondern ‚Den Urheber der Herrlichkeit. — J. 3, 13.9 nuipe, 
ber Tag des Gericht. -— 1,4, 2.6 Ö& Aoınov xra. erklärt 
derBerf. fo: „Was übrig ift, iſt dieß, daß an Verwaltern ge⸗ 
ſucht wird, daß einer treu erfunden werde. Weil P. im Vor⸗ 
hergehenden das vermeintliche Verdienſt der Lehrer herabge⸗ 
ſetzt hatte, ſo ſagt er nun: was aber noch übrig bleibt, iſt dieß, 
daß ſie wenigſtens nach dem Ruhme der Treue ſtreben 
können.” — I, 5, IL vuvi 2 Eypaya vuiv x. r. A. find ſehr 
guterläutert. Der Bf. nimmt an, P. habeimfrühern Briefe 
bloß Die Worte u} auvavaulyvuvohar m ogvors gefihrieben, 
und das Zaw.rıg Mösipdg draueföusvog fey nur der Com⸗ 
wentar Darüber, das was P. dabeiim Sinne gehabt. — 
L, 8, 3. Byvaoraı und 13, 12; insyvoochyv ift richtig erklärt, 
aber leider auf hegel’fche Weife erläutert. — J. II, 10..if 
das fchwierige dfovsie auf die einfachſte Weife gefaßt. + 


BB erahnen, 


H, 2, 1..6 Avnovuzvos. ald Medium "genommen: ber fid 
betrüben läßt:— IL 6, 1. ovveopoüvres, nicht, wie 
gemöhnlih, ‚Mitarbeiter Gottes ober Ehrifti), for 
dern adiuvantes, in Bezug auf die Thätigkeit des Apoſtels, 
durch welche er dad chriſtliche Leben der Korinther förbert. — 
13;-6,11, bat der Bf. mit Recht die frißfche’fche Erflärung 
zurückgewieſen. — IL 11,.18, surd ıgv udena: „als Indi⸗ 
viduum, nach Dem, ds man als einzelner Menſch iſt; 
nicht bloß: wegen angeborner, zufülliger Vorzüge, ſondern 
auch wegen erworbuer; welche P. ehenfalls niedrig anſchlagt. 
2 Dageganhegt:Nef.. mehr oder weniger: Bedenllich⸗ 
Beit in. Anfehung folgender Erfläruugen. I, 1,2. oow. nüäı 
vos Imınoch. werfteht: der Vf. von allen, die ſich zumChris 
ſtenthume befennen...:Allein:ba H, 1,1. Ttatt tiefer. allge⸗ 
‚meinen Formel. die beſtimmtere ficht: adv zig Kyloıs zö- 
Oıroig ouaev du öAy vi Ayala, fo fragt fich billig; ob jene 
nicht durch dieſe zu. erflüren ſey. — J. 1, 5. ft Aopogmohl 
wicht ganz allgemeinn,‚Lehre des Chriſtenthums, in fofern 
fie. verkundet wird,“ fondern in foferi..fte. von Den Korin⸗ 
thern verkündigt wurde, Tehrgabe, I, 2/4: 2 exodd- 
ei nvsuuaros xal Övvansmg wird erflärt: fo daß ich zeigte 
Cund ihr felber fühlte), wie groß. Die Kraft des heiligen 
Geiftes in den Gläubigen if. .Sollte es nicht beffer von 
einentthatfräftigen Erweife bes Geiſtes zu verſtehen ſeyn? — 
I, 3,12. wird das Fortbauen vom Bf: auf das Praftifche 
befchränftz: warum’ nicht allgemein von der Entwidelung 
der chriftlichen Offenbarung ‚überhaupt? — I, 6, 11. eur 
tıves erflärt der Bf. durch rosoöror, id genus homines. (9) — 
I, 7,:19, N zsgıroun ovdiv darı x. r. A; foll nad) dem Df. 
nicht im Allgemeinen die Werthlofigkeit der Beichneidung 
und Nicdhtbefchneibung im Gegenfage gegen Die Haltung der 
fittlichen Gebote Gottes befagen, fondernnur daß dergleichen 

indifferentfey, wenn es nicht geboten fey, wie im A. T. Allein | 
dann ftände wohl nicht ävreiöv, weil dad Gebot bes Ber 








Commentar zu den Briefen an die Korinther. 679 


ſchneidung nur eines ift und es keines der Nichkbefchneibung 
gibt — In der Stelle I,10,20. f. verftcht der Bf, unter dau- 
uövın böfe Geifter, und erflärt zu Dem Eude 8,4: .örı oudin 
TömAov dv aosuo durch: daß fein Götze inder Welt 
ift, und 10, 19: Susldwiorn borıv 7 Or elömibdurdv ri 
Eotıv (wie.er accentuirt) im entfprechenden Sinne: daß 
es irgend einen (ald Gott zu verehrenden) 
Götzen gibt, ober daß es irgend ein Götzen— 
opfer cd. h. ein Opfer, welches mit Recht ald wirklicyen 
Goötzen geopfert betrachtet wiirde) gibt? Allein er fühlt 
felbft, daß man das Ießtere etwas hart finden werde, und 
gibt zu, daß man auch fchreiben und erflären fünne: Ozs 
eöwAov ti Eorıv* 7 Or elöwAödvrov ri dsrıv: daß ein 
Götze irgend etwas fey oder Daß ein Götzen—⸗ 
opfer irgendetwas ſey. Wenn er aber diefen Sinn 
zuläßt, fo zerflört er felbft Die angenommene Erklärung 
von B. 20; denn wenn ein Goͤtze nichts ift, fo kann er dein 
Dämon feyn. Uebrigens ift nicht nur der Gedanke hart: 
es gebe feine Götzenopfer, fondern auch der: ed gebe keine 
Götzen; denn der dem eldwAov untergelegte Begriff: ein 
als Gott zu verehrender Götze, ift willfürlih; Der ges 
fchichtliche Begriff it: ein Götterbild, das man verehrt; 
diefe Verehrung war ein Factum, deffen Wirklichkeit der 
Apoftel nicht leugnen konnte. Auch Ref. hat ehedem die 
Erklärung des Vfs. befolgt, fie aber aufgegeben, weil er 
fie nicht mehr haltbar findet. — I, 12, L 14, 1, verfteht 
der Df. mit Heidenreich ra nvevuerıxa von der Zun⸗ 
gengabe und 14, 37. zvevuarıxog von einem Zungenreds 
ner. Dazu kann fi Nef. nicht entfchließen; zwar iſt in 
der lebten Stelle zusvunzıxos wirklich aufeinen folchen Red⸗ 
ner zu beziehen, aber nicht der Bedeutung des Wortes, fons 
dern dem Zufammenhange nach: ngopyeng 7 zvevperi- 
xog umfaßt alle Arten von begeifterten Rednern; das erfte 
Wort ift fpeciell, Das zweite generifch, aber dem Giune 


689 zu Billroths ” 


wach auch zu ſpocialiſiren, indem man hinzu denkt: von as 
derer Art. Aber in den andern Stellen iſt gar kein Grund 
zu dieſer Erklärung vorhanden. 12,1. wird allerdings mit 
Dem xeol saw sev. die befonderd Die Jungengabe betreffen: 
de Streitfrage gemeint; allein die Ueberſchätzung biefer 
Gabe bei den Einen und die Berwerfung berfelben bei ben 
Andern hing mit Der Beurtheilung der übrigen zufammen, 
und der Gegenſtand des Apoſtels ift nicht bioß jene, fon 
dern alle zufannmenz; wozu noch kommt, daß die Unord⸗ 
nung, welde die Propheten veranlaßten (14, 19 — 33), 
ben Apoſtel ebenfalls zum Schreiben anfforberte. 14,1. 
nd re avsuvuarına der npopntale, nicht wie eine species 
ber andern, fordern wie dad genus Der species, entgegen⸗ 
geſetzt. — E13, 13. vuri dt ulvar x. c. M. erflärt Hr. B.: 
„demmach ebei fo befchaffenen Umſtänden, weil alle Geis 
flesgaben untergehen — kann vuvl Öb demnach hei 
Ben? —) bleiben (= ovötnore duninrsı B. 8, 06 xurag- 
 yndnoerca) Glaube, Hoffnung, Liebe” Allein bei biefer 

ErHärung fieht man 1) nicht, warum der Liebe, won beren 
Unvergömgfichleit V. 8. allein die Rebe war, ber Glaube 
und die Hoffnung beigegeben werden; 2) ıft V. 12. gar 
nicht mehr von der Bergänglichkeit der Geiſtesgaben oder 
insbefondere der Erfenntniß, fondern von der Unvollkom⸗ 


menheit ber letztern im Gegenſatze bes Dortigen Schauens Die 


Nede, der Apoftel hat alſo auch Feinen Anlaß, den Gedan⸗ 
den Deffen, was unvergänglich fey, zu wiederholen und zus 
fammenzufaffen; 3) mit demfelben Rechte, mit welchen er 
dent Glauben und der Hoffnung die Unvergänglichleit zus 
ſchreiben lönnte (nämlich, wie Hr. B. annimmt, dem In⸗ 
halte nach), hätte er fie auch der yracıs zufchreiben kon⸗ 
nen, welche ja nichts iſt als ein zum Bewußtfeyn geitels 
gerter Glaube, ja fogar ber wahren zgogwntsla; 4) fett 
fonft der Apoſtel (Röm. 8, 24.) die Hoffnung und der Df. 
des Sebrüerbriefes EEL, 1.) den Glauben dem Schauen 





Commentar zu den Wtkfen'un die Korinther. GER 


efitgegen, win: bier V. 12; Das Schauen kai: Spiegel dam 
jenfeitigen guuittelbaren Schanen entyegengeſett wirb'c iſt 
ed mithin nicht: wahrſcheinlich, daß der Apoftel V. I0 fas 
gen will/ fie vieſes Bebin,wo und das unmiftelbare Schauen 
verſagt ſey, feyen: wir an: Haube,. Hoffnung und. Liebe 
angewiefen? "Vas-asitev öb tovzeov %-ayanın beicränft 
der Bf. nach 14,5. auf. ben. praktiſchen Nutzen ber Liebes 
Ref. kann fid, aber kaum entſchließen, eine tiefere Eritis 
rung, die aus dem innern Weſen dev Liebe gefchöpfe iſt, 
aufzugeben. — Bon der Stelle IE, 1,17.) & Bovisvopas, 
xara Gügxa Bovlsdouen, ver‘ Euol- vo val vel'ual re 
od od, nimmt der Vf. die Erflärung der Alten: an, wor⸗ 
nach von einem fräflichen Eigenfinne, das, was man fich 
vorgenommen, ohne Rüdficht anf Die Umſtaände, ſtarr feſt⸗ 
zuhalten, bie Rede ſeyn fol. Allein 13 iſt ein folcher fefter 
Sinn nicht wohl geradezu als fleiſchlich zu tabeln, vielmehr 
fhägen ihn die Menfchen weit mehr, als bie leicht beweg⸗ 
liche Gefügigkeit, und der Apoſtel hätte das Tadeluswer⸗ 
the darin erft Benntlich und geltend machen müffen; 2) will 
er B. 18. $ offenbar über fein nicht Wort halten einen 
Schleier ziehen und feine fonkige Wahrhaftigkeit geltend 
machen, was nicht nöthig wäre, wenn er fid; vorher ein 
Verdienſt Daraus gemadk hätte, eine gegebene Zufige nicht 


zu erfüllen. — HM, 30, 15. zieht der DE mit Wegſtreichung 


des Komma nach Yun das ir Univ zum vorigen aufavo- 
wEung väg alewseg ur, und verficht das folgende ueyu- 
Ivydavor .... zig nspıöscden. Ichen won. dev Ausdeh⸗ 
nung der Wirkſamkeit über Kovinth hiraus, während 
Andere (auch Ref.) es von der Verherrlichung berjels 
ben an Diefem Orte verfichen. Dagegen aber if einzu» 
werben, I) der Pleonasmus Bed iv Univ, ober, ba bie 
fen der Vf. leugnet, des duav; 2) das auknwontuns +6 
xlorcog vᷣucõu paßt eher zu der Verherrlicyung innerhalb 
Korinths, ald zur Ausdehnung ber Wirkſamkeit anders⸗ 


Bi 
IX Pe 7 * | - 0. .. 
682 Mine, I. [) ‘ ‘. 27 236 


mohin, wegu ſich eher die Vorausſetzung: wert. euer Elanbe 
befeftigt: iſt oder dergl. ſchicken würde; 3). ueyaibwriwe 
eig æchioatlov kann ſchwerlich von dieſer Ausdehnung, ſon⸗ 
dern nur von dem wachſenden Ruhme des Apoſtels, als 
Stifters der korinthiſchen,Gemeinde, verſtanden werden. 
(Uebrigens hat der Vf. uns wegen der Heberfeßung des 
saevov Durch Bezirk Unrecht gethan, in dem wir dieſes Wort 
nicht eigenitlich örtlich genommen haben.) — IL 11, 12. er⸗ 
Härt Hr. B. fo, Daß er vorausfeßt, die Cregner des Apo⸗ 
ftels hätten ebenfalls von den Gemeinden Feine Unterftüz 
zung angenommen; allein Damit verträgt fich nicht wohl 
V. 20. 1 Kor.9,12. Wenn er gegen die Ueberfeßung Des Ref. 
einwendet, Daß man dann erwarten würde: ivevoxavya- 
nEde, 2008 I0L, xadas x nusis, fo kann man gegen feine 
Erklärung einwenden, daß der Apoftel gefchrieben haben 
müffe: Iva dv Q xavyarreı evgdi ads Ku aurol. — 
Die Stellen I, 12, 31. 13, 6. II, 2, 5. 7, 8. 8, 11. 10, 8.11, 
21. 23., worüber wir noch Bedenklichkeiten zu äußern hät 
ten, übergeben wir, und bemerken nur noch einige 
Erklärungen, die wir geradezu für falfch halten müſſen, 
wie I, 6, 2, xgırygia: Gerichte, vgl. 8.4.5 14, 24: ldiw- 
eins: unkundig einer fremden Sprade; 2. 37. 
Beziehung der Zvrodel auf B. 34.: xudag 6 vOpog Akysı; 


Menfhentäufchen, nah Gal. 1, 10, 


In der Auffaffung des Gedanfenzufammenhanges hat | 


der Df., wie fchon bei Behandlung der Partikeln bemerkt 
ift, fehr befriedigt. Man vergleiche 3. B. die Anmerkung 
zu I, 4,1.. Auch die Inhaltsanzeigen find fehr gelungen. 
Hingegen fcheint ung, daß mit I, 1, 25. der Abfchnitt nicht 
angehen follte, fondern daß dieſer Vers die vorige Gedan⸗ 
kenreihe fchließt. 

Wir gehen nun zur Sacherflärung über. Dahin zähs 
len wir zuerſt Die eregetifche Berrichtung, die gefchichtlis 


I, 5, 11.: avdoanovg zeldouev: fo kann ich freilich 





Eommentar zu den Mefen⸗ an die Korinther. 683 


chen -Berhältniffe und Beriehungen aufzuklaͤren, wovon die 
Ergebniſſe zum Theil in. der vorangeſchickten Einleitung 
aufgeftellt find,. In dieſem Stüde ift Hr. B. meiſt den Ans 
fichten yon, Ble eh, Baur, Neander gefolgt. Mit ers 
flerem nimmt er eine zwifchen ben befannten Reifen des 
Apoſtels nach Korinth einzufehgltende mittlere Reife an, 
mit welcher, Annahme Ref. „trotz. bey, exegetiſchen Wahrs 
ſcheinlichleit in den betreffenden Stellen des 2. Br., ſich noch 
immer nicht brfrennben kanng. Denn es läßt ſich kaum ein 
Zeitpungt ſinden, wohin dieſe ‚Reife zu, verlegen iſt. Nimmt 
man an, (and. dieß fcheinen, bie Stellen IL 2, 1. 12, 21. zu 
fordern) daß der, Apoftel zum zweiten Male nach Korinth 
kam, als ſchon Die ig 1. Br.:gerügten Zerwürfniffe und Aer⸗ 
gernifle ſtaztfauden, ſokonnte daſelbſt nicht. ſo Davon gefpros 
hen ſeyn, als wenn zum erſten Male davon die Rebe wäre, 
z. B. L II.a er habe von bey, Parteiungen gehört durch 
bie Leute der Ghloe; 11, 18., er. höre, bag ‚Spaltungen 
unten, ihmen ‚fepen, uud zum. Theile glaube. er es; 4,1, 
mgn.höne von Hurerei unter ihnen. Das wahrfcheinlichkte 
wäre, daß der. Apoſtel die Reife von Epheſus aus gemacht 
hätte; alfein in dieſem Falle ;hätten bie Gegner deſſelben 
wohl nicht hinreichende Zeit gehabt, in. Korinth ihr Weſen 
3u treihen.. Setzt man die'Reife in den erſten Aufenthalt 
des Apofteld in Korinth, indem, man annimmt, er habe 
ſich auf Eurze Zeit von da entfernt und fey wiedergefoms 
men, fo verliert die. Annahme alle Bedeutung, und dient 
nicht einmal dazu, die obigen Stellen des 2, Br; zu:erfläs 
ren; denn Damals fonnte der Apoftel wohl noch Feine Vers 
anlaffung zur „Betrübniß” (Au) haben ; auch finden Bleek 
und unſer DE. felbft -Hiefe Annahme nicht wahrfcheinlich,. — 
L 5, 7. erflärt fich der Vf. mit Recht gegen die Meinung 
der meiften Ausleger, daß aus dieſer Stelle auf die Abfaſ⸗ 
ſungszeit Des Briefes zu fchließen ſey. — J, 6, 13. ift Die 
Vorſtellung des Apoſtels ſehr bündig dargeſtellt. Daſſelbe 
gilt von dem er 10, 16., von den oxos — Ton 
Theol, Stud. — 4 


sictog nal Foo dhierog vod'zuglod 11,37. — Sm dir 


Btelle U, 5, ZU Aueoprlav: irobmekd,erktütt der Bf. mit 


echt aͤucsrice nicht geradezu durch⸗ Sündopfer, nimmt es 


über auch nicht füt-&uegrwäde, ſoudern frdet dar in den 


Bedanteni er Hatten als Sünder biehanvelt, die Sihtte 
ber Welt auf ihn gelegt, und urecht Ylerzu die ſchorre As 
merkung: : Wenn wir nun leugnen, daß cheiorlo gerade⸗ 
zu vurch Sündopfet überſetzt werben: kann, fü fon vamrii 
doch keineswegs geleugnet werden, WARERENTS: IM. 
kengnen will, DaB der panlihiferen Verſohnniig skehre die 
Idee eines Opfers, welches ben“ Zorn Gottes verfſohnt, 
jur Grunde liege. Wenn wir auch das Wort Opfer 
nicht urgiren, und die Stellen 1 Kor. 5,7: Eph. 5,2. md 
fogär Röm. 3, 25. ganz wie U, erklären wollen (obgleich 
fich wohl noch manches einwenden ließe): fo drängen doch 
die Stellen vom Zorne Gottes (Rs: 5, 9: + Theff. 1, 10. 
Ephſ. 2, 3.) immer auf jene Borftelung hin. Freilich muf 
man, wenn der Tod Chrifti als ſtelvertretender Opfertod 
betrachtet und dargeftellt werden foll, nicht den [ch Fechten 
"Begriff des Opfers, nach welchen es ein Außerfiched blebt, 
zum Grunde legen, ſondern den wahren Begriff, Auch des 
heiönifchen und jlidifchen Opfers, fefthalten, nad) welchem 
die Dernichtung des lebten Beſttzes (der irdiſchen Güter: 
Früchte, Vieh a. ſ. w.) nur Die äußerliche Darſtellung des 
innern Opfers iſt, d. h. der Vernichtung der SelbRheit, 
die täglich und flündlich flerben ſoll.“ — 

Bortrefflich (mit Ausnahme des eingemifchteit Heges 
lianismus) findet Ref. Die Lehre von der Auferftehung I, 
15. vom Df. behandelt. Er weilt zuvörderſt die Meinung 
berjenigen ab, welche vermuthen, die Bezweifler der Aufer- 
ſtehung in Korinth feyen Sabduzäet oder Epikureer gemes 
fen, und faßt Diefe Zweifel, fo wie bie Widerlegung des Apos 
fteld, ganz vom chriftologifchen oder efchatologtfchen Stands 
puncte des Urchriftenthumes auf. „Der Apoſtel will nicht 
etwa von ber Unfierblichleit des Geiſtes im Allgemeinen 





Gommentar zu. den Briefen au: die Kotinther. 686 


ſprechen, ſondern, felbft überzeugt, daß dis: Miederkunft 
Ehriſti innerhalb eines Menſchenalters bevorſtehe, und zu 
Ueberzengungsgenoſſen vebend / will er einſchürfen, baß:an 
dem dann zu ſtiftendet Meſſiasreiche and: Bde bis bahn 
verſtorbenen Chriſten Theil haben werden; und zwar: busch 
die Auferftehung. ber Todten, die ebenfalls:sin shiefen:bax 
ſtimmten Zeit Ratkfenden wird.” In Bi-3%: findet en’ dieſe 
Wahrheit, daß, wie das Leben der Pflanze ſich ſtets burch 
den Samen ernent, fu. der Geiſt bie Macht hat, ſich ftets 
ein nenes Organ zn ſchaffen. Diefe Macht Yat en: aber 
nicht von fich ſelbſt, ſondern von Gott. (Rurv-Tolgt ein 
Stelle aus Marheineke's Day. $. @09;): „Sa forms 
der Geiſt ſchon Gier auf Erben; wenn ort ins Gottesreich 
eingeht, feine Auferfichaung, indem: er Dixdcbaniteibbiche Lou 
ben verflärende Princip iſt; — eine Auferfichung, weit \ 
die nach dem irdifcheh Tode ſtattfindende fo wenig aufhebt, 
baß fie der Anfang und das Werden derfelben if. — Aber, 
wird man fagen, wird durch foldye Deutung nicht gerade 
das Wefentliche der Yaulinifchen Lehre weggebentet? Keis 
neswegs. Denn, man merfe wohl darauf, Paulus läßt 
nicht, wie die moderne Weltanficht thut, die Auferftehung 
mit dem natürlichen Tode beginnen, fondern mit dein Eins 
tritte des Menfchen in das Reich Chrifti. Diejenigen, wels 
che den ſaͤmmtlichen efchatologifchen VBorftellungen des Paus 
lus ihren Plag nach dem leiblichen Tode anweifen, möch⸗ 
ten, die Sache ganz biftorifch; genommen, mehr fehlen, alg 
wir. Paulus läßt ja, um den prreumatifchen Leib zu ers 
halten, die Lebenden nicht getödtet,; fondern umgefchafs 
fen werden (2. 31) u. f. w.“ — Bon der Sprachen, 
oder ZungensGabe bildet fich der Verfaſſer eine Vor⸗ 
ftellung, welche zugleich den Davon im Berichte der U. 
G. Kap. 2., in der Stelle des Markus 16, 17. und im 
1 Kor. Br. enthaltenen Merkmalen entfpricht, und es iſt 
die einer zweiten Elementarfprache. Wirklich möchte keine 
andere Borftellung dieſes Ieiflen; und fo wunderbar Dies 
45 * e 


686 Billrech s Kommentar z. d. Briefen an d. Korinther. 


felbe tft, fo müßte: man fich wohl dazu entichließen, fie ans 
zunehmen, wenn es unumgänglich nöthig wäre, die Phi 
nomene.biefer Gabt. im 1Kor. Br. und. die in. deu anbern 
Stellen in Einklang zu bringen.! Aber: wie kann. der Bf. 
fich durch die Stelle des: Markus, Die, fie ſey ächt oder 
wicht, dein: veinnurchriſtliches: Gepruͤge trägt, fo ſehr bin- 
den Taffen, und rwie verkennen, daß auch im Berichte der 
Apoſtelgeſchichte ein: Mißverſtäͤndniß obweltet . ..... 
1.3 Was bie Kritik betrifft; fo begnügt ſich der Bf. Damit, 
Die zregetifhen. Bor = imd Nachtbeile der verſchiedenen 
Lesarten in's Licht zu feßen, und: entſcheidet ſich zuweilen 
etwas zu leichtſtanig, aus bloßen innern Gründen. — 

0 Druck sid: Papier machen der Verlagshandlung Eh⸗ 
rez böch: wäre vielleicht etwas — —— zu wün⸗ 
fchen ale ande: 

— eg De de Bette 


I P} 
*9 — ———— 1 
X BIER neun 3 dan s H 
f} » 2* 13252 — v ⸗ 
J — Hindi, ———— u F 34 
man nis 1° L re — 
43 #4 Hiidns > zur) * ., ’ ee ..4 — 
⸗ 
— =», 
f — I LS PA Tec ne Si ee = 
1 .„ .. ’ .. .. ⸗ ..e 
en } y .. gr. 2 — ⸗ . 
* ... G ‘ 1 — 
# fs: N .‘ . v 
Pe ZB ... . . — 
1 14 8 4 
* 
1 
— 
—225 74 
v 
.. 
1 , 
‘ F ’ t 
w 22 “ “te 
- — 
F J ? ‘ 4 
m rt? 2 
’ 2 a 2 er * 
* se 
., 3 = ’ 
! 19 er] } u) 
rn w 
L + 
s . 2 Er - 14 EN 2 
Lo. 
— 
— 16 ⸗ 3 
EEE -_ 17*2 6 e 
# 12) \ ... .n. 17 J Fr 4 
n N * 
+ ' t tr $%:.: 
Be: Is Sum 2 Ya eg ven. sen onen 
‘ . + 8e027 2 a: GR | ti! .s',9-; 3, 


a” SE 








Veberfidten.. 


ne aM Me 


R 


Kerr", 





Literarifche ueberſicht 
ber | — 
Paͤdagogik in ben zwei letzteren Generationen. 


(Borerft von den I760ger Jahren des achtzehnten Jahr⸗ 
hunderts bis in das erſte Decennium des neun⸗ 
zehnten.) 


Von 
D. Schwar z, 
Geheimen Kirchenrathe und Profeſſor zu Heidelberg. 


Vor ungefähr achtzig Jahren fing, nach einem verhee⸗ 
renden Kriege, ein friſch auflebender Geiſt in Deutſchland 
an die Mängel ded Schulweſens thätig einzuſehen; feit 
etwa fechzig Jahren wurde die Betriebfamfeit für Die Zus 
gendbildung in den Dentfchen Staaten allgemein, und es er⸗ 
zeugte fich eine reiche pädagogifche Riteratur ; feitetwa drei⸗ 
‚Big Iahren erfreuen wir uns gleichfam einer neuen Erxrzie⸗ 
hungswelt; und nunmehr fteht dieſe in ihrem ganzen Um⸗ 
fange da mit einer großen Bibliothek, während unfere Nas 
tion anf dieſer Bahn raſch vorwärts fshreitet. 

Dieſe Fortſchritte — ein Lieblingswort des Zeits 
alters — find es wahre Zortfchritte? und inmiefern finb 
fie es? Sind wir auch umbefastgen genug, uns burch eis 
nen gererhten Urtcheilsſoruch Der Nachwelt vorgraifen zu 


690 Literaͤriſche Weberficht 
Dürfen? Wir find ja mit fortgefchritten, alfo iſt unfer 
günftiged Urtheil leicht durch Selbſtgefälligkeit beftochen, 
und wir möchten wohl manchmal wünfchen, die Stimmen 
unferer Nachkommen aus dem Aten oder Sten Gliede mit 
prophetifchem Ohre zu vernehmen. Es gibt da wohl Ah⸗ 
nungen, wahrhafte aber auch täufchende; es gibt Meinun- 
gen, zugeneigte aber auch abgeneigte, weil Die natürliche 
Dppofition die gegenfeitigen Farben hervorruft; es gibt 
Rückſichten, manche zum Anpreifen, manche auch zum Ver: 
werfen; wie foll fih nun ein Beurtheiler gegen alles 
diefes rein erhalten? Gewiß ift dazu das erfte Mittel, 
daß er das Bekenntniß fi ch felbft und dem Leſer ablegt, 
welche jedem ächten Geſchichtſchreiber ziemt, faͤlls er nicht 
bloß Chronitenfchreiber: ſeyn will, und jedem Menſchen: 
fein Auge blidt ganz reif in ven Strom der Begebenhei⸗ 
ten, jedes ſieht durch das mehr oder minder gefärbte 
Glas feiner Zeit. Ganz beſonders laſſe ſich das derjenige 
gefagt feyn, der über den. Gang unferer Erziehung und 
ihrer Literatur urtheilen und.nicht bloß einen Bücherkata⸗ 
log ſchreiben will; wir fagen und das hiermit felbft und 
unfern Leſern. Auch wollen wir dadurch an ein moͤglichſt 
gerechtes Abwägen halten, daß wir einerſeits nicht leug⸗ 
nen, zu dem Beſſeren mitgewirkt, andererſeits nicht in Abs 
rede’ ſtellen, manches ae it. Be zu 
haben. ie 

"Mir beabfichtigen hier eine Ueberſi cht der padagogi⸗ 
ſchen Literatur aus der bezeichneten Periode zu geben: al⸗ 
fo wird man nicht ein vollftändiges Verzeichniß der fo vie⸗ 
len -Schriften, nicht einmal aller der.eigentlichen Bücher 
aus den verfchiedenen Zweigen der Pädagogik. erwarten; 
dafür gibt ed zweckdienliche Kataloge, wie z. B. den -von 
Enslin Selbſt in den Kathedervorträgen tft eine fol- 
che Literaturangabe nur mehr zerftremend, wenn gleich Fris 
tifche Andeutungen. Die Namen und Titel "begleiten, wie 
Berf. dieſes and eiguer Beobachtung. weiß, und darum 





der Pädagogik in den zwei lebteren Generationen. 691 


auch diefe ehemalige Gewohnheit aufgegeben hat. Kommt 
es ja doch nur darauf an, daß jede nene Richtung, der Punct 
ihrer Entwidlung, und die Schriftiteller, durch welche fie 
hauptfächlich‘ erfolgt ift, bemerkt und mit Urtheil aufges, 
faße werde. So will es der Verf. hier haften, indem er 
fein Urtheil der weitern Beurtheilung unbefangener Lefer, 
nicht Zeitmenfchen, eher der Zeit felbfl, untermwirft. 

Mir müffen vorerft an die ber angegebenen‘ vorherge⸗ 
hende Periode mit. wenigen Hindeutungen erinnern. Die 
pädagogifchen Grundfäge von dem großen Franfe und 
feinem halliſchen Waifenhaufe hatten einen überwiegenden 
Einfluß erhalten. Namhafte Berbreiter derfelben wären 
in verfchiebenen Zweigen: Joach. Lange, F. J. Ram 
bad, J. G. Hoffmann, Sarganed, Steinmeg, 
2. a, m.; ihre Zeitreichtebis über Die Mitte des 18ten Jahr⸗ 
hunderts hinaus, Die Schulftrenge ber Humaniften blieb 
mit der Gottesfurcht folcher Schulmänner in ernftem Bun⸗ 
de. Allmählich Iöfetefich beides in foweit, Daß der ſogenann⸗ 
te Humaniſmus eine mehr felbftfländige Schule bildete, 
als deren Borinänner in jener Zeit J. Matth. Gesner 
und 3. Ang. Ernefti genannt werden fünnen; beide 
führten jedoch mehr Bielfeitigfeit in die Gelehrtenfchulen, 
ein. Bon eitter ganz andern Seite und in ganz anderer 
Art waren mittlerweile die Grundfäße ber beiden berühm⸗ 
ten pädagogffchen Engländer Bacon und Eode hereins 
getreten, und was das Sprachenlernen betraf, fo. wurde 
Amos Comenius durch feinen Orbis pietus, fchon früher 
gebraucht, nunmehr befonbers im Privatunterrichte gefeiert. 
Uebrigens war an eigentlich pädagogiſche Behandlung ver 
Schüler noch Faum zu Denken; nur die Sefnitenfchulen hatten 
hierin etwas voraus. Ss fand es in den 60ger Sahren 
des vor. Jahrh. und von der Zeit an erzeugten ſich neue 
Geſtaltungen in dem Unterrichtsweſen und in ben Erzie- 
hungsweiſen. Rouſſeau und Bafedomw waren bie 


neu hereinwirfenden Mächte, Dor Emile des genfer Phi 
ſoſophen wurde bald nad feiner Erfiheinung (1762) das 
Erziehungsbuch der Gebildeteren in Deutfchland, und bas 
Elementarmwert des deſſauer Philanthropiſten wurbe 
als Borläufer einer ganz neuen Bildung eiligft popula⸗ 
rifirt. | 

Hiermit begann es unter den verfchiebenen Elementen 
zu gähren, und es entitand in dem Schulmwefen nach lan⸗ 
ger Stagnation eine allgemeine Bewegung Wie ed bei 


allen Aufwallungen gu geben pflegt, fie fireben immer zu⸗ 


mächft darauf hin, irgend ein vorherrfchendes Element aus⸗ 
zuſcheiden, an welches ſich dann bald die gefonderte Mafle 
. anfest, felten in reinem Kryſtall, und wo je als reines 
Gold? Dem neuen, zum Theile vom Auslande (Rouſſeau) 
‚hereingerufenen Geifte war vor allem die Strenge zuwi⸗ 
der, welche fich gern in der frommen Geftalt des damali⸗ 
gen Pietiſmus ficherte, und fomit wurbe das Treffliche, 
was von wahrhaft chriftlichen Theologen wie Franke 
und Spener zur Körderung des wahren Chriſtenthums 
an die Stelle des theologifchen Gezänkes gefekt worden, 
mißbraucht, mißfannt, mißdeutet. Auf den Kathedern, 
Kanzeln, Schulftühlen erhoben fich unerbanliche Slimpfe, 
und was vielen Lehrern und faft allen Schülern zuwider 
war, und im ganzen Publicum als abgefchmadt empfunden 
wurbe, das mußte in dieſer Gährung zuerſt ausgefloßen 
werden. : Das war denn bie halifche KRopfhängerei, mit 
berfelben die finftere Strenge. Bon allen Seiten ber 
hörte man Stimmen Der Pädagogen, die jene Uebel ver⸗ 
wünfchten, mitunter fehr- befonnener und einſichtsvoller 
. Männer, und ald nun eine fo ſtark fich vernehmen ließ, 
‚wie bie von Baſedow, fo war Der Moment jener Entfcheis 
bung gefommen, und überall fchloß man fich an das neue 
Gebilde an, welches ale Die Menfchenfreumdlichkeit felbft 
erſchien, und deſſen Geſtaltung daher auch ben Nauen 
Philanthropifmus vorzugsweiſe erhielt, ir war aus 





der Pädagogik in Dem zwei letzteren Generationen. 69 


erſt auf Die Ausſcheidũng der ſinſtern Strenge im Unten 
richte Der Sugenb und ſofort in der ganzen Erziehung ges 
richtet, noch aber mit dem Erlernen der alten Sprachen 
nicht entzweit, trat mitunter fogar in ein Bunduniß mit 
dem Humanifmus, der ſich jedoch bald ans biefer Gefel- 
lung, als einer unuatürlichen, zurückzog, womit ex aud) 
jenem keinen geringen Gefallen that. Sp ſtand es in dem 
Quinquennium von etwa 1466 bis #770, 

Da mittlerweile Der Genind Der Deutſchen in unferer 
Mutterfprache in Proſa uub Poeſie wie aus einem trü⸗ 
ben Merre aber in neuer Jugend hervortauchte, und balp 
alte Gemũther ergriff, auch einen freieren Sinn und reineren 
Geſchmackverbreitete, $o wurden Kirchen, Schulen, Kinder, 
finben von dieſen BHiten erheitert, und bas ganze Erzie⸗ 
hung sweſen gewann eine freundlichere Beflalt. Die Lieber 
anferd nuvergeßlichen Gellert wurben von dem an bie 
beliebteſten Kircheulieder, und ferne Fabeln lernten die 
Rinder ſchon won den Muttern; der Verf. erinnert ſich noch 
wohl, wie maucher Knabe fich freute, z. B. die Fabel vom 
Bauern und feinem Sohne, fo recht mit Liebe herfagen zu 
können, sher wie man Draußen fpielende Kleine im Früh⸗ 
linge, wann ber Guckuk rief, Stellen aus der hoffentlich nach 
befanmten Fabel mit Luſtigkeit eigander zurnfen hörte. Wie 
tonnte ſolchen Knaben noch bie Inteintfche Schule gefallen! 
und wie mußten bie Müster nicht einen befferen linterricht 
für fie wünſchen! Da war eg, wie ein Ernefti über „bie 
Kraus Wutterfprache” fpöttelte, und wie bie jenenfer als 
ten Burſche bei dem Poſtwagen, Der Die Neulinge brachte, 
aufpeßten, um die Mutterföhnchen zu begrüßen. Wirk 
lich konnte mau in jener Zeit leicht die Sünglinge heraus⸗ 
phyſiognomiſiren, welche von dem Schulftanbe verfchont 
geblieben waren, und mit ihrem fanften Geſicht unter bie 
Spöster und ihre Degenklingen hereintreten mußten. Das 
war die Zeit, wo der Gegenfaß einer feineren Bildung in 
jenem ‚harten Geſteine Durshhxechen ſollte, währenb unter 


l 


6a: lltenheifhe liebenfiht 
dem Volke noch alles bei dem alten Schlenbrian blieb. Es 
war freilich Fein Feuerguß, und fo wollte es much noch 
nicht auf den Univerſitäten glücken; Denn jene gute, wohl⸗ 
geſittere ‘junge Leute beachten. weber die Kraft eines from: 
men Charakters, noch die Waffen eines. wohlverforgten | 
„Schulfades’” mit; und fo ift es begreiflich, wie ſolche is 
nen geheimen Haß auch gegen jenes firengere Schullernen 
ernährten, wie bie jüngeren Zehrer gerne dem nen erwa⸗ 
v chenden Zeitgeifte huldigten, und das Evangelium dee 
Philaͤnthropiſmus verfündigten und wie Mütter und Väter 
Feine Aufnahme in die Erziehung: nicht eifrig genng herbeis 
wünſchen konnten.Auch das: politifche Leben neigte fich 
dahin. Diefe pädagogifche Richtung ſchlug durch; ſie ſiegte. 
WBaſedow förderte Durch feine ® orftellungan Men 
Schenfreunde 1768 das Publicum auf, und gab vorerft | 
fein’ Elementarbuch heraus, aber das erwartete Ele 
mentarwerkvon Bafedomw erfchienerft 1774 ff. unter 
der reichen-Unterflüßung von Negenten, und ber heilsbe⸗ 
giekigen Aufnahme von dem deutfchen Volke. Gleichzeitig | 
trat esin dem Phil anthropin zu Deffau praktiſch 
n: das Leben. Dahin wurden nun die Söhne geſchickt, und 
nach einigen Jahren — immer weniger, bis auch ſelbſt die 
trefflichen Männer, Schweighäufer, Salzmann ıc., 
die fi dort ald Lehrer einfanden, bie Anſtalt . wicht 
mehr Kalten Ffonnten. Die Bände des Elementarbudhes 
wurden durchfehen, denn fie zu befißen, gehörte zur da⸗ 
maligen Bildung, und in die Bibliothefert geftellt, wo fie 
beſtaubt ftehen blieben; die fauberen Kupfer von Chodo⸗ 
wiedy wurden wohl noch hier-und da ben Kindern zur Beleh⸗ 
rung vorgezeigt, aber fie mußten bald der Unzahl von bun- 
ten Bilderbüchern Plab machen. Diefer baſedow'ſche 
Philanthropifmus war alfo mißglücdt; der rechte Hatte 
ſich noch nicht: in -jenem Decennium von 1770 bis 1780 ges 
ſtalteet. | 
So wie die philanthropiftifche Grundidee, alles Ler⸗ 


der Pädagogik in.den.zwei letztaren Meneraͤtionen. 620 


nen zu erleichtern und bie. Erziehung freunblicher. zu. machen; 
fchon länger her angeregt,. nunmehr. von. mauchen Schrift⸗ 
jtellern und praftifchen Lehrern auch in einigen: Formeß 
entwidele war; fo :hatte fie doch auch Beſorgniſſe erregt, 
und die,bafedow’fche Age Fund neben ihren Bertheidigeg 
auch ihre Gegner. Ein freimüthiger frunzöſiſcher Gelarr 
ter ;. der [chat vorher (1763) gegen. den. Jeſuitifmus durch 
feine. Schrift übaenıdie Nationnlerziehung aufgetrer 
ten war, (Enradeus berla Chalotaisd), ſuchterin 
feinem Berfurh über den: Bindberuntercicht:Cing 
Deutſche überſetzte UTT). das Nachtheilige der baſedow'⸗ 
ſchen Grundſätze zu zeigen, sind hätte wohl eine allge⸗ 
meinere Beachtung verdient. Es fehlte auch nicht an wür⸗ 
digen deutſchen Pädagogen, welche ihre Stimmen, dagegen 
hören ‚ließen; aber vn dem Zeitgeifte (öffentliche. Meinung 
genannt!). überſchrieen wurden, Sp 3. B. ſprach Dee Reca 
tor Schlegel zu Heilhronn in Schulprogrammen 1730 
mit tüchtigen Gruͤnden gegen: jenen Phllanthrnpiiumd; 
Andere: aͤnßerten ihre: Veſorgniſſe über ee en in 
Abficht deu Religton. EN 
Unter Den pädagpgifchen Scheififlaflern,, weiche die | 
rechte Mitte: der Befonnenheit noch während Der anfangen 
den Bewegung : hielten, zeichnen: ſich beſonders zweiaus. 
GE May, Prof. in Leipzig, Die. Kunſt der vers 
nünftigen Kinderzuct a, 2 Bänke (1254 — 1766) 
auf chriſtliche Grundſätze gebaut; der 2te Bd. euthält eine 
Gefchichte. der Erziehung. Alterer Völker. Das; andexe;ift 
von Dem auch in der praftifshen Theslogie rühmlich genaun⸗ 
ten Schriftfieller, 5: P. Miller,. Prof. in Göttingen, 
Grundfäge.einer weifen und chriſtlichen, Ers 
zie hung (2te A. 1771.); dieſe Grundfäße würden Dem 
Zitel, indeſſen rwoch mehr entſprechen, went fie ‚nicht zu 
ſehr von dem Principe der Sentimentalität gefärbt wären, 
welches ſich damals in Deutſchland zu. verbreiten anfing, 
Audere Gelehrte verdienen auch noch. in dieſer Klaſſe ge⸗ 


IE N Oherbeifhe leberſeht 


nahe zu werden, weiche: beſonders ſur Verbofferung ber 
Schulen ſchriebden, wie Büſching, Reſewitz, ey. 
Schloſſer, Dohm, Büſfch m. ꝛc. wi 

MWas nunun war der Fortfchritt im Ganzen bie gegen 
17807 — Die halliſche Kopfhängerei hatte ein Ehde, ber 
finftere Schulſchlendrian mußte überall weichen. Aber das 
gegen: Preigeifterei und Oberflächlichtrit. Run, jebe Kris 
fis fühed auch ihre fchlimmen Symptome mit ſich, die 
Hauptſache war das Gute, das ſich emwickelte, nämlich 
Bas allgemeine Nachdenken über Erziehung; es: gab. nun⸗ 
mehr ein Studium der Paͤdagogil. Die:prattifchen Fort⸗ 
ſchritte waren hiervon die unmittelbaren: Folgen. Es 
wurde in den Gegenſtänden des Unterrichts, in der Mes 
thode, in der Schuleinvrichtung, in bee: Behandtung der 
Kinder‘ n..f. w. ein Fehler. nach dem andern abgeſfchafft 
und. wieled verbeffertz der alte Schlendrian konnte ſich 
nicht mehr halten, and Die Vorurtheile fingen: an zie vers 
ſchwinden, ſelbſt bis auf Die Ammen heraͤbb. 

Von dieſer Zeit an ſetzten bie. Schrifiſteller die zwei Sy» 
ſteme des Humaniſmus und des Philanthropiſmus einmts 
der gegenüber, und manche bildeten dieſe Gegenfähe bis 
in die fohroffiten Ertreme aus. So war cd abe in dem 
wirslidyen Leben nicht. Es begegnet Daher denen, welcht 
fpäterhin in Das Geſchichtliche ber Erziehung und der Schus 
len eingehen‘, nie Tänſchung, von welcher ſich auch in jes 

‚dem andern Zweige ber Gefchichte kaum jemand. frei erhal 
tar hat, dag man das Idealiſirte oder fpäter. erſt Ausge⸗ 
bildete in bie frühere Zeit und oft bis in die Entwicklungs⸗ 
periode ſelbſt zurückträgt. Selbſt Niemeyer iſt ih feiner 
hiſtoriſchen Ueberſicht „ber deutſchen Paͤdagogik ſeit dem 
Anfange des achtzehnten Jahrhunderts”. (Grundſ. der 
Gr; und des Unterr. IE) in dieſen Fehler gerathen, 
und Schreiber dieſes kann ſich bei aller feiner Wachfamkeit 
dagegen in feiner Geſchichte her: Erziehung Cun. S. 

436.) vr. ganz frei. bay erden: Zrantens.unb 


⸗ 








der Pädagogik in den gewi tebterem@inetationen.- 697 


Spene es Grundſatze waren noch nicht die der ſputeren 
halliſchen, oder wie Nemeger fie würdig nennt, „religiös 
fer’? Anbere aber fle unwürbig- nennen, „pietifkifchen” 
Schule. Neemeyer ſondert ſie in die der ‚Humaniſten, 
Philaunthropen, Eklektiker, und fügt hinzu: „Schwerlich 
wieb man einem für Padagogik wichrigen Mann nentien 
ksnnen, buidenm man zweifelhaft dleiben könnte, aus wel⸗ 
cher Son dieſen Schulen er aAusgegaͤngen ſey, oder milder 
er wenlgſteus vorzüglich angehsrt Habe 7% -Diefe beiden Letz⸗ 
teren Beſtimmungen ſagen indeß, logiſch ſchärfer gehonts 
mer, nichts anders, als daß: fie ſaͤmmtlich ih die Klaſſe 
der Eklekliler gehören. Dein ausgegangen aus irgenv 
einer Schule iſt Ja. jeder, er mag ihr num treu geblieben 
feyn oder nicht, auch iſt fein ‚in der Pabagbgik wichtigen 
Mann” je der Schule, in weldyer er gebildet worden, gany 
treui gebließeitz vorzugsweife Aber angehöft der Finen odes 
der andern hat ebenfalls. jeder, und das ganz nabflelich, 
weil der Stifrer einer Schule immer irgend eine Ider hut; 
bie ihren Werth. behauptet, aber auch zugleich etwas, Bis 
perſönlich, temporell, local beſchränkt if, und fich als oft 
ſchlechte Zuthat dem Guten der Sache anhängt; die Mar 
nier ves Meiſters wird der tüchtige Schiller fallen laſſen, 
aus ſeinem Styl aber das Allgemeine der Geſetzlichkeit ſich 
aneignen. So hat es ſich ſeit alter Zeit mit den Schulen der 
Philoſophen und ver Kunſtler verhalten; anders iſt es uch 
nicht mit den Schulen der Pädagogen. Wenn daher eier 
der wichtigfien Pädagogen ſich felhft als einen Eklektiker 
hinftellt, ſo liegt in diefer Befcheidenheit zugleich fein: Lob, 
und wir flimmen ganz In das folgende Urtheil R.ein: „Eee 
titer gab es immer. Denn es gab zu jeder Zeit Münner, 
die das Nullius iurare in verba magistri al& das befte Theil 
erwählten. Am Abende des letzten Jahrhunderts ft unſtrei⸗ 
fig diefe Schule, ‚wenn mau fie Schule nennen faun” 
ifie iſt eigentlich die freie Bildung) „Die ſtärkſte geworben! 
Denn die gelungenen und mißlungmen Beftrebangen der 


GB... Lizexaͤriſche Ucherſicht.. 


Vorzeit führten zu Reſultaten,welche nun; auf ficheren 
Erfahrungen, nicht mehr auf bloßen Theor ieen 
a priori beruhen, .bei denen vorher fo oft der: wirk liche 
Menſch, und. die Welt wie. fe iſt, vergeſſen ward.” Nur 
fünnen wir Das, daß jene freie. Bildung in jenex neuen 
Zeit „bie. ftärfite, geworden,” nicht ſo ganz unterſchreiben. 
She gehörten: allerdings ehedem die wichtigen · Männer 
gu, un jſt ſeit jener lebenyolleren Zeit, in der Pädagogil 
die Zahl der Erziehungslehrer ſtärker geworden, und hier⸗ 
mit auch Die freiere Bildung häufiger vor die Augen getre⸗ 
ten. Wir urtheilen fchon unrichtig, wenn wir.jene ‚bedew 
tenberen Pãdagogen a u.8 der frankiſchen Schule, Pan ge, 
F. J.Rambach Sarganed als dieſer Schule ſo anges 
hörig;.erflären wollten, daß ſie nicht auch ihren: Eklekticiſ⸗ 
mus gehabt. hätten. -welchengu: zeigen: nicht ‚Ichwer- fallen 
dürfte. „Bei dan andern dort benannten iſt er. each iqugens 
falliger. Wo iſt alſo noch .ein, wichtiger Pädagoge. unter 
denen, die, ſich der Grundidee der „‚seligiüfen” Erziehung 
zugeſagt, der nicht zugleich feine, freie Anſicht,d. ‚1. feinen 
Eklekticiſmus behanptet, hätte? - Offenkundiger iſt es noch 
bei der ſogenannten humaniſtiſchen Schule. Alle namhaf⸗ 
ten Pädagogen, die man derſelhen zugeſellt, ſelbſt die ber 
ſtricten Opſervanz,“ wie ſie unſer Niemeyer votz denen „ber 
gemäßigteren Grundſätze“ abſcheidet, find ekleltiſcher Art, 
und, ſchon ihrem Studium nach, welches belanntlich nicht 
zum iurare in verba magistri ſondern eher zum Aufſtellen 
einer eignen Fahne gegen denſelben führt... Die Philanthro⸗ 
peu find noch mehr ihrer Natur nach Efieftifer, denn fie 
wollen gar nichts Bindendes, Pie Bildung fol ganz frei 
gemacht werben, — ‚bis zur Emancipation der Schulfuas 
beu! Wie fehr verfchieden find die Erziehungsfofteng von 
Baſedow, Selzmann, Peſtalozzi, Fichte n. ſw. 
.. Nein; ſolche Abtheilungen, wie die angeführte in die 
frantiſche, Cpietiftifche),, humaniſtiſche, philanthropißiſche 
Schule, ſtehen nur wie Bibliothekſchränke da, und das 


J 


Der Pädagogik in den zwei lehteren Generationen. 699 


kaum; im wirklichen Reben laſſen fich die Pädagogen nicht 
fo unterfcheiden. Allenfalls mag man Die pedantifchen vor 
den freifinnigen, d. i, Die Nachtreter und Nachbeter Yon 
den Selbſtſtändigen unterfcheiden; da ed Diefe letzteren 
aber nur find, wovon hier bie Rede feyn kann, fo könn⸗ 
ten wir fie alle Elettifer nennen. Denn, wie gefagt, jeder 
it ein Schüler von Andern, und ift er ein: füchtiger, ſo 
bifdet er das, was er von dem Lehrer aufgenommen hat, 
in feinem Geifte aus; jeder auch, der mit geiftiger Kraft 
feine Lehre ausbildet, fieht- fi um, wo er etwas auch . 
von andern Lehrern lernen kann, oder was fich ihm irgend 
zur Prüfung Darbietet, um fo überall das Beſte zn behal⸗ 
ten, und hiernadh feine freie Bildung völlig zu gewinnen. 
Solches Auswählen ift der echte Eklekticiſmus, der zur 
Erfenntniß der Wahrheit führt, und insbefondere dem Päs 
Dagogen ziemt. Es gab freilich: in den 90ger Jahren Kans 
tianer, Fichtianer ꝛc. ıc., welche e8 nicht ertragen. mochten, 
wenn ein denkender Mann nicht zur Fahne ihrer Schule 
ſchwur, und ihn dann gerne durch ben Kamen. eines Es 
lektikers auf Dem Gebiete der Philoſophie in Verruf brach⸗ 
ten, allein ſolche Mißdeutungen eines Wortes, welches 
denjenigen freien Philofophen bezeichnet, Der fich auch 
nicht einmal durch ein mächtiges Syftem eines andern Men⸗ 
fhensGeiftes Inechten laßt, können nicht lange beftehen.. 

Wir kommen nad. diefer Epifode auf unſern hiſtori⸗ 
fchen Gegenftand zurück, von welchem wir jedoch dabardı 
eigentlich nicht abgelommen'find. Denn wir haben gefes 
ben, daß fich die Pädagogen jener Zeit. nicht unter zwei 
oder drei Fahnen fammelten, um gegen einander zu Kelbe 
zu ziehen, fondern daß jeber für fi ftand, und bie fidh 
zu einander gefellten, darum doch nicht alle mit einander 
theilten... Frante, Lange und Rawbach waren ftrenge 
Humaniften, der erftere in feiner Waiſenhausſchule, der 
‚weite, wenn auch weniger durch feine Iateinifchen Collo- 

quia für Heine Knaben, * deſto mehr durch En gries 

ee Stud, Jahrg. 1884 


MD =... Mtenärifche Meberfiht. 


hifche, fo wie ber dritte Durch feine regelfeſte, wohl be 
währte läteinifche Grammatil. Die Humaniſten Geßner 
und Ernefti waren keine Feinde Der Realkenntniſſe, bie 
Iſagoge des erfteren und die fundamenta doctrinae soli- 
dioris von letzterem ‚wurden Schulbüdher, welche in bie 
Gymuaſien jene Wiffenfchaften einzuführen fuchten, bie 
den Philanthropiften dad liebte waren. Selbſt Bafedow 
hielt ſo viel auf die Verbindung dieſer Kenntniſſe mit ber 
lateinischen Spradhe, daß in diefer Sprache in feinem Phi 
lanthropin zu Deflau vieles gelehrt wurbe, und fogar feine 


Kochter in der Inteinifchen Sprache auftrat. Auch war | 


feinen Anhängern die lateiniſche Ueberſetzung feines Ele 
mentarwerfs von Mangelsdorfin diefer Hinficht wil; 
tommen. Was war: e8 denn alfo, wogegen die Philan⸗ 
thropiften jener Periode ihre Kraft aufboten, und was 
war «8, das zu befämpfen fie vereinigt erfcheinen? Es 
waren damals wicht die. alten Sprachen, fondern bie 
bisherige Methede, wie fie gelehrt wurden; es war aud 
acht der. Grundſatz, bie’ Gelehrtenſchulen den wiſſenſchaft⸗ 


döchen Kenntniſſen zu verſchließen, denn ein folder Grunds 


as war. von feinem der wichtigen Schulmänner jener Zeit 


aufgeſtellt, vielmehr von den wichtigften Humaniſten, wie 
vorhin bemerkt, felbft praftifch verwerfen worben; fon, 


dern der Streit, der ftch darüber Damals. ernenerte — zu 
den Breiten Rabichs und Am. Comenius hatte ſchon einmal 
dießer Krieg Deutschland durchzogen — betraf wur Die Art 
und W eife, wie die Realien mit.bem Erlernen der alten 
Sprechen zu: verbinden ſeyen, und daruber waren Die Mei⸗ 
wungen fo getheilt, daß die Scheidung in zwei Parteien 
och. wicht deutlich erſchien. Sie hatte indeflen begonnen. 
Auch war ed nicht Die Frömmigkeit des Chriſtenthums, was 


Baſedow und feine Anhänger: bekämpften, oder was einem 
frommen Theolagen Wie Mickefli,: was Den halläindifchen 
Hamaniften, was üherhauptiden gelehrten Schulmämern 


jener Zeit. zuwider fen Banute,, ſondern tie früher Phi⸗ 











der Pädagogik im den zwei lehteren Generationen. 701 


Lanthropen traten mit ihrem lautrufenden Führer Anfangs. 
ur gegen die Art und Weife auf, wie bis dahin bie 
Jugend in Dem Chriſtenthum unterrichtet yoorden, und 
fauben eine Verbeſſerung nöthig. Nur hierin vereinigten 
fie fih, aber aud) mit. ihnen manche Humaniſten (gewiſſer⸗ 
maßen Ernefti felbfl), und nun gingen fie in ihren Vor⸗ 
frhlögen jeder feinen ‚eignen Weg. Indeſſen in biefem 
Punete wurde eine en in * Parteien nunmehr 
yollfiommen: -- 

Es mußte aſſe o — — bereinwirten, wenn 
die übrigens verſchiedenartigen Elemente in biefe zwei 
Maflen.songlomeyiren. follten, und das fonnte nur burdh 
Das Ganze in Dem damaligen beutishen Culturſtande kom⸗ 
men, durch Das, was man zleichſam als eine geheime 
Macht mit dem Worte Zeitgeift au bezeichnen pflegt. Faf⸗ 
fen wir Die Erfcheinungen deſſelben in dem Jegten Viertel 
Des nahtzehuten Jahrhuuderts auf, fo wird und auch jene 
Macht nicht werborgen bleiben, weldse als ſolcher Geiſt 
das Einzelne, fo auch in. der Erziehung der Jugend leitete, 
und gerabe in diefer Wirkſamkeit deutlicher hervorbrach 
Es war Diefe Macht eben Das Princip, welches dem Jahr⸗ 
hundert in feinem Hinſcheiden Den Namen bes aufgellärten 
ober des philofophifchen wie einen Ehrennamen erworben. 
Die beutfche Nation, bildſam mie, fie iſt, nimmt bebanntlich 
gerne von bem Auslande an, was nur ihrem Bildungs⸗ 
triebe ‚entgegen kommt, nnd nimt es mit Wärme in ihr 
ven fruchtbaren Hoden auf, fo daß es ſich nicht. etwa in 
ben Bezirk des Gelehrtenſtandes perſchließt, ſondern als⸗ 
bald allen Volksklaſſen als Gemeingut offenſteht und dar⸗ 
geboten wird. So war bie Freigeiſterei und der Unglaube 
yon den englifchen Deiften und ben framgöfiichen — 
( Atheiſten? wenn das Wort nicht zu hart wäre,) eben: fo 
gaſtfreundlich aufgenommen worden, als die Padagogif 
von Lade und Rouſſeau. Doch muß man dem deutſchen 
Volle um Ruhme nachſagen, daß es nur die Ietere bei 

a8* 


702 Biterärifche Ueberficht 


uns heimiſch werben ließ, einen Hobbefius und Voltaire 
und Diderot ıc. ıc. zwar einlud, um fiei ale ‚große Geiſter 
zu hören, aber ſich nie mit einem Systäme de la nature be⸗ 
freunden fonnte. Hüter denjenigen Deutſchen nun, weldye 
mit Iebhafterer Kraft in der Geiſtesbildung vorbrangen, 
gab es einen nicht anbebentenden Theil, welcher fich jener 
Bewegung zuneigte. Denn fo: vieles war in ber bisherigen 
Cultur der Wiffenfchaften und des Geſchmacks bei den 
Deutfchen ein fchlechter Schlendrian geworden , und ein 
Streben zur Berbefferung regte fich allgemein, da ergrif- 
fen denn viele, wie es zu gehen pflegt, das Leichtere und 
Därgebotene an, ftatt daß fie aus dem Grunde der eignen 
Tüchtigfeit mit Anftrengung das Beflere‘ erarbeitet hätten, 
um es naturgemäß erwachfen zu laſſen. ‘So ift e& bei dem 
Menfchen. So war es auch bei und, und ift ed nicht noch 
fo, wenn wir die bethörte Tugend mit ihren bethörenden 
Führern den Srrlichtern von Freiheit nachlaufen fehen? Es 
ift wie jene Metaftafe, wenn fich die Thätigfeit, die im 
Geifte ihre Werkftätte haben fol, in die Organe der Leis 
beönahrung wirft. Auf diefe Art-ift es zu erflären, Daß 
es viele in dem Lehrftande gab, welche in der Bildung 
alles Hergebrachte ungünftig, alles Neue günftig anfahen, 
und ein-neues Zeitalter fchnell herbeirufen wollten. Gie 
waren ber früheren Strenge und dem Schulſtaube gram, 
fie fühlten einen geheimen WiderWwillen gegen jene ernftes 
ren Studien, fie wurden von Mitleid bewegt, wenn fie 
an dem geplagten Knaben bei feiner Grammatik Thränen 
im Aüge bemerften, ober ihn angftvol unter feinem Büs 
cherriemen zur Schule wandern fahen, fie felbft athmeten 
freier‘, genoffen, wie fie meinten, Lebenöfpeife aus reineren 
Lüften, und riefen fich wohlgemuth einander zu: „das 
muß anders werden! der armen Jugend müſſen wir hels 
fen, das Bolt müffen wir aufllären!?” — Solche begeis 
ſterte Ausrufungen in Schriften jener Zeit könnten wir 
wohl gebrudt vorzeigen. — So weit mochte es noch gehen. 





der Pädagogik in den zwei letzteren Generationen. 03 


Aber wenn man nun weiter rief: „Rieder mit allem Alten! 
alles non Grund aus neugebaut !”” — fo wurde Die heilige 
Sache der Aufflärung und felbft dieſes unfer ſchönes Wort 
entweiht. O Deutfche, warum verfennet.ihr. denn fo. leicht 
Euere treffliche Grundkraft, unfern feflgewurzelten Baum 
der ächten Bildung? Sehet auf ihn, and aller Radicaliſ⸗ 
mus muß Euch fammt feinem fremden Namen widrig ſeyn! 
Sobald nun einmal das Niederreißen die Lofung gewors 
ben. war, fo wurbe ein Gemeingeift erzeugt, welcher den 
großen Haufen der Zeitmenfchen verband, und welchem 
fih auch manche der edlen Geifter zufagten, die.nur das 
Bellerwerden im Auge hatten, und bei weniger Kenntniß 
des menfchlichen Herzens von einem goldnen Zeitalter 
träumten; begreiflicher Weife waren die Pädagogen, mie 
von jeher, am erften ſolche Ideologen. Die Ruhe nach 
dem fiebenjährigen Kriege, das frifche Aufleben des Han⸗ 
dels und Wandels, das Wohlgefühl eines wachfenben 
MWohlftandes, alles dad und noch, manches Andere erheis 
terte die Gemüther, und ließ ung in eine ganz nahe, ganz 
herrliche Zukunft fchauen; Uns fagen wir; denn Schreiber 
diefes theilte nämlic; in den 8Oger Jahren Des fogenann- 
ten philofophifchen Sahrhunderts dieſes damalige Grmeins 
gefühl in Deutfchland. 

Auf der andern Seite erhoben ſich aber auch die 
Bedenklichkeiten. Manchen gab es in dem Gelechrtens 
ftande, und unter den übrigen Gebildeten, dem nicht alle 
Neuerungen gefielen, und welder aus Gründen. das 
gute Alte rühmte und es feithalten wollte. Der größte 
Theil unſers treuen Volkes fühlte das in feinem from⸗ 
men Gemeinfinn mit, wurde aber bald von. Der einen 
bald von der andern Partei bewegt. Diefe nun traten 
immer ſtärker und immer fchroffer gegen einander über; 
ed waren die Paläologen und Neologen wie in der Kirche 
fo in der Schule und in der Erziehung der Kinder. Hier⸗ 
mit alfo fchieben fich in ber Krifis die beiden Parteien auch 


—_ 


704 Literaͤriſche Ueberſicht 


in ber Padagogi and. Nicht war das ein Streit bes Pie⸗ 
tiſmus, Humanifeius, Philanthropifmus, fonbern der 
Vorliebe für das Neue gegen bie Vorliebe für Das Alte. 
Natürlich befeeite dieſe Iegtere mehr die Altgläubigen unter 
ven. Ehriften amd Die. grammatifch firengen unter den Hs 
maniſten als bie Philanthropiſten, in welchen Dagegen bie 
Vorliebe zum Neuen eine Überwältigenpe Herrfchaft ger 
winnen mußte; allen ınan würde. z. B. einen Balz» 
mann fehe unrichtig-beurtheilen, wein man ihn jenen 
Nruerern zugeſellen wollte, welche die chriſtliche Frömmig⸗ 
deit in einen Deiſmus auszuklären ſtreben, und ſo waren 
z. Bi: Humaniſten wie Wyttenbach and Heyne gewiß 
ernftlich fiir chriſtliche Bildung befliffen, und Lesterer, ber 
Freund Herderd, war unter und Deutfchen, bei feinem 
großen Einfluß auf bie Lehrer in den Gelehrtenfchulen, 
auch darauf bedacht, Das Gute, welches der fogenannte 
Philanthropiſmus darbot, mit ber Haffifchen Bildung zu 
vereinigen. Wir-müffen Daher wiederholen, daß jene Ge⸗ 
genfüge unter Den oben Angegebenen Namen nicht in der 
Sefchichte der Padagogik als ſolche vorfommen, ſondern 
vielmehr ‘als die von und nachgewieſenen, namlich als 

ber Anhänger an das Alte und der Befoörderer Des Reuen. 
Diefe Parteiung RADEON ſich in dem DE UNIEM vor 1780 
bis 1790, 

Daß es bei Spaltungen ſchroffe Spitzen gibt, briugt 
die Natur mit ſich, und ſo fehlte es denn auch damals nicht 
an ſolchen, die man jetzt Ultra's zu nennen pflegt. Der 
berühmte Campe ſprach den großen Sinnſprtuch aus, 
daß der Erfinder des Spinnrads mehr werth ſey, als der 
Dichter der Ilias; und wie Schreiber dieſes in der Ge⸗ 
gend von Braunſchweig, wo Campe damals wohnte, von 
Befannten von ihm felbft gehört hat, feßte er auch ben 
Erfinder der braunſchweiger Mumme über den Homer. 
Auch auf der andern Seite hatte es mancher ald Ultra bie in 
Die Spitze getrieben. Doc, hat es wohl -Teiner dem berühm⸗ 








der Padagogik in den zwei loßteren Generationen. 705 


ten Lehrer Fifch er.an der Thomasſchule zu Reipyig zuvorge⸗ 
than, welcher noch dis:in die Zeiten der Philanthropiſten 
lebte, aber fehon zu der Zeit, wie feine Schüler die Schriften 
don Gellert und Rabener laſen, diefe Schüler drutſche 


DiarePriihalt, und alles was nicht griechiſch und Iateb- 


niſch war, ale Eur —— ſtreug — ver⸗ 
— re — 

Wenn wir die Gegenfäge: bis auf. einen ätgemeinen 
zurädführen, fo ift. Bhefev "Ten anderer, alo der der. Ruhe 
und Bewegiig. Trenut man beides; fo haben wer. dort 
das Feſthalren, welches in fich ſelbib vermodern muß, und 
hier ein Fortfließen worin alles untergehen müßte. Die⸗ 
jenigen „Welche innein Mittelaltet, öder wer weiß in wel⸗ 
den veralteten Zuſtand zuruckziehen möchten ; ſind in ei⸗ 
nem dedauernswertheii Wahne, der zugleich feine bela⸗ 
henswerthe Seiterhat. Die Männer der Bewegung, und 
fomip auch Die Jünger der Propaganda, würben, went 
es (er bitterböfen Donquichoterei je gelingen Tönnte, am 
erſten ſelbſt von ihrem Strome verfchlungen werben, und 
ihr Treiben ift ebeitfo Tächerlich als betrübt. Gehört ben 
sicht zn allem Wachsthume die Fortentwicklung bes Blei⸗ 
benden? In ruhiger Bewegung-fohreitet Die Bildung vor⸗ 
wärts und was ſich in ihr entwickelt iſt der Keim, und aus 
dieſem die beharrliche Koaft. Die Menſchheit trägt Ewiges 
in ſich, dieſes Fol im Zeſtenverlaufe zur Ausgeburt gelangen: 
Wer ſich dem Zeitgeiſt ergibt, erkennt das nicht, und fo 
war es Damals bei Dem großen Haufen, weldjer die Wäs 
dagogik als Sache der Mode und der Zeit betrieb. Dies 
jenigen Erziehungsmänner, welche fich möglichft unbefatts 


den hielten, wirrben zwar von den Partiſanen der andern 


jurücdgebrängt, inbefien verhaliten doch nicht ihre Stims 
men. Das waren fchon früher J. G. H. Feder (neuer 
Emile 1768 — 74.), etwas fpäter Rapp, ein vorzüglicher 
Schuimann unter den Humanfften, auch Kun? und Meie⸗ 
rott o; nnd von der. andern Seite Reſe witz (Erziehung 


N 


706 2: Ateraͤriſche Ueberficht 


dea Burgers zum Gebrauche des geſunden Verſtandes und 
zur gemeinen Geſchäftigkeit 173, und Eh ler 8 Cüber Schu⸗ 
len und; in dem Reviſionswerke), nebſt einigen andern, die 
anıdiefer freilich ettwas anmaßenden Unternehmung von 
Campe Theil nahmen, vornehmlich auch Salzmann in 
feinen Erziehungsſchriftan (ſeit den Soger Jahren); außer⸗ 
dem nicht wenige Lehrer, die theoretiſch und noch mehrere, 
Die. praktiſch die richtige Mitte, durch ihren- guten Tact 
geleitet, fo ziemlich zu treffen wußten..: 

Bei weiten die meiften Bildungsmänner in Deniſch⸗ 
land ſtanden in der. Mitte zwiſchen jenen Parteien. Große 
Namen wieder eines Leſſing laſſen ſich hier aufführen, 
.. welcher ſelbſt in elaſſiſcher Bildung angeſtrengt, da ſein 
Schulrector diefem vorzüglichen Schüler boppeltes Futter, 
wie er fchrieb, geben mußte, Meiſter und. Deufter in 
der deutſchen Sprache und Bildung. wurde, ‚und gewiß 
Feiner jener fogenannten Schulen huldigte, am-wenigften 
der philanthropiftifchen. Ihnen zunächſt Fönnen wir einen 
Herder feßen, der noch in der deutfchen Nationalbils 
dung feinem leicht nachfteht, und fchon in jener Periode 
auch die Berbefferung ber Gelehrtenfchulen ind Auge faßte 
Bon Göthe und Schiller reden wir in der folgenden 
— — 

Ein Hauptwerk für den Philanthropiſmus war: 10 
gemeine Revifion des:gefammten Schul- und 
Erziehungsweſens von einer Gefellfchaft 
praftifcher@rzicher. Herausgegebenvon’.h. 
Campe, Anh. Deff. Erziehungsrath, in 15 Bän⸗ 
den (800) 1785 — 91, in welchem zwar, wie fchon ber 
Name des Herausgebers fagt, der hier gleichfam die No⸗ 
tabeln zufammenberief, eine neue Aera eingeführt, und . 
der biöherigen ein gänzliches Ende gemacht werden 
follte, aber die meiften Mitarbeiter ſolchen Dünkel felbft 
zurechtwiefen, und Altes mit Neuem verbeffernd verban- 
ben, fo daß noch immer der Pädagoge und Schulmanı 





der Pädagogik in den zwei letzteren Gonerationen. 707 


vieles aus dieſem Werke, dem zugleich eine Ueberfehung 
von Locke und Rouſſeaus Emile eingefügt iſt, benutzen 
kann. Campe, Stuve, Bahrdt, Trapp, -Bils 
lanme, Funk, F. Gedike, Ehlers, Büſch, Def 
Crome, n. A. waren Mitarbeiter. Unter ben Neuerern 
ſtand der Herausgeber oben an, dann eroffnete Bahrdt, 
der bekaunte, das Werk durch eine Abhandlung. über 
den Zweck der Erziehung; hierauf folgte ‚eine-von 
Campe über Die Erforderniffe einer guten Er⸗ 
jiehung.won Seiten der Eltern vor und. mad 
ber Gchurt des Kindes; dann gab Stupe bie als 
gemeinften Grundſätze der Erziehung an,.her 
geleitet aus: einer. richtigen () Kenntniß des 
Menfhen in Rüdfiht auf ſeine Bellimmung - 
@),. feine :förperlihe,und geiflige Natur uud 
deren innigfte. Verbindung, .feine Fähigkeit 
zur Glüdfeligkeit und feine Befimmung(d; 
hierauf ſchloß mit allgemeinen Grundfägen der 
förperlihen Erziehung. von.demfelben Berf. dieſer 
erite Band. Die folgenden Bände behandelten diefes und 
jened Speciellere. Man darf nur diefe hier aufgezeichnes 
ten Titel anfehen, um die Tendenz des ganzen Werks ken⸗ 
nen zu lernen; liefet man aber Diefe Abhandlungen ſelbſt, 
fo erfennt man auch bald das Oberflächliche derſelben, und 
insbefondere die Unkunde der menfchlichen und. beftinmter 
der Eindlichen. Natur. Schon: der: legtere. weitfchweifige 
Titel laßt das Ungrüsbliche erbliden, wo fogar unlogifch 
zum zweiten Male die Beitimmung des Menfchen neben 
feine Glückſeligkeit gefebt wird, da Doch in ber Abhand⸗ 
lung des Breiteren gejagt wird, daß fie in nichts anderen, 
als in der Glüdfeligfeit beftehe. Dieſe wird denn, wie 
befannt, erflärt als „ein Zuftand von verhältnigmäßiger ©) 
Ausbildung und Vervollkommnung der Anlagen und Kräfte 
unferer Natur (alſo auch der.thierifchen®), und Die übers 
einftimmende Befriedigung unferer natürlichen: Triebe; 


708 Vvieebartſche nedericht -i- 


denn hletaus erwächfet:unfere Volllommenheit, und das 
Anſchauen eigner Bolllommenheit macht Vergnügen, ift ans 
genehm, wird -Glädfeliglät.’? Sie! und.fo.ift alles .aufe 
Befte begriffen. Das war denn die Begründung der neuen 
Erziehungsweisheit nicht ſowehl von einer folchen einzel 
nen, Öffentlichen: Stimme als von dem. Zeitgeifte vorge 
dracht. .. Wenn man. nun etwa einem Schüler jener nenen 
Hüdagegitbie Prufungsfrage vorgelegt Hatte: Wie unters 
ſcheided ſich die Erziehung: bei uns / den Sultibirten, vonder 
Her vera Wilden e ſo konnte er nicht richtißeriantworten als: 
die Wilden. lernen bie Befrkebig nagihrernatürtichen Triebe 
vonlder Naturiiwir aber lehren: ſis ſelbſt unſere Kinder. 
Bon boeſſeren Gehcaͤlte ſind die Abhandlungen von: Vib 
hauure: Allgemeine Theorie, wie gute Trüebe 
Ann Feartig keiten durch Die Ergiehung:erwedt, 
gieftbrtt und gelenkt werden müſſen, and moch 
kinige: audere, welche Mittel gegen: Unarten angeben, vod⸗ 
zleich and, in feinen. Grundſatzen vieles zu berichtigen 
wire Mie iſt doch z3. B. Die Regel: „bei Heinen Kindern 
und trägen Seelen ergreifet alle Reize, ‚welche fie auch 
feyn mögen (), um erſt die Teblofe Maſchine in ver Gang 
zu bringen”, — ein Necept Das den Kranken zu Grabe brins 
gen wlrbe, wenn nicht in jedem Worte eine Unkunde ber 
Natur lage, die ed. nicht einmal ausführbar macht! Zwei 
Blade enthalten die Grundfüße von Trapp’ über den 
Unterrichts der Ste vom Unterriht überhaupt, 
der ill vom Unterricht in den Sprachen. Dieſer 
Lehrer war es, welcher mit bem Haß gegen das Flaffifche 
Studium die fogenannte Realienſucht auf Die Spige trieb. 
In ſeinem Berfuch einer Pädagogik (IT00 fagt er aus⸗ 
drücklich: „eine Sprache mehr ſehe ich immer als ein Hin⸗ 
derniß aiehr an, em guter Volkslehrer zu feyn;” und er 
weiß die: Kenntniſſe in Portionen fo abzutheilen, daß man 
berechnen Tann, wie wiele in einer Lehrſtunde eingenoms 
men, und alfo m Jahresfriſt erlernt werden koͤnnen: 





der Pädagogil in den zroet letzteren Generationen. 906 


Uebrigens gibt er auch in dem Reviſionswerke Regeln, die 
dem Pädagogen noch immer recht gut dienen können. 
Der Philanthropiſmus in der Erziehung und der Rea⸗ 
liſmus in dem Unterrichte gewannen Überall das Leberges 
wicht. Woher das. kam? Gewiß nicht vor fernen einzelnen 
Stimmen folcher nichts weniger als gHeiftesträftiger Mäns 
ner, fo laut fie ſich auch vernehmen ließen. Wie hätten: fie 
fo viel gegen die Gediegenheit und den heiligen Ernſt der 
Dentfchen Bildang vermocht! Nein! es mußte der Grund 
in erwas liegen, dad allgemeitier: in den Geimithern: wirkte 
Neigung oder Abneigung pflegt der Erkenntniß vorauszu⸗ 
gehen!‘ Jenr nen aufgefhloffenen Kenntuniſſe in der Pada⸗ 
gogik — wir wollen fie venn kinmal dafür geltet laſſen ii 
wurden begierig Aufgenommen, weil eine allgemeinte Sub 
mung zur Vorliebe für eine folche Neuerung wurde, nd 
eine fchon hänger her. erjengte Abneigung gegen die dishe⸗ 
rige Strenge zu immer größerer Stärke ernährt‘ huittel 
Mas aber war das Prineip, das dieſer Richtung den Muss 
fchlag gab, und in berfelben Die Menge writ fortzog® Es 
konnte in nichte anderem, als in einer herrſchenden Geſin⸗ 
zung liegen, und Diefe findet in der Denkart hinſichtlich 
der Religion ihren tieferen Grund. Wir mäflen alfo un⸗ 
fern Gefichtöfreis bis auf den Zuftand des Ehrifkenthuns 
in Dentfchlan® erweitern, wenn wir die Bewegungen in 
det Erziehung begreifen wollen. Es dietet Fich uns auch 
bier augenfällig die Beränderung dar, die feit dem letzten 
Drittheil in dem theologiſchen Lehrweſen vorgegangen, und 
wir erkennen bald, wie das päbagogifche hieran Theil 
nehmen mußte, Aber auch hier Dringt ſich uns bie Frage 
auf: wie war ed möglich, daß z. B. ein fo ſeichter Gelehr⸗ 
ter oder vielmehr Zeitmenfch wie ein Bahrdt: bei ben 
Theologen und bei dem Bolfe ſoviel Eingang finden tonnte? 
Cab es Doch damals ganz andre Mlinner von Gelehrſam⸗ 
teit, Kraft, Geiſt, und fand doch felbft unfer: Dichter 
Göthe in jugendlihem Muthe die bahrdtifche Behandlung _ 


719 Literaͤriſche Weberficht 


der Offenbarungsslirkunden für nicht mehr werth, als zur 
Kurzweil, wie ed denn wirklich feit dem humoriſtiſchen 
Gedichte „Bahrdt und Die vier Evangeliften” von Gelehrten 
und Ungelehrten belacht worden. Die Poeſie und die Bil 
fenfchaft. thaten Einfprache in Scherz. und Ernft gegen alk 
jene Neuerungen, insbefondere in der Pädagogik. Eine 
fehöne Bignette für Die Bewegungen dieſer Zeit gibt und 
ebenfalls Göthe, wo er aus feinem Leben uns fein Zufam- 
menkommen mit Bafedow und Layater- mit gutmärhige 
Laune erzählt, nicht eben. zum Bortheile von jenem. Wenn 
nun.etwas in der Gefchichte nicht aus der. Kraft der haw 
delnden Perſonen erflärt werden, kann, fo. muß: bie Urſache 
in. den Umſtänden vorhanden ſeyn, und die auftretenden 
Perſonen ſind dann nur das Organ einer im —— ver⸗ 
breiteten Macht. 

Der jetzige Sprachgebraud nennt biefe Macht Die öfs 
fentliche Meinung. Was der Ehrift von ihr zu. halten habe, 
weiß er aus ben Urtheilen des Erlöfers felbft und feiner 
Geſchichte. Weder der Täufer noch Chriſtas machten es 
dem großen Haufen recht, und er vergleicht diefen darum 
mit den Knaben auf der Straße; „fie werden euch verfol 
gen,’ verkündigt er ben Befennern der Wahrheit, feinen 
Kampf mit. dem Weltgeift und — Zeitgeift verfchweigt er 
den Seinigen nicht, und wie Diefer Geift in der öffentlichen 
Meinung fein Wert treibt, fteht welttundig darin da, Daß 
das Volk Heute fein Hoſianna dem Gefalbten, und einige 
Tage darauf: an's Kreuz mit ihm! ausrief. Nein die 
dunkle Macht, die ein Volk bewegt, Tann uns nicht für 
diejenige öffentliche Meinung gelten, in welcher wir bie 
Stimme Gottes vernehmen. Der fittlidye Gemeinfinn, das 
Gefühl. der frommen Herzen ift es, was öffentliche Mei⸗ 
nung werden fol, welches inbeflen diejenigen nadı Kräf⸗ 
ten zu verhindern fuchen, welche die ihrige dafür möchten 
ansrufen laſſen. Wir fragen nun hier nach der Macht, 





ber Pädagogik in den zwei letzteren Generationen. 711 


welche die Meinung jener an ſich wenig —— Gei⸗ | 
fter zu einer öffentlichen erhob. 

Das deutfche Gemuͤth hatte fich nicht burd, das Lehrs 
wefen in der. Kirche befkiedigt gefunden, und Die: geiftlofen 
dogmatifchen Zänkereien hatten befonders das gebildetere 
Publicum mit Widerwillen erfüllt. Auch die fpener’iche 
Richtung war zu fehr in einen abgefchmadten Pietifmus 
übergegangen. Das fühlten die Theologen auf ben Kas 
thedern, auf Den Kanzeln und in den Schulen, das wurbe 
auch in Scriften gefagt, und es. fand überall Anflang. 
Ss wurde alfo feit den 60ger Jahren das Bebürfniß eined 
befferen Zuftandes hierin allgemein rege. Wer ihn zunächft 
herbeiführen ſollte, das war der Lehrſtand; auch erkannte 
er feinen Beruf dazu, aber er war nicht dazu gehörig ges 
bildet. Die Geiftlichen hatten den Geift mit einer alten, 
trodenen Dogmatik anfüllen müſſen, und nun fühlten fie 
fih damit fo gebrüdt, daß fie nichts fehnlicher wünfchten, 
als diefen „Wuſt,“ wie man es damals zu nennen pflegte, 
108 zu werden. Da jauchzte man wohl gerne jedem zu, ber 
ald Befreier erfchien. Wer als folcher auftrat, hatte ſich 
fchon fo viel Zutrauen erworben, daß man feine Lehre 
nicht erft einer Kritit unterwarf, und ſchon zum voraus 
die Gegner ald hartnädige Altgläubige, als unduldſame, 
Inechtifche, bösgefinnte Menfchen in Verruf zu bringen 
fuchte; ja der Ausdruck „Dummtöpfe? kam nicht etwa 
bloß in den Schriften der liberalen Ultra’s jener Zeit, fons 
dern auch ſelbſt in guter Gefellfchaft vor. So mußte alfo - 
die allgemeine Stimmung jedem, der für die theologifchen 
und pädagogifchen Neuerungen das große Wort führte, 
fich zumeigen. - 

Hätte ed nun im Lehrftande nicht noch an etwas ander 
tem zu fehr gefehlt, fo würde fich bald dag Ueberſpru⸗ 
deinde niedergefeßt und der reine Gewinn ſich hervorge⸗ 
hoben haben. Warum waren doch die Geiſtlichen nicht 

die Männer des Geiftes, welche aus der Tiefe des Chri⸗ 


k 


712 Litexoͤriſche Ucherſicht 


ſtenthums ſchöpfend das Volk in der Kirche und Schrle 
wahrhaft zu bilden verſtanden? Sie, (wie überhaupt bie 
Theglogen), hätten verſtehen follen, ans dem alten Wuſte 
die reine Saatfrucht herauszufinden, und fie auszuſtreuen; 
fie mußten im Lichte der Herzensreligion fo eingelebt ſeyn, 
daß fie. Diefed Licht auch in ihren Gemeinden ſo Eonnten 
leuchten laſſen, wie es ein. Schuß gegen den Unglauben 
geworben wäre. . Daran. fehlte ed aber, an dem Lebendis 
gen Chriſtenthum, in dem ‚Sehritande ſelbſt fehlte es im 
Allgemeinen, fonft wäre alles anders. gegangen. : Die An 
lage trifft weniger bie Einzelnen al® den ganzen Stand, 
und auch Diefer findet feing Entfchuldigung in einer porher⸗ 
gehenden Zeit. Wenn auch wir und unfere Bäter nicht 
den Weg einfchlugen, den wir jest als ben befferen erken⸗ 
. nen, ſo meinten wir doch Damals Dem richtigen Weg zu 
erwählen, und wußten auch wohl, daß nur allein ber 
Heer bei allen ben Wegen den rechten zeigt und Die Herr 
zen gewiß macht; aber fchuldfrei find wir darum doch 
nicht, denn wir verftauden es nicht beffer, dena wir ließen 
uns zu leicht von Dem Winde Der Lehre hin und her wägen. 

Schreiber dieſes fagt hierbei, wir, weil.er feit ben 
3780ger Jahren in Dem päbagagifchen Geſchäfte anfing 
thätig zu werben, und während er auf der Univer ſität 
ans dem Munde feiner theolngifchen Lehrer die neuen 
Anfichten eifrig aufnahm, ſelbſt Religionsunterricht ers 
theilte, und mit Den neuen Unfichten Knaben und Mädchen 
sinterhielt, wicht ohne eine Begeifterung, mich nicht ohne 
Kindrud bei Den Kindern und nicht abme Beifall won dem 
Ültern. Denn, wie geſagt, alles erfreute fich ber neuen 
Zeit einer helleren Religionslehre. Er hatte zwar ſchon 
als Knabe Gelegenheit gehabt, Das ſchlechte Treiben in 
. Dem damaligen Sampfe zu fehen, amd fühlte fich bei den 
Heußerungen der einen Partei ebenſo unbehaglich, als 
bei benen dar anbern, andy hatte er ſchon Damals bie Er⸗ 
wartung von ciner Zeit, welche dem Chriſtenthume bevor⸗ 





ber Pädagogik in: den zwar Icpteren Generationen. 713 


fiche, hie den: Beruf bes Religionslehrers erſchweren 
werbe, wie er es im J. 1200 feinem Großvater in einem 
Auffaße dei deſſen Amtsjubiläum ausfprach, aber bie als 
ten Dogmatifen, wit benen_ er fich frühzeitig einigermaßen 
befannt machte, hatten ihn: keineswegs für die Orthoborie 
gewonnen, und fo freute er ftch, Daß fein chriftliches Ges 
fühl bei den Lehrern, namentlich bei einem NRofenmüller, 
uud in dem Studium der döberleinifchen Dogmatif mehr 
Nahrung für das Leben fand. So war damals die Stim⸗ 
mung faſt durchaus bei den findirenden Theologen, und 
das auf mehreren mo nicht allen Univerfitäten. Das chriſt⸗ 
liche Gefühl brachten fie noch gewöhnlich von Haufe mit, 
und der Offenbarungsglaube ftand noch in den Gemäthern 
feft. Was man alfo fallen ließ, fah man als etwas Anger 
hängtes an, und dadıte, wenn dergleichen niedergeriffen 
. würde, fo fände. der Tempel deſto fchöner Da. So dadıte 
man z. B. bei der Trinitätdlehre, und der vertrauteſte Stu⸗ 
Diengenoffe von dem, der hier qus jener Zeit getreulich Ver 
richt erftattet, P; Ludw. Snell gab bald nach unfe 
rer alademifchen Zeit feinen Katechismus beraug, der zu⸗ 
nächft gegen den hannöverfchen gerichtet war, und naments 
lid, von der Trivität feine Sylbe enthält. Eben dieſer Ka⸗ 
techiemnd ift fehr beliebt worden und vielleicht hier und 
da noch im Gebrauch. Er bezeichnet die Wendung, wel⸗ 
she damals ber proteſt. Religionsunterricht zienzlich allge 
ein in Deutſchland machte. Bald nachher erfchien ein 
Katechismus nach dem andern, der. immer weiter gig 
fo daß in vanchen nichts mehr von der eigentlichen Chris 
ſtenlehre übrig blieb. Wir Dürfen nur deu des Pädagogen 
Sampe zum Belege anführen, der jeboch fo weit noch 
nicht. ging, wie manche Katechismen von Geiſtlichen, Die 
den Konfirmanden ihrer Gemeinden ben Olaaben an Ser 
fum Khriſtum ganz Auszureden ſuchten. 

Hutte es denn ‚aber. bei Dem Alten Bleihan felen? ir 
meßsvngeß, Dam Rap dieſes nicht Zus war, zeigt. eben bier 


714 : °  Vterärifhe Ueberſicht 


fer Erfold. Was hätte alfo gefchehen follen? Nicht das 
Alte wegwerfen, weil ed alt war, nicht dad Neue ers 
greifen, weil ed neu war. Der rechte Lehrer des Chris 
ftenthums fol lernen Altes und Neues in feinen Schaf 
zu fammeln, und daraus hervorzulangen, was gerade 
Noth thutz das aber, was Neth thut, das Wahre, das 
zu aller Zeit Wohlthätige und Beflernde, hätte man beffer 
lehren follen. Daß man den unnützen Wuſt einer fcholaftifch 
gewordenen Dogmatif wegwarf, war recht, daß man aber 
damit auch über das Wefen des Chriftenthums hinausfuhr, 
Das war ber große Fehler der Lehrer, Bon der Sinnes⸗ 
änderung in jener tieferen Bedentung, wie fle unfere Relis 
gion lehrt, war damals faur .a dem Katechismus⸗Unter⸗ 
richte die Rede; vieleicht aus Furcht, hiermit in veraltete 
Dogmen zu gerathen. Der Erlöfer wurde gewöhnlich 
lieber nur fo äußerlich genommen, und fein Werk haupt 
fächlich dem Judenthume gegenüber geftellt. Der heilige 
Geift war die aufllärende Belehrung, die in der Entwids 
Iung des Berftandes und Mittheilung.heller Begriffe bes 
ftand. An die Selbfterfenntniß, wie fle der Chrift gewinnt, 
wurde faft nirgends erinnert, auch in Predigten, ja felbft 
in Erbauungsbücdhern meift umgangen. Das war es, 
was irre führte, und den befferen Weg, beffen wir und 
zu erfreuen anfingen, in einen aus dem Chriftenthume 
herausführenden Seitenweg umlenkte. Das, was bad 
junge Gefchlecht gerade am meiften bedurft hätte, Ichrten 
ans unfere Lehrer am wenigften. Denn das heranwach⸗ 
fende Gefchlecht will für eine Zeit vorbereitet werben, wors 
in das Gute, welches man ihm mitgibt, in den fommens 
ben Verfuchungen fich feithalten fol, Dafür gab man und 
eine Vorliebe für das Umwerfen des Beftehenden mit, und 
einen Düntel, der Die Wage der Nichtigkeit nicht erft in 
die Hand nehmen mochte. Wäre doch damals unter ben 
gefeierten Lehrern der Theologie irgend einer aufgetreten, 
der mit feiner ſchweren Gelehrfamteit, woran es Doc; eben 


t 














der Pädagogik inden zwei: legteten Generationen. 715 


nicht fehlte, mehr in bad Alterthum hingewiefen.hätte, zur 
biftorifchen Vergleichung der Religionen, wie das in Tpätes 
rer Zeit gefchehen ift, und wären nur die Geiſtesblicke eis 
ned Herder mehr von den akademiſchen Studien unters 
ftüßt morden; fo.hätte fich Doch Deit Freunden des Chriſten⸗ 
thumes eine Richtung in der Theologie eröffnet; weiche fie 
in eine gründlichere Eregefeund Lebensphilofophie ein⸗, nicht 
and bem Glauben an das Evangelium herausführen mußte 4 

Worin auch davon weiter die Urſache zu ſuchen ſeyn mö⸗ 
ge, genng, ed war nun einmal ſo. Der Zeitgeiſt war, der en 
war, und bie berliner Bibliothek, war: fein.mächtiged: Or⸗ 
gan. Die. Pädägogit wurde dann ebenfalls durch:alles 
dieſes beftimmt und fie, wie oben: bemerkt, vorzugsweiſe. 
Sm Zuſammenhange ſteht dieſer Gang der geiſtigen Cultur 
mit der allgemeinen Bewegung, welche ſeit dem 150en Jahra 
hunderte. in Europa das Leben tiefer herausbildete.Die 
verfchiedenen Perioden diefer Zeit. von 10 bis 12:Geneygs 
tionen. laffen in: den verſchiedenen europäifchen Volkern 
auch Berfchiedenheit der neuen Geſtaltungen bemerfen, im 
Ganzen aber eine fehr anfehnliche Entwidlung der Menſch⸗ 
heit, and hierin ber Erziehung und ihrer. Speer, . Riemand 
kennt noch die Geſetze, wornach dem Menſchengeſchlechte 
gewiſſe periodiſche Veränderungen zugemeſſen ſind, wels 
che dann bald hier bald da ſtärker erſcheiren. Genugr 
wir find gewiß, daß die Vorſehung, die in allem: wal⸗ 
tet, die Menſchen durch alles: dieſes hindurch führt zu eie 
ner allmählich fortſchreitenden Bollfonmmenheit,-und daß 
wir in dem Reiche. Gottes von dem Ziele. und. dent Wege 
verfichert find. Hemmungen:und Störungen, welche dazwi⸗ 
fchen treten, Tonnen uns; in dieſer Zuverficht nicht irre ma⸗ 
chen; e8 find Uebergänge, im Ganzen geht: ed. vorwärts, 
Nur fordert die. falſche: Richtung jeden auf der für das 
Gute wirkſam ift, von derfelben abzulenken fich.felbit. und 
wo möglich feine. Zeitgenoffen, nicht aber den. Abweg mit 
Denen, die darauf wandeln, arzupreiſen, — ein Boys 

Theol, Stud, Jahrg, 1881 


116 Litrraͤriſche Meherficht. :. .: 


 wärtd bem Volke zuperufet, welches ne) fort, 
— 
Das hat fh vieleicht. nie. fo deuntlich dargeſtellt, als 
in den beiden legten Decennien des vorigen Jahrhunderts, 
indeſſen fehen wir dieſes Fortwogen jeßf immer noch, wenn 
ſich gleich die ſtärkſten Stürme fcheinem ‚gelegt. zu haben. 
Das beweglichite unter den cultivirteſten Volkern wurde 
natärlich von dieſen Stürmen. am gewaltigſten aufgeregt, 
und das ruhigere und dabei gebildetſte ſetzte ſeine Beſon⸗ 
nenheit und Gründlichkeit als einen Damm der Fluth ent 
gegen. Die umwälzenden Bewegungen, ſowohl die reli⸗ 
gioſen als die politiſchen, mußten ſich in Deutſchland bres 
hen. Dem fo wie ed unferer. Nationglität' eigen tft, Frem⸗ 
des zu bewundern und auch in unfere Bildung. aufzunehs 
men, To iſt es ihr auch natürlich, Darüber die eigne Selbft» 
flöndigfeif nicht aufzugeben, und mit reiflidyer Erwägung 
Das zurückzuweiſen, was unferm geiftigen Leben droht, 
dor. vielmehr dieſes felbft nur mehr.erftarfen zu. laſſen. 
Die geiftreichen franzöfifchen Schriftſteller aus dem Zeitals 
ter Ludwig's XIV: hatten allerdings großen Einfluß auf bie 
Deutſchen, Boltatre wurde überall -gelefen und bewundert 
und als Führer zum Unglauben. erwählt, allerdings erkal⸗ 
teten auch viele im -Ehriftentbume, und. das befonders im 
Lehrſtande: aber dahin kam es nicht, daß. Die höheren Claſ⸗ 
fen in Schwelgerei verſanken, und die niederen ſich em⸗ 
porten, und die Geiſtlichen heuchelten. Wenn in Paris 
vor der Revolution, wie Schriften aus jener Zeit ſagen, 
Biſchöfe an üppigen-Zafeln über die Religion fpotteten, 
fo waren: die deutſchen Theologen. tm Kampfe mit ben 
Zweifeln ernſtlich befihäftigt,zentweber dieſe zn widerlegen, 
ober eine Lehre zu voermitteln, die der Heiligkeit der Reli⸗ 
gion angemeſſen ſchien. Bei. aller Hinneigung zum Frei⸗ 
werden von dem Poſttiven war ihnen wie. dem Volke Das 
Ehriſtenthum heilig, und was ſie nicht glaubten, das ſag⸗ 
ten fie offen; wenn es je einem Geiſtlichen eingefallen wäs 





der Pädagogik in den zwei lehteren Generationen. 717 


re, feiner Gemeinde gegen Ueberzeugung zu ptebigen, vder 
ihr auch nur die Aufklärung vorznenthalten, et hatte ge⸗ 
— die allgemeine Verachtung erfahren. 

So ſtand es im Anfange der 1790ger Jahre in der 
Kirche, und ſo iſt insbeſondere von dieſer Seite die Schule 
und das Erziehungsweſen jener Zeit zu begreifen. 

Man neigte ſich Ber neuen Richtung zu, Eltern und 
Schulmänner glaubten an ein Heil der Erziehung, wie es 
der’ bis dahin geplagten Jugend nicht gewoͤrden; die Pu⸗ 
dagogik gewann ei effgemeines Intereſſe. Es iſt vielleicht 
nie fo viel Aber Erziehung geſchrieben worden, als ſeit dem 
letzten Deẽcennium des vorigen Jahrhunderts, und bis Ihe 
die erſten Deeennien des neunzehnten hinaus’ iſt ſie einer 
der reichſten Artikel der Literatur. Der theoretiſchen Schrif 
ten erſchienen nicht wenige, aber der praktifehen, die Kin⸗ 
der- und Bilderbiicher mitgerechnet, unzählige; anch gab 
ed mehrere pübagogifche Zeitfchriften. Wber auch ind Les 
ben traten Überall bie neuen Brundfäße Der Pädagogik; 
die nunmehr in Schriften, auf Kanzeitt, in Geſellſchaften, 
bei Hohen und Niederen, überall die "Angelegenheit des 
Tages war, faſt wie! jetzt die Politik. Die Mätter-übers 
gaben die Ruthe hinter dem Spiegel dem Feuer, ſahen 
ihre Knaben jetzt mit ganz andern Augen an, froh, daß 
fie nicht meht den Stock und alle bie Plagen der Schule 
zu fürchten hatten, und mächten fich große Höffnungen uch 
ihnen; größere nody wohl manche, als jene Eornelia,. bie 
Mutter der Grachhen. Der Bater fah in dem Söhnlein et 
was Außerordentliches; und wid mußte nicht inter der 
neuen Erziehung aus ihm werden. - Bir erinnern ung, 
wie 3. B. mancher Beamte oder: wer fonft fo Die moder⸗ 
nen Schriften las, von feines: miunteren Knäbkeins außer⸗ 
ordentlichen Anlagen viel zu fagen wußte; glückliche Zeit! 
in viefen Familien wurden nur Genies geboren. Das 
mußten denn auch die lieben Kinder frühe wiſſen. In der 
vorhergehenden Periode wurde ed fr unziemlic gehalten, 

47 * 


718 ..Ateraͤriſche Ueberſicht 


Kinder. mit in Geſellſchaft au. nehmen, und wa man fie ir⸗ 
gend mitnahm, da. mußten fie Stille ſitzen, und wurden nur 
fo weit beachtet, daß man ihnen etwas von, dem reichte, 
worngch ihre Augen lüſtern gefchaut-hatten; _ das. fie ſich 
jedoch anzunehmen. fiheuten, bis die Eltern, uf höfliche 
Zürbitte, Doch „nur etwas. Weniges davon'? erlaubten, 
Seht aber. lehrte Die neue Erziehuugskunſt/ und zwar in 
eignen Abhandlungen, man ſolle die ‚Kinder mit in Gefells 
[haft nehmen, und:fie follten Da frühzeitig gebilbet werben; 
da war es auch wirklich nicht ſelten der Fall, daß wir zehn⸗ 
jährige Knaben und Mägdlein, ja noch ‚jüngere, mitſpre⸗ 
chen, hörten, auch wohl.die Erwachfenen gern oder ungern 
ſchweigen, und ſogar die Weisheit, wenigſtens „die Artig⸗ 
feit”” des jungen Herrchens bewundern mußten. aus Höf—⸗ 
lichkeit für die Eltern, Noch bis jetzt iſt dieſe Sitte in 
wanchen Cirkeln geblieben, daß wenn das Kind des Haus 
ſes hereintritt, alles auf daſſelbe hinſehen muß, und jedes 
Geſpräch unterbrochen wird, um nicht gegen. Die feine Le 
bensart zu verftoßen, und daß nun has kleine Weſen von 
einem, der Dafibenden zu dem andern gezogen, und mit 
Süßigkeiten des Mundes (in doppeltem Sinne) überfüllt 
wird. Diefe Sitte Fam mit der neuen Erziehungskunſt 
auf. So gefchah ed, daß die Menge folcher Kinder, bes 


fonders die herausgepußten Mädchen, ſich als die Haupts 


perfonen anfehen lernten, für welche alles im Haufe da 
ſey; und fo findet ihr es noch in Familien der „gebildete 
ren” Stände. _ Schon bamals Hagte Dem Schreiber Diefes 
ein würdiger Bater, der pädagogiſche Schriften las, daß 
Rouſſeaus Emile die Verkehrtheit veranlaßt habe, als 
"feyen die Erwachfenen nur um der. Kinder willen da. 
Die Hauslehrer ftimmten diefer Umkehrung der Naturord⸗ 
nung öfters ſchon durch ihr Dafeyn zu, denn der würdige 
Mann mußte feine ganze Eriftenz einem oft verweichlichten 


Knaben opfern, und fo der Ebdlere fein Leben an einen 


Schlechteren Fetten. So wurde vielen Knaben ein Düns 








der Pädagogik in ben zwei leßteren Generationen. 719 


tel eingeimpft, der dem natärlichen fo recht zu ſtatten 
fam; das Abmeffen der Kraft unter feines Gleichen und 
durch Die Schulftrenge kam mehr und mehr außer Brauch, 
Oeffentliche Schulen wurben von der Pädagogik als ges 
fährlich für Die guten Sitten, als hiriderlich-für Bie freie 
und fohöne Bildung, wenigftend nicht ald fo günftig, wie 
die Privatinftitnte angefehen. . So bildete ſich denn unfere 
moderne Erziehung des höheren Standes und ber. gebildes 
teren Bollöclaffe, oft cher eine Prinzenerziehung zu nens 
nen, als die an den Höfen; in folder find nicht wenige 
ber jetzt lebenden und wirkenden Generation erwachfen. 
Die Kefer werben e8 dem Herzen des Verf. zutrauen, 
daß er hierin Feine Klage gegen diefe Generation, fondern 
vielmehr eine Entfchuldigung niederfchreiben will, Aber 
zur Ehre feiner Zeitgenoffen muß er alsbald hinzufegen, 
daß fich auch an ihnen der deutfche Charakter bewies. Das 
Laßt fich mit Zeugniſſen der Literatur belegen. Der berühnts 
te Gefchichtfchreiber Soh. v. Müller bat in feinen Ge 
fchichtblichern und Briefen mit Ernft manched darüber ers 
innert, und auch viel Gehör gefunden, und Nehberg bat. 
durch feine Schrift Prüfung der Erziehungskunſt 
(1792.) den traurigen Wahn diefer Berfünftelung deutlich 
und nicht ohne Erfolg enthüllt. Nur eine feiner Warnun⸗ 
gen möge hier ftehen: „Dieſe Erziehung — — verpflanzt 
die Kenntniffe, Die Neigungen, die Freiheit des männlichen 
Alters indie Kinderjahre; worauf denn in verfehrter Orbs 
nung eine ünheilbare Unmündigfeit den Lauf des Lebens 
bis an das Ende führt.” Verf. Diefes las diefes Büchlein 
ſchon damals mit vieler Zuftimmung, wünfchte aber fpä- - 
ter es mit mehrerer, d. h. fo unbefangen wie erſt fpäter 
gelefen zu haben, Hätte er nur in feinem Verſuche eis 
ner Theorie der Mäbchenerziehung, den der Un⸗ 
terzeichnete in demfelben Sahre ale feine erfte pädagogifche 
Schrift herausgab, das fchon verftanden, was’in jenem 
gerügt wird, und wie er. ed, — er will gerecht auch ge⸗ 


720 .. : Bitzehsitche. Ueherſicht 


gen ſich ſelbſt ſeyn — bald nachher verfland, und von dem 
Dichter Gleim, den er i. J. 1795 befuchte, den väter 
lichen Wink gerne beherzigte, daß man über Erziehung nur 
nut reiflicher Erwägung ſchreiben müſſe. Gleim wußte ihm 
auch nach ſonſt manches Pädagogifche zu ſagen, denn der 
ehrwürdige Greis war nicht blos als Dichter edel. 
Wir müſſen auch dankbar einer der erften Schriften 
yon Salzmann gedenfen, von ihm das Krebs büch—⸗ 
fein genannt, ober Anweifung zu einer unver 
nünftigen Erziehung der Kinder (umgearb. Aufl 
1789), worin er manches Schlechte tadelt, obgleich nicht 
ganz frei von jener oben gerügten Richtung ; hierauf folgte 
Konrad Kiefer, ober Anweifung zu einer vers 
nünftigenErziehbungderfKinder Ein Buch fürs 
Bolt (1796) und fpäterhin (1806) fein Ameifenbüdy- 
lein, ober Anweifung zu einer vernünftigen Er 
ziehung der Erzieher. Es ließen fich mehrere Schrif 
ten als folche bezeichnen, welche Soweit vermittelten, Daß 
fie fich bald mehr der einen balb mehr der andern Geite 
zumeigten. So war ed gewiß von den firengeren übertries 
ben, wenn man (wie Brandes) das Du der Kinder ger 
gen die Eltern rügte,. und darin eine Urfache der Nichte 
Achtung der Eltern und Andrer finden wollte. Aber dieſer 
Zabel wurde auch bamals fogleich zurückgewieſen, fchon 
mit Der Erinnerung an bie ältere Sprechart, unb daß wir 
ja and Gott mit Du anreden. in der Glaffe der vermit⸗ 
teinden pyädagogifchen Schriften find ald vorzüglich zu nen⸗ 
nen: Henfinger, Berfuch eines Lehrbudhs der 
Erziehungskunde (1795) und mehr noch feine Fam i⸗ 
lie Wertheim (1798 — 1809 ; au Wedag, Hand⸗ 
buch über die frühere fittlihe Erziehung, zus 
nahft für Mütter (1795). 

Durchaus bewährte es fich, wie die Bewegung ben 
Deutfchen zwar ergreift, aber doch in Weberlegung 
übergeht und daß .er ſich bald eines Beſſern befinnt, 





ber Paͤdagogik in ben. zwei letzteren Gexterationen. 721 


und daun deſto ficherer ‚fortfchreitet. Auch in ber phi⸗ 
Iologifchen Bildung bewährte es ſich. Wie trefflich er⸗ 
hob und verbreitete. fie füch in unſerm Deutſchland, und 
wie viel. gewannen insbefondere feine Gelehrtenſchulen! 
Bir wollen hier nur au bie zu. Gotha, deren neue Einriche 
tung. Damals mufterhaft befunden wurde, und an einen 
hochverdienten Jakob s erinnern, welcher. auch fpäterhin 
durch eigne pädagogiſche Schriften, wie Alwina und 
Theodor, und Rofaliend Nachlaß das Beflere in 
der Abwägung: bed. Alten und Neuen verbreiten half. 
MWirkfam für Das Landſchulweſen war die Anftalt bes 
Hrn. v. Roch ow auf feinen Gütern zu Rekahn, befchrier 
ben von Riemann; Bad Lefebüchlein, der Kinders 
freund, von dem edlen Stifter felbjt, wurde injehr wies 
len Volksſchulen eingeführt und nicht einmal durch Beckers 
Noth- und Hülfsbüchlein verdrängt, welches ſich 
in den 1790ger Sahren allgemein in diefen Schulen befand, 
auh nicht durch Thiemes fähfifhen Kinder: 
freund, welcher mit jenem gewiffermaßen ben Anfang der 
zahlreichen Lefebücher für Schulen machte; Denn Die Bände 
des nüglichen Kinderfreunds von C. F. Weiße (feit:1776) . 
waren mehr ein beliebtes Leſebuch für Familien. . Das 
wagnerfheHandbuch wurbe als ein foldyes fo all 
gemein beliebt,. daß noch vor kurzem eine neue Auflage 
auf die vielen vorhergehenden erfülgte. Für die Verbeffes 
rung der Fatholifchen: Bolkefchulen wurde feit Felbiger, 
fhon in den 1360ger Sahren, und dann gleichartig und 
gleichzeitig mit v. Roch ow durch Hrn. v. Schulftein in 
Böhmen, wie auch in andern Gegenden, 3. B. zu Miüns- 
fer Durch Hrn. v. Fürſtenber g erfolgreich gewirkt. Die 
Schullehrer⸗Seminarien, welche ebenfalls in katholiſchen 
Ländern errichtet wurden, fo wie die in Den proteſtanti⸗ 
fchen, die fih immer vermehrten, hatten bereits die neues 
ten Grundſaͤtze auch fürdte Behandlung der Schuliugend 
auf. ben Dösfeen verbreitet, und es -entwidelte fi hier 


722. eiteraͤriſche Ueberfiht.- °: 


ein nener Iweig ber päbagogifchen Thätigfeit, mit. einer 
nicht ‚armen. Literatur. Eins: der gehaltreichiten Werke, 
and befonders praktiſch wiel.wirfend, war Zerrenners 
Schulfreund in einer Reihe-von Bänben feit 1791. Schu 
Reſcewitz und Ehlers hatten, wie wir oben dieſer vor⸗ 
züglicheren Pädagogen der vorhergehenden Zeit gedachten, 
das Nachdenken über dad Schulweſen auch anf Die höhe⸗ 
von Volksſchulen gelenkt und manches Gute gefagt, wor⸗ 
aus fich "Denn weiter. vie Gedanken über die politifche Be⸗ 
deutung des Erziehungswefens entwidelten. Sie wurden 
zuerſt in einer gewiſſen Beſtimmtheit und mit nüßlichen und 
ausführlichen Angaben für das Praftifche ausgeſprochen 
in C. D Voß Verſuch über die Erziehung für 
den Staat, ald Bedürfniß unſerer Zeit, zur 
Beförderung des Bärgerwohls und. der ie 
gentenficherheit, 2. Bde. 1799. Es war bie revolu⸗ 
tienäre Zeit, Die Damals immer drohender geworden, ges 
gen welche dieſes Buch fprach und Rath ertheilte; und fo 
gehört es zugleich. in die folgende Periode. Unter den 
Schriftftellern für die Volksſchulen ſelbſt haben ſich noch 
in den 90ger Jahren ausgezeichnet: Seiler, Sunker, 
Dverberg, Krünitz, Schü, — doch es liegt. nicht in 
Dem Plane dieſer Leberficht alles dieſes Einzelne vorzulegen. 
Ein neuer Geiſt-war alfo in die. Schulen wie in die 
Kirchen und: in. Die häusliche Erziehung ausgegangen. Die 
Fortfchritte der Aufklärung und Bildung; ‚die ver bewirkt 
hatte, lagen am Tage und.erregten in dem rührigen Eifer 
begeifernde Freude. Aber neue Klagen. wurden-veruems 
men, und in manchem Angeficht der Weiferen. in unferer 
Nation fah man trübere Blicke. Die großen Erwartungen, 
die man von Der gepriefenen Erziehungsfunft hegte, ſchwan⸗ 
ben mehr..und mehr, Die Eltern ſahen fich eben nicht; fo 
viel durch .eine befondere Vortrefflichkeit der Kinder. ber 
lohnt, auch nicht das Gemeinweſen; vielfach ſah man fich 
getaͤuſcht. Statt der Tüchtigkeit erſchien Anmaßung, ſtatt 





der Pädagogik in den zwei letzteren Geuerationen. 723 


ber Kraft Ueppigkeit, ftatt der Befcheidenheit Prätenſton 
jeder. Art, u. ſ.w., ſo mächte fidy bie. Jugend in den Fa⸗ 
milien, in den Schulen, in den Gefellfchaften, in. den 
Staaten bemerkbar. Sie ließ gerne mehr von fi reden, 
als ehemals. Aber die lauten Klagen betrafen nicht bloß 
«fie, fondern auch den Lehrſtand und Allee, Die Religion 
wollte nicht mehr helfen, deun man hatte fle auf die Seite 
geſetzt, jetzt ſuchte man das Heil bei der Philoſophie. Die 
fromme Sehnſucht des tiefdenkenden Deutfchen verleugnete 
ſich auch jetzt nicht. Die Oberflächlichfeit in der Theologie 
und Philofophie konnte er. nicht. [anger dulden, und Die 
Denfart des Deiſmus und Determiniſmus war ihm in der 
Seele zuwider. Da erfchien die Kritik Der reinen 
Bernunft von Imm. Kant Willkommner fonnte uns 
nichts erfcheinen; ja ein junger Schriftfteller im Anfange 
ber 90ger Sahre, wo eben erft diefe, obzwar. fchon im An⸗ 
fange der 8Oger herausgekommene, Kritif im Publicam recht 
befannt geworben, ſchrieb: „Chriftus ift für das Fleiſch 
gefommen, Kant für den Geiſt.“ Somit kündigte fic auch 
fogleich leider ein neues Ultra in der umlentenden Richtung 
an, aber im Grunde. Doch das gefühlte Bebürfniß einer 
befferen Richtung. Wie nun Diefe von dem großen koönigs⸗ 
berger Bhilofophen felbft in feinen claffifchen Büchern, wie 
von fo manchen bedeutenden Lehrern aus feiner zahlreichen 
Schule, wie vor einem Reinhold und noch.mehr von 
einem genialen. Fichte in ihren eignen Syftemen diefe 
neue und höhere Richtung entwidelt wurde, Das liegt aufs 
fer unferer Betrachtung, und wir haben bier nur: von 
dem Einfluffe der Fritifchen Philoſophie auf die Pädagogik 
zu reden, welcher nothmendig forwohl unmittelbar als mit- 
telbar fehr groß feyn mußte, Weniger. fommt hier die Fleime 
Schrift -in Betradht:: Imm. Kant über Pädagogik, 
herausgegeben.oon Rind 18035 denn fie. enthält 
nur einzelne Grundfäge und Regeln, entnommen aus Kants 
Borlefungen, welche diefer Lehrer der Philofophie von 


FM = : -Bilfheifhe Ueberfiche 


Zeit zu Zeit nach einem gemwiflen Herfommen auf der Bis 
nigsberger Univerfität über Pädagogik hielt; 28 iſt darin 
weniger fein Syſtem als fein fcharffinniger. Geiſt bemerk⸗ 
‚ bar, jedoch enthalten bie wenigen Blätter viele treffliche 
Winke. Wir verweilen gerne einige Augenblide bei Diefer 
Schrift wegen des Mannes, und filhren einige Stellen aus 
Derfelben zum Beleg an. Sogleich der Anfang kann dazu 
Bienen: „Der Menſch ift Das einzige Geichöpf, bad erzogen 
werben muß. Unter der Erziehung nämlich Yerkichen wir 
die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Difeiplin 
Gucht), und Unterweifung nebft der Bildung. Dem zw 
folge ift der Menſch Säugling, Zögling und Lehrling.” — 
&. 16. 17. „Weil die Entwidlung der Naturanlagen bei 
Dem Menfchen nicht von felbft gefchieht, fo ift alle Erzies 
hung — eine Kunft. — — Ein Princip derfelben, Das bes 
ſonders folhe Männer, die Pläne zur Erziehung machen, 
vor Augen haben follten, ift: Kinder follen nicht den ges 
genmwärtigen, fordern bem zufünftig möglich befferen. Zu- 
ftande des menfchlichen Geſchlechts, das ift der Idee ber 
Menfchheit, und deren ganzer Beſtimmung angemeffen, 
erzogen werben. Dieſes Princip iſt von großer Wichtig, 
keit. — — Die Pädagogik oder Erziehungslehre ift entwes 
ber phyſiſch oder praktiſch. — — Die praftifche oder mo⸗ 
ralifche ift Die Erziehung — eines frei handelnden Wes 
fend ıc. ıc. Sie befteht demnach I) aus der fcholaftifchsmes 
hanifchen Bildung, in Anfehung der Geſchicklichkeit; ift 
alfo didaktiſch (Informator), 2) aus der pragmatifchen, in 
Anſehung ber Klugheit Hofmeifter), 3) aus der moralis 
ſchen, in Anfehung der Bittlichkeit. — — Was die Erzie 
bung der Kinder in Abficht der Religion anbetrifft, fo tft 
zuerſt bie Frage: ob es thunlich fey, frühe den Kindern 
Religionsbegriffe beizubringen, Hierüber ift fehr viel in 
ber Pädagogif geftritten worden ꝛc. w. Kant erflärt ſich 
Dagegen, und will, daß man „zuusrberft alles der Ratur, 





der Pädagogik in ben zwei lehtexen Generationen. 725 


Diefe ſelbſt aber Bott zufchreibe — zuerſt von dem Geſetze, 
welches Das Kind in fich hat, anfange” m. ſ. w. 
Wichtiger war der Einfluß der Fantifchen Philofos 
phie. Vorerſt fchuf fie ein ganz neues Moralfpftem, und 
hiermit mußte fie mittelbar auch in ber Pädagogif Beräns- 
Derungen hervorbringen. &benfo fchien fie Durch die Pſy⸗ 
chologie, welche ebenfalls ihren Einfluß erfuhr, ein neues 
Feld zu gewinnen, Beides indeflen erwies fich nicht fo, 
wie ed die ſo mächtig erwachfende Schule erwartote. Wie 
wenig leifteten doch die Moralſyſteme jener Zeit, die von 
Kant und Fichte felbft mit Dazu gerechnet. Während dem 
alles nur von dem Sittengefeße ſprach, und auf ben Kanzeln 
nur Moral gepredigt wurde, ftand ed mit ber Sittenlehre 
ſelbſt fchlechter ale je, und wenn man jebt Blicke in Die das 
mals geltenden Lehrbücher wirft, fo muß man erflaus 
nen, wie nur die Elendigfeiten fo lange gelten fonnten. 
Da waren doch immer noch Reinhard's 5 dicke Bände 
der chriftlichen Moral das beite Wert, bei allen feinen 
Mängeln, breiten Wiederholungen, und auf einem nur 
fiheinbaren Fundament fchwanfenden Sägen‘, doch viels 
fältig ind Leben eingehenden vom Chriftenthume befeelten 
Lehren, Bergleicht man dagegen bie andern chriftlichen 
oder philofophifchen Moralſyſteme bis über das erfte Der 
cennium des neunzehnten Sahrhunderts hinaus, fo hat 
man in den abfiraeten Begriffen, bochklingenden Süßen 
und hohlen Redensarten doch eigentlich gar nicht für das 
Leben. Wie viel diefes in der Kirche dadurch entbehrte, 
ift nicht zu fagen, und fchon daraus zu erfehen, weil bie 
Kirchen immer leerer wurden, und da am meiften, wo der 
fategorifche Imperativ mehr ‚galt, als dad Evangelium. 
Auf dieſe Bodenlofigkeit der philofophifchen Moral machte 
zuerſt der verewigte Schleiermacher aufmerkfam, und 
fein fharffinniges Werf: Grundlinien einer Kritif 
Der bisherigen Gittenlehre 1803, iſt feines ber 
geringften feiner Verdienſte; und Schreiber dieſes freut 


726 vLiteréciſche Ueberſicht 


ſich, daß er in Verbindung mit ſeinem Freunde dem Prof. 
Creuzer in Marburg, und dem ſeligen Prof. Tenne⸗ 
mann daſelbſt durch eine ausführliche Recenſion in der je⸗ 
naiſchen allgem. Literatur⸗Zeitung auf die Wichtigkeit die 
fer Kritik hinwies. Da er damals fchon mit dem Studium 
ſowohl der Sitten» als der Erziehungslehre literärifch bes 
fhäftigt war, fo fand er m allen Puncten dad Ungenü⸗ 
gende von jener für diefe, und Fam fogar aufden Gedan⸗ 
fen, burch dieſe jene beffer zu begründen. Seine Aeuffe 
rung darüber gegen feinen fel. Freund würdigte diefer ei- 
ner ausbrüdlichen Beachtung, ©. 458. jener Kritik, worin 
derfelbe auch einen belehrenden Wink gab. Genug, von 
der Sittenlehre aus der Fantifchen und fichtifchen Schule 
war für die Erziehungslehre nichts zu hoffen, und die fi 
damit abmüheten, um etwas heranszuarbeiten, fanden 
fid) kaum durch einigen Beifall belohnt. Es gab da mandıe 
Schriften, welche Die Erziehung a priori aus dem Fatego- 
rifchen Imperativ feft zu begründen und in das Erfah- 
rungsleben hinüber zu führen vermeinten, aber ſchon bie 
Trockenheit der abfiracten Säße ſchreckte ab, und nur fels 
ten gab ihnen ein jugendlicher Schriftfteller durch Phrafen 
einige Farbe; im Allgemeinen galt e8 für Berbrechen ges 
gen die Majeftät des Sittengefeßes Eimpirifches hereinzus 
ziehen. Im Geheimen war diefeß freilich doch da, Eine 
merkwürdige Erfcheinung in Dem weiteren Umfange der puͤ⸗ 
dDagogifchen Literatur war bie neue Geftalt Der Katechetif, 
welche diefer Kunft durch eine kantiſche Theorie von einem 
im Ganzen fehr verdienftoollen Lehrer gegeben wurde, 
Wir meinen hier das vollffändige Lehrbuch ber 
allgemeinen Katechetik nad fantifhen®runds 
fügen, zum Gebraude afadem VBorlefungen, 
Cgleihmwohl!) in 3 Bänden 1795 — 95 in welchem Werfe 
die Kritik der reinen und ber praftifchen Vernunft und 
mehreres von Kant zum chriftlichen Religionsunterrichte 
verwendet wird, jedoch — Ehre dem frommen Sinne 





der Pädagogik in den zwei Ketzteren Generationen. 727 


feines Verfaſſers! — von bem religiäfen Gefühle und. von 
empirifchen. Regeln durchflochten iſt; in dieſer Hinficht ein 
nügliches Werk. Geit jener Zeit indeffen hielt doch fein 
Lehrer, der nach den Grunbfägen der kautiſchen Philoſo⸗ 
phie feine Methode bilden wollte, mehr ſteif am denſelben, 
und man fing an bei der Benupung des Eee wie⸗ 
der freier zu athmen. 

Auch die Pſychologie erfuhr durch bie kritiſche Philon 
ſophie einige Veränderung, und auch ſie vermittelte Male, 
dies für Die Puͤdagogik. Die Eintheilung in die drei Seen 
Ienvermögen wurbe nunmehr noch fchärfer gefaßt, und 
wirklich erfcheint das in manchen Schriften fo, als wäre 
Die Seele in ein Dreifaches gefpalten: Der Erzieher wurde 
angewiefen, jedem biefer Theile fein: Recht befonders: mia 
derfahren zu laſſen; mit einiger Veraͤnderung ſonderte 
man dieſe Theile in Sinnlichkeit, Verſtand, Berannft, 
Da lag es denn nahe, fie auch nach einander erſcheinen zu 
kaflen, und fo wurbe es als ein,neuer Fund geprieſen daß 
die Tugend drei. Perioden nach einander zu durchlaufen 
habe, und die frühefte Ersgiehung nur an die Sinnlichkeit, 
und die weitere, vielleicht ſchon nach. den erften 2 Jahren 
vorzugsweife an ben Verſtand des kleinen Menſchen:zu 
denken habe, bis dann endlich im Jünglingsalter Die Reihe: 
an die Bernunft fomme. Da biefe abfiracte Theorie ſich fo 
gar nicht praktifch erwies, fo bonnte ſie fich zwar nicht 
Lange halten, indeſſen hatte fich doch jene. Eintheilung in das 
Erfenntnißs, Begehrungs s und Gefühlsvermägen jo ſehr 
in Die Denkart der Zeit verwebt, Daß, bie Pädagogen kaum 
bis jetzt davon Iosfommen konnten, und felbft der größte 
padagogiſche Schriftfteller feiner Zeit fie-feinem Werke zum. 
Grunde gelegt hat: Dagegen trat ein fcharffinniger Phis . 
loſoph, Herbart, fowohl in feiner Pſychologie als in feis 
ner Pädagogik mit tieferen Blicken in bie menfchliche Seele 
and ihre Entwidlung auf. In feinem. Lehrbuche der erſte⸗ 
ren Wiftenfchaft rebet ex davon, wie ſolche Pſychologie 


8vviteroalſche Nederſicht 


falſch auf die Pädagogik gewirkt habe, indem ſle derfelben 
ihre Seeleuvermögen aufgedrungen ıc.ıc. — und dieſe num 
durch afferlei Gymmaſtik aufgeregs werben follten. — Ers 
ſcheint einmal der menfchliche Geiſt ald ein Aggregat von 
Seelenvermögen (bie er „Undinge” nennt), fo muß bie 
Lehre von der Bildung bderfelben auch-ein Aggregat von 
Rückſichten ꝛc. ıc. von Rathfchlägen allerlei Urt werben 
nf. w. Seine Allgemeine Pädagogik (1806) führte 
auf zwei Richtungen der Seele, Vertiefung und Zerſtreu⸗ 
ang, zuräd, und gab eine naturgemäßere Anleitung, ale 
das bis bahin geltende Bfychologifiren zu geben vermochte, 
Auch für. die Unterrichtslehre gab fein ABC der Anſchauung 
mehr für den Geiſt als die Schule Peſtalozzis, welcher 
felbſt aber unzufrieden Damit es. dad ABC der vornehmen 
Leute nannte Während indeſſen die Pſychologie noch we⸗ 
nig Kunde von den neuen Erſcheinungen des Magnetismus 
u. ſ. nahm, und ſich immer noch kieber in den tobten 
Abſtraͤctionen halten wollte, erwachte auch im dieſem 
Zweige ein neues Leben, wozu vornehmlich der ſel. Carus 
als einer ber trefflicften Bearbeiter wirkfam war: - Bon 
da bis jetzt auf Heinroch und Schubert finb wir wit 
manchen tieferen Blicken in die menfchliche Seele bereichert 
worden, und der Einfluß Schellings durch Ste Natur⸗ 
philoſophie förderte ſolche Forſchungen. 

FSur bie Pädagogik wurde nunmehr ein Studfum der 
Anthropologie, auch von ihrer empirifchen Seite, unerläß⸗ 
lich "Schreiber diefes fühlte das ſchon zu jener Zeit, ale 
er die. kantiſche Philoſophie, und dad zugleich in einem 
ſchriftlichen Vereine mit mehreres ihrer erſten Bearbeiter, 
wie Jakob, Snell, Schmid: ıc. ꝛc., kennen unb bes 
wundern lernte, aber fick nicht von ihr ganz befriebigt 
fand. Plattners philoſophiſche Aphorismen 
hatten fein Nachdenken auf das Phyſiologiſche bei der Na⸗ 
tur und die Entwicklung des Jungen Menſchen um fo flärs 
ker hingezogen, ‚da er ſchon anf der Univerſetat Auatomie 


+ 





der Pädagogik in ben zwei letzteren Generationen. 729 


und Phyſiologie gehört haste. Es entwickelte ſich in ihm 
alſo bie Richtung, dieſe Studien für die Pädagogik zu 
verwenden. Ex verſchaffte ſich z. B. Schriften und. Kupfer⸗ 
tafeln über die Entwickiung bes: Kindes von feiner Eint« 
ſtehnng an, benutzte die Gütr des berühmten Yhyflologen 
Sömmerings von welchent er ſchriftliche nad mündliche 
Belrhrungen für: jenen beſtimmten Zweck erhielt, und ſo 
begaun er bereits in den Wger Jahren hiefe Vorarbeiten 
zu feiner Erzichungslehre.: | 

Mittlerweile, aber. trat. jenes. Hauptwert —— — 
ches das, was bie dahin über Erziehung. und. Unterricht 
geſchrieben war, theils in fein Schrgebäube aufnahin, theils 
durch bie. beſonnenſte Abwägung „zu berichtigen: ſuchte, 
alles aber Durch umfichtiges Denken umfaßte, und das Bas 
währte. heronrhebend zu einem Ganzen orbnete, - Diefes 
iſt das wichtige Bach: Grundſätze Der-Örzichung . 
und des Unterrthts für Eltern, Hauslehrer 
und Schulmänner von Dr. Auguſt Herm. Nies 
mey.er,:1796. : Ein ſolches umfaflendes Exziehungsmerk 
hatte feine Ration aufzumeifen‘, und vermochte-anch nur 
die Deutfche, wenigſtens bis dahin, aufzuſtellen. Dem 
hochverdienten ſel. Niemeyer, den Schreiber dieſes auch 
als feinen Freund verehren durfte, wird hierin fein anſterb⸗ 
liches Lob bleiben; Das Buch war allgemeines Bedürfniß, 
und bat bis zum Hinfcheiden des Berfaflers S Auflagen er⸗ 
halten, bie 9te ift fo. eben angekündigt. Er ſpricht ſich 
über den Geiſt und Zwed felbft am beiten aus in ber Bors 
rede zur 6teu Ausg. 1810 folgendermaßen: „Das entflans 
bene Bebürfniß eines:wiederholten Abdrucks muß dem Vers 
faſſer um fo aufmunternder ſeyn, je weniger.er von ihrem 
erften. Erfcheinen an bis auf diefen Augenblick die Abſicht 
gehabt Hat, durch Aufftelung einer neuen Theorte. der 
Erziehung und des Uuterrichtd Aufſehen zu erregan Er 
wollte bloß dazu mitwirken, daß, was ſich lange bewährt 
hat, erhalten, was: beſſer geworben iſt, anerkaunt, ange⸗ 


730 5: 1. 2itwäniiche: Neberſich 


henden Exziehern und Lehrern der Jugend aber Die Kennt⸗ 
niß des Vorzüglichſten, was über deu Gegenſtand in frü⸗ 
heren und ſpaͤteren Zeiten gedacht und gelehrt ward, er 
leichtert würde.” Der Verfaſſer ſpricht dann weiter gegen 
den damaligen Zeitgeift in der Päbagngik, wie er befon- 
Ders auch Durch. ven Peſtalozzianiſmus angeregt wurde, 
mit wohlerwogenem Urtheil,.und erinnert baun, wie es 
„eine höhere Aufgabe ſey, Den ganzen Menfdhen er 
greifen, wohl gar eine Generation beflera wollen,” und 
fügt das fchöne Wort: „niemandem. geziemt Die Beſchei⸗ 
denheit fo. fehr. als Dem Menfchenerzieher.” Kerner. erklärt 
er es als feine Marime: „nicht Son dem plötzlichen Umge⸗ 
falten ſollen wu das Heil hoffenz nicht Secten und Schw 
len ſtiften, ſondern wir follen, unbefümmert ob Neu oder 


Alt, jeded.Ding nach feinem innern Gehalte würdigen; | 


die Kraft eines jeden, :der nur guten Willen hat, fid 
frei bewegen und Auffern laffen,. und immer bedenken, 
daß Der vielgeftaltige Menfch anf tauſendfache Art ergrif- 
fen ſeyn will, und es daher ſo wenig. eine ihn. allein bils 
bende Pädagogik, als eine allein. ſelig machende Kirche 
geben kann.“ Hiermit.hat der verewigte Verf. den Charak⸗ 
ter und. auch die Stelle feines. Werkes felbft und fehr rich⸗ 
tig bezeichnet... Es hat dad Ganze der Erziehung zuerfl 
zur vollfländigen Reflerion gebracht. Hiermit wurde aber 
auch bald ſichtbar, woran e8 aller Theorie und Kteräris 
ſchen Praris.bis dahin fehlte; es fehlte an dem tieferen 
Grund und dem alles zu einem Ganzen belebenden Geif. 
Das niemeper’fche Wert war einerfeits durch feine oben 
bemerkte Anficht vom Eflekticifmus, und andrerfeits Durch 
feine ebenfalls oben gerügte Anlage nach ben drei Seelen, 
vermögen zu ſehr gehindert, um diefem Mangel abzuhels 


fen, wodurch jedoch fein pädagogiſches Hauptverbienft jo 


wenig und noch weniger in den Schatten .geftellt wird, als 
im theologiſchen Gebiete z. B. das der reinharb’fchen Mo⸗ 
ral. In dieſem wie in jenem Werke kommt man naͤmlich 





der Pädagogik in den zwei lehteren Generationen. 731 


oft in die Verlegenheit, das, was man in ber einen Abtheis 
lung vorgefchrieben findet, ſich in * andern wieder unter⸗ 
ſagen zu laffem. 

Warum denn nicht — an die Quelle gegangen, 
und frif daraus geſchöpft, was überall bildend einfließen 
win? Wohl wurde bingebeutet bald an diefer bald an je⸗ 
ner Stelle, daß die fitliche Bildung die Hanptfache in der 
Erziehung ſey, und baß die veligiöfe nicht vernachläffigt 
werben bürfe, aber wie wenig verflanden fich die päbagos 
gifchen . Schriften darauf, was Dası eigentlich heiße! Es 
war nun einmal eine große Schüchternheit. bemerkbar, 
wenn man von Religion ſprach, um e8 nicht mit der Aufs 
Härung: ober Schöngeifterei zu verberben, und felten ſprach 
eine Stimme muthvoll herein, wie 5. 3. ein Cla udius 
in feinen Wandsbecker Boten. Die Pädagogen hätten 
auch. von ihm, und noch einem:und dem anbern chriftlichen 
Schriftfteller, der‘ außer ihrem Fache-fchrieb , manche Zus 
rechtweifungen erhalten können: dafür: aber capitnlirten 
fie lieber mit denen, welche der Religion nur fo. nebenbei 
Dach auch ihre: Lehrſtunden zumiefen, unb es. erfchienen 
überall nur Halbheiten. : Dagegen ſollte die Philoſophie 
eine ganze Erziehungswiflenfchaft: wie ans einem Stücke 
liefern. Mit der fantifchen war es nun. fchon nicht gegans 
gen, die ſichtiſche aber ſchien alles gut zu machen, am meis 
fien denjenigen, weichen das Princip jener gewaltigen Bes 
wegung- viel verſprach, ob ſie gleich. das Unheil der frau⸗ 
zöſiſchen Revolution verabfcheuten.. Da wurben nun bie 
Redenandie denutſche Nationvon Fichte (1806) 
als. ein Aufruf vernommen, ber viele begeiſterte. „Die 
geſunkene Nation ſollte ſich zu einem neuen Leben aufrich⸗ 
ten und das mittelſt einer Bildung zu einem durchaus 
neuen Selbſt — mittelft einer gänzlichen Veränderung bes 
bisherigen Erziehungsweſens — ſo daß bie Kinder allenfalls 
mit Gewalt den. Eltern entriffen, und aus dem verpeſten⸗ 
den Dunffreife entfernt em u. bgl. m. Das Hang, 

Theol, Stud, Jahrg. 1884 48 


732: . Biterdeifihe Ueberſicht 


als fey Dad gocdne: Zeitalter ſchen im Einzuge begriffen, 
aber wie man an die Anweundung: dachte, fo war alle 
nichts, und man lächelte über dieſe mehr als platomiſche 
Republik. Auch dieſe Philoſophie tänfchte ndfe Die Erwar- 
tung der Pädagogen. Defto ſtärker wurden zum manche 
von der. fheing’fchen angezogen, ober.nieimehr ihr wich⸗ 
tiges Ergeuguiß der Naturphiloſophie mußte tiefer iu die 
Entwicklung und Bildung der menſchlichen Natur eisfüh: 
ren. Unfere Wifenfchaft — dieſes Weortim weiteren Site 
gebraucht — erhielt durch mandıe geiſtreichr Schrift iu dies 
Sem Bereiche immer einigen Gewinn. Die Pchiloſophie 
der Erziehungstunfi vor J. I: Wegmwer.(1803) 
war keine der unbebentendften, wenn gleich die Grundider, 
welche der Verf. mathematiſch ausdrückt: Stein 2, 
Thier — a2. Menſch —.n? „ Then nüht Die! rechte; Idee 
war; dena dieſer Philoſpph hatte doch Ins Berivienft, ge 
gen die Abftractionen in deu Wiſſenſchaften zu ſprechen, 
und bie Theoriten anf bad Seyn abs. die wahre: Qurelle gu 
verweifen, auch marche gute: Pradtifche Winbe zu gieben. 
: Die meiften Erzichungsſchriften Died Ichten Doecenni⸗ 
ums ia Dem vorigen und des erſten in dem gegemmärtigen 
Jahrh. nahmen bas Philoſobhiſche babd ven dirſer bad vos 
jemer Seite auf, unter weichen Sch angeichnen K. MW eilder, 
Verfah eined Lehrgebäundes der Erziehung 
tunde After. Bd::19795. Bir Bd: EHE CR. 1133 5: Sehne, 
Hwndburh der Ergichung, 3 Rhede, 1799 —, 1808. 
Breiting,pbil.Briefe äber das Jer ini (TR. 
BSunbediffen, Anffägepäpagegifhen Snyadts; 
mehrerer anderer nicht zu gedeuten. ber ea fehlte: auch 
sicht an Belchrungen, welche tiefer in das menſchliche Herz 
blicken, und aus den Abſttactionen unbrEimfetigfeiten auf 
bie wahre Erziehung fir das: Beben hinweefen. Die Seagr 
mente über Erz und Meufdensilbuag on & 
Mor. Arm dit (4808. 181) auch Tıhlemes Erdutaun, 
eine Bildungdgefchingte & Ku: 160L+- 283 Haben 





der Pädagogik in dem zwei letzteren Mnerationen. 733 


gut eingewirkt, aber von großer und trefflicher Wirkſam⸗ 
keit war und it noch das Buch von dem ehrwürdigen fel, 
J. Mid. Sailer, über Erziehung an Erzixher 
(1803. 4te Aufl. 1822), und Das nicht bloß für das katho⸗ 
liſche Deutfchlaud. Für die Kenntriß bes menſchlichen 
Herzens, und für bie Behandiung ber Tugend euthäft es, 
bei der frommen Richtung auf das hoöchſte Ziel, bie feinfien 
Demeriungen.. Bon einer. au dern Seite ift Die kurze Erzier 
bungslehre von Dam wenſcheufreundlichen ſel. 8.9. Wolfe 
(18953 originell, nur aber in einer pedantiſchen Behand⸗ 
lung der Elementarbildung ig ber Mutterſprache. Allges 
mein praktiſch bieten ©, H. 2. Pölitz, Erziehungs 
wiſſenſchaft (1806) mehr in ſyſtematiſcher Form, und 
mehr in freier I. 2. Ewald, Borlefungen über bie 
Erziehungslchre, 2 Bde. (1808) dem Lefer bie bis da⸗ 
hin gebilfigten Grundſaͤtze der Erziehung bar, 

Die Bildung ber Töchter wurde in biefer Literatur 
uur mebeubei berädiichtigt, als aber ber Einfluß der Müt⸗ 
ter in dem ganzen Erzichungsgeſchäfte mehr in Betracht 
kamt, fp mußte auch von dieſer Seite das Behürfniß ger 
fühlt werben, welches ehnehin im Gange ber Eultur er 
wachte, daß man Dieien Zweig der Pädngegif eigens bear⸗ 
beite: Das Büchlein des frommen Fenelon aur Vednns- 
tion des filles mar veraltet, Die Schriften der Fran v. Gen 
lid, womit diefe padagogiſche Erzähleriu und Lehrerin Wi 
in ihr Alter reichtich das Publicum perforgte, waren lange 
Zeit hindurch Die Lectüre auch Der Mädchen in. frangäfe 
ſcher and heutfcher Serache. Mehrere Ersichungsichriften 
von engliſchen Franuenzimmarn, unter welchen die der Miß 
Wollſtoncéeraft für die Rechte deas Meibes.cam 
1790) nothwendig graße Geunſation erregte, wirken bis in 
die aoneſten Zeiten z. B, der Wiß Ed g ew orth auf deutſchen 
Boder verpflanzt. Uber dieſe ausländischen Belehrungen 
blieben mehr eine: augenehns Unterhaltung, allenfalls, auch 
um die Sprache zu erleynen, als daß nam darqus Die Bil⸗ 

48 * 


734 Literaͤriſche Ueberficht 

dung des weiblichen Geſchlechts in Dentichland erlernen 
konnte. Das Ausländifche fagte zwar ber Mode biswei- 
Ien zu, indeflen konnte Doch die franzöfffche tourmure nur 
für das ganz Aeußere dienen, wozu man jeboch Die Gous 
vernanten befler als bie Bücher gebrauchen konnte, und 
das feahionable der Engländer traf nur. in Wenigem mit 
der Bildung deutſcher Franenzinmer zufammen, weldyes 
wir denn aud dankbar aufnahmen. Warım follten wir 
aber gerade darin von Ausländern uns bilden Laffen, wor: 
in das deutſche Gemüth einen fo reihen Schaß beſitzt, 
und die deutfche Ration fo wiel Eigenthümliches und Bes 
neidenswerthes für ihre Bildung alltäglich gewinnt. Die 
Hauslichkeit, das Familienleben, die Würde der Frauen 
in reiner und fchöner Sitte, und vor allen die Mütterlich⸗ 
keit — möge doch diefer Bottesfegen unferm Deutfchland 
ftetö erhalten werden! Diefer Wunſch begeifterte auch 
manchen: Pädagogen. Schreiber: diefed ‘nennt fich gerne 
unter biefen, wenn gleich feine erſte Schrift im Erziehungs 
fache über die Mädchenerziehung (1792) jetzt eine 
andere ſeyn würde, aber er darf Doch daran erinnern, 
wie an die mancherlei einzelnen Belcehrungen und Winfe, 
welche für die Erziehung ber Töchter in Schriften, die 
nicht eigentlich davon handeln, gegeben wurden, fchon in 
ben Werfen von Hermes, dem Verf. von Sophiend Reis 
fen, und in ben freundlichen Erzählungen der reich gebils 
beten fel. Frau vonLa Roche. Tiefere Blicke fanden wir 
aber in manchen Abhandlungen von Schiller, und in 
Goͤthes auch an päbagogifchen Lehren fo reichem Werke 
Meifters Lehrjiahre; aud bei Herder und andern 
unſerer Elaffifer findet fic hierzu viel Treffliches. Ein 
eigens für diefe Bildung fchön und auch wahrhaft bildend 
gefchriebenes Werk ift Das vom der ausgezeichneten Erzie⸗ 
herin, der fl. Karoline Rudolphi, Gemälde, 
weibliher Erziehung 1807 (die 2te Aufl, erſchien 
nach dem Tode der Verf. 1815.) ' Schreiber dieſes fagt in 








der Pädagogik in ben zwei leßteren Generationen. 735 


der Vorrede zu diefer 2ten Ausg. „Als fie, die geiftreiche 
Erzieherin, eben ihr Gefchäft anfing, herrfchte der Dün- 
Bel des Zeitalterd, Daß es das aufgeflärtefte fey, und beſſer 
als die ganze Vorzeit, daß nur in feiner Philofophie das 
Heil gefunden werde, init dein Chriftenthume fey es übris 
gend nicht viel, auch fey der Menfch eigentlich.gut, und 
das Böfe liege nur in den Irrthümern des Berftanbes; 
das Wort Sinphaftigfeit und Verföhnung mochte man 
nicht mehr hören. O der. unfeligen Zeit des Hochmuths! 
Karoline Ruboipf erhob ſich über diefen Zeitgeift. Indefs 
fen ließ er fie Doch in manchem nicht fo völlig zur Einftims 
mung ihres tiefen Gemüths gelangen. Sie fagt 5. B. 
„„mein Kleines Häuflein, welches mir täglich die Güte der 
Menfchennatur beweifet, und fo Die Himmlifchen und gnäs 
dig bleiben, einft zum Beweife dienen wird ꝛc. ꝛc. Auch 
mit deinen Kindern muß es dir ganz nach Wunſch gelin- 
gen.” Das ift Doch offenbar zu viel von der menfchlichen 
Natur erwartet” ꝛc. ꝛc. — Man darf aber bei der Beurtheis 
Iung dieſes Buches nicht überfehen, Daß ed Gemälde find, 
ſchöne Ideale, die der Erziehungskunſt nicht fehlen dürfen. 
Was unfer geniale Jean Paul Richter über die Bil⸗ 
dung der Töchter mit feinen Herzensbliden in der fevancı 
fagt, deren erfte Aufl. gleichzeitig mit jener erften erfchien, 
werben wir befler inder folgenden Periode bemerken. Hip⸗ 
pel (gegen 1285), Brandes (1787), Pockels c1791), 
Schmerler (1791), Heydenreidh (1797), Ehren 
berg Os0H, Ewald cnad 1800), Campe um dDiefelbe 
Zeit, Ziegenbein (ſeit 1806), haben durch ihre Schrifs 
ten, die weibliche Erziehung betreffend, während jener Der 
cennien theild neue Ideen angegeben, theild das Beſſere 
zufammengeftellt, theild manches eigne Gute zur Ausfühs 
rung dargeboten, aber auch in der Hauptfache noch viele 
Mängel gelaffen. | | | 

Ein neuer Zweig in ber Pädagogik entwidelte fidy feit 
dem lebten Sahrzehend im vor. Sahrlh, die aͤſthetiſche 


736 eicerariſche Ueberftht 
Erziehung, amd zwar vornehmlich durch unſern Schil— 


ter in feinen Briefen über äſthet. Erz, welche in 


ven Huren (1795) erfchienen. Er fpricht ba im Gegen: 
ſatze gegen bie damalige pedantifche Richtung der Kantia⸗ 


ner, die mit ihrem Tategorifchett Imperativ it trocknen 


Formeln einherfchritten, und weiſet auf das Hohe um 
Edle in dem Gefühle, insbeſondere im Schönheitsſinne hin, 
Welchen man für das Ideale fchon frähzeitig bei den Kin 
dern erwecken müffe. Nur willer, gu wenig Der Kindes 
natur kundig, allzu frühe den Sinn fir die ſchönen For: 
ten erwecken; Dabei warnt er jedoch fehr nachdrücklich 
gegen eine fogenannte Geſchmacksbdildung, die es Hoch nicht 
tft, and das in einer eignen Abhandlung über Die Gren 
zen des Schöner im Vorträge philefo phiſcher 
Wahrheiten GGoren 1795). 

Indeſſen wurde die äſthetiſche Richtung vorhetrſchend, 
fie trat fogar in Verein mit der philauthropiſtiſchen Seich⸗ 
figfeit. Daß die Dichter die Bilder der Nation feyen, 
ift eine alte Behauptung, bie jedoch fehr befchräntt werden 
muß; gewiß ift es, daß fie von großem Einfluffe find, und 
das beweifet auch Die Geſchichte der deutfchen Eultur. 
Vieles haben Sie neueren deutfchen Dichter an unferer Ra- 
flon verſchuldet; wie erinnern hierbei tur an einen Wie 
land, deffen anziehend und geiftreidh gefchriebenen Schrif⸗ 
fen doc den heiligen Ernft fo fer untergraben; fein fchös 
nes Gedicht Dberon wollen wir übrigend nicht undenkbar 
verkennen. Die deutfche Nation bedarf beſonders and 
frommer Dichter, und diefe haben zu fever Zeit das Ges 
müth gefchitst und erhoben. Was wären wir ohne unſern 
Krechengefang geworden! und tie viel Haben wir in ber 
Zeit des anflöfenden Unglaubens ſchon allein unfern gel 
lert'ſchen Liedern zu verdanken! 

Die bisher dargeftellte Erziehungsperisde entwidelte 
mehr und nieht den Geift, weldyer fidy in den gut, Kar, 
lehrreich, anziehend, fruchtbar geſchtiebenen Werken von 





| 
| 


» 


der Pädagogik in den zwei lehzteren Generationen. 737 


Campe ausſpricht. Die Zeit von den Böger Jahren bie 
ins erſte Jahrzehend nach 1800 ift eigentlich bie Zeit dieſes 
Pädagogen; von dem an er bem genialen Peſtalozzi 
und deſſen Schule Platz machen mußte. Richt leicht wur⸗ 
den Schriften Iteber von Kindern gelefen, ald die campis 
fchen, und nicht leicht hat ein Scheiftfteller für die Jugend 
die Gabe fo klar, fo anziehend und fo belehrend zu fchreis 
ben, wie ber Berfaffer des jüngeren Robinfong, eis 
nes Kinderbuches, das feines Gleichen ſucht. Der Vers 
ftand findet da in jeder Zeile eine angenehme Aufforberung 
zum Nachdenfen, und viele Bereicherung für das gemeine 
Leben ; dabei geht Das Herz keineswegs leer and. Schade 
nur, Daß der tiefere Quell der Aufklärung nicht veichlicher 
in diefen Schriften fließt, und baß dieſer viel und lange 
wirkende Ingendfchriftfteller zu jenen Gebilbeten feiner Zeit 
gehörte, welche Das Ehriftenthum nicht recht, und bie höhere 
Geiſtesbildung, Die über den Realismus des gemeinen Lebens 
hinausgeht, fa gar nicht kannten. Das Wahre und Gute, 
was Campe lehrt, ſucht zwar mitunter das religiöfe Ges 
fühl zu erwedlen, aber das gefchieht faft nur auf dem Wege 
der Reflexion, und war für Die anf ſolchem Wege belehrte 
Generation nicht nachhaltig, wie am Tage liegt. 
Schreiber dieſes hatte ſich fchon in Den 90ger Jahren 

davon überzeugt, wie er oben bemerkt hat, baß bie fans . 
tiſche Philofophie weder für die Sittenlehre noch für Die 
Erziehungslehre Befriedigung gemähre; er überzeugte ſich 
bieranf noch mehr von dem Unzureichenden in der nur 
ſcheinbar mehr ind Toben eingehenden fichtifchen Philoſo⸗ 
phie. Als er damals feinemoralifchen Wiſſenſchaf⸗ 
ten als eine Art von Schulbuch ausarbeitete, ſo mußte 
er ſich nothwendig von dieſen damals geltenden Syſtemen 
mehr oder weniger entfernen, und in ſeinen Briefen 
das Erziehungs⸗und Predigergefchäft betref— 
fend (1796) entwidelte er feine Gedanken über die prak⸗ 
tifcehen Prineipien. Seitdem fühlte er ſich bei dem Zuneh⸗ 


733 iteraͤriſche Meberfiche 


men des Indifferentiſmus, bei der Hinneigung zu äſtheti⸗ 
ſchen oder philoſophiſchen Theorieen in der Erziehungslehre, 
und bei der vornehmen Zurückſetzung der empiriſchen An⸗ 
thropologie in der Jugendbildung, mitten in ſeiner eignen 
paädagogiſchen Thätigkeit mit jedem Tage mehr gebrungen, 
feine Gedanken über Erziehung in ein Ganzed auszuar⸗ 
beiten. Sp entftand feine Erziehungslehre, wovon 
als Ifter Band die Beftimmung des Menfchen in 
Briefen an erziehende Frauen i. J. 1802 erfchien, 
und die beiden andern Bände folgten; und im 5. 1813 bie 
Gefcichte der Erziehung. Da das Ganze indeffen i. J. 
1829 umgearbeitet worden, fo gehört es Der folgenden Pe⸗ 
riode an, wo wir auf daſſelbe zurückkommen werben, 
Ebenso kann erft in der neuen Periode, welche gegen 
das Ende des eriten Decenniumd des gegenwärtigen Sahrs 
hunberts begann, von ber peftalogzifchen Erziehungsidee bie 
Rede feyn, obwohl fie fchon früher aufgenommen wurbe, 
benn fie fagte dem Streben zur freien Entwidlung der 
Selbjtkraft zu. Wir werden dann die früheren Verbands 
Iungen über den Zwed der Erziehung nachholen, 

Was ift denn num der Fortfchritt, welchen die Menfchs 
heit während jener Erziehungsperiode in Deutfchland ges 
wonnen hat? Offenbar verbeffertes Schulwefen, allverbreis 
tete Aufklärung, freundlichere Erziehung der Kinder, mes 
thodifcher Unterricht der Jugend, allfeitige Uebung ver 
Kräfte, allgemein erregte Bildungsthätigfeit. Auf Der 
andern Seite find Die Erwarfımgen, in welchen man fo 
viel von Kofmopolitifmud und Humanität ſprach, wozu 
man die Sugend feit Baſedow erziehen wollte, eben nicht 
fonderlich befriedigt worden. Eher möchte der Egoifmus 
zugenommen haben, und vermehrtes Genußleben, Forbes 
rungen an die Welt, Unbefcheidenheit gegen die Erwach⸗ 
fenen bemerkbar feyn. Dem Zeitgeifte will e8 zwar nicht 
gefallen, was der Verf. diefes in feiner Gefchichte der Er- 

siehung von ber neneften Zeit gefagt hat. „Lehrer, Er⸗ 





der Pädagogik in ben zwei letzteren Generationen. 739 


zicher, Väter und Mütter hatten dahin geführt, daß, um 
ed mit zwei Worten zu bezeichnen, man mehr rechnet und 
weniger betet;” aber wahr ift ed doch, und wir fagen bie 
Wahrheit ohne Schen. Eben fo müffen wir fagen, daß 
wir die jeßige Tugend als eine verweichlichtere finden, 
als die vor funfzig Jahren, ob fie gleich feit geraumer 
Zeit gymnaſtiſch geübt, und in manchen Dingen phyſiſch 
abgehärtet wird. Denkt namlicd; der Verf. diefes an fein 
Knabenalter zurüd, fo trieben wir uns damals in Schnee 
und Eis, in Näffe und Hite leicht bekleidet herum, ohne 
daß man darauf achtete: jebt geht das Knäblein wie der 
Jüngling in Wolle und Mantel gehüllt, und doch leiden 
fo viele unter ihnen an Strofeln, Nheumatifmen und Ners 
venübeln. Worin die Urfache hiervon liegen mag, wollen 
wir nicht unterfuchen, aber hier nur an bie moralifche 
Verweichlichung erinnern, die man boch nicht in Abrebe 
ftellen kann. Sie befteht in dem Mangel an Selbftbeherrs 
fhung, in der Hingebung an Genuß, in einem Treiben, 
Das in den Strudel von Ausfchweifungen, in Herrfchfucdht 
und endlich in Lebensüberdruß fchon das Blütenalter hin⸗ 
reißt. 

Hat die Menſchheit in jener Periode unbezweifelte 
Fortſchritte gemacht, ſo ſind doch auch die angegebenen 
Rückſchritte unleugbar. Was nun für die Erziehung ſeit 
der letzten Generation bis zu der jet anflebenden in 
Deutfchland gefchrieben worden, hoffen wirim künftigen 
Hefte vorzulegen. ' 


a3 


Drudfehlersänzgeige. 


Im erken Hefte diefes Jahrganges der Studien und Kritiken 
bittet man folgende Druckfehler zu verbeſſern: 


N, 823,440 o. eine I. keine 
— u ed, v. o. Scheiben I, Scheibenrchern 
ou 88 3. 15 v. u. vielfach L. viel 
— 84 3. 8 v. 0. Gedachtes I. Gedrehtes. 


Es muß jedoch hierbei bemerkt werden, daß bie im Borſtehenden 
angefuͤhrten vier Worter auf ©. 82, 83 und 84 dieſes Jahrg. der 
Studien und Kritiken genau ſo gebruct find, wie fie in bem in bie 

, Öruderei gegebenen Manufcripte unverkennbar deutlich gefchrieben, 
und wie fie in Winer's Zeitfchrift für wiſſenſchaftliche — 2... 
4, Hft. ſchon einmal abgedruckt ſind. 


. 











Anzeige-Blatt. 


ERIIEIETIIEE LIE 
. & 


Im Verlage von Friedrich Perthes ift erfhienen: bie zweite 
Auflage von . 


E. Sartorius: die Lehre von Chrifti Perfon und Wert 
in populairen VBorlefungen. Preis 21 gl. 
Die dritte Auflage von 
. C. Tweſten, Borlefungen über die Dogmatik der 
evangelifch- Iutherifchen Kirche. Ir. Bd. Preis 2 ChL 


ferner \ = 
3. Tholuck, Eine Sammlung Prebigten in dem akade⸗ 
mifchen Gottesdienfte der Univerfität gehalten. Preis 


18 gl. 
een von vielen Seiten ber If der Wunſch ausgeſprochen wor⸗ 
den, daß es dem Hrn, Berf., deffen Predigten von Hunderten und Tau⸗ 
fenden in Halle wie früher in Berlin mit gefpannter Andacht gehört 
wurden, gefällig feyn möchte, eine zweite Sammlung derſelben zu vers 
anftalten. Diefe liegt nun vor uns, und wir find Überzeugt, daß, wehh 
gleich bei diefem Redner der mündliche Vortrag durch nichts erſett wers 
ven kann, doch auch das gefdyriebene Wort für Viele ein reicher Quell 
der Esbauung ſeyn werde, denn Geiſt und Leben athmen fie in jedem 
age, in jedem Worte wie wenige. Der Hr. Verf. hat fie feinen ehe⸗ 
maligen und gegenwärtigen Zuhörern gewidmet und mit einer Anſprache 
am dieſelben verjehen, die gewiß In Notd und Süd bei feinen zahlteichen 
Schütern lebendig anklingen wirb.”’ 


us 


Sm Verlage von Kriedrih Perthes wird erfcheinen und in den 

nächften Wochen verfendet werben : 

C. Ullmann, Joh. Weffel, ein Vorgänger Luthers, zur 
Charakteriftit der chriftl. Kirche und Theologie in ihrem 
Uebergange aud dem Mittelalter in bie Reformationszeit. 

Die Gegenwart des Leibes und Blutes Jeſu Ehrifti im Sa⸗ 
kramente des heiligen Abendmahls. | | 

Th. de Bengel, Opuscula academica ed. F. G. Pressel. 


Ackermann, Das Chriftliche im Plato und im feiner 
Philoſophie. | | j 
Homiletifches Magazin über die Epiftelterte des ganzen 
ai herausgegeben von Rehhof, 2r und lepter 

eil. 


Th. Schwartz über religiöſe Erziehung. 
Neander, allgemeine Geſchichte der chriſtlichen Religion 
und Kirche Ste Abth. Ir Bd. ® 


—— Siegmund Schmerber in Frankfurt a. M. erſchien 


Der Brief des Apoſtels Paulus an die Roͤmer, 
erklaͤrt von Dr. Conrad Gloͤckler, gr. 8. 
2 Thlr. 6 gl. Ä | 
Unter der Preſſe befindet fi: 
Die Evangelien ded Matthäus, Markus und Lu: 
kas, in Uebereinftimmung gebracht und erklärt 
von demfelben. | 


Bei 6. W. Eöflund in Stuttgart find in biefem Jahre erſchie⸗ 
nen: 

. Die Eöniglich preußifche MilitairsKirhenordnung 
vom 12. Febr. 1832, Vertheidigt gegen die Angriffe des 
Tatholifchen Religiong » und Kirchenfreunds 1832, Nr. 80. 
90. gr. 8. geh. 6 gr. — 27 Fr. 

Schneckenburger, Matth., über den Ursprung des er- 
sten kanonischen Evangeliums. Ein kritischer Versuch. 
(Aus den Studien der Würtembergischen Geistlichkeit, 
herausgegeben von C, B. Klaiber, besonders abgedruckt.) 
gr. 8. 1834. 18gl. — 1fl.21 kr. i 


Seubert, ©. B., Predigten auf alle Sonn⸗ und Feſttage 
des Jahrs. Zweiter Jahrgang. Zweiter Theil, gr. & 
1 Thlr. 16 gl. — 3 fl. 

Studien der evangelischen Geistlichkeit Würtembergs. 
Herausgegeben von C. B. Klaiber, VIr Bd. erstes Heft. 
gr. 8. 20.gr. — 1fl. 30 kr. 

Inhalt des letzteren: 


I. Ueber den Ursprung des ‚ersten kanonischen Evangeliums. 
Ein kritischer Versuch von Dr. Schneckenburger. 

I. Ueber den Gebrauch der Lüge bei der Erziehung und 

dem Unterrichte der Kinder von J. G. Süskind. 





ı 


In der Jagereſchen Wuchs, Papier 3 ud Lanblarttuhandtu 
in Frankfurt — iſt in Gemein erſchienen und. in allen Bub 
bandlungen zu haben: ER — 

Was hat Mohammed aus dem Judenthume auf⸗ 
gen ommen? Eine von der Tönigl. preußifchen Rhein⸗ 
niverfität gekrönte Preisfchrift von 
A. Geiger, Rabbiner zu Wiesbaden. 

J Preis 1Thlr. 4 gr. — 2 fl. — 

Dieſe wichtige Arbeit, von dem Verfaſſer auf Veranlaffung einer 
von der Univerfität in Bonn geſtellten Preisaufgabe unternommen, ers 
hielt von jener den Preis zuerkannt, und dürfte demnach fchon hier 


aus allen denen zu. empfehlen feyn, welche Theil an ähnlichen For⸗ 
fhungen nehmen, | u 


Bei H. Laupp in Zübingen iſt erfchienen: Rn 
Theologifche Duartalfchrift. In Verbindung mit mehreren 
Gelehrten Herauenegenen von Dr. v. Drey, Dr. Herbft, 
Dr. Hirfcher und Dr. Möhler, Profefforen der Theolos 
ie, Fatholifcher Fakultät, an ber königl. Univerfität in 
übingen, Sahrgang 1834, 2tes Heft. Preis des ganz, 

zen Sahrgangs 5 fl. —. ne — — 
Anhalt I. Abhandlungen — Was iſt in unſerer Zeit von Syno⸗ 

den zu erwarten? von Dr. v. Drey. — Kritiſche Unterſuchungen über 
die Schriften Juſtins des Maͤrtyrers, erſter Artikel von Arendt; 
I. Recenſionen. Ss. 





Bei Joh, Ambr. Barth in Leipzig ist erschienen und. in allen 
Buchhandlungen zu haben: Ta BERN 
Schott, Dr. H. A. etDr. J. F. Winzer, Commeatarii in 
- epistolas Novi Testamenti. Vol. I. 8 maj. 3 Thir. 12 gr. 
Auch unter dem Titel: Mi ur a 
Epistolae Pauli ad Thessalonicenses et Gala- 
tas. . Textum graecum recognovit, et, commentario per 
petuo illustravit Dr. H.A. Schott. 0° 


Der den gegenwärtigen wissenschaftlichen Bedürfnissen ange- 

messene Commentar über die sämmtlichen neutestamentlichen Briefe, 
“ dessen ersten Band das obige Werk bildet, ist für alle diejenigen 
bestimmt, welche den in akademischen Vorlesungen empfangenen 
exegetischen Unterricht durch eigenes Stadium zu drgängen und zu 
verrollkommnen wünschen, als Fortsetzung des von Herrn 
Geheimen Kirchenrath Dr. Kuinoel herausgegebenen 
rühmlichst bekannten Gommentarius in libros N. T. 
historicos, dem er sich sowohl in Methode und innerer 
Einrichtung im Wesentlichen anschliesst, wie auc . in der äus- 
sern Einrichtung, ausgenommen dass, zur Bequemi.chkeit der 
Leser, auch der griechische Text jedes einzelnen. Verses, 
oder, wo es die Natur der Sache erfordert, die genau zusammen- 
hängenden ‘Verse, jedesmal vor der Erläuterung mit abgedruckt 
wird. : Das Ganze ist auf 5 Bände berechnet, von denen ‘der zweite 
zur Ostermesse 1885 erscheint. ' — DE: 


F Js 


N 


‚Bosenmäller, BE. F. G, Schelis in Vetus Testamentum. 
Pers EI. Vol. I. - Ed. 3. auet. et emend. 8 mej. Charta 
impr. 2 Thir. Charta script. 2 Thir. 6 gr. Charta Berol, 

2 . 12 gr. ‚Charta vellum 2 Thlr. 18 gr. 
“ Auch unter dem Titel: 

Jesaiae Vaticinia, annotatione perpetus: illust. Vol. IL 


Unger, M. U. F., Reben an künftige Beiftliche zur Ein 
führung in ihre Univerfitätsinhre und. zur. Erbauung für 
—alle Diener und Freunde ber Kirche. gr. 8. 1 Thir. 16 gr. 
Dieſe Arbeit, deren Verfaffer dem Theologen durch die vor fecht 
Jahren erfchienenen Tateinifhen Worlefungen über die Parabeln Jeft 
befannt ift, kommt einem vielfach gefühlten Bedürfniß angehen: 
der Theologen zur Weihe in ihr akabemifches Studium und 
Leben entgegen, und möchte folchen befonder® von Schulen und von 
vBatern und Freunden zum Andeyken auf bie Univerftht mitgegeben 
werden. Zugleich möchte es den älteren Studirenden umd ben 
Sandbidaten und Geiftlichen zu einer erbaulichen Mückerinnerung, 
u einem Ueberblick Über den. egenwärtigen Stand der theologifden 
iffenfhaften und zu einer vollftändigen Mittheilung Über die heutigen 
alademtichen- Bilbungsverhältnifte , fiber die fie oft felder jungen Freun⸗ 
den rathen follen, nicht unmwilllommen ſeyn. Endlich dürfen wir fie 
aud gebildeten Vätern künftiger Geiſtlichen, nicht theologifchen Kit: 
gen patronen, weitlihen Beamten, pie mit Kirche und Geiſtlich⸗ 
keit in. Amtöberührung Eommen, Bolksngrtuetern im Panke und 
in der Gemeinde, denen Kirche und Univerfität zunächſt am Herzen 
liegen, überhaupt Allen in der deutfch > proteftantifchen Kirche, die auch 
außerhalb der Preäbpterialverfaffung ſchon Helfer der Kirche fern 
wollen‘, zu einer ernften Lectüre darbieten, da fie alle gewiß gern eins 
mal, ohne langes theologifches Studium, die gefammte heutige Aufgabe 
bes geikichen Amts und ber dazu gehörigen Bildungi und d z u wleder 
ernortzaclichen akademiſchen Borbildung überklickten, und 69 dahej ſo 
indirect nicht ungern an die dringendſten frommen Wünſche für Kirche 
u Univerfität erinnern ließpn, die noch mit ihrer Beihilfe zu erfüllen 
ven 0: er — J 
Kobnig, Ed., Syſtem der analytiſchen Philoſophie als 
Wahrheitslehre. gt 8, ‚1 Thlr. ſche a oſoph 


ı_2 


r — 12 x a = " i 


et : x , ; | } Das = = i — — 
te Rd Hülfsbüchlein 


in. ut. e urn >) ‚| 2 * 
nun. sc Agheveiche Freudon⸗ und Tvauergeſchichte 
— des Dovfes Mildheim ie 

Io 1. N 


eg N von —— 
Rudolxh Zacharias Becker. 
DB, die neue Ausgate man 3. Bad, Beger's Roth: und 
 alfabichlein 3* den gegenwaͤrtigen Bedlrfnigen und Ver⸗ 
Atniſſen des. deutſchen Landmannes — und ein ſehr brauch⸗ 
ares Lehrbuch für deſſen geſammtes Leben und Wirken fen, iſt pon 
vielen Seiten anerkannt worden, Die koͤniglich preußiſchen Kegieruns 





RN 


en zu Sumbinnen, Danzig, gl: Bromberg, Frank 
Furt a, d. Ober, Merfeburg, Erfurt, Münfter, Minden, 
Arnsberg, bie Landesregierungen von Naſſau, ©. Gotha, ©, 
Meiningen, Shwarzburgs Sondershaufen, Schwarzs 
burgs Rubolftadt u. X. haben baffelbe einer Empfehlung an Bes 
amte und Ortsvorſteher, Geiftlihe und Schullehrer gewürdigt, damit 
durch deſſen Verbreitung Gutes gewirkt werde. 

„Die in diefem Bude,” fagt u. A. die herzogl. ſachſ. goth. Lanz 
beöregierung in einer Bekanntmachung vom 6. Oct. v. 3,, „an bie 
unterhaltende Gefchichte des Dorfes Milbheim geknüpften Lehren find 
ganz geeignet, die Sittlichkeit der Landleute zu heben, die Gefehmäf- 
figteit und Orbnung in dem Gemeinwefen zu fördern, den Aberglau⸗ 
ben zu befämpfen, Allem, was Recht und heilfam ift, ben Weg zu 
bahnen und dabei die Zufriedenheit des Landmannes mit feinem Stande 
und Berufe zu erhöhen. Weber ben ganzen Kreis feiner Beſchäftigun⸗ 
gen und Über Alles, was ibm Noth thut und wozu er Hülfe braucht, 
findet der Landmann in diefem Buche kurze Beichrung , die zugleich 
das eigene Nachdenken welt. Beamte und Ortsvorſteher, nachſt den 
Geiftlihen und Schullehrern, werben fi) daher um die Förderung ber 
Bildung des Landmannes fehr verdient machen, wenn fie für die Anz 
fhaffung diefes nüglihen und dabei fehr wohlfeilen Buchs wirkfam 
find.” 
Das Bud bebarf daher Keiner weiteren Empfehlung von unferer 
Geite, und wir machen nur noch einmal auf den wohlfeilen Preis 
deſſelben — 20 Grofchen (25 Sgl.) oder 1 fl. SO Er. Rhnl. für 561 
Bogen mit einer Menge ſchoͤner Holzſchnitte — aufmerkfam. Behörden, 
Gutsbefiger und Gemeinden, welche 25 und mehr Exemplare auf einmal 
nehmen, erhalten biefelben zu einem noch weit billigeren Preife, 

N. 3. Beder’s 
Mildheimifhes Liederbuch 
von ahthundert Iuftigen und ernfthaften Gefängen 
über alle Dinge in der Welt und alle Umftände des menſch⸗ 
lichen Lebens, die man befingen kann. 35 Bogen in 8 
brofch. 12 ggl. (15 Sgl, oder 54 fr. Rhnl.) 

Diefe anerkannt trefflihe, wohlfeile Lieberfammlung empfehlen 
wir mit der neuen Ausgabe der Gefhichte von Mildheim, von dem 
es ben Namen trägt, in neuer Geftalt den gefanglufligen „Freunden 
erlaubter Froͤhlichkeit und echter Tugend, die den Kopf nicht hängt,” 
für welche es der Verf. beſtimmt hat. Die dazu gehörigen: 

Melodien zu dem Mildh. Kiederbuche 
für das Glgvier oder Pianoforte 
436 Seiten in 4., guten NRotendrudes, find durd alle Buchhandlun⸗ 
N den Außerft wohlfeilen Preis von 24 Thlr. (4 fl. 30 fr. Rhnl.) 
zu haben. j 
Gotha, im May 1834, | 
Bederfhe Buchhandlung. 





* . . 
a B 
— .. 
A r 
5 . 
‘ P 
: “ 
5 - 
. 
— ° s ‘ [2 * ⸗ 
1 
. ” D 
. 
D * = 
a x 
. 
[2 % ‘ 
ı 
er . 
re . . . vırto : 
: . 
® + s 
! ; . . 
J 4 = 
. .. — 
* 
— FE . 
® ’q 
. ’ . 
: “ 2 
— « .o . ® ’ . 2 
Pr L} 
BE . we — 
F 5 
= J 1 
⸗ . . . en 
ı 
J + . ⸗ . “ 
.. R 
. . " = . T 
. . U “ 
.. L ⸗ 
— 
—— 1 ‘. $ S ’ . 
. 
® — 
N .. ” x er r « . 
S - . q . “7 
- 622 ⸗ Lu ı. ‚ s 
“.s * 
gi t . . r “ ’ a 
il 224 n Pe Br £ „it. De 0. 
N = 
... +: « 2 _ — er . .- — * 
und ., ? + [3 ’ * k 5 ‘ { ’ 
. 
B 224 F J “.. = rt ’ x = * — 
—R .. .. * — . — des id ’ 
‚ . ”. R 
— u Dr Dies Br 
—W 22 
F oe nt * — 
2 Dr} ee} * * BR Er 
. A D D 
—W6 u... [Pe En — 22 ne \ ; 
\ ’ * ... - ’ * 
F J {$ Ser, . ’ 21 — 
v + . » ... 2er .1» 
— ——— — —* er‘ .. . . 2 
— er . ns —— . . . 4. Kur ur Le Peer . » u { 
; P F Be 
. ‘ « - 
”. — ı ' 4 ’ . 7 s : EN « 
, — * ve. * 
... .. Dr I,’ 
* 
— a | a) vo eın.. „te 
& s Pre Bere ek, ge 
ı “ » ‚ re Br .. 
— Pe ta a. -wiTr Buy . 
D 
FE ft 20. . — er . x 
k ‘ + ’ 
"red J 2 e⸗0 vorg 2·2.. Bern | F — 7 nt a 
“ 
w r . r ‚ J . Ba ’ 
— Ct ? . . .o PER Ep j wo u. Sn ” —— “nn Ns. ” 
[2 
. — 
er | } . 5 
N r rı 
ar ya | LIE —J 
— — r a ie PP — 
»924 — 2 J < 
‘ 
i q 
- 
4 
. 
+ 
» 
x 
- 





Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 


für 


das geſammte Gebiet der Theologie, 
in Verbindung mit | 
D. Gieſeler, D. Lüde und D. Nitzſch, 


herausgegeben 


von 


D. &, ullmann und D. F. W. ©. Umbreit, 


Profeſſoren an den Univerfitäten zu Kalle und Beidelberg. 





Jahrgang 1834 viertes Heft. 


a  — 
Hamburg, | 
bei Friedrich Perthe s. 
1834 


. 
” Pr 
“ « [7 
4 
. 
x 5 
“ ’ 
RT 
* 
— Be 
. ” . * * 
@ 
ya + 
Kemper Er - 
bs * Fr) 
* + 
\ 
. —— 
vo: 
» 
>» mar DW T 77 
nor 


» — 
.. 
x ’ 
u *, 
* . 
r 
2 .. 
% . 
.r: a), 9; er rn 
; r 
2 ’ * 
2 ’. FR — ® 
... DEE Tr Zr — 
4 
9 oo 
’ . — 
. 
2 “a 
‘ — eo. 2 
ha — her = 
. 1 
— 3 
* ⸗ — 
— B Eee 
% s‘ 
se 7 —— t 
’ 4 PS Er zRr Tr 
DEUTET] 
. Pr i 
rend EIS Zu u — 


[72 


—8R 


| 


‚m 





b \ B 9 


—————— 


49 * 


‘ 
nu 
. 
— 


| | 1. 3 
Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermanher, 
=. . = v on . 2 Der J 


Dr. Friedrich Lücke. 


Alis die überraſchende Kunde: won Dr. Schleiermachers 
Tode mich erſchreckte und das Bilb des auch mir beſonders 
theuren Mannes durch den Schmerz gleichſam friſcher und 
lebendiger meine ganze Seele erfülltke, ſchien es mir in ſei⸗ 
nem Geiſte recht gethan zu ſeyn, wenn ich mich alſobald 
ermannte und dem betäubten Gefühle über den Verluſt 
des Unerſetzlichen durch dankbare Erinnerungen und Be⸗ 
trachtungen deſſen, was die göttliche Gnade durch ihn er⸗ 
halten und gefchaffen har, Milde und Klarheit zu geben 
fuchte.- So find: diefe- Erinnerungdblätter entſtanden. Bes 
fcheiden und anſpruchslos in unfern Studien und Kritifen 
niedergelegt, mögen fie dazu dienen, nebft meinem perſön⸗ 
lichen Dante gegen den werklärten Freund auch die Dank⸗ 
barkeit diefer Zeitfchrift gegen den Mann zu bezeugen, der 
ihr nicht nur von Anfang an als ihre glänzendfte Zierde ans 
gehörte, ſondern aus um Geifte fle recht eigentlich ge⸗ 
boren iſt. 





786 Ba 5 


Mir haben in diefem Luftrum oft den Schmerz gehabt, 


die ausgezeichnetften Männer unfered Volkes Dahinfcheiden 


zu fehen, gerade diejenigen, denen das jetzige Gefchleht 


auf verfchiedenen Gebieten des geiftigen Lebens feitten eis 
genthümlichen Charakter und Fortichritt verdankt. 

Barthold Niebuhr, der große Gefchichtsforfcher, eröffs 
net die Reihe der großen Todten, im Anfange einer flürs 
miſchen Zeit, in der über dem allgemeinen Unheil der bes 
‚fondere Berluft des großen Mannes augenblicklich wenis 
ger gefühlt, aber nicht werfchmerzt werden konnte. Ihm 
find Göthe, Hegel m. a. gefolgt. Nun ift aud Schleier 
macher nicht mehr unter und. So werben ung Die großen 
PHerfönlichkeiten, die Halt » und Lichtpuncte unferer Zeit, 
einer nach dem andern hinweggenommen. Das gefchieht 
nach der ewigen Orbnung ber Natur. Aber es ift nichte 
defto weniger fchmerzhaftl. Wer die Höhen und Berge 
lieb hat, fteigt ungern hernieber in die flache Ebene. Und 
Doch ift dieſer Wechfel von Berg und Ebene, von Höhen 
und Flächen auch auf dem geiftigen Gebiete Drbnung und 
Geſetz. Die Gefchichte Der Menfchheit geht hindurch zwis 
[chen Soncentration und Entftehung in großen Subividuen 
und allmählicher Ausbreitung und Entwidlung in ber 
Maffe, Alſo hat es die göttliche Weisheit und Liebe von 
Anfang an geordnet. Niemand darf Darüber Flagen, am 
wenigiten ber, den das Evangelium gelehrt hat, auch im 
Tode das Gefeb des Lebens unb in dem vergänglichen 
Reiche der Natur das ewige Reich der ST. Gnade zu 
erfennen. 

Als Schleiermadger an einem ber leßten Tobtenfefte 
die chriftliche Gemeinde über ‚ben Verluſt großer Männer 
aus ben Ordnungen des göttlichen Reiches belchrte und 
tröftete, ſprach er die denfwürbigen Worte: „Huch. das ift 
„die göttliche Drdnung, daß unter den Menfchenfindern 
mein großer, ja oft fehr großer Unterſchied Statt findet, 
„fowohl was die geiftigen Gaben betrifft, mit denen fle 





Erinnerungen an Dr. Br. Schleirmaher. 747 


„Gott andgerüftet hat, als auch in Beziehung auf bie Stelle, 
„welche er ihnen angewiefen hat und auf Die äußeren Be- 
„dingungen der Wirkſamkeit, durch die der eine vor dem 
„andern beglinftigt erfcheint. Diefer Unterſchied iſt da 
„und wir Dürfen ihu nicht leugnen, fo daß, wenn wir Die 
„menſchlichen Dinge im Allgemeinen betrachten, wir auch 
„nicht fagen können, ein menfchliches Leben habe denſelben 
„Werth, wie das andere. Und dieſe göttliche Ordnung, 
„wo hätte fie ſich wohl heller gegeigt, welches wäre der. 
„ſtärkſte Ausdruck derfelben, als der Unterfchied zwiſchen 
„dem Erloöſer und allen andern Menſchenkindern. Das 
„war der höchſte Gipfel, auf welchen ſich Diefe Berfchieden- 
„beit der Menfchen fteigern follte, bag in dem fündigen 
„Sefchlechte der Menfchen das Wort Fleifc werben und 
„das Ebenbild Gottes unter ihnen wandeln follte, Gegen 
„dieſen Unterfchieb verfchwindet wohl gewiß jeder andere, 
„und dennoch folte auch der fo Ausgezeichnete in feiner 
„perfönlichen Wirkſamkeit kaum die Blüthe des männlichen 
„Alters erreichen und dann wieder von hinnen genommen 
„werben, Und was fandte er an feine Stelle? Wodurch 
„follte nun das weiter gefördert werden, was er begonnen 
„hatte? Den Geift der Wahrheit fandte er und goß ihn 
„aus über die Seinigen, ber ed von bem Seinigen nahm 
„unb ihnen verflärte, Der Die Gaben vertheilte und ſich nach 
„feinem Wohlgefallen in einem größeren und geringeren 
„Maße nicht unbezengt ließ an dem und jenem. Und ähn- 
„lic verhält es ſich auch in allen menfchlichen Dingen. 
„SD freilih, wenn wir und Das aus vielfältigen Verwick⸗ 
„lungen bunt zufammengefeßte Gewebe unfrer gemein: 
„famen Angelegenheiten vergegenwärtigen im Großen und 
„im Einzelnen, wie viel fcheint da nicht oft auf einem theu⸗ 
„ren Haupte zu ruhen!. wie oft wiederholt ſich die Erfah 
„rung, Daß von dem Entjchluffe eines Einzigen, ob er zur. 
„Neife kommt oder nicht, ein großer Theil von dem nächſt 
„beuorftehenden Verlaufe der menfchlichen Dinge abhängt, 


748 — Laͤcke 8 


„Krieg und Friede, Ordnung ober Zerflörung, Heil ober 
„Berderben! So geht .ed in Beziehung auf Die bür; 
„Hgerlichen Angelegenheiten der Menſchen: daffelbe iſt auch 
„der Fall, wenn wir auf den Anbau ihrer verſchiedenen 
„geiftigen Kräfte fehen, wo auch oft einer vorleuchtet mit 
„einem großen Beifpiel, Bahnen ebnet, die vorher vers 
„ſchloſſen waren; aber er muß eine Zeitlang in feiner Wirk 
„ſamkeit geſchützt ſeyn, foll nicht das neugeöffnete Feld 
„wieder verſchüttet werden und nichts anderes bleiben, 
„als was vor ihm auch. war... Jedoch laßt und nicht ver: 
„geflen, der Erlöfer war auf der einen Seite die Spitze, 
„der höchite Gipfel Diefer göttlichen Drdnungz; aber er war 
„auch auf.der andern Seite der, durch welchen das in Ers 
„füllung gehen follte, daß alle Thäler müffen gefüllt and | 
„alle Höhen geebnet werden. Und. je mehr die Gemein 
„ſchaft der Menfchen fich entwickelt, je weiter fich die freund» 
„lichen Berührungen erftreden, welche alle als ein’ gemein, 
„fames Band umfclingen, je größer die Einwirkungen 
„find, die fid von jedem Orte aus überall hin verbreiten: 
„defto mehr verringert fich der Einfluß einzelner Menfchen. 
„Am meiften fol das der Fall ſeyn und ift es auch in der 
„Gemeinde des Heren in Bezug auf Alles, was zu ben 
. „Angelegenheiten des Heiles gehört. Auch hier fehen wir 
- „freilich, wie zunächft an Die Stelle des Erlöfers der Geil, 
„welchen er ausgegoffen hatte, fich nur feine Apoftel und 
„wenige andere einzelne geflaltete zu befondern Rüftzengen; 
„und auch.fpäterhin fehen wir von Zeit zu Zeit, daß auch 
„die Kirche Chrifti in ſolche Verwickelungen nach außen oder 
„in folche Verfinfterungen in fich felbft geräth, daß ber 
„Geiſt Gottes eine vorzügliche Kraft in Einzelne legen 
„mußte, ein vorzüglich helles Licht in einer oder in weni 
„gen Seelen anzünden, damit fo von. einzelnen Puncten 
„aus ein neues Leben entfiehe, welches fich immer weiter 
„verbreite, . die Finfterniß Durchdringe, und, die ba todt 
„waren, in dem Namen des Herren wieder erwecke zu einem 








Erinnerungen an Dr. Ir. Schleiermacher. 749 


„neuen und frifchen Leben. Aber das iſt ja unfere wahre 
„Zuverſicht zu dem Reiche Gotted und feinem Beftehen, 
„daß biefer Störungen immer weniger werben und deßs 
„balb auch immer feltener die Nothwendigfeit, daß Eins 
„zelne hervorragen in dem Reiche des Herrn. Wenn ber 
„Geift Gottes fein Werk in dem menfchlichen Gefchlechte 
„immer mehr vollbringen fol, fo muß er immer mehr alls 
„feitig in demfelben walten, fo muß fein Dafeyn und Wirs 
„ten erfannt werden können in jedem menfchlichen Leben: 
„und in Demfelben Maße muß die Ungleichheit abnehmen 
„unter denen, die das Heil in dem Namen des Herrn ges 
„Funden haben, und ed nun auch weiter fortpflanzen wollen 
„in der Welt. Darumfo oftwirvonirgendbeinem 
„Einzelnen aus feinem Leben und Wirfen das 
„Gefühl befommen, er fey in einem größeren 
„oder geringeren Maße immer Doc ein befon- 
„Deres Werkzeug Gottes und feines Geiſtes: fo 
„ann uns denn freylich wohl, wenn die Zeit 
„ſeinesWirkens zu Endegeht,eineBangigkeit 
„auffteigen in unſren Herzen, aber fie iſt nicht 
„das Werk des Glaubens. Diefer folles wiffen, 
„daß der Herr, wenn er abruft, auch wieder 
„beruft und einſetzt, daß ed ihm nie fehlen 
„wird an Werfzeugen, um das zuvolibringen, 
„was in feinem Sohne und durch ihn ewig 
„ſchon vollbracht ift und in dem Laufe der Zeit 
„immer mehr vollbracht werden ſoll durch 
„das immer gleichmäßigere Zuſammenwirken 
„menſchlicher von Gott erleuchteter und von 
„Gott geleiteter Kräfte” — 

So hat ung der chriftliche Weife durch feine wahrhaft 
prophetifche Deutung der Ordnungen des göttlichen Reis 
ches gleihfam im Voraus über feinen Verluft getröftet, 
und der Erinnerung und Betrachtung über ihn den Sta⸗ 
chel genommen, der ohne chriftliches Glauben und Hoffen 


750 Luͤcke's 


um fo ſchmerzhafter wäre, je größer der Verluſt iſt, ben 
wir durch feinen Tod erleiden. 


Schleiermacher gehört zu den hochbegabten Männern, 
welche überall, wohin ihr äußerer und innerer Beruf fie 
führt, Licht und Leben verbreiten, Neues fchaffen, ord- 
nen, regieren. Er war eine von ben Föniglicyen, herrfchens 
den Naturen. Er ift in Den verfchiedenften Gebieten und 
Richtungen wirkſam gewefen, in allen ausgezeichnet und 
herrſchend. Er war gelehrter Theolog und Prediger des 
göttlichen Wortes, Philofoph und Philolog; das größere 
Publicum Fennt ihn als geiftreichen Schriftfteller über Die 
wichtigften Angelegenheiten des Tages; auch ald Geſchäfts⸗ 
mann war er in feinem Kreife beliebt und hochgeachtet. 
88 ift nicht meine Abficht, die großen Gaben und Ber: 
dienfte Schleiermachers vollftändig und alfeitig darzuſtel⸗ 
len. Died ift die Aufgabe einer befondern Biographie, 
wozu ed aus bem vertrauteren Kreife feiner lebten SSahre 
weder an Geſchick noch Luft fehlen wird. Sch befhränfe 
mich auf dasjenige Gebiet, auf welchem Schleiermacher 
von Anfang an einheimifch war, dem er nach innerem 
und äußerem Berufe vorzugsweiſe angehörte, dag Gebiet 
. der Theologie und Kirche. Darin ift er epochemachend, 
wie wenige, Dr. Neander kündigte die eben empfangene 
Nachricht von dem Tode feines geliebten Lehrers und Col⸗ 
legen feinen Zuhörern mit den Worten an: „es fey der 
Mann dahingefchieden, von dem man fünftig eine neue 
Epoche in der Theologie Datiren werde.” Es wird nichtan 
folchen fehlen, welche dieß aus Unwiſſenheit oder kleinli⸗ 
chem Neide oder Parteifucht leugnen. Aber mir ift nicht 
bange, baß die Nachwelt, je mehr feine Wirkfamteit in 
ihrem ganzen Umfange und Zufammenhange ſich entfalten 
wird, wohlwiſſend, neidlos und unpartetifch das Urtheil 
bes eriten Schmerzes beftätigen wird. Gie wird, fie muß 


Grinnerungen an Dr. Sr. Schleiermacher. 751 


ihn als denjenigen nennen, mit welchem eine neue theos - 
logiſche und kirchliche Richtung energifch begonnen hat. 
Sm Allgemeinen bezeichnet Schleiermacher ben Uebers 
gang der deutfchen proteftantifchen Theologie und Kirche 
aus der mehr negatiskritifchen, gerftreuenden und zerftör 
renden Richtung zu der wiederanufbauenden pofttiven Res 
formation, in der wir jegt begriffen find, Es liegt in Dies 
fer Reformation zweierlei, ein Zurüdgehen und ein Forts 
ſchreiten. Unter dem Zurückgehen verftehe ich Die Wieder⸗ 
aufnahme des pofitiven Ehriftenthumes in Die ganze Tiefe 
und Fülle des frommen Gemüthes; die Wieberbringung 
bes firengen, zufammenhängenden chriftlichen Denkens und 
die Wiederbelebung det Idee der kirchlichen Gemeinfchaft. 
Dieß find die unveränderlichen Elemente jedes gefunden 
ehriftlichen Lebens. Unſere proteftantifche Theologie und 
Kirche ift darauf gebaut. Sie können nie verloren gehen 
in ber Kirche des Herrn. Aber fie waren eine Zeitlang 
unter uns mehr und weniger verbunfelt, zerfireuet, ents 
fräftet. Die Aufgabe der heutigen Zeit ift, fle von neuem 
zu beleben, zu fammeln, zu Eräftigen. Dieß aber ift nicht 
möglich ohne den lebendigen Fortfchritt der Wiflenfchaft, 
welche je länger je mehr alles bloß Menfchliche, alles Zus 
fällige, Unwefentliche, alle Satung und Willtür von dem 
urſprünglichen Worte Gottes fcheidet, in dem Buchftaben 
und Der Form den lebendigen Geift frei und wirkſam macht; 
aber eben durch dem frei gemachten Geift die urfprüngliche 
Form erhält und belebt, und indem fie das Verſtändniß 
des göttlichen Wortes in feiner Höhe und Tiefe öffnet, 
den Widerfpruch und Zweifel Dagegen aufimmer verfchließt. 
Diefe Wiffenfchaft wird vorzugsweiſe fritifch verfahren. 
Richt alle Kritik ift fortfchreitend und reformatorifch. Wir 
haben eine Fennen gelernt, welche ohne chriftl. Geift und 
Inhalt die Fülle des Evangeliums durch die Leerheit, den 
Glauben durch den Uinglauben, die Wahrheit durch Einbils 
dungen und Einfälle zu verfiehen und zu richten meinte. 


7152 Luͤcke'6 


In dieſer war fein Heil, ſondern Rüdfchritt und Verder⸗ 
ben. Die ſchmerzhafteſten Erfahrungen haben uns über⸗ 
zeugt, daß Die wahre Kritik nur aus der Fülle und Con⸗ 
centration des chriftlichen Lebens und Denkens hervorgeht, 
daß die chriftliche Wiffenfchaft nur, indem fie ſich demüthig 
und gläubig in die Tiefen des göttlichen Wortes eintaudt, 
Kraft und Recht gewinnt, die Wahrheit des Evangeliums 
zu verfiehen und nach dieſer Wahrheit allen Irrthum und 
alles unchriſtliche Wefen zu richten und zu verurtheilen. 
Schleiermachers Sugend fallt in Die Zeit, in ber bie 
durch Semler in der chriftlichen Gefchichte und durch Kant 
in der Philoſophie zuerft angeregte Kritik ihren heilfamen 
Kampf mit der früheren geiftlos und abgeſchmackt gewor⸗ 
denen Orthodorie begann. Es war Diefelbe Zeit, wo wie 
Durch einen Gewitterfturm nach langer Ruhe alle Elemente 
bes bürgerlichen, litterarifchen, kirchlichen Lebens heftig 
erfchüttert wurden, und bie alten Formen, Drdnungen 
und Sitten auch in unferm Baterlandezerbrachen. Schleier: 
macher, obgleich in einer Gemeinde erzogen, bie nach ihrer 
ganzen Art von jenen revolutionären Bewegungen ber 
Zeit am weiteften entfernt und Dagegen verfchloffen war, 
konnte fich Doch denfelben um fo weniger entziehen, da er 
von Natur zu jenen felbfiftändigen und bewegenden Geis 
ftern gehörte, welche Bewegung hervorbringen, wenn fie 
feine finden, deren Lebendelement das freie Fragen, For: 
fchen und Zweifeln iſt. Sn der Dedication feiner Neben 
über Die Religion an feinen Sugendfreund Guſtav Brück⸗ 
mann in Stodholm, der mit ihm zugleich in der Brüder: 
gemeinde erzogen wurde, erinnert er dieſen an jene Zeit, 
„wo fich gemeinfchaftlich. die Denfart beider Sünglinge 
entwidelte, und wo fie losgeſpannt durch eigenen Muth 
and dem gleichen Soche, freimüthig und von jedem Anfehn 
unbeftochen die Wahrheit fuchend jene Harmonie mit der 
Welt in ſich hervorzurufen anfingen, welche ihr inneres 
Gefühl ihnen weiffagend zum Ziele feßte und welche dad 


Srinnerungen an Dr. Er. Schleiermader. 753 


Leben nach allen Seiten immer. vollkommener ausdrücken 
fol.’ Aber bei aller Gewalt des freiheitliebenden;, Fritis 
ſchen Geiſtes, die ihn auch mitten in der befchränften ſtil⸗ 
len Gemeinde in bie Bewegungen. der Zeit.hineingog,; und 
ihn. nachher, als er in die große. Gemeinſchaft der protes 
ftantifchen Kirche und Univerfität'zurüdtrat, nöthigte, an 
allen Bewegungen, insbefondere an allen. wiffenfchaftlichen 
Forſchungen, Fragen und Zweifeln der Zeit lebendigen 
und eingreifenden Antheil zu nehmen, blieb er.boch innerkich 
und nuauflöslid) gebunden an die eben fo große Gemalt des 
frommien Gemüthes, womit Gott ihn begabt und in wel« 
chem eben jene Gemeinde: bie erfte.fräftige Anregung und 
die beftimmte Richtung: auf den ewigen Lebensinhalt ist 
bem Erlöfer und feiner. Gemeinfhaft gegeben 
hatte. Sich. habe es miesohne innige Rührung lefen können, 
was Schleiermacher in dankbarer Erinnerung an Die femme 
Erziehung,. die er in der Brüdergemeinde empfangen hat; 
in feinen Reben über Die Religion. ſagt: „Frömmigkeit, 
fagt er, war der.mütterliche Leib,. in deſſen heiligem Dune 
fel mein junges Leben genährt und auf die ihm. nad) vers 
fchloflene Welt. vorbereitet wurbe, in. ihr athmete mei 
Geift, ehe er noch fein eigenthüniliches Gebiet. in Willen 
fhaft und. Lebenserfahrung. gefunden-hatte: ſie half. mir, 
als ich anfing, ben väterlichen Glauben zu fichten und Ge⸗ 
danfen and Gefühle zu reinigen von dem Schutte ber Vor⸗ 
welt: ſie blieb mir, als auch der Gott und die Unſterhlich⸗ 
keit der kindlichen Zeit dem zweifelnden Auge verſchwau⸗ 
ben ©); fie leitete mich abſichtslos in Das thätige Leben; 
fie zeigte mir, wie.ich mich. ſelbſt mit meinen Vorzügen, und 
Mängeln in meinem ungetheilten Dafeyn. heilig :halten 
folle und — ſie habe ich en. und. Ense ge⸗ 
lernt.ꝰ 


a) Wer ohne alle eigene Erfahrung an ſolchen Dingen” das mißver⸗ 
ſtehen konnte / den "weißt bie betreffende — zu diefer 
Stelle in den Erläuterungen zurecht. Ta 


754 Lade 


So wurde Schleiermachers Natur und Leben vor zwei 
gleich mächtigen Gewalten bewegt und beherrfcht! Bei eis 
nem fo durchaus gefunden Geiſte konute die Rede nicht das 
von feyn, bie eine ber andern zum Opfer zu bringen, fons 
dern. nur, jebe in ihrem Rechte und Kreife zu erhalten, zu 
ſchützen und zu vollenden. Schleiermacher hat ſehr früh 
die große Aufgabe erkannt, die freie wiflenfchaftliche For⸗ 
ſchung und bie durch das Wort Gottes und Ehrifti ge 
bundene Frömmigkeit ohne Bermengung, ohne gegenfeitige 
Berlegung und Hemmung fo zu vereinigen, daß der Wis 
derfpruch und bie. Feindfchaft, worein fie durch die Bes 
wegungen: Der Zeit mit einander gerathen waren, je länger 
je mehr verfchwänden. Die Löſung diefer Aufgabe war 
recht eigentlich Die Arbeit feines ganzen Lebens. Er fuchte 
fie auf dem befchwerliden Wege der Scheidung, bie zu 
den höchiten und: tiefften Einheitäpuncten. beide Elemente 
in ihrer Eigenthümlichkeit verfolgend. Er fonderte Theo, 
logie und Philofophie, Glaube und Speeulation, Kirche 
and Staat, wit aller ihm verliehenen Schärfe der Dialek⸗ 
tif, aber indem er jebem ber beiben Gegenſätze bie ihm eis 
genthimliche Sphäre anwies, worin jedes burch bas ans 
dere ungeflört aus fich ſelbſt fi entfalten und vollenden 
ſollte, hielt er mit gleicher Klarheit und Innigkeit bie große 
Borausfegung bed gläubigen Gemüthes fe, daß, wie 
beides in der innerſten Wurzel bes Geiſteslebens Eins jey, 
fo auch die volle Einheit und Verſoͤhnung das nothwendige 
Reſultat jeder gefunden Entwicklung bes Verſchiedenen feyn 
müffe. Wie er aber dieſe Einheit und Berfühnung weder 
für eine fpeculative Glaubensformel hielt, womit alled 
Denken anfange, noch fir einen leichten Raub, deſſen fi 
jeder Zräge ober Leichtfiunige ohne Mühe burch Halbhei⸗ 
“ ten bemächtigen könne, fondern für die unendliche Auf⸗ 
gabe und das lebte Refultat einer gemeinfamen Fritifchen 
Arbeit ‚Aller, auf allen Gebieten bed Lebens, fa konnte es 
leicht gefchehen, daß, weil er vorzugsweiſe in der Arbeit 


Erinnerungen an Dr. Fr. Schleiermacher. 755 


ber Sonderung und Auseinanderſetzung als feiner nächſten 
Aufgabe begriffen war, die Unaufmerffamen ihn mehr zu 
den entzweienden, ſtörenden anb auseinanderreißenden, 
als zu den. wahrhaft ansfühnenden, bauenben und refor⸗ 
mirenben Geiſtern ber. Zeit rechnen zu mifign glaudten. 
Mer aber feine Denkweiſe and. Thätigkeit im Großen und 
Ganzen betrachtete, mußte balb gewahr werben, daß er 
zu jenen großartigen Männern gehörte, In Deren eigen⸗ 
thüntlihem Weſen ſich das Ebelfte und Befte ihrer Zeit 
'eoncentrirt, und deren befondere Lebensaufgabe zugleich 
die gemeinfame höchfte Aufgabe ber Zeit tft, d.h. In dieſem 
Falle, die Reformation durch gleich kräftige Scheidung und 
Ausſohnung der Gegenſaͤtze. Sein Verdienſt beficht eben 
darin, die reformatsrifchen Bedürfniffe und @lemente ber 
Zeit auf den chriſtlichen Gebiete wicht wur mit voller Rlacheit 
erfunnt, fordern durch fein eigenthlmliches, theologifches 
Denten und Wirken auf eine ausgezeichnete Weiſe defrie⸗ 
digt und geflaltet zu haben, — Schleiermacher wäre in je 
den andern, als dem theologifchen Berufe groß und herr⸗ 
fchenb geworben. Die Zeit, in der er feinen befondern Be⸗ 
ruf wählte, war dieſelbe, welche Spalbing von dr Ru 
bBarseit des Prebigtamted zu überzeugen nöthig' hatte, 
Der Staat zeigte ihm glängendere Bahnen, als die Kirche, 
nnd feinem Geifte hätte Leicht jede andere Wilfenichaft gus 
ſagender erfcheinen fönnen, als eben: bie Theologie, in der 
damals mehr, ald in jeder andern, Mangel an Bildung, 
wiberlicher Streit und Zerfiörung hertfihte. Aber er wuhlte 
den theologifchen, Firchlichen Beruf, weil fein innerfte® 
Weſen ihn dazu trieb. Die Theologie und Kirche ſind von 
frab an ber innerſte Mittelpunct feiner Thätigkeit gewe⸗ 
fen; ſeine Lirbe Dazu iſt mit den Sahren gewachſen; "bie 
philoſo phiſchen und philologifchen Studien waren ein Res 
benwerk und keine Liebhaberei für ihn, aber feine Virtuv⸗ 
ſität darin ‚hat nur dazu gedient, feine. theologiſche und 
kirchliche Meifterfchaft zu ſchmücken und zu volleuden. 


756 | 07 We 


> ‚Schleiermacher hat die Reformation der Zeit-in ber 
Theologie und Kirche nicht allein vollbracht. Kein großer 
Mann fteht allein, ohne Hülfe und Gemeinfchaft in feiner 
Zeit. Aber Schleiermacher. ift mit wahrer Originalität vor 
angegangen, er; hat die theologifche.und kirchliche Neubil⸗ 
dung yorzugsweife angeregt und geleitet, und Die vor 
nehmften Hülfen und Genoffen feines Werkes fich erſt ge 
bildet. Er hat eine Schule gefiftet, fofern er beſonders 
feit feinem erſten Auftreten. ald Lehrer der Theologie und 
Prediger in Halle durch Rede und Schrift.eine Menge bes 
geifterter Zuhörer und Berehrer um ſich gefammelt und an 
ſich gefeffelt hat, welche von ihm angeregt uud bvelebt in 
feinem Geiſte gewirkt haben. und. noch wirken. Es möchte 
unter denen, welche der neuen Richtung. in. der Theologie 
und Kirche dienſtbar und hälfreich geworden find, wenige ge⸗ 
den, welche nicht ben Borlefungen: ober den Schriften Schlei⸗ 
ermachers ihre vornehmſte Anregung verdanken. Ja mittels 
bar. find alle neueren Theologen feine Schüler (geworben, 
ſelbſt Diejenigen, melche jetzt einer andern, felbit entgegen⸗ 
gefeßten Richtung folgen... Seine Anregung wenigſtens il 
die bewußte oder unbewußte Borandfegung bei Allen, Hat 
er; in dieſem Sinne eine Schule geftiftet, ſo hat er es in 
einem andern. Sinne nicht. Es: war: feine Art, mehr ans 
regend, als vorfchreibend ‚mehr verbreitent und freimas 
hend, als zufammenziehend, ausfchließend und bindend 
zu wirken. Eine Schule, Die mit bewußter Abficht als Pars 
tei auftritt, fich in einer beftimmten Manier abfchließt und 
verfohließt, hat er nie ftiften wollen. . Dazu ftand.ihm bei 
aller Kraft und Schärfe feiner Suhjectivität bie Kirche und 
Wiſſenſchaft zu. hoch und war fein. Geiſt zu. frei und umfafs 
fend. Wie er ſelbſt bei alfer-Sicherheit und Fülle Des Ges 
fundeuen ein Such en der, Enryrwog; war und bis at 
fein. Ende blieb, wie er. freie. Eigenthümlichkeit zu den 
höcften Gütern: bed Lebens rechnete: fo war ihm auch in 
feiner Wirkſamleit vorzüglich nur daran. gelegen, . jeden 





Geinnerungen an Dr. Br Schleiermacher. 757 


zu einem nach Wahrheit. mit Ernſt und Liebe Suchenden 
zu. bilden, die Eigenthümlichkeit eines eben fo frei und 
frifch zu machen, daß er bei aller Auregung von Außen die 
Wahrheit. anf feine Weife mit’ Freiheit befigen könnte. 
Freie, felbftftändige Schüler wollte er ziehen, ſelaviſche 
Nachbeter und Nachtreter waren ihm verbrießlich. — 
Aber es gibt nücht wenige unter feinen: Schülern, welche, 
obwohl durch ihn zuerft angeregt für Die neue Richtung, 
nachher zum Theil in Widerfpruch nud Kampf mit ihm ges 
rathen find. Dieß hat manchen. Freund Schleiermachers 
betrübt, am meiften dann, wenn den Bellimpfenden anzu⸗ 
merken war, baß fie die. beften Waffen erft ihm entwenbet 
oder von ihm gelernt hatten zu gebrauchen. Wir tönen 
fie in feinem .Geifte nur daun tadeln, wenn fie undankbar 
für das Empfangene die Gemeinfchaft der Liebe mit ihm 
aufgehoben haben. Leber. bie-Berfchiedenheit.der Richtuns 
gen und die Abweichungen von ihm war Niemand.getröftes 
ter, als Schleiermacher felbft 9. Er war. nicht ohne Sinn 
für Hebevolle Anerkennung und Anſchließung; Verbennung 
und lieblofe Trennung konnten ihn ſchmerzen; aber:er hatte 
aufrichtige Freude an der Mannichfaltigkeit der Beziehun⸗ 
gen und Richtungen, an Gegenjägen und ehrlichen Kim 


a) Es fcheint mir, fagt er in den Griäuterungen zu den Heben Über 
die Religion S. 345, befonbers in jeder Zeit eine® regeren teils 
gioͤſen Lebens, wie fie "unleugbar — jedt — bei und eingefreten If, 
für alle biejenigen ‚ welde, ſey es nun amtlich ober auch ohne 
äußern, nur kraft ihres inneren Berufs, eine merklichej zeligädfe 
Birkfamkeit ausüben, zu ihrer eigenen Beruhigung höchſt noth⸗ 
wendig, ſich zu dieſer freieren Anſicht zu erheben (S. die ſchöne 
Stelle in den Reden S. 212 liber das Meiſter⸗und JIhngerfeyn 
auf dem religisſen Gebiete), damit fie ſich nicht⸗ wundetn, wenn 
Viele von denjenigen, welche zuerſt von ihnen find ‚angeregt wäre 
den, hernach doch in. einer ziemlich verſchiedenen Anſicht und Em⸗ 
pſindungsweiſe erſt ihre volle Beruhigung finden. Feder freue 
fi Leben erregt zu haben, denn daburd) bewährt er’ fich 
als Werkzeug. des göttlichen Geiftesz keiner aber — daß · die 
Geſtaltung. — Gewalt ſtehe. = in. 23il 

Theol. Stud. Jahrg. 1834 50 


7688 .n Bee 


geiftigen Freiheit überhaupt einen. ganz beſondern matärlis 


chen Grund in ihm ſelbſt, und idy bin überzeugt, daß 
Schletermacher ihn kannte. . Ex hatte auf eine eigenthüm⸗ 
liche Weiſe die verfchiedenen Elemente der Theologie in 
fich vereinigt.und gu.einem großartigen Ganzen verbunden 
Aber was in ihm durch Natur und Fleiß innig verbunden 
war, war es nicht in Allen. Neben den großen Männern, 
weldye durch ihre. Ratur und‘ Art im Mittelpuncte ber 
Dinge ſtehen, iſt auf ber Peripherie und im Kreife immer 
Die Menge derer, welche, wenn. fie auch von bem Mittel 


punete angezogen und befiimmt. werden, : immer. nur bie 
eine Seite und Richtung, ‚bie ihnen am meiften zuſagt, oder | 


worüber fie zuerſt Herr werben, verfolgen, und. Darüber die 
andern und am Enbe ben Zuſammenhang bildenden Mittels 
punet verlieren. Sp ging es bei Schleiermacher. Viele, bie 
er zuerſt wieber für Das poſitive Khriſtenthum gewonnen, 
oder denen er bie tiefe Quelle bes religiöfen Lebens im 
unmittelbaren Gefuͤhl geöffnet, ober Denen er. Den Fräftigen 
Sufammendang und bie Wahrheit im Beifte des Tirchlichen 
Lehrſyſtems klar und lieb gemacht haste, fanden ſich bas 
durch ſo mächtig angeregt und fortgetrieben, daß ſie über 
dieſer Richtung die andere Seite, die er von dem Mittel⸗ 
punete aus, worin ex lebte, mit gleicher. Liebe und Kraft 
fefthielt, die kritiſche, überfahen und verloren, ja am Ende 
entfremdet biefelbe als etwas Feindliches betrachteten. 
Bemerkenswerth und ein Zeugniß für bie chriftliche Reben 
digkeit feiner Lehrweiſe ift, daß unter denen, welche vors 
sugsweife bie. Eritifche Seite feiner Theologie liebgewannen 
und darin weiter gingen, wohl Niemand ſeyn möchte, ber 
nicht zugleid; das religiöfe und poſitive Kirchliche Moment 
feftgehalten und gepflegt hätte... Aber wie Schleiermader 
von ber lebendigen Mitte aus, wo er fand, bie einfeitis 
gen Richtungen der Zeit leicht erkannte, und, wenn fie ein 


Uebergewicht zu bekommen droheten, für Pflicht hielt, fie, 








Erinnerungen an Dr. $r, Schleiermacher. 759 


wenn nicht unmittelbar, Doch mittelbar dadurch zu bekaͤm⸗ 
pfen, Daß er Die entgegengefeßgte Seite ftärfer hervorhob, — 
fo konnte es leicht gefchehen, daß, wer ihn in diefer Rich⸗ 
tung mit Entfchiedenheit und Eifer kämpfen fah, zumal, 
wenn er ſelbſt von bem zürnenden Ajar getroffen wurde, 
meinen Tonnte, er fiche im Widerfpruch und Feindſchaft 
mit der Wahrheit, die er doch fonft ſelbſt vertheidigt hatte, 
So find Mifverfländniffe, file und laute Feindfchaften 
und Treanungen mitten unter Denen entftanden, welche 
ihm fonft angehörten. Er felbft fagt darüber in feiner Art: 
„Tritt eine einfeitige Tendenz allguftarf hervor, fo ift es 
meine, ich weiß nicht, fol ich fagen, Art oder Unart, daß 
ich and natürlicher Furcht, das Schifflein, in dem wir alle 
fahren, möchte umfchlagen, fo ſtark ald bei meinem gerin⸗ 
gen Gewichte möglich iſt auf Die entgegengefette Seite 
trete” Auch dieſes harmlofe Wort der maßhaltenden 
und bewahrenden Wahrheit und Liebe haben Diejenigen 
mißverfianben, und als endlih zu Rage kommenden 
Ausdruck feines inneren Schwankens und Schaukelns 
verfihrieen, welche in den verfchiebenen Richtungen der _ 
Zeit nur Berberben und in dem Gegenſatze, den fie mit 
Born beftreiten, nichts ald Unwahrheit und Abfall vom 
Shriftenthume fehen, Bon diefer hochmüthigen Art war 
Schleiermacher weit entfernt. Bei aller Größe des Gewich⸗ 
tes, Das er auf Die Seite brachte, wo er gerade Fämpfte, 
hat er Doc; niemals Das Gentrum der wahren reformatoris 
fhen, ale Elemente bes chriftlichen Lebens und Denkens 
vereinigenden Theologie vergeffen, ſondern fo oft er auch 
nad, verfchiedenen Seiten hin kaͤmpfend auszog, hat er fich 
immer wieber mit Liebe darauf, ale feinen eigentlichen Stand⸗ 
punct, zurückgezogen, und Die Duelle bes lebendigen Evan⸗ 
geliums nie verlaffen. Nur zwei Feinde hatte er, bie er 
als folche immerbar won nenem befämpfte, bis auf ben 
legten Mann, die Knechtſchaft des Buchſtabens, welche bie 
J 50 * 


760 | „Lüuͤcke's 


Freiheit, und die frivole Flachheit, welche die ewige Wahr⸗ 
heit des Evangeliums leugnet. 


Betrachten wir jetzt die wiſſenſchaftlich theologiſche 


und praktiſch kirchliche Wirkſamkeit Schleiermachers im 


Einzelnen und charakteriſiren zunächſt jene, wie ſie ſich in 
feinen Schriften darſtellt, fo liegt der charakteriſtiſche Aus⸗ 
gangspunct berfelben in feinen Durch Lob und Tadel gleich 
berühmt gewordenen Reden über die Religion 
an die Gebildeten unter ihren Berächtern. 
Diefe erſchienen zuerft 1799, dann 1806 und 1821, dad 
Dritte Mal mit erläuternden und rechtfertigenden Anmer- 
fungen. Die Schrift gehört zum Theil ganz der Zeit an, 
in der fie entftanden iſt; fie trägt das Gepräge der Bezie⸗ 
hungen und der Gemeinfchaft, in welcher fie zuerft gefchries 
ben wurde. Es war eben die Zeit, wo e8 in einem nicht 
Heinen Kreife noch für geiftvoller und gebildeter gehalten 
wurde, die Religion, insbefondere die pofttive chriftliche, 
sn befampfen, oder fie höchſtens als Zuchtmittel des ges 
meinen Volkes den Herrfchern zu empfehlen, als fie zu vers 
theidigen ald nothwendigen Grund und Halt aller wahren 
Bildung der Menfchheit. Die herrfchenden theologifchen 
Schulen, — weder bie orthodore, noch die heterodore, — 
waren wenig geeignet, bie frivolen Vorurtheile der Zeit 
gegen die Religion zu zerftreuen. Die Kirchliche Ortho⸗ 
dorie hielt an Begriffen und Formeln: feft, welche durch 
den wahren Fortfchritt der Zeit ihre Kraft und Lebendig- 
feit in der Kirche wirflich verloren hatten. Die Hetero 
dorie aber, die philefophifche, wie die hiftorifch kritiſche, 
war damals überwiegend im Niederreißen begriffen; es 
fehlte ihr die Iebendige Idee der Religion, die Divination, 
Die Begeifterung, Neues und Befferes zu erbauen; ja fie 
war zum Theil darauf aus, Die Religion ihres Principats 
zu berauben, fle aus dem Centrum des Lebens in die Sei 














Erinnerungen an Dr. Br, Schleiermacher. 76% 


tert » und DBintergebände ber Wiffenfchaft oder der durch fich 
ſelbſt beftehenden Sittlichfeit zu verweifen.: Die beftimmt 
im Allgemeinen den Zweck, Snhalt und Ton jener Reben. 
Schleiermacher fühlte fi gedrungen, mit der doppelten 
Heeresmacht einer: jugendlich. friſchen Begeifterung für Die 
Peligion und einer fcharfen lebendigen Dialektik auszuzie⸗ 
heu, das Gebiet der Religion für. Die, Gebildeten gleichſam 
Von neuem zu entdecken und zu erobern, Die Religion in ihr 
rem wahren urfprünglichen Sieg, indem vollen Glanze ihrer 
Macht und Schönheit, befreist: son Mißverftändniffen und 
Entftelungenihrer Feinde und Freunde barzuftellen, und die 
irgendwie Empfanglichen zu neuer liebe dafür zuentflammen. 
Ohne eine ungewöhnlich glänzende Beredtſamkeit ſchien ihm 
dieß nicht moͤglich! Dieſe iſt auch von Gegnern wenigſteus 
bewundert worden, und hat wohl weſentlich dazu beigetra⸗ 
gen, auch die Verſchloßneren für den Gegenſtand zu intereſſi⸗ 
ren. Es ſind Reben, ſagte damals Friedrich Schlegel, Die er⸗ 
ſten dor Art, die wir im Deutſchen haben, voll Kraft und 
Feuer und doch ſehr kunſtreich, in einem Style, ber. eines 
Alten nicht unwurdig wäre: — Die Gemeinfchaft, in der 
Schleier macher damals Iebte, war: bie Genoſſenſchaft jener 
friſchen, vielleicht etwas übermüthigen Geiſter, welche ih⸗ 
zen entſchiedenen Widerſpruch gegen die Armfeligkeit und 
Philiſterei Der Zeit. durch eine, Fühme und kecke Polemik in 
dem Athenaum Tundgaben.und geltend. machten. Hieraus 
erklaͤrt Jich zum Theil die polemifche Form, die Kedheit 
und Kühnheit der Behauptungen, wodurd die Reben ben 
fogenannten. Befonnenen und. Nüchternen eben fo fehr ein 
Aergervißy: als jugendlichen Gemüthern eine Freude was 
zen. Aber abftoßend, wie angiebend, waren fie. für ale im 
höchften: Grade. erregend. Unleugbar war Die Art, ‚wie 
Schleiermacher das Weſen der. Religion in jenen Neben 
auffaßte und darſtellte, ein Product -feiner ganzen bisheri⸗ 
gen Bildung und au,treues Abbild, feiner Individualität, 
Friedrich Schlegel nannte es in Diefer Hinficht „Das eigenfte 


I /:v 2.— + Bade 


Bad, mas wir haben, von einer unendlichen Subfectivis 
tie? Ein Maris, ber ſich dewußt geworden war, bie 
Religion in der tiefſten Tiefe feines Geiſtes, als den heis 
ligſten Feuerheerd ſeines Lebens, vor:aller Speeulation 
der Wiſſenſchaft und vor allem Handeln in ſich zw haben, 
als die tiefere Quelle-von beiden, — konnte fie weder als 
ein Erzeugniß, noch als Hälfteiche Ergänzung des Wiſſem 
und Handelns denken. Er wies iht ald madhangiger Herr⸗ 
ſcherin über das ganze Leben das Gefühl als urſprüug⸗ 
lichen und weſentlichen Sitz an, aber das Gefühl als Cen⸗ 
tral⸗ und Brennpunct, als innerſte Wurzel des geiſtigen 
Lebens. Um alles, was unter den Menſchen Religion iſt, 
ls ſolches zur Anerkennung zu bringen, und liebevoll 
auch die unterſten Stufen berfelben in die Idee der Reli⸗ 
gion aufnehmen zu koͤnnen, faßte ef dieſe ſudjecrtiv fo weit, 
und objectiv ſo allgemein als irgend nidglich. Aber wie er 
fih bewußt war, die Religion ald eine beſtimmte and 
währe nur als Chriſt und in Vver chriſtlichen Kirche zu be⸗ 
ſitzen, ſo mußte er auch darauf ausgehen, zu zeigen, wie 
alle Religion in der Menſchheit nur durch poſitive Religion 
und Gemeinfchaft wirklich und Tebendig;feh. Unverkennbar 
tft in den Reden ber. Einfing ſeiner Studien des Plato, 
Spinoza, Kant, Jakobi und Fichte; Aber Diefe halfen ihm 
nur anregend und bildend, ſich feier Eizenthümleichten 
recht bewußt. zu werden. Wer Die Reben aufmerkſam und 
ohne Vorurtheil lieſt, wird leicht etkennen, vaß Schleier 
macher in feinem Denken über die Religion wederjalo⸗ 
diſch noch fichtiſch, weder platoniſch noch ſpinoziſriſch, ſon⸗ 
dern ganz er ſeldſt iſt, und zwar er ſelbſt mit ſeinem im Chri⸗ 
ſtenthume tief eingewurzelten Geutüth. Man hat ihm 
gerade am meiften diefer Reden wegen den’ Vorwurf bed 
Pantheismus gemacht, oft gedankenlos, aber zuw eilen mit 
Beſinnung und Ernſt. Der Schein, ja: dr beſtinmute 
Ausdruck iſt hie undda allerdingo igugen ihn. Aber nam, 
wer den beſondern Stanbyuner and Shut wer Neden in 











Erinnerungen an Dr. Ir. Schleiermacher. 703 
ihrer Zeit unbeachtet Shßs,. und mißverſtehend einzelne Auf 


ſerſte Grenzpuncte für den Mittelpunet und Kern berfelben, 


i 


hlt, nur wer jede tiefere und innigere Auffaſſung des im 


’ 
F 


religiöfen Gemuthe unauflöslichen Verhältniſſes zwiſchen 
Gott und der Wels für Pantheidmus erklaͤrt und ſich Lieber, 


jede kalte mechaniſche Anſicht von der Welt ohne den 
lebendig in Ihre wirffamen Gott, als tegend. welche Erwei⸗ 
hung und Entſchraͤnkung ſtarrer und sinfeitiger Begriffe 
gefallen: läßt, kann den Pantheismus fie Schleiermacdhers 
wahre und bleibende Meinung halten. Wenigſtens nad) 
ben, was. Schleiermacher in. der dritten Ausgabe erläns 
teend Darüber gefagt hat, ift ed unmöglich, ohne @igenfinn 
und Verletzung der. Liebe den Borwurf zu wieberholem 
Die Reden gehören allerdings einer früheren Bildungs⸗ 
und Durchgangsftufe in Schleiermacher Leben an und 
wmäfen daraus erklärt werben. Nach der Dogmatik hätte 
er fie nicht mehr ‚fchreiben können, oder anders fchreiben 
müſſen. Es find Schugreden mehr für die Religion über⸗ 
haupt, als für dad Chriftenthum insbeſondere, gleichfam 
im Borhofe der Theologie, fat möchte ich fagen, im Vor⸗ 
hofe der Helden gehalten, — aber dennoch enthalten fie 
bereits deutlich genng die eigenthümlichen Grundlagen und 
Grundrichtungen feiner ganzen Theologie, und es erklärt 
fi Daraus, daß, ale Schleiermacher im J. 1821 die, wie 
er meinte, von dem indeß veränderten Zeitalter nicht mehr 
geforderte Schrift Doch wieder vorzunehmen genöthigt war 
su einer neuen Ausgabe, er bei Bergleichung Der jugendlichen 
Arbeit mit feinem gereifteren chriftlichen Denken in den 
Anmerkungen zwar manches zu erläutern, mandjed zu mos 
bifigiren und au entfchuldigen, aber doch wefentlic; nichts 
zu bereuen und aufzugeben fand. 

Bis zum J. 1804 war ex ale eigentlich gelehrter Theo⸗ 
Ing wohl nur in engeren Kreifen befannt. Seitdem er aber 
in diefem Jahre als Sffentlicher Lehrer der Theologie in 
Halle auftrat, erregte er zunächſt Durch. feine Vorleſungen 


| 
J 


) 


1 4 3 De TEE EHE 111.19 BER ABER 


die Aufmerkſamkeit, bald auch bie. hingebendfte Begeifterung 
ber empfänglicdyen: Jugend. Ich evinnere mich fehr. wohl, 
wiedamald ältere Mitfchiten von mir aus Halle zurückleh⸗ 
send das nene Licht, Das ihnen in: Schleiermacher aufge 
gungen war,  hegeiltert:priefen.. Es lag in.der. Geſchichte 
feiner Bildung und feiner Individnalität, daß er, außer der 
fpftentatifchen. und praftifchen Theologie, indbefondere die 
neuteſtamentliche Exegeſe und Kritik mit Vorliebe betrieb. 
Er hat auf dieſem Gebiete tiefeingehenbe und umfaſſende 
Studien gemacht, aber unfireitig. mehr. nach der chriſtlichen 
und griechifchen Seite hin, ald nash..ber.altteflam: und hes 
bräifchen., Was man im engeren Sinne Gelehrfamteit 
nenut, war ihm nicht fremd, aber, wien er mir. einmal 
ſcherzhaft fchrieb: Notizen fuchte man bei ihm vexrgebens. 
Er las forgfältig, was in fein Fach einfchlug, aber mehr 
answählend, ald fammelnd; Und wie er von. Natur cin 
der. Idee zugemendeter und zugleich künſtleriſcher Geiſt war, 
in der Art Plato's, forfchend. überall nad) der lebendigen . 
Idee, Dem Zufammenhange des Ganzen, für die gefundene 
Idee aber die entſprechendſte/ lebendigſte und reinfte Form 
fuchend, fo war auch von Anfang: feine Darftellung auf dem 
Gebiete Der gelehrten Theologie überwiegend eine künſt⸗ 
Lerifche , fchlanf und frei von der Roth und Zerftrennng 
gelehrter Eitate. In diefer Art ift fein Erisifhes.Sends 
ſchreiben über den. fogenannten erften Brief 
des Paulus: an den Timothens 1807 gefchrieben. 
Mit: diefem Probeſtück feiner theol. Gelehrſamkeit machte 
er fich zuerft der gelehrten theologifchen Welt befaunt, auch 
bem Theile derfelben, der feinen Reden über die Religion 
eben Feine befondere Aufmerkſamkeit gewidmet hatte, Aber 
es war das Probeftüd eines Meifters. Die hiftorifche Kritil 
bes Kanons war feit Semler fchon mit großer Freiheit ge 
übt worden. Auch die Eritifchen Schwierigfeiten jenes 
Briefes, befonders in feinen hiftorifchen Verhältniffen was 
ven bereits bemerkt worden, und Schmidt in Gießen hatte 





Erinnerungen an Dr. Br. Schleiermaher. 763 


feine Scheu gehabt, bie Echtheit Des Briefes menigftens 
anzuzweifeln. Aber Dennoch war das Sendfchreiben nen unb 
einzig in feiner Art. Man kann ed anfehen als die erfte 
Berpflanzung ber genialen Kritif, welche Meiſter mie Bents 
ley auf dem claffifchen Gebiete geübt hatten, auf das. Ge⸗ 
biet der neuteftamentlichen Literatur. Dan war unter ben 
Theologen bisher gewohnt, nur Diejenigen Schriften ber 
zweifelnden Kritik zu unterwerfen, welche in der alten 
Kicche mehr und weniger als Antilegomena'galten. Wo aber 
Die alte Kirche, wie dem erſten Briefe au Den Timotheus, 
fo einftimmig Zeugniß gab, daß er echt ſey, da wagte andy 
Semlers Schule ‚nicht, zu zweifeln. Um die hiftorifchen . 
und eregetifchen Schwierigkeiten .ded Briefed zu heben, 
nahm man lieber feine Zuflucht zu Hypothefen, als. zum 
Verdacht. Schleiermacher aber wagte eine Durchgreifende 
Divinatorifche Kritif. Er verfchmähete dabei felbft Die Hülfe, 
Die ihm das Kehlen der Paftoralbriefe im Kanon des Mars 
cion gewähren konnte. Wie bei ihm der Verdacht entitanr 
den war durch ein zufammenhängendes Studium ber paul. 
Briefe und durch ein tiefeindriugendes Hineinleben in, die 
ganze Art und Weife des Paulus, fo führte er auch den 
Beweis gegen die Echtheit Des Briefes aus inneren. Zwei⸗ 
felögrümden, aus ber unpaulinifchen Art deſſelben in Ge⸗ 
Banken und Schreibweife, dem Mangel. an Zufammenhang, 
der Unfügſamkeit und Unklarheit der hiftorifchen Beziehun⸗ 
gen, und ber verbachterregenden compilatorifchen Bers 
wandtichaft mit den beiden andern Paftoralbriefen u. ſ. w. 
Die Kritik iſt fo ſcharfſiunig, die Darſtellung fo lebendig heiter, 
fo hinreißend, daß wer ſich dem erſten Eindrude nur einiger, 
maßen forglos hingibt, faſt unmwillfürlich beiftimmt. Wenn 
man fich befinnt und das Einzelne genauer prüft, fo erkennt 
man freilich wohl Die Schwäche einzelner Beweispuncte, die 
Gewagtheit einzelner Behauptungen; man wirb bedenklich 
gegen eine Kritik, welche Die panlinifchen Briefe wie claffls 
ſche Schriften behandelt, einen abgefchloffenen und uns völlig 


756 an Luͤcke's 


erkennbaren Typus der pauliniſchenSprache und Briefweiſe, 
and bei fo mangelhaften Nachrichten einen völlig bekannten 
abgefchloffenen Kreis der hiftorifchen Berhältnifie des Apo⸗ 
NKeils vorausſetzt; aber, wiewohl es Dem. jüngern Plant und 
Andern : gelungen iſt, gegen bie fchleiermacher’fche Kritilk 
vieles zur Vertheibigung des Briefes und zur Beruhigung 
der Bernücher aufzubringen, fo iſt doch nicht alles Gtös 
rende weggeränmt und der Pirchliche Glaube au die Echt 
heit des Briefes hat eine Wunde erhalten, welche aller- Did 
herigen Heilkünſte ungeachtet noch nicht ganz geheilt if. 
Aber bei aller Kühnheit der Kritik hatte. Schleiermacher 
Doch darin ein Maß. Als fpäterhin. Eichhorn alle drei Pas 
figralbriefe ald unecht verwarf, erinnere ich mich von 
Schleiermacher gehört zu: haben, daß Ihm bieß über bie 
Grenze zu gehen fcheine, und Daß. wer bie beiden audern 
Paſtoralbriefe verwerfe, dadurch das Recht und ben Bos 
den für die Kritif des erften.aufgebe. Wie man auch über 
das Recht und Reſultat ber fchleiermacher’fchen Kritik den⸗ 
den mag, — ein genialered, auch in der Form ausgezeichne⸗ 
teros Product der neuteftamt. Kritik haben wir richt aufs 
aumelfen. Ich habe claſſiſche Philologen uns darum bes 
neiden hören. Die Dioinatortfche Kritik, welche vornechm⸗ 
tidy durch jened Sendfchreiben unter und angeregt worden 
iſt, Hat temas Gefährliches, am allerwenigften if} ſie Jeder⸗ 
manns Ding, Aber ſie gehört zur Vollendung der theolo⸗ 
giſchen Wiſſenſchaft des Kanons, und wie es keinen ver⸗ 
aunftigen Grund gibt, fie anf dem theologiſchen Gebiete 
fir weniger nothwendig zu halten, als in der ovlaſſtſchen 
Literatur, fo muß 23 Schleiermacher ald ein wahres Ver⸗ 
dienſt angeredinet werden, fie anf eine ſolche Weiſe unter 
uns eingeführt zu haben. : Die hitorffche Kritik des chriſt⸗ 
IchenKunons blieb eine ieblingsbeichäftigung far. Schleier 
machet. In feinen eregetifchen Vorleſungen mag noch man⸗ 
her kritiſche Wink, manche Tritifche Frage und Antwort, 
ühnlidy feinem Auffaße über die Zeugniffe des Par 





“Erinnerungen an Dr. Fr. Schlelermacher. 707 


pias von unſron beiben erſten Evangelien dj; 
verſtedt liegen. Als Schriftſteller übte er fie ſpaterhin, in 
ſeinen kritiſchen Werſuche über bie Schriften 
des Tukasyoner Theil 1817, an dem Evangelium 
des Lenkas, in Beziehung auf das ſchwierige Problem ber 
Entftehungsweife der ſynoptiſchen Evangelien.Es ift ber 
kannt, wie beſonders fort: Leffing dieß Problem durch eine 
Reihe vor Hypotheſen faſt erfchöpft, aber dach nicht gelöſt, 
ſondern nur räthſelhafter geworden war. Schleiermacher 
führte, mit Dr. Giefeler zuſammentreffend, die Forſchung 
uns Ben luftigen Regionen, wohin Eichhorns Hypotheſe von 
dem Urevangelium verführt hatte, anf ben ſichern Boden 
der Geſchichte und. Eregeſe zurüd. ‚Seine Hypotheſe — 
eben. fo einfuch ale Hikorifch wäahrfcheinlich — if die, daß 
unfere Evangelien als von einander unabhängige Samm 
lungen bereits vorhandener, Heinerer und größerer evan⸗ 
gelifchen Memorabilien anzufehen feyen. Er. verfuchte, dieſe 
Hypotheſe zunächft an- Dem Evangelium. des Lukas zu be 
währen. Durch tieferes Eingehen in bie Strnetur Diefes 
Evangefiamd; durch Bergleichaung deſſelben mit ben beiben 
andern, fucht er anf die ſcharfſimmigſte Weiſe bie zum 
Grunde liegenden evangelifchen Aufſütze in ihrer nr 
foränglichen Geſtalt und Art ausfindig zu machen, und 
die Art und Weife gu beftimmen ,. wie Lukas bei ihrer Zu⸗ 
fammenftellung und Anordnung verfahren fen, Das apo⸗ 
logetiſche Intereſſe der heil. Schrift hat dadurch nur ges 
wonnen, nicht nur, weil es Durch die Wahrheit über haupt 
immer nur gewinnen kann, fonbern auch, weil bie Ueber⸗ 
zeugung von der Güte der Quellen des Lukas nnd feiner 
Gewiſſenhaftigkeit in der Behandlung bevfelben darch 
Schleiermachers Verſuch weientlich gefördert worden iſt. 
Man hat der Schrift vorgeworfen, daß fie, beſonders was 
dfe Abfchnitte und Fugen, fo wie bie urfprüngliche Geſtalt 
der Quellen betrifft, oft mehr ſcharfſinnig, ale. wahrſchein⸗ 


a) In den Studien und Kritiken 1832 Heft 4 ©. 735 ff. 


— 


lich fen. Aber es lag theild in Schleiermachers Art, theili 
in der Natur. eines. folchen- erften: Verſuches, die -Anficht 
bis aufs Aengerfte,mit aller Schärfe Darchzuführen. Es 
iſt ein Vorzug ſolcher ſcharfen Unterſuchungen, daß fid 
aus ihnen deuntlich erlennen läßt, wie weit man gehen 
kann. Dieß iſt immer ein weſentlicher Gewinn. Die fort 
geſetzte Kritik, insbefondere die gleichartige Durchführung 
der. fchleiermacher’fchen Methode. in den beiden aubern 
Evangelien wird unfehlbar gu mancherlei Mobifteationen, 
Beſchraͤnkungen, Enrrectionen führen. Aber nur indem 
man in feines Art fortfahren wird, die comparative De 
machtung ber Evangelien mit der Untenfuchung über die 
indieiduelle Art jedes einzelnen Evangeliſten zu verbinden, 
wird baskritifche Problem der Evangelien je länger je mehr 
zur Befriedigung der Wiſſenſchaft und der Kirche gelöſt 
werden. : Über felbft, wenn. man fich fpäterhin genäthigt 
fehen follte,. andere Wege einzufchlagen, wird, wenn es 
nur dies Wege ber Wahrheit ſind, Das große Verdienſt 
Schleiermachers um bie wefentliche Förberung der Unter 
ſuchung immer mit Dank anerkannt werden müſſen⸗a). 

.. Die Schriften über den erſten Brief an den Timotheus 
nud das Evangelium bes Lukas enthalten hei Dem natür⸗ 
Sichen Berfnüpfung der Kritik mit der Eregefe auch Proben 
von Schleiermachers exegetifcher Methode, aber mehr nur 
gelegentliche, Wer feine eregetifchen Vorleſungen zu hören 
das Glück gehabt hat, wird von .feiner eregetifchen Art 
befler Rechenfihaft. geben können, als ich. Sch kenne fie 
außer jenen gelegentlichen Proben nur aus feiner eregefis 
ſchen Ybhandlung über Col. 1, 15— 20, b), und aus den 
Erzählungen feiner Zuhörer. Das Bild, welches ich mir 
8) Der englifhe Ueberfeger der Schrift fagt in feiner Inteobuction 

ſehr woher: It deserves to be studied us a specimen. of exege- 
. tical criticism, which has seldom been equalled and which cun- 
‚not fail to excite the admiration even of those, who do not 


admit all its conclusions, 


b) ©. Gtubien und Krititen v. I, 1832, 6, 497. ff. 





‘ 
Erinnerungen an Dr. 3 Schleiermacher. 769 


Davon gemacht habe, ift dieſes: Schleiermacher wußte von 
feiner andern Auslegung der heil, Schrift, als der, m 
welcher fich philologifcher Geiſt und Kunſt mit lebendigem 
Intereſſe am Kanon, als der urfprümglichen, normalen Dars 
ftellung des Chriftenthums gegenfeitig durchdringen. Er 
erffärte in feiner Eneyclopaͤdie ausdrücklich, daß die Eres 
gefe ohne wahres theologifches chriftliches Intereſſe eben 
fo eitel. und unftatthaft fey, als ohne philologifchen Geiſt 
und Kunft. Das Ziel aller Auslegung beftand für ihn dar⸗ 
in, jeden einzelnen Gedanken mit feinem Verhältniffe zur 
Idee des Ganzen zugleich richtig aufzufaſſen und ſo den 
Act des Schreibens nachzuconſtruiren. Wie er nun vor 
allem darauf ausging, diefe Hauptaufgabe anf eine wahr, 
haft philoiogifche Weife zu löſen, fo ließ er ſich in feinem 
eregetifchen VBortrage wenig ober gar nicht darauf ein, Die 
grammatifchen und hiftorifchen Elemente der Löfung beſon⸗ 
ders zu erörtern, fondern, indem er, um alle Zerftreuung 
zu vermeiden, diefe mehr oder weniger voraugfeßte oder 
nur in fofern berührte, als fie der hermeneutifchen Ope⸗ 
ration wefentlich dienten, ging er überall ſtracks auf bie 
Conſtruction und Darftellung der Gedanken und ihres 
Zufammenhanges los. Er nahm diefe Eonftruction über 
wiegend formell, Die afcetifche, apologetifche, ſyſtematiſche 
Gedanfenentwidlung überließ er geeigneteren Bors 
trägen. In dieſer Hinficht dienten feine Predigten wefents 
lich dazu, feine Auslegung nach der mehr realen und po⸗ 
pulären Seite hin zu vervollftändigen. Sie find ein Schatz 
für die eregetifche Gedankenentwicklung. — Seine wiffens 
fhaftliche Auslegung war vorzugsmweife dialektifch und bes 
ruhete auf der Vorausſetzung ſtrenger Gefeße des Denkens 
und Schreibens auch bei dem Schriftfieller. ‚Sn diefem 
Theite ber Auslegung war ex ausgezeichnet und ein wahrer 
Meifter. — Die hermeneutifche Operation befteht aus zwei 
gleich wefentlichen, ſcheinbar einander ausfchließenden,. aber 
in Wahrheit unzertrennlichen Richtungen des Geiſtes, ber 


770 BEE . './ 7 TErEzegE 


eintanchenden und auftauchenden, wie ich. fie nennen möchte. 
Unter der erſteren verſtehe ich Das völlige Eingehen, ich 
gleichfam Verſenken in ben Geift und bie befondere Art 
des Schriftfiellerd, Dazu gehört im gewiflen Grabe eine 
Selbftentäußerung, eine Dingebung, wie fie in ber Freund⸗ 
ſchaft Statt findet, Dieß ift bie erſte, weſentliche Bedin⸗ 
gung alles wahren Merfichene, welches um ſo reiner nud 
objeetiver ift, je mehr Der Ausleger dabei fich und feine 
Eigenthümlichfeit und Zeit verleugnet,. Dieſe hermenen⸗ 
tiſche Selbftverleugnung aber fol eben fo wenig, als bie 
im engeren Sinne fittliche, ein Aufgeben bes eigenen Selbft 
fen, fondern nur eine. Erweiterung deſſelben. Iſt Das 
Eingehen in den Schriftſteller nicht zugleich eine ſelbſt⸗ 
thätige Auffaſſung, eine wahre Aufnahme des Fremden 
in daß eigene Selbft, eine perfünliche, individuelle Aneig⸗ 
nung, fo tft es fruchtlod, weil es mehr oder weniger bes 
wußtlos nder geiftloß if, Die Auslegung ift erſt mit 
- der individuellen Aneignung, gleichfam Ueberfegung 
des Fremden in das Eigene vollendet. Das Hochſte, was 
Die Auslegung erreichen kann, ift, Den Schriftiteller eben fo 
objectio Ceingehend, eintauchend) aufzufaſſen, ald indivi⸗ 
dell Cauftauchend und aneignend) wiederzugeben. So 
lange zwifchen Dem Schriftiteller und Ausleger eine wahre, 
reine Freundſchaft befteht, keine wolle Ausgleichung , iſt 
Die Auslegung mehr und weniger dem Mißverfländnifle 
und Richtverftändniffe ausgeſetzt. Die eregetifche Aufgabe 
‚in biefer Höhe und Tiefe völlig zu löſen, gelingt keinem 
Einzelnen. In jedem, auch bem hingebendſten Ausleger 
bleibt von ſeiner Individualität immer ein Unüberwunde⸗ 
nes, Unausgeglichenes zurück, wodurch die reine Objecti⸗ 
vitãt Des Verſtaändniſſes geftsrt wird. Wer ſich aber nur 
hingibt, ohne fich zugleich kräftig anzueignen, dem fehlt 
mehr und weniger Die Kraft, das Nufgenommene audzus 
legen und fo das Berfiändniß für Andere zu vermitteln. — 
Die Gaben der Auslegung find nicht gleich vertheilt. 





Erinnerungen an Dre Schleiermacher. 771 


Schleiermacher gehört zu denen, welche weit mehr eigens 
thümlich auffallen, ale fich hingeben,, ben Schriftfteller 
mehr zu ſich herübersiehen, als fidy von ihm ziehen laſſen 
Es hat diefe Art, wenn fie das Hineingehen in den Schrifts 
fteller nicht gang vernachläſſigt, ihr Recht wie ihr Gutes, 
Berade durch had Hirdurchgehen des neuteitaumentlichen 
Scheiftinhaltes durch recht wiel tüchtige indivinu.elleund 
originelle Auffaſſungen wächſt fein Verſtändniß und feine 
Aneignung in der Kirche, Infofern muß man fagen,. Scyleis 
ermacher habe Durch die Eigenthümlichkeit und Originali⸗ 
tät ber Auffaſſung auch die Eregefe bedeutend gefördert. 
Über eben feine mächtige Eigenthümlichkeit, Die ſich Allem 
aufprägte, was in feinen Kreis trat, binderte ihn, im 
die nienteftamentlichen Schriftftielee mit ber Hingebung, 
der Gelbfivergefienheit einzugehen, welche nothwendig ift, 
um ben fremden Sinn und die frembe Form ohne alle Ders 
leßung rein wiederzugeben, Unter den neuteflamt. Schrifts 
ftelern ſtand feiner Eigenthümlichkeit Teiner näher, als 
Paulus; er liebte ihn von allen am meilten. Eben deßhalb 
hat er das Verftänbniß beflelben wohl am meiften geföys 
bert. Aber wie es der Liebe fräftiger Menfchen leicht bes 
gegnet, unvermerft verwandelt Schleiermacher den Apo⸗ 
ftel in fih; er läßt ihn eben fo ftreng bialeftifch denken, 
als Fünftlerifch ſchreiben; und indem er in Paulus mehr 
fid) ſelbſt, als den Paulus in fich flieht, begegnet e& ihm, 
baß er bei allem Scharffinne und der faft zauberifchen Ges 
walt feiner eregetifchen Argumentation und Darftellung, 
z. B. Col. 1, 15 — 20., mehr fich auslegt, als den Apoſtel. 
Dieß kann uns aber durchaus nicht abhalten, ſein Verdienſt 
um bie eregetiſche Theologie um fo höher anzufchlagen, 
ba er felbft da, mo er kraft der Uebermacht feines eigen 
thismlichen Geiſtes irrte, mehr wiflenfchaftliches Leben mb 
Streben in der Eregefe anzuregen vermochte, ald hundert 
Andere, welche aus Mangel an Geift und Eigenthümlich⸗ 
keit nicht einmal zu irren vermögen. 


772 | des - 


Eine bedeutende Epoche in Schleiermadyerd theologi⸗ 
fcher Wirkſamkeit macht die Stiftung der Univerfität Bers 
kin, im 3. 1810, Ich weiß nicht, was für einen Antheil 
er an dieſer Stiftung gehabt hat. Seine geiftreiche Schrift 
über bie Univerfitäten fol nicht ohne Einfluß darauf gewe⸗ 
fen ſeyn. Aber das weiß ich, Berlin bezeichnet, wie ein 
Jahrhundert früher Halle, eine neue Periode in der Theos 
logie, und es ift nicht zufällig, fondern lag in dem höher 
georbneten Zufammenhange ber Dinge, daß Schleiermas 
cher gleich von Anfang an der Spitze der theologiſchen 
Kacuktät der neuen Univerfität erfcheint, wie Savigny an der 
Spitze der juriftifchen. Den Geift der neuen Univerfitätauf 
dem theologifchen Gebiete bezeichnet bald nach der Stiftung 
Schleiermachers Furge Darftellung des theologi⸗ 
ſchen Studiums zum Behufeinleitender Borle 
ſungen 1811. Nur wenige Bogen, aber eine ganze Welt 
neuer Gedanken! Die theologiſche Enchelopädie und Mes 
thodik, als Wiſſenſchaft ein rein deutſches Bedürfniß und 
Erzeugniß, bedingt durch die Art der akademiſchen Studien 
in Deutſchland, war bereits durch Nöſſelt, Kleucker, Planck 
bedeutend gefördert worden, Aber Schleiermacher läßt 
auch feine nächften Borgänger weit hinter ſich. Zum erften 
Male erjcheint hier die Theologie als ein organifches Gans 
zes, auf eine bewunderungswürdige Weiſe architektoniſch 
conſtruirt von ihrem praktiſchen Ausgangspuncte, dem 
Bedürfniſſe einer geſetzmäßigen Leitung der chriſtlichen 
Kirche und dem nothwendigen JIntereſſe des Theologen 
daran, — bis zu ihrem praftifchen Gipfelpuncte, ber 
Theorie und Technik der Firchlichen Praxis. Alle-wefents 
lichen Elemente der Theologie, die religisfen und willen 
ſchaftlichen, die praftifchen und theoretifchen, Die pofitiven 
and philofophifchen mit gleicher Anertennung aufnehmend, 

fcheidend, verbindend, ordnend, führt Schleiermacher mit 
kunſtreichem Geifte ein prachtvolles, eben fo wohl gegrüns 
detes, als vollſtändiges, innerlid, zufammenhängendes 


Grinnerungen an Dr. Sr. Schleiermacher. 773 


Gebäude auf. Bei der einfachen Drbnung findet ſich ein 
Jeder leicht darin zurecht; jedes theologifche Talent und 
‚Snterefle findet feinen Platz, feine Arbeit; alles greift les 
bendig in einander; feiner darf müßig ſeyn; nur der Träge 
und Unwiſſenſchaftliche iſt ausgeſchloſſen auch: ohne aus 
drücdliche Verweiſung. Man weiß nicht, was man an ber 
Schrift mehr bewundern fol, den großartigen Grundriß, 
wonach das Ganze angelegt ift, oder die Küihnheit und 
Originalität der-Ausführung. Der Grundriß lag allein in 
Schleiermadhers Geiftez die damalige Geftalt der Theolo⸗ 
gie enthielt nur einige Gpundlinien und Grundverhältniffe 
dafür, und auch dieſe zum Theilineiner andern Ordnung und 
Verbindung. Da die Idee ber Theologie, von Der Schleier⸗ 
macher ausging, größgg war ale die damalige Wirklichkeit, 
fo enthält feine Darftelung mehr eine Theologie der Zufunft, 
ald der Gegenwart. In diefem Sinne ift e8 zum Theil ein 
wahrhaft prophetifches Werk, welches bei lebendigem Forts 
fhritte in unfrer Wiffenfchaft und Kirche je länger je mehr 
in Erfüllung gehen wird. Soll ich im Einzelnen das Neue 
und ben -vornehmften. Gewinn ber Schrift angeben, fo 
muß ich aufmerkffam machen theild auf die innige Verknü⸗ 
pfung der thenlogifchen Wilfenfchaft mit der Idee ber 
Kirche, wodurch der pofitive praftifche Zwed und das ſitt⸗ 
liche religiöfe Intereffe Der Theologie beftimmt wird; theils 
auf die Beftimmung und Stellung des Begriffs der Philos 
fophifchen Theologie gleich am Eingange des theol. Stu⸗ 
diums, wodurch Der alte Streit über das Verhältniß der 
Theologie zur Philofophie auf eine einfache Weife gefchlich- 
tet wird; theils auf die eigenthümliche Verknüpfung der 
exegetiſchen, kirchenhiſtoriſchen und ſyſtematiſchen Ele- 
mente unter dem gemeinſamen Begriff der hiſtor iſchen 
Theologie, wodurch die fehädliche Trennung diefer Theile 
aufgehoben, und namentlich auf dem foftematifchen Ge⸗ 
biete der immer noch vorkommenden Bermifchung ber. 
Dogmatik mit der Religionsphilofophie, der theologifchen 
Theol, Stud, Jahrg. 1884. SL | 


774 J Luͤcke's 


Moral wit der philnfophifchen gewehrt wird; theils auf 
die grandioſe Art, wie die praktiſche Theologie als ein 
organiſches Ganzes conſtruirt und in die Idee der Theolo⸗ 
gie als ein integrirender Theil, ja als die Krone derſelben 
aufgenommen wird a); theils endlich, was die Methodil 
betrifft, auf bie durchgreifende Unterfcheidung zwiſchen 
dem allgemeinen Befigthum in der Theologie, ohne dad 
Riemann ein Theolog feyn kann, und der befonderen Bir 
tuoſitat, wodurch die eigentlich afabemifche Thätigfeit be 
Dingt if. — Man hat der Darftellung die epigrammatifche 
Kürze, vorgeworfen. Aber fie foll eben nur Säße euthals 
ten, welche nur die Meifter in der Wiffenfchaft ohne weis 
tere Erflärung verftehen können. Und, obgleich ich felber 
“ wänfchen möchte, Daß die neue Ausgabe v. J. 1830 noch 
mehr Erläuterungen enthielte, fo muß ich doch befennen, 
daß mir für afademifche Sompendien die Form ber kurzen, 
felbft räthſelhaften Sätze ungleich geeigneter erfcheint, ald 
die ausführliche, welche das Bedürfniß erläuternder Vor⸗ 
lefungen eher erftidt, al& wedt. In fofern ſcheint mir 
Schleiermachers Darftellung aud in Hinficht der Form 
audgezeichnet. 

‘ch rechnete fo eben zu dem Gewinnreichen dieſer 
Schrift auch die eigenthimliche Art, wie darin bie fufles 
matifche Theologie (die Dogmatik, Moral und kirchl. Stas 
tifti) als integrirender, auf Die Gegenwart der Kirche fih 
beziehender Schlußtheil der hiftorifchen Theologie über 


a) Ich freue mich in Dr. Nitzſch Observationes ad: theologiam pra- 
eticam felicius excolendam, Bonnae 1831. 4. die Schrift befonder® 
auch in dieſer Hinficht fo hochgeftellt zu finden, Ich flimme ihm 
ganz bei, wenn er fagt: esse (hunc librum) ante omnia a cae- 
teris libris, quibus hoc tempore theologorum litteratura vel aucta 
est vel inundata, plane segregandum, deinde eidem tamgquam 
novum auctorem et antesignanum praeficiendum. — E prophe- 
tico genere si yeniam demum, dicat aliquis eam esse methodum, 
dica£ qupque e poetico interiori illo vocis sensu, quo Aristo- 
teli poetiei dicuntur. 


Erinnerungen an Dr. Fr. Schleiermacher. 775 


haupt, in der, nady Schleiermacherd Meinung, bie Eregefe 
ben Anfang und die Kirchenhiftorie im engeren Sinne das 
Mittelſtück bildet, dDargeftellt wird. Hierin werben mir 
Andere, vielleicht Die Meiften, wiberfprechen. Aber ich 
felbft gehöre zu denen, welche Schleiermacherd Darftellung 
ber ſyſtem. Theologie in jener Beziehung nicht unbedingt 
billigen. Sch bin ber Meinung, daß das wiffenfchaftliche 
Sutereffe, woran die ſyſtem. Theologie hervorgeht, übers 
wiegend ein anderes ift, als das hifkorifche, das Fritifche 
ſelbſt mit eingeredynet. Es ift eben Das foftematifche, und 
zwar nicht das untergeordnete Intereſſe der organifchen 
Anordnung eines gegebenen hiftorifchen Stoffes, fondern 
das Intereſſe, die Lehrſaätze des chriftlichen Glaubens und 
Handelns in ihrer abfoluten Wahrheit wiffenfchaftlich fo 
dDarzuftellen, daß aller Zweifel und Widerſpruch und jebe 
innere Zuſammenhangsloſigkeit des chriftl. Denkens Darüber 
verfehwindet. Dieß iſt ganz etwas anderes, als das hiftos 
rifche. Allein ich mn deffen ungeachtet darauf verharren, 
Daß Schleiermacher durch das ftarfe Hervorheben des poſi⸗ 
tiven, biftorifchen Moments in der foftematifchen Theolos 
gie, durch Nadymeifung ihres eigentlichen Objeetd und Ins 
halte in Dem ausgebildeten Dogmatifchen und ethifchen Bes 
wußtſeyn und Lehrbegriff der Kirche, und durch das Zus 
rückdrängen der fubjectiven Willkür und der individuellen 
Speeculation wefentliche Berbienfte hat, welche, wenn nicht 
jest, fo doch gewiß fpäterhin, mit Dank werden anerkannt 
werden. Dieß führt mich aber anf basjenige Werk, wors 
in er jene Anficht von der foftem. Theologie ausgeführt 
hat, das größte, — womit er feine literärifch theologifche 
Wirkſamkeit unter und befchloffen und gekrönt hat, feine 
Darftellung des hriftlichen Ölaubensnad den 
Grundſätzen der evangelifhenKirde, EREURS: 
gabe 1821, 1822, zweite 1830, 1831, | 

Bei bem Streite der Meinungen und Richtungen auf 
diefem Gebiete ift es fchwer, Alle zu überzeugen, daß mit 

51 * 


“ OD 9 — 
8 ‘ ae. .. [2 Due Eu er Zn ‘ » 
‘ J wur ‚* ur 4 Pu u... 


dieſem Werke eine neue Periode, eine wahre Reformation 
in der Dogmatifchen Literatur beginnt. Ich wüßte ihm an 
hiftorifcher Bedeutung feines an die Seite zu feßen, als 
etwa die Institutio relig. Christianae von Johann Calvin zu 
feiner Zeit. Selbft die Gegner haben durch ihren Lebhaf- 
ten Widerfpruc und Kampf Zeugniß- geben müſſen von 
feiner bewegenden und eingreifenden Gewalt. Es wird 
eine Zeit kommen, wo neue, epochemaczende Entwicklungen 
in der Dogmatik die gegenwärtige, welche in dem ſchleier⸗ 
- macher’fchen Werke liegt, zur Vergangenheit machen wer- 
ben; aber, fo lange Leben in unfrer Wiſſenſchaft ift, wird 
nie eine Zeit fommen, wo man aufhören wird, baffelbe 
zu jenen beherrfchenden, gleichfam prophetifchen Höhepunc⸗ 
ten zu rechnen, von wo aus neue Ausfichten und neue Bah⸗ 
nen zum Ziele gemonnen und beflimmt werben. 

Man hat in der: fohleiermacher’fchen Dogmatif allge 
mein die dialeftifche Kunſt bewundert, viele ohne redjt zu 
wiffen, was fie bewundern, manche ziemlich zweibentig, 
mit einem geheimen Grauen und einer bequemen Furcht, 
wodurd fie fi) von der Mühe und Arbeit ihres gründ- 
lichen Studiums für befreiet halten. Aber es iſt etwas 
Großes in der Wiffenfchaft und immer erfreulich fördernd, 
wenn ein ausgezeichneter Geift fie der Idee der firengen 
Wiſſenſchaft näher bringt, Methode und Ordnung, Schärfe 
der Begriffe und fpflematifchen Zufammenhang in ihr gel- 
tend und herrfchend macht. Schleiermacher hat dieß in der 
Dogmatik in einem folchen: Grade gethan und fein Bers 
Dienft ift in diefer Hinficht um fo höher zu preifen, da 
feine dialektiſche Kunft nichts weniger als. fcholaftifch trofs 
fen, fondern lebendig und frei, den früheren Popularis- 
mus und die bloß äußerlich Iogifche Methode ſammt der 
feigen Verzweiflung an aller wiffenfchaftlichen Form von 
Grund aus überwältigt und durch die That widerlegt 
hat. — Aber dieß iſt weber das einzige, nod größte Ber- 
dienſt des fchleiermacher’fchen Werkes, Diefes Liegt in ber 





Erinnerungen an Dir. Si; Schleiermaher. 777 


That im Inhalte, darin nämlich, daß Schleiermacher ben 
pofitiven Eharafter der chriſtlichen Glaubenslehre, ihre 
innerfte Bebentung und Beziehung rim Leben dee Kirche 
auf eine fo entfchiederre Weiſe von: Anfang bis zu Ende 
Wervorhebt. Bei aller Eigenthümlichkeit, Schärfe und Ehr⸗ 
lichkeit Der ſubjectiven Auffaffung bit er: dadurch ungleich 
mehr alö andere, welche in dem vermeintlichen. Befit. rein 
objectiver,, abfoluter Begriffe, wie ſie Gott felbft habe, 
durnkelhaft auf den fubjectiven Gefühlstheologen, wofür 


fie den dialektiſchen Künftter halten, herabfehen, als auf 


eine niebere Stufe, welche fie langft überwunden haben, — 
dazu beigetragen, die objective und: ewige Wahrheit des 
dhriftlichen Glaubens wieder in ben Gemüthern- und im ber 
Wiſſenſchaft geltend zu madjen. — Dr. Tweften. fagt fehr 
richtig, „daß Schleiermacher, indem er Die Dogmatik auf die 
Thatſachen des chriftlichen Bewußtſeyns als ihre Grundlage 
und ihren wahren Gegenftand zurirdigeführt, ſowohl den 
Glauben felbft gegen die Eingriffe einer ihre Grenzen vers 
Tennenden Wiffenfchaft gefichert, ale auch der Glaubens. 
lehre ihre Seibftftänbigfeit wiedergegeben hat.” Dieß Vers 
dienft werden ihm noch die fpäteften Nachkommen dankbar 
anrechnen, und es Fönnte wohl gefchehen, daß, went anf 
Die Trunfenheit der neuen abfolnten Wiffenfchaft wieder 
eine Periobe des nüchternen Skepticismus folgen follte, 
Dann die fihleiermacher ſche Dogmatik das Hauptruſthaus für 
die Waffen dagegen wird. — Man kann an dem Werke 
tabeln, daß das eregetifche Fundament darin nicht Die 
Breite und Boiftändigkeit hat, die man wünfchen möchte, 
daß das chriftliche Bewußtſeyn nicht. befkimmt genug in 
feiner... urfprünglichen kanoniſchen Form aufgefaßt if. 
Aber dieß hängt mit einem Borzuge zufammen, den man 
dankbar anerfennen follte, nämlich damit, daß Schleier⸗ 
macher den wefentlichen Snhalt der Glaubenslehre nicht 
als einen gefchloffenen Buchftaben, fondern als einen durch 
das ganze gefchichtliche Leben der Kirche verbreiteten, voll⸗ 


° m. 9 
778 ER 


kändig entfalteten, freien Geiſtesſtrom⸗ betrachtet. Er hal 
dabei die reine Quelle in Leben und Lehren des Erlöſers 
feft, er will nicht anerkennen, was nicht daraus geflofen 
ift, aber, indem er überzeugt iſt von dem unaufhörlichen 
Walten and Bilden bes Geiſtes Chriſti in der Kirche, der 
fein Wort und feine Gefchichte verklärt, feßt.er mit groß⸗ 
artiger. Zuverficht. voraus, daß eben das, was allgemein 
in der Kirche als chriftlich gilt und bewußt ift, Dieß auch eben 
die chriftfiche Wahrheit fey. Dr. Tweſten rühmt „als eine 
der fchönften Seiten dieſes Meiſterwerkes jene groß 
artige Toleranz, bie ſich fo viel möglich über Die Gegen 
füge zu ftellen und, ohne fie zu verkennen, body nachzuwei⸗ 
fen weiß, wie fich bas.chriftliche Bewußtſeyn gleichmäßig 
in ihnen ausdrücken könne.“ Ich fchreibe dieſe Worte nicht 
nur ab, ich unterſchreibe ſie durchaus. : Die Zeit iſt bereits 
da, wo Diefe großartige Toleranz der Fchletermacher’fchen 
Dogmatik von der proteft. Kircheimmer mehr gefordertund 
zur Pflicht gemacht mird ala das wahre Erhaltungsemittel 
ber hriftlichen Gemeinfchaft gegen Die immer mehr eigenfins 
nigen, fpaltenden, ausfchließenden und: eben in fofern uns 
chrißklic, gerfiöreuden Gegenfäße der theol. Schulen. Man 
hat ihr aber eben deßwegen Schuld gegeben, daß. fie die 
Grenzen bed Chrilichen zu weit ſtecke und, indem fie die 
Gemeinfchaft der chriftlichen Liebe ermeitere, bie eigens 
thümliche chriſtliche Wahrheit abfchwäcke,. Allein dad fagen 
eben mur bie, welche Sndifferentigmus: und Toleranz nicht 
zu unterfcheiden vermögen. Wer, wie Schleiermacher in 
feiner Dogmatif, den:eigenthlimlichen Gegenfaß des Evan⸗ 
gelinme. zwifchen Suünde und Gnade fo entfchieben feſthült, 
auf der abfoluten Nothwendigkeit der göttlichen Gnabe ia 
Ehriſto fo entichloffen beiteht, den hiftorifchen, leben digen 
Chriſtus in. feiner abſoluten Sünblofigfeit und Einzigkeit 
fo ſtark bersorhebt und in den Mittelpunct feines Glau⸗ 
bens teilt, die. Häretifchen Ausweichungen des Ebionitis⸗ 
mu und Doketismus, des Manichäismus und Pelagia⸗ 


Erinnerungen an Dr..Be: Schleiermacher. 779 . 


niſsmus, ſo rüchhaltlos und confeguent ausſchließt, dad pro⸗ 
teſt. Princip ſo ſcharf auffaßt und durchführt, ohne Die 
Elemente der Wahrheit in dem katholiſchen zu leugnen, 
ber kaun nar von ber armfeligiten Intoleranz und Buch⸗ 
ſtabenknechtſchaft für uroifferent gehalten werben, Wenn 
der. deiftifche Rationalismus ver früheren theol. Schulen 
je eine Riederlage erlitten hat, fo hat er fie in Dex ſchleier⸗ 
macher’fchen Dogmatik erlitten. Manches, was fidy jetzt 
als: entfchiedenten Sieg über ihn breit macht, würde er übers 
wunden haben; Die tödtliche Wande, welche ihm Die wahr⸗ 
haft rationelle, aber. nicht rationakiftifche fchleiers 
macher’fche Dogmatit beigebracht hat, wird er nie vers ' 
ſchmerzen. 

Es iſt das glückliche oder unglückliche Geſchick jedes 
großen eigenthümlichen Werkes, vielfaltig beſtritten zu 
werden. Unverſtand und Mißverſtand haben daran, wenn 
nicht mehr, doch wenigſtens eben ſo viel Antheil, als der 
Trieb der Wahrheit. So iſt es auch der ſchleiermacher⸗ 
ſchen Dogmatik ergangen. Bei ſeiner Einſicht in den Zu⸗ 
ſtaud der Kirche and Theologie und feinem beſcheidenen 
Bewußtſeyn, eben zunächft nur feine Auffaffung der chriſt⸗ 
lien Glaubenslehre, und keine abfolute Dogmatik zu ges 
ben, war er darauf gefaßt, fowohl mißverfianden, als 
angegriffen zu werden. Beine Sendfchreiben über feine 
Glaubenslehre 3), worin er fich des polemifchen Stoffes 
zu entledigen fucht, Damit ihn Diefer bei der zweiten Aus⸗ 
gabe des Werkes nicht ſtoͤren möchte, zeigen, wie großartig 
er über die erfahrnen Angriffe Dachte, wie er nämlid) jeden 
reblichen Gegner mehr als Mithelfer an dem gemeinſamen 
Werke, denn ald eigentlichen Gegner anfah. Er verfuchte 
in dieſen Sendfchreiben die Mißverftändniffe zu heben, und 
bei Undbefangenen ift ihm dieß gewiß im hohen Grabe ges 
lungen. Aber, wie er bei der erſten Darftellung feines 


a) In den Studien und Kritilen v. 3. 1829 Heft 2 und 8. 


780 er Lille’ 


Werkes bis auf einen gewillen Grab ſorglos gegen mög 
liche Mißverſtändniſſe manche® weder deutlich noch br 
flimmt genug gefaßt hatte, und überhaupt gewohnt wa’, 
feinen Lefern zuzumuthen, meil er es felbft that, jedes Eir⸗ 
zelne aus dem. Ganzen und feine Dogmatik aus Dem Zufans 
menhange feines gefammten theslogifchen Denkens zu ver 
fiehen, fo hat er auch in biefen Sendfchreiben zum Theil 
wirklich ans Fünftlerifcher Zucht vor langweiliger Breit, 
zum Theil aus edler Sorglöfigkeit vieles mehr nur ange 
deutet, als ausgeführt, und fo manchen Stoff des Miß⸗ 
verſtehens zurüdgelaffen, ja bei feiner Art, Spigen und 
Hiebe nach links und rechts auszutheilen, denſelben viel 
leicht vermehrt. Man hat ihm dieß als Vornehmheit aus⸗ 
"gelegt. Aber das ift unrecht. Er verachtete in wiſſenſchaft⸗ 
lichen Dingen nur ben baaren Unverftand, den böfen Bil 
len der Bedeutungslofen. Sonft ging er gern ein, aber 
sticht leicht weiter und länger, ald das Intereſſe feines Geis 
fted an der Wahrheit es geftattete So werben bie Ans 
griffe und Mißverftändniffe noch eine Zeitlang fortbauern, 
bis es feiner Dogmatik gelungen ift, in Sen Geift unfrer 
Kirche und Theologie allgemeiner einzubringen, und bie in 
ihr liegende Wahrheit zum Gemeingut zu machen. 
Schleiermacher gehörte nicht zu denen, welche in der 
Wiſſenſchaft egoiftifch alles von fi anzufangen meinen. 
Er ging gern auf Die früheren Zuftände und Entwidlungen 
in der Theologie zurüd, lernte daraus, und knüpfte 
daran an. Aus diefem hiftorifchen Sutereffe erklärt fih 
theild Die Art, wie er in feiner Dogmatif auf frühere dogs 
matifche Beftimmungen berühmter Lehrer der griechiſchen 
und lateinifchen Kirche zurückgeht, und die Goldkorner darin 
aufſucht, theils find daraus zwei auf Dem Gebiete ber 
Dogmengefchichte fehr eingreifende Abhandlungen hervor, 
gegangen, die eineüber Die Lehre von der Erwähr 
lung (Erörterung der auguft. und caloinifchen Theorie 
darüber), womit bie berliner theol. Zeitfchrift 1819 eröffnet, 


4 


Erinnerungen an Dr. Bei Schleiermacher. TEL 


and die. andxerüber,dew.Gegenfag zwifchen der 
fabellianifhen und der athanafianifhen Bor, 
ſtellung son. demfkrinität, womit: biefelbe 1822 
eben fo -rühmelüch geſchloſſen wurde. In beiden Abhands 
Iungen.:bewährt fich das durch eigenthämliche Unterſu⸗ 
chungen-in Der Geſchichte Der griech. Piytlafophie. gebildete 
nnd ausgezeichnete: Talent Schleiermachers. Der letzteren 
verdauken wir neue pragmsatifche Geſichtspuncte für bie 
aͤlteſte Geſchichte der Trinitätslchre. Die erftere fehlen, da 
fie.dee eben begonmenen Union der beiden evangeliſchen 
Confeſſionen Durch Die Vertheidigung der auguftinifchen.und 
calvinifchen Confequenz in der Lehre von der Erwählung 
bei ver Menge mehr zn ſchaden, als zu nützen geeignet war; 
ein Werk zur unrechten: Zeit zu ſeyn. Aber, als ich ihm 
bieß bemerflich machte, erklärte er, es ſey feine Abſicht, 
eben zu Gunſten der Union einen Gegenfland von neuem 
zur Sprache zu bringen, den zwar die oberfläichliche Bes 
teachtung. laͤngſt abgemacht zu haben ‘glaube, der aber; 


wenn bie Union fich auch.in wiffenfchaftlicher Hinficht weis 
ter entfalten und vollenden folle, früher oder fpäter. in - 


Frage geftellt werben müfle. Daß das fchwierige Problem 
feitvem genauer und gründlicher unterfucht und auch wohl 
Der Anfang zu neuen bogmatifchen. Beftimmungen barüber 
gemacht worden ift, iſt das —— jener anregenden 
Abhandlung. 

Schleiermacher hat abi nicht bloß als Schriftſteller 
für die Neu » und Weiterbildung der Theologie gewirkt, 
auch als alademifcher Lehrer hat er durch mündlichen Bors 
trag neue Bahnen geöffnet und neue Geſichtspuncte anges 
geben. Wenn ein Theil feiner Vorlefungen gedruckt wer⸗ 
den wird, wird ed möglich fegn, den Gewinn von dieſer 
Seite genauer anzugeben. Seine Borlefungen über das 
Leben Jeſu haben feitbem ähnliche auf andern Univerſitä⸗ 
ten veranlaßt, und bie bei allen Mängeln immer ausge⸗ 
zeichnete Schrift-von Dafe über. das Leben Jeſun iſt dadurch 





ı (1 DE - ©". EEEF EEE Fer Erunn 


angeregt werben. Von:Schleiermachers Vorleſungen bars 
fiber weiß ich nur fo viel, Daß ſte/ durch die eigenthumliche 
Art der Behandlung des Gegenftaddes: ausgezeichnet, wenn 
ſie erſcheinen, fowohl für: die: Auslegung der Evangelien, 
als die dogmatiſche and ethiſche Betrachtung Jeſu Nenes 
und Anregendes bringen werden. Auf gleiche Weiſe wer 
ben die praktiſche Theologie, die er regelmäßig lehrte, und 
immer auf eine belebende:erfrifchende Weife, die Firchliche 
Statiftit, von der er zuerfi einen: wilfenfchaftlichen Begriff 
aufftelite, die Kirchengefchichte und die hiſtoriſch kritiſche 
Einleitung in das neue Teflament, welche er von. Zeit zu 
Zeit vortrug and mit riesen Geſichtspuncten unb Fragen 
bereicherte, enblich die chriftliche Moral, : auf die er ale 
Schriftfteller. mittelbar durch feine Kritit Der Sittenlehre, 
und. feine ethifchen .Abhanbiangen in den Denffchriften der 
Akademie der Wiſſenſchaften veformatorifch :gewirkt hat, — 
fie alle werben feinen Borlefangen je länger je mehr neue 
Richtungen. and Anregungen-verbanten, fowohl bei’benen, 
die fie gehört haben, als bei denen, BAR nur vergännt 
er fie a" . ze 


— beſaß die. Theologie als ein organi 
ſches Ganzes, nicht zur Befriedigung ſeiner individuellen 
wiſſenſchaftlichen Bedürfniſſe, oder zum volleren Glanze 
ſeines Geiſtes, ſondern in lebendiger Beziehung auf die 
Leitung der chriſtlichen Kirche, zu welcher er ſich, ſowohl 
anf dent akademiſchen Lehrſtuhle, als auch auf der Kanzel, 
als firdjlicher Beamter und Diener des göttlichen Wortes 
berufen fühlte. Wenn nur die gegenfeitige Durchbringung 
: and Belebung des kirchlichen und wiffenfchaftlichen Intereſ⸗ 
‚ fe8 den wahren Theologen madıt, fo war Schleiermacher 
ein um fo vollfommnerer, da beide Elemente, jedes aufeine 
ausgezeichnete Weife, in ihm.waren, und in einem fo fchör 
ven Bleichgewichte mit einander, daß er mit gleicher Tüch⸗ 





Grinnerungen an Br. Fr. Schleiermacher. 783 


tigfeit der Kirche als praktifcher und theoretifcher Theolog 
gu dienen im Stande war. Ich habe. ihn immer bewun⸗ 
dert und beneibet, daß es ihm von Gott gegeben war, in 
beiden Rihtungen Des theol. Bebens mit gleicher Virtuoſi⸗ 
tät wirffam zu ſeyn. Die wiffenfchaftliche Wirkſamkeit in 
der Stubierfinbe: und anf dem alabemifchen: Lehrfinhle 
wurde fonntäglich gekrönt durch Die Predigt bes Köttlichen 
Wortes auf der Kanzel, und auch die Woche hindurch 
mannicfaltig. durchflochten durch kirchliche Amtsverxichtun⸗ 
gen in der Gemeinde und durch katechetiſchen Unterricht 
der chriſtlichen Jugend. Für jeden Andern waäre dieß zu 
viel gewefen; das eine oder andere würde bei jedem Ans 
dern gelitten: haben. Richt fo bei. Schkeiermmacher 1, Ich habe 
ihn auch nie Hagen hören, daß ihm das vwielfache Amt 4u 
viel würde, oder daß eines das undere ſtöre. Im Gegenz 
theil fchien er in dem einen Erholung und Neubelebung 
für das andere zu. finden, Und wenn ich dazu nehme, daß 
er bei aller amtlichen Vielbeſchäftigung und feiner reichen 
fchriftftelleritchen Thätigleit zu aller Zeit bemüßigt, anfges 
legt und frifch war zum gefelligen Leben in größeren und 
Heineren Kreifen, daß er in dieſes nie den unbeholfenen 
Ernft der Studierftube und des Amtes mitbradhte, fons 
dern immer den heiteren, belebenden Gefellfchafter -— ſo 
Tann idy ver flaunenden Bewunderung über ben großen 
Mann nur dnudurch loswerden, Daß ich bedenke, wie: viel 
der liebe Bott ihm vorzugsweiſe Gaben gegeben hatte, und 
mich an. feiner Tugend erfrese und erhebe, fie alle zu ges 
Branchen und in gehörigen SASBAERNAnG mit einander 
zu ſetzen. 

Das, was in feiner: geiftlichen Unmtöthätigkeit zumächft 
und am meiften hervorragte, war — ſonntägliche Pre⸗ 
digt, ein Abbild und zugleich eine Ergänzung und Vollen⸗ 
dung: feiner wiffenfchaftlichen Thätigkeit. Ich Tann mich; 
was das Berhältniß feiner Predigten zu feiner Dogmatik 
betrifft, wie_beibe mit einander wahrhaft übereinſtiumen, 


BE re. ee 23 


einander ergänzen und erklären, auf den trefflidyen Aufſatz 
darüber von bem Herrn Domprebiger Dr. Rienüder in 
Halle a) berufen, und bin gewiß, Daß wer denfelben aufs 
merkſam lieft, ihm darin recht geben wird, daß Schleier: 
macher, ob er gleich auf Den. formellen Unterfchied zwiſchen 
dem wiflenfchaftlichen afabemifchen Borträge und. Der po⸗ 
pulären Mittheilung Des: chriftlichen Glaubens große Stüde 
hielt und ihn überall geltend machte, doch von einer mas 
teriellen Verfchtedenheit beider fo wenig wußte,. daß man 
fügen muß, zum vollen. wiffenfchaftlichen Verſtändniſſe feis 
ter Predigten fey: feite Dogmatik. eben fo unentbehrlich, 
#18; um .biefe alffeitig gu verftehen, nothwendig fey, feine 
Predigten zu findieren. Nur Oberflächliche. ober Böswil 
lige haben ohne allen Grund den. Berbadjt gelurßert, als 
ob der Mann auf der Kanzel ein anderer gewefen fey, ald 
auf dem afadeinifchen Lehrituhle und in feinen wiſſenſchaft⸗ 
lichen Sithriften: Dieſelbe Innigkeit und Liebe, womit er 
auf der Kanzel an dem poſitiven Gehalte der: Schrift feits 
bielt, und den lebendig perfünlichen Mittelpunct derſel⸗ 
ben, ben Erlöfer, ald den eingebornen Sohn Gottes zum 
immer wiederkehrenden Inhalte feiner Predigten machte, 
tritt auch in feiner Dogmatif deutlich genug hervor mitten 
unter der Arbeit des fritifchen und dialektiſchen Verkans 
des; und die Freiheit und Geiſtigkeit, womit er in feiner 
Dogmatik Aberall der Knechtfihaft bes Buchſtabens, der 
falfchen allegorifch gnoſtiſchen wie judenchriſtlichen Ber 
knüpfung des alten und neuen Teftaments, der Berwechds 
Jung des Weſentlichen und Unweſentlichen 'entgegentritt, 
herrfcht auch in feinen Predigten, in denen er in dem großs 
artigen: Style Luthers auch: die freiefte Verfündigung der 
erkannten Wahrheit feinem Zuhörern zumuthete zu ertras 
gen. Wie feine Predigten ein reicher Schag für die wif- 
fenfchaftliche Eregefe, befonders Des neuen Teſt. ſeyen, habe 


a). In den Studien und’ Krititen 1881 Heft 2 S. Ho ff. 





Erinnerungen an Dr. Fe. Schleiermadyer. 785 


- ich bereits oben bemerkt. Aber um ganz zu erkennen, wie 
Schleiermacher auf der Kanzel, wie auf dan alabemifchen 
Lehrftuhle, ein Dann aus Einem Guſſe und Stüde, bat 
einer feiner jüngern Schüler, Rütenid, auf eine fehr beleh⸗ 
rende Weife, freilich zunächſt nur in populärer Form ger 
zeigt, wie fih aus feinen Predigten fein ganzes Syſtem 
der chriftlichen Moral erbauen laffe. Bon dem bedenkli⸗ 
chen Unterfchiede zwifchen dogmatifchen und moralifchen 
Predigten wußte Schleiermacher nichts. Wie er felbft in 
der Wiffenfchaft nur einen fehr relativen Unterfchied zwi⸗ 
[hen Dogmatik und Moral zugab und die innigfte Bers 
bindung und Mechfelbeziehung beider auf das Entfchies 
benfte behauptete, fo hat er. auch in-feinen Prebigten die 
lebendigfte gegenfeitige Beziehung des chriftlichen Denkens 
und Handelns, des Glaubens und ber Liebe immer feſtge⸗ 
halten und Ddargeftellt, und mir ift unter feinen Predigten, 
den gedrudten und gehörten, feine befannt, in der man 
bei einem Webergewicht des Dogmatifchen oder Ethifchen 
die lebensvollſte Zurücdführung beider auf einander vers 
mißte. Das Eigenthümliche der fchleiermacher’fchen Pre⸗ 
digtweiſe vollftändig zu charakterifiren, ift hier meine Ab- 
fiht nicht. Die geiſtvolle Charafteriftif derfelben. von Dr. 
Sad a) ift ein ſchöner Anfang dazu, das große. Verdienft 
und die ausgezeichnete Eigenthümlichfeit Schleiermacherg 
auch auf Diefem Gebiete ohne Uebertreibung unparteiiſch 
aufzufaffen. Mein Freund bezeichnet die hHomiletifche Eigens 
thümlichkeit Schleiermachers als eine dreifache. ALS die 
erite und fruchtbarfte erfcheint ihm die Sicherheit und ins 
nige Lebendigkeit, mit welcher alle Betrachtung von ber 
Gemeinfchaft mit der Perfon Ehrifti durch. den Glauben 
und die Liebe ausgeht, und aus dieſer Gemeinfchaft das 
— und die Beſtimmung der Kirche verſteht und das 


a) Sn den Studien und Kritiken 1881 Heft 2 S. 850 iz über 
Schleiermachers und Albertinid Predigten. 


786 eaces 


Bertrauen auf bie Kraft. des. ſchon in Die Kirche überge: 
gangenen Geiſtes ſchöpft. Während er diefer Eigenthüm⸗ 
lichkeit das größte Lob und die epochemachende Bebentung 
der. fchkeiermacher’fchen Predigtweiſe beilegt, :findet er bie 
zweite Eigenthümlichkeit mehr tadelnd Darin, daß das 
Port Battes in ber Schrift Schleiermachern micht bad Ans 
fehn hat, feinen Glauben immer neu entſtehen und in fer 
nen wefentlichen Elementen durch daſſelbe göttlich beſtim⸗ 
men zu kaflen, fondern nur dazu, feine Reflexion über 
fein Glaubensgefühl zu leiten und zu regeln. Diefer Zabel 
beruht nach meiner Anficht anf einer falfchen Auffaflung 
der Idee des Glaubens bei Schleiermacher. Dr. Sad meint, 
der Glaube, nämlich der eigenthämlich chriftliche, fey für 
Schleiermacher überwiegend ein Gefühl ohne Bewußtſeyn 
einer objectiven Wahrheit gewefen. Das muß ich leugnen. 
In ſeinen Predigten, wie in ſeiner Dogmatik iſt der chriſtl. 
Glaube zwar weſentlich etwas Subjectives, ein ſubjectives 
Leben im Menſchen, aber die charakteriſtiſche, poſitive Be⸗ 
. Rimmtbeit deſſelben, welche Schleiermacher fo entſchie⸗ 
den hervorhebt, tft ja eben ein Werk der Gefchichte, des 
Lebens und Lehrens Jeſu Ehrifti, welche der chriftliche 
‚ Glaube als feinen weſentlichen Inhalt allezeit am reinften 
‚und klarſten aus ber Schrift empfängt, Freilich entnimmt 
er diefen Snhalt aus Der heil, Schrift nicht als ein äͤußeres 
Port, als eine ihm von Natur fremde Lehre, fonbert 
ala ein ganzes Leben, worin Lehre und Wort ift, und er 
empfängt ihn in der chriftl. Kirche nicht als ein immer wie 
der neues und entfichendes, fondern vermöge des chriſtl. 
Beiftes in der Gemeinfchaft der Gläubigen als ein bekann⸗ 
tes, nur immer lebendigeres und vollfommneres, Wenn 
Dr. Sad nun meint, daß mit der von ihm getabelten 
Eigenthümlichkeit, die er tabelnd das idealiſtiſche 
Element Schleiermacherd nennt, wir aber lieber lobend 
das geiftigfirchliche nennen möchten, eine dritte Eigen 
thümlichteit Schleiermachers in feinen Predigten zuſammen⸗ 





Grinnerungen an Dr. Br: Schleiermacher. 787 


bange, nämlich, daß er das Leben und Wirken: der Gnade 
in allen feinen Zuhörern nicht nur ale völlig bewußt, ſon⸗ 
dern als ſoweit gefördert vorausfeße, daß auf Die mans 
nichfaltigen Zuftände mangelhafter Gottesfarcht und am 
fangendew Glaubens, wie fle bach thatſächlich in unfren 
Gemeinden vorliegen, zu wenig Rüdficht genommen fey: 
fo muß ich zwar diefen Zuſammenhang feiner Eigenthüms 
lichkeiten gelten laffen, ich kann auch barin wine gewiſſe 
Einfeitigkeit nicht verkennen. Aber auf der andern Seite 
muß ich erklären, Daß ed mir immer befonbers mohlgethan 
hat und fehr rühmenswerth erfchienen ift, wern Schleier, 
macher mit jeter großartigen Vorausſetzung feines gläus 
bigen und liebevollen Gemüthes die Kanzel betrat, daß er 
die chriftliche Gemeinde als foldye vom Herrn und feinem 
Geifte bereits gegründet und gefammelt vorfand, und daß 
er nicht berufen ſey, ihren Glauben erft zu pflanzen, ſon⸗ 
dern mehr den fchan gepflanzten zu begießen durch unbe 
fangene Mittheilung und Ausftrömung feiner aus dem gött⸗ 
lichen Worte ftammenden und flammenben Begeifterung 
und Erfenntniß. Schleiermacher verkannte Die verfchiedenen. 
Stufen in der Erfenntniß und Gottesfurcht der Gemeinde 
nicht ; die mangelhaften Zuftände in der Gemeinde berück⸗ 
fichtigte er wohl, Aber er nahm immer ein Durchſchnitts⸗ 
maaß des chriftlichen Glaubens unb Lebens in Der. Gemeinde 
an, wooon er ausging, Die niedrigeren Stufen einer ans 
dern Art des Unterrichted, als der Predigt überlaſſend. In 
einer Zeit, wo fo Viele die chrifflichen Gemeinden behan⸗ 
bein, ald habe das Werk der Erlöfung und Wiedergeburt 
in ihnen, weder bewußt noch unbewußt, noch gar nicht 
angefangen, oder als fey ed alle Sonntage von Neuem zu 
beginnen, und Durch Diefe verkehrte Art mehr ermüden 
und erbittern, als erheben und erfreuen, — ift Die entges 
geugefegte Eigenthümlichfeit Schleiermacdhers nur zu rüh⸗ 
men. — Dagegen unterfchreibe ich gern, was Dr. Sad 
über „das Talent Schleiermachers fagt, Einheit und Mass 


pi: 7° 2 & 


wichfaltigfeit feier Nede in formeller Klarkeit und mehr 
als Iogifcher Reinheit der Anordnung ald ein-Ganzes and 
Einem Stüde hinzuftelen.” Sch kann nicht unterlaffen, bie 
ganze Schöne Stelle meines Freundes. hierüber auch mit dem 
theilmeifen Tadel, den ich aber mehr nur ald Derftellung 
der wöohlberechtigten Eigenthümlichkeit Schleier machers 
gelten laſſen kaun, wörtlich abzuſchreiben: „Diefe Beſtimmt⸗ 
heit. der Gedanken, fo ſagt Dr. Sad weiter, und dieſe Reim 
heit ber Verhältniffe, verbunden mit der edlen Bildung 
und Würde der Sprache, dieſe ideenreiche und befeelte 
Fülle des Geiſtes, umgeben von kirchlichem Gefchmad und 
Tact, läßt die Innigkeit feiner Grundrichtungen hödft 
wohlthätig bervortreten. Verbergen kann man es babei 
doch nicht, daß die ganze Sprachbildung des Verfaſſers 
mehr Firchlich und edel und zugleich antik ift, als biblifch 
und eigentlich homiletifch. Dieß hängt wieder mit ber Bers 
nachläffigung Des alten Teftaments zuſammen, welches Die un: 
erfhöpfliche Duelle des homiletifchen Styles für Die beweg⸗ 
teren und höheren Gebiete deffelben if. Man darf fagen, 
der Berfafler hat zu wenig Orientalifches in Auffaffung und 
Ausdrud, nichtd von dem, was ben Styl Herders, abge- 
fehen von feinen Fehlern, . vorzüglich in feinen früheren 
. Schriften fo ergreifend macht; wo er das eigentlich Rhe⸗ 
torifche, das Bibelnachbildende verfucht, ift er felten glüds 
lich. Doc, feine Stärfe Liegt auf einem andern Gebiete, 
auf dem der Wahrheit und Milde, der ruhigen Kraft und 
Treue, Die yon innen aus feine Worte wie durchhauchen.“ — 

Es ift befannt, daß Schleiermacher feine Prebigten, 
bevor er fie hielt, nicht auffchrieb. Die gedruckten find alle 
ans Nachfchriften. Als ich ihn hörte, waren immer zwei 
feiner jüngern Freunde damit befchäftigt, fie nachzufchreis 
ben. Wer das wußte, bewunderte die großen Gaben bed 
Mannes noch mehr. Die Predigt entftand in fofern nicht 
erft auf der Kanzel, als er fie mehrere Tage vorher im 
Geifte bereits empfangen und bis zum Augenblide, wo er 


: 





Erinnerungen on Dr. Sr. Schleirmaher. 789 


fie hielt, gleichjam völlig ausgetragen hatte. ber er 
fchrieb nichts auf, als damals, wo ich mit ihm lebte, 
Sonnabend Abend Tert und Thema, und höchftens noch 
Die einzelnen Theile des letzteren, kurz angedeutet. . Das 
nannte er feinen Zettel machen. So aber ging er auf 
die Kanzel, Hier entfland nun die Predigt, ihrer ber 
ftimmten Form, Darftellung und Ausführung 
nach, als ein lebendiges Product des vorangegangenen 
Nachdenkens, des belebenden Eindrucks ber verfammels 
ten Gemeinde und Der immer gleich gegenwärtigen Herr⸗ 
ſchaft feines Geiftes über Gedankenordnung und Sprache, 
Wer es wußte, bemerlte, wie das RKunftwerf chriftlis 
cher Rede entſtaud, wie er anfangs langſam und ruhig, 
mehr im gewöhnlichen Tone der Rebe, die Gedanken 
fammelte und ordnete; dann aber, wenn er eine Zeit⸗ 
lang gefprochen und er gleichfam das ganze Neb der Ges 
danken ausgeſpannt und zugezogen hatte, wurde die Rebe 
fchneller, bewegter, und je näher dem ermahnenden oder 
ermunternben Schlufle, beito firdimender und reicher. So 
habe ich ihn einige Jahre fonntäglich gehört. Er wor ſich 
immer gleich und immer anziehend Durch bie eigenthämliche 
Behandlungsweife Des Textes, durch Neuheit und Friſche 
der Gedanken, durch geordnete Darftellung und fließende 
Rede. Ich habe nie gehört, daß er fich verfprochen, oder 
eorrigirt hätte. Wurde man nicht durch die Gedanken 
übermäßig gefeflelt, fo hatte man oft Gelegenheit zu bes 
wundern, wieer, bei feinem eigenthämlichen Style zu vers 
widelten Perioden geneigt, auch in ben verwideltiten 
in jedem Augenblide das rechte Wort fand und den Faden 
nie verlor, der ihn ficher zum Ausgange führte. Es hat 
nicht jeder dieſe Gabe, am wenigiten in allen Stimmun⸗ 
gen und Zufländen, über alle Gegenkände des chriſtlichen 
Glaubens und Lebens,. ohne fchriftliche Vorbereitung, im⸗ 
mer mit gleicher Fülle, Klarheit und Schönheit vor ber 
Theol, Stud. Jahrg. 1834. 62 


90 | Bades 


Gemeinde zu fprechen. Dft leidet unter ber Herrfchaft um 
Schnellfertigkeit ber Sprache der Inhalt. Es entftcht leicht 
eine eintönige Manier , eingeübte Gedankenreihen kehren 
ſchnell wieder, und was dergleichen Untugenden des unbe 
rufenen Ertemporirene mehr find. Bei Sıhleiermacher war 
von dem allen keine Spur. Er hatte feine ihm eigenthüm⸗ 
uiche Sprachweife, feinen eigenthämlichen Gebanfenteeid. 

Aber der Reichthum feines Geiſtes und Die Fülle Des chriſt⸗ 
Uchen Lebens in ihm ließen in feiner Art zu prebigen feine 
von den gewöhnlichen Untngenden des Ertemporirend auf 
kommen, und madıten, daß man nur mit Wohlgefallen 
den höchften Brad der homiletifchen Kunſt in ihm betrach⸗ 
tete, und bie reichen Früchte derſelben rein genießen 
konnte. — Als ich ihn einft fragte, wie er zu dieſer beneis 
Denöwerthen Kunſt gefommen fey, antwortete er, daß er 
fehr früh erfannt habe, wie Doch das das höchſte fey, vor 
der Gemeinde die Predigt nicht erſt durch das &ebädtnif 
wieder zu erzeugen, wobei von der urfprüänglichen Lebens 
digkeit immer etwas verloren gehe, joubern frifch und nen 
aus der jedeömaligen Kraft und Fülle des Gemüthes zu 
ſprechen; um fich Dazu gefchicht zu machen, habe er damit 
angefangen, nur ben Schluß ber Predigt nicht anfzufchreis 
ben, und fu ſtückweiſe rüdwärts, wie man ein gewohntes 
warmes Kleid nur mach und nadı ablege, habe er zuletzt 
auch das Scwierigfbe..erreicht, ben Anfang nicht mehr 
anfzufchreiben. 

Ber eine eingelne Prebigt von Schleiermacher hörtr, 
Konnte fürchten, daß er für die Ungebilbeteren in der des 
meinbe nicht verfländblich, nicht populär genug ſey. Aber 
bei fortgefegtem Hören im Zufammenhange verging bie 
Furt ganz. Er muthete feinen Zuhörere viel gu, aber 
doch eigentlich nicht mehr, ale Vertrautheit mit der Schrift 
und Aufmerkſamkeit. Da er nun dieſe auch inden weniger 
Gebilbeten zu fefleln wußte durch die Krifche und geiſtige 
Lebendigkeit feines Vortrags, durch die ſtete Beziehung 


Erinnerungen an Dr. Fr. Schleiermacher. 791 


auch der tiefften chriftlichen Ideen auf das praftifche Beben, 
umb deu gegenwärtigen Zuſtand der Kirche, des Hauſes, 
des Baterlandes, — fo erklärt fich, wie fein kirchliches Au⸗ 
Ditorinm zwar meift aus Den Gebilbeteren beftand, aber 
auch geringere Leute felbft aus andern Gemeinden fah man 
regelmäßig feine Kirche beſuchen uad aufmerkſam zuhören. 
ch glaube, daß diefer Theil feines Auditoriums je länger 
je mehr zunahm, da, wie er in feiner ganzen Theologie 
Iebendig fortfchritt, fo auch in feiner Predigtweiſe von 
Jahr zu Sahr bei ſteter Erfahrung und Erweiterung feines 
inneren Lebens chriftliche Einfachheit und Sunigleit immer 
mehr zunahm. 

Die Predigt war allerdings für Schleiermacher ber 
Hauptort feiner Wirffamfeit in der Gemeinde; aber wie 
er gewohnt war, alled, was zu einem beſtimmten Kreife von 
Tchütigleit gehörte, zufammenzufaflen, fo war er auch auf 
alles, was im Wefen bed Gemeindelebens Tag, mit gleicher 
Liebe nnd Treue bedacht. Noch ehe das Bedürfniß Liturgie 
ſcher Reformen im Gottesdienſte allgemeiner zur Sprache 
tam, fuchte er in feiner Gemeinde das Liturgifche Bedürf⸗ 
nig zu weden und zu befriedigen, fo gut er ohne eine all 
gemeinere Reform in der ganzen evangel. Kirche in feinem 
reife konnte. Da er Sefang und Predigt ale ein lebendi⸗ 
ges Ganzes betrachtete, Das damals eingeführte Gefange 
buch aber der Anordnung eines folchen Ganzen zum Theile 
binderlich war, traf er Die Einrichtung, wenigſtens für jer 
Dem Morgengottesdienſt beſondere Geſänge druden zu Iafs 
fen, die er aus dem reichen Liederſchatze unfrer Kirche, 
dem älteren und ueneren, finnig und ſchicklich auswählte. 
Sp wurde feine Gemeinde nach und nach mit Den ſchönſten 
Liebern bekannt, und er felbft geübt und gefchickt, an Dem 
Werke eines neuen Öefangbuches, welches Dem gegenwär- 
tigen Zuftande der chriftlichen Bildung angemeffen fey, lei- 
tenden. Antheil zu nehmen. Es ift befannt, wie er einer der 


Hauptarbeiter des neuen berliner Gejaugbuches geworden 
52 * 


792 Luͤcke s 


iſt. Seine Vertheidigung deſſelben “) zeugt von ber Klar 
heit, Beftimmtheit und Erfahrung feines u auch auf 
Diefem Gebiete. 

Bon feiner Fatechetifchen Art im SERIE 
der Jugend habe ich Feine unmittelbare Erfahrung. Ic 
weiß nur, daß fein Eonfirmandenunterricht befonderd in 
den höheren Ständen fehr beliebt und gefucht war, und 
"daß die Jünglinge und Jungfrauen, Die er vorbereitete 
und einfegnete, mit befonderer Innigfeit und Treue an ihm 
hingen. Dieß wäre undenkbar, wenn er nicht auch auf diefem 
Gebiete eine bedeutende Gabe gehabt hätte, die jugendli⸗ 
chen Gemüther für das Evangelium zu erwärmen und gei⸗ 
flig zu beleben. Die Gemeinde der Jugend, die er ſich fo 
bildete, war, wie mir fchien, zugleich der Hauptkreis für 
feine Seelforge. Er entzog ſich dieſem wefentlichen Theile 
feines Predigtamtes nicht. Aber es lag mehr in der gan 
zen Art feiner Stellung, zum Theil auch in feiner perföns 
lichen Eigenthümlichfeit, daß er ſich als Seelſorger mehr 
auffuschen ließ von denen, Die Herz und Vertrauen zu ihm 
hatten, als daß er fie aufgefucht hätte. Was er auf die 
fer Seite feines geiftlichen Amtes etwa von Wirkſamleit 
einbüßte, das erjeßte er im hohen Grade durch bie ſtets 
rege Theilnahme an den allgemeinen Angelegenheiten der 
Kirche. Schleiermacher betrachtete die einzelne Gemeinde 
als einen lebendig organifchen Theil der Firchlichen Ges 
fammtheit, unzertrennlich von diefer in Gefundheit und 
Krankheit. Seine reformatorifche Thätigkeit richtete fih 
fehr früh fhon auf die Bedürfniſſe und Zuſtände des ges 
ſammten kirchlichen Lebens. Das erſte, was er in dieſer 

Hinſicht bekannt machte, find zwei unvorgreifliche 
Gutachten in Sachen des proteſtantiſchen Kir 
chenweſens zunächſt in Beziehung auf den 


a) Lieber das berliner Geſangbuch. Gin Schreiben an Herrn Biſchof 
Dr. Bitfäl in Gtettin 1830. 


Erinnerungen an Dr. Sr. Schleiermaher. 793 


yreußifchen Staat 1804. Diefe Schrift fohrieb er in 
derfelben Zeit, als er fein tieffinniges Werk über Die Kris 
tif der Sittenlehre .gefchrieben hatte, — fie ift ohne feinen 
Namen erfchienen, aber mit dem Gepräge feined Geiftes. 
In dem erften Gutachten über die Trennung beiber pros 
teftant. Kirchen tritt ſchon mit aller Klarheit und Beſtimmt⸗ 
heit die firchliche Lebensfrage feines. Geiftes, die Union, 
hervor. Er zeigt Die Nachtheile der bisherigen Trennung, 
wie fie in Beziehung auf das religiöfe Sntereffe auf der 
einen Seite Aberglauben, auf der andern Seite Sleichgäls 
tigkeit auch gegen das Wefentliche der Religion nähre, fos 
dann aber auch auf die allgemeine Moralität und wahre 
Cultur nachtheilig einwirfe, endlich aber auch für den 
Staat und bie Schule als ein Uebel erfcheine, Dem ed Zeit 
fey abzuhelfen. Dieß alles ift mit eben fo viel Wahrheit 


lebendiger Erfahrungen, als mit Geift.und Wit ausges : 


führt. Aber Schleiermacher begnügte fich nicht, über das 
Uebel zu klagen, er zeigte fchon damals neben der Noth⸗ 
wendigfeit der Union auch Die rechte Art ihrer Ausführung; 
er verlangte, daß die Kirchengemeinfchaft hergeftellt werde, 
ohne die Unterfchiebe im Lehrbegriffe und die Abweichungen 
im Rituale anzutaften, und daß dieſe Wieberherftellung 
erfolgen müffe, ohne irgend Semand in der Freiheit feines 
Glaubens und feines Thuns zu befchränfen. Schon das 
mals wies er darauf hin, wie in der Brüdergemeinde dieſe 
dee der Union auf eine befriedigende Weife realifirt fey. 
Das zweite Ontashten erörtert die Mittel, dem Berfalle 
der Religion vorzubeugen. Voll der lebendigften und wahrs 
ften Schilderungen der VBerderbniffe, Hebelftände und Miß⸗ 
verhältniffe ſowohl in der Anordnung und Verwaltung des 
öffentlichen Gottesdienftes, als in der Befchaffenheit und 
dem Zuftande bes geiftlichen Standes, enthält es zugleich 
eine Menge von reformatorifchen Winfen und VBorfchläs 
gen, welche bei dem Umfchwunge des Lirchlichen Lebens 
feit 1814 zum Theile realifirt, zum Theile von neuem anger 


1.7 "7 77 


regt und ausführlicher befprochen worden find. Ich weiß 
nicht, welchen Eindruck diefe beiden Gutachten zu ihrer 
Zeit gemacht haben, gewiß nur einen fehr vorbereitenden. 
Aber fie enthalten ſchon ale die Ideen, zum Theil ſchon 
ausgeführt, zum Theil im Keime, welche Schleiermacher 
zehn Jahre fpäter anfing auf eine fräftigere und vollftän⸗ 
digere Art zu verbreiten und herrfchend zu machen. — 
Nur eine kurze Zeit war ihm vergönnt, an bem allgemeinen 
Kirchenregiment in einem höheren geiftlichen Staatsamte 
Theil zu nehmen; ed war die Zeit der Regeneration bed 
preuß. Staates, wo die geifteögewaltigen Minifter von 
Stein und’ W. von Humboldt darauf aus waren, überall die 
Tüchtigften an die Spitze zu ftellen, wo es Denn nicht feh⸗ 
fen konnte, daß auch Schleiermacher an feinen Plag kam. 
Ich weiß nicht, in welcher Art und welchem Umfange er 
banrals für die Reformen der Kirche wirkſam geweſen iſt. 
Aber das weiß ich, daß er gern zurüdtrat, als fpäterhin 
bie läftige Schärfe und Entfchiedenheit feines Geiftes mehr 
nur Widerftand als Eingang fand. Seitdem befchränfte er 
fich, theils als Schriftfteller, theils als frei gewählter Präs 
fivent der berliner Synode nach Kräften dazu beizutragen, 
daß ‚bie befonders feit dem Jahre 1814 allerhöchften Ortes 
ſelbſt angeregte Reform des öffentlichen Gottesdienſtes und 
ber Berfaffung der Kirche, ſammt der Union auf den red), 
ten Grund und Weg geführt würde. Aus diefer Zeit iſt 
die Reihe feiner meift polemifchen Gelegenheitsfchriften 
über Die firchlichen Angelegenheiten, bie mit dem berühm⸗ 
ten Glückwünſchungsſchreiben an die hochwür— 
digen Mitglieder der von Sr. Majeſtät dem 
Könige von Preußen zur Aufſtellung neuer 
liturgiſcher Formen ernannten Commiſſion 
1814 beginnt. Die Anonymität dieſer Schrift hinderte nicht, 
ben Verfaſſer augenblicklich zu erkennen, fo ſehr trägt fie 
Das volle Gepräge feines Geiſtes. Mehr eine Condolenz 
und Warnung, als ein Glückwunſch, nicht ohne eine ger 





} 
j 


Grinnerungen an Dr. Br. Schleiermader. 295 


wiffe Ironie, wurbe fie doch von ber Gommrifften mehr 
als gut: anfgenommen. Faſt moͤchte man fagen, feine von 
ben Eichriften Schleiermachers habe fo ſehr unmittelbar ih⸗ 
ven Zweck erreicht: Die Eummiſſion gittg mit edler Selbſt⸗ 
verleugaung.in Die Ideen Schleiermacherd ein; ftatt:nene 
liturgiſche Formen eilfertig anfzuftellen, trag fie darauf 
an, der Kirche zuvor eine Berfaflung zu geben,. wodurch 
es möglich werhe, Die Reform: von Innen heraus zu einem 
Gefammtwillen ber Kirche zu gefkalten. Es gehört zn Dem 
unvergänglichen Ruhme bes. Königes von Preußen, baf er 
anf Diefe dee mit allem Intereſſe feines hriftlichen Gemü⸗ 
thes und aller Kraft bestöniglichen Willens einging. Zwar 
bie nene Liturgie für die Hof s und Garnifongemeinbe zu 
Potsdam und für.die Garnifonfirche in Berlin, welche im 
Sahr 1816. erſchien, war auch durch Die Art, wie fie singes 
führt wurde, wenig geeignet, zu einer richtigen Einleitung 
einer umfaflenden wahren Reform Hoffnung zu erregen. 


Schleiermacher, wie ein Wächter auf der Zinne der 


Kirche, aufmerffam auf jede Erfcheinung und Richtung 
am Firchlichen Horizont, unterließ nicht, Dießmal mit Nen⸗ 
nung feines Namens, mit Zreimüthigfeit, aber im milden 
Tone, in ber Schrift über hie nene Liturgie für 
bie Hofs und Garnifongemeindbe zu Potsdam 
1816, die neue Liturgie der Kritik zu unterwerfen, unb am 
Schluſſe von Nenem darauf aufmerffam zu machen, „Daß 
aur durch eine wohlgeordnete Synodalverfaſſung der Kirche 
ein gefegmäßiges Zufammenwirten zur Reform des Gots 
teödienfted gewonnen werben könne, daß weder Die Will⸗ 
für des Einzelnen bei den heiligen Angelegenheiten des 
Öffentlichen Dienftes wild umherſchweifen kann, noch auch 
ben Gleichgefiunten, die ſich gern aneinanderfchlöffen, ein 
fruchtbarer uud anerfannter Bereinigungspunct fehlt, oder . 
der erfahrene und ausgezeichnete bes ftillen unmittelbaren. 
Einfluffes entbehrt, den er ausüben ſollte.“ — Ald nun 
zur Inbelfeier Her Reformation 1817 ber König durch ruhm⸗ 


796 ..Lüuͤckeßs 


wuͤrdiges Beiſpiel und treffliche Anordnung die Union bei, 
ber evangeliſchen Kirchen einleitete, ja recht eigentlich ſtif⸗ 
tete, und bereits im Frühjahre 1817 die amtliche Bekannt⸗ 
machung über die Bildung ber. Preöbpterien, und Die Ber 
einigung der protefkantifchen. Geiftlichfeit in Kreis ⸗Pro⸗ 
Yinzialsund Reichſsſynoden erfolgte, — Da. glich Der Freude 
Schleiermachers über bad anfangende Gelingen feiner fchöns 
fen und liebſten Wünfche, nur ber Eifer, womit er das 
neue Werk durch Rath mb That, mit Liebe und Ernft zu 
fördern und zu ſchützen fuchte, Seite Ideen hatten. unter» 
befien in weiteren Kretfen Eingang und Schuß gefunden; 
mehrere, befonders jüngere Geiftliche waren als Mitarbei- 
ter und Mitberather an dem heiligen Werke aufgetreten. 
Schleiermacher erkannte dieß mit Dank und Beſcheidenheit 
gern an; neidlos freute er ſich, weder der Einzige noch der 
äußerlich Bedeutendſte zu ſeyn. Um aber die Gleichgeſinn⸗ 
ten durch Mittheilung und Beſprechung ſeiner Anſichten 
und Rathfchläge über Einzelnes in jener amtlichen Bekannt⸗ 
machung zu einem befonnenen und einftimmigen Wirken 
auf den nächſt bevorfichenden Synoden zu vereinigen, ging 
er ſchnell voran und, fchrieb fchon im Sommer 1817 die 
Bemerkungen über die für die proteftantifche 
Kirche des preußiſchen Staates einzuricdhtende 
Synodalverfaſfung. — Als bald darauf die berliner 
Synode zuſammentrat, und ihn ehrenvoll zum Präſiden⸗ 
ten wählte, verwaltete er dieſes Amt mit einem Eifer, einer 
Geſchicklichkeit, Geduld und Liebe, daß auch diejenigen, 
die ihn bisher mehr gefürchtet und mißtrauiſch gegen ihn 
geweſen waren, anfingen ihm Liebe und Vertrauen zu 
fohenfen, fo daß das Werf der Synode unter feiner Leitung 
Durch immer Tebendigere Zufamnienftimmung ihrer Mitglie⸗ 
der fichtbar gedieh. Die Union und Die neue Verfaſſung der 
Kirche fchienen damals unzertrennlich, die eine Die noths 
wendige Hülfe Der andern. So war bas erfte Lebenszeichen 
ber Synode bie amtlihe Erklärung berfelben 





Crinnerungen an Dr. Ir. Schleirmaher. 797 


über die am 30ſten Detober von. ihr zu hal 
tende Abendmahlsfeier. Schleiermacher war ihr 
Verfaſſer. Er ſtellt darin auf eine kurze und populäre, 
milde und ernſte Art bie Union dar, als eine rein hirch⸗ 
Liche Friedensſtiftung, ohue:alle unnüße, ja zu weiten 
Spaltungen. führende. bogmatifche Ansgleichung, bezeitgt 
Durch einen neuen gemeinfchaftlichen Ritus im Abendmahle. 

. Webergeugender konnte nichts ſeyn, als Diefe einfache 
Erflärung, und wer in ihrem Sinne an jenem erſten unir⸗ 
ten Abendmahle ſaͤmmtlicher proteft. Geiftlichen der Haupt⸗ 
ſtadt Theil genommen, dem wird. erinnerlich ſeyn, wie 
jene erhebende heilige. Handlung unter dem belebenden Ges 
Düchtniffe an den noch ungetheilten Anfang ber Reformas 
tion wefentlich dazu beitrug, die Ueberzeugung von der 
Wahrheit und Reinheit gerade. Diefer Art ber. Union zu 
befefligen und zu vollenden. Widerſpruch und Pißden- 
tung waren faum zu 'erwarten, am wenigfien von Theo⸗ 
logen, welche die &efchichte Der bisherigen Spaltungen 
und Unionsverfuche fennen mußten. ALS Daher, während 
in Berlin alles m guter Gefundheit und ſtarkem edlen 
Glauben fich der fhönen Hoffnung hingab, das fo ange 
fangene Wert werde fröhlich gedeihen, Dr. Ammons Prüs 
fung der harmfifchen Sätze, als eine bittere Arzuei für 
die Glaubensfchwäche der Zeit erfchien, und was wir für 
gefund hielten krank ſchalt, und das mit aller Andacht ges 
feierte Mahl mit allerlei tufchelnden Berläumdungen und 
uneblem Spott entehrte, — da zuckte es in Sedem, ich 
weiß nicht, ob mehr vor Zorn oder Mitleid, Bei genauer 
Ueberlegung aber fchien. um der Sache willen unmöglidy, 
die Angriffe eines fo einflußreichen unb berühmten Theo⸗ 
logen auf das noch junge zarte Werk der Union ungerügt 
zu laſſen. Ale ſahen auf Schleiermadher, ald den natürs 
lichen Verfechter, und er war nicht ber Mann, der, wo ed 
der Sache galt, fich lange fuchen ließ. Seine Feder war 
bereits gefpigt, er tauchte fie in den edlen Zorn, den die 





798 er u ‚ Lade. } ne nr . 


ammomn'ſche Scheiftin ihm erregt hatte und fe erſchien ſchon 
im Febr. 1818 fein Sendſchreiben an den Herrn 
Oberhofprediger Ammon über feine Prafung 
Ber harmfifhen Säge. Wie man auch über. ven po⸗ 
femifchen Ton diefer Schrift urtheilen mag, es Fann feyn, 
daß etwas mehr Milde und Gutmüthigkeit vielleicht den 
Gegner mehr gemonnen, : als überwunden hätte, aber es 
war Schleiermacher nach feiner. ganzen Art unebglich, Dem 
Bittern. Süßes entgegenzufegen; er curirte in. ſolchen Fal⸗ 
len gern homöopathiſch, und wie Ammon mit Wit heraus⸗ 
gefordert hatte, fo war natürlich, daß Schleiermadjer 
ihn mit Witz und zwar hitterfalzigem bediente. Das aber 
kann ich; Der ich gerade damals Schleiermächer . viel fah, 
bezeugen, daß, obwohl er. fid) felbft fonft wohl fchery 
baft einen gemiffen polemiſchen Kißel zufchrieb , ihm bei 
biefer Schrift rein Der.Eifer für bie Sache antrieb uud lei⸗ 
tete. Wenn er dabei Die Perſon traf, fo war Das unvermeid⸗ 
lich, weil es baranf anzufsmmen fchien, dem Gegner bad 
perfönliche Recht zum Angriffe zu nichte und ihm dieß fühl 
bar zu machen. Sch fage Dad. nicht, um den noch lebenden 
Gegner zu verlegen, ſondern um den hiſtoriſchen Zufams 
menhang. aus meinen Erinnerumgen fo vollflänbig als mög⸗ 
kich mitzutheilen und den Freund gegen falſche Beſchuldi⸗ 
gungen Unkundiger, bie ich auch wohl fpäter noch gehört 
habe, is Schuß zu nehmen. 

Allein dieß war nicht der letzte Kampf, ben der rüſtige 
Streiter für das Werk der Union und Berfaffung ber Kirche 
zu beftehen hatte; ungleich fchwierigere ſtanden bevor. Es 
Danerte nicht Lange, fo umbüfterte fich der kirchliche Horis 
zont auf eine höchſt bedenkliche Weiſe. DenStaatsmännern 
aus der alten Zeit war die Entwicklung einer freieren Ver⸗ 
faſſung und bedeutſameren Stellung der Kirche von An⸗ 
fang an läſtig; der Verdacht eines neuen hierarchiſchen 
Uebergewichts wurde erſt heimlich, bald auch laut geäußert. 
Mißgriffe, Uebertreibungen, Nachläſſigkeit und Ueberei⸗ 





Erinnerungen an Dr. Br. Schleiermadher. 799 


Iung von Seiten der. Theslugen gaben dem Borwurfe ein 
ſcheindares Recht, Daß die Zeit für eine lebendigere Ber» 
faffung der Kirche weder ruhig noch reif genug fey. . Und 
wie befonders feit Den: Jahre 1849 auf dem Gebiete des 
blirgerlichen' Lebens theils Frevel, theile Umbefimnenheit, 
revolstionärer Schwindel und die Yhantafterei Des flachen 
Liberalisend eine nothwendige Reaction hersorriefen, und 
wehrende Arngſtlichkeit und: Furcht vor jeder freien leben⸗ 
digeren Regung faft zur Pflicht ber Vorſicht und Umſicht 
zu gehören ſchien, fo konnte nicht fehlen, daß man: allmäh⸗ 
lich auch anf dem Firchlichen Gebiete. lieber inne zu halten 
und file zu fliehen, ale bie angefangene Bewegung fortzus 
feßen für gut fand, &8 iſt nicht ber Ort und mir auch nicht 
möglich, die einzelnen Momente der Reaction in Archlichen 
Sachen, wie fie auf und aus einander gefolgt. find, darzu⸗ 
ftellen und zn beurtheilen. Genug, Die Erfcheinung ber 
neuen preußifchen Liturgie und Agende war ber. Anfang und 
das Signal einer neuen, zum Theil entgegengefeßten Rich⸗ 
tung, hemmend zugleich — wenigftens im nüchlten Erfolge — 
ſowohl die Union, als die Verfaflung der Kirche. Weber 
ben Inhalt, noch bie Form der neuen liturgiſchen Anords 
nungen fonnte Schleiermacher nach den Grundfägen feiner 
praftifchen Theologie gutheißen. Er wäre feinen inners 
ſten Weſen untreu geworden, wenn er zugeftimmt hätte, 
und es lag ſowohl in der Mächtigkeit feines Geiftes als 
in der bisherigen Stellung, die er eingenommen hatte, 
daß er an Die Spitze Der Oppofition trat. Seine pſeudony⸗ 
mifche Schrift über Das liturgifhe Recht evange⸗ 
lifherLandesherrn, ein theologiſches Beden« 
fen von Pacificus Sincerus 1824 griff die ents 
gegengefette Richtung in der Wurzel an, und regte ben in 
der Zeit der Gleichgültigkeit unter den Theologen faſt ent» 
fchlafenen und nur in den Schulen der Nechtögelehrteg 
kümmerlich und geiſtlos fortgefchleppten Streit über bie 
KRechtöprincipien in dem Berhältuiffe zwifchen Kirche und 


SO . Lies 


&taatfo fehr von nenem auf, baß feitbem arich anf Diefem 
Gebiete unter Theologen und Suriften ein Tebhafterer Ber: 
ehr: und. Kampf ber verfchiebenen Richtungen und Mei⸗ 
nungen entſtanden ift. — Scheinbar ift ber edle Held er- 
Segen; Die enigegengefeßte Richtung ift in der Praxis herr 
ſchend geworden. Aber daß fie Dieß ich möchte fagen nur 
interimiftifch ift, und daß ihre Theorie halb. and Schred 
über die confequente Ausführung in dei betreffenden Schrifs 
ter: von Augufti und andern, halb im Gefühle der Macht 
Der Wahrheit auf ber andern Seite fich immermehr mobis 
figirt, nachläßt und nachgibt, bis vielleicht ein Punct ges 
teoffen iſt, wo bie geredjte Mitte liegt, — dieß ift ein Werl 
des Mannes, ber die Oppofition fo lange und ftandhaft 
feftgehalten und geführt hat, bie von der andern Seite fo 
viel nachgegeben war, Daß er ohne Verletzung ber Wahrheit 
und der Liebe wenigftend den Waffenftilltand nicht Tänger 
- glaubte aufhalten zu dürfen. Ich kenne bie einzelnen Mo⸗ 
mente der Verhandlungen über Die Agende feit dem Jahre 
1827, wo ich mein Baterland verließ, zu wenig, um die 
inneren Motive Schleiermacherg bei der bedingten Annahme 
der. Agende beurtheilen zu können. Aber das weiß ich, daß 
er nie etwas in Den großen Angelegenheiten Der Kirche ges 
than hat.wider Wiffen und Gewiſſen, und baß er von dem 
eitlen Hochmuth und Eigenfinn einer abfoluten Oppoſi⸗ 
tion eben fo weit entfernt war, als von der Erbärmlic- 
keit, um: bes ‚äußeren Friedens und Gewinnes willen ir 
gend etwas von ber Wahrheit und feiner Heberzeugung 
‚aufzugeben. — So hat er zwar bas Höchſte, was er zum 
Heile der Kirche aus reblichfter Heberzeugung wünfchte und 
erfritt, nicht erreicht, — den tragifchen Schmerz; darüber 
hat er nie verhehlt, — aber er hat durch fein Beifpief, feine 
Schriften und feine Wirkſamkeit die Zeit auf: einen Punct 
geführt, von wo aus fie, wenn Die deutfche evangeliſche 
Kirche ihr Leben und Heilnicht verfennt, unter günftigeren 
und ruhigeren Berhältniffen vollenden wird, was bie Macht 


Grinnerungen an Dr. Br. Schleiermacder. 801 


einer ‚ungänftigen ſtürmiſchen Lage der Welt bem edlen 
Geifte Schleiermacherd nur anzufangen erlaubte, - Keine 
große uud klare Idee ift je verloren gegangen oder nur eis - 
Phantafiebild und ein frommer Wunſch geblieben, am wer 
nigften folche, die aud den innerſten Bebürfniffen der Mens 
ſchen und dem Weſen der Sache mit folcher Energie zum 
Bewußtſeyn in Der Kirche gebracht find, wie Schleiermacher 
gethan hat. 

In den lebten Sahren feines Lebens fah ſich Schleiers 
macher aunvermuthet mit zwei Männern in einen Streit 
verwidelt, mit denen er lieber in Frieden geblieben wäre. 
Die bevorſtehende Feier Des Subelfeftes der augsburgifchen 
Confelfion gab den beiden auögezeichneten Thevlogen, von 
Cölln und Schulz in Breslau, Beranlaffung, in Beziehung 
anf einige beunruhigende Zeichen ber Zeit gemeinfchaftlich 
eine offene Erklärung und vorläufige Bermahrung über theos 
Iogifche Lehrfreiheit auf den evangel. Univerfitäten und 
deren Beichränfung Durch fombol. Bücher, — herauszuge⸗ 
ben, für den Fall, daß man daran benfen follte, eine neue 
Berpflichtung auf das augsburg. Befenntniß einzuführen. 
Indem fie die augsburg. Eonfeffion für nicht mehr geeignet 
erflärten, die Einheit und Gemeinfchaft des Glaubens und 
der Lehre in der evangel. Kirche barzuftellen, wiefen fie anf 
eine beffere Zukunft hin, wo es bei größerer Uebereinſtim⸗ 
mung und allgemeinerer Verbreitung richtiger Einfichten 
möglich und rathfam ſeyn werbe, ein neues, gültigeres 
Bekenntniß aufzuftellen. Schleiermacher, indem er fich mit 
diefen Männern in der Behauptung der proteft. Tehrfegis ® 
heit gegen jede Art von Befchränfung völlig eins wußte, 
richtete an fie ein Sendfchreiben a), worin er theils bie 
Furcht vor nenen Verpflichtungen auf die fombolifchen 
Bücher für wenig gegründet erflärte, indem er das völlig 
Unpraktiſche, Nutzloſe und eben: deßhalb auch Unwahr⸗ 


a) In ben Studien und Kritiken v. I. 1891 Heft 1. 


Mm. Lade 


fcheinliche foldger Berpflichtungen nachwies, theild felbk 
gegen ben Wunfch proteflirte, daß irgendwann an bie 
Stelle ber veralteten Betenntnißfchriften nene treten mödıs 
ten. Betrachtet man dieß Sendfchreiben im. Zuſammen⸗ 
hange mit dem, was Schleiermacher fonft über das Weſen 
ber proteſt. Symbole (in Dem Neformationdaimanadı v. J 
1819) gefchrieben hatte, fo Tonnte man wohl an einigen 
Spiten, die er nach feiner Art ſorglos hervorftechen ließ, 
Auſtoß nehmen, aber unverkennbar war in Dem ganzen 
Sendfchreiben herrfchend der Ton der Beruhigung, Be 
fänftigung und Ermuthigung. Die verfänglichſte Stelle 
aber tft die, wo er, ums zu zeigen, wie ganz und gar un- 
thanlich es fey, etwa Durch orthodoxe Lehrformslare und 
Liturgieen die Ausfcheibung oder Befchrung ber Rationali 
ften zu bewirken, baranf aufmerffam macht, daß fich wohl 
mancher auch bei abweichender Anſicht entichließen Tonne, 
die vorgefchriebenen liturgifchen und andern Formeln aus 
zunehmen und zu gebrauchen, — nämlich in feinem Sinne 
und Beritande, ohne daß man im jebem Kalle unbebingt 
fagen fönne, es fey dieß ein Mangel an Treu’ nad Glau⸗ 
ben, ober reservatio mentalis. && war vorauszuſehen, daß 
diefe Aeußerung, obwohl fie im Zufammenhange des Gans 
zen fich ſelbſt auslegte als eimc mehr wohlwollende, ent 
Ichuldigende, als fittlich ſtrenge Beurtheilung eimer ganzen 
Reihe von Füllen, weiche namentlich in ber liturgifchen 
Hraris nicht felten vorfommen, vielfach mißverſtanden und 
gemißdentet werden würde. Daß die evaugelifcge Kirchen: 
° zeitung lieblod genug war, ihn deßhalb der Heuchelei uud 
: Barheit, ja des Jeſuitismus zu zeihen, befrembete ihn nicht, 
und wie er ſelbſt fagt, er überließ dieſe ſtillſchweigend ih⸗ 
rem erfreulichen Funde, aber daß jene beiden Männer aud) 
nöthig fanden, ihn in ihrem zweifachen Autwortſchreiben 
deßhalb zur Verantwortung zu ziehen, das thad ihm, weh. 
Er hat nicht unterlaffen, ſich darüber und über einiged 
andere, was man ihm als — — zwiſchen dem frü⸗ 


Erinnerungen an Dr. St. Schleiermacher. 803 


‚beren und fpäteren Schleiermacher worwarf, in der Bor 


rede zu feinen Predigten in Bezug auf Die 
Feyer der Uebergabe der augsburg. Eonfefs 
fion BBS1 zu verantworten. Man ſieht iym dabei ben 
Schmerz an, ed gu müſſen. Sch will nicht alle Schuid an 
dem Mißverſtändniſſe von ihm abwälzen; aber feine Ver⸗ 
antwortung iſt genügend für ben, der Schleiermacher als 
einen eben fo entfchiedenen Feind alter Heuchelei und Zwei⸗ 
deutigkeit, als der Kuechtfchaft des Buchftabens kennt. Ich 
kann nicht alle feine Aeußerungen über die gegenwär- 
tige Bedeutung der Symbole gut heißen, aber ich theile 
mit ihm bie frohe Ausſicht auf einen Zuſtand der Kirche, 
wo die wahre Einheit und Gemeinfchaft der Lehre in voller 
Freiheit vorhanden und lebendig ſeyn wird, In Beziehung 
aber auf den eigentlichen Staudpunct kann ich nur zugeben, 
daß er nicht vorfichtig genug die beiden Fälle, nämlich dem 
des fchon Vorhanden⸗ und im Gebrauchſeyns fombolifcher 
Bücher uud liturgifcher Formeln, und den der neuen Aufs 
ftellung derfelben zu allgemeinem®ebrauche, fo wie die Mor 
mente der Reformation und Revolution nicht genug unters 
ſchieden nud nach ihrer Verſchiedenheit beurtheilt hat. 


8 iſt mir unmöglid von Schleiermachers theologis 
fchem Charakter und Verdienſte zu fprechen, ohne mir der 
ganzen liebensmwürdigen und großartigen Perfünlichkeit des 
Marmes dewußt zu werden. Sich lernte ferne Thenlogie 
mit feiner Perfönlichleit zugleich kennen und lieben; bie 
eine hat bie andere in ihm getragen nnd verklärt, and wie 
mir, if ed gewiß mehreren gegangen, bie ihm näher ftans 
den, daß einem die eine burch die andere verftänblich und 
eb wurde, Wenn ich noch verſuche, aus Dem Bilde, mel 
ches mir ven feiner Perſoͤnlichkeit geblieben tft, einige Haupte 
güge darzuſtellen, fo weiß ich wohl, daß mir zu einem Por⸗ 
trait, wie es feiner wärbig wäre, die Kunſt fehlt, aber 





804 Luͤckes 


weder die Liebe noch die Wahrheit, um ben Eindruck trer 
zu fchildern, den er in einem mehrjährigen näheren Ums 
gange anf mich gemacht hat. 

Sch fah ihn zum erften Male im Frühjahre 1816. Dan 
Augenblick werde id; nie vergeffen. Ich hatte mic ihm 
einige Monate vorher brieflich genähert, und war beſon⸗ 
ders auf feine Ermunterung nach Berlin gegangen, um 
mich bei der theologifchen Facultät dafelbft zu habilitiren. 
Wie ſein Brief mehr freundlichen Ernft, als herzliche Wärme 
ausſprach, fo fand ich ihn auch bei ber erften münblichen 
‚Begegnung. Die ſcheue ängftliche Ehrfurcht, womit ich zu 
ihm gefommen war, wid; erft allmählid, einem andern Ge 
fühle; ja fie wurbe anfangs Durch Die Bewunderung, welche 
die unmittelbare Gegenwart feines gewaltigen Geiftes in 
Blick und Nebe in mir erregte, nur vermehrt. Aber es 
war gerade damals am wenigften meine Schuld, baß jene 
Aengftlichkeit und Schen ſich in mir allmählich verlor, und 
einer immer herzlicheren und vertraulicheren Verehrung 
wich. Wer fich das Herz faßte, ihn zu fuchen, dem Fam er 
fehr bald herzlich entgegen; und es war dann nicht bloß 
die heitere und fcherzhafte Art des gefelligen Umganged, 
wodurch er Die drüdende Macht feines Geiftes milderte, 
fonbern ed war eben das liebevolle Gemüth, welches ein- 
fach und natürlich ſich jedem öffnete, dem er Urfache hatte 
Bertranen zu ſchenken. Er ließ es dann nicht mehr bIoß an 
fich kommen, fondern Fam ermuthigend und vertraulich ent⸗ 
‚gegen, und zog an fich alles, was der Liebe zu ihm empfäng- 
lich und bebürftig war. Sch kann der liebevollen Art, mit 
der er mich immer näher an fich heranzog, mir immer grö⸗ 
Beres Vertrauen fchenkte, mich aufmunterte und tröftete, — 
nie anders als mit der bankbarften Rührung gebenfen. 
Seine Liebe war Feine weichliche Milde mit fletd offener 
liebfofender Rede, fondern.ein ernftes, zufammengehaltenes 
Feuer, welches das fremde Gemüth nicht bloß magnetiſch 
ſauft durchzog, fondern. auch wie ein elektrifcyer Schlag 











Erinnerungen an Dr. Fr. Schleirmader. 805 


erfchütterte, —” aber auch fo für den Lebensträftigen im⸗ 
mer ein erfrifchender Reiz war.” — Wer ihn in Diefer Art 
nicht verfiand und ertrug, der Eonnte fich leicht mitten in 
der Annäherung abgeftoßen fühlen, und es ift Manchen fo 
gegangen, die eine weichlichere Art von Freundſchaft ges 
wohnt waren. Aber es ift volllommen wahr, was er in 
den Monologen fagt: „Die find mir ficher, die wirklich 
mich, mein inneres Wefen lieben wollen, und feft ums 
fchlingt fie das Gemüth und wird fie nimmer laffen. Sie 
haben mid; erfannt, fie fchauen den Geift und bie ihn eins 
mal lieben, wie er ift, die müffen ihn immer treuer und 
immer inniger lieben, je mehr er fich vor ihnen entwickelt 
und immer fefter geftaltet. Diefer Habe bin ich fo gewiß 
als meines Seyns; auch habe ich Feinen noch verloren, der 
mir je in Liebe theuer ward.” — Ich bin nicht der. Eins 
zige, ber feine Treue und Ausdauer in ber Freundſchaft zu 
rühmen weiß. - Die ihm noch näher landen und länger 
mit ihm verbunden waren, werden ihm noch färfes 
red Zengniß geben, Daß er zu den treueiten Menfchen ges 
hörte, und daß er fich auf die edle Kunft verftand, auch 
unter Berftimmungen und Mißverhältniffen den Freund feſt 
und warm au halten. — Es iſt eine gewöhnliche Rede, daß 
mit ben Jahren die Kunft und Neigung zu neuen Freunds 
fchaften abnimmt; bie frifche Sugend, fagt man, fey das 
Alter, Zreundfchaft zu ftiften ; Die fpäteren fälteren mehr ifos 
lirenden Jahre feyen Dazu um fo weniger geeignet, da Die. Als 
tersgenoflen immer feltener werben. Schleiermacher blieb 
auch in diefer Hinficht jung und frifch, er ifolirte fich nie, 
Die Freunde der Jugend waren nur der Stamm des in 
ihm nie erfterbenden Baumes ber Sreunbfchaft, der auch 
in den fpäteften Sahren neue Zweige trieb. Er verftand 
es, auch Die Ungleichheit ber Sahre und des Geiſtes durch bie 
jugendliche Zrifche und Heiterkeit feiner Liebe aufzuheben. 
Es Tann fremden- Ohren und denen, die nadı dem 
Scheine richten, parador klingen, aber ed ja vollkommen 
Theol. Stud. Jahrg. 1834. 


‘ 


806 Side Sr. 


. wahr, wen ich ſage, daß auf dem tirfiien Grunde feines 
Geiſted, von Urſprung an und je länger je reiner und mils 
der, Die Liebe mwaltete, und daß felbft die Schärfe feines 
Beiftes, ber ſtechende Wit, bie bittere Rede, womit er 
kämpfte und verwunbete, nie im Stande waren, dem fies 
besgrund feines Herzens zu überwältigen. Ich kenne Ries 
manben , der eine fo großartige Toleranz, ein fo umfaſ⸗ 
fendes Herz befaß, die verfchiedenften Stufen und Richtuns 
gen bes Geiſtes liebevoll zu beurtheilen und zu tragen. Bei 
aller Entichiedenheit und Geſchloſſenheit feiner Denkweiſe 
wußte er doch überall das Gute in Andern neibiod und 
harmlos anfzufinden und anzuerkennen. Ex war, ald ich in 
Berlin mit ihm lebte, derjenige, der troß aller Verkennung 
von allen am meiften bereit war, fo unter feinen kirchlichen 
wie alabemifchen Amtsgenoſſen, wo er irgend etwas Tüch⸗ 
tiges fand, dieß liebevoll anzuertennen und zu preifen. 
Und ich erinnere. mich mehr als einmal, daß er Jüngere 
zurechtwies, wenn ihnen ein übermüshiges, intoleranites 
Urtheilüber Andere entfiel. „Laßt mir, fpracher, den Mann 
in Ehren, Der ift in feiner Art tichtig und verbienftooHl” 
Er hatte nie Urfache, ſich vor. irgend einenn Gegner zu 
fürchten. Er hat ed auch nie gethan. Es fehlte ihm nie an 
Gegnern, und eben fo wenig an der Luſt zum Streite. 
Mar er nur perfünlich angegriffen, ohne daß es zugleich 
einer wichtigen Sache galt, die er vertrat, fo vertheibigte 
er fih. nie. Er firafte burch Schweigen. Zu den gewähn⸗ 
lichen gelehrten Streitigleiten hatte- er weder Zeit noch 
egoiftifche Neizbarkeit genug. Uber, wenn er bie Wahrs 
heit, das Heil der Kirche, des Staates gefährdet fah, und 
ben Feind für bebentend genug hielt, fo zögerte er nie; 
ſchwächliche Toleranz war ihm dann eben fo fern, als Sches 
nung feiner Zeit und Ruhe, In der Regel der erfte auf 
bem Kampfplatze, griff er den Gegner mit aller Macht, 
aller Kunſt und allem Rechte eines ehrlichen Krieges an. 
Die Ironie, ben bittern Wiß hielt er im Streite fir erlaubt, 





Erinnerungen an Dr. Pr. Shhleiermacher. 807 


ja nothwendig. Er ſah nicht ein, warum er die ihm von 
Natur verliehene Waffe nicht gebrauchen ſollte, und war 
der Meinung, daß, wenn der Gegner mit Eigendünkel her⸗ 
vorgetreten war, nichts wirkfamer ſey, ihm das heilſame 
Gefühl feiner Nichtigkeit aufzunöthigen, als die Geiſſel 
des ſtechenden Witzes. Er hatte eine gewiſſe Freude am 
Witze, einen Naturtrieb dazu. Aber er hielt mitten im 
erheiternden Gebrauche dieſer Waffe ernſthaft und ſcharf 
die Sache ſelbſt im Auge, die er zu vertheidigen hatte. 
Er übte die Polemik als eine ſittliche Pflicht und Kunſt, 
wozu er ſich durch die Natur ſeines Geiſtes und die Liebe 
zur Sache innerlich bernfen fühlte. Hätte er Die Nothwen⸗ 
digkelt eines Streites erkannt, jo warf er fich mit. der gan⸗ 
zen Macht feiner Perfönlichkeit der des Gegners entgegen. 
Das Perfönliche in feiner polemifchen Darftellung diente - 
oft nur zur bramatifchen Belebung, weit mehr aber ift es 
der ‚natürliche Ausdruck ſeiner herzlichen Theilnahme an der 
Sache, von ber er aufs innigfte durchdrungen war. Seine 
Art zu flreiten war weber ihm, noch Dem Gegner bequem. _ 
Er machte Ernft und ging bie aufs Blut. Er wußte vors 
aus, daß er fi) üble Nachrede, Feindfchaft, Zorn, Rache 
von bier und bort zuziehen würde; «8 that ihm dieß 
Ieid, — aber um der Sache willen übernahm er Das bei 
der gewöhnlichen Art der Menfchen Unvermeibliche gern. - 
Seine Tapferkeit war in folchen Fällen größer, als feine 
Klugheit. Wie Flug er auch war, bie Klugheit der Beque- 
men unb Feigen hat er immer verfchmäht. 

Es werden zu aller Zeit immer nur wenigefeyn, weldhe ı 
fo viel arbeiten, wirken und fchaffen, wie Schleiermacher. 
Die natürliche Schnelligkeit und Sicherheit feines Geiſtes 
erflärt vie. Was er zum Druck fchrieb, war vorher fo 
wohl überlegt und fertig, auch jn der Form, daß, ba er im⸗ 
mer zugleich Meifter der Rebe war, er nie auszuſtreichen 
brauchte. Keine feiner Predigten, Feine feiner Vorleſungen 
toftete ihm mehr, als Die Zeit einer gründlichen Meditation. 

| ARE: 


808 Luͤcke 8 


Ein kleines Zettelchen genügte ihm ſelbſt in Vorlefungen, 
wie die Gefchichte der Philofopbie. So fparte er in jeber 
Arbeit durch feine Virtuoſitäten Zeit und Luft für neuen 
geiſtigen Erwerb und neue Arbeit. Dabei war er ſehr haus⸗ 
hälterifch mit der Zeit, und hatte dadurch Zeit zu Allen, 
was fein vielumfaffenber Beruf von ihm forderte. Sch 
habe ihn wohl in den letzteren Sahren Hagen hören, daß 
er nicht mehr alled zu Stande bringen könne, was er wolle 
Aber gerade der Fleißigfte und Schaffendfte Flagt Darüber 
am meiften, und die materielle Kraft, welche auch Dazu ges 
hört, wächft nicht mit den Sahren. Scjleiermacher hatte 
:überhaupt nur über ein geringes Sapital leiblicher Kräfte zu 
"gebieten. Sein Körper war von Natur zart und ſchwach, — 
wenigſtens in den Jahren, wo ich mit ihm lebte, — audı 
kränklich. Aber wie beherrfchte er ihn, und wußte ihn: and 
in franfen Zuftänden zu zwingen, feinem Geifte zu Dienen! 
Arbeiten und Reifen, amtliche Thätigfeit und gefelliges 
Leben, — fein Körper mußte zu allem ausreichen und ges 
horchen. Auf Fußreifen war er immer voran, am Abend 
der Spätefte zur Ruhe, am Morgen der Frühefte zur Reife. 
Sch weiß, daß er yon Magenfrämpfen heimgefucht predigte 
und Borlefungen hielt, und Niemand merkte ed. Ich habe 
es öfter erlebt, Daß er bis fpät Abends in Gefellfchaft, Die 
ihm nicht Leicht zu lang Danerte, ber Heiterfte, Belebtefte, — 
am andern Morgen mit gleicher Frifche, oft fchon um 6 Uhr, 
Borlefungen hielt, ober prebigte. — Diefe fokratifche 
Herrfhaft und Gewalt des Geiftes über den Leib gehörte 
zu feinem innerften Weſen, und fiherte ihm im Alter Die 
frifche Sugend, mit der er „lächelnd ſchwinden fah der Aus 
gen Kicht und keimen dad weiße Haar zwifchen ben blon⸗ 
den Locken,“ — mit ber er bis zum legten Athemzuge lebens 
digen Antheil nahm, fo an ber ernften Arbeit wie an der 
heitern Luft des Lebens. — Bon der wunderlichen Rebe, 
die ſich Fürzlich hat hören laſſen ©), „Daß wer ihn in den brei 
3) Außerordentt, Beilage zur allgem, Zeitung Nr. 77. 1834. 


‘ 


Erinnerungen an Dr. Fr. Schleiermaher. 809 


letztern Jahren feines Lebend zu beobachten ‚Gelegenheit 
gehabt habe, eine oft in ihm hervorquellende Wehmuth 
werbe bezeugen fünnen, ein linterkiegen, eine Unmacht, 
gegen den Schmerz anzufämpfen, die Mitleid erregte,’ — 
von diefer apokryphiſchen mitleidigen Rede verftche ich 
nichts, „Ein häuslicher Unglücksfall, heißt eg, gab zu diefer 
Stimmung bie.erfte Beranlaffung her, oder um mid) ridys 
tiger auszudrücken, der Tod feines einzigen Sohnes riß die 
Schleufen fort, welche die. ©efühle eines, vielleicht wußte 
er felbfi nicht wie, gebrochenen Daſeyns noch zurückdämm⸗ 
ten. — Schleiernacher predigte ſeitdem mit einer rühren 
den Freudigfeit, die Anlagen feiner meifterhaften Vorträge 
blieben biefelben, aber Ton, Haltung, Die Auflöfung feiner 
Dialektifchen Räthfel waren verändert. Man wollte e8 nicht 
glauben, Fonnte fich aber jeden Sonntag davon überzeugen, 
daß Schleiermacher bie Ranzel nie mehr ohne Thränen vers 
ließ, "und wie die ungeſalzene, zuſammenhangsloſeRede noch 
weiter geht und am Ende ſo toll wird, daß ſie einen Mann 
darſtellt, der Aug' und Ohr geſchloſſen, und die Gemeinde 
mit Thränen angeflehet habe, nichts zu thun, als zu reſig⸗ 
niren, „Aug' und Ohr zu ſchließen, und der am Ende mit 
fchwärmerifcher. Zuverficht der unmittelbaren Erſcheinung 
des Erlöfers immer näher getreten fen, bis er indes Gott⸗ 
menſchen Leibhaftigkeit, Perſoͤnlichkeit, in der ganzen Wirk⸗ 
lichkeit, wie ihn Thomas nach der Auferſtehung ſah, ſchwel⸗ 
gen konnte.“ — Welch' ein Unfinn! Was für einen unbe⸗ 
fannten,ja unmüglichen Schleiermacher hat Diefer wuns 
derliche Träumer gefehen!. Der Tod feines einzigen hoffe 
nungsvollen Sohnes erfchütterte fein. Gemüth aufs gewal⸗ 
tigſte. Wie follte er:nicht! Wer aber mitten im erften 
Schmerze des Vaterherzens fich fo erheben, an das Grah 
des heißgeliebten Sohnes treten und fo gefaßt, fo glänkig 
ftarf reden konute, wie Schleiermacher, ber hat weder da⸗ 
mals noch nachher das Gefühl eines gebrochenen Daſeyns 
haben Können. :. Scyleiermacher hatte von Ratar ein ſehr 


810 Luͤcke's 


tiefes gewaltiges Gefühl, aber eine eben fo ſtarke Macht 
bes Geiſtes, es allezeit zu beherrſchen. Mit Thraͤuen im 
Auge habe ich ihn lange vor dem Tode ſeines Sohnes die 
Kanzel verlaſſen ſehen. Aber dieſe tieffte Aufregung feines 
religiöfen Gefühls gab feiner Nebe nur die volle Wärme 
ber Ueberzeugung, nie hat fie ihn gehindert, klar und Teäfs 
tig zu denten und zu reden. ch habe ihn nach dem Tode 
feines geliebten Sohnes zu zwei verfchiebenen Malen ge 
fehen, aber beide Male dieſelbe chriſtliche ccopeoovvꝝ in 
ihm gefunden, womit er in früheren Jahren fo ben körper 


- lichen, wie den geiftigen Schmerz. zu heherrfchen, und feis 


ı 


nem Gefühle das rechte Maß anzumeifen wußte. 


Schleiermacher hat mit den größten und ebelften Maͤn⸗ 
nern gemein, daß auch fein Tod etwas Belebendes hat. 
Er iſt der Abglanz, ja Die ASCHNznnN, feines Lebens ger 
worden. . 

Daß, aid Die Kunde feines Todes erfchetl, nicht. nur in 
Berlin, ſoudern in ganz Dentfchland, fa foweit der deutſche 
Name reicht, alles erſchrack und klagte über dent großen, 
unerfeßlichen Berlaft, daß Freunde und Schüler, Verehrer, 
Gegner, Fremde, feine Gemeinde in der Kirche und auf 


der Hochſchule, die ganze Stadt, in der er gelebthatte, der 


Hof und das Volk wetteiferten, fein Leichenbegänguiß glän, 
zend zu verherrlichen, — daß ilt gewiß: fein bloß äußeres 
Zeugniß feines großen Namens. Es iſt viel und fchön, 
aber es iſt nicht, was ich meine. Sch meine bie innere Ges 
ſchichte feines Todes. Ich habe gelefen, was die, welche 
ihm im Leben am nächften fand, und ibn während feiner 
legten Tage keinen Augenblick verkisß, mis liebevoller Auf- 
merkiamteit beobachtet unb für vertrautere Freunde nie 
bergefchrieben hat. Was daraus auch für weitere Kreife 
gehört, ift mir erlaubt mitzutheilen.„Seine Stimmung 
war während ber ganzen Krankheit Hare milde Ruhe, 





Erinnerungen an Dr. Se. Schleiermacher. 814 


nünckiicher Ochorfam gegen jede Anordnung; mie ein Laut 
der Aage ober -Linzufriedenheit, immer gleich freundlich, 
geduldig, wenn gleich. ernſt und nach innen gegogen.’’. „AS 
er eines Tages. durch Opium in Schlummer gebracht, dar⸗ 
ans erwachte, rief er die geliebte Gattin an fein Bett und 
fagte: Sch ‚bin body eigentlich in einem Zuftaube, der zwi⸗ 
{chen Bewußtſeyn und: Bewußtloſigkeit ſchwankt, aber in 
meinem Innern verlehe ich Die ſchͤnſten Augenblicke, ich 
mug immer iu der tiefſten Speenlationen ſeyn, Die aber mit 
den: ianigſten religiüfen- Empfindungen eins find.” 

Ich finde hierin zime fchöne Verklärung feines Lebens. 
Der Mann, der fein ganzes Lebenchindurch nach der hör 
heran Einheit bes Religisfen und Speculatisen gerungen 


hatte, aber befcheiden und vorſichtig ſie nicht als Anfang, ' 


ſondern als Ziel feines Denkens. betrachtete, — empfängt 
ſte als Roha und: Weifung in Das: himmliche Neich in dem, 
Angenblidar, wo. er äußere Menfch erſtirbt, Damit Dex 
- innere frei und u samt Sollgenuft bed ewigen keben⸗ 
re — 

PDie letzten Tage unb’Stunben waren von ve Reli 
— ‚burdbrungen. und: verklärt. Selbſt feine Träume 
waren Reflexe seines religiöſen Lebens und Wirkens. „Ich 
habe fo ſchön geträumt, ſagte er.eiumal, und ber Traum 
hat mir eine ganz eigene wohlthuende Stimmung. zurüd⸗ 
gelaſſen. Ich war in einer ſehr großen Berfaunmlung,; viele 
Bekenute und Unbelaunte,. alle ſahen auf mich und woll⸗ 
tenirligiäfed von mir willen, ed war wie eine Belehrung; 
und’ ich gab fe. ſo gerne,” — Dev Kinder, der Freunde 
Sichdeid, : gebentenb und je wäher bem großen Augen 
bite. deſto verſenkter Im: Der. Liebe, als der innerfien 
Quelle feines. Weſens, ſprach er:.. „Ben Kinbern 
hinter laſſerich Den johanneifchen Spruch : Liebet. Euch uns 
ter. einander! And ich trage Dir auf, ſagte er zu feiner 
Gattin, alle meine Freunde zu grüßen und — zu ſegen 
wie‘ in u =. end: a ” | 


LS 


6 :: 2° Schweißer 


Naturreligion genannt hat ald. Regation aller Offenbarung, 
das hat freilich noch’ nie eine pofitive, d. h. fich als bes 
ſtimmt geſtaltete, als lebendige und in ber Ausbreitung 
ſetzende Religion werben ‚wollen und auch nicht Tännen, 
fondern bringt es, wenn fie nicht in abſtracter Allgemein 
heit ‚verbleibt, höchſtens zu einer Schule, weil fie flatt 
Kreömmigtat:zu fegn, ſich nothwendig hinfberftellt ind de 
biet des. philoſophiſchen Strebens oder des Wiſſens. Eine 
ſolche Bernunftreligien, die nicht Offenbarung ſeyn will, 
iſt geradezu ein innerer Widerfpruch, ein Unbing; denn 
nicht Offenbarung feyn wollen, ‚heißt fich nicht als Afſicirt⸗ 
feyn des Selbſtbewußtſeyns vom Abfoluten wiffen und das 
heißt weiterhin nicht Religion ſeyn, fonbern entweder gar 
nichts, oder daun Philofophie. So würde alfo Teine Ra 
turreligion, Die den Begriff. ver Offenbarung anschließt, 
fpeculativ entftehen, fondern was man fo bezeichnen könnte, 
wäre ’gleic dem: Naturrecht im verglichenen Gebiete nur 
entſtunden als kritiſches Zuſammenfaſſen deſſen, was fi 
in allen wirklich gewordenen, d. h. poſitiven Religionen 
Gemeinſames fände); Die wirkliche Frömmigkeit hinge⸗ 
gew;ıwie ſie je beffer ſie iſt, deſto mehr poſitiv wird, hat 
immer das Gefühl des Offenbartſeyns in ſich. 

Z.Der Begriff ber Offenbarung hat zunächſt eine nega⸗ 
tive Bedeutung, indem er leugnet, daß die Religion des 
Stifteks begriffen werden könne, als aus dem ihm vorher⸗ 
gehenden and gleichzeitigen Geſammtleben in ihn überge⸗ 
gangen; dann eine affirmative, indem er beſagt, ber Stif⸗ 
ter wiſſe feine Religion: in ſich als eine That bes Abſolu⸗ 
ten auf.fein Selbfibewußtfeyn, . nicht .aber. als feine eigne 
That, d. h. als Erfindung oder auch nur b) Entdedung, 
denn das iſt recht ſehr das Weſen eines abſoluten Affteirt- 
ſeyns ſich als pafſiv zu fuͤhlen und was darin vorgeht an⸗ 
a) Bergl. Schleierm. Gi. 2,11. pag. 67 und Darſt. des theol. 
>, Stab, 2tre Aufl. g. 43 Über die Religionsphiloſophie. 

b) Vergl. Schleier m. Ch. GI, Sehre I. pag. 69. 














—XR 


über bie Dignitaͤt des Religionsſtifters. 817 


zuſehen als ein gar nicht zufälliges, alſo auch nicht: als 
Entdeckung zu bezeichnendes Thun des Abſoluten auf das 
pafſſiv oder empfänglich ſich verhaltende Selbſtbewußt⸗ 
feyn a). Den verwirrenden, unredlichen Ausdruck einer 
mittelbaren Offenbarung überlaſſen wir gänzlich ſei⸗ 
nem Nichts, da Offenbarung im religiöſen Gebiete gerade 
ein urſprüngliches, unvermitteltes Thun bes Abſoluten 
auf das menſchliche Selbſtbewußtſeyn bezeichnen ſoll, von 
welchem aus dann erſt auch die Welt als Offenbarung 
Gottes erkannt wird. Jene negative wie dieſe poſitive 
Kraft unſeres Begriffes ſind eins und daſſelbe, nur nach 
andern Seiten hin. Und ſo treffen wir denn in dem Be⸗ 
griffe der Offenbarung hier zuſammen mit jenem urſprüngz⸗ 
lichen Werden ber fpecififchen Dignität des Stifters, und 
beides if eins:und baffelbe, ald Werben fchon ung unbes 
greiflich. Dieſes Geheimniß ift nichts andres als das Wer⸗ 
den ber Individualität, Die nie völlig aus der Individua⸗ 
lität der Eltern erflärlich ift, fondern,.wie man aud) 
rechne, kömmt immer ein, noch nie fo Dagewefener Factor 
dazu, den wir nicht kennen und ald urfprünglichen Act 
' Gotted anſehen mäffen, auf welchem beruht, baß bie 
Menfchheit fortfchreiten Tann, während fie nothwendig 
ftilfe ftehen.müßte, wenn nicht jeber Geborene etwas noch 
nicht fo Dageweſenes mitbrächte. Anerkennen müflen wir, 
Daß der Stifter in feinem Geborenwerden eine Individua⸗ 
lität, wenn auch nur als noch unentwidelte Anlage, erhals 
ten hat, die wir fo.wenig als unfre eigne ober irgend eine 
andre im Entſtehen begreifen Fönnen, und Daß jenes gerade 
diejenige Individualität war, in welcher die Kräftigleit des 
Gottesbewußtſeyns fich als zeitlich ftetig und räumlich alls 


a) So fagt Hegel in feinen Vorlefung. Über Phil, der Rel. I. 25, 
Die Religion ift ein Erzeugniß des göttl. Geiftes, nicht Erfins 
dung des Menſchen, Tondern bes göttlihen Wirkens in ihm, Und 
II. pag. 151. Das enblide Bewußtfeyn weiß Sott nur infofern, 
als Gott fi in ihm weiß, 


? 


818 Schweiger. 

durchdringend entwideln follte, daher der Stifter, nie der 
Erisfung bebürftig, alle Andern zu erlöfen befähigt it; 
oder wie Schleiermacher in der befaunten Prebigt fagt, 
daß Jeſus ald der Sohn Gottes geboren fey. So ift bie 
wahre Offinbarung nichts Borkbergehendes, Unterbrocdes 
nes, Bereinzeltes wie in den Propheten des alten Teftas 
ments, folglich nicht Mittheilung in Form der Rebe ober 
bed Denkens, fondern eine durchs ganze Leben fortdans 
ernbe. Dieß ifb zugleich die höchfte Bernunftreligiem, 
infofern fie getragen und aufgenommen wird von demjeni⸗ 
gen, was man gewöhnlich Vernunft nennt; und zugleich 
die wahre pofitive, indem fie, einmal nach Außen 
manifeftist, die Kraft hat, allgemein zu werden. Alle dieſe 
Berhältniffe finden fi im Chriftenthbume, nur flatt in 
wiffenfchaftlicher Sprache, mehr in bilblicher, in Borftellung 
und fubjectiver Anfchauung. Chriftus weiß feine Religion 
als Die ihm geoffenbarte und zwar nicht ‚geoffenbart in 
einzelnen Stunden, fonbern ftetig und lebendig in ihm fih 
entwidelnd und Bund thuend. Den Act Gottes, vermöge 
deſſen bie fpecififche Dignität in Sefum eintrat zugleich mit 
feinem Menfchwerben, drüdtdie Erzählung einer Empfängs- 
niß vom heil. Geifte aus «), fo wie das Ineinander der 
fpeeififchen und graduellen Dignität in dem Dogma vom 
Sottmenfchen ausgefprochen if. Die’ ftetige Wirkung 
Gottes auf fein Selbſtbewußtſeyn und in demfelben, it bas 
Seyn Gottes in ihm. 

Sufofern alfo aller Religion, fowie fie in ber Vernunft 
irgendwie lebendig ift, wefentlich fepn muß, fich fund zu 
thun und verwandte Gemüther anzuziehen, iſt fie ihrem 
Weſen nad} eine pofitive. Durch ihr Sichfeftftellen in eis 
nem Gefammtleben wird ihr allerdings eine Beltimmtheit 
aufgedrückt, Die zu unterfcheiden iſt von ihrem urfpränglichen 


a) Obwohl auf unzureichende Weife, vergl. Sqhleierm. ®laubenst. 
IL, Pag. 73, 


über die Dignität, des Keligionsſtifters. 819 


Individuellſeyn im Stifter, and abhängig it von der Eigen 
thümlichkeit derjenigen Region des getheilten Seyas, in 
welcher fie zunächft auftritt a. Es ift alfo ein inneres. Indi⸗ 
viduellſeyn ber Religion zu anterfcheiben von einem äußern; 
während jenes unveränßerlich ift, ift dieſes veränderlich 
und vergänglich, während jenes zum Weſen ber Frömmig⸗ 
keit gehört, verhält fich biefes indifferene zu ihr, wie im 
eriten Theile gezeigt il. Daß aber ber wahren Religion 
ſich immer ein folches äußerliched Gewand anſchmiegt, bier 
fo , dort anders, ohne fie jedoch verändern zu können, ift 
gerabe ein Beweis für ihre Allgemeinheit; denn ur ſo iſt 
Das Gottesbewußtſeyn, obgleich es immer nur ift als zus 
fammen mit zeitlichen Lebensmomenten, dennoch nicht ges 
bunden an getheilte Seyn, fondern fieht über dieſem unb 
weiß ſich mit allen Regionen defielben zu verbinden, d. h. 
in alle Zonen, Länder, Volkseigenthümlichkeiten einzuges 
ben nund jedesmal diejenigen Formen, dasjenige äußerlich 
Poſitive anzunehmen, welches diefer Region natürlich ift. 
Zu dieſem Beränderlichen aber gehört nicht nur das allges 
meine Gottesbewußtſeyn, wenn es als bloß folches je in 
einem Menfchen ſeyn könnte, nicht, ſondern ebenfowenig 
bie eigenthümliche Beltimmtheit, bie. es im Stifter hat, 
d. h. Das urfpränglicd; Pofitive Diefer Begriff des äußer⸗ 
lich Poſitiven iſt, als fi) zur Frömmigkeit inbifferent vers 
haltend, wohl aufzufaffen; denn nur er befähigt bie allges - 
meine Religion Ein Organismus zu werden unter den 
Menfhen. Sol fie namlich wirklich allgemeine Verbrei⸗ 
tung finden, fo würde fie ohne jene Fähigkeit zu vielfachen 
Formen, entweder an bie zuerft angenommene gebunden 
feyn und baburch erflarren, woburd; bad der Froͤmmigkeit 


a) Hegel in dem citirten Vorworte: „Won ber ewigen Erſcheinung 
aber, die dem Wefen der Wahrheit inhärirt, muß bie Geite des 
momentanen, oͤrtlichen, äußerlidhen Beiweſens wohl unterſchieden 
werben, um nicht bas Gleichguitige mit dem Subſtanziellen zu 
verwechfeln.” . 





820 ESchweitzer 


ſo weſentliche Individnelle des höhern Geiſteslebens er⸗ 
ſtickt würde, was der katholiſchen Kirche faſt begegnet iſt; 
oder ſie könnte eigentlich gar keinen Organismus haben, 
ſondern ohne eine Gemeinſchaft hervorzubringen, nur ver⸗ 
ſchwimmen über alle einzelnen Menſchen hin, was einem 
Proteftantismud, der bloß ben Katholicismus negiren 
‚wollte, begegnen müßte: . 

Zwifchen: diefen beiden Klippen für die Organifation 
der Kirche ift nur durchzukommen, wenn beſtimmt gemeßne 
Organismen bazwifchen treten, Damit weber bie flarre Eins 
zigkeit Einer beflimmten Form das individuelle Leben ers 
töbte, noch ein bloß religiöfes Leben von Individuen, bie 
in unbeflimmt verfchwimmender, d. h. in eigentlich Feiner 
geficherten Gemeinfchaft wären, die Einheit und Organi⸗ 
fation gefährde. Weil aber im Wefen der Frömmigkeit feis 
nerlei Maß oder Befchräntung fich findet, alfo auch fein 
Theilungsgrund, fo kann biefer nur aus dem getheilten 
Seyn hergenommen werben, in welches jene eintritt. Das 
fehen wir nun auf zweifache Weiſe ſich bilden, indem ent- 
weber daB Ganze einer Spracheinheit, eines Volles und 
Staates der Religion zugleich bas Maß eines Organis⸗ 
mus wird, was ben Begriff der Land eskirche conflis 
tuiet, deſſen gänzliche Verfchiedenheit von dem der Staates 
religion, wie wir ihn.oben fanden, von felbft einleuchtet, 
da in dieſer das Religiöfe und Politifche urfprünglich vers 
ſchmolzen find, in jener hingegen nur die urſprünglich ſelbſt⸗ 
ftändige Frömmigkeit ſich innerhalb einer Volkeseinheit 
äußerlich organifirt; oder es bilden fich religiöſe Organis⸗ 
men um einen, freilich Dem Stifter untergeordneten, Doch 
. in feinen Umgebungen im Sinne bes Stifters Dominirenden 
Träger diefer allgemeinen Religion, was die Gefdjichte 
und aufzeigt als verfchiebene Kirchenparteien &). 
8) Vergl. Schleierm. Neben Über die Relig., Ate Aufl, pag. 183 


mit der dazu gehörigen Erläuterung 7, unb Pag. 206 mit der Gr: 
Iäuterung 28. 





über die Dignität bes-Religionsfliftere. 821 


Jene Landeskirchen nun find offenbar Organifationen, Die 
dem Jutereſſe und Wefen der Frömmigkeit ferner liegen, 
als die Kirchenparteien, dieſe hingegen entftehen zwar 
aus einer individuellen Erneuerung bes urfprünglichen 
Impulſes, fegen aber immer durch ihr Enffichen einen 
Verfall voraus im Leben der Religion, ohne melden es 
nicht möglidd wäre, baß Einzelne mitten in einem. Ges 
fanmtieben, in welches diefe Religion doch fchon einge⸗ 
drungen war, lebendige Organismen um. fich herum ers 
neuerten. Dennoch kann in diefen leßtern die Frömmig⸗ 
keit ſich ſelbſtſtändiger organifiren, als in jenen erftern, 
die Diefelbe in das ihr fremde Maß einer Volkseinheit 
hineinziehen und ihe leicht dadurch Feffeln bereiten von 
Geite bed Staates, der die Gewalt hat. Die Kirchents 
partei nämlic, erhält die Religion unabhängiger, indem 
es hier nur zufällig wäre, wenn fie mit dem Umfang eines 
Staates in ihrer Ausbreitung zufammenträfe, Rur freilid, 
fo lange diefe Organismen wirkliche Kicchenparteien 
find, iſt etwas Eorruptes, Einfeitiges inihnen, wie ja unmög⸗ 
lich ans einem Zuftaude des Berfalld ein Beſſeres durch plötz⸗ 
liche Aufraffung fich erheben kann, ohne in gewiſſe, dem Als 
ten entgegengefegte, Einſeitigkeiten zu verfallen ; benn bag 
diefes bei Chriſtus felbft nicht ber Fall war und nie. nachgewie⸗ 
fen werben kann, ift gerade ein nicht zu überfehender Bes 
weis für feine unfünbliche und irrthumslofe Digaität. 
Er fliftete fein Reich mitten in einem fo verfuntenen. Ges 
fanmtleben, daß Andere daraus die Berechtigung zu 
gewaltfanten Revolutionen abgeleitet. hätten, und befchämt 
jenen ſogar von der Ethik oft aufgeftellten Sag, daß aus uns 
fittlichem Zuftande Fein rein fittlicher Ausweg möglich fey. 
Jenes :Einfeitige gibt den Begriff der Partei und ift nur 
möglich, wo innerer Religiondgehalt mit hineingezogen wird 
in die Beränderlichkeit des äußerlich Poſitivei. Die nas 
türliche Reibung des fo entflaubenen- Gegenſatzes wird 
aber allmählich zur Ausgleichung führen, und Ne Zeit kom⸗ 
Theol. Stud. Jahrg. 1834. 


7 > >17 20 


men muſſen⸗ wo chriſtliche Kirchen als verſchiedene Orga⸗ 
niswen nicht nur friedlich neben einander. beſtehen, was 
man in dem ſo beliebten Begriffe der Tolerauz lange für 
das Höchſte der. Humanität erreichbare gehalten hat, da 
er doch bloß auf negativer Behandlung Anderer beruht 3), 
fonbern einander wollend und fürbeend unter fich ins Ber 
haltniß moralifcher Perfonen treten, und dadurch zufaw 
men, obgleich. jede ein engerer Organismus iſt, ben gro: 
Ben, Einen Organismus bes Gottesreiches bilden werben 
der nur möglich ift Durch ſolche Zwifchenorganifationen, 
welche erft dann ihre, Wahrheit erreichen, wenn: fie fid 
als nothwendige Elemente des no. Organismus 
erkennen ). — . 

Sp wird die Religion, wie ſe von. ihrem ſpecifiſch 
‚unterfchiebnen Stifter her fich ausbreitet, die wahrhaft 
pofitige feyn, d. h. Einen Organismus fich anbilden, 
der aber, fo lange bie. Differenzen. der Volkseigenthüm⸗ 
lichfeiten: beftehen, nur als durch untergeosrbuete Orga⸗ 
nismen bewirkt realifiet.wirb; fo tft auch erflärlich von 
mehr äußrer Seite her, wie Yon Einem Individuum and 
fih Ein. alles, Menfchlide umfaſſendes Reich :geftalten 
Bönne, und wir begreifen nun auch äußerlich das Weſen 
und GSichgeftalten der — die Re ‚Eines bie 





) Vergl. meine Kritik des Ban von Mat, u. Gupranäf. e 8e. 
— Landbeskirchen und Kirchenparteien ſind noch vermiſcht und. unges 
ſondert, meiſtens überwiegen jene. So iſt ja, die reform, Kirche 
ale, Eine nirgends Äußerlich zu finden, als zum heil in ben 
"Symbolen ; felbft von ben ſchweizeriſchen Kantons bat jeder feine 
Landeskirche, und fo fehr man in andern Dingen, ja felbft in 
katholiſch kirchlichen jet nach Einer Organiſalion ſtrebt, fo we 
nis regt ſich dieſes im reformirt Kirchtichen, das doch nur Kraft 
gewönne durchs Anſtreben Einer ſchweizeriſch⸗ ref. Kirche, Ei⸗ 
ner. Geiſtlichkeit, während bis jetzt ber Geiftliche eines Kantons 

im andern, mit wenigen "Ausnahmen , als folder Leinen Zutritt 
hat, er laſſe ft} denn, wie ein anderer Studirenber, erſt erami: 
niren und in die Kantons geiſtlichkeit aufnehmen. 


nwe 
w 








über die Dignität des Weligionsftiftere. 823 


gunze Menfchheit umfaffen. follenden Orgamiemus, ohne 
welchen die Ethik ihre Darftellung des höchften Gutes gar 
nicht geben kann. Gebe Trennung aber der Religion it 
pofltive und vernünftige oder natürliche iſt etwas bloß Abs 
ſtraetes, undenkbar im Leben der Froͤmmigkeit ſelbſt; denn 
fie wüßte von der Unmöglichkeit ausgehen, das Indivi⸗ 
Duelle und Identiſche abfolut amdeinamber zu halten. 


Berhältniß der Spontaneität und Receptir 
vität im religiöfen Sefammtleben. 


Die -Dignität des Stifters ift nicht vollflänbig erfaßt, 
wenn nicht ansgemiittelt würbe,. was denn feinen Angezo⸗ 
genen für eine Dignität übrig: bleibe. . Alles dreht ſich 
bier um die Hauptfrage, ob die Gläubigen bIoß aufs 
nehmend feyen oder auch irgendwie religiss 
felbfthäsig, und in welchem Verhüältniſſe dieſes Bei⸗ 
bed. unter ſich ſtehez wobei. dann nothwendig auch. das ſei⸗ 
ne Erledigung finden muß, ob der Stifter ſelbſt nicht 
* irgendwie receptiv zu.benten feh. . - .- 

Dieß iſt der Gegenſatz Yon Epomtäneität- un Re⸗ 
—*8* int. Gebiete der Religion: Er ſetzt nothwendig 
ein@efammmtleben voraus, da ſich offenbar ein Menſch 
nur zeceptiv verhalten kann, wenn von Andern ihm et⸗ 
was gegeben wird, bie in dieſem Act bie. Sporntaneitüt 
üben. Ja ſchon die Frömmigkeit ſelbſt fordert ein Geſammt⸗ 
leben, weil ihr wefetitlich iſt, Geſammteigenthum werden 
zu wollen. "Da nun biefts nicht wirb wie der Geſammt⸗ 
ſchatz der Wiſſenſchaft, nämtich als zin.gemeinfam Bewirks 
tes, nicht als ein Zafammentragen der Reſultate, bie 
jeder. Theilhabenbe gefunden hat, ſondern als von Ei⸗ 
nem Stifter aus ſich verbreitend; fo könnte ed ſchei⸗ 
nen, feine Anhänger verhielten fich bei biefem Proceſſe 
ganz paſſiv, er allein fey ——— a), — müßte der 


a) Hegel in feinen — über DR. : ———— ſagt: 
5 * 


BA: Bhmelhkei.., ı 2 52. 


Kal fepn, wenn unfer Gegenſatz ein abfoluter wäre, d. h. 
jedes lied bas “andere ganz und gar ausſchlöſſe. Bor 
dieſem Irrthume bewahrt.und fchen, was wie bei’ ber gras 
duellen Dignität des Stifters gefunden haben. Iſt unier 
Gegenfaß alfo, wie Überhaupt jeder. Gegenfas im wirflis 
chen getheilten Seyn ein relativer, fo: muß er in einem his 
hern Begriffe können aufgehoben. werben und eine: höhere 
Einheit nachweislich feyn. Den Zuftand des Aufnehmens 
nun können wir unmöglich Ruhe nennen, fündern ba er 
Diefe gerade verneint, fo muß er eine Thätigkeit oder 
Bewegung ſeyn, und ift in Diefem Begriffe mit der Spyn⸗ 
taneität eins. Wir gebem alfo ünferm Gegenfage deu bes 
flimmtern Namen von felbitthätiger and aufneh 
mender Bernunftthätigfeit, bie zufammen ben 
ganzen Lebensverlauf der menfrhlichen. Vernunft ausma⸗ 
chen und bie Semeinfchaftlichleit des gefelligen Lebens bes 
dingen und fordern, Denken wir einen Menfchen abfolnt 
unthätig, fo ifter auch außerhalb des geſelligen Verkehrs und 
für diefen wie für fich eigentlich garınidtä, ein bloßer 
unct, in welchem ſich nichts firirt, durch welchen viel 
mehr Altes bloß, hindurchgeht, gleichfam zum einen Ohre 
hinein und. zum andern wieder hinaus, Ein: Geſanmtle⸗ 
ben.befteht alfo. unter den Menfchen nur, infofern Bis Ber; 
nunft ald Spontaneität und Receptivität thätigik. Sol 


Ien aber Diefe beiderlei Richtungen.nicht abfolut aus einans 


der feyn, fonbern wirklich eine Gemeinfchaftlichfeit: bilden, 


fo müflen fie ald zufammentreffend, ja irgendwie als Eine 


Richtung, ald Identität erkannt werben. Denn. befindet 


ſich einer ‚gar nicht: in einer beſtimmten Richtung, hat kei⸗ 
nen Sinn, keinen Keim von Lehen für etwas, fo kann ein 
Andrer, der darin thätig ift,. nicht auf ihn wirden, ihm 


„Wäre das Erkennen der Religion nur hiſtoriſch, fo müßten wir 


ſolche Theologen nur wie SomtoirsBebienten eines Handelshaufes 
anfehen, bie nur über fremden Reihthum Buch und Rech⸗ 
nung fähren, ohne eigenes Vermögen zu befommen.” - 





über bie Dignitkt. des. Religionsftifters. 825 


nichtö geben, die Receptivitaͤt kann nicht da feyn. Folglich 
find zwei Menſchen nur dann Fähig, mit einander in dad 
Berhältniß:von Neceptivität und. Spontaneität zu treten; 
wenn fie, ob andy der eine ſtärker, der andere ſchwächer; 
in Einer Richtung fich: befinden. - Unter Selbſtthätigkeit 
kann hier unmöglich; die eines Menfchen.fite‘fich gemeint 
fegn, ſondern der gunz andere Begriff,. welchem weſent⸗ 
lich it, der Nuceptioität gegenüber zu feyn.. Bin ich. res 
ceptio, fo:fetst:diefes einen Andern als felbftthätig, als mir 
gebend, was ich aufnehme; nur in diefem beftimmten Ges 
ben Tann die Spontaneität liegen, von der in unferm Ges 
genfaße die Nede iſt. Er drückt alfo ein. Wechfelverhälts 
ni, eine Wechſelwirkung aus, in dieſem Begriff aber ift 
die höhere Ideutität immer. ſchon vorausgeſetzt. Ehe wir 
noch in den Unterſchied identiſcher und individueller Thä⸗ 
tigkeiten "eintreten, denken wir Zwei, die im Verhältniß 
unſers Gegenſatzes zu einander ſtehen, als auf Einer Rich⸗ 
tung vvrwartsgehend; der weiter gelangt iſt, dominirt den 
Andern, jener iſt felbfithätig, diefer. aufnehmenb. ' So weit 
einer in einem-Kebensgebiete dominirt, ift er ſelbſtthätig, 
die Andern receptiv, vorausgeſetzt die Gemeinfchaft Aller 
in Diefer Richtung. Nur ſo ift:der Einfluß der Menfchen 
auf einander zubegreifen ; denn wer auch nicht ein Klein» 
ſtes hat von Richtung. anf ein gewiffes Gebiet, dem kann 
Niemand etwas beibringen, er ift hier abſolut Null 3.8. 
vie muſikaliſche Kunſt wird nur in einem Geſammileben; 
wer Die muſikaliſche Richtung gar nicht hat, der nimmt 
auch keine folhe Kunftdarftelung in ſich auf. Iſt ein 
Auffaffen. da, fo ift ſchon die Richtung: vorhanden gewe⸗ 
fen, das Wohlgefallen am Gehörten ift eine Steigerung 
derſelben, bus bei fich. Firiren und Wiederholen iſt noch 
mehr, und ſo kann es endlich zur wirklichen Selbfithätige 
keit kommen, die von Andern nufgefaßt wird. Unfer Ges 
genſatz bildet daher Eine Linie ober Richtung, vom Kleis 
nen anfangend, fich ſteigernd, endlich Durch den Nullpunct 





828 oenmsase Schweitzer 


ober: Wendepuncet gehend, yon wo an bie Recepkioität mım 
Spontaueität wird, — : Wenn wir das Gefagte nun auf 
das Werden ber Kirche anwenden, fo trifft ber Gegenfat 
in feiner ſtärlſten Spannung zufammen mit den Berhälmiße 
des. Stifterd gu feine Glänbigen; dieſe find aufnehmend, 
jener:in Beziehung auf-fle felbftthättg: Auch hier iſt ber 
Gegenſatz Fein abfoliiter, "weil wir ja jedes feiner. -BLieber 
nur finden ald in-Beziehung auf das-anbere, und einer; 
ſeits die Glaubenden als folche zwar. weceptin: ſich verbal; 
ten zum Stifter, in Beziehung auf Schwächere aber doch auch 
felbftthätig, ſobald fie nur das vom ‚Stifter Meberfommene 
irgendwie eigenthämlich, alſo lebendig, faffen, ausbilden 
und darſtellen; anderfeitd aber. der. Stifter felbft, obgleich 
alle Andern felbftthätig dominivend,, ‚nicht einmal deu 
Schein haben will, als hätte: et feine’ Religion. ans ſich 
hervor gefchaffen, fonderu: nothwendig und nicht hloß 
aus Willkür, Betrug oder Benbleudung feine Meligien 
weiß als ein Geſchenk zwar gar: nicht. vom Gefammileben, 
oder fonft. vom getheilten Soyn, fonbern; von: Gatt, fo 
Daß wir nur im entjchiebeniten Miderſpruche mit ihm setkß 
| ihn abſolut fetbfithätig nennen fönnten: :.. ... . 7. 

+ Berfolgen wir zuerſt dieſes Sichberufan "De@ Stifter 
auf ein Ueberkommenhaben ven Gatt und: bau. erft: Das 
Berbältniß, ſeiner Anhänger, inſofern ge auch felufithätig 
find, Jenes trafen wir ſchon aben e) als ben: Pegriff der 
. Dffenbarung, welcher negatin-befagt; den Stifter habe 
feine Religion nicht vom getbeilten Seyn, alſo auch nicht 
vom Geſammtleben und andern Menfchen keys: poſitiv 
aber, ex. habe ſie als von Gott ihm unmittelbar mitgetheilt. 
Dieſes letztere nun bedarf am meiſten einer: Erörterung, 
da es zu allem bisher üher unfern, Gegenſatz Behaupteten 


nicht. zu paſſen fcheinty indem wir eine, das Geſanmitleben 
an zn er ‚genanate.. Shatigkeic 





"nf 171 30% 


a Re are ——— = u * if. ö [7 nt 


über die Dignitat des Seligionsſtifters. 827 


’ bie vann Doch ein Aufgenommenes, Ueberkommenes ſeyn 
nuad haben will, noch nicht gefumben haben. Dennoch 
wird es mit unſern Sen im Einklange ſtehen und fie be⸗ 
ſtätigen, Tobald wir numlich dedenken, Daß dieſes unmit⸗ 
telbar von Gott Aufnehmen in ber Linie unfrer von Res 
ceptisität zu Spuntaneität fich fleigernden Thaͤtigkeit ben 
höchſt möglichen Gipfel bezeichnen muß, indem eim der 
göttlichen. Mittheilung.Empfänglidyer doch nur berjenige 
foyn kann, welcher zugleich nuter Allen: die höchſte Selbſt⸗ 
thätigkeit in: dieſer Beziehung hat, des durch keinerlei reli⸗ 
giofes Aufnehmen von andern Menfchen mehr in Anuſpruch 
genen, Dad reine Verhältniß feines Selbſtbewußtſeyns 
zum Abſvluten ungeſtört walten: läßt, d. h. in dem. Die res 
lgisſe Richtung die höchſt mögliche: Kraft gewinnt. &s 
wie wir auf jebem: Puuete unſrer Linie bon Einzebnen 
zugloich · als veceptiw ſetzten, nämlich in Begiehung jamf 
och writer Brfchrittene, und felbftthätig, nämlich: in Wen 
ziehutig anf Mater ihm Zuruckgebliebene / fo wird der Ati 
ser anf dem. hoͤchſten Puucte zugleich fekbftthättg ſeyn in 
Beziehimg anf. alte anberen Menſchen, bie er dominirt, Und 
auch;receptis ſich verhælten, fabald wir ihn mit noch Bold 
bendetern: in Verbindung denken, und an dieſe Stelle kön⸗ 
neu wir nichts fetzen als Gott; der ihn abſolut bominirt und 
erfullt, fe. daß ver Stifter zu ihm ſich abſelut receptiv 
verhäft, daher/ dir Religion: an abfointes Abhaͤngigkeits⸗ 
gerät; von hier aus betrachtet, zu neunen ik:9).--:&6 hat 
ſich alſo die religivſe: Richtung geſteigert: bis zu dieſem Bet 
wrßiſeyn des: aumhittelhaven Zuſammentreffens und Eind« 
Feyns wit Gott, und der. Stifter der wahren Religion, ſo⸗ 
mit auch feine — —— dieſelbe u am ais pro⸗ 
221* 


Vom raigiſen Stanbpunt aus läßt, fich un allein ib allthä⸗ 
tigen Gott das menſchliche Ich nicht at ihn berchräntend“ gegen⸗ 
Uüberſtellen; ſondern nur anſehen als: eine von: Gott ſelbſt "um: 
fapte Kraft, ſonſt entſteht uns gleich ein — Bon hier 
ans allein wird bie Prödeftinationslehre verſt ändiich. 





[4 


+ 


8208 BSBchyweltzer 


Duck einer einzelnen Vernunft, noch ber Totaliiks ber in 
Der Getheiltheit des menfchlichen Befchlechtes erſcheinen⸗ 
ben Bernunft, fondern abs That Gottes im: Stifter. 
Herufcht aber eine ſolche Uebergengung im Stifter, fo ers 
fcheint dagegen die Einwendung bed Berflandes in gar 
bürftiger Geftalt, nämlicy Daß doch wenigftend für die nies 
brigern Theile des religiöfen Gehaltes der Stifter kei⸗ 
ner Offenbarung bedurft. habe, weil. diefelben ja aud 
von ihm erfunden wenden oder aus dem menfchlichen Ges 
ſammeleben in ihn übergehen konnten; daher denn and; 
Diele ſich abmühten, zu einzelnen Ausſprüchen bes Stif- 
terd Parallelen beizubringen aus ihm verangegamngenen 
oder Doch nicht von ihm influencirten Gefammtleber, das 
mit der Schein entſtehe, feine Religion ſey doch, oder könnte 
ſeyn ein bloßes Product ber menſchlichen Selbfithätigkeit =). 
Dieſes Bemühen ift gerade fo:.nichtig: und: bloß hiſtoriſch 
intereſſant, als wenn es fich gegen ein Philoſophiſches 
Syſtem richten würde; denn wer einmal das Höchſte in 
ſich hat, dem erſcheint nothwendig alles Andere, das er 
vielleicht anders woher ſich aneignete, entweder als völ⸗ 
lig nichtig, oder als erſt in und aus jenem höchſten Prin⸗ 
eip. feine Wahrheit erhaltend, ſo daß er nothwendig, wenn 
er. jenes Höchſte von Gott hat, alles ſich darunter Reihende 
auch als von Gott hat bis ind: Kleinſte hinunter. Daher 


iſt feine Religion. auch nicht der Ouelle nach ‚eine Zweiheit 


von theild aus Der Welt her, theild von Gott her Empfau⸗ 
genen bh); fondern weil,eine Einheit, ſo andy ganz und gar 
yon Gott ihm geoffenbart. Es iſt auch. nicht abzufehen, 
wie Jemand in der Religion, deren Weſen es iſt, Alles 
von Gott als dem allthätigen Princip abguleiten, domini⸗ 
ren fol, wenn er nicht einmal in fich jerbft — ben Ans 





a) Schleierm. Glaubensl. I, p. 68. 

b) Daß das Chriſtenthum nicht beſtehe aus theils vernünftigen, 

:, theils Übervernünftigen Saͤten, zeigt Schleierm. Buena 
.Zte Ausg, I, $. 13, Bufag. ns 


Aber bie Dignitit de Keligionsſtifters. 29 


- - fang wmacht und vor Allem fein religiöſes Bewußtſeyn, fo 
mie feine ganze Perfon als von Gott wüßte, ſondern die 
Religion fich:felbft zuſchriebe, als einem außer und: ohne 
Gott. Segenden und fie erfunden oder entdeckt Habenden. 
Diefelleberzeugung eben ift ber Begriff: der. Offenbarung, 
den der. Religionaftifter,: je geiftiger er. iſt, deſtonreiner anfs 
faßt, d. h. deſto weniger in'der Analogie. mit menfchlicher 
Mittheilungsweiſe/ ſondern als ein Tebendiges Senn Gotr 
tes in ihm,. erflarlich oder doch abzuleiten aa Dem. Wer⸗ 
den der Individualität. des Stifters bei den Geburt, ſo 
wie. die gange: Welt in ihrem Geſchaffeuwerden; ‚nax 
trenne man nicht Schöpfnug und. Erbaltırıg, ſondern bei 
Chriſtus iſt Die. bei der Geburt empfangene Individualitat 
ein; Eintreten red. Seyns Gottes; in ihm, fein. gauzes Leben 
aber eben biefes, Seyn Gottes in ihm a). Auch non bier 
and: geigt ſich alſo Die. Digmität. des Religionsſtifters als 
eine auch ſpecififche, indem er. allein ohne alle Verwmitte⸗ 
Iung -und Leitung. Anderer. ſchlechchin von: Gott afficirt 
ig, ihn in ſicht hat, d. bu. nie: Offenbarung Yatrz während 
alle Glieder des non: ihm geſtifteten Geſanmtlebens Qott 
nursburdh ihn haben⸗ und vermittelt dadurch, daß: fie iſich 
fein, æigenthürlich heftimmtes. Selbſthewußtſeyn aneignen 
ba nur in dieſem die Religion ihre volle Lebendigkeit ger 
winnt. Und gerade dieſes macht hinwieder Die ſpecifiſche 
Verſchieden heit begreiflich, da fie als Continuitat und uns 
gehemmte Lebendigkeit des Gottesbewußtſeyns chen nur 
in demjenigen Selbſtbewuſttſeyn moͤglich ft, in deſſenei⸗ 
genthümliche Beſchaffenheit jenes adüquat einging; ſo: deß 
es völlig vom · Göttlichen erfüllt iſt und Dadımallige: Gütt⸗ 
liche in ihem ſich nie dergelaſſen hat. Da hingegen.die Its 
dividualitaten aller Uehrigen nam jener-beften des Stifter 


ET ER ee eh ee FR 
a) Schl. Glaubensl. T, p. 70 verwirft daher auch, daß bie Dffenbas 
rung ber’ erfennenden Kraft zu Theil werde, d. h. urſprünglich 
und wefentlich Lehre fer, ‚obgleich dieſe daruin nit ausgeſchloſ⸗ 

ae 9.72 2,7 ee 6 


N 


2 
es BE ey“ e.er gie? . —R 55 * 2 N 


abweichen, ſo geht bie in Diefe urſprunglich zingegumgene 
- Religien.;nfe. völlig auf In jeme, außer in dem Maße, als 
eich ber Individualitaäͤt des Stifters aſſimiliren. Das 
ber: hat die Religion ihr volles Leben und ihre volle Kraft 
mir: um: Stifter, deſſen Seibſtbewußtſeyn ihr adäquat iſt, 
und muß in: allen Andern abnehmen, je. verschiedener ihre 
VDudividualitas von der des Stifters iſt und bleibt: — Daß 
aber kein aͤber Ehriſtum: Hinausgehender noch zu erwar⸗ 
ten iſt, gründet ſich eben auf die Liebergeuguing „bie Reti⸗ 
gion könne nichts Höheres wollen oder finden, als das 
weigute Aufgehon des menſchlichen Selbſtbewußtſeyns 
in: dem Gottesbewußtſeyn; dieſe völlige Durchdrinugung 
uberr fey eben bie: in Chriſto Realiſirte. In anders Reli⸗ 
gionen kaum eine Ahnung anf einſtige Vervolllonncuung 
mich nur entſpringen aus Dem ‚Gefühle, daß micht das 
guanze: Qelbſtbewußtſeyn vollig vom Goͤttlichen durchdrun⸗ 
gen worden, daher neben der bloß relatinen. Befriedigung 
daei Sehnen nach totaler ſich immer hindxrchzieht. Die⸗ 
fer: nicht zn veachteude Sep brleuchtet uns: wu das Ver⸗ 
Haltnißſ vomn: Spontaneitat und Receptivitate, welches wie 
Kun auch. Auf Semi Bodenderi nd i v din Bi Wr tzatig⸗ 
eiden:yu Dome: unsrjcu bie Religion gehort:: begretfen 
well; :&8. genügt hier nicht mehr, :ufane Gegenfag 
anzuſchauen Als. Eine. Ach teigernde, durch Den Rulipmeet 
wehenve vinien denn wo Subisäburkititin mis Cinturder 
in Weochſelwirlung troten nilffen wir aufhosren "wow Ei⸗ 
wor Bitte zu ſprochen, woil jedes Indeviduum veligido feine 
nigenthünlich· brſtimmte Linie: uber: Richtung: hat: n &8 
frage fahr warum bass Stifter aufı Vorſchied er fo Vorſchie⸗ 
deü wirkte, aufı Einige ſahr leicht, auf Auduͤre Bein ahe⸗ gat 
Richtagber- nur / hrch · germaktfang Exikhäkterengein.. ¶ Dieß 
rührt Daher, weil die religiöfe Richtung, und, gusar auch 
wo wir Ahr. vol Def, inogscheitügien, zu Ihrechen haben, 
heiaedem Menſchen eine; vermöge feiner. Subinibuaktät ets 
was andere ifl, als beijedem Audern, fo daß Die Geſammt⸗ 





über die Dignitaͤt des Religionsfliftere. 831 


heit: alfer Individuen gar uicht als Eine Linle bildend, nie 
in identiſchen Gebieten zu denken iſt, :fondern: ala eime 
unzihlige Menge mehr ober. winter ausrinander laufender 
Linien von Einem Yunctd au. Hier wird nun anſchau⸗ 
lich, was jene Amdbrüde von Verwandter ober: weniger 
Verwandten Individnalitaten ud: jenes Princip: dev Wahl⸗ 
nerwanbtichaft oder: Wahlangiehung beſage. De wenigen 
nkmlidh die weligiöſe Richtung. (vom Grade den Staͤrke, be 
fie.gewinnt, ganz noch. abgeſehen) Cines Menſchen in iha 
rer eigentlichen Beftimmihtit zu. der: des Stift ers (ch 
verhält, wie auseinaͤnder laufende Linien, deſto leichte 
wirb’fie. vom: dominixenden: Kinflaſſe des letztern arreicht 
und zu ihnd hinübergebogen anf arnca orkliche· Weiſe/ fo waie 
man ſich etwa das Qluuhignorben des: Jo hauurs Zur. Ben 
Bei pflegt; je; weites iagegen eines Ander nNichtung che 
woicht, Deitg weniger iſt jenes: möglich, fondern: der Stift 
ter hann ihn mu ſo antziehen, Laß die bisherige Richtuug 
entweder plotzlich in einem Minkel ſich bricht/ onen ſtdh 
feßhft. aufgekend garücklohrt· in; ben Ausſsgaugspuuc: uub 
nun biejenige bes Atiſters anfohlägt ; fu: wie: ttwa. Datz 
lus glãubig geworden ift e). - Zusifshen.disfen: beiben Ki 
len fonfen- ſich unzachlige andene ub z.B: Die: sigenklüch aba 
Gelaten ECetreme, daß nämlich. Einer entweder ſchon von 
Anfang an qualibdativ völlig bes Stifterd:. Richtung ı oben 
Die: gar eutgegengeſetzte „babe, ‚Wollen, wir la tin 
ses micht: aufftellen. Ja ſchon die, Amahue nes allmähr 
lichen völligen Bulaımwenstneffenaunit;. der Richtungdes 
Stifters iſt sin, hend, das: ur. aun hernd erreicht, wirh 
Daher Meithen wir Bier nicht im mindeſten -eitien: Wider⸗ 
ſpruch goſetzt zu: haben mit wielen. oben vurkommenben 
Arußerungen, bie jedem; Menſchon feine: Ind ividualituit nis 
eine bleiben’ foßende — gi on dvrt Berbäachteheit 
ren de mit ya RANGE, 
I 1. 177022,7° ee aer die seh, ER ur 
Areal at Cuterung 10. 333 mai a de Kraus BRRTE LT BETT) sag 


\ 


- x 
Due Er er u “rr ı 11. 24 PR 
2 eo r34.- ib .r * — 4 3... 
® . 


wir die Berfchiedenheit der Individnalitaͤten, inwiefern fie 
in derſelben Kirche ſtatt haben kann, hier hingegen woll⸗ 
sen wir anſchaulich machen, wie Individualitäten, inſofern 
jede derſelben eine eigne Kirche ftiften: würde .Cfobalb 
Kraft genug erreicht: wäre), iſich zu: Einer Kirche vereini⸗ 
gen kLonnen. Dieſe zweifache Betrachtung het ihre · Berechti⸗ 
gig. darin, daß jede Individualttät eine: eigenthümlich 
beſtimmte Miſchung aller: den. Mönfchen ronſtruirenden 
Krufte iſt, folglich jede in gewiſſen Puncten der andern 
gr, in ändern abgewandt. So wird das Verhältniß eis 
ner: Geſammtindividualitat zur Verſchiebenheit der unter 
ihr begriffenen Individuen Far: : Denken wir z. B. cu 
Individuum zwischen Ber chniſtlichen Kirche und Dem Mu⸗ 
hammedanismus in ‚bie Witte .geftellt; ab noch von kei⸗ 
nem von beißen berührt, fo wird daßfelbe;. inſofern es. in 
ber eignen ‚refigtäfen. Richtung ſehr unträftig iſt, ſowohl 
guu: bein Telant.augezogen werben: können, went: biefer 
fih ihm: naht): als auchvom hriſtenthume, | were biefed 
‚berührent herantritt; geſchieht das cite, ſo wird das Ins 
dividuum bei andern Puncten feiner: Eigenthümlichkeit an⸗ 
gefäßt,: als wenn das andere geſchiehtz und in beiden Fal⸗ 
len geht eß in eine gemeinſame: In dividatalitat eier, : Bleibt 
aber in derſelben dennoch file fich individuell, saber frrilich 
mas in dem Maße, als es fruher fir’ ſich ſchon in veligids 
for Thätigkeit warn So iſt Paulus, weil als Phariſäer 
ſcechon in großer: veligioͤſer Thätigbeit, dann - im: Chriſten⸗ 
thume noch: vermoge: des/ menn auch: ih anf Bits: Entge⸗ 
gengeſetzte treibenden,: Einfluſſes feines, friiher: Strebens, 
ſo ſehr individnell, daß Die: übrigen: Apoſtel ech nurdalb 
mahlich darein fanden, in ihm eine der: chriſtlichen Geſammt⸗ 
eigenthämlichteit mögliche ¶Indblbidnalitãt anzuerkennen. 
Ein folches Anerkennen ift iin den Maße ſeichter Yale ein 
Individuum vor ſeinem Chriſtwerden in ſeiner religiö⸗ 
ben Richtung ·es nicht. gur. Selbſtthätigkeit gebracht. hatte, 
ober verwandt geweſen iſt mit der. des Stifters, deſſen 





über die Dignitht des Religionsflifters. 833 


Einfluß fidy zu fehr über das Geſammtleben der gebilbe⸗ 
ten Volker verbreitet hat, ald daß bie Individualitäten 
innerhalb Diefes Ganzen in ihrem Entitehen, geſchweige 
den: in ihrer Entwidelung ar — vor. Baia ale 
afficirt feyn.»). 

Wenn wir nun in. Beftimmung ber Dignitet der Gl 
bigen weiter: gehen, als bie zum bloßen Aufnehmen vom 
Stifter her; was jelbft fdyon nur als Thätigkeit denkbar 
it, weil ja fonft der Eimfluß des Stifters durch einen fich 
gänzlich paſſiv verhaltenden. Menfchen mm hinburchgehen 
miürßte, ohne fich in ihm zu firiren: fo if} von dieſer Thäs 
tigkeit das nächſt Höhere, theild ein im fich wieder eigens 
thümlich Beftimmen des: Aufgenommenen, theils ein Dars 
fiellen bifielben nach Außen, wodurch Schwächere domi⸗ 
nirt werden. Diefes beides muß nothiwendig parallel ges 
hen; denn je weniger Einer dad Anfgenommene feiner Itts 
bivibualität gemäß wieder ‚eigenthilmlich beftimmt, befto 
weniger wird es in ihm lebendig, da wir bie Lebendig⸗ 
feit der Religion nur-ableiten können aus ihrem 
Adaquatwerden mit dem unmittelbaren 
Selbſtbewußtſeyn; deſto weniger wird ſie ſich alſo 
nach Außen hin kund geben, So wichtig. und weſentlich 
zeigt fich much hierin Die Individualität in Beziehung auf 
bie Religion. Daß beides immer zufammen ift, lebendig 
haben und darſtellen, beruht auf Dem natürlichen Lebens⸗ 
verlaufe, gemäß welchem was bad Gemüth ‚bewegt auch 
die leibliche Organifation durchdringt und fich manifefirt - 
nach Außen, am fid; Andern darzuſtellen uud: mitzutheilen 
durch Seberde, Ton ober Rebe, wie es jedem gegeben iſt b7. 
Die rechte Belebung: bed Ich tritt Dane, wein «3 bas 
. vom ‚Stifter. Erhaltene . erkennt als dasjenige, was es 
a) ©. Reben Über die Religion p. 26688. | 
B), Scätetermaher, Reben Über die Religion, Ate Aufl. p- :175:f,, 
urd übespanpt bie Atebiefer Reben, ferner in der Sien.p. 267. - 


ſchon für füch angefirebt, geahat und mehr ‘ober minder 
gefunden: hatte durch ſpontane Thätigkeit uber. doch hätte 
finden follen, wenn nit Sünde und aus ihr entſtehen⸗ 
der Irrthum im Wege geweſen wären. Würden wir. bie 
fes aufs Höchfte fteigern, fo würde ein ſolches Indivi⸗ 
duum ja. der Stifter felbſt werden ,: ber höchſt Thätige 

in der. religiöfen Richtung, der fich darin Eins finder mit 
der Dffenbarung von Gott, Die eben darum ihn belebt 
und Härkt zur Sünd⸗ und Irrthuméloſigkeit, weil fie ihm 
fo ganz dasjenige gibt, wirs zngleich. das höchſte Product 
feiner eigmen Thätigfeit hätte ſeyn müſſen, die höchſte 
Bollendung:beffen, wozu er die Keime in ſich gefunden und 
verfölgt hätte, wenn er ſich hätte anfehen können als ans 
Ser Beziehung mit dem fich ihm offenbarenden Gott, Dad 
iſts nun vällig uch, was ſich bei jedem, ber in religiöfer 
Nichtung iſt, wiederholt. Der Einzelne ſuchte, fand bis 
anf tinen: gewiſſen Brad, nun naht ihm des Stifters Ein⸗ 
fluß, dem er ſich gerade fo hingibt, wie jener der. göttli⸗ 
‚hen Offenbarung; weil er nun die höchſte Vollendung 
vom⸗ Stifter empfängt; fa erfcheinen ihm anch jene Ans 
fänger bie doch exft aid dem Höchſten nur ihre Wahrheit 
erhalten, nicht ala eigned Product früherer Selbſethatigkeit, 
fondern die Religion tft ihm nun mithethertt vom Stifter. 
Und wie wir von biefem fagten, er Habe feine Religion 


in ſich nicht als Zweiheit don ſelbſt Produeirtem und von 


Offenbartem, ganz fo. gilt nun von dem Gläubigen, daß 
er. die Religion and) nicht: at als eine Zweihlit von theils 
felbft Gefundenem, theild vom Stifter her Empfangenem 
Der Grund dazu liegt eben wieder in nuſernt Hauptſatze, 
daß bie Religion ‚der individnellen Thätigleit angehöte; 
wäre.fie ein Wiſſen, alfo -ibentifche. Thätigkeit, datin frei 
lich wird jeder jede Disciplin haben als theild Product des 
Gefammtlebeng, theils fein Eignes, welches er hinzu thut, 
und wenn dieſes vom Stiftes eines philoſephiſchen Sy⸗ 
ſtems nicht fo vollig gilt, fo-rührt es nv Daher, Buß er 





über die Dignitaͤt des Religionäflifters. 888 


eben auch nur. ale Subivibucker eine: neue Lebensanſicht 
‚ anfftellen konnte. Analog erhält ſich Das. empirifdye zum 
. fpeenlativen Willen Jeder forſcht, fammelt, faßt auf 
. and ber Erfahrung und weint oft was Rechtes zu habenz 
aber erſt wenn ſpeculativ das Allgemeine zu ieneh Beſon⸗ 
derheiten erfamat wird, erfenne ich auch dieſe Waren Ä 
und fie erhalten aus jenem ihre Wahrheit. 

Denn nun gefragt würde, ob. denn ein Einzelner in 
religiöfer Selbfithätigleit, wie ſie die Offenbarung wit 
enthält, ed nicht eben fo weit bringen könute, wis ber. Stift 
ter, fo ift Das nicht möglich, weil fürs Erfte nur Eine Ins 
dividnalität, und Die wirb eben der Stifter, für Die reis 
giöfe Thätigfeit Die qualitativ beſte und der Religion adä⸗ 
quate ſeyn kann; dann ift aber auch von empirifcher Seite 
eine entfcheidende Derneinung darin vorhanden, baß nun 
einntnikjeber, den wir nod), freilich dem eben angeführten 
Grunde gemäß nur irrthümlich, fegen würden als quali⸗ 
tativ ganz im. berfelben Richtung, die: ber Stifter hatte, 
ſich auf feinem Wege vom Einfluffe des Stifters berührt 
fände, nub fobald fo die Bollenpung deſſen, was er ans 
firebt, als fchon fertig an ihn gebsächt ft, er ſie begieris 
ger als jeher Andere in ſich aufnehmen und innerlich ges 
nöthigt ſeyn müßte, den ihm die Vollendung Mitiheileh> 
den als Meifter-auguerkennen. Geſetzt akfo, es. hätte Sen 
mand, das fir nie Wiederholen einer Inbivibualitit ven 
Senuent, nach allem Geſagten noch Luft, ald:nnöglich. vor⸗ 
auszuſetzen, daß vielleicht noch ein religiös gleich treffli⸗ 
ches Individuum kommen werde wie Ghriftus, fo wlrbe 
dieſes fich nicht mehr entwideln Fönnen, ohne unter Ein« 
fluß des chriftlichen Geſammtlebens, und ſodald ed von 
Chriftus berührt würde, müßte es deffen allerbefter Jün⸗ 
ger werben »), Würde man alfo Bott zutrauen, daß er 
awei oder.mehr .gleich gute Stifter ber Religion fenden 


a) Schleierm., Reben Über bie Aeigim, Ste p: 265 u, f. 


sss Cheiher 


werbe, ſo wärdeı die fpätern unter ihnen, fobalb bes ers 
ften Einfluß Verbreitung fünde, ihre Beſtimmung, Stifs 
ter zu werben, gar nicht mehr erreichen. Alſo der Kirche 
ganz unbefchadet, ja zu ihrem großen Vortheile ließe 
fi die Dignität der Dominirten reiht hoch fleigern und 
gar nicht als bloßes Buchhalten über fremdes Eigenthum 
Daniederhalten a); und doch bleiben fle immer, weil fid 
des. Dominirtfennd vom Stifter bewußt, und weil Teiner 
eine völlig mit der bes Stifterd übereinftimmende Indivi⸗ 
dualität hat,: fpecififch von ihm verfdjieden. 
- ... &o ift die Receptivität gar nicht etwas Verächtliches, 
des Menfchen Unwürdiges; fondern fo unwürbig es freis 
‚lich einer fich vervolllommnenden Menfchheit wäre, in iden⸗ 
tifchen Thätigleiten für immer bominirt zu werden von 
einem Einzelnen, der fchon in frühen Zeiten gelebt hat; 
fo völlig angemeflen erfcheint diefes im Gebiete der Reli 
gion, ald einem, wo das Individuelle herrfcht und das ſich 
nicht bildet non identifchen Puncten und Thätigkeiten ans. 
Denn auf Die Art des Entftchens kommt ed an, ob man 
ein Lebensgebiet zum Identiſchen oder Individuellen rech⸗ 
ne, auch wo das Reſultat beider daſſelbe wäre, 
Anch die Betrachtung der Religion unter der Form des 
Gegenſatzes von Spontaneität und Receptivität beftätigt 
alſo den Sag, daß die Religion ind Gebiet,deffen falle, was 
wir als Individuelles dem Identiſchen relativ gegenüber ſtel⸗ 
len, weil ba allein ein — ae möglich iſt 
und nothwendig. 
VI. 
ueber den Unterſchied von Frömmigkeit und 
Theologie als Wiffenfhaft. 


"Der Stifter läßt fich in feiner Dignität nicht begrei⸗ 
fen, ohne daß dadurch das Berhältnig von Wiſſen unb 


a) S. reden über bie Religion p. 267. - 








über die Digmität des Religionsſtifters. 837 


Fröommigkeit im Gebiete ber Religion. felbft verſtanden 
wird, Bisher haben wir meiſt Die Ausdrücke Religion 
und Frömmigkeit ale gleichbedeutend geſetzt, aber ber 
Gang unfrer Erörterungen ‚mußte dahin führen, fie num 
zu unterſcheiden, und dieſes ifl eine Hauptaufgabe ber 
neuern Theologie, weil offenbar Vieles von dem Hits und 
Herflreiten, ob Die Religion ein Wiſſen ober Gefühl fen, 
daraus berfließt, daß man unter dem Ausbrude Religion 
Verſchiedenes denken Tann. Es ift vorzüglich Schleierma- 
chers Berdienft, Diefen unfichern Ausdruck in der. Glaubens⸗ 
Iehre abgewieſen und Den beftimmtern der Frömmigkeit 
aufgenommen zu haben; benn nun wirb es weit leichter 
eingefehen, daß die. Frömmigkeit kein Wiffen ſey. Wol⸗ 
len wir aber ber andern Auficht, daß die Religion ein 
Wiſſen fey, ihre zu löſende Aufgabe gleichmäßig erleich« 
tern, fo müfjen wir auch da den Ausdruck Religion vers ‘ 
meiden und durch einen beflimmtern erfeßen, wozu ſich 
am Beften der Name Theologie hergibt, die eben Res 
ligion als Wiſſerſchaft ſeyn will und von Niemand ein 
Gefühl wird genannt werden. So lange aber Froͤmmig⸗ 
feit und Theologie fo unter einander gemifcht erfcheinen in 
dem vieldeutigen, nicht einmal etymologiſch beſtimmbaren 
Ausdrucke Religion, kann jener. Kampf nicht aufhören und 
doch auch nichts Deutlich machen. Indeß haben wir es auch 
mit biefem Gegenſatze hier nicht ums feiner felbft willen zu 
thun, fondern nur infofern, ald er zum Begreifen der 
. Dignität des Religionsflifterd nothwendig iſt und hinwie⸗ 
der aus dieſer eine Beleuchtung findet. 

Die Unterfcheibung von Frömmigkeit and Theologie 
führt nun zunächft dahin, bie hriftlide Glaubens. 
lehre zu trennen von ber wiffenfchaftlichen Theo» 
logie, die der Philofophie angehört. Daß diefe Tren- 
nung nicht in’ einer noch höhern Wiſſenſchaft auch wieder 
aufzuheben ſey, welche wohl, Religionsphilofophie oder 
auch Apologetik wäre, die ja heutzutage ſich |. mehr 

Thesl, Stud, Jahrg. 1884. 


BB. Schweitzer 


gegen Inden and Heiden, wohl aber gegen bie Philoſophie 
und noch mehr gegen unphiloſophiſche Reſtexionen zu 
ſtellen nud anuszugleichen hat, wollen wir nicht im Gering⸗ 
fen behaupten, da wir hier felbit Berfudye und Beiträge 
dazu geben. Ein fernerer Unterſchied iſt dann ber von 
chriſtlicher Frömmigkeit und chriſt bich er Stan 
bensſlehre (Dogmatidd oder überhaupt chriſtlicher Theo⸗ 
bogie; inden ja der Stifter Vollender der Froömmigkeit 
iſt, ohne daß es darum gelingen will, ihn auch als vellen⸗ 
deten Theologen zu denken. Wenn man nun bie Fröm⸗ 
migkeit für die Praris hielte, Die Theologie aber für bie 
Theorie oder das Wiffen um jene, fo könnte dieſes nur 
gelten, infefern man den Gegenſatz irgendwie wieder amfs 
höbe; denn offenbar find fie wicht fo außer einander das 
Frommſeyn und das Darumwiſſen; ſondern wenn and 
- wahr iſt, daß das Willen nicht dad Maß, alſo auch wicht 
Bas Weſen ber Frömmigkeit ift a), fo ift Doch nicht minder 
wahr; Daß ohne ein gewiſſes Maß bes Wiffens Die Froͤm⸗ 
migfeit nicht ſehr erheblich feym Fünnte und nameutlich 
nicht befühigen würde, Stiftes zu ſeyn, ja Daß ohne alles 
Wien Diefelbe nichte wäre ald ein Juſtinct, ein eben bes 
wußtlofes Erregtſeyn, wogegen dann alle bie beimminten 
Einwärfe, dag Thiere auch baran Theil haben könnten, 
fich eher erheben ließen, daß daher doch eine gewiffe Wech⸗ 
ſelwirkung, ein — von beiden immer zu den⸗ 
ken iſt. 

Wir haben — beibe aus — zu halten, dann 
ihr Ineinander nachzuweiſen, immer in Beziehung auf 
den Religionsſtifter, von dem wir nicht etwa bloß vehaup⸗ 
ten, x gelinge nicht, ihn al a zu —— ſes 





a) Schleiermacher, in Der, bekannten Stelle Stauden, * Kup. 
$ 3. 4, Die feineswegs darum bie Zrömmigfeit vom Wiffen 
‚in bem Sinne ausfalieht, daß man von atomiftiſch neben einan⸗ 
der gefteilten Beberägebieken: Hunde’ Thatigkeiten auch ur mit eis 
; — mar pen! 2 2a DIRT oe: 


LER AP ET — ur .,. 
“AD E gut La DIE Ze 2 





über die Dignität des Religionsſtifters. 339 


dern begreifen wollen, warım er bad ganz nad gar 
wicht feyn kann, und Stifter und Theologe zwei 
nie in Einer Perfon vereinbare Begriffe find. Die Srom- 
migkeit ift die Wirkung eines realen, wahrhaften Seyns, 
nämlich Des Verhältnifjes zwifchen dem abfolyuten und ges 
theilten Seyn, welches. darin befteht, daß vieles in allen 
feinen räumlich und zeitlich auseinander liegenden Puncten 
und Momenten nom Abfoluten ausgegangen, getragen 
und gehalten if. Diefe That Gottes auf Die Welt wird 
nun in den Puncten, wo vernünftige Gefchöpfe von ihr 
berührt werden, auch in deren Selbſtbewußtſeyn ingenb- 
wie lebendig, ob in Form des Gefühls oder ber Vorſtel⸗ 
Iung ift bier gleichgültig. Und eben dieſes Leben: ift Die 
Frömmigkeit, die baher wie alles Leben dem wiflenfchaft- 
lichen Begriffe ald conditio sine qua non vorangeht. Die- 
ſes Leben tritt mit der menfchlichen Vernunft felbft in 
beren Individuellſeyn ein; Daher. eine. der ihm möglichen 
indigiduellen Arten und. zwar Die befte im oben bezeichne⸗ 
ten Sinne Stifter wird. Da alfo die Frömmigkeit ihr 
Eutftehen nur hat, wo das Abfolute auf vernünftige 
Weſen feine lebendige Wirkung übt, fo ift vor Allem ar, 
daß Diejenigen, welche dieſe als zuerft in Form des Ge⸗ 
fühle lebendig werdend barflellen, fich nicht. im. mindefben 
föunen irre. machen laffen durch jene aus Polemik. ent 
fpringende Aeußerung Hegels, daß, wenn die Religion 
Abhängigkeitögefühlfeg, ber Hund der befte Chriſt märe.n). 
Da doch jeder Denkende auch geiftige. Gefühle anerkennt, 
fo braucht nicht erinnert zu werden, daß ed nur auf ei⸗ 
nem Kleinmacken der Gegner beruht, wenn man ihre Ber 
hauptung, bie Religion fey ein Gefühl, in ſinnliche Ge⸗ 


a) Vergleiche befien Vorwort zu Hinrichs citicter Schrift p. XIX. 
und ähnliche Aeußerungen berjenigen Schüler Hegels, die, um 
fi als ſolche auszuweifen, auch die polemifchen Blößen bes Mei⸗ 


u | 
„Br ., — 


SO : = Schweißer 


fühle himüberfpielt. Geiſtige Gefühle nun finb eben Af 
fectionen des unmittelbaren Selbſtbewußtſeyns, welches 
ſich unterſcheidet vom Wiſſen um Etwas, d. h. vom ob⸗ 
jectiven Wiſſen, zu welch letzterem auch das Wiſſen um 
ſich ſelbſt gerechnet werden muß, ſobald das wiſſende 
Subject von ſich als Dbject auseinander gehalten wird, 
im Momente bdiefes Wiſſens. So ift Die. Frömmig—⸗ 
keit eine unmittelbare Beftimmtheit des Selbſtbewußt⸗ 
feyns vom Abfoluten, die, weil fie nur ald That Des Ab» 
foluten empfunden wird, ein fchlechthiniges Abhängig: 
keitsgefühl ſeyn muß, wober nicht zu überfehen tft, daß 
diefes fi von Gott abhängig Fühlen die höchſte Erhe⸗ 
bung des’ Menjchen. ausmacht und weit entfernt, ihm zu 
entwürbigen, vielmehr bie Urquelle aller wahren Kraft 
und Freudigfeit wird, indem durch dieſes Gefühl gar nicht 
das Getrenntfegn, fondern dad Bezogenfeyn des Men- 
fchen auf Gott in einem innern Leben repräfentirt oder 
ausgedrückt iſt. Denn diefe Frömmigkeit ift das Leben in 
Gott, ob ed nun Die Form des Gefühle behalte, oder auch 
andere annehme,.ift, von hier aud betrachtet, Das Gleich⸗ 
gültige, feitzubalten iſt nur, daß fie ein Leben fey und ins 
dividuell werbe .im Selbſtbewußtſeyn. Denn wie übers 
all, wo das Selbftbewußtfegn von der Welt her zu Luft 
‚oder Unluſt boſtimmt wird, dieſe Gefühle ganz etwas an⸗ 
ders ſind, ald. das Darummiffen, und noch vielmehr etwas 
anderes ald das Wiffen um bie fie hervorrufenden Ereig⸗ 
niſſe und Dinge, weil: ja offenbar das. Wiffen um ganz 
Diefelben. Begebenheiten gleich‘ Betheiligte Doch zu ungleis 
. hen‘ Gefühlen ſtimmen kanu: fo muß es auch feyn im 
Selbfibemußtfeyn, fofeen e8 vom Abfolnten. affieirt „wird. 
Sp muß fich die lebendig gefühlte Religion, d. h. die Fröm⸗ 
migfeit wohl unterfcheiden laffen vom Wiſſen um fie und 
‚am Gott. Die hriftfiche Frömmigfeit ift alfo das beft ins 
bieidyalifirte Leben in ‚Gott, bie hriftliche Glaubeuslehre 
aber ift ein Wiffen um daſſelbe, ‚ein Auseinanderlegen deſ⸗ 
felben in Form des Gedankens. Beide bilden fo fehr eis 





über bie Dignitaͤt des Religionsſtifters. 84: 


nen, wenn gleich‘ auflögbaren, Gegenfaß, daß: einer Die 
eine haben: kaun ohne die andere.  Dem:Stifter.fchreibt man 
aan, Die vollfommene Frömmigkeit ſelbſt gu und weiß ihr 
hierin für:immer Dominirend. Hingegen. müßtencwir ung 
entwürdigen, ihn aber ſchief Darftellen, wenn wir ihm auch 
die Bollendung des wiffenfchaftlichen Wiſſens Am dieſe 
Frömmigkeit, das eine identiſche ans if, gerichtet 
auf. das: chrifkliche Lebens zuſchrieben. 1: ©: © 
"Aber: mit Diefem Ansdeinander von beiden tft. bie Sadıe 
nicht erſchöpft, fondern es muß auch ein Ineinander derſel⸗ 
ben nachgewieſen werden, und hier können wir nicht verle⸗ 
gen ſeyn, da bie Theilung der Vernunftthätigkeit im identi⸗ 
ſche ünd individnelle uns von vornherein als eine bloß rela⸗ 
tive entſtanden war, als ein bloßes Ueberwiegen des einen 
Elements über das immer mit daſeyende andre. Es kann 
namlich in einem Einzelweſen die Frömmigkeit nicht wahrhaft 
ſeyn ohne anf bemußte Weiſe; und beſonders im Stifter 
muß ſie ſo feyn, daß er fie ausdrücken und mittheilen kann o). 
Diefed beruht auf dem Ineinander von Selbftibewußtfeyu 
und objectivem Wiſſen; jenes entfteht mit diefem, denn 
ohne Sch Fein Du: Soll alfo ‚Einer mit Klarheit das Af⸗ 
ficietfeyn von Gott in fich haben, fo muß..er auch darum 
wiffen. . Senes Auseinanderftellen von Arömmigfeit und 
Darummiffen gilt alfo nur, infofern dieſes als Wiffenfchaft 
gedacht wird; infofern man aber jedem Menfchen ein Wife 
fen zufcjreibt, abgefehen von der Wiffenfchaft, muß der 
Stifter es fo vollfommen in ſich gehabt haben, ale nur irs 
gend möglich, d.h. er hat die Krümmigfeit lebendig in fich 
a) Marheinede Dogm. $. 37. „Wenn der Tühlende nicht Über 
fein Gefühl hinausgeht und‘ in die Welt des Gedankens hinaus:' 
tritt, fo ift keine gegenfeitige vernünftige Verfländigung.” Dies 
fer Sat bedürfte eines genauern Beſtimmtheit, denn offenbar gibt. - 
es auch andre vernünftige Berfländigungen der Individuen unter 
einander, da doch das ganze Gebiet der mehr künftlerifchen Mas 
nifeſtationen aud) vernünftige Derftändigung if, obgleich ld 
durch das Mittel des Gedankens. 1 


842 no: ‚Schweiger. 


als eine ſich bewußte, aber ohne das Intereſſe ber Willen; 
fchaft. Use nun aufzuzeigen, daß dieſes nicht bloß zufällig 
ſich fo verhalte, fondern vermöge einer innern in Der Sache 
ſelbſt Tiegenden Nothwendigfeit der Stifter nicht Theologe 
ſeyn kaun, haben wir den Unterfchieb jenes jedem Mens 
{hen zukommenden Wiſſens Son der Wiſſenſchaft anzuge⸗ 
ben; denn ſonſt könnte es ſcheinen, als ſchrieben wir will⸗ 
kürlich dem Stifter auch ein Wiſſen zu, das ſo vollkom⸗ 
men wie moͤglich wäre, ohne doch zugleich die wahre Voll⸗ 
kommenheit des Wiſſens, nämlich Wiſſenſchaft zu ſeyn. 
Ohne nun hier im mindeſten den Fortſchritt der neuern 
Philoſophie, daß zwiſchen dem wiſſenden Subjecte und ge⸗ 
wußten Objecte Fein bleibender Gegenſatz fefl' werden könne 
und ſolle, abzuweiſen, ſondern ſowohl wenn diefes wahr 
als wenn es falſch wäre, behaupten wir, daß das wiſſen⸗ 
ſchaftliche Wiſſen nicht entſtehen kann, als nur dadurch, 
dag Subject und Object auseinandertreten, mögen fie 
dann auseinander bleiben, oder der Gegenfak wieder aufs 
gehoben werden. Diefe Momente der Abflraction 
find conditio sine qua non des Wiſſens. Erft mit ihrem 
Eintritt hört das Bermifchtfegn von Geift und Natur 
auf, welches den erften Standpunet des menschlichen Lebens 
bildet, Bor diefer Abflraction haben: zwar bie geifligen 
Gefühle immer fchon Theil am Bewußtſeyn, nur daß beides 
noch verfchmolzen Durcheinander liegt. . Diefed Berfchmol 
zenfeyn nun des frommen Selbitbewußhfeyne und des objecs 
tiven Wiffens fohreiben wir Dem Stifter zu auf vollkom⸗ 
mene Weife. Wenn nun auch aus diefer Verfchmelzung, 
Die überall das wirkliche Leben charakterifirt, die Wiffen- 
[haft heraustreten kann, fo ift fie dem Religiongftifter unwes 
fentlich und Legt nicht in feiner Richtung und Dignität ſchon 
darım, weilihr Entftehen bedingt ift durch ein Auseinans 
beftreten von frommen und von wiffenden Momenten, alfo 
durch einen Abbrud; der Srömmigfeit ale Leben; dena der 
Moment, in welchem ich um eine fromme Erregung im 








Y 


über die Dignituͤt des Keligionsſtifters. 843 


Intereſſe der Wiffenſchaft weiß, fet:mich als nicht mieht 
in derſelben begriffen. Die Wiſſenſchaft aber, auch wenn 
fie nachher dieſen Gegenſatz ‚wieder aufzuheben vers 
ftände, jet alſo nothwendig ſolche Abftrackion voraus, in 
Der fromme und wiflende Momente ausäinander treten, 
daher ſie nicht nur zur Dignität des Stiftetg nicht gehören, 
fonbern, weil die Sontinuität des Gottesbewußtſeyns ſtö⸗ 
rend, biefelbe vielmehr. fchmälern müßten). : Vielmehr 
iſt dieſe Dignität, weit auch ber Stifter beſtündig in ber 
belt lebte und fein zeitliches Bewußtſeyn ununterbrochen 


auch von weltlihen Momenten erfüllt feyn mußte, nicht zu 


fischen. in. einem andfchließlichen Gottesbewußtſeyn, ſon⸗ 
dern in einem: fletigen -Berfchmelzen deſſelben mit den irdi⸗ 
fchen Momenten, fowuhl des Willens ald aller andern Le: 
benöthätigfeiten. Daher ift ed ganz dem Obigen conform, 
wenn wir behaupten, bes GStifterd Dignitat made jewe 
Abſtraction der Wiffenfchaft geradezu unmöglich und ber 
ftehe vielmehr im gänzglichen Verſchmelzen Der frommen und 
der wiffenden Richtung, fo daß alle feine wiffenden Mor 
mente zugleich fromm find, und Die frommen alle Theil 
haben am Bewußtfeyn und eben die fromme Richtung die 
überwiegende ift.. Die Frommen find. num folche, In. denen 


„ jene VBerfchmelzung überwiegt und die Nichtung auf Gott 


dominirt, die Wiſſenden aber folche, in denen die Richtung 
anf jene Abſtraction überwiegt, da ja felbft wenn eine Weber: 
windung bed Gegenfabes von Subject und Object erreicht 
wird, boch jedesmal die Abftraction voranging, in welcher 
Das Bewußtſeyn ſich vom Leben felbft zurückzieht, um über 
Diefes als gegenüberſtehendes Object zu reflectiren. Und 
freilich, wenn der Gegenſatz sicht wird, Du 





- a) Muarheinede Dogm. 6. ss, „Die Religion in Ipsem unnittel 

. baren Seyn wird dem Denken nit gegenſtändlich.“ Hiemit iſt jene 
Abftraction, jenes Auseinandertreten bes bentenden Subjects und 
der Religion sale Object ausgeſprochen, obgleich ber. re 
dann wieder aufgehoben wird. 


—3* eg ,» I 0 


bern fir. bleibt... innen Frömmigkeit und Wiſſenſchaft in 
Conflict kommen und wie die Erfahrung. zeigt,. Viele um 
die Fuömmigfeit gar vielerlei wiſſen, ohne fromm zu ſeyn, 
die Frommen:aber gegen das Wiſſen überhaupt eingenom⸗ 
‚men werben: "Sol nun.ein Theologe Wilfensund Glauben 
oder Frömmigfeit) mit einander vereinigen wollen uud 
können, fo wird .er nicht jenen Gegenfat der Abftraction 
fir werben Iaffen, ſondern felbft mit Diefen Momenten bie 
Krömmigfeit:verbinden. dadurch nämlich, baß er Diefelben 
als bloße Abftraction. fennt, u en die ichtung mit 
hat, fie zu überwinden. — 

Zu dieſem Ergebniſſe ftimmt nun and; die Erfahrung 
welche uns Chriſtum als Frommen, :nicht. aber als wiffens 
ſchaftlichen Theologen zeigt. . Er. ift. alfo nur Daun alldo⸗ 
minirend in ſeinem Gebiete, wen. dieſes fein Wiſſen iſt. 
Auch dazu ſtimmt das Chriſtenthum, welches ſeine Fröms 
migkeit ſelbſt da, mo es fie als Geſinnung ſetzt unter dem 
Ramen:des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, ſehr 
wohl von einem Wiſſen zu unterſcheiden weiß, wie ja ge⸗ 
rade der unter allen Apoſteln am meiſten als wiffend. aufs 
tretende Paulus ſich darüber entſchieden klar ausſpricht. 
Vergl. die Hoffnung betreffend Römas, 24 und 25; den 
Glauben betreffend 2 Cor. 5, T;. von. der Liebe aber vers 
ſteht es ſich von felbft, daß fie Fein Wiffen fen::. .. -. 

Dennoch ift die. Bollendung der Frömmigkeit, feit Pr 
eine Gefchichte Derfelben und dadurch veranlaßt. eine Wifs 
fenfchaft von ihr.gebildet ‚hat, nicht mehr: möglich für bie 
ganze Menfchheit, wenn nicht ein. höheres Ineinander vor 
. beiden "gefunden wird... Gehen. fie. auseinander , fo kann 
Ehriftus nicht alldominirend werden, weil Viele fich immer 
mehr nicht bloß durch Wahlanziehung, fondern auf einem 
identifch = hiftorifchen Wege ihm nahen wollen a), der unter 
bem Einfluffe der Wiſſenſchaft ſteht. Aller geſchichtlichen 
a) — irte Kritik über — und ee 

pas rs 





über die Digninit des Keligionsſtifters. BAS 


Entwicklung wie.unch aller Dialektik. zufolge: mnß:. bad zu⸗ 
erſt ummittelbare Ineinauder von Froͤmmigkeit uUnd Wiſſen 
durch ihr Gegeneinandertreten hindurchtzum vermittelten 
Sneitander heranreifen, worin daun bie. Abſtraetion von 
frommen ad darum wiſſenden Momenten aufgehoben iſt, 
ſo daß je derr am beiten Wiſſende auch ver Frommſte wer⸗ 
den / kunn und umgekehrt. Dieß iſt den Begriff: des vollen⸗ 
deten Theologen. Wenniaberje!folche wirklich erſcheinen, 
fo: ſteigen fie darum doch in der Kirche nicht. über den Stifter 
emporſondern wiſſen ſich vielmehrtheils in ihren Fronu⸗ 
migkeit von ihm domineirt, theils daß ohue dieſe auch wie Wif⸗ 
fenſchaft nicht Die wahre. geworden wärey: weil: ohne dieft 
Frönimigfeit der: Menfh m immahrem Buftanbe: iſt on 
welchen and auch Feine: Wahrhrit entſtehen Tuaut. So ger 
wiß alfo ein Ehrift nicht vvllig: die Individualitat des: Stif⸗ 
ters anziehen. -Tamr;; fo: gewiß wirbiesinicht fat von JIrr⸗ 
tum und Sünde, und Feiner: fteigt bis gu: Ehriſtus hinauf, 
weil nur .diefe Individualität abfolut : adäyuat' war imit 
der chviſtlichen Froͤmmigkeit. Einem in-chriftticher From⸗ 
migkeit, alſo in: der Wahrheit ſeyenden Gefammtlebenigber 
müßte es als feine höchſte Entwicklung gelingen, den Pro⸗ 
ceß: durchzulaufen und. endlich auzulangen bei der wahren 
Wiſſenſchaft, die Chriſtum ind Frommigkeit völlig begreift. 
Wer dieſe anzuſtrebende Identikät nicht annimmt, ber 
muß, ſobald er-confequent verfahren will, alles was Wiſ⸗ 
ſenſchaft heißt, als der Frömmigkeit gefährlich verwerfen; 
denn ſoll die Abſtraction ſeſt bleiben, in welcher die from⸗ 
men von den um ſie wiſſenden Momenten getrennt ſind, ſo 
iſt jeder letztere der Frömmigkeit entzogen und thut ihr 
„Abbruch, und.:der Gelehrte, in welchem als ſolchem bie 
Richtung auf das Wiſſen überwiegt, müßte, je mehr er 
dieſes wäre, deſto unfrommer ſeyn. Nur iſt dieſen Glau⸗ 
benden, die dem. Wiſſen abhold find, zu bemerken, daß: fie 
jeber andern Lebensrichtung und Thätigkeit ebenſo feind 
ſeyn, jede Art von Arbeit. und Beruf, fo. gut wie bas 


BU u 3 co. 


Hilfen; and ber. Kirche verbauen müßten, ‚weil bie Inten⸗ 
ion: ded Menſchen immer momentan auf. das. ingerictet 
iſt, was: er schen! thaet, «ale ſolche Momente daher: ver 
eigentlich frommen Richtung, entzogen wären.Dahin 
fonumt derjenige, weicher das Gottesbewaßtſeyn: forbert 
als. Lebensmorcute dominirend/ da eh. doch sülken auf 
irgend audre: als unmittelbar: nn Napızigen. Bean 
tewnun begleifend. einmohnen ann... ..;-..':: 

913 Die Srommigfeit: alſo iſt dad von —— Aus 
ſchanung des Abfoliten sc Offenbarung). die ihre Berechti⸗ 
gung.in ber Judividnalitut hat, wusgehende Inſichſinden 
ed Auſoluten, daher ſie anmittelbares Gefühl;,. Selbfibes 
wondtfüpn iſt ihrem Weſen und Urfprunge nach; Die Wiffer- 
ſchaft Jingegen begreift as Lbſolunte eben in, Form des für 
Alle ideatiſchen: Segrifſes und hat in der innerlich nothwen⸗ 
digen Zorkbamegung, des: Begriffs ihren Verlauf. So ſchei⸗ 
Het, ſchoue: Der AusgangsPunet und bie Art der Fortbewe⸗ 
gung beide Gebiete, und es iſt ebenfo verdienſtlich von 
Sichleiermacheer, das dialektiſche Willen aus der Fröm⸗ 
migkeit, wie von Hegel den ſchellingifchen Anfangspunct 
einer unmittelbaren, nicht writer gu erweiſenden Anſchau⸗ 
ung. des Abſoluten aus der Philoſophie ausgeſchieden zu 
haben z. denn beides war eine Bermifchiung:, bie beide Ge⸗ 
biete nur verwirren konute. Ihr Gegenfat aber findet 
allmählich feine Aufhebung, indem nothwendig die währe 
Frmmigkeit, in Form ber Vorſtellung gebracht, mit der 
wahren Wiſſenfſchaft, ſobald heibe vollkommen ausgebildet 
ſind⸗ zuſammentreffen müſſen, als Eins geworden im Re⸗ 
fultate, Eins in dem: Sinne wie eine Identität von Geiſt 
und Ratur behauptet wird als nur formell verfchiedne Ma⸗ 
nifeſtationen bed Abfoluten: Bevor aber dieſe Ausgleichung 
von der Menſchheit zu Stande gebracht wird, erweiſen 
Frömmigkeit und Wilfenfchaft ſchon daburch ihre höhere 
Einheit, daß fie mit einander in Wechſelwirkung ſtehen, 
einander gegenfeitfigizur Klarheit und Wahrheit bringen, 





über die Dignituͤt des Religionsſtifters. 6840 


was ohne Identität. unmöglich: wäre - Dieß werden e 
alsdaun in vollen Maße than, wenn aus. ver Mifſen⸗ 
ſchaft verbannt wird, was Der Zrömmigfeit zufommt, nam⸗ 
lich die unmittelbare Anſchauung, bie, weil etwas Indivi⸗ 
duelles immer ein poetiſtrendes Element in das identiſch 
ſeyn ſollende Wiſſen hinüberſpielt, ober wie man ſenſtdas 
ſchlechthinige Afficirtſeyn vor AWſoluten begeichnen mag s 
ans: ber Frömmigkeit aber. weggewieſen wird) bie Dinkel; 
tifche Selöfifsrtbewegung bed Begriffe, bie. mit: Denk indi⸗ 
viduellen Gebiete weſentlich nichts zu she hat, und: bloß 
abs Darſtellungamittel bemwu tz werben kaun Wii... 1: 1 

.; &o werben beide Geblſete bei aller: höhern Einheit, dae 
jetzt noch meiſt nur index: Wechſelwirſung heider workiegt, 
denroch jedes als fer ſich ſeyend ſich: ford. untwickeln/: in 
ver Frömmigkeit die Macht und Mtalieks den: Individuali⸗ 
säten ſich gellend mãchen hy/ ·indent / bie Deſte: allbomiuirend 
wird und alle andern: allmahlich anzieht; im der Wiſſeu⸗ 
ſchaft aber das Alben inenssfche ;ihegsiffliche: Wiſſen: ſeine 
immer 'höhgre Geltung ſinden, fo. daß nimmer Hier vit Gin⸗ 
zelner kommen kann, der Für zalle Zeiten. KTomin iren wür⸗ 
de, ſondern je der Wiſſendſte das Eitle und Gleichgültige 
ſeiner wie jeder Perſönlichkeit erkennt, währendeje der 
Frömmſte im Gebirte der. Frömmtigfeit :die Individualität 
als :das. Feftzuhaltende nimmer vwerlient, vielmehr immer 
Ichendiger ber Stifter. dominiren wird; bis dann dio Balls 
endung des: hüchſten Gutes‘ erſcheiat, went biefe Indivi⸗ 
dualität die allen Menſchen gemeinſame geworden iſt ver⸗ 
möge bes kräftigen Princips der Wahlanziehung, wie auch 
Paulus geſchrieben hat 1 Eor. 13,8: die Liebe (und dieſe 
— ja —— der Vadleidaauti hört nimmer 


— LE SU v 


u} Sälrieem. Siiusenstepe 1. Pe J 

B) Gbendafs © 74 nennt: Sk. Viefe Mat’ cin Wirten bes Zotals 

eindruds der Eigenthümlichkeit Chriſti. Die eigenthuͤmliche Epiftenz 
aber wirt une. uefpeßngtich auß das Geiäfibewußtfeun::" 


548 Bee n  Bcweigen': f . 


anf, wahrend noch Die Weiſſagungen, Spradien und Er; 
kenntvoiß (das Identiſche) aufhören werden (nämlich:wicht 
in der Sefammtheit, aber im Eitzelnen).. :Auf dieſem Bege 
hebt ch ums auch jener Gegunfah af, entweber nur das 
Sndinibuelle, Erſcheinende ‚Fr das Wirkliche zu halten, 
oder nur die: Idee in ihren Allgemeinheiten uber: Katego⸗ 
rieen bed: Denkens und. Seyns. Aufgehoben iſt er im der 
Ider oder dem ſich als beides mrantfeftirenden Abſoluten =). 
So iſt: nun ebenfo ſehr die volle Dignität des Stifkers im 
Bebiete der: Frömmigkeit von: und darzuſtellen, als zu er 
weifen gefucht worden, daß ihm vermmdge. einer innern 
Mothimendigkeit ein birected; Dominiren im Gebiete dee 
Wiſſens naht gufommen Diane, fondern nur ‘ein. inbirectes, 
inſofern nümlich:der nicht Fromme, weäll-in ber. Iinwahrs 
heit: ſeyend und aus ihr Heraus denkend und urbeftend, 
auch: se Wiffen Keine Wahrheit wind finden Adımen. .. Die 
Mothwendigkeit Ber: Wechfelwirkung: . son. Wiffen "und 
Frömmigteir weitkn aufzuzeigen, liegt nicht in unfrer jetzi⸗ 
gen Aufgabe, eben fo. wenig haben wir das Zuſammentref⸗ 
fen beider tum; Refnttate hier mehr als blog. vorauszuſe⸗ 
tzenlineIn dleſer ganzen Erörterung follte gezeigt wer⸗ 
den,.wiemichtig für die Philoſophie und Religion die Ins 
dividualitäteſeyr Darauf: aufmerkſam madte einer 
der siften Gelehrten nicht nur. umfer 8 Zeitalters, S chleiers 
macher, and hinterläßt, wie in biefet,: fo im unzähligen 
vorihm arigeregten — a. ee 2 belebens 


le 7 rt zılı m 12 Rn t * 
— .. — .. 


a) Wergt, Stin. ap Kit. 18 4, deſt S. iur. Die eben 
daſelbſt ntwitkelte Anſicht, daß die riſtuiche Religion ſeldſt eine 
2 Vhiloſophie ſey, alſo doch ein Wiffen, wird nothwendig auf alle 
oben entwidelten Unmöglichleiten, die alldominirende Dignität 
Eines zu finden, alfo felbft auf dad, was fie der hegelſchen 
Säule vorwirft, ſtoßen - mäflen,. denn. auch, . wenn ſie Ghriſtum 

: 68 Gottmenſchen faßt, wird fie ihn wollen begreifen: in menſch⸗ 
. "Mden Formen; darum If Gott. Menfch geworben. Auch bie Folge⸗ 
rung; die: Philoſophie ſolle ſich aufs Chriſtenthum gründen, ſcheint 





über bie Dignität' bes Keligionsſtifters. 849 


. den Geil a). Diefer zieht fich durch unfere Abhandlung, 
. bie bi gegen ihr Ende hin nicht gemeint war, eine Blume 
. zu werben auf des Verewigten Grab, fonbern lieber wies 
der eine beſcheidene Blüthe, in ber’ er fich, wenn auch nur 
theilweife und in anderer individualität, wieber finde, 
Auch in diefer von ihm oft begabten Zeitfchrift möge noch 
‚ vielfach der Same aufgehen, den er fo unverbroffen aus⸗ 
geftreut hat, daß eben biefe Berufstrene den ſchönen Tod 
veranlaſſen follte, der Viele zu deſto geiſtigerem Leben erre⸗ 
gen wird. — 


A Schweiger, Prediger. 


jene um ihre Gelbftfländigkeit, alfo um ihre Seyn zu bringen. 
Die Identität der Wahrheit, weldhe in beiden feyn fol, Tann un» 
möglih das Zufammenfchmelzen: beider in Einen Guß forbern, 
Das Gegentheil aber verdient ben Vorwurf atomiftifchen Nebens 
einanderftellens fo wenig, daß darüber nichts zu fagen ift. 

a) Möchten neben ber Dialektik, die er eben auszuarbeiten befchäfs 
tigt war, namentlich auch die fo anregenden BVorlefungen über 
die Ethik veröffentlicht werben, in denen feine großartige Auffafs 
fung des gefammten Wernunftiebens fi ausſpricht, daß feinen 
tritifhen Verbienften um diefe Wiffenfchaft auch bie conflructipen 
= anſchließen. — 


3. 
wu proteftantifhe Beantwortung der Sym⸗ 
bolik von Dr. Moͤhler 


durch 
Dr. C. I. Nik fd. 


Vierter Artikel, vom Sacrament. 





Beide Kirchen erfennen bie Bermittelung der göttlichen 
Gnadenwirkung in beiden, in dem Worte Gottes und im 
Sacramente. Diefe Mittel ergänzen einander, das ift fo 
im Allgemeinen die beiberfeitige Vorausſetzung. Denn 
dadurch, Baß-bie katholiſche Theologie nirgends recht ab; 
fihtlich, immer nur gelegentlich und halb die Wirkung des 
Wortes mit heranziehet, Coneil. Trid. de iustif. cap. VI. 
Catech. Rom. I. 1. qu. 21. IV. 13. qu. 12., werden wir 
nicht bererhtiget, ihr die obige Zufammenftellung oder die 
Beziehung der Gnade auf ded Wortes Wirkung ganz abs 
zufprechen. Kommt ed dann zu nähern Beftimmungen, 
fo zeigt fich freilich, daß die wefentlichen Heilszuſtände 
für den Proteflanten überwiegend durch das geglaubte 
Wort, für den Katholiken überwiegend durch das richtig 
verwaltete Sacrament gewirkt werden. Läßt fi die 
‚Heilöfraft des göttlichen Wortes nad) den jeßt gültigen 
Fatholifchen Befenntniffen und ohne Zuziehung der ältern 
Scholaſtiker überhaupt begreifen, fo Tann fie nur in der 
Bermittelung des Borbereitungsftandes gegeben feyn. 
Die Wirfung des Wortes bisponirt zum Genuffe des Sa 
craments; und das die facramentliche Handlung beglei⸗ 
tende Einfeßungswort erklärt fie, macht fie verftänblid 
und befördert Dadurch die Wirkung des Sacranients — 
verba enim inter omnia signa maximam vim habere perspi- 





proteftant. Beantwort. i@Umbolif v. Moͤhler. 851 


emuim est: ac si.ipsa.desint, plane obschrum 'etit; quldnam 
materia sacranientorum. demionstret Catech. R. H. 1. qu: 8; 
Dabei ift es ganz: unbehentlid, Die. Frage, wodurch denn 
nun eigentlich Gerechtigkeit und Heil dem Menſchen ans 
geeignet werde, lediglich mit dem Sacramente gu’ beunts 
worten. Das Sacrament gibt den innern wie den äu⸗ 
Bern chriftlichen Charakter; und im dieſer Beziehung ift 
von einer Gleichftellung deſſelben mit.dem Worte sder von 
einer: Zuſammenwirkung der beiden Gnabdenmittel auch 
denn nicht die Rede, wann es 3. B. Cat. Rom. II. 2. qu. 21. 
heißt: das ganze chriftliche Gebäude fey gegründet: anf 
den Eckſtein; allein. wenn nicht. Predigt des. göttlichen 
Worts und Sacramentsgebrauch es ſtütze (fuleire), ents 
ſtehe die Beſorgniß/ es werde großentheils zuſammenſtür⸗ 
zen. Gleich darauf, folgt nämlich die zur ganzen Lehre 
ſtinmmende Erklaͤrung: das Sacrament macht des Lebens 


theilhaft, das Wort ernährt dieſes Leben. Wie man nun 


immer dieſes faſſen möge, + ed darf nicht überſehen wer⸗ 
ben, daß theils die Gnade, Die ben Stand bes Heils nur 
vorbereitet, theils die, welche ihn bewahrt, auch wenig» 
ſtens ebenfo.fehr, wie Durch Wirkung des Wortes durch 
Werte, die nicht ſacramentlich, aber firchlich find, vermit⸗ 
telt und auch inſoweit dad Wort leicht. zurückgedrängt 
werben kann — gewiß ift.dem Katholiken dag Sacrament 
das vorgeordnete, eigentliche Mittel Des Held, Fur deu 
Proteſtanten findet das entgegengefegte Berhältnig Itatt. 
Das Sacrament wirket zwar auch für ihn auf eigenthüm⸗ 
liche Weiſe zur Herweorbringung oder Vervollkommnung 
und Bewahrung eines Zuftandes mit, allein das, was es 
wirkt, iſt der Art nach nichts Höheres, Vollkommneres 
und Seligmachenderes als das geiſtliche, durch die Wir⸗ 
tung bes Wortes im Glauben gewirkte Leben. Nach pro⸗ 
teſtantiſcher Berfiellung wirtet das Wort zu facramentlidi 
und das Sacrament ſelbſt zu fehr mit dem Werte und. in 
Bezug auf das Wort, als daß die Ertheilnng der :innern 


% 


er = u, 0.38%» | 
. .. .. .. .'3.1 3 J 


Beſtimmtheit eined Chriſten auf bie Wirkung Des. Saera⸗ 
ments im engern Sinne befchzünft werben könnte. Wort 
und Glaube, Gnade und Glaube fchaffen das weſentliche 
Leben, welches nun freilich zu. feiner Pflege und Bewah⸗ 
rung Bebürfniffe en Denen bie ——— Einſetzung 
entſpricht. 

Auf diefe 1 eine Vergleichen Betrachtung muß bier 
jeder Symbolifer unfrer Zeit eingehen, wenn er den For- 
derungen ber Wiffenfchaft und der gefchichtlichen Gerech⸗ 
tigkeit entfprechen will. Hr. Dr. Möhler ift weit ent 
fernt, biefes zu thun. Nachdem er die proteflantifche 
Rechtfertigungslehre als einen unfittlichen Aberglaubenvor- 
geftellt, mußte er.in unfren Bekenntniſſe vom Sacramente 
foviel wie möglich den Unglauben: nachweifen,. ober einen 
Naturalismus, der nur bie und da eben wieder durch ka⸗ 
tholifchen Glauben feine Biößen zu decken ſuche. Er ftellt 
ſich daher von vorn herein fo, daß er, was chriſtlicher Ge⸗ 
meinglaube der Proteftanten und Katholiken ift, gar nicht 
als folchen, fondern als katholiſchen Glauben faßt, oder 
er.verdedt Doch das, was Proteflanten in Bezug auf Zus 
eignungsmittel der Gnade glauben, indem er dad Ver⸗ 
hältniß von. Wort und Sacrament von der ‚vergleichen: 
den Betrachtung gänzlich ausfchließt. Sp iſt z. 3. alles, 
was .der römifche Katechismus. über. das Zweckmäßige 
und Erforderliche bed. Sacramientes ſagt, nur infoweit 
wahr, und infoweit auch proteftantifch, ale man. vorher 
ſchon weiß, wie es ſich zur zueignen den Kraft ned Wortes 
verhalte, und daß es dieſe Kraft nicht verleugne. Das 
Glaͤubigſte, fo zu ſagen, am ſacramentlichen chriſtlichen 
Gemeinglauben iſt doch wohl dieſes: je mehr. das. Saera⸗ 
ment mit voller Empfänglichleit genoſſen wird, deſto we⸗ 
niger iſt es bloßes Zeichen, oder. bloßes Unterpfand ber 
Lebensmittheilung Chrifti, deſto mehr ‚biefe Mittbeilung 
felbft. Das Sacrament ift.Leiter, Canal ber Gnade, wie 
ber sömifche Katechismus ſich ausdrückt. Bis auf biefen 





* 


proteſtant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 853 


Punct aber wird der Sacramentsbegriff — ich will zuge⸗ 
ben unter ſehr verſchiedenen Bedingungen — durch das 
in dieſer Hinſicht ganz ungetheilte Bekenntniß der Pro⸗ 
teſtanten geſteigert. Denn auch die Proteſtanten, welche 
nicht die myſtiſche Identität, ſondern die myſtiſche Simul⸗ 
taneität der ſinnlichen und geiſtlichen Perception wollen, 
Die des helvetiſchen 3. B. und vierſtädtiſchen Bekenntniſ⸗ 
ſes, können nicht fo ausgelegt werben, als wäre ihnen Die 
facramentlihe Handlung nur das Unterpfand einer all 
gemeinen Wahrheit oder ihres fonftigen allgemeinen Ver⸗ 
hältniffes zu Ehriftus, vielmehr innerhalb des Actes und 
in der Gegenwärtigfeit deffelben haben fie, empfangen fie 
die Lebensmittheilung des Erlöfere, die Gemeinfchaft fei- 
nes Leibes und Blutes, die ihnen durch das GSichtbare 
"Kraft feiner .Berheißung, Verabredung, Cinfeßung ver- 
pfändet oder verfiegelt wird. Der proteflantifche Begriff 
des Siegeld oder Pfandes ift weit entfernt, Die collative 
Kraft des Sacraments zu ſchwächen; er geftattet fogar 
die myftifche Verknüpfung der Elemente des Sacra⸗ 
ments .mit der res signata et exhibenda — signa et res 
significatae sacramentaliter coniunguntur Conf. Helv. — 
Bezeichnung, Befiegelung, Darreichung der Gnade Chrifti 
vereinigen fich im Sacramente Decl. Thorun. — Bis hies 
her hat demnach Hr. D. M. nichts als hriftlichen Gemein» 
glauben, keineswegs aber etwas, das in ben Fatholifch- 
proteftantifchen Gegenfaß ftele, dargeftellt. Vielleicht ift 
ed anders mit dem Folgenden. Die katholifche Seite lehrt, 
das Sacrament wirte Gnabe und Heil ex opere operato, 
nämlich in denen, qui obicem non ponunt, bie fein Hin- 
derniß in den Weg legen. Wie legt dieß unfere Symbo- 
If aus? „Das opus operatum ift dasjenige, quod Christus 
operatus est, d. h. die Sacramente überbringen eine vom 
Heiland aus verdiente (!) göttliche Kraft, die durch Feine 
menfchliche Stimmung, durch Peine geiftige Verfaſſung 
oder Anftrengung vermittelt werben kann, ſondern von 
Theol, Stud. Jahrg. 1834, 56 


854 Risſch 


Gott um Chriſti willen ſchlechthin im Sacramente gegeben 
wird. Allerdings muß. fle der Menſch empfangen und 
beghalb empfänglich ſeyn, was ſich in ber Neue und 
dent Schmerze über die Sünde, in der Sehnfucht nad 
Hülfe und dem vertrauensvollen Glauben ausſpricht, allein 
er vermag fie nur zu empfangen, und darum nur empfänglid 
zu feyn.” Hinterher heißt die Empfänglichfeit, wie billig, 
doch auch eine Thätigfeit ; Diefe follnur (wie fidh freilich von 
felbft verftehen würde) nicht Die Gnade felbft noch eine fie ver- 
dienende ſeyn. Sch will nicht leugnen, dag in dieſer Darftels 
lung noch gleichfam wider Willen des Verfaſſers etwas von 
dem Gegenfaße hindurchfcheine., Das Wörtlein „werbiente 
Kraft” weiſet bahin, daß Chriſtus es ber Kirche verbient 
habe, felbfiftändig durch das Sacrament Gnade zu fpens 
den u.f.w. Doc im Ganzen find wir berechtigt, zu bes 
haupten, wenn dieß die Fatholifche Lehre ift, fo find wir 
Proteitanten noch um ein fehr Bebeutendes fatholifcher, 
als die Katholifen. Wenn nämlic von Wirkung zur Ses 
ligkeit die Rede ift, fo laffen wir im Sacramente Chris 
ſtum wirken und ganz allein, feine Einſetzung, fein 
Wort, feinen Geiſt, feine Macht und Gnade, ohne 
daß uns irgend eine voluntas oder intentio ministri förberlich 
oder hinderlich werden könnte, und folglich kommt es eben 
nur auf unſere Empfänglichkeit für die Darbietungen des 
Erföfers an, auf eine Empfaͤnglichkeit, die er ſelbſt freilich 
beffer als wir zuͤ erfennen und zu würbigen weiß 9). Aus 


a) Conf. Helv. Mai. Et ut deus sacramentorum auctor est, ita 
perpetuo operatur in ecclesia, in qua rite peraguntur sacra- 
menta, adeo ut fideles, cum a ministris sacramenta percipiunt, 
agnoscant operari deum in suo instituto, ideogue sacramenta 
perinde ac ex ipsius dei manu percipere, et ipsis ministri vi- 
tium non obesse. Unde etiam aperte in administratione sacra- 
mentorum inter dominum et domini ministrum discriminant, 
Und am Schluffe des Artikels: So wie bas geprebigte Wort 
Sottes an fi Träftig, gültig, gnadenreich bleibt in feinen Daxbies 


\ 





proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 855 


welcher Macht, dürfen wir wohl fragen, läßt denn Hr. 
M. ein fo ausdrüdlihes Stüd der fcholaftifch » trienter 
Sacramentslehre, ald die Meinung und Willensrichtüng 
des Prieſters ift, aud dem Terte weg, um in der Note es 
dem Bellarmin zu befter Auslegung zu überlaffen. Eis 
nem Bellarmin verargen wir es fo wenig, ald irgend eis 
nem, die Lehren der Kirche, wo fie anftößig werben, bes 
fiend auszulegen, aber keinem Symboliker dürfen wir 
nachlaſſen, in der eigentlichen, wefentlichen Erpofition ders 
felben gerade die Puncte zu verfchweigen, die, wie hier 
der Fall ift, gerade den proteftantifchen Gegenfaß erfläs 
ren und rechtfertigen. Die Forderung der Intention auf 
Seiten des Priefters zur heilfamen Wirkſamkeit ober übers 
haupt zue Wirkfamkeit des Sacramentd fand vor und 
bei dem trienter Concile unter ben römifchen Theologen 
MWiderfpruch, Bald wandte man die Gefahr der Täufs 
linge oder Beichtlinder ein, Die nun fo Teicht um Die Gnade 
fommen oder derfelben ungewiß bleiben fönnten, bald bie 
fchon geltende, viel größere Gonceffion, daß Unglaube, 
Todfünde des Priefters fogar die Wirkſamkeit des pries 
fterlichen Actes nicht aufſebe. Deßhalb fah man fich auch 
genöthigt, die Forderung möglichft zu reftringiren; fie bes 
hauptete fich Dennoch Sess. 7. can. 11. Si quis dixerit, in mini- 
stris, dum sacramenta conficiunt et conferunt, non requiri in- 
tentionem saltem faciendi, quod facit ecclesia, anathema sit. 
Aus guten Gründen, wie man leicht fieht. Denn wenn, 
wie can. 10. es beflimmte, der gemeine Chriſt die mehrften 
Sacramente nicht machen noch conferiren konnte, wenn 
Die übernatürliche Eigenfchaft des Prieſters, zwar eine 
gratis gratis data und nicht gratum faciens, Doc, zum Wer 
fen der Sacramentöfpendung gehörte, dagegen Fein bonus 


i tungen, wenn es nicht ober Übel gebraucht, nicht geglaubt noch ger 
nofien wird, fo auch das Sacrament u, ſ. w. 
} j 3 56 » 


sss Be 


mötus des Empfängers zum Empfange. der Gnade, ja be 
der Privatmeffe gar fein Empfänger, bei der Kindertaufe 
Tein bewußter Empfänger vorhanden war: fo würde bei 
gänzlich mangelnder Conformität Dee priefterlichen Be 
wußtſeyns mit der Abficht der Handlung gar nichts _als 
der abfolut mechanifche, zufällige, äußerliche Act übrig ge⸗ 
blieben ſeyn, und von diefem hätte ſich kaum noch irgend 
ein Gläubiger irgend ein Heil verfprochen. Mean hatte 
einmal dem Werthe des opus den Werth des durch ben 
Glauben ergriffenen Einſetzungs⸗ und Berheißungswors 
- tes, der Würde des Prieſters die Würde der Gemeinde 
aufgeopfert, daraus entilanden große Gefahren und Ber 
fegenheiten, wenn nun dennoch der Werth des Wortes 
ohne fittliche Würdigfeit des Priefters beftehen follte; die 
fittlich gleichgültige übernatürliche Eigenfchaft Des Pries 
ſters mußte nun wenigiteng pfychologiſch belebt werden, 
und das ſo mitwirkende prieſterliche Bewußtſeyn zur er⸗ 
forderlichen Form des ſonſt aller Gewähr beraubten 
Werkes hinzu kommen. Man ergab ſich alſo der geringern 
Verlegenheit. Die Lehre von der intentio ministri iſt eine 
Rachhülfe für das Dogma vom opus operatum, melde 
noch manche VBortheile anderer Art gewährt, und das legte 
Dogma wird wiederum durch den Begriff des „nicht ges 
legten Hinderniffes” erklärt und unterftügt. Die canones 
6.8. 11. find aus dem pofitiven und negativen Inhalte ei⸗ 
nes jeden für ſich gar nicht, fondern nur durch einander 
zu verfiehen. Der achte Kanon fagt 1) pofitiv, durch die 
Sacramente ded N, T. (anders: ift es mit denen bed A.) 
wird Gnade ex opere operato ertheilt; 2) negativ, der 
Glaube an die göttliche Verheißung reicht zur Erlangung 
ber Gnade nicht hin. Der fo ausgedrüdte Gegenſatz leis 
det im höchften Grade an Zmweideutigfeit: Man könnte 
sub 2 erwarten: ber-Ölaube an die. göttliche Verheißung 
im Sacramente ift zum heilfamen Empfange beffelben nicht 





proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 857 


nöthig a), da er vielmehr durch das zuvorkommend und an 
ſich wirkende Sacrament mitgetheilt oder bis zur vollen 
Lebendigkeit erweckt wird, die Wirkung des in ſeiner In⸗ 
tegrität vollzognen Werkes erſetzt den Mangel des Glau⸗ 
bens, oder den Mangel der boni motus, wie man ſeit 
Scotus vielfältig lehrte. So würde der Gegenfaß Far, 
fo wäre er zugleich der ausgefprochene Sinn des Syſtems. 
Die Synode hielt für gut, ihn zu verrüden, fo, daß als 
lenfalls Folgendes gefagt fchien: der Glaube an die Vers 
heißung allein macht der Gnade nicht theilhaftig, nur der 
durch Liebe geftaltete Glaube, diefer aber wird durch das 
Sacrament mitgetheilt, oder: der Glaube, der fich eben 
nur an das Wort hält, macht nicht gerecht und felig, bag 
Sacrament muß dazu wirken, ober endlich: nicht Die Subs 
jectiwität (Glaube) ift Die wirkende Urfache des Heils 
im Sacramente, fie kann ja nur Die werkzeugliche empfan⸗ 
gende feyn, fondern die im Sacrament enthaltene und im 
Werke vermittelte Gnade des heiligen Geiſtes. Gilt, wie 
bei unferm Df., Die legte Auslegung, dann verfchwinbet. 
aller Anftoß der Proteftanten an dem Kanon, denn nichts. 
ift ihrem Befenntnifle fremder, als daß die fubiective Con⸗ 
templation, Stimmung, Gläubigfeit, wie groß fie immer 
fey, das Sacrament oder deffen Segen bewirfe, verdie- 
ne, ausmache. Der Bf. hat nun ganz Recht, fein Befrem⸗ 
den darüber auszudrüden, dag Luther fich gegen daß (fo 
gu verftehende) opus operatum fo flandhaft gewehrt, da 
er die Sache felbft fpäterhin genehmigt habe, Und in 
der That, es bliebe nur übrig, die Abneigung gegen alle 
iholaftifchen, barbarifchen Ausdrüde zu Hülfe zu nehmen, 
um die Erfcheinung zu erklären, wenn man.nicht einfehen. 
könnte, daß Luther Die hiftorifche Bedeutung Des opus 
operatum fannte, welche eine nod) andre iſt als die, welche 


a) Sajetan gegen Luther: fides non necessaria aocessuro ad 
eucharistiam. 


858 Nitzſch 


Hr. D. M. gelten läßt, und daß das Concil ſich eben auch dieſe 
biftorifche Bedeutung, wie man aus Dem Zufammenhangeder 
canones erkennen kann, wirklich vorbehaltenhat. Damals 
zwar, ald man zuerſt opus operans (operantis) und opera- 
tum entgegenfeßte — Innocentius III. in Mysteriis missae 
3, 5. — mar davon die Rebe, das letztre behalte feine Rein 
beit und Kraft, wenn auch das erfire noch. fo unrein fey, 
d. h. die Sünde des Priefters nehme dem facramentlichen 
Werke nichts, Allein Die Entgegenfeßung tritt, wo nicht 
bei Thomas, doch bei Albert, Scotus, Biel in ganz an 
derer Beziehung wieder auf. Sie verfnüpft ſich mit dem 
Unterfchiede des alt» und neuteflamentlichen Sacraments. 
Das altteftamentliche Sacrament wirkte Heil und Gnade 
ex opere operante oder operantis, nadı Maßgabe der Des 
sotion, guten und frommen Erregung deſſen, der das 
Sacrament empfing; das neuteftamentliche (welches ja 
doch wirkfamer feyn muß, ald jenes) ex opere operato, 
d. 5. ohne Bedingung der verdienftlichen oder empfäng- 
lichen Dispofition, sine bono motu utentis. Die poſitive 
Empfänglichfeit ift nicht erforderlich, nur Die negative, 
ut non ponat obicem, und abex ift wiederum in fittlicher 
Hinficht eben nur die Todfünde, die noch beftehende oder 
im Borhaben begriffene. Noch der legte bedeutende Schos 
laftifer vor der Reformation, Gabriel Biel, erläutert 
dieß dahin, Das opus operans des Priefterd (feine perfüns 
liche Heiligkeit) z. B. bei ber Meſſe wirke freilich noch bes 
fondere Erhörungen und Segnungen, ebenfo dad opus 
operans der Sacramentdempfänger Cihre innere fromme 
Erregung), allein auch abgefehn davon müffe dem opus 
operatum feine ganz felbitftändige Gnadenwirkung zuges 
rechnet bleiben. Das ift nicht zu zweifeln, daß ſich fchon 
vor ber Reformation nnd nachher viele einzelne fromme 
Theologen gegen dergleichen Lehren empört fühlten; Joh. 
Gerhard und Martin Chemniß citiren ihre Verfuche, 
die Scholaftifer durdy allerlei Snterpretation des opus 





[ 


proteſtant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 859 


operatum zu reinigen. Herrſchte ſie darum zu der Zeit, 
da Luther auftrat, weniger? ) Ward fie ihm nicht von 
Gajetan förmlich; vorgehalten? Hat er alfo, der wohl 
wußte, was er that, nur aus Eigenfinn oder im Worte 
freite die Formel verworfen? Auch das Concil wußte, 
was es that, wenn es ein fo anftößiges Wörtlein dennoch 
nicht fallen ließ, und die ganz dazu gehörige Formel non 
ponentibus obicem abfichtlich an einem andern Orte can. 
6. ebenfalls genehmigte. Den verfchiedenen Schulen der 
Theologen follte alle Breite bleiben, ihre Meinungen zu 
retten; denn es gab zu Trient eine bedeutende Zwiftigfeit 
der Dominicaner und Franciscaner über die den Beſtand⸗ 
theilen bed Sacraments einwohnenbe oder nicht einwoh⸗ 
nende virtus causativa et eflectiva, ob fie phyſiſch ſey, ob 
das Sacrament die Gnade enthalte, welches die letztern 
alles in Abrebe ftellten, indem fie einzig auf Die göttliche 
Berheißung fich zurüdgogen und ben Eutheranern zu nahe 
zu fommen fchienen: allein die evangelifche Forderung 
der pofitiven Empfänglichkeit abzumweifen und nicht zu 
Stande fommen zu laffen, Darauf war die ganze Reihe Ver 
canones gerichtet. Kein Hinderniß in den Weg legen und ein 
gläubiges, bußfertiges Herz mitbringen, gilt dem Hrn.D. M. 
gleich; und man follte freilich Denken, mit Recht. Denn iſt von 
ber Gefinnnng die Rebe, ander es feine Indifferenz gibt, 
fo legt fie eben fchon durch Unglänbigkeit und Unbußfertigkeit 
obicem, die negative Forderung geht da ganz in die pofitive 
über, und in ber That macht es dem Bellarmin undfeinen 


a) ©. Melanchthon in der Apol. art. VII. Hic damnamus totum 
populum scholasticorum doctorum, qui docent, quod sacra- 
menta non ponenti obicem conferant gratiam ex opere opera- 
to sine bono motu utentis. Haec simpliciter iudaica opinio 
est, sentire, quod per ceremoniam iustificemur, sine bono 
motu cordis, h, e. sine fide. Et tamen haec impia et perni- 
ciosa opinio magna auctoritate docetur in tuto regno pon- 
tikcio, — 


BE Nibſch 


Nachfolgern alle Ehre, den Begriff des opus operatum und 
obex bis dahin ausgedehnt zu haben, daß alle geiftlihen 
- Bebingungen des wirffamen Gnabenmittels in Anerkennung 
kommen. Indeſſen nach gefchichtlic; treuer Auslegung ber 
Worte und Begriffe befteht zwifchen jenen beiden Dingen 
ein großer Unterfchied. Sene, Die zuerft nur das „Hin 
berniß” binwegdachten, befanden fich auf dem Gebiete der 
That. Gie fahen ja eben bad opus operantis an, fie 
forderten in demſelben Momente, wo fie fides et poeni- 
tentia nicht forderten, die Abmwefenheit der Todfünde, 
und mit ihr eben nur eine folche Befchaffenheit des empis 
rifchen Bewußtſeyns und Verhaltens, bei welcher bag 
äußerſte Aergerniß nicht zu befürchten und irgend «eine, 
wenn auch noch fo paffive und träge Hingebung an das 
opus operatum zu hoffen war. Das Sacrament follte 
durch die mindefte Forderung gewinnen, und bamit hatte 
ed dieſelbe Bewandniß wie mit der attritio cordis, auf 
welche man die contritio zurückgeführt. Der Proteſtantis⸗ 
mus durfte mit feiner Diefer Formeln pacisciren, went 
fhon die der Erfchlaffung wehrenden beffern Katholifen 
- eine pofitive Empfänglichfeit, dispositionem, poenitentiam 
‘et fidem, nachträglich der negativen hinzuthun wollten. 
Abgefehn davon, bag man unter fides sacramenti bag kirch⸗ 
liche Fürwahrhalten verftand, mußte die Lehre vom nicht 
vorhandenen Hinderniß allezeit fhwächend auf den Bes 
griff der Dispofition zurückwirken. 

Der Df. erwähnt hier bloß die Siebenzahl der Sas 
cramente, ohne ihre Gültigkeit jebt zu erörtern, fchließt 
aber mit der Bemerkung, daß feines Sacramented Empfang 
zur Seligkeit fchlechthin nothwendig fey: Da dieß nur 
wieder Beftandtheil des chriftlichen Gemeinglaubens und 
dem römifchen Katholieismus nicht eigenthümlich ift, fo 
hätte man wenigſtens nicht erwarten follen, der Bf. würde 
ed nachher ©. 242 den Reformatoren als anfängliche Ges 
singfhägung des Sarraments auslegen, wenn fie das 











proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 8. 


alte Wort crede et manducasti weiter ausführen. Die 
wahre Kirche hat von jeher die Nothwendigkeit und Nichts 
nothwendigfeit bes Sacramentsd zugleich behauptet. Wie 
dieß gefchehen dürfe, ift aber nur da zu begreifen, wo bei 
Harer Beziehung der beiden Gnadenmittel auf einander 
das VBorgewicht auf Die Heildbewirkung Durch das geglaubte 
und in dem Herzen belebte Wort der Verheißung gelegt 
wird. Bis in das Sacrament hinein wirkt dieß Verhälts 
niß, fo daß auch mit und am Sacramente das Wort das 
opus an Gültigkeit überwieget und die Gültigfeit des letz⸗ 
tern bedingt. 

Der Df. geht zur Darftellung der Iutherifhen 
‚ Zehre über, d. h. zur Lehre Luthers, wie fie urfprünglich 
befchaffen gewefen. Ebenſo handelt er von Lehren Zwing- 
li's und Calvin's. Man fragt ſich wieder, warum wird 
nicht das proteftantifche Belenntniß vom Sas 
cramente als die Sache, um welche ed fich handelt, erörs 
tert? Antwort: dieß ift Fein anderes, als das Fatholis 
fche, wenn man von der Siebenzahl abfieht. Denn Luther 
ift vom fchroffften Gegenfabe gegen Die Kirche ausgegans 
gen; Carlſtadt, Zwingli u. d. a. haben ſich von ihm vers 
führen laffen. Als aber der Verführer fein Werf und defs 
fen Folgen gewahr ward, erfchraf er, Fehrte zu den unbes 
fonnen Cim Leichtfinne des Widerfpruchsgeiftes) verlaßnen 
Fatholifchen Dogma von der collativen Kraft des Sacras 
ments, zum opus operatum, zurüd, ohne e8 freilich Wort 
haben zu wollen und fogar wiberfirebend. Indeſſen bie 
Folgen ber urfprünglichen Sacramentsfchen beftehen, D 
Daß bie Siebenzahl aufgegeben wurde; 2) daß fich Die Kin 
dertaufe nicht rechtfertigen laßt; 3) daß in Gemäßheit 
feiner NRechtfertigungslehre Luther eigentlich hätte carls 
ftadtifch über das Sacrament Ichren und darin beharren 
follen. Zwingli übrigens hat eben nur die von Luther 
angegebenen Winke weiter verfolgt, und (nach dem Texte 
der Symbolid) in den Sacramenten nichts ald Erkennungs⸗ 


- 


862 j Nitzſch 


zeichen (nach der unten ſtehenden Note noch etwas mehr) 
geſehen; Calvin aber ſich mit der fymbolifchen lutheri⸗ 
ſchen Lehre ſoweit vereinigt, als es die abſolute Gnaden⸗ 
wahl zuließ. Denn ungetrennt vom Element hätte das 
Aliment auch können einem Nichterwählten zu Theil wer⸗ 
den; darum — jo ſchließt Hr. D. M. — mußte Calvin 
das Aeußerliche des Sacraments vom Geiſtlichen ſcheiden. 

Großentheils beantwortet ſich dergleichen von ſelbſt; 
wo nicht, ſo iſt unſere Antwort theils in dem, was wir 
über den ſacramentlichen Gemeinglauben geſagt haben, 
theils in unſrer Erörterung des katholiſchen Lehrbegriffs 
ſchon enthalten. Demungeachtet drängt ſich mir noch fol⸗ 
gende Betrachtung auf. 

Die Sacramentslehre der Reformation hat wie dieſe 
ſelbſt ihren Bildungsproceß gehabt, bie ſcholaſtiſche nicht 
minder. Die Scholaftif hat in der urfprünglich guten 
Richtung, gegen bloße Zeichenlehre und Ceremonienbe⸗ 
griffe Das Uebernatürliche zu vindiciren, einen Leberfprufig 
ind Unnatürliche gethan, allen Borftellungen, die aus der 
Region der Zauberei und nicht des Glaubens herſtamm⸗ 
ten, wenn fie einmal ſich aus dem hierarchifchen Treiben 
sticht mehr verdrängen ließen, mit wiffenfchaftlichen Bes 
flimmungen gefröhnt, denen fie felbft wieder die Wiſſen⸗ 
fchaftlichfeit abfprechen mußte, und der herrfchenden Kirche 
beigeftanden, die urchriftliche Symbolik theils zu berauben 
und zu entitellen, theild mit unbefugten Zu = und Auffäben 
zu beläftigen. Freilich hat fie Dieß nur unter oft wiebers 
holten Proteftationen der rechtgläubigften und achtunges 
würdigften Männer durch Die Gunft der in der Maffe ob» 
waltenden Richtung vollbracht. Die Reformation hat das 
unbeftreitbare Berdienft, die Wahrheit und Reinheit dee 
. äußern Symbols hergeftellt, den vergrabenen Schag ber 
Bedeutungen wieder zu Tage gebracht, und die nothwen⸗ 
Dige Myftif der Sacramente von der Superftition gefons 
dert zu haben. Anch dieß ift, auf bem Gebiete der Theo⸗ 


‘ 


proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 863 


Ingie, nicht ohne Zufälle, Irrungen und Hemmungen ges 
fhehen, nur daß der in allen Befenntniffen einige Protes 
ftantismus der weitern theologifchen Fortbildung, bei vors 
behaltnem Zurüdigehen auf den Kanon, feinen Riegel vors . 
fhiebt. Es gefchah zwar in dem Zeitpuncte der Reformas 
tion, aber nicht zum erften Male, daß die hypermyftifche 
ober zauberifche Borftellung den entgegengefeßten Fehler, 
die Behauptung des signum nudum oder des bloßen Bes 
Fenntnißzeichens, hervorrief, Gegen diefenige Kirche, Die 
im Dienfte der Verwandlungslehre und bed opus operatum 
die fombolifche Natur des Sacraments verlengnete uub 
zerflörte, hatte die fogenannte Keßeret allezeit recht, zus 
nächft aber nur wieder Daß Dafeyn des Symbold und die 
Bedeutung zu behaupten. Diejenige Kirche, die bes 
Sacramentes Wirkung und Wefen vom lebendigen Worte 
und Glauben, den Sohn vom Geiſte Iosgeriffen hatte, 
durfte einen Gegner nie fügen ftrafen oder des Unchriſten⸗ 
thums zeihen, der der Gemeinfchaft Des Erldfers durch Die 
Speife des Wortes als durch Die rechte Affimilation mit feis 
nem Leben theilhaft zu werden hoffte und fich des Sacra⸗ 
mentes nur noch als eines Zeichend diefer Gemeinfchaft 
oder auch dieſes Zeichens nicht mehr bediente, weil es fo 
fehr vom Wefen abgelenkt und etwa nur habe bei noch 
nicht ganz befeftigter Wirffamkeit des Wortes einem ans 
fänglichen Bebürfniffe dienen follen. Bloße Gebetschriften, 
Meflalianer und dergleichen find nicht weniger Chriſten 
als bloße Sacramentschriften; bloße Symboliker ftchen 
fidy nicht fchlechter mit der Quelle des Lebens ale bie Hies 
rurgen, die den Leib Chrifti conficiren. Diefe find am Ende 
Des verfchwindenden Chriftenthums angelangt, jene ftehen 
am Wiederanfange der Entwidlung. Doc, wie fchon ans 
gedeutet wurde, dieſe äußerfte Entgegenfeßung, die den Ka⸗ 
tholicismus und Socinismus betrifft, gehet den Gegenſatz, 
von welchem wir bier reden, nichts an. Die Zurüdführung 
des Sacraments auf das bloß gefellfchaftliche Erfennunges 


864 Nitzſch 


zeichen wird von der Reformation theils ausdrücklich, wie 
Helv. Conf. 1534 — 36. XX. a) theils dadurch verworfen, 
daß man 3. DB. nach ber in diefer Hinſicht am Außerften 
Örenzpuncte gelegnen mühlhaufer Gonfeffion die freis 
lich auch außer Dem Sacramente gegebene geiftliche Speis 
fung des Menjchen mit. Ehriftus fich im Sacramente als 
auf befondere Weife angeboten denkt. Sch berühre 
abfichtlich bier nur Belenntniffe, die Zwingli’n ganz 
nahe ftehen. Im Uebrigen das wid felbft ver Katholicismus, 
daß das Sacrament auch und zunädhft für das chriftliche 
Belenntnißzeichen gelte b). Was nun den Zwinglian 
langt, fo ift es während ber erften Berfuche des römischen 
Hofes und Johann ES, die Zlircher zu bekehren, freilic 
Sitte gewefen, ihn und feine Lehre Iutherifch zu nennen 
nnd die leßtere von Luther abzuleiten; da er ‘aber ſchon 
im Sahr 1523 durch Die Auslegung c) des 18ten Artikels 
feiner Schlußreben fo trefflich und unverbächtig mit Bors 
. führung von Zengen darauf geantwortet hat: fo ift höchſt 
feltfam, daß Hr. D. M. ohne weiters noch heute behauptet, 
Zwingli habe die von Luther und Melanchthon über das 
Sacrament gegebenen Winfe benutzt und weiter verfolgt, 
Das ift befannt, wie fehr Zwingli es beffagt, Luther bleibe 
in mehreren Stücken zuweit zurüd, Folgt etwa daraus, 
dag Zwingli von Euthern ausgegangen fey? Zwingli hat, 
ehe er von Luther wußte, dann, als er bIoß feine Ablaß- 
ſchriften gelefen, aus welchen er nichts nenes gelernt, ja 


&) Unde asserimus, sacramenta non solum tesseras quasdam so- 
cietatis christianae, sed et gratiae divinae symbola esse, qui- 
bus ministri Domino ad eum finem, qu&m ipse promittit, ofert 
et efhcit, cooperentur, sic tamen qualiter de verbi ministerio 
dictum est, ut omnis virtus salvifica soli Domino transsert- 
batur. — 


b) Catech. Rom. II. cap. 1. 7. ut scilicet notae quaedam et sym- 
bola essent, quibus fideles internoscerentur, — 


c) 3w, Werte 1. ©, 253. 





proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 865 


in demfelben Jahre, wo Luther noch die Verwandlungs⸗ 
Iehre vortrug (1519), und fortan feine ganze Lebenszeit 
hindurch das heil. Abendmahl ale „ficher Zeichen oder Sis 
gel? oder „Widergedächtnuß und Sicherung” vorgeftellt. 
Sp fehr nämlich Zwingli immer dad GSacrament in Das 
Gebiet der gebächtnigmäßigen eier und Darftellung eines 
Vergangnen ziehet, fo rettet er Doch wieder bie lebendige 
Gegenwart des ertheilenden Chriftus, indem er die Bor- 
ftelung des Sigeld und Pfandes der Erlöfung auf das 
Abendmahl anwendet. Der Sacramentsgenuß bleibt ihm 
ein Act des gläubig andächtigen Lebens, aber er wird ihm 
der höchfte Act der Andacht, die auf das Blut Ehrifti, 
auf den die Sünde verföhnenden Ehriftus gerichtet ift. 
Durch dad Gläubige in der Contemplation Chrifti ift ihm 
diefe felbft allezgeit ein folches Effen und Trinken als Joh. 
6. gefordert wird zur Geligfeit, und wefentlidy ein. ans 
deres Effen oder Trinken kann zur Seligkeit nicht gereis 
chen; wohl aber kann diefes Genießen durch dad Sacra⸗ 
ment, in welchem es nicht nur abgebildet, fondern auch 
vermöge der Einfegung aufs Neue offerirt wird, eigens 
thümlich vermittelt feyn, fo, daß der Communicant Ehrijti, 
der Durch die Speife des Wortes freilich immer communi⸗ 
eirt hat, aber daran dennoch durch abhaltende. Zufälle 
und Umſtände feines nach Außen hin gerichteten Lebens ges 
hindert worden ift, nun felbft unter Zuftimmung und Mits 
wirkung des Aeußeren in Gemäßheit der von Chriftus felbft 
verabrebeten Gelegenheit eine volle Labung des inwendi⸗ 
gen Menfchen begehen mag. Zufällige fombolifche Hand⸗ 
lungen, oder das erfte Mal begangene, oder foldhe, Die 
nur andern mehr als ſymboliſchen fich anfchließen, können 
im bloßen Abbilden, Erinnern, Darftellen, als bloßes 
verbum visibile, ihre Zwedvollfommenheit behaupten; ans 
ders ift es mit Denen, die zur Wiederholung als wefents. 
licher Theil einer Gemeinfchaft des Glaubens geftiftet. 
find. Hier will der Menſch, auch indem er zunächſt ſym⸗ 


866 Nitzſch 


boliſch handelt, doch vollſtändig handeln, d.h. Leiſt en 
oder empfangen, oder beides zugleich. So wird ihm 
das Zeichen, Das an ſich blos ideell wirkte, eine „Side 
rung, ein Sigel,” wie Zwingli fagte, es bekommt eis 
nen ideal « realen Werth, Nun war die Einleitung zur 
myftifchen Lehrart gefunden, und Calvin konnte fich aus 
fchließen, oder ſchon worher konnten die Straßburger die 
Gegenwart ded wahren Leibes und Blutes im Abendmahl 
oder den realen Genuß Chrifti hinzuthun. „Chriftus,” be 
Tennen fie, „würdigt die herzlichen und glänbigen Theil, 
nehmer noch immer, ihnen, wenn fie nad) feiner Einſetzung 
feiern, durch die Sacramente feinen wahren Leib und fein 
wahres’Blut zu Speife und Trank der Seelen wahrhaft 
zu effen und zu trinken zu geben, dadurch fie zum ewigen 
Leben genährt werben, fo daß er in ihnen lebt, fie im ihm 
leben und bleiben bis zur feligen Auferftehung.’” Cap. 
XVIH. — Alles Aeußerungen einer reinen Myſtik, in wels 
cher um dad Jahr 1536 alle Evangelifche ihre Ueberein⸗ 
flimmung fanden, gegen welche auch Zwingli ſich feines 
wegs abgefchloffen hatte, nur daß bei der von ihm auf 
Lehre, Wahrheit, Thatfache befchränkften Ausle 
gung von Leib und Blut, Fleiſch und Blut Chrifi die 
myſtiſche Vorſtellung von dem fich im Sacramente felbft- 
mittheilenden perfönlichen Erlöfer nicht zur vollen Ent 
‚widlung und Haltung gelommen war. Kein evangelifches 
Bekenntniß blieb fchlechthin und fir immer bei feiner Lehr 
art ftehen; felbft das mühlhaufen’fche und bafeler er 
gänzte ſich durch Marginalien, obwohl alle reformirte in 
feiner Richtung ‚verharrten, die den Kehren Ealoind 
nachgebildeten nicht ausgefchloffen. Darin kommt Enther 
gleich anfangs mit ihnen überein, daß er die urfprängliche 

Bedentung, eben bie ſymboliſche Natur der Sacra⸗ 

mente wieder erfennen lehrt, obgleich er von einem andern 

Puncte ausgegangen if. Hr. D. M. redet von einer ur⸗ 

fprüänglichen Anficht Euthers von den Saeramenten, die ſo 


‘ 


proteltant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 867 


antitatholifch gewefen ſey, als möglich: bloßes Unterpfandb 
der verheißnen Simdenvergebung. Nämlich der Nechtfers 
tigungsbegriff habe dergleichen mit fid gebracht, und eine 
„Furcht vor ben heiligenden Kräften des Sacraments 
erzeugt.” Der legtern Bemerkung will ich keinen Namen 
geben, die erftere ift ein gefchichtlicher Srrthum. Was bie 
Rechtfertigung anlangt, fo ift natürlich, daß die Gnade, 
die mittelö des Sacramentes wirkt, nicht nach andrer 
Heilsorbnung verführt, ald die Gnade, bie durch das 
Wort wirkt. Nun ift die Ordnung die: gratia Christi insti- 
Acando sanctificat und nicht umgekehrt. Alfo nicht vor ber 
heiligenden Kraft bes im Sacramente wirkenden Erlöfers 
fürdhteten fich die Reformatoren, fondern fie verachteten 
die gegen Glauben und Berheißung indifferente werkmä⸗ 
Bige Heiligung. Man kann zu gleicher Zeit gegen das 
Sacramentmadjen oder das MeBopfer, fo kühn und tüch⸗ 
tig als Luther es gethan, eifern und doch Die heiligende 
Kraft des Sacramentd fpüren und anpreifen. Ehe Luther 
in den häuslichen Zwift der Evangelifchen gerieth, und die 
ihm heilige Myſtik der Communion des Leibes und Blutes 
Ehrifti durch Carlſtadt und Conſorten gefährdet fah, dis⸗ 
Yutirte er begreifllicher Weife anders als nachher, näm« 
lich angfchließlich in der Richtung gegen den Aberglauben, 
der mit der Hoftie und dem Opfer getrieben wurde. Bann 
hat er denn nun diefen Antikatholicismus aufgegeben? Im 
berfelben Zeit aber oder vor dem Conflicte mit Garlftabt 
lehrte er in Bezug anf das Verhältni von Zeichen und 
Sache im Sacramente viel Fatholifcher als nachher, indem - 
er Wort und Begriff ver Berwandlung beibehielt, und 
bie Transfubftantiation entweder nur bezweifelte oder in 
irgend einem zuläffigen Sinne noch befichen ließ. Daß 
dem fo fey , hat man von jeher aus der Schrift über bie 
babplonifche Gefangenfchaft, auf die doch Hr. M. felbft 
zurücdgegangen, und freilid; nod; weiter aus den Sermo⸗ 
nen über das hochwürbige Sacrament dargethan, deren 


- 


868 Nitgſch 


einer im December 1519 alſo ein Jahr vorher erſchien. 
Die Entwicklung iſt alſo dieſe: er erkennt gleich anfangs, daß 
Das Sacrament kein Opfer, ſondern eine Empfangnahme 
des Teftaments Chrifti, eine Communicirung Chrifti 
fey, dabei lehrt er im Jahre 19 noch Verwandlung, im 
Jahre 20 gefteht er, daß unbefchadet der Gegenwart des Leis 
bes und Blutes das Brob und der Wein feine Wefenheit 
behalten könne, wie denn auch dieß zwölf Sahrhunderte 
hindurch der Sinn der Kirche gewefen, er für fein Theil 
verwerfe die entgegenftehende Lehre, ohne fie irgend einem, 
der fie bedürfe, nehmen zu wollen; nachher endlich, im 
Streite mit den Schwarmgeiftern, trägt er ganz entidjies 
den jene myftifche Vereinigung vor, bei welcher die Subs 
ftanzen unverändert bleiben. Ein Beleg ift hier zureichend, 
den ich aud dem angeführten Sermone nehme. „Leber das 
alles hat er dieſe zwoͤ Geftalten nicht bloß noch ledig ein» 
gefeßt, fondern fein wahrhaftig natürlich Fleifch in dem . 
Brod, und fein wahrhaftig natürlich Blut in dem Wein 
gegeben, daß er je ein vollfommmegs Zeichen (fein 
viaov, fein nudum) gebe. Denn zugleich als das Brod 
in feinen natürlichen wahrhaftigen Leichnam und der Wein 
in fein-wahrhaftig natürlich Blut verwandelt wird: 
alfo wahrhaftig werben auch wir in den geiftlichen Leib 
d. i. in die Gemeinfchaft Chrifti und aller Heiligen gezogen 
' und verwandelt. — Es ift nicht genug, daß du wiffe, 
ed fey eine Gemeinfchaft und gnädiger Wechfel und Vermi⸗ 
fhung unſrer Sünde und Leiden mit Chriſtus Gerechtig- 
feit und feiner Heiligen; fondern du mußt fein auch begehs 
ren und feſtiglich gläuben, Du habeft es erlangt. Hie ficht 
der Teufel und die Ratur am. meiften,. daß der Glaube 
nur nicht beftehe. Etliche üben ihre Kunft und Subtilig⸗ 
feit, trachten, wo das Brod bleibe, wenn es in Chrifli 
Fleifch verwandelt wird ıc., es ift genug, daß du wiſſeſt, 
ed ſey ein göttlich Zeichen, da Ehriftus Fleiſch und Blut 


proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 869 


wahrhaftig innen iſt; wie und wo, laß ihm befohlen ſeyn.“ a) 
Zwar leuchtet hier die nachmalige Lehre ſchon hindurch, 
aber ſie iſt noch durch eine Dogmatik und Kirchenſprache 
der Zeit gebunden, mit welcher Luther um ſo weniger vor⸗ 
eilig brechen wollte, da er wohl wußte oder fühlte, daß 
ſich in alter und mittlerer Zeit auch ein reinerer Glaube in 
den Worten Verwandlung, ueraßoAn, conversio, sancti- 
ſicatio u. f. w. ausgedrüdt hatte. Auf jeden Fall hat fich 
nun Luther nicht, wie Hr. M. fchreibt, anfänglich durch 
„leichtfinnigen Oppofitionsgeift und Mangel an erniter 
Ueberlegung” zum fchroffen Gegenfate gegen die Katho⸗ 
liken fortreißen laſſen, um ſich ihnen bei reiferer Ueberles 
gung wieder zu nähern. Hr. D. Möhler gebe doch die 
Belege dieſer Behauptung. Gerade ber Brief an die Chri⸗ 
ſten zu Straßburg v. 15. Dec. 1524, aus welchem unfre 
Symbolik ihren Argwohn fchöpft, vernichtet Die ganze 
Anklage. Luther gefleht, vor fünf Sahren fchwere Anfechs 
tungen in Anjehung der Sacramentslchre erlitten zu has 
ben; er hätte wohl gewünfcht (wünſche es noch, foweit 
er den Adam in fi fpüre), überführt zu werden, 
daß im Sacramente nur Brod und Wein ba fey, daß es 
alfo bIoß in der Bedeutung Chrifti Fleifch und Blut 
vergegenwärtige, jo würde er haben Die Abfonderung vom 
Papſtthume, die ablofute Oppofition gegen baffelbe viel 
leichter bewirken, das allfeitige Trachten nach Verſtandes⸗ 
einheit viel beſſer befriedigen können, nicht fo Vielen noch 
eines beibehaltnen Aberglaubens verbächtig werden müfe 
fen: aber der gewaltige Tert, das Wort Gottes, 
deſſen einfache Auslegung habe ihn gebunden. Beſſere Auss 
leger und Schriftgelehrte, als Earlftadt, hätten ihm ſchrift⸗ 
lich angelegen, bie reale Anficht aufzugeben; aber Garls 
ſtadts Sefchwäß beftärfe ihn nur, das noch feſter zu glau⸗ 
ben, was er ſtets geglaubt. Wenn nun nicht etwa Ges 


a) Leipg. Ausg, XVII. ©. 276, 
Theol, Stud, Jahrg, 1834. 67 


’ 


ee "© Su 


wiffenhafttgfeit ſoviel als Leichtfinn, einfache Annahme 
des göttlichen Wortes ſoviel ald Unüberlegtheit, Mäßi⸗ 
gung und Hemmung des Angriffs foviel als leidenſchaft⸗ 
liche Oppoſition If, fo zeige und doch Hr. M. auf andre 
Weiſe, wie ihn dergleichen Geſtändniß Luthere zu feinem 
Urtheile berechtige, Bielleicht ift Keichtfinn und Unbefons 
nenheit überall, wo das Papſtthum befämpft wird? Aud 
fo hat es Hr. M. offenbar nicht gemeint: So bliebe nur 
der Peichtfinn Abrig, fo ſchnell wie möglich, gleichwiel ob 
mit Waffen der Wahrheit oder Einbildung, den Gegner abs 
zuthun. Über gerade einen foldyen Sinn hat Luther laut 
feinem Geftänbniffe, mit welchem die wirkliche Gefchichte 
feiner Lehre übereinfonmt, gar nicht in ſich aufkommen 
laſſen, fe fehr auch die Lehrweifen der Feinde und Freunde 
ihn dazu reisten. Hr. D. M. wi Luthern noch nachträg⸗ 
lich belehren, daß er folgerichtiger Weife hätte mit dem 
Hapftthume auch Die Gegenwart Ehrifti im Sacramente 
beftreiten follen. „Denn unzufammenhängend ift es doch 
wohl gewiß, auf der einen Seite. eine wirkliche und darum 
wirkfame Gegenwart Chriſti in der Kirche feft zu halten, 
und auf der andern Seite zu behaupten, bDiefelbe fey von 
ihm abgefallen, oder" er habe fich von ihr zurückgezogen.“ 
Wir fragen billiger Weife, wo und wann Luther behaups 
tet-habe, der Herr habe fi von feiner Kirche zurück⸗ 
gezogen oder biefe fey von ihm abgefallen, Hr. D. M. 
wird Luthern genug Tennen, um au wiffen, daß ihm Papfts 
thum und Kirche nicht gleichgeltende Worte oder Begriffe 
feyen. Seit wann ift e8 Sitte, eittem Denker oder Eehrer 
zuzumuthen, baß er einen und Benfelben Begriff . B. 
Papſtthum — Kirche Ehrifti, Indem er ihn beftreitet, zu⸗ 
gleich zum Grunde lege? Wer das Volk Iſrael erinnert, 
daß es in babylonifcher Sefangenfchaft ſey, und es einlabet, 
mit Gottes Hülfe zurückzukehren, will bamit-nicht fagen, 
eö gebe fein Sfrael mehr und feine Theotratie. Luthers 
Bemühung, das Chriftenthum vom Papſtthume gu fondern, 





ac 


proteſtant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 871 


war niemals von ber Vorausſetzung ausgegangen, das 
Papſtthum habe zu irgend einer Zeit oder in irgenb einem 
Gebiete das Ehriftenthum abfumiren können, um fo wenis 
ger, ba er die Reactionen des göttlichen Wortes und evan⸗ 
gelifcher Gefinnung gegen die Ausartung, die er als Papſt⸗ 
thum bezeichnete, nur fortzufeßen und nicht'erft zu begin⸗ 
nen hatte, Reactionen, welche in bewußter oder unbewußs 
ter Art mitten in Der fich römifch nenttenden Kirche bie 
Wirkſamkeit römifcher Grundfäge berminderten. - Niemals 
hat die Reformation — am wenigften die fächftfche — ber 
Rimmen wollen, wieviel enangelifche Erkenntniß und Gläu⸗ 
bigfeit ‚gerade noch da. feyn müſſe, wo eine befeligende 
Gegenwart bed Erlöfers anzunehmen ſeyn ſolle, wie ſtreng 
oder milde Chriſtus die Mitſchuld des verkannten oder 
entſtellten Sacraments an den Einzelnen oder an Allen ſtrafe, 
bei wie großem Nichtwiſſen vom Urſprünglichen der Gläube 
nicht da ſeyn fönne, der das Heil der Vergebung und Bes 
tebung empfängt. Selbft den NReformirten darf Heibelb. 
Katech. Fr. 80, Gallic. Conf. 28 nicht bahin ausgelegt wer⸗ 
den. Dagegen war die Reformation auch in keinem Kalle 
verbunden,- fo zu fchließen: ecciesia Christ! est perpetuo 
mansura, alfo ift fie überall, wö fe ben Namen hat zu 
ſeyn, oder: Chriftus iſt wirffam im Sacramente zur See 
ligkeit, alfo witd er nie zugelaffen haben, daß ber große 
Theil derer, die feinen Namen trugen, auf Zuthaten und 
Ausartungen'verfielen, zu denen er ſich nimmer befeniten 
fonnte, Die ganze Schlußweife des Vfs. kommt nur wies 
der auf eine falſche Behauptung bed opns operatum hinaus. 
Auf Luthern zurüd zu kommen, fo iſt Die von ihm gegen 
Sarikadt und Zwingli behauptete Myſtik To wenig aus ei⸗ 
ner Nüdneigung zum römiſchen Begriffe zu erfüren, daß | 
es vielmehr bei genanever Unterſuchung einleuchtet, er 

babe ſchon im $. 19 nicht im vömifch = fchofafttfchen Sinne 
Die Verwandlung gelehrt. Schon damals Tchreidet 


er. Die prattiſchen Kolgerungen der Transfubſtanzirung 
57” 


s2. Nihſch 


entſchieden ab, denn er ſtraft dort die Anbeterei, die mit 
dem gegenwärtigen Leibe des Herrn getrieben werde. Nicht 
Chriſtus als ein gemacht Werk müſſe angeſehen werben, 
ſondern als ein bräuchliches; Chriſtus achte ſelbſt ſei⸗ 
nen natürlichen Leib nicht fo hoch als den geiſtlichen Kör⸗ 
per, deſſen Haupt er, deſſen Glied der. Geheiligte ſey. 
Communion Chriſti und der Heiligen ſey die Bedeutung 
bes Sacramentes, und auf dieſe müſſe der Glaube ſich 
richten, um die Sache zu erlangen. Schon im folgenden 
Jahre hat er mit Schrift und Tradition die Meinung, die 
er von Thomas herleitete, daß nach der Conſecration nur 
das Phänomen, nicht die Wirflighfeit des Brodes vorhan⸗ 
ben fey, verfaprfen. Und fowieck.er..auch nachgehends eigne 
ſcholaſtiſche Verſuche gemacht: bat, um die Möglichkeit 
Der ibentifchen Einheit des Sinnlichen und Heberfinnlichen 
im-Sacramente und das ore sumiter zu behaupten, fo hat 
er fich Doc, nie eine Scholaftif erlaubt, welche, indem fie 
die weentlichen. Ejgenfchaften des Zeichens und der Sache 
zerftört, mit der Symbolif die Myſtik felbft zerftört und 
die Superflition Dogmatifc begründet. Daß die myſtiſche 
Einheit auch ohne die Annahme der fubftantiellen Verändes 
rung beſtehe/ biefe aber mit Schrift und Vernunft nicht 
beftehe, hatten, feitbem Durch Radbert, oder durch Lan⸗ 
frank die zaubernde Volksvorſtellung Dogmatifirt wors 
den war, viele der rechtgläubigften und einſichtsvollſten 
Männer dargethan. Nicht auf Peter d'dlilly allein, auf 
Johaun von Paris, auf Eufebius Bruno, auf Berengar 
von Tours, auf Batramnus,. auf Auguflinus und Ambros 
flus konnte Luther zurückgehen, um in dieſer Beziehung bie 
Spur eines befonnenem Widerfinndes gegen farramentlis 
chen Aberglauben, oderrgegen erflärungsfüchtige Entftel- 
lung des Geheimniſſes in der Kirchengefchichte unyerloren 
zu ſinden. Das liegt aber auf der Hand, daß Die Urſache 
der Entfernung Ealving, von der luther'ſchen Beſtimmung 
sicht mit Hru. D. M. in der abfoluten Präbekination ges 











& Mm... nm mn —— ——— — 


proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 873 


fucht werden darf. Diefe Sorge, ein Nichterwählter,: alſo 
auch Unglänbiger, möchte nach Iuther’fcher Beftimmung dem: 
Leib des Herrn empfangen, alfo etwas empfängen, was 
ihn zu einem Ermwählten machen würde, ift fo ganz unge⸗ 
gründet, daß wohl ein viel geringerer Kopf als Calvin fie, 
wenn fte ja hätte entfiehen können, leicht zu befeitigen im 
Stande gewefen wäre. Eben der empfangene Leib des 
Herrn gereicht dem ungläubigen Sommunicanten (nad 
Luther fo fehr, wie laut dem ungetheilten proteftantifchen 
Befenntniffe) zum Gericht. Und es mußte demnach die 
Lehrer des abfoluten Rathſchluſſes eine Borftelung vom 
Sacramentögenuffe vielmehr anziehen als abftoßen, welche 
fie in Stand feßte, die göttliche firafrechtliche Fruftration 
des menfchlichen Willens und Verlangens an demEmpfänger 
von etwas Wirklichem noch mehr ale am Empfänger eines 
bloßen Nichts ind Licht zu ſetzen. Calvin mußte in der Rich⸗ 
tung vorfchreiten, und die Richtung ergänzen, welche 
Zwingli und Decolampadius eingefchlagen. Schon Zwingli' 
macht Die Bemerfung, daß der leibliche Leib des Herrn im 
Himmel bleibe. Calvin aber hebt den Unterſchied Des Leibes 
Chriſti als eines leiblichen und geiftlichen wieder auf; was 
. die Seele des Eommunicanten empfängt, iſt nicht Die Lehre 
allein, noch die Wahrheit, es ift der wefentliche Ehriftus. 
Snfofern fügt er den Negativen Zwingli’d eine myftifche 
Poſition hinzu, die diefer nicht hat. Calvin aber dringt 
felbft im myſtiſchen Gebiete wieder (das ift feine Eigen⸗ 
thümlichkeit, Die auch bei der Bildung der Prädeſtinations⸗ 
Iehre vorgewaltet hat) auf die vollkommenſte Befriedigung 
des Verſtandes, die durch fefigehaltenen Lnterfchied des 
Zufammenfeyenden im Sacramente bewirkt wird, Die 
Speifung der gläubigen Seele mit Ehrifti Leib Durch den 
heiligen Geift fällt verheißungs » und fliftungsmäßig in ber 
Handlung des Sacramentes mit dem, was fombolifch ges 
fchieht, zufammen, Dieß iſt Das Linterfcheibende des res 
formirten Lehrbegriffs. Luther, auch hier Dem Unbegreiflichen 


87% a Fi Nitzſch 


mehr Raum laſſend, ſagt: es iſt eins. Wenn er nun den⸗ 
noch Die Speiſe Chriſti, bie mit dem Munde genoſſen wird, 
nur dem geiftlichen Leben zu Gute kommen läßt oder nur 
vermoͤge ber. geiftlichen Nahrung dem ganzen Dienfchen in 
Gemaͤßheit dei Glaubens, fo hebt er den Werth der münd⸗ 
lichen Genießung gewiſſermaßen mieder auf, und wenu 
er. die facramentliche Union nicht ald Conſubſtanzirung, 
nicht als Impanation, nicht ale phyſiſche Miſchung gelten 
laſſen will, uud die Formel vor in zu sub und cum hinü⸗ 
berſchwankt, fo ift eben nichts ale Negation gewonnen, 
und das Behanptete ift eben das Unbegreifliche geblieben. 


Demnach befteht eine mächtige Einheit Des öffentlichen pro⸗ 


teftantifchen Lehrbegriffe vom Sacramente, Die Einheit eis 
ner reinen dem ausleerenden Zeichenglauben und verwans 
Delnden Aberglauben entgegengefebten Myſtik; nur bag in 
Luthers Lehre bie Abwehr der abfiracten Symbolik, in der 
calvinifchen Die Abhaltung der Superftition das verwies 
gende iſt; weshalb Diejenigen, welche bei ſchwachem Auge 
und ängſtlichem Gemüthe eine Doch vorlaute Zunge haben, 
nach wte vor glauben, den Galvin auf Zwingli, Den Luther 
auf den Katholicismug zurüdführen zu müflen. Die trand« 
foendirenden Beſtimmungen, die beiderſeits hinzugethan 
wurden, Beſtimmungen über dad Verhältniß des ehemali⸗ 
gen Leibes Chriſti zum jetzigen, über das Verhältniß des 
leßtern zum Raume, des Geiſtes zum Leibe, find nicht von 
Der Art, daß fie der Wiflenfchaft noch Stand hielten oder 
ihren Schriftgrund behaupten könnten. Sie geben aud 
Das Bekenntniß nichts am, nicht einmal das Bekenntniß in 
feiner Differenz. Wir glauben die Verklärung bed leibhafs 
tigen Chriſtus; der verflärte Leib Chriſti ift und die Bors 
ftellung, Durch welche fich ung das Seyn und Leben bed 
Erlöfers und Die Wahrheit feiner Selbitmittheilung ver⸗ 
wittelt. So lange aber die Keuntniß von andern Quali⸗ 
täten bes glorificirten Leibes ung fehlt, kann weber bie bes 
hauptete nothwendige Beſchränktheit noch Die Allenthalben⸗ 





proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 875 


heit deſſelben ein volles religiöfes Sntereffe gewähren, wes 
der die Erhebung der Seele, noch das Herabkommen 
Ehriſti. Ganz unabhängig von dieſen Theorieen kann ich 
aus überwiegendem Berfiandeds oder Gefühlsintereſſe Kies 
ber Calviniſt oder lieber Eutheraner feyn, nnd habe doch 
in beiden Källen einen myflifchen Chrifius und einen Bes 
griff, der den Chriſtus des Wortes und Geifted von gemach⸗ 
ten und materiellen fonbert. In Dem Bewußtſeyn vom Un⸗ 
terfchiede der Hanptfache und Nebenſache vermittelte bie 
Reformation mihrer fchönften Zeit die da gewefenen Spals 
tungen; aus biefem Bewußtſeyn ging fehon der Artikel 
der angeburgifchen Eonfefflon, Die Iutherische Anerkennung 
des vierftäbtifchen Befenntniffes, die wittenberger Eoncors 
die und aus der dieſes Bewußtſeyn begleitenden Zucht, 
den Reformirten einen Schein von Lehre der Transfubs 
ktantiation gegeben zu haben, die neue Faſſung des augs⸗ 
burgifchen Artilele hervor. Der Hr. D. Möhler mag 
immerhin den Melanchthon der Heuchelei befchuldigen; 
möchten nur manche neue Eutheraner Den eigentlichen we⸗ 
fentlichen Zwieſpalt der reformirten und Intherifchen Sacras 
mentslehre ins Auge faffen, wie er auch ohne die nach⸗ 
hülflichen Theorieen befteht, fo würden fie Die viel wich, 
tigere Einheit derfelben inne werben. 

In folgenden Süßen der Thorner Erklärung find 
alle Proteftanten einig: 

1. Secramenia sunt externa et in oculos —— 
sigua, sigilla et testimonia voluntatis divinae, per verhum 
elemento additum a Deo ipso instituta, ad invisibilem gra- 
tiam „ quae verbo. foederis promittitur, obsignandam et. me- 
diantibus ilis signis exhibendam. — 2. Patet, nos nequaquam 
signe müde, imais et inefficacis, aut tantum notas exterhae 
professionis siatuere, cum praeter mysticam ex instituto 
Dei sigaificationem, certam etiam divinsrum promissiomum 
obsignationem, simulgue veram et infallibilem reram pro- 


876 Mitzſch 


missarum, modo ipsis convenienti et proprio, exhibitionem, 
fide viva scoeptandam sacramentis tribuamus. 

Hr. D. M. unterfucht Die Gründe, die die Proteftans 
ten bewogen haben, die Siebenzahl der Sacramente zu vers 
werfen. Er findet nur ben einen: das Sacrament war 
ihnen nichts als Befeſtigung des Glaubens an Sündenver; 
gebung, demzufolge Tonnten fie e8 an der &he, am ordo etc. 
nicht finden. Und diefer Umſtand genügte ihnen, in Wider, 
ſpruch mit Schriftlehre und wohlbegründeter Tradition zu 
treten. Wer einen Blick in die Urkunden der Reformation 
getharf, wird ohne unfer Erinnern einjehen, daß die pros 
teftantifche Berwerfung von fünf Sacramenten auf biefe 
Weiſe noch mit feinem Worte erflärt wird, May leſe Apol. 
VI. de numero sacramentorum, Helv. conf. mai. X. 
Zwingli's Auslegung feiner Schlußreden 3. 3. Art. XVIIL 
Luther v. d. babyl. Gefangenfchaft u. f. w. Haben die Res 
formatoren nicht gefragt, welche von dieſen Handlungen 
iſt eine mit Gottes Wort und Mandat verbundene Einfezs 
zung, welche nicht, welche gehört zum pofitiven cultus 
Dei, welche ift ein göttlich eingefeßtes Mittel und Siegel 
der erlöfenden Gnade? Was kann, was fol mit dem Ra 
men Sacrament, wenn es fo oder fo verftanden wird, 
bezeichnet werben? Haben fie, je nachdem der Begriff mos 
dificirt würde, nicht auch der Buße, nicht auch Dem ordo 
zugeftanden, daß fie Sacramente ſeyen? Haben fie mit 
Ausnahme der legten Delung nicht in allen irgend etwas 
Chriftliches, Bräuchliches, Heiliges’anerfannt? Haben fie 
nicht gezeigt, daß beifortdauernder Unbeftimmtheit oder Ins 
beftimmbarfeit des Begriffes nichtabzufehen fey, warum nicht 
neben der Ehe der Magiftrat, neben der Buße das Gebet, 
das Almofen ein Sacrament abgeben könne? Die Scholas 
ftifer haben fich gemartert, um für die Siebenzahl einen 
allgemeinen Begriff zu finden. Schon die Wiffenfchaft ik 
ben Reformatoren zu Dank verpflichtet, daß fie Die Arten 
ber heiligen Handlungen gefondert und fo die volle eins 








+ 


proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 877 


fache Anwendung des Begriffe vom Sacramente gerettet 
haben. Und das Recht war dabei in höherm Grade für 
fie, als es ihnen noch nach dem Standpuncte damaliger 
biftorifcher Kenntniffe bewußt werden konnte: Zwingli hat 
die urfprünglichen lateinifchen Bedeutungen. von Sacra- 
mentum nur unvolllommen entwicdelt; aber deſto richtiger 
dargethan, die recipirte kirchliche Definition reime ſich nicht 
mit der Natur der einzelnen fieben Sacramente a). Derjes 
nige wird zu Trient verdammt, der ben Vorzug des einen 
vor dem andern leugnen würde, denn, :wie es der römi⸗ 
fche Katechismus weiter auslegt, dreifind, jedes wieder auf 
verfchiedene Weife, vor den übrigen nothwendig, Taufe, 
Prieftermeihe und Mefle, das erite ift fchlechthin nothwens 
Dig, das zweite in Anfehung der ganzen Kirche auch, Die 
Meſſe aber übertrifft fammtliche Sacramente an Würde, 
an Größe. Zwei von biefen, Taufe und Prieſterweihr, 
nebft .einem dritten, nämlich der Firmung, drüden der 
Seele ein bleibendes geiftliches Gepräge ein, wie can.:9 
behauptet, fie können eben Daher nicht wieberholt werben. 
Die wiederholbaren fcheinen alfo weder ein bleibenbes, 
noch ein vergehended, noch ein zunehmenbes Gepräge zu 
geben, worüber fchon Thomas Aqu. IH. 63. 6. Auskunft ges 
geben hat. So fehr nun die Meffe über den Werth und 
Die Würde Der Sacramente hinausreicht, und fo wenig 
Buße, Ehe und Delung den vier übrigen an Nothwendig⸗ 
feit oder Wirkung gleichfommen: fo hat doch Diefe Ungleich⸗ 
heit auf die allgemeine Beitimmung, was Sacrament fey, 
und daß ed fieben gebe, nicht ben minbeften Einfluß erlangt: 
Man führt nicht einmal die species der Gattung fort, wie 
fie z. B. Hugo angegeben, fie find alle nad) can. 1. vere 
et proprie Sacramente, und wer irgend eines ausſchließt — 
nicht nur manche Lehrer des Mittelalters noch nadı. Dem 
Lombardus, fondern auch die. älteren Väter find in dieſem 


2) Werte 1.28 f. 


STB... Nil 


Falle +- wird anathematifirt. Man ift deſto begieriger den 
generifchen Begriff kennen zu lernen. Das Decret der Sys 
ande und Die canones geben drei Beflimmungen, Die auf 
jedes Sacrament paflen müflen: 1) per quae omnis vers 
isstitia vel incipit, vel coopta augetur, vel amissa reparatar; 
2) slesu Christo domino nostre institute esse; 3) ad salutem 
necessaria, non superflua esse, sine fis aut eorum vote ho 
minem gratiam iustificantem non sdipisci posse. Was die 
erfte Beſimmung anlangt, fo tritt zwar mit Derfelben 
für den Proteflanten wieder die Borfrage ein, wie fich bie 
gerechtmachende Kraft des Sacramente zum Worte der 
Berheißung unb zum Glauben verhalte: allein davon ab» 
gefehn leuchtet jedem ein, Daß zwar Taufe und Herras 
mahl, allenfalls mit Firmung, Buße und Delung daruns 
ter begriffen werben können, nur nicht Ordination und 
Ehe, denn die Ordination wirft dem Spfteme zufolge den 
unvertilglichen Charalter, Der zur gefegmäßigen Berwals 
tung ber Sacramente gehört, und die Dazu erforderliche 
Gnade. Diefe Gnade (gratis data, nicht gratum faciens) 
ift fo wenig Gerechtigkeit vor Gott ober irgend etwas Sitt- 
liches, daß der unfittliche und verworfene Prieſter fie den⸗ 
noch inne hat, da fie vor ganz andern Sünden bewahrt, 
oder ganz andere Tugenden wirkt, als diejenigen find, 
Die bei Der rechtfertigenden Gnade in Betracht fommen. 
Folglich iſt die Orbimation, mit welcher Die Gerechtigkeit 
nicht anfängt, nicht verwahrt, nicht hergeſtellt wird, nach 
der erſten Beilimmung, die doch alle Sacramıente angehet, 
fein Sacrament. ich überlafle es jedem, zu urtheilen, ob 
ed mit der Ehe eine andre Bewandniß habe. Denn da die 
Sacrämentlichleit der Ehe in ihrer Unauflsösbarkeit, folg⸗ 
lich für unheilige Eheleute nicht minder wie für heilige be» 
fieht, fo flieht man, baß fie zwar, zumal vermoͤge ihrer 
Ab⸗ und Vorbildlichkeit in Bezug auf Chriftus und bie Ges 
meine, nicht nur die allgemeine, fondern auch eine fpezielle 
Gerechtigkeit erfordert, nur nicht, baß fie dieſe Gerech⸗ 














proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 879 


tigkeit ertheilt. Die Synode lehrt freilich, zum natürli⸗ 
chen Segen dieſes Standes komme durch Chriſti Verdienſt 
die Gnade hinzu, vermöge welcher die natürliche Zunei⸗ 
gung der Gatten erhöhet und jeder Gatte als ſolcher gehei⸗ 
ligt werbe. Allzin es ift offenbar, Diefe Gnade zur Che, 
oder dieß, daß ihnen die Ehe felbfl zur. Heiligung gereicht, 
erlangen fie nicht Durch das Sacrament der Che, fondern 
anderswo her, denn das Sarrament beſteht und wirfet 
ganz unabhängig vom ihrer wirklichen Heiligung. Die 
zweite allgemeine Beflimmung ift diefe: Ehriſtus hat 
alle fieben Sacramente geftifte. Das ift von jeher Die 
ſchwache und faule Seite des Katholicismus gewefen, daß 
er es nicht genug wagte, er felber zu feyn, d. h. Daß er aus 
Ratt zu fagen, was fich nad) und nach aus dem Principe 
des apoRolifchen Chriſtenthums uud durch Anwendung deſ⸗ 
felben. auf Zeitumſtände ber Kirche eutwidelt hat, das iſt 
dem Geifte nach, wenn ſchon nicht dem Buchflaben nach, 
apofolifch, Chrifti und Gottes Einſetzung, lieber zu unna« 
türlicher Schriftauslegung, au geheimer Leberlieferung, 
zu falfarifcher Literatur feine Zuflucht nahm, um nur bie 
unmittelbare buchſtaͤbliche Abkunft einer Lehre oder Stif« 
tung von Chriftus irgendwie glaublich zu machen. Wo 
und woran erfennen wir denk, daß Ehriftus eine Hands 
lung zum Heilsmittel eingefegt? Geſetzt, wir follen es ben 
Bätern von Trient nicht ohne weiteres glauben, wann, 
wie, wo hat denn Chriktus die lebte Delung, dad Chris⸗ 
ma, Die Ehre überhaupt gefliftet, oder wo in Materie und 
Form ald Mittel der Gerechtigkeit eingeſetzt? Wenn etwa 
nirgends, find bie apoftolifchen Einrichtungen. in jebem 
Halle Einrichtungen Ehrifli, gefeßt auch, daß fie fi von 
been bed Herrn abfichtlich unterfcheiden? Sind die bifchöfs 
lichen apoſtoliſch? Daß die Dritte allgemeine Beilimmung 
etwas erfchleicht, was nach der Iogifchen Folge ſich nicht 
ergeben will, ift deutlich. Die ältere Scholaſtik gab zu, 
einige Sarramente ſeyen nüblich zur Heiligung, anbere 


880 -- Ri 


zum Helle nothwendig. Die Synode fagt, was nicht über; 
flüffig iſt, iſt nothwendig. Doch vieleitht gewährt ums der 
römifche Katechismus den generifchen Begriff der fieben Sa⸗ 
eramente, Sacramentum est signum reisaerae, beflimmter, 
invisibilis gratise signum visibile ad nostram iustificationem 
institutum (a Deo per Christum), noch beftinmter, res sen- 
sibus subiecta, quae ex Dei institutione santtitatis tum si- 
gnificandae tum efficiendae vim habet. Verfteht fich, daß in 
einem Sacramente mehrere Zeichen und mehrere Sachen 
vereinigt ſeyn können. Die Zeichen aber find göttlich bes 
flimmte, und die Sachen find jedenfalls drei, Die rechtfer- 
tigende Gnade ift Das gegenwärtige, Die Urfache derfelben, 
das verdienftliche Leiden Chrifli ift Das vergangene, ewiges 
Reben und Seligfeit das zufünftige. Was nun das Sym⸗ 

bol, res significans, betrifft, fo läßt es fich bei der Buße 
und Ehe auf keine Weife auffinden: denn der Katechismus 
gefteht felbft 11. 5. 13. das Sacrament der Buße habe eine 
ganz-andre Art der überall geforderten materies et forma, 
als dieübrigen, nämlich bie gebeichteten Sünden ald Brenns 
materialien bes fie vertilgenden Bußfeuers, und die bedeuts 
fame Form fey ego te absolvo etc. Bon ber Handanfle 
gung nämlich ift bier nicht Die Rede. Wo ift aber nun, 
went diefe (die freilich als mitgeftiftet von Chriſto gar 
nicht nachzumweifen wäre) nicht das Symbol abgibt, der 
fombolifche Charakter des Sacraments? Die Brennmates 
rialien können ihn ja doch nicht ausmachen. Der. Berftand 
fteht Hier ftil, aber Die Behauptung nicht, daß Verſtand 
da fey. Sit die Ehe ein Symbol oder hat fie es mit an 
ſich, fo ift es wenigftens Fein pofitived, fondern ein natürs 
liches, und wenn ein pofitives in der -Natürlichleit, doch 
fein von Chriſto eingefebtes, vielmeniger eines, welches 
causa von Gerechtigkeit genannt werben könnte. er «8 
Yerwalte, wie ed gefpendet werde, kann ohnehin nicht ges 
fagt werden. Die Firmung hat ein. Symbol an der Hands 
auflegung, aber vielmehr an dem Salböt und ber Sab 





proteftant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 884 


bung; gerabe das Ießtere fehlt ihr in denjenigen Acten ber 
Apoſtel oder der apoftolifchen Kirche, durch weiche fie eine 
urchiſtliche Einſetzung zu ſeyn fcheinen. Fönnte,. denn es iſt 
ihr aus dem Juden⸗ und Heidenthume zugekommen; das 
erſtere aber iſt ihr nicht eigenthümlich, denn es kommt als 
Symbol der Tradition des Geiſtes und an bei vielen 
andern Gelegenheiten vor.- 

‚Sollte die Ordination ein allgemeines gültiges signnmn 


: „ Haben, fo mußte es Doc; wieder die Handanflegung ſeyn. 


Chriſtus und die Apoftel haben ſich deffelben bedient. Wo 
aber haben fie es eingeſetzt? Der wo das Anblafen? 
Auch Die legte Delung bat ein. signum, aber wer hat es 
zum facramentlichen gemacht? Ghriftus nicht, nicht ‚eins 
mal Sacobus, denn wad das Salben nit Del than und 
wirken folle, hat er nicht gefagt, wohl.aber, Daß das. Ger 
hetdes Glgubens dem Kranken helfe. Alfo durfte ſchon 
Zwingli fagen, ihr machet jegliches zum Sacramens, wie⸗ 
wol im üwer Definiz nit gimmt.” Kurz, die allgemeinen 
Merkmale, die der Katechismus angibt, eignen fich meh⸗ 
rentheild nur für Taufe und Abendmahl, dann etwa 
noch für die Firmung und Delung, den übrigen werden 
fie nur eben zugedacht und aufgeswungen. Da dieſes 
ſchon den Scholaftifern nicht entgehen Fonnte, fo ſuchten 
fie der Siebenzahl ale Zahl ein befonderes Gewicht zu ge⸗ 
ben; Die Sarramente feyen Heilmittel gegen fieben Gänr 
den, Mittel zu fieben Tugenden, Quellen von fieben Geis 
fteögaben. Es gereicht. den Bekenntniſſen ber Contrarefor⸗ 
motion zur Ehre, diefe Vertheidigungsmittel aufgegeben 
zu haben. - Deſto mehr wird der Parallelismus des geiſt⸗ 
lichen und natürlicyen Menfchenlebens: in Betracht gezo⸗ 
gen : Der Menfch an ſich felbft muß geboren werben, um 
da zu feyn — Taufe; er muß. zunchmen und: ſtark wer, 
den, uni-zu kämpfen und zu. wirten — Firmung; er bes 
barf Nahrung — Abendmahl; Krankheiten wollen :geheilt 
ſeyn Z Buße; ſchwache Reconvalescenz erfordert Stär⸗ 


82 wibſch 


Mungsmittel — Delung. Der Menſch, als Mitglied der 
Bemeinfchaft gedacht, regiert und wird regiert — Ordi⸗ 
nation; Die Erhaltung des Gefchlechts zur Erhaltung von 
Staat and Kirche — Ehe. So fhön auch Thomas und 
nun Hr. D. M. diefes Alles ausführen, fo bleibt doch für 
die Eongruenz der verglichenen Glieder noch viel zu wun⸗ 
fhen übrig. Denn wer das Parallel nur einigermaßen 
verfolgt, nimmt fogleich wahr, daß ja Die Ordination nicht 
etwa eine Sanctification bed Magiftrats im Staate ifl, 
fondern mit diefer Sanctification nur verglichen wird; bie 
Ehe Dagegen wird mit der Ehe nicht verglichen, ſondern 
iſt eben’ ihre eigne Sanctification. Der Staat geht leer 
and. Dazu mußte ‚bie Delung ald das Sacrament-der 
Sterbenden dargeftellt werden, wenn das Ganze beftehen 
ſollte. Se größer aber der Unterfchted zwifchen Firmung 
und Abendmahl ift, deſto geringer der parallelifche von 
Stärkung und Nahrung. Es ift Wahrheit in Diefer Bers 
gleichung, aber zugleich fo viel Unwahrheit, als hinreicht, 
um die anderweit fchon unmögliche Coordination der fies 
ben Dinge nur noch unmöglicher zu machen. 

Wahr ift, daß bei einem ber Zeit irgendwie unterwor⸗ 
fenen Leben dem Hauptmomente „Geburt” nöch ein andes 
res entgegengefett werden kann. Kann dieſes, wie bei 
dem geiftlichen, nicht fchlechthin die Vollendung, foll es 
nicht der. Tod ſeyn, fo kann es eben nur die Erhaltung 
und Bewahrung feiner fortfchreitenden Entwicklung feyn. 
Stärkung and Nahrung find nidft fo getrennt, daß fie bes 
ſondere Der Geburt gleichftehende Momente conflitwirten. 
Die Erhaltung aber involvirt fchon bie Heilung; denn fo 
wie ein fterbliches und dem Tode unferworfenes Leben ims 
Mer nur relativ gefund it, fo ift auch die Erhaltung und 
Pflege deffelben immer relative Heilung. Das Sucrament 
der Lebenserhaltung hat allein mit dem ber Gebinet wöllige 
Gleichwürdigkeit, und in feiner Wiederholbarkeit iſt es um fo 
zureichender, weil es Die Buße in ſich ſchließt, bie Confir⸗ 








proteſtant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 883 


mation aber als die vollendete Taufe vorausfehh Deun 
fowie ed nicht zum Weſen ber Taufe gehört, daß ſie neu⸗ 
gebornen Kindern ertheilt werde, fo gehört auch die Con⸗ 
firmation gar nicht zum Weſen bed Sacramentee.: Viel⸗ 
mehr reicht die Folge: Taufe und Abendmahl — au 
dazu hin, daß bad Verhältaiß von Begründung und Vol⸗ 
lendımg (rilusog avıg),.fomeit es überhaupt hier gültig 
ift, zur Anerkennung und Bollziehung fommıe, Erſt ſofern 
die Kindertaufe oder fon eine in fubjectiger Beziehung 
unvolllommene Tanfe geübt wird, tritt. eine varher nicht 
vorhandene Nückficht auf den Unterſchied des Alters ober 
eine fonft nicht vorhandene Bebingutig der erften Commu⸗ 
nion durch Gonfirmation ein. Und genau dieſem Verhält⸗ 
niffe entfpricht die proteftantifche Anordnung der Confir⸗ 
mation, als einer Erneuerung des Taufgelübbes, einer 
Anerkennung des individuellen Taufbundes, weiche eine 
Handlung des Belenntniffes, des Gebetes nud der Beue⸗ 
diction iſt, ohne ein neues Sacrament zu tonfituirem 
Ohne Das den Apoſteln ganz fremde Chrisma — oder meint 
etwa Sohannes 1, 2, 27 eine Salbung mit Del? — und 
‚ohne Die den andern Culten abgebörgte Grabation bed 
Priefterftandes würde die Firmung: nie zum Saeranıente ges 
worden ſeyn. Die Proteflanten haben fie befonders in Dies 
ber Beziehung Inventum humamım genannt, und fie den⸗ 
noch nes und wahr aus den Berhältnifien des ſaerument⸗ 
lichen Lebens zu.ben Alteröftafen als heilige Handlung her⸗ 
vorgehen laffen. Ebeufo fondern fie mit Gebet mb. Hands 
auflegung Diejenigen.nach apoſtoliſchem Gebrauche non ver 
Gemeinde aus, an denen fie die Gabe des Zeugniſſes und 
ber Leitung erfannt und Denen fie Das bifchöfliche Amt an» 
vertraut haben. Sie üben und flärfen zwar dadurch ihrem 
Glauben an die Begabungen und Berufungen bed Herrn: 
allein fowie die befondere Geiſtesgabe nur eine Gabe vom 
Heren iſt an bem, ber auch die allgemeine inne hat, und 
ſowie die Gemeinde bed Herrn fchon unter den Setauften 


"77° 


nub Communicirenden eriftirt, während Die Functionen 
der Lehre der Weiffagung, des Gebetes, der Leitung und 
Regierung noch Feine perfünliche Stätigfeit Durch ausbrüds 
liche Voeatio erlangt haben : fo kaun auch dieſe, wenn fie ein- 
tritt und durch Die Handanflegung vollzogen wird, ex opere 
operato feine andere als gefellfchaftliche Folgen nach fid 
ziehen oder nur dem fittlichen.Gefebe des bonus ordo und 
der. Bexpflichtung angehören.und im übrigen den Werth 
haben, ben heilige Handlungen, Einfegnungen, Gebete 
behaupten. Sollte Die empirifche Handanflegung eine geills 
lich erhibitive Kraft befigen; fo.müßte fie allgemein gültig 
eingefest und als folche mit VBerheißungen verfehen feyn. 
Sollte fie einen innern geiftlichen Charakter gewähren, fo 
ließe fich Diefer nom Stande der Heiligung nicht trennen, 
wie es doch geichieht, oder. müßte mit Diefem zugleid) ver⸗ 
fchwinden: oder gegeben werden. Sollte fie unter Voraus⸗ 
ſetzung des chriftlichen innern Charakters ein donum extra- 
orslinarium pon irgend einer Art erwirfen, ober zu deren 
energifcher Entwidlung erforderlich fepn, fo müßte bie 
Gefchichte der Apoftel ganz anders lauten, als fie lautet, 
und bie tägliche Erfahrung zugleich. etwas ganz ‚anderes 
begeigen, Liegt ed an. inneren Befchaffenheiten der Perfon, 
welche das Sacrament Tpendet, daß fie es Fräftig jpende, 
fo muß durchaus der.gläubige, geheiligte Laie .ein befferer 
und .gültigerer Sacramentöfpender ſeyn ald Der. unheilige 
Prieſter. Katholifche Dogmatifer nennen den ordo das 
Sucrament des heiligenden Lebens; aber wenn es bem 
unheiligen, ärgerlichen Priefter eitten unvertilgbaren Chas 
ralter gegeben hat, fo muß es entweder gar nicht oder 
anders zu begreifen feyn. Dem Kranken und Sterbenden. 
hefondere Handlungen des Gebetes und Segens-widmen, 
ihm :auf befondere Weife Den Genuß bes Sacraments vers 
mitteln. und. Das Bewußtſeyn feines Zufammenhanges mit 
ber. Kirche Haupt. und Gliedern ftärfen, ift.apoftolifch, chriſt⸗ 
lich, allgemein Firchlich, aber daß er: im Frieden Gottes bes 


’ 


proteftant. Beantiwort. d. Symbolik v. Moͤhler. 885 


ſteht, Vergebung erlangt, in dem Herrn ſtirbt, nimmt er, 
ſofern er es aus dem Sacramente nimmt, nicht von dem 
Dele, weldjes Feine beftimmte Bedeutung, vielweniger 
eine Verheißung des Herrn an ſich hat, ſondern von dem⸗ 
ſelben Sacramente des Leibes und Blutes Chriſti, welches 
alle feine wahren und letzten Bedürfniſſe befriedigt. 

Herr D. M. erklärt, bei aufgehobener Siebenzahl auch 
Die proteftantifche Zweizahl nicht begreifen zu Lönnen, Denn, 
fey nur von Berbürgung der Siindenvergebung die Rede, 
fo fehle der charafterifche Unterfdjied von Taufe und Nadıts 
mahl, Daraus würde aber folgen, daß auch die Siebens 
zahl unbegreiflich bleibe, weil der Fatholifchen Annahme: 
zufolge jedes der fieben Sacramente iustitiam et sanctita- 
tem vermittele, jedes auf das Verdienft des Erloöſers zus 
rüd, jedes auf die ewige Geligfeit hinweife. Hr. D. M. 
führt felbft den größern Katechismus Lutherd als Beweis 
an, wie hoch dieſer nach der Zeit Die Sacramente gefchäßt; 
follte Hr. D. M. dort nicht auch gefunden haben, ‚wie. Far 
und beftimmt ſich die Neformatoren das Bedürfniß des 
wiederholbaren Sacramentes nach dem, &enuffe des uns‘ 
wieberholbaren gedacht 3). “Der Proteſtantismus fragt 
gewiffenhaft unterfcheidend, wenn von Gnadenmitteln die 
Rede iſt, wo ift Einfeßung, Verabredung, Berheißung 
des Herrn, worauf kann ſich das Heilsbedürfniß gläubiger 
Hörer, Thäter und Dulder mit Zuverficht werfen ? Ge⸗ 
wohnheiten und deren finnreiche Ansbeutungen erſetzen 
ihm nicht das Siegel, das Chriftus gegeben. Hr. D. WM. 
fagt ihm freilich nach „er verzweifle an der Möglichkeit, 
das Srdifche vom Himmlifchen ganz durchdringen zu lafs 
fen.” Oben hieß es fogar, die Reformatoren fürchtetes 
ſich vor den heiligenden Kräften. Sch lobe mir den Chris 
ften, der an dem Himmlifchen hangend an der -völligen 
Durchdringung des Srdifchen vom — — | 


.) Catech. mai. ed. Reohenh. p. 556, - Er 
Theol. Stud. Jahrg. 1834. 58 


886 Kine 


vor dem andern, der am biefe Durchdringung leichtfertig 
glerubt, aber ich begreife noch nicht, wie zu der Durchs 
dringung, von ber die Rebe ift, gerade ein Bielerlet 
von facramentlichen Handlungen mehr gereichen fol, als 
der vereinte, fleißige, recht empfängliche Gebrauch der 
nach proteftautifchem Glauben von Gott verorbneten Gua⸗ 
beumittel. Der Grunbfag, Biel hilft viel, ift bedenklich 
gennug. Genau die Sache angefehen, fo leuchtet wieder 
nicht ein; welche Grenze denn ber Proteſtantismus der 
heiligenden Kraft der Gnadenmittel verzweiflungsvoll ges 
fest habe. Hat er Doch Fein natürliches Berhältuig von der 
Heiligung bispenfirt, fondern vielmehr in feinem Proteſt 
gegen eine Heiligkeit and Vollkommenheit, Die nur fiber 
und außer dem häuslichen und bürgerlichen Leben zu 
fucheft fey, die ganze chriftliche Vollkommenheit, die Liebe 
in ihrer veinften Art und höchſten Steigerung für Ehe, 
Haid, Staat, Werk⸗ und Gefchäftsleben in Anſpruch ges 
nommen. ©, Oonf Aug. 16, 20. Abus. 2, 6 — Kaͤme es 
anf viele Sarramente an, fo Dürfte das Mittelalter feis 
ner Beruf mit Feſtſeczung ber fieben noch fehr unzureichend 
erfüllt haben, Bekanntlich findet man, baß zu einer ges 
wiſſen Zeit, da jebe dem Chriftenthume eigenthümliche 
Hebung, Sitte, Lehre, Sache ein Sacrament hieß, auch 
die Heilige Schrift diefen Namen führte. Wie erfprießlich 
. für das Bedürfniß der Heiligung des natürlichen Gebans 
kenlebens müßte eb werben, wenn das Lefen und Ausle⸗ 
gen der Schrift facramentlich wäre! Daß die Fathokifihe 
Theologie ihre Bründe hat, bis dahin die Zahl dee Sa⸗ 
eranvente nicht zu vermehren, ift befannt. Aber das Gebet, 
ver Morgen. und Abendfegen, bad Almoſen? Denn ale 
bloße Satisfactionen fallen biefe Dinge, und Könnten als 
Sacramente wieder Tich heben. Für unfere Zeit Fönnte ed 
förderlich werden, wenn einmal die Bielbeit ber Sacra⸗ 
mente und die Erhebung heiliger Handlungen zu Sacras 
menten ber burchbringenden Heiligung des Lebens foͤrder⸗ 














proteflant. Beantwort. d. Symbolik v. Möhler. 887 


lich wäre, auch den Eid ober die Huldigung ſaeramentlich 
zu machen... Doch glücklicher Weiſe iſt das ganze Princip 
ungültig, mit welchem d. Bf. gegen ben Proteſtantismus 
zu verfahren gedachte. Bedenklich wäre es, hätte, wie 
Hr. D. M. es ſagt, die Reformation im Widerſpruche mit 
der heil. Schrift und begründetſten Tradition die Sacra⸗ 
mente auf die Zweizahl herabgeſetzt. Was die Tradition 
anlangt und zwar bie begrändetite, fo fragt ſich, was ber 
gründet werben folle, und auf welche Weife es begründet 
werde. Den Reformatoren wurben von ber damaligen 
Kirche unter bem Namen von fieben Sacramenten fieben 
heilige Handlungen überliefert, als folche, bie von Chris 
ſtus eingefegt wären, um feine den Menfchen zuzueignende 
Berechtigfeit und Heiligkeit wicht nur. darzuſtellen, fonbern 
auch zu erwirken, zu vermitteln unb alfo mit ber That 
zuzueignen. Die Kirche als überliefernde Perfon gefebt 
begründet nun zwar ihre Ueberlieferung ohne weiteres 
ipso ‚actuz allein die That ihrer Ueberlieferung ift zugleich 
eine Aufweifung der Urkunden and Gefchichten, auf weiche 
fir fich ſelbſt gründet, und fo entiteht mit der Wechſelwir⸗ 
kung zwiſchen Der beweifenden und bewiefenen Kirche ims 
mer wieber bie Nachfrage, wie ſich bie jeßige Ueberliefe⸗ 
rung zu ihrem Grunde, ber vorangehenden, und endlich 
zur Stiftung felbft verhalte. Diefe Nachfrage hielten num 
auch die Reformatoren, deren Nachfolger und Vorgänger, 
und was fanden file? Sie fanden, daß die Kirche vor einer 
fehr neuen florentinifchen Synode noch niemals die Sie⸗ 
benzahl feftgeftellt hatte, daß aus der Unzahl namentlicher 
Sacramente d. h. ſolcher bedeutfamen Handlungen, quibus 
efficaciter significatur, aus ber Fülle von Gäremonien, 
welche, feit die chriftliche Eultusgemeinfchaft die Form der 
ausfterbenden- Mpfterien angenommen und mit Berleugs 
nung bes Lehrgeifted ganz ſich in die ſacramentliche Rich⸗ 
tung hingegeben hatte, länger nicht ungeordnet beftehen 
konnte, endlich durch den kirchlichen Gebrauch unter vielen 
? 58 „= 


888 Nitzſch proteft. Beantw. d. Symb. v. Möhler. 


Bemühungen der Scholaftifer, für die einmal vorhandenen | 
Baufteine eine Regel des Baues aufzufinden, fieben aus⸗ 
gefondert worben waren. Sie fanden, daß fich vor Lom⸗ 
bardus und vor Dtto von Bamberg eine ſolche Feftftellung 
nicht zeige ; daß fo ftarfe Säulen der Rechtgläubigkeit wie Pas 
ſchaſius Radbertus und Rabanıs Maurus zwei, Drei, vier 
Sacramente gezählt, daß nach Alerander von Hales Chriftus 
nur zwei Sacramente geftiftet, Daß die Griechen und Der fals 
ſche von Gregor dem Großen verbächtigte Dionys theils nur 
ſechs, theils andere oder anders gedentete gezählt; Daß Augu⸗ 
ſtinus an ben Orten, wo er nicht feiner ganz weiten und 
unbeftimmten Definition folge, fondern von Sacramenten 
im eminenten Sinne rede, nur Taufe und Herrnmahl da⸗ 
für erfenne, daß Chryſoſtomus das Waffer und Blut, aus 
der Seite bed Erlöfers gefloffen, auf die zwei Sacra⸗ 
mente deute, burch welche Die Kirche beftehe (owr- 
&ormes). Die Tradition ald ein Ganzes gebacht und nad 
ihrem wahren Werthe gewärbigt, ba fie nicht allein Urs 
fprüngliches von Lehre und Gemeinfchaft entwidelt, fon 
dern auch auf den Urfprung zurüdgehend ihre Srrungen 
berichtigt, ift fo wenig gegen bie Reformatoren in diefem 
Kalle wie in den andern, baß fie vielmehr in ihnen wieder 
wahr und lebendig wirb. 

















Gedanfen und Bemerkungen. 


— — 


Ale 
Ueber dad Buch der Weisheit, Cap, 1, V. T. 
von 


Dr. Wilibald Grimm, 
Baccal, und Privatbocenten ber Theologie zu Jena. 


Sa der Stelle des Buches der Weisheit, Kap. I, B. 7: 
"Orı zveöne xuglov aeninpwxe ınv olnavatvyv, nel 
TO Hvviyov Ta Havea yvacır Eis Ymväs, 
erflären alle zeneren a) Interpreten, mit Ausnahme non 
Bretfchneider und Engelbreth b), had nvsüpe xv- 





a) Als hiſtoriſch nich unintereffant möge bier die non Rabanus 
Maurus Über unfere Stelle vorgetragene Erklärung fliehen (gus 
defien Sommentare zum. der W., abgebruckt in der cöUner Ausgabe. 
feiner Werke, 5 8b, p. 302 ff.): „‚Spiritus sanctus, qui in pri- 
mordio creaturarum invisibili potentia ferebatur super aquas, 

maiestate sua omnem implet et continet creaturam, sive dono 
virtatis snae replet orbem ecclesiae, in quo quotidie muneris 
:sui ostendit largitatem.”’ 

b). Jener in deu erſten feiner ——— weiche den Titel führen: 

Dispatatiohes de libri Bapientiae parte priori, Gap. 
I Xle dunhus libellis conflata, Viteb. 1804, p. 26. 
Diefe Abhandlungen find keider jett ſehr felten geworben und der 
Bf. vorliegenden Aufſatzes kennt bie in, ihnen vorgetragenen Mei- 
nungen. nur aus andern Schriften, vorzüͤglich auas Fagelbreth: 
lihæruo Sapiantia Balqmonia vnlgn unsiptumintarpraiandi spe- 


892 ° Grimm v4 


olov von der göttlichen alt eisheit, welde ald Hypo⸗ 
ftafe, nach platonifcher Borftellungsweife, in der Funktion 
als Weltfeele gedacht werde. Obgleich diefe Erklärung 
auf nicht ganz unerheblichen Gründen beruht, fo fcheint 
fie Doch nicht ficher erwiefen, ja es foheinen nicht unwich⸗ 
tige Umftände gegen diefelbe zu fprechen. Verfaſſer vor: 
liegenden Auffates hat feine Zweifel gegen jene Erklärung 
neulich in einer kleinen Abhandlung über dad Buch der 
Weisheit I ausgefprochen und die Meinung vertheibigt, 
daß in unferer Stelle Feine philofophifihe Speculation, 
fondern bloß der einfache Gedanfe von der Allgegenmwart 
Gottes, oder von der göttlichen Kraft, welche das Welt⸗ 
all erfülle und erhalte, zu finden fey. Er wurde in feiner 
Meinung beftärkt, als er die Stelle zum Behufe feiner Bors 
" Iefungen über das Buch der Weisheit nochmals genauer 
anzufehen hatte, und ſucht fie Daher in gegenwärtigem 
Auffate fefter zu begründen. 

Wir erwägen zu diefen Zwecke die für die Erflärung 
von der Weltfeele angeführten Gründe, welche nod 
neuerlich von Herrn Dr. Bauermeifter in Roftod cin 
den Prolegg. zu feinen Commentar. in libr. Sapientiae. Got- 
ting. 1828, p. 16 8q.) und Herrn GÖfrörer in Stuttgart 
cin feinem Werke: Geſchichte des Urchriſtenthums, 1 Theil: 
Phil o und die Aler. Theofophie, II Bd. p. 219) fehr 
gründlich auseinandergefeßt worden find. Man beruft 


cimina I et IIlum, capp. V priora complectentia. Hafniae, 1816, 
worin derfelbe mit geringen Mobificationen die bretfchneiber’s 
The Anfiht vom Urjprunge des Bude ber Weisheit wieder aufge⸗ 
nommen und vertheidigt hat, 


a) De. Alexandrina Sapientiae libri indole perperam asserta, len, 
- + Gröker 1883, Die gegenwärtige genauere Unterſuchung über Gap. 
- 1, 7 ift durchaus nicht zu Gunſten der in dieſem Schriftchen vers 
" theidigten Meinung angeftellt worden. Im Gegentheile halte ich 
- die gegen die Erklärung von der Weltfeele von mir: borgebrachten 
Gründe auch dann für giltig, ‚wenn -man.dad: Bud, der Weiss 
heit für Has Werk eines alexandriniſchen Judenphiloſophen "hält, 





über Buch der Weisheit, Cap. I, V. 7. 893 


fich nämlich auf ähnliche Stellen bei Plato, Philo und 
andern Philofophen; namentlich, meint Herr Sfrörer, 
denke ſich Philo den Aoyos und die sopla« als Weltfeele: 
sveuge xuplov aber, wvsüue äyıov u. f. w. fey mit dieſen 
Begriffen ganz identifch I. Das Perfectum weringonsv; 
bemerft Hr. D. Bauermeifter, beute auf die Zeit ber 
Weltbildung; endlich werde man auf die Erklärung von 
ber Weltfeele auch durch die Worte ovviyov ra wave 
geführt, indem diefer Begriff fowohl, als Die ihm bezeichs 
nnende Formel im A. T. nirgends vorfomme, fondern ang 
Dem Sprachgebrauche der griechifchen Philofophie entlehnt 
ſeyn müfle: um daher diefen Ausdruck ald claffifch und 
rein philofophifchigu erweifen, führt Hr. Dr. Bauermeis 
fter mehrere Steſlen aus griechiſchen Philoſophen und 
aus Philo an, wo ſich das Wort in ähnlicher Verbin⸗ 
dung findet b), er : 
Dagegen läßt fi nun Folgendes bemerken: Man 
darf fich ja nicht etwa Dadurch tänfchen Iaffen, daß bei 
dem Bf, ded Buchs der Weisheit fich mehrere Lehrfäge aus 


a) Die Identität ber göttl, Weisheit und bes Aoyog. bei Philo 
kann wohl nicht geleugnet werben, vgl. Grossmann Qusestt, 
Philonn. Lps. 1829. Fasc. U, p. 67 sq., Sfrörer «a. O. 
S. 213 ff., m. Diss. p. 6 not. 7. Allein die Identität bed Aoyog 
und des göttl, aveuun bei Philo unterliegt flarken Zweifelnz 
dgl, die trefflihen Bemerkungen eines Recenf. in der (Hall.) Als 
gem. Lit. 3. Zuli 1832 ©. 361 fs Im Buche der Weisheit das 
gegen ift die oopla in den Stellen, wo fie ald wirkfame Gottes 
kraft (nicht als in Bott ruhende Intelligenz) gedacht wird, welche 
als ſolche Princip bee menſchlichen Einficht und Tugend ift, mit 
dem göttl. mweöge unleugban, gleichbebeutend, vgl. Gap. I, 5. 
vu, 7. 22, IX, 17. | u ee 

b) Wir bemerken, daß ſich die Anzahl folder Stellen bedeutend vers 
mehren Iäßt, und. wollen nur auf ben gleidyen Gebrauch bes’lat, 
continere. verweifen:. Cic; de nat. Deor. 1,:15::,Deum di- 

' wit esse — — omnia enntinentem. Aus ben. fpätern: Orig. 
‘ Princ, II, 1.8, nah, Rufin: virtute sugumiyergum 00 ustrin- 
. .git et continet muadem. © 3 nt. 


‘ 4 J * ⸗ 
[1 -+ 


Bw : Selma: 


dee platoniſchen Philofophie finden. Denn es it eben fo 
wahr, daß feine Kenntniß diefer Philoſophie eine höchſt 
unvollkommene und mangelhafte ift, daß er nicht einwal 
Die Id een lehre, welche bei, Philo und in ber alerandrini- 
ſchen Theologie eine fo bedeutende Rolle fpielt, zu kennen 
fcheint a), und daß, während Plato die Unfterblichkeit 
aller Menfchen lehrt, unfer Bf. blos die der Fro mmen 
annimmt b). Daraus erhellt aber, wie unficher Der Schluß 





9 Bol. meine oben gngef, Abholg., p: 28, 28 sq. Zwar berief man 
ſich früher außer den a. a. DO. von mir befprochenen Stellen aud 


: auf die Werte: aurdg (GOeos) nos Ednxe by ösraw yracır ayer- 
 .59, Gap. 7, 17, und allerdings mit vielem Schein, indem aud 


Plato die yyasıs der daba entgegenfehte und biefe yon ber Schein: 
kenntniß verſtand, in welcher bie Angebildeten befangen find, ir 


dem fie das Wandelbare und Vergänglide für das Wahre halten, 


“während ber Philofoph fih vom Irdiſchen und Vergänglichen zu 


den Ideen, ald dem Unvergänglihen und Ewigen (Ta Övze), 


deſſen ſchwache Abbildungen wir in der Erſcheinungswelt gewahren, 


erhebt und fomit zur yracıg gelangt. — Allein daß yraaız dysr- 
öng an unferer Stelle, wenn auch vielleicht dem Platonismus ent 


glehnt, hier nur in ganz allgemeinem und populãrem Sinne gründ: 


liche, vollkommene Kenntniß, und z« övra nit die Ideen, 
fordern den Inbegriff alles in der Welt wirklich Srifkivenden be: 
deute, fehen wir aus dem unmittelbar, ‚ Bolgenden, wo bad ra Oyra 


: Yon den Worten eidlvaı ovoraoıy xoauov an bis B. 21 in feine 


. Kiheile-gerlegt und B. 21 wieder kurz Kufnmengefent wird; vgl. 


auch Gap. 8, 8.5. - 


by Sehr‘ ſcharfſinnig — ee D. Bauermeifter (a. a. O 


Protegg. p. 18), daß die Meinung des Schriftftellers, bloß die Gu⸗ 
ten und Weiſen feyen unſterblich, aus falſch verftandenen Stellen 


. des X. T. 3. 8. Ezech. XVII, 21 — 28,82, XXXIT, 10 ent: 


“ fanden fey. Indeſſen Scheint mir “ Annahme nicht ganz aus⸗ 


reichend, nad nad) meiner Meinung möchte ein ferherer Grund auch 


wohl in den jüdifchen Begriffen des Schriftftellerd von der göttlichen 


1. Gerwechtigkeit und Bergeltung; mit baden zu.'ed nicht in @iufleng 


„+ 


zu bringen verfkant,'wie dem Zafberhaften ein ſo hohes Gut, die 


-ı Wnfterhlichfeit (im volen Ginne des Wortes und im Gegenfage des 


Schattenlebens im Babes). ar Theil werben Lönne, zu fuchen ſeyn. 


-n Mine Analogie haben wir in ber Meinung bes. zeiten Bucht der 


Macc. c. 7, 14, daß nur die Guten und ale treuen Verchvrer Fehovas 








über Buch der Weisheit, Cap. I, ®. 7. 805 


von dem fonfligen Blatonifiren des Vf's. des Buches ber 
Weisheit auf die Richtigkeit der Erklärung unferer Stelle 
vom Ylatonifchen Dogma von ber Weltfeele ſeyn müſſe. 
Mas aber die von Hr. D. Banermeifter aus Plat. Ti- 
maeos p. 34b. und Tim. Loer. p. 95 b. als parallel angeführten 
Stellen anlangt, fo enthalten fie einen rein fpecnlativen - 
Gedanken, fpredsen fo deutlich und fo beftimmt von ber 
Weltſeele und fichen in einem folchen Zufammenhange, der 
feinen Zweifel übrig laßt, daß von der Weltfeele, welche 
im Weltganzen, wie die Seele ded Menfchen in deſſen Kör« 
per, wohne, und vom phoſiſchen Zufammenhange- des 


auferftehen würden, womit auch bie Lehre der Pharifäer Übereina 
flimmt, wenn nämlich die Worte bei Joſephus, Ant. XVIII, 1, 
8: raig d2 (ben Seelen ber Guten) dgorasn» Tov dvapıodv und 
Bell. Ind. II, 8, 14; ueraßaivew eig Eregov ohum 779 (Ypurıv) 
av —— kövnvnidht mit Bretſchneider (capp. theol. 
Iudd. dogm. e Iosephi Scrr. coll. p. 51 sq.) vom Uebergehen 
in einen neuen Menſchenleib, fondeen von ber Auferflehung 
gefaßt werden. — Dogegen kann ich Gewen Dr. Bauermaifter 
durchaus nicht beiflimmen, wenn er meint, daß ber Vf, des B's. der 
Weisheit aus der platonifchen Philofophie die Lehre von ber Uns 
ſterhlichkeit aller Menſchen zwar gekannt, aber, um nicht' mit 
dem A. T. in Widerfpruch zu kommen, die Lehre von der allges 
meinen Unfterblichleit zu verfehtweigen für rathfam gehalten habe 
(&. 18. satius igitur duxit, hanc doctrinae Platonicae parte 
prorsus silere). Denn eine ſolche Lehre ift viel zu wichtig, 
als daß fie der Schriftfteller (vielleicht blos aus Lehrklugheit!) 
Hätte verfchweigen können. Es mußten fidy ja wohl andere Auswege 

darbieten, einen ſolchen Widerſpruch mit dem A. T. zu vermeiden, 
Meg auch immerhin bie Unfterblichkeitäidee erſt von Außen ber im 
Bf, angeregt worben feyn, aus dem Studium griechiſcher Philo⸗ 
fophen hat er fie gewiß nicht, indem Plato und feine Schule big 
Unfterbiichleft der Seele aus Ratur und Wefen ber lesteren 
(aus deren Praͤexiſtenz, Einfachheit u, f. w.) ableitete, unfer BR 
dagegen als eine Belohnung ber Weisheit und Tugend anſieht; 
vgl. m. 0. a. Diss. p. 25. Hätte er bie platonifchen Beweiſe ges 
kannt, ex würde fich gewiß von ber Unfterblichkeit aller Menſchen 
überzeugt, und biefe Ueberzeugung irgendwie mit Telnee frühern 

Bildung und feinen biöherigen — — in an: “ 
beingen geſuche haben. 


896 — | . Grimm 


Weltgebäubes bie Rebe fey, daß es Daher jehr gewagt ers 
fcheinen muß, fie unferer Stelle ald parallel zu betrachten 
und Diefelbe aus ihnen erläutern zu wollen. Eben fo deut- 
lich wird in den aus Philo angeführten Stellen, wo der 
A6yog die Function der platonifchen Weltfeele und des das 
Univerfum durchdringenden voüg ber Stoifer erhält, im 
metaphyfifchen Sinne vom Zufammenhange des Weltgebäus 
des gefprochen; vgl. befonders de profug. ed. Mangey. I, 
p.562: &vövsra, Ö& 6 ulv agsoßüurarog roũ Ovrog Aoyog @s 
Sohijta rovu #00u0V" yiv yap xal Vöng xl züg za Ta Ex 
sovrow knaunloysrn — — 6 Toü Ovrog Aoyog Ösapog av 
ToVv ündvrav aa Ovvigeı TE ulgn mavra nal Oplyyeı xal 
wave aurd ÖinAvscher xal Öapracdnı, — vgl. auch de 
Somn. ed. M. I. p. 691. Am wenigften aber läßt ſich die 
Stelle vom mveöun Evarındv bei Philo (de mundi opifie. 
p. 31 ed. M.): (m yi) ovviyereı Ö& nal Öauever Ta ww 
zvsdvuarog Evarıxod Övvausı, a Ö& vorldog oux 
dcongę Apavasvousvnv xara reugpn wuıxgd wu ueyaie Fov- 
esta), auf welche fich namentlich Hr. Gfrör er be 
ruft, mit der unfrigen vergleichen. Denn der Zufammens 
hang, in welchem jene Stelle Philo’s fi findet, hat mit 
dem Gedankengange des erften Kap. im Buche Der Weich. 
nicht die entferntefte Aehnlichfeit. Dort ift Der Sinn und 


Zuſammenhang: Gott habe das füge Waſſer vom Meers 


waffer gefchieden, weil jenes zur Erhaltung des Erdgan⸗ 
zen nöthig fey. Denn letzteres werde durch die Feuchtigkeit 
und durch die Kraft des einenden Geiftes zuſammen gehal⸗ 


ten. — Ganz verfchieden ift dagegen, wie gefagt, der Zu- 


fammenhang in unferer Stelle, worauf man freilich, fo 
nahe es auch lag, doch nicht geachtet hat. Der Schriftitel: 


ler zeigt nämlich unmittelbar vorher, Daß Gott.gottesläfter: 


liche Reden nicht unbeftraftlaffenwerde (V. 6), denn er kenne 
das Innerſte des Menfchen und (V. D der Geift des Herrn 
erfülle den Weltkreis und was das AU zufammenhalte, 
babe Kunde ber Rebe. Darum könne (V. 8) Riemand ihm 





über Buch der Weisheit, Cap. I, ®. 7. 897 


verborgen. bleiben und ber Strafe entgehen. — In ganz 
ähnlichem, rein ethifchem Sinne und Zufammenhange wird 
aber Pfalm 139, 7 und Serem. 23, 24 von ber Allgegen» - 
wart: Gottes gefprochen, auf welche Stelle fi auch ſchon 
Bretſchneider und Engelbreth berufen haben. Das 
gegen ift zwar die Einwendung gemacht worden, daß. in 
der Stelle des Jeremias nicht vom göttlichen Geiſte, und 
Pf. 139, 7 zwar vom Geiſte Gottes, aber nicht als von 
einem dad Ganze erfüllenden die Rede fey. Allein es 
ift ja bekannt, baß xugsos und Deog mit mvseüun Deoö und 
zvevun xvglov oft verwechfelt werden; und Pf. 139, 7 ift 
es zwar nicht mit beftimmten Worten ausgefprochen, 
daß Gottes Geift die Welt erfülle, aber diefer Gedanke 
wird von V. 8 an deutlich ausgeführt und liegt B. 7 fons 
nenklar dem Ausrufe zu Grunde: „Wohin fol ich gehen 
vor deinem Geiſt und wohin vor Deinem Antlige fliehen??? 
Bedenken wir ferner, daß alle diejenigen, welche in ges 
nannter Stelle des Buches der Weisheit die platonifche 
Borftellung von der Weltfeele finden, die dopla als bes 
fondere, außer Gott eriftirende, Hypoftafe annehmen und 
bei diefer Erfläsung annehmen müflen, bedenfen wir, baß 
B. Toon Gottes Allwiffenheit die Rede ift, Deren Grund 
nach V. 8. darin läge, Daß die göttliche Weisheit als 
Meltfeele das Univerfum burcdringe: fo müßte 
die Kenntniß Gottes von allem bem, was in der Welt 
gefihieht,, Durch die Weltfeele vermittelt werden. Die 
Frage aber, wie fich ber Schriftſteller diefe Vermittlung 
gebadıt habe, würde einer Menge fubtiler Beſtimmungen 
freien Spielraum geben, die in den einfachen Worten und 
in dem populären und rein ethiſchen Gedantenzufammens 
hange zu finden fehr feltfam erfcheinen dürfte, — Der Zus 
fammenhang fcheint alfo, wie wir erwiefen zu haben glau⸗ 
ben, jene Erflärung nicht nur nicht zu begünftigen, fonts 
dern ihr fogar entgegen zu ſeyn. Es find daher bie andes 
ven, von Hrn. D. Banermeifter aus dem Perfectum 


898 .. Grimm 


erinnere und dem Verbum ovregrv entlehnten Gruͤude 
zu prüfen. 

Was das erſte betrifft, ſo kann man Hrn. D. Bauer⸗ 
meifter recht gern zugeſtehen, daß das Perfectum eine 
Hindentung auf die Zeit der Weltbildung enthalte, info 
fern diefed Tempus befanntlicd; eine Handlung in Der Bew 
gangenheit bezeichnet, die mit der Gegenwart in Verbin 
dung fteht und deren Folgen in dieſer fortdauern, benz 
darand folgt für die Erflärung von der Weltſeele gar 
nichte. Der Sinn kann vielmehr auch ganz einfach folgen 
der ſeyn: „Gott ift im Weltfreis allgegenwärtig und iſt ed 
ſchon feit deffen Bildung,” Indeſſen ift ed nicht einmal 
nöthig, in dem Perfectum eine Hindentung auf Die Zeit 
ber Weltbildung zu finden; denn es konnte fich bei jenem 
Gebrauche des Perfectum die Beziehung auf die Bergam 
genheit verwifchen, fo daß daſſelbe blos das Beſtehende, 
Seyende anzeigt, und die Worte im Lateinifchen darch 
ceompletum habet überfeßt werben könnten. Unb wirt 
lich glaube ich dDiefen Gebrauch des Perfectum durch zwei 
ganz ähnliche Stellen aus Philo ermeifen zu können; 
nämlich de mundi opif. ed. Mang. T. I. p-T heißt es von 
der Luft, welche den ganzen Raum zwifchen Erbe und 
Mond ausfüle, folgendermaßen: intıön (O are) zdcny 
tnv ayavı) zal donunv xal xevnv yaoav Inıßas EuzsaiN- 
EmxEv, 007 nI05 yuds amd zav oehjvnv nude, umb 
de sacrif. Ab. et Caini, ed. Mang. I, p. 175 heißt es von 
Gottes Allgegenwart: 6 Evdads dv xaxzi nal aAlayodı nal 


 xavraroü, KERÄNGORDG zavsa ÖLd aavıov zu) dd 


Eonuov Savroü waraAsA0ın ds Undpyen 
Eben fo wenig haltbar iſt das von ber Formel suv&yor 
2a zavso entlehnte Argument. Zuerft fcheint es nicht ganz 


richtig, wa6 Hr. D. Bauermeifter behauptet, daß dieſe 


Formel und der durch fie ausgedrädte Gedanke ber alttes 


ſtamentlichen Denk⸗ und Sprechweife fo ganz fremb gewes 


fen fey. Zwar weiß Einfender nicht aus den kanoniſchen 





über Buch der Weitheit;, Cap. I, V. 7. 809 


Büchern ded alten. Teſtaments, wohl aber aus der palli⸗ 
ſtinen ſiſchen Schrift des Jeſus Sirach eine ähnliche Redens⸗ 
art anzuführen, utimlich Cap. 43,8. 26: iv Aoya nöso6 
Scyasıras va whren. Kerner handeln mehrere von Hru. 
D. Bauermeifter ans Klafftfern, namentlich aus Xenb⸗ 
phon,-angeführte Stellen nicht von ber Weltfeele, fon 
dern von Der Gottheit im Allgemeinen, Dusch welche Alles 
fein Beſtehen habe a). Man fieht baher nicht ein, warumt 
die Formel auusgov ra wawra an unferer Stelle nothwen⸗ 
Big von der Weltſeele und nicht eben fo gut von Gott 
gejagt ſeyn könne: Geſetzt uber audi, bas Wort auveztiy 
kaͤme nur an ſolchen Stellen vor, wo von ber Weltfeele bie 
Rede ift, gefegt der Schriftfteller .hätte ed bloß aus ſolchen 
Stellen entlchnt, fo wäre dieſes noch immer Fein entfchets 
dendes Argument. Denn auch das Wort modvora ſcheint 
der Vf. des Buches ber Weisheit aus der griechifchen Phi⸗ 
Iofophie entlehnt zu haben, obgleich deffen Bedeutung tu 
unſerer Schrift eine ganz andere iſt, als die in den griechi⸗ 
ſchen Schulen b). 

Wollte man endlich, wie Sfr drer es thut, in feiner 
angeführten Schrift, um die Erflärung von der Weltfeele 
in Gap. I, 7 zu rechtfertigen, fich auf Cap. 7, 24 und Cap. 
8,1 berufen und behaupten, daß bier die sopla als Melt 
feele gedacht werde, fo iſt Dagegen zu bemerken, baß, 
felbft zugegeben, die göttliche Weisheit er— 
Scheine hierrals befondere außer Gott erifie 
rende Subſtanz, was aber noch immer fehr zweifelhaft 
tt und worüber die Erflärer nicht. einverftanden find, beide 
Stellen doch viel zu unbeſtimmt find, als daß fie ein fiches 
res lirtheil über Cap. 1, 7 begründen könnten. Denn Gay. 
7,24 muß es sgweifelhaft feyn, ob die Worte dus Öb sat 


a) 3.8, Cyrop. 8, 7. Deol, ol ua) vor Okay rıjvde vutıy ounb- 
yovas, ‚auf weldhe Stelle er ſich unter andern bezuft, 


b) Bol. meine o. a, Abhblg. p. 2. 


90 . Siam: 


zugei dir zavrov did zijv naßagpoınea.wirklid, von bem 
Durchdrungenſeyn des Un ver ſums burch Die Weisheit 
oder nicht vielmehr von deren Wirkſamkeit im Reiche der 
Geiſter, denen ſie Princip der Erkenntniß und Tugend 
iſt, zu verſtehen ſeyen ), fo daß wir zu dız zayrav aus 
dem vorigen „uvsvuaraov” zu fuppliren hätten. Mes 
nigſtens ift man zu dieſer Erklärung durch das unmittelbar 
vorhergehende vom. göttlichen Weisheitögeifte prädicirte 
„OLE Navrov 1moodV mvsvudıon” mohlberechtigt... V. 24 
würde der Grund des zwgsiv dia zavınv zvevudrov beis 
gefügt, der in feiner Beweglichkeit und Reinheit liege 
(ædong zırjasog — nadagdrnza). Im zweiten Hemiſtich 
würden dann die Worte dia xadagornza den Hauptbegriff 
enthalten und die Worte dızxzı Ö3 xal zagei da zavıav 
würden nur um der Deutlichkeit willen wiederholt feyn 
Gienes Allesdurchdringen habe in der xudegorng .feinen 
Grund). — Nun Fünnte man allerdings das.dıa zavrev 
auch vom Univerfum verftehen; dann würbe das zweite 
Hemiftich in V. 24 zwei ſich coordinirte Gedanken enthalten, 
3) daß die göttliche Weisheit das Univerfum Durchdringe, 
2) daß der Grund davon in ihrer Reinheit zu fischen fey. 
Dann erhielte V. 24 einen allgemeinen Gedanken von der 
Wirkſamkeit der voplx im Weltall, welcher ben fpeciels 
Ieren von deren Einfluß auf das Geifterreich mit in 
ſich fchlöffe und folglich den Grund des dia navrav zugoüv 
zvsvuaıov enthielte. Indeflen würde Daraus noch ims 
mer nicht folgen, daß die Weisheit gerabe in der Function 
als Weltfeele gedacht würde; es könnten die Worte 
bloß von. ihrer mächtigen, Alles umfaffenden Wirk 
ſamkeit im Weltall gefagt ſeyn, wie dieſes ohne Zweifel 
der Sinn von Gap. VIII, B.1 if, Der Ausdruck Durds 
dringung (dınzxev zul gopsiv did...) ift dann nicht 
weiter zu urgiren, fonbern has in. dem unverkennbar 


a) Ebendaſ. p. 4 u. 5. 





' 
über Buch der Weiäheit, Cap 1, ®. 7. 901 


Dichterifchen Schwunge bed Ießten Theild des Tten Gay. 
feinen Grund, deſſen Berkennung freilich dahin: geführt 
bat, baß man in der bilder » und phantaftereichen- Schils 
derung der Weisheit als einer wirkfamen Gottesfraft 
(2. 22 — VI, D metaphyſiſche und dogmatiſche oe 
tionen ErIeNDIE, 


. Ueber die Dämionifhen m N. T. 
in ——— ⸗ — — 


508 


Yafor zu. Meer 
: ZU. Gronau, a) — een 


’ ar .. 
De 
...4 6 0 


Es ift bekannt, daß unter mehreren Bölfern der‘ alten 
Welt, insbefondere auch unter „den Griechen, manche 
Krankheiten faſt allgemein für Wirkungen böſer Geiſter oder 
Dämonen gehalten wurden. Dieſelbe Meinung herrſchte 
auch unter den Juden und wir finden fie häufig ausgefpro> 
chen im R.T. — Man hat ſich in unfern Zeiten gewöhnt, 
fie für ein jübifches, Boll; Vorurtheil zu halten, welches 


a). Es — zu wunſchen, daß dieſer Verſuch dazu diente, Andere yü 
einer, genaueren Unterfudiung Über den eben fo ſchwierigen, alb 
wichtigen Gegenfland anzuregen, Die neueren Schriften über bie 
Seelenkrankheiten von Heinroth und M. Jakobi follten für bie 

theologiſche Unterſuchung Über die Dämoniſchen im N, I; nicht 
unbenugt vorübergehen, Rad: meiner Anficht Eönnen die Dämont- 
Shen im N, T. keine ifolirte und fingiläre Erſcheinung fen, ihb 
es muß möglich ſeyn, ſich durch Analogieen und aus einer zuſammen⸗ 
hängenden Forſchung Über das ganze Gebiet ber Seelentrankeiten 
eine rationelle — nicht rationaliſtiſche — Einſicht i in jenes Factum 
zu verſchaffen. 

a er Dr, tüde.. 
Theol, Stud, Jahrg. 1884. i 9 


“ 





# N 24 2 — ⸗ 
2 “rn ‘ eyer 1.4404 


die Apoſtel wohl getheilt haben ;möchten, won dem je⸗ 
doch Chriſtus felbit frei zu ſprechen ſey. Diefer habe 
es nur nicht gerabezu belimpft, theild um höhere Zwecke 
gu erreichen, theils weil eö ihm gewiß geweſen, es werde 
mit der Aufnahme feines Evangeliums — von ſelbſt 
fallen. — EZ 

Schwerlich kann dieſe Anficht über das Berhafter 
Ehrifti zu jenem „Volks⸗ Borurtheile” für ein Ergebnif 
der eregetifchen Forfchung gehalten werden; fle hat ihre 
Duelle wohl in der Achtung vor Ehrifto, nach welcher 
man ihn „eines fo groben Irrthums“ doch ‚nicht zeihen 
zu bürfen glaubte. — 

"Und was hat man denn fir Gründe, mit dem Schlag; 
Worte: „jübifches Volks⸗Vorurtheil,“ die Ausfprüche des 
N. X. über Dämonen⸗Beſitzungen als irrthümlich zu ver- 
werfen? „Sie ftreiten,” — das iſt die allgemeine Ant- 
wort, — „ mit ben Anfichten einer gebildeten Vernunft, 
denn: 

1) Gott ordne Alles, dad Große, wie das Kleine, 
ſelbſt ‚ nicht durch Zwiſchenweſen, und 

N die Krankheiten, bie man als Wirkungen von Daͤ⸗ 
monen betrachte, Laffen ſich gus natürlichen Urſachen poll⸗ 
kommen erklären.“ — 

Mas von diefen beiden Argumenten zu hatten feg, 
möchte ſich durch eine Klare, auf das N. T. fich grüns 
dende, Entwristelung jenes in Rebe fichennen „Bollö-Blans 
beng® am beiten ergeben und dieſe zu verſuchen, iſt der 
Zweck ber vorliegenden Abhündlung. 
Fragen wir nun bie Bibel A, und N. T., ſo if der 
Teufel „der Urheber der Sünde” unb die Sünden ber 
Menfchen find: „Werke des Teufels.” Gläückticherweiſe 
koͤnnen wir es für unfern Zwed — — = laſſen, 


—— 


——— des ideal Böfen, — des Antigötrü— 


über die Daͤmoniſchen im N. %. 903 


chen, gleichfam des Schatten ift, welcher das gefftige Licht 
diefer Welt unterbricht und trübt, denn in dem einen, wie 
in bem andern Falle liegt doch das ganz gewiß in jenen 
Ausfprüchen der Schrift, die Sünde komme her „and eis 
nem böfen Geiſte.“ — | 

Zu gleicher Zeit erflären aber auch bie bibfifchen 
Schriftfteller den Menfchen keineswegs für unfchuldig an 
feinen Sünden. Gie forbern ja, daß er Leid und Reue 
darüber empfinden folle, — Chriftus, der die Pharifäer 
eben um ihrer Sünden willen „Kinder Des Teufels” nennt, 
ftraft diefe doch aufs ernftlichite wegen derfelben, — Jaco⸗ 
bus, der fie aus „ber eignen Luft” ableitet, ermahnt doch 
wieder (4, 7), dem Teufel zu widerftehen, und es ift übers 
haupt aud dem ganzen N. T. klar, daß fie, welche „Werke 
Des Teufels” heißen, doch auch wieder als „bes Menſchen 
eigne Werke” betrachtet werden. — 

Will man das fir lauter Widerfprüche halten, dann 
muß man auch geftehen, daß fie fehr handgreiflich find, 
und fid in der Thatwundern, baß die Jünger des Herrn, 
die ſich doch fonft in jener Zeit, als fie ihre Schriften abs 
faßten, nicht fo einfältig und thöricht gezeigt haben, fle 
sicht als ſolche zu erfennen vermochten. Sch denfe, die 
Achtung, welche biefen Männern gebührt, follte ung fchon 
verpflichten, die Bereinigung jener vermeintlidyen Wiber⸗ 
fprüche wenigftens zu verfuchen und mir — das geftehe 
ich — fcheinen fie eben ſowohl vereinbar, als bie beiden 
Sätze: „Gott hat den Sünder zur Buße ———— und! 
„der Sünber hat fich zu Gott befchrt.” 

Die Schrift leitet die Sünde her vom Teufel und das 
heißt, wie wir oben gefehen haben, and dem böfen Geiſte. 
Nirgends aber wird diefer böfe Geift, inf of ern bie Sünde 
des Menfchen fein Werk genannt wird, ald außer bem 
Menſchen feyend dargeftellt. Und nun frage ich, was 
kann die gebüldetſte Bernunft gegen biefe Vorſtellung fas 
gen? — Das ift doch wohl gewiß, daß nicht: ber mate⸗ 

59 * 


904 | rn Meyer... 


rielle Körper oder irgenb etwas im biefen die mate- 
ris peccang ift, fondern bie innere böſe Luſt, der böfe 
Gedaute und Wille, das heißt mit andern Worten: der 
innere, eigne böfe Geift oder — der Teufel, in fofern 
fich diefer, mag man ihn nun ald individuelle Perfon 
oder als Symbol des Centralböfen betrachten, in den 
fündigen Menſchen gleihfam.individualifirt 
hat, und ihn regiert, beherrſcht, beſttzt. Ja 
die Benennung: „Teufel? ift für den eignen, böſen 
Geiſt des Menfchen auch durchaus nicht unflatthaft, dem 
in wiefern und in wie weit ber Geift des Menfchen 
pöfe ift, ift er doch in der That feinem eigentlichen wah⸗ 
ven Wefen nad nicht verſchieden, fondern vie 
mehr wirtlid und wefentlih Eins mit Dem bi 
ſen Geifte war &Eogav d. i. mit dem Teufel, fowie umge 
fehrt der Geift des Menfchen, fofern und foweit er 
gut, heilig iſt, auch wirklich und weſentlich Eins tft mit 
dem heiligen Geifte zer &Eoynv. d. 4. mit dem Geifte ots 
tes, ober mit Gott; und es ift daher völlig Daffelbe, ob 
ich fage: „ans bem Herzen kommen arge Gedanken,“ — 
die Sünde geht hervor aus „der eignen Luſt.“ — oder: 
„fie ift Werk des Teufels,“ fowie es Daffelbe ift, ob ich 
pie Sündlofigkeit Ehrifti vorausgefeßt, fage: „alle Worte 
und Werke Ehrifti find feine eignen, ‚oder fie find 
Gottes Worte und Werke . 
Doc nicht bIoß die Siinden, auch Leiden der Men 
ſchen, namentlich Kranfheitsleiden und unter Diefen in 
specie ſolche, die ein gefchwächtes Nervenſyſtem verras 
then, als: Wahnſinn, epileptifche Krämpfe, Verluſt des 
Gebrauches der Hör: und Spracdhorgane ıc, werden vom 
Teufel ober von böfen Geiftern abgeleitet, Was iſt denn 
Davon zu halten? Nun, bad wird boch nicht geleugnet 
werben, daß noch jeßt die genannten und manche andere 
Krankheiten, zuweilen wenigftens, ganz offenbart 
Folgen nicht nur, ſondern auch Wirfungen z. Be bet 


= 








über die Dämonifchen im N.®. _ 905 


Trunkenheit, Wolluſt, des Stolzes und der Eitelkeit u. dgl, 
mit Eiriem Worte: der Sünde feyen, und das heißt, nad; 
dem Dbigen, foviel ald eines, oder des böfen Geiftes, 
der in dem Menſchen iſt, des Teufels, der fich in ihm ins 
dividualifirt hat, ihn regiert, beherrfcht, „befißt.” — 
Allein nicht nur da finder ein- caufaler Zufammeihang 
zwifchen Sünde und Krankheit ftatt, wo ein folcher offen 
bar ift, er Bann vorhanden feyn, wo er von Niemans 
dem erfännt wird, — kann vorhanden feyn, wo ihn nur 
Andere, als der Kranfe, wahrnehmen und wiederum, wo 
er von dem Kranken allein entdeckt wirb. Diefem offen- 
bart ihn vielleicht fein Gewiſſen, — ihm fommt er vieleicht 
erſt'in der Krankheit und durch diefelbe zum dunkleren 
oder deutlicheren Bewußtſeyn; Dann wird er fich als ſchul⸗ 
dig an feinem Elende anklagen, immer ein Zeichen, daß 
er noch nicht völlig verworfen, fondern daß der Keim des 
Guten in ihm bewahrt geblieben ift. Und wenn er nun 
feine Krankheit dx zod Öauuovlov herleitet, der verftändige 
Arzt aber die phyſiſchen Urſachen derſelben richtig nach⸗ 
weiſt, folgt daraus, jener habe ſich getäuſcht? Keines⸗ 
wegs! Beide können vollkommen Recht haben, da ihre Be⸗ 
hauptungen ſich durchaus nicht contradictoriſch entgegen⸗ 
ſtehen, ſondern nur relative Gegenſätze ſind. Sie ſtehen 
auf verſchiedenen Standpuncten und ſo entdeckt der Eine 
von dem ſeinigen die ethiſche Wurzel der Krankheit, wäh⸗ 
rend der Andere, der in dieſer Beziehung mit ſeinen Augen 
nur in der Welt der Erſcheinungen verweilt, nur die phy⸗ 
ſiſchen Urſachen ſieht, jene aber nicht finden kann. Darum 
lautet das Urtheil des Einen ſo, das des Andern an⸗ 
Ders, ohne Daß jenes deshalb falſch ſeyn müßte, weil 
dieſes richtig ift, und umgekehrt. Kann ich nicht zugleich 
dem Herrn banken für die Wiedergenefung aus einer Krank: 
heit und doc, von ben natürlichen Mitteln reden, durch 
welche der Arzt den Krankheitsftoff aus meinem Körper 
entfernt hat? Schließe ich Denn Die natürlichen, phyſiſchen 


906 Meyer 


Urſachen and, wenn ich ſage: „Gott bringt Brod and ber 
Erbe hervor?” Run, eben fo wenig wirb darin etwas 
Widerfprechendes liegen, daß ich die natürlichen Urfachen 
einer Krankheit nadyweife und ſie doch angfeich als Wir 
ung eines Kakodaͤmon betrachte. 

So viel alfo fteht wohl fell: 

2) e8 fann ein Cauſal⸗Nexus zwifchen Krankheit und 
Sünde ftatt finden, oder mit andern Worten; es kann 
Fälle geben, wo man, auf die ethifche Wurzel einer Krants 
heitösErfcheinung fehend, dieſe mit Recht als das Wert 
eined oder des den Kranken befigenden böfen Geiftes bes 
trachten darf, und: 

2) der Kranke kann ſich eines folchen Rerus mehr oder 
weniger klar bewußt ſeyn, wobei es gleidy gilt, ob biefes 
Bewußtfeyn mehr ein mittelbares, durch NReflerion ent 
ftandenes, — oder ein unmittelbares, Durch Das Gewiſſer 
bervorgerufenes ift, und ob es fich nur als minder deuts 
liche Ahnung Fund gibt oder in verftändige Erfeuntuif 
übergegangen ift, denn in jedem diefer Fälle kann es rück⸗ 
fichtlich feines Inhaltes völlig wahr ſeyn. — 

Müffen nun aber diefe beiden Sätze zugegeben wers 
den, was hindert und anzunehmen, daß die daumoniko- 
uevor, welche das NR. X, erwähnt, eben folche Meufchen 
waren, bei denen jener Nexus ftatt fand, und die dieſes 
Bewußtſeyn hatten, alfo fühlten oder erfannten, daß fie 
ſelbſt ſchuld an ihrem Elende feyen? Gewiß finden ich in 
den Schilderungen der Dämonifchen gar manche Merkmale, 
Die fehr für diefe Annahme fprecheny man achte nur auf 
die Krankheitsformen felbft, die ſolchen Einwirkungen zus 


geſchrieben werden, auf die Berdbunfelung oder den thei 


weifen Mangel des Selbftbewußtfenns, ver faſt bei allen 

Dämonifchen bemerkbar ift, auf ihr Benehmen gegen Shris 
ſtus, das gewöhnlich von einem Gefühle ihres traurigen 
Zuſtandes und damit zugleich von einem noch vorhandenen, 
wenn auch ſchwachen Glauben zeugt, morgus dann eben 














über die Daͤmoniſchen im N. &. 907 


fallo hervorgeht, Daß fie keineswegẽ für fittlich varworfene, 
eigentlich boshafte Menſchen gehalten werden dürfen. — 
"Run möchte ich fragen: was kann und wohl bescchtis 
gen, die neuteflamentliche Anficht über die Dämoniſchen 
mit dem Schlagworte „jüdiſches Volks⸗Vorurtheil“ als 
irrthümlich gu verwerfen? muß fie benn darum nothwen⸗ 
dig falfch ſeyn, weil fie fich auch ſchon bei ben Indenfand? 
was wäre denn bei nıtferer Auffnffung fo ungereimtes und 
abergläubifches in berfelben, daß „eine gebildete Bernunft” 
fie zurückweiſen müßte? Erkennt man fie aber einmal als 
gegründet an, fo wirb man fi; auch wohl nidjt mehr abs 
mühen zu beweifen, Chriſtus habe diefelbe nicht getheilt. 
Ein Beweis, an den doch am Ende fogar der jelbft viel 
Leicht nicht recht glanbt,. der ihn zu führen werfudht. — 
Aus der entwidelten Anficyt über die Quelle einer 
Krankheit mußte nun aber auch, zumal wenn eine äußere 
Beranlaffung dazu mitwirkte, der Glaube hervorgehn, bie 
Krankheit des Kranken Fönne nicht weichen, bevor nicht Die: 
Sünde oder der böfe Geift ih von ihm entferne, mit 
diefem aber weiche jene gewiß, — cessante cadf& censat, 
effectus. War aber dem Kranken felbft einmal das Bewußt⸗ 
ſeyn über dad primum morens feiner Krankheit anfgegans- 
gen, fo ift auch Klar, daß er Schmerz über feine Sünde 
entpfinden konnte, ja ihn fa empfinden muß, da fein 
trauriger körperlicher Zuftand ihn immerwährend auf feine 
Sünde, ald bie Quelle feines Elendes hinwies, — und daß 
er fich dann nach Rettung und Erlöfung von diefer mußte 
ſehnen. — Erfenntniß der Sünde, Leid und Reue über 
diefetbe, Sehnſucht nach Befreiung von ihr ift aber bie 
nöthige und rechte Vorbereitung zum Ölauben an ben Ers 
löſer. — Run hören jene Menfchen, der lange verheißene 
&rretter fen da, — was fie, vieleicht ans früher Jugend, 
von den Welffagungen des A. B. über ben Dreffias willen, 
der da kommen follte, das tritt, bei Manchen wohl nur 
in lichten Augenblicken, wieder lebendig wor die ſo borsitete 


998 Re 


Seele, — fir erfahren, ber Verheißene befinde fich in ihrer 
Nähe, was ift natürlicher, als daß fie ihm entgegeneilen, 
vor ihm niederfallen und rufen: „Du bift der Sohn Got⸗ 
tes, — erbarme did unfer!”” — Andern zeigt ſich ihre 
Sünde in ſolcher Größe und das Gefühl ihrer Schulb ift 
fs mächtig in thnen, baß in dem inneren Kampfe, dem fie 
kaͤmpfen, die Hoffnung der Rettung wohl oft der Furcht 
unterliegen muß, für fie werbe das Gericht beginnen, wenn 
der Meffiad Tomme und dieſe zittern num vor feiner Nähe 
(Matth. 8, 29 und die Baralleiftellen e)), aber eine folde 
und fo entftandene Furcht war natürlich auch vorbereitend 
auf den Glauben, und es bedurfte für dieſe Fürchtenden, 
wie für jene Hoffenden. nur eines: „ich-will helfen!” um 
fie zum Glanben zu führen. Gewiß wollte und Fonnte fid 
der Erlöfer gerade ſolchen Seelen am wenigften entziehen 
und —er entzieht fich ihnen nicht, er naht fich ihnen auf eine 
Weiſe, daß fie an ihn gläubig und- von der Liebe beffen 
überwunden werden, ber da kam im Namen bed Herrn, 
überwunden von der Gnade und Erbarmung Gottes, bie 
in ihm fd ihnen kund gab, daß das überwundene Herz, 
von folcher Liebe und Erbarmung gebrungen, fich num auch 
‚ganz in Liebe Dem hingibt, der ‘fie alfo geliebt bat, und 
indem die Liebe Gottes in ſie einzieht, muß vor ihr der 
böfe Geift weichen und „ausfahren.” Chriftus und Belial 
Föunen nicht zufammen feyn. So find fie innerlich gerettet, 
die causa efficiens ihrer Krautheit iſt aufgehoben, fo kann 


a) Solkte bas nicht auch für bie Richtigkeit unferer Auffaffung 
fpredhen, daß Matthäus, ber bekanntlich das Aehnliche zuſammen⸗ 
zuftellen pflegt, unmittelbar nad) dieſer feiner erften Erzählung 

von Dämonifchen, Eap. 9 die Gefchichte von ber Heilung eines Gicht⸗ 
brfüichigen folgen laͤßt, dem Chriſtus zunächſt zuruft: „ſey getrofl, 

beine Sünben find dir vergeben!” — Sowie, daß von 
Teinem einzigen Dämonifchen gefagt. wird, er fey krank gewefen 
von Mutterleibe an und daß endlich der Erisſer fiber ben Blind g e⸗ 
borenen bei Johannes Cup. 9 fo ganz anders ſich Rue als 5.8. 
über ben erwähnten Gichtbrũchigen? — 








über die Daͤmoniſchen im N. T. j 909 


auch dag effectum, die Krankheit felbft nicht mehr fort- 
dauern, — der große Seelenarzt hat-diefelbe In ihrem ei- 
gentlichen Sige geheilt, fo koͤnnen auch ihre Symptome 

nicht mehr zur Erfcheinung fommen. 


Die geneigten Lefer diefer Zeilen bittet der Berfaffer 
Folgendes bei ihrer Beurtheilung zu berüdfichtigen: 

. D.daß er zum weiten Nachdenken über ben befpros 
henen Gegenftand Durch Die Heberzeugung.geleitet wurde, 
der Glaube an Dämonenbeſitzungen müffe Wahrheit ent⸗ 
halten, Er gewann dieſe Ueberzeugung, je mehr er fick 
durch feine eregetifchen Studien zu der Annahme genöthigt 
fah, Chriftus und feine Apoftel haben diefen Glauben ge- 
theilt., Dieß einräumen zu müffen und Doch jagen zu. fols 
len: der Glaube ſey. terig: amd thöricht, . — war ihm nicht 
möglich — 

2) daß ihm feine Hülfsmittel zu Gebote Raupen , hir 
ihn bei Diefem Berfuche hätten Leiten Tönnen, und daß er 
namentlich auch den Iften Theil des Commentars ven Ols⸗ 
haufen, welcher, bekanntlich in der erſten Ausgabe vergrif⸗ 
fen ift, und den er fehr gern nachgefchlagen. hätte, nicht‘ 
zu Geficht befommen konnte. Er hofft daher: um. fo mehr, 
dag man & für Wahrheit nehme, wenn ex Die 
lung einen „Berfuch” nannte. 

3) daß er nicht etwa feine Anficht. ber heil, Schrift 
habe unterfchieben, fondern vielmehr. das darin. ausge⸗ 
fprochene Bewußtſeyn habe entwideln und was ſich dort 
in Beziehung auf unfern Gegenftand als niazıs findet, in 
der yuvöcıg habe barlegen wollen, — ein Verfahren, wel⸗ 
ches ihm das Bebürfniß unſerer Zeit in Rückſicht auf alle 
Gegenftände des religiöfen Glaubens dringend zu En 
ME ‚ 


N) , —— — Ze 2 





910 0... &adE: 
Zur Charakteriftit und Erläuterung des Buches 
Hiob 


von M. Sachs 
in Berlin. 


Die neuere und neueſte Zeit, markirt durch eine nicht 
bloß dem Stoffe nad; erweiterte Sprachenfenntniß, fon 
dern noch vielmehr und vorzugsweife Durch die Anfchanuung 
des tiefen, geiftigen Gehaltes der Sprache, Durch Die Ers 
kennung eines Lebensprincips in ihe, das in allen Theis 
len ihres Organismus pulfirt, hat auch für die, im Ber 
gleiche mit früherer Zeit und mit ben Befirebungen für ans 
dere Sprachen nur wenig angebante, hebräifche, Leiftungen 
auf dem Gebiete der Grammatik und Lerifographie zu 
Tage gefördert, in denen der worgefchrittene Stand der 
Wiſſenſchaften überhaupt, und der der Linguiftif im Be 
fondern, erfreulich hervortritt. Dieß mußte auf Die Aus 
kegung der altteftamentlichen Bücher nur höchſt vortheifhaft 
ruckwirken; die Erklärung befchäftigt fich nicht mehr mit 
der Erimittelung einzelner, fehmwieriger Wortformen, wie 
früher felbft bei den ausgezeichnetſten, holländiſchen Bi- 
belerflärern, wo oft der zu erläuternde Autor zum Trä⸗ 
ger verworrener, etymologiſcher Gombinationen herabgefegt 
ward, und dieſe felbft weniger ald Mittel zur Verfländniß, 
Denn als ſich ſelbſt Zweck geübt warden; der dogmatifche 
Gefichtspuunct ift verlaffen worden, und an feine Stelle 
eine freie Betrachtung getreten, welche die alten Dentmä- 
ker: in ihrer urfprüngliden Bedeutung zu begreifen und 
gelten zu laſſen beftrebt iſt. Aeſthetiſche, hiſtoriſche und 
ſpracherläuternde Interpretation find in einigen Bedrbei- 
tungen heiliger Bücher auf das Glüdlichite vereinigt, um 
in Geift und Form ber alten Weife einzuführen. Aber 


zur Charakteriftit u. Grläwt, d. Buches Hiob. 911 


auch nur in einigen; Denn im Ganzen ift die Bibelere⸗ 
gefe in der legten Zeit nicht allzufehr gefördert worden, 
und wer 3. B. den Eommentar zu Jeſaias von Geſenius, 
der noch immer als ein leuchtended Vorbild unübertroffen 
dafteht, die Bearpeitung ber Pfalmen yon be Wette, die 
des hohen Lieded von Ewald, die geniale Uebertragung 
ber Propheten durch Rüdert, bie freilich erft Durch Hinzu⸗ 
tritt des nicht genug zu erfehnenden Eommentar’s recht 
legitimirt werden wird, mit den rofenmüller’fchen Scho⸗ 
lien vergleicht, Diefer umfaffendften und auch wohl ver« 
breitetfien Arbeit über das U. T., dürfte leicht zu der Ver⸗ 
muthung geführt und berechtigt werben, daß dieſe letztere 
einer ganz andern Zeit angehören, die bereits ausgelebt 
bat, wenigſtens ausgelebt haben follte. So fehr befangen 
von dem alten grammatifchen Mechanidmnd und Formas 
lismus ift noch der im ihnen herrfchende Ton der Ausle⸗ 
gung; fo wenig verarbeitet, ins Einzelne durchgebilbet, ja 
auch nur äußerlich benußt find Die zahlreichen Bemerkun⸗ 
gen, grammatifche fowohl, wie Ieritalifche, an: benen wir 
feit und durch Gefenins fo reich find. Diefes Mißverhält⸗ 
niß zwifchen ber fortfchreitenden. Entwidelung der hebräi⸗ 
ſchen Spracdbehandlung im Ganzen, Großen gegen bie 
ſtarre Beharrlichkeit im Alten, Hergebrachten bei der Aus⸗ 
legung des Einzelnen vetardirt natürlich den Gang eben 
jener allgemeinen Entwidelung; denn wenn nicht ber Eres 
get dem Grammatiker und Lexikographen im bie Hände ars 
beitet, das Eigenthümliche in dem Gebrauche der Spradhs 
elemente und ihre Geltung an den befonderen Stellen 
nachweifend, was dann Jener unter höhere Geſichtspuncte 
fubfumirt, und, nachdem er es bem Bereiche. des Befons 
dern enthoben, gleichfam in die Atmofphäre Des ganzen 
Sprad;gebietes hinüberfeßt: wird Grammatik und Lexikon 
immer mangelhaft bleiben müßen, und vieles Halbwahre 
oder gar Falſche beibehalten: wie dieß beſonders in bex 


ir 0.0. “ Sachs — 


hebraͤiſchen: Syntarx bemerkbar wird, und ſich noch an ei⸗ 
nem Beiſpiele zeigen ſoll. 

Wir glaubten uns dieſe allgemeinen Bemerkungen er⸗ 
lauben zu dürfen als einleitendes Vorwort zu dem Aus⸗ 
legungsverſuche einiger Einzelſtellen des Hiob, da auch 
an ihnen, wie wir hoffen, ſichtbar werden wird, daß der 
Mangel durchgreifender Beobachtung der Spracheigen⸗ 
thümlichkeiten in einer” begrenzten Sphäre nachtheilig auf 
bie Einficht in das Innere eined Ganzen einwirft, und 
wie hingegen, wo fie geübt wird, ein hereinfallender Richt- 
blick plöglich, erhellend und aufflärend, das Ganze Durch 
dringt, und wie mit der befeitigtew-Dunfelheit erft das 
Bewußtſeyn ihres früheren Daſeyns gewonnen wirb. 

Zuvörderſt einige Bemerkungen über die Compoſi⸗ 
tton des herrlichen, troß feiner vielfachen Schwierigfeis 
ten zu allen Zeiten als tief bedeutfam anerkannten Buches! 
Vieleicht wird fich auch hier manches Wefentliche, was 
früher nicht gebührend beachtet worden, ſchärfer accen- 
tnirt hervorheben laffen!: 

"Das Ganze ift in dialogifcher Form, als in — 
Anordnung die Fragen der Theobicee nach dem Für und 
. Wider am erfchöpfendften erörtert werden können. Diob, 
der Mittelpunct der Gefpräche, Die eigentlich menfchliche, 
ja menfchlichfte Anficht von Gott und feiner Weltordnung 
repräfentirend, muß gegen feine Freunde, die Organe 
mehr thenretifcher und fpecnlativer Anficht, — eine bebeu- 
tende Präponderanz behaupten, indem er, nad zwei 
Geiten hin thätig, polemiſch Die von feinen Gegenmän⸗ 
nern aufgeftellten- Behauptungen abmeifend, feine eigene 
entgegengefete frei und felbfifländig entwidelnd ohne 
Rüuͤckſicht auf das ihm Erwiderte, weil es faſt nie die Sache 
trifft, — eben zeigen fol, daͤß alle menfchliche Weisheit, 
wie fie fic an das Näthfel der Theodicee macht, zu Nichte 
wird, und wie ber ehrliche, unummunden ausgefprochene 
Unwille über die Schidungen Gottes, fo wie Diefe gewiß 


zur Charakteriſtik u. Erlaͤutz d. Buches Hiob. 913 


in der”. göttlichen Weisheit und. Gerechtigkeit ihre. hins 
Iangliche Erledigung finden, dennoch für ben mit menſch⸗ 
lihem Auge fehenden Menfchen genügender ſey, als Iufs 
tige, an der Praris fcheiternde Thesrieen: — eine. Anficht, 
die, ja auch am Ende des Buches bei dem unmittelbaren 
Einfchreiten Gottes in B% Scene in. höchfter Suflanz ges 
frönt wird. — 

Alle Reden der ER find fo gehalten, daß 
ihre Inferiorität bei den höchſten Prätenſionen, ihre Us 
gründlichkeit ‚bei den anmaßlichiten -Berficherungen Deutlich 
genug hervortritt. Sie fommen:alle aus einer. hohlen, 
vagen Allgemeinheit nicht heraus; flüchtig eine Aeußerung 
aus Hiob’d Reden herandgreifend, und an dieſe irgend 
eine Formel unmotivirten Mißfallens knüpfend, gehen fie 
fofort- an Die Auseinanderlegung eigener Anfichten; die 
ſchwanke Woge der Rede trägt-fie- leicht auf das hohe 
Meer von ungehörigen Neflerionen: hinaus. Da zeigt ih 
nirgends eine Spur [hrittmäßiger Begleitung des fraglichen 
Gegenftandes, nirgends ein Eingehen auf Das von High 
Borgebrachte, nirgends der gute Wille, ihm zu glauben, 
oder durch Befeitigung feiner Klagen und Kragen ihm Troſt 
zu bringen. —(Bgl: Cap. 6, 22 ff. Cap. 13,1 ff:5 Cap. I6, 2 ff. 
beſonders Berd4 ff, Cap.19,2 ff; beſ. 5; Cap. A, 2. n. ſonſt.) 
Nein! Im Bewußtſeyn ihres Vortheils, in dem Gefühle, 
die gute Sache zu vertreten, — da fie ja bie göttliche Ges 
rechtigfeit zu. Ehren bringen wollen, — fich hinter diefer 
Aegide geborgen, glaubeyd, halten fie ſophiſtiſch⸗abſchwei⸗ 
fende Reben, die fich den Schein geben, die Sache erfchunfk 
zu haben, an welche auch nur .heranzugehen fie wohl weiß» 
lich Schen tragen. Jene gefällige, fertige Beredtſamkeit, 
die fich fo gern felbft reden hört, und am Liebften da ver⸗ 
weilt, wo fie ein allbefanntes, von Allen ohne Wider⸗ 
ſpruch zugeſtandenes Thema zu erörtern überninmt, inx 
Gegenſatze gegen den Fühnen, aber ehrlichen Frager, ber 
ſich nicht in. den Schooß einer allgemein recipirten Auficht 


14 : BSGachs * eh 


flüchten kann, weil er bereits deren Unhaltbarkeit erfaunt, 
ift bier in einer Welfe dargeſtellt, die ald Prototyp für den 
Kampf des nad; Wahrheit ringenden mit dem Hypokriten 
gelten kann, der in behaglicher Selbſtgefälligkeit fich Den 
Schein gibt, die' Wahrheit zu befiben, um bie es ihm 
Hoch nie ernftlich zu thun gewefen. 

Wir heben nochmals ftärker hervor, was wir bereits 
oben angedeutet, und was noch nicht beachtet worben if, 
obgleich es für eine Einficht in die Harmonie ded Ganzen 
und bie tiefe, Tünftlerifche Abfichtlichkeit der Compoſition 
fo höchſt weſentlich ift: daß Hiob in allen feinen Reden 
eine buppelte Tendenz verfolgt: erftlich die, alled von ſei⸗ 
nen Gegenrednern Aufgeftellte zu widerlegen, oder: viels 
mehr abzuweifen, und zweitend die, davon unabhängig 
in fetten eigenen Gedanken fortzufchreiten. Dieß zeigt fich 
fo deutlid, in der äußern Anordnung der Neben, in bem 
Berhältniffe, das Hiob's Partieen gegen bie der Hebrigen 
einnehmen, es ift dieß zum Theil mit einer fo deutlichen 
Symmetrie in der Form ausgeſprochen, baß es kaum 
einem Aufmerkffamern hätte entgehen können. Wie in dem 
herrlich geglteberten pindarifchen Eidos flehen die Reden 
Hiob's und der Freunde in dem Verhältniffe von Strophe 
und Antiſtrophe, nach welcher am Schluffe in freiem, be⸗ 
ziehungslofen Einhertritte ein Epodos folgt, das Ganze 
rundend und abſchließend. — Nach dem Zurückweiſen der 
Troſt⸗ und Anklagegründe der Snterloeutoren folgt faſt 
regelmäßig ein Abfchnitt, feine Klagen wieder aufnehmend 
and verftärfend, gleichfam als follte der neue Anlauf, den 
fein Schmerz nimmt, fein immer wieder von Horn Anfans 
gen zeigen, wie die Entgegnungen feiner Freunde gar 
nichts mit ihm gemacht hätten, wie in ihm troß bem Allen 
Alles beim Alten bleibe. Beſonders herrlich macht es ſich, 
daß in dieſen freien Erppfitionen Fein Hinblick auf die Spres 
chenden fichtbar ift, daß in diefen frei fich ergießenden Kla⸗ 
- gen. feine Rüdficht auf das Dialogifche genommen wird; 





zur Charakteriſtik u. Erlaͤut. d. Buches Hiob. 915 


er klagt dem Hintmel, ſich ſelbſtz denn die um ihn (kn, 
verſtehen ihn nicht. Daher richtet ſich in dieſen Partieen 
feine Rede meiſt unmittelbar an Gott. So enthult Cap. 6 
Entgegnung, Cap. 7 freien Ausbruch ſeines Schmerzes ;: {9 
Say.9 Gegenrede, Cap. 10 freien Erguß Alien Klagen; Cap. 
124.13 Öegenrede, .&.14 freie Reflexion und: Klage; C. 16 
Gegenrede, Kay. 17 freie Reflexion u. Klagen. Dieſe ſym⸗ 
metrifche Anorbnung in dev Vertheilung ber beiden Haupe 
maffen, die Hiob's Charakter im Buche conſtituiren, wirb 
Gay. 19 unterbrochen, und die in deit früheren Abſchnitten 
fo fcharf ans einander gehaltenen Elemente: fließen: dort 
mehr. zufammen, ebenfo Gap. 21, von dem wir noch nüher 
zu reden haben werben; tritt wieder ein Cap. 23 und’ 24; bis 
endlich von Cap. 26 ab. Hiob, vom Widerlegen erſchöpft und 
des Zuhörens müde, — ein ungedämmter, mächtiger Strom 
einherfluthetz — die Schilderungen von der’ Allmacht, 
Groͤße und Unerforfchlichteit Gottes, — das Einzige, wor 
mit ihm ſeine Freunde entgegentraten, — -Ubenbietend, 
zeigt er ihnen, daß, wenn es darauf ankomint, er ſich 
wohl auch zu ihrer Höhe emporzuſchwingen, ja ſie zu 
überfliegen wiffe, befonders in dem herrlichen 28ten Gay. ; 


hieran fchließt fich Cap. 29 die fchöne, durch fo churakteriftis . 


fche Züge belebte Schilderung feiner früheren Lage, daray - 
als Gegenſtück Cap. 30 die ergreifende Darfteliung feines 
jetzigen Zuſtandes, und endlich Cap. B1 fein fittliches-Eredo, 
Und fo hat er feine Aufgabe gelöft! Sene Gegenüberſtellung 
des Früher und Seht Überläßt gleichfam dem Zuhören, dit 
Nutzanwendung zu ziehen, wie wehe dem von ſolcher Hähe 
Herabgefuntenen zu Muthe ſeyn ntäffe, wie berechtigt feste 
Klagen, wie nichtöfrommend der gebotene Troft, und feine 
Rechenſchaft über fein fittliches Verhalten bildet ven ſchla⸗ 
gendften Gegenbemeis gegen: bie, von den Freunden, direct 
und indirect, fo oft ausgeſprochene und fo ſtark urgirte, 
Verausſetzung, als habe er fein Leiden verſchuldet. 
So ſchließt er, nachdem er fich wort allen Seiten gedeckt; 


M -i.: 7 Gahe 


alle Strahlen find :in einem Kocas concentrirt, und was 
früher ſich als unmotivirt dargeftellt, das hat in der 
Trilogie am Ende Begründung, Auflöfung, Berechtigung 
gefunden. aan cz 
Run ſey ed and noch vergönnt, ein Wort über ben, 
durch Elihn repräfentirten, Epilog hinzuzufügen. Sein flürs 
miſches Auffahren, feine hochführenden, pomphaften Ans 
Nindigungen, fowie feine. ganze Erfcheinung erinnern an 
den, ganz unberufen in Die Scene des Geſpraͤches ‚herein 
prechenden, Thrafymachos tm platonifchen Staate. Gleich 
von vornherein fpricht er in dem ftärkiten Ausdrücken perems 
toriſch feig Berdammungsurtheil über Hiob fowohl, ale 
über deſſen Freunde aus; er wird ganz andere Dinge vor 
‚bringen; er wird der Sachwalter Der fo fchlecht vertrete⸗ 
nen göttlichen Prowidenz werden; und fo beginnt er dent 
mit :immer-fleigender. Lebhaftigfeit des Vortrages, mit ims 
mer größerer Gereiztheit gegen Hiob, zu dem er fich nur 
zuweilen aus feinen Aufflügen: herabfenft, um. ihm eben in 
Bauſch und Bogen fein Unrecht vorzumerfen, orafelmäßig 
feine Anfichten anszufchütten. Wenn man fogleich im dem 
pompöſen -Eingange an das Wort des Dichters :. quid tan- 


„to feret hie dignam promissor hiatu? ſich erinnert fühlt, fo 


geigt ſich auch in Dem weitern Verlanfe ber Darftellung ſelbſt 
Die dort gegebene Antwort ald hier ganz wohl anwend⸗ 
bar, — Die Unmöglichkeit der Löfung der Frage, welde 
Den Angelpunct des ganzes Buchs bildet, mar in den frü⸗ 
heren Neben dadurch bemerfbar gemacht worden, daß bie 
Sprechenden immer nur in allgemeinen Theorieen, Ges 
meinpläben, Reflerionen, die. auf Alles, nur ben eigents 
lichen Hauptpunet der Sache nicht, eingingen, ſich beweg⸗ 
ten; Daß. ſie nach flüchtiger Berührung deſſelben fofert 
wieder abſprangen. Noch viel ſtärker iſt dieß in ber Rede 
des Elihn hervorgehoben, Alles, was im Früheren mehr 
vereinzelt Da geweſen, was ſchon durch die Vertheilung 
unter drei Sprechende in ſpaärlicherem Maße ausgeſtreuet 


S 








zur Charakteriſtik u. Erlaͤut. d. Buches Hiob. 97 


war, das ift hier als eine reiche, Dichtgebrängte Saat auf⸗ 
gegangen. Sowohl die Form des Ausdrucks, als auch 
ber ganze Beitand von Gedanken, für baare Thatfachen 
ausgegebener Einzelanfichten ift hier maffenhafter, überlas 
Dener, bis zum Bombaftifchen extendirt. Mangel und 


Borzug der früheren Reden kehrt hier_mifroftopifch vers 


größert wieder., Wo jene unmuthig waren, fpricht hier 
glühender Zorn; wenn jene Die Sache umgingen, wird fie 
hier geradezu gänzlich ignorirt; Dagegen aber glänfen auch 
die hier gegebenen Schilderungen in einer, Gluth und Uep⸗ 
pigfeit der Farben, in einem Reichthume und einer Ueber⸗ 
fehwenglichkeit von Zügen hervor, die weber in dem Frü⸗ 
heren, noch vielleicht irgendwo ihres Gleichen findet. Daß 
bier fich unfere oben gegebne Anficht von ‚dem Verhältniſſe 
der Sinterlscutoren zu Hiob, ihrer. abfichtlich fchwachen 
Beleuchtung gegen feine :mit allem Lichte ausgeſtattete 
Stellung, wie in einer Brobe.bewähre, wird. um fo mehr 
einleuchten, went wir uns an Das oben über bie von Hiob 
gefprochenen Schlußrapitel Bemerkte erinnern. — Es war 
ein Act poetifcher Gerechtigkeit, den. ber Verfaſſer des Bu⸗ 
ches in. der Partie des Elihu übte, Wie er den Higb in je⸗ 
nen Schußcapitelg ohne Störung ſich nach ‚allen Geiten 
hin ausfprechen ließ, um ung bie früher Busch, die ſchwan⸗ 
Ten Bewegungen bes Geſpräches nicht zur. vollen Ausbrei⸗ 
tung ihrer felbft gefommene Totalität feines Denkens und 
Handelns zur Anſchauung zu bringen: fo. mußte auch Der 


andern Seite ihr Recht angethan- werben, und auch ihr 


vergönnt feyn, den. ganzen: Kreis ihrer Vorſtellungen und 
Anſichten zu durchlaufen. So drängt ſich nun am Schluffe 
in zwei großen Hauptmaflen zufammen der, Erttag alles 
früher Verhandelten, gleichfam eine Syntheſis des.früher 
analytiſch Auseinandergelegten, bie zu einem an vers 
fammelten einzelnen Züge — h 
.II. 
Aus den Geſagten — au Genige ehren, vB, 
Theol, Stud, Jahrg, 1834. 


Pd 


18 0: Sachs 


wenn Leben und Haltung in dem Dialsge fehn fo, noth⸗ 
wendig ein Hinübergreifen aus den Reden des. Einer in 
Die des Andern, beſonders in ben Reden. Hiobs eintreten 
mäffe, daß es an Nädbezichungen anf die geäußerten 
Anſichten nicht fehlen Därfe, und ntan müßte es voraus⸗ 
fegen, auch ohne das Bud; näher befragt zu haben. Des 
von aber haben Die Audleger bis jetzt, mie es ſcheint, noch 
nichts geahndet, und man hat frifchweg interpretirt und 
überfeßt,. ohne das suam cuique, worauf fonft viel gehal⸗ 
ten wird, Bier auch nur entfernt zu berücfichtigen.. Ras 
turlich gab es Ineonvenienzen und Schwierigfeiten genug, 
da man oft genug ald Anficht und Worte des Sprechenden 
nahm, was bloß Quinteffeng des vom Gegner Geaußer⸗ 
ten war, und eben als bloßer Anknüpfungspunrt für -die 
Widerlegung eingeführt worben; man mußte Wider 
ſprüche vermitteln, die in Der. That keine waren, da mar 
bloß das Fremdartige andzufcheiben hatte, um den bündig⸗ 
ſten Zuſammenhang zu gewinnen. — Wir wollen es ver 
ſuchen, einige folcher Rückbeziehungen, die bald in beutlis 
der, parobifcher "Wiederholung, bald mehr verſtedt in 
fümmürifcher Recapitnlation- beftehen,, an einigen Stellen 
Nadzumeifen. Dürfte auch dieß nicht auf Sie Interpreta⸗ 
tion umgeſtaltend wirken, fo it! das Fackum ſelbſt intereſ⸗ 
ſant, und’fir- eine genauere —— des ne ims 
Wie noch · erheblich genug. 
> Bon erſterer Art ſcheint ung bie Steite 12,4; — pri 
war. poax Dira:nmagnn. mind ash Fern, 
Wir ſetzen de Wette’s Ueberfegäng * um: * so 
nn feibie- zeugen zu laſſen ·“· 
| Bl Gefpstt meinen: Vreunben· bin —* — ich 
rufe Gott, und er hoͤrt mich, — zum Spät, der 
’ Gereäite, Trommel’ 
Wie? durch eine fo matte; ja ſeine Janze Stellung in 
dem Buche annihilirende Ertlamation follte Hiob feine, 
Kies zumäl fo: aufgeregte, Rede ernerven? Gr; der immer 





zur Charakteriſtik u. Erlaͤnt. d. Buches Hiob. MB 


Hagt, er könne nicht vor Gottes Thron dringen, er würbe 
nicht zur Nechtfertigung gelaflen, deffen Berzweiflung 
fich in fo ftarfen Aeußerungen Luft macht: — follte plötz⸗ 
lich mitten in feinem brennenden Schmerze eine fo hoble, 
ungehörige und fo fharfgegen Die übrige Nede abftechende, 
fie, wie geſagt, vernichtende Phrafe einfchieben? — Wir 
find überzeugt, daß der treffliche de Wette nur ungern die 
Zrennungsftriche febte, und können fie nur als Nothzeir 
chen betrachten, daß. hier Hilfe, dringende Hilfe nöthig 
ſey. — Schlechter noch, ald von Seiten des Sinnes, ſteht 
es um dieſe Ueberfeßung in fprachlicher Beziehung; aı% 
foR heißen: „ich rufez” die für jene Auffaſſung fo uners 
läßliche Adverſativ⸗Partikel iſt erſchlichen; dieß Partici⸗ 
pium ſteht überdieß ſo parallel mit dem früheren und fol⸗ 
genden Gliede, daß es, wie ſchon die Symmetrie des Saz⸗ 
zes zeigt, auch keine andere ſyntaktiſche Geltung haben 
kann, als die es umgebenden Kola. — Erinnern win ung 
aber, Daß (Cap. 5, 1) Eliphas dem Dulder mit dem untröſtli⸗ 
chen Zurufe entgegentrat: 

„Rufe doch! ob dir wer antwortet. und an wen Der 
Heiligen willft du dich wenben?” (d. h. beine Klagen ver» 
hallen ungehört) — dann finden wir hier eine bittere, pa⸗ 
rodifche Anfpielang auf jenen Ausdprud: 

„Ein-Spott meter Freunde bin ich; ein „er ruft Gott 
und er erhört ihn!” ein Spott ꝛc. — ganz ähnlich den bit; 
ter höhnenden Moxten Des Propheten Elias (2 Kin, 18,27), 
oder denen ber Feinde Davids in ben Palmen, 22, 9, Wer 
fi) etwa daran ſtößt, daß wir. einen aus 4 Worten beſte⸗ 
henden Satz zu einem Subftantin zufammenfaffen, Den. ner: 
weifen mir auf bie gelehrte Beifpielfammlung in Be enius 
Commentar zu Sefaias VIII, 3 p. 329. 

Ein zweites Beifpiel gibt Cap. 16,3. » 

38:2. Ich habe foldjeg nun ſchon oft gehört; Ihr 


ſeyd doch Alle leidige Tröſter! — 
— 60 * 





20 Sachs 


BE. 3. „Haben ein Ende die windigen Neben?” ober: 
„was erbittert Dich, daß du entgegneft?” 

Hier Hat man gewiß unrichtig die von und mit Aus 
führumgegeichen verfehenen Worte als aus Hiobs Munde 
kommend angefehen, hat nicht gefühlt, daß m dann ganz 
mnerträglich ift, was nach unfrer Auffaflung, als ſeyen es 
aus den Reben der Gegner angeführte Worte, ganz anges 
meſſen fteht, und befonders überfehen, daß, wenn bie 
Worte an die Freunde gerichtet find, das Suff. in am 
pPluraliſch feyn muͤſſe, — was durch alle Mafchinerieen von 
enallage numeri nicht zu befeitigen ift. 

Aber Vers 3 enthält nicht Hiobs Worte, fondern wie 
derholt die Kormeln, mit denen er abgefertigt wird, und 
bildet fo die nähere Beflimmung des in (BE. 2): Sol 
ches, fo triftige Argumente, wie: „wann wirft bir endlich 
fchweigen?” — Hiob deutet auf Cap. 15, 2 ff., 8, 2 und 
auf 15, 11,12, wo ſich ähnliche, weiter ausgeführte Aeuſſe⸗ 
rungen finden. — 

Bei Gelegenheit diefer Stelle noch ein Wort über die 
Bedeutung von Yan. 

Die herrfchendfte Anficht über dieſes Wort gibt Geſe⸗ 
ins Wb. s. v. Er ftellt die von Kimchi, hoͤchſt wahrs 
ſcheinlich ausbloßer Vermuthung, angegebene Bedeutung: 
„beftig, kräftig ſeyn,“ als an allen Stellen paßlich, zwar 
voran; gibt aber dann, als der kimchifchen, etymologiſch 
unverbürgten, Annahme wielleicht vorzuziehen, bie auch 
fhon von früheren Auslegern ftatuirte Trennung, nad 
der Hiob 6, 25 fo v. a, yon bedeutet, während ed an 
allen anderen Stellen nach dem Arab. — aegrum esse heißt. 
So ſchon Hufnagel, bei dem fih auch eine andere 
Anwendung bdeffelben arab. Etymon, von Döderlein ver 
fucht, Sorfinderz fo, wie fich von felbft verficht, Roſenmül⸗ 
ler, — auch Winer im neuen Simonis, Bödel; de Wette 
Kberfeßt nach Kimchi 6, 25: „wie Fräftig find der Wahr 
heit Worte!” — und an unferer Stelle; „Was bringt bi 





zur Charakteriſtik u. Erlaͤnt. d. Buches Hioh. | 924 


auf?” — Mißlich, ja bedenklich iſt fchon jene Trennung, 
die doch wohl nur. bann gewagt werden darf, wen ent⸗ 
weder durch etymologifche Induction oder durch einen ges 
nügenden Beſtand von Stellen die Bedeutung ber Wurzel 
ficher geftellt ift; Feines von Beiden ift hier der Fall, Kim⸗ 
chi’8 Anficht ift für den Sinn annehmbar genug, und 
läßt fi auch von etymologiſcher Seite her begründen. 
Der naheliegenpfte Vergleichungspunct, fowohl für die 
Etymologie, ald die Bedeutung ift urn, deffen Relation zu 
yvo Diefelbe ift, wie die ded Verbum var zu Yan (Seen. 
Wb. u. WW), und überhaupt feiner Erhärtung bes 
darf (Gef. Wb. 7). wm theilt feinen Begriff nach 2 Seiten 
hin: „glatt feyn,” und: „scharf feyn;” an diefe letztere 
fchließt fich Die Bedeutung von ya. Es nimmt alle die 
Bedeutungen an, in denen die verwandten Begriffe Yırı 
Tr, übertragen erfcheinen. nıyca rbbp ift „fcharfer; heftiger 
Fluch; yaaı 5a corruptio vehementissima, vielleicht mit 
yıarı ron zu vergleichen: fcharfes, gänzliches Verderben, 
wiewohl fich gegen die andere Auffaffung: „befchloffenes 
Berderben cf. Gef. Ib. ya. Somment. zu. Jeſ. X, 22p. 403) 
faum etwas erinnern laßt. — Hiob 6, 25: „wie fcharf, d. h. 
fchlagend, treffend — find der Wahrheit Worte” ; wozu die 
oberflächlichen Reden der Freunde den Kontraft bilden. — 
An unferer Stelle ift ed dann, wie wir aus de Wette und 
Gef. bereits angegeben, — aufbringen, d. griech. wapokv- 
verv, was überhaupt zur Vergleichung bier inſtructiv if. — 
Wir wundern und, daß Gefen, nicht Diefen Weg einge 
fchlagen; feine ‚Bemerfung über voym cSsef. XVIH, 2, 
Gomment. p. 581) flreift nahe genug an die hier gegebene 
Eombination, — 

Ein drittes Beifpiel einer verſtecktern Rüdbesichung 
gibt Gap. 21, 22. 

Hiob hat in dem erften Theile dieſes Capitels als Ers 
wiberung auf Bas ihm fo oft Dargebotene Argument: es 
gehe dem Frevler doch am Ende nicht gut aus — in einer 


922 Sachs 


detaillirten Schilderung gezeigt, wie allerdings der Boͤſe 
glücklich ſey (von Vers 2 — 16), fragt dann: (Vs. IT) Wann 
endlich das ſo vielfach geweiſſagte Verderben über den 
Böfen hereinbrechen würde, weiſt (Vs. 19 ff.) Die Auskunft 
ab, die man treffen konnte: dag ed, wenn auch ihım felbft 
nicht, Doch feinen Kindern Übel ergehe; denn, — heißt es 
im 21ften Berfe — „was liegt ihm an feinem Haufe nad 
dem Tode, wenn die Zahl feiner Monden zugetheilt * 
(nach de Wette). Dann folgt Vers 22: 

 „Rann man Gott Weisheit lehren? Er richtet ja die 

Himmlifchen! (d. W.) 

Dieſe Worte führen die von feinen Freunden fo oft in 
aller Breite ausgemalte Unbegreiflichkeit , Unerforfchlics 
feit Gottes (ſ. befonders 11, 6, zumal Vers T u. ff. 15,9) 
518 einen Tert ein, den er durch fein bündigeres Argus 
ment widerlegen kann, als indem er — jene Anſicht in ih⸗ 
rem zweibeutigen Werthe auf fich beruhen laffend — bie 
von’ der täglichen Erfahrung gebotenen Beifpiele Des Gegen, 
theiles ausführt (bis Vers 26). — Dann fährt er fort: 
(nad; de Wette). 

21. Siehe — ich kenne Eure Gedanten, und die Meis 

nungen, womit Shr mir Unrecht thut. 
28, Denn Ihr fpreihet: „Wo ift das Haus des Ge 
waltigen und wo das Prachtgezelt der Frevler 

(ſ. Cap. 18, 21). 

29. Habt Ihr nicht befragt, die des Weges zogen? 
Ihr werbet ihre Beweife nicht verfennen! (Sronis 
ſche Anfpielung auf ihre Berficherungen von der Wahr 
heit und Unumftößlichfeit ihrer Behauptungen. „Das habt 
‚Shr Alles von Augenzeugen, die die Sachen gefehen, — 
und ihre Ausfagen gebet Ihr bloß wieder.” Wir überfegen 
das zweite Hemiftich auch noch als in der Frage ftehend: 
„und ihre Ausfprüche verkennet Shr nur nit”? Nicht 
wahr? Ihr fagt bloß, was aus ficherer Quelle Ench zus 
gekömmen? Nicht wie Gefen. 8. v. >35 was Dem Zufams 





zur Gherakterifit u. Erläat, d. Buches Hiob. 923 


menhange ganz unangemeflen fcheint. — Vgl, 15, 17, si 
20, 9. 
V. 30, Am Tage des Verderbens wird der Böfe: vers 
ſchont, am Tage ber Rache werden fie begraben. 
So de Wette. In Diefer Ueberſetzung vermiffen. wir 
2; Daß es nicht gleichgiltig ſey, wird fich aus Folgendem 
ergeben. Offenbar nämlich ſchließt V. 30 das in ſich, was 
— wie Hiob fagt T- feine Freunde von den Wegziehenden 
vernommen, was bei ihnen als unabweisliche Erfahrung 
feftfteht, nämlich: daß der Böfefeinem Schidfale doch ent⸗ 
gegengehe; dieß Fehrt durchweg wieder: 5, 3 ff. 8,12 ff. 
15, 23. zen ar I Ti und die ganze folgende Stelle, 20, ° 
5, bei. 8.7, 8 u.d. Folg. Und ganz deutlich Tiegt auch 
das in den Worten, Die man nur anders faffen konnte, ſo⸗ 
bald man fie als ein Nefume des früher von ben Hebris 
gen Geäußerten anſah. Wir überfeßen die Stelle, und 
fchalten der Kürze halber in die Ueberſetzung einige Zus 
fäße ein: 

29. Richt wahr? gIhr habt die des Weges zogen ge⸗ 
fragt? und ihre Ausſagen verkennet Ihr (nur) 
nicht? 

30. Mämlich) „daß dem Tage des Unglücks aufge⸗ 
ſpart wird der Böſe, dem Tage des Zornes zuge⸗ 
führt!“ — 

31. (Ich aber ſage Euch:) Wer rügt ihm ins An⸗ 
geſicht ſeinen Wandel, und was er gethan, wer 
vergilt es ihn? 

32. Ins Grab wird er (vielmehr) getragen uf. w. 

Hier wieder, wie oben, Die Entgegenfeßung des durch 
die Erfahrung des Lebens Conſtatirten gegen Hypotheſen! 
Sprachlich ift unfre Ueberſetzung aus folgenden Gründen 
gefihert: er mit ſteht eben fo, wie wir ed genommen, 
Hiob 38, 235 daher alfo die Bedeutung: „geſchont wers 
den,” die Gefen. aus dieſer Stelle befonders aufführt, nicht 
befonders anzumerken ift; nur fo gefaßt, wie hier, findet, 


Ma Sachs zur Charakt. u. Erlaͤut. d. Buches Hiob. 


das 5 feine gehörige Bedeutung, vgl. Habak. 3, 16, Das 
niel 12, 13. — Ferner geht aus 3. 32, wo ausbrädlid 
nimapb. bei ber flieht, hervor, daß ar ®. 30 nicht heißt: fie 
werden begraben ; fondern, wie wir edgenommen: binzuge 
führt werden; wegen bes > vgl. Hof. 10, 6. Man überfehe 
nicht den gewiß nicht zufälligen Gleichklang in: rinay ur 
aber und 5er ninsp5; bie beiden, fonft ungewöhnlichen Plus 
zalformen, Die wohl deshalb ſtehen, weil in den Singes 
Jaren: rmas und “=p jener parodiſche Gleichtlang nicht 
wäre zu erreichen geweſen. 


4. 
Bemerkungen zu Stellen des Evang. Johannis, 


von 


Dr. de Bette 





ob. 8, 25. 

Die Worte 17V doyyv ö,rı zul Ani Univ find noch 
nicht fo erklärt, Daß fich der genaue Sprachforſcher das 
bei befriedigen Fonnte; und dieß kommt daher, daß die 
Andleger fich nicht (genug um Die Wortbedentungen befüms 
mert haben. Sch will Diefe daher zuerft ficher zu ftellen fuchen. 

Was zrv aoynv betrifft, fo ift D die Bedeutung im 
Anfangehinreichend aus Etymologie und Sprachgebraud; 
bewiefen. Vgl. die Stellen bei Elsner aus Isocrat. Ni- 
cocl. p. 72. Arrian. Expedit. III, 11.p.118.; beiSchwarz 
Comment. crit. et philol. lingu. graec. aus Zosimus Hist, 
1, 67. p. 108.; bei Wetstein aus Thucyd. II, 74 A- 
phthonius Progymn, IV. Auch die LXX brauchen es fo für 
rbrma 1 Mof. Al, 21. 43, 18: 20. Aber 2) die von Pau 
Ius und Olshauſen angenommene Bedeutung fürs 
erfte, erſtlich läßt fich, obgleich die Etymologie dafür 
zu fprechen fcheint, aus dem Sprachgedranche nicht bes 








Bemerkungen zu Stellen bed Evang. Sohannis. 925 


weifen, und ich babe keine Stelle finden Können, wo fie 
vorkaͤme. Die von den Meiften angenommene 3) Bedeus 
tung prorsas, omnino, ift nur aus dem Sinne, den ber 
Ausdrud im Zufammenhange, befonders mit der Negation, 
hat, entlehnt und alfo feine wahre Bedeutung. Man kann 
freilich in der Ueberfeßung prorsus oder omnino brauchen, 
3. 8. Plat. Apol. Socr. p. 29. bei Vigerus p. 80....% 
zunv dornv ou Ösiv lub Ösügo eldeilteiv... aut me prorsus 
non debuisse huc venire; Gorg. p. 178.... 0 unöt xauvon 
&ornv, qui prorsus non aegrotavit, obfchon felbft Aber die 
Genauigkeit diefer Ueberfeßung geftritten werden kann; 
aber die eigentliche Bedeutung, welche neben Nr. 1 allein 
Start hat, iſt: von vorn herein, von Hand 
aus, im Grunde, überhaupt (obſchon diefed Wort 
nur den Sinn ausdrückt, und eine etwas andere Etymologie 
bat). Die eigentliche Bedeutung anfangs, wobei eine 
Rückſicht auf die Zeit Statt findet, wird anf die Befchafs 
fenheit oder die Verhältniffe Der Sache übertragen und zus 
Bezeichnung des Begriffs des Urfprünglichen, an ſich Seyen⸗ 
den und allgemein Geltenden gebraucht. So wie wir mit 
unferm überhaupt von Einzelheiten auf Das Ganze und 
Allgemeine hinlenten, fo faßt der Grieche mit zyv- doynw 
das Urfprüngliche im Gegenfate des hinterher Hinzugekom⸗ 
menen ind Auge. Oft hat fich Diefe Bedeutung verwifcht, 
bisweilen gilt fie noch ganz beftimmt. Im erften Der anges 
führten Beifpiele heißt zn» doyyv wohl noch eigentlich 
von vorn herein, gleich, weil darauf folget: 7 Zweı- 
dn elajAdov. Im zweiten Beifpiele ift omnino, überhaupt, 
wohl richtiger als prorsus, gänzlich. Auch Gorg. eben», 
daf. etwas fpäter: od yag zoür mv zudaunovia, as Eoıxs, 
xuxod aralluyn, aid nv doxnv undt xrijotg findet die 
erfte Bedeutung noch Statt, wie auch Schleiermacher 
überfeßt: „denn nicht das war Glüdfeligfeit... fondern 
von vornherein Feine Gemeinfhaft damit.” Aehn⸗ 


926 be Wette. ‚ 


lich Hermogenes de invent, Il, 1, bei Wetst.: ’Eav 
pev Avousv ròov vouov, Abyovrsg Örı Toüsev iyenv pndi 
yeyodpdaı cov vouov nv aoriv. Loseph.B. LIV,10.7.... 
a un Ösdevrı vv doyzv. Am wenigften würbe man mit 
prorsus andfommen in folgenden Stellen: Lucian. Ca- 
tapl. 21: zollug, & Xagmv... apa MixöAlou ijon Tıva 
GBoAoy goodondv. doynv Öt our: olda sl vergdyavor 
doriu OßoAög, 7 orooyyoaov. „Du fcherzeft, Sharon, indem 
du von M. einen Obolus erwartefi: überhaupt aber von 
sorue herein weiß ich nicht, ob ein Obolos vieredig oder 
rund iſt.“ Xenoph. Cyrop. I. 2, 3.: Oi 6: Ilsgsıxol vopoı 
sooleßövreg imuilovreı, Onag Tv dpynv ung Towüra 
Saovraı ol zoAicei, oloı zovngod viwog Epyov 7 alsyeoü 
iplscder. „Die perfifchen Gefeße aber forgen (im Gegens 
füge mit andern, welche bloß Verbrechen verhüten) in vor: 
aus dafür, . daß von vorne herein (überhaupt) die 
Bürger nicht foldhe werden, die ıc. ꝛc.“ Ohne Negation, 
aber mit einer der Negation gleichkommenden Frage fteht 
id doxnv in folgenden Stellen: Plat. Lysis p. 215: xo⸗ 
adv ol ayadol Toig dyadroig npiv plaoı Esovraı iv der, 
Hark. Schleiermaher: Wie alfo können und nur 
überall Cüberhaupt) Gute mit Guten freund werben, 
weiche ıc, c.-P-hile de Abrah. p. 366. (C. bei Loesner): 
ag yüg ev dayıv sloeAdeiv v ———— Qui poterant enim 
omnmo (iiberhaupt) intrare ? 

Am meiften muß und Daran liegen, Stellen zu verglei⸗ 
chen, wo unſer Adverb. ohne Negation ſteht, weil es bei 
Johaunnes fo vorkommt; aber deren gibt es vergleichungs⸗ 
weiſe wenig. Mir find folgende bekannt: Sophocl. 
Pbiloct. 1232: ’Agyiv aAwew üv 000” Anak 2Bovaounv, 
wo bie Regation wenigftend nicht unmittelbar Damit ver: 
bunden iſt. Es heißt hier ebenfalls von vorn herein, 
überhaupt. Bio XXXII, 43: ... 6 Koisap ..... tij 
05 dy yuvalsa ünexiubero, EIN@V ..... u] guivscı zul 


N 
N 








Bemerk. zu Stellen des Evang. Johannis. 927 


ovvomiosw Ei avdıjj Övvaddaı, -drört xıd Uxonteitn 
CorV usuoıyzüodei...:.. weil fieüberhaupt des Ehe⸗ 
bruchs verdächtig geworden fey. Maximus Tyr. Dissert, 
5. p. M. (bei Elsner:) rl d& xai riV dprnv Geuvor; 
was ift überhaupt (von vorne Bra) heilig — 
ehrbar)? 

Es wird nun klar ſeyn, daß die Bedeutung prorsus 
nicht Statt findet, am wenigſtens die von Lu de angenom⸗ 
mene: wahrhaftig — aunv, und es wird ſich zeigen, daß 
in unſrer Stelle kaum eine andere, als von vorne her⸗ 
ein, überhaupt, anwendbar ift. 

Zuvor aber tfE noch in Anfehung des Andsiv zu: bemer⸗ 
fen, daß es immer nur reden heißt, die Rede als Hands 
lung ihrer Form oder ihrem allgemeinen Inhalte nach ges 
nommen, fo daß man wohl Innere Audsiv (Joh. B, 34, 
6, 63), tadın Anis (8, 28) fügen, nicht aber einen ber 
flimmten Redes Inhalt damit angeben Tann, wofür nur 
Atyav, jagen, paſſend ift. Vgl. Bretschneider ®. ı. 
AcAs .(Tittmann de synon. p. 79 hat En hieher Ge⸗ 
höriges). 

Nunmehr können wir Die — ——— Erklaͤrun⸗ 
gen prüfen, und die richtige aufzuſtellen verſuchen. Die 
Erklaͤrung Beza’s und Tholucks: Sch bin, was ich 
euch auch anfangs gefagt, kann ich nicht billigen, 
weil die Wortftelung willfürlich verbreht, And für SAudnoe 
und: Diefem Zeitworte Die Bedeutung von Aeym gelichen iſt. 
Eben fo wenig die bretfchneider’fhe: Gleich ans 
fangs habe ich gefagt, was ih auch jebt euch 
Tage. Die Ergänzung von kaAdano« und die Erklärung 
des xl durch auch jet ift willfürlidh, und Auto ift für 
Ayo genommen, gegen die eigene richtige Angabe des Lexi⸗ 
tographen, Die Erklärungen von Erasmus: Primum 
som quod etiam dico vobis; von Luther: Erſtlich Der, 
der ich mit euch rede; von Paulus: fürs Erfke 


928 ee be Wette 
bin ih das, als was ich auch jeßt zu euch rede, 





theilen den Fehler, eine unerwiefene Bedeutung Ded mm 


dor. zu befolgen; übrigens nimmt E. Ania für Atyı, Lus 
ther ö,r für Derjenige welcher, Paulus ähm 
lich, und fchiebt noch jeßt ein. Olshauſen verbindet 
V. 25 mit 26, und erflärt: fürs Erfte habe ich, was 
ich euch aud offen fage, Bieles an euch zu ta 
dein ıc., wobei das fürs Erfte und ih fage falſch, 
das offen aber eine Nothhülfe iſt; und Die Verbindung 
beider Berfe hat das gegen fich, daß wenn ö,rı x. A. ©. 
fich auf das weg) Uuov Anrsiv bezöge, es wohl hinterher 
und fiatt des Sing. ö,re wohl eher der Plur. à ftchen 
würde. Gegen den Sinn habe ich nichts einzumenden: 
Jeſus würde auf die Frage: wer bift bu denn? nicht eins 
gehen, fondern ven B. 23 ausgefprochenen Tabel entſchul⸗ 
digen; eine folche Entfchuldigung enthält V. 26 in jedem 
Falle. Lücke?s und vieler Andern Erflärung: Wahrs 
haftig nichts anders bin ich, als was ich eud 
auch ohne Rückhalt fage, leidet an fchon gerügten 
Fehlern und befonders an dem, daß dem zrv doyiv eine 
falſche Bebeutung geliehen ft. 

Die richtige Erklärung ergibt fich nun aus ben bishe⸗ 
rigen Bemerkungen von ſelbſt. Das Adv. v7v dpxyv kann 
nichts anders heißen ald von vorne herein oder übers 
haupt, d. h. abgefehen von allem, was fpäter hinzus 
tritt, was unmefentlich und zufällig ift; nach dem Zuſam⸗ 
menhange: abgefehen von dem fich felbft beigelegten Ras 
men, den die Suden Sefu abfragen wollten, welcher Name 
Prophet oder Meffias oder weicher e8 ſeyn mochte) nichts 
als die Sache einer erft fpäter hinzugetretenen Reflexion 
oder einer mittelbaren, nicht unmittelbaren Anftcht von 
Jeſu Perſon war. Nach uyv aoynv ift nothwendig aus 
dem Borigen zu ergänzen dyo alu, und bad 8, ru x. Av. 
iſt das was er iſt. Diefe Worte heißen aber nicht: was 


/ 


Bemerk. zu Stellen. bed Evang. Johannis. 029 


ch euch aud fage Cheflimmt. erkläre, .angebe), ſondern 
was ich euch auch rede (die Rede Jen allgemein, 
ohne Rückſicht auf.einen beftimmten Inhalt,. fonbern ihrem 
allgemeinen Inhalte ober Charakter. nach genommen). Das 
sel dient dazu, das, was J. redet, bem, was er ift, gleich⸗ 
zufeßen, fo wie es befanntlich bei Bergleichungen ftcht, 
(bei 05 Matth. 6, 10,1 Cor. 7, T. f. [und zwar hier übers 
fläffig] Eph. 2, 35 bei oürag Matth. 24, 27, 38, 31, 80. 
Joh. 5, 21. 26; und felbjt bei Gegenfüken Roͤm. 5, 18.21 
1 Cor. 15, 22.5; auch überflüffig bei jedem Gliebe ber Ber» 
gleihung Rom. 11, 30. 31. [wo freilich das erfte xad Iris 
tiſch verbächtig ift ]) oder es drückt, wie Luk. 11,28, bie 
Wirklichkeit aus. a) Der Sinn der Rede J. ift hiernach 
fraget nicht nach dem, was ich bin! Gebet vor.allen Din⸗ 
gen,'che ihr euch einen Begriff über mich bildet, und mir 
einen Namen gebet, meinen Reben Gehör, und erkeunt 
daraus mit unbefangener Empfänglichteit, wer ich bin! ; 


30h. 9, 40 f. er 

Diefe Stelle hat Tholuck — verwirrt und — 
gens ſehr flüchtig behandelt. Er bezieht die Frage der 
Phariſaer: „Sind auch wir blind?” höchſt widerſiunig 
auf die leibliche Blindheit; worin ihm Olshauſen mig 
Recht widerſprochen hat. Lücke verſteht V. Al duaprlay 
Eysıv von der Sünde des Unglaubens, Ols hauſen rich— 
tig vom fündigen Zuflande überhaupt; aber er erläutert 
bie Sache nicht genug: diefe Erläuterung will ich hier zu 
geben verfuchen. Es müflen die drei Parallelen 8, 21 und 
24,9, 41, 15, 22 und 24 zufammengenommen unb. auf 
diefelbe Weife erflärt werben. 8, 21 fagt Jeſus: Ich 
gehe hin, und ihr werdet mich fuchen, aber in eurer Sünde 


a) Hierbei wünſchte ich die Lexikographen und Ausleger auf die nies 
gends bemerkte und erläuterte Eigenfchaft des Sprachgebrauchs bei 
eukat, nad) dem relatirum za} zu fehen, aufmerkſam zu machen. 


[2 
. „ y%u 
08 .: 0.0. Be =. 


ſterben,“ unb 3. 24: „benn..menn ihr nicht glambt, daß 
ich es bin, fo werdet ihr in euren Sünden fterben.” Hier 
iſt offenbar die Sünde, oder wie ed nachher heißt, bie 
Sünden, nicht Die Sünde bed Unglanbens, fondern ber 
fündhafte. Zuftand, von dem fie hätten.durdy ben Glauben 
any. befreit werben können, in welchem fie aber bis au 
ihren Tod swerharren und darin fierben, weil fie nicht 
glauben. Bgl 3,36: „Wer an den Sohn glaubt, der hat 
Das ewige Lebenz wer aber dem Sohne ungehorfam if, 
wirb Das Leben nicht fchauen, fondern ber Zorn Gottes 
bleibt auf ihm.” — 15, 22 fagt-Gefus: „Wäre ich nicht 
gekommen und hätte zu ihnen geredet, fo hätten fie Teine 
Simbe;. nun aber haben fie feine Entfchuldigung wegen 
ihrer Sünde.” Aehnlich B. 21: „Hätte ich nicht Die Werke 
unter ihnen gethan — — — fo hätten fie Feine Sünde; nun 
aber 10.10. daß hier apaprla nicht die Sünde des Unglans 
bens (wie ed Rüde und Tholuck verfichen) feyn Tann, 
liegt auf der Hand; denn es wäre doch ein wahrhaft nichts: 
fagender Gedanke: wenn ic) nicht gefommen wäre, fo häts 
ten. ſie bie Schuld des Unglaubens nicht — das verſteht 
ſich ja von ſelbſt. Das Wort in der wahren allgemeinen Be⸗ 
beutung zu nehmen, hat man ſich vielleicht durch die Be⸗ 
benklichkeit abhalten laſfen, daß ja die Sünde auch Sünde 
war, noch ehe Jeſus erſchien; allein der Sag: fie hätten 
feine Sünde, ift relativ zu nehmen: fie wären gewiſſer⸗ 
Maßen Burch ihre Unwiſſenheit entſchuldigt. So fagt I. 
Matt. 11, 22, 24,'e8 werde Tyrus und Sidon und Ss 
doin tm Gerichte erträglicher- ergehen, als den Stäbten, 
in denen er Bunder getban. Was nun unſre Stelle 9, 41 

verrifft, fo miß zuvorderſt das el tugkol Are richtig ges 
faßt werden. : Richt ganz mit Recht weift Lite bie Er⸗ 
Härung Kuinöls ab: wenn ihr euch für blind 
hieltek, Diefer Sinn liegt freilich nicht in den Worten; 
allein ver Gegenſatz: vin ob Akyers_orı Bilzopen, führt 





Bemerk. zu Stellen des @vang. Johannis. 940 


doch darauf; auch liegt es im Begriffe der Blindheit, dag 
man fie fühlt und anerleuut und Hülfe dafür fucht, wie 
denn auch ber Blinbgeborne in der vorhergehenden Hei⸗ 
lungsgeſchichte feine Blindheit nicht ig Abrede ſtellte. Der 
Stan if alfo:.wenn ihr unwiſſend und irrend 
wäret, wen ihr euch im Zuſtande unbefangener, an⸗ 
ſpruchloſer Unwiffenheit befündet. (Olshauſen ganz 
falſch: fehlte euch in der That alle Fähigkeit, 
GSöttliches zu erkennen. Daburch wird gar kein rich⸗ 
tiger Gegenſatz hervorgebracht; denn das folgende BAsxo- 
ev, will nicht fagen: wir haben Fähigkeit für das Gött⸗ 
liche, ſondern: wir find weife und gerecht. Auch wird 
Durch dieſe Erklärung bie Rückbeziehung auf das ur} BaA- Ä 
scovreg V. 3Q, welches offenbar — vugAol, zerſtört). Ayf 
deun fo ertlärten Borberfag: Wenn ihr-blind wäreg, 
folgt num als Nachſatz fehr richtig der Gedanke: fo hät« 
tet ihr wegen eurer Sünde feine Schuld, d. h. fp 
wäret ihr im einem gemiflen Grabe zu entfchulbigen. Im 
Gegenſatze: num aber ſagt ihr: wir fehen, bem 
nad bleibet eure Sünde, aft:ber Nadıfag etwaß 
modificirt, aber jo, daß dadurch unfre Erklärung * 
mehr beſtaͤtigt wird. Der Sinn iſt: Nicht nur habt ihr 
Schuld wegen eurer Sünde, fondern ihr werbet auch nicht 
berjelben los durch den Glauben an mich, durch Erkennt⸗ 
niß und Annahme der Wahrheit; eure Schuld bleibet. 
Vgl. 8, 2A: ihr werdet in euren Sünden. ierken.” 

Joh. 10,24. 
Tv vuxiv algav erflärtman gewöhnlich nad) Eutlym. 
durch animum suspensam tenere — dvaprav; ich vermiſſe 
aber den Beweis dafür, Die eigentliche Bedeutung ift 
erheden, und man ficht nicht ein, wie Diefe zu, jener 
führen ſoll. Auch fehlen Die Beweiſe für einen ſolchen 
Sprachgebrauch. Bon den, Stellen, welhe Wetſte in 


BB: be Welle. 


anfühet, gehören mehrere gar nicht hieher, wie Themistius 
IX, pı 126, wo zog ubysdog alpeıv vv puynw, bie Seele 
zu hohen Gedanken und Gefühlen erheben heißt, Libs- 
‘nius Or.X. 265 A., wo algsodaı dem Bexrifsodear, erh o⸗ 
benwerden dem untergetaucht werden, entgegen 
gefegt'ift. In den übrigen Stellen aber, beſonders denen 
aus Joſephus, heißt Das Wort im Perf. pass. aufge 
regt, gefpanntfeyn. Antigg. II 2,3: ncav &xl zor 
xlvövvov rag duyas noubvor. 5, 1. Housvor reig dsavolas. 
Bretſchneider führt noch aus’ Antiqq, VHI, 18, 5. dung- 
‚univovsrädsavole zul raig Ödkaus an; aber bie richtige Les⸗ 
\art tft Öuyonntvovus. Lücke verweift vorzüglich auf Phi- 
lostrat. H, 4 und auf Sophocl, Oedip. Tyr. v. 905; 
aber in erfterer Stelle heißt ZEnouivor weiter nichts als 
aufgeregt und in der zweiten ift Ouucv algsı, erhebt 
Den Muth, kaum zu vergleichen. Noch hat man Zxsalesıy 
in der Stelle der LXX. 2 Kön. 18, 29. un Zapf vnäs 
Ebexiceg Aöyoıs verglichen. Diefe Weberfegung beruht auf 
der Berwechfelung des wurı mit wer; inbeffen mag Zwei 
geiv ebenfalls in ‘der Bedeutung zu Hoffnungen auf 
regen gebraucht ſeyn, und die Parallele beweift nichts 
für die. gewöhnliche Erklärung. Lösıter-. d. St. ſucht 
einen Beweis für die Bedeutung animum suspendere in der 
Synonymie der Berba alpem und uerewolfen; aber 
Diefe Liegt eben nur in der Bedeutung erheben, nidt 
in jener. Demnach bleibt nichts übrig, als unfere Stelle 
fo zu erflären: Wie lange willft bu unfere Seele 
sur Erwartung aufregen, fpannen? 


222. 80h. 10, 34-36, 
Tholuck verftcht unter den „Böttern” Pf. 82, 6. 
noch immer Richter und Obrigfeiten, obgleich alle Kenner 
EU T. willen, daß in den Stellen 2 Moſ. 21,6. 22, 7f. 
Er nicht bie Richter, fonbern das Gericht bezeich⸗ 





Bemerk. zu Stellen des Gang. Johannis. 933 


net; denn 5 Moſ. 19, 3%. finder ſich bafür-ram ab, ws 
doch niemand fagen wird, daß bie in Dppofition ſtehen⸗ 
den. „Priefter und Richter” Iehone genannt — 
Vgl.Gesen. the. p. 96.: .: I | 

Auch Ols hauſen wirft noch beides: in einanber ;Wie 
Sitte, das Gericht: Gott zu Aennen, und bie andere, Ms 
nige Gottesföhne, Götter zu nennen. Meine Erklärung 
von Pf. 82 würdigen beide feiner auch nur widerlegenden 
Berückſichtigung: vielleicht darum; weil fie ed für ter 
denklich halten, daß Sefus feine Gottesfohnfchaft mit ber 
heibnifcher, wungerechter Könige in Parallele ſetzen ſoll. 
Allein daß die „Götter”, Pf. 83, ungerechte Menſchen ſind 
und Gottes Zorn auf, fi) gezogen haben, läßt ſich auf 
feine Weiſe wegfchaffen, und Ols hauſen ſcheint es 
nur überſehen zu haben, weil er ſich wahrfcheinlich ‚nicht 
die Mühe genommen hat, auch nur einen BÜd auf den 
Pſalm zu werfen. Da es ihm, bei feiner Sucht, die Eine 
heit Chriſti mit Gott immer ald eine Wefensgleichheit aufs 
zufaffen, zu flach erfchien, den Grund, warum bie Könige 
im A. T. Sötterföhne heißen, barin zu finden, „daß fie im 
Namen Gottes ihr Amt verwalten follten”; fo ging er 
in unbegreiflicher Berblendung darauf aus, eine reale 
-Berbindung ber Perfönlichfeit mit Gott aud 
in „Göttern” der Pſalmſtelle geltend zu machen. Dazu 
mußten ihm Die gemißbenteten Worte: mung oüs 6 Aoyog 
ou Heoü äyevero dienen, bie: er. nicht, wie man nothwen⸗ 
dig muß, auf das an Die „Mätter”: Pf. 82 gerichtete (ſtra⸗ 
fende) Wort. Gottes bezieht, ſondern allgemein.im Sinne 
der Formel '» a7 m al& Bezeichnung der höheren Mit 
theilung, wie fie die Propheten empfingen , mimmt.. „Richt 
bloß echte (9. politifhe Obrigkeiten find hier- demnach zu 
verſtehen, ſondern auch Propheten und gotterleuchtete 
Männer überhaupt, die nach theokratiſcher Anſicht auch 
richten durften, weil Gott, der einzige ar Richter, 

Theol, Stud, Jahrg. 1884, 


. ” % . — 
“ s0o4i.tu = m +,*- ... _ -. ver ob. 


durch ſie ſprach. Ale. Diefe hießen Kinder Gottes, weil 
Gottes Kraft und: Weſen in ihnen wirkte und ſich offen⸗ 
harte. Ms findet · Aſo eine reale Parallele; zwiſchen denſel⸗ 
ben und zwiſchen Chriſtus Statt’ a. ſ. w. So find alſo 
jene Rrdengotter, zu welchen Gott ſpricht: „Wie lange 
mollt ihrer unsachtnichten und Die Partei ber Frevler uch: 
ment... Six ſind ohn' Einficht und Berflaud, in Fin 
ſterniß wandeln fir..... Sch habe gefagt: Götter ſeyd ihr 
und Soͤhne das Hoͤchſten ihr alle; doch wie Menſchen ſollt 
the Rerben,. und wie audere Fürſten fallen“ — durch bie 
„tiefe“ Schrifterkllärung des Hrn. Olshauſſen zu realen 
Parallelen Ehriſti geworben! — Beiläufig geſagt: ich 
ſchatze das große exegetiſche Talent dieſes Gelehrten sup 
Sein Verdienſt um Die bisher vernachläſſigte (dog matiſche) 
Auslegung; allein etwas mehr Fleiß und vor Allem Wahr⸗ 
heitsliebe wäre ihm wohl zu wünſchen. — Noch bes 
merke id). zu unferer Gtelle, Daß man den von Jeſu ges 
machten Schluß.a minori ad meins nicht verfennen darf, 
dann aber auch feinen Auſtoß Daran zu achmen braucht, 
Daß jene „Better — unter Jeſu ea Würde 
er 


goh. ii, 9 f. 


Es iſt merkwürdig, wie dieſe Stelle von den Hndler 
gern-vernachläfffgt:und gemißhanvbelt werden if. Ehry 
foft omas ahnete die richtige Erklärung, aber er trante 
fich darin‘ felbft' nicht und fügte -eine andere ganz falfche 
hinzu. Wenige laffen ſich darauf ein, Die ganze-Allegorie 
einheitlich aufzufaffen, und in dieſen Fehler verfiel ſekdſt 
Lücke, der ſich um die zweite Hälfte, Das: Bilb des Wan 
bdelns in der Nacht, gar Nicht kümmert. Flache Nüchtern 
heit fand in der Bildrede nichts ald den Gedanken, Feind 
wolle bei: Tage reifen; DIshanfen in feinem über 
fhwenglichen Drange nach tieffinniger Auffaſſung fündigt 


Bemerk. zu Stellen bed Evang. Sohannid. 935 


gegen‘ die unträgliche Regel, daß es immer nur Lies 
Sinn gibt, und. faßt die Rede vielventig; und. leider folgt 
ihm auch darin, wie in manchem Audern, was nicht recht 
iſt, Thobuck in.der neneften Auflage feines Commentars. 
Wohl gibt es eine Doppelſinnigkeit der Reden Jeſu, z. B. 
Joh. 5, 2 fi; aber-nicht eine ſolche, daß Leibliches und 
Geiſtiges in einander gemifcht wäre, fondern daß Beides 
in einem. Allgemeinen zufammengefaßt iſt. Gier aber: fol 
der eine Sinn in Den andern ‚hineingemifcht ſeyn. 
Beipe Ausleger verlieren ſich fo fehr in das Willkürliche 
und Unklare, daß es ſchwer ift, ihre Meinung darzulegen 
und Schritt vor Schritt zu beleuchten. 

‚Den richtigen Geſichtspunct für Die Erklärung der 
Stelle gibt.ung die in V. 8 ausgedrückte Beforgniß, der 
Jünger Sefui vor den Gefahren, denen ex fish burch. die 
Reiſe nach Judäa ausſetzen werbe, an. Dieſe Beſorgniß 
leugnet Kninöl upbegreiflicher Weiſe ganz ab: Lücke 
erkennt fie an, und findet richtig in der. Rede Jeſu eine 
Aenperung feiner Furchtloſigkeit. Hiernach find alle Er⸗ 
Härungen abguweifen, welche auf einen andern Sinn und 
Zwed der Rede Jeſu führen, wie bie von Kuinöl anges 
nommene rofenmällerfche,. wonach in unfrer Stelle 
nichts liegen fol, als was 9, 4 gefagt iſt. Diele Ausles 
ger. finden nun in unfeer Stelle den Gedanken des ‚götts 
lichen: Schutzes; allein darauf führt Feines ber Bilder, 
nicht. einmal das der Sonne, welche zwar dem Wanderer 
ben Weg zeigt, ihn aber nicht vor Gefahren bewahren 
kann. Und wenn auch der Tag und das Sonnenlidt auf 
dieſe Weiſe zu verfichen wären: was machen. wir denn mit 
der Nacht? diefe kann doch nicht den Mangel des. göttlis 
ren Schußes bezeichnen. Schon das megmarsin,, eine 
Handlung des Menfchen, hätte darauf führen follen, daß 
Sefus hier, wie 9, 4 f., eine fittliche, nicht eine religiÿſe, 
Wahrheit ausſpricht. Aber die Vergleichung mit biefer 

61* 


936 de Wette 


Sielle darf und nicht verführen, den Tag ebenfalls von 
der Lebenszeit zu verfichen, weil es. hier ganz unſtatt⸗ 
haft if, Die Nacht ale Bild des Todes zu nehmen. Tag 
und Nacht werben 1 Thefl. 5, 8. Rom. 13, 12. von ſittli⸗ 
cher Lauterkeit und Unlauterkeit gebraucht. "Aber davon 
kann hier nicht geradezu die Rede feyn, weil. Jeſu Zwed 
nicht feyn Tann, feinen Jüngern die Lehre zu geben, mau 
folle im Lichte Der Wahrheit und Gerechtigfeit wandeln. 
Tigooxcarsv if nicht iraucheln im gemöhnlich fittlichen 
Sinne — fündigen, fondern einen Unfall erleis 
den oder in Gefahr gerathen. Licht iſt Verſtaud, 
Klarheit; und fo könnte man verſucht werden, mit Pau- 
Ind und Lange bier eine Empfehlung der Vorſicht zu 
finden. Aber das wäre in der That eine froflige Erklaͤ⸗ 
rung. Jeſus empfichlt fonft allerdings die Klugheit, aber 
nie für fich allein, fondern in Verbindung mit dem laute⸗ 
ren und himmliſchen Sinne (Matth. 10, 16. Eu. 16, 1 ff.). 
Ich finde das Richtige in der Berbindung der Erflärung 
von Paulus, und der in erſter Stelle von Ehhry ſo ſt o⸗ 
mius angebeuteten: 6 undlv davrs 'ovvadds xovnpor 
odötv zelasnı dewöv 6 dl va pyaüla mpdasam zulseren. 
Jeſus will fagen, er finde feine Sicherheit in einer. lautern, 
offenen Kingheit, im Dienfte der Wahrheit, welche zus. 
gleich den rechten Weg der Pflicht und den ſichern der 
Klugheit zeigt und Muth und Kraft gibt gegen die dunkeln 
Anſchläge der Argliſt (Ruf. 22, 53). Ich beziehe mid) übri⸗ 
gens auf mein bibl. Andachtsbuch L 294. Das fchwierige 
iv avro V. 10 benntzt Tholuck zur Empfehlung eines 
seifigen. Sinnes; allein nach der Variante 12, 85 it ed. 
9 a; perd; oder man nehme ed mit Grotius für coram = 
. dv Opdaiusiz avrod (Matt, 21, 42), wie auch wohl iv 
äuol 1 Got. 14, 11 zu nehmen if, und wie 3 für Sau vor⸗ 
romnt 2 Kor: 23; 18. | 








Bemerk. zu Stellen des Evang. Johannis. 87 


F ee x Joh. 11, 51. | 
Ä ur Ka. vermunbern,; baß.bie Ansleger hier nicht an 
die Bathkol denken. Die Rede des Kaiaphas hatte gewiß, 
auch der Meinung des Evangeliſten nach, den natürlichen 
Sinn, man ſolle Jeſumnzum Beſten des jüdiſchen Gemein⸗ 
weſens hinrichten; Johannes fand aber darin noch einen 
zweiten übernatürlichen praphetifchen: Sinn / Jeſus werde 
zum Bellen des Menſchheit ſterben. Prophezeiung durch 
Doppelfiun iſt dem A. T. durchaus freuid; auch Senus 
es: feine Weiffugung in Bewußtloſigkeit, obſchon die Rab⸗ 
binen davon wiſſen wollen, (ſ. die Eitate bei Metſt. Schöttg. 
Paulus), und noch weniger. in Gottentfremdung, woflr 
Dlshäufen fälſchlich Das Beispiel des: Bileam anführf, 
Demiiach Bietet: ber Weiffagungsglaube des; Hebraismus 
feinen Aufnüpfungspunet, und wir müſſen einen folchen im 
Judenthume fuchen. Keinen fchicflichern aber Tann 23. ges 
ben, ald den: Slanben an die Bathkol, oder an Omin«; 
pr ra, Tochter der Stimme, d. h. secundaria vox, (Buxr⸗ 
torf) , mittelbare Stimme, mittelbares Orakel, iſt ganz bad, 
was die Römer omen naunten, wie:die-Beifptefe aud HU 
eros.Schabb. F.8, 3 beiLightf. zu Matth. 3, .12.3eigen.;.mo 
menfchlidye Reden ald.höhere Andeutungen genommen wers 
ben. Beim Evangeliſten kommt hier. noch der Glaube dazu / 
daß ber: Hoheprielter,, als ſolcher, ein beſonderes Organ 
dieſer Weiffagungsart fey. Offenbar hatte ſich von dem 
altteftamentlichen. &tauben an bad hoheprieſterliche Oras 
kel durch das Urim und Thummim noch ein Reft: erhalten, 
was Tholuck nicht hätte Teugnen follen, zumal ba ſich 
dafür in der Behauptung des Joſephus CAntigg: XIII, 
10, 7), daß. Joh. Hyrkan Die Gabe der Weiffagung gehabt, 
und in der-Borftellung ded Philo (de creat.:printip. p. 
723), daß der wahre Hohepriefter, als ſolcher, zugleich 
Prophet ſey, Spuren finden. 
Aber wie wenig werden wir mit dieſer Au 





08 de Bette 


werbung ber Bathkol auf die befprachene Stelle finden, 
da die neuere hochglänbige Erxegeie a am einmal 
in der Stelle 
Joh. 12, 2 f. 

— will. Panlus, Kuinöl, Lücke halten bie 
Stimme, welche dem großen Haufen. als ein Donner er⸗ 
ſchien, welche Andere für. eine Engeläflimme nahmen, bie 
aber für Jeſum und bie Jünger 93 den göttlichen Audfprud 
that: «ich habe ( meinen Namen) verherrlict und werde 
ihn ferner verherrlichen, für einen als Bathkol gedeuteten 
Donner, indem fie daran erinnern, daß ber Donner den 
Alten häufig bedeutſam erfchienen iſt. Dagegen bemerit 
Tholuck, dag bie Juden unter Bathkol nie einen: Domuer, 
ſondern gewöhnlich wunderbare Stimmen, bie 3. B. and 
dem Alterheiltgften herfamen, verflauden haben, und er, 
wie auch Ol hauſen, nimmt bier eine wirflide Stimme 
vom Himmel. au, . Allein es ift zu zweifeln, daß Die Anges 
ben der. Rabbiner über bie Bathlok:fid alle auf Die ur 
ſprüngliche Anficht davon gründen; und wenn Die ältern 
Bibelforfdren, mie Lightfoot, in den Wunberftinmen; 
von denen ſie erzählen, teufliſch magiſchen Betrug witter⸗ 
ten, fo dürfen wir wohl argmähnen, daß Aberglaube mit 
untergelaufen fey. Der Glaube an Omina:-bei den Römern 
war auch mit dem Glauben verbunden, Daß fich zumeilen 
wunderbare Stimmen hätten hören laſſen, wie fie ſich denn 
einen eigenen Gott Ains Locutius erfannen.. So wie ed nun 
fehr' voreilig ſeyn würde, Diefes Glaubens wegen Den Glau⸗ 
ben au Omina ‚gang, wegzulengnen: fo ift es. auch nicht 
fehr vorfihkig von Hrn. Th., daß er Die Bathkol für nichts 
als eine wunderbare Art von Orakel halten will, gumal 
da er bie obigen Beweiſe, daß natürliche menſchliche Stim⸗ 
men für Bathkol genommen worden, nicht wegleugnen 
kann. . Einen directen Beweis dafür, daß. man ben Dow 
ner alt Bathkol gedeutet hat, weiß ich freilich nicht anzu 





Bewmerk. zu Stellen ded Evang. Johannis. 989 


führen, aber bie Analogie ſpricht dafür: — Uebrigens be⸗ 
ruht: bie Annahme ziner unmittelbaren Himmelsſlſimme in 
unſrer Stelle auf. Unklasheit des: Denkens. Der Umitanb; 
Daß die Meiſten zur einen Donner hörten, zwingt beide 
Ausleger gu ber Erklürnug, daß. nur. Die Empfänglichen 
Die. himmliſche Stimme vernommen ,. wo hingegen völlige 
Unemwpfindlichkeit Statt gefunden, habe nur ein. dumpfer 
Anßerer Eindruck den Menſchen getroffen, det man mis 
einem Ähntichen Geräufche, etwa mit einem. dumpfen Dons 
ner, verglähen. Sie geſtehen alfo felbſt, Daß Das in vie 
Sinne fallende Factum dad Vernehmen eines don« 
nerähnlichen Schalles gewefen.fey, .unb:ihre Meinung uns 
terfcheibet fi) von. der oben angegebenen bloß darin, Daß 
fie dieſes finuliche Phaͤnomen für ein numittelbar von Gott 
gewirktes halten, was aber nichts als eine Hypotheſe iſt, 
die. über das Gebiet Der regen: mer, — 

hinũberſchweift. — 


Joh. 18, 1. 29, 38, 28. 19, ı 14.31. | 


Zur Loͤſung der befannten Schwierigkeiten, die in die⸗ 
fen Stellen: Hegen.; find in der neueſten Zeit zwei Berfuche 
gemacht worden: von Rauch’ Cüber d. letzte Paſſahmahl 
in dieſer Zeitſch. 1832. 3.9. G. 537 ff.) und von Schuels 
kenburger (Chronologie der Leidenswoche in ſ. Beitr. 
zur Einl. ins N. T. und zur Erkl. ſeiner ſchwierigen Stelke 
Stuttg. 1832), wiewohl leßterer Gelehrter einen allgemeis 
nern Zweck verfolgt. Rauch findet den Grundirrthum, 
welcher alles verrüct und in: Disharmonie gebracht habe, 
darin, daß man bisher allgemein geglaubt, das Paſſahmahl 
fey am Ende des 14. und am Aufange Des 15. Niſan gehals 
ten worden, ba doch der rechte Zeitpunct dafür das Ende 
des 13. und der Anfang des 14. ſey. Dieſe aller Ueberlten 
ferung und Gewohnheit zumwiberlaufenbe, fo vielich weiß, 
nur von Friſch (Vollſt. bibl. Abhandl. vom Ofterlammıc. ıc. 


940 a in i de Bette: 173 — 


keipz. 1758) behauptete, und Yon: Sabler UN. theel. 
Journ. U. B. 5. St. I B. 5: St.) wiberlegte Meinung 
ſucht er doch noch zu beweiſen; aber Hr. Prof. Schuels 
Venburger nimmt fie ohne weitern: Beweis an, gleich⸗ 
fam als hätte er Hrn: Randy die Beweislaſt zugefchoben, 
won deſſen gleichzeitiger Arbeit er doch nichts willen konnte. 
Merkwürdig if, daß Hr. Tholud in ber 4. Aufl. ſ. Com 
ment. 3. Joh. ber rauch'ſchen Abhandlung den wollten 
Beifall zollt, und findet, daß ſie allen fernern Beben 
fen: über dieſen Gegenſtand ein Ziel ſetze; und doch ik 
nichts grundiofer, ald die darin vorgetragene Meinung, 
‘wie ich hier. kürzlich, aber genügend zeigen wil. Raud 
fügt. „Die. Juden rechneten. den Tag vom Untergunge 
der Sonne bid wieber zum lintergangederfelben Nach kev. 
23,5. Rum. 9,3 fol dad Paſſah ſeyn den 14, Niſan zwis 
ſchen Abend, des. vorhergehenben.und. bes folgenden Tas 
ges, das ift der Moment der untergehenden Sonne, we 
der neue Tag anhebt; wäre nun im Geſetze das Ende des 
14. gemeint, fo müßte ber Anfang bed 15. verftanden wers 
den, der 14. bedeutete gar nichts, der 14. wäre ber 15. 
und diefer wieberun der 16.1, |. f.; es gäbe feine Ehronos 
logie in der ganzen jüdiſchen Gefchichte,” "Er verftcht alfo 
nuter ray pa mit den Karäern.: und. Gamaritanern bie 
Zeit zwifchen dem Uintergange ber Sonne und der Düms 
merung, wofür allerbingse 5 Mof: 16, 6 fpricht. Allein 
die Obfervanz der Rabbaniten uimmt die Zeit vom Nels 
gen der Sonne bis zu ihrem lintergange an, und bafür 
zeugt Joſeph. 3. Kr. VI, 9, 3, nad welchem man das 
Paſſahlamm von der 9. bis zur 11. Stunde fohlachtete. 
Iſt letzteres Die urfprüngliche Rechnung, fo war es natürs 
lich, Die Abendzeit, wo das Paſſah gefchlachtet wurde, 
noch zum 14. Rifan zu zählen, welcher fich erſt mit Sons 
nenuntergange endigte. Haben aber auch die Karäer Recht, 
fo konnte man Doch den Abend, ‚mit welchem der 14 ſchloß 


Bemerk. zu Stellen des Evang. Johannis, 941 


und der 15. anfing, noch zum erſteren zahlen, weil. die jůdi⸗ 
ſche Tagesrechnung etwas unnatürliches und: willlürliches 
hatte, und es leicht begreiflich iſt, ba man zu dem Tage, 
wo es Morgen ‚geworben war, auch noch. den Abend 
zählte. ‚Wähner Antigg. Ebr. Vol: IE p. 8.1 In:'sackis 
comedendis et preeibus vespertinis fundendis noctem ad 
dien, yuem. .es consequitur, — — nr 83, r 
Busehi ad h. 1, Bracheth; £. 1, 1. — 

Allerdings .ift die Zeitbeikimmung des Yofahmakte ix 
den angeführten Gefepesftellen, wozu noch 2 Mof. 12, 3-6, 
4 Mof..28, 16 f. zu:vergleichen find, "unklar, zumal da bee 
25. Rifan ale. das Feſt der angeſauerten Brode andbrädlich 
vom 14, wo das Paflahlamm gefchlachtet und gegeſſen 
werden: fol, unterfchieden werd, "Aber aller: Streit wird 
durch die Stelle 4 Moſ. 38, 3 gehoben, wo gefagt wird, 
die Iſraeliten feyen am 15. Rifan ausgezogen.‘ Da mm 
nach 2Mof. 12,29 ff. ber Auszug noch in derſelben Nacht, 
wo bie: Ffraeliten das Paſſah gegeſſen hatte, bewerk« 
felligt wurde: fo ift ſonnenklar, Daß dieſes am Anfange 
nicht des 14., wie Hr. R. will, fondern des 15. gegeffen 
worben. Einen (auch nach Hrn. Tholuckh) unwiderſprech⸗ 
lichen Beweis gegen die gewöhnliche Vorſtellung ſoll J o⸗ 
fephus Antiqq. I, 5- OI, 14, 16) liefern; aber hier ins 
det ſich nichts, als was wir 2 Moſ. 12, 3— 6 leſen, naͤm⸗ 
lich daß die Iſraeliten am 10. Niſan ein Lamm ausleſen 
und bis zum 14. aufbewahren ſollen; nur daß J., anſtatt 
zu ſagen, fie hätten’ed am 14. gegen Abend gefchlachtet, 
den Ausdrud Bvordang rs TEOGagegnaudexdeng, „als ber 
14. ‘eingetreten war,” braucht, der aber in Beziehung 
auf ‘ben vorhergenannten 10. verflanden werben muß, 
und gar nicht den Sinn hat: ald ber 14. eben eintrat, 
am Anfange bed 14. Daß Joſephus Reine andere, als Die 
gewöhnliche Vorſtellung hegt, geht daraus hervor, baß 

j \ ⸗ 


⸗ 


er, wie: 4. Mof: 88, 3, Die en — sen ans 
zichen it IL, 15,2 
Hr. R. führt Diefe Angabe. — an, — gerabe :ald 

einen Beweisgrund für feine Meinung: nad welcher Lo⸗ 
il, möpen Andere urtheilen. Die andere auch noch aus 
deführte Stelle des Joſephus TU, 10 (II, 10, 5) ents 
hält nichts anderes, aid 8 Moſ. 23, 5 f., kaun alſo Leis 
nen Beweis liefern. Licberbaupt iR es ein ſonderbares 
Unternehmen, aus zwei Stellen des Joſephus die durch 
Die jüdifche Meberlieferung beflätigte Erflärung altteftam. 
Geſetzeſsſtellen über den. Haufen fioßen zu wollen. 

Saum if es noch. aöthig, bie Unhaltbarkeit dieſer 
Meinung an ſich ürd Licht zu ſetzen. Das Paſſahmahi 
ſoll un einen ganzen Tag früher, als das Feſt der ums 
grefünerten: Brode, gefeiert worden feynz und doch aß 
men fchon bei biefem Mahle ungefünertes Brod, und am 
Tage vorher mußte man. ben Sauerteig. weg thun; auch 
war das Efien des Paſſahlamms sffenbar der Hauptfelt- 
gebrauch. Hiernach wäre unhegreiflich, warum man bie 
Keben Tage Der ungeſäuerten Brode erft einen Tag ſpä⸗ 
ter zu halten: und zu rechnen angefangen hätte; und eis 
gentlich wären 8 Tage zu zählen geweſen. Wirllich redjs 
net ach Tofepbaus lH, 15, D- acht Tage, aber offen, 
bar, indem: er den 13. Niſan, wo man ſchon den Sauer⸗ 
geig wegthat, mit hinzunimmt Eben fo wenig. würbe 
man begreifen, was man am Tage des Paſſahmahls 
Yorgenommen hätte, weun erf einen ganzen Tag. fpäter 
daB Felt angefangen hätte: es wäre dieß ein ſonderba⸗ 
res Mittslding von Feſt⸗ und Werkeltag gemefen 

.Hr. Schnedenburger gibt der Chronologie der 
Zeidenswoche Dadurch eine ganz andere Geftalt, daß er 
stadı ‚der. Stelle bed Philo de septensriis ot festie p. 
1192, wo die Darbringung ber Erflingsgarbe fpielend 
zg0&ogrog des Pfingfifeites genannt wird, womit er die 








Bemerk. zu Stellen des Evang. Johannis. 943 


Berhleidiung des: Pallah als. einer Käpnozem' anfı Ping 
ften bei Orig. c, Celn. TUI, 22’ znfammenminint,. die Hy⸗ 
pothefe.:aufftellt, der Tag der Erftlingegarbe habe nach 
Der Feſtterminol ogie anagnaxsri: geheißen, baß er biefe 
Daraftene als einen eigenen: Felttag: und dann nnd einen 
Tag nach der P. vor dem Sabbathe Der Leidenswoche 
einfctebt, und, mit biefer Ausdehnung noch nicht zufrie⸗ 
Den, den Abendmahlstag: auf Den Id, Rifan zurückſchiebt, 
Jeſum zwei Tage verhören und orſt am 15. Niſan freus 
zigen und begraben läßt, fo daß. er drei volle Tage und 
vier Nächte im Grabe geblieben fepn fol. Daß jene Hypo⸗ 
thefe ſehr in die Luft hingeftellt feg, wird Jeder zugeben; 
man ſieht aber auch nicht den großen Ruben ein, den fie 
bringen fol. Die Stellen-Soh. 19, 14. 31. 42 erhalten 
Dadurch eine fehr gezwungene Erflärung. In der erftern 
muß zagasxsun dennoch im gewöhnlichen Sinne, ald Bors 
tag auf ein Zeit, und zaoza ald das Garbenfelt, eben 
die angeblich fogenannte Paraftene auf Pfingiten genoms 
men werden (in der That die höchſte Willfür D, und V. 
31 iuel zagasxsun nv, muß heißen: weil die P. bevors 
fand: wozu noch kommt, daß angenommen werden muß, 
diefe P. fey als ein Sabbath gefeiert worden. Der einzige 
fcheinbare Gewinn ift der, Daß dadurch biefonderbare Stelle 
Matt, 27, 62. 1j dxavgıov, nrıg dor) uere v7v zapa- 
6xsvrv einen andern Sinn erhält, wogegen Mark. 15, 42, 
æcocoxeunm, 6 dori ngosaßßarov, als ein Srrthum erfcheint. 


Sch meines Orts finde mit Seiffert cüber d. Urs - 


fprung d. erften. fan. Evang. Königsb. 1832. ©. 129), 
„daß alle bei den Synoptikern vorfommenden Zeitbes 
flimmungen von der Art find, daß uady ihnen Tefus fein - 
letztes Mahl aldwahres gefegliches Paffahmahlgehaltenhas 
ben und darauf am 15. Nifan gefrenzigt feyn müßte, und 
daß alle.bei Johannes dieferhalb vorkommenden Aenfs 
ferungen, ohne Künftelei nach dem Spracdhgebrauche und 


944 de Bette Bemerk.3. Evang. Johann. 


Iufammenhange erklärt, erkennen laſſen, daB das letzte 
Mahl Jeſu kein Paſſahmahl war, ſondern J. au dem Tage, 
wo dieß genoſſen werben ſollte, gefrenzigt wurde.“ Ehe⸗ 
dem blieb ich einfach bei der Differenz ſtehen, ohne ſie 
gu’ erflären; ich kaun aber nichts dawider haben, wenn 
man fie, wie S. S. 143 thut, aus einem Irrthume der Sys 
mnoptiker erfläct:: Dieſes Eritifche Ergebniß ift freilich nicht 
im -Sinne des gewöhnlichen Bibelglaubens: aber es wird 
und nebfl andern ähnlichen nöshigen, benfelben aufzuges 
den, und eine breitere und: tiefere. — für unſern 
— au ſuchen. 


— 





Recenſionen. 


— — —— 





ey 
> 


vv. 


1. 
Der Proyhet Jeſa nie, Aberſetzt und ausgelegt von Dr. 
. Benbinand Hibis. — 1 


1. 





. Bweiter. Urtilel 


Car. 7, 2 rügt mit — Herr Dr. Hitzig die Erklaä⸗ 
rung von Geſenius, ber an miey 70 „von ber Menge 
gewonnener Milch”. überfegt, wo dann wenigſtens niioy: 
überfläffig wäre, und iiberhaupt ein bedeutungsleerer Ges 
danke entflände, indem er bafür Den allein richtigen Sinn 
ausdrüdt: „ob Der Menge der Milch”; denn man wird 
bei der Bortrefflichleit der Viehweiden ſo viel Milch ges. 
winnen, daß man fie ganz verachtet, und nur von Sahne 
lebt; wobei auch. mit vollem Grunde die Erklärung von 
mega durch: „Räfe”, wie Gefenins will, verworfen 
wird. Ebenfo richtig erklärt unfer jüngerer Ansleger Cap. 
8,2 nr noch als Worte Jehova's, während Gefer 
nis, gegen die grammatifche Form, den Propheten ſelbſt 
fagen läßt: und ich nahm mir zuperläffige „Zeugen”, nur 
wöchten wir mit Hittzig nicht im Imperativ überſetzen: 
„und nimm mir zuverläffige Zeugen”, fondern einfacher 
und wörtlicher: „und ich will mir treue Zeugen nehmen.’ 
Bei V. 3 werden unnüge Gubtilitäten vorgebradht, ob 
Spy im plusquamperfect. oder im. imperfect. zu überfeßen 
fey, was mit der unwärdigen Anſicht des Verf. yom Gap. 


48 Hitig’s 


.3, 14 zuſammenhängt. 2. 6 kann auch Rec. Befenins 
nicht beiftimmen, wenn er bie Worte mie aıypryraicien 
überſetzt: „und Luft hat an Rezin und des Remaljah Sohn”, 
aus Bründen der Sprache und des Zufammenhanges, aber 
er mag auch die gefünftelte Erklärung des Verfs. nicht 
theifen, welcher auffallend genug überſetzt: „und verzagt 
ob Rezin und den Sohne Remaljah’s”, indem er wm 
irregulär gefchrieben nimmt für then, in der Bedeutung 
von „verzagen”, hier mit bem Accuſativ; ſtatt miten, wie 
v2 Hiob 31, 34. Beide Erklärer haben die richtige Aus⸗ 
legung befonderd deswegen verfehlt, weil fie, im Uebri⸗ 
gen fich beftreitenb , doch darin übereinftimmen, daß fir 
verleitet durch die fcheinbare Parallele von B. 11 und 22, 
unter rm or Juda verfichen, während wir es auf die 
Bundesnation der Syrer und Sfraeliten beziehen müfs 
fen, eben burch die Worte bed zweiten Hemiſtichs bes 
lehrt, wo von den fchadenfrohen Königen berfelben bie 
Rede ift, die zuerft durch den losgelaſſenen Strom der afs 
fyrifchen Macht gezüchtigt werben, worauf er ſich aud 
gegen Juda wendet (vgl. B. 8), Wir überfegen demnad;: 
„und Frohlocken ift bei Rezin und Remalja’d Sohn”, vors 
trefffich vom Parallelismus begänftigt, indem das ftreitige 
wien dem on des erften Gliedes in einer Steigerung bed 
Gedankens von ber verachtenden zur übermüthig »fchabens 
feohen Geſinnung fehr wohl entfpricht. V. 14 beflreitet 
H. bei Yapeb rm die Erffärung von G.: „er wird eine 
Zuſtucht fepn”, weil Erp= num und nimmer „Aſyl“ꝰ bedeiite, 
Freilich nicht dem Buchftaben nach; auch möchten’wir nicht 
bie Ueberfeßung von Geſenins unterfchreiben; aber dem 
Sinne nad) hat G. Boch Recht, Heht aber ohne Noth von 
ber wörtlichen Deutung ab: „und er wird zum Heilige 
thume” Denn nach 9. entfleht ein vager, unbeftimmter 
Sinn: „und feyn wird er geheiligt”, welche Weberfegung 
der Verf. nicht ohne Zwang fo redhtfertigt:, „Bas Wort 
bedeutet Begenftand, in welchem der Begriff der Heilig 


. 
= 


4 


Ueberfeg. und Ausleg. de Jeſaias. 949 


keit oder Unerlaßbarkeit erſcheint, an welchem er haftet; 
und als einen ſolchen wird. Jehova ſich zeigen dadurch, 
baß er Gerechtigkeit übt. Cap. 8,16, daß erdie Verachtung 
feiner Majeſtät (vgl. V. 6) und jener Könige Attentat ber 
ftraft.” Der fonftige Sprachgebraud; rechtfertigt entfchies 
den die Erflärung von -Gefenins, wenn fie fich auch 


außerdem nicht durch Natürlichkeit und Leichtigkeit empfoͤhle. 
V. 22 wird der Verf. Durch feine fehon früher (Gap, 7,16) 


bemerkte Scheu, » Durch „doch“ zu überfeßen, gu der 
höchft gezierten und. dem gefunden Gefchmade widerfires 


benden Erklärung von rn verleitet, daß er. dieſes Wort‘ 


aus feiner ſchon von den Maforethen richtig eingefehenen 
Berbindung mit dem vorhergehenden mopx ‚nach welcher 


auch Gef eniu 8 überſetzt: „und wird in die Nacht hinabs 


geftoßen”, -heransreißt und als Appofltion zu min "bes 
trachtet, ſo daß es abfolut gefeßt, „vertrieben, verfcheucht?? 


bedeute! „Dunkel der Bedrängniß und Finfterniß, — das 
verfcheucht wird.” Wenn der Verf. befonderd auch deshalb: 
die Erklärung von Geſenius verwirft, weil der Aecuſativ 
BR, viel zu unbeſtimmt nur bie Richtung wohin im Allge⸗ 
meinen ausdrüde, und Daher die Präpofitionz vordemnom. - 
zu verlangen fey,; wie Ser. 23, 12.beweife, wo wir Diefelbe Re⸗ 
densart färlden : 17° rbexs, fo fragen wir jeden unbefan⸗ 
genen Außleger auff ein Gewiſſ en, oberesnicht gerade wegen 


Der offenbaren Uebereinſtimmung beider Stellen viel natürli⸗ 


cher finde, anderunfrigen vor norx das praefix. zu fuppliren, 
ober den bloßen -Acenfativ der freieren Sprachweiſe uns 


ferd Propheten einmal zu geftatten, ald beide Wörter fo 
gewaltfam von einander zu reißen? — V. 23 iſt aber 
Rec. wieder auf Seiten des Verf., indem er auch immer zu 
den beiden Zeitwörtern Sen und Tas nur. Sehova als 
das einzig mögliche- Subject ‘hast’ betrachten können. — 


Gap. 9, 2 vertheidigt der Verf. gegen Geſenius die 
Lesart:xa. und überſetzt: „Diejenigen, welche Du nicht groß 


gemacht haft an. Freude”, fo daß der Accnfatio Das Verbum 
Theol, Stud. Jabrs. 1834, 62 


a 


950 Gihig's 

einfchuäufe, und Der Prophet die Litoted gehrauche, für: 
„bie bu tief in Trauer ſenkteſt.“ Wir find ganz wit Hrn 
H. einverſtanden, daß Sri 5 gegen die Wortſtellang wer: 
ſteße, und und dem Bemühen, zu erleichtern, entikan 
den fe, finden aber die gegebene Erklärung dem Sinne 
nach hart, wenn fie auch, grammatifch betrachtet, och fo 
richtig ſeyn mag. Wie fonderbar der Gedanke in einen 
jeden Ropfe, ee mag ein hebräifcher oder deutfcher ſeyn: 
„ou wachft viel das Volk, welches du nicht groß gemacht 
is Aufehung der Freude!” Nee hält es mit Lurcher, 
der nad Bulg und Symmachnus überfegt: „du machſt der 
Heiden viel, aber der Freuden wicht viel” Dann liegt 
eine ſtarke Ironie in den Worten: „du haft viel gemacht 
der Heiden, aber nicht groß gemacht die Freude,” und es 
eutfteht in Dem ganzen Berfe ein ſchöner Parallelismus 
mit. dem vorhergehenden: das Voll, fo im Finſtern wans 
delt, und im Lande ber Todesnacht wohnt, ift dos von 
den vielgemachten Heiden in Schwach uud Traurigkeit 
verſetzte Schulonund Naphtali. Dem Ausdrude: „es fieht 
ein großes Licht, ein Licht erglänger über ihnen’, entfpricht 
nun der: „te freuen fick ver dir” n. ſ. w. Das nr Art. 
wor rad iſt gewiß nur aus Fieberzur Gleichformigkeit ges 
ſetzt, um des vun willen, fo wie die größte Wirkung in der 
Darſtellung des Gegenfabee yon Trauer und darauf fol« 
gender Freude dadurch hervorgebracht wird, daß ih au 
. may unmittelbar va anreiht. DB. 5 erflürt ber Berf. 
volkommen richtig gegen Geſenius: „ein Kind wird 
uns geboren”, und nicht: „iſt und geboren”, im Ueber⸗ 
eirſtimmung mit Cap. 1, 3, fern. davon, an deu. jungen 
Hiskias zu Denken, fondern einen idealen Herrſcher der zu⸗ 
künftigen Zeit aunehmend.. Ebeuſo heffimmt und richtig 
verwirft er die Erflärung von Yon ba durch „ſtarker Held”, 
und ſetzt dafür „ſtarker Gott” Wenn ex aber bemerkt: 
„ſo wird der künftige Netter von dem Göttliches uud 
Menſchliches ujcht ſcharf trennenden Orieutalen mit Iiehers 


Weberfeg. und Ausleg. bed Jeſaias. 951 


treibung genannt, fofern er göttlicher Eigenſchaften theilhafs 
tig wird, Cap. 11, 2, der göttliche Geiſt sauazındg, in feiner 
ganzen Fülle, Luk. 3,225 Koloſſ. 2,9, im Meſſias ericheint”, 
fo nimmt er der theologifchen Auslegung mit ber linken 
Hand wieder, was er ihr mit der rechten philologifch ges 
geben. Wir bedauern. aufrichtig, hier unfern gründlichen 
Berf. auch in der Reihe derjenigen Außleger zu fehen, weis 
che in den feinften und fchwierigfien Puncten ber biblifchen 
Hermenentit an die Unbeftimmtheit des Orientalismus 
appelliren, und nebenbei von der Hyperbel reden. Was 
wäre Doch nach ber angeführten pfychologifchen Erörterung 
ein idealer König, der ſtarker Gott genannt wird, anders, 
als ein zwifchen Gott und Menfch hin und her fchwebens 
bed phantaftifch« verzerrtes Gebilde? — Und wie follen 
wir den Berf. verfichen, wenn er in einem Athem den Fünf 
tigen Retter einen ftarfen Gott in ber Sprache der Ueber⸗ 
treibung nennen läßt und fogleich hinzufeßt, daß in ihm, 
als dem Meſſias, der göttliche Geiſt anperıxös, in feiner 
ganzen Fülle ruhe? Redet etwa der Apoftel Paulus 
and. a. St. aud in folcher byperbolifch » gerfließenden 
Darftellung von bem erfcienenen Ehriftus? Wir werben 
bei. einer andern Gelegenheit unfere Anficht von dieſer 
meffianifchen Weiſſagung im Zufanmenhange vorlegen, 
und in pofitiver Weife weiter entwideln; hier bemerken 
wir nur, wie Hr. Hißig über den Begriff des meffianifchen 
Ideales im Unklaren if. Ideal iſt freilich der Meſſias, 
infofern als die prophetifche Schilderung feines dem Se⸗ 
herblick auffleigenden Bildes über den gefchichtlich geges 
benen Typus bes theokratifchen Königs hinausgeht, und 


Die Natur ded Menſchenſohnes mit Der Des Gottesfohned 


innig verfehmilzt, aber nicht im Sinne bed gemeinen 

Sprachgebrauche, wo jene oft ſchief angewenbete Bezeichs 

nung mit einem wefenlofen Glanzbilde einer ind Unbeſtimmte 

erhöhenden und verfchönernden Dichtung in gleicher Ber 

Deutung genommen wird. Nur dann würde die Zeichs 
62 * 


952 — Hitzig's 


nung des mefflanifchen Urbildes in das Reich der Poeſie 
gu verweifen ſeyn, wen wir nicht bei feiner gegenwärtis 
gen Benrtheilung anf dem feften Boden der Wirklichkeit 
Ränden,, und und der Erfcheinung deſſen erfreuten, ber 
von fich felber-ausfagt, daß er gekommen fen, die Weiflas 
gungen. ber Propheten zu erfüllen. - Hier, und ſonſt nir⸗ 
gends im Leben, begegnen. wir. gerabe ber herrlichiten 
Thatfache. in ber Gefchichte, daß bie erhabenfte Poefie 
zur ewigen Wahrheit wird. — Warum bie auch von Ges 
fenins angenommene Erklärung von 9 "=, „emwiger 
Bater”, nicht in den Zufammenhang paſſen und unbents 
Lich ſeyn ſoll, fieht. Rec. wenigfiend nicht ein. Der Ber. 
überfeßt „Beutefpender,” indem-er 7 wie Gap. 33, 23 
nimmt, und feine Erklärung rechtfertigend bemerkt. „nach 
Vorausſchicung ded Namens .nbp, welcher durch die Sums 
me der nun folgenden gerechtfertigt wird, folgen: eben 
‚Diefe ſtufenweiſe. Er hat bie rıxs zum Kriege, Daun audı 
die ya; in Folge davon macht er, wie fein Urbilb, Das 


vid, als Sieger Beute, und endlich befeftigt er baburdh. den. 


Frieden.” So hätten wir. benn Durch ſolche Deutung den 
Meſſias zu einem rein. weltlichen Könige herabgedrückt! 
— Wodurch beweift und aber der Verf., daß ıx> fich- bloß 


auf den Rath und die Weisheit zum Kampfe beziche, und. 


warum läßt er in ber Zufammenrechnung ber einzelnen 
Ramen, um die Summe eines Wunders im Kriege herauds 
zubringen, den >n aus? — Faffen: wir diefen, auch nur 
in der hyperboliſchen Bedeutung unſers Verfs. mit dem 
gleich darauffolgenden, deſſen gewöhnliche Erklärung er 
uns jeden Falls fprachlich geftatten muß, zufammen, und 


ift ysr in Der einfeitigen Beziehung auf die - Befähigung : 


zur glüdlichen Kriegführung wenigſtens unerweisbar, fo 
bleibt auch nicht ein einziger Name übrig, aus dem bie 


weltlich.»triegerifche Bedeutung ‚des Meſſias mit Recht 
gefolgert werben könnte: denn cibu-nn führt eher auf. 
das Gegentheil.. Sa, gerade .diefer Name, aufammenges- 





Ueberfeg. und Ausleg. des Jeſaias. 953 


halten mit feiner fombolifch « poetifchen Erläuterung in der 
Parallelſtelle Cap. 11, 6-8, läßt und -auf dad Deutlichfte 
Das Bild eines Königs fehen, der, nicht umgürtet mit Dem 
Schwerte, und nicht bewaffnet mit dem: Spieße, ſondern 
ausgerüftet mit. den geifligen Waffen ber Wahrheit und 
Gerechtigkeit (vergl. Cap. 11, 5), allen Widerftand der 
Welt mit dem Stabe feines Mundes und alle Bosheit mit 
dem Hanche feiner Lippen überwindet (vergl. Cap. 11, 4), 
und fo ein ſich ſtets mehrenbes Reich des immerwährenden 
Friedens gründet, in dem er mit dem Scepter der Liebe; 
wie ein Vater über ſeine Kinder, in unvergänglicher Herr⸗ 
ſchaft waltet. — Cap. 10, 5 wagt ber Verf. die Conjectur, 
Daß die Worte era ın eine Gloſſe ſeyen, indem er die 
Ueberfegung von Gefenius: „ber Steden in feiner Hand 
ift meines Grimmes Werkzeug”, ſchon deshalb als uns 
richtig werwirft, weil ası weber Durch eine Figur, noch 
fo, daß mn davor ausgefallen ſey, „Werkzeug meines 
Grimmes“ bedeuten könne. Aber überhaupt fele Des Verf. 
ſo ans der Anrede in einen trocken Fategorifchen Satz, und 
zugleich höchſt inconcinn aus dem Bilde: erit wäre der 
Aſſyrer felbft ein Stab, fodann führte er ihn in der: Hund) 
erft fey er felbit Werkzeug Des Zornes, ſodann würde fol3 
ches von feinem Stabe auögefägt, ber Enallage ara für my 
‚ nicht zu gebenten! Dagegen ließe ſich zwar. einwenden / 
Daß fich wirklich beide Vorſtellungen V. 24 (vergl. Bay. 9) 
3 und 8.15 in unferm Gap.) vorfänden, und eben: dad 
möge: bie Gloffe veranlaßt haben; allein- einen Steckrn 
habe Affur in der Hand, nur als os der Judäer, in umfes 
‚xer Stelle aber, wie ®. 15, ſey es felbft: Stock vdes 
JZornes, und halte als foldhes in der Hand das Schwert 
So  inconeinn--aber auch immerhin bie "Nede Des Pros 
pheten nach der gefchictten Auseinanderfeßung des Verfbi 
erſcheinen mag, ſo bleibtifie doch gehaltvoller ,. als wenn 
wir durch: die vorgeſchlagene Abkürzung mehr Wohlrun⸗ 
dung in · ſie hineinbringen. Wenn wir überfigenz.v. 3. 


5.0. Billige 


che dem Affprer, der Ruthe meines Zornes! 

dient doc; ber Stab in feiner Hand unr meinem 

| Grimme! 
fo iſt Dagegen weder ber Sprache, noch dem Sinne nad 
etwas einzuwenden. Woͤrtlich wäre zu überfeßen: und 
Der Stab — er ift in ihrer Hand (ber Aſſyrer) mein 
Grimm, d. i. Vollſtrecker meines Grimmes, welches eine 
buchſtaͤbliche Richtigkeit des Gedankens enthält: Denn ber 
Stab gehört, dem äußeren Anſcheine nach, ihnen; aber 
der Grimm, der ihn ſchwingt, geht nach einer höheren 
Einwirkung Gottes von feiner leitenden Gerechtigkeit aus, 
Die gerügte Inconcinnität des Ausdrucks Löft fich bei eis 
ser unbefangenen und genauen Betrachtung bed kritiſch 
"angefochtenen Verſes in einen ſchön fortfchreitenden Ges 
danken auf. Wehe dem Aſſyrer in feinem ftolzen Leber 
‚ wuthe! Indem er mein Volk geißelt, ift er nur eine Rus 
the, die ich in meinem Zorne fchwinge, ja, 'wiewohl er den 
Stab der Züchtigung in, feiner eigenen Hand hält, fo wird 
derſelhe doch nur von meinem Grimm in Bewegung ges 
ſete Der Berf. verkennt die feine Ironie, die in ber unmit⸗ 
telbaren Aufeinanderfolge von. us] u7> liegt: während 
bie Aſſyrer den Stab recht deutlich in ihrer Hand fehen, 
und ſich als die eigenmörhtigen Führer deſſelben betrach⸗ 
ten, iſt ed bosch nur der Grimm Gottes, den fie in demſel⸗ 
ben gleichſan empfangen, um feine Vollſtrecker in Der Ber 
Brafung Des ungehorſamen Volkes zu ſeyn. — V. 26 übers 
fett. der Berf, „fein Stab ift ausgefiredt über das Meer”, 
zichtig gegen Geſenins bemerkend, daß es eigentlich 
beißen nrüffe: „und fen Stab wird feyn über Dem Mee⸗ 
re, und daß Diefer irrig vor Ira aus dem vorhergehen⸗ 
ben Veröpliede neun ſupplire, in welchem Falle er nicht 
überfeben bürfe: „wie er feinen Stab ſchwang.“ — Ben 
dem vielfach mißverftaubenen. lebten Gliede des 2Ifen 
Verſes gibt der Verf, die Ueberfegung : „gefprengt wird 
das Joch ob Beflen Bette”, und erklärt dieſes volllommen 





Ueberfeh. und Ausleg. des Jeſaias. 955 


rüchtig: „das. Zoch, dem früher mageren und unauſehn⸗ 
lichen Stiere umgethan, wird bem immer fetter werben 
den allmählich zu eng, inden ber Hals immer mehr Fett 
anſetzt, und berftet endlih,” Gefenins überfeht: „Das 
Joch des feiften Stier® zerbricht”, welches allerdings ben 
Worten nach nicht fo getreu ift, ſowie auch bie Erflärung: 
„das Bild it vom fetten, wohlgenährten Stiere hergenom⸗ 
wien, der üppig und löckend bas Goch nicht mehr duldet, 
fondern von fich wirft und zerbricht”, bie falfche Bora 
ftellung vorangfebt, als wenn das Zerbrechen bed Joches 
erft eine Folge bed Abwerfens ſey. — Bei ber meiffanifchen 
Weiſſagung Cap. 11 hätte Rec, Manched gegen Herren 
Hisgig’s Erflärung zu erinnern, was aber zum Thal - 
auh Herrn D. Befenius trifft. Er verfpart jedoch 
feine Polemik über dieſes ganze. Stück für eine andere Ges 
legenheit, indem es hier hinreichend ift, zu bemerken, wie 
Der neueſte Erflärer miit feinem Borgänger in den Haupts 
puncten einverflanden if. — V. 13 überfeßt ber: Bar 
„und die Dränger Sudad werben audgerottet,? gegen 
Geſenius: „die Feindfchaft in Juda iſt ausgerottet”, 
eigentlich: „bie feindfelig Gefinnten in Juda“, indem ep 
bemerkt: „daß sin wirklicher Plural mit Masrulinform 
des Participiumd der Handlung den Sinn des Abſtrar⸗ 
tums trage, ift unerhört und für unfern Kal ganzlich 
unerwiefen.” Es fcheint aber, ald wolle man mit ſolcher 
Erflärung ben Einwendungen gegen bie andern entgehen: 
"nz naͤmlich bebeutet nicht der „feindfelig Geflnnte” (dieß 
wärenx 1 Sam,1,6), fondern der „feindfelig Handelnde”; 
und zwar, da dad Wort als verb, finit. einen Accuſativ 
hat, einen „befehden, anfeinden?, fo ift ber Genitiv bed 
Particip. Genitiv bes Objerted, weil eben das Object jetzt 
Genitiv geworben ift (Ewald $. 108) und unfere Stelle 
nach Analogie von Am. 5, 12,78 Pf. 6, 85 1, 7323, 55 
vogl. Pf. 10, 5, zu erklären. Deögleichen ift auch Hof 13,2 
ern mıat Teinesweges „bie Opfernden unterben Menfchen”, 


95380688  ;';..': 0:26 


fonbern „bie Menfchenopferer”’ ; und 1 Kin. 2,7; 2 Sam. 
19, 29 if in Ybö or „;Tifch”. für. die Darauf gebrachten 
Speifen gefet, wie Jeſ. 1,7 „Ader? für: deſſen Frlichte; 
wo nicht, vgl. 2 Sam. 9, 11, fo würde hafelbft Doch im 
Begenfage zu unferer Stelle feine Zweibeutigkeit entftehen. 
Es ift nun aber ebeufo gewiß, daß. die. zweite Hälfte des 
Berfes die mem "8 von gegen Ephraim feindfelig ges 
finnten Sudäern verftanden wiffen milk. Falſch alfo erklä⸗ 
rend ift Die zweite Vershälfte für. eine Gloffe gu erachten, 
und um fo mehr Diefes,. weil fie eine Eiferfucht Juda's 
gegen Ephraim ſetzt, während die Gefrhichte nur .eine 
folche Des minder mächtigen (4 Diof. 1,32, vgl. 2) Ephraim 
gegen Juda kennt; und auch wirklich nicht Juda fich von 
Ephraiwm, ſondern dieſes ſich von Juda losgeſagt hat 
Jeſ. 3,17; 2 Chron. 10,19.” Was den erſten Einwand 
betrifft, Daß die Meinung, der Plural mit Mascnlinform 
des Päarticipiumd der Handlung trage au unferer ‚Stelle 
den Sinn’ des Abftractums, auf einer. ganz unerwiefenen 
Vorausfetzung beruhe, fo. unterfchreiben wir in dieſem 
Puncte.unbedingt. Eben fo ſtimmen wir dem Verf. ganz 
bei in dem, was er über die active Bebentung von Ti 
und von feiner nothwendigen. Berbiudung mit einem. Acs 
eufafiv jagt, aber ehe wir und zur. Annahme einer Gloſſe 
bequemen, geben wir lieber ben ‚genauen Parallelismus 
preis, und erklären: „es. weicht die Eiferfucht Ephraims, 
und die Feinde Juda's (in Ephraim) werden. ansgerottet 
werden — Ephraim iſt nicht eiferfüchtig anf Juda, aber 
Juda feindet.auch nicht Ephraim an.” Es ift gar wohl 
benfbar, daß der. Prophet bei der Betrachtung ber heillo⸗ 
fen: Stammesentzweiung von der ‚Eiferfucht. Sfraelö vor: 
zugsweiſe ausgehe,. und fie.befonders. hervorhebe.. 
+ Nachdem wir den Commentar ded Herren Hibig über 
das ganze erfie Buch des Jefaia in allen "einzelnen Abs 
weichungenvon: dem des. Herrn. Gefenins.vor den Aus 
gen der Lofer genau undınupartheiifch. geprüft, Dürfen wir 


Ueberfeg. und Auẽleg. des Jeſaias. 8606 


ihnen "nicht ‚Tänger wiferaligemeinus: Lircheit über 08 
ganze Wert des geſchätzten Verfs. vorenthalten: Diem 
einem gleichen Beifte fortlaufenden zinzelmen Bemerkun⸗ 
gen über bie übrigen Theile des Buches werden fpäter eis 
nen fihiclicheren Plag.unter einem anderen Titel in die⸗ 
fer Zeitfehrift ‚finden. Die. Kritit: der Ueberfeßung und 
Einleltung aber gebenfen wir im nächſden Sahrgange in ei⸗ 
nem dritten und lebten Artikel. zu liefern. 

Wir wiederholen, was wir zu Aufange en 
bereitd gefagt, daß: ber -VBerf,'mit diefem -Sommentare 
ſein Meiſterſtück imıberjeniger: Wiffenfchaft gemacht habe, 
Die er ſich zur beſondern Bearbeitung auserkoren. : Abrep 
ebenfo füher hat fich und. auch Durch eine genaue Befrenha 
Bang -mitsfeitem Buche das Urtheil’geftellt, daßier Die 
Bedeutung deſſelben überfchäßt, wenn er mit ihm einen 
wenen Sinfchnitt in der Geſchichte der altteſtamentlichen 
Auslegung. annimmt. Wir haben alle Achtung fir Tue 
wiſſenſchaftliche Behandlung ber: hebräifchen: Sprache) 
vetzüglich innerhalb Des: eigentlichen geammatikatifchen 
und lexikaliſchen Kunftgebieted, vermögen aber Diefemnens 
belebten giiunmatifchen Eifer eiwen fulchen außerordentlü 
chen Einfluß auf die Eregefe des. A. Tu wie Herr Hibig 
verfühert; nicht zuzuſchteiben, als mAßten nun mit: einem 
Male alle frühern Eommentare gänzlich umgearbeis 
t et: werben. Wir mögen den Triviale Sag, den feit Er⸗ 
nefti genugfant in's Breite gelreten worden, nicht meha 
ausführen, wie die Hermenentif nicht allein in- der gram— 
matifchen Birtuofität begründet fey, fondern noch: ganf 
andere Qualitäten und. Kräfte von dem Ausleger verlange) 
der die Anfgabe ber eregetifchen. Kunſt/ unmittelbare Eid 
nigung des. Erklärers mit dem Geiſte des Schriftftellers 
durch ſtcheres Verſtaͤndniß des⸗Wortes/ deutlich begriffen; 
nur bei dem philobogiſchen Elemente im engften Sinne 
bleiben wir ſtehen. Wer möchte denn in Abrede ftellen, 
daß die ‚ängeitvebte: Begrundung einer x Wiſeuſchaft. hebrai⸗ 


Sprache heilfam auf die innere Befefligung der Eregefe 
einwirfen müfle; aber das beftreiten wir auf das Beſtimm⸗ 
tefte, als ob jene Einwirkung in der neueften Zeit in einem 
fd erhöhten Grade hervorgetreten fey, Daß durch fie er 
die Eregefe des 9. T. ven Ruhm wahrhafter Wiffenfchafts 
Hchfeit fich verdienen könne; und vor Allem legen wir das 
gegen Proteft.ein, ald wenn erft die jüngite grammatifce 
Schule dem eregetifchen Vermögen eine ganz neue Kraft 
geninlifcher Schöpfung einzuhauchen berufen fey. Neue 
Erflärungen, wenn fie mit Recht auf. dieſen Namen Aus 
fpruch machen und nicht in den Dunftfreis leerer Einfälle 
gehören, die fich oft der ſtrengſten grammatifchen Ride 
tigkeit rühmen können, kommen überhaupt dem lebendigen 
Ausleger von einer gang andern Gegend, als der grams 
matischen, ber; fie find ein Erzeugniß des frei nachſchaf⸗ 
fenden Geiſtes, und ruhen im geheimnißvollen Schooße 
der Divinationz Daher wir. auch Fühnlich: behaupten, die 
Grammätif verdanfe gerade in ihrem höchften und geiſtig⸗ 
fen Gebiete der Exegeſe mehr, als dieſe jener. Reben 
wir in beſtimmter Beziehung auf das Werk: deb Herrn 
Hitzig, welches die Reihe der gebotenen Umarbe» 
fungen:der altteflamentlichen Commentare beginnt, fo 
geht aus unferer forgfältigen Bergleichung deffelben mit 
dem von Grfenius, mie wir fie einem. bedeutenden 
Theile nach dem Urtheile. unferer Leſer vorgelegt, deut⸗ 
lich hervor, daß zwar. Der. Berf. feines berühmten Bors 
gängerd Urbeit hie nad da . verbeffert habe, daß aber 
deshalb noch nicht Die feinige eine Umarbeitung ber 
früheren genannt werben dürfe. Go ift auch Rec. weit 
davon entfernt, weil er Herrn Hitz i g's Erklärungen eis 
nem großen Theile nadı verwirft, und. richtigere an beren 
Stelle zu feßen glaubt, feiner „Kritif den Ramen einer 
theilweifen Umarbeitung beizulegen. 

Was num aber den wichtigſten Punct, die theologis 
fihe Auslegung des Propheten im höheren Sinne bes 








ueberſetz. und Ausleg. des Jeſaias. 059 


trifft, fo finden wir in Dem neneften Commentare nichts 


weniger als einen Fortſchritt, wie eben bei der Beurthei⸗ 


Jung der Erklärung meſſianiſcher Stellen unverkennbar 
zum Vorfhein gefommen. Was hilft alle grammatifche 


Weisheit, wenn fie bem chriftlichen Glauben nicht förber⸗ 
Lich ift, und fo erft eine heilige Piffenfchaft ber Errgeit 
begründet? | 

D. F. — €. Umbreit 


r e 
a 


gs en 88 ne 

2. | 

Philologifch » theologifche Auslegung ber Bergprebig: 
Ehrifti nach Matthäus, zugleich ein Beitrag zur Bes 
gründung einer rein biblifchen Glaubens» und Sits 
tenlehre von Aug. Tholuck u. ſ. w. Hamb. Perth) 
1833. X und 544 ©. gr. 8. (2 Chr. 6) 


ta 1 


Auf jeden Fall ſehen wir hier ein wahrhaft gelehrted Meis 


fierwerf vor ung liegen, — ein Urtheil, das wir nicht im Eins 
zelnen ausführen wollen, ſondern getroſt der unpartheü« 
fchen Prüfung eines jeden Kenners überlaffen zu Dürfen 
glauben, Rec. verfucht daher fofort eine Kritit dieſes 
&ommentars, wie fie theild dem Umfange, theils tm 
Zwede biefer Zeitfchrift angemeflen ift, —— 

Es iſt aber von einer philologiſch⸗ —— 
ſchen Auslegung die Rede. Wir finden dieſe Ueberſchrift 
aus mehrfachen Gründen nicht recht genügend. So trifft 
man im Commentar gar häufig hiſtoriſche und mit der Ges 
ſchichte verwandte Entwidelungen an, was man, fo lange 
man fich fireng an jene. al hält, kaum erwarten 
ſollte. 

Nächſtdem bleibt man auch in Ungewißheit, ob es in 
dem vorliegenden Buche darauf abgeſehen ſey, die Princi⸗ 
pien für die Theologie in der bibliſchen Philologie zu ſu⸗ 


— 





0 2 Kpoludi 


cher, ober ob eine: chriftliche Hermenentif ein wefentliches 
PYrmeip aus der Theologie, 3. B. aus der Dogmatik, 
wit ‚hinüberzunehnten hate. Warum demnach nicht lies 
ber :. Andlegung.— oder noch beffer: Grammatiſch⸗ hiſto⸗ 
sifche Auslegung der Bergprebigt u. |. w. Zu dieſer Be 
zeichnung: paßt alles vortrefflid, was in dem Buche ges 
fagt worden if. Se mehr fidy der Erflärer unferer heil 
Urkunden feine jebesmalige Aufgabe als eine gefchichtliche 
vergegenwärtigt und fireng feft hält, defto ficherer wird 
er auch zu beflimmen vermögen, wo und in welchem Fall 
er ed mehr und vorherrfchend mit der biblifchen Philolos 
ie, dann wieder mit der chriftl. Theologie u. ſ. w. zu thun 
ar Rec. hat fi in der neueften Zeit nicht felten über 
manche Auslegung biblifcher Stellen gewundert, bie gar 
nicht Statt finden kann, wenn man über das eigentliche 
Gebiet einer grammatifch - hiſtoriſchen Interpretation mit 
ſich einig geworden iſt. Bekannt genug iſt es, wie ein 
tieferes Eindringen in den bibliſchen Sprachgebrauch ſich 
genöthigt geſehen hat, manche verroſtete dogmatiſche Er⸗ 
Ehrung früherer Zeiten aufzugeben. Aber bei weitem we 
iger befarint fcheint e8 zu feyn, wie man gerade von bem 
Standpuncte der biblifchen: Philologie aus. gezwungen 
Wird, Proteſt gegen manche Erklärungen einzulegen, die 
ſich allenfalls: halten möchten, ohne der chriftlichen Dog» 
matif einen befondern--Auftoß zu geben, alfo ohne dem 
Echten Glauben eines Ehriften zu verlegen. Die Schrif⸗ 
ten zweier hochgefelerten Männer — wir meinen Neanber 

and. Dlshaufen — bieten mehrmals Beifpiele dar, wie 
fonft gutgemeinte Deutungen. einer Stelle oder eines Facs 
sums in der Bibel-aus Gründen, welche -Iediglich in dem 
Sprachgebrauche. der heil. Schrift liegen, zurückgewieſen 
werden müffen. Wir berufen ung mit Recht auf den alleis 
nigen Sprachgebrauch der heil, Schrift, zum: Zeugniffe, daß 
man fehr leicht in einen neuen Fehler falle, — und auch 
diefen hat Hr. Ti: noch nicht genug ‚vermieden — wenn 








philolog.=theolog. Auslegung d · Bergprebigt. 961 


man entweber zu freigebig mit Citaten aus ſogenannten 
Profanſcribenten umgeht, oder die ſpecielle Bedeutung 
dieſes oder jenes Wortes aus einer einzigen Stelle eines 
griechiſchen Efaffiferd- erhärten will. Hier ſind neuere 
Commentare noch lange nicht von allem Ballaſt gereinigt 
worden, der ſich in vielen ältern bis zum Ueberdruß an⸗ 
gehäuft hat. Doch genng hiervon! 

Der Titel unferes Buche lautet: nah Matthäus. 
Auch dieß darf nicht zu fehr gedrückt werden, da Hr. Th.nicht 
bloß die Parallelen bei Lukas berücffichtigt, fondern auch letz⸗ 
teren einigemal angellagt und unter Matthäus herabgefegt 
hat. Ans naheliegenden Gründen möchten wir und gern bes 
Lufas annehmen, allein wir fehen, daß die Sachenichtin ges 
wäünfchter Kürze abgethan werben kann. Uebrigens vers 
fteht e8 fich von felbft, daß Durch die Aeußerungen von 
Th. das Gebiet des Chriftlichen nicht verlegt wird, Wir 
wollen darum nur den Gegenitanb dem Hrn. Vf. zu einer 
nochmaligen ſcharfen Prüfung empfehlen. So würde Rec. 
nie darauf etwas geben, Daß, weil fich bei Matthäus alles 
[9 gut aneinander reihe, wir auch hier etwas Reinur⸗ 
fprüngfiches befüßen. Wir meinen im Gegentheile, laͤßt | 
fich erft nachweifen, daß in dem gegenwärtigen Matthäus 
manches zerftreut Gelegene gleich zufammengezogen worden 
fey, dann verlangte ed auch bie Natur einer folchen Zus 
fammenziehung, daß man überall den Zufamumenhang 
aufs beftimmtefte berückſichtigen mußte. | 

Wir lefen weiter: Ein Beitrag zur Begründung einer 
tan biblifchen Glaubens » und Sittenlehre. Wie Diefes 
gemeint ift, barüber belehrt infonderheit Die Vorrede, wo 
es unter andern heißt: „Aus einer folchen Weiſe der Erfl. 
der Schrift, wo man jeden Punct der Peripherie aus ber 
ganzen Peripherie und dem Centrum zugleich zu erklären 
fucht, geht denn auch die Grundlage einer bibl. u. ſ. w. 
Die Begriffe: Reich Gottes, Sohn Gottes, Ehe, Fein- 
deöfiebe, Gott fehen, Gott der Bater der Menfchen u.fw. 


962 Tholuck's 


haben hier ihre vollſtändige Erörterung erhalten, weshalb 
Denn auch diefe Schrift nicht bloß Eregeten, ſondern auch 
Dogmatifern und Ethitern beflimmt if.” Streng genom⸗ 
men kann freilich auch hier nicht. von einer Glaubens⸗ und 
Sittenlehre, fondern nur von einzelnen Theilen derſelbes 
die Rede ſeyn, denn ber Bf. fagt felbit, Daß Die Berföt- 
nungslehre nicht in Der Bergprebigt vorfonme. Dann 
vermiflen wir doch auch bei allem Reichthume der Entwide 
lung hier und ba ein tiefered Eingehen in einzelne Stellen. 
Was konnte nicht 5, 20 über den Begriff Pharifüer vom 
bibl. Standpuncte aus gefagt werden, was für Die Moral 
ded N. T. gar nicht gleichgültig iſt? Etwas Aehnliches 
gilt won den falfhen Propheten, deren Ehriftus 7, 15 fl. 
gedenfet, befonders von den. am Schlufle Diefer — 
erwähnten falſchen Wunberthätern. . | 
Bei unferer ferneren Beurtheilung begnügen wir und, 
das Ganze unter zwei Hauptpuncte zu faffen, indem wir 
zuerſt die Auslegung wichtiger Stellen prüfen, zweitene 
auf Die Glaubens⸗und Sittenlehre Rüdficht nehmen. 
Bei der eriten Frage: Was ift für bie Auslegung ges 
ſchehen? — muß Die noch allgemeinere obenan geſtellt 
werden: Wie hat Hr. Th. Die Bergprebigt überhaupt 
angefehen? Hier hat fich Gelegenheit zu manchen Unter⸗ 
ſuchungen dargeboten. Wenn die Identität beider Reden 
bei Matth. und Luk. angenommen wirb, fo hätte wenig⸗ 
ftend zugegeben werben. follen, daß eine große Anzahl von 
Ausſprüchen von der Art ift, baß fie ſich gar wohl zu 
Sftern Anführungen eigneten. Nah &, 11 ff. fcheint 
nen auch Hr, Tholuck geneigt, die Wiederholung verfehies 
dener Gnomen zuzugeben; allein hier möchten wir ihn 
fragen, wo bleibt die Srenzlinie, und wie kann unter fols 
chen Umftänden von der oben erwähnten Identität der beis 
ben Evangeliften gefprochen werden? Uebrigens müflen 
wir hier ben Leſer bitten, zu bebenfen, ob es wohl geras 
then jeyn möchte, den Matthäus fo fehr auf Koften dei 
4 





philolog. «theolog. Auslegung d. Bergpredigt. 963 


Lukas zu erheben. Es iſt befannt, wie einige neuere Vers 
theidiger der Aechtheit des vierten Evangel. in ihrer Bors 
liebe für das ketztere nicht felten zu weit ‚gegangen und - 
gegen die 3 erſtern ungerecht geworben find. Faſt will ed 
uns fcheinen, ald ob auch unfer Df. nicht am beften daran 
ſey, wenn es fich darum handele, als Apologet für Lukas 
anfzutreten. Wie nun, wenn er in folchen Anführungen 
aus de Wette und Schleiermacher — zum Radıtheile des 
Lufad — immer weiter gehen wollte? Wir fürchten, baß 
"anf folche Weife rationaliftifchen Gegnern ein zu leichtes 
Spiel bereitet werde, ald weldye ohnehin fehr gern Con⸗ 
ſequenzen zu ziehen pflegen, und hier auch ohne — 
wirklich ziehen werden. 

Wenden wir uns nun zur Auslegung einzelner Stel⸗ 
ken, fo geben und gleich Die einleitenden Bemerkungen zum 
5. Gapitel Stoff zu einem Tadel, ben wir leicht öfter 
wiederholen fönnten. Wir meinen die WBeitfchichtigkeit und 
Breite des ganzen Werks. Diefe Bemerkungen, welche 
den Berg und feine Lage betreffen, nehmen beinahe 8 Geis 
ten ein, wo natürlich einzelne ganze Stellen and andern 
Schriftftelern mitgetheilt werden. Das Mundaufthun 
(B. 3) wird emphatifch genommen, wobei wir und aber 
nieht auf die zur Erweifung einer folchen Bedeutung ans 
geführten Gründe berufen möchten... Die Geiftliharmen 
B. 3 vereinigt Hr. Th. mit den bloßen Armen. bed Lukas, 
faft ganz fo, wie ed Rec. in feinem Commentare zum Lulad 
gethan hat. Bei Entwidelung des Begriffs Himmelreich 
halten wir und wicht auf, fonbern bürfen gleich auf ans 
dere Schriften des Vf., 3. B. Eommentar zu Joh. vers 
weiten. Den 16.38, finden wir im VBerhältniffe zu andern 
Stellen auffallend kurz erläutert, was faum zu rechtfertis 
gen ik. Bei V. 17 it zwar Rom. 13, 8, nicht aber 13, UL 
angeführt; auch hätte der Zuſammenhang mit den voraus 
gegangenen IRafarismen recht gut a werben. 
konnen. 


17 2ETholactiz;ß 


:. Daß volg dpyaloıs: B..21 ald Dativ zu nehmen fey; 
dafür find genügende Gründe beigebsacht worden, unb 
darum war ed.nicht :nöthig, Alles anzuführen, was für 
die fogenannte ablativifche Auffaflung ſpricht. Wenn es 
S. 162 zu V. 21 unter andern heißt: Schon nach Diefer 
Erörterung ber Phrafen ergibt fich und alfo, daß Ehriftus 
es allerdings nicht bloß mit dem 4. T., fondern:mit ber 
altteftam, Lehre in der Geftalt, welche .ihr der. Pharifäig- 
mus gab, zu thun hat — fo können wir dieß nicht unters 
fhreiben, denn wir.wiffen ja gleidy aus der Bergprebigt 
ſelbſt, wie der Herr mehrmals altteſt. Stellen buchſtäblich 
angeführt, und dann, ihnen gegenüber, feine Erflärung, 
welche eben die rechte Erfüllung ift, gegeben hat. Hrn. Th. 
Anficht, von Chrifto würden die altteft. Gebote mit den 
Entftellungen, welche fie unter den Händen der Pharifäer 
u. f. w. erfahren, angeführt, läßt ſich nur auf gewiſſe 
Theile, nicht aber auf die ganze Bergprebigt ohne Aus⸗ 
beziehen. F 

Was von S. 163 als Kanon für bie richtige Ausle⸗ 
gung der. folgenden Ausfprüche aufgeftellt wird, verdient: 
im Allgemeinen Biligung, nur würden ‚wir ben erſten 
Grundſatz etwas anders faſſen. Er lautet: baß wir bie 

Ausſprüche Chriſti ald Angaben des geiftigen. Sinnes der. 
Gebote des A. T. zu betrachten. haben. Diefer Sag if 
nicht durchzuführen; Denn mehrere Gebote folten ja unter 
der altteft. Oekonomie feinen geiftigen Sinn haben, fons 
bern recht eigentlich nur Dem Buchftaben nad; erfüllt werben. 

Auch die Art, wie Hr. Th. bei dieſer Gelegenheit über 
bie Auslegung der Duäfer, die er. eine höchſt achtungs⸗ 
werthe chriſtl. Partei nennt, urtheilt, -cheint und einer 
Berichtigung zu bedürfen. Soviel Rec. nämlich einfleht, 
ift es nicht ihr Beftreben, Ausfprüche Chrifti in der Berg⸗ 
predigt buchſtäblich zu befolgen, was ganz eigene Grund⸗ 
fäße bei ihnen hervorgernfen Hat, fonbern ihre einmal: an-. 
genommenen Grundſaͤtze — Die Hauptprincipienihres Glau⸗ 








philolog. = theolog. Auslegung d · Bergpredigt. 965. 


bens — waren ed vielmehr, vermöge beren fie fich gebruns . 
gen fühlten, manchen Ausſpruch Jeſu ganz wörtlich zu 
nehmen, manches Andere dagegen; was wir im Chriftens 
thume buchftäblich gelten Iaffen, mehr in einem geiftigem 
Sinne zu nehmen. Wir möchten es demnach mehr als 
Grundſatz aufftellen, daß Die einzelne Partei ihren Glaus 
ben bereitö mitbringe und Diefem gemäß Die Bibel zu vers 
ftehen ſuche. Die Wechfelwirkung darf freilich auch hier 
nicht andgefchloffen werden, indem manche Bibelftellen 
wieder zur Ausbildung befonderer Glaubengfäge en eins 

zelnen Parteien beitragen. | 
Warum ddsapds V. 22 bloß im — — und 
nicht im tiefern chriſtl. Sinne, ſtehen ſoll, weil der Erlöfer 
zu Unwiedergebornen ſpreche, will uns nicht recht einleuch⸗ 
ten, und ſcheint auch den Zuſammenhang gegen ſich zu 
haben. Wir bitten auch hier den verehrten Vf. ırm eine 
erneuerte Prüfung des Borgetragenen. 

Mit dem pauciora debent exponi per plura ©. 251 
möchte Hr. Th. nicht gut. ausfommen, um bas in’ ben 
Parallelftellen weggelaffene zagexrosAdyov zopv. damit zu 
rechtfertigen. Uns find immer zwei Bedenken aufgeftößen, 
die fi durch einen Kanon, wie. der eben aufgeftellte war, 
. nicht heben laſſen. Wie ift es möglich, daß Markus, der 
10, 12 einen ganz eigenthümlichen Zufaß Liefert, jene Eins 
fchränfung, die Jeſus nach Matthäus gelten- läßt — es 
fey denn um der Hurerei willen — follte überfehen haben ? 
Hierzu fommt nun die Auctorität des Paulus, der nad 
1 Kor. 7, 10 ebenfalls bei dem Terte des Markus ftehen 
geblieben ift. Rec. glaubt, — was er aber hier. nicht auds 
zuführen vermag — Die Saghe made eine Ausgleihung 
möglich, wo man ganz und gar nicht nöthig hat, den Kas 
tholiten in bie. Hände zu-arbeiten: Wir wollten nur ben 
Hr. Bf. Darauf aufmerffam machen, wie er gewiß manche 
Stellen feines Buchs ‚gleich ändern müßte, wenn jeder kür⸗ 
zere Ausfpruch fofort durch einen ne längern er⸗ 

Theol, Stud. Jahrg. 1834. 


986 TIholucks 


ganzt werden könute. Wir ſchließen hier Dem erſten Theü 
unſerer Kritik, die eigentliche Andlegung betreffend, und 
»euten nur noch auf einzelne Stellen hin, Die und vorzüglich 
gelungen gu ſeyn fcheinen, auf jeden Fall fehr anregenb 
für aubere genannt werben müſſen. Dakin gehören S. 170 
über öoylfsche:, Über baxz 174, über Den As Laut ded 
Aramäifchen 175. 136. Auch die Lesart elxnj wird ſehr gut 
vertheibigt. Zu Kap. 5, 43. 44 ©. 827 ff., dann die ger 
Iehrte Unterfuchung 6, 1: 2. Auch bürfen wir ed nicht uu- 
terlaſſen, auf die grünbliche Polemik gegen Tittmaun .©. 
193 zu verweifen. Achnliche Mängel in der Synon. dieſes 
berühmten Gelehrten hat and; neuerlichft Reiche, Com⸗ 
ment. 4.Br. an die Rom. aufgebedt. licher Bonass— Fraß 
S. A54 fl. 
Wir gehen zur Prüfung befien über, was in bem vor- 
liegenden Comm. für die chriftl. Slaubensr und Sittenlehre 
gefchehen iſt. Was dem Hrn. Bf. auch anberwärts gelun- 
nen ift, Das gelingt ihm wieder in einem hohen Grade in 
dem vor und liegenden Werke, zu deſſen legten Vorzügen 
es in der That nicht gehört, wenn allen nachtheiligen Eins 
flüffen von Seiten der Dogmatik gewehrt worben ift. Bon 
ber Bergpredigt felbit heißt es ©. 37, fie ſey eine Darſtel⸗ 
lung des chriſtl. Sittengeſetzes nach feinen allgemeinen Um⸗ 
riſſen, und bieß wird ihre dogmatiſche Bebeutung ges 
nannt. Etwas Erheblidhes dürfte ſich gegen dieſe Anficht 
nicht aufftellen laffen, wenn auch vielleicht etwas im Aus- 
bruce geänbert werben könnte. Wir greifen jebt einen 
Hauptpunct herand, und zwar bie Erläut. won 5, 18, wo 
der Bf. unter andern fagt: „Das Gefeg ift feinem ethiſchen 
and feinem ritnellen Inhalte nach ein unerfülltes, feinem 
etbifchen Inhalte nach, fo lange e8 nicht wollfommen. in Die 
Gefinnung der Menfihheit übergegangen ift, wie eben bieß 
son ber meffianifchen Weiſſagung (Her. 31, 32— 34) aus⸗ 
gefagt wird; feinem rituellen Theile nach, fo lange nis 
das, was bie äußere hebr. Theofratie barftellte, noch nicht 


| 








' 


philolog.=theolog. Auslegung d. Bergpredigt. 967 


geiftiger Weife in der Gemeinde Chriſti verwirklicht iſt.“ 
Bon foldhen Grundfähen, wie bie hier ausgefprochenen 
find, ift natürlich ein Hanpttheil von ber Dogmatifchen 
Entwidelung ber Bergprebigt abhängig. Wir fehen uns 
indeß genöthigt, gegen das über ben rituellen Theil:des 
Geſetzes Geſagte, fo vielen Schein es auch immer für ſich 
haben mag, zu proteſtiren. Am wenigften fönnen wir es 
uns in der hier vorgetragenen Form gefallen Iaffen, wo 
es mit dem Ethifchen- völlig paraleliffet, und fo jeder Uns 
terfchied zwifchen beiden Theilen des Geſetzes im Grunde 
- genommen ganz aufgehoben wird. Nächftden fragen 
wir, wie wohl Hr. Th. feine Theorie mit derjenigen, wels 
che der Apoftel Paulus über das Geſetz aufftelt, zu ver⸗ 
einigen gedenke? Endlich erlauben wir uns bie. Bemer⸗ 
Fung, wie Hr. Th. auf den nächſten Seiten nicht ganz 
conſequent zu bleiben fcheint, inſonderheit S. 150, wo den 
Apofteln die Abſchaffung 3. DB. des Ritualgeſetzes — 
ſeyn ſoll u. ſ. w. 

Was den ethiſchen Theil der Bergpredigt insbeſ onbere 
anbelangt, fo läßt fih auch hier von der ſchönen chriftl. 
Geſinnung des Vfs. fhon nichts Geringes erwarten. Weit 
Vergnügen lieſt man: daß eine buchfläbl. Auslegung der 
Geſetze, oder vielmehr Erfüllung Derfelben, am erften eine 
Uebertretung derfelben werben kann. Die Polemik gegen 
Fritzſche S. 292 ift etwas ſtark, aber fonft richtig. : Parteis 
lichkeit kann man Hrn. Th. um fo weniger vorwerfen, dba 
3.3. Schriften des verewigten Stäudlin, vgl. 244, 25, eben. 
fo auf eine gebührende Art von ihm’ getadelt werden. 
Nicht wenig verdienen auch Die feinen und neuen Bemer⸗ 
fungen-zu 5, 28 empfohlen gu werden, vgl auch ©. 224. 
Wenn wir nun auch mit. den Bemerkungen über die Che 
gern übereinftimmen, fo ſehen wir und doch genöthigt, an⸗ 
dern Aeußerungen, welche zu 5, 2, ” aaa Br 
den, zu wiberfprechen. | 

Ohnfehlbar an die. ganze Dartelung eine — 


968 0, Kholud’6 


geworben feyn, wenn es bem BF. zunächſt gefallen hätte, 
anch auf die Polygamie, wie fie im A. T. vorkommt, ge⸗ 
hörig einzugeben. Wir wiflen recht gut, wie die Sade 
von unfern meiften Moraliften. angefehen wird, welche Aus 
fieht.aber kaum .mit dem göttl. Anfehen des A. X. beftehen 
möchte. Der Ausleger der Bergpredigt muß hier durchs 
aus das Verhältniß der vorchriftl. Offenbarung zur chriſtl. 
ind Licht ſetzen, und darf die Sache nicht umgehen , wie 
ſie von Hr. Th. umgangen worden ift. Freilich eine ſchwere 
Aufgabe, deren Löfung aber doch nicht unmöglich, dann 
auch für die richtige Beurtheilung anderweitiger Berhält- 
niffe fehr wichtig fepn dürfte. Wir. erinnern an Salomo, 
‚welcher fich das göttl. Mißfallen nicht Durch Die Vielwei⸗ 
berei zugezogen: hat, ſondern dadurch, baß er in feiner 
legten. Zeit auslänbifche Frauen an feinen Hof zug, und 
biefen zu Gefallen die Abgötterei begünſtigte. Wie fol 
nun die Sache angefehen werben ?. Eine durch alle Stufen 
der göttl. Offenbarung hindurchgehende abſolute Nothwen⸗ 
digkeit der Monogamie läßt. fich.fo wenig behaupten, als 
vertheidigen. Es muß demnach auch für die Ehe, wie 
für. fo viele andere äußerliche Suftitute, etwas Allgemeines 
- in Anſpruch genommen werben. Wie nun 5.8. Die fleiſch⸗ 
liche Bermifchung an ſich feine Sünde iſt, denn fouft wüßte 
fie e8 auch in der Ehe feyn,.fondern es erft da wird, wo 
beitimmte Gejeßgebungen vorhanden find, fo darf auch Die 
Monogamie nirgends für etwas erklärt werden, was als 
abſolut nothwendig für alle Zeiten erſcheinet, am wenig- 
fien da, wo die Offenbarung noch. nicht ihren Endpunct 
erreicht hat: Wir wänfchen ſehr, daß dieſer Gegenſtaud 
einmal nach allen Seiten hin befprocdhen und dann bad 
chriſtl. Suftitut der Ehe, wie es ba: ift, völlig gerechtfertigt 
werde. Anſtößig wirb.man unfere Anſicht fo wenig ſinden, 
als .der Apoftel Paulus au Abraham’s ehel. Vechältuiffen, 
vgl. Gal. 4, Anftoß genommen hat... Dan ‚wundert fi 
nicht felten über Aeußerungen / wie fie. 3. B. Ruther hier 





⸗ 


philolog.= theolog. Auelegung d. Bergpredigt. 909 


und da über die Ehe gethan hat; allein ſie lagen ihm ſehr 
nahe, wenn ihm bie Beiſpiele ans dem A, T. einftelen, nur 
war ed ihm in feiner Damaligen Lage nicht möglich, beit 
ganzen Gegenſtand einer wiſſenſchaftlichen Prüfung, . 
unterwerfen. " 

Unmöglid; Tönnen wir auch die Behauptung unters 
fchreiden, daß die Chefcheibung erſt durch Wieberverheis 
rathung vollendet werde, Die liegt nicht in den ausdrück⸗ 
lichen Worten Jeſu, und wir fehen auch er nicht, was 
dadurch gewonnen werden fol, 

Ueberhaupt müffen wir offen geſtehen, daß ber Bf zu 
keinem beſtimmten Reſultat über Eheſcheidungen gekommen 
iſt. Ganz eigene Aeußerungen S. 258,260. Beſonders auf 
dieſer letztern Seite werden alle ſichern Regeln wieder auf⸗ 
gehoben, indem es ſich faſt nur um eine ſubjectiv gewiſſen⸗ 
hafte Ueberzeugung handelt. Wenn es aber Beherzigung 
verdient, was S. 273, 274 über die. Eheſcheidungen unſe⸗ 
rer Zeit gefagt wirb, fo möchten wir doch mit S. 258 
nicht übereinftimmen, wo die eiferne Strenge ber Vorzeit 


der Schlaffheit unferer Tage unbedingt vorgegogen-wirb, 


Man’ überfehe Doch niemals die große Inconſequenz unfes 
rer Vorfahren, welche, wenn fie das eine. after mit dem 
Leben beftraften, ein anderes, welches vor Gott auf der⸗ 
felben Linie der Strafbarleit ftand, fo ‚gut. wie gar nicht 
bemerften. Und wer wurde benn in jenen frühern Zeiten 
um des Ehebruchd willen fo hart betraf? Doc wohl 
nicht Fürften, Könige und andere Große, von denen er 
am Häufigften begangen ward? Zur Ehre unferer Zeit 
müſſen wir es geftehen, daß Ueppigfeit und. Ausfchweis 
fung an den meiften Höfen fehr vermindert und einem edle⸗ 
ren Sinne gewichen find. Es konnte nicht fehlen, daß bie 
Ausfprüche des Herrn über ben Eid, V. 35 — 37, eine.bes 
fondere Erörterung erhalten mußten. Der Hr. Bf, erklärt, 
baß die.nenerlich von Dlöhanfen und Stirk vorgetragene 
Anficht fonft auch die feinige gewefen fey,. es jetzt aber 


& 


nicht mehr ſey. Wir müffen nun geradezu fagen, daß wir 
die im Comment. vorgetragene Auffaſſungsweiſe mit dem 
eigentlichen Sinne der Worte Chriſti nicht zu vereinigen 
vermögen.: Daher mag es auch gekommen ſeyn, Daß wir 
den Kernausfprud V. 37 mehr umgangen, als erliärt, 
finden. Rec. verſucht; Einiges anzugeben, wodurch in die 
Behandlung ber Lehre vom Eide fo viel Berwirrung ge 
Sommen iſt. Ohne Bebenfen ſtellt man dad Dilemna hin, 
Eheiftus hat entweder bloß das fündliche Schwören im ges 
meinen Leben, oder aber alles Schwören ohne Ausnahme 
verboten. Mie wenig er aber das Erſtere gethan haben 
kenn, ergibt:fich ſchon daraus, daß in feinem diesfallſigen 
Aus ſpruch über ben Eid gar nicht, wie. es fonft in Der gan⸗ 
zen Bergprebigt der Fall ift, ein Gegenſatz zu dem: Shr 
habt gehört, daß zu den Altengefagt ift — entfichen wäre. 
Wo fol denn dießmal die eigentlidye Erfüllung des Gefes 
ed herkommen, wenn er im Grunbe genommen nur eis 
was verbietet, was langft unterſagt werben war? Welche 
unrichtige Vorausſetzung iſt e& weiter, auzunchnen, ald 
ob dad Schwören — Betheuern im gemeinen Leben am ſich 
ſchon Sunde ſeyn müfle? Diefes kann gerade ber Ausflug eis 
nes tieffühlenven Herzens ſeyn, wie folches Die in den Bries 
fen eines Paulus vorkommenden unaufgeforderten Betheues 
rungen beweifen. Chriſtus muß demnach das Schwören 
fehlechthin verboten haben. Und da liegen bie Gründe 
gang nahe. Der Schwur ift eine Außerliche heil. Hands 
lung, welche nicht ohne eine beflimmte ängerliche Formel 
gebadyt werben kann. Wie fehr aber eine Formel dieſer Art 
theils dem ganzen Geifte unferer Bergprebigt, theils dem 
Evangelium überhaupt entgegen ift, darf wohl als hin 
linglich belannt vorausgeſetzt werben. : Die Verwirk⸗ 
lichung emer folchen Herrfchaft des göttl.. Geiftes IK nir⸗ 
gende denfbar, ohne das Schwören immer unmüber und 
zuletzt ganz entbehrlich zu machen. Dieſe Ideen reihen ſich 
ganz einfad; aneinander, und darum überheben. wir uud 





philolog.=theolog. Ausleguug d. Bergpeebigt. ATI: 
her jeder weitern Erörterung, bed Gegenſtandes, wel⸗ 


chen wir ebenfalls dem trefflichen .Df. zu einer nochmaligen 
Durhforfhung empfehlen. . . : 

Da dab Deber mit. zur Moral gehört, fo wollen win; 
noch Giniges Aber bie Erläuterung bes V. U. hinzufligest 
Die Note S. 394 fcheint faſt zu. brhaupten/ als ob Luther 
auch in feiner Bibelüberſetzung, wie fonft, Vater Unfer 
gefchrieben habe, was indeß weder bei Matth. noch in ber 
Stelle bei Lukas der Fall if. Sonſt auch hier bes Trefflis 
chen fehr viel — über die Quellen ©. 383, 384, die fchöne 
Aeußerung ©. 388. — Seine volle Bedeutung erhält dies 
fes Gebet erft im Munde eines wiebergebornen Chriften. 

Dei ber vierten Bitte ſcheint auf Das Unſer zu wenig 


Gewicht gelegt zu feyn, auch vermiflen wir etwas über 


Den Zufammenhang diefer Bitte mit den brei erftern. Auch in 
Anfehung der fünften ift das Verhältniß unfers Vergebens 
zum göttlichen nicht in ber Dogmatifchen Schärfe hervorges 
hoben, wiewohl manched Gute gefagt wird. Die Entwides 
lung der fechsten will auch noch nicht vollkommen genügen. 
Warum find nicht unter andern auch Die herrlichen Worte 
berüdfidhtigt worden: Es muß ja Aergerniß kommen ıc. 
Daß fleben Bitten find, wird gut erläutert, doch fonnte 
auch bier noch mehr auf die drei erſten zurüdgegangen 
werben. Die Dorologie fol unächt, aber dem Geifte des 
Herrn angemeffen feyn. Bei dzsovasog ift nicht einmal bie 
befannte gründliche Abhandlung im theol. Anzeiger erwähnt 
worben. In eben dieſem Anzeiger fcheint und auch ber 
eigentliche Sinn ber 5. Bitte, ganz neuerlich, noch fchärfer, 
als in dem vorliegenden Somment., beflimmt worden zu 
ſeyn. 

Wir begnügen uns, noch einen Tadel hinzuzufügen, 
welcher den Schluß der Bergpredigt inſofern betrifft, daß 


dieſer, wider die ſonſtige Gewohnheit des Vf., in der That 


nur ſehr dürftig bedacht worden iſt. Man erinnere ſich, 
wie unter andern Krummacher — über den Geiſt und die 





GT  . Shelud’6 Aubleg. d. Bergpredigt. 


Form u. f. w. — auf bie wirklich. vollendete Darftellung 
bes Lukas aufmerkfan gemacht hat. | 

Beigegeben findet man eine Paraphrafe, die wir allen⸗ 
falls auch miſſen kinnten; dagegen halten wir es für 
Schuldigkeit, für das fchägbare Regiſter — es find eigent⸗ 
lich zwei — unfern freundlichen Dauk auszuſprechen. 


M. Stein in Niemegl. 





VDeberfidten. 


u e b e r f i h ® 
bet ——— — 
theologifchen Litteratur in den drei Fatih 


Reichen in den Fahren. 180 — 1833... 





Geſchrieben im Februar 1834, =. 


> anemark. 
Bibelſtudium. 


Das gelobte Land zur Zeit des NT a) 908 
Li. Brammer, Prediger und Seminarienvorfteher (1832), 
Eine Ratiftifch »geographifche Befchreibung Palaͤſtinas, für 
gebildete, aber ungelehrte Leſer, iſt hier mit forgfältigen 
Benutzung des früher Vorhandenen und mit geſchickter Aus⸗ 
wahl gegeben; auch empfiehlt ſich die Ausführung Dusch 
lebendig durchgeführte Schilderungen der phufifchen wie 
ker bürgerlichen Verhäktniffe, wie fie überhaupt von einer 
Huftigen und fipliftiichen Eigenthümlichkeit zeugt, deren 
Borzüge jedoch oft durch eine gezierte und Eüuftlich ge⸗ 
Ihrmbte Schreibart getrübt werden. > 


By: Di Bücertitel find nur beutfch gegeben, weil doch am fremben 
Drttorte entftellenden Druckfehlern nicht wärbe dorgebeugt wer» 


= 


976  Weberficht 
Historia populi Iudaici biblica usque ad 
occeupationem Palaestinae, ad relationes pere- 
grinas examinata et digesta (1832). Der Berfaffer, 
Lic. Engelsloft Ciebt außerord. Prof. der Theol. an 
der Kopenhagner Univerfität) hat fich eine Aufgabe ges 
ftellt, die ohne umfaffende Quellenftudien und gründliche 
Kritik nicht zu löfen war, hat fie aber in jeder Hinficht 
anf eine Weife gelöft, die feiner Arbeit wiffenfchaftlichen 
Werth, und Anfprüche auf die Aufmerkfamfeit der Ges 
"Ichrten gibt. Es werben bier bie wichtigften Momente 
der älteften Gefchichte ber Hebräer der Reihe nadı durch⸗ 
gegangen ‚und forgfältig verglichen mit den Berichten 
oder Andeutungen, die fich vorzüglich in der babyloni⸗ 
ſchen und. der’ ägyptifchen. Gefchichte Cbei Berofus und 
Manetho) auffinden laſſen, mit Zuziehung ber Griechen 
und der verfchiedenen bei Eufebins und Joſephus erhal 
tenen Fragmente. Durd; biefen fcharffinnig durchgeführs 
ten, Parallelismus ift ſowohl eine fchärfere Ausmittelung 
der gefchichtlichen Thatſachen ald eineigenauere Feftftels 
fung der chronologifchen Momente öfters gelungen. 
Fragmentum libri nominum Hebraicorum 
antiquissimum ex codice Parisiensi, afabemis 
ſches Programm (1838) von Prof. Dr. Hohlenberg. In 
einer Ichrreichen Einleitung wird von der Sorgfalt gehans 
Delf,i:mit weicher fowohl bei Philo Als: bei den Kirchen⸗ 
gätern (Drigened, Hieronymus, Auguflinus) Deutungen 
Yon den nomina propria .ded U. T. gegeben worden find, 
von dem Zufammenbange Diefer Bemähungen mit „ber 
allegoriſchen Auslegung, von ber verfchiebenen Geftall, 
Worin jene Deutungen zu. und gelangt find: gewöhnlich 
als Marginals Gloffen in den bibl. Handfchriften, mians 
ter auch als befondere Onomaſtiea, in benen:bab bie 
alphabetifche, bald eine gewiffe Real⸗Ordnung befolg wird. 
Fragmente folcher Lerica find bekanntlich in der Mrtianäis 
ſchen Ausgabe des Hieronymus mitgetheilt, aberaus einer 











x 


d. theol. Eitteratur in d. 3 ſeandinav. Reihen. 977 


fehr jungen Hanbfchrift (aus dem 16ten Jahrh. Das hier 
von. dem Prof, H. heransgegebene Onomafticon gehört 
hingegen: einer Handfchrift an, die Montfaucon in feiner 
Beichr. ver Coislin. Bibl. in das 6te oder Tte Jahrh. hin⸗ 
auffeßt, und: if, wie Daß:ältefte, fo: auch das vollſtaͤndigſte 
der bis jebt befaunten. Eine Probe hatte-fchon Montfau⸗ 
con ntitgetheilt, hier wird Die erfte Abtheilung, (oon.ad« 
bis pad) vollftändig geliefert, von einem gelehrten Com⸗ 
mentare begleitet; indem: der: Verf. mit großem Fleiße ber 
miüht ft, ſowohl die den griechifchen — oft verftämmelten — 
Wörtern ..entfprechenden hebräifchen anzugeben, als nadıs - 
zuweifen, aus welchen Wurzeln oder andern Quellen bie 
Deutungen herzuleiten ſeyen. 

Ueber Abſicht, Bedeutung Er Refultate 
der wiffenfhaftlihen Unterfudungen.des 
Theologen über die Schriften des NR. Teſtts. 
(1833), von M. Scharling,. Zector an der. Acabemie 
in Sorse (jetzt ord. Prof. d. Theol. ander Univ. im Ko⸗ 
penhagen). Eine Art won populärer. Einleitung Ind NT., 
indem, auf. zwölf Vorkefungen vertheilt, eine beurtheis . 
Sende Zuſammenſtellung ber wichtigften hieher gehörigen 
hiſtoriſch⸗kritiſchen Unterſuchungen gegeben wird. Der Verf. 
hat bei-diefer Arbeit die lobenswerthe Abficht gehabt, ges 
bildete. Lefer,. die fi für Chriftenthum und Kirche interef⸗ 
firen,.is den Stand, zu feßen, über Geiſt und Form jener 
wiffenfchaftlicden Bemühungen ein richtiges Urtheil zu 
fällen,. und fomit auf bie ficherfie Weiſe Denjenigen . 
entgegen zu treten, bie dahin arbeiten, die bibliſche Kris 
tik, als Erzeugniß. und Werkzeug des Unglaubens, bei 
dem Volke zu verbäcktigen. Die Arbeit ift mit forgfältigem 
Fleiſſe ausgeführt, und gewährt eine klare und leicht faßr 
liche Ueberſicht; indeſſen möchte. fie, bei.den öfters ing Eins 
some gehenden .Unterfuchungen, nidyt fowohl (nach: ber. Ab⸗ 
ficht des Berf) für. nicht - theologiſche Leſer, als für. Pre⸗ 
digere nad, jungere Theologen. geeignet ſeyn. — -Merfelbe 


978 eberficht. 


Berf. hat cin Moͤllerd Zeitſchr. f. Kirche und Theol., 2%.) 
„Beiträge zur Beſtimmmg der Abfaſſungs⸗ 
zeit für die Briefe Pauli an bie Römer und 
Die Korinther” gegeben: eine Wiberlegung ber Köhler’; 
fchen Hppothefen und im Ganzen Beflätigung der Annah⸗ 
men von Hug und de Wette: Br. an bie Römer: J. 58 

oder 9, 1 Kor.: Frühjahr 88, 2 Kor.: Sommer 58. 
De authentia pastoralium quae vocantur 
Pauli Ap. epistolarum, ac praesertim de tempe- 
re quo seriptae sunt, akadem. Programın 1831 von 
dem Prof, d. Theol. Cießt Bifchof zu Aalburg) N. Fogt⸗ 
mann. Die, nad, den nenern gründlichen Unterfuchuns 
gen gewöhnlich aufgegebene, Meinung ift hier wiederum 
aufgenommen, nach welcher die in ber Apoftelgefchichte 
erwähnte Gefangenfchaft Pauli mit dem Tode deffelben ges 
endet haben fol, mithin fammtliche Paftoralbriefe in ben 
Beitraum, von dem Lukas berichtet hat, verlegt werben; 
indem ber Berf. Die Zweifel über-Die Nechtheit diefer Briefe 
zum Theil daraus herleitet, daß die Vertheidiger berfels 
ben, um den chronologifchen Schwierigkeiten ausgumeichen, 
zu ber willlürlichen Aunahme. einer. neuen, jenfeits ber 
zömifchen Gefaugenfchaft gelegenen, Epoche des Lebens 
Pauli die Zuflucht genommen. Diefe Darftellung ber Sache 
aber trifft bas Wahre nicht. Nicht um jenen Schwierig 
feiten ausguweichen, hat man Die Befreiung Pauli und eine 
gweite Sefangenichaft erfonnen; fondern weil eine uralte 
: Tradition dieſe Thatfachen beglaubigte, auch dieſe fich bei 
wieberholter Prüfungider gefchichtlichen Zeugniffebewährte, 
hat man biefe zur Löfung der Schwierigkeiten benutzt. 
Der Verſuch des Berf. jene Zeugniffe zu entkraͤften (das 
 ebona zig Buceng bei Clemens Rom. folle Italien feyn) 
kann nicht als gelungen angefehen werben; ben Verſuch 
aber einer Löfung jener Schwierigkeiten, ohne dieſe An⸗ 
nahme zu Hülfe zunehmen, iſt der Berf. ſchuldig geblieben. 
. ApocalypsisiohanntiApostolo vindieata von 





d. theol. Litteratur in den. 3 ſcandinav. Reichen. 979 


Lie. Kolthoff 1883. . Ein audiatur et altera pars, gegen 
Ewald und Lüde gerichtet, wodurch eine genauere Res 
viſion befonbers der philologiſchen Einwürfe gegen die 
Yuthentie der Apok. in manchen Einzelheiten wird noth⸗ 
wendig gemacht werben. Wenn übrigens dem Verf. bie 
gemachten Einwürfe fämmtlich Als nichtöbebeutend erfchei- 
nen und bie Frage über bie Acchtheit des angefochtenen 
Buches ein für allemal zu Gunſten deffelben abgemadıt, fo. 
wird ber Gachverfländige fich fchwerlich überzeugen. kön⸗ 
sen, baß der Berf. bei feiner Unterſuchung mit der erfor- 
Derlichen .Unbefangenheit zu Werke gegangen ſey. Gegen 
die höhere Kritif it der Verf. überhaupt fehr ungänftig 
geſtimmt, — und daher mag es wohl fommen, baßer, bie 
hiktorifchen Zeugniſſe ſchon als völlig entſcheidend anfer 
hend, auf eine (gewiß fehr nöthiged fchärfere Präfung dei 
Dogmatifchen Gehalted der Apok. nicht eingegaugen iſt. 
Diefe Stimmung ruhet aber nur auf einem Verkennen bes 
Weſens dieſer Kritik, die ihrer Natur.nach.mithandarelfe . 
lichen Beweifen. ihre Sache nicht führen kann; wenn. 28 
3. B. den kritifchen Gegnern der Apok. zur Laft gelegt wird, 
Daß fie nirgende mit Beftimmtheit angegeben haben; wie 
groß der Unterfchieb Der Sprache in. verfchiebenen Schrif⸗ 
ten ſeyn Dürfe, ohne baß die Identität bes Verfaſſers ger 
läugnet werben mäfje, auch behauptet, daß fie ben Staub⸗ 
punct der wiffenfchaftlichen Forſchung verrüdt haben, in» 
dem fie ſich zuletzt auf ein unmittelbares Gefühl, einen ins 
nern Tact beriefen. Auch hat ber Verf. bie Kritik ſelbſt 
von einem Leichtfertigen Gebranche berjelben fa wenig’ ges 
fchieden, und die Nothwendigkeit ziner freien Hanbhäbung 
Derfelben zum. wahren Gebeihen der chriftl. Kirche fo wer 
nig im Auge behalten, daß er, von bem Grundſatze eines 
in ber Kirche unabänderlich feftgeftellten RAanons ausgehend, 
jebe Fritifche Unterfwchung, die gu einem der Authentie 
dieſes oder jenes Fansnifchen Buches ungünftigen Refultate 
führt, ald der Wahrheit und ver Frömmigkeit widerſtre⸗ 





90 . Ueberſicht 


vend und als, nach den Srundgeſeben der Kirche, — 
lich erklaͤrt. 

Als Probe einer Heberfegung der hiſtoriſchen Bücher 
des A. Teſts. hat der Stiftpropſt Froft in Rib eine Uſe⸗ 
berſetzung des fünften Buches Moſ. (1833) her⸗ 
ausgegeben mit einigen erläuternden Anmerkungen, die 
jedoch zu mehreren Ausſtellungen Veranlaſſung gegeben. 
Der Biſchof in Laaland, Dr.R. Möller hat ſeine Ueber⸗ 
fetzung der prophetiſchen Bücher durch einen 
zweiten Band (1830) beendigt, und durch dieſe im Gau 
zen fehr gelungene Arbeit fich neue Verdienſte um die bis 
blifche Litteratur erworben, und ein verfländiges und ers 
bauliche Bibellefen auf: Die rechte Art gefördert. Auch die⸗ 
fer Ueberſetzung find Aumerkungen beigefügt, denen größ⸗ 
tentheils, der Auswahl wie der Form nach, Ds Lob ber 
Zweckmaͤßigkeit gebührt. 

Bon demfelben Verfaffer tft auch zur Ueberſetzung des 
N. Teſts. ein verdienſtlicher Beitrag gegeben: „S ä m m t⸗ 
liche Briefe der Apoſtel, überfegt.und mit den 
nöthigſten Aumerkungen verfehen” (A831). Die 
Weberfeßung ift, wie die Altern von Baftholm und Guld⸗ 
berg, freier gehalten, indem Das Berftehen ber: bunfleren 
Stellen durch kurze Zuſätze und Erläuterungen, die in ben 
Text eingefchoben, durch den -Drud aber von bemfelben 
unterfchieben find, erleichtert wird.. Ueber das zu Wenig 
und:zu Biel darf einmal bei Arbeiten diefer- Art im Einzel⸗ 
nen ein -zufammenftimmendes Uetheil nicht. erwartet wers 
den, und fo wird auch hier bald ein. unnoͤthiges Abweichen 
von ber alterthümlichen Sprachweife gemißbilligt, . bald 
ein freieres Berfahren vermißt werden können. Nach der 
Weherzeugung des Ref. ift die Paraphrafe geeigneter, jene 
Schwierigkeiten. zu ‚vermeiden und: die Bebürfniffe unge, 
lehrter Bibellefer zu befriedigen; als eine fogenannte freiere 
Ueberſetzung, dier-fich- weder dem Buchſtaben anfchließen 
will, noch ſich von Demfelben losmachen darf. Anf.jeben 





d. theol. Litteratur in d. 3 fcandinav. Reichen. 981 


Fall aber ift e& eine wichtige Aufgabe, bie verfchiebenen 
Gefichtspuncte feſtzuhalten, aus welchen die h. Schrift als 
Norm der Lehre und ald Erbauungsbuch betrachtet werben 
muß, und die Bearbeitung berfelben zum kirchlichen und 
zum häuslichen Gebrauche zu unterſcheiden. Verſuche, 
dieſe Grenzlinie zu ziehen und praktiſch darzuſtellen, —— 
auf dankbare Anerkennung gerechten Anſpruch. | 

Cantici Deboraeinterpretatio (1833), v.Chr. 
Kalkas, Adi. am der gelehrten Schule in Odenſe. Die 
Auslegung zeugt von ausgezeichneten Kenntniffen der hebrʒ 
Sprache und von kritiſcher Benutzung der Hülfsmittel:! 
neben den neueſten Auslegern ſind auch die alten jüdiſchen 
Conmentatoren, vorzüglich Kimchi und Aben⸗Esra ſorg⸗ 
fültig zu Rathe gezogen. Eine hiſtoriſch⸗kritiſche Einlei⸗ 
tung — zur Geſchichte der Auslegung des A. Ts.— iſt vor⸗ 
ausgeſchickt. 

Anmerkungen zu dem Briefe an die Gala 
ter (in Möllers N. theol. Bibl. 1831), vom kön. Confeſſio⸗ 
narius Dr. Mynſter. Der Berf., der früher zu diefem 
Briefe die Einleitung herausgegeben hatte (auch in deſſen 
kl. theol. Schriften überſetzt), fand fich durch Winers Com⸗ 
mentar gur Mittheilung diefer Anmerkungen veranlaßt. 
Die Behandlung ift aphoriftifch, indem der. Verf. weder 
philologifche Obfervationen noch Beurtheilung verfchiedes 
ner Erklärungen geben wollte, fonbern ſich auf eine kurze 
Begründung derjenigen bejchränfen, die feinem lrtheile 
nach den Vorzug verdiente, Auch bei diefer Unvolltändigs 
keit fehlt es an beherzigungewenthen Anbentgen: — 
Winken nicht. 

Exegetiſche Beiträge, vom Paſtor, Mag. Mi 
Ier (ibid.). Matth. 12, 39. 40: Bei Matth. fowohl ale bei 
Lu, müffe Onueiov ’Iov& auf die Auferftchung Sefu bezo⸗ 
gen werben. Joh. 8, 46: aͤucorle müſſe ‚nicht Durch 
„Sünde”, fondern durch „Unwahrheit” (pravitas doetrinae, 
non morum) überfegt werben. 1 Kor. 15, 29. 30: Der 

Theol, Stud, Jahrg. 1831. 64 


982 ar Meberfächt 


Berf. erflärt wassiv in ber Bebentung: onveiv, deldsn, 
zoopyreuem, und überfeht hen 29ten Vers: „Warm folk 
ten die, welche getanft werden, den Tohgefaug anfkinemen 
um ber Todten willen (Chriſtus und die verfäschenen 
Chriſten), wenn die Todten gar nicht auferfichen?” Den 
Soften Berd interpungirt er: rbxcl Basıitoyraus vario av- 
zöv ri x. %. 4, und überfebt: „Und warum werden fie ges 
tauft? und um ihretwillen warum ſetzen wir uns jede 
Stunde der Gefahr aus?” 

., Betradtungen.über die Bibel, vom Paſtor 
J. Horuſyld (1331. Eine Art vor yopulärem Commen⸗ 
“ gar über den inhalt ber heil, Bücher: das Buch athmet 
warmes religiöfes Gefühl, welches burd eine eigeuthüm⸗ 
. Kche Babe zu lebhaften, mitunter. treffenden Schilderun 
gen von Charakteren und Lebensverhältniſſen unterflügt 
wird; die Daraus entfpringenden Vorzüge der Darftellung 
geben zum Theil Entfchädigung für eine ermüdende Weit 
ſchweifigkeit, die Durch Mangel an reinerem Gefchmad und 
durch fehr befchränfte Anfichten auf dem Gebiete der Dogs 
masif noch befchwerlicher wird. 


Syitematifhe Theologie 

Hier möge zuerſt Die Einleitungsichrift „Betradr 
tungen über das theologificke Studium” von 
Prof, Dr. Elaufeen (1833) erwähnt werden, — eigentlid) 
Betrachtungen über Die. Freiheit; ahme welche Die theol. 
Wiſſenſchaft nicht gedeihen, und über die Bedingungen, 
unter welchen jene Freiheit. erſt hinreichend geſichert heißen 
könne. : Der Verf. madıt auf das Mißverhältnif:ayfmerk 
fan, wenn ber Theolagie vehen andern Fächern der Wif- 
ſereſchaft der. Platz eingeräumt iſt, menn zur Erreichung 
bes gerteinſchaftlichen Zwveckes, Erkemntniß der, Wahrheit, 
ihr die gemeinſchaftlichen Mittel, freie Forſchung und freie 
Mittheilung zuerlannt werben. waͤhrend auf ber andern 
Seite die Vorſtellung als reeipies zu betrachten. iſt, bie 





d. theol. Litteratur in b. 3 feandinav. Reichen. 983 


Grenzen der dem Theologen tn der wirflichen Welt einzus 
räumenden Freiheit müſſen nicht allein aus ber Nätur eis 
ner chriftlichen Theologie Hergeleitet, fondern nach aller- 
lei poſitiv teaditionellen Einfchränfungen und conventionels 
len Rüdfichten beſtimmt werden. Den Grund dieſes Miß⸗ 
verhältniffes zwifchen Theorie und Praris ſucht ber Verf. 
in der Art und Weife, wie das Berhäktniß zwiſchen Kirche 
und Staat nach der Reformation fey dufgefaßt und ents 
widelt worden: die Folge fey ein gewiſſer unfirchlicher 
Charakter, der — namentlich in den lutheriſch⸗ evangelis 
fehen Staaten — immer deutlicher herborgetreten fey, und 
fich überall nachweiſen Taffe:-in dent mißlungenen Verhäaält⸗ 
niffe, worein der Buchflabe der ſymb. Bücher zu ber Glau—⸗ 
benslehre, der Buchſtabe der liturgiſchen Vorſchriften 31 
dem Cultus, der Einfluß der Juriſten zu dem ber: Geiſt⸗ 
lichen und der Gemeinden auf bie kirchlichen Angelegenheis 
ten getreten ift. Der nach und nach wieder errungenen 
Hreiheit fehle es noch immer as öffentlicher Anerkennung 
von Seiten des Staats, mithin an ſicherem Gebrauche von 
Seiten der Theologen; dieſe mißliche Lage aber könne nicht 
ohne nachtheiligen Einfluß bleiben; denn fo wie-dem:ges 
wöhnlichen Syſteme der nadfichtigen Duldung von Sei⸗ 
ten der weltlichen Autoritäten ein Verkennen der Beſtim⸗ 
mung ber theol. Wiffenfchaft, ein Besweifeln der glaubens⸗ 
reinigenden und glaubenftärtenden Kraft berfelben zum 
Grunde liegt, fo werde allerbings durch jenes Syftem dieſe 
wohlthätige Kraft geträbt und gelähmt, indem bie Theos 
logen in Berfuchung gerathen, bie wiffenfchaftliche Rein⸗ 
heit, weiche Aufrichtigfeit des Herzend und Offenheit Der 
Sprache erheifcht, den ſchwierigen Zeitverhältniffer auf⸗ 
znopfern. — Angeknüpft find noch mehrere Borfchläge zur 
Förderung eines freiern und gedeihlichern Studiums ber 
Theologie aufder Univerfität und zur Abhaltung verſchie⸗ 
dener biefem entgegenftehenden Mängel und Mißbrauche; 
— — 6q * 


984 . Ueberſicht 


dieſe Vorſchlaͤge ſind aber meiſtens auf Die Verhältniſſe 
im Vaterlande Des Verfs. berechnet. 

Die Schrift des Eonfeffionarius Dr. Mynfter: Us 
ber den Begriff der chriſtlichen Dogmatil 
(1831), darf hier nur ber Vollſtändigkeit wegen genannt 
werben, da fie, urfprünglich deutſch gefchrieben, gleichzei⸗ 
tig: mit ihrens Erfcheinen in’ däniſcher Spradye den Leſern 
der theol. Studien und Krititen befannt ward. - - . 

Beweis, daß firh die hrifil. Kirche nicht 
auf das apoftolifde Symbolum, fondern auf 
die heil Schrift gründet, von I. Stodhholm, 
Stiftöpropft in Aalburg Cin Möllers N. theol. Bibl. 1832). 
Diele Abhandlung ift gegen den Paſtor Grundtoig, na 
mentlich gegen nachſtehende Grundfäge feines Syſtems ges 
richtet: 1) „Das mündliche Glaubensbekenntniß bei ber 
Taufe ift von aller Schrift unabhängig, und, als einftim- 
miges Zeugniß der Gemeinde von ihrem Glauben, dad 
gültigfte gefchichtliche Zeugniß von dem, was alle Ehriften 
vom erften Anfang an geglaubt haben.” 27 „Diefes Glau⸗ 
'beusbelenntniß, ald Bedingung der Aufnahme in die chrifl- 
liche. Sicchengemeinfchaft, if die unabänderliche Glau⸗ 
bensregel, das Grundgefeh der Kirche, welches, mit der 
Taufe uunuflöslich verbunden, bie einzige hinlängliche 
Sceidewand ſetzt zwifchen ber Kirche und ber Welt, oder 
zwifchen dem wahrhaft Chriftlichen unb dem, das nicht 
biefes iſt.“ 3) „Das mündliche Wort bei den Sacramenten 
und insbefonbere Das Glaubensbekenntniß ift die Grund; 
regel der Bibelauslegung, nach weicher fich jeder. Schrift 
gelehrte, der in der chriſtl. Kirche bleiben will, richten fol 
und muß.“ 4) „Die Bibel if weber urfprünglich Die Glau⸗ 
bensregel in der chriftl. Kirche. geweſen, noch Tann fie ed 
ihrer Befchaffenheit zufolge ſeyn.“ Eben diefe Sätze find, 
dem Wefentlichen nach, in den neueren Zeiten fo oft wieder⸗ 
holt werben, eben fo oft beleuchtet und berichtigt, und 
das ihnen etwa zum Grunde liegende Wahre fo forgfältig 


’ 











d. theol; Litteratur in d. 3 fcandinav, Reihen. 985° 


son dem Irrthümlichen gefchieden, daß eine erneierte 

Prüfung überflüffig feheinen könnte, zumal eine folche, die - 
in wiffenfchaftlicher Umficht und Schärfe feine Vergleichung 
mit den fchon vorhandenen verträgt. Indeſſen mag and) 
Diefer Beitrag ganz an Ort und Stelle gewefen feyn; es 


Handelt fid hier, wie der Verf. bemerkt, um feinen befons. ⸗ 


dern Lehrfaß, fondern um das Princip der evangelifchen 
Kirche; und wenn ein talentvoller Schriftfteller dahin ars 
beitet,. jene Paradoren in den Gemeinden als Die wahre 
Drthodorie populär zu machen, muß das Gegengewicht 
ebenfalls in der Gabe der Popularität und in einer befons 
nenern Anwendung derfelben gefucht werden. 

„Sind die Apoftel von der eigenen gehre 
abgewihen” — und: „Widerftreiten fi wirk 
lich die Apoftel Paulus und Jacobus in der 
Lehre non der Rechtfertigung”, zwei Abhandlun⸗ 
gen vom Biſchof Dr. R. Möller (in Möllers Zeitfchr. f. 
Kirche u. Theol. 1831 — 33). Su der letzten entſcheidet 
ſich der Verf. (zunächſt gegen de Wette) für die Mei-⸗ 
nung: Jacobus habe allerdings auf die Lehrart Pauli Rück⸗ 
ſicht genommen (die Gegengründe Neanders in ſeinen Ge⸗ 
legenheitsſchriften werden kürzlich geprüft), ſey aber durch 
die Erfahrung, ‚wie jene Lehre von heuchlerifchen Bes 


fennern Chrifti gemißbraucht werbe, veranlaßt worden, _ 


die praftifche Seite der Rechtfertigung hervorzuheben, ohne. 
dabei dem Kerne der: paulinifchen Lehre nahe zu treten. 
Die.erfte Abhandlung führt gegen die Behauptungen: 
Böhmes in feiner Schrift: „Die Religion Jeſu Chriſti“, 
den. Beweis der Eonformität der Lehre Jeſu und der Apps. 
ftel.in den Hauptftirden von der Mefftanität Sefn und ſei⸗ 
ner ‚göttlichen Hoheit, fo wie von dem verfühnenden Tode 
Chriſti. Der Verf. hat eine gute Sache vertheidigt, auch 
meiftend mit guten Waffen jedoch würden biefe durch rus 

higere Haltung des Apologeten und überhaupt Durch ger 

naueres Trennen des wiflenfchaftlichen und des erbanlis 


N 


986 Ueberficht 


chen Bortrages, an Kraft gewonnen haben; auch bürfte 
gerade eine unbefangene Darfiellung ber Verſchiedenheiten 
in der Lehre Jeſu und der Apoftel erforderlich ſeyn, das 
mit nachher die höhere, jene Berichiedenheiten in fich aufs 
nehmende,, Einheit ins volle Licht hervortreten koͤnne. 

Betrachtungen über den Mißbrauch und 
den zchten Gebrauch fyombolifher Bücher, 
vom Prof. Dr. Glaufen (1831). 

Ueber die Stellung des geiſtlichen Stan 
Des ala chriſtlich⸗ protetantifhen Lehrſtandes 
in Dänemarl, von Dr. R. Kaber, Stiftsprobſt in 
Dbenfe (1832). 

Ueber fymbolifhe Bücher in der Iutheri 
fhen Kirche, von W. Rothe, Lic. d. Theol. u. Pre 
diger (1838). 

Die drei Derfaffer begegnen fich, bei aller Verſchieden⸗ 
heit ſowohl in der Behandlung im Ganzen als in der Aus⸗ 
führung einzelner Punete, in den Hauptmomenten auf 
erfreuliche Weiſe: Der Symbolenzwang (die Anwendung 
fumbohifcher Bücher nach ihren Einzelnheiten als abſolute 
Regel, gleichviel ob norma credendorum oder docenderum) 
wibderftreitet allen höheren Intereſſen der Kirche, indem 
dieſe ſich nicht Einheit des Bekenntniſſes, ſondern Einheit 
des Glaubens zum Ziele vorgeſetzt hat; dieſe kann aber 
nur von innen heraus ſich bilden; ſo wie jenes Syſtem des 
Zwanges mit ben Grundſaͤtzen der Reformation und den Aeu⸗ 
Berungen der Kirche zu jeder Zeit, wo fie ſich felbft verſtanden 
hät, nicht weniger als mit den, allen proteftantifchen Ländern 
gemeinfchaftlichen Anftalten für die freie wiffenfchaftliche Bil 
Dung der angehenden Theologen in bem greliften WBiderfprus 
che fteht. ALS Zeugniffe hingegen der chriftfichen Wahrheit, 
als welche fie zu allen Zeiten ihrem wefentlichen Inhalte nad) 
werben anerfannt werden, dienen Die ſymb. Bücher dazu, das 
Auge auf die bedeutungsvollen Hauptpuncte ber evangeli⸗ 
ſchen Gemeinſchaft hinzulenten, mithin zur Unterhaltung und 





d. theol. Litteratur in d. 3 ſcandinav. Reichen. 987 


Stärhmg des Geiſtes; auf welchem bie wahre ‚Eins 
heit der Kirche beruht. Dierechte Deutung und Anwen» | 
Dung ber ſymb. Bücher fest aber Bilbung und Kenniniffe / 
voraus, die nur bei Geiftlichen zu erwarten find; und ber 
hänfige Mißbrauch derfelben zur Beeinträchtigung ber 
evangelifchen Freiheit laͤßt ſich daher ohne Schwierigkeit 
ans dem herfömmlichen Zuftande ber proteftantifchen Kir, 
chenverfaflung erklären. 

Die fombolifhen Bücher ber bänifhen 
Kirche, lateinifch und däniſch, nebſt geichichtlichen Er⸗ 
Täuterungen, von Mag. 3. C. Lindberg (1839. Ein’ 
genauer Abdrud ded gewöhnlichen Terted, wobei man 
aber bei dem apoſt. Symb. Tritifche Vergleihung der vers 
fchiedenen Recenfionen vermißt, fo wie bei dem nicäifchen 
Symb. die Beifügung des griechifchen Originals, und «bei 
der augsb. Conf. jede nähere Auskunft über die Ausgabe, 
Die zum Grunde gelegt worden ift. Die gefchichtlichen Ers 
Iäuterungen gehen befonbere Darauf and, dem apoft. Symb. 
den apoftolifchen Urfprung zu vindiciren:“ „Die neuere 
Behauptung” — heißt es — „daß das apoflolifche Glass 
bensbefenntmiß nicht apoftolifch ſeyn folle, ift ganz vers 
werflich, grunblos und grundfalfch, und bie Gelehrten 
haben fich zu fchämen bei einem fo unverantwortliden 
Zeugenverhör gegen die Grund» Chriftlichleit des Glaus 
bens, auf welchen fie getauft find fowohl als, wir.” Der 
Verf. zielt bei diefen Worten vorzüglich auf Die Berufung 
auf die Zengniffe Rufins und bes jerufalemifchen Eyrills. 
Allein wag Rufin betrifft, fo „ift er — wie fich ber Berf. 
ausdrückt — in ben lebten Tagen zu einer ſolchen Ehre 
unter den Ketzern gekommen, baß fein Chriftenthum und 
feine Ehrlichkeit wohl etwas verdächtig wird; was er 
über Symbole anderer Kicchen anführt, werben wir bas 
bin ftehen laffen müffen, weil darauf Fein ficherer Schluß 
gu bauen ift; daß er dad Glaubensbekenntniß kennt, wie 
es in andern Gemeinden bei der Taufe gebraucht wurde, 


988 . Ueberſicht 


hat er nicht angemerkt, und daß irgend eine andere Quelle 
ſicher ſeyn könne, muß ich gänzlich laugnen“ u. ſ. w. Wenn 
ferner Cyrill qus Jeruſalem als Zeuge aufgeführt wird, 
daß die Niederfahrt zur Hölle in dem Symbole der jerus 
falemifchen Gemeinde zu feiner Zeit gefehlt habe, indem 
Diefed Glied bei feiner Aufzählınng der einzelnen Theile 
des Symbols ausgelaſſen ift, fo will ber Verf. dieſes uns 
zweideutige Zeugniß dadurch aus dem Wege räumen, daß 
Cyrill in feinen beigefügten Erläuterungen des Symbols 
bie Nieberfahrt ausdrücklich mit erwähnt. Bei biefer Bers 
anlaffung fpricht fi der Verf. folgendermaßen aus: 
„Wahrlich, man muß jenen Krititern auf Die Zinger fehen, 
ehe man ihren -feierlichften Verficherungen ben geringften 
Glauben beimißt; denn wenn wir auch Die Urfache folcher 
falfcher Angaben unbeurtheilt, und. es dahin fliehen Lafien, 
ob Mangel an Genauigfeit oder an Ehrlichkeit fie dahin 
gebracht habe, folche Zeugnifle anzuführen, unwerth alles 
Zutrauend werben fie und auf jeden Kal, und mit ihnen zus 
gleich der gafize Haufe, der fich in den Staub vor ihnen 
verneigt, auf fie bauet und in Irrthum geführt wird; 
wahrlich fie find blinde Blindenführer!”” — Eine andere 
Frage, von welcher Zeit an die augsb, Eonf. in Die däni⸗ 
ſche Kicche als fombolifches Buch eingeführt worden fey, 
wird von dem Verf. fo beantwortet: „sch bezweifle es 
keinesweges, daß bie augsb. Conf. bei uns fogleich ala 
fombolifches Buch angefehen und betradjtet worden: if, 
wenn auch einige Zeit vergangen feyn mag, ehe fie ald 
ſolches in unfern Gefegen genannt iſt.“ Diefe Sache 
aber fchon längſt von den Gefchichtsforfchern ind, Reine 
gebracht. Vierzig Sahre nach der Reformation cim J. 1529 
{ft zuerft, in Beranlaffung der krypto⸗calviniſchen Streitigfeis 
ten, auf die augeb. Conf. ald Lehrnorm hingewiefen; hundert 
Jahre nach der Reformation (im J. 1625) fommt die erfte 
Verpflichtung darauf vor Cder fopenhagener Profefloren), 
und noch vierzig Jahre vergingen; ehe bie Normals-Autos 





d. theol. Litteratur in d. 3 ftandinav, Reichen, 


rität ber augsb. Eonf. durch öffentliches Geſetz anerkannt 
wurde, Man fieht, daß diefer. Berfaffer 2 die Gefchichte 
‚nicht unbequem werden läßt. 2 
Hiftorifche —— 
Historia ecclesiastica synoptice energie: 
I. U. von P. T. Hald, Lied. Theol. und Prediger 
(1830-32). Der Berf..hat den Verſuch gemacht, zwifchen 
der Gefchichtgerzählung und der tabellarifchen Form bie 
Mitte zu haltenz die größeren Perioden find in Heinere 
Abfchnitte getheilt, fo wie eine neu eingetretene oder wes 
fentlich modificirte Richtung der chriftlichen Lehre, bes 
chriſtlichen Lebens oder der Firchlichen VBerhältniffe eine 
Abtheilung zu machen ſchien; in den einzelnen Abfchnitten 
find wieberum bie Gegenflände auf gewifle Hauptyars 
thieen zurüdgeführt, die zwar tabellarifch, aber ausführlis 
cher, als es zu geſchehen pflegt, behandelt find. Es fragt 
ſich aber, ob bei dem Beftreben, das Eigenthümliche ver« 
fchiedenartiger Methoden zu vereinigen, nicht eher zu vers 
lieren als zu gewinnen ſey; Ref. wenigftens hat fich mit Der 
Anlage des Buches nicht befrennden Tönnen, weil er das 
compendiarifche Zufammenhäufen des Stoffes für das 
Stadium der Kirchengefchichte Hörend gefunden hat. Uns 
abhängig aber von dem Urtheile über die Zweckmäßigkeit, 
gebührt Der Arbeit das Lob eines ernfihaften wiffenfchäfte 
lichen Strebens ; und wenn in dem erſten Bande (die 6 ers 
ften Jahrhunderte enthaltend) die Behandlung im Einzel« 
nen Berfchiedenes zu wünfchen übrig ließ, fo hat der zweite 
Theil in Diefer wie in jeder andern Rückſicht entfchiedene . 
Borzüge, die eine Fortſetzung der Firchengefchichtlichen 
Studien des Verfs. wünfchenswerth machen. Der zwei⸗ 
te Theil umfaßt den Zeitraum vom 5. 604-858; wels 
cher nad der Anordnung des Berfs, in fünf Kleinere zer» 
fällt: Aevam Monotheletismi. (604--726), Aevum Bonifacii 
(727-768), Aevum Caroli M. (768-814), Aevum Ludovieci 
Pii (814—840), Aevum imperii Francicitricipitis (340—858). 


> ‘ 


N x 


90 WUeberficht 


Die Ausfuhrung zeugt überall von Heipigem and gründlis 
chem Studium der Quellen. F— 

De Synesio philosopho, Libyae Pen tapo- 
leos metropolita, von E. 7. Clanfen, Lic.d. Theol. 
u. Prediger (1831. Die Geburt und Erziehung bes S., 
feine tonftantinopolitanifche Geſandtſchaft, feine privaten 
und bürgerlichen Berhältnifle, Antritt des bifchöflichen 
Amtes und Führung beffelben bis zu feinem Tode, nebil 
Beiträgen aus den Schriften de8 ©. zur Geſchichte Libyens 
— machen den Sahalt Diefer mit rühmlichem Kleiße aus⸗ 
gearbeiteten Schrift ans, in der zugleich auf Die kirchlichen 
und politifchen Berhältniffe des Zeitalters in weiterem Um⸗ 
fange Rüdfit genommen it. Aud über die theologifchen 
Eigenthümlichkeiten des S. und feine platonifirende Be 
handlung der chriftlichen Lehre fehlt ed nicht an wichtigen 
Auffchlüffen aus den Schriften des in vielfacher Hinficht 
merkwürdigen Mannes, in Beziehung namentlich auf die 
Ewigkeit der Welt, die Bräeriftenz ber an und bie 
geiflige Bedeutung der Auferſtehungslehre. In der viel 
beftrittenen Frage über das chronologifche —— 
zwiſchen der Taufe des ©. und feiner Ernennung zum 
Bifchof entfcheidet fi Der Verf. für die Meinung, Daß 
die Taufe und ber Antritt des. bifchöflichen Amtes 
gleichzeitig geweſen feyen, fo baß er noch als Heide 
fol zum Bifchof ernaunf worden ſeyn. Ref. erfennt auch 
hier den Verſuch einer genauen und gränblichen Beweis⸗ 
führung, jeboch ohne von der Nichtigkeit des Refultats 
ſich überzeugen zu fönnen ; eine fo beifpiellofe und an ſich 
unglaubliche Irregularität darf nur nach fchlagenden Be 
mweisgründen angenommen werben; Nef. findet ed aber 
noch immer bei weitem leichter, bie Schwierigkeiten, die 
ber entgegengefehten Meinung euntgegenſtehen (vorzüglich 
Aeußerungen bes ©. felbft), zu befeitigen. Zur Aufhel⸗ 
lung verfchiebener dunkler Punete in’ der Gefchichte jener 
Zeit geben auch die angehängten Tabellen einen verbienft- 
lichen Beitrag, — bie Frucht mühfamer chronolsgifcher 





d. theol. Litteratur in b. 3 ſcandinav. Reichen. 991 


Unterfuchungen, denen es gelungen ift, die richtige Zeits 
folge der 150 Briefe des ©. mit Gewißheit oder — 
ſcheinlichkeit zu beſtimmen. 

Unterſuchnug über bie ſogenannten %os 
bannissChriften, von 8ic Brammer Lin Möllers 
N. theol. BibL 1832). In einer früheren (auch in den 
theol. Stud. erwähnten) Differtation hatte der Verf. ſich 
Die Aufgabe gefebt, den Beweis zu führen, daß im N, T. 
fo wenig als bei den Kicchenvätern Spuren einer dhriftlis 
chen Parthei vorkommen, die mit Diefem Namen genannt 
werben könne. An jene Unterfuchung fchließt ſich die ges 
genwärtige, bie fi} mit der Frage befchäftigt: mit wels 
hem Rechte der Name SohannissEhriften der vorhans 
denen Secte der Zabier beigelegt worden fey. Außer 
dem liber Adami hat der Verf. bei diefer Unterfuchung auch 
Die Nachrichten der Reifenden und Mifftonaire benutzt; 
er macht aber auf bie Unficherheit diefer Quellen aufmerts 
fam, und ein geſunder tritifcher Tact hat fich überall bei 
der Prüfung und Benutzung berfelben bewährt. Die Res 
fultate ber linterfuchung find diefe: baß die Zabier Feine 
Ehriften find, indem fie von dem Glauben an Ssefum als 
den Mefftas, von dem Gebrauche der Sacramente und 
der heiligen Schrift fo.weit entfernt find, daß ihre Nelis 
gionds Bücher vielmehr eine antichriftliche Tendenz verras 
then; — ferner, daß fie eben fo wenig den Täufer als 
Meſſias bekennen: Diefer ninımt in dem Aeonen⸗Syſtem 
ber Zabier einen ganz untergeordneten Plas ein, fo wie 
überhaupt bei ihnen bie Meſſias 4Idee nirgends zum 
Borfcheine kommt. And) die Abflammung von den Schüs 
lern des Täufers glaubt der Verf, nach den vorliegenden 
Gründen, befonderd aber auch nach dem antifüdifchen 
Charakter ihrer Lehren und Gebräuche, gänzlich aufgeben 
zumüffen. Da indeffen die Tradition von diefem Urſprun⸗ 
ge bei den Zabiern felbft zu Hanfe iſt, bat ber Verf, den 
Verſuch gemadt, durch Hppothefen biefe Tradition mit 


992 Neberſicht 


jenen Reſultaten zu combiniren. So wie er geneigt iſt, 


die von Hegeſippus bei Euſebius erwähnten Hemerobapti⸗ 
ſten als Schüler des Täufers und ihre Nachkommen anzu⸗ 
ſehen, ſo ſindet er den Urſprung der Zabier von einem 
Pſeudo⸗Johannes wahrſcheinlich, der den Namen des 
Täufers ſich zu Nutzen habe führen wollen, nach vergebli⸗ 
chen Verſuchen aber in Paläftina ſich mit feinen Anhaͤn⸗ 
gern nach Perfien geflüchtet habe; der Verf. deutet babei 
noch anf den Simon Magus hin, ale wohlgeeignet, dieſe 
Mode auf fi zu nehmen. Uebrigens hat der Df. es nicht 
unterlaffen, diefe Hypothefen von den gefchichtlidy.begrüns 
deten Refultaten beflimmt zu unterfcheiden. 
Beiträge zur Gefhidhte des neſtoriani⸗ 
fhen Streited, befonders aus einem bisher 
ungebrudten fyrifhen Fragment, von J. F. 
Fenger, ic. d. Theol, u. Prediger (1833). Der Verf. 
bemerkt, daß bei den Linterfuchungen über. Die nefor. 
Streitigkeiten der Mangel an Berichten des Neſtorius 
felbft und feiner Anhänger von jeher fühlbar geweſen iſt; 
als Beiträge zum Ausfüllen diefer Lüde hat der. Berf. 
während feines Aufenthalts in. Rom ans dem vaticanifchen 
Goder, aus welchem ſchoͤn Affemann die Anathemen des 
Neftorius herausgegeben hat, neue verfchiedene ſyriſche 
Fragmente abgeichrieben; von dieſen hat er. hier ein Frags 
ment gefchichtlichen Inhalts mitgetheilt, worin ein Furzer 
Abriß der Haupt» Kataftrophe in dem neftorianifchen 
Streite gegeben iſt; über das Zeitalter hat der Berf. Feine 
Entſcheidung gewagt, fieht ed aber als erwiefen an, daß 
bie forifchen Kirchenhiftorifer aus dem 7—9. Sahrhundert 
benugt find. An diefe Mittheilung knüpft der Verf. eine 
Geſchichtserzählung der wichtigften Momente jenes Streis 
tes, mit beflimmter Rüdficht auf die in jenem Fragmente 
enthaltenen und von der gewöhnlichen Darftellung abwei⸗ 
chenden Angaben, um durch Bergleichung das Wahre 
auszumitteln, z. B. über Die Urfachen der Erbitterung der 


= 








oe 


d. theol. Litteratur in d. 3 ſcandinav. Reichen. 993 


Monche, fo wie der Pulcheria gegen den Neſtorius, über 
die erſte Beranlaffung des Zwiſtes und die Art der Ent« 
fheidung. Auch abgefehen indeſſen von bem vollig unbe⸗ 
kimmten Alter und Urfprunge jenes Fragmente, iſt es nur 
Weniges und. von geringer Bebeutung, was aus. bemfel« 
ben für die Gefchichte gewonnen wird. In einem Anhange 
find noch drei Eleine Fragmente des Neſtorius dogmatiſch⸗ 
polemiſchen Inhalts hinzugefügt. 

—Vita Andreae Sunonis, Archiepiseöpi 
Lundensis (18%). — Vita Lugonis Urne Episco- 
pi Roeskildensis, I. OD. (1831: 1833).. . Drei: Pro⸗ 
gramme zu den Feierlichkeiten der Biſchofsweihen, von 
Dr. 9. €. Müller, Bifhof von Seeland. Andr. Su⸗ 
nefen war im. Anfange des 13. Sahrhunderts Erzbifchof 
in Lund, Nachfolger des berühmten Abfalon, durch Ges 
Ichrfamfeit, Reinheit der Sitten und amtlidye Tüchtigkeit 
gleich ausgezeichnet. Als Kanzler vor dem Antritte bes bis 
ſchöflichen Amtes hatte er wefentlichen Antheil an den Ver⸗ 
handkungen: zwifchen dem frangöfifchen Könige Philipp Aus: 
guft und. dem dänifchen Könige Knut dem Sechften wegen: 
der. von Philipp verftoßenen Koͤnigin Ingeborg, welde. 
Schweſter des dänifchen Königs wars; ale Erzbifchof hatte: 
er den fchwierigen Poften eined Vermittlers zwilchen Dem 
hochfirebenden Pabfte Innocenz IH. und dem fiegreichen‘ 
Könige Waldemar IL, und es fehlte ‚nicht an Gelegenhei⸗ 
ten, wo. die polisifchen.und die hierarchifchen Intereffe in 
Eonflict mit einander geriethen. — "Tage: Urne war: 

Biſchof in Roeskilde unter den. Königen Ehriftian IL. und. 

Friederik L, und erlebte unter dieſem die Borfpiele zur” 
Einführung der Reformation (+ 1529). Während: der. 
Regierung Chriftian U. hatte er auf die Staatsgeſchäfte 
bedeutenden Einfluß, war auch von dem Papfte. Leo X. 
mit der Unterfuchung beauftragt wegen einer Streitfadhe 

zwifchen dem Könige und bem norwegifchen Biſchofe Carl 

in Hammer, ber, als Unftifter einer Berfchwörung gegen 


9 uebericht 


den König, von dieſem ind Gefaͤngniß geworfen und ba 
geitorben war; die Unterfuchung fiel zu Gunften des Kö⸗ 
nigs aus. Später, nachdem ber König wegen feines grans 
famen Berfahrend mit den Ständen der Reiche zerfallen 
war, Eünbigte auch der Bitchof ihm Treue und Gehorfam 
auf. Wie er ſich früher des paͤbſtlichen Legaten Arcems 
boldus und feined Ablaßhandels mit Wärme angenom⸗ 
men hatte, arbeitete er auch hernach den antihierarchifchen 
Bewegungen aus allen Kräften entgegen; er regte ben 
gelehrten Mönch in Kopenhagen Paul Eliä zum Verthei⸗ 
digen der gefährdeten Kirche auf, und lud fchriftlich Ed 
und Cochlans ein, in derſelben Abficht nad Dänemark zu 
kommen. — Beide Monographieen empfehlen ſich, wie 
die früheren größern Arbeiten des Berfs. auf dem Ges 
biete der nordiſchen Geſchichte, Durch gründliche Gelehr⸗ 
ſamkeit und geſchmackvolle Behandlung. 

Methopdiftifche Latenprediger, von Mag. 
Scharting, Lector an der Acad. in Sorse (1832). Eine 
gut redigiste Darſtellung des in vielen Nüdfichten merk 
würdigen und Ichrreichen kirchlichen Phaͤnomens, nadı 
ber Biographie Wesleys von Rebert Southey in der 
Krummacherfchen Bearbeitung. 

Gedächtnißſchrift aber. 9 Niemeyer, 
vor Prof. Dr..3. Möller Gi deſſen Zeitfchr. f. Kirche u. 
Thevl. 1893). Die biogeaphifche Schrift von Jacobs und 
Gruber ib zu Grunde gelegt; gleichwohl aber iſt die Ar; 
beit von Seiten ber Ausführung als eine ſelbſtſtändige 
anzuſehen. Keime Biographie was .in einer Zeitſchrift, 
bie zunüchkt für die Geiflichkeit beftimmet ift, mehr an ih⸗ 
rer Stelle; denn Fein bentfcher Theolog hat füch um bie 
paſtorale Bildung bes älteren, noch im Amte ſtehenden 
Geiftlichen in Dänemark größese Berbienfle erworben, nud 
keiner mag in weiterem Kreiſe ſich dankbarer Jünger ers 

frent haben. Leichtes Auffaſſen und Aneignen, lebendige 
und ſtießende Darſtellung, mit. wahrheitsliebender Billig, 
keit verbunden, bezeichnen dieſe Schrift, welche die Reihe 


\ 





d. theol. Litteratur in d Afanndinav. Reihen. 995. 


vieler, oft fehr gelungener Biographieen aus einer Feber, 
die zu früh niedergelegt werden mußte, würkig- befchließt, 

Die biographifhe Skizze. des Biſchofs 
Münter von dem Eonfeflionnius ir. Mynm ſter iſt den 
Leſern dieſer Zeitſchrift bereits belannt. An. diefe knüpft 
ſich des Prof. Möhler s. Oratio-funebris in memeriam D. 
Frid, Münteri, die bei der alabemifchen: Gedächtnißfeier, 
des verſtorbenen Biſchofs gehalten; wurde. F 

Zu ber :fircheugefchichtlichen Littexatur gehören nech 
die Actenſtückeder theologiſchen: Polemik, in⸗ 
ſofern dieſe, auch mo fie nicht Anmittelbar, dem Inhalte 
und der Form nach, für Die Wilfenfchaften Ausbeute lies 
fern, wichtige Beiträge zur geiſtigen Charakteriſtik der je— 
besmaligen Zeit abgeben, auch, wie fie ſelbſt won tiefer, 
liegenden; Bedürfniffen und Negungen im Geiſte zengenz 
alfo auf die Geftaltung. des geifkigen Lebens für bie Zur 
kunft Einfluß haben, Kein. anderes Land hat. zu ‚dem 
firchlich  thenlogifchen Reibungen in Deutichland eine 
ſo vollfländige Parallele aufzuweisen ald Dänemark, bie 
aber. bei aller Vollſtändigkeit ihre ſehr eigenthümlichen 
Seiten hat, einmal biefe, daß bie aufregende Parthei 
größtentheild auf gedruckten Blaͤttern ſich ausgeſpro⸗ 
chen hat,. von "denen e& mit. Wahrheit: heißt, wie Dx; 
Myuſter von ihnen fchrieb, „baß man ihnen zu viel Ehre: 
than würde, wenn man fie zu unferer theologifchen Litte⸗ 
ratur zählen wollte”; — fobanı daß dieſe Fehden ſich im: 
Danemark gewöhnlich vor deu Berichten mit eben fo. är⸗ 
gerlichen als nichtöfagenden. Injurienprozeſſen endigen. 
Wenn das Unwürdige in der Art. des Satreitens/ Jahre 
laug hindurch geduldet, . ellersingd: von: einem Zuflande: 
zeugt, wo 88 unter den ſtimmberechtigten Männern, Geiſt⸗ 
liches und Theologen, an. kräftigem. Gemeingeifte fehlt, 


um auf bie religiöfen Urtheile und das fittliche Gefühl 


des Volks gehörig einzumirken und dad Treiben einzelnen: 
Partheigänger einigermaßen zu zligeln, fo Darf es wicht 
überfehen werben, wie viel zu einer fortdauernden trans 


996 Te Ueberſicht 


rigen Verwirrung der Verhältniſſe eine Geſetzgebung bei⸗ 
trägt, die dem angegriffenen Geiſtlichen ausdrücklich vor⸗ 
ſchreibt, den ehrenſchänderiſchen Angreifer gerichtlich zu 
belangen, während-fle auf der andern Seite eine befrie⸗ 
digende Entfcheidung unmöglich macht, indem auch folde 
Rechtsſachen, die: ſich um doͤgmatiſche Sätze drehen, 
und ohne theologiſche Unterſuchungen ſchlechterdings 
nicht entſchieden werben: können, bei den gewöhnlichen 
Gerichten verhandelt werben, mit Augfchließung jedes 
Einwirkens von Seiten irgenb einer geiftlichen Behörde 
auf die Entfcheidung der Sache. Bei alle dem ninımt Ref. 
keinen Anftand, die Worte bes fo eben genannten Verfs. 
zu den feinigen zu madien: „Niemand fan weiter Davon 
entfernt ſeyn, die frechen Angriffe auf die perföntiche Ehre, 
die wir jetzt häufig in gebrudten Schriften Iefen müflen, 
zu entfihuldigen ; Niemand kann, was darin ſich anf unfer 
kirchliches Weſen bezieht, mit tieferem Abſcheu und Schmerz 
vernommen haben; dennoch ziehe idy ohne Bedenken die 
gegenwärtigen Bewegungen in unſerer Kirche, aller Anss 
artungen ungeachtet, bei weitem ber Todesſtille vor, bie 
einige Jahre früher -Stast fäand. — WIN man leben, fo 
maß man auch Bewegung wollen; und wo Bewegung ill, 
da wird dieſe, - wie Die Dienfchen einmal find, manchmal 
bösartig- werden, mitunter auch in recht widriger Geftalt 
ausbrechen.” . Genauer aufijene Polemik einzugehen, ift 
bier der Ort nicht, weil ſie zu der Wiſſenſchaft in Teiner 
ſonderlichen Berührung ſteht. Als Die theolog iſche 
B-afis kann der ſchon oben angeführte grundtvig'ſche 


Satz von: benchöhften und unbebingten Anfes 


ben des apoſtoliſchen Symbolums,. ale Des 
lebendigen - Wortes in der Kirche, in Glaubensſachen - ans 
gefehen werden; auch fiber Glauben und gute Werte ift 
mit vielen Worten und trüben Begriffen gelegentlich: ge- 


ſtritten worden. Bor Allem aber haben fich die Pole» 


miter auf ben Fels ber Staatsgeſetze zurückgezogen, und 


d. theol. Litteratur in d. 3 ſcandinav. Reichen. 997 


von dort aus mit den Waffen der ſymboliſchen Bücher, 
des Königsgeſetzes, des Rituals u. ſ. w. Ausfälle gethan, 
dann und wann nicht ohne ſtrategiſche Kunſt, jedoch ohne 
Erfolg; nachdem die ungeſtüme Forderung, die mit ihnen 
zerfallenen Theologen und Geiſtlichen aus der Staats⸗ 
kirche zu verweiſen, unbeachtet geblieben war, hat eben⸗ 
falls das ſpäter eingereichte Geſuch um Bildung einer 
felbſtſtandigen Gemeinde nur eine abſchlagige Antwort 
bewirkt. Die ganz eigenthümliche Popularität (im aller⸗ 
weiteſten Sinne des Wortes) in der Beweisführung und 
der ganzen Behandlungsweiſe und Schreibart nimmt die⸗ 
ſen polemiſchen Schriften den Anſpruch, in einer Zeitſchrift 
für Theologie und Kirche genannt zu werden. „Schriften, 
wie die ſogenannte Monatsſchrift für Chriſtenthum und 
Kirche (von dem Paſtor Grundtvig und dem Mag. 
Lindberg herausgegeben), mögen in ihrem Kreiſe ziem⸗ 
liches Auffehen erregen; fie intereffiren aber ben. Fremden 
nicht und .werden nur zuflilligerweife, und dann nur uns 
vollftändig, im Auslande befannt.” Mit dieſen Worden 
Myniters. wird ſich mancher Däne getröftet haben, ber 
auf die Ehre feiner vaterlänbifchen Kitteratur etwas.:häft, 
and Ref. würde dem Vaterlande und’ dem Auslande feinen: 
befondern Dienſt zu leiften glauben, :wenn er. zu einer naͤ⸗ 
hern Befanntfchaft mit dieſen Schriften beitrüge. Er wirb 
fich damit begnügen, zwei Auffätze des Dr. Biynfter, die 
ſich auf. jene Streitigkeiten beziehen, namentlich anzufühs 
ren: „Ueber Snjurien in gebrudten Schriften” und „Ueber 
Das Heraustreten aus der Staatskirche“, nad zwei Schrifs 
ten von dem Prof. Elaufen: „Ueber die Stellung ‚des 
Injurianten und bes :Injurürten in‘ Dänemark”, und 
„Ueber ven kirchlichen Parseigeifl,:ehr:Beitrag zur. theolo⸗ 
gifchen Polemik im 19ten Jahrhundert.“ Auf die lebtger 
nannte ‚Schrift, ‚die: ind::Demtiche. überſetzt ift von. Dem 
Paſtor Wolf, kann Ref. Jeden hinweiſen, ee 
Data. über-die Befchaffenheit diefer Polemik BR 
Theol. Stud. Jahrg. 1834, 


998 *. Ueberſicht 


Praktiſche Theologie. 

Drei Yredigtfamminngen reihen ſich hier au 
einander: eine größere, von dem Stiftspropfte Schiödte 
in Wiberg (1839—33), zwei Fleinere, von dem Biſchef 
Dr. Hertz in Ribe (nah feinem Tode herausgegeben, 
1830) und Sem Baker Lautniz (1883). Die zweite 
dürfte buch Reife des Goiſtes und edle Einfachheit den 
Vorzug vor ben übrigen haben, während Die erſtgenannte 
fi) Durch eine mehr oratorifche, mitunter aber zu blumen⸗ 
reiche und überladene Ausführung empfiehlt. 

Kirchliche Caſualreden von Danifhen Saw 
selrednerm, herausgegeben don kic. Brammer, Pre 
diger, 1832. Der thätige Herausgeber hat Durch Diefe 
Arbeit eine Lücke in der homiletifchen Litteratur ausfüllen 
und einem oft empfundenen und ausgefprechenen Bebürf- 
niffe abhelfen wollen; je willkommener aber ein ſolches Uns 
ternehmen jeyn müßte, am jo mehr if Die mißlungene 
Ausführung zu hebaueen. „Ein Hauptfehler bei den mir 
Wwbaunten Sammlungen von deutfchen Safualpredigten — 
ſo caͤußert fich in der Vorrede ber Berf. — iſt dieſer, Daß ed 
an Einheit des Geiſtes uud Des Glaubens fehle: was.eine 
watürliche Folge davon if, daß Männer verſchirdenen 
Glanbens zur. Theilnahme eingeladen werden.” Es Läßt 
ſich aus diefer Aeußerung fließen, dag Uebereinſtimmeng 
des dogmatiſchen Syſtems Dem Verf. die Regel geweſen iſt, 
nach welcher er ſich um Beiträge an feine Amtsbrüder ger 
wendet hatz und ſo düßt es ſich denn allerdings erflseen, Daß 
gefeierte Eanzelrebner in dieſer Sammlung vermißt wer⸗ 
. ben, während man auf andere ſtößt, bie ihren Platz nur 
jener dogmatiſchen Uebereinſtimmuͤng zu verdanben haben, 
daß einzelne in: jeder: Rückſſicht ausgezeichnete Neben Inds 
mentlich einige Grabreden des Dr. Mynſter) ſich mit eis 
zer Menge mittelmäßiger und einigen ganz fihlechten und 
verwerflichen in Gefellſchaft finden, Eine gewiſſe Entäw 

Berung des eigenen Eyſtems und. der eigenen Auſichten mag 





d. theol. Litteratur in d. 3 frandinav. Reichen.’ "99 


wohl die erfte Korberung an einen Sammler ſeyn, wenn 
er nicht feinem Unternehmen felbft in den Weg treten will, 

Die kirchlichen Eyifteln nebft einer Para—⸗ 
phrafe, von Dr. Tetens, Biſchof auf Alfen, 1891. 
Das Abfingen der kirchlichen Evangelien und Epifteln vor 
dem Altar machte einen Theil des Tonntäglichen Gottes⸗ 
dienftes aus, während über die Epiſtel gewöhnlich nur ge- 
predigt wird beim Nachmittagsgottesbienfte, der bloß in 
den größeren Stäbten gehalten wird; daher der Inhalt 
diefer Perikopen dem Volke ziemlich fremd bleibt, beſon⸗ 
derd wo aud der Form nnd Sprache und aud dem abge⸗ 
riſſenen Zufammenhange Schwierigkeiten entftehen. Auf 
eine fehr zweckmäßige und die firchliche Erbauung förderns 
de Weiſe hat der Verf. hier in einer kurzgefaßten Paras 
phrafe den Gedankengang dargelegt und die ſchwierigen 
Ausdrücke erläutert; zwar find Die Grundſätze der Ausle⸗ 
gung nicht überall ftreng befolgt, und die Erflärungen ein 
zelner Stellen können von einer willfürlichen Behandlung 
richt freigeſprochen werben. Solche Beifpiele aber gehoͤ⸗ 
ren fo fehr zu den Ausnahmen, daß fi ſi e dem Nutzen biefer 
Arbeit geringen Eintrag thun. 

Sn ber Liturgie find mehrere Antgelegettheiten ir 
diefen Sahren Iebhaft zur Sprache gefommen. Das Ri: 
tnal der Dänifchen Kirche ift vom Jahre 1685, und ft = — 
wenn die Abſchaffung des Exorcismus und einige unbe⸗ 
dentende Aenderungen ausgenommen werden — nach dem 
Verlaufe von anderthalb hundert Jahren noch immer daſ⸗ 
ſelbe geblieben. In dieſer Form iſt es in allem Weſentli⸗ 
chen den übrigen altsIutherifchen Liturgieen gleich, hat 
mithin den urſprünglichen Typus echt und rein bewahrt, 
daneben aber auch im Einzelnen viel Anftößiges, Unpaſ⸗ 
fendes, Veralteted, dem es dringendes Bedürfniß ift mit 
behutſam beffernder Hand abzuhelfen. Dieſes Bebürfniß 
ift in den meiften proteftantifchen Staaten anerfannt wor= 


den; und auf wie verfchiebene Art und mit wie verfchiede: 
65* 


100  - ueberficht 


nem Erfolge man ihm abzuhelfen ſich vemüht hat, immer 


find dieſe Bemühungen als erfreuliche Zeugniſſe eines le⸗ 


bendigen Eifers für die Angelegenheiten der Kirche anzu⸗ 
ſehen. Auch Schweden hat bereits im J. 1811 ſein verbeſ⸗ 
ſertes Kirchenhandbuch bekommen. Dänemark allein macht 
hierin eine Ausnahme, und es könnte ſcheinen, als ſchließe 
ſich die dänifche Kirche im Fefthalten eines flarren liturgi⸗ 
fchen Stabilitätsprincips ber englifchen Kirche an. Dem 
ift aber Teinesweges fo. Die Kirchengefchichte bezeugt, 
wiein ältern Zeiten die Befugniß und die Verpflichtung, Its 
turgifche Veränderungen nadı den Grundfäßen der evanges 
lifchen Kirche vorzunehmen, von Seiten der Regierung 
anerkannt worden ift durch Wort und That; auch in 
neueren Zeiten, nachdem bie angefehenften Geiftlichen, 
zum Theil von fehr verfchiedenem theofogifchen Charakter, 
der Confefflonarius Baſtholm, die Bifhöfe Balle 
und Boifen u, A. das Bebürfniß einer Reviflon der Li- 
turgie eindringlich gezeigt, auch mehrere dahin zielende 
Borfchläge der öffentlichen Prüfung felbft übergeben hats 
ten, nachdem eine zur Reviſion der firchlichen Gefeßges 
bung ernannte königliche Commiſſion eben denfelben Ans 
trag mit allen Nachbrude erneuert hatte, wurden von der 
Regierung mehrere vorbereitende Schritte gethan, aus 
denen man auf.eine baldige Erfüllung der lauge gehegten 
Wünſche und Hoffnungen fchließen durfte. Indeſſen, wie 
es fchwerlich einen flärferen Beweis gibt für Die Dringende 
Nothwendigkeit einer Liturgifchen Berbefferung als die Ein⸗ 
müthigkeit, womit bie Fopenhagener Geiftlichfeit fich im 
November 1832 vereinigte, ihr Gefuch unmittelbar an den 
König einzureichen, in weldyem geäußert wurde, wie eine 
Revifion des Rituald ald durchaus nothwendig anzufehen 
fey: fo wird Die der Kirche wie dem Staate gewidmete 
Sorgfalt einer väterlichen Regierung gewiß zur Hoffnung 
einer baldigen Erfüllung des lange gehegten Wunfches bes 
rechtigen. 


d. theol. Litteratur in d. 3 ſcandinav. Reichen. 1001 


Auf eine hoͤchſt unerwartete Weiſe mußte man ben 
60 Sahre hindurch mühfam gebahnten und geebneten. Weg . 
zu liturgifchen Berbefferungen ploͤtzlich abgebrochen fehen, 
als im J. 1828 die königliche Kanzlei a), die kurz vorher 
einen neuen Chef erhalten hatte (den Geh.R. Stemann), 
ein Gircularfchreiben ergehen ließ, wodurch ed den Predi⸗ 
gern eingefchärft wurde, „Die vorgefchriebenen Formulare 
genau zu befolgen, ohne irgend Etwas hinwegzulaffen 
ober hinzuzuſetzen.“ Diefer energifche Spruch war um fo 
nuneerwarteter, als die oberfte kirchliche Behörde dadurch 
nicht allein alle frühern Verhandlungen und Maßregeln 
ein halbes Sahrhundert hindurch, fo wie alle während 
diefer Zeit in andern proteftantifchen Staaten getroffenen 
Beranftaltungen zu ignoriren fchien, ſondern fogar dem 
factifchen Zuftand des Rituals, an deſſen Buchftaben Die 
Geiftlichen wieder zurüdgezwungen werden follten, unbes 
achtet ließ. Bei mehreren Firdhlichen Handlungen (3. B. 


a) Diefes Collegium, das höchſte Juſtizcollegium, ift zugleich bie 
höchſte kirchliche Behörde, und hat als ſolche das Recht des Ents 
ſcheidens in allen kirchlichen Angelegenheiten, die nicht unmittels 
bar an ben König referirt werden. Es befteht aus einem Prä⸗ 
fidventen und mehreren Deputirten, ſämmtlich Juriſten. Diefe 
vertreten mithin die Stelle der Oberconfiftorialräthe oder geiftlis 
hen Minifterialräthe in andern Staaten. Unmittelbar unter dies 
fem Collegio ftehen die Biſchöfe. Diefen fleht als Viſitatoren 
der Kirchen und Schulen in ihren refpectiven Diöcefen ein ſchö⸗ 
ner Wirkungskreis offen; in ihrem Verhältniſſe nach oben aber 
find die Grenzen allenthalben fo eng und fcharf gezogen, daß fie 
nur dem Namen nah ald Bertreter der Geiftlichkeit und Ver⸗ 
mittler der kirchlichen Intereſſen angefehen werben können; auf 
die Ernennung ber Prediger und Überhaupt auf die Leitung ber 
tirchlihen Angelegenheiten haben die Bifchöfe gerade fo viel Eins 
fluß, als das jedesmalige Perfonal des Zuftizcollegiums etwa eins 
zuräumen geneigt ift. Diefe Geneigtheit Tann aber begreiflichers 
weife fehr verfchieden feyn. Eine Vergleihung diefer Rudimente 
einer kirchlichen Verfaſſung mit einer Organifation, wie fie die 
ſchwediſche Kirche hat, ift nöthig, um manche auffallende Erſchei⸗ 
nung erflärbar zu machen, 


1002 Neberſicht 


bei der Taufe, der Beichte) waren nämlich im Laufe der 
Zeiten venfchiedene Beränderungen geflattet worden oder 
von felbk in Gebrauch gefommen, ohne daß zugleich dar⸗ 
an gebadıt worden war, die Worte des Formulars mit 
der Handlung im Hebereinftimmung zu bringen; dieſes 
Bermitteln hatte man bie jeßt unbedenklich den Geiftlichen 
überlaffen. Jetzt aber mußte die Frage entfliehen, wie die 
kirchliche Behörbe wohl ein Ediet verfianden haben wollte, 
Dem es nicht einmal möglich fey in allen Fällen Genüge 
zu leiften, wenn nicht vorher in den firdhlichen Handluns 
gen ſelbſt Verſchiedenes wieber auf die alte Form zurüd 
geführt worden war; hierauf war aber nach den verän⸗ 
derten VBerhältniffen nicht zu denken. Es wurde nachge 
fragt, wie der Geiſtliche ſich bei ſo bewandten Umfktändes 
zu verhalten habe; die königliche Canzlei erfannte einzelne 
Ausnahmen als nothwendig an, ließ aber andere officielle 
Nachfragen unbeantworte. — Zu gleicher Zeit wurde 
eine neue Ausgabe des däniſchen Altarbuchs 
im I. 1829 veranftaltet; die Benugung ber revidirten und 
im J. 1819 antorifirten Ueberſetzung des N. T. bei den 
kirchlichen Perikopen und fonftigen Bibelftellen abgered; 
net, erfchienen hier die Formulare völlig unverändert. 
Auf Aenderung einiger von den anftößigften Ausdrücken 
hatte der erfte Geiftliche des Neiched, ber Bifhof Mür 
ter, bei der nie Kirchenbehörde angetragen, aber 
vergebens, 

Als die wichtigften liturgifchen Schriften, bei welchen 
Ref., was ſich nur auf gefchichtliche Verhältniſſe bezieht, 
mit Stillfchweigen übergeht, werden folgende anzufüh: 
ren feyn: | 

Betrachtungen über das Altarbuch der 
däniſchen Kirche, vom Prof. Dr. Clauſen C 1830) 
Der Berf. gibt zuerft eine gefchichtliche Heberficht. der ver 
fchiedenen Ausgaben des Altarbuchs vom 3. 1555 bis = 
die nenefte Zeitz er weit das urfprünglide Berhältu 








d; theol, Litteratur In d. Z ftaudinav. Reihen. 1003 


Deffelben zu den liturgiſchen Schriften Suther’s nach, fo 
wie die allmähliche Ausbildung die einzelnen Jahrhunderte 
hindurch, ben. von ben Reformatoren ausgeſprochenen und 
von Luther ſelbſt befolgten Grundſätzen gemäß: wenn ſich 
in dieſem fleten Zortfchreiten ein wahrhaft proseftantifches 
bildendes Princip fund gegeben, der bloßen Stabilitätds 
marime nad) der Regel des Hertömmlichen fremd, fo habe 
fi die dänifche Kirche nicht weniger Glüch zu wünſchen, 
Daß fie ich vonder fpäter eingeriffenen, einfeitigen Sucht 
in Der Liturgie zu reformiren frei gehalten, und die alter» 
tbümliche,. falbungspolle Form der kirchlichen Formeln und 
Gebete bewahrt babe. Um fo leichter werde denn auch 
eine Revifion des Ritual, die — nach einer Fangen Epos 
che des Stillſtehens, während daß Pie meisten proteſtanti⸗ 
[hen Staaten mit ihrem Beifpiele vorangegangen — zu. 
einem dringenden Bedürfniffe geworden ift, fich ausführen 
laffen; um fo mehr aber fey jeder Schritt zu bedauern, 
ber von dem erwiinfchten Ziele weiter abzuführen ſcheine. 
Als ein folcher müffe Die unveränderte Ausgabe des Altars 
buchs angeſehen werden, zumal nachdem die Tünigliche 
Canzlei den Verſuch gemacht habe, jedem Buchſtaben deſ⸗ 
felben wiederum bindendes Anfehen zuzuerfennen. Es wird 
zulegt durch Beifpiele gezeigt, wie durch einen folchen Ges 
brauch der kirchlichen Formulare in ihrer jegigen Geftalt 
die Regeln der Sprache nicht weniger ald die der guten 
Sitte verlegt werben, und die Erbauung an heiliger Stätte 
gehindert. | 
Das mißlide Berhältniß des däniſchen 
Predigers zu Dem Ritual Von P.C. Gab, Pres 
Diger an der Dreifaltigkeitsfirche in Kopenhagen, 1831. 
Ueber liturgiſche Freiheit. Eine Unterſuchung 
von bemfelben Berfaffer. 1832. | 
Der Berf. unterfeheidet liturgiſche Willkür, Kturgis 
fhen Zwang, liturgifche Freiheit. Liturgifche Will⸗ 
kür if, nad) der Darſtellung bed Vfs., da zu finden, wo 








1004 .. . Webefiht 


ed entweder dem Prediger frei fleht, den Gottesdienſt im 
Ganzen oder in einzelnen Theilen deffelben nach eigenem 
Willen einzurichten. Liturgifchen Zwang gibt es da, 
wo ed dem Geiftlichen zugemuthet wird, mit buchftäbficher 
Genauigkeit fi) an alle Einzelnheiten des Rituals zu bins 
ben, ohne allen andern Grund, ale weil ed der Obrigkeit 
gefalle, dieſe Worte zu fanctioniren. Liturgifcher reis 
heit erfreut man fich da, wo der Geiſtliche an Die litur⸗ 
gifche Form im Ganzen gebunden ift, nicht an Die einzel 
nen Worte, nach richtiger Unterſcheidung des Wortes 
Gottes und der Menfchenworte, des Wejentlichen und 
bes Unwefentlichen, das Ritual mithin in gewiflen Theilen 
nur ald Mufter betrachtet werde, das mit felbitfländiger 
Einficht benußt werben folle. Das Rechtmäßige und Noth⸗ 
wendige biefer Freiheit wird aus der Befchaffenheit der 
Formeln felbft nachgewiefen, auch durch die Parallele mit 
der den jebesmaligen Umftänden anzupaffenden Anwendung 
der Geſetze treffend erläutert. — Der Berf. verfucht fos 
bann den Beweis, Daß die ältere Geſetzgebung Dänemarks, 
dem Liturgifchen Zwangfpfteme abhold, bie nöthige Freis 
heit gar wohl geſtatte. Diefer Verſuch mußte leider mißs 
lingen; denn einer Einficht in die höheren Intereſſen der 
Kirche, wie fie zu einer Durchführung ſolcher Principien 
erforderlich feyn würde, Dürfen fich jene Zeiten nicht rüh⸗ 
men. Freilich aber müßte man ſich eben beßwegen mit um 
ſo größerer Zuverficht darauf verlaffen, daß die kirchlichen 
Behörden entweder die Berbeflerung ber theilmeife un⸗ 
brauchbaren Formulare fich angelegen feyn ließen, oder dar⸗ 
auf Verzicht thäten, die Zmwanggefeße in ihrer ganzen 
Strenge zu erneuern, „Es ift fehr wahrfcheinlich, daß 
Diejenigen, die fich damit begnügen, kalt und gebieterifch 
Die Prediger an ihr Formularbuch hinzuweifen, eben fo 
wenig von der Befchaffenheit Diefer Kormulare und der Bes 
flimmung derfelben für das kirchliche Leben einen Begriff 
7den, als von dem eigentlich geiftlichen Theile des geiftlis 


d. theol, Eitteratur in d. 3 ſcandinav. Reichen. 1005 


chen Amtes, und davon, wie ber Yrebiger ſich durch den 
juridifhden Machtſpruch in feiner Wirkfamteit verſtimmt 
und angegriffen fühlt. Auch mag es feyn, daß was hiers 
über gefprochen wird, wenig Eingang findet, und nichtim 
Stande ift, die Behörden dahin zu bringen, daß fie ſich in 
Die Lage des Predigers, die von ber ihrigen fo verfchieben 
ift, verfeßen. Wenn ed aber nur gelingen Tann, eine 
wenn auch nur dunkle Vorfielung von dem Eigenthümlis 
chen diefer Lage hervorzurufen und davon, wie fchwierig 
es für Denjenigen ift, dex außerhalb derfelben ſteht, Miß⸗ 
griffe zu vermeiden, jo möchte doch immer einige Hoff 
nung ba ſeyn, daß nicht vergebens gefprochen fey. Es 
ift oft empfunden und oft genug ausgefprochen, daß, je 
mehr eine geiftliche Behörde mit den JIntereſſen der Geift- 
lichkeit vertraut fey, um fo deutlicher werde fie einfehen, 
Daß gebieterifche und zwingende Maßregeln entweber zu 
nichts führen oder zu einem fchwerlich gewünfchten Ziele.” 
Der Verf. zeigt ferner, wie ſich ein folches Gebot in dies 
fen Kalle felbft widerfpreche, indem das Ritual in vielen 
Stüden in feiner einzigen Kirche des Landes befolgt werde 
oder befolgt werden fünne, und wie ſich alle Gründe und 
alle Stimmen dahin vereinigen, Feine Reform, fondern 
eine Revifion des vorliegenden Rituale unverzüglid) zu 
bewerkftelligen; — ſodann aber wie auch bei einer ſolchen 
Reviſion die weſentlichen und feſtſtehenden Theile der For⸗ 
mulare von den unweſentlichen und beweglichen unterſchie⸗ 
den werden müſſen. — Dieſe Schriften ſchließen ſich an 
die gehaltreichſten Schriften aus dem preußiſchen Agenden⸗ 
ſtreite würdig an, und Dürfen als wichtige Beiträge zur 
Grundlegung einer Liturgit nach echt evangelifchen Grund⸗ 
fäben gelten. 

Ueber den Taufbund. Bon N. F. S. Grundts 
vig, Prediger, 1832. Wir geben den Inhalt der Schrift 
mit.den eigenen Worten ded Berfd. „Die Kirche hat eis 
sen Taufbund mit ung-errichtet, ber in Fragen und Ants 


1006 Weberfidgt 

morten enthalten it, und durch Die ganze Chriftenheit bins 
durch zu finden ift, wo man ihn nicht nach ber Apoftel Zeit 
geändert hat. Diefer Taufbund ift von unferer Taufe un⸗ 
zertrennlich; er muß demnach unverbrüdjlid; gehalten wers 
ben; würde der Taufbund bei ber Taufe geändert, fo wä⸗ 
ve zugleich mit dem Bunde auch die Kirchengrmeinfchaft 
geänderte. Zu dem Taufbunde gehört alfe we 
fentlih die Entfagung bed Teufels als Des 
perſönlichen Widerfahers und Verläumbers 
des hriftlihen Glaubens und der hriftlihden 
Kirche. Es leuchtet von felbft ein, wie groß der Unter⸗ 
ſchied iſt zwifchen einer Perſon und einem an ſich leer 
and unbeftimmten Begriffe, fo daß die Entfagung bes 
Teufels von der Entfagung Des Böfen eben fo 
verſchieden ift, al& der Glaube an Vater, Sohn und beis 
ligen Geiſt von dem Glauben an Bäterlichfeit, Söhnlich⸗ 
feit und Heiligkeit. Ueberhaupt aber ift die Frage: ob 
dem Teufel oder dem Böfen in der Taufe entfagt werden 
folle, eine Frage: vb der Taufbund, in dem alle from: 
men Bäter beftanden und gefümpft, erhalten oder abges 
fchafft werden folle. Die Chriften vom alten Schrot und 
Korn, die treuen Unterthanen des alten Bunbes müſſen 
auf den unverleßten Taufbund beſtehen, indem durch 
jene Neuerung ihre eigene Gemeinfhaft und 
Die ihrer Kinder mit der echten, urfprüngle 
ben, apoftolifhen Kirike, Der einzigen Chri⸗ 
Kengemeinde unter allen Himmelsgegenden, 
aufgegeben wird” a). 


a) Ein zweiter Hauptpunct in der Liturgifchen Polemik der grundtvig⸗ 
(hen Parthei ift die Benennung bes heiligen Geiſtes, 
indem bie alte Spradform eines befondern Danigmus, „ber Hei⸗ 
lig⸗Geiſt,“ nad) und nach der fpradjrihtigen Korm „ber heilige Geiſt, 
hat weichen müffen. Welche Gefahr aus diefer vermefjenen Reue: 
rung bem Glauben gebracht werde, darüber wird folgende Proteflas 
tion des Mag. Lindberg Auskunft geben: „Es heißt in unferer 





d. theol. Litteratur in d. 3 ſtandinav. Reihen. LOOT 


Beleuchtung ber grundtvig'ſchen Schrift 
über den Taufbund, von dem Prof. Dr. Clauſen, 
2832. Der Berf. führt die grundtoig’fchen Behauptungen 
auf zwei Hauptfäge zurüd, deren Prüfung Ref. ebenfalls 
mit ‘den Worten des Verfs. in aller Kürze wiedergebew 
will. „u Der Glaube an einen perfönlidhen 
Teufel, als Widerſacher der, chriftlichen Kirche, fol 
nothwenbig und wefentlic zu dem hriklichen 


‚ 
Sprache der Heilig⸗Geiſt, und gar nicht: anders; denn er ift Leis 
ne Weberfegung aus dem Deutfchen, und ift nicht ald Ue⸗ 
berfegung aus irgend einer Sprache zu uns gelommen, fondern ale 
der allmächtige Geift der Wahrheit, der die Tiefen Gottes erforfcht 
und die Bolltommenpheiten der Sprachen erfennet, und der da weiß, 
mit welchem Ramen er genannt und angerufen feyn will, bei weis 
chem Ramen er in allen Sprachen erkannt. ſeyn unb auf welchen em. 
Antwort geben. will; auch hater felbft unfern Vätern in’s 
Derz geflüftert, wie fie ihn richtig benennen follten, Daß 
dergleihen Fehler in unferen Zagen fich einfhleichen Fönnen bet 
dem Leberfegen aus ber deutſchen Sprade, die eben 
zu biefem Zehler in Berfuhung führt, darf uns nid 
Wunder nehmen; benn bie todte Grammatik liegt den Meiften weit 
näher, als dag lebendige Kirchenwort ; aber gerade daher ift es noth⸗ 
wendig, auf ſolche Fehler aufmerkfam zu machen, die immer Vers 
wirrung erzeugen und zur Nachahmung verleiten, wenn ihnen nicht 
widerſprochen wird. Um fo nothwendiger iſt es, auf diefen Uebers 
fegungöfehler aufmerkfam zu madyen, als er ſich ſowohl in die Ue⸗ 
berfegung des Heinen Katechismus Luthers, den das Waifenhaus 
mit königlich allergnädigftem Privilegium verkauft, als in die, uns 
ter den Aufpicien des Bifhofs Münter beforgte, neue Ausgabe 
des Altarbuchs eingefchlichen hat. Diefe Ausgabe des Als 
tarbuhs Eönnen daher hriftlihe Prediger, welche ſe⸗ 
ben, was es bort zu bebeuten habe, gar niht gebrauden, 
und mehrere hriftliche Eltern aus der Gemeinde haben daher fchon 
verlangt, daß diefe bei ber Zaufe ihrer Kinder nicht gebraucht 
werde.” — Wie fehr find bie Dänen zu beneiden um biefes Schib⸗ 
boleth bes reinen Glaubens, das ihnen ausſchließlich durch eine bes 
fondere Infpiration hat zu Theil werden follen! wie ſehr aber bie 
Deutfchen zu bedauern, die durch ihre Sprache unverſehens jenem 
auserwählten Volke ein Werkzeug der Verfuchung zur Sünde wis 
der den heiligen Geiſt geworden find. 





1008 Ueberficht 


Glauben gehören Bon Seiten derjenigen, bie fid) 
auf das apoftolifche Symbolum als vollftändigen Inbegriff 
and rechte Schugwehr ber reinen Lehre berufen, ift ſchon 
der Widerfpruch hier auffallend, wenn ein Sag, ber Dort 
mit feinem Worte angedeutet ift, ale Gegenftand des chriſt⸗ 
lichen Glaubens aufgeführt wird. Gehen wir auf die heis 
lige Schrift zurüd‘, fo finden fich nur Dunkle, aphoriftifche 
Andeutungen, bildliche Bezeichnungsformen, Die verfchies 
dene Auslegung geflatten, mit verfchiedenen Vorftelungen 
fich vereinigen laffen: daher denn aud; die gründlichiten 
und gewiffenhafteften Theologen und Kirchenlehrer — aud) 
Solche, die geglaubt haben, nach dem Bibelworte, das 
Dafeyn eines perfünlichen Teufeld annehmen zu müffen — 
anerkannt haben, daß die Neußerungen des Evangeliums, 
wenn man bei ihnen ftehen bleibt, zu feinen ficheren,, zus 
fammenhängenden, praftifchen Borftellungen binführen, 
. daß aber die weiter entwidelte Lehre entftanden ift durch 
Einmifchen verfchiedener myftifchen Philofopheme oder 
Didytungen, wodurch man allerdings den Vorftellungen 
reicheren Inhalt und größere Feftigkeit gegeben hat, zus 
gleich aber mehr oder weniger von der reinen Lehre des 
Evangeliums abgefommen und dem Manichäismus näher 
gerückt iſt. Auch in der fomboleifrigften. Zeit hat man das 
her mit geziemender Befcheidenheit die Lehre von Der Gets 
fterwelt außerhalb dem Gebiete der kirchlichen Orthodorie 
liegen laffen, und diefelbe den Speculationen der Theolos 
gen und Philofophen anheim gegeben. Vollends aber als 
vermeffene Läfterung klingt e8, wenn man eine Fehre, mit 
der e8 eine folche Bewandtniß hat, den wefentlichiten und 
eigenthümlichften Hauptartifeln zur Seite ftellt, oder den 
Begriff des Böfen für einen leeren und unbeftimmten Bes 
griff ausgibt, wenn Diefer nicht durch den Begriff eines 
perfünlichen Teufels Inhalt und Feftigkeit erhalte.” Geber 
Ehrift, der fich feiner bewußt ift, muß fich über das Grund» 
falfche dDiefer Behauptung Nechenfchaft geben können, muß 











d. theol, Litteratur in d. 3 ſeandinav. Reihen. 1009 | 


fi) es aus. innerer Erfahrung bezeugen fönnen, Daß das 
Geſetz der göttlicdyen Heiligkeit in dem geoffenbarten Worte, 
das Bild der göttlichen Heiligkeit in dem Leben Chrifti auf 
Erden e8 ift, wodurch der Gegenfaß. des Guten: und des 
Boͤſen beftimmt und Flar vor feiner Seele fteht, wodurch 
Die reine und lebendige Liebe zu Dem Guten, der karte und 
heilige Abfchen vor dem Böfen ergengt wird. — 2. Die 
Entfagung des Teufels foll bei dem Taufe 
bundenothwendig und unerläßlich feyn. Als 
Ierdings gehört zu dem Taufbunde die Entfagung alles 
Deffen, was dem Chriftenthume widerfireitet, ‘und dag 
Bekenntniß des chriftlichen Glaubens. Was. aber die: 
Form der Entfagung betrifft, fo find feine Fragen und 
feine Antworten, von den Apofteln angeordnet oder von 
der urfprünglichen, apoftolifchen Gemeinde überliefert, zu 
und gefommen. Nach den Aeußerungen.im NR. X. würde 
Die Entfagung der Sünde (die nach Grundtvig eine Vers 
unftaltung oder Abfchaffung des Taufbundes ſeyn foll) ge⸗ 
rade als die biblifche anzufehen ſeyn; denn die Laufe wird. öfe 
ters als ein.Abfterben der Sünde, ein Ausziehen der Sünde/ 
ein Abwafchen der Sünden dargeftellt (Röm. 6,2 —4. Ksl,, 2 
11.12. Apg.22,16.), während eine Entfagung des Teufels 
nirgends weder bei Erwähnung der Taufe noch in irgend.eis 
nem andern Zufammenhange vorkommt. In der alten Kirche 
wird fie zuerft von ZTertullian (EB coron. mil. e. 3.) ers, 
wähnt; dieſe Form lag der Dentweife ber alten- Welt am 
nächftenz Fein denkbarer Grund aber ift vorhanden, daß 
Diefe Form als noth wen dig bei der Taufe gelten fol, 
Im Gegentheil ift ein Paradoron wie dieſes, daß jene Ente 
fagungsform als Bekenntniß eines perfönlichen Teu« 
feld gelten folle und daß diefe Auffaffung zu dem Wefen 
Der Taufe gehöre, recht geeignet, darauf aufmerffam zu 
machen, wie wohl man daran gethan hat, wie in ber 
preußischen uud der fächfifchen Kirche, dieſe Form mit eis 
ner andern zu vertanfchen oder zu varüiren, fo.daß Fein 








1010 Ueberſicht 


ſolches Mißverſtaͤndaiß Statt finden kann. Auch werben 
fich dieſe Krchen nicht durch Hrn. Grundtvig anihrer Taufe 
irre machen Taffen, als ſtünden fie außerhalb der Gemein 
ſchaft mit der apoftolifhen, über die ganze Erde verbreite 
un, Kirche”  - 

Pſalmen und geiftliche Rieder von H. A. 
Bio rfon cehemaligem Biſchof in Ribe, 7 1769), gefam: 
meit and herandgegeben von I. Holm, Lit. d. Theol. 
und Prediger, 1830. 

Der alte Brorfon nimmt neben Be: um ein hab 
bes Jahrhundert Älteren, Bifchof King o, dem getftlichen 
Meifterfänger Dänemarks, einen ehrenvollen Platz ein, 
und es Tieße ſich aus feinen Liederfammlungen eine ſchoͤne 
Auswahl machen, die — bei gehörigen Aenderungen im 
Einzelnen — zu feiner Zeit die erbauende und geifterhe 
bende Wirkung verfehlen würde. Dieß war auch bei dies 
fer Sammlung die wohlgemeinte Abficht des Herausge⸗ 
bers. ‚Freilich aber mußte dieſe Abficht vereitelt werben, 
wo in einer ganz bolftändigen Ausgabe dad Schlechte ne 
ben dem Buten, das Beraltete neben dem niemals Altern, 
den einhertritt, wo man, überfättigt von den einförmigen 
and übertriebenen Schilderungen, Kraft und Muth ver 
Kert, die umbergeftreuten poetifchen Schönheiten hervor⸗ 
äufuchen. Hoffentlich geht es nicht länger, die Andacht auf 
Koften des gefunden Ginnes und des reinen Gefühle er 
zwingen zu. wollen; and, Damit geht ed nicht länger, wie 
ber Herausgeber meint, die Abneigung gegen bergleichen 
Voriielungen mit der „Abneigang gegen die chriſtli⸗ 
Ken Grundlehren von der Erbfände, der freien Gnade 
Gottes, der Sean durch Chriſtus“ identiffciren zu 
wollen. 

Wenn 8 — ein Mißverſtehen der geiſtigen 
Bedürfniſſe iſt, Andachtsbücher aus einer entfernten Vor⸗ 
zeit wieder in unveränderter Form ins Leben hineinführen 
“zu wollen, fo erſcheint das Wirken Derer um fo erfreulis 


d. theol. Kitteratur ind. 3.fandinav, Reichen. 1011 


cher, bie im Geiſte ben beiten Borbilbern der Vorzeit ich 
anfchließen, ſelbſt aber fchaffend und erzeugend mit eigener 
Kraft und Fülle des Geiſtes Die Stelle Jener inter ihren 
Zeitgenofien vertreten. Auch hinfichtlich bes geiſtlichen 
Liebes thut dieß in Daänemark Noth. Das kirchliche Ge⸗ 
fangbuch iſt in feiner jetzigen Geſtalt einige und dreißig 
Jahr alt. Das Bedürfniß einer Neviſion des kirchlichen 
Geſanges wurde damals allgemein und mit Recht. aner⸗ 
fannt; eine Zeit aber, die ſich unter allen Geiſtesgaben 
eimes lebhaften Siunes für Die Höhere Dichtkunſt am wenig⸗ 
ſten rühmen darf, fonnte jenem Unternehmen wicht günſtig 
ſeyn; anftatt den alten Liederſchatz mit frommer und ſorg⸗ 
fältiger Hand zu venutzen, wurde das Abkürzen und Aen⸗ 
bern ber Fräftigften Lieber ſchonungslos getrieben, und ſo 
kam ein Geſangbuch heraus, das, bei vielen unverfennbas 
zen negativen Borzügen, den höheren Furberungen des 
Glaubens und Dur Andacht nicht Genüge leiſtet. Um fd 
mehr ift aber der höhere Aufſchwung ber Dichtkuuſt in den 
betztern Jahren der düniſchen Pſalmodie zu Gute gefoms 
men; vorzägticdh (md Grundt vig md Sungemann bien 
an nennen; unter. ben früheren Pſalmendichtungen des Erw 
fern. möchten ringelue zu. den Schönften gehören, was 
die geiftliche Dichtkunſt aufzumeifen hat. Zu ben —— 
Verſuchen in dieſer Gattung gehören. 

Geiſtliche Bedichte und Lieder, von J. ⁊c. 
Boye, Prediger (1830), Beiftlihe Grſange yon 
J. Tim m, Prediger (1038). Die Jette Sammlung ſteht 
jedoch ber boye'ſchen bedeutend nach; nur in dieſer iſt dis 
teriſche Kraft mit Klarheit des Gedankens verbunden. — : 

In der zur Theologie gehörenden Heriodifchen Fitteras 
tur find in ben lebten Jahren bedeutende Aenderungen 
eingetreten. Die eine lange Reihe von Jahren ameureı 
beftandene theol. Zeitfhrift des Prof J. Möls 
ler (früher unter. bem Titel „theol, (und neue theol.) Bis 
bliothel,” nachher unter dem Zitel: „Zeitfchrift für Kirche 


1012 . nueberſicht 


und Theol.“), die ſowohl als Repertorium für Abhand⸗ 
lungen und Auffäße von theologiſchen Mitarbeitern, als 
durch bie zahlreichen, befonders gefchichtlichen und paſto⸗ 
ralstheologifshen,. Arbeiten des Herausgebers, zur Förde 
zung ber. Wiffenfchaft und zur Belebung des wiffenfchaftlis 
hen Sinned, ſehr wohlthätig gewirkt hat, iſt Durdy ben 
Tod des Herausgebers befchloffen. Unerwartet, nach eis 
ner plöglich eingetretenen Krankheit, wurde der unermüs 
Det thätige, um die Wiffenfchaft vielfad; verdiente Mann, 
einer der fruchtbarften Schriftfteller Dänemarfs, Dem Le⸗ 
ben entriſſen in.einem Alter:und einer Kraft, Dienoch fange 
fortgefeßte Thätigfeit zu verfprechen ſchien. 

-.. Dagegen erfcheiat feit Neujahr 1832 eine Kirchen 
zeitung a), die vonden Predigern Ibſen und Welten 
gand. und dem Adjuncten Kalker angefangen wurde, 
and pen den zwei lebtgenannten fortgefebt wird. Wenn 
auch Diefe Zeitung bis jetzt ſchwerlich von beſonderm Ein- 
flufle gemefen ift, fo fteht Doch von.dem dadurch erleichters 
tem gegenfeitigen Einwirfen der Geiftlichen nur Gutes zu 
erwarten, um fo mehr. ald nach Der ausgefprochenen Ten⸗ 
denz des Blattes nur ber fchroffen, unduldſamen Einfeitig- 
keit das. Wort :verfagt if. Auf noch mehr unmittelbare 
Weiſe wird ein regeres wiflenfchaftliches Leben anter den 
Geiſtlichen durch die zu Neujahr 1833 von den. Profefforen 
Slanfet und Hohlerberg angefangene „Zeitfchrift 
für auskändifchetheonlogifche Literatur” geförs 
- dert. Um die Kenntuiß der theologiſchen Riteratur befons 
daB Deutſchlands in weiterem Kreife zu verbreiten, werden 
bier. Ueberſetzungen mitgetheilt. — theils vollfländig,.theile 
im Auszuge — von Schriften, Die für Die. theologifche Wifs 
feufchaft oder das Firchliche Leben wichtig ſind, indem bes 


a) Diefe Kirchenzeitung darf mit einer fogenannten „norbifchen Kirs 
chenzeitung“ nicht verwechfelt werden; fie wirb von dem Mag. Einds 
.berg hevalisgegeben, und iſt gegenwärtig bad Organ biefes Bfs. 

und einiger mit ihm verbundenen Männer. 





d. theol. Litteratur in d. Z ſcandinav. Reihen. 1013 


deutungsvolle Richtungen in .ihmen bezeichnet oder Bei⸗ 
träge zur Erläuterung uud Berichtigung: michtiger. Mo⸗ 
mente gegebeu werben, die zugleich: Antnüpfungspunete 
für ähnliche fortgefeßte Unterfuchungen barbisten:.s Der 
erfie. Jahrgang (o. 50. Bogen) enshält. leberfeguugen ner» 
fchiebener , Schriften. und Auffübe von Bähr, Hagen, 
bad, Neander, Ols hauſſen, Schleiermaden, 
Sieffert, Ullmann, UBER ° else Zim m er⸗ 
mann u. A. | ‚2... 2600 
Noch muß hier eine Eollectiovſcheift genannt werben: 
Borlefungen, beider Goneurrenzg.zur.erbedigs 
tea. Stekle,in. der theol. Facultät- gehalten und 
herausgegeben von den Licentiaten d. Theol Eugels h oft 
and Hald (4833) 2). Die aufgegehenen Materien warer: 
Epist..ad Coloss. I. 13——23. — Orse..loel. II. 1.-1V.8.— 
Kritifche Darftellung ‚der. batheliſchen Kirchenlehre von der 
Tradition, nebſt Beurtheilung der dogmatiſchen Wichtige 
keit des Traditionshegriffes — Gefrhichtliche Darfiellung 
der charakteriſtiſchen Verſchiedenheiten der orientaliſchen 
amd der vecihentalifhen Kirche von Conſtantin d. Sir, bis 
zum Anfange des Bilderfreites — lieber den Werth der 
Beitrebungen der Philofophen, sinzelne Beweiſe für. das 
Daſeyn Gottes zu conſtruiren — Entwickelung der, chriſt⸗ 
lichen Lehre von der Pflicht und der Tugend der Wahr⸗ 
haftigkeit (das Letzte als Then eines en irten ar 
wage -- ee ia 
SEN EEE NR 
a) Die Statuten der Eopenhagener Untverfität‘ verordnen eine öffents 
liche Concurrenz in folden Fällen, wo bie Anſpruͤche der Competen⸗ 
ten fi gegenfeitig has Gleichgewicht zu halten ſcheinen. Bei der 


legten Vacanz concurrirten die Licentiaten Engelshoft, Fenger, 


Hald, Die Genforen (außer den Mitgliedern ber Facultaͤt, ber Bis, 


ſchof und der Eönigl, Confeffionarius), entfchteden ſich für den Erſt⸗ 

genaunten, der zum Lector d. Theol. (jest — — ) ei? 
nannt wurde, - a ee . i 

Theol. Stud. Jahrg. 1884. Mn ———— . SB, ort: 


10 N Ueherſicht 


Norwegen—. 

KRplietolae Paulinae, perpetuo commertstis 
Mhustratse, in usum studiosee iuventutis, von Dem Prof. 
de Theol. in Ehriſtiania J 8. Stentirfen.: Dieymei er⸗ 
ſten Bände -chber: den Romerbrief und den. erſten an bie 
Kurier) ſindbis zetzt heraus gekmmen. Diefer Conimen⸗ 
san empftehlt ich durch einen Geiſt wahrer Sodinmigkeit, 
Den über Die ganze Behandlung Leben und Wärute auf 
wohlthuende Art verbreitet, und überall bemüht IR, in:bie 
ꝓuuliniſche Dentweife tiefen einzubringen und den‘ chriftlis 
chen Schalt vor Allan in Worten darzulegen; ein Bemã⸗ 
den, dad. zugleich durch eine ſchöne Gabe der Deutlichkeit 
unterüpt. wird. "Andere and. höhere Yorberungen ſcheint 
der Verf. ſelbſt nicht an feine Arbeit gemacht zu haben. 
So wie er. in- ber. Vorrede des erſten Banded (1929) vor 
den eregetifchen Werken aus den: vier. letzten Decennica 
warnt, als die „Ber. Jugend michd ohne: große Befalye:für 
dieſelbe und fur die Kirche in Die: Haude gegeben werben 
Rönnen,” and nuütor⸗ allen jetzt lobenden Schriftauslegern 
Tho bu d ald.den: einzigen ausnimms, ber „mit den nöthi⸗ 
gen Gaben der Frömmigkeit, der Gelehrſamkeit und bei 
Glaubens ausgerüſtet und gleichſam von Gott berufen ſey 
zum Auslegen des N, Velts.:” fo gibt er ebendaſeldſt das 
Goftäͤudniß, daß „er Alles in feinem Werke, was tiefere und 
grundlichere Gelehvfamkeit zu verrathen ſcheine, Andern zu 
verdanken habe, und größtentheils eben den Männern, des 
ren Commentare er hinſichtlich der darin enthaltenen Lehre 
in hohem Grabe tadeln müſſe;“ auch habe.er. auf ſelbſt⸗ 
ſtändige Unterſuchungen über die geſchichtlichen Verhält⸗ 
niſſe des Apoſtels und ſeiner Schriften um ſo leichter Ver⸗ 
zicht gethan, Ks die Refültate derſelben „faſt niemals bie 
Grenze der Preobabilität überfchreiten,” und die Stellen 
der panlinifchen. Briefe, beren Erfläuung Durch bergleichen 
Unterfuchungen gefichert werde, „äußerft wenige find, und 
niemals, ober doch fehr felten, mit der ſeligmachenden 





d. theol. Litteratur in d. 3 feahbinav. Reihen. 4025 


Lehre felbft fo genau zufammenhängen, daß ſelbſt aus ber 
ſicherſten und genaueſten Erflärung folder Stellen Iugend 
ein beſonderer Gewinn der fellgutuchenden Lehre folle zu⸗ 
ießen tönuen Nach Diefen Aeußerungen wird Niemand 
Den firengern Maßſtab ber Wiſſenſchaft bei der Wurdigung 
diefes FSommentars anleg en wollen. Der Df. bekennt fich zur 
zu den Grundſätzen ber grammatiſch⸗hiſtoriſchen Yusles 
gung; die Begriffsbeſtimmungen dieſer Grundſätze aber 
find eben fo unbeftimmt, als ihre Durchführung ſchwan⸗ 
kend; den philologiſchen Angaben fehlt es an Genauigt⸗ 
beit und Richtigkeit, und die Thesrieen des kirchlichen Dog⸗ 
menſyſtents — überall mit den — 
ibentificien. Fr 

Ben Set, der Ideen⸗ anuder Siiaetmem. 
Ein phils ſophiſches Teſtament von. Trefhow, 3 Theile 
gıe3l, 32). Dev Bf, weicher wor kurzem, als ein achtzig ah⸗ 
ziger, jngendlich⸗kraftiges Greis, nach einem ſchönen Leben, 
Der Forſchung nud der Mittheilung durch Rede und Schrift 
geweiht, zur Ruhr heimgegan gen if, hat in dieſem Werke zu⸗ 
Fammengefaßt, „wis er nach mehr als60jährigen Forſchuu⸗ 
gen, unit großer Mißbegierde und biner⸗ uncingeſchrankten 
Freiheit zu ſchreiben, wie er gedacht hat, zugleich mit groͤße⸗ 
ver Neigung, früher. enpfangene Lehren, Die er Heber ger 
wäauhtiihkttebeätigkals winerlegt zu ſinden/ zudezweifeln, 
als feſtzuhalten, als letzte Reſultate des Denkens hat her⸗ 
ausbringen kannen; "ein: edles Dentmal beſennener, 
wahrheitöfiehenter Forſchung, mit auſogebreiteten Keuntniſ⸗ 
fen in dem verſchiedruen Mobieten Der Natur und des Geiſtes 
verbunden. Wahrend das zweite Buch (über die Sinnen⸗ 
weit) eine Art von Natuephſtloſophie enthält, — dee Ver⸗ 
finffer war dem Identituts⸗ Syſteme entfihieben zugethan ⸗, 
Das dritte Buch (vom der Offenbarung der idealen Welt 
in der ſtunlichen) Unterfuchnagen über die Beflimmung und 
Das Fertſchreiten des Meunſchengeſchlechtes in religiöſer 
und fistiher ſowohl als in wiſſenſchaftlicher und bürgerki 

66 


4016 —— Neberſicht 


cher Hinſicht enthält, iſt das erſte Bud; (von Gott und der 
idealen Welt) theologiſchen Inhalts; auch verſchiedene, po⸗ 
ſttive Religiouslehren find in die Unterſuchung mis hinein⸗ 
gezogen, um den tiefern Wahrheitsgehalt derſelben nach 
den. Principien des reinen Denkens nachzuweiſen. Unter 
bem. vielen Eigenthürilichen findet ſich allerdings nicht Mes 
niges, ‚was ſqhwerlich eine jchärfere Prüfung. aushalten 
wärbe;-überall oben; wird ſich der Lefer durch Den Geiſt 
des Forſchers fo angeregt als Durch den eit ber Fröm⸗ 
— ‚angezogen fühlen. 

Dre. Herruhnter v der die ——— 
Brüder von. J. Haſſelb ex g, Prediger. 1830, Die Ge⸗ 
ſchichte Zinzendorffs macht die Hauptparthie der Darſtel⸗ 
lung aus; zugleich aber wirh die geſchichtliche Abſtammung 
Zer Herrvhuter von den Huſſiten nuchgewieſen, fo wie 
Die Verwandtſchaft mit-ben penerſchen Pietiſten. Die Dar⸗ 
Kellung it. in populärem Style gehalten, und iſt als ſehr 
gelungen anzufehen,. eben. Durch ihre Ruhe und Einfach 
hejt, anſprechend; Die Quellen ‚find gut und mit gehöriger 
Freiheit benutzt. Dex Verf: gibt ſich unnerhohlen.:als 
Freund und Geiſtesnerwandten der Brübergemeindergu-ers 
kennen, und er iſt geneigt, quch die Verirxungen derſelben 
in mildeſten Lichte darzuſtellen; da er jedoch überall auf 
diefelben, aufmerkſam ‚macht una dr allen Ereentrieitäten 
auhold zeigt, ſo möchte die Liebe zu dem, behandelten. Ger 
genſtande den Werth Der: Danellung nurnerhöhen. 

. Synch ronäiſt iſche Tafeln zu Dam ſtener ſen⸗ 
Shen: Lehrh. Dex Dirchengefchichte, von J. ©. 
Di etr ichſ ou, Cand. da Theol. As2), geben ein branch⸗ 
bares, mit Fleiß ausgearbettet⸗s Hütfsmiſtel für die ala⸗ 
demiſche Jugend: Dex Varfiiſt ſputer als Lector * Theol. 
An der Univerſität in, Khriſtichia angeſtellt, 

Fiür den Unterricht in den Volksſchulen Re ein Lehr 
buch der Bibelgefhichte:im J. 1832.00n: Dem Prof. 
d, Theol. Harſleh erfchienen;. das won demſelben Vers 


d. theol. Litteratur in: d. 3 ſcandinav. Reihen. 1017 


faßfer vor mehreren Jahren herausgegebene ausführlichere 
Lehrbuch, eine in vielen Rückfichten ſchützbare Arbeit, word: 
noch immer in den gelehrten une Norwegens. fowohl 
ald Dänemarks benust. | 

Bor dem Prediger in Ehriſtiania, Wexels, einem | 
fruchtbaren afcetifchen Schriftfteller, find mehrere Er⸗ 
bauungsbücher erfchienen; fen „Andadhtsbucd für 
Das Bol!” Hatfchon mehrere Auflagen erlebt; bei Vers 
anlaffung der Subelfeier der augsb. Eonfefflon gab er eine 
populäre dogmatifch »polemifche Schrift heraus unter dem 
Titel „nase. Bekenntniß, bas mit der Zeit nidt 
wecfelt” Bei dem warmen Gefühle, das überall in 
Diefen Schriften hindurchblickt, und dem gewiß redlichen 
Eifer, der den Verf. zur Schriftftellerei antreibt, ift es zu 
bedauern, daß eine große Befangenheit des Geiftes ihn 
innerhalb des engen Kreifeg einer ftarren Orthodorie unb 
einiger grell ausgeführten polemifchen Gegenfäe gebannt - 
halt. Beſonders auffallend liegt das Verkennen feiner 
Kräfte und feines Berufes am Tage bei dem Unternehs 
men einer Firchlichen Zeitfchrift, Die feit dem Anfange 
Des J. 1833 von diefem Verf. herausgegeben wird, Die 
Rahrung wird kümmerlich aus den 'Difteln und Dornen 
der Polemik in. Dänemark gezogen, und die hier bereitd 
verhallenden Töne der Partheificcht erklingen dort wieber 
in ihrer ganzen Schärfe. Diefer Geift ift es nicht, der .Se- 
gen fchafft in einem Lande, wo Hauge’s Schriften noch im« 
mer in neuen Auflagen das Volk erbguen. — 


| Schweden. 
Encyclopädie und Bibelſtudium. 

Ueber das theologiſche Studium, mit be 
fonderer Rüdficht auf Schweden, von H. Reuterdahl, 
Probſt in Lund. 1832, „Inwiefern das Aufblühen bes 
theologifchen Studiums etwas .Gutes und Erwünfchtes . 
ſey, inwiefern man es fürbern folle und. des Emporkom⸗ 


1018 . . .: Weberfidt 


mens deſſelben fich freuen, auſtatt Heber die Schwingen det 
alten Vogels zu befchneiden, um alle dem dadurch verur⸗ 
fachten Ungemache zu feuern und Eünftig fowohl dieſen 
als dem Fühnen Fluge vorzubeugen: dieß tft eine Frage, 
Die unter den germanifchen Bölkern ſchwerlich irgendwo, 
außer in Schweden, einer Erörterung bedarf.” Diet 
Worte des Berf. geben dem Standpunkt an, auf welden 
er fich geftellt hat, indem er gegen die Behauptungen: 
bie Theologie dürfe auf Den Namen einer felbfiftändigen 

Wiſſen ſchaft feine Anfprüche machen, bie einzehnen Diſci⸗ 
plinen derfelben müffen unter Die verfchiedenen Hauptfäs 
cher der Philologie und Der Geſchichte, dee Philöfophie und 
der Pädagogik vertheilt werden, — die Sache ber theolb⸗ 
gifhen Wilfenfchaft führt. Eine Ueberſicht Der theologi⸗ 
fihen Difeiplinen in ihrem gegenfeitigen Berhäftniffe, ihrem 
Zuſammenhange mit andern Studien, ihrer Bebentung 
für dad gefammte menfchliche Wiſſen and für die Förde⸗ 
zung des firchkichen und des ſtantsbürgerlichen Lebens, — 
it die Widerlegung jener Boruribeile, bie auch da, we ft 
keifer und befcheidener herwortreten, eine Wiberlegung er⸗ 
wünſcht machen. Diefe Ueberſicht hatder Verf. mit Geiſt und 
Klarheit gegeben, und daneben auch über Den wiffenfehaft, 
lichen Zuftand feines Baterlandes anzgiehende Darſtellun⸗ 
gen mitgetheilt; über die Hinderniſſe, Bie dem litterariſchen 
Verkehr und namentlich einem frrieren Schwunge de 
theologifhen Studiums entgegenfichen, ſpricht ſich der 
Berf. mit eben fo großer Wahrheitöliche und Sehnſucht 
nach einem beffern Zuftande, als Mäßigung und Billigfeit 
ans. „ES gibt in Schweden”, heißt es unter Andern, 
„ein in vielen Hinſichten fchönes bärgerliched Gefammtles 
ben, ein noch fchöneres religiöfes Geſammtleben; aud 
hinſichtlich der Kunſt hat man angefangen, ſich unter 
einander Die Hänbe zu reichen; die Belchrien in Schwe⸗ 
den aber, Die Naturforfcher vieleicht ausgenommes, 
find alle Einfiedler. Die Angahl ver wiſſenfſchaftlich ger 








! 


d. theol. Litteratur in-b, 3feamdinav. Reihen. 1018 


Vildeten Menuer iſt Anßerft gering, und dieſe Teben durch 
eine · Entfernung von 60 — 60 Meilen yon einander ge⸗ 
trennt. u Was die Univerſitäten betrifft, fo moͤgen dieſe 
noch fo ziemtich die eine Seite der ihnen obliegendeht Vers 
WHlichtung erfüllen, dem Staate feine Beamten burch Un⸗ 
terricht und Erantination zu bereiten; 'wir wagen es aber 
nicht zu behaupten, dab fie der andern Seite Benüge lei⸗ 
ften, die Hrimath des Wiſſens im ganzen Umfange 
und in der ganzen Vollſtaändigkeit deſſelben zu ſeyn, Mes 
pırbiilen, in denen bie Wahrheit das einzige Prineip, das din 
zige Beftreden, der einzige Endzwed ift, die Wahrheit aber 
in allen Richtungen amd allen Thätigkeiten der intelligenten 
Krüfte, Der Tiefe wie der Höhe, der Weite wie der Breite 
grad, in Der Kunſt und im Reben, wie in ber Abftraction 
und: Sontemplation, Diefed darf von den ſchwediſchen 
Univerfitäten nidyt behauptet werden. Sie finb dafür in 
mehr als einer Hinficht zu arm, zu ſparſam, vielleicht zu 
wenig forgfältig befeßt, zu wenig gewürdigt und ſelbſt ein? 
wiffenfchaftliche Gemeinfchaft zu wenig würdigen®. Man 
fieht bei Denfelben manche Ameife ihr Korn deehin ſchlep⸗ 
ven; aber das Korn wird felten gefammeltz und es ifk 
ſchon gut, werm die Ameifen wicht, nachdem fie ſich behag⸗ 
ich daheim finden, Die Arbeit ganz einftellen, oder ſich 
noch wohl einer Wirkſamkeit hingeben, noch unwurdiger 


als die Ruhe felbſt. — Noch vor wenigen Sahren wußte 


man kaum, DaB es eine auslandiſche Litteratur gebe, noch 
weniger Tannte man die alljährigen Productionen derſel⸗ 
deitz ein glückliches Beftien führte uns einen fremden Büch⸗ 
handker zu: er macht Epoche in der Gefchichte unſers Buch⸗ 
hundels, mithin duch in der: Geſchichte unſerer Kitteratur; — 
die zwrite oder Dritte Generation nach uns wird fidh viel⸗ 
leicht auf dem Mandie- befinden, Den unfre Nachbarn jen⸗ 
ſeits ves Sundes gegenwärtig eimehmen. — Da es mit 
ben Wiffenſchaften im Allgemeinen beiund wenig erfrenlich 
ſteht, Dürfen wir nicht erwarten, daß die Lage der Theo⸗ 


I Pa: us En, z 2 .. 4 


logie gut feyn folle; fie iſt eher ſchlechter als beſſer wie bie 
Lage ber andern Wiſſenſchaften. So iſt es jsedoch nicht 
immer. geweſen. Wie die Könige Schwedens und das 
ſchwediſche Volk ſich ıt Eifer der. Reformation anſchloſſen, 
ſo wurden von den Gelehrten Fortſchritte gemacht in der 
Wiſſenſchaft, die durch die Reformation neues Leben ges 
wann. Im LGten Jahrhundert find wir freilich nicht weit 
vorwärts gerückt. Um jo viel befier aber ward der Zufland 
im 1Iten Sahrhundert. Lanius, Stiggeliug,. Emporagrius 
waren Männer, die zu ihrer Zeit hinter feinem Andern zus 
rückſtanden. Es verfteht fich von felbit, daß fie. als Theo⸗ 
logen größtentheild nur den Forderungen ihres Zeitalters 
entfprechen konnten. Ihre Stärke war eine ſcholaſtiſche 
Dogmatik und eine rüftige Polemik; bie erftere beherrfchte 
ganz und gar ihre Eregefe, Die leßtere ihre Geſchichte; auch 
waren fie in ihrer Dogmatif und Polemik unbewegliche Ris 
guriften. Neuere und freiere Meinungen wagten es nicht 
bas Haupt zu erheben; ber im Geiſte Des Calixt auftres 
tende Johannes Matthia -wurde zum Stillfchweigen ges 
bracht, mitunter auch verfolgt, und der geiftesähnliche 
Tarſarus hatte auch feine Trübfale, ald Folge des Iuthes 
rifch » prthodgren Eifers, der in Schweden, nicht weniger 
firenge als in Dentfihland war. Ein erfolgreicher Impuls 
kam npch hinzu.burch Die, neue Univerfität, Die in Der letz⸗ 
ten Hälfte des ITten Jahrhunderts errichtet wurde in Lund. 
Auch hier traten Theologen auf mit großer Strenge, zur 
gleich. aber mit Kenntniffen, die ‚fie vollfommen würdig 
ihrer Zeit machten. Dieſes Verhältniß in Schweden Dauerte 
bis weit in das 18te Sahrhundert hinein... Daß man nod) 
in der letzten Hälfte deſſelben weit davon entfernt war, ber 
Orthodoxie etwas vergeben gu wollen, erhellt am beiten das 
raus, daß das ziemlich unfchuldigebogmatifche Compendium 
. von Michaelis, nach dem Antrage Des Domcapitels in Upſa⸗ 
la, im Ss. 1763 durch ein Tönigliched Edict verboten wurde. — 
Unter Der Regierung Chriſtian des Dritten fingen Die Sa⸗ 


⸗ 








d. theol. Litteratur ind. 3:fcaabinav. Reichen. 1021. 


chen an eine neue Geſtalt auzunehmen. Franzöſiſche Rhi⸗ 
loſophie und franzöſiſche Wiſſenſchaft wurde als der wort 
zůglichſte Gegenſtaud des Studiums angefehen;. weil aber 
weder die eine noch die andere Religion und Kirche ſon⸗ 
derlich hoch ſtellte, durfte die Theologie auch auf keine be⸗ 
ſondere Achtung rechnen. Die Theologen und die Jünger 
derſelben fanden in ihrer Zeit keine Aufmunterung; ſie be⸗ 
ſchränkten daher ihre Wirkſamkeit immer mehr, bis dieſe 
zuletzt völlig einſchlief. Anſtatt mit offnen Augen ber Zeit 
nachzufolgen, anftatt an ben neuen Arbeiten Theil zu nehmen, 
Die infonderheit von Den dentfchen Theologen angefangen 
nourden, überließ man ſich noch immer einer unthätigem 
Ruhe, in dem Wahne, Daß die alten Zeiten noch fortdauer⸗ 
ten, und daß bie. Keger fich durch die won alter Zeit her. 
fertigen Syllogismen todtſchlagen ließen, oder man betete 
Voltaire an und wetteiferte mit den frangöfifchen. oder 
franzöſiſch⸗ deutſchen Predigern des Nützlichen. Auf. dieſe 


Weiſe verſchwand das Leben aus der Theologie in Schwer 


ben. Da man nur die Wahl zu haben glaubte. zwis 
fchen Freidenferei und einem unbeweglichen Feſthalten au 
dem Alten, und man vor der erſtern Scheu hatte, fo war. 
nur ber andere Ausweg übrig, and man a fich zur Dur 
mit einbalfamiren,” 

: Der Verfaſſer macht ferner. auf verſchiedene äußere 
Berhältniffe aufmerkfam, die nicht. weniger nachtheilig auf. 
bie theolsgifche. Wiffenfchaft: gewirkt. haben: vorzüglich, 
daß die theologifchen Lehrfühle an ben-Univerfitäten durch 
die höhere Befoldung Bewerber aus andern Farultäten 
herbeisiehen, indem, um einen folchen zı erhalten, weiter 
nichts erfordert: wird als ein theologifches Specimen, wel⸗ 


ches bie Kräfte eines mit guten Elementarfiudien ausgerüsr _ 


ſteten Academicus nicht überfteigt; — fadann aber ‚auch, 
daß die theologifchen Facultäten bis quf die neneften Zei⸗ 
ten fo gut ald gar feinen Einfluß auf die Bilbung der künf⸗ 
tigen Geiſtlichen gehabt haben. „Mlerdings war. es vers. 


OR en 


örönet, baß.biefe Unterricht won den Lmiveriktssscheos 
Iogen.empfangen follten s allein Da über die Art und Weiſe 
nichts vorgeſchrieben war, auch Feine Gehfung. bei ben 
Facultaten ſelbſt verordnet, ſondern nur bei den Domea⸗ 
pitein, fo war jener Befehl ohne alle Wirkung geblieben. 
Birle Prediger wurden erbinirt, ohne an irgend einer Uni⸗ 
verfität eine eingige eigentlich theologiſche Borlefung ges 
hoͤrt, oder:eine einzige theologifche Frage ‚beantwortet zu 
haben. Durch die Errichtung der Seminarien wurde beis 
aahegar Feine Szülfe gegeben. Diefe Anſtalten waren ihr 
rer Natur nach bloß praktiſch; unb wenn fie auch in prak⸗ 
siicher Hinficht von Einfluß waren, fo blieb biefes auf bie 
Theologie als Wiffenfchaft ohne Wirkung. Es müßte dem⸗ 
auch wohl zugegeben merben, daß der theologiſche Unter⸗ 
richt ſchwerlich ſchlechter organifirt ſeyn könnte, als es im. 
Schweden der Fall war, und daß bie ziemlich zahlreich 
und koſtbar beſetzten theolog. Facultäten nicht, wie man es 
häste erwarten können, Die Leiter. Diefes ‚Unterrichts ſeyn 
konnten. Dirfes it von dem Berf, weiter ausgeführt wor⸗ 
dan in.einem befondern Auffage: „Das Seminarium 
in Rund; Hiſtoriſche Ueberſicht“ Cihesl. Quar⸗ 
talſchr. 188Ä, 4, 5). Das Unzureichende ber, jetzt aufge⸗ 
hobenen, Paftorals Seminarien ift hier gezeigt, daneben 
uber auf. die Ausſicht hiugewirſen zu einem erfreulicheen Zus 
ſtande der Theologie, als Folge der. fönigl. Berordnnungen 
som 12. März und 17. September 1831, dudch welche fl 
ein volfländiger theologiſcher Curſus Em jeden angehen 
bes. Prediger angeordnet Hl. — 

Das Neue Teftament, mit. einer Borrede des 
weit, Probſten Schar tau, nebſt Barallelfiellen und 
Erläuterung der veralteten vdenungewöhnlichen Wör⸗ 
ter und Aus drucke. 1030. Der Text der Ueberſetzung aus den 
Selten der Reformation iſt hier wiedergogeben, und zwar 
sit. :der- ſorgfaͤltigſten Genauigkeit: dieſes Unternehmen 
mag feine: Seite haben, indem es nicht zu 








24 — 5 — 


se N me 8 


-r 
ce | 


sn 


vn 2 GE TI Eu 


u. in u TUE a 2 Si > 


d. theol. Litteratur in d. 3 ftaadinav. Reichen. - 2023 


billigen ift, wenn in verfchkebenen ſpatern, zum Theil von 
ber englifchen und der fchwebifchen Bibelgefellfchaft verans 
flalteten, Ausgaben der h. Schrift das Bibelwort nach 
Gutbünfen geiubert worden it. Indeſſen iſt eine Ueber, 
ſetzung des N. Tefk., die, um einigermaßen verſtändlich zu 
werden, eine Elavis auf 22:Seiten nöthig hat, immer ein 
Uebel; und fo wırb man von zwei verſchiedenen Seiten 
anf bie KRothwendigbeit einer von Seit zu Zeit erneuerten 
Neviſion Der autoriſteten kirchlichen Ueberſetzung geführt. 
Paraphraſe des größten Theils des N.T. 
mit Einleitungen und LAnmerkungen, von Dr. Dedma un. 
1832. Der Bf. war ehedem Prof. d. Theol. in Upfaln, und 
das Werk iſt nach ben Heften feiner Znhörer herauſgege⸗ 
ben, aber ohne die gehoͤrige kritiſche Sorgfalt. Buch in Diefen 
unvolikommenen Geftalt erfcheint inbeffen biefe Arbeit ad - 
Die Frucht grünblicher philologiſcher Forſchungen und eines 
fcharfen und feinen eregetifchen Blided; fie mag zu den beften 
Hilfsmitteln dieſer Art gum Berktändniß Des R. T. gehöre, 
Der Briefan Titus erläutertvon Dr Rens 
terdahl, Probſt in Lund. 1881 (theol. Quartalfchr. 3, 
3). Die eregetifchen Erläuterungen find den akademiſchen 
Vorkefangen bed Verf mähzend einer Bacanz zum Grunde 
gelegt worden, und empfehlen ſich für biefen Gebrauch 
durch gefundes Urtheil, Klarheit der. Darftellung und 
zwedmäßige Auswahl des MWichtigern. Tiefer gehende 
Unterſuchungen im Einzelnen fcheinen nicht in dem Plane 
des Berf, gelegen zu habens auch fehlte ed dazu, wie aus 
dem Vorworte erhellt, an dem erforberlichen Apparate. 
Die Frage über die Authentie der Paſtoralbriefe 
hat ber. Verf. eier erneuerten Unterfuchung unterworfen 
bie Refültate derfelben find folgende: „An der Anlage und 
Ausführung dieſes Briefes findet fich eine Einfachheit und 
Klarheit, in dem Gebantengange und der Gompofition 
eine Freiheit und Leichtigkeit, iu dem Ausdrucke und Styl 
eine Richtigkeit und Genauigteit, bie nieht paulbiriſich 





1028. | neberſicht 


iſt. Wir berufen uns auf den ganzen vorhergehenden 
Commentar. Dagegen vermiſſen wir bie Kraft, bie Tiefe, 
ben eigenthümlichen und bedeutungsvollen Reichthum, Die 
fo unverkennbare Kennzeichen ber pauliniſchen Schriften 
ſind. Dieß alles macht es uns bedenklich, Paulns als den 
Verfaſſer anzuſehen. Auch macht das Verhältniß unſers 
Briefes zu dem erſten an den Timotheus ed beinahe uns 
möglich, Daß beide Briefe denfelben Berfaffer gehabt haben. 
Ein Berfaffer pflegt .nicht füch felbft zu copiren, und wenn 
er ed thut, fo wird.er es ganz anders thun, als der Verf. 
des Br. an Tim. den Brief an Titus copirt hat. Wir ges 
ben alfo von Eichhorn ab, der die Paftoralbriefe alle ans 
Demfelben Urfprunge herleitet. Die paulinifhen Briefe 
haben ein beflimmtes Gepräge, und find gleicdfam Die Ty⸗ 
pen ber übrigen, Unter dieſen liegt der. Titusbrief ben 
pauliniſchen am nächiten; er ift in dem Geiſte Derfelben 
verfaßt, wenn auch nicht mit Des. Kraft derfelben ; entfern⸗ 
ter fteht der erite Brief an Timotheud. — Was die Ges 
fchichte des Paulus betrifft, fo leugnen wir nicht die Mög⸗ 
lichkeit, daß fich. in derfelben eine Stelle für unfern. Brief 
ausfindig machen läßt; was mir aber leugnen, iſt dieſes, 
daß die Gefchichte Des Paulus, wie fie vor und aufgeſchla⸗ 
gen liegt, die geringfte Beranlaffung zu der - Meinung ents 
hält, daß Paulus Verfafler des Briefes an Titus fey.” 


Syſtematiſche Theologie. 

De articulis fidei primariis, von J. H. Tho⸗ 
mander (Getzt Prof. d. Theol. in Lund), 1830, Als 
Hauptartikel werden die Lehren anzuſehen ſeyn, die ſich 
durch die Gewißheit, womit ſie ſich in der h. Schrift nach⸗ 
weifen laſſen, durch ihre Unentbehrlichkeit zu der Vollſtän⸗ 
digkeit des Lehrgebäudes und Durch Die Art, wie ſie ſich ges 
geufeitig beweifen, von den übrigen unterfcheiden. Es 
wird. gegen jeden Verſuch gewarnt, die chriftlichen Haupt⸗ 
lehren ohne hinreichende Beachtung bed Lehrtropus Ehrifi 


d. theol. Litteratur ind, I-feamdinav. Reichen. 10023 


und der Apoſtel und bes gegenfeitigen Verhaltniſſes der 
einzelnen Lehren aufzuſtellen, ſo wie gegen, die Anſtcht, va 
apoſtoliſche Symbol. ſey als Inbegriff der articuli’primarli 
anzuſehen. Der Berf. unterſcheidet ferner..bie.art:. als o+ 
Aute primarii (welche das Ehriftenchum: Mit: andern. Reli⸗ 
gionen gemein hat), uud Die relative primarii,; durch 
weiche -fidr das Ehriftenthum von andern Religtanen eb 
terfcheibet. Das Nefultat der eben :fo fcharffinnig ;als:im 
chriſtlichem Geiſte fortgeführten Unterfuchuugen it dieſes 
Daß die Lehre, Jeſus 'ift Ehriftus, Das Hauptmoment der 
Lehre Ehrifti und der Apoſtel, mithin ar — 
Adei zu betr achten ſey Ve | en 


: . : le I. %: 

2) Diefe Särift-pat eine genifle litterars hiſtoriſche Merfwürbigleit 
erhalten. Zunächſt war fie als specimen eruditionis bei der Bes 
werbung um eine erledigte Profeffur in Lund Herausgegeben, nebft 
drei andern Schriften: de allegorica Bibl. interpretatione ext 
mente.Origenis— de parallelismo prophetarum quoranden V, Fi 

— de animi immortalitate ex scriptis V. T. probata (die Weefl 
find: ber Probft Kahl, die Docenten Theſtrup und Patterse 
fon). Die theol. Facultät 'entfchied fih für’ die thomanderſche 

° Schrift, die niht=theologifhen Mitglieder des Confiftoriums aber, 
". denen nach deni Seſetze ein eben fo "gültiges Votum zuftcht, sets 
Härten ſich für bie Sleichſtellung fänimtliher Arbeiten. : Dab. Mry 
theil der Bacultät wurde. jegt von den Hrn. Kahl und. Pattęrs⸗ 
ſon heftig angegriffen. Dieſe war eben damals durch mehrere 
eingetroffene Vacanzen auf Ein Mitglied reducirt, weldyes ſich der! 
anlaßt fab, ſich an bie theol. Faeultät in Kopeübagen zu - menden; 
und ſich ein Refponfum Über ben wiſſenſchaftlichen Gehalt der’ in 
Grage fiehenden Schriften auszubiiten,; die kapenhagener Facujtq 
erklärte fi nicht fowohl mit der früheren Beurtheilung einyer⸗ 
ſtanden, als vielmehr, daß bei den drei Übrigen Schriften Yon’ eis 
nem wiſſenſchaftlichen Charakter keine Rede ſeyn könne. Die neue 
Richtung, welche jest der Polemit gegeben wurde, und’bie ver⸗ 
ſchiedenen Waffen, deren ſich die gereisten Gemüther bebienten, zu 
charakteriſiren, würde nicht hierher gehören, und eben fo wenig,, die 
F drei erwähnten Schriften näher zu berühren; fie unterfcheiben ſich 
in keiner Hinſicht von einer ſehr großen Anzahl akabemiſcher Difs 
fertationen, bie bier wegen ihrer gaͤnzlichen ne ur 
bedeutenheit frill ſchweigend Übergangen. werden.. 0. 


so u . 
I 8. vr, 29 « .r‘ rn 0_ 
ONE in in Aubeiſicht 


u. Paralleſſtellan zur chriſtlichen Gittems 
uud Gtanbenslehrenusg den Schriften des 
Haffifhen Heidenthums, von. Thomanber, 
1683ki thread. Muartalſthe. 16, Hu). Kür den in jenes Echxrift 
burchgefuͤhrten Sagt: daß bie Kchre von Jeſus als beim von 
Gt gefanbten,; zum Stile der Menſchheit leiüdeuden, Meſ⸗ 
find wie Haupelehte bes Chriſtenthums fen »- dat ber Berf. 
hier: ainen Furbfidiiren Beweis geführt, Indem dire Uns 
führudngen and: den griechiſchen nub rbmiſchen Eleſſttern 
Dutgethan' wire: . „vab ſich vom allen übrigen Schwen bei 
Ghriftenthams theils deatliche Ahndungen theild vollkom⸗ 
men ausgeführte Vorſtellungen in dem elaſſiſchen Heiden⸗ 
thume finden.” Die mitgetheilte Blüthenſammlung ift fehr 
reitätyattig, und gibt allerdings einen wichtigen Beitrag zur 
Berichtigung mancher Vorurtheil. Daß übrigen ber 
Gedanke an eine Bleicjftellung des Chriſtenthums mit ben 
vorch viſtlichen Religionen und Weisheitsſchulen dem Verf. 
vollig fremd iſt, wäre wohl uüberftuſſtg anzumerken, und eben 
ſo, daß bei kiner Anerkennung des wahren Verhältniſſes 
des Chriſtenthums zu den frühern Bildungsmomenten der 
Menſchheit ſolche Anfänge aus dem fernen Alterthume nur 
erhebend auf bag Gemuth einwirken Pünnen. „Es tft Feine 
Verfeinerung ber Wärbe der chriſtl. Wahrheiten, wenn 
man biefelben in die Anſi chten erleuchteter Heiden aufge⸗ 
nommen ſieht; denn die Würde einer Wahrheit beruhet 
auf der Wahrheit ſelbſt. Die Wurde des CEhriſtenthums 
aber als Anſtalt iſt durch ihre Wirkungen sur Verherrli⸗ 
chung der goͤttlichen Vorſehung ſo erwieſen, daß alle Zeus 
gen Dagegen ſchoni im voraus ſi h als falſche Zeugen ver 
— a 

— Einteitung im "Die Morsttheofegie, von Dr. 
9— {mäsn, Prof. d. Theot. in tund, 1832 (theol. Quar⸗ 
kakfchr, 2.38..9.). Eine biblifch = philofopbifche Erörterung 
Der eshifchen: Yanbamtental s Begriffe: Freiheit — Geſetz — 
Pflicht — Recht — Gewiffen — Tugenivmubafter — Zurech⸗ 


d. theol. Litteratur in htz ſtaudinav. Reichen. toM 


naung u. fie: ; zugleich iſt auf das kirchliche Oyſſen Ruchicht 
genonmen. Unbrefangene Freiſiunigkeit und wiſſenſchaftliche 
Muchöilenng des Geiftes, mit eruſthaft religtoſem Sinu 
verbunden, machen dieſe Unterſuchungen ſehr ſchätzkar. 

Bornaunſteund Offenbarung) Ir Theil, von 
Dr; Bergquiſt, Proͤf. d. Theol. In Lund 188%: Diefer 
Band fuͤhrt auch den Titel: einer theologiſch⸗pſychologi⸗ 
ſchen Unterſuchung über die Grundvermögen des Mens 
ſchen. Die Tenbenz dieſer Unterſuchung wird ſich am bes 
fax aus: folgendem Selbſtbekenntniß erkennen laſſen e,Es 
war eine Zeit, da er:cber Verf.) glaubte, auft dem Wege 
Des Sperulation.die Loſung ber Rathſel des Lebens finden, 
ans de: eigenen Ideen der Vernanft ein Wiſſen eonſtru⸗ 
- ven zu konnen, groß und umfaſſend genug, um unter duße 
felbe alles andere zu ſubſumiren, da er glaubte, eine reinẽ 
VBernunft⸗Religion gefunden zu haben, auf welche ſich alte 
yortive Formen ſollten zurückführen laſſen ats mehr obesß 
weniger anvolllommene Abſpiegelungen: des reinen Ut⸗ 
typns; — auf eben dieſem Wege der Speculation Hier gu 
dem Glauben an die Offenbarung in dem alten, Lechten 
Sinne derſelben zurückgekommen, zu ber Ueberzeügung von 
Dev darauf gegrünbeten Lehre, die ev befainttt: 7: Judem rin 
Bet: Berf, dieſen Weg auch andern ernſthaft und redlich ford 
fehenden Chriften zeigen will, hat er fi die Aufgabe Hed 
ftellt, einerfeitd die Vernunft „nicht ald von der Offenba⸗ 
rung ifolirt darzuftellen,; ſondern albvdurch das Licht Ders 
ſelden erdeuchtet und: dadurch allein ihrem Namen :und ihs 
zer Beſtimmung entiprechend,. anbererfelis bie Yihlköfow 
phie in mmabhängiger Eriflänz von dei Theologie zu Dei 
haupten, indem dieſe „frei and ſelbſtſtändig die im ver Of⸗ 
fenbarung::gugebene ZUNE der Wahrheit erkennen, auffaſ⸗ 
ſen und ſech zurignen fo.” In der Löfnfig- biefer Aufgabe 
Fönnen: wir den Verf. hier nicht weiten falgen, um fo: we⸗ 
niger Als os dei den: eigenthümlichen Behandlungsweiſe 
des Verf⸗ oft ſchwer hält, ſich und. Anden aber: vie Ge⸗ 


ODE 5 ueberſich 


danken? hes Verfs. beſtimmte Recheuſchaft zu:geben: Die 
Phantaſiehat bei dem Verf. ein entſchiedenes Uebergewicht; 
im Bunde mit einem tiefen religiöſen Gefühle wirkt dieſe 
oft augiehend und anregend; aber die poetifch » chetorifche 
Sprachweiſe ermüdet nach und nad, und erregt mitten in 
dem: Reichthume einer überſchwenglichen Myſtik eine Sechs 
ſucht, die unbefriebigt bleibt, nadı. einem einfachen Worte, 
‚einer firengern Gedankenform, nach Kar ausgefprochenen 
Refultaten ber weitläuftigen Erörtenungett. 
‚Ueber das Verhältniß ber Bernunft zur 
Dffenbarung, 1833 (Standia, 1x B.). Diefer am 
nyme Auffap iſti zunächl gegen Th o.In dd gerichte, 
als Kritik. einer ebenfo überfshriebenen Abhandlung dieſes 
Theologen, die ind. Schwedifche überfegt if. Den Haupt⸗ 
momenten .biefer Abhandlung hat der Verf. feine Anſich⸗ 
ten. über. die Streitfragen gwifchen ben Rationaliften und 
den ‚Supernaturaliften, über ben Begriff des Rationalis⸗ 
maus, die intellectuellen: Bermögen bes Menfchen, und die 
Gründe fiir die Wahrheit und Göttlichfeit einer Ofieabas 
rung entgegengefett. . Diefe. Betrachtungen verrathen ei 
nen gründlich prüfenden und heil bentenden Geiſt, erre⸗ 
gen. aber zugleich den Wunfch, daß. der Verf. diefelben 
fortgeführt hätte, a Die : — aa feſtzu⸗ 
— Sr La 


— Hiſtoͤxiſche Tyeslogie en 
Amsgar ins oder die Grändung des Chris 
Bantnumd in Schwehen' Bon: Reuterbabl, 
Prohſt in Lund. 1830, Etheol. Quartalſchr. 2-48 9.). 
Eine; gehaltreiche Schrift, und zwar weiteren Umfanges, 
als der Titel vermuthen läßt; benn der Erzählung von 
her. Einführung des Ehriftenthums in Schweden ift nicht 
une eine: lcherficht der wichtigern Momente aus der Als 
tern Geſchichte Schwebens. vorausgeſchickt, ſondern auch 
eine Darſtellung des Landes während des achten, ‚neunten 


d. theol. Litteratur in d. 3 ſcandinav. Reichen. 1029 


und zehnten Jahrhunderts. Das Berhältniß der älteſten 
Bevölkerung Scandinaviend zu den germanifchen Bölfern 
wie das gegenfeitige Verhältniß der verfchiebenen ſchwedi⸗ 
ſchen Völferftämme, die Nationalität derfelben nach ihren 
öffentlichen und häuslichen Leben, die Hauptzüge Der Res 
ligion und des Eultus derſelben u. dgl. m. machen ben 
Inhalt dieſer Unterfuchungen aus, die ſich durch gründlia 
ches Quellenſtudium und Eritifche Benutzung des reichen 
. Apparat eben fo fehr als durch Fernreiche Darftellung 
empfehlen. Der. Berf. äußert, wie er lange den Gedanfen 
bei fich genährt habe, den Verſuch einer Kirchengefchichte 
Schwedens zu wagen; das hier gegebene Fragment vers 
fpricht der theologifchen Litteratur aus der Realifirung 
dieſes Gedankens eine überaus. wichtige Bereicherung. 
Ebenderfelbe DBerfaffer hat feinen Beruf zum Kir⸗ 
chenhiftorifer noch Durch andere Arbeiten bewährt: 
Bruchſtücke ausPBorlefungenüber dienen 
ere Kirchengeſchichte. 1832 Ctheol, Quartalſchr. 18 
HJ): die Gefchichte Nicolaus. des Fünftenund Sas 
vonarolas,als Beitrag zur Darfielung des wiflenfchafts 
Vichen und kirchlichen Lebens in der Zeit, welche der Res 
formation zunächſt voranging — und: die Grundles 
gung ber hriftlihen. Kirche in dem ſüdlichen 
Schweden durch den H. Siegfried, 1833 (Stans 
dia Ar B.). Nach den isländiſchen Urkunden war diefer 
Siegfried. oder Sigurd Bifchof. ded norwegifchen Königs 
Oluf Trygvafon, welcher in der Schlacht bei Svolder 
ums Leben fam, im 5. 1000 nach den ſchwediſchen Urkun⸗ 
ben Erzbifchof zu York; beide aber flimmen. darin übers 
ein, daß er als. Miffionair nad) Schweden herüberging, 
wo er den König Dluf Skötkonnung taufte, die. Einwoh⸗ 
ner in Weſtgothland und Smaaland zum Chriftenthum 
befehrte und den Bifchofftuhl in Wexiö gründete, den Als 
teften in Schweden. Der Berf. entfcheidet he a was bie 
Theol. Stud. Jahrg. 1834, 


100 Nebetſicht 


Perſon des H. Siegfried betrifft, für die. islaͤndiſchen Ur⸗ 
kunden. 

Lebensbeſchreibung des Erasmus vou 
Rotterdam, von J. Thomäus, königl. Hofprediger. 
1830. Die Schrift darf auf eigentliche Originalität nicht Ans 
ſprüche machen; ber Verf. begieht fich, anftatt der Schriften 
bes Erasmus und anderer gleichzeitiger Schriftiteller, auf 
fpätere Biographen, namentlich auf die Burigny’fche Bios 
graphienad; der Bearbeitung Henke's. Indeſſen fehlt es Dies 
fer Nacharbeitung nicht an eigenthümlichem Werthe; die 
Vorarbeiten find mit verftändiger Umficht benußt; die Beur⸗ 
theilung des Erasmus und feiner Stellung zu dem gan 
zen Zeitalter ift meiftend richtig und treffend, und Die Bes 
‚handlung des gefchichtlichen. Stoffes gewährt eine -belch- 
rende und anziehende Unterhaltung. 


Praktiſche Theo logie. 


Die ſchöne Litteratur der ſchwediſchen 
Kirche, von P. Wieſelgren. 1833. Dieſe wichtige 
and inhaltsreiche Schrift iſt der erſte Theil eines größe⸗ 
ren Werkes: die ſchöne Litteratur Schwedens, welches nod 
außerdem die ſchöne Litteratur der Kunſt, der Wiſſen⸗ 
ſchaft und des bürgerlichen Lebens umfaſſen wird. Die 
kirchliche ſogenannte ſchöne Litteratur iſt in die lit ur gi⸗ 
ſche und pſalmodiſche und die bibliſche und 
homiletiſche getheilt; unter beiden Rubriken werden 
nach verſchiedenen Epochen die wichtigern Erſcheinungen 
namentlich aufgeführt und charakteriſirt; auch Proben 
werden mitgetheilt, und mehrere alte lateiniſche Pſalmen 
von Ueberſetzungen begleitet; von den Meßbüchern des 
Mittelalters wie von den vor⸗lutheriſchen Bibel⸗Para⸗ 
phraſen und Poſtillen ſteigt der Verf. der Reihe nach bis 
zu den neueſten Arbeiten auf dem Gebiete der Liturgik und 
Homiletit hinunter. Ueber bie litterärbiftorifche Vollſtän⸗ 
digkeit und über Die Würdigung der Gegenftände im Eins 


d. theol. Litteratut in d. 3 feandinav. Reichen. 1031 


zelnen kann dem Ref. Fein Urtheil zuftehen. Der geiftreiche 
Entwurf aber und der theologifche Charakter ded Buches 
im Allgemeinen läßt filh in aller Kürze bezeichnen. Durch 
ſechs Epochen wird die Leberficht ber kirchlichen Litte⸗ 
ratur hindurd geführt. Es find folgende: 1) die des 
Katholicismus (1000—1520). Princip: das Chris 
ftenthum ift fchöne Kunft. Verwechſelung des Sinnes für 
das Schöne mit dem Glauben, 2) Die ber Neformas 
tion (1520 — 1600). Princip: das Chriftenthum iſt 
nicht fchöne Kunſt. Begründung in dem Worte Gottes, 
aber noch ohne Feſtſtellung eines beftimmten Ausdruckes 
für den gemeinfamen Glauben. 3) Die des Symbolis 
cismus (I60O0-—1700). Prineip: das, Ehriftenthim if 
eine Wiffenfchaft. Aus Eifer für die Wahrheit, Entwides 
Iung eines neuen Scholafticismus; Berwechielung des 
Dogmatifchen Wiffens mit dem Glauben. 4 Die des 
Dietismus (1700—1770). . Princip: das Chriftens 
thum ift Feine Wiffenfchaft. Ein lebendiges Ehriftenthum, 
fich im proteftantifchen Myſticismus entwidelnd; Verwech⸗ 
felung der frommen Rührungen mit dem Glauben. 5) Die 
Der Neolsgie ATTO-109, Princip:. das Chriſten⸗ 
thum ift eine Tugendlehre. Ausbildung des Chriſtenthums 
nach der Idee bes fittlich Guten; Verwechfelung der Tu: 
gend mit dem Glauben. 6) Die ded rationellen Sus 
prauaturalismus (1800 —....). Princip: das Chris 
ſtenthum iſt keine Tugendlehre. Noch bevorſtehende po⸗ 
ſitive Entwickelung, jener Negation entſprechend. „Iſt 
nicht alfo — fügt der Verf. hinzu — die Bahn durchge⸗ 
macht, auf welcher der natürliche Menſch es verfucht hat, 
das Chriftenthum nach den Grundideen des menfchlidyen 
Geifted zu conftitwiren? Sind wir nicht Durch theuer ers 
Sanfte Erfahrung belchrt worden, daß das Chriftenthum 
weder fchöne Kunſt noch Wiflenfchaft noch Tugendlehre 
iſt, daß der Glaube mithin weder in dem natürlichen Sinne 
für Schönheit oder Wahrheit oder Recht befteht? Sind 
| 67 * 


1032 | Ueberſicht 


nicht bie Pharifäer des Katholicismus, bie Schriftgelehr⸗ 
ten bes Symbolicismus, Die Sadducäer ber Neologie jekt 
deutlich genug von Jeſus und feinen Süngern gefchieben? 
Soll man etwa dieß nicht einfehen und ebendenfelben Cir⸗ 
kelgang beginnen, oder fol man beherzigen, was die Gläu⸗ 
bigen zu allen Zeiten behauptet haben, daß das Chriftens 
thum etwas Geiftiges ift, die Einſicht umd die Kräfte des 
natürlichen Menfchen unendlich überfteigend, über Kunſt 
und Wilfenfchaft und Tugendlehre erhaben, wiewohl es 
von dem Sinne bed Schönen, des Wahren und des Rech⸗ 
ten aufgefaßt und ausgebildet werden fann?” u. |. w. 

Jeſus aus Nazareth. Berichte aus den Evans 
geliften für gebildete und ungebilbete Ehriften,' von J. 
Thomäus, königl. Hofprediger, 1831. Die evangelis 
fhen Erzählungen find durch facherflärende Anmerkungen 
erläutert und mit Betrachtungen erbaulicdhen Inhalts be⸗ 
gleitet, bie Durch den Geift chriftlicher Frömmigkeit nnd 
eine würbige Sprache das Gemüth anfprechen. 

Unter den fehr zahlreichen, dem Geifte wie dem Wer⸗ 
the nach fehr verfchiedenen Beiträgen zur afcetifchen Littes 
ratur möge ein Verzeichniß ber vorzüglichften homiletifchen 
Schriften hinreichenz; zu dieſen gehört vor allen die, in 
drei Theilen herausgefommene, Sammlung von Pre 
Digten für alle Sonn⸗ und Fefltage des Sahres, von 
Dr. 3. Aaftröm (1829 —31)5 ferner: Predigten und 
Beichtreden von Lic Bergmann, Lönigl Hofpredis 
ger (1833). — Für Arme und Reiche, nady ber heis 
ligen Schrift (d. h. Entwidelung der Anfichten ber heilis 
gen Schrift von Armuth und Reichthum, auf die verfchies 
denen Berhältniffe des Bollölebens angewendet), von Dr. 
Franzen (1833) — Predigten und Abend 

mahlsbetrahtungen, 2r. Th, vor. P.Gagnen 
königl. Hofprediger 1830). — Predigten und Abends 
mahlsreden, von Dr. Thomander (1890) — Ent⸗ 
würfe zu Beichtred enund Wochenpredigten, 








d» theol. Litteratur in d. 3 fcandinav. Reichen. 1033 


von H. Schartau, nad dem Tode bed Verfs. heran 
gegeben (1832). — Religionsreden, Ir. Th., von 
dem Bifhof 3.0. Wallin (1831). 

Ein zwedmäßiges Hälfsmittel für den Unterricht'ber 
Jugend in den Volksſchulen ift die Biblifche Geſchich⸗ 
te, aus ber heil. Schrift gezogen, von U, Lundgren 
(1830). Diefe Schrift iſt von der koönigl. Gefellfchaft 
für Die Beförderung bes wechfelfeitigen Unterrichts mit dem 
ausgeſetzten Preiſe belohnt. | 

Bon dem, durch eine dazu ernannte Commiſſion aus⸗ 
gearbeiteten, im J. 1828 im Drud erfchienenen, Ents 
wurfe zu einem Kirchengeſetze und einer Kir, 
chen ordnung für Schweden, ift früher fchon in Dies 
fer Zeitfchrift die Nede gewefen, auch von einigen durch 
benfelben veranlaßten weiteren Discuſſionen. Diefe find 
auch in ben legteren Jahren fortgefegt worden; zu ben 
wichtigeren unter biefen gehören folgende: ein anonymes 
Bedenfen über den Entwurf u.f. w. (1830). — 
©. D. Dellben: Prüfung des Entwurfs u. f. w. 
(1830) — ein Artikel in der ekkleſiaſtiſchen Zeits 
fhrift (1831). . 

SHinfichtlich der periodifchstheologifchen Titteratur ift 
Das Aufhören der zwei, jeder in ihrer Art fchäßbaren, 
Zeitfchriften: Efflefiaftifche Zeitfchrift von Rogs 
berg und Winbom herausgegeben, und Theologi⸗ 
Ihe Quartalfchrift von Neuterbahl und Tho—⸗ 
mander herausgegeben, fehr zu bedauern. Wenn jene 
zur Belebung der Paftorallitteratur und zur Förderung 
bes Firchlichen Lebens wohlthätig gewirkt hat, fo hat fich 
diefe m eine neue Geſtaltung ber theologifchen Wiſſen⸗ 
fchaft große Verbienfte erworben; ‚die Impnife, die in 
diefer Hinfiht vorzüglich von den Iund’fchen Theologen 
ausgegangen find, haben an vielen Orten Anfioß erregt 
und den Geift der Oppofition gewedt; fie ſtehen aber mit 
den Bewegungen und den Fortfchritten der Wiffenfchaft in 


1034 Uebetſicht d. thkol, Litt. in d. 3 fcand. Reichen, 


der übrigen theologifchen Welt in zu inniger Verbindung, 
als daß nicht auch in Schweden ein freierer und Fräftigerer 
Auffhwung durch fie herbeigeführt werben ſollte. — Für 
das Berfiummen jener Organe darf in zwei fpäter entftans 
denen „chriſtlichen Monatsfchriften” kein Erſatz gefucht 
werben; bie eine, „der Bote” genannt, fcheint auf 
Seine bedeutende Wirkſamkeit Anfpruch zu machen, wäh> 
rend die andere, „ber Seher,“ durch ſchroffe Einfeitigs 
keit und polemifched Poltern Bedeutung zu gewinnen fi 
beftrebt. Dagegen bieten fich, für die Theologie wie für 
die Wiffenfchaften überhaupt, erfreuliche Augfichten Dar 
durch die Bereinigung verfchiedener namhaften Gelehrten 
gu der Redaction einer. Zeitfchrift „Standia,” und einer 
„Zeitung des fchwedifchen Litteraturvereing;” 
der Gehalt des bisher Geleifteten (oom Anfang des Jah⸗ 
res 1833 an) verfpricht dieſem Unternehmen einen bedens 
I renden Einfluß auf bas wiſſenſchaftliche Leben in Schwer 
| den, — 


In den Theol. Studien und Kritifen, Jahrg. 1834. 3, H. in der 
literär. Meberficht der Pädagogik ꝛt. find folgende Drudfehler zu 
» verbeffesn : =” 
f &. 695 3. 9 fi. Cara deus L, Gavabenc, . 
— 700 3. 11». u, I. Ratichs. 
— 702 3. 12 v, o. iſt an wegzuftreichen. 
— 705 3. 18 muß heißen Donquiroterie. 
— 103.2 fr eslfie - 


L} 2 ee u ——— 
| i ) 


Anzeige-Blatt. 


SIEIDEIBSEDE EB BES 


Im Verlage von Friedrich Perthes ift erfchienen: 

Johann Weffel, ein Vorgänger Luthers. Zur Charac- 
teriftit der chriftlichen Kirche und Theologie in ihrem 
Uebergang aus bem Mittelalter in die Reformations⸗ 
zeit, von Dr. E&. Ullmann. gr. 8. 2 Thlr. 9 gl. 

Diefe Schrift will nicht nur einen ausgezeichneten, um die theo= 
logiſch⸗ kirchliche Fortbildung hochverdienten Mann in frifcheres Andens 
ten und zu allgemeinerer Kenntniß bringen, fondern in diefem Manne 
auch eine großg in der neueren geiftigen Entwidelung Europas höchſt 
einflußreiche Zeit, die Uebergangsperiode von ber Schalaftif zur Mo. 
formation, von theologiſcher Seite eindringender ı 
fhildern, als es bisher gefcheben if. Ein Mann, 
dem Geiſte Luthers fo Übereinftimmt, daß es ſcheinen 
Luther alles aus ihm gefhöpft, und von dem Lutfı 
zeugt, muß uns fchon für ſich felbft wichtig feynz; ! 
er zugleich Repräfentant einer bedeutenden kräftig n 
firebung eined ganzen Zeitalter if. Deßhalb wir 
und umfafiende Erneuerung feines. Andenkens, wel 
gibt, Feiner weiteren Empfehlung bedürfen. Von bef 
dürfte auch die ausführlide Schilderung der Inſtitu 
men Leben feyn, von denen in einer Beilage gehant., wies 


D. Ernesti Theoph. de Bengel Opuscula acade- 
mica,edidit indicesgq. adiecitM.I.G. Pressel. 

‚ Rad) einem Zeitraume von 8 Jahren feit dem Hingange des ner: 
ewigten Prälaten D. v. Bengel in Zübingen erfcheinen hier feine 
fämmtlichen academifchen Gelegenheitsfchriften, eine angenehme Erſchei⸗ 
nung, wie wir hoffen, nit nur für die nicht geringe Zahl von Freuns 
den und Verehrern deffelben, fondern auch für Alle, welche bie Erzeug⸗ 
niffe eines klaren und befonnenen, auf eine reiche Gelehrfamkeit und 
ein reife Urtheil geftüsten Forſchungsgeiſtes voll tiefer - Ehrfurcht 
vor Religion und Chriſtenthum und heller Darftellungsgabe zu fchäs 
gen wiflen. Ausgerüſtet mit einer eben fo innigen Liebe zu feiner 


Wiffenihaft, als mit natürlicher Klarheit und Schärfe und aus einer, 
wie fie fonft immer beurtheilt werben möge, unläugbar gründlichen 
und der ernften Srforfchung der göttlichen Urkunden huldigenden Schule 
Bervorgegangen, lag ihm die Bildung einer unbefangenen felbftftändis 

a Anfiht an, wobet er denn aber eben fo ferne war yon dem Stre⸗ 

n, nur in Neuem fi zu gefallen, als. ihm die flarre Anhänglich⸗ 
keit an das Hergebrachte etwas völlig Fremdes war. Nicht blos Ichäßs 
bar für ihre Zeit, auch ungeachtet fo mancher werthuollen Arbeiten 
nach ihrer Erfcheinung noch von Werth, werben daher die Beiträge 
feiner Inauguralbiffertation zu den Ginleitungen in bie. Pfalmen, eine 
fhägbare Zufammenftellung voll Ordnung und Lit feine vergleichens 
den Abhandlungen über die Unfterblichkeitälehre, und jene, wie andre 
feiner Selegenpeitsfchriften ein ſchätzenswerther Beitrag zur Eregefe 
des alten und neuen Teſtaments bleiben, Mögen Anfidhten und Sy 
Er mit ihrer Zeit vorübergehen, was aus ernfler und gründlicher 

orfhung hervorgegangen ift, wird nicht nur allezeit die verdiente 
Anerkennung finden, fondern auch feinen fortwährenden feegensreichen 
Beitrag zur Ermittlung der Wahrheit und zur Förderung fidherer 
und tühtiger Studien Andrer und namentlich der jüngern Freunde 
der Wiſſenſchaft geben. Ihnen befonders dürften diefe Abhandlungen 
eines eben fo philoſophiſch, als hiſtoriſch und philologiſch gebildeten 
Forſchers ben achten Weg bezeichnen, N 


Geſchichte Fr Innocenz des Dritten und feiner 
- Zeitgenoflen. Durch Friedrih Hurter. Erfter Band 
Mit Innocenz Bildniß). XVI und 717 ©. in gr. 8. 

Diefes Werk ift die Frucht beinahe zwanzigjähriger Arbeit; ein 
Bruchſtück der Gefhichte Europa’s während zweier Jahrzehenden, in 
welche fi) eine Reihe der denfwürbigften Ereigniffe zufammendrängt, 
wie nie leicht ein ähnlicher Zeitraum eine foldhe aufzuweifen hat. Ins 
nocenz war auf dem unermeßlichen Schauplag, der von Island bis an 
die Ufer des Euphrats, von Paläftina’8 Hügeln bis in die fcandinas 
vifhen Reihe ſich erſtreckt, in der vielartigen Mannidhfaltigkeit der 
a der Alles verbindenbe Geift, ber Herzichlag, in welchem 
gs für das gefammte Leben diefes Zeitraumes die Anziehe⸗- und Flieh⸗ 

aft vereinigt. Der Verfaſſer hat ſich zur Aufgabe gemacht, denfels 
ben in jener reinen ethiſchen Würde barzuftellen, in welcher fein gans 
zes Leben ein Beftreben zeigte: die höchfte Idee von der Bedeutung 
feiner Obliegenbeit und deren Anforderungen in ihrem ganzen Umfange 
und in ihrer vollen Ziefe zu verwirklihen. Deswegen aber, und weil 
dem Verfaſſer ald leitender Grundfag vor Augen ſchwebte: Geſchichte 
müſſe befchrieben, nicht gemacht werden, hielt er es für geboppelte 
Hit, die Gewiffenhaftigkeit, in welcher er fein Werk ausarbeitete, 
durch trete Beziehung auf die Zeugen bervortreten, bei ben merkwürs 
digſten Wendungen der Dinge aber Innocenzen feine eigenen Ueberzeus 
gungen ober Meinungen ausſprechen zu laſſen. — Der zweite Band 
wird vor Ende des laufenden Jahres erfcheinen, 





’ 





BGotha, gebeudt mit Eagelhard⸗Reyher'ſchen Schriften. 





— — — — 


Digitized by Google 


x 
„ 
. 
5 . 
„ 
- 
& , 
' 
\ 
⸗ 5 
. 
, 
- 
4 
, 
A 5 
« 
. 
» 
— 
“ 
% 
x 
a 
A 3 
. 
“ — 
⸗ 
oo 
x 
. * 
er 
vw.’ 
D 
. 


— 
ĩ 


. 





. 
> 
' 
‘ 
[2 * \ 
- * « a . 
: ‘ 
= 2 
. 
> 
® 
. 
[2 
. 
* 
& er 
U 
i 
. 
. 
4 
ı 
r 
’ 
- 
+ 
. 
T 
. 
> 
. 
. 2 
x 
* BR 
J 


Digitized by Google